Malwida Freiin von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin

Erster Teil

1. Kapitel. Früheste Erinnerungen
Erstes Kapitel
Früheste Erinnerungen

Es würde schwer sein, inmitten einer größeren Stadt ein besser gelegenes Haus zu finden, als das war, in dem ich geboren wurde und die ersten Tage der Kindheit verlebte. Das Haus lag in der Stadt Cassel und gehörte zu einer Reihe von Häusern, die eine Straße begrenzten, der man mit Recht den Namen Bellevue gegeben hatte, denn an der gegenüberliegenden Seite waren keine Häuser, sondern man genoß der herrlichen Aussicht auf schöne Garten- und Parkanlagen, die terrassenförmig in eine fruchtbare Ebene, durch die einer der größeren Flüsse Deutschlands, die Fulda, hinzieht, hinabsteigen. Ich war die Vorjüngste von zehn Kindern, die alle gesund und geistig begabt waren. Meine Eltern waren noch jung, als ich auf die Welt kam. Sie lebten in jener glücklichen Mitte zwischen dem Überflüssigen und dem Notwendigen, in der sich die meisten Bedingungen für häusliches Glück finden. Ich habe aus den ersten Kindheitstagen wie einen lichten Schein unendlicher Heiterkeit zurückbehalten. Nur drei bestimmtere Erinnerungen lösen sich von diesem hellen Hintergrunde ab.

Die erste dieser Erinnerungen ist das Wohnzimmer meiner Mutter, mit gemalten Tapeten, die Landschaften mit Palmen, hohem Schilfrohr und Gebäuden von fremdartiger Architektur enthielten. Meine kindliche Phantasie hatte Freude an dieser phantastischen Welt. Dazu kam, daß ein Freund des Hauses mir Märchen dabei erzählte; z.B. daß eines dieser wunderbaren Häuschen die Wohnung eines Zauberers sei, der Blumenbach heiße und dem die ganze Natur gehorsam sei. Bei dem Häuschen stand ein großer Storch auf seinen langen, steifen Beinen, den Kopf mit dem langen Schnabel auf die Brust gesenkt. Das sei Blumenbachs Diener, sagte mein [1] Freund; er stehe da immer und warte der Befehle seines Herrn.

Die zweite der Erinnerungen ist die an einen Abend, wo meine Wärterin mir erzählte, daß meine kleine Schwester, die vor nicht langer Zeit geboren war, wieder gestorben sei. Gegen das Verbot meiner Mutter ließ sie mich durch eine Glastür in ein Zimmer sehen, in dem ein schwarzer Kasten stand; in diesem Kasten lag meine kleine Schwester schlafend, weiß wie Schnee und mit Blumen bedeckt.

Die dritte Erinnerung endlich knüpft sich an die Person des alten Fürsten, der das Kurfürstentum Hessen, den kleinen deutschen Staat, der meine Heimat ist, beherrschte. Sein Wagen fuhr jeden Tag an unserem Hause vorüber; zwei Läufer in Livree liefen vor dem Wagen her. Im Wagen saß ein Greis, in einer Uniform mit dem Schnitt aus der Zeit Friedrichs des Großen, und einem dreieckigen Hut auf dem Kopf. Seine weißen Haare waren hinten in einen Zopf geflochten und eine schreckliche Geschwulst bedeckte ihm die eine Backe. Das war die Krankheit, an der er starb. Ich sah sein Begräbnis nicht, aber meine alte Wärterin wiederholte mir unzähligemal die Beschreibung desselben. Man bestattete ihn nicht in der Gruft seiner Ahnen in der großen Kirche. Zufolge seines Wunsches setzte man ihn in der Kapelle eines Lustschlosses (auf der Wilhelmshöhe) bei, das er hatte bauen lassen und das sein Lieblingsaufenthalt gewesen war. Das Leichenbegängnis ging die Nacht vor sich, beim Scheine der Fackeln, nach alter Sitte. Ein Ritter in schwarzer Rüstung, auf einem schwarzen Pferd, mußte dicht hinter dem Trauerwagen herreiten. Dieser Ritter wurde immer aus der hohen Aristokratie gewählt, aber er mußte stets, wie die Sage erzählte, diese Ehre mit dem Leben büßen. Auch in diesem Fall wurde der Volksglaube nicht getäuscht. Der diesmalige Schauspieler in dem nächtlichen Drama, ein junger Edelmann voll Kraft und Gesundheit, wurde drei Wochen nach dem Begräbnis von einem Fieber hinweggerafft. War dieses Fieber einfach die Folge einer Erkältung in der kalten Eisenrüstung [2] während des langen nächtlichen Zuges? Das Volk dachte nicht an eine solche Möglichkeit, und meine kindliche Einbildungskraft stimmte dem Volksglauben bei. Auch ergriff mich jedesmal ein geheimer Schauer, wenn ich mit meinen Eltern das Lustschloß besuchte und in der Rüstkammer auf einem schwarzen hölzernen Pferd die schwarze Rüstung sitzen sah, die der unglückliche Cavalier in jener Nacht getragen hatte.

2. Kapitel. Öffentliche und persönliche Beziehungen
Zweites Kapitel
Öffentliche und persönliche Beziehungen

Der Tod des alten Herrn wurde nicht nur in meiner Familie die Ursache großer Veränderungen, sondern er bezeichnete, sozusagen, das Ende einer ganzen Epoche in der Geschichte meines kleinen Vaterlandes. Das regierende Haus, dem er angehört hatte, war sehr alt und zählte unter seinen Ahnen Mitglieder, die sich durch Tapferkeit und Charaktergröße ausgezeichnet hatten. Aber die letzten Generationen waren herabgekommen. Sie hatten ihr Privatvermögen auf schamlose Weise vermehrt, indem sie ihre Untertanen an fremde Mächte verkauften, um sie in fernen Kriegen zu verwenden. Maitressen regierten seit lange das Land. Die letzte Regierung war sonderbaren Wechselfällen unterworfen gewesen. Der Charakter des alten Fürsten hatte bei allen Fehlern eine gewisse Würde gehabt; bei der Annäherung des allgewaltigen Eroberers unseres Jahrhunderts verließ er freiwillig sein Fürstentum, da er wohl wußte, daß er nicht Macht hatte, es zu verteidigen, und seinen Untertanen unnütz vergossenes Blut ersparen wollte. Er zog die Verbannung der schmachvollen Unterwerfung anderer deutscher Fürsten vor. Die Hauptstadt seines kleinen Reichs wurde die eines großen Königreichs, das der Eroberer Jérôme, dem jüngsten seiner Brüder, schenkte. Die Eleganz, die Frivolität und die Leichtgläubigkeit der französischen Sitten ließen sich in den verlassenen Wohnungen der Zopfmenschen nieder. Der junge König schuf ein kleines Paris auf deutscher Erde.

[3] Mein Vater, der seine Familie nicht in die Verbannung führen konnte, blieb und trat in den Dienst des neuen Staats. Meine Mutter war ganz jung und sehr schön; so war es nur natürlich, daß beide an dem lebhaften, fröhlichen Leben des jungen Hofes teilnahmen. Wie oft quälte ich meine Mutter, damit sie mir immer und immer wieder die Geschichte jener Tage, die lange vor meiner Geburt ihr Ende erreichten, erzähle! Wie begierig lauschte ich den Beschreibungen der glänzenden Feste und der schönen, reizenden Frauen, die mit ihren Familien aus Frankreich gekommen waren, um durch ihre Grazie den Hof des galanten Königs zu schmücken! Mit welchem Interesse untersuchte ich die Garderobe meiner Mutter, in der sich noch viele Überreste jener Zeit fanden! Wie mir diese Schäferkostüme, diese türkischen Kleider, diese antiken Draperien gefielen! Eine Menge Gedanken wurden in mir wach, wenn ich an das vorzeitige Ende all dieser Herrlichkeit dachte. Wie ein Traum war all das Prächtige verflogen. Die Russen waren an den Toren der Stadt erschienen, ihre Kugeln hatten durch die Straßen gepfiffen. Meine Eltern hatten ihre besten Sachen eingepackt und das Haus verlassen, das dem feindlichen Angriff zu sehr ausgesetzt war. Die alte Tante, die mit uns lebte, hatte viele Gegenstände in Fässer voll Mehl auf dem Boden versteckt. Eine Kanonenkugel traf das Haus und blieb in der Mauer stecken.

Indem ich diesen Erzählungen horchte, bedauerte ich von ganzem Herzen, nicht damals schon gelebt zu haben, damit ich die Gefahr mit meinen Eltern hätte teilen können. Ich wäre auch sehr begierig gewesen zu wissen, ob die Kosaken die Sachen, die im Mehl versteckt waren, gefunden hätten, im Fall die Stadt geplündert worden wäre.

Aber die Stadt sowohl wie meine Eltern wurden vor dem Ruin bewahrt. Der alte Fürst kehrte in sein Land zurück. Die Zöpfe und die Korporalstöcke nahmen wieder den Platz ein, den die französischen Grazien verlassen hatten. Das Land wurde abermals von einer Maitresse, der wenig liebenswürdigen [4] Pflegerin eines siechen Greises, regiert. Günstlinge, die sich im Exil, das sie mit ihrem Fürsten teilten, bereichert hatten, erhielten die ersten Stellen im Staat. Das Volk, das unter den verschiedenen deutschen Stämmen für seine Anhänglichkeit an sein Fürstenhaus bekannt war, hatte den wiederkehrenden Regenten zuerst mit freudigem Entzücken begrüßt; bald aber wurde man inne, daß das Band zwischen Vergangenheit und Gegenwart zerrissen war. Die Fürsten und die Völker hatten die nationale Erhebung und die Unabhängigkeitskriege in sehr verschiedener Weise verstanden. Die begeisterten Träume so vieler edler Herzen verflogen, und anstatt des Morgenrots der Freiheit, das die deutsche Jugend erhofft hatte, stieg ein neuer, düstrer, nebelverhüllter Tag herauf. Die Menschen der alten Zeit betrachteten den Zwischenakt der großen Komödie der absoluten Monarchie als beendet, um in Bequemlichkeit aufs neue die alten Throne und die alte Herrschaft einzunehmen. Das Blut der Völker war umsonst geflossen. Die Geschichte stand wieder still.

Nur der Tod stand nicht still; er holte den Greis mit dem Zopf, und von diesem Augenblick an wurden wenigstens die Haare im ganzen Land von der Fessel der Vergangenheit erlöst.

Äußerlich veränderte sich vieles unter der neuen Regierung. Mein Vater, der als Kind ein Spielkamerad des Erbprinzen gewesen war, wurde in die Nähe des nunmehrigen Fürsten berufen, um eine bedeutende Stelle im Staate einzunehmen. Wir verließen das Haus, das ich im Anfang dieser Erzählung erwähnt habe, um ein größeres und glänzenderes, dicht beim fürstlichen Schlosse, zu bewohnen.

3. Kapitel. Unser Familienleben
Drittes Kapitel
Unser Familienleben

Ich muß glauben, daß das Gefühl der Ehrfurcht mir eingeboren war, denn man hatte mich nie gezwungen, irgend eine Art von Kultus zu beobachten, und doch hatte ich einen solchen [5] für meine Eltern und meine älteste Schwester. Sie war schon erwachsen, als ich noch ein kleines Mädchen war. Sie erscheint mir in der Erinnerung wie eine der Madonnen der altdeutschen Maler, die die Typen der ausschließlich weiblichen Schönheit sind – jener Schönheit, die mehr im Ausdruck himmlischer Reinheit und Sanftmut besteht, als in der Regelmäßigkeit der Züge. Meine Verehrung für diese Schwester ging so weit, daß meine Mutter ein wenig eifersüchtig darauf wurde. Das war der erste Konflikt in meinem kindlichen Leben; er endete mit der Verheiratung meiner Schwester, die ihrem Gatten in seine Heimat folgte. Diese erste Trennung kostete mich viel Tränen.

Die Liebe zu meiner Mutter erwachte danach aber in ihrer ganzen Stärke. Ich erinnere mich noch des Entzückens, mit dem ich sie betrachtete, wenn sie, die noch immer schön war, sich zu einem Feste schmückte, besonders zu einem Ball bei Hof. Ich setzte mich dann an das Fenster einer dunkeln Stube, von wo aus ich die von Licht strahlenden Fenster des fürstlichen Schlosses sehen konnte. Da wartete ich, bis sie in die erleuchteten Prachtgemächer trat und an einem der Fenster die Vorhänge etwas auseinanderschob, damit ich hineinsehen könne. Ich sah die Damen in prächtigen Anzügen, die Herren in goldgestickten Uniformen zu beiden Seiten des Saales aufgestellt. Ich sah den Fürsten und seine Familie eintreten und an den Reihen der aufgestellten Personen entlanggehen, um einer jeden derselben ein paar Worte zu sagen. Man schien diesen Worten eine große Wichtigkeit beizulegen, weil es wie der Gipfel der Demütigung angesehen wurde, wenn eine Person übergangen und nicht angeredet worden war. Wie stolz war ich, wenn ich sah, daß man sich mit meiner Mutter länger unterhielt als mit andern! Ich glaubte fest, daß dies eine große Auszeichnung sein müsse. War denn ein Fürst nicht ein über die andern erhabenes Wesen? Warum war er denn sonst ein Fürst? Ich hatte ja in den Märchen der Tausend und Einen Nacht so viel von dem edeln, großmütigen Charakter Harun al [6] Raschids gehört, war so durchdrungen von der ritterlichen Tugend des Kaisers Friedrich des Rotbarts, der im Kyffhäuser sitzt und auf den Augenblick wartet, um das herrliche deutsche Reich wieder herzustellen, daß ich nicht an der Erhabenheit der Fürsten zweifelte.

Mein Vater, der mit Geschäften überhäuft war, hatte nicht viel freie Zeit für seine Kinder; wenn er sich aber einmal mit uns abgeben konnte, so war es ein wahres Fest, denn es wäre unmöglich gewesen, eine redlichere, liebevollere, zärtlichere Natur zu finden, als die seine war.

Unsere Mutter war es, die sich damit beschäftigte, die künstlerischen Neigungen in uns zu wecken. Ihre Geistesrichtung gehörte jener geistigen Mitte der Zeit an, zu welcher die Humboldts, Rahel, Schleiermacher, die Schlegels und andere berühmte Zeitgenossen zählten. Diese Richtung, zugleich liberal, patriotisch und philosophisch, hatte auch eine eigentümliche Beimischung von dem Mystizismus, den die damals in höchster Blüte stehende romantische Schule hinzubrachte. Verbunden mit der unabhängigen Natur meiner Mutter, führte diese Richtung sie sehr häufig zur Opposition gegen die Konvention der Gesellschaft, an der die Stellung meines Vaters sie teilzunehmen zwang. Ganz besonders war dies der Fall bei der Wahl der Personen, aus denen sie ihren engeren Kreis bildete. Anstatt sie ausschließlich aus den Reihen der Aristokratie zu nehmen, wählte sie sie vielmehr nach den Eigenschaften des Geistes und Herzens, unbekümmert darum, welcher Schicht der Gesellschaft sie angehörten. Besonders gern zog sie die ausgezeichnetsten Mitglieder des Theaters herbei, deren Leistungen ihr Entzücken und Genuß gewährten, und die sie ihren übrigen Gästen vollkommen gleichstellte. Das war damals noch eine große Kühnheit, denn man sah die Theatermitglieder noch wie eine ausgeschlossene Kaste, eine Art Parias an, höchstens gut genug, den anderen Sterblichen die Langweile zu vertreiben, aber durchaus nicht berechtigt, sich ihresgleichen zu wähnen. Auch wurde meine Mutter sehr deshalb getadelt,[7] und selbst mein Vater teilte ihre Ansicht in dieser Beziehung nicht ganz. Er kam selten zu den kleineren Vereinigungen bei ihr. Meine älteren Schwestern und Brüder aber, die selbst alle sich der einen oder anderen Kunst gewidmet hatten, nahmen daran teil, und ganz besonders waren es treffliche musikalische Aufführungen, die häufig im Hause vorkamen. Meine Kindheit verging in dieser geistigen und künstlerischen Mitte. In unserem Familienleben waren die Kinder nicht so von dem Leben der Erwachsenen ausgeschlossen, wie dies z.B. in England der Fall ist. Meine Mutter war der Ansicht, daß die Berührung mit ausgezeichneten Menschen nur einen guten Einfluß auf die geistige Entwicklung der Kinder haben könne und allmählich ihr Urteil und ihren Geschmack entwickeln müsse. Ich glaube, daß sie ganz recht hatte und daß diese Bemühungen, so weit sie möglich sind, eins der wichtigsten Elemente der Erziehung sein müßten. Die Griechen wußten es wohl, und die Lyzeen, wo ihre Philosophen und Weisen sich mit den Kindern unterhielten, trugen wahrscheinlich nicht wenig dazu bei, aus ihnen ein Volk zu machen, wie bis jetzt noch kein ähnliches dagewesen ist.

Wir erhielten keine sogenannte religiöse Erziehung. Ich erinnere mich nicht, wer mir zuerst von Gott sprach und mich ein kleines Gebet lehrte. Wir wurden niemals genötigt, unsere Frömmigkeit in Gegenwart der Diener oder fremder Personen zur Schau zu tragen, wie es in England geschieht. Ich für mein Teil befolgte, ohne es zu wissen, das Gebot Christi, das sagt, daß man allein sein muß, wenn man recht beten will. Jeden Abend, wenn ich in meinem Bett lag und keinen anderen Vertrauten hatte als mein Kopfkissen, wiederholte ich leise für mich mein kleines Gebet, mit der Andacht des wahren Glaubens. Niemand wußte etwas davon. Mein Gebet lautete: »Lieber Gott, ich bin klein, mach du mein Herz rein, daß niemand drin wohne wie der liebe Gott allein.«

Doch konnte ich es nicht verhindern, daß mein Herz noch andere geliebte Einwohner hatte. Ich erfand mir also selbst ein zweites Gebet, das ich jeden Abend im geheimen nach [8] dem ersten betete, und in dem ich den Segen Gottes auf meine Eltern und Geschwister, auf meinen Lehrer und dessen Familie und schließlich auf alle guten Menschen herabrief. Wenn ich diese mir von mir selbst auferlegte Pflicht des Herzens erfüllt hatte, war mein Gewissen beruhigt und ich schlief den Schlaf des Gerechten.

Eines Morgens erwachte ich vor Tagesanbruch durch ein ungewohntes Geräusch im Schlafzimmer meiner Mutter, in dem auch meine jüngste Schwester und ich schliefen. Es war im Winter, das Feuer im Ofen wurde bereits angesteckt. Ich hörte meine Mutter weinen und die alte Tante, die an ihrem Bett stand, sagen: »Tröste dich, dein Kind ist jetzt bei Gott.« – Ich begriff, daß man von dem kleinen Bruder redete, der, erst einige Monate alt, seit mehreren Tagen krank gewesen war. Ich weinte auch still in mein Kopfkissen, ohne merken zu lassen, daß ich erwacht sei und die Worte gehört habe, die mir ein erhabenes Geheimnis zu enthalten schienen, das über meine Fassungskraft ging. Als die Zeit des Aufstehens für mich gekommen war, sagte man mir, mein kleiner Bruder sei gestorben. Ich hätte gern mehr über dies Geheimnis des Sterbens und der Vereinigung mit Gott gewußt, aber ich wagte nicht zu fragen, aus Furcht, die Betrübnis der andern zu vermehren.

Am Nachmittag kam eine kleine Freundin uns zu besuchen. Man führte sie in das Zimmer, wo der tote Bruder lag, aber mich und meine jüngere Schwester ließ man nicht eintreten. Das verwundete mich tief. Man hielt mich also für zu schwach, um den schmerzlichen Anblick zu ertragen, oder für unfähig, das Unglück zu begreifen! Ich sprach niemals davon, aber der Stachel war so tief in das Herz gedrungen, daß selbst jetzt noch, nach so viel größeren Täuschungen, ich seine Spitze fühle.

[9]
4. Kapitel. Die erste Reise
Viertes Kapitel
Die erste Reise

Zu der Zeit, von der ich rede, war ich gegen fünf oder sechs Jahre alt. Ich fing an, viel nachzudenken. Eines Tages fragte ich einen meiner älteren Brüder, wie es komme, daß unsere Stadt die Hauptstadt des Fürstentums Hessen sei und zugleich eine Stadt Deutschlands. Mein Bruder bemühte sich, mir, so gut es ging, auseinanderzusetzen, daß Deutschland sich in viele kleine Länder teile, deren jedes eine Hauptstadt und einen besonderen Fürsten habe. Aber wie sehr er sich auch bemühte, ich konnte es nicht begreifen, daß man eine Menge einzelner Länder mit verschiedenen Namen als eine große Einheit ansehen solle.

Eine andere Frage beschäftigte mich auch auf das lebhafteste, nämlich was »die Ferne« sei. Bis dahin war ich nur so weit von meinem Geburtsort entfernt gewesen, um bequem am selben Tage dahin zurückkehren zu können. Mir aber vorzustellen, daß man so weit gehen könne, um nicht am selben Tag und nicht in vielen Tagen zurückkehren zu können – daß man in ganz anderen Ländern weilen und mit Menschen verkehren könne, die keine Beziehung zu uns hätten –, das erschien mir fast unmöglich.

Ich beschloß also, bei mir selbst zu erfahren, was »die Ferne« sei. Meine Mutter war mit meinen beiden ältesten Schwestern in ein Bad gereist. An einem schönen Sommermorgen nahm ich etwas Wäsche aus meiner Kommode, knüpfte alles in ein Taschentuch und ging die Treppe hinab, um mich geradewegs auf die Post zu begeben, mich in einen der großen Postwagen zu setzen, die ich so oft da hatte stehen sehen, und schnurstracks nach dem Orte zu fahren, wo meine Mutter weilte. Ich zweifelte nicht, daß man mir einen Platz im Wagen geben würde, wenn ich sagte, ich wolle wissen, was »die Ferne« sei.

Meine Wärterin hatte meine Abwesenheit noch zu rechter Zeit bemerkt, stürzte mir erschrocken nach, erfaßte mich in der [10] Straße und verhinderte mich so, meine Entdeckungsreise zu machen.

Den darauffolgenden Sommer aber konnte ich endlich meine Wißbegierde befriedigen. Meine Schwestern und ich machten eine Vergnügungsreise mit meinen Eltern. Zunächst gingen wir auf das Land zu einer Tante im Süden von Deutschland, und da lernte ich zuerst das eigentliche Landleben kennen. Das große Haus, eine alte Abtei mit endlos langen Gängen – den prächtigen Garten mit einer Fülle von Blumen und Früchten, die Felder, das Vieh, die unbeschränkte Freiheit, alles das zu genießen, im Garten, im Feld umherzulaufen, das schien mir das Paradies selbst. Was mich aber besonders anzog, das war die alte Kirche, die früher zur Abtei gehört hatte und in der ich zum erstenmal die Zeremonien des katholischen Kultus sah. Eine lebhafte Erinnerung knüpft sich daran. Ein Kaplan, der zu der Kirche gehörte, kam häufig zu meiner Tante. Er war ein junger Mann, voller Talente, liebenswürdig in diesem Kreise fern von den Augen seiner Vorgesetzten – aber kaum wiederzuerkennen, wenn er, bleich und traurig, in der Kirche in priesterlichem Ornate erschien.

Er ging oft allein mit meiner Mutter im Garten spazieren, in anscheinend sehr ernste Gespräche vertieft, deren Gegenstand ich nicht kannte. Eines Tages fuhren wir in seiner Begleitung, um das königliche Schloß in Aschaffenburg in der Nähe zu besehen. Ich hielt meine Mutter bei der Hand, und er ging ihr zur Seite. Als wir in die Schloßkapelle kamen, wurde er sehr blaß, neigte sich zu meiner Mutter und flüsterte ihr zu, indem er auf den Altar und das Kruzifix auf demselben zeigte: »Da war es; vor jenem Altar und vor jenem Bild.« – Meine Mutter sah ihn voll Mitleid an und sagte: »Armer Mann!« – Erst viele Jahre später erhielt ich den Schlüssel zu dieser Szene, als meine Mutter mir die Geschichte erzählte. Als ganz unmündiger Knabe noch war er von seinem Vater beredet worden, in den geistlichen Stand einzutreten, und in der eben erwähnten Kapelle hatte er das [11] Gelübde abgelegt, auf ewig mit den Neigungen einer poetischen und leidenschaftlichen Natur zu brechen. Später hatte er die ganze Tragweite seines Irrtums und seines Unglücks begriffen, und da er seine Gelübde nicht brechen konnte, führte er ein Leben voll innerer Widersprüche und unsäglichen moralischen Elends. Meine Mutter hatte recht gehabt, zu sagen: »Armer Mann!«

Nach unserer Rückkehr nach Hause fing ich an, recht ernstlich zu lernen. Meine jüngste Schwester und ich bekamen Stunden im Haus, die mir damals viel vorzüglicher erschienen als der Schulunterricht; zunächst, weil der Lehrer sich ausschließlich uns widmete, und es mir daher schien, als wüßten wir alles gründlicher wie unsere Freundinnen, die Schulen besuchten; dann aber auch, weil wir am Nachmittag keine Stunden hatten; Stunden, die mir sehr peinlich vorkamen und mir noch jetzt so scheinen. Man kann sich nicht vorstellen, daß es gesund sein soll, unmittelbar nach dem Essen, in den ersten Stunden der Verdauung, auf die Schulbänke zurückzukehren, in Stuben, die den ganzen Morgen durch voll Menschen waren, und da die Aufmerksamkeit wieder ausschließlich auf mehr oder minder abstrakte Gegenstände zu wenden. Ich fand uns sehr glücklich, daß wir nach dem Essen in Freiheit in unserem Garten spielen, dort Blumen und Gemüse ziehen und Robinsonaden und Entdeckung neuer Welten nach Herzenslust aufführen konnten. Und dennoch hätte auch selbst bei uns der Anteil der Natur an der Erziehung, im Vergleich zu dem des Lernens, größer sein sollen. Ich würde dadurch vor einer Gefahr bewahrt geblieben sein, die aus meiner Liebe zum Wissen selbst herkam. Ich konnte kein Buch sehen, ohne mich dessen zu bemächtigen. Mein Geburtstag erschien mir fade, wenn er mir keine Bücher brachte. Hatte ich die erhalten, so saß ich den ganzen Tag und las und vergaß die wirkliche Welt über die der Phantasie. Meine Leidenschaft für das Lesen verleitete mich sogar, heimlich Bücher aus der Bibliothek meiner Mutter zu nehmen. Glücklicherweise fand ich nur solche, die mir nicht schaden konnten, aber die Tatsache [12] beunruhigte mein Gewissen sehr, und ich beschloß, ernstlich gegen die Versuchung anzukämpfen. Doch trug die Leidenschaft noch öfter den Sieg davon in diesem Kampf. Endlich blieb ich Siegerin. Es war mein erstes Begegnen mit der Schlange, meine erste Handlung als Tochter Evas; aber es war auch mein erster ernster Sieg. Ich habe ein wenig in der Zeit vorgegriffen in Beziehung auf diese Kämpfe, nur um meine Überzeugung auszusprechen, daß wenn das Gleichgewicht zwischen dem Leben des Lernens und dem Leben in der Natur größer gewesen wäre in meiner Kindheit, so würde mir dieser vorzeitige moralische Kampf gewiß erspart worden sein. Ich liebte den Wald, die Wiese, die Blumen ebenso sehr wie das Lesen, und wenn man mir die Natur durch das Lernen verständlich gemacht hätte, hätte ich sicher daraus ebenso viele Eingebungen geschöpft wie aus der Welt der Fiktion.

Aber man war damals noch weit davon entfernt, die Naturwissenschaften bei der Erziehung überhaupt, insbesondere aber bei der der jungen Mädchen, als unentbehrlich anzusehen.

5. Kapitel. Träume und Wirklichkeiten
Fünftes Kapitel
Träume und Wirklichkeiten

Ein geheimnisvolles Ereignis, das um diese Zeit das Publikum meiner Vaterstadt in Aufregung versetzte, beschäftigte auch meine Phantasie auf das lebhafteste, obgleich ich nur hier und da etwas davon hörte und mit Auslegungen, die ich nicht verstand. Dies Ereignis bestand in der plötzlichen Abreise des jungen Erbprinzen, der das Land insgeheim in demselben Augenblick verlassen hatte, in dem sein vertrauter Kammerdiener eines plötzlichen und unerklärlichen Todes gestorben war. Man flüsterte sich zu, daß dieser Tod kein natürlicher und daß er für ein andres Opfer bestimmt gewesen sei, nämlich für den Herrn statt des Dieners. Die Fürstin folgte ihrem Sohn in das Exil, während eine schöne Dame, mit ebenso schönen Kindern, in ein Haus einzog, das dem unsrigen [13] gegenüber und an der Seite des fürstlichen Schlosses lag. Ich hörte durch unsere Dienstmädchen, daß diese schönen Kinder die Kinder des Fürsten seien und deren Mutter seine Gemahlin. Nun begriff ich gar nicht, wie ein Mann zwei Frauen und zwei verschiedene Familien zugleich haben könne, aber ich nahm lebhaft Partei für den verbannten Prinzen und dessen Mutter, deren Tugend und hohe Geistesbildung von aller Welt gepriesen wurden. Meine Mutter war, soviel ich bemerken konnte, derselben Ansicht, denn sie beobachtete nie mehr, als die absolut notwendige Höflichkeit gegen die schöne Dame, um die sich alle huldigend drängten, die nach Beförderung und Ehren strebten. Mein Vater ging bei seinem Benehmen von einem anderen Gesichtspunkt aus, sein einziger Ehrgeiz war das Wohl des Landes, und um diesem zu dienen, setzte er bei dem Landesfürsten die mächtigsten Hebel in Bewegung. Der Fürst hatte ein gutes Herz, wenig Bildung, viel Leichtsinn und Anfälle von Heftigkeit, die an Wahnsinn streiften. Seine legitime Frau, die Tochter eines großen Königshauses, tugendhaft, gelehrt und Künstlerin, aber stolz und kalt, hatte ihm nie das häusliche Glück gegeben, das er verlangte. Ihre Charaktere waren zu verschieden. Der Fürst schloß sich dann in leidenschaftlicher Liebe an jene andere Frau an, die schön war, auch nicht ohne Verstand, aber wenig gebildet und gewöhnlich. Sie hatte eine beinah absolute Herrschaft über ihn erlangt. Meine Mutter konnte ihre Abneigung gegen diese Frau niemals ganz überwinden, und da mein Vater, um jener höheren Gründe willen, einige Rücksichten für sie verlangte, so wurde dieser Gegenstand zuweilen Ursache von Diskussionen zwischen meinen Eltern. Der Zufall machte mich einmal zur unbemerkten Zeugin einer solchen ziemlich lebhaften Diskussion, und diese Entdeckung eines Zerwürfnisses zwischen meinen Eltern, die ich gleicherweise liebte, kostete mir viele Tränen. Alle diese Wirklichkeiten, die ich nur halb sah und verstand, verwirrten und beunruhigten mich. Ich flüchtete mich mit doppeltem Entzücken in das Land der Träume und der Erfindung. Mein größtes [14] Glück war ein kleines Theater, das man uns geschenkt hatte, und auf dem wir mittels Puppen, deren Rollen wir sangen und sprachen, große Opern und Dramen aufführten. Ich arbeitete wochenlang daran, um sie mit dem größtmöglichen Luxus in Szene zu setzen, und es war mir so heiliger Ernst damit, daß ich an einem Abend, wo wir die Euryanthe mit großem Pomp vor einem Publikum von Eltern und Geschwistern gaben, den Vorhang fallen ließ und vor Schmerz weinte, weil mein jüngster Bruder, der mit uns spielte, sich in einer tragischen Szene einen dummen Spaß erlaubte. Diese Leidenschaft für das Theater steigerte sich noch, als wir selbst anfingen zu spielen, meine jüngere Schwester, ich und einige Freundinnen. Man sagte mir, daß ich gut spiele, und ich fühlte mich durchaus in meinem Beruf. Ich träumte nur eins: eine große Künstlerin zu werden.

Später habe ich in vielen intelligenten Kindern diese Leidenschaft für das Theater gefunden, und ich glaube, man müßte viel Gewicht auf dieses Element in der Erziehung legen, anstatt es zu unterdrücken, wie man gewöhnlich tut. Ich glaube sogar, daß man dabei sehr wichtige Fingerzeige in bezug auf den Charakter und die Naturanlagen finden würde. Es gibt Kinder, die die bloße Maskerade, das Burleske, die Farce lieben, es gibt andere, denen der Ausdruck erhabner Gesinnung, des Heroismus Bedürfnis scheint. Vielleicht könnte man sich auch dieses Elements sehr vorteilhaft beim Unterricht in der Geschichte bedienen, und sicher hätte ein Knabe, der Wilhelm Tell, Spartacus usw. ein Mädchen, das die Jungfrau von Orleans, Iphigenie oder sonst heroische Persönlichkeiten der Geschichte selbst dargestellt hätte, lebhaftere Eindrücke von allem, was sich auf so hervorragende Gestalten bezieht, als ihnen die Geschichtsstunde auf ihren Schulbänken geben kann. Und welch ein weites Feld für Jugendschriftsteller, historische Stücke zum Vorteil der Erziehung zu schreiben, und für die Erzieher, die Aufführungen zu organisieren!

Außer dem Theater waren es die Helden und großen Charaktere [15] der alten, besonders der griechischen Geschichte, denen meine heißesten Sympathien galten. Ich las voll Eifer eine populär geschriebene Weltgeschichte in vielen Bänden und mit ziemlich guten Kupfern, die sich in der Bibliothek meiner Mutter befand. Gewisse Gestalten und gewisse Tatsachen sind von da an für ewig meiner Erinnerung eingegraben geblieben. Wenn ich von dem glorreichen Tod des Leonidas und seiner dreihundert Braven las, wenn ich das Bild ansah, wo Epaminondas den Speer aus seiner Wunde zieht und den Freunden, die weinen, weil er keine Kinder hinterläßt, sagt: »Lasse ich euch nicht zwei unsterbliche Töchter, die Schlachten bei Leuktra und Mantinea?« – wenn ich von Sokrates hörte, wie er dem Tode entgegenging, indem er seine Schüler über die erhabensten Dinge belehrte – dann vergoß ich Tränen freudiger Rührung. Mein Herz erglühte mehr und mehr für alles, was den Stempel des Erhabenen trug, und ich kann in Wahrheit sagen, daß der Kultus der Heroen die wahre Religion meiner Kindheit war.

6. Kapitel. Die erste Revolution
Sechstes Kapitel
Die erste Revolution

Mein Vater war mit dem Fürsten in ein entferntes Bad gereist, wo der letztere eine Kur brauchen sollte. Plötzlich verbreitete sich die Nachricht, der Fürst sei dort gefährlich erkrankt. Man flüsterte sich zu, die Wirklichkeit sei noch schlimmer als die Nachricht, ja man sprach von Todesgefahr. Das Land war in großer Aufregung. Die Nachrichten über die Julirevolution waren kurz zuvor aus Frankreich gekommen. Ein elektrischer Strom durchzuckte Europa. Alle Elemente der Unzufriedenheit, die seit langem in den Völkern gärten, wollten an das Licht. Ich hörte zum erstenmal das Wort Revolution.

Ich war von dem allem sehr aufgeregt. Ein Vorgefühl von Dingen, die eine bis dahin ungekannte Wichtigkeit ahnen ließen, erfüllte mich. Aber wie es bei Kindern zu gehen pflegt, [16] so hatten meine Gefühle einen ganz persönlichen Charakter: ich fürchtete Gefahren für meinen geliebten Vater. Die Unzufriednen im Lande erhoben ihre Stimme und sagten, der Fürst habe die Reise nur seiner Maitresse zuliebe unternommen, der man die Bäder verordnet hatte. Man klagte deshalb alle an, die sich im Gefolge des Fürsten befanden, und mein Vater war die Hauptperson darunter. Man behauptete auch, die Wahrheit werde verhehlt, um den legitimen Thronerben zu hindern, aus der Verbannung zurückzukehren. Endlich murrte man, daß das Land sich in einem so kritischen Augenblick ohne Regierung befände. Die liberale Partei schrieb den Namen des Thronerben und seiner Mutter auf ihr Banner und verlangte stürmisch deren Zurückberufung.

Meine Familie sah voll Angst die schweren Wolken, die sich mehr und mehr über dem Haupt meines Vaters zusammenzogen. Ich zitterte für ihn, ohne die ganze Tragweite der Ereignisse zu verstehen, und ich erinnere mich sehr wohl des Augenblicks, wo ich, von einer plötzlichen Eingebung erfaßt, mich zu Gott, als dem höchsten Helfer, wendete. Allein, die Augen zum Himmel erhoben, als sollten sie durch die Himmelsräume bis zum Thron des Allmächtigen dringen, richtete ich ein glühendes Gebet an ihn. Ich versprach ihm, die einzige schlechte Neigung, deren ich mir bewußt war, zu überwinden, wenn er das Leben des Fürsten erhalten wolle, von dem, wie ich mir vorstellte, die glückliche Heimkehr und die Ruhe meines Vaters abhing.

Man möge über diesen kindlichen Vertrag lachen, wenn man will, aber es war das doch der Glaube, der Berge versetzen kann, der bittet und sich erhört fühlt. Gott nahm auch meinen Vertrag an. Es kamen bessere Nachrichten, das Leben des Fürsten war außer Gefahr. Aber ehe er so weit hergestellt war, um reisen zu können, waren Unruhen in mehreren Teilen von Deutschland, und auch in unserem Lande, ausgebrochen. Man wünschte die Rückkehr des Fürsten, aber nicht die seiner Maitresse. Sie wurde an der Grenze in so bedrohlicher Weise empfangen, daß sie es für besser fand, umzukehren. [17] Der Fürst kam allein in Begleitung meines Vaters. Es rührte mich sehr, als ich ihn zum erstenmal zu Fuß vom Schloß in das Ministerium gehen sah. Er war blaß, gealtert, sein Gang unsicher, sein Haar ergraut.

Wenige Tage später kehrten seine legitime Gemahlin, der Erbprinz und dessen Schwester zurück. Diese Menschen, durch die engsten natürlichen Bande vereinigt, begegneten sich wieder, nach jahrelanger Trennung, auf den Befehl ihrer Untertanen. Man feierte die Versöhnung, von der die Herzen der Beteiligten nichts wußten, als ein öffentliches Fest. Der Fürst und seine Familie zeigten sich den Volksmassen, die den großen Platz vor dem Schloß bedeckten, auf dem Balkon. Enthusiastische Freudenbezeugungen empfingen sie und steigerten sich bis zum ausgelassensten Jubel, als der Fürst ein zweites Mal auf dem Balkon erschien, umgeben von den Abgesandten des Volks, unter denen sich die fanatischesten Liberalen befanden, und versprach, was das Volk durch ihren Mund verlangt hatte: eine Konstitution.

Mein Vater begab sich nun mit Eifer an ihre Ausarbeitung. Er entwarf sie auf so breiter und freier Grundlage, wie nur möglich. Aber er war tief gekränkt durch die ungerechten Angriffe, deren Gegenstand er fortwährend, trotz seiner reinen Absichten und seines unermüdlichen Eifers, war. Man beschuldigte ihn, im Einverständnis mit der Maitresse gehandelt und bei der Verteilung von Gunstbezeugungen an Leute, die es nicht verdienten, gegen die Fürstin und den Erbprinzen intrigiert zu haben, kurz, das Instrument des Despotismus gewesen zu sein, während er den despotischen Neigungen des Fürsten stets zum Besten des Landes energischen Widerstand geleistet und sich des Beistandes der Maitresse nur bedient hatte, um Akte der Gerechtigkeit und Redlichkeit durchzusetzen.

Wie oft hatte ich nicht meine Mutter mit tödlicher Angst den Ausgang der Szenen im Schloß erwarten sehen, wo mein armer Vater allein gegen die unbezähmbaren Leidenschaften eines Menschen, in dessen Händen das Geschick von Tausenden [18] lag, kämpfte. Ich fing an die zu hassen, die ihn verkannten, als ich sah, wie die Sorge in seinem verehrten Antlitz Furchen zog und wie das wohlwollende Lächeln, das es sonst verschönte, nie mehr darauf erschien. Ich nahm leidenschaftlich Partei für ihn gegen die Revolutionäre, doch wagte ich es nicht, im betrübten Familienkreis dem, was in meinem Herzen kochte, Luft zu machen. Konnte ich aber meinem Zorn nicht mehr gebieten, dann flüchtete ich mich in das Zimmer der Dienstboten und hielt da glühende Reden über die Tugenden meines Vaters und die Bosheit seiner Feinde.

Der Herbst kam; die Aufregung im Volke dauerte fort, und aufrührerische Szenen erneuerten sich von Zeit zu Zeit. Der Fürst hatte sich in seine Sommerresidenz zurückgezogen, die eine Stunde von der Hauptstadt entfernt lag, unter dem Vorwande, daß seine Gesundheit der Ruhe bedürfe, in Wahrheit wohl aber nur, um ferner von dem Sitz des Aufruhrs zu sein. Die älteste seiner illegitimen Töchter, ein junges Mädchen von großer Intelligenz und edlem Charakter, war bei ihm. Die Fürstin und der Erbprinz waren in der Stadt. Mein Vater befand sich bei dem Fürsten in der Sommerresidenz, doch kam er täglich zur Stadt gefahren, um im Ministerium an dem Konstitutionsentwurf zu arbeiten.

Mit Angst erwartete ich jeden Morgen am Fenster den Wagen, der ihn brachte, und es war mir tieftraurig, daß er kaum die Zeit hatte, uns zu begrüßen. Die Besuche, die wir ihm in der Sommerresidenz machten, waren auch wenig befriedigend. Wir mußten stets im geschlossenen Wagen fahren, denn das unwissende Volk schloß in seinen Haß gegen die einzig Schuldigen nicht nur meinen Vater ungerechterweise, sondern auch seine ganze Familie ein, und wir konnten es erwarten, daß man unsern Wagen mit Steinen bewerfen würde, hätte man uns erkannt. Ich hatte gar keine Angst wegen einer persönlichen Gefahr, aber ich fühlte uns alle von einem traurigen, fürchterlichen Schicksal bedroht, und ich war tief beleidigt, daß die Unschuldigen leiden mußten. Der schöne Aufenthalt meines Vaters, in dem ich so [19] viele glückliche Stunden der Kindheit verbracht hatte, erschien mir jetzt wie eine Art Gefängnis, über dem eine düstere Zukunft schwebte.

Eines Tages wurde die Stadt alarmiert durch die Nachricht, daß die verhaßte Maitresse heimlich auf dem Lustschloß angekommen sei, daß man die Flucht des Fürsten vorbereite, daß man die Arbeit an der Konstitution suspendieren wolle, daß man einen Staatsstreich beabsichtige, und was der Gerüchte mehr waren. Das war der Funken, der in die Pulvermine fiel. Im Nu waren die Straßen von tobenden Massen erfüllt, die sich dann, unter der Leitung ihrer Führer, zu einem ungeheuren Zuge ordneten und mit Geschrei und Drohungen der Sommerresidenz zuzogen. Die meisten Bewohner unseres Hauses waren ausgegangen, um die Ereignisse zu verfolgen und die Rückkehr der Volksmassen zu beobachten. Der jüngste meiner Brüder, ein Knabe von sechzehn Jahren, ein Diener und der alte Schreiber meines Vaters bildeten das ganze männliche Personal, das im Hause zurückblieb. Außerdem waren meine Mutter, die alte Tante, meine jüngere Schwester, ich und einige Dienstmädchen zu Haus. Im ersten Stock war die fürstliche Kanzlei mit wichtigen Papieren. Der alte Schreiber saß darin wie ein Soldat auf seinem Posten und erwartete die Ereignisse. Die Stadt war beinah leer, denn die lärmende Prozession, die nach dem Lustschloß gezogen war, brauchte mehrere Stunden, ehe sie zurückkehren konnte. Die übrigen Einwohner blieben still in ihren Häusern. Von unseren Fenstern aus konnte man die lange Straße hinunter bis zum Tor hinsehen, von wo der Weg zum Lustschloß führte. Nach einigen Stunden angstvoller Erwartung hörten wir einen Lärm, dem fernen Rauschen des Ozeans ähnlich. Bald sahen wir eine dichte, schwarze Masse in der Ferne erscheinen, die sich langsam heranbewegte und die Straße ihrer ganzen Breite nach ausfüllte. Ein Mann von ungewöhnlicher Größe ging voraus und schwang einen dicken Stock in der Hand. Dies war ein Bäcker, der das Haupt der Bewegung geworden war. Plötzlich hielt er vor unserem Hause still und mit ihm [20] die ganze Masse, die ihm folgte. Er erhob seinen Stock gegen unsere Fenster und stieß furchtbare Verwünschungen aus. In demselben Augenblick erhoben sich Tausende von Händen und Stöcken und Tausende von Stimmen schrieen und brüllten. Kaum daß wir Zeit hatten, uns von den Fenstern zurückzuziehen, so flogen schon große Pflastersteine gegen die Fenster des ersten Stocks und einige erreichten sogar den zweiten Stock, den wir bewohnten. Zu gleicher Zeit erfolgten heftige Schläge gegen die Haustür. Mein junger Bruder hatte die Geistesgegenwart gehabt, beim Herannahen der Volkshaufen die Türe zu schließen und die inneren Riegel vorzuschieben. Die wütende Menge wollte die Türe mit Gewalt öffnen, und Gott weiß, welches unser Schicksal gewesen wäre, wenn nicht zu rechter Zeit Hilfe gekommen wäre. Zwei junge Offiziere zu Fuß brachen sich Bahn durch die Menge. Es waren der Erbprinz und sein Adjutant. Sie stellten sich vor unsere Tür und der Erbprinz richtete einige Worte an die Aufrührer, befahl ihnen auseinanderzugehen und sich zu beruhigen, und versprach, daß ihre gerechten Wünsche gehört und befriedigt werden sollten. Dieser Beweis von Mut machte einen großen Eindruck. Zu gleicher Zeit sah man langsam eine Abteilung Kavallerie, den gezogenen Säbel in der Hand, die Straße herabziehen. Die Massen fingen an sich zu zerstreuen, indem sie immer noch Verwünschungen und Drohungen ausstießen. Nachdem die Straße gesäubert war, kam der Prinz zu uns herauf, um meiner Mutter sein Bedauern und seine Teilnahme auszusprechen und ihren Dank zu empfangen. Am Abend waren die Zimmer meiner Mutter voller Menschen. Freunde und Bekannte eilten herbei, um sich nach unserem Befinden zu erkundigen. Mehrere Anführer der liberalen Partei, in der Uniform der Nationalgarde, befanden sich darunter.

So endete die lichterfüllte Zeit der ersten Kindheit unter den Donnerschlägen, die einen großen Teil Europas erschütterten. Die glückliche Sorglosigkeit des ersten kindlichen Alters war vorbei. Ich hatte zum erstenmal eine große [21] tragische Wirklichkeit sich vor mir auftun sehen, und ich hatte leidenschaftlich Partei genommen in einem Konflikt, der allgemeiner Natur war. Natürlich war es für jetzt noch mein Herz, das mein Urteil leitete; es verstand sich, daß die, die ich liebte, recht haben mußten. Aber mein Blick fing an, einen weiteren Horizont zu umfassen. Ich begann Zeitungen zu lesen und den politischen Ereignissen mit großem Interesse zu folgen. Zwar spielte ich noch mit meinen Puppen, doch fühlte ich mich auf der Schwelle eines neuen Lebens. Ich hatte eine zweite Taufe empfangen durch die Hand der Revolution.

7. Kapitel. Völlige Umwandlungen
Siebentes Kapitel
Völlige Umwandlungen

Die Konstitution war vollendet. Sie war in Wahrheit die freisinnigste aller deutschen Konstitutionen. Ihre Einführung sollte mit großer Feierlichkeit geschehen. Das Volk war trunken vor Freude. Überall sah man die nationalen Farben (noch nicht die deutschen Farben, denn die Idee der großen deutschen Einheit war noch unter dem Bann), aber die meines engeren Vaterlandes, die früher auch verboten gewesen, weil sie das Symbol zu freier Bestrebungen waren. Die Nationalgarde vertrat an diesem Tag überall die Soldaten. Der große Platz vor dem Schloß war dicht gedrängt voll Menschen. Die Fenster, die Balkons, die Dächer selbst, waren mit Zuschauern besetzt. Als der Fürst mit seiner Familie auf dem Balkon des Schlosses als konstitutioneller Monarch erschien, empfing ihn ein nicht endenwollender Jubel.

Ich war sehr von dem Schauspiel ergriffen. Der Anblick einer solchen Menge, die von einem einzigen Gefühl, dem der Liebe und der Dankbarkeit erfüllt war, schien mir eine erhabene Sache, obgleich ich nicht recht wußte, wie ich dies Gefühl mit dem des Schreckens und des Hasses vereinigen sollte, das der Anblick dieses selben Volkes mir kurz zuvor [22] eingeflößt hatte. Auch war der gute Eindruck nicht von langer Dauer, denn ich sah bald, daß die Ungerechtigkeit des Volks gegen meinen Vater fortdauerte, gegen ihn, dem sie hauptsächlich diese freisinnige und so freudig bewillkommnete Kon stitution verdankten. Die Ehren, mit denen ihn der Fürst überhäufte, entschädigten sein edles Herz nicht für den Undank des Landes, dem er seine besten Fähigkeiten mit voller Hingebung gewidmet hatte. Ich erinnere mich sehr wohl, wie er eines Morgens, eben aus dem Schlosse zurückkehrend, in goldgestickter Uniform in das Zimmer meiner Mutter trat, mit tiefer Trauer im Antlitz, und ihr sagte: »Ja, eine Exzellenz siehst du vor dir, aber um welchen Preis!« – Der Fürst hatte ihn zum Minister gemacht und ihm das Großkreuz des Hausordens verliehen. Er aber wollte nicht länger im Lande bleiben und bat um einen Gesandtschaftsposten, der ihm auch, obwohl mit Widerstreben seitens des Fürsten, zugesagt wurde.

Der Gedanke einer vollständigen Veränderung unseres Lebens stieg vor meiner Einbildungskraft auf. Ich sollte die Spielplätze meiner Kindheit, meine Freundinnen, meine Stunden, alle Traditionen meines jungen Lebens verlassen! Indem ich an diese Trennung dachte, schien es mir, als würde mein Herz vor Schmerz brechen. Auf der anderen Seite aber entfaltete die Phantasie ihre Flügel und eilte freudig dieser unbekannten Zukunft zu, in der ich so viel Neues lernen, schauen, erleben würde.

Die Veränderung kam, aber in anderer Weise. Der Fürst, der den Forderungen seines Volkes gezwungen nachgegeben hatte, sah bald genug ein, daß er unfähig war, als konstitutioneller Fürst zu regieren, und die Nachricht verbreitete sich, daß er entschlossen sei, zu Gunsten seines Sohnes abzudanken. Wahrscheinlich trug der Wunsch, sich mit derjenigen, die er dem Willen des Volks hatte opfern müssen, wieder zu vereinen, nicht wenig zu diesem Entschluß bei. Aber die Aufrichtigkeit, mit der er sich selbst beurteilte, war darum nicht minder lobenswert und ließ viele seiner Fehler vergessen. Einer seiner Kollegen im Absolutismus, der Kaiser Nikolaus [23] von Rußland, hatte eines Tages gesagt: »Es gibt nur zwei Regierungsformen: den Absolutismus oder die Republik.« Unser Fürst schien diese Anschauung zu teilen, und da er die absolute Macht nicht mehr ausüben konnte, zog er vor, als freier Mensch und einfacher Bürger zu leben.

Mein Vater, auf das dringendste vom Fürsten aufgefordert, beschloß, seinem einstigen Spielgefährten in das freiwillige Exil zu folgen und den Staatsdienst zu verlassen, der ihm so viel bittere Enttäuschungen gebracht hatte. Der Entschluß des Fürsten rief große Beunruhigung hervor, und man bemühte sich, ihm entgegenzuarbeiten. Der Fürst beschloß, heimlich zu gehen, ehe man ihn daran verhindern könne. Er hinterließ ein Dekret, in dem er seinen Sohn für die Zeit seiner Abwesenheit zum Regenten ernannte und seine Rückkehr hoffen ließ. Mein Vater begleitete ihn.

Wir sollten folgen, ohne daß irgend jemand es wüßte, denn der Haß des Volkes gegen unsere Familie schien sich noch gesteigert zu haben seit der Abreise des Fürsten. Die geheimen Vorbereitungen für unsere, ich möchte fast sagen Flucht, hatten etwas Tragisches. Wir konnten unseren Freundinnen weder Lebewohl sagen, noch ihnen Geschenke als Andenken hinterlassen. Sogar die alte Tante durfte den Tag der Abreise nicht wissen; ihr hohes Alter erlaubte ihr nicht, uns zu folgen, und man fürchtete für sie die unvermeidliche Aufregung der Trennung.

An einem Januarmorgen standen wir alle vor Tagesanbruch auf, als alles ringsum noch schlief. Die Vorbereitungen waren während der Nacht gemacht, und der große Reisewagen stand, mit vier Postpferden bespannt, im Hof. Wir verließen leise und schweigend das Haus, ein jeder nahm still seinen Platz im Wagen ein, und die Pferde setzten sich in Bewegung. Wir fuhren durch die noch ganz menschenleeren, schneebedeckten Straßen; über uns spannte sich ein grauer, nebelverhüllter Himmel aus, kaum von der ersten Morgendämmerung erhellt, und jenem unbekannten Schicksal ähnlich, dem wir entgegengingen.

[24] Sollte ich erfahren, daß dieses Schicksal die natürliche Folge einer langen Reihe von Ursachen und Wirkungen ist, die aus dem Zusammenstoß äußerer Umstände mit unserem individuellen Charakter und unseren Handlungen entstehen? Oder sollte ich mich überzeugen, daß das Endziel der menschlichen Schicksale im voraus von einem unerforschlichen Willen gezeichnet ist, der, indem er uns in absurde Widersprüche und grausame Leiden verwickelt, dennoch nur unser Bestes will und uns von jenseits der Wolken dazu leitet?

Zu jener Zeit glaubte ich an die letzte Hypothese!

8. Kapitel. Herumziehendes Leben
Achtes Kapitel
Herumziehendes Leben

Ja, es war ein herumziehendes Leben, das für uns anfing und das sich durch mehrere Jahre fortsetzte – ein Leben ohne bestimmten Plan, ohne regelmäßige Studien, ohne irgend ein System. Es war das ein großes Unglück für mich, denn während dieser Zeit erhielt die träumerische Richtung meiner Phantasie ein solches Übergewicht, daß ich die Folgen davon mein ganzes Leben hindurch gespürt habe. Ich bin überzeugt, daß, wenn ich in jener Zeit hätte ernste, fortgesetzte Studien machen können, meine Fähigkeiten sich mit großer Macht entwickelt hätten, anstatt sich in der Spekulation und den Kämpfen der Einbildungskraft zu verbrauchen. Mich verzehrte ein brennender Durst zu lernen und zu wissen. Wie viel Aufmerksamkeit sollte man in der Erziehung auf solch einen Durst des erwachenden Geistes wenden und wie sollte man bemüht sein, ihn in der rechten Weise zu befriedigen! Es gehört gewiß zu den größten moralischen Martern, wenn ein junges Wesen sich mit Inbrunst zu den unbekannten Regionen des Wissens und des Ideals hinsehnt und weder Mensch noch Gott findet, um seinen Wunsch zu erhören und diesen Schrei der Sehnsucht nach dem Manna in der Wüste zu befriedigen. Das sind die Märtyrer der erwachenden Intelligenz, die Führer und Antworten verlangen, und statt[25] dessen unter dem Druck der Mittelmäßigkeit, die sie umgibt, oder der Lasttierarbeit, die man ihnen auferlegt, ersticken.

Meine vortrefflichen Eltern konnten zu der Zeit kaum dem Mangel an Unterricht abhelfen. Ihr eigenes Leben war entwurzelt. Der Fürst, dessen Schicksale mein Vater teilte, reiste im südlichen Deutschland umher, ohne sich irgendwo länger als einige Monate niederzulassen. Wir folgten ihm, und so fehlte immer die Zeit, einen Kursus regelmäßiger Studien anzufangen. Von allen Kindern waren nur noch meine jüngste Schwester und ich bei meiner Mutter. Sie konnte sich nicht entschließen, sich von uns zu trennen und uns in eine Pension zu geben. Man beschloß, eine französische Gouvernante zu nehmen, die uns überall hin folgen könnte. Wir sprachen noch nicht gut französisch, und dieser Mangel wurde für mich eine Quelle großer Demütigung. In Frankfurt am Main, wo wir einen Winter zubrachten, konnten meine Eltern, die viele Bekannte da hatten, sich den Besuchen und Einladungen nicht entziehen. Auch meine Schwester und ich wurden in den Kreis jugendlicher Bekanntschaften gezogen und u.a. zu einem Kinderball eingeladen in einem der reichsten Häuser der Stadt, in dem Luxus und verschwenderische Üppigkeit herrschten. Als wir aus dem Wagen stiegen, wurden wir am Fuß der Treppe von den zwei Söhnen des Hauses, Knaben unseres Alters, die mit Glacéhandschuhen und dem Hut in der Hand dort harrten, empfangen und die Treppe hinaufgeführt. Ihre Schwester, unsere junge Wirtin, war von einer bezaubernden Schönheit, sprach mehrere Sprachen in größter Vollkommenheit, tanzte mit unbeschreiblicher Grazie und besaß schon völlig die Sicherheit und die Manieren einer vollendeten Weltdame. Sie empfing uns mit der vornehmen Höflichkeit einer solchen und stellte uns sogleich mehreren ihrer jungen Freundinnen vor, die ihr, wenn auch nicht an Schönheit, doch an Eleganz der Manieren ähnlich waren. Sie schienen mir alle so überlegen, daß es mich förmlich erdrückte. Die Unterhaltung wurde fast fortwährend in französischer Sprache geführt, denn diese jungen Wesen, obgleich alle Deutsche, [26] sprachen diese Sprache geläufiger wie ihre Muttersprache. Ich konnte nur in Monosyllaben antworten und beobachtete ein ängstliches Schweigen, da ich nicht zu gestehen wagte, daß ich noch so wenig Französisch wisse. Meine Demütigung aber erreichte den Gipfel, als der Tanz begann. Ich war ganz unbekannt mit all den modernen Tänzen, die auf einer eleganten Karte verzeichnet waren, die man mir überreicht hatte. Mich unter jene jungen Mädchen zu mischen, die mit vollendeter Tanzkunst ihre Pas ausführten, schien mir unmöglich. Ich beschloß daher rasch, gar nicht zu tanzen, unter dem Vorwand, daß der Tanz mir Kopfweh mache, und blieb den ganzen Abend traurig an meinen Platz gefesselt, die glücklichen Geschöpfe betrachtend, vor denen ich mich wie vernichtet fühlte, ich, die ich mich in meinen Träumen der heroischesten Taten, der großmütigsten Hingebung fähig fühlte. Meine Schwester, die unbefangner, weniger ehrgeizig und in diesem Fall weiser war, tanzte, brachte Verwirrung in die Kontertänze, lachte herzlich darüber, antwortete deutsch, wenn man sie französisch anredete, und belustigte sich sehr. Ich kam enttäuscht und traurig nach Haus, krank vor Verlangen nach dem, was mir plötzlich einen ungeheuren Wert zu haben schien – nach einer modischen Erziehung.

Ich begrüßte also den Plan, eine Erzieherin zu nehmen, bei der ich Französisch und überhaupt wieder regelmäßig lernen könne, mit Entzücken. Die Erzieherin kam, aber schon ihr Äußeres entsprach nicht der Idee, die ich mir von ihr gemacht hatte. Nicht nur, daß sie von einer wirklich unangenehmen Häßlichkeit war, auch ihre Manieren hatten etwas so Angelerntes, ihre Höflichkeit war so konventionell, voller Phrasen und so ohne Herz, daß es mir höchst unangenehm auffiel. Ich hatte zu viel Empfindung, um das für gute Manier zu halten. Ich bestrebte mich jedoch, ihr mit Respekt entgegenzugehen, und war glücklich, als am ersten Tag ein Stundenplan gemacht und eine regelmäßige Zeiteinteilung festgestellt wurde. Leider gehörte nur kurze Zeit dazu, um mich zu überzeugen, daß sie nicht die Person war, die meinen [27] Durst nach Wissen befriedigen konnte. Sie wußte nichts, außer einem gewissen Katechismus, auf jedem Felde, wo sie zu lehren unternahm. Eine Frage außerhalb dieses Katechismus fand sie ohne Antwort. Ich fühlte bald eine geheime Empörung gegen dieses armselige Lehren in mir aufsteigen und wandte mich, mit größerer Leidenschaft denn je, zum Lesen. Wir mußten durch den Lesekursus hindurch, den eine französische Gouvernante damals unwiderruflich vorschrieb: die Schriften von Mme. Cottin: Les enfants de l'Abbaye, Caroline de Lichtfield etc. Ich las das alles und lebte in einer eingebildeten Welt exaltierter Tugenden, furchtbarer Verfolgungen und Verbrechen, glorreicher Triumphe des Guten über das Böse.

Meine Mutter, der Gesellschaft ihrer erwachsenen Kinder und ihrer alten Freunde beraubt, verschloß sich mehr und mehr in sich selbst. Meine jüngere Schwester, eine sanfte, ruhige Natur, verstand meine inneren Aufregungen und Qualen nicht. Ich fand mich allein mit allen brennenden Fragen meines Innern und wurde nervös und aufgeregt, so daß es endlich meine Gesundheit angriff. Ich hatte besondere Erscheinungen der Einbildungskraft, beinahe Halluzinationen. So konnte ich z.B. lange Zeit nicht von einem Verbrechen oder Laster reden hören, ohne von einer grausamen Aufregung erfaßt zu werden. Es schien mir, daß, weil so abscheuliche Möglichkeiten überhaupt in der menschlichen Natur vorkämen, sie auch sehr wohl im Grunde meines eigenen Wesens schlummern könnten. Diese eitlen Schrecken gewannen oft eine solche Stärke, daß sie meinen Schlaf störten und mich um so grausamer quälten, als ich mit niemand davon sprechen konnte. Das rechte Lernen allein hätte sie zerstreuen können; an dem reinen Lichte der Erkenntnis hätte ich, mit dem freien Gebrauch meiner Fähigkeiten, den Frieden gefunden.

Endlich konnte ich die geistlose Mittelmäßigkeit des Unterrichts der Gouvernante nicht mehr aushalten und sprach eines Abends ernstlich davon mit meiner Mutter. Sie stimmte mir [28] bei und versprach, sie zu verabschieden. Unglücklicherweise war die Person, die der Gegenstand dieser Unterhaltung war, im nächsten Zimmer gewesen und hatte alles gehört. Sie war sehr böse und verlangte augenblicklich ihre Entlassung. Ich war sehr froh über den Erfolg, aber ich bedauerte die Art, wie ich ihn erhalten hatte. Irgend jemandem, wer es auch war, wehe zu tun, gehörte immer zu den traurigsten Dingen meines Lebens. Nachdem die Gouvernante einen sehr kühlen Abschied von uns genommen hatte, schrieb ich ihr einen Brief, in dem ich sie bat, mir zu verzeihen.

9. Kapitel. Wieder ein fester Wohnsitz
Neuntes Kapitel
Wieder ein fester Wohnsitz

Dem Wanderleben mußte endlich ein Ziel gesetzt werden. Man mußte einen Ort erwählen, um sich niederzulassen. Dies konnte jedoch nur geschehen, indem wir uns zeitweise wenigstens von unserem Vater trennten, der den Fürsten nicht verlassen konnte, der nie lange an einem Ort weilte. Meine Mutter entschied sich für die Stadt, wo meine älteste verheiratete Schwester lebte – die, die ich in meiner frühesten Kindheit so sehr geliebt hatte. Es war die Stadt Detmold, die Hauptstadt des kleinen Fürstentums Lippe. Mein Vater versprach, von Zeit zu Zeit zu längerem Aufenthalt uns dort zu besuchen. Außerdem versprach er uns fest, daß, wenn alle Söhne in einer unabhängigen Stellung sein würden, er seine Verpflichtung gegen den Fürsten auflösen und sich für immer mit uns vereinigen würde.

Ohne den Schmerz dieser Trennung wäre ich über die Wahl des Aufenthaltes hochbeglückt gewesen. Das Familienleben meiner Schwester war der Widerschein ihrer engelhaften Natur; ihre Kinder glichen ihr an Sanftmut und Liebenswürdigkeit. Die Stadt, wo sie lebte, war eine jener kleinen deutschen Residenzen, die die Hauptstadt eines Ländchens sind, das für einen englischen Aristokraten nur ein mäßiger Grundbesitz sein würde. Es war eine hübsche, reinliche[29] Stadt an einem der malerischesten Punkte des nördlichen Deutschlands gelegen, von Hügeln, mit herrlichen Buchenwäldern bedeckt, umgeben, an die sich historische Erinnerungen ferner Vorzeit knüpften. Mein Schwager war eine der ersten Notabilitäten des Ortes; seine Familie gehörte zu den ältesten der kleinen Aristokratie des Ländchens. Er war von Kindheit auf der Freund und unzertrennliche Gefährte des regierenden Herrn gewesen, und nichts in den öffentlichen Angelegenheiten geschah ohne seinen Rat.

Der Regent des kleinen Staats war ein ehrlicher Mann, gut von Herzen, aber etwas beschränkten Verstandes, und von einer über alles Maß gehenden Schüchternheit, die die Folge der langen Abhängigkeit war, in der ihn seine Mutter gehalten hatte. Diese, Fürstin Pauline, eine Frau von überlegenem Geist und männlicher Bildung, war nahezu an zwanzig Jahre Regentin gewesen, da ihr Sohn ein kleiner Knabe war, als sein Vater starb. Sie allein unter allen regierenden Häuptern Deutschlands wagte es, dem fremden Eroberer entgegenzugehen, um ihm die Sprache der Vernunft und Menschlichkeit zu reden. War der Gefürchtete erstaunt, daß eine Frau wagte, was die anderen nicht gewagt hatten? Hatte er einen anderen Beweggrund? Genug, er behandelte sie mit Anerkennung und zog vorüber, ohne das kleine Ländchen und seine mutige Regentin zu belästigen.

Sie war eine Freundin der Wissenschaften und der Literatur, berief mehrere ausgezeichnete Männer an ihren Hof und bemühte sich, Aufklärung und Moralität in ihrem kleinen Lande zu verbreiten. An der Spitze eines großen Königreichs würde sie eine Katharina die Zweite gewesen sein, ohne deren Laster. Das einzige, was ihr nicht gelang, war die Erziehung ihrer beiden Söhne, ihrer einzigen Kinder. Um ihnen die Grundsätze strenger Moralität beizubringen, hatte sie sie dermaßen tyrannisiert und so lange wie Kinder behandelt, daß der älteste, schon scheu und zurückhaltend von Natur, ein halber Wilder geworden war. Der zweite, ein leichtsinniger, ausschweifender Mensch, hatte sich, einmal von der mütterlichen [30] Autorität befreit, einem liederlichen Leben ergeben. Er war im Militärdienst aller möglichen Länder gewesen, hatte immer schlechten Betragens wegen den Dienst verlassen müssen, und sein Bruder hatte ihn mehr wie einmal vom Schuldgefängnis losgekauft. Der älteste, nach dem Tod der Mutter zur Regierung gelangt, führte ein wahres Einsiedlerleben. Seine Frau war ein gutes, sanftes Wesen, die sich der gänzlichen Zurückgezogenheit und der strengen Lebensweise ihres Gatten unterwarf. Sie hatten viele Kinder und führten ein exemplarisches Familienleben. Ihr altes Schloß mit hohen Ecktürmen und kleinen Türmchen war von Gärten umgeben, die auf den alten Wällen gepflanzt waren, und diese umschloß ein breiter Graben, auf dem Enten und Schwäne friedlich hausten. Von der öffentlichen Promenade aus konnte man die fürstliche Familie in diesen Gärten spazieren gehn sehn, aber niemals setzte ein Mitglied derselben einen Fuß in die Straßen der Stadt. Ein oder zwei Mal im Jahr war ein Galadiner auf dem Schloß, zu dem auch die Damen, deren Rang sie zu dieser Ehre berechtigte, eingeladen wurden. An dem Tag, wo dieses große Ereignis stattfand, rollten die Hofwagen in der Stadt umher, um die Damen abzuholen, da die Toiletten sonst zu sehr gelitten hätten, weil es keine geschlossenen Wagen in der kleinen Stadt gab und man sonst in Gesellschaften, ja auch auf Bälle, zu Fuß ging. Die Tafeln waren eine harte Aufgabe für den armen Fürsten; er mußte dann an all den Damen, die in einer Linie aufgestellt waren, vorüberdefilieren und einer jeden wenigstens ein paar Worte sagen. Steif wie ein Stück Holz in seine Uniform eingeschnürt, die Lippen zusammengepreßt, stammelte er mit ungeheurer Anstrengung irgend eine Banalität über das Wetter oder über einen anderen ebenso unbedeutenden Gegenstand. Kaum hatte er eine Antwort erhalten, so schob er weiter und schien wie von einem schweren Druck befreit, wenn er glücklich bei den Herren angelangt war.

Er hatte bei alledem zwei Leidenschaften, die ihn aus seiner Höhle herauslockten: die Jagd und das Theater.

[31] Die herrlichen Wälder, die die kleine Residenz umgaben, waren voller Wild, dessen einziger legitimer Jäger er war. Im Winter verging fast kein Tag, an dem man nicht zwei oder drei fürstliche Schlitten durch die Straßen der Stadt und über die schneebedeckten Landstraßen fliegen sah, die diese Nimrod-Familie in die Wälder entführte, alle zusammen, die Eltern und die Kinder. Sie blieben den ganzen Tag im Walde. Der Fürst und die älteren Söhne jagten; die Fürstin mit den übrigen Kindern, in ihre Pelze eingehüllt, blieben entweder in den Schlitten sitzen, oder gingen auf dem Schnee spazieren. Vergebens klagten die Lehrer, daß der Unterricht bei dieser Lebensweise Schaden leide. Die geistige Entwicklung der Kinder wurde dem Familienleben und dem Wildpret geopfert.

Die zweite Leidenschaft des Fürsten, die für das Theater, wurde auf Kosten der Revenüen des kleinen Staats befriedigt. Man flüsterte sich wohl zu, daß die Ausgaben unverhältnismäßig groß wären, aber die Landstände, die sich unter der Regentin-Mutter noch regelmäßig versammelt hatten, wurden von dem Sohn nie mehr einberufen. Niemand kontrollierte die Ausgaben. Die Freunde des Fürsten sagten, man könne ihm doch das eine Vergnügen lassen, da er übrigens so einfach und moralisch lebte. Auch muß man sagen, daß sein Theater unter die besten in Deutschland gehörte, und daß die größten Künstler es nicht verschmähten, Vorstellungen daselbst zu geben. Die besten dramatischen Werke, sowie die besten Opern wurden mit einer ziemlich seltenen Vollendung gegeben. Es war demnach natürlich, daß das Theater der Mittelpunkt der Interessen und Gespräche der kleinen Residenz war, und man kann nicht leugnen, daß es zur Quelle einer Art künstlerischer und intellektueller Erziehung wurde, die die Gesellschaft weit über die anderer gleich großer Provinzstädte erhob.

Nach dem Theater gab es noch eine andere Anstalt, die zur Unterhaltung der Gesellschaft diente, an der aber der Fürst keinen Anteil hatte. Dies war eine Art Klub, dem man den [32] französischen Namen »Ressource« gegeben hatte, anstatt ihn einfach Verein oder etwas dergleichen zu nennen. Dort vereinigten sich die Herren der Gesellschaft; die Familienväter, besonders aber die jungen unverheirateten Leute, verbrachten da einen großen Teil des Tages und fast immer die Abende, um Zeitungen zu lesen, Karten und Billard zu spielen, Wein und Bier zu trinken, die Neuigkeiten der großen und kleinen Welt zu besprechen und unglaubliche Massen von Tabakswolken in die Luft zu schicken. Am Sonntagabend war auch den Damen Zutritt gestattet, und dann nahm das Ganze einen anderen Anstrich an. Die Herren erschienen im Frack, die Pfeifen und Zigarren verschwanden, die älteren Herren und Damen spielten Karten, die jungen Leute unterhielten sich mit Gesellschaftsspielen, mit Gespräch und Tanz. Einmal im Monat war ein großer Ball.

In dieser Weise schufen sich die kleinen deutschen Städte ein geselliges Leben, da es keine großen Vermögen dort gab und die meisten Einwohner Beamte mit Besoldungen waren, die gerade nur für das Notwendigste hinreichten. In solch einem Verein aber konnte ein jeder mittels eines kleinen Beitrages sich mit seinen Bekannten treffen und die Freuden der Geselligkeit genießen, ohne daß es seine Mittel überstieg. Der Ton, der in diesen Vereinen herrschte, war sicher nicht der letzte Ausdruck feiner geselliger Bildung; aber da, wo, wie in dem Städtchen, von dem ich spreche, ein kleiner Hof, ein gutes Theater, ein treffliches Gymnasium, eine gute Töchterschule und einige Männer von Geist und Verdienst in den Wissenschaften sich vorfanden, herrschte doch eine gewisse Erhebung in den Ideen, die sich den Manieren und dem Ton der Unterhaltung mitteilte. Meine Schwester und ich gehörten noch nicht eigentlich der Gesellschaft an, denn wir waren noch nicht konfirmiert, und dies war, wenigstens damals, in Deutschland das Signal für die jungen Mädchen, um in die Reihen der Erwachsenen eingeführt zu werden. Unser Wanderleben hatte diesen Vorgang etwas verspätet, und wir bedurften noch eines ganzen Jahres Vorbereitung durch Religionsstunden. [33] Wir erhielten diese von dem ersten Prediger der Stadt. Dies war ein noch junger Mann, schön wie ein Christus, mit einem Lächeln des Wohlwollens auf den Lippen. Er war nicht sehr orthodox, hatte aber eine große Güte und eine sanfte sentimentale Religiosität, die ihn allen seinen Schülern wert machte, denn er war es, der die Jugend der Gemeinde konfirmierte. Seine Frau war eine höchst ausgezeichnete Person, die Tochter eines der ersten Kirchenredner in Deutschland. Sie war orthodoxer als ihr Mann, aber auch energischer und von größerer Intelligenz. Zugleich war sie der Modelltypus einer Familienmutter. Da sie nur sehr bescheidene Mittel hatte, um eine zahlreiche Familie zu erziehen, so erfüllte sie selbst die geringsten Pflichten des häuslichen Lebens und besorgte mit einem Dienstmädchen den ganzen Haushalt. Während ihre geschickten Hände das Mittagessen bereiteten, sang sie ein deutsches Lied für den Säugling, der neben ihr im Korbwägelchen lag. Wenn das Essen so weit gediehen war, daß das Feuer das Übrige tun konnte, rollte sie den Wagen in die kleine Umzäunung, die man den Garten nannte. Hier fand sie andere, etwas größere Kinder, die um einen Nußbaum, die einzige Zierde dieses Platzes, herumspielten. Die Zweige dieses Baumes bildeten ein grünes Laubdach vor einem Fenster des zweiten Stocks, an dem ein prächtiger Rosenstock im Topfe blühte. Von Zeit zu Zeit erschien das schöne, gute Antlitz des Predigers an diesem Fenster und lächelte von oben seinen Geliebten unten zu.

In dem Zimmer des zweiten Stocks, das von diesem Zimmer erhellt wurde, begann nun ein wichtiger Abschnitt meines Lebens. Es war das Arbeitszimmer des Predigers. Während eines ganzen Jahres gingen meine Schwester und ich wöchentlich zweimal dorthin, um in den Dogmen der protestantischen Kirche unterrichtet zu werden.

Ich ging diesem Unterricht mit wahrer Inbrunst entgegen. Ich hoffte die Offenbarung der Wahrheit zu empfangen und das Geheimnis des Lebens – das Wort, das für immer mein Sein bestimmen sollte, zu finden. Die ruhige kleine Stube [34] mit ihren einfachen Möbeln und ihren Büchern; die Strahlen der Nachmittagssonne, die in den Zweigen des Nußbaums spielten und einen Heiligenschein um das Haupt des Lehrers bildeten – alles das hatte eine sanfte, mystische Harmonie, wie ein Echo der ersten Zeiten des Glaubens. Ich wähnte mich in einer andern Welt, in der Gegenwart Gottes selbst. Ich fühlte mich stark, um den Kampf mit der Erbsünde zu beginnen, an die man mich glauben lehrte, mit der Welt, die dem Geist entgegengesetzt ist. Ich nahm es ernst mit dem Heil meiner Seele. Ich wollte nicht bei den Worten stehen bleiben, sondern die christliche Askese in Wirklichkeit üben und den Sieg des Geistes über das Fleisch erringen, den mir das Dogma als das Ziel der Vollkommenheit zeigte. Aber, gerade als wolle der Versucher mich auf die Probe stellen, so fühlte ich zu gleicher Zeit die Liebe zum Leben und zu allem, was es Schönes bietet, in voller Stärke in mir erwachen. Der Dämon führte mich immer von neuem auf die Höhen, zeigte mir die Schätze des Daseins und sagte: alles das wolltest du verlassen?

Man führte um diese Zeit meine Schwester und mich ausnahmsweise auf einen Ball. Ich wurde von einem jungen Mann zum Tanz aufgefordert, dessen Äußeres und dessen Unterhaltung sehr interessant waren. Ich weiß nicht, wie es zuging, aber sein Bild nahm von diesem Abend an Besitz von meiner Einbildung und mischte sich in meine Träume. Ich sah ihn sehr selten und sprach ihn noch seltener. Er konnte nie vermuten, daß er meine Gedanken beschäftigte, und nicht von ferne ahnen, daß er jeden Tag mit dem strengen Gott, der mein ganzes Herz verlangte, um die Sympathie, die es zu ihm hinzog, kämpfen mußte. Eines Tages erfuhr ich zufällig, daß er, gegen den Willen seines Vaters, einem sehr hübschen, aber oberflächlichen uninteressanten Mädchen den Hof mache. Diese Entdeckung verursachte mir vielen Schmerz, aber sie änderte nichts an meinem selbstlosen Gefühl. Ich betete nun für beider Glück und fand eine Gelegenheit mehr, den Dämon in mir zu überwinden indem ich meiner glücklichen [35] Rivalin jedesmal, wenn ich ihr begegnete, die freundlichsten Aufmerksamkeiten erzeigte.

Zu gleicher Zeit schloß ich eine besondere Freundschaft inmitten der vielen freundschaftlichen Beziehungen, die wir zu jungen Mädchen unseres Alters hatten. Diese Freundschaft entsprach dem exaltierten Zustand meiner Seele und trug dazu bei, ihn noch zu erhöhen. In dem Hause neben dem unsern, nur durch einen kleinen Garten getrennt, lebte eine Familie, in der zwei Töchter gleichen Alters mit meiner Schwester und mir waren. Die jüngere war eine Schönheit. Der Vater, ein redlicher Geschäftsmann, gehörte zu den Notabilitäten der Stadt. Die ältere der Schwestern war ein Jahr älter als ich und bereits konfirmiert. Sie war ein blasses, sanftes, ernstes Wesen, ein Modell häuslicher Tugenden. Sie machte mir den Eindruck einer Heiligen. Als sie sich mir eines Tages näherte und mir, wie sie sagte, ihre Liebe und Bewunderung kund tat, war ich ganz verwirrt und beschämt. Ich glaubte solche Anerkennung nicht zu verdienen, und ich fühlte mich sogleich verpflichtet, ihr den Zustand meiner Seele zu offenbaren, ihr von den Kämpfen, die mich bewegten, zu sprechen, von der inneren Empörung, die mich nur zu oft von dem christlichen Ideal, das ich erreichen wollte, entferne. Ich legte diese Beichte schriftlich ab, denn ich hatte nicht den Mut, so schreckliche Dinge mündlich zu sagen. Ich wollte ihre Neigung nicht besitzen, indem ich sie glauben ließ, ich sei besser, als ich mir selbst erschien. Ich zog es vor, ihr die bittere Wahrheit zu sagen, als wie sie ein Glück finden zu lassen, dem eine Enttäuschung folgen mußte. Nachdem ich ihr also mein Herz geöffnet hatte, dachte ich, daß ihr erster Blick mir zeigen müsse, wie unwürdig sie mich der Gesinnungen fände, die sie mir bezeigt hätte. Wie groß war daher mein Erstaunen, als ich eine Antwort erhielt mit einem dem meinen ganz ähnlichen Bekenntnis, nur noch viel sentimentaler, viel unklarer! Von diesem Augenblick nahm ich ihre Freundschaft ohne Bedenken an. Ich fand einen großen Trost in diesen Herzensergießungen, in dieser Möglichkeit, [36] mich in einem andern Gewissen wie in einem Spiegel zu schauen, mir aus der Kraft einer andern Seele einen Wall gegen die eigene Schwachheit zu machen. Ich begriff damals, welche Macht die Beichte in der katholischen Kirche werden mußte. Ich bewunderte diese Einrichtung, wennschon ich ihren Mißbrauch verdammte. Es schien mir, als gehöre so viel moralischer Mut dazu, um einem anderen frei zu sagen, was sich im »Labyrinth der Brust« bewegt, daß das allein schon die Sünde tilge.

Aber trotzdem entdeckte ich mit Grauen jeden Tag neue Abgründe von Skeptizismus in mir. Das Dogma der Erlösung gab mir viel zu denken. So wie ich es mir erklären, mir eine logische, umfassende Anschauung davon machen wollte, sah ich nichts wie Widersprüche. Gott, der die höchste Weisheit und Güte sein sollte – konnte er den Menschen mit der Fähigkeit zur Freiheit schaffen, indem er ihn zugleich zum blinden Gehorsam, zur ewigen Unterwerfung unter die absolute Autorität verdammte? Er hatte ihm das Paradies gewährt mit der Bedingung, Sklave zu bleiben. Sobald der Mensch seine Individualiät bejahte und sich wahrhaft Mensch machte, indem er für sich selbst urteilte, wurde nicht nur er aus dem Paradies vertrieben, sondern auch seine Nachkommenschaft bis in das fernste Glied, die doch keinen Teil an der Übertretung gehabt hatte. Alles das endlich war nach einer unwiderruflichen Vorherbestimmung so geordnet, damit ein einziger, der Gott war und zugleich auch nicht Gott, sich opfere, um die Menschheit von einer Sünde zu retten, die sie nicht begangen hatte. Wo war denn das Verdienst Christi, für den der kurze Moment des irdischen Leidens nichts war im Vergleich mit seiner göttlichen Ewigkeit, da er vom Kreuz aufstieg in die Herrlichkeit zur Rechten Gottes? Diese letztere Idee hatte mich schon frappiert, als ich noch ein Kind war. Ich hatte noch niemals das Bedürfnis eines Mittlers und Erlösers gefühlt. Es hatte mir immer geschienen, als müsse das Herz Gott ohne Vermittlung finden, sich unmittelbar ihm vereinen.

[37] Aber wie sehr lastete das Gewicht dieser Widersprüche, dieser Fragen ohne Antwort auf meinem Gewissen! Wie fühlte ich mich unglücklich und verloren in diesem Labyrinth von Gedanken, in diesem Kampfe zwischen Vernunft und Glauben! Ich lag stundenlang auf den Knieen und betete mit heißen Tränen, daß Gott mir beistehen, mir den wahren Glauben geben, mich retten möge vor dem Elend eines denkenden Geistes, vor der Sünde der Logik, die so verderblich ist für den blinden Gehorsam. Ich flehte ihn an, mir das mystische Geschenk der Gnade zu geben.

Nur meiner Freundin sprach ich von den tiefen Erregungen, von den dunklen Kämpfen, die mich bewegten, aber immer schriftlich. Die Dienstmädchen wunderten sich über die Menge Briefe, die sie von einem Nachbarhaus zum andern tragen mußten, während wir uns in kürzerer Zeit, als nötig war, sie zu schreiben, hätten sehen und sprechen können. Die meinen waren meistenteils in Versen, da mir die rhythmischen Formen damals viel geläufiger waren als die ungebundene Rede. Der Hauptgegenstand dieser Poesien war der Wunsch nach dem Tode, der völligen Versenkung in die abstrakte Vollkommenheit, der Wunsch, frei zu werden von den irdischen Fesseln, um mit entfalteten Flügeln dem Ideale zuzueilen. Der Wunsch nach dem Tode war zuweilen so stark in mir, daß ich meine schwankende Gesundheit, die meiner Mutter Besorgnisse einflößte, mit Befriedigung sah.

So lange ich aber leben mußte, wollte ich streng nach den Vorschriften der Kirche leben. Ich nahm den Dualismus zwischen dem Geist und der Welt, von dem mir das Dogma sprach, im Ernst, und beschloß, die Welt und ihre Versuchungen zu fliehen. Ich begann damit, nicht mehr in das Theater zu gehen, das ich leidenschaftlich liebte; ich verweigerte, die Meinen in Gesellschaften zu begleiten. Sie verstanden das nicht und hielten es für überspannte Launen. Da erfand ich Vorwände, um zu Haus zu bleiben und der Qual zu entfliehen, ihnen den Zustand einer Seele zeigen zu müssen, der ihnen krankhaft erschien. Zuweilen bat ich sie aber auch [38] mit Tränen, mir nicht zu zürnen, sondern mir zu glauben, daß ich Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen.

Jeden Sonntag ging ich regelmäßig in die Kirche. Da, vor allem, war ich ganz versenkt in den großen Gegenstand, der mich beschäftigte; und ich verlor das Bewußtsein von allem, was mich umgab, und hing nur an des Predigers Lippen. Eines Tages machte mir eine sehr weltliche Dame Komplimente über meine Frömmigkeit und sagte, daß der Ausdruck der Andacht in meinem Gesicht die ganze Gemeinde erbaue. Das gab mir einen argen Stoß, und meine Unbefangenheit wurde für lange Zeit gestört. Ein Gefühl der Eitelkeit mischte sich von da an unwillkürlich in meine Sammlung. Ich erfuhr zu der Zeit mehrere Male, welchen Schaden unbesonnene und frivole Worte anstiften können. Mein Schwager, der in dieser Beziehung nicht sehr skrupulös war, neckte mich eines Tages mit meiner Verehrung für meinen Religionslehrer und fügte mit ironischem Lächeln hinzu, daß man wohl wisse, weshalb die jungen Mädchen so gern Stunden bei ihm hätten. Ich antwortete nichts darauf, aber es verwundete mich tief. Das Gefühl der Ehrfurcht, das ich für den Prediger hegte, schien mir profaniert, und noch lange Zeit fühlte ich die Wunde, die mir die Frivolität geschlagen hatte.

Die Freundschaft, mit der die Frau meines Lehrers mich ehrte, wurde mir zu einem großen Trost.

Die bösen Zungen der Stadt hatten viel gegen sie zu sagen, besonders die, die es für das »ewig Weibliche« halten, die Interessen der Kinderstube und des Haushalts mit in den Salon zu bringen, aus dem einfachen Grunde, weil sie keine andern haben. Ich habe schon früher gesagt: die Frau des Predigers erfüllte ihre Pflichten im Hause mit höchster Gewissenhaftigkeit, was sie aber nicht hinderte, für den häuslichen Kreis und für ihre Freunde noch andere Gegenstände des Gesprächs zu haben. Man beschuldigte sie der Affektation, weil sie die Sprache eines gebildeten Geistes sprach; man nannte sie falsch, weil sie mit allen Menschen höflich war, [39] aber sich nur wenigen ganz gab. Ich fand weder den einen noch den anderen Fehler an ihr, und ich genoß die Stunden, die ich bei ihr zubringen konnte, wie Stunden wahren Fortschritts für mich. Sie behandelte mich mit großer Güte, als sei ich ihr ebenbürtig an Intelligenz und Erfahrung. Meine Beziehungen zu der Familie beschränkten sich damals auf die Eltern, denn die älteste Tochter, die mir im Alter nahe stand, beendete ihre Erziehung im Hause ihres Großvaters in einer anderen Stadt, und die zweite Tochter war noch ganz Kind. Zuweilen, wenn ich in das Zimmer der Mutter trat, sah ich einen jungen Menschen, kaum erst Jüngling, bleich und scheu, an einem Schreibtisch sitzen und arbeiten. Gewöhnlich stand er auf, wenn ich kam, grüßte linkisch, ohne aufzusehen, und verschwand. Es war der älteste Sohn.

Unser Lehrer wünschte, daß wir die letzte Zeit vor der Konfirmation an den Stunden teilnähmen, die er den Kindern, die konfirmiert werden sollten, in Gemeinschaft gab. Mich rührte und erfreute dieser Wunsch. Ich hatte niemals den Reiz empfunden, mit andern, außer meiner Schwester, zusammen zu lernen. Es schien mir schön, gerade bei dieser Gelegenheit zum erstenmal in eine Gemeinschaft einzutreten, deren meiste Mitglieder in der Gesellschaft weit unter mir standen, vor Gott aber meinesgleichen waren. Die meisten der sechzig Kinder, Knaben und Mädchen, waren einfache Bauernkinder. Ich nahm mit lebhafter Freude meinen Platz zwischen ihnen auf den Holzbänken ein und vergaß darüber, daß das Zimmer klein und von einer Luft erfüllt war, die durch die Ausdünstungen der oft unreinlichen und feuchten Kleider dieser armen Kinder, die in jedem Wetter vom Lande hereinkamen, verpestet war. Meine Gesundheit, wie schon gesagt, war sehr zart; aber ich würde mich selbst verachtet haben, hätte ich meine Schwäche und meinen Widerwillen nicht überwinden können. Da fühlte ich mich so frei, als ich in anderer Gesellschaft schüchtern war. Meine Zweifel, meine Bedenken waren eine Sache für sich; was die Dogmen und die Lehre anbetraf, so wußte ich alles vollkommen. Auch[40] war ich ohne Furcht, als der Tag des öffentlichen Examens kam. Es war mir eine heilige Pflicht, vor der Gemeinde Rechenschaft davon abzulegen, daß ich den Inhalt der christlichen Lehre kenne und es verdiene, aufgenommen zu werden. Die Kirche war gedrängt voll Menschen; ich gab meine Antworten mit fester Stimme, und man sagte mir nachher, man habe mich in der fernsten Ecke der Kirche verstanden. Zu Haus freute man sich meines Erfolgs. Mir aber war das noch keine Befriedigung. Das Unendliche zu erfassen, die Offenbarung der ewigen Wahrheit zu erhalten, durch die göttliche Gnade in ein neues ideales Wesen, ohne Fehler und Flecken, verwandelt zu werden, das war es, was meine Seele wünschte, was ich in dieser letzten feierlichen Woche, die der Konfirmation vorausging, zu erlangen hoffte. Wenn ich mein Leben hätte als Opfer darbringen oder mich mit Wolken hätte umgeben können, die mir den Anblick der wirklichen Welt entzogen hätten, ich hätte es getan. Ich hätte mit einem Schritt die geheimnisvolle Brücke des Todes überschreiten mögen, um mich im Schoße der abstrakten Vollkommenheit wiederzufinden.

Die Hauptzeremonie sollte am Sonntag stattfinden. Den Freitag vorher hatten wir die letzte Stunde. Unser Lehrer war sehr gerührt; er sprach uns mit Tränen in den Augen von der Heiligkeit und Wichtigkeit des Aktes, dem wir entgegengingen. Dieser treffliche Mann, wenn er auch meinen Verstand nicht immer befriedigen konnte, wußte doch immer mein Herz zu rühren. Ich war so von Begeisterung ergriffen, daß ich mir die großen Kämpfe und Opfer, die heroischen Taten ersehnte, um die Tiefe meines Eifers zu bewähren.

Unser Lehrer verlangte eine geschriebene Beichte unserer Überzeugungen von uns. Ich schrieb die meinige mit soviel Aufrichtigkeit als möglich. Aber wie hätte ich ihm in diesem letzten Augenblick alles sagen können? Wie hätte ich ihm entschleiern können, daß in der Tiefe meines Geistes eine Stimme gegen das meiste, was er uns mit so viel Sorgfalt gelehrt hatte, protestierte und daß, trotz der Inbrunst und Aufrichtigkeit [41] meiner Bestrebungen, ich vielleicht weiter davon entfernt war, ein ergebenes Mitglied der Kirche zu sein, als die Bauernkinder, deren Gleichgültigkeit ihn betrübte? Dann aber lebte ich auch der Hoffnung, daß Gott sich mir in der entscheidenden Stunde offenbaren werde, daß er mir, wie dem Paulus, den siegenden Glauben geben werde, den ich noch nicht hatte.

Mein Lehrer war völlig befriedigt von dem, was ich geschrieben hatte.

Am Sonnabend gingen wir mit allen Mitgliedern unserer Familie zur Kirche, um der Vorbereitung für das Abendmahl beizuwohnen, an dem meine Schwester und ich zum erstenmal, unmittelbar nach der Konfirmation, teilnehmen sollten. Mir war das der wichtigste, aber auch der geheimnisvollste Teil des ganzen Vorgangs. Ich hatte unaufhörlich die Fragen meines skeptischen Dämons auszuhalten, der mir die Erklärung des Wunders der Transsubstantiation abverlangte. Ich fühlte sehr wohl, daß ich nicht fragen dürfe – daß das Wunder eben nur existiere, solange man nicht frage, sondern glaube.

Ich hörte der ermahnenden Vorbereitung mit tiefer Sammlung zu. Aber als der Prediger die Formel des Rituals las: »Wer unwürdig isset von diesem Brot oder trinket von diesem Wein, der ißt und trinkt sich selbst zum Gericht« – da überfiel mich ein tödlicher Schreck. Als er danach die Versammelten fragte, ob ein jeder seine Sünden aufrichtig bereue und zum Tische des Herrn mit dem Wunsche gehe, losgekauft zu werden durch sein Blut, und als alle fest mit »Ja!« antworteten, war ich so bestürzt, daß mir das Wort auf den Lippen erstarb. Ich zitterte und litt Höllenpein. Wir verließen die Kirche, mir schwamm alles vor den Augen wie ein Traum. Meine Mutter und Schwestern waren ruhig und heiter. Die Unterhaltung am Abend war wie alle Tage; man sprach gar nicht von dem Vorgegangenen, noch von dem am folgenden Tag Bevorstehenden. Man schien gar nicht daran zu denken, daß man am Vorabend eines furchtbaren Gerichts [42] stand, das für die Ewigkeit entscheiden konnte, während ich gebeugt, vernichtet war unter der furchtbaren Verantwortung, mit der man meine Seele beladen hatte. War ich würdig, von diesem Brot zu essen, von diesem Wein zu trinken? War ich so fest im Glauben, wie es die Kirche verlangte? Hundertmal war ich auf dem Punkte zu rufen: Nein, nein, ich bin nicht würdig; ich liebe die Welt, die Sonne, die Erde, die Blumen, die Vergnügungen, die Jugend, die Schönheit; ich habe Durst nach Glück! Ich kenne das Mysterium der Erwählten nicht; ich begreife nicht, warum in mir zwei Wesen sind, das eine gut, edel, zur Seligkeit fähig – das andere verloren und verurteilt für ewig.

Aber die Furcht, nicht verstanden, einfach für krank oder für toll gehalten zu werden und den Frieden der anderen zu stören, schloß mir den Mund. Ich ging in mein Zimmer, warf mich auf die Kniee und flehte zu Gott um Hilfe. Am folgenden Morgen erwachte ich ruhiger.

Wie es in Deutschland Sitte ist, daß bei der Konfirmation die jungen Mädchen der besseren Stände zum erstenmal ein schwarzseidenes Kleid anziehen, so geschah es auch bei uns, und dieser feierliche Anzug beruhigte mich und tat mir gut. Unsere Jungfer gab sich besondere Mühe mit unserer Toilette, als wenn es sich um ein weltliches Fest handle, und schwätzte dabei mehr als gewöhnlich. Es widerstrebte mir, doch zog es mich unwillkürlich etwas von meinen Gedanken ab. Als die Stunde da war, sagte ich meiner Mutter mit tiefer Bewegung Lebewohl, indem ich sie bat, mir meine Fehler zu vergeben. Meine Schwester und ich mußten uns in das Haus des Predigers begeben, ehe wir zur Kirche gingen. Dort war alles mit Blumen bestreut. Unser Lehrer empfing uns in seinem priesterlichen Talare und redete so liebevoll und eindringlich zu uns, daß selbst die gleichgültigsten unter den Kindern Zeichen der Rührung gaben. Als die Glocken der nahen Kirche anfingen zu läuten, setzte sich unsere Prozession in Marsch, unser Lehrer voran, wir alle ihm folgend, zu zwei und zwei. Der Weg vom Pfarrhaus zur Kirche war mit [43] Blumen bestreut, die Kirche war damit geschmückt. Der Gesangverein der Stadt, in dem sich einige unserer besten Freundinnen befanden, grüßte uns mit einem schönen Gesang. Ich fühlte mir Flügel wachsen, ich betete zu Gott, daß er diese Stunde segnen möge für mein ganzes Leben. Die Predigt, von derselben Stimme vorgetragen, die mein Herz so oft gerührt hatte in der kleinen grünen Stube, machte mich ruhig. Als der Prediger nach derselben uns unser Glaubensbekenntnis abfragte, sprach ich mein: »Ja!« mit fester Zuversicht. Dann kniete ich mit den andern vor ihm nieder, um seinen Segen zu empfangen. Er legte uns die Hände auf das Haupt, nahm uns auf als Mitglieder der protestantischen Kirche und segnete einen jeden mit einem besonderen Bibelspruche ein. Mir sagte er: »Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.« Mein Herz wiederholte als feierliches Gelübde: Getreu bis in den Tod! Der Chor von oben grüßte die jungen Christen abermals mit einem Siegesgesang. Wir kehrten nicht mehr auf die Konfirmandenbänke, sondern zu unseren Eltern und Verwandten zurück, um zu erwarten, bis die Kirche sich geleert haben würde von allen, die am Abendmahl nicht teilnehmen wollten.

Als nun der klagende Gesang vom »Lamm Gottes unschuldig« sich erhob, der durch die Kirche wie mit einem geheimnisvollen Schauer vor dem Mysterium, das sich nun offenbaren sollte, tönte, da kehrten mir Angst und Zweifel zurück. Die Stunde der Entscheidung war gekommen. Mein Herz schlug in heftigen Schlägen, die Stimme hätte mir versagt, um zu rufen: »Nein, nein, ich kann nicht, ich habe nicht den rechten Glauben!«

Unwillkürlich ließ man meiner Mutter und meiner älteren Schwester den Vortritt, denn selbst in der Kirche verliert sich das Gefühl der sozialen Unterschiede nicht. Meine jüngere Schwester und ich folgten. Ich näherte mich dem Altar mit niedergeschlagenen Augen, die äußere Welt war mir verschwunden. Ich erwartete das Mysterium des Kreuzes, des Lebens im Tode, im Glanze himmlischer Glorie vor mir zu[44] sehen. – Ich empfing das Brot aus den Händen meines Lehrers und hörte die Worte: »Nehmet und esset, dies ist mein Leib, der für euch gebrochen wird zur Vergebung der Sünden.« – Ich berührte mit meinen Lippen den Kelch, eine Stimme sagte mir: »Dies ist mein Blut, das vergossen wird zur Vergebung für viele.« – Aber in meinem Innern ging keine Wandlung vor, kein Mysterium wurde mir offenbar, kein Gott war da, mich in die Herrlichkeit des Himmels, in die Reihen der Erwählten einzuladen!

Ich war verworfen, verurteilt für ewig! Wie ich nach Hause kam, wie ich das Elend dieses Tages überlebte, wie es mir gelang, mein tiefes Leiden den Augen meiner Familie zu entziehen – ich weiß es nicht. Ich weiß nur noch, daß die unschuldigen Augen meiner kleinen Nichten, die ich unendlich liebte, mir zu sagen schienen: »Was willst du verlorener Engel in unserm Paradies?«

10. Kapitel. Von innen nach außen
Zehntes Kapitel
Von innen nach außen

Das unmittelbare Resultat dieser furchtbaren geistigen Kämpfe war die absolute Erschöpfung und die Unfähigkeit, für den Augenblick wenigstens, noch weiter zu kämpfen. Auf diese Weise hatte ich eine Art von Frieden, den ich für eine späte Antwort auf meine Bitten hielt, und ich fing wieder an, etwas zu hoffen. Ich war nun ganz frei, über meine Zeit zu verfügen. Die Vermögensverhältnisse, in denen wir lebten, verpflichteten uns nicht, wie die meisten unserer Freundinnen, uns im Detail mit dem Haushalt zu beschäftigen. Ich widmete den größten Teil meiner Zeit dem Lesen, der Malerei, der Musik; aber ein guter Teil davon gehörte auch den Spaziergängen und dem Aufenthalt im Freien, denn meine Liebe zur Natur hielt der Liebe zum Studium stets das Gleichgewicht. Ich durchstreifte die lieblichen Umgebungen der kleinen Residenz, bald mit den Meinen, bald allein, mit der glücklichen Freiheit, die, wenigstens damals noch, die jungen [45] Mädchen in Deutschland, besonders in den kleinen Städten genossen, da es unerhört gewesen wäre, daß ein junges, bescheidenes Mädchen beleidigt würde, weil sie unbegleitet war. Meine Schwester fand es oft sonderbar, daß ich, wenn wir bereits unsern Morgenspaziergang gemacht hatten, mich von der leuchtenden Nachmittagssonne noch einmal unwiderstehlich in das Freie gelockt fand. Sie konnte es nicht wissen, daß ich die Natur nötig hatte, um das Gleichgewicht in mir herzustellen; daß ich mir tausenderlei Trost schöpfte aus Sonnenstrahlen, grünen Wäldern, blühenden Wiesen, weiter Fernsicht von schwellenden Höhen. Ich hätte sogar noch viel mehr von dieser Arznei der Seele, zu der mein natürliches Verlangen mich führte, haben müssen. Ich hätte auf dem Lande leben, in Garten und Feld arbeiten, mich mit Naturwissenschaften beschäftigen müssen, um noch mehr des beruhigenden Einflusses, den die Natur auf mich übte, zu genießen. Wie sehr müßten die Erzieher auf solche Instinkte, auf solche eingeborenen Bedürfnisse achten und sie zu befriedigen suchen! Wie viele Kräfte sparte man dadurch für die Zukunft!

Mein Verhältnis zu meiner jüngeren Schwester war ganz besonderer Art. Sie war nur ein Jahr jünger als ich, wir waren zusammen erzogen, ganz gleich behandelt bis in alle Einzelheiten hinein, wir hatten uns nie getrennt, die Freunde des Hauses nannten uns die »Unzertrennlichen«, wir liebten uns zärtlich. Dennoch waren unsere Naturen sich ganz entgegengesetzt. In allem, was ihr inneres Leben betraf, war sie von einer Zurückhaltung, die mir bitter weh tat. Ich wußte nichts von dem, was in ihr vorging während der Ereignisse, die so große Revolutionen in meinem Leben machten. Zu der Zeit, von der ich spreche, taten tausend Stimmen tausend Fragen in mir, auf der ganzen Leiter des Daseins. Ich bedurfte es, mein Herz in voller Freiheit zu öffnen und derselben Offenheit zu begegnen. Meine Schwester konnte im Gegenteil stundenlang ruhig mit mir wandern, ohne zu sprechen; oder sie sprach von gleichgültigen Dingen. Das [46] quälte mich sehr und ich flüchtete mich zu meiner Freundin. Da aber war es mir vorbehalten, zum erstenmal eine Erfahrung zu machen, die sich in der Folge öfter wiederholt hat. Diese Freundin war die Veranlassung, daß man mich unbeständig in meinen Zuneigungen schalt, ein Vorwurf, den ich nicht verdiente. Ich will mich deshalb nicht rechtfertigen, nur einfach die Sache erzählen, wie sie zuging.

Die ganz besondere Stimmung, in der jener Freundschaftsbund geschlossen war, hatte nun schon einer Menge anderer Interessen Platz gemacht, ohne daß ich mir dessen noch recht bewußt war. Mein Erkennen war bereit, die Chrysalide zu verlassen, die es umsponnen hielt, und seine Flügel zu entfalten. Das Erkennen meiner Freundin blieb im Gegenteil in jenem Übergangsstadium zurück, vielleicht, weil sie nicht die Kraft hatte, darüber hinauszugehen. Ihre sentimentale Zärtlichkeit fing an, mir beschwerlich zu wer den. Sie blieb beim persönlichen Gefühl stehen. Ich hätte diese Neigung nur bewahren können, wenn ich deren Gegenstand mit mir zu neuen Phasen geistiger Entwicklung, zu größerer Klarheit, zu kühneren Entdeckungen hätte fortreißen können.

In der Freundschaft und der Liebe ist es wohl wie in der Kunst. Es muß Geheimnis da sein. Das Kunstwerk, das uns nicht jedesmal, wenn wir uns darein versenken, neue Offenbarungen gibt, wird bald aufhören, uns anzuziehen. Das Wesen, dessen Seele uns nicht fortwährend neue Schätze erschließt, wird uns gleichgültiger werden. Die wahre Liebe, die wahre Freundschaft sind unzertrennlich von der unablässigen Enthüllung neuen inneren Reichtums.

Ich konnte mich nicht bei Gefühlen aufhalten, wenn meine Intelligenz neue Aufschlüsse suchte. Ich sah es, daß ich die Zärtlichkeit meiner Freundin verwundete, sie ließ mich ihre Gereiztheit, ihre Eifersucht sogar fühlen, wenn sie zu bemerken glaubte, daß ich mich mit anderen jungen Mädchen mehr unterhielt als mit ihr. Ich litt darunter, sie leiden zu machen, aber ich konnte dabei nichts ändern. Ich war noch weit davon entfernt, beruhigt zu sein in Beziehung auf die [47] dogmatischen Fragen. Ich konnte niemals vom Sakrament des Abendmahls reden hören, ohne jenes innere Grauen vom Tage der Konfirmation wieder zu empfinden. Zum Glück beobachtete meine Familie die kirchlichen Zeremonien nicht sehr genau. Es war während langer Zeit gar nicht die Rede davon, den heiligen Akt zu wiederholen. Aber schon beschäftigten mich diese Fragen nicht mehr ausschließlich. Ich hatte mich mit Leidenschaft dem Studium der Geschichte und der Literatur hingegeben. Die Schriften zweier Frauen übten damals einen großen Einfluß auf mich aus, die Bücher Bettinas von Arnim und Rahels. Der ernste, philosophische, keusche und großartige Geist Rahels war mir sympathischer und bewegte mich tief. Aber die poetischen, zauberischen Phantasien Bettinas versetzten mich in »Sommernachtsträume«. Sie trug dazu bei, das phantastische Element, das in mir war, zu entwickeln, das ich, vom asketischen Geist des christlichen Dogmas getrieben, gewaltsam in mir hatte ersticken wollen.

Ich fand mich doch mehr denn je in einem sonderbaren Dualismus. Von der einen Seite war ich ein glückliches Wesen, mit vielfachen Kräften begabt, fähig, mir eine reiche Zukunft zu schaffen; von der anderen Seite, wenn der Zweifel und der asketische Geist wieder die Oberhand gewannen, klagte ich mich bitter eingebildeter Fehler an und verzweifelte an mir selbst.

Um diese Zeit las ich zum erstenmal »Wahrheit und Dichtung«. Goethe erwähnt in seiner Jugend ähnlicher Kämpfe und sagt, daß er sie beendigt habe, indem er die spekulative Richtung verließ und sich ganz von »innen nach außen« wandte. In seinen Gesprächen mit Eckermann sagt er dasselbe: »Jedes tüchtige Streben wendet sich von innen heraus auf die Welt.« Diese wenigen Worte retteten mich. Was die Mysterien der Kirche nicht gekonnt hatten, das tat der klare, plastische hellenische Geist unseres größten Dichters. Ich beschloß, zu tun, wie er: mich aus den Abgründen des Herzens, der unfruchtbaren Spekulation, zur Betrachtung der [48] Welt, zum Licht, das den Wissenschaften entströmt, zur nützlichen und praktischen Tätigkeit hinzuwenden.

Später verstand ich, welches die zwei poetischen Typen dieser verschiedenen Strömungen in der menschlichen Natur sind, die sich wohl, in höherem oder geringerem Grade, in jedem inhaltsvollen Leben finden: Goethes Faust und Byrons Manfred.

Meine Gesundheit war fortwährend schwankend und ich verbrachte einen Teil dieser schönsten Jugendjahre in großen Leiden. Der Gedanke eines frühzeitigen Todes war mir immer gegenwärtig und hatte nichts Erschreckendes für mich. Ich las ein Wort von Ninon de l'Enclos, die, im sechzehnten Jahr zum Sterben krank, den sie beweinenden Umstehenden sagte: »Warum weint ihr? Ich lasse ja lauter Sterbliche zurück.« – Dieses Wort gefiel mir und kam mir oft in die Erinnerung. Ich war sehr ruhig und sehr sanft geworden, erfreute mich eines großen inneren Friedens und liebte den Frieden über alles. Man hatte mir sogar in der Familie aus Scherz den Beinamen »die Versöhnung« gegeben, denn es war mir ein Bedürfnis, alle kleinen Familienzwistigkeiten zu schlichten und alle, die mich umgaben, durch Liebe und Sanftmut zu vereinen. Ich hatte einen wahren Kultus für das Familienleben. Zuweilen, wenn ich, Arm in Arm mit meiner ältesten Schwester, dem Engel meiner Kindheit, im Zimmer auf- und abging, genoß ich mit Entzücken die Empfindung der Schwesterliebe. Ich liebte meine kleinen Nichten außerordentlich und widmete ihnen viel von meiner Zeit. Aber ich liebte auch die geselligen Freuden, ohne länger gegen diese Neigung anzukämpfen. Der Tanz besonders war mir eine wahre Freude. Wenn ich nicht leidend war, gab ich mich dem Vergnügen des Tanzes hin. Meine jüngere Schwester war sehr hübsch und wurde sehr gefeiert. Zuweilen beneidete ich sie ein wenig, aber im ganzen freute ich mich, nicht schön zu sein, weil ich so der Gefahr der Eitelkeit entging. Es war keine Koketterie in meiner Natur; meine Bescheidenheit im Anzug ging oft bis zur Übertreibung, und ich [49] wurde öfter deshalb geneckt. Aber ich fand es so verächtlich, körperliche Reize sichtbar werden zu lassen, um Bewunderung zu erzielen, daß ich noch lieber etwas lächerlich erschien. Außerdem dachte ich auch, daß nichts tadelnswerter ist, als Gefühle zu wecken, die man nicht teilen will. Kurze Zeit nach unserm Eintritt in die Welt erzeigte mir ein gebildeter Mann, in einer sehr guten gesellschaftlichen Stellung, große Aufmerksamkeiten. Ich unterhielt mich gern mit ihm, er war einer meiner gewöhnlichen Tänzer, bis einige Bemerkungen dritter Personen und sein eigenes Benehmen mich überzeugten, daß er ein ernsteres Gefühl für mich hege. Ich entfernte mich sogleich von ihm in sehr bestimmter Weise und wurde sogar kalt und stolz, als er nicht verstehen zu wollen schien. Ich zog diese Art zu handeln, obgleich sie so gegen meine Natur war, der Möglichkeit vor, jemanden über mein Gefühl zu täuschen.

Der Gedanke an die Ehe lag mir überhaupt noch fern. Diese Vereinigung zweier Wesen erschien mir wie ein anderes heiliges Mysterium. Ich fühlte, daß ich noch nicht Seelenruhe genug besaß, mich diesem Mysterium zuzuwenden, und daß das eine Offenbarung sei, die die Zukunft mir vorbehielt, wenn ich gefunden haben würde, was die Wahrheit sei. Da ich nur die ideale, poetische Seite dieses Bundes kannte, so machte ich mir davon eine ganz erhabene, schöne Vorstellung. Ich betrachtete ihn als die Vereinigung zweier Seelen in allem, was sie Höchstes und Erhabenstes in sich tragen. Das fast kindische Gefühl für den jungen Mann, von dem ich früher gesprochen, war gestorben, wie es gelebt hatte: im Schweigen; es hatte nur in der Einbildung existiert und nicht im Herzen. Außerdem war ich völlig befriedigt in meinem Familienleben, wo ich mich so geliebt wußte und so süße Pflichten zu erfüllen hatte. Ich fand mich zu jener Zeit mit meiner Mutter während mehrerer Monate allein, da meine jüngere Schwester bei meinem ältesten verheirateten Bruder in Cassel zu Besuch war. Ich hatte sehr schwache Augen, und da ich ihnen viel Arbeit zumutete, so mußte ich ihnen auch viel [50] Ruhe gönnen. Ich hörte alsdann mit herzlichem Interesse den Erzählungen zu, die meine Mutter mir von ihrer Kindheit machte, und grub diese Erinnerungen meinem Gedächtnis ein. Sie waren nicht bloß persönlich interessant, sie hatten auch ein allgemeines Interesse, denn sie charakterisierten eine Epoche und eine ganze Generation. Meine Mutter war in einer der alten aristokratischen Familien (der Familie von Riedeesel) erzogen, die zur Zeit des deutschen Reichs niemand über sich erkannten als allein den Kaiser. Eine Würde des deutschen Reichs war erblich in der Familie. Sie übte fürstliche Rechte aus in dem Städtchen, das zu dem Schloß ihrer Vorfahren gehörte. Die Mitglieder der Familie, die das Schloß bewohnten, als meine Mutter noch ein Kind war, konnten sich eines Stammbaums ohne Flecken rühmen. Alle hatten die vornehme Bildung und Eleganz der Aristokratie des vorigen Jahrhunderts. Es gab reizende Frauen darunter, die selbst am Hofe Marie Antoinettens bewundert worden waren. Sie umgaben ihr Leben im alten Schloß mit der Eleganz und dem Luxus, die das ausschließliche Privilegium der Aristokratie gewesen waren bis zu der Zeit, wo die Fanfaren der großen französischen Revolution sie vor das Tribunal der menschlichen Gerechtigkeit riefen, um sich zu verantworten für den Mißbrauch, den sie von ihrer Stellung gemacht hatten. Diese Typen einer Welt, die im Untergehen begriffen war, hatten sich im Geiste meiner Mutter mit den Bildern einer Welt, die im Werden war, vermischt. Die Truppen der französischen Republik, und später die des Kaiserreichs, waren mehr als einmal durch den kleinen Ort gezogen, und meine Mutter hatte auf den Knieen des Marschall Soult gesessen und mit den Knöpfen seiner Uniform gespielt. Soult war der aufgezwungene Gast der vornehmen Bewohner des Schlosses gewesen. Ungeachtet ihrer Abneigung gegen den Repräsentanten einer Ordnung der Dinge, die allen ihren Traditionen widersprach, hatten sie ihn mit der Höflichkeit empfangen, die die Sitten ihrer Kaste ihnen selbst dem Feind gegenüber auferlegten. Diese verschiedenen [51] Eindrücke hatten dem Charakter meiner Mutter die zugleich aristokratische und liberale Richtung gegeben, die sie ihr ganzes Leben hindurch behielt.

Als sie fünfzehn Jahre alt war, verbrachte sie den Winter in der Hauptstadt Cassel mit der alten Herrin des Schlosses, die sie wie ihre Tochter erzogen hatte. Da sah sie an dem Fenster des Hauses, dem ihren gegenüber, einen jungen Mann, der oft nach ihr hinübersah. Die Bekanntschaft machte sich durch Blicke, ohne daß je ein Wort gewechselt wurde. Im Frühling gingen die Damen in das alte Schloß auf das Land zurück. Den folgenden Winter kam man wieder in die Stadt in dasselbe Haus. Der junge Nachbar war noch da und schien mit Entzücken in dem schönen jungen Mädchen das liebliche Kind vom vergangenen Jahr wiederzuerkennen. Er ließ sich vorstellen, und als der Frühling kam, trennte man sich nur, um sich dann auf immer zu vereinigen. Er war einundzwanzig Jahre alt, sie sechzehn. Die alte Schloßherrin blieb die Freundin des jungen Paares, und ich erinnere mich, daß wir als Kinder oft zu ihr gingen. Es war eine alte, kleine, magere Dame, in schwere graue Seide gekleidet, mit Spitzen bedeckt, von Wohlgerüchen umgeben, von Kammerdienern und Jungfern bedient, die leise hin und her gingen. So oft wir sie besuchten, schenkte sie uns Zuckerwerk.

Indem ich den Erzählungen meiner Mutter zuhörte, dachte ich dasselbe, was George Sand später in ihren Memoiren gesagt hat, daß man in jeder Familie mit Sorgfalt die Überlieferungen der Vorfahren sammeln und eine Art von Hauschronik daraus machen sollte, die immer für die Nachkommen ein persönliches, oft sogar ein allgemeines Interesse enthalten würde ...

Das friedliche Leben, das ich damals führte, sollte durch einen tiefen, wirklichen Schmerz gestört werden, der das Herz traf und nicht bloß die Einbildung.

Meine älteste Schwester, die ich immer noch so zärtlich liebte, wurde schwer krank, nachdem sie ihrer vierten Tochter [52] das Leben gegeben hatte. Während drei langer Monate verzehrte sie sich in schrecklichen Leiden. Ich verbrachte meine ganze Zeit an ihrem Bett oder mit ihren kleinen Töchtern. Alle meine Gedanken gingen darauf hin, ihre Leiden zu lindern, ihr Hilfe und Trost zu sein. Aber ich sah voll Verzweiflung, daß das Ende unabweisbar nahe. Da wendete ich mich wieder zu dem unsichtbaren Retter. Während der Nächte, die ich bei ihr verbrachte, rief ich Gott an, uns zu Hilfe zu kommen und sie uns zu erhalten. Aber ich fand ihn mir weiter und weiter entrückt, in ferne unbegrenzte Regionen. Er erschien mir nicht mehr wie früher als eine Individualität: er erfüllte das Universum, er war eins mit den strengen Gesetzen, die die Welt regieren. Das Verhängnis, das über uns schwebte, zu ändern, war nicht in seiner Macht. Ich hörte eine Stimme, die, wie das Fatum der Alten, mir zurief: »Unterwirf dich!« Ich blieb stundenlang auf den Knieen liegen, das Gesicht in meine Hände verborgen, und beweinte den unersetzlichen Verlust. Wir mußten gehorchen. Anstatt des liebenden Vaters, den inbrünstiges Flehen rührt, fand ich die eherne Notwendigkeit.

Die Sterbende war seit mehreren Tagen des klaren Bewußtseins beraubt, in einem Halbschlummer, aber sie litt auch nicht mehr. Sie sprach von sanften Dingen und schien glückliche Bilder vor sich zu haben. Eines Abends kam ihr das Bewußtsein zurück; sie ließ ihre kleinen Töchter kommen und nahm Abschied von ihnen mit herzerschütternder Zärtlichkeit. Aber sie war dabei heiter verklärt, als ob sie, der Ewigkeit gewiß, die zeitliche Trennung nicht fürchtete. In der Nacht sprach sie von Engeln, die ihr winkten, und lächelte ihnen selig zu. Die Krankenwärterin verbeugte sich ehrfurchtsvoll und flüsterte mir ins Ohr: »Man erwartet sie im Himmel, sie wird bald gehn!« Gegen Morgen zog ich mich einen Augenblick zurück, um zu ruhen. Man kam mich zu rufen. Es war alles vorüber. Sie lag auf ihrem Bett, bleich, still für immer, mit einem himmlischen Lächeln auf den Lippen. Ich kniete an ihrem Bett nieder, ich schaute durch meine[53] Tränen auf dies teure Antlitz und eine Stimme in mir frug: »Werden wir uns je wiedersehen?« Mein Herz zog sich krampfhaft zusammen; aber die Liebe, die ich für sie gehabt hatte, rief mir zu: »Ja, du wirst sie wiedersehen!«

Meine jüngere Schwester war wenige Tage vor diesem Verlust wiedergekommen. Sie brachte neue Eindrücke und Erzählungen mit. Ich war im Gegenteil schwächer wie je, nach dieser Zeit der Leiden und Anstrengungen. Besonders waren meine Augen so angegriffen durch das Wachen und Weinen, daß ich einen Augenschirm tragen mußte und nicht arbeiten durfte. Das war eine schwere Prüfung für eine tätige Natur wie die meine, um so schwerer, als wir, der Trauer wegen, auch ganz abgeschieden von der Welt lebten. Dennoch war es gerade zu dieser Zeit, wo das Schicksal mir eine der angenehmsten Episoden meiner Jugend zuschickte. Schon im vorhergehenden Winter hatten wir ein Freundschaftsband mit Personen, die ganz außerhalb unseres Zirkels standen, geschlossen. Das Theater, von dem ich schon gesprochen habe, war nur während des Winters offen, und die Truppe spielte im Sommer an anderen Orten. Mein Schwager war Hofmarschall und zugleich Intendant des Theaters. Er hatte uns in dem Winter den neuen Musikdirektor zugeführt, der meiner Schwester und mir Klavierstunden geben sollte. Dies war ein junger Rheinländer, eine liebenswürdige, heitere, begabte Natur, wie man sie leichter in jenen glücklichen Landstrichen, als im nördlichen Deutschland findet, wo die Menschen ernster und kälter sind. Er war ein ausgezeichneter Musiker und Direktor des Orchesters, so daß er, obgleich noch sehr jung, sich bald die Achtung seiner Untergebenen erworben hatte und Orchester, Konzerte und Oper zu einer großen Vortrefflichkeit erhob. Durch ihn wurde die Musik wirklich zum Mittelpunkt unseres Lebens. Er wohnte uns gerade gegenüber, zusammen mit einem jungen Schauspieler, der auch neu engagiert war, einem wunderschönen, ernsten, tiefgebildeten Menschen, der reizend zeichnete, dichtete und ein edler, zartfühlender Charakter war. Diese beiden jungen [54] Leute kamen oft abends zu uns. Wir studierten zusammen die Kompositionen der großen Meister, dann schrieb ein jeder von uns seine Gedanken über das analysierte Stück nieder, die Aufsätze wurden vorgelesen und die verschiedenen Meinungen diskutiert. Wir lasen auch die dramatischen Meisterwerke zusammen und besprachen die Auffassung der Rollen, die der junge Mann darzustellen hatte. Dieser Umgang, so fern von der kleinlichen Flachheit der gewöhnlichen geselligen Beziehungen, wurde uns doch sehr verdacht von der sogenannten ersten Gesellschaft der kleinen Stadt. Die Klatschereien nahmen bald ihren Anfang. Wir bekümmerten uns nicht darum, und als, nach dem Tode meiner Schwester, bei Beginn des Winters unsere Freunde wiederkamen, empfingen wir sie mit Freude. Wir lebten ganz zurückgezogen, wegen der Trauer und wegen meiner Gesundheit; wir hatten also ein doppeltes Recht, in unserer Häuslichkeit nur die aufzunehmen, deren Gegenwart uns wirklich ein Trost und eine Freude war.

Ich überließ mich dem Reiz dieses Umganges mit der ganzen Einfachheit eines freien Herzens. Geistige, ernste Beziehungen zwischen jungen Männern und jungen Mädchen, ohne Koketterie, ohne Leidenschaft, mit der Offenheit guter, einfacher Naturen, sind mir immer als eine der schönsten Gaben des Lebens erschienen. Ich hatte keine Ahnung, daß ein Gefühl anderer Art sich in diese Intimität einschleichen könne. Dennoch fand es sich, daß unser Freund, der Musikdirektor, eine tiefere Neigung für mich gefaßt hatte. Durch die Güte meiner Mutter ermuntert, hatte er den Mut, ihr davon zu sprechen. Diese, immer geneigt, das Talent und den Charakter den Vorteilen der gesellschaftlichen Stellung vorzuziehen, unternahm es, die Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen und die Zustimmung meines Vaters zu erbitten, wenn es meinen Wünschen entspräche. Sie machte mich auf einem einsamen Spaziergang mit den Wünschen unseres Freundes und ihrer Bereitwilligkeit zu helfen bekannt. Zu ihrem großen Erstaunen begegnete sie einem entschiedenen: Nein. Ich hatte noch dieselbe Abneigung gegen die Ehe wie früher, und ich [55] fuhr beinahe erschreckt zurück, als meine Mutter das Wort aussprach. Nicht daß es mich erschreckt hätte, in eine einfachere Stellung als die meine hinabzusteigen. Im Gegenteil, meine Phantasie hätte eher einen Reiz in dem »Wilhelm Meister«-Leben unseres Freundes gefunden. Aber ich fühlte, daß ich nicht reif war zur Ehe, ohne mir damals Rechenschaft ablegen zu können, warum dies Gefühl recht habe. Ich hatte noch die Biegsamkeit und Empfänglichkeit derjenigen Naturen, die man als liebenswürdig zu bezeichnen gewohnt ist. Eine solche Natur, in die Form der Ehe gegossen, nimmt die Gestalt an, die eine andere Individualität ihr gibt, und bleibt demnach ein abhängiges Geschöpf, das durch die Augen eines andern sieht und nach dem Willen eines andern handelt. Oder aber, wenn sie ihr eigenes Gesetz findet, zerbricht sie jene Form, fühlt sich unglücklich in den vorzeitig übernommenen Ketten oder zerreißt sie in schmerzlichen Kämpfen.

Neben dem unbestimmten Ahnen aber, daß mein Charakter noch nicht fest genug entwickelt sei, um einen so wichtigen Schritt zu tun, sah ich auch klar ein, daß die Sympathie, die ich fühlte und freimütig zeigte, keineswegs Liebe war.

Ich hatte dieses Mal aber durchaus keine Ursache, mich stolz zurückzuziehen, wie das erste Mal. Die Anfrage war in so zarter Weise gemacht worden, daß ich mich bestrebte, durch freie Güte das Leid zu versöhnen, von dem ich die unschuldige Ursache geworden war, und eine vorübergehende Liebe in dauernde Freundschaft zu verwandeln. Ich erlebte die Befriedigung, dies vollkommen gelingen zu sehen. Die einzige Erwähnung des Vorgefallenen, die zwischen uns stattfand, war ein schönes Lied auf die Worte Goethes: »Ihr verblühet, süße Rosen, meine Liebe trug euch nicht« usw., von ihm komponiert, das er mir widmete.

Die sanfte Ruhe dieses Lebens wurde durch eine Erfahrung ganz besonders bittrer Art, auf die ich nicht gefaßt war, unterbrochen. Einer meiner Brüder, der keine besonderen Fähigkeiten für irgend einen Beruf zeigte, war zum Militär [56] gemacht worden. Es war dies ein leider sehr verbreiteter Irrtum, den auch mein teurer Vater da beging. Mein Bruder war schön, talentvoll, hatte angenehme Manieren und ein gutes Herz; aber er war leichtsinnig, schwach und oberflächlich. Ihn dem müßigen, unnützen Leben eines Offiziers in tiefem Frieden zu weihen, hieß beinah, ihn unwiderruflich dem Verderben zuführen. Es war dies damals jedoch, wie schon gesagt, eine häufig vorkommende Tatsache, daß man junge Leute, die zu nichts anderem taugten, in die Armee steckte. Dort eigneten sie sich einen Stolz an, der auf einem falschen Prinzip beruhte, nämlich: daß der größte Stolz eines Landes seine Armee sei. Sie bildeten sich ein, daß ihre Tätigkeit, die Soldaten zu dressieren und Maschinen aus ihnen zu machen, wichtig und nützlich sei. Sie verwilderten in der Untätigkeit des Garnisonlebens in kleinen Städten und ruinierten sich durch die Rivalitäten jeder Art, die die Folge ihrer Stellung waren. Mein Bruder wurde ein trauriges Beispiel der Resultate eines solchen unnatürlichen und nutzlosen Lebens. Meine armen Eltern litten Unsägliches durch die Nachrichten, die von ihm kamen. Man tat viel für seine Rettung, aber umsonst. Ich kannte niemals die ganze Ausdehnung seiner Schuld, aber sie mußte groß sein, da mein Vater ihn endlich verstieß und seinen Namen nicht mehr hören wollte. Gezwungen, den Militärdienst zu verlassen, kam er plötzlich nach der Stadt, wo wir lebten. Er kündigte sich durch einen Brief an, der seine Reue aussprach, und bat uns, ihn nicht zu verlassen. Dieser Brief wurde nun von dem Bruder, der immer bei uns lebte, da er im Dienst des kleinen Staates war, meiner Schwester und mir gelesen. Wir verbargen vorerst vor der Mutter dieses traurige Ereignis und beschlossen, ihn insgeheim zu sehen, da wir einen Bruder nicht zurückweisen konnten, der als Flehender zu uns kam, auch wenn er durch eigene Schuld soweit gekommen war.

Es gibt Augenblicke im Leben, die ganze Tragödien enthalten, die viel pathetischer sind, als irgendeine Einbildung sie erfinden könnte. So war der Augenblick, als meine [57] Schwester und ich abends in ein Zim mer zu ebner Erde traten und dort einen Mann vor uns stehen sahen, der uns unbekannt war und der wie ein Verbrecher zitterte. Dieser Mann war unser Bruder. Er hatte uns verlassen, als wir noch kleine Kinder waren und war uns daher völlig fremd; aber der Groll, den ich gegen ihn hegte wegen des Kummers, den er dem teuren Vater bereitet hatte, löste sich auf in ein tiefes, grenzenloses Mitleid, als ich ihn so vor mir stehen sah. Ich hätte mein Leben hingeben mögen, um ihn von dem Gefühl der Schande zu retten, die ihn erdrücken mußte, vor seinen jüngeren Schwestern gleichsam wie vor seinen Richtern zu stehen. Um ihm die Bitterkeit der Stunde zu erleichtern, zeigte ich ihm die versöhnende Neigung einer Schwester. Nachdem wir unsere Mutter vorbereitet hatten, sah auch sie ihn, und es wurde beschlossen, ihn, zu einem letzten Versuch, eine Zeitlang bei uns zu behalten, wo er sich mit agronomischen Vorstudien beschäftigen sollte, um nachher bei einem tüchtigen Landwirt zu lernen.

Es gibt wohl kaum ein peinlich traurigeres Gefühl, als das, mit einem Wesen zu leben, das uns noch dazu durch die Bande des Bluts verwandt und dessen Leben durch schwere Fehler befleckt ist. Ich habe immer mehr gelitten, wenn ich ein Kind für einen begangenen Fehler demütigen sah, als das Kind selbst, und in noch höherem Grade litt ich, wenn derselbe Fall mit Dienstboten eintrat, oft schon älteren Leuten und oft nur wegen Kleinigkeiten. Aber einen Menschen, meinesgleichen in allem und obenein mein Bruder, durch seine eigene Schuld gedemütigt vor mir zu sehen, das war eine der schmerzlichsten Prüfungen meines Lebens. Wenn ich die wahre Reue, die tiefe Trauer, die den Menschen neugeboren werden läßt, in ihm gesehen hätte, so hätte ich mich rückhaltslos der schwesterlichen Neigung hingegeben, die mich zu ihm zog. Aber ich glaubte nur zu sehr zu bemerken, daß er mehr durch die äußeren Umstände, als durch sein Gewissen gedemütigt war. Die Eitelkeit, die oft durch seine angenehmen und eleganten Manieren durchschien, stieß mich immer wieder ab. [58] Dennoch arbeitete ich mit allem Eifer daran, in seinem Herzen die Liebe zur Tugend und zur ernsten Arbeit wieder zu erwecken.

Alles schien mich mehr und mehr an die häuslichen Pflichten zu fesseln, die das Geschick mir auferlegt hatte. Ich verlangte nichts anderes, als sie getreu erfüllen zu können. Meine Mutter, kaum von einer längeren nervösen Krankheit hergestellt, verletzte sich am Fuß und wurde so auf Monate wieder an das Lager gefesselt. Ich verließ sie nicht einen Augenblick, besuchte weder Gesellschaft noch Theater und widmete mich einzig der Pflege der Kranken. Wenn es möglich wäre, in der kindlichen Liebe zu rechnen, so würde ich sagen, daß ich zu dieser Zeit der Mutter meine Schuld bezahlte.

Die bösen Neigungen meines Bruders nahmen doch wieder überhand. Er beging einen Exzeß, den wir der Mutter verheimlichten, der mich aber aufs äußerste gegen ihn empörte, so daß ich ihm in strengster Weise darüber sprach. Er wurde böse über meine Vorwürfe, anstatt zu erkennen, daß er sie verdiene. Ich fing an, an ihm zu verzweifeln. Er wurde auf das Land geschickt, unter die Aufsicht eines strengen Mannes, um praktische Landwirtschaft zu lernen.

Zur selben Zeit entschied der Arzt, daß meine Mutter den ganzen Sommer in einem der größten Badeorte Mitteldeutschlands zubringen müsse. Vor unserer Abreise verbrachten wir noch manche frohe Stunde mit unseren Künstler-Freunden, die wir nicht wiedersehen sollten, denn sie hatten beide andere Engagements angenommen. Unser Abschied war still bewegt und freundschaftlich. Wir verdankten uns gegenseitig sehr viel, und wir hatten uns keinen Vorwurf zu machen.

Da unsere Abwesenheit von längerer Dauer sein sollte, so nahmen wir Abschied von unseren Bekannten, u.a. von unserem Religionslehrer, dem nunmehrigen Generalsuperintendenten Althaus und dessen Familie. Seit längerer Zeit waren unsere Beziehungen nicht mehr dieselben gewesen. Ich [59] ging selten in die Kirche. Ich hatte längst bemerkt, daß das, was ich dort empfing, mich nicht mehr befriedigte. Ich suchte neue Gedanken und hörte dort nur die Vorschriften einer Moral, die ich nirgends ausgeübt sah. Anstatt in die Kirche zu gehen, schrieb ich an jedem Sonntagmorgen für mich eine Betrachtung über einen Bibeltext. Ich wollte mich nicht von der Religion entfernen, aber ich fing an, ohne es zu bemerken, mir ein philosophisches System zu bilden. Eine gewisse Entfernung von seiten meines Lehrers war die natürliche Folge. Er bedauerte es, seine eifrigste Schülerin die Praxis des Kultus verlassen zu sehen. Ich war noch nicht frei genug, ihm einzugestehen, welche Richtung meine Art zu denken nahm. Als ich ihm Lebewohl sagte, bemerkte ich die Kälte, die zwischen uns entstanden war. Dies war mir innig leid, und ich sandte ihm mein Buch mit den geschriebenen Meditationen zu, um ihm zu zeigen, daß ich nicht untätig gewesen war. Er sandte es mit einigen höflichen, kalten Worten zurück. – Aber es gab für mich kein »Rückwärts« mehr. Das Wort Goethes war wahr geworden an mir: »Von innen nach außen.«

11. Kapitel. Die große Welt
Elftes Kapitel
Die große Welt

Vor unserer Abreise schrieb ich meinem unglücklichen Bruder ein letztes Abschiedswort, in das ich meine ganze Seele legte. Ich schrieb mit der leidenschaftlichen Wärme des Mitleids, das um jeden Preis retten möchte und sich allmächtig glaubt. Doch auch dieses war umsonst. Das Übel war zu mächtig geworden. Wir erhielten schlechte Nachrichten; ich fühlte mich außerstande, noch mehr zu tun und beschloß, meine Kraft nicht mehr für eine hoffnungslose Sache zu verwenden. Mein Bruder ging nach Amerika, wo er einige Zeit nachher starb.

Wir sahen den Rhein wieder und die schönen Landstriche des südlichen Deutschlands. Wir sahen den Vater und besuchten [60] mit ihm alle Freunde an verschiedenen Orten. Endlich ließen wir uns in dem für die Mutter bezeichneten Badeort nieder, der mit der Wirksamkeit seiner Heilquellen die Schönheit der Umgebungen und die Eleganz einer Stadt verband. Da sollte ich endlich die sogenannte »große Welt«, die vornehme Gesellschaft kennen lernen, die dort aus allen Teilen der zivilisierten Welt zusammenströmte. Seit längerer Zeit hatte ich den großen Wunsch, mich dieser Gesellschaft zu nähern, von der ich mir ein sehr schönes Bild entworfen hatte. Es schien mir, als müsse die Berührung mit ihr meine Erziehung vollenden und mir die Freiheit des Geistes und des Benehmens geben, nach der ich seufzte. Die Gesellschaft unserer kleinen Residenz genügte mir nicht mehr. Ich hatte ein unbestimmtes Verlangen nach einer weiteren Sphäre. Einer sehr geistvollen Französin, die eine Zeitlang Erzieherin der Prinzessinnen gewesen war, hatte ich einmal von diesem Verlangen gesprochen. Sie kannte die Pariser »große Welt« und antwortete mir darauf: »Fragen Sie die Sonne, die Sterne, den Frühling, die Blumen um das, was Ihnen fehlt; die »große Welt« kann es Sie nicht lehren.«

Die Lehrer kannte ich sehr wohl! Sie waren die Vertrauten meiner geheimsten Gedanken; sie flüsterten mir Offenbarungen zu; ich hatte immer mit ihnen ein besonderes Leben geführt, von dem niemand etwas wußte. Aber ich hatte noch etwas anderes nötig: ein weiteres Feld des Denkens, eine größere Freiheit, und ich bildete mir ein, daß ich das in einer gebildeteren, verfeinerteren Gesellschaft, die von wichtigen und vielseitigen Interessen bewegt sei, so wie ich mir die Gesellschaft großer Städte dachte, finden würde.

Wir waren auch in kurzer Zeit von einer Menge neuer Bekanntschaften umgeben, von denen immer eine die andere nach sich zog. Glänzende Bälle wurden im Kursaal gegeben, in den das Spiel und das Vergnügen eine, äußerlich wenigstens, bei weitem elegantere und feinere Gesellschaft zog als die, die ich bisher gesehen hatte. In der Menge bildeten sich für uns auch ganz natürlich engere Beziehungen. Eine[61] russische Gräfin mit ihrer Tochter wohnte mit uns in demselben Hotel, und wir wurden bald mit ihr näher bekannt. Die Mutter war eine treffliche Frau, sanft und liebenswürdig. Die Tochter war erst vierzehn Jahr alt, ganz das Gegenteil der Mutter, ein wildes Kosakenmädel, voller Launen, keck und ohne Disziplin. Sie schloß sich uns rasch so sehr an, daß sie zu allen Tageszeiten, in jedem möglichen Anzug, aufgefordert oder nicht, bei uns eintrat. Oft erschien sie schon um sechs Uhr morgens mit aufgelöstem Haar, im tiefsten Négligé, einen Teller mit Erdbeeren und frischer Milch in der Hand, um dies, ihr Frühstück, bei uns zu verzehren. Dann warf sie alles durcheinander, seufzte über ihre Jugend, die ihr noch nicht erlaube, auf Bälle zu gehen, und verwünschte alles Lernen. Doch hatte sie trotz dieser wenig angenehmen Manieren etwas Originelles, Offenes und Großmütiges. Diese Eigenschaften und die Achtung und Freundschaft, die wir für die Mutter hatten, machten uns duldsam gegen die kleine Wilde. Bei dieser russischen Dame machten wir die Bekanntschaft eines ihrer Landsleute, eines russischen Diplomaten, eines Mannes von einigen dreißig Jahren mit einem edlen, interessanten Äußeren. Er ging an Krücken infolge eines Rheumatismus, den er sich durch eine großmütige Handlung zugezogen hatte. Das Schiff, mit dem er von Petersburg nach Deutschland zu einer Vergnügungsreise kam, hatte angefangen zu brennen, und er war in das Meer gesprungen, um zwei Personen das Leben zu retten. Die Gräfin, die ihn schon in Rußland gekannt hatte, sprach von ihm mit Bewunderung. Ich fühlte mich vom ersten Augenblick an unter dem Zauber seiner geistvollen Unterhaltung und war sogleich überzeugt, daß ich das Vergnügen seiner Gesellschaft jedem andern Vergnügen vorziehen würde. Er nahm wegen seiner Gesundheit nie an den großen öffentlichen Festlichkeiten teil, aber er wohnte in demselben Hause wie wir, und so sahen wir ihn oft. Einmal nahm er doch auf unsere Bitten eine Einladung zu einem ländlichen Fest an, das eine reiche Kreolin, eine liebenswürdige Dame unserer Bekanntschaft,[62] gab. Dieses Fest fand auf einem Hügel statt, von dem aus man weit hinaus ein reiches, blühendes Land übersah. Die Gesellschaft bestand aus Personen der verschiedensten Nationalitäten. Ich setzte mich unter ein Zelt, das unsere Wirtin hatte aufschlagen lassen, um in Ruhe mich an der schönen Aussicht zu erfreuen. Die Sonne breitete ihren Zauber über die reiche Landschaft. Um mich her ertönte fröhliches Geplauder in allen möglichen lebenden Sprachen. Alles atmete Jugend, Schönheit, Glück. Mein Blick haftete an einem leuchtenden Punkt am Horizont; ein neues unaussprechliches Gefühl erfüllte mein Herz und eine Träne höchster innerer Verklärung trat in mein Auge.

Plötzlich, wie von einem magnetischen Zug bewegt, wandte ich meinen Blick zur Seite und sah zwei dunkle Augen, die forschend und teilnahmsvoll auf mir ruhten. Es war unser neuer Freund, der sich leise neben mich gesetzt hatte. Nun wurde es mir mit einemmal klar, warum ich mich so glücklich gefühlt hatte: ich liebte! Rahel sagt: »Die Liebe ist Überzeugung!« Ich war überzeugt. Er erschien mir ein vollkommener Mensch. Nicht allein, daß er den Geist hatte, der sich nie erschöpft, und die Grazie des Geistes, die immer entzückt – er besaß zugleich die Harmonie und Feinheit des Benehmens, die der Reflex der schönen Seelen sind. Ich hatte das Ansehn eines Kindes, viel jünger als ich war, und ich empfand in seiner Gegenwart die unüberwindliche Schüchternheit, die so viele gute Stunden meines Lebens verdorben hat. Aber dessenungeachtet fühlte ich, daß auch er ein mehr als gewöhnliches Interesse an mir nahm und meine Nähe suchte. Da er nicht viel gehen konnte, schlug er oft kleine Ausflüge zu Esel in die reizende Umgegend vor, an denen meine Schwester, ich, die wilde kleine Katharine und er die einzigen Teilnehmer waren. Wir durchstreiften so das schöne Land und machten Halt auf grünen Hügeln mit weiter Fernsicht, oder in blühenden Tälern, mit allem Reiz der Einsamkeit geschmückt. Wir ruhten dann auf dem Rasen aus, und er sprach zu uns über Geschichte, über Poesie, über seine Reisen. [63] Ich hörte ihm mit meiner ganzen Seele zu und genoß in tiefen Zügen den für mich neuen Reiz eines solchen Gesprächs. Aber jene peinliche Schüchternheit hielt mich ab, frei zu sagen, was ich fühlte und dachte. Erriet er, was in dem Herzen des stummen jungen Mädchens an seiner Seite vorging, die die unbefangene Keckheit der wilden jungen Russin beneidete, die von allerlei Unsinn schwatzte ohne Scheu? Ich weiß es nicht, aber er war sehr sanft und liebevoll mit mir. Unglücklicherweise kamen dann ältere Bekannte von ihm an, die ihn fast gänzlich in Beschlag nahmen, so daß ich ihn viel seltener sah.

Währenddem hatte sich die Zahl unserer Bekanntschaften immer noch vermehrt, und wir wurden in einen wahren Strudel von Festlichkeiten hineingezogen. Unter diesen Bekanntschaften war eine andere russische vornehme Dame, eine Witwe mit drei Kindern. Sie kam ihrer Gesundheit und des Vergnügens wegen her. Der Zufall wollte, daß auch sie in dem Hotel einkehrte, wo die russische Gräfin, unser Freund und wir wohnten. Unser Freund hatte sie schon in Petersburg gekannt, unsere Bekanntschaft mit ihr wurde durch ihn vermittelt, und bald hatten wir sie so oft bei uns, wie die wilde Tochter der Gräfin. Sie war einige dreißig Jahre alt und nicht schön, aber trotzdem war es noch immer die große Beschäftigung ihres Lebens: zu gefallen. Sie sagte selbst, indem sie von den Petersburger Damen sprach: »Wir werden erzogen, um zu gefallen.« Sie hatte ein gutes Herz und ein einnehmendes Wesen, deshalb mußte man ihr gut sein, trotz allem, was man an ihr tadelte. Sie bezeugte meiner Mutter und uns Schwestern eine gleich große Zärtlichkeit, und bald kannten wir ihre ganzen Verhältnisse und ihren geheimen Kummer. Sie hatte eine Leidenschaft für einen jungen Polen, einen der Löwen der Badegesellschaft, einen Menschen von seltener Schönheit, aber einen völligen Taugenichts. Blasiert in allen Dingen, Spieler, eitel und oberflächlich, wußte dieser Mensch tolle Leidenschaften einzuflößen, die er während der Dauer des Romans ausbeutete. Dasjenige seiner Opfer, das am meisten zu beklagen war, war seine eigene Frau, denn [64] er war verheiratet und hatte einen kleinen Sohn. Die Frau war eine große Schönheit gewesen und hatte ihm, der politisch kompromittiert war, die großmütigsten Opfer gebracht. Jetzt war sie von Sorgen vor der Zeit verblüht. Ihr großes Vermögen hatte er durchgebracht, und sie waren oft in äußerster Armut. Er verriet sie unaufhörlich, aber sein Herz war nicht bei seiner Untreue beteiligt, denn er liebte niemand; er mißhandelte seine Frau und rächte an ihr seine Verluste beim Spiel; ja er ließ seine üble Laune dann sogar an seinem Kinde aus. Dies arme, kleine, kränkliche Wesen konnte man auch nur mit tiefem Mitleid betrachten. Trotzdem liebte seine Frau ihn mit einer so leidenschaftlichen Hingebung, daß sie stets noch Entschuldigungen für ihn fand, nur von seinen Blicken lebte und von Glück strahlte, wenn er ihr einmal vor den Augen einer Rivalin einige Aufmerksamkeiten erwies. War das bewunderungswürdig oder abscheulich? Mein Gefühl neigte zu der letzteren Entscheidung, und mein Mitleid war immer mit einem geheimen Zorn gemischt, wenn ich sie abends, in den Salons des Kurhauses, in einem alten, verblichenen Putz, der ihre Armut nur noch sichtbarer machte, mit Augen, rot vom Weinen, den Mann verfolgen sah, der sie öffentlich beleidigte, indem er anderen Frauen den Hof machte. Die Prinzeß (eben jene Witwe) war ihm, wahrscheinlich wegen ihres Vermögens, als eine wünschenswerte Eroberung erschienen. Es gelang ihm in kurzer Zeit, ihr eine heftige Leidenschaft einzuflößen. Die beiden Frauen, Rivalinnen in diesem Drama, kamen nun sehr oft, Trost und Rat bei meiner Mutter zu holen, und so ward ich zum erstenmal Zeugin einer dieser traurigen Komödien, deren Theater die sogenannte »große Welt« ist. Eines Abends waren wir in einem Wagen mit der Prinzeß zu einem Ball im Kursaal gefahren. Der Pole quälte diese den ganzen Abend mit Anfällen geheuchelter Eifersucht. Er machte ihr Szenen, die jedermann auffallen mußten. Dies war auch sein Zweck; er wollte sie kompromittieren, um sie zu beherrschen. Die Prinzeß schwankte zwischen ihrer Leidenschaft und der Furcht vor [65] dem allgemeinen Tadel. Endlich, bis zum äußersten gequält und gemartert, entschloß sie sich, zu gehen. Wir versprachen, mit ihr zu fahren und den Rest des Abends mit ihr zuzubringen. Kaum hatten wir uns entfernt, als der Wagen angehalten und der Schlag aufgerissen wurde; der Pole sprang auf den Wagentritt, umfaßte die Kniee der Prinzessin und schwur mit den leidenschaftlichsten Ausdrücken, daß er diese Stellung nicht eher verändern würde, bis der Friede zwischen ihnen geschlossen sei und sie ihr Unrecht gegen ihn gut gemacht haben würde. Die Prinzessin schrie laut auf vor Furcht. Ich war außer mir vor Empörung und befahl dem Kutscher, im Galopp von dannen zu fahren. Der Pole mußte herabspringen und konnte uns nicht folgen. Die Prinzessin war in Verzweiflung. Zu Hause angelangt, verließ ich sie ohne Lebewohl und erklärte, daß keine Macht der Erde mich wieder dazu bringen werde, mit ihr auszugehen.

Die Geschichte verbreitete sich natürlich. Unser russischer Freund kam zu uns, um nach den Einzelheiten zu fragen. Er verachtete den Polen und lächelte voll Güte über meine Empörung. Dann ging er, um der Prinzessin ernste Vorstellungen zu machen, denn sie hatte eine große Achtung für ihn. Ich ging während mehrerer Tage nicht zu ihr; dann aber kam sie und bat in so herzlicher Weise, zu einer kleinen Gesellschaft zu ihr zu kommen, von der der Pole ausgeschlossen war, daß wir es ihr nicht abschlagen konnten. Dieses Abenteuer vollendete meine Enttäuschung über die Vorzüge der »großen Welt«. – »Das ist also die Gesellschaft, von der ich mir so viel Vorteile für meine geistige Entwicklung versprochen hatte?« dachte ich. Ich flüchtete mich dann desto öfter wieder zu meiner ernsten russischen Freundin, der Mutter der kleinen Wilden, wo ich sicher war, eine Unterhaltung voller Reiz zu finden, und wo ich zuweilen dem begegnete, der mir allein das Ideal verwirklichte, das ich mir von der vornehmen Gesellschaft gemacht hatte.

Er verließ uns, um eine Reise von mehreren Wochen im südlichen Deutschland zu machen und zu versuchen, ob seine [66] Kräfte wieder hergestellt seien und er seine Kur als beendigt ansehen könne. Nach seiner Abreise verlor die Gesellschaft den letzten Reiz für mich, die Bälle langweilten mich. Ich hatte nur einen sehnsüchtigen Wunsch: den, ihn noch einmal zu sehen. Eines Tages wurde dieser Wunsch so mächtig, daß ich ein heißes Gebet zu Gott sandte, ihn noch einmal sehen zu dürfen. Das Gebet war eigentlich die einzige religiöse Praxis, die mir noch geblieben war, und auch dazu flüchtete ich mich nur unter dem Eindruck einer starken inneren Bewegung. Durch ein sonderbares Zusammentreffen kehrte er an demselben Tag in das Haus zurück, in dieselben Zimmer über den unseren, die er schon früher inne gehabt hatte. Ich erfuhr es nicht, aber als wir am Abend unter den Orangenbäumen vor dem Kursaal mit anderen Bekannten saßen, erschien er plötzlich, kam auf uns zu und setzte sich neben mich. Man fragte ihn über seine Reise und ob er jetzt in sein früheres Logis zurückgekehrt sei. Er bejahte das letztere und setzte leise, nur mir vernehmlich, hinzu: »Wenn ich da nicht hätte sein können, wäre ich gar nicht zurückgekommen.«

Einige Wochen nachher schied er für immer, um einen neuen Gesandtschaftsposten in fernem Lande anzutreten. Am Abend vor seiner Abreise waren wir im Salon der Prinzessin zusammen. Er blieb den ganzen Abend neben mir sitzen, und zum erstenmal fühlte ich mich ganz frei mit ihm. Im Angesicht der Gefahr habe ich immer den Mut gefunden: so war auch hier, im Augenblick der Trennung, meine gewöhnliche Zurückhaltung verschwunden. Diese letzten Augenblicke mußten mein sein, und sie waren es vollständig. Wir verließen den Salon der Prinzessin zu sammen. An unserer Tür nahm er einen herzlichen Abschied von meiner Mutter und Schwester, darauf reichte er mir die Hand, hielt sie einen Augenblick und sah mich mit einem Blick voll tiefer Empfindung an; dann ging er, ohne mir ein Wort zu sagen.

Ich schlief die ganze Nacht nicht. Vor Tagesanbruch hörte ich seinen Schritt über uns und hörte ihn die Treppe hinunterkommen. [67] Ich glitt leise aus dem Bett, um Mutter und Schwester nicht zu wecken, hüllte mich in einen Mantel und eilte an das Fenster des Wohnzimmers. Ich sah ihn durch den Hof gehen dem Tor zu, wo der Wagen ihn erwartete. Plötzlich wandte er den Kopf um und sah nach unseren Fenstern. Ich zog mich mit Blitzesschnelle zurück. Als ich wieder hinaussah, war er verschwunden. Warum hatte er zurückgesehen? Ja, er wußte es, daß er ein tiefes Weh hinter sich ließ.

Nach seiner Abreise sprach mir die russische Gräfin, seine und meine Freundin, von ihm mit einer unendlichen Bewunderung und Achtung. Sie fügte wie absichtlich hinzu, daß er nicht in einer Lage sei, die ihm gestatte, sich zu verheiraten, außer mit einer reichen Frau, daß er aber ein zu großer Ehrenmann sei, um eine Frau nur des Geldes wegen zu heiraten. Nach einigen Tagen sah ich einen Brief meines Vaters an meine Mutter offen auf dem Tisch liegen. Da meine Mutter sie mir meist zu lesen gab, so nahm ich auch diesen auf und las gerade eine Stelle, die sich auf mich bezog. Mein Vater schrieb: »So hat das arme Kind ihn auch kennen lernen, den großen Schmerz – möge Gott sie trösten!«

Meine Mutter hatte mich also erraten und hatte meinem Vater darüber geschrieben. Gegen mich jedoch schwieg sie, weil auch ich schwieg. Niemals wurde der Name des Geschiedenen mehr zwischen uns genannt. Ich wußte meiner Mutter Dank für diese Zartheit. Man kann an solche Geheimnisse des Herzens kaum rühren, ohne sie zu vulgarisieren, ohne ihnen die Poesie zu nehmen, die ihnen auch im Schmerz noch eine tröstende Kraft gibt. Dieser Sommernachtstraum ist rein und unverletzt in meiner Erinnerung geblieben, und die sanfte Rührung, die von solchen Erinnerungen ausströmt und das Herz noch am Rand des Grabes seltsam leise bewegt, scheint wie das Pfand von etwas Unsterblichem, das den Zerstörungen der Zeit widersteht.

[68]
12. Kapitel. Die Kunst
Zwölftes Kapitel
Die Kunst

Den folgenden Winter blieben wir mit meinem Vater vereint in Frankfurt am Main. Wir führten ein stilles Leben, denn mein Vater hatte sich ganz von der größeren Geselligkeit zurückgezogen und lehnte alle Einladungen ab, außer bei zwei oder drei Familien, die alte Bekannte waren. Dieses Leben genügte mir nicht. In unserer Häuslichkeit waren nicht genug Pflichten zu erfüllen, um alle meine Kräfte in Anspruch zu nehmen. Mein Vater beschäftigte sich während des Tags für sich; abends las er uns angenehme und gute Sachen vor, aber nichts, was mir die Seele bewegt und ihr neue Horizonte geöffnet hätte. Die »heilige Unruhe« bemächtigte sich meiner wieder; ich suchte ein hohes Ziel, den Weg des Ideals, der Vollendung. Die Religion hatte mir das Rätsel nicht gelöst; die »große Welt«, wo ich die wahren Höhen der Bildung und der Existenz zu finden gehofft hatte, hatte mir nur kleinliche Eitelkeit und Verderben gezeigt. Ich suchte nun in anderer Richtung.

Die Malerei war immer zur Ausübung meine liebste Kunst gewesen, weil ich entschiedenes Talent dazu hatte. Musik war ein Bedürfnis meiner Seele; ich hatte von frühester Kindheit an in meinem elterlichen Hause die trefflichste Musik gehört, ich trank sie ein in vollen Zügen, wie man Lebensluft trinkt; aber ich hörte sie noch lieber, gab mich ihr ganz hin, als wenn ich sie selbst ausführte, denn ich hatte wenig Geschick in den Händen und mußte ermüdende und langwierige Studien machen, um etwas so ausführen zu können, wie es meiner Seele vorschwebte. Das Zeichnen hingegen gelang mir in überraschender Weise, und noch ehe ich eigentlichen Unterricht darin erhalten hatte, war das meine liebste Beschäftigung gewesen. Während langer Zeit war mir die altdeutsche christliche Kunst, so wie ich sie in verschiedenen deutschen Städten gesehen hatte, als der Gipfel des Erhabenen erschienen. Ich beneidete das Leben der Korporationen des [69] Mittelalters, die solche Werke wie den Dom zu Köln und den Straßburger Münster, oder wie die seelenvollen Bilder der alten deutschen Meister, hervorgebracht haben, und deren Bescheidenheit so groß war, daß ihre Namen vergessen sind, während ihre Seele fortlebt in den verklärten Köpfen der heiligen Jungfrauen, in den Gestalten der frommen Glaubenshelden und der göttlichen Kinder.

Zu der Zeit, von der ich jetzt spreche, sah ich in der Stadt, wo wir den Winter zubrachten, die Bilder eines deutschen Landschaftsmalers, Carl Morgenstern, der lange Jahre in Italien gelebt hatte und die südliche Natur mit der Seele eines Dichters malte, wie es Claude Lorrain getan. So wie dieser kopierte er nicht nur die Natur, sondern er schuf sie neu in ihren idealsten Formen, in der unsäglichen Harmonie der Schönheit, mit der sie auf das Gemüt des Menschen wirkt. Als ich diese Bilder sah, ging eine große Revolution in mir vor. Ich begriff zum erstenmal, daß das Licht, die Farbe, die Form, durch sich selbst, durch ihre Vereinigung, durch ihre Harmonie uns die Idee der Schönheit geben und uns das unendliche Glück fühlen machen können, das von ihnen ausgeht.

Ich hatte von da nur noch einen Wunsch, nämlich die Schülerin des Malers zu werden, dessen Bilder mir einen so tiefen Eindruck gemacht hatten, und mein Leben der Kunst zu weihen, die mir nun als der Weg zur sittlichen Vollendung erschien.

Aber wie war dieser Wunsch zu verwirklichen? Der große Meister nahm keine Schüler an, und meine Eltern würden die Sache für unmöglich gehalten haben. Ich war dessenungeachtet entschieden, alles zu versuchen, um mein Ziel zu erreichen. Wir hatten einen alten Freund, einen höchst originellen Menschen, den wir alle sehr liebten, wegen seiner Güte und seines Unglücks. Seine Geschichte schien ein Roman. Von vornehmer Geburt und seltener Schönheit, hatte er als Offizier in der Fremdenlegion in englischen Diensten mehrere Jahre in Neapel zugebracht. Er hatte sich dort mit einer sehr [70] schönen und vornehmen Italienerin verheiratet, deren Familienname in den Annalen der neapolitanischen Geschichte nur zu berühmt ist. Als er mit der Legion nach England zurückberufen wurde, weigerte sich seine Frau, ihm mit ihren drei Kindern zu folgen. Die Priester hatten sie dazu gebracht, ihren Gatten bekehren zu wollen und ihn für die katholische, absolutistische Partei zu gewinnen. Als sie die Unbeugsamkeit seines ehrlichen, offenen Charakters sahen, hatten sie die Frau ihren Pflichten untreu gemacht. Der Mann bemühte sich, sie durch Vernunft und Liebe zurückzuführen, aber als der Tag der Abreise für ihn kam, war sie mit den Kindern verschwunden. Durch seine Pflicht gebunden, mußte er Neapel verlassen, ohne daß es ihm möglich gewesen wäre, ihren Aufenthalt zu ermitteln. Nach langem, vergeblichem Suchen und Nachforschungen aller Art, auch von seiten seiner Freunde, fand er endlich ihre Spur. Sie waren in einem Kloster in Sizilien verborgen. Die Frau, durch die Priester fanatisiert, verweigerte es, zu dem Ketzer zurückzukehren. Es gelang ihm nicht, seine Kinder den Händen der Priester zu entziehen, die von oben herab beschützt wurden und die Kinder für ihre Zwecke erzogen. Natürlich wurde ihnen der Haß gegen ihren edlen Vater gepredigt, er aber liebte sie immerfort, trotzdem er nie von ihnen und seinem Unglück sprach. Seit lange außer Diensten, lebte er ganz einsam, das Leben eines Weisen. Nur eine Leidenschaft beherrschte ihn noch: ein tiefer, furchtbarer Haß gegen die katholischen Priester, die er die Feinde der Menschheit nannte.

Er war uns allen ein treuer, trefflicher Freund. Ihm vertraute ich meinen Wunsch an, Stunden bei jenem Maler zu bekommen. Er versprach mir, die Unternehmung zu wagen, ging in das Atelier des Künstlers, besah dessen Bilder, und sprach über Italien mit ihm in italienischer Sprache, deren er Meister war. Als er die Gunst des Künstlers durch seine anziehende Unterhaltung erworben hatte, sagte er ihm plötzlich auf deutsch, daß er gekommen sei, ihn um Stunden für eine junge Freundin zu bitten. Er wußte meine Sache so gut zu [71] führen, daß der Künstler, durch die Originalität des Verfahrens belustigt, versprach zu kommen und zu sehen, ob mein Talent ihm wert genug scheine, seine Zeit daran zu wenden. Er kam wirklich, versprach mir Stunden zu geben, nachdem er meine Zeichnungen gesehen und verlangte, daß ich sogleich anfange in Öl zu malen.

Ich war außer mir vor Glück. Aber um das nötige Material zur Ölmalerei zu kaufen, bedurfte es sofort großer Ausgaben. Ich wollte meinen Vater nicht darum bitten, da er mir, obgleich widerstrebend, die an sich teueren Stunden schon gewährt hatte. Ich verkaufte also heimlich eine schöne goldene Kette und einige andere Schmucksachen, die ich besaß, und fühlte eine innige Befriedigung, daß ich an das edle Ziel gelangen konnte durch ein Opfer, das ich selbst brachte, ohne anderen eins aufzuerlegen.

So fing ich denn an zu malen, und gewiß haben selbst die größten Künstler niemals ein größeres Glück empfinden können, als das war, das ich fühlte, indem ich mich, unter der Leitung eines großen Meisters, der Beschäftigung hingab, die mir endlich den wahren Weg zum Ideal zeigen sollte.

Ich malte den ganzen Tag, und wenn ich abends meine Staffelei beiseite setzte, fühlte ich, daß ich besser geworden war. Kein verwerflicher Gedanke, keine kleinliche Nebenbeschäftigung fanden Platz in meiner Seele. Durch die Vervollkommnung der Technik bis zur Darstellung des Geheimnisses der Schönheit durchzudringen, war das Ziel meines Lebens geworden. Ich lebte in einer besonderen Welt, die mir die allein wahre erschien. Ich vernachlässigte jedoch meine übrigen Pflichten nicht, und ich war vielleicht noch sanfter und gefälliger gegen die, die mich umgaben, weil ich mich innerlich befriedigt fühlte. Aber sie errieten, daß mein Gedanke, mein eigentliches Sein, wo anders waren, und obschon es gewiß nicht mein Wille war, sie zu kränken, so waren sie doch ein wenig gereizt. Man fing von seiten der Bekannten an, mich zu necken, denn man konnte nicht glauben, daß eine so tiefe Konzentration in dem Herzen eines jungen Mädchens [72] eine andere Ursache haben könne als eine persönliche Neigung. Man erzählte mir, daß ich von vielen jungen Damen beneidet würde, die Stunden von dem berühmten Künstler zu haben gewünscht, aber es nicht erreicht hätten. Alles das berührte mich kaum: mein Lehrer war mir teuer als solcher, nichts weiter. Ein zartes, stilles Andenken lebte noch im Grund meines Herzens, und es wäre mir nicht möglich gewesen, so schnell zu einem andern Gefühl überzugehen. Ich war zu tief hingenommen von meinem Studium, um nicht gänzlich abwesend zu sein bei Gesprächen, die nur an die alltäglichen Ereignisse anknüpften, als wenn die der Hauptzweck des Lebens wären. Während diese gewöhnlichen Gegenstände der Unterhaltung besprochen wurden, saß ich an meiner Staffelei und kopierte Bilder meines Lehrers, in denen ein tiefblauer Himmel sich in einem noch blaueren Meere, das von malerischen Felsen, von Palmen und Ölbäumen eingeschlossen war, spiegelte. Leichte Barken glitten auf dem stillen Wasserspiegel, und man mußte unwillkürlich denken, daß die Fischer, die sie führten, einen fortwährenden Hymnus an die Schönheit und das Glück singen müßten. Während ich dies alles malte, begriff ich immer mehr, daß die christliche Asketik unrecht hat – daß die Sinne nicht die Feinde des Geistes, sondern vielmehr seine Instrumente sind.

13. Kapitel. Der junge Apostel
Dreizehntes Kapitel
Der junge Apostel

Im Frühling sollten wir zurückgehen in unsere kleine Residenz im Norden. Es war mir ein herzzerreißender Schmerz, für den ich keine Worte hatte, den Stunden entsagen zu müssen, die mir so viel Glück gaben, es schien, als wenn ich dem Heil meiner Seele entsagen müßte. Außerdem bot mir auch die Stadt, in der wir jetzt lebten, trotz unseres zurückgezogenen Lebens eine Menge geistiger Hilfsquellen, nach denen ich immer mehr Verlangen trug. Unsere kleine Residenz, die ich sonst so geliebt hatte, erschien mir jetzt mit ihren engen [73] gesellschaftlichen Beziehungen wie ein Exil. Dennoch mußte es geschieden sein. Der einzige Trost, den ich zu finden wußte, war, meinen Lehrer zu bitten, einen künstlerischen Briefwechsel mit mir zu unterhalten, was er auch versprach, da er mein Scheiden auch herzlich beklagte. Meine erste Sorge, nach der Rückkehr in unsere nunmehrige kleine Heimat, war die Einrichtung eines Ateliers für mich, in dem ich, allein und versunken in die Kunst, Stunden des Glücks und des angestrengten Studiums verbrachte. Ich ging auch aus, um nach der Natur zu zeichnen; aber die Landschaft, die ich vor Augen hatte, gefiel mir nicht mehr, seit ich mich an den unaussprechlichen Reiz der südlichen Natur, die ich aus den Bildern meines Meisters kannte, gewöhnt hatte. Ausnahmen hiervon waren jedoch die Bäume und die Waldpartien, mit ihrem geheimnisvollen Halbdunkel und den Sonnenstreifen, die durch das Laub fielen und auf dem Moosboden spielten. Diese sind die wahre Poesie der Landschaft im nördlichen Deutschland, und das war es vielleicht, weshalb die Völker dieser Gegenden in ihrem Kindesalter die Wälder und Bäume zu Heiligtümern stempelten und ihren Wodan im heiligen Eichenhain verehrten. Aber für die eigentliche Landschaft erschien mir nur das Grün nicht malerisch. Blau, Violett, Gelb, Rot geben jene Farbentöne, die im Süden dem Auge wohlgefallen. Vielleicht kommt es daher, daß auch der hohe Norden, wo die nackten Felsen, der Schnee und das tiefblaue Meer vorherrschen, malerischer ist als die gesegneten Länder der Mitte, wo das Grün überwiegt.

Außerdem war ich aber auch noch in der kleinen Stadt zu sehr der Hilfsmittel zur Entwicklung beraubt, denn es war da nicht allein keine Galerie, sondern nicht einmal ein gutes Bild, keine Künstler und kaum einige wenige Personen, die wußten, was Malerei ist. Meine ewig suchende Natur griff wieder nach anderen Auswegen. Die alten religiösen Fragen erwachten in neuer Weise. Ich fürchtete die Kritik nicht mehr; ich ging nur äußerst selten noch in die Kirche, weil ich keine neuen Gedanken, keine wirkliche Erleuchtung dort fand. Eines [74] Tages sagte man mir, daß der älteste Sohn meines Religionslehrers, der sich gerade während der Universitätsferien zu Haus befände, am folgenden Sonntag in der Kirche predigen würde, da er Theolog sei wie sein Vater. Ich ging zur Kirche, um zu sehen, was aus dem blassen, stillen Knaben, den ich einst im Zimmer seiner Mutter hatte arbeiten sehen, geworden sei. Nach dem Gesang der Gemeinde, der der Predigt vorausgeht, stieg ein junger Mann, in schwarzem Talare, auf die Kanzel, beugte das Haupt und verblieb einige Minuten in stillem Gebet. Ich hatte Zeit ihn anzusehen. Er war groß wie sein Vater, aber sein Kopf hatte einen Typus, der in jenen Gegenden, wo er geboren war, nicht häufig ist. Sein Gesicht war bleich mit scharfgeschnittenen, edlen Zügen, wie man sie bei den südlichen Rassen findet. Lange und dichte schwarze Haare fielen ihm bis auf die Schultern; seine Stirn war die der Denker, der Märtyrer. Als er zu sprechen begann, wurde ich sympathisch berührt durch den Klang seiner tiefen, sonoren und doch angenehmen Stimme. Bald aber vergaß ich alles andere über den Inhalt seiner Predigt. Das war nicht mehr die sentimentale Moral, noch die steife, kalte Unbestimmtheit der protestantischen Orthodoxie wie beim Vater. Das war ein jugendlicher Bergstrom, der daherbrauste voller Poesie und neuer belebender Gedanken. Das war die reine Flamme einer ganz idealen Seele, gepaart mit der Stärke einer mächtigen Intelligenz, die der schärfsten Kritik fähig war. Das war ein junger Herder, der, indem er das Evangelium predigte, die höchsten philosophischen Ideen zur Geschichte der Menschheit entwickelte. Ich war auf das tiefste und glücklichste bewegt. Nach Hause zurückgekehrt, erzählte ich meiner Mutter von dem Gehörten und sagte ihr mit Enthusiasmus: »Wenn dieser junge Mann hier bleibt, so wird dies kleine Land eine große Zukunft haben.«

Einige Tage nachher ging meine Mutter abends zur Ressource: ich ging nicht mit. Mein früherer Lehrer hatte ihr seinen Sohn vorgestellt, und sie kam ebenso enthusiasmiert zurück, wie ich aus der Kirche gekommen war. »Er ist das Ideal eines [75] jungen Mannes,« sagte sie. Ich bedauerte, nicht dort gewesen zu sein, und doch wünschte ich beinah nicht, meinem jungen Apostel auf neutralem Wege zu begegnen. Er hatte in meiner Phantasie schon Platz genommen als der inspirierte Prophet einer neuen Wahrheit. Ich sah ihn in dem Jahr auch nicht wieder, denn er kehrte auf die Universität zurück.

Ich aber fühlte, daß ich das bloß kontemplative Leben verlassen müsse, um zur Tat zu kommen. Die heiligen Freuden, die ich beim Malen genoß, schienen mir zu egoistisch, wenn ich nicht zugleich mich des Leidens erbarme, das ich überall um mich sah; wenn das Mitleid, das mir die wahre Essenz des Christentums zu sein schien, sich nicht in Taten verwirkliche. Ich beschloß zu versuchen, einen Verein der Arbeit für Arme zu gründen. Ich sprach darüber mit den jungen Damen meiner Bekanntschaft. Man zuckte die Achseln, man zweifelte am Erfolg, aber es gelang mir, eine kleine Anzahl zu vereinigen, und wir fingen mit einer ganz einfachen Organisation an. Man vereinigte sich einmal wöchentlich in den Häusern der Beteiligten, und man legte jedesmal einen so kleinen Betrag in die Vereinskasse, daß es niemand lästig fiel. Diese Beiträge dienten dazu, das Material zur Arbeit zu kaufen; sie wurden durch freiwillige Gaben noch erhöht. An den Vereinstagen arbeitete man so das ganze Jahr hindurch Kleidungsstücke für die Armen und verteilte sie am Weihnachtsabend. Von Kindheit auf hatte ich diesen Tag der intimsten häuslichen Freude, so wie er so schön in Deutschland gefeiert wird, als einen Tag angesehen, an dem man suchen sollte, auch die Armen zu erfreuen. Das kleine Unternehmen gelang immer besser. Bald wollten alle jungen Mädchen der Gesellschaft aufgenommen sein. Die Menge der Arbeit, die man mit so bescheidenen Mitteln anfertigte, war wirklich nicht unbedeutend. Unter den jungen Mädchen, die der Gesellschaft beitraten, waren auch die zwei Schwestern des jungen Apostels. Ich kannte die ältere; sie war schön und gut, aber sie hatte mich nie sehr interessiert. Die zweite trat nur eben erst in den Kreis der Erwachsenen ein. Sie war [76] viel jünger als ich, und ich hatte sie nur als ein Kind gekannt. Jetzt, durch die unerklärliche Anziehungskraft, die über die Geschicke der Menschen entscheidet, zueinander hingezogen, näherten wir uns einander von Anfang an, und bald entstand zwischen uns, zum Erstaunen der ganzen Gesellschaft, eine wirkliche Herzensfreundschaft. Man liebte meine junge Freundin dort nicht so wie ihre Schwester, die ein allgemein gefälliges Wesen hatte. Man fand die jüngere affektiert und extravagant, weil sie, mit siebzehn Jahren, die ernsten Gespräche dem frivolen Geschwätz vorzog, und sich nur dann frei hingab, wenn sie durch das Interesse am Gespräch hingerissen wurde. Dagegen blieb sie verlegen, stumm, linkisch in den gewöhnlichen geselligen Beziehungen. Ich verstand sie darin nur zu wohl, und ich sah mit Entzücken ihre reiche Natur vor mir sich in mannigfaltigster Weise offenbaren. In kurzer Zeit war ich mit ihr viel intimer wie mit den andern. Sie sprach mir oft von ihrem Bruder, den sie leidenschaftlich liebte; er war ihr alles, ihre Liebe für ihn war ein wahrer Kultus. Ich hörte ihr mit tiefem Anteil zu, und das Bild des jungen Apostels wurde mir dadurch noch teurer. Man erwartete ihn in der Familie im Frühjahr bei seiner Rückkehr von der Universität. Die Schwester bebte vor Wonne, wenn sie daran dachte, denn er sollte lange bleiben, um sein Examen als Kanditat der Theologie zu machen.

Ich erwartete ihn auch mit Freude; ich wußte, daß er mir neues Licht mitbringen würde, und außerdem war er der angebetete Bruder von der, die jetzt in meinem Herzen herrschte.

Als er endlich angekommen war, erhielten meine Schwester und ich eine Einladung von seinen Schwestern, den Abend da zuzubringen. Kaum waren wir dort angelangt, als die Tür sich öffnete und der Bruder eintrat. Er setzte sich neben mich, und das Gespräch wurde sofort sehr belebt. Es war sonderbar, wie unsere Ansichten in allen wichtigsten Punkten zusammentrafen. Wir sahen uns mit Erstaunen an, denn es schien, als ob das Wort des einen immer aus den Gedanken [77] des andern komme. Als wir gingen, blieb er in der Mitte des Zimmers stehen und sah mich wie im Traume an, als ich ihm Lebewohl sagte.

Einige Tage darauf wurden, auf meine Bitte, seine Schwestern und er zu uns gebeten. Ich war auch da schon wieder unter dem Einfluß jenes innern Zwanges, der mir so viele Stunden meines Lebens verdorben hat – dieser sonderbaren Unmöglichkeit, frei mein Herz zu öffnen, wo es sich am liebsten frei gegeben hätte. Doch hatte ich zuletzt noch einen Augen blick lang allein mit ihm ein Gespräch, dessen Gegenstand die zweite Schwester war, die er nur die »Kleine« nannte. Die Liebe, die wir beide für sie hatten, machte mich beredt. Indem ich meiner Liebe für sie Ausdruck gab, fühlte ich, daß der Bruder fortan der dritte sein würde in diesem Bunde, der bereits einen Teil meines Lebens ausmachte.

Meine Mutter und Schwestern beschlossen zum Abendmahl zu gehen. Es war dies nur zwei- oder dreimal der Fall gewesen seit jenem Tag der Qual, und ich war immer noch nicht ruhig in diesem Punkt. Dieses Mal beschloß ich zu einer Lösung zu kommen. Ich wandte mich an meinen früheren Lehrer, dem ich mich wieder genähert hatte durch die Freundschaft seiner jüngeren Tochter. Ich schrieb ihm einen Brief, in dem ich ihm ohne Rückhalt meine Zweifel und Bedenken auseinandersetzte. Ich bekannte, daß ich das Geheimnis der Gnade nie dabei erfahren hätte, und daß ich schließlich beinahe zu der Ansicht gekommen sei, daß diese Zeremonie wohl nur als ein Symbol der großen Brüdergemeinschaft angesehen werden müsse, zu der Christus die Menschen führen wollte und für deren Verwirklichung er den Tod am Kreuze starb. Ich bat ihn, mir eine Stunde zu bestimmen, in der wir diesen Gegenstand mündlich besprechen könnten. Er bewilligte mir diese und war liebenswürdig wie immer, machte mir keinen Vorwurf über das, was ich ihm bekannte, gab mir aber auch keine positive Ansicht über den Gegenstand. Ich fing an zu vermuten, daß er selbst keine habe. Endlich wendete er das Gespräch auf andere Dinge und erzählte mir u.a., [78] daß sein Sohn beinahe immer zu Hause sei, weil ihn die Gesellschaft seiner früheren Schulkameraden, die ihr halbes Leben auf der Ressource, bei Billard und Karten verbrächten, zu sehr langweile.

»Er hat vollkommen recht,« sagte ich.

»Vielleicht ja,« erwiderte der Vater, »aber auf diese Weise wird er bald genug isoliert sein. Sie werden ihn hassen, weil er besser sein will, wie sie.«

»Nun, in diesem Fall ist es besser, allein und gehaßt zu sein.«

Einige Tage nachher kam meine Mutter mit einem Brief in der Hand und sagte: »Bereite dich vor auf ein großes Glück.« Der Brief kam von meinem Vater und kündigte mir an, daß meine Schwägerin, die Frau meines ältesten Bruders, den Winter ihrer Gesundheit wegen im Süden zubringen müsse und da mein Bruder sie nicht begleiten könne, mich zur Gesellschaft wünsche. Mein Vater hatte es bewilligt. Ich liebte diese Schwägerin leidenschaftlich, und obgleich sie und mein Bruder meist fern von uns lebten, so war doch auch ich ihr besonders wert. Sie wollte den Winter in der Provence zubringen und dann durch das nördliche Italien zurückkehren. Nach dem Süden gehen, nach Italien! Seit meiner Kindheit war Italien das Land meiner Träume, das Land der Wunder, zu dem meine Wünsche in ihrem kühnsten Fluge hineilten. Ich war noch ganz klein, als mein teurer Hausfreund, ein geistvoller Künstler, der lange in Italien gelebt hatte, die Wunder jenes Landes in Bild und Wort in unserem Hause gleichsam lebendig machte; meine Phantasie war davon erfüllt. Zugleich kannte ich den Namen Goethe durch meine Mutter als den des allerverehrungswürdigsten Menschen unter allen, die lebten. Da hatte sich denn in meiner kindlichen Phantasie ein Traumbild entsponnen, das mehrere Jahre meiner Kindheit durch fortlebte, ohne daß ich es jemals jemand mitgeteilt hätte. Ich dachte mir, irgend ein gütiges Verhängnis müsse es so fügen, daß ich eine Reise nach Italien machen, über Weimar zurückkehren und zu den Füßen Goethes [79] sitzen könne, von dem ich mir dachte, er müsse aussehen wie einer der Weisen aus dem Morgenland. Als ich hörte, daß Goethe gestorben sei, ging es mir wie ein bittrer Schmerz durch das Herz; ich konnte es lange nicht überwinden, daß auch so ein Großer sterblich und daß die Verwirklichung meines Traumes nun unmöglich sei. Jetzt sollte der kindliche Traum zur Hälfte doch Wahrheit werden. Meine Seele sollte ihre Flügel entfalten und ihren Flug in das unbekannte Land der Sehnsucht nehmen, das mir wie mein wahres Vaterland erschien. Es schien zu schön, um wahr zu sein, und es war doch so. Ich war still, wie immer in den ergreifendsten Augenblicken meines Lebens. Aber es war mir, als ob das Ideal, nach dem mein Leben eine beständige Wallfahrt war, mich dort erwarte, in jener Ferne, und mir eine Krone über meinem Haupt in den Wolken zeige.

Das einzig Peinliche dabei war mir, dieses Glück meiner Schwester zu verkünden, der treuen Gefährtin meines bisherigen Lebens, mit der ich bis dahin alles, Gutes und Böses, geteilt hatte. Sie empfing die Nachricht jedoch mit der liebenswürdigsten Hingebung und mit stiller Resignation, wie es in ihrer Natur lag, und half mir mit der gütigsten Bereitwilligkeit, die Vorbereitungen zur Reise zu machen. Während der Beschäftigung damit fühlte ich auch, neben dem großen Glück, ein tiefes Bedauern, zu gehen. Ich sah es wieder in besonderer Weise bei dieser Gelegenheit, wie sehr ich in unserer Familie und in unserem ganzen Kreise geliebt wurde. Meine Reise erregte allgemeine Sympathie. Zwei Tage vor meiner Abreise verbrachten die »Kleine« und ihr Bruder den Abend bei uns. Sie freuten sich für mich, aber sie bedauerten auch mein Scheiden und hätten mit mir ziehen mögen.

Der Moment des Scheidens kam endlich. Ich mußte sehr früh am Morgen mit dem Postwagen abfahren, denn Eisenbahnen gab es damals in jenen Gegenden noch nicht. Meine Mutter schlief, ich wollte sie nicht wecken, um ihr die Erregung des Abschieds zu ersparen, denn sie entließ mich doch [80] mit schwerem Herzen für so lange und so weit; eine Reise nach Italien war damals noch ein bedenkliches Unternehmen. Ich nahm einen stummen Abschied, unter heißen Segenswünschen, vor ihrem Bett und begab mich zur Post, begleitet von meiner treuen Schwester. Dort fanden wir die »Kleine« und ihren Bruder. Ich umarmte die Kleine noch einmal, gab dem Bruder noch einmal die Hand. Er gab mir einen Blumenstrauß, an den ein Brief angebunden war, der anstatt der Adresse diese Worte Tassos enthielt: »I suoi pensieri in lui dormir non ponno.« Ich stieg in den Wagen, hielt den Strauß und den Brief in meiner Hand und fühlte mich wie gesegnet von einer guten Gottheit. Nach einigen Stunden hielt der Postwagen in einem kleinen Ort, wo die Reisenden zu Mittag aßen. Ich ging statt dessen in den Garten des Posthofs und öffnete meinen Brief. Es waren Verse: ein Abschiedssonett und ein längeres Gedicht, das er nach einem unserer letzten Gespräche und einem darauf folgenden Spaziergang und prächtigen Sonnenuntergang gedichtet hatte. Es war eine Vision, die vor seinem Geist die strengen Denker des Nordens hatte vorüberziehen lassen, deren Sehnen, aus ihren schweren Kämpfen heraus, sie immer nach dem Süden, dem Symbol der Harmonie und der vollendeten Schönheit, gezogen habe, ganz besonders in Deutschland, wo diese Sehnsucht sich in jeder tiefen, strebenden Natur wiederhole. Auf ihrem Zuge dorthin redete er zunächst die Alpen an, deren Spitzen im Sonnenschein glühten:


»Ihr Alpen seid gegrüßt, ihr ew'gen Mauern,
Die unsrer Erde Paradies beschützen;
Ihr Niegeseh'nen füllt mit heil'gen Schauern
Ein Herz, das Schnee und Wolken möchte fragen
Und Antwort lesen möcht' in Sturm und Blitzen.«

Am Ende sprach er davon, wie auch die besten Sterne seines eignen Lebens ihm den Weg nach Süden gezeigt hätten, selbst der letzte, der, kaum aufgegangen, schon weiter ziehe, um dort unten zu leuchten.


[81]
»Doch flüstert sie mir zu: Ich ziehe gern.
Ja, du hast recht, den Winter laß dem Norden.
Mich laß mir Wort und Tat den Süd verdienen.«

Das Meer von stillem Glück, das in mir zurückblieb, als ich gelesen hatte, läßt sich nicht mit Worten beschreiben. Es war der Friede inmitten der Erregung, die Freude ohne Flecken, ohne heftigen Wunsch – ein Frühlingsmorgen, wo alles Duft ist und Harmonie und Hoffnung auf den Sommer, der folgen soll.

In der Stadt angekommen, wo ich und eine Dame, mit der ich reiste, die Nacht zubringen sollten, schrieb ich ihm eine Antwort auch in Versen, die ich seiner Schwester zuschickte, um sie ihm zu übergeben.

14. Kapitel. Der Süden
Vierzehntes Kapitel
Der Süden

Als ich bei meiner Schwägerin angekommen war, machten wir uns auf nach dem Süden. Die Reisegesellschaft bestand aus meiner Schwägerin, ihren zwei schönen, klugen Knaben, deren Erzieher, mir selbst, der Kammerjungfer und dem Diener. Ein großer Reisewagen, mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet, nahm uns auf; wir waren darin wie zu Haus, unsere eigenen Herren, und konnten anhalten, wo es uns beliebte. Sicher war dies die angenehmste Art zu reisen. Welche Vorteile auch die Eisenbahn bieten mag – um die Reise durch ein schönes Land wahrhaft zu genießen, muß man sie so machen: im eignen Wagen und als sein eigener Herr: nicht gepeitscht von den Furien der Dampfmaschinen, der Kondukteure, dem ewigen Heraus und Herein ganz fremder, oft sehr antipathischer Menschen. Die heiterste Laune herrschte in unserer kleinen Ambulanz. Die Knaben erheiterten uns durch ihr fröhliches Geplauder, ihre Lieder, ihre geistvollen Fragen und klugen Beobachtungen, die Dienstboten durch ihr naives Erstaunen über all das Neue, das sie zu sehen bekamen. Der Erzieher sogar trug nicht wenig zur [82] Heiterkeit bei. Er war ein sonderbares Geschöpf, ein echt deutsches Original. Arm von Haus aus, war er in einem Seminar erzogen worden; dann hatte er es möglich gemacht durch Entbehrungen und strenge Arbeit, an einer Universität Theologie zu studieren. Es gibt nichts Traurigeres als die armen Studenten der Theologie in Deutschland, die, wenn sie ihre Studien vollendet haben, oft acht bis zehn Jahre warten müssen, bis sie eine Pfarrstelle bekommen, die ihnen kaum das nötige Brot gibt. Unser Kandidat wartete auch bereits seit zehn Jahren vergebens. Er hatte sich mittlerweile als Erzieher fortgeholfen, und da er eine vielseitige Bildung und einen untadelhaften Charakter besaß, so hatte meine Schwägerin ihn als Lehrer für ihre Knaben angenommen. Aber neben seinen guten Eigenschaften hatte er etwas unglaublich Linkisches in seinem Benehmen, das um so lächerlicher hervortrat, als ein gutes Teil Eitelkeit ihn sehr empfindlich machte, besonders auf seinem schwachen Punkt, der Idee: ein Dichter zu sein. Er schrieb nämlich fortwährend Verse, nicht bloß für seine eigene Befriedigung, sondern mit Ansprüchen an den Ruhm des Parnaß. Doch war es eine wahre Qual, ihn sie vorlesen zu hören, da man sich des Lachens dabei kaum erwehren konnte.

In Bern sah ich zuerst die Hochalpen. Ich neigte mich vor der Majestät dieser herrlichen Erd-Riesen und fühlte mich immer freier und freudiger, je größer und gewaltiger die Natur um mich wurde. Die Schrecken und dunklen Visionen, die mich sonst umgeben hatten, waren verschwunden. Das einzige, was mich quälte, war, daß ich nicht immer auf meine Weise genießen konnte. Man mußte gewissen Formalitäten huldigen, z.B. eine bestimmte unendlich lange Zeit an der table d'hôte verbringen, während draußen ein herrlicher Sonnenuntergang eine entzückende Landschaft verklärte, oder man noch Zeit gehabt hätte, eine schöne Galerie oder sonstige Sehenswürdigkeit zu betrachten. Ich hätte oft bei einem Gegenstand, der mich anzog, lange verweilen und ihn ganz in mich aufnehmen mögen, aber der Erzieher, der beständig [83] die Uhr in der einen und sein Reisehandbuch in der andern Hand hatte, ließ mir keine Ruhe. Kaum waren wir vor einem sehenswerten Gegenstand angelangt, so sah er auf die Uhr, schrie bestürzt: »Ach mein Gott, wir haben keine Minute zu verlieren!« und eilte mit kleinen Schritten rasch vorwärts zu einem andern im Buche angedeuteten Ort.

Nachdem wir die Schweiz durchreist und die prächtige Rhonefahrt gemacht hatten, langten wir in Hyères in der Provence an, wo wir den Winter zubringen sollten.

Hyères war damals eine kleine, häßliche Stadt, vom Meer noch eine ziemliche Strecke entfernt. Diese mit Orangengärten bedeckte Strecke verläuft nach einer Seite hin in eine sandige Fläche, in die das Meer nur langsam eindringt und gleichsam wie in Sümpfen stehen bleibt. Es war von dieser Seite, daß ich, da wir die Wege noch nicht kannten, mich dem Meere zuerst näherte. Natürlich machte es mir den traurigsten Eindruck. Ich hatte mich oft in meinen Träumen nach dem Anblick des Meeres gesehnt, es mir als das Sinnbild alles Erhabenen, Unendlichen, Majestätischen gedacht. Jetzt erschien es mir kleinlich und häßlich. – Wir waren im Monat November; das Wetter war unfreundlich; die Landschaft erschien nicht zu ihrem Vorteil; nichts darin traf die Einbildungskraft so mächtig, wie es die Alpen der Schweiz getan hatten. Im Gasthof war es kalt und unangenehm. Der Mangel an Komfort in den Häusern, die Steinböden ohne Teppiche, die Kamine, die ich zum erstenmal sah, mit ihren kleinen Bündeln von Rebenholz zum Brennen, der abscheuliche Mistral, der die ersten Tage ununterbrochen wehte – alles das war entmutigend und versprach nicht viel.

Der Erzieher, der sich mit allen möglichen Mitteln versehen hatte, alles zu sehen und kennen zu lernen, hatte die Vorsicht gehabt, sich auch Empfehlungsbriefe für einige Notabilitäten der Stadt zu verschaffen. Ohne meine Schwägerin zu benachrichtigen, hatte er diese gleich am ersten Tage unserer Ankunft abgegeben, und so kam es, daß am nächsten Tag zwei Damen bei uns erschienen, um uns willkommen [84] zu heißen und ihre Dienste anzubieten. Ungeachtet ihrer Zuvorkommenheit machten sie doch einen unangenehmen Eindruck auf meine Schwägerin. Sie waren vollkommene Typen der Bourgeoisie aus der Provinz; auf eine lächerliche Art angezogen, geschwätzig und neugierig im höchsten Grad, fragten sie uns in indiskreter Weise aus, als wollten sie sagen: Wir haben eine Menge guter Freundinnen, denen müssen wir es erzählen. Indem sie daneben aber auch fortwährend ihre guten Dienste anboten, mußte man vermuten, daß sie die Absicht hätten, recht oft wiederzukommen. Meine Schwägerin, die sehr zurückhaltend war mit neuen Bekannten, war äußerst unzufrieden über diese Invasion und machte dem Erzieher Vorwürfe, die dieser höchst übel nahm. So fing unser eigentlicher Aufenthalt im Süden nicht heiter an, und ich empfand ein tiefes Heimweh, eine verzehrende Sehnsucht nach unserem friedlichen, häuslichen Leben, nach den Freunden und all der Liebe, die mich zu Hause umgab. Während mehrerer Wochen verzehrte mich dieses schreckliche Leiden wie ein heimliches Fieber, und ich dachte, daß die Liebe der wahre Süden für das Herz ist.

Nach und nach jedoch verschwand das peinigende Weh, und der Süden fing an, sich mir zu offenbaren. Wir hatten ein bequemes Logis auf dem sogenannten Palmenplatz gemietet, von wo man eine herrliche Aussicht auf die Ebene mit den Orangenhainen, die sie begrenzenden Hügel, das Meer und die Inseln von Hyères hatte. Das Meer erschien mir nun in einem anderen Lichte wie zuerst. Ich sah seine tiefblauen Wellen sich an malerischen Felsenriffen, die mit üppigem Pflanzenwuchs, mit blühenden Myrten, mit strauchhoher Erike bedeckt sind, brechen. Ich streifte über die Hügel, mit Seepinien bewachsen, deren schlanke Zweige mit den langen Nadeln wie Äolsharfen im Winde rauschen, und zwischen denen sich plötzlich Freiblicke mit herrlicher Aussicht öffnen. Zuweilen wanderte ich landeinwärts über Hügel und durch entzückende Täler, wo die immergrünen Eichen, durch Schlingpflanzen graziös verbunden, ein grünes Dach über dem [85] Blumenteppich der Erde bilden. Oder ich ruhte aus an klaren Bergströmen, die dem Meere zueilen und kleine Inseln umschließen, auf denen rote und weiße Oleanderbüsche wild blühen; wahre Paradiese, in denen ein Friede und eine Stille herrschen, als ob der Mensch mit seinen wilden Leidenschaften nie die Harmonie der Schöpfung gestört hätte.

Jetzt endlich erschien mir der Süden so, wie ich ihn mir geträumt hatte. Was die Bilder meines Lehrers begonnen hatten, vollendete sich mir nun im Anblick dieser Natur. Ich nahm endlich völlig die Idee der reinen Schönheit an, die für sich selbst da ist und sich durch die vollendete Form ausdrückt, so wie der griechische Genius sie begriff, im Gegensatz zu der transzendentalen Idee des Mittelalters, die ich früher allein verehrt hatte. Indem ich fortwährend nach der Natur zeichnete, diese sanften Schönheitslinien, diese zarten Abstufungen des Lichts und der Farbe studierte, verstand ich, wie hier alles das »Maß« predigt – dieses Wort, das eigentlich die Definition aller geistigen und physischen Schönheit enthält. Ich sah im Geiste den Olymp sich bevölkern mit Wesen von einer heiter-ernsten Schöne, ewige Typen, so wie die Phantasie eines Phidias, eines Praxiteles sie hingestellt hat. Ich sah jene wunderbaren Tempel sich erheben, die den Stein selbst zu vergeistigen scheinen und durch ihre Harmonie die Harmonie der Landschaft vollenden, und ich fühlte mich überzeugt, daß der Geist nicht dem Stoff widerstreitet, sondern daß er ihn beseelt und verklärt.

Außerdem knüpfte ich auch angenehme Beziehungen an. Unser unermüdlicher Erzieher fand einen deutschen Musiker aus, der in Hyères seiner Gesundheit wegen lebte, wirkliche musikalische Begabung hatte und schöne Lieder komponierte. Der kam nun oft des Abends zu uns und begleitete mich zum Gesang. Meine Schwägerin liebte die Musik zu sehr, um diesen Besucher nicht gern zu sehen. Diese Abende wurden mir eine Quelle großer Befriedigung, denn der Gesang war mir stets die innerlichste künstlerische Freude gewesen. Das einzig Unangenehme hierbei war, daß der arme Künstler sich [86] aus Dankbarkeit verpflichtet glaubte, zu den Texten seiner Lieder die Verse unseres Pädagogen-Dichters zu nehmen, dessen Muse unter dem Einfluß des südlichen Himmels erschreckend fruchtbar war. Der Dichter war überglücklich, sich in Musik gesetzt zu sehen, und es war unglaublich komisch, seine Haltung zu beobachten, wenn er den schönen Weisen des Musikers, die seine schlechten Verse illustrierten, lauschte. Halb verschämt und doch stolz lehnte er gegen den Kamin, die Hände über dem Leib gefaltet, die Augen niedergeschlagen und auf den Lippen ein befriedigtes Lächeln. Armer Dichter! Wenn er gewußt hätte, wie ich zwischen der Lust zu lachen und dem Zorn über seine Anmaßung schwankte.

Aber sein erobernder Geist hielt noch nicht an. Er hatte sich bei der Frau des Maire, die eine Deutsche war, vorstellen lassen und hatte ihr den Gedanken eingegeben, jeden Sonntag in ihrem Haus einen protestantischen Gottesdienst für Einheimische und Fremde einzurichten, bei dem er predigen und der Musiker den Gesang leiten sollte. Die Frau des Maire war eine strenge Protestantin und entzückt, diesen Anker des Heils in ihrer katholischen Umgebung gefunden zu haben. Die soziale Stellung des Erziehers war begründet. Die Frau des Maire war die erste Dame der Stadt und sehr reich; sie hatte ihn wie einen Messias aufgenommen und feierte ihn so, daß er vor Eitelkeit schwoll. Ein Saal im Hause des Maire wurde zur Kapelle eingerichtet, mit einem Altar und einer Orgel versehen. Die Versammlung war zahlreich. Ich ging fast jeden Sonntag mit den Knaben hin, mehr des Gesanges als der Predigt wegen; meine Schwägerin kam, so oft es ihre Gesundheit erlaubte. Ich machte dabei zunächst die Bekanntschaft der Damen des Hauses, dann die zweier Schwestern aus Straßburg, die wegen der Gesundheit der älteren, einer jungen, schönen Witwe, den Winter im Süden zubrachten. Ich wurde bald innigst für die jüngere eingenommen. Es war schwer zu sagen, was eigentlich sogleich bei ihr fesselte, denn sie war nicht so schön wie ihre Schwester. Aber man fühlte sich unwiderstehlich [87] angezogen, wenn man sie ansah, denn aus ihrem bleichen Antlitz und ihren dunklen Augen sprach eine jener Seelen »der großen Mysterien«, die den, der sie liebt, für das ganze Leben fesseln. Sie war erst achtzehn Jahre alt, gründlich gebildet, eine gelehrte Botanikerin, zeichnete sehr gut und spielte vortrefflich Klavier. Doch stand sie noch inmitten jenes religiösen Kampfes, den ich durchgemacht hatte. Indem ich mich mit ihr verglich, fühlte ich, wie weit ich schon von dem mystischen Seelenzustand entfernt war, der direkte Offenbarungen verlangt. Ihr war ein Buch eines der berühmtesten protestantischen Prediger der Schweiz zu Gesicht gekommen, in dem sie die Wahrheit zu finden geglaubt hatte. Infolgedessen schrieb sie ihm und legte ihre Seele in die Hände dieses strengen, bedeutenden Mannes. Aber ihre Seele hatte, wie die meinige, noch andere mächtige und legitime Bedürfnisse; daher kamen auch bei ihr unablässige bittere Kämpfe. Die zwei Schwestern bewohnten einige Zimmer im Hause des Maire. Pauline, so hieß meine Freundin, hatte freien Zutritt zu den Zimmern des Hauses, wo der Flügel und die Orgel standen und wo sich gewöhnlich niemand aufhielt. Wenn ich kam, sie zu besuchen, fand ich sie oft an dem einen oder dem andern Instrument, die ernsteste Musik, wie Bach und Beethoven, mit seltenem Verständnis spielend. Die Musik ergriff sie so, daß ihre Tränen oft dabei flossen. Zuweilen, wenn ihr Herz zu voll war, fiel sie auf die Knie, verbarg das Gesicht in beiden Händen und weinte heftig. Ich verstand sie ganz in solchen Augenblicken, aber ich liebte sie noch mehr, wenn die Jugend und ihre hohe Intelligenz über diese Abgründe der Sensibilität siegten. Dann war sie eins der anziehendsten Wesen, die man sehen kann. So war sie meist während der langen Ausflüge, die wir miteinander machten. Hatten wir einen schönen Punkt am Meer, auf einem der höheren Berggipfel oder sonstwo gefunden, so lagerten wir uns zu ruhigem Genuß und vertrautem Gespräch, oder wir arbeiteten zusammen, denn wir gingen nie ohne unser Zeichenmaterial aus; und wir genossen in solchen [88] Stunden all das Glück, das die Jugend und eine edle Freundschaft geben. Wie waren sie schön, diese Stunden eines reich erfüllten, wahrhaft freien Lebens!

Wir hatten alles für uns: hohe geistige Interessen, feuriges Streben, entzückende Umgebungen, unbegrenzte Freiheit. Da war nicht einmal ein leiser Schatten jener kleinlichen Nebenbeschäftigungen, die so oft die besten Stunden stören. Wünsche, Unruhe, Zweifel, Reue – alles war verschwunden. Man genügte sich selbst in dem bloßen Gefühl des Daseins, und oft hatte ich nur den einen Wunsch, mich selig aufzulösen in die Harmonie und Unschuld des allgemeinen Lebens.

Die Natur aber hat den Menschen, der hier geboren ist, doch verhindert, sich ganz in Übereinstimmung mit dieser Harmonie zu entwickeln, indem sie in sein Blut die Keime so feuriger Leidenschaften legte, daß es ihn zu wilden Taten und unversöhnlichem Hasse treibt. Ich sah einige schreckliche Beispiele davon. Doch kann man freilich nicht wissen, was eine vernünftige und milde Erziehung aus diesem Volke machen könnte, denn seine Anlagen sind vortrefflich, und ich faßte eine wahre Liebe für dasselbe. Auf mei nen einsamen Spaziergängen machte ich Bekanntschaft mit den Landleuten, erkundigte mich nach ihren Gewohnheiten, ihren Bedürfnissen, und bald war ich so gut bekannt in der Umgegend, daß mehr als einmal, wenn ich mich auf unbekannten Wegen verirrt hatte, ich mich beim Namen rufen hörte und ein Kind oder einen Bauer oder eine Frau erscheinen sah, um mich auf den rechten Weg zu leiten. Was mich besonders bei ihnen in Gunst setzte, war, daß ich anfing, ihre Porträts zu machen. Unter anderen hatte ich zwei hübsche Schwestern gemalt und hatte der einen ihr Bild geschenkt, um es ihrem Bräutigam nach Toulon zu schicken. Einige Tage nachher kamen sie und brachten einen großen Korb voll Orangen, oben mit den köstlichsten Blumen bedeckt. Im Norden wäre das ein teures Geschenk gewesen, aber auf dieser gesegneten Erde hat auch der Arme etwas zu geben als Erwiderung auf die Gabe des Reichen. Die liebenswürdigen Mädchen setzten [89] sich durch diese graziöse Handlung auf einen Fuß der Gleichheit mit mir, den ich gern annahm. Ich ging auch sie zu besuchen. Ihre Wohnung war die der Armen des Landes – eine kleine ärmliche Schlafstube und als Wohnzimmer der Hof des Hauses, dem ein Orangenbaum in freier Erde als Schmuck diente. Ich fand die Schwestern im Hofe sitzend und nähend. Es war im Monat Januar, wenn der Proletarier des Nordens auf der gefrorenen Straße, in seinem kalten Dachstübchen oder im feuchten Keller elend friert. Sie waren durchaus nicht verlegen, so unerwartet überrascht zu werden, sondern boten mir mit edlem Anstand einen Holzstuhl an und erzählten mir tausenderlei witzige und kluge Dinge, trotzdem sie mir bekannten, daß sie weder lesen noch schreiben könnten.

Es wurde in unserer kleinen protestantischen Gemeinde beschlossen, das Abendmahl zu feiern. Ein protestantischer Prediger kam von Toulon, um unserem Erzieher beizustehen. Diesmal störte keine Angst, unwürdig an diesem Mahl der Brüderlichkeit teilzunehmen, meine Ruhe. Im Gegenteil, als ich mich nach der Zeremonie in mein Zimmer zurückzog, empfand ich einen solchen Frieden, daß es mir war, als hörte ich entzückende Harmonien in meinem eigenen Herzen.

Der französische Prediger forderte seinen Kollegen auf, einmal nach Toulon zu kommen, um den deutschen Sträflingen im Bagno daselbst zu predigen. Dieser nahm den Vorschlag natürlich mit Freuden an. Es wurde beschlossen, daß Pauline, die beiden Knaben und ich ihn begleiten sollten. Ich hatte den Bagno in Toulon auf unserer Reise nach Hyères besucht und hatte mich tief betrübt und gedemütigt gefühlt, als ich all die Unglücklichen nicht nur durch das Laster degradiert sah, sondern auch durch die menschliche Gerechtigkeit, die mit fein erfundener Grausamkeit das abscheuliche Kostüm von zwei Farben, gelb und rot, gewählt und die Ketten hinzugefügt hat, die oft den nur einer Verirrung Schuldigen und noch jedes Guten Fähigen mit dem entmenschten Verbrecher zusammenbinden. Es war das erstemal, daß ich eine [90] solche Strafanstalt sah, und ich fragte mich, ob die Gesellschaft ein Recht habe, so zu strafen, ob sie nicht selbst die Verbrechen veranlaßt habe, für die sie strafe, und ob diese Art der Strafe wohl ihr Ziel erreiche? Ich hatte kaum gewagt, meine Augen auf diese Unglücklichen zu richten, aus Angst, sie durch einen unvorsichtigen Blick noch mehr zu demütigen, oder ihnen als gemein neugierig zu erscheinen. Ich fühlte ein unermeßliches Mitleid mit ihnen und erwartete daher mit großem Anteil den Akt, dem wir entgegengingen. Die große Kajüte eines alten Kriegsschiffs, das dem Bagno annektiert war zu Wohnungen für die Sträflinge, war zur Kapelle umgewandelt. Dort trafen wir zwischen fünfzig bis sechzig dieser Unglücklichen, zumeist Elsässer. Der Erzieher war sehr gerührt und tat sein Möglichstes, Rührung hervorzubringen. Er hob die schönste Seite des Christentums hervor, indem er diesem Kreis verurteilter Menschen ankündigte, daß es eine Gerechtigkeit gebe, die diejenigen begnadigen könne, die von den Menschen verdammt worden seien, und daß das Mittel, diese Begnadigung zu erhalten, ein Akt zwischen Gott und dem Menschen sei, ganz unabhängig von der Welt; ja daß das Kleid des Sträflings zum Ehrenkleide vor Gott werden könne, wenn ein gereinigtes Herz darunter schlüge.

Bei einigen der Unglücklichen war der Ausdruck des Gesichts, vom Strahl einer reinigenden Hoffnung belebt, äußerst rührend. Nach der Predigt ward uns erlaubt, mit ihnen zu sprechen. Es war da unter andren ein junger Deutscher aus guter Familie, der studiert hatte und mehrere deutsche Professoren, die auch dem Erzieher bekannt waren, kannte. Er hatte in der Fremdenlegion in Algier gedient, und man hatte ihm die Kasse des Regiments anvertraut. In einer bösen Stunde, wie er selbst sagte, hatte er Geld aus der Kasse genommen, in der Hoffnung, es wieder ersetzen zu können; aber noch ehe er dies tun konnte, wurde die Sache entdeckt, und er wurde auf zehn Jahre zum Bagno verurteilt. Fünf Jahre dieser schrecklichen Zeit waren verflossen, und sein Betragen während derselben war so untadelhaft gewesen, [91] daß der Pastor und die Direktoren bereits um Abkürzung seiner Strafzeit in Paris eingekommen waren, da solche Gnade stattfindet, wenn das Verbrechen durch wirkliche Besserung gesühnt wird. Wer aber fünf Jahre im Bagno zubringen kann, ohne noch tiefer zu entarten und sich, im Gegenteil, im Guten befestigt, der muß wahrhaftig der Begnadigung wert sein. Wir unterhielten uns auch mit anderen, deren oft sehr naive Bekenntnisse uns rührten. So sagte uns ein Bauer aus dem Elsaß mit fast kindlicher Einfachheit: »Ich hab' doch nur mal im Zorn so en Weible erschlagen und nun bin ich hier auf Lebenszeit. Ja, und wenn sie mir noch zur rechten Zeit so was Gutes gelehrt hätten, wie Sie uns da sagen, da wär's vielleicht nie geschehen.«

Wir verließen sie endlich, indem wir ihnen versprachen, ihnen deutsche Bibeln zu schicken – das einzige, was wir für sie tun zu können glaubten.

Der Plan, den wir anfangs gehabt hatten, unsere Zeit zwischen Hyères und dem nördlichen Italien zu teilen, wurde aufgegeben, und es wurde beschlossen, die ganze Zeit unserer Abwesenheit von der Heimat in Hyères zu verbringen. Ich bedauerte Italien, aber ich freute mich, in Hyères zu bleiben, wo es mir immer besser gefiel und an das mich immer neue, angenehme Beziehungen fesselten. Eine ältere Dame, die ich kennen gelernt hatte und die mir sehr wohl wollte, führte mich bei einem Franzosen ein, der an demselben Platz wohnte, an dem unser Haus lag. Er war ein Aristokrat von alter Familie, noch jung, aber gelähmt, so daß er nur mit Mühe gehen konnte. Sein großer Reichtum erlaubte ihm, seinen Zustand auf alle mögliche Weise zu erleichtern. Er hatte ein schönes Haus, eine prächtige Bibliothek, einen reizenden Garten, in dem er, von seinem Kammerdiener geführt oder im Rollstuhl gefahren, die Luft genoß. Eine Pariser Dame von feiner Bildung und vielem Geist war seine Vorleserin und machte die Wirtin, wenn er, was er sehr liebte, Besuch hatte. Ich fand in ihm einen der gebildetsten, geistvollsten Menschen, die ich je gekannt habe. Er hatte als junger und noch gesunder [92] Mensch Deutschland bereist, kannte viele der bedeutendsten Menschen daselbst, schätzte die deutsche Literatur über alles und war insbesondere ein Verehrer Goethes, den er noch persönlich gekannt hatte. Ich war entzückt, in Frankreich eine so unbegrenzte Anerkennung des deutschen Geistes und ein so vollkommenes Verständnis für ihn zu finden. Dabei hatte er jene vollendeten Formen, jenen Esprit und jene ritterliche Höflichkeit, die man den Franzosen früherer Zeit nachrühmte, ehe die Herrschaft der Bourgeoisie die französische Liebenswürdigkeit degradiert hatte. Er war außerordentlich gütig gegen mich, stellte mir seine Bibliothek zur Verfügung, sandte mir jeden Tag Blumen aus seinem Garten und bat mich, den Abend so oft wie möglich da zuzubringen. Es versammelte sich bei ihm ein ausgezeichneter kleiner Kreis. Die Hauptzierde desselben war eine junge Französin, die das Unglück gehabt hatte, daß ihr von ihr heißgeliebter Mann wahnsinnig geworden war. Sie lebte nun in Hyères in einer Villa am Meer, mit einem alten Onkel und ihrer kleinen Tochter, deren wildes exzentrisches Wesen das Schicksal ihres Vaters auch für sie fürchten ließ. Die Mutter war ein äußerst anziehendes Wesen und eine treffliche Musikerin. Wir musizierten oft ganze Abende lang bei unserem Kranken, der ein leidenschaftlicher Freund der Musik war. Ich sang, und sie spielte. Es waren genußreiche Stunden, denn sie liebte nur das Beste in der Musik, und mit Verwunderung hörte ich hier, in einem kleinen Grenzorte Frankreichs, von einer Französin Beethoven in einer Vollendung spielen, wie ich ihn selten gehört habe.

Eines Tages erhielten die Vorleserin des Kranken und ich eine Einladung von einer Familie in Hyères, sie zu dem Balle, der in der Admiralität zu Toulon am Geburtstag des Königs gegeben wurde, zu begleiten. Man fuhr damals zu Wagen in zwei Stunden von Hyères nach Toulon. Als wir ankamen, waren die Säle der Admiralität schon voll Menschen. Man drängte sich auf die Balkons und an die Fenster, um ein Feuerwerk zu sehen, das auf dem Platze abgebrannt [93] wurde. Dann kehrte man in die prachtvollen Säle zurück, um zu tanzen. Der Admiral war von äußerster Liebenswürdigkeit gegen uns und beauftragte einen seiner Adjutanten, ganz besonders für uns zu sorgen, uns Tänzer vorzustellen und alles zu tun, um uns das Fest zu einem solchen zu machen. Der Adjutant entledigte sich seines Auftrages vortrefflich und brachte uns so viele Tänzer, daß wir kaum zu Atem kamen. Die französischen Marineoffiziere sehen sehr gut aus in ihrer geschmackvollen Uniform, und es waren feine, gebildete, liebenswürdige Leute darunter, so daß der Tanz mir ein wahres Vergnügen gewährte. Man fing damals in Frankreich kaum an, Polka zu tanzen, und die meisten Damen tanzten sie noch nicht. Ich hatte sie schon in Deutschland getanzt mit allen möglichen Variationen. Zufällig wurde ich von einem Marineoffizier dazu aufgefordert, der kürzlich in Deutschland gewesen war und sie dort erlernt hatte. Die andern Paare, die weniger gewandt dabei waren als wir, hielten an; man bildete förmlich einen Kreis um uns, bewunderte uns und sagte mir die schmeichelhaftesten Dinge. Ich war ein wenig berauscht; der Glanz und die Eleganz des Festes, die Höflichkeit und die Huldigungen, deren Gegenstand ich war, gaben mir ein angenehmes Gefühl der Befriedigung. Endlich, gegen vier Uhr morgens, stiegen wir in den Wagen, ungeachtet der Bitten unserer Wirte und der Tänzer. Die Vorleserin und ich kamen allein zurück, unsere Freunde blieben in Toulon. Meine Gefährtin, eine eifersüchtige und spöttische Natur, neckte mich fortwährend mit meinen »Erfolgen«, wie sie es nannte. Als sie keine Antwort erhielt, schlief sie fest ein. Ich schlief nicht, ich ließ im Geist noch einmal die Stunden an mir vorüberziehen, die eben entschwunden waren, und ich mußte mir selbst sagen, daß ich niemals einem glänzenderen Balle beigewohnt hatte, noch je mehr gefeiert worden war. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr erschien mir das alles leer und ohne eigentlichen Inhalt. Der Tanz verlor plötzlich allen Reiz, und die Komplimente, die man mir gemacht hatte, schienen [94] mir fade und nichtig. Wir näherten uns Hyères; die Sonne stieg majestätisch aus dem Meer, das noch dunkel dalag wie »ein eherner Schild«, sich aber nach und nach purpurn färbte, je mehr die Spenderin des Lebens sich strahlenumkränzt daraus erhob. Ich blickte auf dies glorreiche Schauspiel mit halb geschlossenen Augen, unfähig es zu genießen, denn ich war todmüde. Da ging mir klar und bestimmt ein neugewonnenes Resultat auf: daß nämlich die geselligen Freuden, die mich bis dahin angezogen und gereizt hatten, gar keine Bedeutung mehr in meinem Leben hätten, daß ihr Zauber gefallen war, wie die überreife Frucht vom Baume fällt, und daß ich in Zukunft nicht mehr die Freuden der »großen Welt« aufsuchen, nicht mehr tanzen würde.

Pauline, die mich getadelt hatte, weil ich zu dem Ball gegangen war, begriff den inneren Prozeß nicht, der sich in mir vollzogen. Sie sah das Resultat dieses Balles, von dem ich ihr sprach, als einen Sieg des asketischen Geistes über die natürliche Neigung an.

Der Invalide neckte mich sehr über die Erfolge, von denen ihm die Vorleserin erzählt. Ich ließ ihn lächelnd gewähren, denn ich wußte, welche Bedeutung sie für mich hatten. Dabei fuhr ich fort, mich seiner geistvollen Unterhaltung so oft als möglich zu erfreuen.

Mit Trauer sah ich endlich den Augenblick des Scheidens nahen. Meine neuen Freunde, die entzückende Schönheit des Südens, meine Studien nach der Natur, alles das zu verlassen ging mir sehr nahe. Alle Bekannten flehten uns an, die Abreise noch hinauszuschieben, aber meine Schwägerin wollte zu ihrem Mann zurück, und sie verschob nie die Ausführung eines Entschlusses.

Es blieb also nichts übrig, als sich mit der an schönen Erinnerungen so reichen, nun verlebten Zeit zu begnügen. Einige Tage vor unserer Abreise bat mich die liebenswürdige Französin aus dem Zirkel des Invaliden, noch einen Abend bei ihr auf ihrer Villa zuzubringen und die Nacht bei ihr draußen zu bleiben. Ich nahm es mit Freude an, denn diese [95] Frau hatte mir eine tiefe Liebe mit Mitleid vermischt eingeflößt. Ihre Villa war reizend gelegen. Die Wellen des Mittelmeeres schlugen an die Mauern des Gartens an; grüne Hügel umgaben sie von den andern Seiten, so daß sie wie in einem Nest von köstlichen Pflanzen, Duft und Blüten lag, über dem Palmen ihre schlanken Zweige wiegten. Am Balkon des Wohnzimmers, von wo man das Meer und die Inseln sah, rankten sich bengalische Rosen in langen Kränzen, und in den Bäumen sangen unzählige Nachtigallen. Das Zimmer war nur von einer kristallenen Lampe, die von der Decke herunterhing, erhellt, die ihr zartes, geheimnisvolles Licht mit den Düften und den Stimmen der Nacht mischte. Die liebenswürdige Wirtin dieses zauberischen Aufenthalts setzte sich an den Flügel und spielte Bachsche und Beethovensche Musik, dann sang ich Psalmen von Marcello und anderes Herrliches, und bis tief in die Nacht hinein blieben wir in poesieerfüllter, weltentrückter Stimmung beieinander.

Ich verbrachte noch einen ganzen Tag mit Paulinen, einen Abend mit dem Invaliden und dessen Kreis, dann nahm ich tiefbewegt von allen Abschied.

Früh morgens stand unser großer Wagen angespannt vor der Türe. Noch einen Blick warf ich von unseren Fenstern auf das Meer, die Inseln, die Orangengärten, das Haus des Invaliden, Paulinens Wohnung. Das alles prangte im ersten Duft und rosigen Glanz des frühen Morgens. Ein Segen über diese Vergangenheit, ein großes befriedigtes Gefühl inmitten der Wehmut, wie ein tiefinnerstes Gebet – und ich folgte den andern, die bereits einstiegen. Am Wagen stand der Kammerdiener des Invaliden, der mir als letzten Gruß seines Herrn den ausgewähltesten Blumenstrauß überreichte. Fort rollte der Wagen, meine Augen schwammen in Tränen, mein Aufenthalt im Süden war beendet.

[96]
15. Kapitel. Rückkehr
Fünfzehntes Kapitel
Rückkehr

Unser Rückweg führte uns durch die Dauphiné, Savoyen und die Schweiz. Gerade acht Tage nach dem schönen Tag, den ich in der rosenbekränzten Villa der liebenswürdigen Französin verbracht hatte, befanden wir uns inmitten der Alpen der Dauphiné, und der Wagen fuhr langsam eine Serpentine hinauf, die über beträchtliche Höhen führt. Die Knaben, der Erzieher und ich wanderten zu Fuß, um es den Pferden zu erleichtern. Rings um uns stiegen hohe, schneebedeckte Alpenspitzen auf; die Straße war zu beiden Seiten mit Eisstücken eingefaßt. Hier und da zeigte sich eine arme Hütte mit einigen kahlen Bäumen, die noch nicht einmal eine Knospe hatten. Eine schneidende, eiskalte Luft zwang uns, uns in Mäntel einzuhüllen und rasch zu gehen. Die Knaben liefen und sprangen über Felsblöcke und Eisklumpen; der Erzieher hielt sich fern; denn er war mir schon lange böse, weil ich in Kreisen verkehrt hatte, in die er, seiner Unkenntnis der französischen Sprache wegen, nicht kommen konnte. Ich ging also allein, in Betrachtungen und Erinnerungen verloren. Ich dachte mit Sehnsucht an alles, was ich jüngst verlassen. Ich verglich die poesieerfüllten Stunden von acht Tagen zuvor mit dieser Wanderung durch die eisigen Einöden der erstarrten Natur. Ich sah hinauf zu den weißen Spitzen, die in den Strahlen einer kalten Sonne erglänzten, und es schien mir, als sähe ich mit diamantner Schrift mein Schicksal auf dem Eis verzeichnet. »Die Stunden der Jugend, der Schönheit und Poesie sind denen, die für das Ideal leben, nur gegeben, um ihren Mut aufrecht zu erhalten und ihr Herz zu erfrischen. Aber zum größten Teil ist ihr Leben ein Kampf ohne Aufhören, ein Weg, der durch einsame, unfruchtbare Wüsten führt, wie die Straße, die du wandelst. Willst du die Aufgabe annehmen und nicht zurückschrecken vor den Opfern, die sie dir auferlegt? Willst du bereit sein, [97] dein Herz, das den ewig brennenden Durst nach Schönheit hat, unaufhörlich kreuzigen zu sehen?«

In dem Augenblick, als ich diese Schrift in klaren Zügen zu lesen meinte, kamen die Knaben angesprungen und brachten mir einen Strauß Veilchen, den sie neben dem Eis, auf spärlichem Grün, gepflückt hatten. Dann sprangen sie davon, um anderes zu suchen. Der Anblick dieser Blumen, die meine Gedanken so gut symbolisierten, rührte mich tief, und unwillkürlich kniete ich auf den Steinen nieder und rief: »Ja, ich nehme die Aufgabe an; ohne zu wanken will ich den einsamen Pfad gehen, den die verfolgen, die die Wahrheit suchen, und ich will dankbar sein für die wenigen Blumen, die ich auf dem Wege finde.«

Wir blieben ein paar Tage in Grenoble. Die Knaben, der Erzieher und ich hatten den Wunsch, das große Karthäuserkloster zu sehen. Meine Schwägerin konnte, da es eine ermüdende Unternehmung war, nicht mit. Wir zogen also ohne sie aus. In einem kleinen Dorf, einige Stunden von Grenoble, nahmen wir Maultiere und einen Führer und begaben uns auf den Weg bergauf. Der Weg steigt zuerst zwischen steilen Bergwänden, die mit Grün bedeckt sind, empor; in der Tiefe rauscht ein tosender Bergstrom und die Wipfel riesiger Berge ragen aus ihr herauf. Nach und nach aber wird das Grün spärlicher, die Felsen drohender, der Abgrund schauerlicher und die Straße mühseliger und gefährlicher. Endlich kommt man an einen Punkt, wo alle Vegetation aufhört und wo wirklich Tod und Erstarrung herrschen. Ein riesiges Felsentor, Todestor benannt, führt in diese schauerliche Einöde hinein; so ungefähr mußte Dante sich sein Höllentor vorstellen, an dem jede Hoffnung zurückblieb. Einige Zeit nachher erscheint jedoch grünendes Leben wieder, und plötzlich findet man sich ganz erstaunt auf einem Bergplateau, in einer Höhe von 6000 Fuß über dem Meer, das ein Paradies nach der Hölle scheint. Es ist eine von noch höheren Zacken eingeschlossene Ebene, bedeckt mit dem köstlichsten Grün, mit prächtigem Laubholz und vielfarbigen Blumen. [98] Inmitten dieser schönen Berg-Oasis erhebt sich nun das große Karthäuserkloster, das erste, vom heiligen Bruno selbst gebaute Kloster dieses Ordens. Es sieht von außen fast aus wie eine Festung mit seinen mächtigen Mauern und Türmen. Ein kleines hölzernes Haus, außerhalb der Ringmauern des Klosters mit einem großen Eßsaal unten und einer Menge kleiner Zellen darüber, ist zu der Aufnahme von Frauen und Kindern bestimmt, da solche das Kloster selbst nicht betreten dürfen. Männer werden im Kloster aufgenommen und übernachten daselbst. Nachdem ein Laienbruder uns in dem Eßzimmer ein gutes Abendessen serviert hatte, begab sich der Erzieher in das Kloster, um die Nacht daselbst zu verbringen. Ich beneidete ihn sehr um dieses Vorrecht; ich hätte so gern das Innere dieses Klosters gesehen, wo seit den Zeiten des heiligen Bruno die Jahrhunderte sich versteinert haben. Die Knaben und ich nahmen ein jeder von einer Zelle Besitz, die alle mit einem sehr reinlichen Bett, mit Waschtisch, Stuhl, Betpult, Kruzifix und Weihwasserkessel versehen waren. Ich blieb bis spät in die Nacht an meinem Fenster; hinaus konnte ich nicht mehr, da man das Haus von außen verschlossen hatte. Zunächst sah ich den Laienbrüdern zu, die in einer großen Kastanienallee Ball spielten, dann folgten sie dem Ruf der Klosterglocke, und nun trat ringsum eine großartige Stille, ein erhabenes Schweigen ein. Der Mond erhellte die Einsamkeit der Berge und die ansehnlichen Gebäude des Klosters. Nach und nach versanken die flüchtigen Erscheinungen der Welt, die Phantasmagorien der Einbildungskraft, die ungestümen Wünsche wie in einen fernen Traum. Das Dasein schien nur noch in der reinen Idee, in der Abstraktion der Dinge zu bestehen, und schwamm, wie ein elementares Fluidum, auf den silbernen Strahlen des nächtlichen Gestirns. Lange, lange schaute ich hinaus und hatte das Gefühl meiner Individualität verloren. Da schallte plötzlich ein Glockenton durch das elementare Leben der Nacht und zitterte in den Mondeswellen wie ein Schöpfungsgebet, das das Universelle wieder zu individuellen Formen rief. Es [99] war Mitternacht. Die Kirchenglocke lud die Mönche zu der Messe ein, die jede Nacht um die zwölfte Stunde gefeiert wird, und in der die Brüder für das Seelenheil derer beten, die sie unten in der Welt des Elends und der Sünde zurückgelassen haben. Gewiß war es ein großes Gefühl, das diese Regel eingab – das Mitleid, das welterlösende Erbarmen mit denen, die moralisch noch mehr leiden, als physisch; die Stärke der Liebe, die alles retten möchte, was sich in Finsternis und Verbrechen bewegt. Vielleicht waren unter diesen armen Mönchen einfache Herzen, die noch mit vollem Glauben beteten; aber ach! in der Welt, wie sie nun einmal ist, ist es nicht genug, zu fühlen und zu lieben, man muß vor allem denken und handeln, und jede Kraft, die für die große Arbeit des Lebens verloren ist, wird eine Sünde gegen das Gesetz des Fortschritts.

Am Morgen früh, vor fünf Uhr, hörte ich die Stimme des Laienbruders, der vor meiner Tür stand und mir zurief, es sei ein wahres Unwetter und unmöglich, fortzugehen. Ich stand auf und sah wirklich, daß es schrecklich war. Die ganze schöne Oasis, so grün, frisch und blühend am Abend, war mit einem dichten, grauen Schleier bedeckt; dunkle Wolken hingen in sonderbaren Fetzen beinahe bis auf die Erde und verdeckten die umgebenden Berge ganz. Der Regen, mit Schneeflocken vermischt, strömte zur Erde. Der Führer versicherte, der Weg sei bei solchem Wetter gefährlich. Ich war verantwortlich für das Leben der Knaben, und doch wußte ich auf der anderen Seite, daß meine Schwägerin in großer Herzensangst sein würde, wenn wir nicht zurückkehrten, da in Grenoble das Wetter vielleicht sehr schön war. Der Erzieher kam aus dem Kloster und war auch der Meinung, daß wir warten müßten. Inzwischen erzählte er uns, was er im Kloster gesehen und gehört hatte, unter anderem von einem Mönch deutscher Abkunft, der da oben seit fünfzig Jahren weilte, ohne je in die Welt zurückgekehrt zu sein, und seine Muttersprache beinahe vergessen hatte. Doch hauptsächlich war er ergriffen von der Mitternachtsmesse, die allerdings [100] einen mächtigen Eindruck auf die Phantasie machen mußte.

Nach einigen Stunden ließ der Regen nach, und ich beschloß sogleich zu gehen. Ich befahl dem Führer, bei den Kindern zu bleiben und sie nicht einen Augenblick zu verlassen. Ich selbst verließ mich auf den Instinkt meines Maultiers, den ich auch Gelegenheit hatte zu bewundern. Die Steine waren vom Regen so schlüpfrig geworden, daß man Mühe hatte, einen Schritt zu machen; aber das vorsichtige Tier prüfte immer zuerst mit dem Fuß, ob die zu betretende Stelle sicher sei, und die Freude, die ich an seiner Klugheit empfand, ließ mich die Gefahr vergessen. Denn Gefahr war da; neben uns heulte es im Abgrund, und die Straße dreht sich zuweilen so schroff um Felsenecken, so hart an der schauerlichen Tiefe hin, daß es nur eines einzigen falschen Schritts bedarf, um unrettbar verloren zu sein. Endlich kamen wir doch ohne Unfall unten im Dorf an, wo wir aber einige Stunden verweilen mußten, um unsere Kleider zu trocknen, denn wir waren bis auf die Haut durchnäßt. Dann kehrten wir nach Grenoble zurück, wo wir mit Angst erwartet wurden.

Einige Tage nachher passierten wir die französische Grenze, und ich empfand ein wahres Herzweh, als ich zum letztenmal Französisch um mich sprechen hörte. Ich hatte das Französische in der provenzalischen Mundart lieb gewonnen. Die sanften musikalischen Laute 1 der romanischen Sprachen passen zu der südlichen Natur, und wen diese mit ihren Reizen bestrickt hat, der liebt jene Sprachen, wie man das Wort liebt, das aus dem Munde eines geliebten Wesens kommt.

Mein Vaterland erschien mir nicht mehr so schön wie früher; die Erde war ohne Blumen, die Landschaft ohne Farben, der Himmel trüb. Aber ich gedachte des Gelübdes, das ich in den Alpen der Dauphiné dem Weltgeist geleistet, und ich war entschlossen, mit festem Schritt vorwärts zu gehen.

[101] Endlich kam ich heim in das elterliche Haus, denn auch mein Vater war zu längerem Besuch eingetroffen. Der Familienkreis war groß, und ich wurde mit solcher Freude und Liebe empfangen, daß mein Herz warm wurde. Dennoch fühlte ich, daß ich ein wenig fremd geworden war und daß sich ein noch unbestimmter, aber mit Sicherheit empfundener Bruch im Grunde meines Wesens vorbereitete. Ich sah deutlich, daß dem Leben, das ich vor mir hatte, ein großes leitendes Prinzip, ein allgemeines Ziel, das alles beherrscht, fehlte. Das gerade war aber für mich die Hauptsache geworden, der Durst meiner Seele, die Flamme, die alle kleinen Rücksichten verzehrte, und die, das fühlte ich, mich selbst verzehren würde, könnte sie sich nicht verwirklichen. Ich liebte meinen Vater mit einer Liebe, die selbst jetzt, so lange Zeit nach seinem Tode, nichts von ihrer Stärke verloren hat. Ich sah mit Schmerz, wie die Einsamkeit, zu der ihn die Liebe für die Seinen verdammte, da er noch in der Nähe des immer wandernden Fürsten bleiben mußte, ihn drückte, und wie schmerzlich sie ihm war. Eines Tages, als ich mit ihm allein war, sprach er davon und rief voll Bitterkeit: »Ich bin so allein, so allein!« – Ich warf mich in seine Arme und sagte ihm: »Nimm mich mit dir, wenn du wieder gehst; laß mich immer bei dir bleiben, ich widme dir mein Leben, du wirst nicht mehr allein sein.«

Er umarmte mich, aber er antwortete nicht und nahm meine Hingebung nicht an. Wenn er sie angenommen hätte, so wäre der ganze Lauf meines Lebens ein anderer geworden. Für ihn zu leben wäre dann das Ziel gewesen, auf das ich alle meine Bestrebungen konzentriert hätte. Ich hätte darin die Befriedigung gefunden, die das Bewußtsein einer großen Anstrengung, einer ganz erfüllten Pflicht gibt. Danach hatte ich niemals mehr Gelegenheit, ihm die ganze Tiefe meiner Liebe zu zeigen, und mein Leben nahm eine solche Richtung, daß die Kindesliebe darin nicht mehr das höchste Ziel, nicht der Kompaß sein konnte, nach dem es steuerte.

Ich wendete mich mit neuem Entzücken zur Malerei und [102] führte mehrere Bilder nach den Skizzen, die ich aus dem Süden mitgebracht hatte, aus. Aber in die reine Freude an dieser Beschäftigung trat wieder ein schwarzer Schatten, und ein eherner Schicksalsspruch wurde mir endlich ganz klar: ich mußte der liebsten Beschäftigung entsagen wegen der Schwäche meiner Augen. Sie waren von Kindheit auf schwach gewesen, und ich hatte sie immer zu sehr angestrengt. Der Arzt erklärte mir, daß ich das Malen aufgeben müsse, um meine Augen zu retten. Ich fühlte, daß dies schwere Urteil richtig sei, aber es erfüllte mich mit Verzweiflung. Es lag in meiner Natur, meine schwersten Kämpfe in mich zu verschließen, und niemand ahnte, was die Unterwerfung unter dieses Urteil mich kostete. Ich murrte in meinem Herzen gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals, das das Streben nach dem Ideal in das Herz des Menschen legt, ihm das Talent gibt, um es auszusprechen, und ihm dann die nötigen physischen Kräfte versagt. Nach und nach jedoch brach sich eine Ansicht in mir Bahn, die mich über den Schmerz erheben sollte. Ich sah ein gewaltigeres Mittel vor mir, dem Ziele meines Lebens zuzueilen, als Religion und Kunst es gewesen waren, nämlich die Teilnahme, durch den Gedanken und die Tat, am Fortschritt der Menschheit. Sobald dieser Gedanke sich in mir zu befestigen begann, milderte sich mein Leiden, die Malerei aufgeben zu müssen. Ich verließ die Spezialität, um in das Bereich der Fragen auf der ganzen Leiter des menschlichen Daseins einzutreten. Aber wie immer, verlangte ich auch hier, sogleich von der Theorie zu den Konsequenzen derselben überzugehen. Die Religion, aus ihrer metaphysischen Region herniedergestiegen, mußte sich in die Ausübung des Mitleids verwandeln und die Gleichheit der Brüderlichkeit unter den Menschen einführen. Die Armen zu besuchen, ihnen zu helfen, sie zu trösten, wurde mir nun zur Notwendigkeit. Man sprach mir von einem armen Knaben, der unsägliche Leiden erduldete, da er den Knochenfraß an einem Bein hatte, und dessen sehnlichster Wunsch es war, vor dem gewissen Tod, dem er entgegenging, noch konfirmiert zu werden. [103] Er bedurfte dazu einiger Vorbereitungsstunden, aber keiner der Prediger in der Stadt hatte diese übernehmen wollen, wahrscheinlich aus Furcht vor der verpesteten Luft, die das Krankenlager umgab. Ich entschied mich sogleich, hinzugehen und mein Bestes zu tun, um das arme Geschöpf zu trösten.

In einem ganz kleinen Zimmer fand ich, auf einem sehr reinlichen Lager, einen armen Knaben, dessen Gesicht Totenblässe deckte. Der Anblick seines Beines war furchtbar, und es bedurfte all meines Mutes, um ihn zu ertragen. Aber wenn man dies arme Kind ansah, das mit rührender Geduld litt, und dessen große schwarze Augen das hinfällige Dasein zu beherrschen schienen, um den Tod aufzuhalten, bis es die Worte des Heils vernommen, dann überwand man den natürlichen Widerwillen, um diese junge Seele zu erquicken. Ich ging nun regelmäßig hin, ihm aus der Bibel vorzulesen und Betrachtungen daran zu knüpfen, die seinem Alter und seiner Fassungskraft gemäß, aber nichts weniger als orthodor waren. Ich stellte ihm seine Leiden nicht dar als gesandt für sein Heil; ich sagte ihm nicht, daß er durch den Kreuzestod eines Vermittlers losgekauft sei von Sünden, von denen sein unschuldiges Herz nichts wußte; aber ich bestrebte mich, ihm die Kraft und Majestät des Geistes klar zu machen, der im Anblick der ewigen Wahrheit auch die schrecklichsten Leiden vergessen kann. Selbst fortgerissen von meiner Aufgabe, versuchte ich ihn zu einem Zustand der Begeisterung zu erheben, die ihm seinen schrecklichen Tod erleichtern könnte. Ich sehe noch jetzt in der Erinnerung das Angesicht des armen Kindes, wenn ein verklärtes Lächeln seine bleichen Lippen umspielte und seine großen dunklen Augen von einem überirdischen Strahl erglänzten. Ich hätte mich selbst verachtet, hätte ich meine Aufgabe nicht bis zum letzten Augenblick fortgesetzt, und als ich eines Morgens die Nachricht empfing, daß er in der Nacht friedlich entschlummert sei, da fühlte ich, obgleich ich mich für ihn freute, eine Lücke in meinem Leben, denn es schien mir, als ob nun erst, [104] an seinem Schmerzenslager, die wahre Verwirklichung des Ideals für mich begonnen habe.

Es war sonderbar, daß in diesem Fall, so wie früher, als ich die christliche Askese und nachher den ausschließlichen Kultus der Kunst verwirklichen wollte, ich einer stummen Opposition, einer Art Erstaunen von seiten der Meinen begegnete. Sie waren so aufrichtig gut, fromm, mildtätig, für Kunst begeistert, und begriffen doch nicht, warum man gerade »so weit« gehen müsse. Sie sprachen mir nicht davon, aber ich fühlte es. Ich schwieg und fuhr fort, die Armen und Unglücklichen zu besuchen, weil eine Stimme, die stärker war als alle menschlichen Rücksichten, es mir gebot.

Unter den Freundinnen, die ich wiedergefunden hatte, war die »Kleine« wieder die erste und liebste. Ihre Mutter, die älteste Schwester und der Bruder waren verreist, aber sie wurden bald zurückerwartet, und mit ihnen eine Tante, eine viel jüngere Schwester der Mutter, die man die geistreiche Tante nannte, und von deren Einfluß auf den Bruder mir die Kleine viel erzählte. Ich hatte seit meiner Abreise nach dem Süden nicht viel von meinem Apostel gehört, nur die Kleine hatte ihn manches Mal in ihren Briefen erwähnt, und auch meine Mutter hatte öfter von ihm geschrieben. Ich hatte oft an ihn gedacht und freute mich, ihn wiederzusehn. Aber der Gedanke an diese so schöne und ausgezeichnete Tante erfüllte mich mit einiger Unruhe. Sie kamen endlich an, und die Kleine kam alsbald mit der Tante zu uns. Wir fanden sie sehr schön, elegant, geistvoll, fast gelehrt, aber es fehlte ihr an Unmittelbarkeit, und sie war uns allen nicht sympathisch. Meine Mutter bat sie jedoch, sowie die drei Geschwister, einen Abend bei uns zuzubringen. Es war das erstemal, daß ich meinen Apostel wiedersah. Er kam auf mich zu und reichte mir die Hand. Wir sahen uns an; es war ein Blick gegenseitigen Erkennens, der Gruß einer Seele an die andere, ein tiefes Verstehen, als ob wir uns seit Ewigkeiten gekannt hätten. Alle Furcht vor der geistreichen Tante war verschwunden; ich fühlte, daß sie nur seiner Intelligenz etwas [105] war, aber nicht seinem Herzen. Im Laufe des Abends fragte er mich, ob ich gedichtet habe im Süden, und als ich es bejahte, bat er, ihm die Gedichte zu zeigen. Ich willigte ein unter der Bedingung, mir eine strenge Kritik derselben zu geben, was er auch versprach. Es schien uns nur natürlich, beinah den ganzen Abend ausschließlich miteinander zu sprechen, gleichsam wie um uns zu entschädigen für die verlorene Zeit. Dann wurden bestimmte Abende zur Zusammenkunft bei uns verabredet, wo er unserem kleinen Kreis den zweiten Teil des Faust vorlesen wollte, und somit war ein öfteres Wiedersehen vorerst gesichert.

Einige Tage darauf schickte ich ihm eine Auswahl der Gedichte, die ich in Hyères geschrieben hatte. Niemand hinderte mich daran. Niemals hatte meine Mutter mir ausdrücklich Sachen der Art verboten. Ich zeigte ihr nichts von der Sendung, nicht aus Mangel an Vertrauen, sondern weil ich schon fühlte, daß eine ganze Seite meines Daseins keine Sympathie bei den Meinigen finden würde und daß von daher mir kein Rat kommen könne.

Wenige Tage darauf erhielt ich ein begeistertes Gedicht von ihm, das unsere erste Bekanntschaft, unsere Trennung, seinen Abschiedsgruß und meine Antwort als jene ahnungsvollen Momente zusammenstellte, denen die höchste Blüte des Lebens in himmlischer Anmut entsteigen müsse. Dabei befand sich die Kritik eines jeden meiner Gedichte; feine geistvolle Urteile, die mich beglückten und belehrten. Ich fühlte mich unsäglich glücklich. Die Sonne jener Liebe, die dem ganzen Leben ihren Stempel aufdrückt, stieg an meinem Horizont empor. Dennoch wollte ich das Gefühl, das mächtig aufwuchs, um keinen Preis anders nennen als Freundschaft. Ich war entschieden, es auf den Verkehr zweier verwandter Seelen zu begrenzen, denn ein schweres Bedenken drängte sich mir auf. Er trat in das Leben ein ohne andere Stütze als seinen Genius. Ich glaubte ihn zu großen Dingen bestimmt, und ich hätte ihn um alles in der Welt nicht so früh gebunden wissen wollen durch Fesseln, die vielleicht seine Zukunft hätten hindern können. [106] Ich fühlte in mir die große einzige Liebe nah am Aufblühn, ich sah voraus, daß eine Flamme ausbrechen würde, die mein Leben verzehren könnte, und ich wollte seine Jugend nicht mit einer solchen Verantwortung belasten. Ich war einige Jahre älter als er, und es schien mir, als dürfe ich nicht auf die Treue eines so jungen Herzens Anspruch machen. Ich bemühte mich also, unsere Beziehungen bei dem Austausch allgemeiner Ideen zu erhalten. Es verging jetzt fast kein Tag, an dem wir nicht Briefe wechselten, mit Gedichten oder Fragen und Antworten auf allen Lebensgebieten. Er bekannte frei das Gefühl, das ihn beseelte, und verlangte dasselbe Bekenntnis von mir. Wenn ich ihm antwortete, daß ich älter sei als er, so lächelte er, denn ich sah wirklich noch aus wie ein Kind, oder er war verletzt und warf mir bitter meine Kälte vor. Er erriet nicht, daß ich, um einer schon ganz mächtigen Liebe willen, noch gegen diese Liebe selbst ankämpfte.

Der schwere Kampf aber erschütterte meine Gesundheit, und ich wurde bedenklich krank. Es war gerade an meinem Geburtstage, daß man für mein Leben fürchtete. Drei Wochen schwebte ich zwischen Leben und Tod. Dennoch umfing mich auch in den größten Schmerzen ein dämmerndes Gefühl unendlichen Glücks, und ich hörte beständig Beethovensche Symphonien in mir tönen. Endlich war ich außer Gefahr, aber noch so schwach, daß man kaum mit mir sprechen durfte. Doch erfuhr ich, daß mein Freund täglich dagewesen war, um nach mir zu fragen, und meine Mutter gab mir selbst einen Brief von ihm. Es war ein Gedicht, in dem er die Genesung, diese Tochter des Himmels, anflehte, herabzusteigen und mich zu befreien von der Qual der Schmerzen. Es war schön und edel, wie das Gefühl, das uns vereinte. Ich konnte nach und nach, einzeln, meine Freunde wiedersehn. Seine Reihe kam auch. Er trat ein, und ich reichte ihm die Hand entgegen. Er gestand mir nachher, daß er in dem Augenblick gefühlt habe, wie alle Bedenken meinerseits gewichen seien, und daß wir nun, selig vereint, auf der heiligen Flut der Liebe dahinziehen würden zu den Gestaden des [107] Geistes und der Schönheit. So war es auch: Liebe und Poesie kehrten mit der Gesundheit zurück. Ich war noch auf meinem Lager der Genesung, als der erste Schnee fiel. Die rauhe Gestalt des nordischen Winters betrübte mich tief. Ich gedachte mit Sehnsucht des Südens, wo der Arme, mit seiner Sonne, mit seinem freigebigen Boden, auch in Lumpen noch den edlen, menschlichen Typus bewahrt, während Hunger und Kälte im Norden den Menschen zur Jammergestalt entstellen. Ich wendete mich mehr und mehr den sozialen Fragen zu, an die ich zunächst herangetreten war, um das Ideal christlichen Erbarmens zu verwirklichen. Mit Theodor diskutierte ich sie. Nach den ersten Besuchen, die er mir während meiner Genesung machte, kam er plötzlich selten. Ich empfand seine Abwesenheit mit tiefem Schmerz, und hätte ich nicht täglich einige Zeilen von ihm erhalten, ich hätte es kaum ertragen. Endlich erfuhr ich als schönste Überraschung, was ihn ferngehalten hatte. Er hatte sein erstes Buch vollendet, in dem er sich öffentlich vom orthodoxen Christentum lossagte und Christus als Menschen, Reformator und Revolutionär darstellte, der nichts anderes hatte einführen wollen, als ein gereinigtes Judentum und eine edlere Moral. Nachdem Theodor sein Examen als Kandidat der Theologie längst glänzend bestanden hatte, brach er plötzlich durch diesen kühnen Schritt mit einer doppelten Tradition, mit der der Kirche und der seiner teuersten persönlichen Beziehungen. Für seine Eltern war es eine harte Probe; sein Vater war der erste Geistliche im Lande, seine Mutter hatte gehofft, in diesem geliebtesten Sohn den Ruhm ihres Vaters wieder aufleben und einen neuen Verfechter des Protestantismus erstehen zu sehen. Dennoch, trotz ihrer Enttäuschung, konnte sie nicht umhin, die schöne Schrift ihres Sohnes zu bewundern und ein schmerzliches Glück beim Lesen derselben zu fühlen. Ich war ganz versenkt in dieses Buch. Nicht nur, daß ich den Geist und die Poesie des geliebten Autors bewunderte, sondern, indem ich las, fiel auch ein Schleier nach dem andern von meinen Augen. Ich erkannte, daß alle meine schmerzlichen [108] religiösen Kämpfe nur die legitime Empörung des freien Gedankens gegen die versteinerte Orthodoxie gewesen waren, und daß das, was ich für schuldig gehalten hatte, die Ausübung eines ewigen Rechts gewesen war. Ohne zu zögern, folgte ich meinem Freunde in die scharfe, gesunde Luft der Kritik. Er hatte seine Besuche wieder aufgenommen, und unsere Gespräche drehten sich fast ausschließlich um diese Gegenstände. Es kostete mich nichts, der Idee von Christus als Vermittler zwischen Gott und Menschen zu entsagen, denn ich hatte nie die Notwendigkeit dieser Vermittlung begriffen. Ebenso wurde es mir leicht, Gott aus der engen Grenze der Individualität, in die ihn das christliche Dogma einfaßt, zu befreien: in der Tat war dies längst in meinen Gedanken geschehen. Schwer wurde es mir nur, dem Glauben an die persönliche Unsterblichkeit zu entsagen. Ich hatte diese herrliche Phase des persönlichen Egoismus, diese poetische Anmaßung des Ichs, das sich ewig bejahen möchte, diesen Traum der Liebe, die kein Ende kennen will, sehr geliebt. Während unsere Diskussionen über diesen Punkt noch dauerten, schrieb er mir einmal: »Sie sträuben sich noch ein wenig dagegen, daß alles Vergängliche vergänglich sei. Wenn ich in meinem Herzen den Glauben an seine eigene Unsterblichkeit fände, so würde die Vernunft mich nicht daran irre machen. Es sind nicht die kleinen und schlechten Geister, sondern die guten und großen, die an ihre eigene Unsterblichkeit geglaubt haben. Aber ich habe diesen Glauben nicht. Wenn ich von Unsterblichkeit sprechen wollte, dann müßte jede Rose, jeder Frühlingskranz, der Gesang der Nachtigall und alles, was je mein Herz entzückt hat, mit mir kommen, und ich weiß doch, daß die Rose welkt, daß die Kränze zerfallen, die Augen erlöschen, die Haare bleichen und das Herz selbst, mit seiner Liebe, in Staub zerfällt. Unsterblichkeit ist nur in der Poesie. Der Geist ist nur Geist, weil er frei ist von jeder Form, von jeder Individualität. Mein Geist ist nicht mein Geist, sein eigentliches Wesen ist der universelle Geist. Er ist das Leben, das sich unter der einen oder anderen Form fortsetzt und sie verläßt, [109] wie der Duft die abgefallene Blüte verläßt. Das Dogma folgerte daraus ganz logisch, daß der Körper, »das Fleisch«, auch auferstehen müsse, denn es gibt keine Individualität ohne das Fleisch. Aber diese Folgerung war nur möglich für ein Dogma, das Wunder, die den Naturgesetzen zuwider sind, für möglich hielt und ein letztes Gericht nötig hatte beim Schalle der Posaunen und dem Zusammensturz der Elemente. Dieses Dogma ist so einig in sich, daß Sie es ganz zerstören, wenn Sie ihm nur den kleinsten Teil nehmen, so wie das Samenkorn sich zerstört, wenn der Keim treibt. Man ist im Frühling angekommen und trägt noch aus Gewohnheit einen Winterhut. Es gibt keine Wunder in der Natur, denn die Natur ist natürlich: es gibt kein Wunder im Geist, denn der Geist ist geistig. Es gibt nur ein Wunder: das ist der Geist in der Natur, im Universum. Es ist das Wunder des Daseins, aber er macht keine Wunder, er offenbart immer das eine. Die Materie ist unbewußterweise unsterblich; die Blume, die aus den Atomen eines Dichterhauptes entspringt und ihre Wurzeln daraus nährt, hat keinen Geist. Diese Unsterblichkeit teilt der Mensch mit der Blume, die ihre Atome auch wieder andern Blumen oder andern Formen gibt. Die andere Unsterblichkeit ist frei, ist nicht notwendig, ebenso wie der Geist sich nicht notwendig in jedem Menschen entwickelt. Der Geist also, der unsterblich sein will, muß sich unsterblichmachen. Die leibliche Persönlichkeit des Menschen ist unsterblich in seinen Kindern. Seine geistige Unsterblichkeit existiert nur in den Kindern seines Geistes, die auch nicht er selbst sind, aber von ihm erzeugt und ihm ähnlich. Diese Kinder sind seine Gedanken, die übergehn und sich fortsetzen in anderen Menschen, oder die Bilder der Erinnerung, die unsterblich in den liebenden und geliebten Herzen leben. Und glauben Sie, daß, wenn eine teure Hand mir einst die Augen schließt, oder wenn ich in der letzten Stunde allein an die denken kann, die ich liebte oder die mich liebten, glauben Sie, daß ich, in Gegenwart all der Liebe, die ich gekannt habe, noch etwas für mich wünschen würde?«

[110] Der Bund unserer Herzen wurde doppelt fest und heilig während dieser Verständigungen über die höchsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens, und ich verweigerte auch von meiner Seite nicht länger das Bekenntnis der tiefsten, heiligsten Liebe. Wir sahen uns fast nie ohne Zeugen, und nur Blicke und flüchtige Worte konnten von einem Herzen zum andern sprechen. Aber der Briefwechsel dauerte ohne Unterbrechung fort, und jeder Zweifel, jeder Schmerz wie jede Freude, jeder neue Gedanke, jeder poetische Erguß wurde dem geliebten Du anvertraut, dessen Antwort fast immer das Echo des eigenen Herzens war. Wir erhielten so sehr immer alles eins vom andern, daß wir kaum mehr wußten, wem der oder jener Gedanke zuerst angehört hatte. Er schrieb mir einmal:

»Möge es so sein, wie Du sagst; möge alles, was der Geist will, sich in mir erfüllen; daß keine Blume, die mich erfreut, kein Glück, das mich entzückt, je mich trenne vom Dienste der Menschheit, der das Ziel, der Magnet geworden ist, der mich anzieht und fortführt – ich weiß nicht wohin; ich fühle nur, daß es eine Strömung ist, die zum Ideal leitet. Welche sanfte Freude, Dir das sagen zu können, es dem Herzen sagen zu können, das mich versteht, dem Herzen, dessen Reinheit die Flamme geworden ist, die meinen Geist erwärmt und mein Herz reinigt und veredelt! Nur Dir kann ich das alles anvertrauen, denn es gehört Dir alles so sehr, daß ich nicht mehr weiß, ob etwas von dem allem mein ist. Die sanften Worte, mit denen Du mich so oft wie in einen ewigen Frühling hinaufgetragen hast, das Vertrauen, das Du mir in das Herz pflanztest, die große, freie Liebe, die Du mir geschenkt hast – alles das ist mein eigen geworden, und ich lasse es selig über alles sich verbreiten, was in meinem Herzen zum Leben und Licht drängt. Dann kehrt es von mir zu Dir zurück; du hörst Deine eigenen Gedanken, und indem Du mich lobst, erhebst Du nur, was Dir gehört. Du empfängst es von mir wieder, vermehrt durch meine Liebe. Und wenn es mir eines Tages gegeben ist, andere Herzen durch meine Ideen zu erwärmen, wenn ich einen Funken in die Geister werfen kann, [111] einen kühnen Ton, der ihnen scheinen wird wie das Rauschen des Windes im Wald vor der Morgenröte – alles wird ihnen von Dir kommen. Es wird Dein Geist sein, der ihnen prophetisch vom Reiche Gottes reden wird. Endlich, wenn in der Zukunft meine Worte in jungen Seelen wiedertönen, wenn ich dem Volke von den Aposteln und den Helden des Geistes rede, so werde ich an Dich denken; ich werde Dich wiedersehen, ein reiner, glänzender Stern in der Nacht meiner Seele, und werde mir sagen: es sind Deine Strahlen, die durch mich sich in den großen Strom der Welt verbreiten, mit der Hoffnung, sie zu erlösen.«

So lebten wir ein Leben für uns, außerhalb der Welt, ein Leben der Schönheit, des geistigen Fortschritts, der reinen vorwurfslosen Liebe.

Der Frühling war gekommen; die Kleine und ich machten häufige Spaziergänge in der freundlichen Umgebung der kleinen Residenz, und der Bruder begleitete uns oft, denn niemand fand es unpassend, daß zwei junge Mädchen von einem jungen Mann begleitet wurden, der der Bruder der einen war. Wie Goethe aus seiner Jugend von der glücklichen Freiheit erzählt, die im Umgang junger Leute beiderlei Geschlechts herrschte, so war es damals auch noch in den kleineren deutschen Städten, und diese Freiheit war sicher sittlicher und menschlicher als die konventionellen Formen der modernen Gesellschaft. Wir genossen also in Freiheit all des Glücks, das ein Trio, verbunden wie das unsere es war, finden mußte.

Eines Sonntagmorgens waren wir früh aufgebrochen, um einen der höchsten Gipfel der waldigen Berge in der Nähe der Stadt zu besteigen. Dort erhob sich ein Tempel, der der Unterbau eines historischen Monuments werden sollte, des sogenannten Hermann-Denkmals auf der Grotenburg im Teutoburger Wald; da wo Hermann-Arminius den Varus schlug. Von dem flachen Dache dieses Tempels übersah man die bewaldeten Hügelwellen des Gebirgszugs und darüber hinaus eine weite Ebene, hier und da mit Dörfern bestreut. [112] Am Horizont verlief sich die Aussicht in die unbestimmten Farbentöne einer jener großen Heiden, wie sie im nördlichen Deutschland häufig sind und die eine gewisse wilde, melancholische Poesie haben. Alles das glänzte im ersten Grün an einem schönen Maimorgen. Der Himmel hatte nicht ein Wölkchen aufzuweisen, die ganze Natur atmete Jugend, Unschuld und Glück.

Einige Bauern mit ihren Frauen waren auch oben, wohl um sich des Sonntags zu freuen.

»Mir kommt ein Gedanke,« sagte ich zu Theodor; »möchten Sie nicht eine kleine Sonntagsrede halten vor dieser kleinen Gemeinde hier?«

Die »Kleine« schloß sich meiner Bitte mit Entzücken an und, wie um unsere Bitte zu unterstützen, erschollen in demselben Augenblick die Glocken in den Dörfern unten, um die Menschen zur Kirche zu laden. Wir ersahen an Theodors Lächeln, daß er auf unsere Bitte einging. Er entblößte sein Haupt und sagte den Bauern, daß er hier oben vom wahren Reiche Gottes, vom Reich des Friedens, der Brüderlichkeit und Liebe reden wolle. Diese sahen ihn anfangs mit Erstaunen an, dann aber entblößten auch sie das Haupt und stellten sich schweigend im Halbkreis auf, wohl beherrscht von dem Zauber des edlen Antlitzes, das mir auch nie vergeistigter und liebenswerter erschienen war. Er sprach von dem, was den gewöhnlichen Gegenstand unserer Unterhaltungen bildete, von dem Reich der Liebe, das sich auf der Erde verwirklichen müsse und nicht erst jenseits des Grabes; jenes Reich, wo Herz und Geist den einzigen Adel verleihen, wo Pflichterfüllung und Arbeit die einzige Ehre des Menschen sein würden. Die tiefe, sanfte Stimme des Redners, der Weihrauch, den das Frühlingsgrün spendete, der freudige Hymnus, den die Vögel in den Zweigen dem jungen Licht entgegensangen, der blaue Dom des Himmels über uns – alles das war eine Szene, die auch die härtesten Herzen bewegen mußte. Die einfachen Landleute betrachteten ihn, als er geendet hatte, wie die Fischer am See von Genezareth Christus [113] betrachten mochten, als er ihnen zuerst vom Reiche Gottes sprach, in dem man seinen Nächsten lieben müsse wie sich selbst. Seine Schwester ergriff seine eine Hand, ich die andere zum stummen Dank. Dann verließen wir, nach einem freundlichen Abschied von den Landleuten, den Ort und stiegen auf frischgrünen Waldpfaden schweigend hinab, denn unsere Herzen verstanden sich ohne Worte.

Während wir so die sanften Freuden einer reinen Liebe genossen, sammelten sich Wolken über unseren Häuptern. Die Natur des Gefühls, das uns vereinte, konnte unseren beiderseitigen Familien kein Geheimnis mehr sein, obgleich weder Theodor noch ich davon auch nur mit einem Wort gesprochen hatten. Ein sehr entschiedenes Mißvergnügen zeigte sich, ohne daß man es aussprach. Die Familie meines Freundes hatte wohl hauptsächlich nur das entgegenzusetzen, was ich selbst anfangs gegen meine Liebe einzuwenden versuchte, nämlich daß ich sechs Jahre älter war als er, und die Freiheit seiner Zukunft, die er sich ganz selbst schaffen mußte, nicht in so frühe Fesseln gelegt werden sollte. Meine Familie sah außer diesen Schwierigkeiten noch eine andere, größere. Er war Demokrat, bekannte es frei und wurde es von Tag zu Tag mehr, je mehr sein kritischer Blick den unermeßlichen Abstand der existierenden Zustände von seinem Ideale ersah. Die meisten jungen Leute der Gesellschaft, seine Schul- und Universitätskameraden, haßten ihn, wie sein Vater es vorausgesagt hatte, seiner Superiorität und des besseren Gebrauchs wegen, den er von seiner Zeit machte. Die Damen und jungen Mädchen mochten ihn nicht, weil er sich nur mit wenigen unter ihnen beschäftigte, wenn er in Gesellschaft erschien – mit denen nämlich, mit denen er über andere Dinge als Strickstrumpf und Küche sprechen konnte. Mein Schwager und auch mein Bruder waren sehr aufgebracht gegen ihn, weil er einen Artikel geschrieben hatte, worin er die großen Ausgaben für das Theater auf Kosten des armen Volks, das die Steuern zahlen müßte, tadelte. So weit ging der Absolutismus damals in Deutschland, daß in einem solchen Duodezländchen, [114] wie das, von dem ich hier spreche, kein freies Wort, kein gerechter Tadel über Angelegenheiten, die das allgemeine Wohl betrafen, ausgesprochen werden konnte, und daß ein Mensch verpönt wurde, der an den Nimbus dieser kleinen Majestäten zu rühren wagte. Mein Schwager grüßte Theodor kaum noch, sprach nie mit ihm und sah meine Beziehungen zu ihm mit entschiedener Mißbilligung. Diese Opposition in meiner Familie beunruhigte meine Mutter sehr. Sie kannte meine Natur nur zu gut, um nicht zu wissen, daß eine solche Liebe mächtige Wurzeln in meinem Herzen schlagen würde und daß, wenn sie Widerstand finden sollte, tiefe Schmerzen die Folge davon sein müßten.

Ich bemerkte das alles sehr wohl und war tief betrübt darüber. Das Gefühl, das ich für Theodor hatte, war die schönste und edelste Blüte meines Wesens. Aber je mehr meine Liebe mir heilig war, je mehr verschloß ich sie in die Tiefe meines Herzens. Ich glaube, daß diese tiefe, keusche Scham die Eigenschaft jedes großen reinen Gefühls ist. Wenn jedoch ein solches Gefühl ungerechterweise angegriffen wird, so findet es sogleich den Heldenmut, sich zu bekennen und zu verteidigen, und wäre es vor der ganzen Welt. Ich mußte also durch diesen zweiten Grad hindurchgehen. Zunächst fing ich an, mich von der Gesellschaft zurückzuziehn, von der er ausgeschlossen wurde. Wenn ich ihm aber auf der Ressource oder sonstwo begegnete, so sprach ich mehr mit ihm als mit jedem andern. Ich trotzte den mißbilligenden Blicken meines Schwagers und dem halb spöttischen, halb unwilligen Ausdruck auf den Gesichtern meiner Bekannten, die empört waren, daß ich ihnen einen »Demokraten« vorzog, der noch dazu ganz gleichgültig gegen ihre Nichtachtung schien. Schwerer zu tragen war mir das Mißvergnügen meiner Mutter, das anfing, sich in Vorwürfen und bitteren Bemerkungen Luft zu machen, die um so schmerzlicher für mich waren, als ich nicht von ihrer Seite daran gewöhnt gewesen war, und sie einst eine wahre Begeisterung für Theodor gehabt hatte. Eines Abends hatte ich die Meinen zu einem Ball auf der Ressource [115] begleitet, obgleich ich nicht mehr tanzte. Theodor war auch dort, und da er auch nie tanzte, so setzte er sich zu mir und blieb da den größten Teil des Abends, in die schönsten Gespräche vertieft. Als wir nach Haus zurückkehrten, sah ich den Ausdruck der Verstimmung auf dem Angesicht meiner Mutter, und bald brach sie in heftige Vorwürfe aus, daß ich mich ganz öffentlich so ausschließlich mit diesem Menschen beschäftigt und mich allen Bemerkungen preisgegeben habe. Anfangs antwortete ich sanft und begütigend, dann aber übermannte mich das Gefühl, so ungerecht behandelt zu werden, und zum erstenmal in meinem Leben wurden harte Worte zwischen mir und meiner Mutter ausgetauscht. Ich litt unsäglich dabei; es war die erste tiefe Wunde für meine Liebe zu der Familie, und ich fühlte, daß ich von nun an durch viele Kämpfe zu gehen haben würde.

Ungeachtet meiner Schüchternheit und Demut war ich doch auch sehr stolz. Oft hatte ich schon früher zu meiner Schwester gesagt, der Grundsatz meines Lebens solle sein: »Von wenigen geliebt, von allen geachtet.« Liebe schien mir ein zu hohes, heiliges Geschenk, um es von vielen erlangen und ertragen zu können, denn rechte Liebe kann man auch nur wenigen geben; aber Achtung ist die Frucht unseres sittlichen Verhaltens, und sie müssen wir auch selbst dem Feinde einflößen. Dennoch empfand ich jetzt, daß die große Anerkennung, deren ich bisher genossen, anfing, sich zu vermindern. Welches aber war die Schuld, die ich begangen hatte? Einen jungen Mann zu lieben, dem auch seine Feinde keinen ernsten Vorwurf machen konnten, und endlich die Ziele zu verstehen, nach denen meine ganze Jugend ein unbewußtes Wandeln gewesen war? Es fiel abermals ein Schleier von meinen Augen. Ich sah ein, daß ich nicht mehr das sanfte, nachgiebige Geschöpf war, das, um niemand zu verletzen, sich allem unterwarf und den Weg, den alle gingen, mit ihnen ging aus Gehorsam und Gefälligkeit. Ich fühlte, daß ich eine Individualität wurde, mit Überzeugungen und mit der Energie, sie zu bekennen. Ich begriff nun, daß dies mein [116] Verbrechen sei. Die allgemeine Anerkennung fing an, ihren Wert für mich zu verlieren, und ich sah ein, daß ich hinfort nur mein Gewissen zur Richtschnur nehmen und nur tun würde, was es mir vorschrieb.

Aber der Kampf wurde alle Tage schwerer. Mein Vater kam wieder während des Sommers, um uns zu sehen. Ach! und auch mit diesem geliebten Vater fühlte ich mich nicht mehr im Einklang über wichtige Lebensfragen. Die Politik hatte einen großen Platz in meinen Gesprächen mit Theodor eingenommen, und die Entwicklung meiner Gedanken zu demokratischen Ansichten war die natürliche Folge davon. Ich hatte oft in den Briefen an meinen Vater Fragen über politische Gegenstände getan, um, wenn es möglich wäre, meine Ideen nach den seinigen zu bilden. Er hatte mich einmal an Guizot und seine Politik verwiesen, die ich beobachten sollte, wenn ich mir richtige Ideen bilden wollte. Meist aber hatte er meine Fragen unbeantwortet gelassen, da er diese Dinge als außerhalb der weiblichen Sphäre liegend betrachtete. Doch erinnere ich mich des Augenblicks, wo ein tiefer Schmerz mein Herz durchzuckte, als eine seiner Äußerungen bei einem Gespräch mir plötzlich hell die Kluft beleuchtete, die sich zwischen seinen Ansichten und den meinen aufgetan. Er war von den Veränderungen unterrichtet worden, die man in meiner Art zu denken vorgehen sah und die man nicht als logische Folge meiner geistigen Entwicklung, sondern als einen beklagenswerten Einfluß der »unglücklichen Neigung« für einen Menschen mit exzentrischen und falschen Ansichten betrachtete. Es ist dies ein sehr häufig vorkommender Irrtum der Orthodoxen in Religion und Politik: wenn ein Geist sich von ihren Gesetzen befreit, so schieben sie die Schuld dieser Emanzipation auf irgend eine äußere Ursache, auf eine geistige Verführung, und denken nicht daran, daß es die innere Logik des tiefsten Wesens ist, die nur durch die Umstände an das Tageslicht gefördert wird.

Mein Vater sprach mit mir nicht darüber; es war durchaus keine absolute Notwendigkeit da, weder von der einen noch [117] der andern Seite, das Schweigen zu brechen, aber der innere Bruch fühlte sich doch durch, und dieses Gefühl war um so schmerzlicher, als wir uns deshalb nicht weniger liebten. Ich sah Theodor fast gar nicht. Man forderte ihn nicht auf zu kommen, ich wünschte es selbst nicht, weil ich wußte, daß seine Begegnung mit meinem Vater nicht so sein würde, wie mein Herz es bedurfte. Ich sah ihn nur, wenn ich von Zeit zu Zeit die »Kleine« besuchte, aber auch das konnte ich nicht oft tun, da der größte Teil unserer Zeit meinem Vater gewidmet war. Die Briefe meines Freundes waren mein einziger Trost. Eines Tages fand ich aus, daß ich einen Brief nicht erhalten hatte, und erfuhr, daß er meiner Mutter gegeben worden war. Ich fragte sie danach, sie gab ihn mir zurück, – aber – geöffnet und gelesen. Das war ein schwerer Schlag für mein Herz. Ich hätte diesen Brief der ganzen Welt zeigen können, und umsomehr meiner Mutter. Sie waren reicher und schöner als viele, die veröffentlicht worden sind und die Bewunderung der Welt erregt haben. Aber sie waren so sehr mein, daß ich sie mit niemand auf Erden teilen konnte. Die Liebe kam bei mir, wie einst die Religion, aus den unergründlichen Tiefen der Seele und war ein zu innerliches Teil meiner selbst, um diskutiert zu werden. Ich habe niemals das frivole, oberflächliche Gefühl begriffen, das allen Freundinnen und Bekannten mitzuteilen ein Bedürfnis ist. Die tiefe ewige Liebe schien mir der Sonne ähnlich, die man an ihren wärmenden, wohltuenden Strahlen erkennt, in die man aber nicht hineinsehen kann, weil ihr Licht zu sehr blendet. Die Begebenheit mit dem Briefe trug viel dazu bei, den Geist der Empörung in mir zu nähren. Das Gefühl, das sich aller Augen entzogen hatte, um seine Heiligkeit nicht zu profanieren, stand nun in Waffen auf, um sein legitimes Recht vor der Welt zu verteidigen.

Es ereignete sich unter anderem einmal, daß, als wir in einem öffentlichen Garten, wo man Kaffee trank und Musik anhörte, in einem Kreis von Bekannten saßen, Theodor vorüberging, grüßte, sich uns aber nicht näherte, und noch mehrere [118] Mal in unsere Nähe kam, ohne mit mir zu reden. Nach Haus zurückgekehrt, schrieb ich ihm, um die Ursache dieser Vernachlässigung zu erfahren. Er antwortete mir scherzend, daß er mich nicht der Verlegenheit habe aussetzen wollen, den verachteten Demokraten im Kreise meiner hochadeligen Bekannten anzuerkennen. Das nächste Mal, als wir an diesem Ort waren, ging ich auf Theodor zu, sobald ich ihn erspähte, und wandelte lange mit ihm auf und ab in den Alleen des Vergnügungsortes, vertieft wie immer in die ernstesten Gespräche. Ich wußte, daß man uns mit Erstaunen betrachtete. Eine junge, stolze, aristokratische Schönheit, die mir immer viele Freundschaft bezeigt hatte, begegnete uns am Arme ihres Bräutigams, eines Barons. Sie sah mich erstaunt, fast erschrocken an, als wollte sie sagen: »Ist es möglich, daß du dich so herablassen kannst? Hast du die Bedeutung der kleinen Silbe vor deinem Familiennamen vergessen? Diesen Demokraten, diesen unmoralischen Menschen, der die Kirche – der die Berechtigung des Adels leugnet, den konntest du erwählen?«

Das alles stand so klar auf ihrem Gesicht geschrieben, daß ich im Begriff war zu lachen. Aber eine härtere Probe war es für mich, an meinen Eltern vorüberzugehen. Ich konnte nicht auf sie zueilen und Theodor meinem Vater vorstellen; das wäre wie eine Herausforderung ihrer öffentlichen Zustimmung gewesen. Ich wußte, daß ihnen das schmerzlich peinlich gewesen wäre, und auf der andern Seite wollte ich meinen Freund nicht einer kalten und gezwungenen Aufnahme aussetzen. Ich fühlte mit Schmerz die Pein, die ich ihnen verursachte, aber ich mußte dem Manne, den ich liebte, diesen Beweis der Neigung geben, ich mußte eine edle Liebe durch ihr Bekenntnis verteidigen.

Der Widerstand, den ich fand, wuchs noch nach der Abreise meines Vaters; aber mein Gefühl hatte schon die feste Gestalt gewonnen, die keine irdische Macht mehr zerstören kann.

Im Herbst wurde Theodor krank, und ich verbrachte angstvolle Stunden, umsomehr, da er einen Ruf als Redakteur [119] einer Zeitung in einer großen norddeutschen Stadt angenommen hatte, und uns demnächst also Trennung bevorstand. Ich verwünschte in meinem Herzen die Vorurteile der Welt, die es mir unmöglich machten, hinzugehen und den Mann, dem meine heiligsten Gefühle gehörten, zu pflegen und zu trösten, denn er litt sehr. Als ich wußte, daß er besser war und in das Zimmer seiner Mutter herunterkam, ging ich hin, ihn zu sehen. Es war am Vorabend von Weihnacht. Ich fand ihn mit seiner Mutter und der »Kleinen«. Die Unterhaltung zog sich hin bis zur Dämmerung. Da fingen die Glocken der nahen Kirche an zu läuten und verkündeten das Fest des folgenden Tages. Wir schwiegen alle; diese Glockentöne, die den Weihnachtsabend verkündeten, riefen eine Welt von poetischen Erinnerungen zurück: die glücklichen Tage der Kindheit, wo die Mutterliebe schon Wochen voraus mit süßem Geheimnis die Vorbereitung der Geschenke umgab und endlich mit unzähligen Lichtchen den Baum schmückte, der symbolisch das Licht darstellte, das in dieser heiligen Nacht sich in die Welt ergossen hatte; dann die Mitternachtsfeier, wo man in der erleuchteten Kirche mit Gesang und Predigt die Botschaft der Engel pries, daß nunmehr Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen sein solle; endlich die ganze rührende Legende von der Erlösung der Menschheit, Fleisch geworden in dem Kinde der armen Tochter des Volks. Mit diesen Tönen und diesen Erinnerungen zog ein magnetischer Strom von einem Herzen zum andern, verständlich, wenngleich ohne Worte.

Man brachte Licht, und anderer Besuch kam. Ich konnte in diesem Augenblick kein gleichgültiges Geschwätz ertragen, nahm Abschied und ging in das Zimmer, wo ich Hut und Mantel gelassen hatte, um mich zum Fortgehen anzukleiden. Das Zimmer war nur durch den Mond erhellt, ich hatte die Tür offengelassen. Theodor, der aus demselben Grund den Salon verlassen hatte, wie ich, trat herein. »Liebe Freundin, es war zu peinlich, sich so wiederzusehen,« flüsterte er, umschlang mich mit seinen Armen, und zum erstenmal begegneten [120] sich unsere Lippen. Dann eilte er in sein Zimmer, und ich wandelte heim durch die helle Mondennacht, deren unzählige Sterne sich in meinem Herzen spiegelten.

Seine Genesung ging langsam vorwärts, und ich sah ihn wenig; er kam nicht mehr gern zu uns, denn er fühlte, daß er nicht willkommen war. Ebenso war auch ich nicht frei und glücklich in seinem elterlichen Hause. Ich blieb jetzt oft allein, denn ich ging fast gar nicht mehr in die Gesellschaften, wo ich ihn nicht fand, und wo man ihn, wie ich wußte, haßte und mich seinetwegen tadelte. In meiner Familie fühlte ich mich einsam und traurig; der Mangel an Übereinstimmung, nicht ausgesprochen, aber tief empfunden, lag schwer auf mir. Es war mir daher eine Wohltat, allein zu sein und dem Strom der Gedanken folgen zu können, die sich an die Gespräche mit meinem Freund knüpften und die immer heller und bestimmter in mir wurden.

Eines Abends, wenige Augenblicke vor Anfang des Theaters, kam er einmal, da er doch die Höflichkeit gegen die Meinen aufrecht erhielt. Ich hatte zufällig gesagt, daß ich nicht mitgehen würde, da man Robert den Teufel gab, eine Oper, die mir schon lange widerwärtig war wegen ihrer Effekthascherei und ihrer unwahren Musik. Als Theodor hörte, daß ich zu Haus bliebe, bat er um die Erlaubnis, noch etwas bleiben zu dürfen nach der Abfahrt der andern. In dieser Beziehung hatte von jeher in unserer Familie eine Toleranz geherrscht, die die, die sie ausübten, ebensosehr ehrte, wie die, gegen die sie ausgeübt wurde. Man konnte in diesem Fall nicht wohl eine Ausnahme machen. Wir blieben also allein, beinah zum erstenmal, seit wir uns kannten. Das Glück, uns endlich einmal ohne Zeugen alles sagen zu können, was das Herz füllte, war so groß, daß es mir genügt hätte, aber Theodor begnügte sich nicht damit, er umschlang mich und drückte mich an sein Herz. Wir blieben lange so, stumm, versunken in jenes Wonnemeer, das schon so viele besungen haben, und das doch einem jeden, der selig [121] darauf sich wiegt, eine neue unsagbare, so noch nie von anderen empfundene Offenbarung ist.

Endlich sagte er: »Und dennoch frei!«

»Wie stolz!« erwiderte ich lächelnd; »aber ich bin es nicht minder; ja, nie möge ein Glück uns teuer und heilig sein, das nicht verträglich ist mit der Freiheit.«

Kurz waren die schönen Augenblicke. Er verließ mich, die Meinen kehrten aus dem Theater zurück, ich war äußerlich ruhig wie immer, und in mir war ein tiefer, unergründlicher Friede.

Indes kam eine neue schwerere Prüfung als die vorhergehenden, die mich auch zu einem energischeren Schritt als die früheren nötigte. Meine Mutter beschloß ihre große jährliche Gesellschaft zu geben, zu der auch die jungen Prinzen und Prinzessinnen des fürstlichen Hauses eingeladen wurden. Früher hatten mir diese Festlichkeiten in unserem Hause Freude gemacht. Es wurde meist getanzt, und ich tanzte gern mit den beiden ältesten Prinzen, von denen besonders der zweite mir viele Sympathie einflößte. Jetzt wußte ich, daß man auf dem Schloß, wie überhaupt in der Gesellschaft, sehr verändert gegen mich war. Meine »demokratischen Gesinnungen« mißfielen diesen kleinen Herrschern über einige Quadratmeilen Land. Diesmal sollte nun unser Fest kein Ball sein, sondern eine Gesellschaft, in der von Künstlerhand lebende Bilder gestellt werden sollten. Alle derartigen Belustigungen interessierten mich kaum noch, doch gab ich mich bereitwillig wie immer zur Hilfe bei den Vorbereitungen her, als meine Mutter mir plötzlich ankündigte, daß es unmöglich sei, Theodor einzuladen. Seine Familie würde natürlich gebeten werden, da sein Vater zu den ersten Personen des kleinen Staates gehörte, aber mein Schwager habe erklärt, daß man den jungen Prinzen unmöglich die Beleidigung zufügen könne, sie in denselben Salon zu bitten mit einem Menschen, der einen so tadelnden Artikel gegen die unschuldigen Neigungen ihres Vaters geschrieben habe, und daß er (mein Schwager) nicht kommen würde, wenn [122] jener käme. Meine Mutter hatte diesen Rücksichten nachgegeben, wenngleich es ihr schwer wurde meinetwegen. Der bitterste Haß hätte keinen schmerzlicheren Schlag erfinden können, und er kam mir von meiner Familie, von guten, liebenden, geliebten Wesen!

Meine Schwestern waren ganz vertieft in die Vorbereitungen zu den lebenden Bildern, bei denen ihnen ein junger Künstler beistand, der seit einiger Zeit in der kleinen Residenz lebte. Er war sehr gern gesehen in unserem Haus; sanft, angenehm, mit einem hübschen Talent begabt stieß er nie an und hatte überhaupt keine »politische Meinung«. Ich sah es mit einem Gefühl von Bitterkeit, daß dieser gute, aber unbedeutende Mensch so ganz in ihre Intimität aufgenommen wurde, daß sie ihn vorzogen, daß er die Seele alles dessen, was geschah, war, während der geniale, edle Mensch verbannt, ja öffentlich beleidigt wurde, weil er gewagt hatte, zu schreiben, daß man mehr als erlaubt sei in einem kleinen Zwergstaat ausgebe, um der Neigung eines Fürsten zu genügen. Ich bestand nicht darauf, daß er eingeladen würde; ich war zu stolz, um es als eine Gnade für ihn zu erbitten; aber ich erklärte, daß ich auch der Gesellschaft nicht beiwohnen würde, wenn ich nicht das feierliche Versprechen erhielte, unmittelbar nach der großen Gesellschaft eine kleinere, aus den besten Familien bestehende, gegeben zu sehen, zu der er eingeladen würde. Dies wurde angenommen. Meiner Mutter tat es leid, mich so zu verletzen, und sie ergriff gern dies Mittel, den Schlag zu mildern. Auch wollte sie vermeiden, daß die Sache zu bekannt würde durch meine Abwesenheit von der Gesellschaft. Dennoch hatte sich das Gerücht davon bereits verbreitet. Die Mutter Theodors war tief verletzt durch die ihrem geliebtesten Sohne, dem Stolz ihres Herzens, zugefügte Beleidigung. Die »Kleine« und der Vater lehnten die an sie ergangene Einladung ab. Von der Familie erschien nur die älteste Schwester mit ihrem Bräutigam.

Ich sandte Theodor einen Strauß Veilchen, die ersten des [123] Jahres, und schrieb ihm ein paar Worte, die uns beide hoch über die Kleinlichkeit des menschlichen Verkehrs erhoben. Dann ertrug ich mit fester Haltung, durch eine innere Verachtung gegen die Torheit der Gesellschaft unterstützt, die Qual dieses Abends. Es herrschte eine allgemeine leise Verstimmung, denn es war ganz natürlich, daß man Bemerkungen machte über die Abwesenheit einer der ersten Familien der Stadt und über eine Neigung meinerseits, die meine Familie öffentlich verleugnete.

Den folgenden Morgen erhielt ich einige Zeilen von ihm, in denen er für die Veilchen und die Trostesworte dankte, mit denen ich ihn und mich über die Klatschereien und bösen Reden getröstet hatte, die die Folge des Vorgefallenen sein würden. Er schloß damit: »Ich lese im Plato, um mich von dem Schmutz der modernen Welt zu reinigen.«

Einige Tage später erinnerte ich an die versprochene kleinere Gesellschaft, nicht als eine Freude, weder für ihn, noch für mich – denn welche Freude konnte uns eine Gesellschaft geben, die nur ein spöttisches Lächeln oder ein hochmütiges Mitleid für ein Gefühl hatte, das sich über ihre Begriffe erhob? Ich verlangte das Versprechen als eine Gerechtigkeit, die uns beiden gehörte, als ein Zeugnis, daß die Beleidigung nicht persönlich gewesen war, sondern eine Nachgiebigkeit gegen die kleinen Tyrannen. Die Gesellschaft fand statt. Die »Kleine« kam mit ihrem Bruder. Alle die geladenen Personen bemühten sich, freundlich und liebenswürdig zu sein und jedes peinliche Gefühl zu verbannen. Meine Mutter gab das Beispiel. Mein Freund, obgleich ihm der Abend eher eine Marter als eine Befriedigung war, tat auch seinerseits sein Möglichstes, gesellig liebenswürdig zu sein, und er war zu reich begabt, um nicht auch dies zu können. Man bemerkte mit Erstaunen, daß dieser gefürchtete Demokrat, dieser schlimme Kritiker, ein allseitig gebildeter Mensch war, mit dem es sich ganz menschlich umgehen ließ. Man vermied natürlich von beiden Seiten die gefährlichen Klippen im Gespräch, und so verlief der Abend ganz gut. [124] Die äußere Genugtuung war vollständig, aber der Pfeil war zu tief in mein Herz gedrungen, als daß man die Wunde wieder hätte heilen können. Ich hatte die Bedeutung aller dieser Vorfälle zu wohl verstanden; ich war hinfort im offenen Krieg mit der Welt, in der ich erzogen worden war, und es handelte sich nicht länger mehr um ein persönliches Gefühl, sondern um die Freiheit meiner Überzeugungen. Ich hatte den Kampf der Freiheit gegen die absolute Autorität begonnen.

Wir hatten aber doch noch manche schöne Stunde in dem Frühling, mein Freund und ich. Frei zwischen uns, der gegenseitigen Neigung gewiß, genossen wir in reiner Harmonie jeden Augenblick des Glücks, den uns das Schicksal gönnte. Wir trafen uns oft bei der Erzieherin der Prinzessinnen, einer liebenswürdigen, vortrefflichen, geistvollen älteren Dame, die eine nahe Freundin der Familie Althaus war und ihn selbst von Kindheit auf kannte. Sie war auch meine Freundin, und die Ungerechtigkeit, mit der die Welt uns behandelte, empörte sie. Sehr oft, wenn die Sonne beim Untergehen die Wipfel der großen Bäume unter ihren Fenstern vergoldete, oder wenn die Nachtigall in den Zweigen sang, und die Gärten, die das fürstliche Schloß umgaben, uns ihre Düfte zusandten, saßen wir vier: sie, Theodor, die »Kleine« und ich am offenen Fenster ihres traulichen Zimmers und lasen oder sprachen zusammen. Oft trieb uns Jüngere der Mutwille, unsere gute Freundin zu »gefährlichen Folgerungen« mit fortzureißen, die ihre große Intelligenz als logisch erkannte, die sie aber aus traditioneller Ehrfurcht nicht eingestehen wollte. Sie las z.B. mit Stolz und Freude das Buch unseres gemeinsamen Freundes, aber sie verteidigte mit Inbrunst den Gottessohn. Sie war im Herzen demokratisch, aber sie hielt aus persönlicher Anhänglichkeit an ihren Fürstlichkeiten fest. In besonders heiteren Augenblicken brachten wir sie sogar dazu, die Marseillaise mit uns zu singen, die wie eine Ironie in den Mauern des feudalen Schlosses klang. Sie von ihrer Seite neckte uns auch, [125] und eines Tages sagte sie scherzend zu unserem Freund, den sie von Kindheit auf Du nannte: »Wart' nur, ich sehe es doch noch kommen, daß du an der Stelle deines Vaters einst bei den fürstlichen Diners sitzen und dich sehr gut unterhalten wirst.«

»Dann sei sicher,« erwiderte er, »daß du auch den Geist meiner Jugend hinter meinem Stuhle stehn sehn wirst, um mich zu verleugnen.«

Wenn ich von diesen freien und heiteren Vereinigungen zurückkehrte, mußte ich freilich dafür büßen, denn ich wurde im Kreise der Familie mit solcher Kälte empfangen, als ob ich etwas Strafwürdiges begangen hätte. O wie schlimm sind die Vorurteile der Menschen, die die kurzen Stunden des Glücks, die das Schicksal nur einmal gibt, vergiften und den bitteren Tropfen in den Kelch einer unschuldigen und edlen Liebe gießen! Als ob das Glück überhaupt etwas anderes wäre als die flüchtigen Augenblicke, in denen ein erhabenes Gefühl uns über die Alltäglichkeit des Daseins erhebt. Vergällt sie keinem, diese Augenblicke! Selbst wenn sie im Schmerze endigen, so hat man in ihnen am Born der Ewigkeit getrunken und ist gefeit gegen das Schicksal.

Der Sommer nahte, und es wurde beschlossen, daß wir in das südliche Deutschland zu meinem Vater gehen sollten. Auch Theodor beschloß, da aus seinem früheren Plan, die Redaktion einer Zeitung zu übernehmen, nichts geworden war, sich in eine größere Stadt, ein literarisches Zentrum, zu begeben, wo sich ihm ein weiteres Feld seiner nunmehr ausschließlich literarischen Tätigkeit eröffnen würde. Ein junger Bekannter von ihm, der aus jener Stadt kam, hatte ihn dafür entschieden. Dieser junge Mann machte Besuch bei uns und sagte, indem er von ihm sprach: »Er wird ein zweiter Lessing werden und hat eine große Zukunft.«

Wir mußten uns also trennen. Es war mir wie ein Todesurteil. Aber nicht für einen Augenblick kam mir der Gedanke, seine Freiheit zu beschränken, ein Ver sprechen von ihm zu verlangen, ihn zurückzuhalten von den Kreisen, [126] wo sein Geist seine Schwingen mächtiger entfalten könnte. Im Gegenteil: als meine Mutter, von meinem stummen Leide gerührt, das gegenseitige Schweigen brach und mir anbot, bei meinem Vater die Vermittlerin einer Liebe, von der mein Lebensglück abzuhängen schien, zu werden und durch des Vaters Einfluß Theodor eine Stellung zu verschaffen, die unsere Vereinigung möglich machen könnte, dankte ich ihr herzlich für ihre Liebe, die über ihr Vorurteil siegte, wies das Anerbieten aber vollständig zurück. Der Gedanke an die geringste Verpflichtung, an das mindeste äußere Band bei einer Neigung, die auf allem, was heilig und schön in uns war, beruhte, war mir zuwider. Ich hatte lange gegen dieses mächtige Gefühl angekämpft, als ich es entstehen fühlte. Theodor selbst hatte es entfesseln helfen, indem er mich zur Freiheit erzog. Jetzt waren Liebe und Freiheit so sehr eins in mir geworden, daß mein Gefühl gegen ihn nur unbegrenztes Vertrauen war. Mehr als einmal hatte ich ihn zurückgehalten, wenn er schwören wollte, daß seine Neigung ewig sein werde. Ich begriff es nicht, daß eine Liebe wie die unsere enden könne, und wenn sie es konnte, wozu half dann ein Schwur? Wir hatten niemals von Ehe gesprochen, und ich hatte kaum daran gedacht. Wir mußten uns lieben, durch diese Liebe besser werden und den höchsten Zielen zustreben. Das war unser Schicksal. Was die Zukunft uns sonst noch vorbehielt – wir mußten es in Ergebung erwarten.

Er reiste einige Tage früher als wir. Den Tag vor seiner Abreise kam er nachmittags, um Abschied zu nehmen. Die Meinigen, aus einem Gefühl der Schonung, für das ich ihnen Dank wußte, ließen uns allein. Das einzige Versprechen, das ich von ihm verlangte, war das, mir alsbald zu schreiben, wenn ein neues Gefühl sich seines Herzens bemächtige. Er sagte lächelnd: »Als ob man auch deinesgleichen so viele in der Welt fände!«

Noch einmal entfaltete er vor mir den ganzen Reichtum seines Geistes, seiner Phantasie. Noch einmal erhob er mich [127] mit sich in die höchsten Regionen des Ideals, während ich, an seine Schulter gelehnt, ihm zuhörte, um in dieser letzten Stunde noch eine Ewigkeit von Glück zusammenzufassen.

Am folgenden Morgen erhielt ich diese Zeilen, die er im Augenblick der Abreise geschrieben hatte: »Sei stark und vergiß nicht, was du dir erworben hast. Diese Hoffnung ist mein Trost. Laß ihn mir, erhalt' ihn mir!«

So endete der Frühling meines Lebens!

16. Kapitel. Katastrophe
Sechzehntes Kapitel
Katastrophe

Nach seiner Abreise war ich ungeduldig, auch zu gehen. Es war, als ob ein eisiger Hauch die Blüten des Frühlings gestreift hätte. Nur das Scheiden von der »Kleinen« wurde mir schwer. Unsere Freundschaft war dieselbe geblieben, dennoch hatte ich mich nie entschließen können, auch selbst mit ihr über das Gefühl zu sprechen, das mich mit ihrem Bruder vereinte, wenngleich es ihr kein Geheimnis sein konnte. Beim Abschied gab sie mir einen Strauß Rosen aus ihrem Garten, aus dem so manche mit seinen Briefen zu mir gewandert waren. Ich behielt den Strauß, bis wir den Rhein erreicht hatten. Da warf ich ihn in die Wellen, wie Polykrates den Ring, damit die Götter mir mein höchstes Glück bewahren möchten.

Ich war übrigens weit davon entfernt, glücklich zu sein; die Trennung lag schwer auf mir, und es schien mir oft, als könnte ich sie nicht ertragen.

Mein Vater kam uns am Rhein entgegen. Ich liebte ihn immer gleich, mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit; aber ich fühlte, daß meine Intelligenz sich für immer von der seinigen getrennt hatte und nie mehr in seine Richtung zurückkehren könnte. Doch trotz des Schmerzes, den mir diese Überzeugung verursachte, hoffte ich, da ich ihn so gesund und jugendlich kräftig fand, daß es mir noch lange gegönnt sein würde, ihm[128] meine Liebe zu zeigen, indem ich es vermied, mit ihm von Ansichten zu sprechen, die ihn betrüben mußten.

Mein Vater hatte eine Sommerwohnung für uns in dem Badeort Homburg genommen, der, seit mehreren Jahren in raschem Aufblühn, ein Sammelplatz des Vergnügens und der Mode geworden war und viel müßiges Volk versammelte neben denen, die an seinen Heilquellen Stärkung suchten. Die Zeit war fern, wo ich die sogenannte »große Welt« von einem Glanz umgeben sah und glaubte, in ihr etwas für meine Vervollkommnung tun zu können. Alle ihre frivolen Freuden waren mir gleichgültig geworden. Ich hätte in der Einsamkeit einer großartigen Natur sein mögen, die mit der feierlichen Trauer meines Herzens übereingestimmt und in der ich mich ungestört den Gedanken hätte überlassen können, die mich allein, fern von meinem Freunde, aufrecht hielten. Der einzige Ort, der mir gefiel, war der alte Schloßgarten; ein herrlicher Park mit hundertjährigen Bäumen, stillen Gewässern, tief schattigen, einsamen Plätzen, wohin sich die Modewelt selten verirrte. Ich ging oft allein dahin, um zu lesen und mit besonderer Vorliebe damals die Werke eines Dichters, der in Deutschland wenig, im Ausland gar nicht bekannt ist. Es waren die Werke Friedrich Hölderlins, die ich zuerst mit Theodor zusammen gelesen hatte und in denen wir eine Zeitlang ganz gelebt hatten. Der vom griechischen Altertum mit flammender Begeisterung erfüllte Dichter konnte sich aus dem Zauberreiche der Helena nicht in eine versöhnende Wirklichkeit hineinflüchten. Zwar hatte er sein Ideal, seine Diotima, gefunden, aber nur, um sich in schmerzlicher Entsagung von ihr trennen zu müssen und der Not und Gemeinheit des Lebens anheimzufallen. Die zu fein besaitete Leier zerbrach, und die Nacht des Wahnsinns bedeckte den überströmenden Idealismus und den grellen Kontrast der bitteren Entsagung. Er lebte lange der Vernunft beraubt. Erschütternd sind einige der Gedichte, in denen noch die Fülle der dichterischen Begabung des Ausdrucks, die Macht der poetischen Bilder waltet, aber ohne inneren Zusammenhang, [129] ohne die Möglichkeit, die leitende Idee festzuhalten. Ebenso erschütternd soll es gewesen sein, wenn die Finger des Unglücklichen über die Tasten glitten und zuweilen noch wie ein fernes Echo die heiligen Harmonien, die seine Seele gefüllt hatten, hervorriefen. In dem damals noch kleinen Orte Homburg hatte er die letzte Zeit vor Anfang seiner Krankheit gelebt, und unter den alten Bäumen des erwähnten Schloßgartens hatte er oft gesessen, schon ein wehmutvoller Schatten des einst wunderbar Schönen, Begabten, Herrlichen, wie die Schatten seiner griechischen Ideale im Hades. Bettina von Arnim meint in ihren Briefen an die Günderode, er habe da Träume gehabt, die zu hoch waren für das Verständnis der Sterblichen. Aber so war es wohl nicht; das schöne Gefäß, in dem unsterbliche Träume gewohnt hatten, war zerstört. Was den Denker jedoch schwer bewegen mußte, war die traurige Tatsache, daß jener Fall kein vereinzelter war; daß an dem Schmerz des Dualismus zwischen Ideal und Wirklichkeit mehr als ein schönes Leben zerbrach; daß Lenau später demselben Schicksal verfiel wie Hölderlin, und daß dieses Schicksal, wie ein drohendes Gespenst, als Augenpunkt in der Horizontlinie so manches reich begabten, schöpferischen Jünglingsgemütes stand, so daß auch Theodor selbst, als wir die Werke Hölderlins zusammen lasen, mehrere Mal den Gedanken aussprach, daß ihm ein gleiches Schicksal bevorstehn könne. Worin lag die Unruhe dieser Erscheinung? War es, weil sich in dem Mysterium der Zeiten ein neues Ideal vorbereitete, dessen Nahen nur die auserwählten Naturen ahnten, dessen Erfüllung sie aber in der in Materialismus und Sinnlichkeit versunkenen Welt für unmöglich hielten? War es, weil die grob nüchterne Gegenwart ihnen ein unerträgliches Joch auf die zum höchsten Flug beschwingten Schultern legte? Glücklich sind diejenigen, die in solchen Augenblicken der Krisis im Leben der Menschheit, wie Columbus, eine materielle Welt zu entdecken finden! Sie halten ein positives Resultat in Händen, und ihr Sehnen [130] findet einen Boden, in welchem neue Zukunftsträume sprossen können.

Die Tage, an denen ich Briefe von Theodor empfing, waren meine Festtage. Sie brachten mir Gedanken und den Hauch eines neuen Lebens. Er lebte in einem Kreis intelligenter Menschen, arbeitete mit Erfolg, und die Melancholie, die mich häufig an ihm beunruhigt hatte, schien verschwunden. Ich war zu glücklich für ihn über dies alles, um ihn zurückzuwünschen; aber ich wünschte mir Flügel, um auch in jene Sphäre der Freiheit zu entfliehn, deren ich bedurfte.

Die Ruhe unseres Lebens wurde durch ein verhängnisvolles Ereignis unterbrochen, das uns alle schwer traf. Es kam von der Seite eines Wesens, an dem niemand unter uns jemals gezweifelt hatte. Um ein schmerzliches Geheimnis zu bewahren, hätte mein Vater eine Summe bezahlen müssen, die das ihm zu Gebote Stehende bei weitem überstieg. Wir mußten eilig nach Frankfurt zurückkehren, wo mein Vater seit einiger Zeit, gleich dem Fürsten, ein bleibendes Asyl hatte. Eine tiefe Melancholie hatte sich infolge dieses Ereignisses meines Vaters bemächtigt, eine Melancholie, die um so betrübender war, als bis dahin das Alter die Heiterkeit seiner Natur noch nicht angegriffen hatte. Eines Tages nahte ich mich ihm, als er am Fenster stand und traurig auf den Fluß hinaussah. Ich versuchte einige Worte des Trostes; er hörte mich schweigend an, schüttelte den Kopf und sagte: »Dieser Schlag hat mich niedergeworfen, davon erhole ich mich nicht.«

Kurz darauf wurden wir nachts geweckt; er war plötzlich sehr krank geworden. Ich fühlte vom ersten Augenblick an, daß seine Prophezeiung in Erfüllung gehen würde. Nach einigen angstvollen Tagen erholte er sich jedoch wieder insoweit, um im Zimmer umhergehen zu können, meist auf eine von uns gestützt. Aber es war ersichtlich, daß das Prinzip des Lebens in ihm gebrochen und daß er nur noch der Schatten seiner selbst war. Mein einziger Trost war der, bei ihm zu sein; ich achtete mit Angst auf jeden Blick, jedes Wort, um sie im Herzen zu bewahren. Oft war ich allein mit ihm [131] und hütete sorgfältig meine Worte, um ihn nicht an die Verschiedenheit der Ansichten zwischen uns zu erinnern. Ich sah, daß mein Dasein sich über das seine hinaus verlängern würde, und daß ich später um meine Unabhängigkeit würde zu kämpfen haben. Aber vor seinem erlöschenden Leben blieb nichts zwischen uns als das Band einer Liebe, die im Grund des Lebens selbst wurzelte. Eines Morgens, als ich ganz allein mit ihm war, ging er längere Zeit, auf meinen Arm gestützt, im Zimmer auf und ab, dann setzte er sich an das offene Fenster, durch das eine milde Oktobersonne hereinsah. Er blickte lange, lange schweigend auf den Fluß und die jenseits liegende Herbstlandschaft, die jene sanften, melancholischen Färbungen angenommen hatte, in die die Natur sich kleidet, wenn sie sich zum langen Schlafe vorbereitet. Ich schwieg auch und beobachtete ihn mit tiefer Rührung. Deutlich las ich seine Gedanken auf seinem Antlitz. Er nahm Abschied von der Welt, in der sein reines, tugendhaftes Leben verflossen war. Er war Freimaurer gewesen, hatte die höchsten Grade des Ordens erreicht, und ich glaube, daß seine Lebensanschauungen eher human und sittlich waren, als orthodox christlich. Vor seiner Krankheit, als ich einmal mit ihm spazieren ging, fragte ich ihn, was er über die Gottheit Christi und die Bibel als Offenbarung dächte. Er antwortete, daß Christus ihm mehr als Ideal menschlicher Vollkommenheit, denn als Gottessohn nahe sei, und daß er die sittlichen Vorschriften der Bibel befolge, ob sie Offenbarungen seien oder nicht. Ein anderes Mal, als ich ihn abends am Fenster fand, in die sternenhelle Nacht hinausschauend, fragte ich ihn, an was er denke. Er erwiderte: »Ich bereite mich vor, eines Tages diese sterbliche Hülle abzulegen.«

Einfache, kurze Worte wie diese bezeichneten sein ganzes Wesen. Später, nach seinem Tod, fanden wir einen Anfang von Memoiren, die er leider nie beendet hatte. Er sagte darin, daß der Wunsch seiner Jugend gewesen sei, Landwirtschaft zu studieren und auf dem Lande zu leben. Ich [132] verstand es, wie diese Bestimmung ihm viel gemäßer gewesen wäre, als die bewegte Laufbahn des Politikers und Staatsmannes.

Dennoch, obgleich der Gedanke an das nahende Ende ihn sichtlich beschäftigte, sprach er nicht davon, außer mit meinem ältesten Bruder, dem einzigen seiner Söhne, der anwesend war und dem er seine letzten Wünsche anvertraute.

Ach! was hätte ich nicht darum gegeben, daß er mir offenbart hätte, was in seiner Seele vorging; daß er mir erlaubt hätte, ihn auf diesem feierlichen Gang zum Eintritt in das Unbekannte zu begleiten; an seiner inneren Vorbereitung für diese große Stunde teilzunehmen, und ihm zu zeigen, daß mein Herz Schritt vor Schritt mit ihm ging, und mit ihm bis auf den letzten Tropfen den bitteren Kelch hätte trinken mögen, um ihm die Hälfte seiner Bitterkeit zu nehmen! Aber die sonderbare Schranke zwischen ihm und mir fiel selbst in diesen höchsten Augenblicken nicht, trotz der tiefsten Liebe von beiden Seiten. Ruhe hatte ich dennoch nur bei ihm, und oft versteckte ich mich in eine Ecke des Zimmers, wenn er sehr litt und, sich allein glaubend, dem physischen Schmerze Ausdruck gab. Ich hielt den Atem zurück, um meine Gegenwart nicht zu verraten, aber es war mir ein Trost, mit ihm im stillen zu leiden.

Die Weihnacht war herangekommen. Sein Leben war nur noch eine Frage von Tagen und Stunden. Durch eine sonderbare Fügung war der alte Fürst, dessen Geschicke er treu geteilt hatte, nach kurzer Krankheit gestorben, und die letzte Frage des alten Herrn war die nach der Gesundheit des bewährten Freundes gewesen. Man hatte meinem Vater dieses Ereignis verschwiegen, da man dem Sterbenden den Schmerz ersparen wollte, aber er hatte es wie durch Intuition erraten. Vielleicht fühlte er den Schlag weniger, weil seinem Geiste schon die ephemere Bedeutung der Erscheinung klar geworden war, oder weil er von dem nahen Wiedersehen träumte.

Zum erstenmal in unserem Leben hatten wir kein Weihnachtsfest. [133] Doch hatte die Mutter es nicht lassen können, liebevoll, nach alter Sitte, einige Geschenke für uns zu bereiten. Wir empfingen sie innigst gerührt, denn ihm konnten wir nichts mehr geben. Er lag still in seinem Bett, meist im Halbschlaf, und flüsterte von Zeit zu Zeit einige sanfte Worte – ein Widerschein der Bilder, die vor seiner Seele schwebten, wie die leichten rosa Abendwolken noch ein zarter Abglanz der schon hinabgesunkenen Sonne sind. Was ich schon beim Tod meiner ältesten Schwester beobachtet hatte, bemerkte ich auch wieder hier, daß nämlich beim Herannahen des Todes, wenn alles, was künstlich am Menschen war, alles, was die Gewohnheiten des Lebens ihm aufgedrängt hatten, wenn die errungenen Eigenschaften, ja die Intelligenz selbst, sich auflösen und verschwinden, daß dann der wahre Charakter, der Grundton des Individuums, so wie es aus den Händen der Natur hervorging, ganz und unverfälscht wieder hervortritt. Der letzte Eindruck, der mir von diesen zwei geliebten Wesen, die ich sterben sah, blieb, war der der reinen Güte und einer Unschuld des Herzens, die keine Verderbtheit des Lebens hatte antasten können.

Die Freunde, in deren Haus wir den zweiten Stock bewohnten, zwangen uns fast, hinunterzukommen und ihrem Weihnachtsfest beizuwohnen. Sie taten alles Mögliche, um uns zu erheitern, mit jener falschen Ansicht von Sympathie, die eine tiefe Traurigkeit durch oberflächliche Zerstreuungen mildern will. Ich konnte aber den Lärm und das Lachen nicht länger als eine halbe Stunde ertragen. Ich schlich mich unbemerkt fort und stieg wieder zu dem matt erleuchteten Zimmer empor, in dem mein geliebter Vater, schon ohne mehr zu leiden, den sanften Vorschlummer des letzten Schlafes schlief. Da war mir schmerzlich wohl; ich setzte mich in eine Ecke und lauschte der großen Symphonie des Todes, die die fröhlichen Töne unten disharmonisch unterbrochen hatten. Für ihn war das Lebensrätsel gelöst. Mein Leben war im Gegenteil von seiner Wurzel losgerissen, und ich fühlte mich hinausgeworfen auf den weiten Ozean, um [134] künftig mein Lebensschiff allein zu steuern und dem einzigen Stern, der mir durch schwere Wolken schien, meinerÜberzeugung zu folgen.

An dem Abend nahm ich meinen eigentlichen Abschied von ihm. Er atmete noch drei Tage. Den vierten brachte ich ihm morgens eine Tasse Kaffee, den der Arzt erlaubt hatte. Er öffnete die Augen, sah mich lange an mit dem Blick des Reisenden, der, schon auf den endlosen Ozean eingeschifft, noch einmal nach den Ufern zurückschaut, wo ihm die Lebenssonne geleuchtet, und mich erkennend, sagte er: »Ah, du bist es, mein Schätzchen!« Ich brachte die Tasse an seine Lippen: er trank zum letztenmal, dann schloß er die Augen und blieb still. Ich setzte mich in ein anderes Zimmer, um an Theodor zu schreiben. Nach einer Stunde tiefer Stille öffnete man die Tür und winkte mir. Ich flog an sein Bett. Alles war zu Ende, er hatte aufgehört zu leben.

Dieses Mal fragte ich nicht mehr, und keine Stimme sagte mir: »Du wirst ihn wiedersehn.«

Nichts unterscheidet, glaube ich, die Menschen mehr, als ihre Art, den Schmerz zu tragen. Die Freude, das Glück öffnen gewöhnlich das Herz nach außen hin; sie teilen sich mit, und in ihren lauteren Tönen geht mancher Mißton unbemerkt vorüber. Aber der Schmerz macht eine Stille um uns, in der wir nur eine einzige, traurige und feierliche Melodie hören. So lange man dieses Requiem der Seele nicht stört, hat selbst der tiefste Schmerz seine Schönheit. Aber wenn das alltägliche Geräusch der äußeren Welt wieder anfängt, wird der Zauber gebrochen, und dann beginnt für gewisse Naturen das zerreißende, unerträgliche Leiden, während andere darin eine Erleichterung und Zerstreuung finden. Ich befand mich in dem ersten Fall. Mein ganzes Wesen war noch in dem konzentriert, der nicht mehr war. Jedes Wort, das mich in diesem Andenken störte, war mir qualvoll. Ich umgab ihn mit Lorbeer und Myrten, und ich sah ihn an, diesen stillen Mann, dem meine Liebe nun nichts mehr sein konnte, ohne mich von dem Anblick losreißen zu können. In [135] diesen Augenblicken verstand ich erst ganz die Schönheit der Beschreibung von Mignons Begräbnis in Wilhelm Meister. Ja, wir sollten den Schluß der großen Lebenstragödie poetisch, feierlich verklären und dann an unsere tägliche Aufgabe zurückkehren, von »dem Ernst, dem heiligen, erfüllt, der allein das Leben zur Ewigkeit macht«.

Während der Krankheit meines Vaters, die mein Denken und Fühlen fast ausschließlich in Anspruch nahm, hatte ich doch auch andere Erlebnisse gehabt, die mich nicht wenig bewegt hatten. Ich hatte unter anderen den jüngsten meiner Brüder wiedergesehn, der gekommen war, den kranken Vater zu besuchen. Er war ein Mensch von außerordentlichen Eigenschaften, nahm einen hohen Staatsposten ein und war, seinen Grundsätzen nach, strenger Protestant und absoluter Monarchist. Er hatte etwas von der Richtung vernommen, die ich eingeschlagen, und er erriet noch mehr davon an dem Schweigen, das ich über alle bedenklichen Gegenstände beobachtete. Er war darüber gereizt und erzürnt und suchte, wie die andern, die Ursache davon in der Neigung zu einem Menschen »ohne Grundsätze«; denn wie wäre es sonst möglich gewesen, daß ein Mädchen meines Standes zu solchen Ideen gekommen wäre? Es war sein Wunsch gewesen, mich an einen seiner Freunde zu verheiraten, und auch in dieser Beziehung fand er sich getäuscht. Er suchte also die Gelegenheit, mit mir zu reden, und fand sie. Zunächst befragte er mich über meine religiösen Ideen. Ich antwortete ihm mit gänzlicher Offenheit. Er versuchte es, mich zu überzeugen, aber seine Argumente besagten nichts anderes, als was ich in meinen Kämpfen mir tausendmal selbst gesagt hatte, und was nun, längst als unhaltbar befunden, nicht wieder lebendig in mir werden konnte. Endlich schwieg er; er fühlte, daß ich zu weit gegangen sei, als daß er mich noch retten könne. Nach wenigen Tagen eilte er zurück zu seiner jungen, von ihm angebeteten Frau, die auch schwer krank war. Sie folgte auch in wenigen Wochen meinem Vater in das Grab nach. Ich fühlte tief den Schmerz meines Bruders mit und schrieb [136] ihm einen Brief voll wahrer Liebe. Er antwortete mir nicht, schrieb aber meiner Schwester, er fühle, daß, so lange ich in dieser voltairianischen Geistesrichtung sei, er mir nichts zu sagen habe; er habe das auch einst durchgemacht und hoffe, ich werde zurückkommen, wie er zurückgekommen sei; bis dahin aber sei es besser, unsere Mitteilungen zu unterbrechen. Ich nahm dies an, da ich fand, daß er recht hatte; zwischen zwei entgegengesetzten Überzeugungen, stark und bewußt wie die unseren, gab es kein Bindungsmittel. Aber ich fühlte auch, daß diese Trennung ewig sein würde, denn meine Geistesrichtung war nicht voltairianisch und vorübergehend; sie war im Gegenteil die logische Konsequenz aller inneren Geisteskämpfe meiner Jugend, die Verwirklichung jenes Verlangens nach Freiheit des Gedankens als Grundlage aller Sittlichkeit.

Ein anderes Ereignis, das meine Gedanken viel beschäftigte, während der ersten Zeit der Krankheit meines Vaters, war der Sonderbundkrieg in der Schweiz, ein wahrer Prinzipienkrieg. Theodor schrieb mir darüber: »Dies ist ein menschlicher Krieg, von einem freien Volke für den Sieg der Freiheit geführt.« Der Arzt, der meinen Vater behandelte, war ein freisinniger Mann; er nahm warmen Anteil an dem Sieg der liberalen Partei. Mit ihm besprach ich meine politischen Ideen offener, als ich es bisher noch getan.

Eine Oase blieb mir in dieser ganzen Leidenszeit, auf der mich Frieden und reines Glück umgaben; das war meine Liebe zu Theodor und mein Vertrauen in die seine. Seine Briefe waren mein Trost; außer ihnen sandte er mir noch die Probeblätter, eines nach dem andern, eines neuen Buches, das er veröffentlichte. Er schrieb dabei: »Dir widme ich von neuem die ersten gedruckten Blätter dieses Buches, das dir so vollständig angehört, daß ich kaum noch weiß, was darin von dir oder mir ist.«

Ich fand wirklich darin auf jeder Seite die Spuren unseres gemeinsamen Lebens, unserer Unterhaltungen, des Austausches von Gefühlen und Gedanken, von allem, was uns [137] so lange beglückt hatte. Zuerst war es mir schmerzlich, eine solche edle Intimität mit dem Publikum teilen zu müssen; aber ich bekämpfte dieses egoistische Gefühl. Der Dichter lebt zwei Leben, eins für sich, das andere für die Welt. Wehe der Frau, die das nicht versteht und eifersüchtig wird auf diese Teilung! Sie wird den Genius brechen oder ihr eigenes Herz!

Wenn ich diese Seiten oder seine Briefe las, sagte ich oft unwillkürlich zu mir selbst: »Laß mir dieses einzige Glück, o Schicksal, und ich werde stark sein in allen Prüfungen, die du mir auferlegst.«

17. Kapitel. 1848
Siebzehntes Kapitel
1848

Am Neujahrstage lasen wir im kleinen Kreis der anwesenden Familie das Testament meines Vaters. Glücklicherweise herrschte zwischen uns zu viel Liebe und edler Sinn, um diesen Akt anders als mit all' der Ehrfurcht zu begehen, die wir dem Geschiedenen schuldig waren. Nicht ein störendes Wort wurde laut, und wir hatten nicht das häßliche Schauspiel zu erleben, das leider so häufig in der Welt vorkommt, die Feier des Todes durch Erbschaftsstreitigkeiten entstellt zu sehn. Mich rührten und ergriffen besonders die einfachen und würdigen Worte, mit denen das Testament anfing, und mit denen mein Vater seinen Glauben an die persönliche Unsterblichkeit ausdrückte. In ihnen fand ich seine einfache, gute, wahre Natur wieder. Das übrige, der materielle Teil, ließ mich gleichgültig. Doch fand es sich, daß das Vermögen meines Vaters viel geringer gewesen war, als wir vermutet hatten, und daß, da es in viele Teile ging, ein jeder Anteil nur klein sein würde. Dazu war es noch ungewiß, ob meine Mutter eine Pension, die ihr von seiten des verstorbenen Fürsten zugesichert war, erhalten würde; in diesem Fall hätten wir natürlich mit ihr geteilt, aber dann hätten wir eben nur ein sehr bescheidenes Leben [138] führen können, bei weitem beschränkter als das, an das wir gewöhnt waren. Zum erstenmal stieg bei meiner Schwester und mir der Gedanke auf, daß eine von uns gehen und selbst ihr Brot erwerben müsse. Einige der Brüder waren wohl in guten Stellungen, aber es fiel uns nicht ein, von ihnen abhängig werden zu wollen. Wir besprachen schon diesen Punkt, und eine jede von uns war bereit zu dem Opfer. Ich war fest entschlossen, nicht nachzugeben und, wenn es sein müßte, meinen Erbanteil ganz der Mutter zu überlassen und zu gehn. Ich fing ohnehin an zu fühlen, daß ich nicht lange mehr mit denen würde leben können, die meine heiligsten Überzeugungen für falsch hielten. Aber zu gleicher Zeit stand ich betroffen vor der Frage: »Was tun, um mir mein Brot selbst zu erwerben?«

Ich hatte viel gedacht, mehr als die Mehrzahl der Mädchen in meinem Alter; ich hatte viel gelesen. Aber wußte ich eine Sache so gründlich, um darauf meine Unabhängigkeit zu stützen? Hatte ich eine Fachkenntnis irgendeiner Art? Ich fühlte das Ungenügende meiner Erziehung mit tiefer Pein. Seit ich die Malerei hatte aufgeben müssen, hatte ich angefangen zu hoffen, daß ich eines Tages etwas würde schreiben können. Ich hatte einige schüchterne Versuche gemacht, kleine Novellen und Aufsätze an Verleger zu schicken, ohne irgend jemand davon zu sprechen. Mehreres wurde gedruckt, aber nicht bezahlt. Ich wußte nicht, wie man dabei verfahren müsse, ich wagte nicht, bei meinen Familienmitgliedern um Rat zu fragen wegen Sachen, die ihnen mißfielen, und so sah ich keine Hoffnung in dieser Richtung.

Während so der Horizont meines Lebens düster und verschleiert war, fing derjenige der Völker an, sich aufzuhellen. Die Zeitungen brachten die Nachricht von Bewegungen in Sizilien und Neapel. Der harte und verdummende Despotismus, der auf jenen schönen Ländern lastete, schien plötzlich still zu stehen, und ein neues Leben schien bereits aufzublühen. Mein Freund schrieb mir: »Zu denken, daß man in Neapel auf den öffentlichen Plätzen zum Volke von der [139] Freiheit und seinen Rechten redet, und genötigt zu sein, in Deutschland zu bleiben, ist beinah mehr, als man ertragen kann.«

Wie hätte ich gewünscht, es ihm gewähren zu können, dorthin zu gehen, ihn in der Fülle des Lebens zu wissen, inmitten eines Volks, das ein unerträgliches Joch abwirft! Aber leider konnte ich nichts tun, als jene Ereignisse, wie er, aus der Ferne mit glühender Teilnahme verfolgen.

Eines Tages, als ich von einem einsamen Spaziergang heimkam, fand ich alles im Hause in größter Aufregung. Die Nachrichten von der Pariser Revolution am 24. Februar waren angekommen! Mein Herz klopfte vor Freude. Die Monarchie gestürzt, die Republik erklärt, ein provisorisches Gouvernement, das einen berühmten Dichter und einen einfachen Arbeiter zu Mitgliedern zählte – es schien ein himmlischer Traum und war doch Wirklichkeit. Nur wenig Blut war für so hohen Preis vergossen worden, und die großen Losungsworte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! standen wieder auf der Fahne der Bewegung.

Welche Todesqual, mein Glück nicht zeigen zu dürfen, meine Erregung in mein Herz verschließen zu müssen, es zu sehen, daß man um mich her da, wo ich nur Hoffnungen sah, großes Unglück erwartete! Welcher Schmerz, an Blicken und Bemerkungen zu begreifen, daß die Freude, die ich unwillkürlich zeigte, mir als ein schwerer Fehler angerechnet wurde!

Ich schwieg, so viel ich konnte, und gab meinen Gefühlen nur in Briefen an Theodor und die »Kleine« Ausdruck.

Der elektrische Strom verbreitete sich bald in allen Richtungen. Deutschland, das so fest eingeschlafen schien, erbebte wie von einem unterirdischen Feuer. Die Nachrichten von Wien und Berlin folgten sich rasch. Der Fürst der politischen Finsternis, Metternich, war entflohn! Die Grundlagen des Despotismus schienen überall zu wanken. Die Stütze des Absolutismus, die Militärmacht, schien unvermögend vor der Begeisterung der Völker, die für ihre Rechte aufstanden. Die drei glorreichen Märztage in Berlin bewiesen es. Ein jeder [140] Tag fast wurde durch ein neues, wichtiges Ereignis bezeichnet. Aber wie verschieden war die Auffassung dieser Ereignisse je nach den verschiedenen Anschauungen! Eines Tages z.B. fand ich beim Eintreten in das Wohnzimmer meine Mutter mit der Zeitung in der Hand und sie rief mir entgegen: »Nun wirst du zufrieden sein: der König von Preußen ist mit der schwarz-rot-goldnen Fahne in der Hand durch die Straßen von Berlin geritten. Was kannst du mehr wünschen?«

Ich erwiderte, daß mir das gar keine Freude machte, und ich war auch eher traurig über die Maskerade; denn nur der Druck des Augenblicks hatte sie gewaltsam hervorgebracht; sie konnte nicht der Ausdruck der Gesinnung eines Monarchen sein, der, wie allbekannt war, den romantischen Traum der Wiederherstellung feudaler Zustände geträumt hatte. Was ich ersehnte, das waren nicht Gnadengeschenke und königliche Zugeständnisse an das Volk, das war vielmehr das ernste selfgovernment des Volkes selbst, vor dem die Fürsten sich beugen oder verschwinden mußten.

Die Nachricht, daß ein deutsches Vorparlament sich in Frankfurt versammeln werde, erfüllte mich mit namenloser Freude. Die Stadt war in einer grenzenlosen Aufregung. In der Versammlung der freien Gemeinde, die ich schon während des ganzen Winters statt der protestantischen Kirche besucht hatte, stieg der Redner nicht auf die Kanzel, um irgendeiner Betrachtung regelrecht zu folgen, sondern er sprach am Altar feurige Worte der Begeisterung, indem er die Gemeinde aufforderte, bereit zu sein, einen freudigen Kampf zu kämpfen um die heiligsten Rechte der Menschheit. Draußen hörte man Waffengeklirr, denn die Bürger eilten in das nahe Zeughaus, um sich zu bewaffnen. Mir war todesfreudig zu Mute. Ich hätte gewünscht, daß der Feind draußen vor dem Tore der kleinen Kirche gestanden hätte, und daß wir alle hinausgezogen wären, Luthers Choral singend, um für die Freiheit zu kämpfen oder zu sterben. – Das Volk kam aus seinen Höhlen hervor mit dem neugierigen Blick [141] und dem naiven Erstaunen eines Menschen, den man lange Zeit im Dunkeln gehalten, und der den Tag wiedersieht. Ich mischte mich unter die Volkshaufen, die fortwährend die Straßen füllten. Ich teilte ihre Freude, als man die dreifarbige Fahne auf dem Palais in der Eschenheimer Gasse aufpflanzte, wo der deutsche Bund so lange nicht zum Heile, sondern zum Unheile Deutschlands, getagt hatte. Oft stand ich bei den Gruppen der Arbeiter, die sich vor den Schaufenstern der Bilderläden versammelten, an denen die Porträts der Männer der provisorischen Regierung in Paris, der ersten Liberalen Deutschlands, der Häupter der großen französischen Revolution usw. ausgestellt waren. Ich suchte ihnen alles zu erklären, ihnen die Männer zu bezeichnen, in die sie Vertrauen haben könnten, ihnen die Bedeutung der kommenden Tage klar zu machen. Ein neues Leben sprang überall auf. Auch im Theater erschienen die Schillerschen Dramen wieder, die lange von den deutschen Bühnen verbannt gewesen waren. Ich wohnte der ersten Aufführung von Don Carlos bei. Es war, als finge man jetzt erst an, den edelsten der deutschen Dichter zu begreifen, als spräche seine große Seele jetzt zum erstenmal zu dem erwachenden Vaterland. In der Szene, wo Posa für die unterdrückten Niederlande Freiheit erbittet und mit dem Zauber seiner schönen Seele sogar des Despoten Herz bewegt, brach der Jubel in unbändiger Weise aus. Zu gleicher Zeit tönte Freudengeschrei von der Straße her. Alles fragte nach der Ursache; die Antwort wurde laut von jemand aus dem Parterre verkündet; es zogen eben einige Männer des Vorparlaments in die Stadt ein, die jahrelang Märtyrer ihrer freien Ansichten gewesen waren. Das Volk hatte ihnen die Pferde abgespannt und zog sie im Triumph durch die Straßen. Ein Rausch des Entzückens war in aller Herzen.

Die Natur selbst feierte dies Fest der Wiedergeburt. Der Frühling war außerordentlich früh und schön. Ende März war schon alles grün und in Blüte, so daß es möglich gewesen war, die ganze Stadt in einen Garten zu verwandeln. [142] Die Häuser waren mit Blumen und dreifarbigen Fahnen geschmückt. Man wandelte in den Straßen wie in grünen Laubgängen. Die Eisenbahnen, die Dampfschiffe, mit Fahnen und Blumen geschmückt, brachten unaufhörlich Scharen fröhlicher Pilger, die zum Jubiläum der Freiheit herbeieilten. Niemals vielleicht, selbst in den Tagen des Ruhmes bei den Kaiserwahlen, hatte die alte Reichsstadt so viel Menschen versammelt gesehen.

Der letzte März kam. Eine glorreiche Sonne glänzte am wolkenlosen Himmel über der blumengeschmückten Stadt und den Massen geschmückter Menschen. Eine junge Bekannte, die einzige Person in meinen Umgebungen, die meine Gesinnungen teilte, kam ganz früh am Morgen, um mich abzuholen und mit mir nach der Möglichkeit zu spähen, den Ereignissen des Tages in etwas beizuwohnen. Wir nahmen unseren Weg nach dem Römerplatz, wo das ehrwürdige Gebäude steht, in dem einst die deutschen Kaiser des heiligen römischen Reichs gewählt wurden. Der Platz war ringsum von den Reihen der Frankfurter Nationalgarde und der Turner umgeben, denn auch Vater Jahns Turnvereine, so lange als staatsgefährlich verboten, waren wieder aufgelebt. Es war ein heiterer Anblick, diese frische, fröhliche Jugend zu sehen in einem nicht unmalerischen Anzug, leinenem Kittel, spitzem Hut mit breitem Rand und Feder, die Waffen in der Hand und das Gesicht von Begeisterung leuchtend. Es war das Versprechen einer Zukunft, wo man keine stehenden Heere mehr brauchen würde, sondern wo jeder freie Mann, wohl in den Waffen geübt, bereit sein würde, das Vaterland und den eigenen Herd, wenn es sein müßte, mit aller Kraft zu verteidigen.

Wir drangen glücklich durch die Reihen durch und traten in eines der dem Römer zunächstgelegenen Häuser aufs Geratewohl ein, um die Einwohner zu bitten, uns ein Plätzchen an einem Fenster zu gönnen. Die einfachen Bürgersleute fanden unsre Bitte ganz natürlich und führten uns in [143] ein Schlafzimmer, wo ein kleines Kind in der Wiege schlummerte, unbekümmert um das, was draußen vorging.

Der Platz war dichtgedrängt voll Menschen und schien wie mit einem Mosaik von Köpfen bedeckt. Kaum daß eine Straße offen erhalten werden konnte, um die Abgeordneten des Volks zum Römer hineinzuführen. In dem alten Kaisersaale sollte das Vorparlament sich konstituieren, seinen Präsidenten wählen und von da sich in die Paulskirche, die in Eile für die Sitzungen zubereitet war, begeben. Endlich nahte der Zug der Abgeordneten, die, je zwei und zwei, auf dem offengehaltenen Pfad entblößten Hauptes und nach allen Seiten die jubelnde Menge grüßend zum Römer gingen. Vor allem wurden die Männer aus Baden mit freudigem Zuruf begrüßt, die schon lange als Vorkämpfer einer freieren Zukunft bekannt waren. Während nun im Römer beraten wurde, wogte ein reges Leben unter den Tausenden auf dem Platze; Hoffnung, Erwartung, Staunen über das so plötzlich Errungene machten sich in den lebhaftesten Äußerungen Luft. Wohl mochte auch die Furcht manches Herz bewegen, aber sie schwieg vor der Freudenfülle des Tages, und die Bosheit stand im stillen lauernd, um ihr geheimes und gefährliches Spinnennetz zu weben, in dem die sorglos Freudigen und die übereilt Sicheren zur bestimmten Stunde wieder gefangen werden sollten.

Endlich kündeten Kanonenschüsse und Glockenläuten an, daß das erste deutsche Parlament sich konstituiert habe. Plötzlich wurde alles still und am großen Fenster des Römer, von wo einst der erwählte Kaiser dem Volk verkündet wurde, rief nun einer der Deputierten den Namen des Präsidenten des Vorparlaments aus. Es war ein Name, der allen, welche die Freiheit liebten, bekannt und lieb war.

Welches Auge wäre wohl trocken geblieben in diesem Moment! Welches Herz hätte nicht in seliger Zuversicht geschlagen! Wer hätte nicht gehofft, daß das deutsche Volk, das Volk ernster Denker, so unterrichtet, so ruhig besonnen, mündig sei und die Verantwortlichkeit für seine Zukunft selbst [144] in die Hand neh men könne? Wer hätte gezweifelt, daß die von der Liebe und dem Vertrauen des Volks erwählten Männer fähig seien, die Träume ihres ganzen Lebens endlich zu verwirklichen?

Ich zweifelte nicht, ich sah nur, »unverhofft ein ewig Glück auf goldnen Strahlen glänzend niedersteigen«. Meine persönlichen Kämpfe traten in den Hintergrund vor dem Glück des Vaterlands. Niemals hatte ich Deutschland so heiß geliebt. Noch vor einigen Wochen hatte ich gewünscht, in dem sich erhebenden Italien zu sein. Jetzt hätte ich um keinen Preis von Deutschland weg gemocht; ich fühlte mich mit allmächtigen Liebesbanden daran geknüpft und war überzeugt, daß nirgends die Entwicklung so vollständig und schön sein würde.

Als ich nach Haus zurückkehrte und erzählte, wo ich gewesen sei, wunderte man sich über meine Kühnheit, aber man tadelte sie nicht, denn sie war gelungen, und der Erfolg meiner Ansichten hielt die Kritik etwas zurück. Meine einzige bittere Enttäuschung in diesen Tagen war, nicht in die Paulskirche zu können, die, weil zu wenig Raum war, nur dem männlichen Publikum geöffnet war. Was mich aber ein wenig tröstete, das war der Anblick des öffentlichen Lebens. Man sah da Szenen, von denen man bisher keine Ahnung gehabt hatte. Tribünen wurden in den Straßen, auf den öffentlichen Spaziergängen improvisiert, von denen herab die hervorragendsten Volksmänner, wie Hecker, Struve, Blum u.a. zu dem Volke sprachen. Die Jugend besonders drängte sich um diese Tribünen und gab, zumal durch die malerische Tracht der Turner, diesem Schauspiel auch einen äußeren Reiz. Die radikale, republikanische Partei wollte entscheidende Maßregeln: die Erklärung der Grundrechte des deutschen Volks, die unmittelbare Bewaffnung aller waffenfähigen Männer und die Permanenz des Vorparlaments, bis ein definitives Parlament vom Volke erwählt sei. Dies war ein revolutionäres Programm, die Erklärung der Souveränität des Volks. Die Gemäßigten, die Ängstlichen erschraken davor.[145] Die geheimen Feinde, die politischen und religiösen Jesuiten unterminierten den Boden und wühlten im stillen. Die Majorität war noch zu erstaunt, zu überrascht von all dem Geschehenen, um ein klares Bewußtsein über die nötigsten Dinge des Augenblicks zu haben. Man unterhandelte mit der Vergangenheit; man nahm Vorsichtsmaßregeln; man wollte die Form retten; man wollte den Terrorismus verhüten; man verwarf die Vorschläge der republikanischen Minorität und ergriff halbe Maßregeln, die immer ein Zeichen der Schwäche sind. Es wurde ein Ausschuß erwählt, um sich mit dem alten Bund, in den man einige neue liberale Mitglieder hineinbrachte, zu verständigen. Man verschob die Nationalbewaffnung bis zur Entscheidung des wirklichen Parlaments und erklärte das Vorparlament für unberechtigt, über die Geschicke der Nation zu entscheiden.

Nach diesen Beschlüssen verließen die radikalen Republikaner die Kirche, um sich direkt an das Volk zu wenden. Es war der dritte Tag der Beratungen. Die Teilung in der Versammlung, die regenerieren sollte, lag am Tage. Die Bestürzung, die Aufregung, die Befürchtungen und der Zorn von ein und der andern Seite waren schrecklich. Kundgebungen aller Art, heftige Beratungen in den verschiedenen Sektionen dauerten die ganze Nacht durch. Am Abend des dritten Tages kam die obenerwähnte junge Dame voll Freude, um mir zu sagen, daß ein Herr ihrer Bekanntschaft ihr versprochen habe, uns zwei am folgenden Tag in die Paulskirche zu bringen, an einen Platz, wo wir alles sehen und hören würden, ohne bemerkt zu werden. Wer war glücklicher als ich? Am folgenden Morgen begaben wir uns früh zur Kirche und wurden von unserem Beschützer, der zu der die Kirche umgebenden Nationalgarde gehörte, auf die Kanzel geführt, die nach dem Innern der Kirche hin mit schwarzrot-gelben Tüchern verhängt war, die sich aber ein wenig auseinanderschieben ließen, so daß wir die ganze Kirche übersehen und, da die Tribüne gerade unterhalb der Kanzel war, die Redner trefflich hören konnten. Mehrere Frauen von [146] Deputierten kamen ebenfalls in unser Versteck; sie hatten die Freundlichkeit, uns alle die bedeutendsten Männer zu zeigen, und sie belustigten uns durch den neckischen Streit, den die eine, eine Süddeutsche und feurige, radikale Republikanerin mit einer andern, der schönen, etwas stolzen Frau eines gelehrten Doktrinärs, führte, die sie nur den »gemäßigten Fortschritt« nannte und der sie lachend prophezeite, daß man mit dem nicht zum Ziele kommen werde.

Die Mitglieder der Linken, die nicht ausgetreten waren, verlangten zunächst stürmisch die Aussöhnung mit den Radikalen, die tags zuvor die Versammlung verlassen hatten. Man sandte einen der badischen Abgeordneten an sie ab, um sie zurückzurufen. Es gelang ihm, und nach einiger Zeit kehrten die sechzig Mitglieder, Friedrich Hecker an der Spitze, in die Kirche zurück. Sie wurden jubelnd empfangen, und Hecker sprang auf die Tribüne, um das Opfer, das sie der Einheit brachten, zu erklären und zur Energie nochmals aufzufordern. Hecker war sehr schön, ein Christuskopf mit langem, blondem Haar und mit schwärmerisch begeistertem Ausdruck. Er war längst in Deutschland durch seine republikanischen Gesinnungen bekannt, und ich wußte durch Theodor, der ihn kannte, wie sehr er im Privatleben die Grundsätze verwirklichte, für die er in der badischen Kammer seit Jahren kämpfte. Er sprach mit einem Feuer und einer Beredsamkeit, die unwiderstehlich fortrissen. Ich bewunderte in diesem Augenblick das Opfer, das er der Einheit brachte, und das Publikum belohnte es mit lautem Jubel. Dennoch war es ein gefährliches Opfer, und die geheimen Feinde, deren gar manche mit auf den Bänken der Abgeordneten saßen, mochten wohl kaum ein Lächeln zurückhalten können, als sie die wiederholten Fehler derjenigen sahen, die die Freiheit retten sollten.

Nach dieser Erklärung folgten nun noch Verhandlungen und Reden über das eigentliche Resultat dieser Versammlung, das darin bestand, daß für den ersten Mai ein definitives Parlament, aus allgemeinem Stimmrecht hervorgegangen, sich in Frankfurt versammeln solle, um über die Zukunft [147] Deutschlands zu entscheiden. Ein Freudenschrei inner- und außerhalb der Paulskirche begrüßte diesen Beschluß, der augenblicklich draußen den die Kirche umgebenden Volksmassen bekannt gemacht wurde. Ich war wie von einem Schwindel des Glücks erfaßt; ich sah meine Träume Wahrheit werden, eine reiche, freie, lebensvolle Zukunft sich für Deutschland öffnen. Um sechs Uhr abends wurde das Vorparlament geschlossen. Die Abgeordneten verließen die Kirche wieder in Prozession, während das jubelnde Volk ihnen Blumen auf den Weg streute. Ich hatte es nicht bemerkt, daß ich den ganzen Tag nichts gegessen hatte, ich dachte nur an Deutschland und an den ersten Mai. Ach, ich überlegte in meiner Freude nicht, daß jeder Verzug, in einem Augenblick der Entscheidung, verderblich ist, und daß um zu siegen, man dem Feind nie die Zeit lassen muß, sich zu sammeln.

Als ich zurückkehrte, fand ich niemand zu Haus. Es war mir lieb, denn ich hatte nötig, allein zu sein, um mich ungestört den Empfindungen hinzugeben, die mein Herz füllten. Ich setzte mich an das offene Fenster, durch das der Frühlingswind mir Blütenduft zuwehte. Aus einem nahen öffentlichen Garten, wo das Abschiedsfest der Abgeordneten stattfand, tönte mir die Marseillaise, von einem Musikkorps gespielt, entgegen – dieser schöne Gesang der Freiheit, der wie die Memnonssäule erklingt, wenn die Sonne aufgeht. Ich war selig müde und genoß jene wunderbare, schöne Stimmung, wo das persönliche Sein sich aufgelöst fühlt in ein großes universelles Empfinden. Ich hatte dem Gang der Geschichte noch so wenig beigewohnt, um zu wissen, daß die Menschheit nicht so plötzlich in neue Phasen tritt; daß die Augenblicke, wo alles reine Hoffnung ist, nur wie Blitze das Ziel erleuchten, nach dem die Massen auf langem, mühevollem Weg hinstreben, der oft abgelenkt und unterbrochen wird durch die Unwissenheit und Schwäche, noch öfter aber durch das Vergessen der Maxime, die schon Christus aufgestellt hat, »daß man den jungen Wein nicht in alte Schläuche füllen darf«.

[148] Einige Zeit nach den oben erzählten Begebenheiten wurde beschlossen, daß meine Mutter mit uns Töchtern in unsere kleine nordische Residenz zurückkehren sollte, um sich daselbst für immer niederzulassen, denn das Vermögen, das uns blieb, erlaubte uns nicht mehr wie früher zu reisen, oder mit dem Aufenthaltsort zu wechseln. Die Notwendigkeit, Frankfurt zu verlassen, war mir wie ein Todesurteil. In einigen Wochen sollte diese Stadt das Zentrum der nationalen Entwicklung werden, alle großen Entscheidungen sollten da getroffen werden, die besten deutschen Männer sollten sich da versammeln – und ich sollte in einen kleinen Winkel zurückkehren, den der große Lebensstrom nicht einmal berühren würde! Ich fühlte einen grenzenlosen, vernichtenden Schmerz. Ich wußte, daß ich eine große Kraft der Entsagung besaß für alles, was die Menschen gewöhnlich Glück nennen. Aber dem entsagen, was das geistige Leben fördert – sich ausschließen müssen von den großen Ereignissen des Lebens der Menschheit, von den Eindrücken, die uns über uns selbst und die Kleinheit der Existenz erheben – das war für mich stets der untragbarste Schmerz und schien mir die wahre Sünde gegen den heiligen Geist. Das große Recht der Individualität an alles, was ihr nötig ist, um alles zu werden, was sie werden kann, stellte sich mir in bitterer Klarheit dar. Daß es erlaubt sei, jede Autorität zu brechen, um dieses Recht zu erobern, war mir keinem Zweifel mehr unterworfen. Aber leider gehört zu der Erreichung dieser moralischen auch die ökonomische Unabhängigkeit. Bis dahin hatte man die Unabhängigkeit der Frau nur zugestanden, wenn sie Vermögen hatte. Aber die, die keins hatte, was sollte sie tun? Zum erstenmal stellte sich in meinen Gedanken dieNotwendigkeit der ökonomischen Unabhängigkeit der Frau durch ihre eignen Anstrengungen fest. Für den Augenblick konnte ich jedoch nichts anderes tun, als mich in mein Schicksal fügen, denn ich hatte nicht den Mut, mich plötzlich von den Meinen zu trennen, und ich konnte es nicht, weil die Einkommenfrage meiner Mutter noch nicht entschieden war. Aber ich[149] war fest entschlossen, im Fall sie das Ihre nicht bekäme, ihr meinen Teil der Erbschaft zu lassen und Erzieherin zu werden.

Wir verließen Frankfurt. Ich empfand das doppelte Weh, das Grab meines Vaters und die Geburtsstadt von Deutschlands Zukunft hinter mir zu lassen. Als wir schieden, war es, als wollte mein Herz brechen, und als wir in das grüne enge Tal einfuhren, in dem unsere nunmehrige Heimat lag, war es mir, als schlösse sich über mir das Grab und als gäbe es für mich hinfort weder Leben noch Zukunft mehr.

Während der Reise hatte ich noch ein paar frohe Augenblicke. Unser Eisenbahnzug war außerordentlich lang. Es befanden sich darin eine Masse Freiwilliger, die nach Schleswig-Holstein gingen, um sich dort für die deutsche Nationalität zu schlagen. Die Waggons waren mit Fahnen und Blumen geschmückt. Auf jeder Station glitt ich aus dem Wagen, um diese frische, begeisterte Jugend zu betrachten. Ich beneidete sie um die Freiheit, ihren Teil Gefahr an dem allgemeinen Werke nehmen zu können, während ich nicht einmal von meinen Sympathien sprechen durfte und dahin gehen mußte, wo nichts zu tun war. Auf einer der Stationen sah ich einige Polen, die in ihre Heimat eilten, da sie dort auf eine Erhebung hofften. Die jungen Freiwilligen sprachen ihnen in heiteren Worten Mut ein und sagten: »Wenn wir da unten (in Schleswig-Holstein) fertig sind, kommen wir euch zu helfen.« Die Jugend in ihrer großmütigen Begeisterung kannte den Zweifel nicht am Gelingen der Revolution und am Siege der Freiheit. Sie kannte noch die kleinlichen nationalen Eifersüchteleien nicht, die sich nur allzubald entwickelten und ebensowohl von den Demokraten als von den Reaktionären genährt wurden, und die einen bekannten Demokraten sagen ließen: »Wenn der Haß zwischen Slaven und Deutschen noch nicht existierte, so müßte man ihn schaffen.« Traurige Worte, deren Resultate nur den Tyrannen zugute kamen!

In ihrem großmütigen Eifer fanden die jungen Leute es sehr natürlich, den Deutschen zu helfen, Deutsche zu sein, [150] und den Polen zu helfen, Polen zu sein. Gewiß hätte keiner von ihnen angestanden, den Polen denjenigen Teil ihres Landes wieder herauszugeben, den Deutschland, nach jener grausamen Teilung, unrechtmäßig besaß. Wie mein Herz diesen großmütigen Worten Beifall zollte! Wie wenig es mir in den Sinn kam, daß diese frischen Lippen, die jetzt so hoffnungsreich Worte des Mutes und der Begeisterung sprachen, in wenigen Wochen für immer stumm, daß diese leuchtenden Augen geschlossen sein würden, um sich nicht mehr zu öffnen, daß dieses Blut umsonst vergossen sein würde.

Die große Bewegung hatte doch auch ein schwaches Zucken in unserer kleinen, abgelegenen Residenz verursacht. Revolutionäre Szenen hatten vor unserer Ankunft stattgefunden. Man hatte sich vor dem alten Schloß, in dem wir einst die Marseillaise gesungen hatten, versammelt, um die Zusammenberufung der Kammer zu fordern, die unter der Regierung dieses Fürsten nie zusammengetreten war. Der Fürst hatte natürlich nachgeben müssen, da die zwei Kanonen, die das Arsenal ausmachten, einer abschlägigen Antwort wohl keinen Nachdruck hätten geben können. Es war vorauszusehen, daß die Kammer, die aus einigen dreißig Deputierten bestand, zunächst das Budget nachsehn und die hohen Ausgaben für das Theater streichen würde. Der Erbprinz, der, nach deutscher Sitte, sich im Militärdienst eines großen Staates »würdig« für seine dereinstigen Regentenpflichten vorbereitete, war zur Zeit nicht anwesend, sonst würde er vielleicht versucht haben, seinen Vater von solchen Konzessionen zurückzuhalten. Er war sehr durchdrungen von den Vorzügen seiner Stellung von Gottes Gnaden und hatte gegen eine Dame, die in der Stadt lebte, wo er in Garnison stand, in einem Gespräch über die Pariser Februarrevolution geäußert: »Wenn wir auf Paris marschieren, so werden wir, glaube ich, Heinrich V. auf den Thron setzen und nicht die Orleans, denn die Legitimität muß konsequent sein.«

Einige der höheren Angestellten, gegen die sich der Zorn des Volkes mit Fenstereinschlagen, Auspfeifen in den Straßen [151] und andern mehr geräuschvollen als gefährlichen Demonstrationen kundgegeben hatte, gingen mit niedergeschlagenen Augen, mit eingeschüchtertem und gedemütigtem Aussehn einher, während sie früher durch eine gewisse Arroganz und durch Vornehmtun gegen Geringere bekannt gewesen waren. Ein junger Mann, den man früher als eifrigen Demokraten gemieden hatte, war jetzt der Löwe des Tages. Er stand an der Spitze der Bewegung, redete zu dem Volk, beruhigte den Aufstand und empfing mit herablassendem Lächeln (denn er war kein ernster Mensch) die Danksagungen gedemütigter Vornehmen, die er durch seine Dazwischenkunft beschützt hatte.

Alles das hatte etwas Kleinliches und Lächerliches, denn diese kleinen Bewegungen nahmen die Formen und Namen der großen Bewegung an und waren nur tragikomisch. Man hätte in ihnen Stoff gefunden, um die Revolution besser zu verspotten, als Goethe es mit der großen Revolution seiner Zeit getan. Dennoch war auch in diesen kleinen Vorgängen eine ernste Seite. Es war der Aufschrei der Unterdrückten gegen die »kleinen« wie die »großen« Tyrannen.

Die »Kleine« war nicht daheim, als ich zurückkam. Sie war zu Besuch bei ihrem Großvater und einem der größten Mittelpunkte der Bewegung nahe. Sie wurde aber in Kürze mit ihrem Bruder zurückerwartet. Mit welcher tiefen inneren Seligkeit sah ich diesem doppelten Wiedersehn entgegen! Es war das Licht, das in meine Seele zurückkehren sollte. Ich hatte es sehr nötig. Die Briefe Theodors waren in den letzten Wochen immer kürzer und seltener geworden, ja hatten endlich ganz aufgehört. Es war eine schmerzvolle Entbehrung für mich, aber ich entschuldigte ihn völlig wegen der sich überstürzenden Ereignisse, in denen er ganz und gar aufging. In meiner Seele stieg auch nicht der leiseste Zweifel auf; das Band, das uns vereinte, war heiliger als das, das der Priester segnet; es war das Band einer Liebe ohne Berechnung und eines Vertrauens ohne Grenzen.

Ich besuchte sehr häufig seine Mutter, mit der sich eine neue Intimität, auf anderer Grundlage wie die frühere, gebildet [152] hatte. Sie war ihrem geliebten Sohn zum Teil in die Freiheit gefolgt. Sie selbst blieb eifrige Christin, aber sie war entschiedene Demokratin geworden und tolerant bis zu solchem Grade, daß sie es verstand, wie ihre Kinder und ich dem Ideal treu bleiben konnten, auch wenn wir uns von den christlichen Dogmen lossagten. Bei ihr fand ich die Sympathie, die mir im eigenen Haus versagt war, und wenn mein Herz zu voll war, ging ich, es bei ihr zu erleichtern. Eines Tages saßen wir auch in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa beieinander, und sie las mir aus den Briefen ihres Sohnes vor, in denen er ihr die Schilderung der Ereignisse gab, an denen er teilgenommen hatte. Er schrieb, daß sein ganzer Tag der Teilnahme an den öffentlichen Ereignissen gewidmet sei, und »am Abend«, fügte er hinzu, »eile ich in den kleinen Garten in die Laube; ich helfe die Wolle wickeln, während wir friedlich plaudern; das ist meine Erholung«.

Wenn ein vergifteter Pfeil urplötzlich inmitten eines friedlichen Festes das Herz trifft, kann die Wirkung nicht schrecklicher sein, als die war, die das Lesen dieser wenigen Zeilen bei mir hervorbrachte. Wem gehörte dieser Garten, diese Laube? Wem leistete er die kleinen Dienste? Welches waren diese Plaudereien, die seine Erholung ausmachten? Alles das schien seiner Mutter so wohl bekannt, daß sie ohne ein Wort der Erklärung darüber wegging. Warum wußte ich allein nichts davon? Ich war zu stolz, um zu fragen, aber ich fühlte einen eisigen Hauch über das wehen, was noch einige Augenblicke zuvor eine blühende Oasis in der Wüste meines Lebens gewesen war. Während ich scheinbar noch dem Rest der Vorlesung zuhörte, mein Sinn aber wie versteinert an dieser einzigen Stelle haften blieb, öffnete sich leise die Stubentür und der Kopf der »Kleinen« im Reisehut schaute herein, hinter ihr der des Bruders. Sie hatten zu Haus eine Überraschung machen wollen, die Zeit ihrer Ankunft nicht vorausgesagt.

[153] Das war denn das Wiedersehn, dem ich mit allem, was heilig und liebend in mir war, entgegengesehen hatte!

Er reichte mir die Hand mit befangenem Wesen; ein flüchtiger Druck war der einzige Gruß nach dieser langen, traurigen Trennung, nach den harten Verlusten, die ich erlebt, nach den unerwarteten Ereignissen, die unsere teuersten, gemeinsamen Hoffnungen zu verwirklichen versprachen. Die »Kleine« drückte mich mit Inbrunst an ihr Herz und sah mich wehmutsvoll an; meine Trauerkleider mochten die Spuren der Leiden, die ich durchgemacht hatte, noch mehr hervorheben, und sie mochte in meinem Antlitz vielleicht den Ausdruck einer plötzlichen Offenbarung lesen, deren Ursache sie kannte und deren Wirkung sie fürchtete.

Ich verließ sie bald, denn ich hatte es nötig, allein zu sein, um dem Unglück, das, obgleich noch nichts gesagt war, drohend vor mir aufstieg, in das Angesicht zu sehen.

Wer könnte die Trauer, die Qual der Wochen, die folgten, beschreiben? Ich sah ihn einigemal bei uns und an anderen Orten, aber es war nicht mehr wie sonst. Es kamen und gingen keine Briefe mehr; keine flüchtigen vertrauten Worte, keine beredten Blicke, die dem einen Herzen Botschaft vom anderen brachten, wurden mehr gewechselt. Er vermied es nicht gerade, allein mit mir zu sein, aber unsere Unterhaltung betraf allgemeine Gegenstände, als hätte es nie persönliche Beziehungen zwischen uns gegeben. Die »Kleine« war noch zärtlicher gegen mich wie früher, aber sie war offenbar verlegen und unsere Beziehungen waren peinlich. Ich kämpfte zugleich mit meinem Stolz, mit der Zärtlichkeit und der Unmöglichkeit zu glauben, daß eine Liebe wie die unsere sterben könne. Ich fühlte den Stachel der Eifersucht gegen ein unbekanntes Etwas, das mir seine Liebe entzogen hatte; was mich aber am bittersten verletzte, das war eben dies, daß er nicht frei genug war, um mir alles zu sagen, wie ich es so oft von ihm erbeten hatte. Wenn er mir frei bekannt hätte, was in seinem Herzen vorging, so hätte ich sein Vertrauen mit der Ehrfurcht vor der Freiheit aufgenommen, die er selbst [154] geholfen hatte zu entwickeln. Sein Schweigen aber und seine anscheinende Gleichgültigkeit waren eine grausame, abscheuliche Beleidigung und seiner und meiner unwürdig. Nach einigen Wochen, in dieser Qual verlebt, hörte ich, daß er nach Frankfurt ginge, um den Sitzungen des Parlaments beizuwohnen. Ich erwartete mit tödlicher Angst einen Abschied, der aufklären und gutmachen werde – ein einfaches und edles Geständnis, so wie er es der heiligen Freundschaft, die unsere Liebe hätte überleben müssen, schuldig gewesen wäre; nichts von alledem kam. Ein kurzer Abschiedsbesuch, bei dem meine Schwestern zugegen waren, ein Händedruck wie einer einfachen Bekannten – das war alles.

So ging mir dieser Stern unter, dessen Licht allein die Nacht meines Daseins erleuchtet hatte. So endete diese Liebe, die mich in allen Leiden aufrecht erhalten hatte und beinahe der Anker des Heils für meine Seele geworden war, der ich so viel geopfert hatte und noch mehr zu opfern bereit gewesen wäre!

Ich konnte noch nicht daran glauben, ich konnte den Gedanken nicht fassen, daß ein Gefühl, das so tief, so unauslöschlich in mir war, in ihm hätte sterben können. Ich sagte mir, daß dies nur eine vorübergehende Phase wäre, daß er zu dem Bund zurückkehren würde, den die Freiheit gesegnet hatte. Dennoch wollte ich Gewißheit haben: die unbestimmten Qualen waren nicht zu ertragen. Einige Tage nach seiner Abreise ging ich zu der »Kleinen« und bat sie, mir die Wahrheit zu sagen, ohne irgend etwas zu mildern oder zu verstecken. Sie zögerte einige Augenblicke, es wurde ihr schwer, mir zu antworten; aber sie blieb unserer Freundschaft würdig und sagte mir einfach, daß ihr Bruder eine Neigung für die Frau seines besten Freundes gefaßt habe, in der Stadt, wo er das letzte Jahr verbracht hatte; daß sie die Neigung erwidere, obgleich sie ihren Mann hoch verehre; daß beide mit diesem letzteren darüber gesprochen hätten, der sich höchst edel benommen habe, und daß auf gemeinsamen Beschluß Theodor die Stadt für längere Zeit verlassen hätte.

[155] Ich konnte zuerst kein Wort sagen nach diesem Bekenntnis. Im Zustande der Ungewißheit, des Zweifels, verlangt man heiß nur nach dem einen: Gewißheit; auch die schrecklichste Wahrheit scheint besser als der Zweifel. Wenn aber das Urteil unwiderruflich gefällt, wenn die trostlose Wirklichkeit entschleiert ist, was gäbe man nicht, um wenigstens für Augenblicke den Zweifel, die Möglichkeit, noch zu hoffen, zurückrufen zu können!

Endlich fragte ich: »Warum mir nicht davon sprechen?«

Die »Kleine« antwortete mir, daß sie ihren Bruder auch dringend aufgefordert habe, mit mir darüber zu reden, daß er sich aber nicht dazu habe entschließen können, indem er selbst überzeugt sei, daß jene Neigung nur ein vorübergehendes Gefühl sein werde, von dem er mir keine Rechenschaft geben könne. Die »Kleine« überhäufte mich mit Zärtlichkeit und Liebe, aber ich konnte auch selbst ihr nicht den Abgrund von Schmerz zeigen, der sich in mir geöffnet hatte. Es war die Öde und die Einsamkeit des Grabes.

Zu Haus verriet ich nicht mit einer Silbe mein trauriges Geheimnis. Ich wollte Theodor noch bewahren vor dem Haß, den die Meinigen gegen ihn gefühlt haben würden, hätten sie die ganze Tiefe meines Schmerzes gekannt. Aber in der Nacht, als ich allein war, fing ein Kampf zwischen Tod und Leben in mir an. Mein Herz schlug, als wollte es seine Bande sprengen, und der Tod wäre mir eine willkommene Erlösung gewesen. Endlich aber hörte ich, (wie schon so oft in meinem Leben) eine Stimme aus der Tiefe meiner Leiden herauf, die mir sagte: »Sterben wollen, um nicht mehr zu leiden, ist Schwäche. Lebe für das Ideal, um das Gute in dir und um dich her zu vollbringen!« Und als der Tag kam, hatte ich das Leben mit seinen harten Konsequenzen von neuem auf mich genommen, aber es schien mir, als wäre ich nicht mehr ich selbst. In solchen Nächten wie die, die ich verbracht hatte, entschieden sich die Geschicke der Menschen. Wenn der Mensch siegreich daraus hervorgeht, so ist es, um auf ewig ein Diener, ein Kämpfer der Idee zu sein. Zufolge [156] der verschiedenen Naturen wird diese Idee zum Fanatismus, der das Individuum verschlingt und an die Stelle der persönlichen Selbstsucht die starre Selbstsucht eines Prinzips setzt, wie bei Ignatius von Loyola, oder sie wird zur Flamme der weltumfassenden Liebe, die alle erlösen möchte, wäre es auch mit dem Opfer des eignen Selbst, wie bei Jesus von Nazareth. Oder endlich, in Verhältnissen, die weniger zur äußern Tat treiben, wird sie der Schild der eigenen persönlichen Würde, die unversehrt aus jedem Kampf hervorgeht und über alle Enttäuschungen siegt.

Ich versenkte mich mehr als je in meine Studien, und besonders suchte ich solche Lektüre, die auf die Ereignisse des Tages Beziehung hatte. Mehreremal die Woche ging ich zu der »Kleinen« und las mit ihr und ihrer Mutter. Beide hatten ihre Zärtlichkeit gegen mich verdoppelt, gleichsam wie um den Sohn und Bruder zu entschuldigen, obgleich nie ein Wort mehr, ihn betreffend, zwischen uns gewechselt wurde. Wir lasen unter anderem zusammen Fichtes Reden an die deutsche Nation. Sie schienen für den Augenblick, in dem wir uns befanden, geschrieben, und waren ein Beweis dafür, wie lange Zeit ein Volk braucht, um seine Propheten zu verstehen. Die Ideen über die Volkserziehung interessierten uns am meisten; wir besprachen sie mit Begeisterung. Die Notwendigkeit, diese Erziehung auch auf die Frauen auszudehnen, wurde mir klar. Dieser Gedanke beschäftigte mich Tag und Nacht. Wie könnte ein Volk sich selbst regenerieren und frei werden, wenn seine eine Hälfte ausgeschlossen wäre von der sorgfältigen, allseitigen Vorbereitung, die die wahre Freiheit für ein Volk ebensowohl wie für die Individuen verlangt? Wie könnte die Frau, in deren Händen die erste Erziehung des künftigen Staatsbürgers liegt, sein Herz und seinen Geist zur Erkenntnis seiner Pflichten heranbilden, wenn sie selbst sie nicht kennt, wenn sie kein Band zwischen sich und dem Leben ihres Volkes fühlt? Wie könnte der Mann je in vollem Umfang seine Pflicht im öffentlichen Leben tun, wenn ihm daheim am häuslichen Herd nicht ein großes Frauenherz zur Seite stünde, [157] das teilnimmt an seinen großen Interessen und bereit ist, ihnen, wenn es sein muß, sogar das persönliche Glück zu opfern?

Inzwischen hatte sich die Kammer unseres kleinen Ländchens versammelt, ebenso wie die Kammern aller deutschen Einzelstaaten, ungeachtet des in Frankfurt tagenden Parlaments. Unter den Abgeordneten befanden sich einige wenige aufrichtige Demokraten, zugleich gebildete und interessante Männer. Die »Kleine«, die in dieser Beziehung ebenso mächtig in ihrem Hause war, wie ich ohnmächtig in dem meinigen, vermochte ihre Eltern leicht, diese Herren, zusammen mit einigen anderen ausgezeichneten Demokraten der Stadt, öfter abends bei sich zu vereinen. Unter den letzteren zeichnete sich besonders ein junger Mann aus, ein philosophischer Geist, radikal in seinen Ansichten, ein edler Charakter und unerschütterlich konsequent in Wort und Tat. Er war ein Universitätskamerad Theodors und, wie dieser, Theolog gewesen, hatte sich aber auch wie dieser völlig von der Theologie losgesagt. Er war mir von Anfang an besonders interessant und bezeigte auch mir warme Sympathie. Wir besprachen in diesen Vereinigungen alle Lebensfragen der Zeit, besonders die sozialen, die uns allen weit wichtiger erschienen, als die politischen. Ich begann die verschiedenen sozialen Systeme zu studieren; jener junge Mann (den ich vorzugsweise den »Demokraten« nennen will) gab mir die Bücher. Eine der Fragen, die am meisten zwischen uns besprochen wurde, war die Abschaffung des Erbschaftsrechts. Die Idee ergriff mich mächtig, sie schien mir einen ganzen Kodex einer neuen Moral zu enthalten.

Das persönliche Eigentum, die Frucht der Arbeit abzuschaffen, schien mir ungerecht, wo nicht unmöglich. Daß aber das Eigentum mit dem Tode dessen, der es erworben, aufhöre, fand ich vernünftig. Zunächst würde das die ungeheure Macht des Kapitals beschränken und die Eltern zwingen, ihren Kindern eine solche Erziehung zu geben, daß sie durch eigene Anstrengung selbständig werden könnten. Jedes Individuum [158] würde zur Arbeit greifen müssen, um leben zu können, und damit würde vielen Lastern vorgebeugt werden, die aus der Faulheit infolge angeerbter Reichtümer entspringen. Je mehr ich diese Idee in mir durchdachte, desto vernünftiger erschien sie mir.

Diese Vereinigungen und diese Studien gaben meinem Leben wieder einigen Reiz. Doch mußte ich immer schwer dafür büßen, denn sie mißfielen meiner Familie im höchsten Grade. Unser Arzt, der zugleich Freund des Hauses und in der Stadt als einer der bedeutendsten Männer angesehen war, fand eines Tages auf meinem Schreibtisch die »Soziale Politik« von Julius Fröbel aufgeschlagen liegen. Er war empört darüber und sagte meiner Mutter, daß er seiner Tochter niemals erlauben werde, ein solches Buch zu lesen. So groß waren noch die Vorurteile und die Beschränktheit der Ansichten damals in den gebildetsten Kreisen in Deutschland! Meine Mutter wußte, daß sie in meiner Lektüre keine Vorschriften mehr geben konnte, denn dazu war ich nicht mehr jung genug, aber es war ihr äußerst peinlich, und sie zeigte es mir offen, wie sehr ihr solche Studien mißfielen. Die anderen Mitglieder der Familie vermieden mich fast und sahen mich wie ein verlorenes Wesen an. Wenn ich abends von meinen Freunden heimkehrte, erwiderte man kaum meinen Gruß, setzte das Gespräch mit doppeltem Eifer fort, um mir nicht die Zeit zum Sprechen zu lassen, oder man schien so vertieft in die Arbeit, daß man meinen Eintritt nicht bemerkte. Ich setzte mich zu den Mahlzeiten und Familienzusammenkünften mit dem bitteren Gefühl nieder, als eine Schuldige angesehen zu werden für Überzeugungen, die allein mir das Leben noch erträglich machten und ihm einen Wert gaben. Ich kann nicht sagen, was ich litt, und meine Leiden wurden noch vermehrt durch das Bewußtsein, anderen auch solche zu verursachen, denn meine Mutter besonders litt grausam, eine von ihr so sehr geliebte Tochter auf dem, ihrer Ansicht nach falschen Wege zu sehen und sie ausgestoßen zu wissen aus der Gesellschaft, in der sie einst ein [159] Liebling gewesen war. Meine früheren Bekannten vermieden mich jetzt wirklich ganz offen. In meiner Gegenwart wurde das Gespräch gezwungen, man vermied seine Gesinnungen auszusprechen, ich schwieg über die meinigen. Um das Anathem, unter dem ich lebte, zu vollenden, erhielten meine Mutter und meine Schwestern eines Tages eine Einladung zu einem Diner am Hof, von der ich ausgeschlossen war. Das war der offene Krieg; ich gehörte zu den Feinden der Monarchie und die kleinen Götter unseres Olymps rächten sich an mir durch ihre Nichtachtung. Für meine Mutter war es ein schwerer Schlag; ihr Stolz empörte sich, und sie lehnte die Einladung ab; meine Schwestern allein gingen hin.

Außerdem aber fühlte meine Mutter sehr wohl, daß ich eine tödliche Wunde im Herzen trug. Sie haßte von nun an den Urheber meiner Leiden, um so mehr, da sie noch immer glaubte, daß er allein an meinen Verirrungen schuld sei; ich verriet jedoch nie mit einem Wort, was vorgegangen sei. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, ihn angeklagt zu sehen, und ich glaube, daß es für die wahre Liebe keinen bitterern Schmerz gibt, als die Schuld des Geliebten eingestehen zu müssen. Man kann sie sich selbst in Gedanken längst eingestanden haben, aber sie von andern verurteilen zu hören, ist unerträglich. Auch konnte ich es nicht ertragen, bedauert zu werden, und ich glaube auch, daß jeder tiefe Schmerz diese stolze Scham hat.

Aber je weniger ich davon sprach, desto gewaltiger war mein Leiden. Ich hatte einige Zeit nach dem Bekenntnis der »Kleinen« an den Bruder geschrieben; ihm gesagt, daß ich alles wüßte; daß das einzige, woraus ich ihm einen Vorwurf mache, das sei, nicht eine höhere Idee von mir gehabt und mir alles selbst gesagt zu haben. Ich fügte hinzu, daß ich noch vollständig für ihn in dieser unglücklichen Neigung fühlen könnte, und daß ich weiter nichts verlange, als unsere Freundschaft fortzusetzen, die Vertraute seines inneren Lebens zu bleiben. Es schien mir, als müßte dieser Brief den Weg [160] zu seinem Herzen finden. Die uneigennützigste Liebe, die über sich selbst gesiegt hat, hatte ihn diktiert.

Dennoch blieb er ohne Antwort! Ich begriff dies grausame Schweigen nicht, das eine andere Saite in meinem Herzen zerriß. Aber die grenzenlose Liebe, die ich für ihn gehabt hatte, wollte nicht sterben.

Ach, wenn die Männer die Tiefe und Selbstlosigkeit der wahren weiblichen Liebe kennten, sie würden anders handeln. Wenn, durch eine jener seltsamen Strömungen, die ein Herz zum andern ziehen, eine zweite Liebe die Stelle der ersten einnimmt, so müßte der Mann immer den edlen Mut haben, dies zu bekennen und müßte so der Frau, die er geliebt hat, es möglich machen, ihm die Freundschaft zu bewahren, die jeder Liebe folgen soll. Er würde dadurch dem Schmerz seinen bittersten Stachel nehmen. Eine Liebe, die ebensowohl die Vereinigung zweier Intelligenzen wie zweier Herzen war, müßte Freundschaft bleiben, wenn sie aufhört Liebe zu sein, und die Befriedigung der Intelligenz würde die Leiden des Herzens mildern, bei einer Frau, deren Geist ebenso entwickelt wäre, wie ihr Herz.

Die Verhandlungen des Frankfurter Parlaments dauerten fort, und auf der Rednerbühne daselbst ertönten herrliche Reden, in denen die edelsten Ansichten über die höchsten Fragen der Menschheit entwickelt wurden. Man sah es bei dieser Gelegenheit recht, welch ein Volk von Denkern das deutsche Volk gewesen war, und wie schnell dem vorbereitenden Gedanken sich nun die Worte, ja glänzende Rednergaben zur Verfügung stellten, wie andere Völker sie erst in langer parlamentarischer Übung entwickeln. Noch war auch jedes Herz gläubig und zweifelte nicht, daß dieser glänzenden Reife der Anschauungen, diesem hohen Flug der Gedanken das praktische Können zur Seite stehen werde. Die Grundrechte des deutschen Volkes erschienen, kurz, prägnant, alles umfassend, was ein Volk braucht, um glücklich und mächtig zu werden. Sie wurden, als Flugblätter gedruckt, durch ganz Deutschland verbreitet, und es gab fast keine Hütte, wo man sie nicht [161] an die Wand angeschlagen und voller Hoffnung gelesen hätte. Ich selbst brachte mehr als eins dieser Blätter in die Wohnungen der Armen, die ich noch eifriger besuchte wie früher, denn ich konnte ihnen ja nun die gute Nachricht bringen und ihren Blick auf eine bessere Zukunft lenken. Ich begriff jetzt, warum die Priester und ihresgleichen es so leicht haben, das Volk zu trösten. Sie brauchen ihm nur das Paradies hinter den Wolken zu versprechen, das es für ein Leben voll Elend entschädigen soll, wobei ihre Verantwortlichkeit nicht in Gefahr kommt. Die Demokratie aber hatte eine schwerere Aufgabe übernommen. Sie wollte dem Volke die Erde geben, ihm die Möglichkeit schaffen, ein menschenwürdiges Dasein hienieden zu führen. Es war unendlich schwerer, dies neue Evangelium zu predigen, denn hier mußte man seine Versprechungen wahr machen. Doch fing das Volk an zu hoffen und zu begreifen, daß ein Tag kommen könne, wo der alte Fluch, den es allein geerbt hatte, gehoben werden könne. Ein armes Weib, das mit vielen Kindern in einer wahren Höhle lebte und von Krankheit, Hunger, Elend jeder Art zu einem Skelett geworden war, sagte mir unter strömenden Tränen: »Ja, wenn es so ist – wenn meine Kinder ein besseres Leben erwartet, dann will ich gern gelitten haben.«

Die schönste der Frankfurter Verhandlungen war die über den öffentlichen Unterricht. Was Fichte und andere Patrioten einst verlangt hatten, war erfüllt, ja übertroffen. Ich vergoß Freudentränen, als ich diese Verhandlungen las. Ein Volk von vierzig Millionen Seelen hatte nicht nur durch die Grundrechte die Garantie alles dessen, was zu einer menschlichen Existenz gehört, erlangt, durch die Annahme der Beschlüsse über den öffentlichen Unterricht erhielt es auch die Garantie eines geistigen Lebens durch das Mittel der Erziehung. Wissenschaften und Künste sollten nicht mehr von den begünstigten Klassen monopolisiert werden; ihr tröstendes Licht sollte in die Hütte des Armen, wie in den Palast des Reichen, dringen. Der Unterricht war obligatorisch. Bis [162] zu einem gewissen Alter durften die Kinder nicht zu einer andern Arbeit als der der Schule verwendet werden, damit sie später, wenn auch die Arbeitszeit vernünftig beschränkt sei, am häuslichen Herd die Freude des geistigen Lebens, die ihnen der Unterricht eröffnet hatte, finden könnten – diesen neuen Gast, der überall sich im Kreise der Familien niederlassen und den Stall des Lasttiers in eine Wohnung menschlicher Wesen verwandeln sollte.

Im Herbst kam Theodor von Frankfurt zurück. Aber nur auf wenige Tage. Er war zum ersten Redakteur einer der bedeutendsten demokratischen Zeitungen in Norddeutschland ernannt. Es war dies für den Augenblick die beste Tätigkeit für ihn, da die Presse nun frei war und so viel neue Ideen zu verbreiten waren, die der Entwicklung helfen sollten. Außerdem war es auch pekuniär eine vortreffliche Stellung. Ein Jahr früher hätte dieser Umstand unser beiderseitiges Leben verändert, denn unsere Vereinigung wäre die unmittelbare Folge davon gewesen, jetzt wurde er ein Grund zu weiterer Trennung. Völlig von meiner Familie geschieden, die ihn haßte, kam er nur zu einem kurzen Höflichkeitsbesuch, und ich sah ihn nur zwei-oder dreimal ganz flüchtig. Ich war mehreremal auf dem Punkt, zu ihm hinzugehen und zu ihm im Namen jener Freundschaft zu sprechen, die nur durch sein grausames Verstummen einen anderen Charakter erhalten hatte. Es schien mir unmöglich, daß er mir anders als mit jener sanften Freundesstimme antworten könne, die so lange der Trost meines Lebens gewesen war. Wenn er mir gesagt hätte: »Verzeihe mir! Ich war zu jung, um mein eigenes Herz zu kennen; bleibe meine Freundin« – hätte ich ihn nicht verstanden? Aber er hatte nicht den moralischen Mut, den Mut der wahren Freiheit, die sich bedingt fühlt und es einzugestehen wagt. Eine Dame, die ihn auch sehr lieb gehabt hatte und unsere Geschichte kannte, sagte mir einige Jahre später: »Seine Trennung von Ihnen ist der einzige dunkle Fleck im Leben dieses Menschen.« Ich kämpfte schmerzlich in mir gegen die Versuchung, mit ihm zu reden, [163] aber der Stolz, der in seiner ganzen Stärke erwachte, sowie das Zartgefühl hielten mich zurück; denn in diesem Augenblick weniger wie in jedem andern wollte ich ihn daran erinnern, daß mein Herz heilige legitime Rechte hatte: die einer Liebe, die auf der Ehrfurcht für die Freiheit beruhte.

Er schied, um seine Tätigkeit zu beginnen. Ich hielt mir natürlich seine Zeitung. Sie trat mit glänzenden Leitartikeln auf, so wie nur er sie schreiben konnte, in denen der unerbittliche Kritiker mit dem begeisterten Poeten zusammenging und nicht nur zerstörte, sondern auch herrlich schuf. Ich las sie mit schmerzlichem Entzücken; hier war er noch immer der Mensch, den ich ganz und überzeugt geliebt hatte. Als sein Geburtstag kam, konnte ich dem Wunsche nicht widerstehen, ihm ein Zeichen der Erinnerung zu geben. Ich schrieb ihm einige Worte, die einfach meine Wünsche für sein Glück ausdrückten. Dieses Mal antwortete er mir auch – nur wenige, aber gute, sanfte Worte, und fügte hinzu, indem er zum erstenmal an die Vergangenheit rührte: »Wir lebten zu ausschließlich einer im andern; es war natürlich, daß ein Bruch kam. Wenn Sie koketter gewesen wären, so hätten Sie die Position anders benutzt, und Sie hätten gesiegt. Es versteht sich, daß ich Ihr Lob singe, indem ich dieses sage.«

Zum ersten Male sah ich es hier, welche Macht die Koketterie selbst über bedeutende Männer hat. Ich hatte von jeher diesen weiblichen Fehler tief verabscheut und hatte geglaubt, daß die Offenheit und Wahrheit eines Gefühls seine edelste Zierde sei. Nach diesem Briefe sagte ich mir mit schmerzlichem Erstaunen, daß, wenn ich hätte rechnen können in meiner Liebe, wenn ich mein Seelenleiden hinter der Anziehung der Intelligenz, die immer stark ist bei einem geistreichen Mann, hätte verbergen können, wahrscheinlich alles anders gekommen sein würde.

Wie viel Gelegenheit hatte ich noch später im Leben, die Schwäche bedeutender Männer koketten und kapriziösen Frauen gegenüber zu bemerken! Dem Manne gefällt die immer zu erneuende Eroberung, die die kokette Frau ihm [164] auferlegt, während die einfache, wahre Frau in ihrer Hingebung nichts anderes verlangt, als das Gebäude des Lebens friedlich im Schatten ihrer Liebe aufzubauen.

Meine Stellung im Hause wurde täglich unerträglicher. Die Meinigen, trotzdem sie edel und gut waren, waren fast grausam gegen mich, nur weil ich andere Ansichten hatte als die ihren, und mit Menschen umging, die ihnen, ihrer Grundsätze wegen, nicht sympathisch waren. Es war die Tyrannei der Familie, die sich in diesem Fall noch auf den bedauernswerten Grundsatz stützte, daß die Frau nicht für sich selbst denken, sondern auf dem Platz, den ihr das Schicksal angewiesen hat, bleiben soll, einerlei ob ihre Individualität dabei untergeht oder nicht. Meine Schwester fragte mich eines Tages: »Gibt es denn wirklich etwas, was du mehr liebst als deine Familie?« und als ich dies bejahte, schüttelte sie traurig den Kopf und sagte: »Ja, dann ist alles klar.« Es war eben die alte Geschichte: man muß Vater, Mutter, Geschwister verlassen, um dem Messias zu folgen. Aber trotzdem ich mich in meinem Rechte fühlte, war ich nicht weniger traurig darüber, daß ich sie leiden machte und daß ich die Kluft sich erweitern sah, die unsere gegenseitige Liebe zu verschlingen drohte.

Die »Kleine« und ihre Mutter taten alles Mögliche, um mich zu trösten, um die Traurigkeit, die mich verzehrte, zu mildern. Aber die Harmonie, die bei ihnen herrschte, ließ mich doppelt das Elend meiner Lage fühlen. Ich empfing daher mit Freude die Einladung einer jungen Berliner Dame, die ich während eines kurzen Aufenthaltes, den sie bei Verwandten in unsrer kleinen Residenz machte, näher kennen gelernt hatte und die mich nun aufforderte, für einige Zeit zu ihr zu kommen. Die »Kleine« beschwor mich, zu gehen, um mich in etwas auszuruhen und zu sammeln. Ich selbst natürlich wünschte es dringend. Die preußische Kammer in Berlin war noch der einzige leuchtende Punkt, der von der Revolution übrig war; das Frankfurter Parlament ging zu Grunde seit der Wahl des Reichsverwesers, Johann von [165] Österreich. Die Freiheit der Entwicklung war von diesem Augenblick an vorbei, und die Reaktion zog mit vollen Segeln, unter dem Schutz des österreichischen Absolutismus und Jesuitismus, wieder ein. In Berlin hielt die radikale Partei noch stand und kämpfte tapfer.

Ich war aber so niedergeschlagen und matt, daß ich kaum den Mut hatte, die Einwilligung zu dieser Reise zu verlangen. Ich fand jedoch keinen großen Widerstand, da man jene junge Dame nicht für exzentrisch hielt, und so konnte ich gehen. Als ich auf der Reise war, fühlte ich mich wie einem Gefängnis entflohen. Dennoch war ich traurig und gebeugt und lebte erst ein wenig auf nach dem herzlichen Empfang, den mir meine liebenswürdige Wirtin bereitete, und als die interessanten Szenen, denen ich beiwohnte, meine Gedanken in etwas von ihrem gewöhnlichen, traurigen Nachsinnen losrissen. Ich hatte Berlin noch nie gesehen und war angenehm überrascht von so manchem Großartigen, was mir hier entgegentrat. Ich fühlte mich befreit von der drückenden Enge der kleinen Verhältnisse und begriff mehr als je, daß dem Menschen Raum nötig ist, Raum für den Gedanken, für die Tat, mit einem Wort: die Freiheit, nach seiner Überzeugung und dem innersten Bedürfen seiner Natur zu leben. Ich ging natürlich oft in die Kammersitzungen und wohnte Verhandlungen von höchstem Interesse bei, wo der entschiedenste Radikalismus stets den Sieg behielt. Die Abschaffung der Todesstrafe und des Adels wurde mit großer Majorität beschlossen. Man ging viel gerader auf das Ziel los wie in Frankfurt.

Doch mischten sich in diese Erfolge schon die dunkelsten Befürchtungen. Die Reaktion erhob siegend ihr Haupt, und man sah einen schrecklichen Kampf nahen, einen Kampf auf Leben und Tod. Ein Freund meiner Wirtin, Abgeordneter der Linken, kam, so oft er einen Augenblick Zeit hatte, uns zu sehen und uns über die Lage der Dinge zu berichten. Schon war das Netz gesponnen und zum Zusammenziehen fertig, in dem die Revolution gefangen und erstickt werden[166] sollte. Meine Freundin und ich waren in großer Aufregung. Wir gingen täglich aus und mischten uns unter die Volksgruppen, die in den Straßen zusammenstanden und leidenschaftlich diskutierten, ohne eigentlich klar zu wissen, was man zu fürchten habe und wie man handeln solle. Bei uns war alles bereit, um im Fall der Not jenen Freund, den Deputierten, aufzunehmen, zu verstecken und ihm fortzuhelfen, denn man fürchtete einen Gewaltstreich gegen die Abgeordneten. Daß man die Kammer auflösen und Berlin in Belagerungszustand erklären werde, schien abgemacht, nach den Truppenmassen zu urteilen, die zusammengezogen wurden. Die Aufregung unter den Arbeitern und den Studenten war ungeheuer. Wir hatten uns am Nachmittag auf den Platz begeben, wo die Kammer tagte, und standen mit einer Menge Arbeiter, alles ernste, entschlossene Menschen, zusammen, denen wir mitteilten, was wir durch den Deputierten wußten. Plötzlich ertönte militärischer Lärm, und zu gleicher Zeit rückte von mehreren Seiten her Kavallerie heran und fing an, den Platz zu besetzen. Den Abgeordneten wurde befohlen, auseinanderzugehen, und sie, nur der Gewalt weichend, zogen nun in geordneter Prozession zum Hause hinaus über den Platz, um sich dann zu verteilen. Es war ein trauriger Anblick, und uns allen, die wir dastanden, kochte das Blut vor Empörung und Schmerz. Die letzte Hoffnung der Revolution war vorbei. Der Belagerungszustand wurde wirklich erklärt. Man fürchtete Widerstand von seiten der Bevölkerung, es konnte zu einem Bombardement der Stadt kommen. Meine Freundin beschwor mich zu gehen, um meiner Mutter willen, da sie vor dieser nicht die Verantwortung des Unglücks, das mir hätte widerfahren können, übernehmen wollte. Ich hätte nun im Gegenteil bleiben mögen, um die Gefahr mit der Freundin und dem Volk zu teilen, die Kindesliebe siegte jedoch und ich beschloß zu gehen, nur um meine Mutter nicht zu tödlich zu ängstigen, aber ich ging abermals mit schwerem Herzen und beneidete meine Freundin, die am Orte bleiben konnte, wo eine große Entscheidung [167] eintreten mußte. Noch einmal erlitt ich die schreckliche Qual, das Zentrum des großen Lebensstromes, den Kampf, der den heiligsten Interessen galt, verlassen zu müssen.

Meine Freundin begleitete mich an den Bahnhof. Wir fanden ihn ganz mit Militär besetzt, das die Abfahrenden überwachte. Die Wartesäle waren gedrängt voll von Menschen, die geradezu flohen, um dem Schicksal, das die Regierung über die Stadt verhängen zu wollen schien, zu entgehen. Es war völlig, als ob der Feind vor den Toren stände. Ganze Familien aus allen Schichten der Gesellschaft drängten sich da zusammen. Die Ärmeren führten ihr Hab und Gut mit sich, Vorräte, Betten, Kleidungsstücke. Die Kinder weinten, die Frauen waren außer sich, die Männer bestürzt. Ich schloß meine Freundin mit heißem Schmerz in die Arme und stieg in den enorm langen Zug. Im Waggon, wo ich saß, wurden die finstersten Möglichkeiten besprochen. Plötzlich hielt der Zug an. In einem Nu waren alle Köpfe heraus, um zu sehen, was es gäbe; man fragte, man schrie; ein großer Teil der Reisenden sprang heraus, obgleich zu beiden Seiten der Bahn tiefe Gräben waren. Endlich erfuhr man, daß das Volk in Potsdam die Schienen aufgerissen und man dem Zug das Signal gegeben habe, zu warten, bis es möglich sei, weiter zu fahren. Die Gespräche, die sich nun entspannen, zeigten, wie sehr die Furcht sich schon wieder der Gemüter bemächtigt habe. Der Geist, der die Märztage hervorgerufen hatte, war im Erlöschen. Der Fall von Wien, der Belagerungszustand in Berlin hatten den Glauben an die Revolution erschüttert. Die Reaktion siegte.

Wir kamen in Potsdam erst in der Nacht an. Da war auch alles voll von Soldaten, und es war ein solches Gedränge, daß ich ratlos dastand und nicht wußte, wie ich zu meinem Gepäck kommen sollte. In meiner Verlegenheit war es mir eine angenehme Überraschung, als sich plötzlich ein junger Offizier mir nahte, sich verbeugte, seinen Namen nannte und seine Dienste anbot. Es war ein junger Mann, mit dem ich früher auf Bällen zusammengekommen war; er hatte mich erkannt. [168] Ich nahm in diesem Augenblick seinen Schutz willig an, obgleich er zu den Feinden des Volks gehörte und jeden Augenblick berufen werden konnte, es zu bekämpfen. Er begleitete mich bis zu dem Gartenhause des Großvaters der »Kleinen«, das außerhalb der Stadt lag und woselbst dieser in Zurückgezogenheit vom öffentlichen Leben die Tage des Alters verbrachte. Ich wollte dort für die Nacht um Gastfreundschaft bitten. Ich mußte lange und wiederholt an der Glocke ziehen, bevor man öffnete. Endlich fragte eine Stimme schüchtern, wer da sei. Sobald ich meinen Namen genannt hatte, wurde ich eingelassen. Ich fand den ehrwürdigen Greis mit seinen beiden Töchtern, von denen die eine die geistvolle Tante Theodors war, noch im Salon vereinigt, obwohl es schon spät war. Sie empfingen mich auf die liebenswürdigste Weise und entschuldigten sich, nicht früher haben öffnen zu lassen. Sie hatten aber Furcht gehabt, es könne ein unwillkommener Besuch sein, da man in diesen Tagen mehrere Exzesse gegen einige Würdenträger der Kirche begangen hatte. Sie baten mich freundlichst, einige Tage zu bleiben, und ich nahm es dankbar an, da ich nur zu froh war, noch etwas in der Nähe von Berlin bleiben und die Entscheidung abwarten zu können. Am folgenden Tage kam die erschütternde Nachricht, daß Robert Blum in der Brigittenau bei Wien erschossen worden sei. Das erste Opfer der wütenden Reaktion war also gefallen. Danach konnte man sich nur auf die traurigsten Dinge gefaßt machen. Die Reaktion mußte sich schon sehr stark fühlen, da sie es gewagt hatte, den geliebten Volksmann, einen der besten Charaktere, eine der praktischesten Intelligenzen der ganzen revolutionären Partei, zu töten. Von nun an konnte sie alles wagen.

Mein Herz war schwer von düstern Ahnungen, von Zorn und Schmerz. Ich zitterte noch für ein anderes Leben; für Julius Fröbel, der mit Blum zusammen nach Wien geschickt war und über dessen Schicksal noch nichts verlautete. Ich kannte ihn nicht persönlich, nur aus Theodors Schilderungen, der eng mit ihm befreundet war, und aus seinen Schriften. [169] Ich war aber seit einiger Zeit mit ihm in Korrespondenz und nahm den innigsten Anteil an ihm. Der Gedanke, daß er Blums Schicksal wahrscheinlich werde teilen müssen, war mir entsetzlich. So verließ ich Potsdam in tiefen Seelenqualen am Abend, um heimzukehren. Außer mir waren im Waggon nur zwei Herren, die ich gleich für Mitglieder der äußersten Rechten des aufgelösten Parlaments erkannte. Ich hatte die Augen geschlossen, schlief aber die ganze Nacht nicht. Die Herren, die sich mit einer Schlafenden allein glaubten, sprachen ohne Rückhalt zusammen. Sie kehrten nach Hause zurück, freuten sich, daß »die Geschichte« vorüber sei, daß die Tage der Ordnung wiederkehren würden, und daß der Pöbel nun endlich haben werde, was er verdiene. Der eine, der ganz eingeweiht schien in das geheime Getriebe der »höhern Politik«, erzählte mit Wohlbehagen, wie die Auflösung der Kammer und der Belagerungszustand längst vorbereitete Maßregeln gewesen seien und wie man nur die Rückkehr der Truppen aus Schleswig-Holstein und »das Ende dieser Geschichte« abgewartet habe, um gegen die Revolution in der Hauptstadt selbst vorzugehen. Der Erzählende ahnte es nicht, daß ein Ohr ihn hörte, das den Sinn seiner Worte anders erfaßte als er. Ich erkannte in dem allem, wie stark die Reaktion sei und wie sie systematisch die Netze ausgestellt habe, um die Revolutionäre zu fangen. Ach, es war deren eigne Schuld! Sie hatten die günstigsten Augenblicke versäumt und hatten nicht das Rechte zu treffen gewußt.

Mein Leben zu Hause wurde traurig, wie zuvor. Alles, was ich von meiner Reise erzählen konnte, brachte bei den Meinigen einen entgegengesetzten Eindruck hervor, wie bei mir; jedes Ereignis, von dem die Zeitungen Nachricht brachten, wurde total anders beurteilt, als wie ich es beurteilte. Meine einzige Zuflucht waren wieder die »Kleine« und ihre Mutter.

Einmal die Woche kamen wir abends dort zusammen, um gemeinschaftlich mit dem »Demokraten« philosophische Bücher zu lesen. Wir fingen mit Schleiermacher an, der den philosophischen [170] Geist auf die Kanzel mitgenommen hatte, und, ohne den vollen Mut des Zweifels und der Kritik zu haben, es dennoch vorgefühlt hatte, daß die freie Prüfung die logische, unvermeidliche Folge des Protestantismus sein müsse. Zwei Jahre früher hätten mich die Gedanken Schleiermachers ganz befriedigt. Da teilte ich noch mit ihm diese Scheu des Herzens, an den letzten Grundlagen der Überlieferung zu rühren und die letzten Folgerungen des philosophischen Gedankens zu ziehen. Jetzt sah ich, daß ich über den religiösen Liberalismus, der sich selbst täuscht, hinaus war. Nachdem ich den bittern Kelch des ersten Skeptizismus, der die Einheit des Wesens schmerzlich stört, getrunken hatte, fühlte ich mich stark und bereit, jeder Tradition zu entsagen, die vor der Prüfung der Vernunft nicht bestehen könne. Ich stimmte daher eifrig dem Vorschlag des »Demokraten« bei, Schleiermacher ruhen zu lassen und Feuerbach vorzunehmen. Bis jetzt war der mir geradezu verboten gewesen. Meine Mutter sah in ihm den Ausdruck des vollendeten Atheismus, und ich hatte selbst bisher noch eine Art Scheu gehabt, mich an die Freidenker zu wagen. Jetzt war diese Scheu verschwunden und ich stimmte bei: »Das Wesen des Christentums« von Feuerbach zu lesen. Gleich von den ersten Seiten an sagte ich sehr erstaunt: »Aber das sind ja Gedanken, die ich längst kenne: meine eignen Folgerungen, die ich nur nicht zu gestehen wagte.« Alle die angstvollen Stunden meiner Jugend mit bezug auf die Religion wurden mir nun klar und verständlich; sie hatten ihren Grund gehabt in dem Ungestüm des Gedankens, der sich auflehnte gegen ein Joch, in dem er gefangen gehalten werden sollte. Feuerbach nannte, so schien es mir, zum erstenmal die Dinge bei ihrem wahren Namen; er vernichtete für immer die Idee einer andern Offenbarung als derjenigen, die sich in den großen Geistern und den großen Herzen macht. Sein Gedanke schien sich in den letzten Worten seines Buchs zusammenzufassen: »Heilig sei uns das Brot, heilig der Wein, aber auch heilig das Wasser.« Also keine übernatürliche Verwandlung mehr, kein [171] priesterlicher Exklusivismus, sondern das ganze Leben bis in seine kleinsten Äußerungen, die Ausübung einer reinen menschlichen Moral.

Der philosophische und befreiende Fortschritt, der sich so in mir vollzog, vollendete natürlich auch meine vereinzelte Stellung in der Gesellschaft. Man ließ mich absichtlich Bemerkungen wie die folgende hören, die bei dem Urteil über ein junges Mädchen gemacht wurde: »Welch ein liebenswürdiges Geschöpf: sie maßt sich gar kein eignes Urteil an.« Man wollte mir zeigen, wie weit man mich vom rechten Wege abgewichen fände. Aber weit davon entfernt, auf jenen Weg zurückzukommen, beschäftigte ich mich im Gegenteil immer mehr mit den Gedanken an die Emanzipation der Frau, Emanzipation von den Vorurteilen, die sie bisher gefesselt hielten, zur ungehemmten Entwicklung ihrer Fähigkeiten und zur freien Ausübung der Vernunft, wie sie dem Manne seit lange gestattet sind. Trotzdem ich in so engen Verhältnissen lebte, so hörte ich doch von mehr als einer weiblichen Individualität, die vom regenerierenden Hauch, der die Welt durchweht hatte, erwacht war und sich von der dreifachen Tyrannei des Dogmas, der Konvention und der Familie befreien wollte, um nach ihren Überzeugungen und durch ihre eignen Anstrengungen zu leben. Die deutsche Frau fing an, noch eine andere Bestimmung in sich zu fühlen, als die, bloß eine gute Hausfrau zu sein – ein Titel, den man ihr stets, nicht ohne Beimischung von Geringschätzung, beigelegt hatte, da es heißen sollte, daß sie außerdem nichts sei. Ich fing an, mit der »Kleinen« Pläne zu machen. Ich wollte mittels brieflichen Verkehrs, mich mit den Frauen oder Mädchen, die mit uns gleiche Sympathien hatten, in Verbindung setzen, sie auffordern, andere Gleichgesinnte in ihren Kreisen aufzusuchen und diese zu gleichem Tun zu vermögen. So wollten wir Deutschland wie mit einem Netz einer großen Frauenverbindung überziehen, in der auch die Schwächeren, Zaghaften durch die Gemeinsamkeit Mut fassen sollten. Die bessere [172] Erziehung der Frauen, die Erwerbung verschiedenartiger Kenntnisse zur Erlangung ökonomischer Unabhängigkeit, ein weiteres Feld edler Bestrebungen – das sollte die erste Aufgabe sein, um die Frauen zunächst fähiger zu machen, die Erziehung der Jugend im patriotischen und humanen Sinn in die Hand zu nehmen und sich an dem großen Werk der nationalen Erziehung, das so viele große Männer gepredigt hatten, zu beteiligen. Noch sah ich meinen Weg nicht klar, wußte noch nicht, wie ich verwirklichen sollte, was sich in meinem Gedanken bewegte, aber ich fühlte, daß das Ziel meines Lebens hinfort sein werde, an der Emanzipation der Frauen von den engen Grenzen, die die Gesellschaft ihrer Entwicklung gesteckt hat, und von den Kleinigkeiten und der Unwissenheit, die die Folgen davon waren, arbeiten zu helfen.

Die Wunde der verratenen Liebe blutete noch immer fort im Grunde meines Herzens. Ich konnte diese Liebe nicht aus meinem Herzen reißen, und ich hätte es nicht gewollt, wenn ich es gekonnt hätte. Die Treue schien mir das Siegel der Würde eines großen Gefühls. Ich gab mich nicht ohnmächtigen Klagen und eitler Trauer hin, und es gelang mir, mein Leid zu verbergen und mein Unglück stolz zu tragen. Aber ich hätte für nichts auf der Welt die Neigung eines andern Mannes annehmen oder ein ernstes Gefühl in seinem Herzen aufkommen lassen können. Wahre Freundschaft und ernste Sympathie konnte ich teilen, wie dies z.B. mit dem »Demokraten« der Fall war, aber jene allmächtige Empfindung, wie ich sie für Theodor gehabt hatte, konnte ich nie wieder einem andern Manne widmen.

Das Schicksal überhäufte mich mit Prüfungen aller Art. Zuerst wurde ich sehr krank und war kaum, gegen Weihnachten, etwas hergestellt, als die Mutter der »Kleinen« plötzlich starb. Dies Ereignis erschütterte mich tief, nicht nur weil sie wie eine zweite Mutter für mich gewesen war, sondern auch weil ich wußte, wie Theodor sie liebte und welcher Schlag dies für ihn sein würde. Mein erster Ausgang war nun natürlich zu der »Kleinen«. Wir weinten miteinander[173] vor der geliebten Leiche. Der Vater bat mich, am folgenden Tage wiederzukommen und während des Begräbnisses bei der Tochter zu bleiben, denn in jenen Gegenden Deutschlands war es nicht Sitte, daß Frauen mit zum Begräbnis gehen. Ich wußte, daß man Theodor dazu erwartete. Die Erregung, ihn wiederzusehn, sollte zu den anderen Erregungen hinzukommen, aber ich schwankte nicht und ging am andern Tag hin. Der Flur des Hauses war mit Blumen bestreut, in der Mitte stand der Sarg. Mein lieber Lehrer von einst war in seinem priesterlichen Talar, dem langen, faltenreichen, schwarzen Mantel, den die protestantischen Prediger in Deutschland tragen und der etwas Ehrwürdiges hat. Ich trat in das Zimmer, wo die »Kleine« mit allen ihren Brüdern war. Theodor reichte mir die Hand, wir sprachen kein Wort, aber er wußte, daß ich mit ihm litt. Draußen füllte sich der Vorsaal mit Menschen, die der Verstorbenen das Geleit geben wollten, und ein Männerchor stimmte einen feierlichen Choral an beim Sarg. Wir im Zimmer lauschten regungslos den Trauerklängen. Ein gewaltiger Schmerz lag dumpf auf mir, ich wußte, daß er mir gegenüberstand an die Mauer gelehnt, und fühlte, daß sein Blick auf mir ruhte, obgleich ich nicht aufsah. Dem schönen, ernsten Gesang entstieg aber plötzlich eine Macht, die mich über mich selbst erhob. Ich zerbrach die Fessel des Schmerzes voll Stolz und Energie, ich erhob das Haupt und die Augen nach oben, denn Flügel trugen mich weit über Schicksal und Tod, in die Reihen freier Geister, würdig zu verstehen und verstanden zu werden, und bereit, vorwärts zu dringen, wäre es auch gegen die ganze Welt. Diese Bewegung war ganz spontan, ganz unbemerkt für die an dern, nur einer hatte sie gesehen und verstanden. Er kam im selben Augenblick auf mich zu, reichte mir die Hand und drückte die meine mit Innigkeit. Dann ging er, um seinen Platz hinter dem Sarge einzunehmen.

Ich blieb mit der »Kleinen« allein während der zwei Stunden, die das Begräbnis dauerte. Dann kamen der Vater und die Söhne zurück. Ersterer schloß mich gerührt in seine Arme. [174] Ich nahm Abschied, um sie sich selbst zu lassen, aber im Augenblick, als ich das Zimmer verließ, kam Theodor mir nach und sagte, er werde mich begleiten. Wir sprachen von ihr, die wir beide verloren. An meiner Haustür reichte er mir die Hand und sagte mit bewegter Stimme: »Leben Sie wohl, liebe Freundin.« Den folgenden Tag reiste er zu seiner Arbeit zurück.

Das war der letzte Tag des Jahres 1848!

18. Kapitel. Reaktion und Gefängnis
Achtzehntes Kapitel
Reaktion und Gefängnis

Die Jahrestage der Revolution von Paris, Berlin, Wien kehrten wieder. Es war ein Jahr, daß die fortgeschrittensten Völker Europas sich wie von einer gemeinsamen Inspiration bewegt erhoben hatten, um mit lauter Stimme jene Grundsätze zur Geltung zu rufen, die seit der großen französischen Revolution – der Traum aller edlen Herzen und der Schrecken aller Tyrannen gewesen waren. Welches Jahr! Welche plötzliche Blüte und üppige Fülle! Freiheit, Selbstregierung der Völker, Abschaffung der Klassenunterschiede, der Arme zu allen materiellen und geistigen Rechten der Menschen gerufen! Und dies alles verhältnismäßig ohne zu große Opfer errungen! Zwölf Monate waren nun herum, und der Fall war vollständig. Das deutsche Parlament war nicht mehr. In seinem eignen Netz gefangen durch die Wahl des Österreichers an die Spitze der Reichsgewalt, fiel es durch seine Ohnmacht, und die letzten Trümmer, die nach Stuttgart gingen, retteten nichts als ihre persönliche Ehre. Die Wahl eines radikalen Reichsverwesers kam, als kein Reich mehr da war. Die Revolution hatte sich selbst widersprochen; sie hatte nicht mehr die Macht, Gesetze zu diktieren.

Die Insurrektion in Dresden, im Monat Mai, war das letzte Zucken der sterbenden Revolution. Mit welcher tödlichen Angst las ich die Berichte über jenen Kampf! Noch einmal [175] flackerte die Hoffnung auf, daß man aus andern Teilen Deutschlands den Insurgenten zu Hilfe ziehn und dann die wahre Revolution noch daraus entspringen werde, nachdem man eingesehen, was halbe Maßregeln taugten. Während dieser Tage der Erwartung ging ich eines Morgens in das Haus meines verheirateten Bruders. Ich fand niemand von der Familie im Hause, außer dem kleinsten Kinde, das in der Wiege lag und schlief. Ich beugte mich über das unschuldige Geschöpf, und indem ich es ansah, faßte mich ein vernichtender Schmerz. Wie schrecklich war der Kontrast! Auf der einen Seite dieses schlafende Kind, das nichts wußte von dem furchtbaren Kampf, der auch vielleicht seine Zukunft bestimmte: dem Kampf zwischen dem erwachten Bewußtsein, das nach Freiheit schreit, und der brutalen Gewalt, die sie vernichtet. Auf der andern Seite das Volk, das mit seinem Blute diesen Schrei bezahlte. Und ich dabei, ohnmächtig, ohne mit helfen, ohne wenigstens mit sterben zu können! Da stieg aus der Tiefe meines Herzens ein hehres, flammendes Verlangen: das Verlangen zu leben, um der gemordeten Freiheit in den Frauen Rächer zu erziehn dadurch, daß sie fähig würden, eine Generation freier Menschen zu bilden. Es war mehr wie je meine Gewohnheit geworden, jeder tiefen innern Erregung schriftlich Worte zu verleihen. Mein Herz blutete aus zu vielen Wunden, um noch, wie früher, im Rhythmus den geheimen Balsam der Poesie zu finden. Aber ich schrieb zur Erinnerung an diese Stunde bei der Wiege eines Kindes, ehe mir der Ausgang des Dresdener Kampfes noch bekannt war, einen Aufsatz mit dem Titel: »Der Schwur einer Frau« und schickte ihn dem »Demokraten«, der mir darauf schrieb: »Ihr Schwur wird manchen Kämpfer den seinen erneuern lassen.« Dann ließ er ihn in einem demokratischen Blatte drucken.

Das Schicksal des Dresdener Aufstands entschied sich nur zu bald. Die Entmutigung hatte schon die Oberhand gewonnen; man fürchtete, den Aufständigen zu Hilfe zu kommen, man hatte keinen Glauben mehr an den Erfolg der Revolution. [176] Die Masse der Gesellschaft wollte wieder Ordnung um jeden Preis. Die preußischen Truppen kamen, um die sächsische Monarchie zu retten; Dresden wurde bombardiert, und grausame Dinge wurden verübt. Es wurde erschossen, eingekerkert, verbannt. Dann wurde wieder alles still; unten die Gräber und das erstickte Seufzen; oben die neu befestigten Throne und die erhöhte Glorie des Soldatentums. Die Grundrechte des deutschen Volks wurden den Blicken der Sterblichen wieder entrückt in die Tiefe eines verzauberten Berges, bis zu der Zeit, wo einmal wieder ein begnadigter Mensch das: »Sesam, Sesam, tu' dich auf!« sprechen würde.

Ich war fortwährend krank, den ganzen Frühling durch; ein Leiden folgte dem andern, aber ich litt noch mehr moralisch als physisch. Immer unter dem Anathem meiner Familie und der Gesellschaft, fand ich nur Trost und Erholung in meinen Studien; in der Korrespondenz mit einigen der bedeutendsten Männer der Revolution, die ich nie gesehn hatte, von denen ich aber Briefe bekam; bei meinen Armen, die ich noch eifriger besuchte als zuvor und bei denen ich, die Trösterin, getröstet wurde; endlich in meinem Umgang mit der »Kleinen«. Die letztere verließ ihren Vater nie abends, um ihn nicht zu sehr den Verlust der Gattin empfinden zu lassen, aber bei ihr versammelte sich jetzt oft ein kleiner Kreis, in dem ich mich wohl fühlte. Ein gelehrter Astronom, der in der kleinen Stadt lebte, kam regelmäßig zweimal wöchentlich, um der »Kleinen« und mir Vorlesungen über Astronomie zu halten, und indem sich mir das Universum erschloß, kam es mir zuweilen vor, als seien die ephemeren Leiden dieser Erde nicht der vielen Tränen wert, die um sie fließen. Dennoch waren auch jetzt unsere Herzen voll Besorgnis. Theodor hatte, gleich nach Aufhebung des Frankfurter Parlaments, einen Artikel geschrieben, worin er offen dazu aufforderte, die Waffen zu ergreifen und eine neue radikalere Revolution zu machen als die erste. Er war unmittelbar darauf des Hochverrats angeklagt und von der Redaktion suspendiert worden, und wir erwarteten angstvoll [177] den Ausgang seines Prozesses. Eines Abends, als unser kleiner Kreis beisammen war, erhielt die »Kleine« einen Brief von ihm. Als sie einige Zeilen gelesen hatte, füllten sich ihre Augen mit Tränen und sie warf sich in meine Arme. »Er ist zu drei Jahren Festungshaft verurteilt,« sagte sie; sie wußte, daß es mein Herz so schwer traf wie das ihre. Sein Brief war mit großer Ruhe geschrieben; er suchte die Seinigen zu trösten und sagte, er hätte gewußt, was ihm bevorstände, als er den Artikel schrieb; es erschrecke ihn auch nicht, um so mehr, da er nichts mehr zu sagen hätte, nachdem sein Aufruf vergeblich geblieben sei.

Seine Tätigkeit, seine Zukunft waren also für drei Jahre paralysiert! Drei der schönsten Jahre seines Lebens, der vollen Blüte jugendlicher Kraft! Im Augenblick, als alle Träume verflogen, als alle Hoffnungen eines traurigen Todes starben, mußte er, der von Kindheit auf das Vorgefühl des Märtyrertums, zugleich aber auch den brennenden Durst nach Leben, Tat und ernstem Kampf gehabt hatte, sich in die öde Einsamkeit des Kerkers begeben! Ich litt nicht bloß für ihn, auch aufs neue für mich, die ich ihm bei dieser Gelegenheit wieder alle Fülle der Liebe hätte zeigen und durch tausend liebevolle Erfindungen die Härte seines Schicksals hätte mildern mögen. Ich hatte fest beschlossen, mich aus seinem Schicksal auszulöschen, mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß das Gefühl, das unsterblich in mir lebte, in ihm gestorben sei. Aber in dem Augenblick konnte ich nicht umhin, ihm mit ein paar Worten meine Sympathie zu zeigen. Jedes reine, tiefe Gefühl hat in sich eine solche Unschuld, daß der Gedanke nicht kommt, man könne es verkennen. Wenn meine Liebe egoistischer, oder wenn ich kokett gewesen wäre, so hätte ich ihm nie wieder geschrieben, hätte den Menschen, der mich so grausam behandelt hatte, mit Stolz verlassen. Aber diese Liebe war die schönste Blüte meines Lebens gewesen, in ihr hatte sich alle Zärtlichkeit der Frau, der Mutter, der Schwester und der Freundin vereinigt, und wenn die Frau ihren heiligen Schmerz stolz in die Tiefe des Herzens verschloß, so [178] blieben die Mutter, Schwester, Freundin, um dem Sohn, dem Bruder, dem Freund, dessen Andenken sich nicht verwischen konnte, helfend und tröstend beistehn zu wollen. Er dankte mir mit herzlichen Worten und schrieb: »Ich wußte es, wie Sie bei dieser Gelegenheit für mich fühlten.«

Ich schrieb ihm dann, meinem Vorsatz getreu, nicht wieder. Aber als Weihnachten kam, ließ ich durch die Güte eines Bekannten, der sich in der Stadt, wo Theodors Gefängnis war, aufhielt, einen Weihnachtsbaum bereiten, mit einer Menge kleiner Gaben daran, und jener Bekannte erhielt die Erlaubnis, ihm den Baum zu schicken. Ich hatte die Freude, zu denken, daß sein Gefängnis am Weihnachtsabend hell erleuchtet sein würde von den Lichtchen am Baum, daß dieser ihn wehmütig freundlich an seine Kindheit, an seine Mutter erinnern würde, und daß die Gewißheit einer unbekannten Sympathie, die ihm in die Einsamkeit des Gefängnisses folge, ein Trost für ihn sein könnte. Er hat nie erfahren, wer ihm den Baum gesandt hatte.

Ich bin hier dem Gang der Ereignisse ein wenig vorangeeilt und kehre zum Frühling 1849 zurück. Die moralischen und physischen Leiden, von denen ich gesprochen habe, hatten mich so sehr niedergeworfen, daß das Leben mir zur Qual geworden war. Ich fühlte, daß ich eine letzte energische Anstrengung machen müsse, um wenigstens die Gesundheit zu stärken und dann zu sehn, was sich tun ließe. Ich erklärte zu Haus, daß ich ein Ende machen wolle mit den vielen medizinischen Mitteln, mit denen man mich gequält und nur schlimmer gemacht hatte, und daß ich Seebäder gebrauchen wolle. Ich hatte gespart und konnte in ökonomischer Weise reisen, ohne ein Opfer zu verlangen. Die »Kleine« wollte auch mit, ebenso die Berliner Freundin, Anna, die das Frühjahr bei der »Kleinen« verlebte. Wie viel Gutes durfte ich mir von der Kur in so sympathischer Gesellschaft versprechen! Die Meinigen waren erstaunt und betroffen durch diese abermalige Extravaganz. Der Arzt zuckte die Achseln [179] und meinte, man solle mich gehn lassen, da ich so viel Vertrauen in die Sache habe.

Der Gedanke, schon für einige Zeit dem Druck meines häuslichen Lebens zu entfliehn und das Meer wiederzusehn, richtete mich etwas auf. Es gibt Dinge in der Natur, deren Anblick beinahe auf uns wirkt, wie ein großes Ereignis – die uns befreien von der Last der persönlichen Existenz, indem sie uns dem Unendlichen, dem universellen Dasein vereinen. So ist das Meer. Ich kann nicht sagen, wie oft es mir in meinen Träumen erschienen war, ehe ich es zum erstenmal sah. Ich kannte nun nur das mittelländische Meer und verlangte heiß danach, den Ozean zu sehen. Wir reisten nach Ostende. Im Eisenbahnwagen fand ich mich neben einer jungen Frau, deren sympathisches Äußere mich sehr anzog. Sie war in Gesellschaft eines ältern Herrn und einer älteren Dame. Wir kamen bald in ein lebhaftes Gespräch miteinander, und die Rede kam auf den Kampf, der damals noch in Ungarn geführt wurde. Die junge Dame schien freudig überrascht, als ich meine Sympathien für Ungarn kundgab, indem ich sagte, wie sehr ich wünschte, daß der österreichische Despotismus unterliegen möge. Sie fing von dem Augenblick an, vertrauter mit mir zu sprechen, und da wir eine Menge gemeinsamer Beziehungen und Bekannter fanden, und unsere Ansichten völlig übereinstimmten, so flüsterte sie mir endlich ihren Namen in das Ohr, den eines bekannten ungarischen Patrioten, Franz Pulszky, dessen Frau sie war. Sie ging nach England zu ihrem Mann, der von der republikanischen ungarischen Regierung dorthin geschickt worden war. Natürlich reiste sie mit einem falschen Paß und erzählte mir die Geschichte ihrer Abreise aus Ungarn durch die Reihen der österreichischen Armee, die die Grenze besetzt hielt. Die alten Leute, die sie begleiteten, hatten sie zufällig in der Nähe der Grenze getroffen und, ohne sie zu kennen, ihre Lage nur erratend, unter ihrem Schutz durch das feindliche Lager geführt, indem sie sie für ihre Tochter ausgaben; während der Reise aber hatten sie eine große Zuneigung zu ihr [180] gefaßt und begleiteten sie nun durch ganz Deutschland und Belgien bis nach Ostende, wo sie sich einschiffen wollte. Diese Erzählungen interessierten mich so sehr, daß ich für den Augenblick alles übrige vergaß. Sie hatte ihre jungen Kinder unter dem Schutz eines Freundes, inmitten des vom Bürgerkrieg zerrissenen Landes zurücklassen müssen; das jüngste war in einer Bauernhütte geboren, während der Flucht der Mutter vor den österreichischen Soldaten. Man konnte kaum glauben, daß diese junge, zarte Frau schon so vielen Stürmen, so vielem Ungemach Trotz geboten hätte; aber sie hatte eine starke Seele, die sich nachher, in den schweren Prüfungen des Exils, in ihrer ganzen Stärke zeigte.

In Ostende angekommen, begleiteten wir sie alle abends zum Schiff, das sie nach England führen sollte. Ihre alten Begleiter blieben noch einige Tage in Ostende, in demselben Gasthof, wo wir wohnten, und wir wurden näher mit ihnen bekannt. Der alte Mann war ein deutscher Sozialist, einer der frühen Apostel des Sozialismus, die, weil sie noch zu allein standen, hinüberflüchteten über den Ozean, um in der neuen Welt die Verwirklichung ihrer Theorien zu versuchen. Er hatte sein Vermögen dabei geopfert und war, nach dem Mißlingen seiner Unternehmung, nach Europa zurückgekehrt, woselbst ihn ein Ungar beredet hatte, nach Ungarn zu gehen, als dem geeignetsten Land, sozialistische Ideen zu verwirklichen. Viele Jahre hatte er in Ungarn verbracht und nur dieselben Enttäuschungen erlebt wie in Amerika. Die Revolution und der Krieg hatten schließlich allen Träumen ein Ende gemacht, und er war im Begriff, mit seiner Frau nach Deutschland zurückzukehren, als sie die erwähnte junge Dame trafen, deren Beschützer sie wurden. Ich hatte lange Unterredungen mit ihm über theoretischen und praktischen Sozialismus. Als wir schieden, schrieb er mir in mein Reisebuch: »Alle politischen Revolutionen werden zu nichts helfen, bis man das Mittel gefunden haben wird, den großen Unterdrücker der Menschheit, den Hunger und alles Elend, das sein Gefolge ist, zu bekämpfen.«

[181] Der Aufenthalt in Ostende war für mich eine wirkliche physische und moralische Auferstehung. Einige interessante Bekanntschaften erhöhten noch die Wohltat, die diese Zeit an mir ausübte. Unter diesen Bekanntschaften war eine, die uns besonders fesselte. Wir hatten einen katholischen Priester bemerkt, der immer allein spazieren ging und gewöhnlich wie wir zu den Stunden, wo nicht viel Menschen auf den Spaziergängen waren. Er war uns aufgefallen durch seine außergewöhnliche Schönheit. Eines Tages saßen wir alle drei am Abhang des Damms nahe am Meer, und Anna hielt ihren sehr kleinen und zierlichen Fuß den Wellen entgegen, die ihn spielend mit Schaum bespritzten. Wir waren heiter, scherzten und lachten miteinander, und ganz zufällig wandte ich den Kopf rückwärts und sah den Priester hinter uns stehen, der mit feinem, aber wohlwollendem Lächeln uns zusah. Ehe wir es uns versahen, hatte er sich zu uns gesetzt und, als ob wir uns längst gekannt hätten, fing er ein Gespräch an, das bald von beiden Seiten sehr lebhaft wurde, auf religiöse Gegenstände überging und sich besonders auf den Zustand des Protestantismus in Deutschland und auf die überall entstehenden freien Gemeinden bezog. Diese letzteren, die, unter dem Namen des Deutschkatholizismus, sich von der bestehenden Kirche losgesagt hatten, schienen ihn sehr zu beschäftigen. Er sah sie natürlich als traurige Verirrungen an, da es für ihn nur eine wahre Kirche gab. Als ich ihm den Glauben an die Wunder entgegenhielt und ihn fragte, wie er den verteidigen wolle, erwiderte er, daß der nur ein Mittel sei, die schwachen Seelen und die unwissenden Massen zu stärken; die aufgeklärten Diener der Kirche glaubten selbst nicht daran und er sei gar kein wesentlicher Bestandteil der Dogmen. Er verwies uns an Bossuet und sagte, daß allein durch diesen großen Mann wir den wahren Katholizismus verstehen könnten.

Wir trennten uns, als ob wir alte Bekannte wären, und von nun an begegneten wir uns täglich, gingen stundenlang zusammen und hatten die ernstesten Diskussionen. Ich sprach [182] am geläufigsten französisch von uns dreien, und so war ich es meist, die ihm erwiderte und tapfer das Feld behauptete. Er wandte alle Feinheiten der Dialektik, alle Argumente der Einbildungskraft und des Gefühls an, um uns zu überzeugen, aber er sah, daß es vergebliche Mühe war. Endlich wurde er böse, und eines Abends, als ich ihm gesagt hatte, ich glaube weder an die Gottheit Christi, noch an die Bibel als göttliche Offenbarung, noch an den beschränkten persönlichen Gott, den die Kirche lehre, da rief er zornig: »Also sind Sie nicht einmal mehr Protestantin?«

»Nein,« antwortete ich, »ich habe es Ihnen ja bewiesen, daß es etwas gibt, was über den Protestantismus hinausgeht: der freie Gedanke und das Recht, alles am Lichte der reinen Vernunft zu prüfen.«

»Sie sind verloren und ich bedaure Sie,« sagte er, indem er kaum grüßte und uns eilig verließ. Die folgenden Tage sahen wir ihn nur noch von fern; er vermied uns sichtlich; dann verschwand er ganz. Wir erfuhren nachher, daß er ein belgischer Jesuit war, und konnten nicht umhin zu lächeln bei dem Gedanken, wie unangenehm es ihm gewesen sein mochte, so viele Mühe umsonst verschwendet zu haben. Mir hinterließ diese Begegnung ein Gefühl der Befriedigung, denn es war das erstemal, daß ich die Freiheit meiner religiösen Überzeugungen so völlig ausgesprochen und verteidigt hatte. Der Kampf für eine Idee macht sie uns teuer und macht uns unsrer selbst gewisser.

Unsere Abreise kam heran und zu gleicher Zeit die traurigen Nachrichten der Unterdrückung der badischen Revolution durch die preußische Armee und des Falls Ungarns durch Görgeis Verrat. Es war vorbei mit der Freiheit der Völker und mit meiner individuellen Freiheit. Alles mußte wieder unter das Joch. Auf der Reise führte uns der Zufall in denselben Eisenbahnwagen, in dem ein preußischer Offizier zweien Damen von den Heldentaten der Soldaten in Baden erzählte, von der Strafe, die man über diese »revolutionäre Kanaille« verhängt usw. – Wir waren außer uns vor Zorn, [183] dies ruhig mit anhören zu müssen, und beeilten uns, auf der nächsten Station einen andern Wagen aufzusuchen.

Der Winter, den ich nun zu Haus zubrachte, war noch trauriger als alle vorhergehenden. Meine Gesundheit war besser, aber meine Lage wurde immer schlimmer. Ich wurde ganz wie ein schuldiges Wesen behandelt, und jedes Vertrauen zwischen mir und meiner Familie hatte aufgehört. Mein Schwager richtete kaum noch das Wort an mich; selbst meine Nichten, junge, unbefangene Mädchen, waren zurückhaltend und verlegen in meiner Gegenwart. Ich hatte durch die »Kleine« die Bekanntschaft einer verheirateten Dame gemacht, zu der ich wöchentlich einmal abends ging, um mit ihr und einem jungen, sehr geistvollen Arzt, der auch Demokrat war, die »Philosophie der Geschichte« von Hegel zu lesen. Auch diese Abende waren in meinem Hause nicht gern gesehen. Ich fühlte das Bedürfnis, die Kenntnisse, die ich erwarb, auch für andere nützlich zu machen. Ich fing bei unseren Dienstmädchen an und ging von Zeit zu Zeit, um ihnen, während sie nähten, klarere Begriffe beizubringen, z.B. über die Bewegung der Erde um die Sonne, den Wechsel der Jahreszeiten usw. Sie waren entzückt darüber und sagten: »Ach, Fräulein, wenn doch alle dächten wie Sie, daß wir armen Menschen auch Freude daran haben, etwas zu lernen! Wie würde uns das die Arbeit leichter machen, dabei an so schöne Dinge zu denken.« – In früheren Zeiten würde meine Mutter nicht nur nichts gesagt haben, sie würde im Gegenteil froh gewesen sein, mich so etwas tun zu sehn. Jetzt glaubte sie, ich wolle Propaganda machen für meine extravaganten Ideen, und machte mir Vorwürfe, daß ich den Mädchen die Zeit nützlicher Arbeit verderbe. Ich erwiderte, daß ich nichts wollte, als die Leere der Gedanken während der Handarbeit durch Beschäftigung mit guten Kenntnissen füllen. Sie, die sonst nie streng war mit bezug auf Arbeit der Dienstboten, antwortete mir in harter Weise; ich wurde auch böse, durch ungerechte Vorwürfe verletzt, und sagte ebenfalls harte Worte, die ich sogleich bitter bereute,[184] die aber das unvermeidliche Resultat eines solchen Kampfes der Grundsätze und Ansichten, in einer Zeit harter Konflikte, waren.

Ich fühlte, daß unsere gegenseitige Liebe unter diesen ewigen täglichen Zusammenstößen und Aufregungen untergehn müsse, und daß es nur ein Mittel gäbe, sie zu retten: Trennung.

Zum erstenmal sagte ich es mir ganz klar, daß man sich von der Autorität der Familie befreien muß, so schmerzlich es auch sein mag, sobald sie zum Tod der Individualität führt und die Freiheit des Gedankens und Gewissens einer bestimmten Form der Überzeugung unterwerfen will. Freiheit der individuellen Überzeugungen und ein Leben diesen gemäß – ist das erste der Rechte und die erste der Pflichten eines Menschen. Bis dahin hatte man die Frauen von diesem heiligen Rechte und dieser ebenso heiligen Pflicht ausgeschlossen; nur die Kirche und die Ehe hatten das Mädchen berechtigt, den Platz in der Familie, den ihm die Natur angewiesen, zu verlassen. In der katholischen Kirche erlaubte man der Jungfrau, nicht nur die Familie für das Kloster zu vertauschen, sondern man machte ihr ein Verdienst daraus, und durch die Ehe verließ sie ebenfalls die Familie und folgte dem Gatten. Aber auf den anderen Gebieten der menschlichen Tätigkeit hatte man es den Frauen untersagt, eine Überzeugung zu haben und ihr gemäß zu handeln. Ich sah ein, daß es Zeit sei, dies Verbot aufzuheben, und ich sagte mir, daß ich mich selbst nicht mehr würde achten können, wenn ich nicht den Mut hätte, alles zu verlassen, um meine Überzeugungen durch die Tat zu rechtfertigen. Als mein Entschluß gereift war, dachte ich nur noch an die Ausführung. Ich sah nur ein Mittel vor mir: nach Amerika zu gehn – auf eine junge Erde, wo die Arbeit keine Schmach war wie in Europa, sondern ein Ehrentitel, durch den der Mensch seine Rechte in der Gesellschaft beurkundet. Für meine Existenz zu arbeiten wurde übrigens dann nicht bloß eine Konsequenz meiner Ansichten, sondern auch eine Notwendigkeit, [185] denn mein kleines ererbtes Vermögen hätte höchstens zur Reise und zur ersten Niederlassung dort ausgereicht. Irgendwo in Deutschland als Erzieherin eintreten, wäre eine zu große Prüfung für meine Familie gewesen, und man hätte es mir nicht erlaubt. Außerdem hatte ich auch den Wunsch, dieses alte Europa zu verlassen, wo jeder Versuch, die Freiheit zu verwirklichen, mißlang; wo der Despotismus in Staat, Religion und Familie die Völker, die Gedanken und die Individuen unterdrückte. Ich wünschte es auch endlich deshalb, um mich für immer von dem zu entfernen, dessen Andenken nicht in mir erlöschen wollte, um jenem vergeblichen Weh, daß ich sein Gefängnis weder öffnen noch teilen konnte, ein Ziel zu setzen. Auf dem Boden der neuen Welt wollte ich das Leben neu nach meinen Grundsätzen beginnen.

Der gefaßte Entschluß gab mir eine große innere Ruhe und machte mich weniger empfänglich für die äußeren Verstimmungen. Ich wurde immer nachgiebiger und geduldiger in der Familie, im geheimen Gedanken, sie auf immer zu verlassen. Dieser Gedanke war mir tief schmerzlich, dennoch fühlte ich, daß in ihm die einzige Versöhnung, die einzige Möglichkeit lag, das, was ewig in unserem Verhältnis war, zu retten. Es versteht sich, daß ich nicht von diesen Vorsätzen sprach; man würde sie für Tollheit erklärt und mich an der Ausführung gehindert haben. Nur der »Kleinen« sprach ich davon und schrieb darüber an einen der edelsten Demokraten der Revolution, Julius Fröbel, der bereits seit einiger Zeit in Amerika war, um ihn um Rat zu fragen, da ich mit ihm in brieflichem Verkehr war und ihn hochschätzte. Er antwortete mir: »Kommen Sie!« und ermutigte mich auf alle Weise.

So war ich denn fest entschlossen. Das Leben, das mich umgab, löste sich innerlich von mir ab und ich atmete schon die Luft einer neuen Heimat. Jetzt galt es nur noch, das Mittel zu finden, um die Ausführung meines Vorhabens weniger hart für die Meinen zu machen und mir schmerzliche und unnütze Kämpfe zu ersparen.

[186] Zu der Zeit hörte ich von mutigen und begeisterten Frauen, die, denselben Ideen huldigend, wie ich, in Hamburg eine Hochschule für das weibliche Geschlecht eröffnet hätten, an der den Mädchen dieselben vollständigen Mittel zu geistiger Entwicklung geboten werden sollten, wie dies auf den Universitäten für die jungen Männer der Fall ist. Ganz besonders sprach man mir von der Frau, die an der Spitze der Unternehmung stand und deren energischen edlen Charakter man mir in solcher Weise pries, daß ich große Lust bekam, ihre Bekanntschaft zu machen. Das Mittel des Übergangs schien mir gefunden; ich beschloß zunächst in diese Hochschule zu gehen und von da nach Amerika. Alles schien zusammenzutreffen, um mir diesen Weg zu zeigen. Der Professor, den man mit seiner Frau an die Spitze der Anstalt berufen hatte, war der Bruder des eben erwähnten Freundes, der mich in Amerika erwartete. Ich bewunderte innerlich die Verkettung von Ursache und Wirkung und die Notwendigkeit, mit der die Entwicklung unseres Charakters unser Schicksal wird. In dieser Logik der Dinge selbst erkannte ich die wirkliche Gottheit, die unser Leben regiert, und ich neigte mich demütig vor diesem Mysterium, das mir viel erschütternder erschien, als mir je die Mysterien des Christentums erschienen waren.

Ich nahm meinen Mut zusammen und sagte meiner Mutter, daß ich von diesem Kolleg hätte sprechen hören und mich entschlossen hätte, für drei Monate dorthin zu gehen. Ich fügte hinzu, daß sie wisse, welchen Durst zu lernen ich stets gehabt hätte, und daß ich wünschte, die Lücken meines Wissens soviel als möglich auszufüllen. Auch verhehlte ich ihr nicht, daß ich glaubte, eine Trennung auf einige Zeit werde uns gegenseitig gut tun, um die Gereiztheit zu beruhigen, die sich von der einen und der andern Seite entwickelt hatte, und um der alten Liebe zwischen uns wieder zu ihrem vollen Recht zu verhelfen. Ich war froh überrascht, weniger Widerstand zu finden, als ich gefürchtet hatte. Meine Mutter fühlte selbst, daß mein zweites Argument richtig war; sie hoffte auch [187] vielleicht im stillen, daß ein solcher Wechsel mich beruhigen und zu »gemäßigteren Ansichten« führen werde. Sie erklärte sogar, mich an den Ort meiner Wahl hinbringen zu wollen, um sich zu versichern, ob die Anstalt passend sei. Ich bereitete also meine Effekten zur Reise, mit dem geheimen Gedanken, nicht zurückzukommen. Es schien mir, als mache ich mein Testament. Ich schloß ab mit der Jugend, den Träumen der Vergangenheit und ging entschlossen der Aufgabe des reiferen Alters, der Tat entgegen. Ich wollte meinen Platz im Leben als ein verantwortliches Wesen, das sein Geschick nach seinen Grundsätzen bildet, erobern. Die Ruhe, die jeder mutige Entschluß gibt, der einer Idee entsprossen ist, die unserem Leben zur Richtschnur wird, kam über mich. Ich durchstrich noch einmal all die Orte, wo die Seele des jungen Mädchens zuerst ihre Schwingen entfaltet, wo eine reine Liebe ihr die Welt verklärt hatte. Ich nahm in Gedanken Abschied von dem Gefängnis, wo der lebte, der mir eine Zukunft als Gattin und Mutter unmöglich gemacht hatte. Noch einmal lieben, wie ich ihn geliebt hatte, schien mir unmöglich, und ohne eine solche Liebe schien mir die Ehe eine Entweihung. Ich hatte andere Ziele gewählt; ich diente einer Idee, ich kämpfte für ein Prinzip.

Ich schrieb ihm nicht. Die Entscheidung, die ich getroffen hatte, stärkte mich in diesem Entschluß. Ich liebte ihn noch tief und schmerzlich, aber ich konnte nicht umhin, in dieser wunderbar ausgestatteten Natur eine Klippe zu sehen, an der er vielleicht selbst, jedenfalls aber noch manches andere Herz in bitterem Weh scheitern würde, und die ich nicht anders bezeichnen kann, als wie den Don-Juanismus des Ideals. So wie der sinnliche Don Juan in jeder schönen Form Befriedigung der Sinne sucht, so sucht der andere Don Juan in jeder schönen Seele das Ideal, von dem seine Phantasie erfüllt ist. Er hält den Zug, der ihn zu diesem oder jenem Wesen hinzieht, für die bleibende Liebe, und doch genügt ein Blick, eine Melodie, ein augenblickliches sympathisches Empfinden, um seine Phantasie anderswo zu fesseln. Er ist [188] sicher der Gefährlichere von den beiden, denn die Wunden, die er schlägt, treffen edle Herzen und sind unheilbar, weil man auch in ihm das Ideal geliebt hat.

Ich wußte durch die »Kleine«, daß ihr Bruder nach jener Frau, um derentwillen er mich verlassen hatte, noch mehreren edlen weiblichen Wesen nähergetreten war, ohne daß eine dieser Neigungen sein Leben ausgefüllt und sein Geschick bestimmt hätte. Jetzt, im Gefängnis, schien ihn ein neues Gefühl einzig zu beherrschen. In der ersten Zeit seiner Gefangenschaft hatte er einen überraschend schönen, geistvollen Brief von einer unbekannten Dame erhalten, die ihm die Sympathie, mit der sie stets seine Artikel gelesen, und die Teilnahme, mit der sein Geschick sie erfüllte, ausdrückte, die aber nur ihren Vornamen unterzeichnet hatte, da sie ihm gleichsam eine mythische Person bleiben zu wollen schien. Betroffen von dem Geisteszauber, der ihn aus diesen Zeilen anwehte, hatte er nicht nachgelassen, bis er, durch Poststempel usw. geleitet, die Schreiberin ausfindig gemacht hatte. Von nun an hatte sich ein regelmäßiger Briefwechsel zwischen ihnen gebildet, der das Gefängnis mit Reiz erfüllte. Die Schreiberin zeigte mehr und mehr einen Geist von solcher Fülle, Tiefe und Originalität, daß ihr Bild in des Gefangenen Phantasie sich mit allen Vorzügen schmückte und jede frühere Neigung davor erstarb. Er träumte nur von einer Vereinigung mit ihr, nach Ablauf seiner Gefangenschaft.

Ehe ich dies wußte, hatte ich mehreremal den Gedanken gehabt, ihm anonym zu schreiben und mich nicht eher zu offenbaren, als bis er gefühlt hätte, daß zwischen uns eine unsterbliche Gemeinschaft sei. Nun ich wußte, daß eine andere auf diese Art Besitz von seiner Dichterphantasie genommen hatte, fühlte ich, daß ich eine unübersteigliche Scheidewand zwischen uns ziehen müsse. Mein Trost war, daß nicht ich die Treue, dieses heilige, urdeutsche Gefühl, gebrochen hatte. Der Unterschied unter uns war der: ich hatte ihn mit der großen weiblichen Liebe geliebt, die das ganze Leben umfaßt; [189] er mich mit der Liebe des Dichters, die nur eine Phase seines Lebens ist.

Der Tag der Abreise kam; ich verbarg meine Bewegung, als ich Abschied von meiner Familie nahm; ich glaubte, daß es für immer sei. Die Trennung von der »Kleinen« war tief schmerzlich, denn wir wußten beide, was sie zu bedeuten hatte, aber wir wußten auch, daß wir den gleichen Weg zum gleichen Ziele gingen, und das erhob uns über den Schmerz.

Ein großer Kummer war es mir, meine Armen zu verlassen. Ihnen gehörte meine letzte Fürsorge und Zärtlichkeit. Die letzte, zu der ich vor meiner Abreise ging, war ein Mädchen von fünfundzwanzig Jahren, die ganz allein stand in der Welt, beinah blind war und nichts mehr tun konnte als stricken, was sie denn auch den ganzen Tag in einer kleinen, halbdunkeln Stube tat, wo sie von dem geringen Beistand, den ihr die Gemeinde gab, lebte. Ich hatte oft stundenlang bei ihr gesessen, um die Grabes-Einförmigkeit ihres Lebens durch belehrende Gespräche zu vermindern, die ihr Gegenstände des Nachdenkens in ihrer Einsamkeit hinterließen. Als ich sie verließ, in der Meinung, sie nicht wiederzusehn, ließ ich etwas Geld auf ihrem Tisch zurück, als eine letzte Gabe. Doch fand ich vor der Abreise noch einen freien Augenblick, den ich benutzte, um sie noch einmal zu besuchen. Da sagte sie, sie habe mir etwas zu gestehen; sie habe das Geld, das sie auf ihrem Tisch gefunden, einem armen Mädchen vom Lande gegeben, das, durch einen schlechten Menschen verführt, dann von ihm verlassen, nun auch von den übrigen Menschen zurückgestoßen, mit ihrem Kind im äußersten Elend wäre. »Ich dachte,« setzte sie hinzu, »daß sie des Geldes mehr bedürfte als ich; ich habe wenigstens soviel, um nicht Hungers zu sterben, und ich habe kein Kind.«

Mir fiel der Pfennig der Witwe ein; ich beugte leise und gerührt mein Haupt, als die Halbblinde mich zum Abschied segnete, und fühlte, daß mich dieser Segen von der Geringschätzung [190] rein wusch, mit der mich meine Bekannten von ehedem behandelten, denen ich übrigens zum größten Teil gar keinen Abschiedsbesuch machte.

19. Kapitel. Ein neues Leben
Neunzehntes Kapitel
Ein neues Leben

Ich hatte der Frau des Professors Karl Fröbel, der der Hochschule vorstand, geschrieben, um sie wegen der Möglichkeit der Aufnahme usw. zu fragen. Sie hatte mir geantwortet, ich solle so bald als möglich kommen. Meine Mutter und meine Schwester begleiteten mich nach Hamburg, wo sich das Institut befand. Ich ließ sie im Gasthof und begab mich allein in die Anstalt. Ein eignes, beinah feierliches Gefühl erfaßte mich, als ich die Schwelle des Hauses, in dem ich ein neues Leben beginnen wollte, überschritt. Ich war keine junge Schülerin mehr, die Belehrung suchte für das kommende Leben; ich war ein gereiftes Wesen, das aus den Konflikten des Daseins zu der einzigen wahren Zuflucht flüchtete: zu einer edeln, fruchtbringenden Tätigkeit.

Der Professor und seine Frau empfingen mich mit solcher Herzlichkeit, daß ich mich gleich wie zu Hause fühlte. Es wurden mir fünf oder sechs junge Damen vorgestellt, alle längst der Schule entwachsen, die von auswärts gekommen waren, um hier ihre Bildung zu vollenden und die im Hause wohnten. Am Abend machte ich auch die Bekanntschaft der eigentlichen Begründerin der Anstalt, von der ich schon so viel gehört hatte. Emilie Wüstenfeld war eine von den mächtigen Persönlichkeiten, die, zu scharf ausgeprägt, zunächst durch einige eckige und gleichsam absolute Seiten ihres Wesens auffallen, die aber durch nähere Bekanntschaft immer mehr Achtung und Liebe einflößen und wahrhaft mit ihren höher steigenden Zwecken wachsen. – Sie empfing mich auf das herzlichste, und indem sie mir ihre Pläne auseinandersetzte, ersah ich, daß meine Träume hier eine Form gewinnen würden. Die ökonomische Unabhängigkeit der Frau möglich[191] zu machen durch ihre Entwicklung zu einem Wesen, das zunächst sich selbst Zweck ist und sich frei nach den Bedürfnissen und Fähigkeiten seiner Natur entwickeln kann – das war das Prinzip, auf das die Anstalt gegründet war. Man muß sagen, daß hier, wie auch in anderen deutschen Städten, der Gedanke der Emanzipation der Frau sich infolge der freien Bewegung in der Kirche entwickelt hatte. Die freien Gemeinden, die sich zuerst von der katholischen, dann auch von der protestantischen Kirche, unter dem Namen Deutsch-Katholiken, Lichtfreunde usw. trennten, hatten seit der Revolution von achtundvierzig einen mächtigen Aufschwung genommen. Alle großen und viele kleine Städte Deutschlands besaßen solche. Die Reformatoren, die an der Spitze dieser Gemeinden standen, waren mehr oder weniger bedeutende Männer, aber sie handelten alle so ziemlich in gleichem Sinne. Die Unabhängigkeit des Gemeindelebens vom Staat, die eigne Verwaltung in den religiösen Angelegenheiten und denen des Unterrichts, die freie Wahl der Prediger und Schullehrer durch die Gemeinde selbst, die Gleichheit der bürgerlichen Rechte für Männer und Frauen – das waren so ziemlich überall die Grundlagen. In einigen Gemeinden strebte man sogar auch in den äußeren Formen nach der Einfachheit der ersten christlichen Zeit; man redete sich allgemein mit Du an und feierte die Kommunion wie Liebesmahle der Brüderlichkeit. Andere hatten Abendmahl, Taufe und andere Zeremonien des Kultus ganz abgeschafft, da sie ihnen keine Ideen mehr vorstellten. Sie tauften nur noch aus ziviler Notwendigkeit, um den Kindern ihre bürgerlichen Rechte zu sichern. In Hamburg hatte die freie Gemeinde, durch Johannes Ronge in das Leben gerufen, zahlreiche warme Anhänger gefunden. Die Frauen, die die Hochschule begründeten, hatten aber eingesehen, daß es nicht genug wäre, den Frauen gleiche Rechte mit den Männern in der Gemeinde zuzugestehen, sondern daß man ihnen auch die Mittel reichen müßte, würdig von diesen Rechten Gebrauch zu machen. Nun gab es eben für die Frauen, wie für das Volk, nur ein Mittel, die Freiheit [192] zum Segen zu gestalten: Bildung. Die gewöhnliche, bis dahin allgemein angenommene Ansicht, daß die Erziehung des jungen Mädchens aufhört, wenn sie die Schule verläßt, daß sie dann nichts zu tun hat, als in die Gesellschaft einzutreten, sich zu verheiraten und, im besten Fall, das häusliche Leben durch ihre Talente zu verschönern – diese Ansicht bedurfte einer gründlichen Reform. In der Hochschule wollte man also den Mädchen, die die Schule verlassen hatten, oder solchen, die, schon im reiferen Alter, noch das Bedürfnis fühlten, die Lücken in ihrer Bildung auszufüllen, die Gelegenheit geben, höhere Studien aller Art zu verfolgen, entweder zu dem Zweck, eine Spezialität zu ergreifen, oder nur aus sich selbst ein vollendeteres Wesen zu machen. Die Anstalt wurde von einer Anzahl Aktienbesitzer erhalten, deren größere Zahl verheiratete Frauen und Familienmütter waren, die in ihrer eigenen Erfahrung die Überzeugung geschöpft hatten, daß das Leben noch eine andere Grundlage haben muß, als die bloße Hingebung an ein anderes Wesen. Die Aktienbesitzer bildeten den großen Verwaltungsrat des Instituts; daneben bestand aber noch ein anderes Komitee, das über die inneren Fragen der Anstalt entschied, gebildet aus den Frauen, die den Grund zu der Anstalt gelegt hatten, und den Professoren, die darin Vorlesungen hielten. Die Überwachung des häuslichen Lebens war dem erwähnten Professor und seiner Frau anvertraut. Für die Vorlesungen waren die ersten Gelehrten der Stadt gewonnen worden. Im Anfang hatten diese Herren wenig Vertrauen in die Sache gehabt, weil sie an der Ausdauer und Energie der Frauen bei ernsten Studien zweifelten. Sie hatten den Versuch nur aus Achtung und Freundschaft für die edeln Unternehmerinnen, besonders für Emilie, gewagt. Aber schon als ich ankam, fand ich ihr Interesse sehr lebendig, und es steigerte sich immer mehr, je mehr sie den Eifer ihres Auditoriums und die Fähigkeiten, die sich überraschend kund taten, sahen. Als ich mich am ersten Abend in das mir bestimmte Zimmer zurückzog, fühlte ich, daß ich den wahren Übergang zu einem neuen Leben gefunden [193] hatte. Am folgenden Tag führte ich meine Mutter und Schwester in das Institut und hatte die Befriedigung, sie zufriedener damit zu sehen, als ich zu hoffen gewagt hatte. Nach einigen Tagen schieden sie und ich blieb allein – allein zum erstenmal im Leben, entschieden, mir meinen Weg zu bahnen ohne andern Führer als mein Gewissen, ohne andere Stütze als meine Arbeit, ohne andere Belohnung als die Achtung derer, die mich so achten wollten, wie ich war.

Ich machte die Bekanntschaft der Professoren, die die Vorlesungen hielten. Zunächst wohnte ich allen Vorlesungen bei, um mir die auszusuchen, die mich am meisten interessieren würden. Ich war hocherfreut über den Ton, der dort herrschte. Die Lehrer bestanden darauf, daß man sie durch Fragen und Bemerkungen unterbreche, um das Studium desto anregender zu machen und ihnen die Gewißheit zu geben, daß es nicht bloß totes Hören bleibe. Unter den Zuhörerinnen waren viele Freischülerinnen, denn es war ein Hauptzweck der Anstalt, dieselbe Wohltat der Bildung ohne Unterschied Reichen wie Armen zu gewähren. Diese Mädchen brauchten nur ein Examen zu bestehen und zu beweisen, daß sie genug elementare Kenntnisse besäßen, um den Vorlesungen folgen zu können. Die Vorlesungen wurden außerdem von vielen Damen der Stadt besucht, und es fand sich mitunter, daß Großmutter, Tochter und Enkelin zu gleicher Zeit am Lehrtisch saßen. Es wurde dem Wunsche der Professoren Folge geleistet, und oft entspannen sich lebhafte Verhandlungen, so daß die Vorlesungen nie monoton oder ermüdend wurden.

Bei dem Institut befand sich ein Kindergarten und eine Elementarklasse, wo die jungen Mädchen, die Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen werden wollten, praktische Übung fanden. Auch das System des Kindergartens, von dem genialen Friedrich Fröbel erfunden, hatte sich in Deutschland zugleich mit der politischen und religiösen Bewegung rasch entwickelt. Ich hatte davon reden hören, sah es aber hier zuerst in der Praxis und war entzückt davon. Mit der Grundidee Fröbels, daß die Erziehung beinah vom ersten Lebenstage [194] an beginnen muß, stimmte ich ganz überein. Jede Mutter soll daher mit diesen Ideen bekannt sein, um schon von Anfang an das Kind dafür vorzubereiten. Vom dritten bis zum sechsten Jahr nimmt der Kindergarten die Kleinen auf und setzt das Werk der Mutter fort, bis die Elementarklasse beginnt. Daß den Kindergärten nur Mädchen und Frauen vorstehen sollten, daß Fröbel überhaupt die erste Erziehung der Kinder nur weiblichen Händen anvertraut wissen wollte, war wieder für mich ein beglückender Gedanke. An unserer Hochschule war auch ein spezieller Kursus für Kindergärtnerinnen, und diese reizende Bestimmung schien mir ganz besonders anziehend für junge weibliche Wesen zu sein. Psychologisch tief und geistvoll fand ich alle die Grundsätze, die Fröbels System zu Grunde liegen und worin sein eigentlicher Wert besteht, den oberflächliche Beurteiler nur in den kleinen Beschäftigungen und Äußerlichkeiten enthalten glauben: so vor allem die Tendenz, die Selbsttätigkeit und den Schöpfertrieb im Kinde zu wecken, indem man ihm nur Material in die Hände gibt, um selbst zu gestalten und zu schaffen, nicht aber Fertiges, das den Zerstörungstrieb reizt, der ja in den meisten Kindern im Keim vorhanden und oft nur allzu mächtig ist. Ebenso bedeutend fand ich die Wichtigkeit, die er den Bewegungsspielen, durch Rhythmus und Musik geleitet, beilegt, überhaupt alles, was er angeordnet hat mit der Absicht, von klein auf das künstlerische Element im Menschen wach zu rufen und zu nähren, da das allein der Boden wahrer Bildung sein sollte, in dem der Same des Wissens erst die rechten Früchte hervorbringen kann. Meine erste Bekanntschaft mit diesem System war eine wahrhaft beglückende. Später sah ich es oft entstellt in den Händen der Unwissenheit oder des bösen Willens, der den Angriffen gegen dasselbe den Vorwand gab. Wo immer ich es aber in den rechten Händen und im rechten Geist geleitet sah, da fand ich stets die schönsten Erfolge, und mehr als ein Lehrer von Elementarklassen hat mir versichert, daß der Unterschied in der geistigen Empfänglichkeit und Schnelligkeit [195] der Auffassung zwischen den Kindern, die nicht im Kindergarten waren, und solchen, die dort waren, durchaus zum Vorteil der letzteren wäre.

Eine andere beglückende Überraschung wurde mir zuteil, als man mich am Sonntag in die Versammlung der freien Gemeinde führte, die von allen Mitgliedern der Hochschule besucht wurde. Ein großer Saal war einfach und würdig für diese Versammlung eingerichtet; ein zahlreiches Auditorium füllte ihn und folgte mit gespannter Aufmerksamkeit der Rede eines jungen, einfach und bescheiden aussehenden Mannes, der von einer Tribüne herab zu ihm sprach. Die Rede gehörte einer bereits vor meiner Ankunft begonnenen Reihe von Betrachtungen an, in denen der Redner mit der systematischen, wissenschaftlichen Kritik der alten Dogmen die Entwicklung neuer Ideen auf allen Gebieten des menschlichen Lebens, im Staat, in der Gesellschaft, in der Familie verband. Jedes Wort, das er sprach, fand ein freudiges Echo in meiner Brust. Das war das Anbeten im Geist und in der Wahrheit, nach dem ich mich gesehnt hatte; die Religion, aus den Schranken der Kirche befreit, wurde lebendiges, blühendes Dasein, Wesen, Inhalt, und nicht leere, starre Form. Mit Entzücken sah ich den Anteil, mit dem nicht bloß Leute der gebildeten Stände, sondern Menschen aus dem Volk, schlichte Arbeiter, der Rede folgten und sich so mit jenen zu der wahren Gemeinde der geistigen Gleichheit vereinigten. Die Gleichheit im Reiche Gottes war ja bis dahin immer noch eine Lüge gewesen. Das Recht der Bildung und dessen, was den Menschen adelt: der Freiheit des Gedankens gehörte nur auf die eine Seite; so wie sogar in der Kirche, wo man den Vater aller Menschen verehrte, die begünstigten Kinder in reichem Putz auf vornehmeren Sitzen saßen, während die Aschenbrödel sich in ihren Lumpen in die Ecken drängten und mit Angst das so oft unerhörte Gebet murmelten: »Unser täglich Brot gib uns heute.« Hier in dieser Gemeinde war die Religion zu der wahren Soziologie geworden, wo auf dem Grunde allgemeiner humaner [196] Lebensanschauungen die bitteren Unterschiede des Ranges, Reichtums und der vielseitigeren Kenntnisse sich milderten und versöhnten. Das Ideal war nicht mehr in der Vergangenheit als ein absolutes ein für allemal festgestellt; es leuchtete in der Zukunft wie der Stern des Orients und zeigte den Weg.

Nach der Rede begab sich der Redner Weigelt mit Namen in ein anstoßendes Zimmer, wo ein jedes Gemeindemitglied zu ihm gehen, ihn über etwa zweifelhafte Punkte befragen und sich überhaupt mit ihm besprechen konnte. Dort entspannen sich oft noch lebhafte Verhandlungen, die nicht wenig dazu beitrugen, »das Wort« lebendig zu machen und die Gemeindemitglieder untereinander zu verbinden, da alle, Reiche und Arme, da gleichberechtigt waren. Als ich dem Redner vorgestellt wurde, sagte ich ihm, daß seine Rede mir den Wunsch erweckt habe, Mitglied der Gemeinde zu werden; daß ich wohl wisse, daß für diese eine Person mehr oder weniger nichts bedeute, daß es mir aber ebensowohl für Frauen wie für Männer eine Pflicht scheine, in Zeiten des Kampfes, wie die, in welchen wir lebten, die eigne Überzeugung rein auszusprechen und sich denen anzuschließen, die sie teilten. Er gab mir recht; nur riet er mir zu warten und die Sache näher zu prüfen, um nicht einen für meine soziale Stellung wichtigen Schritt übereilt zu tun. Ich folgte seinem Rat und fing damit an, seine Individualität zu studieren. Wenn man ihn vor der Gemeinde sprechen hörte, hätte man ihn für einen Menschen unbeugsamer Energie und von festem, kühnem Charakter halten sollen. Er war aber im Gegenteil von beinah weiblicher Sanftmut, wenig praktisch im gewöhnlichen Leben, scheu und zurückhaltend in Gesellschaft, liebenswürdig im näheren Umgang. In seinen Reden jedoch zog ihn die Logik des Denkens unwiderstehlich fort; dann war er unerbittlich konsequent. Ich widmete ihm bald eine innige Freundschaft, die ihre volle Kraft behalten hat bis auf diese Stunde, obgleich lange [197] Jahre der Trennung zwischen uns liegen und unsere Wege sich wohl nie mehr kreuzen werden.

Nach einiger Zeit ließ ich mich als Mitglied in die freie Gemeinde aufnehmen. Es war dies einfach genug: Man wendete sich an den Verwaltungsrat und wurde dann der Gemeinde vorgeschlagen, die durch allgemeine Abstimmung über die Zulässigkeit der Aufnahme entschied. Danach wurde man in die Register der Gemeinde eingeschrieben und bezahlte einen äußerst geringen jährlichen Beitrag zu den gemeinsamen Ausgaben.

Für mich war dieser Schritt jedoch bedeutungsvoll genug. Er schied mich auf immer von meiner Vergangenheit; ich sagte mich dadurch öffentlich von der protestantischen Kirche los und verband mich einer völlig demokratisch-konstituierten Gemeinschaft. Bald mußte ich die ersten Folgen davon erfahren. Ich war noch ein ganz kleines Kind, als der Fürst meines Geburtslandes einmal kam, meinen Vater zu besuchen, und mich bei ihm fand. Ich weiß nicht, ob ich ihm gefallen hatte oder aus welch anderem Grunde, kurz, er schenkte mir an dem Tage die Anwartschaft auf eine Stelle in dem ersten und reichsten adeligen Fräuleinstifte des Landes, welche Stellen unverheirateten Damen eine angenehme Unabhängigkeit gewähren. Die Prätendentinnen rücken nach der Reihe vor, sobald eine Stelle frei wird. Sonderbarerweise erhielt ich kurze Zeit nach der Aufnahme in die Gemeinde die Anzeige, daß die Reihe an mich gekommen sei, Besitz von meiner Stelle zu nehmen. Meine Mutter bat mich brieflich, nicht eine angenehme Unabhängigkeit durch meine Schuld zu verlieren. Ökonomische Unabhängigkeit war mein heißer Wunsch; ich bedachte ernstlich, ob ich dann nicht eine Schule für das Volk gründen und nach meinen Ansichten organisieren könne. Aber zunächst hätte ich den Schritt rückgängig machen müssen, den ich eben getan hatte, denn als Stiftsdame mußte ich auf das Evangelium schwören, daß ich der christlichen Kirche angehöre. Hätte ich mich aber auch selbst von der Gemeinde wieder trennen wollen, [198] so hätte ich doch nie wieder einer dogmatischen, orthodoxen Kirche angehören können, und es verstand sich von selbst, daß ich die Vorteile jener Stellung nicht mit einer Lüge erkaufen wollte. Ich erwiderte also auf die Aufforderung, mich in Besitz meiner Stelle zu setzen, daß ich aus Überzeugung der freien Gemeinde angehörte, daß ich aber, wenn man mich von jener Formalität entbinden könne, kommen würde, meine Stelle einzunehmen. Man würdigte mich nicht einmal einer Antwort.

Ich blieb bei meinem Vorsatz, nach Amerika zu gehen, und teilte ihn Emilien, dem Professor und seiner Frau mit. Sie hätten mich gern davon abgebracht wegen der Zuneigung, die sich schnell gegenseitig zwischen uns entwickelt hatte, aber sie verstanden meine Gründe sehr wohl und sie waren zu frei, um einem Entschluß, den sie natürlich fanden, entgegenzuwirken. Das Schicksal schien meinen Wünschen zu Hilfe zu kommen. Einige Zeit nach meiner Ankunft bei ihnen kam der Prediger einer freien Gemeinde mit seiner Familie und einigen Freunden dort an, in der Absicht, sich nach Amerika einzuschiffen und drüben eine freie Gemeinde zu gründen. Die Familie war sehr liebenswürdig, und ich beschloß, mich ihnen anzuschließen. Es schien mir, als habe ich zu gleicher Zeit Freunde, Heimat und Zweck gefunden, denn es mußte da viel zu tun geben, und vor allem würde man einer Schule bedürfen. Die Auswanderer erschienen in einer Abendversammlung unserer Gemeinde. Man sprach von der Zukunft der Menschheit, von der Verbreitung der freien Gemeinden diesseits und jenseits des Ozeans, vom Sieg des freien Gedankens und freier Institutionen. Man sagte sich, daß der Ozean jetzt keine Scheidelinie, sondern ein Verbindungsweg sein würde zwischen Brüdern, die in gleicher Weise an der großen Aufgabe arbeiten wollten, den menschlichen Geist immer mehr vom Joch der Unwissenheit und des Aberglaubens zu befreien und die Menschheit durch Arbeit, Wissenschaft und Sittlichkeit zu vereinen. Wie schön waren diese Stunden! Welche großmütige Empfindungen beherrschten alle Herzen! Ich war voll Freude: meine [199] Träume wurden Wahrheit. In dieser Vereinigung von Menschen aller Stände schätzte man sich nicht mehr nach der zufälligen Stellung, die man in der Welt einnahm, sondern nach dem persönlichen Wert eines jeden. Dies erschien mir die wahre, beglückende Frucht der Revolution, und ich freute mich an dem Gedanken, mit von den ersten dieser wirklich edlen Demokratie zu sein, die sich auf beiden Hemisphären bilden sollte.

Ich mußte mich doch entschließen, meine Mutter mit meinem Vorsatz bekannt zu machen, denn ich wollte nicht heimlich gehen. Ich schrieb ihr also, indem ich ihr meinen Plan auf die einfachste und beruhigendste Weise auseinandersetzte. Ich sprach ihr von dem unbekannten Freund, der mich in Amerika erwartete und an dem ich eine Stütze und einen Beschützer fände, sagte, daß sie mich außerdem aber auch zu gut kenne, um nicht zu wissen, daß ich meinen Weg auch allein ruhig und würdevoll gehen werde. Ich flehte sie an zu glauben, daß ich einer tiefen, aufrichtigen Überzeugung folgte, daß meine ganze innere Entwicklung zu diesem Ziele hingedrängt hätte, daß ich nichts täte, als mein Schicksal erfüllen, und daß ich sie bäte, mich zu lieben, so wie ich sie bis zum letzten Augenblick meines Lebens lieben würde. Kurz, meine ganze Seele war in diesem Brief, und ich erwartete die Antwort mit tiefer Bewegung, denn meine Freunde wollten bald fort, und alles mußte sich rasch entscheiden.

Die Antwort kam, traf mich vernichtend und erfüllte mich mit Staunen und Schmerz. Meine Mutter fand meinen Plan nicht nur tollkühn, sondern schuldig. Sie fand es unweiblich, daß ich einem unbekannten Mann mit so viel Vertrauen entgegengehen, und unglaublich, daß ich mich so weit von der Familie entfernen wolle. Ihr Brief war so bitter ungerecht, ich fühlte mich so rein ihren Vorwürfen gegenüber, daß eine gewaltige Empörung mein Herz ergriff. Ich kämpfte einen furchtbaren Kampf mit mir selbst durch und sah mit Haß in jenen Abgrund, in den religiöse und soziale Vorurteile die edelsten Naturen hinabziehn. Ich erkannte [200] mir vollkommen das Recht zu, diese Ketten zu brechen und meinen eigenen Weg zu gehen, sollte ich auch keine andere Billigung finden als die meines Gewissens, und keinen andern Erfolg als den, meine persönliche Verantwortlichkeit behauptet zu haben. Aber – es war meine Mutter, von der mir dieser Schlag kam; von ihr, die mich so geliebt hatte, ehe der Konflikt der Ansichten uns trennte, und die mich noch liebte trotz allem. Das entschied!

Ich antwortete ihr, daß ich stets fähig sei, meineWünsche ihrer Ruhe zu opfern, daß ich daher meinen Auswanderungsplan aufgebe, daß ich mir aber für ewig die Freiheit meiner Überzeugungen vorbehalte, daß keine Macht der Erde mich darin hindern können würde, und daß ich gerade deshalb geglaubt hätte, es würde ihr weniger peinlich sein, mich in der Ferne nach ihnen lebend zu wissen, als in der Nähe unter ihren Augen.

Der Professor schrieb zu gleicher Zeit meiner Schwester: »Ihre Schwester ist eine Idealistin und will nach ihrem Ideale leben. Man kann ihr von diesem oder jenem Schritt abraten, wenn man ihn unvorsichtig findet, aber man darf die Unabhängigkeit ihrer Handlungen nicht angreifen, und noch weniger die Reinheit ihrer Absichten bezweifeln.« Er zeigte mir den Brief und sprach mir, ebenso wie seine Frau und Emilie, die lebhafteste Sympathie aus. Die letztere machte mir den Vorschlag, im Institut zu bleiben, ihm zusammen mit der Frau des Professors vorzustehen und ganz besonders meinen Einfluß auf die jungen Mädchen, die die Vorlesungen besuchten, geltend zu machen. Sie versicherte mir, daß die Damen des Verwaltungsrats sowie die Professoren fänden, daß ich ein gutes Element in das Leben des Instituts gebracht hätte, daß die Pensionärinnen mir sehr zugetan wären, endlich daß sie selbst fühle, in mir die Freundin gefunden zu haben, die sie für ihr Leben und ihre Tätigkeit brauche. Ich hörte das alles voll Rührung. Zum erstenmal kam mir das Bewußtsein, daß ich eine Individualität geworden war, die eine gewisse Macht ausübte, und dieses [201] tröstende Bewußtsein kam mir gerade in dem Augenblick, in dem ich so tief verletzt worden war, in dem mein Leben wieder dem Zufall anheimgegeben schien, da ich wirklich nicht wußte, was beginnen, weil die Rückkehr in meine Familie mir nun ganz unmöglich war. Ich nahm daher Emiliens Vorschlag mit Dankbarkeit an. Eine Tätigkeit in Übereinstimmung mit meinen Anschauungen – das war es ja, was ich gesucht hatte. Ich hatte sie mir freilich anders suchen wollen, auf einer freien Erde, fern von den schmerzlichen Erinnerungen der Heimat, und ich sah meine auswandernden Freunde nicht ohne tiefe Wehmut ziehen. Aber ich nahm das Opfer an als Sühne für den Schmerz, den ich, ohne es zu wollen, meiner Mutter bereitet hatte.

Ich trat meine neue Aufgabe mit Eifer an und hatte bald die Freude, die jungen Mädchen sich mit Liebe um mich scharen zu sehen. Eine der ersten Maßregeln, die ich einzuführen versuchte, war die Teilung der Arbeit, indem ich das Beispiel gab. Um der Anstalt, die nicht reich war, die Ausgabe, viele Dienstboten halten zu müssen, zu ersparen, brachte ich jeden Morgen mein Zimmer selbst in Ordnung, und bald taten die übrigen Bewohner dasselbe. Nicht nur befand sich die Ordnung des Hauses dabei besser, sondern ein jeder fühlte für sich die gesunde Wirkung einer körperlichen Bewegung und Tätigkeit am Anfang des Tages, die nachher die Sammlung bei der geistigen Arbeit doppelt genießen ließ. Außerdem beschlossen wir Einwohnerinnen des Instituts, unsere feine Wäsche selbst zu waschen, um so wieder eine Ausgabe zu ersparen. Einmal die Woche standen wir dann im Garten fröhlich um einen Waschtrog, und während die Hände Wäsche rieben, besprachen wir Gegenstände aus den Vorlesungen, oder sonst irgendwelche wichtige Fragen, die durch letztere angeregt waren. Die schönste Folge überhaupt dieses Zusammenlebens war das totale Verschwinden aller kleinlichen Interessen, aller Klatschereien und Eitelkeiten, die sonst nur zu oft das Zusammensein von Frauen bezeichnen und ihnen mit Recht vorgeworfen werden. Unser Leben war [202] zu schön erfüllt, um der Frivolität noch Raum zu lassen. Wir taten die gröbere Arbeit, weil es zum Vorteil der Anstalt diente, die unser aller höchstes, geistiges Interesse war, und wir fühlten uns nicht dadurch gedemütigt, weil die niedrigste Arbeit, wenn sie eine Pflicht ist, den Menschen ehrt. Aber wir legten dieser Arbeit auch nicht mehr Wichtigkeit bei, als sie verdiente, denn wir hatten etwas Besseres in unserem Leben, das uns neue Horizonte öffnete und uns in uns selbst die Fähigkeit der Frau zeigte, eine neue, edlere Stellung im Leben einzunehmen. Ich sah die schönsten Veränderungen in den Charakteren der Schülerinnen vor sich gehen. Mehr als eine Mutter erkannte dankend an, wieviel harmonischer und edler ihre Töchter würden; viele der begabtesten Schülerinnen, denen bisher alle häusliche Beschäftigung und Handarbeit ein Greuel gewesen war, suchten diese jetzt einfach mit der geistigen Arbeit zu vereinen; die Leichtsinnigen wurden ernst, die Faulen fleißig; es war eine Strömung, die sie alle zum Guten fortriß.

Die Lehrer, die anfangs so ungläubig gewesen waren, wurden immer begeisterter für ihre Aufgabe. Sie fanden eine viel regere Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit unter dem weiblichen Auditorium, als sie je unter dem männlichen gefunden hatten, und die Fragen, mit denen man sie meist noch nach den Stunden bestürmte, zeigten ihnen, daß sie nicht ins Leere gesprochen hatten.

Das Leben des Instituts beschränkte sich indeß nicht bloß auf die Vorlesungen und das häusliche Zusammensein. Einmal in der Woche war auch eine gesellige abendliche Vereinigung. Auch hier herrschte ein neuer, belebter Ton: Freiheit ohne Ausgelassenheit, Geist ohne Affektation. Die Jugend umgab das Alter, um zu lernen durch Fragen und Hören. Die Bedeutenden gaben sich willig den Gesprächen hin, in denen man von ihnen mit Ehrfurcht das Beste verlangte, was sie zu geben hatten. Ausgezeichnete Fremde, die durch Hamburg kamen, ließen sich an diesen Abenden einführen, und es kam mehr als einmal vor, daß Literaten und [203] Dichter ihre geistigen Produkte da vorlasen, ehe sie noch dem größeren Publikum übergeben wurden. Besonders schön waren die allgemeinen Besprechungen, die von Zeit zu Zeit über wichtige soziale Fragen stattfanden. Jemand aus der Gesellschaft stellte die Frage von seinem Gesichtspunkt aus hin, und nun entspann sich die Diskussion, an der sich alle beteiligen konnten, und bei der sich die Frauen und Mädchen, auch die schüchternsten, endlich gewöhnten, ihre Ansicht auszusprechen, und sich so von der falschen Scham zu befreien, durch die so manches gute Wort oft ungesagt oder mancher noch unklare Gedanke unentwickelt bleibt.

Trotzdem mein Leben im Institut schon erfüllt genug war, so besuchte ich doch auch regelmäßig die Vereinigungen der Gemeinde am Sonntagmorgen und einmal die Woche abends. Diese letzteren waren der Geselligkeit und der Besprechung der Gemeindeangelegenheiten gewidmet. Die Arbeiter und ärmeren Gemeindemitglieder kamen dahin mit ihren Frauen und Kindern und saßen an denselben Tischen mit den Begüterten und sozial höher Gestellten. Man sprach zusammen wie unter Gleichgestellten über politische, religiöse, wissenschaftliche Dinge, und die Frauen nahmen lebhaften Anteil an allem. Derjenige Gegenstand, der die Gemeinde damals am meisten beschäftigte, war die Gründung einer konfessionslosen Gemeindeschule. Es sollte eine Kommission, aus drei Männern und drei Frauen bestehend, ernannt werden, um die Schule zu organisieren. Die Wahl wurde durch allgemeines Stimmrecht der Männer wie der Frauen bestimmt. Als die Zettel aus der Urne gezogen und die Namen verlesen wurden, kam der meine so oft vor, daß ich ganz beschämt war, denn obgleich ich bereit war, alles zu tun, um nützlich zu sein, hatte ich doch noch immer eine große Schüchternheit, sobald es galt, irgendwie öffentlich aufzutreten. Als unser lieber Prediger mir anzeigte, daß ich gewählt war, hätte ich es fast lieber abgelehnt, da ich mir auch noch nicht genug praktische Kenntnisse zutraute für die Organisation eines solchen Werks. Aber das freundliche Zureden von allen Seiten bestimmte [204] mich, ein Vertrauen anzunehmen, das ich bis jetzt noch durch nichts zu verdienen Gelegenheit gehabt hatte. Meine beiden weiblichen Kollegen waren Frauen von großem Verdienst und vieler Erfahrung. Der Prediger, ein anderes Gemeindemitglied und unser Professor vom Institut bildeten die andere Hälfte des Komitees. Diese neue Aufgabe ward mir sehr lieb, denn ich konnte dabei viele praktische Kenntnisse erwerben und noch andere Ansichten verwirklichen helfen als in der Hochschule. Die Schule sollte selbsterhaltend werden, aber es wurde einstimmig beschlossen, das Schulgeld nach den Mitteln der Eltern zu bestimmen, denn es schien uns gerecht, daß der Reiche mehr für die Erziehung seines Kindes zahle als der Arme, daß diesem aber dieselben Vorteile der Bildung zugute kämen wie jenem. Man überließ es der Unparteilichkeit der Kommission und der Ehrlichkeit der Eltern, über diesen Punkt bei der Annahme von Schülern zu bestimmen. Ein zweites wichtiges Prinzip, das uns zu langen Erörterungen und ernstlichen Erwägungen führte, war das des gemeinsamen Unterrichts für Knaben und Mädchen. Es wurde endlich entschieden, es nur in den Elementarklassen durchzuführen, die höheren Klassen aber zu trennen, den Mädchen jedoch genau denselben Unterricht zu erteilen wie den Knaben. Die Religion wurde völlig aus den Unterrichtsgegenständen ausgeschlossen, indem man es den Familien überließ, hierfür im Hause je nach persönlichen Ansichten zu sorgen. Die Schule sollte nur unterrichten und das sittliche Gefühl wecken durch wahre Bildung, durch humane Anschauungen und Vorführung edler Beispiele und durch die Hinweisung auf die Pflichten des Individuums in Familie, Gesellschaft und Staat.

Ich beteiligte mich endlich auch an dem großen Armenverein, der ebenfalls von den unermüdlichen Stifterinnen der Hochschule gegründet war und außerordentlich viel Gutes tat, indem er nicht bloß Almosen austeilte, sondern durch reichlich belohnte Arbeit das moralische Gefühl der Armen belebte und durch persönliche Teilnahme an ihren Schicksalen [205] sie aus der Isolierung des Elends heraushob. Ich bekam auch meine Anzahl armer Familien zu besuchen. Welches namenlose Elend sah ich da in der reichen, üppigen Stadt – welche tiefe moralische Versunkenheit! Eines Tages kam ich, ohne es vorher zu wissen, durch eine Straße, die fast nur von Prostituierten bewohnt ist. Ich sah deren mehrere an den offenen Fenstern oder vor der Tür, in der entsetzlichsten Wahrheit des Tageslichts, wenn die Schminke und der verhüllende Flitter abgestreift sind. Es war das erste Mal, daß ich solche traurige Geschöpfe sah, und ein unnennbares Mitleid mit den Unglücklichen, die durch Armut und die Sitten der Gesellschaft in den Abgrund stürzen, überflutete mein Herz. Wie empört aber wurde ich, als ich hörte, daß diese Unseligen eine Taxe an die Stadt bezahlen müssen, um ihre scheußliche Bestimmung aus üben zu können. Also profitiert der Staat von der Erniedrigung der Frau, von diesem schwarzen Flecken der Gesellschaft, von dieser Todsünde des öffentlichen Lebens! Mich ergriff ein glühender Wunsch, meine Anstrengungen nach dieser Seite hinzuwenden, und jenen Armen die neue Moral: daß die Arbeit den Menschen ehrt, statt ihn zu erniedrigen – zu predigen. Aber ich sah ein, daß auch für diese Reform der Boden erst bereitet werden mußte durch die Verwirklichung des Prinzips der ökonomischen Unabhängigkeit der Frau mittelst einer bessern Erziehung. Die Lösung der Frage konnte auch hier nur, wie überall, aus dem Grunde der Dinge selbst hervorgehen. Wie sollte man sonst eine moralische Revolution, die so tief in das Innerste des menschlichen Lebens eingriff, in Staaten hervorbringen, die die Unsittlichkeit beschützen und alle Infamie auf die Opfer des Elends und der Sklaverei zurückwerfen, während die wahren Missetäter vielleicht mit unter denen sitzen, die den Staat regieren und die Gesetze machen helfen.

So ausgefüllt, wie nun mein Leben war, blieb mir keine Zeit mehr zu vergeblichem Trauern und bitteren Betrachtungen. Ich lebte ein Leben in Übereinstimmung mit meinen Grundsätzen, und meine praktischen Fähigkeiten wuchsen mit [206] deren freier Ausübung. Ein tiefer Friede war in meinem Herzen, und eines Abends, als ich, wie es meine Gewohnheit war, vor dem Schlafengehen am Fenster stand und, in die stille Nacht hinaussehend, mein Tagewerk und überhaupt mein vergangenes Leben prüfte, sagte ich mir selbst: Ich bin wieder glücklich.

Zu dieser Zeit brachte mir ein Brief der »Kleinen« die Nachricht, daß, auf die Bitten des Vaters und die Verwendung einflußreicher Personen, besonders aber auch aus ernsten Gesundheitsrücksichten, ihrem Bruder die Hälfte der Strafzeit erlassen wäre, und daß man ihn, nach anderthalb Jahren Gefängnis, zu Haus erwartete. Dann erfuhr ich, durch einen Brief meiner Schwester, daß er angekommen war, und daß die Familie außerdem den Besuch einer jungen Dame hätte, die, wie man sagte, den glücklich Befreiten heiraten werde. Ich wußte, wer es war: die Schreiberin der schönen Briefe an den Gefangenen. Ein Schatten glitt durch diese Nachrichten über die stille Klarheit in meinem Herzen. Aber ich hatte zu gleicher Zeit die Freude, der Anstalt eine neue Pensionärin anzeigen zu können. Meine Freundin Anna aus B. schrieb mir, daß alles, was ich vom Leben der Hochschule berichte, sie so sehr anzöge, daß sie, die ganz Unabhängige, beschlossen hätte, zu kommen und ihr Leben dort auch nützlich zu machen. Sie kam, nachdem sie bei der »Kleinen« zu Besuch gewesen war. Sie hatte Theodor dort kennen gelernt und war auch hingerissen von seinem edlen Wesen. Ich fragte nach der Heirat. Da erzählte sie, daß davon keine Rede mehr wäre, indem jenes Mädchen, so ausgezeichnet und bedeutend in ihren Briefen, doch in der persönlichen Erscheinung so wenig anziehend wäre, daß das Ideal, das sich Theodor im Gefängnis von ihr gemacht hätte, in argem Widerspruch mit der Wirklichkeit stände, und daß, wenn schon Freundschaft und Achtung im höchsten Grade blieben, die Liebe sich nicht hinzugesellt hätte. Nach ihrer Abreise war Theodor in ein Seebad gereist, da seine Gesundheit in bedenklicher Weise durch die lange Haft angegriffen [207] war. Diese letzte Nachricht betrübte mich tief, aber die erste gab mir eine gewisse Befriedigung. Nicht, daß ich geglaubt hätte, das zerrissene Band könnte sich je wieder knüpfen, aber – so schwach ist das menschliche Herz! – ich sah es mit einer Art von Freude, deren ich nicht Herr werden konnte, daß keine der Neigungen, die er seit unserer Trennung empfunden hatte, sein Wesen so ganz in Besitz genommen, so ausgefüllt hatte, wie es einst mit der Liebe zu mir der Fall gewesen war.

Die Vorbereitungen für die Gemeindeschulen waren so weit fertig, daß nunmehr zu der Wahl der Lehrer und Lehrerinnen geschritten werden mußte. Es waren viele Bewerber beiderlei Geschlechts da. Die Kommission hatte sie vorgeschlagen, die Gemeinde hatte zu entscheiden. Zu dem Zweck hatten die Bewerber vor der Gemeinde ihre Ansichten über die Schulen freier Gemeinden zu entwickeln und dann eine Probestunde in einer hierzu versammelten Klasse zu geben. Wie groß war meine Überraschung, als ich einen Brief von der »Kleinen« erhielt, worin sie mir anzeigte, daß ihr Bruder den Wunsch habe, sich um die erste Lehrerstelle für die oberen Klassen zu bewerben. Das Feld literarischer Tätigkeit war ihm verschlossen, da das Wort nicht mehr frei war; der Staatsdienst unter der Reaktion war unmöglich, so blieb ihm nur die Tätigkeit in den freien Gemeinden, denen er ja seinen Ansichten nach längst angehörte. Es bewegte mich tief, daß er sich, sozusagen, an mich wandte, um sich eine neue Zukunft zu schaffen; aber ich war fest entschlossen, ihn mit der Ruhe einer Seele zu empfangen, die durch sich selbst ihr Gleichgewicht wiedergefunden hat. Ich antwortete der »Kleinen«, ihr Bruder möge zum Konkurs kommen, ich zweifle nicht, daß er den Sieg davontragen werde.

Meine Freundin Anna hatte sich mehr und mehr an mich angeschlossen. Ich liebte sie auch zärtlich, aber ich hatte zu viele Pflichten auf mich genommen, um mich ihr so ausschließlich widmen zu können, wie ihre Natur es verlangte. So kam es, daß sie sich mit großer Zärtlichkeit einem jungen [208] Mädchen zuneigte, die seit kurzem in der Hochschule war und die sich mit leidenschaftlicher Hingebung an sie anschloß. Charlotte, dies war ihr Name, wurde bald wie der Schatten von Anna, und man sah nie eine ohne die andere. Anna war seit einigen Tagen leidend, und Charlotte wich nicht von ihrem Bett. Ich hatte am Nachmittag ausgehn müssen, um meine Armen in entfernten Stadtteilen zu besuchen, und kam erst am Abend, müde und betrübt vom Anblick so vieler Leiden, zurück. Das Dienstmädchen sagte mir, es wäre ein fremder Herr oben bei Anna. Ich erriet sogleich, wer es sei, und konnte mich einer tiefen Erregung nicht erwehren. Aber ich faßte mich gewaltsam und trat mit Ruhe in das Zimmer. Im Halbdunkel des Krankenzimmers sah ich jemand an Annas Bett sitzen. Ich erkannte ihn nur zu wohl. Er erhob sich, mich zu begrüßen. Ich hieß ihn ruhig willkommen, und wir sprachen miteinander wie alte Bekannte. Aber je ruhiger ich äußerlich war, um so bewegter war ich im Innern. Ich hatte ihn seit dem Tage des Begräbnisses seiner Mutter nicht wiedergesehen, und zwischen dem Tag und diesem Augenblick des Wiedersehens lag seine Gefangenschaft, lag mein Scheiden aus der Familie, und wie viele bittere, traurige Kämpfe! Seine Gegenwart ließ mich fühlen, daß die Liebe zu ihm noch nicht erloschen war, aber ich hatte wieder genug Macht über mich gewonnen, um gewiß zu sein, daß er nie etwas anderes bei mir finden werde, als die anerkennende Freundschaft, die seine herrlichen Eigenschaften verdienten.

Er verband sich schnell aufs wärmste mit unserem Prediger, der mit Freude erfuhr, daß er der Verfasser jenes Buchs gegen das kirchliche Christentum war, das ich früher erwähnt habe und das er zu der Zeit unserer innigsten Neigung geschrieben hatte. Der Prediger sagte, daß dieses Buch einen großen Einfluß auf ihn gehabt hätte. Auch Emilie kannte es und war glücklich, den Autor kennen zu lernen.

Theodor war zunächst nur auf einige Tage gekommen; er wollte erst sehen, ob unser Leben ihm genug gefiele, um sich [209] ihm anzuschließen. Während dieses kurzen Aufenthalts war er freundschaftlich frei und aufmerksam gegen mich. Die Welt schien mir aufs neue schöner, beleuchtet von den Strahlen seines Geistes, und es war mir, als ob die Gemeinschaft mit dieser reichen poetischen Natur das Leben anziehender machen würde, auch wenn sein Herz nicht mehr mir gehöre.

Er ging zurück, seine Sachen zu ordnen, um ganz wiederzukommen. Während der Zeit bemühte ich mich auf das äußerste, seine Wahl in der Gemeinde vorzubereiten, indem ich von ihm erzählte, von dem, was er schon für seine Überzeugungen gelitten, und von der glänzenden Begabung als Lehrer, die ich ihm zutraute. Als er zurückkam, war der Boden schon vorbereitet. Emilie, deren Haus ein paar Schritt weit vom Institut lag, hatte ihn gastlich bei sich aufgenommen. Er kam beinah jeden Tag zu uns, wohnte mehreren Vorlesungen bei und verbrachte meist die Abende im Kreise der Hochschule. Der Prediger hatte ihn gebeten, sich der Gemeinde vorzustellen, indem er Sonntags an seiner Statt zu ihr rede. Es war für mich ein wehmütig lieber Eindruck, ihn wieder vor einer Gemeinde reden zu sehen, wie ich ihn einst gesehen hatte in erster Jugendbegeisterung, als er und ich uns noch nicht von der Tradition losgesagt hatten. Damals sprach er zu einem christlichen Auditorium, jetzt zu einer freien Gemeinde, und wir, die wir einer durch den andern Freidenker geworden waren, trafen uns, nach so langer, schmerzlicher Trennung, darin vereinigt zu einem gemeinsamen Werk.

Seine Rede war schön und machte einen großen Eindruck. In ihr empfand man nicht mehr die poetische Glut des jungen Apostels von ehedem, der ein entferntes Ideal in den Wolken sah und von dem Reich Gottes auf Erden sprach; es herrschte vielmehr in ihr die Ruhe des geprüften Mannes, der die furchtbaren und praktischen Mächte kennt, mit denen der ideale Gedanke zu kämpfen hat, und bereit ist zu der Arbeit der Entsagung, die nötig ist bei dem langsamen Gang des wirklichen Fortschritts.

[210] Der Tag der Lehrerwahl kam. Die Unterlehrer und Lehrerinnen waren bereits gewählt; es blieb nur noch die Wahl des ersten Lehrers übrig, der zugleich Mitglied des administrativen Ausschusses, zu dem auch ich gehörte, werden sollte. Die Wahl geschah am Abend, und die Gemeinde hatte sich beinahe vollständig eingefunden. Auf der Tribüne, wo die Redner standen, saß auch unser Komitee, und vor uns stand die Urne, die die Stimmzettel empfangen sollte. Zwei andere Bewerber kamen zunächst, lasen ihre schriftlichen Arbeiten über die Bestimmung und Organisation einer freien Schule, und gaben ihre Probestunde mit einer zu diesem Zweck versammelten Kinderklasse. Sie wurden beide mit großem Beifall von der Gemeinde belohnt, so daß ich schon etwas Angst bekam, ob Theodor die Stimmenmehrheit haben würde. Nun kam er und las seinen Aufsatz, in dem die Frage über die Aufgabe der freien Schule vollkommen gelöst war, in idealer und in praktischer Weise zugleich. Solche Schulen, wie er sie beschrieb, würden, wenn einmal überall eingeführt, die wahre Revolution machen, d.h. die sittliche und geistige Umwälzung, die die Völker zur Selbstregierung und zu der Erfüllung ihrer Pflichten, die die wahre Grundlage der sozialen Existenz sind, führen würde. Wir alle empfanden, daß hier das Höchste gesagt war, was sich über den Gegenstand sagen ließ; der Prediger nickte mir mit freudigem Lächeln zu. Die Probestunde entsprach der Vorlesung. Die Kinder, die ihn nie gesehen hatten, waren ganz aufgeregt vor Freude und wollten gar nicht aufhören. Die Stimmzettel wurden nun in die Urne geworfen; der Prediger las und zählte sie. Ich sah das Resultat schon an seinem frohen Ausdruck. Er erklärte Theodor mit großer Majorität gewählt. Dieser selbst schien sehr glücklich; er hatte aufs neue eine Bestimmung, einen Beruf.

In derselben Woche wurde die Schule eröffnet. Es blieb jetzt nur übrig, für Theodor das Bürgerrecht zu erhalten, denn er wurde in dieser deutschen Stadt, die aber ihre besondere Regierung hatte, wie ein Fremder angesehen.

[211] Neben diesen Erfolgen aber bereiteten sich im intimen Leben der Hochschule selbst peinigende und bitter schmerzliche Verhältnisse für mich. Anna und Charlotte führten mehr und mehr ein exklusives Leben, das nicht ganz zu den eigentlichen Zwecken der Hochschule stimmte. Sie zogen sich fast ganz auf Annas Zimmer zurück, und dahin kam nun auch Theodor jeden Abend, wo die beiden ihn mit allen Aufmerksamkeiten umgaben, die die Verhältnisse gestatteten. Ich hatte von lange her die Gewohnheit, eine Stunde bei Anna zuzubringen, ehe wir uns zu den gemeinschaftlichen Abendvereinigungen der Bewohner der Anstalt begaben. Auch jetzt folgte ich dieser Gewohnheit; ich traf dort Theodor und es wäre mir nun eine Freude gewesen, dem intimeren Gespräch, das der Reiz seines Geistes beherrschte, beizuwohnen, wenn von allen Seiten einfaches, unbefangenes Benehmen stattgefunden hätte, und wenn man nach dem Privatgespräch auch zur rechten Zeit der Pflicht gegen das gemeinsame Leben genügt und in den Salon zu den übrigen Hausbewohnern gekommen wäre. Dem war aber nicht so, und es gab mir eine bittere, traurige Empfindung, zu bemerken, daß Anna und Charlotte – sie, die die Vergangenheit kannten – anstatt liebevoll zu vermitteln und auf die noch immer im Grunde des Herzens unvernarbte Wunde den Balsam einer tröstenden, freundschaftlichen Gemeinschaft zu legen, wie ich sie angebahnt hatte, nun sich so benahmen, daß meine Besuche in Annas Zimmer wie etwas Besonderes, ihm Geltendes aussahen. Es entstand dadurch bald ein Mißton in diesem intimen Zusammensein, der mich tief verletzte, mich, die ich so viel schon vergeben hatte und gar keinen persönlichen Anspruch mehr machte. Ich unterließ fortan öfter meine Besuche bei Anna, arbeitete allein auf meinem Zimmer oder vereinte mich früher mit den übrigen Hausbewohnern, die bereits anfingen Klage zu führen über den Koteriegeist, der von den zwei Freundinnen eingeführt wurde; aber es war ein neues schmerzliches Entbehren und eine harte Erfahrung [212] in Beziehung auf Anna und Charlotte, die mir sogar Besuche, die sie Theodor machten, verheimlichten.

Der Schluß des Jahres war da. Wir hatten ein wahrhaft demokratisches Fest zur Feier des Silvesterabends veranstaltet. Mehrere Arbeiterfamilien, der Gemeinde zugehörend, waren dazu gebeten worden. Beim Abendessen saß ich neben einem Tischler, den ich schon länger kannte und hochschätzte. Er war ein charaktervoller, denkender, gebildeter Mann, hatte lange Zeit in Paris gearbeitet, war ein Freund Börnes gewesen, hatte dessen Vorlesungen an die deutschen Arbeiter beigewohnt und an seinem Sterbebette gestanden. Als Börne ihn fragte, ob er glaube, daß die deutschen Arbeiter ihn verstanden hätten, hatte er dem Sterbenden mit einem zuversichtlichen Ja geantwortet. Nach seiner Vaterstadt zurückgekehrt, lebte er für die Propaganda der Freiheit und zeigte durch sein Beispiel, was der Arbeiter bei seinem Handwerk für seinen eigenen Fortschritt und den der andern leisten kann. Es war mir stets eine Freude, mich mit diesem Menschen von hellem Verstande und warmem Herzen zu unterhalten. Seine Frau, eine feurige Republikanerin, war seiner wert. Als man im Jahre 1848 ihren Mann aus politischen Gründen in das Gefängnis gesetzt hatte, war sie zu der obersten Behörde gegangen und hatte seine Freiheit verlangt, »nicht als eine Gnade, sondern als ein Recht, da er unschuldig ist«, wie sie sagte. Solche Menschen gab es damals unter den deutschen Arbeitern.

Nach dem Abendessen las Theodor uns die »Albigenser« von Lenau vor. Diese schöne Dichtung, die ein großes Martyrtum erzählt, berührte dieselbe Saite in uns allen. Ich war aber doppelt davon ergriffen, da ich sie von jener melodischen Stimme vortragen hörte, die so oft mein Herz bewegt hatte, und das edle bleiche Antlitz dabei sah, das einem jener Märtyrer anzugehören schien, deren Geschichte er uns las. Als er geendet hatte, trat ich in das anstoßende leere Zimmer, um meiner Bewegung Herr zu werden. Ich hörte mir jemand folgen, und als ich mich umwandte, sah ich, daß [213] er es war. Wir sahen uns einen Augenblick lang an, und in diesem Blick lag die Anerkennung eines Bandes, das höher ist als die Liebe, und das die Menschen auf ewig, über Raum und Zeit hinaus, vereint: die Liebe zum Ideal. Worte waren da überflüssig; andere Menschen kamen hinzu; aber von diesem Augenblick an war mir die Bitterkeit, die sich in unsere Beziehungen eingeschlichen hatte, verschwunden, und es blieb nur ein stiller, wehmutsvoller Friede.

Einige Zeit nach Neujahr kam die Antwort auf Theodors Anfrage um das Recht, in Hamburg bleiben und ein bürgerliches Amt ausüben zu können. Sie lautete verneinend. Man gab vor, daß hohe politische Rücksichten einen längeren Aufenthalt und die Ausübung einer bürgerlichen Tätigkeit für einen Mann, der des Hochverrats angeklagt gewesen sei, unmöglich machten. Der Befehl, das Gebiet der Stadt baldmöglichst zu verlassen, war hinzugefügt. Wir waren alle schmerzlich betroffen. Die Gemeinde war in großer Aufregung. Es war dies das erste Signal, daß die Gefahr herannahte; daß die Reaktion diese kleinen Zentren, in denen eine Freiheit herrschte, die man nirgends mehr dulden wollte, mißgünstig ansehe. Es war sicher, daß die kleine, unbedeutende Regierung der freien Stadt Hamburg diese abschlägige Antwort nicht erfunden hatte. Man hatte bei einem größeren Staat, dem, in dem Theodor sein Verbrechen begangen hatte, angefragt und war dem von dort erhaltenen Gebot gefolgt. Die einflußreichsten Männer der Gemeinde taten alle möglichen Schritte, boten jedwede Garantie – umsonst. Auch ich entschloß mich zu einem verzweiflungsvollen Versuch. Ich ließ bei dem damaligen Haupt des Freistaats um eine Audienz nachsuchen und erhielt sie. Es war dies ein süßlich höflicher, kleiner Greis. Ich sagte ihm, in welcher Angelegenheit ich komme, und daß ich mehr persönliche Garantien geben könne, als alle andern, da ich die hochgeachtete Familie Theodors genau kenne, da ich bestimmt wisse, wie fernab für jetzt jeder Gedanke an Beschäftigung mit Politik von Theodors Seele liege, und daß er nur daran denke, sich [214] dem Unterricht der Jugend zu widmen. Der kleine Greis erwiderte mir darauf mit einem schlauen Lächeln, daß dies jetzt vielleicht bedenklicher sei, als alles andere, da man beim Unterricht erst recht die Mittel habe, seine Ideen zu verbreiten. Dann nahm er eine Miene des Wohlwollens an und sagte: »Ich versichere Ihnen, daß die Schwierigkeiten nicht von uns herkommen. Man hat einmal von uns gesagt, daß wir kein väterliches, sondern ein mütterliches Gouvernement sind; wir würden nichts abgeschlagen haben. Gewichtige Rücksichten bestimmen uns, und ich muß Ihnen leider sagen, daß gar keine Hoffnung ist.«

So mußte ich denn diesen mütterlichen Greis verlassen und tief traurig nach Hause gehen. Emilie hatte auch ihrerseits alles Mögliche versucht – ebenfalls umsonst.

Theodor war schwer von dem Ereignis betroffen. Er sprach wenig darüber, aber man sah wohl an seinem bitteren Lächeln, an seiner tödlichen Blässe, daß er erst jetzt ganz seine Lage begriff. Das Vaterland war ihm verschlossen, die letzte Tätigkeit ihm unmöglich gemacht. Was blieb? – das Exil. Mit seinen Fähigkeiten und in der Blüte des Lebens wäre das noch nicht das größte Unglück gewesen, aber dieser unerwartete Schlag verriet plötzlich einen solchen Grad eines physischen Leidens, dessen Keim sich wohl im Gefängnis gezeigt hatte, das aber weder er selbst noch seine Freunde schon so weit entwickelt geglaubt hatten, daß an Auswanderung vorerst nicht zu denken war. Von Hamburg jedoch mußte er fort, denn alle Vorwände, die wir erfanden, um ihn noch bleiben zu machen, mußten doch schließlich ein Ende nehmen, und so erschien es als das Nötigste, zunächst an seine Gesundheit zu denken und ihr eine längere Pflege zu widmen. Er entschied sich für eine Kaltwasserheilanstalt im Norden, eine Tagereise weit von Hamburg, wo ein Charlotten bekannter Arzt war, der eines großen Rufs genoß. Theodor sagte der Schule Lebewohl und hatte die Befriedigung, sein Scheiden lebhaft von seinen Schülern beklagt zu sehen; dann ging er, und ich fühlte aufs neue eine unausfüllbare[215] Lücke in meinem Leben. Als nach einiger Zeit gar keine Nachricht von ihm kam, entschied ich mich, ihm zu schreiben, und sagte ihm, daß er mir zu viel Achtung und Freundschaft schuldig sei, um in diesem wahrhaft schuldvollen Schweigen zu beharren, und mir nicht von Zeit zu Zeit Nachricht über sein Ergehen zu geben, da er wisse, welchen uneigennützigen Anteil ich für immer an seinem Schicksal nähme. Diesmal antwortete er, wie es sein mußte, mit freier, offener Freundschaft. Von da an war unser Briefwechsel hergestellt, aber die Nachrichten, die er mir über seine Gesundheit gab, waren wenig befriedigend. Ich schrieb heimlich an den Arzt der Anstalt und bat ihn, mir die volle Wahrheit seiner Ansicht über den Zustand des Kranken zu sagen. Seine Antwort lautete: »Da Sie die Wahrheit zu wissen verlangen, so muß ich Ihnen sagen, daß ich Ihrem Freunde nicht einmal mehr Jahre des Lebens verbürgen kann. Es kann nur noch von der mehr oder minder raschen Entwicklung des Übels zu dem unabweisbaren Ende die Rede sein.«

Ich blieb lange Zeit mit diesem Brief in der Hand, ohne daß ich wagte, die furchtbaren Worte noch einmal zu lesen. Endlich ging ich allein hinaus, einen einsamen Weg längs eines Baches, der unter frischgrünen Büschen und Bäumen dahinfloß. Der Frühling war in seiner vollen Pracht, Blumen blühten und dufteten, Vögel sangen fröhliche Chöre in den Zweigen. Ich allein wandelte in dieser lachenden Natur wie eine Verurteilte, mit unerträglichen Ketten Belastete. Die Zeit war auf immer vorbei, wo ich einen Trost darin gefunden hatte, mich anderen anzuvertrauen. Ich hatte mich gewöhnt, allein mit dem Schicksal zu bleiben; nur die Natur, von früh auf meine intimste Freundin, konnte ich auch jetzt fragen: »Ist es sein letzter Frühling?« Und da die Hoffnung schwieg, so fielen stille Tränen in den Bach und wurden von ihm fortgetragen in die geheimnisvolle Ferne, in der sich alles verliert: Jugend, Liebe, Hoffnungen, Leiden, und zuletzt – die Individualität selbst.

Es mußte ein anderer Lehrer an Theodors Stelle gewählt [216] werden. Ich schlug dem Komitee den »Demokraten« vor, jenen edlen Freund, mit dem ich stets in Briefwechsel geblieben war. Ich wußte, daß er keine Stelle hatte, da er ein zu entschiedener Republikaner war, um unter der Reaktion zu dienen. Man ging auf den Vorschlag ein; ich schrieb ihm; er nahm mit Freude an, kam, wurde erwählt, und da er nie öffentlich kompromittiert gewesen war, gab es keinen Vorwand, ihm die Erlaubnis zum Bleiben zu verweigern. So war denn wieder ein treuer Freund mehr in meiner Nähe, und bald hatte ich die große Freude, ihn sich einem vortrefflichen, hochgebildeten Mädchen, die seit einiger Zeit in der Hochschule war und mit mir dieser vorstand, zuneigen zu sehn. Sie erwiderte seine Neigung, und gegen Ende des Sommers feierten wir mit innigem Anteil ihre Verlobung. Dieser Sommer war überhaupt, abgesehen von dem schmerzlichen Geheimnis, das ich im Herzen bewahrte, in geistiger Beziehung sehr schön. Ein neuer Professor war zu Vorlesungen an der Hochschule gewonnen worden, ein ebenso geistig bedeutender wie liebenswürdiger Mann. Er hielt uns Vorlesungen über Geologie und Chemie. Bei dem völligsten Positivismus in der Wissenschaft war er doch eine tief poetische Natur, und wenn er uns von dem Kohlenstoff-Atom erzählte, das durch die Ewigkeit der Materie wandert, um sich bald zu dem Gehirn des Genius, der Unsterbliches schafft, bald zu dem Blütenkelch, der Duft ausströmt, mit anderen Stoffen zu verbinden, so schilderte er das in einer Weise, die uns alle zur Begeisterung hinriß. Eine Welt neuer Gedanken öffnete sich mir. Ich glaubte endlich die Lösung der Fragen nach dem Grund der Dinge zu erblicken. »Die Ewigkeit der Materie«, dieses Wort erschreckte mich nicht mehr – mich, die ich nicht mehr an die persönliche Unsterblichkeit glaubte. Ein ewiges Prinzip schien mir nun gesichert, und die Materie, die durch die christliche Anschauung so tief gedemütigt war, erstand aus ihrem verachteten Grabe und rief siegend: »Ich bin der ewige [217] Grund, und das Individuum ist nur eine vorübergehende Äußerung meiner Ewigkeit.«

Ich schrieb weitläufige Berichte über diese Vorlesungen an Theodor, um ihn der Freude, die sie mir gaben, teilhaftig zu machen. Als aber die Herbstferien für Hochschule und Gemeindeschule kamen, fühlte ich mich sehr ermüdet und beschloß, etwas für meine Gesundheit zu tun. Ich war seit jenem Aufenthalt in Ostende vollständig der Hydrotherapie zugetan und hatte alle Medizin verbannt. Unser Arzt in Hamburg gehörte derselben Richtung an und verordnete mir eine Kur in jener Anstalt, in der sich Theodor befand. Ich ging mit Freude darauf ein, da ich, wissend, was ich wußte, eine tiefe Sehnsucht hatte, ihn noch einmal wiederzusehn. Anna und Charlotte rieten mir von dem Aufenthalt ab; ich hatte beschlossen, mein trauriges Geheimnis niemand zu sagen; auch hatte der Arzt mich um strenge Diskretion gebeten. Ich konnte ihnen also meinen geheimen Grund nicht erklären; aber, im Angesicht der ewigen Trennung, was lag mir denn auch an den müßigen Skrupeln, selbst der nächsten Freunde?

Ich reiste ab, nach jener Anstalt, die an einem kleinen See ländlich und hübsch gelegen ist. Ich kam um Mittagszeit, vor dem Essen, an. Der Arzt, der mich empfing, bestätigte mir, was er geschrieben. Im Eßsaal fand ich eine zahlreiche Gesellschaft; Theodor saß obenan am Tisch. Ich hatte ihm geschrieben, daß ich käme; er war also nicht überrascht. Er stand auf und kam mich zu begrüßen. Ich hatte Mühe, meine Wehmut zu verbergen, als ich ihn sah, so sehr hatte er sich verändert. Der Arzt schrieb mir eine strenge Kur vor, mit absolutem Nichtstun wegen meiner Augen und völliger Gemütsruhe. In diesem letzteren Punkt konnte ich leider nicht gehorchen. Mein Gefühl für den Freund ließ mir keine Ruhe, wenn ich ihn bleich, erschöpft dem zu frühen Tod entgegengehn sah, oder wenn ich ihn lange Stunden hindurch allein auf seinem Zimmer wußte, versenkt in sein Leiden und in den Kampf der Entsagung, die so schwer wird, wenn die Seele noch voll Jugend, Poesie und Zukunftsgedanken [218] ist. Wie drängte es mich dann, ihm zu sagen: »Erkenne mich doch für das, was ich bin, für diese Schwesterseele, die du selbst dir mit so festen Banden verbunden hast, daß sie nicht mehr zu zerreißen sind. Ich verlange nichts von dir, als jetzt wie eine Schwester mit dir den dunklen Pfad zu gehn, den du durchmissest, denn es wäre solcher Wesen wie wir, nur würdig, diesen Kelch miteinander mit vollem Bewußtsein zu trinken.«

Doch hielt ich mich zurück und ehrte selbst seine Freiheit im Leiden. Ich begnügte mich damit, es still mit ihm zu teilen. Zuweilen kam er und holte mich ab, an einen der hübschen Plätze, die den See umgaben, und da las er mir verschiedenes, was ihn gerade beschäftigte, vor. Da waren Augenblicke voll sanfter, wehmütiger Ruhe. Dann aber war er wieder finster, unnahbar, und stieß jeden Versuch, ihm wohlzutun, mit Härte ab. Eines Tages, während wir bei Tisch saßen, überbrachte man mir einen Brief des unbekannten Freundes in Amerika. Der Brief enthielt auch einen an Theodor, dessen Freund er ebenfalls war und den er noch in Hamburg vermutete. Nach dem Essen forderte ich Theodor auf, mit hinauszukommen, um die Briefe des gemeinsamen Freundes zu lesen, da sie immer lang und von großem Interesse waren. Wir setzten uns an einen reizenden Platz, von Felsen umschlossen, die mit Moos bewachsen waren und aus denen eine klare Quelle sprang. Jedes las zunächst seinen Brief für sich. Der meine war aus dem fernsten Westen Amerikas datiert, wo der Freund eine Niederlassung zu gründen beabsichtigte, der er eine große Zukunft weissagte. Der Boden und die Lage konnten daraus ein wichtiges internationales Zentrum machen. Der Freund kannte die Gründe, die mich früher abgehalten hatten, nach Amerika zu gehen. »Siegen Sie jetzt über alle diese Schwierigkeiten und Zweifel und kommen Sie,« schrieb er. »Aber ich fühle, daß ich Sie nicht in eine so weite Ferne rufen kann, ohne Ihnen einen legitimen Schutz anzubieten. Kommen Sie, um meine Frau zu werden, indem wir uns gegenseitig die Freiheit vorbehalten, [219] je nach unserem Herzen diesem Band seinen wahren Charakter zu geben.« Dann beschrieb er mir genau die Reise, die ich zu machen haben würde, die notwendigen Dinge, die ich mitzubringen hätte usw. Endlich fügte er hinzu: »Dieser Brief scheint so materiell und von Kleinigkeiten erfüllt neben so großen Entschlüssen, und dennoch, wenn Sie wüßten, mit welcher Bangigkeit mein Herz Ihrer Entscheidung entgegensieht! Wenn Sie sich entscheiden zu kommen, bringen Sie uns noch andere Freunde mit. Ich meine hiermit zunächst Theodor, der sich hier von dem Übel, das ihm die alte Welt angetan hat, erholen wird.«

Ich fühlte, daß ich errötete vor innerer Bewegung, als ich diesen Brief las. Welche sonderbare Lage war dies auch! Der, den ich vordem hatte aufsuchen wollen als Beschützer und Führer, um mit seiner Hilfe mein Ideal eines neuen Lebens zu beginnen, rief mich nun, um als seine Frau mit ihm den Grund zu einem neuen Kulturwerke zu legen. Aber dieser Ruf kam in dem Augenblick, wo die alte Welt mich wieder mit jenen Banden an sich gefesselt hatte, mit denen ein Sterbender das Herz, das ihn geliebt hat, an sein Sterbelager bindet: die Hochschule, die Gemeinde, deren immer bedrohte Existenzen ein Teil meines Lebens geworden waren; dann der, der mir in dem Augenblick zur Seite saß und langsam auf dieser alten Erde dahinstarb – alles das ließ mich fühlen, daß ich nun nicht eher scheiden könnte, bis diese Schicksale entschieden wären. Ich wendete mich zu Theodor; sein Kopf war zurückgeworfen und ruhte auf dem Moos, das den Fels bedeckte, an dem wir saßen; seine Augen waren halb geschlossen und sein totenblasses Gesicht drückte einen tiefen Schmerz aus. Er hielt mir seinen Brief hin, ohne ein Wort zu sagen. Ich durchflog die Zeilen: der Freund drängte auch ihn zu kommen, mich zu begleiten, um gemeinschaftlich den Grundstein einer großen Zukunft zu legen, eines bedeutungsvollen Zentrums für die Entwicklung der Kulturgeschichte.

»Zu spät!« sagte er endlich mit leiser Stimme. Ein unermeßliches [220] Mitleid durchströmte mein Herz; ich legte für einen Moment meine Hand leise auf die seine und in meinem Herzen tönten die Worte von Novalis:


»Wenn alle untreu werden,
So bleib' doch ich dir treu,
Damit doch Treu auf Erden
Nicht ausgestorben sei.«

Ich sagte ihm nichts von den Voraussetzungen, unter denen unser Freund mich hinrief, aber ich las ihm den ganzen übrigen Teil des Briefes. Er fragte mich, ob ich gehen würde. Ich sagte ihm, daß es mir jetzt unmöglich schien, mich von den Beschäftigungen und Pflichten, die ich übernommen hatte, loszusagen, bevor sie mir von außen unmöglich gemacht würden. Er gab mir recht. Ich schrieb dem fernen Freunde in diesem Sinn und gab ihm alle Gründe meines Nichtkommens an. Theodor fügte einige Worte hinzu, in denen er sagte: »Wie sehnlich wünschte ich kommen zu können und mich dir zu vereinen! Aber es ist zu spät! Ich bin nur noch ein schwaches, kränkliches Wesen, ein Schatten von dem, der ich einst war. Ich glaube nicht, daß ich noch werde genesen und dir folgen können.«

Man kann sich denken, mit welcher Empfindung ich dies las! Der Kur müde, die seinen Zustand nicht besserte, entschloß sich Theodor, zu gehen, ohne noch recht zu wissen wohin. Meine Ferien waren auch zu Ende: ich wurde in der Hochschule erwartet und ging noch vor ihm, mit der Hoffnung, ihn noch einmal zu sehn, denn er wollte jedenfalls über Hamburg kommen, um seine dortigen Freunde zu begrüßen. In der Hochschule wurde ich mit Freude empfangen. Anna und Charlotte, die auch eine Ferienreise gemacht hatten, waren noch nicht zurück. Unser lieber Professor, der Naturalist, kam von einer Reise in das südliche Deutschland zurück, wo er Gelegenheit gehabt hatte, den Umtrieben auf die Spur zu kommen, die die pietistische Partei, die eine starke Organisation in Hamburg hatte, gegen die Hochschule ins Werk setzte. Er hatte sogar bis in kleine Orte des Schwarzwalds [221] hinein bei Pfarrern gedruckte Pamphlete vorgefunden, die von einer pietistischen Druckerei in Hamburg herrührten, in denen die Hochschule als ein Herd der Demagogie dargestellt wurde, wo, unter dem Mantel der Wissenschaft, revolutionäre Pläne geschmiedet würden, und in denen demnach Eltern davor gewarnt wurden, ihre Töchter diesem Institut anzuvertrauen. Man machte uns also einen offenen Krieg! Die Freunde der Unwissenheit und des Aberglaubens, die sich von jeher der Religion bedient haben, um ihre Zwecke durchzusetzen, hatten sich gegen uns bewaffnet, weil wir die Frauen ihrem schmählichen Joch entziehen wollten. Die Gefahr machte mir die Hochschule noch teurer und ich gelobte mir selbst, sie nicht zu verlassen und ihr Schicksal zu teilen. Die Gefahr nahte sich auch mehr und mehr den Gemeinden; schon waren mehrere in verschiedenen Gegenden Deutschlands aufgelöst worden. Inzwischen blühte unsere Gemeindeschule, und unser Prediger führte sein Auditorium durch alle Konsequenzen der Kritik, bis er offen das Wort Atheismus aussprach, indem er ihm auf der andern Seite einen idealen und praktischen Sozialismus darlegte, der die Stelle der alten Ordnung der Dinge, die, des lebendig machenden Geistes beraubt, nur noch ein gefährlicher Irrtum waren, einnehmen sollte.

Kurze Zeit nach mir kam auch Theodor. – Emilie nahm ihn wieder bei sich auf. Man brauchte nicht zu fürchten, daß das »mütterliche« Gouvernement von Hamburg ihm nicht einige Tage der Ruhe dort gönnen würde. Er war zufrieden, wieder da zu sein, und war, wie früher, jeden Tag mehrere Stunden in der Hochschule, häufig mit mir allein. Am Abend vereinigten wir uns meist bei Emilien mit dem Prediger oder dem einen oder andern der Professoren und verbrachten herrliche Stunden in bedeutenden Gesprächen. Theodor fand zuweilen die ganze Stärke seines Geistes wieder und schien sich nur schwer zum Gehn entschließen zu können. Endlich bestimmte er seine Abreise: er wollte zunächst in die Heimat. Aber am Tag vorher fiel er in der Straße, und dieser Fall erschütterte seinen kranken Organismus so sehr, daß er [222] mehrere Tage im Bett zubringen mußte, und der Doktor erklärte, er werde noch vor einigen Wochen nicht reisen können. So ließ denn das Schicksal selbst mir noch für einige Zeit seine Gegenwart, aber unter so traurigen Bedingungen, daß es mir das Herz zerriß. Ich hatte nun keine Skrupel mehr, ihn als wirkliche barmherzige Schwester zu besuchen. Ich ging jeden Morgen, nachdem ich meine Pflichten in der Hochschule erfüllt hatte, auf eine Stunde zu ihm, um ihn durch Unterhaltung zu zerstreuen, ihm Bücher zu bringen und darüber zu wachen, daß ihm nichts fehle. Er ließ mich gewähren; er hatte es endlich begriffen, daß in jeder großen weiblichen Liebe auch die Mutterliebe ist, die nichts mehr fordert, aber gibt, hilft, tröstet und versöhnt. Als er das Zimmer verlassen durfte, forderte er mich auf, eine Spazierfahrt mit ihm zu machen. Es war ein schöner, milder Herbsttag. Eine sanfte, melancholische Heiterkeit ging von der Natur in unsere Seelen über. Wir führten edle, wohltuende Gespräche. Als wir nach Hause zurückkehrten, seufzte er und sagte: »O Königin, das Leben ist doch schön!«

Den Tag darauf schied er. Er hatte beschlossen, nach der kleinen Stadt Gotha zu gehen, wo sich ein ausgezeichneter Arzt befand, den er um Rat fragen wollte. Vorher wollte er noch einige Tage zu den Seinen und nach B., um dort eine Dame zu sehen, der er sehr nah stand. Es war dies eine junge, reiche Witwe, die ihn liebte. Ich weiß nicht, warum er vordem gezögert hatte, sich mit ihr zu verbinden; jetzt, wo er so krank war, konnte er natürlich nicht daran denken, aber er wollte sie besuchen. Ich erfuhr aber nach einiger Zeit, daß er seinen Entschluß geändert hatte und nach ein paar bei seiner Familie verbrachten Tagen nach Gotha abgereist war. Auch dies war mir eine innere Befriedigung; er liebte also diese Frau nicht, sonst hätte er, selbst an der Schwelle des Todes, noch einmal gesucht, sie zu sehen.

Anna und Charlotte kehrten endlich zurück. Die Vorlesungen der Hochschule waren äußerst besucht, die Gemeindeschule entwickelte sich immer herrlicher; von dieser Seite blieb mir [223] nichts zu wünschen übrig. Unter den jungen Mädchen, die die Vorlesungen besuchten, waren ausgezeichnete Persönlichkeiten, große Intelligenzen; besonders zeigten sich überraschende Fähigkeiten für die Mathematik. Alle diese Schülerinnen liebten mich, einige bis zum Fanatismus. Ich empfand oft eine tiefe Befriedigung, wenn ich diese Jugend um mich sah und an ihr meine Hoffnungen für die geistige Entwicklung der Frauen bestätigt fand. Aber ich war noch nicht am Ende der Prüfungen, die mir von der Seite kamen, von der überhaupt die größten Schmerzen meines Lebens gekommen waren. Ich erhielt einen Brief von zu Haus, in dem man mir unter anderem erzählte, daß Theodors Vater, nachdem er einige Wochen ohne Nachricht vom Sohn gewesen sei, von der Stadt Gotha aus benachrichtigt worden war, daß dieser gleich nach seiner Ankunft schwer krank geworden und ins Hospital gebracht worden wäre, ohne daß man seinen Namen und Wohnort gewußt hätte. Jetzt erst, da es ihm ein wenig besser gehe, habe er die Anweisung geben können, seine Familie zu benachrichtigen. Der Vater wäre hierauf alsbald nach Gotha gereist, hätte ihn außer Bett, aber so schwach gefunden, daß er ihn im Hospital hätte lassen müssen, wo er übrigens auch sehr gut gepflegt würde.

Ich allein wußte vielleicht genau, was diese Krankheit bedeutete, und war schwer betroffen von der Nachricht. Der Gedanke an den sehr Kranken im Hospital einer kleinen Stadt, ohne Freunde in der Nähe, verließ mich nicht mehr, weder Tag noch Nacht. Ich schrieb ihm und hatte bald den Trost, einige Zeilen Antwort zu bekommen, die von einer großen überstandenen Gefahr und einer leisen Hoffnung sprachen. Ich konnte diese letzte Täuschung nicht mehr teilen, aber ich schrieb ihm Dinge, die ihn interessieren und zerstreuen konnten. Ich hatte nur wenig Geld, nichts als meine sehr kleine Rente, deren Hälfte noch für die Armen, die Gemeinde usw. dahin ging; nun gab ich aber nichts mehr für mich aus, flickte meine Kleider, anstatt mir neue zu kaufen, und verwandte das Wenige, was mir blieb, darauf, dem, [224] der fern von den Seinigen und den Freunden einsam sein Leben aushauchte, alles zu verschaffen, was ihn erheitern und ihm angenehm sein konnte. Der Augenblick war gekommen, seine Leiden durch jene kleinen Aufmerksamkeiten zu erleichtern, die ich stets gegen den Gesunden, als einer großen Liebe unwürdig, verschmäht hatte, obgleich so manche Frauen sich dadurch gerade den Männern unentbehrlich zu machen suchen. Dem Kranken aber durfte man auch sogar manchen Leckerbissen senden, den das Hospital ihm nicht gewähren, und der ihm doch eine momentane Befriedigung geben konnte. Jede Woche ging ein Päckchen ab, das alles enthielt, was ich nur irgend ausdenken konnte. Es war ja wenig, aber hätte er gewußt, wie ich mir dafür gewissenhaft alles versagte, um ihm alles geben zu können, es hätte ihm doch viel geschienen. Er fühlte auch den Sinn der Gaben, denn seine kurzen Briefe waren immer gut und seelenvoll; er sprach vom Frühjahr, wo er hoffe, Gotha verlassen zu können. Ich las das mit tiefer Herzensqual, und doch hoffte ich auch noch manchmal, daß die Jugend über den Tod werde triumphieren können.

So kam ein anderes Weihnachtsfest herbei. Wir feierten es wieder in unserem Kreis, aber in mein Herz kam diesmal keine Freude. Die letzten Nachrichten von ihm waren aufs neue schlechter gewesen. Das neue Jahr nahte heran, meine Angst um den armen Kranken, den niemand zu trösten ging, wuchs bis zu solch einem Grade, daß ich beschloß, nach Gotha zu gehen, um selbst zu sehen, wie es um ihn stünde. Ich vertraute nur Emilien und dem »Demokraten« das wahre Ziel meiner Reise; beide sagten mir, ich täte recht. An einem kalten Wintertag machte ich mich auf die Reise und kam erst bei einbrechender Nacht in Gotha an. Kaum im Gasthof abgestiegen, ließ ich mich zum Hospital führen. Es lag ziemlich weit außerhalb der Stadt. Ich mußte durch stille, einsame Straßen, dann durch eine lange Allee schreiten, zu deren beiden Seiten sich weite mit Schnee bedeckte Felder ausbreiteten, die beim blassen Licht der Sterne wie ein unendliches [225] Leichentuch aussahen. In mir war eine tiefe, feierliche Ruhe; es schien mir, als gehörte ich nicht mehr dieser Erde an und als ginge ich, den geliebten Schatten im Hades aufzusuchen. Ich hatte keine Furcht irgendeiner Art, denn ich gehorchte einem innern Gebot, das nichts mehr zu tun hatte mit irdischen Rücksichten. Endlich sah ich ein einsames Haus, in dem oben zwei Fenster erleuchtet waren. Als ich eintrat, fand ich eine alte Frau, die, als ich nach Theodor fragte, sich mir als seine Pflegerin zu erkennen gab und hocherfreut schien, daß jemand komme, um ihn zu sehen. Ich schrieb zwei Worte auf ein Stück Papier, um ihm zu sagen, daß ich da wäre. Er ließ mich bitten, gleich herauf zu kommen. Ich fand ihn auf dem Sofa liegend, er schien tief gerührt, mich zu sehen. Ich war bis in das Innerste erschüttert von seinem Anblick und dachte, daß das nicht die einzigen Helden sind, die auf dem Schlachtfeld für die Freiheit sterben. Er starb ja auch, ein Kämpfer, an den Folgen des Kampfes. Sein Zimmer war groß und luftig, aber es war doch das Zimmer eines Hospitals, und er war allein da, fern von allen, die er liebte. Er war noch nicht dreißig Jahre, aber er schien mindestens vierzig; ein langer schwarzer Bart hob seine Blässe und Magerkeit noch mehr hervor, und wenn ein Lächeln auf seine Lippen kam, so war es traurig zum Weinen. Ich sagte ihm, daß ich den Gedanken nicht habe aushalten können, ihn an diesen Festtagen allein zu wissen, und es schien ihm schmerzlich, daß niemand der Seinigen gekommen war, ihn zu sehen. Ehe ich ihn verließ, bat er mich, den folgenden Vormittag bis zur Essenszeit und den Nachmittag bis zum Abend zu kommen. Ich ging in den Gasthof zurück, traurig und doch glücklich; denn wenn es etwas gibt in der menschlichen Natur, was sie über das Vergängliche erhebt, so ist es die Charitas, das endlose Mitleid, in dem alles Persönliche untergeht, das das Leiden, die Schwäche, die Hinfälligkeit umfaßt, um zu trösten, zu retten, um den Tod noch zu verschönen. Selbst die größte Intelligenz hat ihre Grenzen, irrt zuweilen, läßt sich verblenden. Die große Liebe allein, die [226] zugleich Mitleid, Erbarmen, Vergessen aller Selbstsucht ist, die allein ist unfehlbar, strömt aus einer unbekannten ewigen Quelle und macht das Herz zu einem Tempel, wo sich die Mysterien der einzigen wahren Religion feiern: der Religion, die rettet und vergibt.

Am folgenden Morgen ging ich um zehn Uhr hin. Er hatte sein Zimmer schon aufräumen lassen und seine Krankentoilette etwas sorgfältiger gemacht. Ich hatte mir eine Handarbeit mitgebracht, setzte mich ihm gegenüber an den Tisch und nähte. Wir sprachen von tausenderlei Dingen und er wurde immer heiterer. Viel Lesen und Schreiben war ihm unmöglich, weil es seinen Kopf zu sehr anstrengte; es blieb ihm also nur das Gespräch. Wenn ich sah, daß auch dies ihn ermüdete, schwieg ich; er lehnte den Kopf zurück auf das Kissen und schloß oft die Augen, ich arbeitete fort, bis er selbst das Gespräch wieder anfing. Am Nachmittag war es ebenso; er warf mir sogar vor, spät gekommen zu sein. Unser Gespräch war sehr belebt. Am folgenden Tag war Silvester. Er lud mich ein, am Abend zu bleiben und sein Abendessen zu teilen. Ich hatte einige Kleinigkeiten mitgebracht, die er, wie ich wußte, liebte, um ein kleines Fest zu bereiten; die gute Krankenwärterin, die mich schnell liebgewonnen hatte, half mir alles ordnen. Theodor war heiter; ich gab mir Mühe, es zu scheinen und ihn nicht durch das leiseste Wort daran zu erinnern, daß in unserer Vergangenheit ein Abgrund von Schmerzen lag, deren Urheber er war. Er konnte sich mit seiner Mutter glauben. Auch sprachen wir sehr viel von ihr und unsere Herzen fanden sich in ihrem Angedenken. Mit der Neigung, die die Sterbenden haben, auf die Ereignisse der Vergangenheit zurückzukommen, da sich die Zukunft ihnen verschließt, erzählte er auch von Begebenheiten seiner Kindheit, von seiner ersten Liebe zu einem kleinen Mädchen, dann kam er auf seine Beziehungen zu seiner schönen Tante zu sprechen und gedachte mit gerechtem Lob ihres Geistes und ihrer Talente. Er rezitierte ein Gedicht von ihr, das wirklich sehr schön war. »Aber sie hatte nicht [227] das wahre weibliche Herz,« setzte er hinzu, »sie konnte nicht vergeben«. Er hielt an und zögerte, in seinen Erinnerungen fortzufahren. Ich forderte ihn nicht auf, sondern wartete, was er sagen würde. Plötzlich fragte er mich, ob sein Bruder mir mitgeteilt habe, was er ihm eines Tages gesagt hätte mit der Bitte, es mir zu sagen. Ich verneinte; darauf sagte er, er hätte ihm von dem Gefühl, das den Beziehungen zu seiner Tante gefolgt sei, wie von dem besten Gefühl seines Lebens und der edelsten Blüte seiner Jugend gesprochen.

Mit diesen Worten endete das Jahr für mich. Als ich einige Stunden, nachdem ich ihn verlassen hatte, Mitternacht schlagen hörte, fühlte ich brennende Tränen mein Kopfkissen netzen. Ich wußte, daß es das letzte Mal war, daß ein neues Jahr für ihn anfing, und daß, noch ehe es zu Ende ging, er nur noch eine Erinnerung sein würde.

Am Neujahrsmorgen ging ich früh aus, um zu sehen, ob ich Blumen kaufen könne. Er liebte sie so sehr und hatte mir einst so viele gegeben, daß ich ihm gern diese Überraschung machen wollte. Aber die kleine Stadt kannte solchen Luxus nicht: Blumen im Winter! Endlich sagte man mir, daß der Gärtner eines fürstlichen Lustschlosses, das eine gute Strecke weit außerhalb der Stadt lag, vielleicht welche habe. Ich ging hin, und wie groß war meine Freude, einen Topf mit einer blühenden Hyazinthe und einen andern mit Tulpen zu finden. Der Gärtner wollte sie mir zuerst nicht geben, aber ich bezahlte sie gut und erhielt sie. Nun trug ich sie selbst den weiten Weg zurück. Ein eisiger Wind wehte über die schneebedeckten Felder; ich fürchtete für meine Blumen und hielt schützend meinen Mantel um sie, wie um zwei liebe Kinder, während der Wind mir den Schleier wegriß und die scharfe Luft mein Gesicht zerschnitt. Ich wurde durch Theodors Lächeln belohnt, als ich die Blumen auf seinen Tisch setzte; durch die Freude, mit der er die süßen Düfte einzog, die ihm so viel köstliche Empfindungen zurückriefen, ihm, der die [228] Natur ebenso leidenschaftlich liebte, wie ich. Zwei Tage vor meiner Abreise war er sehr schwach; er konnte kaum sprechen und eine fieberhafte Unruhe trieb ihn, im Zimmer umherzugehen, oder sich bald hier, bald dort, erschöpft hinzusetzen. Er hatte nur ein Sofa und gewöhnliche harte Stühle im Zimmer. Ich sann auf Mittel, ihm etwas größere Bequemlichkeit zu schaffen, indem ich ihm einen Lehnstuhl fände, und lief durch die Stadt, einen zu mieten. Zu vermieten waren aber keine da, wohl aber zu verkaufen. Ich zögerte ein wenig; ich hatte nur gerade genug Geld, um meine Wirtshausrechnung und meine Rückreise zu bezahlen. Aber ich sagte mir, ich würde in der dritten Klasse fahren. Er hatte den Lehnstuhl nötig, ich kaufte ihn. Ich ließ ihn in sein Zimmer tragen und ging, den letzten Abend bei ihm zu verbringen. Er war sehr gerührt, und als er mir die Hand zum Abschied reichte, sagte er mit bewegter Stimme: »Man hat behaupten wollen, daß die demokratischen Frauen kein Herz hätten; es ist an mir, dem zu widersprechen.« Das waren die letzten Worte, die ich von ihm hörte. Ich konnte ihm nichts sagen. Mein Blick war von Tränen verschleiert; ich wußte, es war der ewige Abschied.

Am folgenden Morgen schied ich vor Tagesanbruch. Die Abfahrt des Zuges erwartend, ging ich auf der Plattform der Station hin und her. Es war frische aber ruhige Winterluft; über mir glänzten noch unzählige Sterne, aber im Osten zeigte ein dunkelroter Streif an, daß die Sonne wieder erscheinen werde, um diese Welt der flüchtigen Erscheinungen zu beleuchten. Mein Herz war so schwer, daß mir selbst die Tränen ihren Dienst versagten. Ich starrte auf den purpurnen Streifen am Horizont und fragte voll Verzweiflung: »Was bleibt noch übrig auf der Welt?« – »Gut zu sein,« antwortete es in mir. Ich klammerte mich an diesen einzigen Anker, und während der Dampf mich fern und ferner zog, betrachtete ich den Sonnenaufgang, und in meinem Herzen tönte es wie ein Hymnus an dieses glorreiche Schauspiel: »Gut zu sein, gut zu sein!« –

[229]
20. Kapitel. Lösungen
Zwanzigstes Kapitel
Lösungen

Die gewohnte Tätigkeit nahm wieder ihren Gang. Trotz der tiefen Nebenbeschäftigung meiner Gedanken widmete ich mich mit Eifer meinen Pflichten, und besonders waren es die Vorlesungen und die Gespräche mit meinem liebsten Professor, dem Naturalisten, die für mich von der größten Bedeutung wurden. Sie ließen mich immer mehr begreifen, welche Veränderungen in der menschlichen Gesellschaft vorgehen werden, wenn man einmal die positiven Bedingungen festgestellt haben wird, nach denen das Leben der Völker sich gebildet hat, nach denen die Staaten, die gesellschaftlichen Beziehungen, die religiösen Ideen, der Handel, die Industrie, die Wissenschaften und Künste sich entwickelt haben; wenn vor allem die Physiologie, indem sie die Bedingungen der Existenz des menschlichen Organismus aufklärt, unfehlbare Grundlagen für eine neue und vernunftgemäße Psychologie gegeben haben wird. Ich erkannte immer deutlicher, aus allen Verhältnissen heraus, die Kette von Ursache und Wirkung, die das ganze Dasein ausmacht und durch die sich endlich die lange Antinomie von Geist und Natur, von freiem Willen und der von innerer oder äußerer Notwendigkeit bedingten Handlung löst. Ich sah zugleich, daß, wenn die absolute Freiheit hierdurch verneint wird, doch die moralische Verantwortlichkeit des Menschen nicht dadurch aufgehoben wird, denn wenn jede Tat die Folge vorhergehender Ursachen ist, so wird sie zugleich Ursache einer Kette von Wirkungen und verbindet den Menschen mit diesem großen Gewebe der Existenz, dessen Faden niemals abreißt. Einmal den Satz festgestellt, daß eine jede Handlung sich notwendig nach den überwiegenden Motiven bestimmt, so legt uns dies die doppelte Pflicht auf, die Motive zu fliehen, die uns zum Bösen bestimmen können, und diejenigen in uns zu stärken, die bestimmende Ursache des Guten werden, sei es für uns selbst oder für die, die wir erziehen. [230] Denn wenn es keine Freiheit des Willens gibt, so gibt es auch andererseits keinen unmittelbaren Gehorsam gegen die bestimmenden Motive, sondern dieser bereitet sich meistenteils sehr allmählich vor. Der bewußte Mensch ist also verantwortlich für diejenigen Motive, durch die er oder die, die er zu leiten hat, bestimmt werden. Diese Verantwortlichkeit ist es, die wir seine Freiheit nennen, oder mit anderen Worten: seine Fähigkeit, in seinem Leben die Motive überwiegend zu machen, die ihn zum Guten bestimmen. In diesem Sinn ist auch die Gesellschaft verantwortlich dafür, daß sie in ihrem Schoße die Motive geltend macht, die zum Guten führen. Eine aufgeklärte Justiz sollte daher immer erst fragen, inwieweit die Gesellschaft vielleicht selbst an dem begangnen Verbrechen Schuld hat, inwieweit nämlich sie es unterließ, den Schuldigen mit den Motiven zu umgeben, die zum Guten reizen und so das Verbrechen verhüten. Erst danach sollte sie richten, entschuldigen oder strafen.

Es fingen schwere Sorgen an auf uns zu liegen, wegen des materiellen Bestands der Hochschule. Es war klar, daß man uns, durch allerlei Machinationen, die Subsidien von außen abschnitt. Ein Teil der Geber in der Stadt wurde nach und nach kälter gegen das Institut; das waren die schwachen Charaktere, die vor Drohungen erschraken oder Einflüsterungen Gehör gaben. Die intime Verbindung der Hochschule mit der freien Gemeinde gab den Pfaffen (die wütend waren, weil ihre Kirchen leer blieben, während der Gemeindesaal die Zahl der Zuhörer nicht fassen konnte) einen Vorwand, um die Anstalt anzugreifen und ihr die Sympathien derer, die nicht offen mit Gott brechen wollten, abwendig zu machen. Emilie und ich hatten lange, traurige Beratungen miteinander. Man warf uns vor, zu radikal gewesen zu sein, unsere Grundsätze zu offen bekannt zu haben; aber wir bedauerten es nicht, klar ausgesprochen zu haben, was wir wollten. Wenn die Zeit noch nicht reif war für die Verwirklichung unserer Ideen, so war es besser, ihre Erfüllung der Zukunft zu überlassen, als ein Kompromiß mit [231] der alten Welt zu machen. Es gibt Naturen, die am Fortschritt der Gesellschaft arbeiten können, indem sie alle Vorurteile schonen, die Sachen nur halb beim Namen nennen, und ein wenig nachgeben, um ein wenig zu erlangen. Diese übrigens ganz ehrlichen Naturen tun ihre Arbeit, und sie hat ihren Nutzen. Aber es gibt andere, die von der unwiderstehlichen Logik der Grundsätze vorwärts getrieben, sich bestimmt aussprechen müssen. Wenn es ihnen auch nicht gelingt, ihr Ideal zu verwirklichen, so erringen sie doch für dieses die energischen Sympathien, und zum wenigsten sind sie selbst ein lebender Protest gegen die versteinerten Formen, die den lebendigen Geist nicht mehr enthalten. Unsere ausgezeichnetsten Lehrer stimmten mit uns überein, obgleich auch sie mit unendlicher Trauer an die Notwendigkeit dachten, das Institut schließen zu müssen.

Eines Abends ging ich allein am Rand des großen seeähnlichen Bassins spazieren, das der Fluß bei Hamburg bildet. Es war in den ersten Tagen des April; der Frühling war kaum erschienen; die Luft hatte jenes Gemisch von sanfter Lieblichkeit und erfrischender Schärfe, die das Charakteristische nordischer Frühlinge ist; das erste Grün war kaum heraus und man atmete den Geruch der feuchten, frischen Erde, die sich erst vom letzten Schnee befreit hatte. Die Sonne war untergegangen und der Himmel von einem blassen, durchsichtigen Blau, bedeckte sich mit zarten, rosa Wolkenstreifen, ferner Abglanz eines großen, verschwundenen Lichts. Mein Herz, von jeher den Einflüssen der Natur unterworfen, war es an dem Abend mehr als gewöhnlich. Alles, was auf meinem Leben lastete, alle traurigen Enttäuschungen, die meiner noch warten mochten, zogen an meinem Geist vorüber. Der Gedanke an den Sterbenden lag besonders schwer auf mir. Ich wußte, daß jetzt auch keine Hoffnung mehr war, daß er wenigstens das Hospital werde verlassen können, und er wußte es selbst. In einem seiner Briefe hatte er mir geschrieben, daß er abermals einige schwere Leidenstage durchgemacht habe, und hatte hinzugefügt: [232] »Einziger Trost, daß niemand von denen, die mich lieben, dabei war, um mit mir zu leiden.« Ich hatte ihm darauf einen Vorwurf gemacht über diese Art, die Sache anzusehen, und hatte ihn sogar gebeten, seine reiche Freundin zu sich zu rufen, die unabhängig war zu tun, was sie wollte, und keine Pflicht zu versäumen hatte. Ihr Name war nie zwischen uns genannt worden, obgleich ich sehr wohl wußte, welche nahe Beziehungen zwischen ihnen bestanden. Jetzt, wo das Mitleid auch die letzte Spur von Egoismus in mir getötet hatte, wünschte ich selbst sehnlich, daß sie zu ihm gehen möge, damit ein liebendes Wesen ihm nahe sei. Ich schrieb ihm nun auch offen von der Möglichkeit des Todes und erinnerte ihn an alles, was er für sich und andere gewesen, an den Reichtum von innerem Leben, den die Natur ihm gegönnt, das Doppelte von dem, was sie anderen gewährt. Er dankte mir in seiner Antwort dafür, daß ich ihn daran erinnert hätte, was er anderen einst gewesen, »denn«, fügte er hinzu, »ich bin nur noch ein Schatten davon, und bald werde ich auch aufhören, das zu sein.«

Auf jenem Spaziergang nun, von dem ich sprach, nahm ich mir vor, daß, wenn die Hochschule geschlossen werden müßte, ich nach Gotha übersiedeln und da entweder eine kleine Schule eröffnen oder Privatstunden geben wolle, um, so lange Theodor lebe, in seiner Nähe zu sein und ihm nützlich sein zu können. Ich war so versenkt gewesen in meine Gedanken, daß die Nacht mich überraschte und daß ich Anna über mein Ausbleiben beunruhigt fand. Die alte Freundschaft zwischen uns hatte sich ganz wieder hergestellt. Sie hatte begriffen, daß eine Liebe wie die meine erhaben ist über jeden Zweifel, über jede falsche Deutung, und sie billigte jetzt alles, was ich tat. Ich teilte ihr meinen Plan mit, sie fand ihn natürlich und recht.

Am folgenden Morgen war Prüfung in der Gemeindeschule. Ich fand mich zu rechter Zeit dazu ein, und alle dazu Gehörigen waren versammelt, nur der erste Lehrer, der »Demokrat«, fehlte, er, der sonst die Pünktlichkeit selbst war. [233] Endlich kam er, aber ich sah an seinem gewöhnlich ruhigen, ernsten Gesicht, daß ihn etwas Besonderes betroffen haben müsse. Das Interesse, das ich an der Schule nahm, zog jedoch meine Aufmerksamkeit nach dieser Seite hin ab, und ich war voll Freude über die schönen Erfolge, die die Prüfung uns sehen ließ.

In einer Pause bat der »Demokrat« mich, mit ihm in sein Arbeitszimmer zu kommen, da er mir etwas mitzuteilen habe. Als wir allein waren, wandte er sich zu mir mit sichtlicher Bewegung und sagte zögernd: »Ich habe heute morgen einen Brief von meinem Bruder erhalten« – – (ich wußte, daß sein Bruder seit einiger Zeit in Gotha war und Theodor zuweilen besuchte). – »Tot?« unterbrach ich ihn, da ich sogleich die Wahrheit erriet. Er bejahte stumm. Wir schwiegen beide. Er hatte Tränen in den Augen. Ich weinte nicht. Das Nichts war um mich her; das absolute Schweigen, die Öde ohne Ende. Dann wollte er mir Einzelheiten berichten. »Heute abend!« sagte ich und reichte ihm die Hand. Ich nahm gewohnheitsmäßig den Weg nach Hause; bei der Hochschule begegnete ich Emilien und sagte ihr leise: »Theodor ist tot.« Sie war bestürzt, sie hatte ihn sehr lieb gehabt. Ich konnte aber auch mit ihr nicht sprechen; ich ging in mein Zimmer, um zu warten, bis das Gefühl des Lebens und der Pflicht mir zurückkehren würde. Am Abend erfuhr ich durch den »Demokraten«, daß bis zum Tag des Todes kein besonderes Anzeichen eines nahen Endes dagewesen sei, daß aber am Morgen dieses Tages Theodor gesagt hätte: »Wenn der Arzt mir heute nicht hilft, so ist dies mein letzter Tag.« Der Arzt war gekommen, hatte aber gar keinen Grund zu unmittelbarer Besorgnis gefunden. Zur Zeit des Sonnenuntergangs hatte er die alte Wärterin gebeten, ihm zu helfen, sich in den Lehnstuhl zu setzen, den ich ihm geschenkt hatte, und ihn dem Fenster zuzuwenden. Er hatte unverwandt in das sterbende Tageslicht geschaut und war mit ihm dahingegangen, sanft ohne Kampf. Die gute Alte hatte ihm die Augen zugedrückt und ihn wie einen Sohn[234] beweint. »Er ist ein so gerechter Mensch,« hatte sie mir von ihm gesagt, als ich in Gotha war. Am folgenden Tag erhielt ich vom Inspektor des Hospitals, dem ich meine Adresse gelassen hatte, die Anzeige. Äußerlich ertrug ich den Schlag mit Fassung, aber im Innern war mir alles verändert, trotzdem ich so vollständig vorbereitet gewesen war. Jetzt erst stand ich der vollendeten Tatsache gegenüber. Die schöne Individualität, begabt mit allem, was Menschen unwiderstehlich anziehend macht, fähig, das Größte, das Schönste zu vollbringen, war dahin; die Augen, deren Licht mir einst die Welt verklärt hatte, waren geschlossen für ewig. Der brennendste Schmerz war der, nicht bei ihm gewesen zu sein in der letzten Stunde; ihn nicht begleitet zu haben bis an die geheimnisvolle Schwelle, nicht seinen letzten Gedanken, seinen letzten Seufzer, als ewiges Vermächtnis empfangen zu haben. Ich warf es mir vor, nicht wieder hingegangen zu sein, wie das erste Mal, denn er, der niemand Zeuge seiner Leiden sein lassen wollte, hatte niemand gerufen. Nun war es zu spät; es war vorbei, vorbei!

Ich war wie tot für jeden persönlichen Anspruch. Ich lebte nur noch für die Arbeit. Noch mehr als früher verband ich mich mit der arbeitenden Klasse. Es schien mir immer klarer, daß die Zukunft in ihr ruhe; die bloß politische Revolution war mir gleichgültig geworden. Ich hatte mich überzeugt, daß sie stets mißglücken werde, so lange das Volk Sklave des Kapitals und der Unwissenheit bleibe. Ich versammelte öfter eine Anzahl der gebildetsten Arbeiter, dem Tischler ähnlich, von dem ich früher gesprochen habe, bei mir. Wir besprachen die eben angedeuteten Ideen und waren darüber ganz einverstanden. Die Handwerkervereine, die sich seit dem Jahre Achtundvierzig rasch in Deutschland entwickelt hatten, lieferten einen Beweis, wie viel sich mit geringen Mitteln durch freie Assoziation geistig und moralisch Gutes schaffen ließe. Der Verein in Hamburg hatte nicht nur ein schönes Lokal, eine bedeutende Bibliothek, eine Hilfskasse, wo auch der reisende Handwerker im Notfall eine [235] Unterstützung fand, sondern es wurde daselbst, durch wissenschaftlichen und künstlerischen Unterricht, ein solcher Grad der Bildung angebahnt, daß man sich mit Freude bei den Festen fand, die zuweilen dort gegeben und zu denen Gesinnungsgenossen eingeladen wurden. Die Statistik dieser Vereine bewies, wie sehr die Moralität durch die Bildung befördert worden. Die Kneipen blieben leer, und die Arbeiter zogen es vor, ihre Abende für ihre Belehrung zu verwenden, anstatt ihren Lohn zu vertrinken. Wer hätte es glauben sollen? – gegen diese wohltätigen Vereine, aus dem Bedürfnis des Volks selbst hervorgegangen, die vom Staat keine Hilfe verlangten, die ihn nicht anderswie berührten, als daß sie ihm gebildetere und sittlichere Untertanen gaben – gegen diese gerade wandte sich die Reaktion mit bitterer Verfolgung. Der erste Minister des ersten deutschen Staats hatte von ihnen gesagt, daß sie »die Eiterbeulen« der Gesellschaft seien. Man fing an, sie überall aufzulösen. In Hamburg unter der »mütterlichen« Regierung existierte der Verein noch, aber er durfte sich auch der baldigen Auflösung gewärtigen. Wir beschlossen also in unseren Verhandlungen mit den Arbeitern, im geheimen an dem Bund der Arbeit und des gemeinsamen Interesses fortzuarbeiten, wenn man es öffentlich nicht mehr könne. Es war dabei keine Rede von politischer Revolution. Es handelte sich nur darum, das Volk durch die Gemeinsamkeit der Interessen, durch gegenseitige Hilfe usw. so zu verbinden, daß es gegen das Elend geschützt und vorbereitet sein würde, besseren Tagen würdig entgegen zu gehen.

Inzwischen machten sich auch die Wirkungen der geheimen Umtriebe gegen die Hochschule immer fühlbarer. Wir sahen ein, daß es unmöglich werden würde, sie zu erhalten. Wir wollten keine Konzessionen machen, nicht um Hilfe betteln, denn wir hätten lügen müssen, um sie zu bekommen. Wir beschlossen also, freiwillig zu enden, in der höchsten Blüte unserer moralischen Erfolge – um zu beweisen, daß die[236] Schließung der Schule nicht die Folge eines falschen Prinzips, sondern der ungenügenden materiellen Mittel sei.

Die Erfahrung war jedenfalls gemacht, das Resultat war vollkommen. Jetzt bedurfte es der Zeit, um den Samen zu reifen. Der Gedanke, die Frau zur völligen Freiheit der geistigen Entwicklung, zur ökonomischen Unabhängigkeit und zum Besitz aller bürgerlichen Rechte zu führen, war in die Bahn zur Verwirklichung getreten; dieser Gedanke konnte nicht wieder sterben. Wir zweifelten nicht, daß viele von denen, die seine erste Inkarnation in unserer Hochschule gesehen hatten, noch seinen völligen Triumph sehen würden, wenn nicht in Europa, so doch in der neuen Welt.

Ungefähr dieselben Ideen wurden in den Reden ausgesprochen, die unsere Professoren bei der großen feierlichen Abendversammlung hielten, die wir zum Abschied veranstaltet hatten, um als Sieger, nicht als Besiegte zu scheiden. Die Redner waren so gerührt, daß sie kaum ihre Tränen zurückhalten konnten; ich fühlte die meinen fließen, während sie sprachen. In Theodors Grab, in das der Hochschule, begrub auch ich die Jugend, die Hoffnung, den freudigen Mut, der noch an eine Erfüllung in der Zukunft glaubt. Die Illusionen des Lebens erloschen für immer. Ich nahm das Leben noch auf mich als eine Aufgabe, aber ich war tief müde. Die Frage stieg wieder vor mir auf: Was tun? In meine Familie zurückkehren war unmöglich, um derselben Ursachen willen, um derentwillen ich sie verlassen hatte. Wenn noch ein Wunsch in mir war, so war es der, nach England zu gehen, wo eine große Anzahl politischer Flüchtlinge lebte, unter denen ich Freunde hatte, die mich dorthin riefen. Aber bei der geringsten Andeutung eines solchen Wunsches in meinen Briefen war meine Mutter aufs neue so unglücklich, daß ich sogleich darauf verzichtete, und diesmal ohne großen Kampf. Ich fühlte mich so gebrochen, geistig wie körperlich, daß ich glaubte, nicht mehr lange leben zu können, und ich war zufrieden, mich mit in das große Grab zu versenken, in das man alle großmütigen Bestrebungen, die [237] Freiheit der Individuen und des Vaterlandes, erbarmungslos hinabwarf. Ich konnte auch nicht in Hamburg bleiben, obgleich meine jungen Freundinnen aus der Hochschule mich beschworen, da zu bleiben und sie auch ferner zu leiten. Aber da ich nicht genug Vermögen hatte, um unabhängig zu leben, so hätte ich hart arbeiten müssen, und ich fühlte in dem Augenblick, daß mir dazu die Kräfte fehlten. Anna bot mir an, mit ihr nach Berlin zu gehen, mich einstweilen für ein kleines Kostgeld bei ihr auszuruhen und dann über die Zukunft zu entscheiden. Ich nahm dies an; denn trotz der Verschiedenheit unserer Naturen war sie mir doch unendlich lieb, und nach Theodors Tod hatte sie sich so liebevoll gegen mich gezeigt, daß die Vergangenheit jetzt ein Band mehr zwischen uns war. Bei ihr, das wußte ich, würde keine schmerzende Saite berührt werden, und ich beschloß, nur für ernste Studien und in tiefster Zurückgezogenheit zu leben.

Der Abschied von Hamburg war unaussprechlich traurig. Am Morgen unserer Abreise fanden sich Emilie, der »Demokrat«, der Prediger, viele unserer Schülerinnen auf der Station ein, um uns Lebewohl zu sagen, und heiße Herzenstränen flossen von allen Seiten, nicht bloß dem persönlichen Trennungsleid, auch den gemeinsam zerstörten Hoffnungen, dem wieder geknechteten Vaterland.

In Berlin angekommen, richtete ich mich in einem stillen Zimmer bei Anna ein, und da, von einer vortrefflichen Bibliothek umgeben, wollte ich warten, bis mir die Kraft zur Arbeit zurückkäme. Um mich zu erholen, fing ich an, die griechischen Tragödien wieder zu lesen. Besonders die Antigone las ich mit immer neuem Entzücken. Ich fand in ihr das unleugbare Zeugnis, daß, wenn die Griechen im täglichen Leben der Frau eine untergeordnete Stellung anwiesen, die Dichter wenigstens das allerhöchste Ideal von ihr hatten. Welch edleres Wesen kann man sich vorstellen als Antigone, die allen Gefahren Trotz bietet, um die ideale Pflicht zu erfüllen; die Pflicht, die die innere Stimme den auserwählten Naturen gebietet, und die nur zu oft mit dem [238] absoluten Gesetz im Widerspruch steht! Der Unterschied zwischen dem idealen Menschen, der illegal handelt, ist nirgends erhabener dargestellt, als in Antigone und Kreon. Das ist eine der ewigen Schöpfungen, die einen Konflikt darstellen, der sich so lange wiederholen wird, als die Geschichte der Menschen dauert. In den Antworten Antigones liegt alles, was den Menschen adelt und ihn unter die Sterne versetzt. Was könnte der moderne Mensch, der für sein Prinzip stirbt, Höheres der Tyrannei, die sich hinter das Gesetz versteckt, erwidern? Daß der Dichter eine Frauengestalt wählte, um diesen Kontrast hinzustellen, ist doch gewiß ein Beweis, daß in den kunstgeweihten Seelen der Griechen das schönste Ideal der Frau leben mußte. Außerdem braucht man übrigens nur an die Minerva zu denken, in deren Antlitz sich die höchste Majestät des Gedankens und des Charakters mit der edeln Schönheit der Form verbindet, um zu begreifen, daß nicht nur die Dichter, sondern auch die Künstler Griechenlands die Frau darstellten, wenn sie der höchsten Vereinigung menschlicher Eigenschaften Ausdruck geben wollten.

Ich schrieb darüber einen Aufsatz und schickte ihn an ein demokratisches Blatt. Der Redakteur des Blattes kam mich zu besuchen, mit ihm zwei andere Demokraten, für die ich Briefe aus Hamburg mitgebracht hatte. Wir sprachen über Prinzipien und über die Notwendigkeit, die Solidarität der arbeitenden Klassen durch Bildung und den Begriff der Gemeinsamkeit der Interessen aufrecht zu erhalten und zu befestigen. Dies waren die einzigen Personen, die ich außer meinen Hausgenossen sah, und auch das nur äußerst selten. Außerdem hatte ich meine Korrespondenzen mit den Freunden in Hamburg, in England und Amerika. In den Unterredungen jedoch wie in den Briefen war es nur noch ein Austausch von Gedanken und Ansichten ohne den mindesten Hintergedanken einer revolutionären Tat. Was hätte man auch beginnen können in einem Zustand der Dinge, wo man sogar gegen die Kindergärten einzuschreiten für nötig hielt, unter dem Vorwand, daß man im Ministerium Dokumente [239] besitze, die deutlich darlegten, wie die Pädagogen schon in die kleinen Kinder den Keim der Freiheit und der Unabhängigkeit legen wollten! Dies wurde in meiner Gegenwart wörtlich von einem im Ministerium beschäftigten Herrn, mit dem ich zufällig einmal zusammen kam, gesagt.

Eines Tages erhielt ich einen Besuch, der mich schmerzlich aufregte. Der jüngste meiner Brüder war als Gesandter der deutschen Regierung, in deren Diensten er sich befand, nach Berlin gekommen. Er war, wie schon früher gesagt, ein Mensch von großem Verstand, von großen Talenten, aber zugleich absoluter Aristokrat und Monarchist, sowie strenger Protestant. Wir waren einst sehr intim gewesen, und doch hatte sein Wesen mir stets einen gewissen Zwang eingeflößt; ich hatte mich nie ganz frei ihm gegenüber gefühlt, und seit unseren letzten Gesprächen über Religion während der Krankheit meines Vaters hatte jede Verbindung zwischen uns aufgehört. Ich wußte durch meine Schwestern, daß er mir schwer zürnte seit meinem Aufenthalt in Hamburg und meinem Anschluß an die freie Gemeinde. Dennoch kam er nach seiner Ankunft in Berlin mich zu besuchen. Ich wußte ihm Dank dafür, daß seine Liebe über seine Vorurteile gesiegt hatte, und empfing ihn voll Zärtlichkeit. Er fing das Gespräch damit an, daß er gekommen wäre, um mir zu sagen, wie tief es ihn schmerze und kränke, eine Schwester, die er einst sehr geliebt, nicht nur in einer falschen, sondern in einer verderblichen und schuldvollen Richtung zu sehen. Er sprach von einem Brief unserer Mutter, worin diese ihm ihren tiefen Kummer mitgeteilt habe über meine Idee, nach England zu gehen, zu Menschen, die des Hochverrats angeklagt wären. Er beschwor mich, dies nicht zu tun, da es den geehrten Namen unseres Vaters noch im Grab beschimpfen würde. Ich sagte ihm, daß ich diesem Wunsch schon aus Liebe zur Mutter, der ich meine Wünsche stets zu opfern bereit sei, wenn sie unabhängig von meinen Überzeugungen wären, entsagt hätte. Darauf fing er an, mir zu beweisen, wie dies gerade mein Grundirrtum sei, mir Überzeugungen [240] auf einem Gebiet anmaßen zu wollen, wo die Frau nicht hingehöre.

»Die wahre Bestimmung der Frau,« sagte er, »ist die, an dem Platze zu bleiben, den ihr Gott angewiesen hat; deine Pflicht findet sich bei deiner Mutter, bei den Deinen. Was haben die, zu deren Gefährtin du dich gemacht hast, der Menschheit Gutes getan? Sie haben alle Fragen der Gerechtigkeit und der Moral gefälscht, weil sie die einzige wahre Basis verlassen haben: die Gesetze Gottes, die er uns durch seinen Sohn offenbart hat. Nur auf der granitnen Unterlage der Vergangenheit ruhen die Monumente der Gegen wart, erheben sich die der Zukunft. Die Männer, denen Gott die Führung der andern Menschen anvertraut hat, arbeiten seit lange an dem schweren Werk und halten die Fäden in der Hand, die das Gewebe der Geschicke der Völker bilden. Die nur können dies Werk verstehen und es leiten. Es ist eine unnütze und verderbliche Eitelkeit von seiten der Frauen, sich darein mischen zu wollen; sie treten damit aus dem Gebiet heraus, das ihnen Gott und die weibliche Demut anweisen. Glaube mir, meine Schwester,« fuhr er mit vieler Bewegung fort, »es gibt nur ein Mittel für dich, den rechten Weg wiederzufinden: wirf dich auf deine Knie und flehe deinen Heiland an; er, der für dich gestorben ist, wird sich deiner erbarmen. Ich versichere dir, daß auch ich jeden Tag für dich bete, wenn ich, allein in meinem Zimmer, mich im Gebet mit der vereine, die jetzt bei ihm für dich und mich fleht.«

Er meinte seine verstorbene Frau, die er heiß geliebt hatte und deren Andenken er einen solchen Kultus weihte, daß er sich nicht wieder verheiraten wollte.

Er fuhr noch lange in diesem Ton fort. Ich wollte anfangs eingehend mit ihm reden, ihn ruhig widerlegen, aber ich sah bald, daß es unnütz war. Seine Überzeugungen waren ebenso unerschütterlich wie die meinen, und keine Vernunftgründe konnten sie wankend machen. Er war auch einst durch den Kampf des freien Gedankens mit der Tradition gegangen, [241] war aber zum Glauben an die Offenbarung zurückgekehrt, und nun, mit einem stolzen und festen Charakter wie der seine, war nichts mehr zu machen. In dem, was er sagte, war einiges, was mich empörte, denn ich sah hinter den demütigen Worten die stolze Anmaßung des Absolutisten. Aber er sprach bei alledem mit tiefer Bewegung, und es kam aus seinem Herzen. Um ihn erhoben sich vor meiner Seele der Schatten meines Vaters, das Bild der Mutter, das Leben der Familie, alle teuren Erinnerungen der Jugend, der Schmerz um diese Vergangenheit, die nie zurückkehren konnte, um die jüngst erlebten Verluste, um diese Verkehrtheit der Menschen, die sich befeinden wegen verschiedener Ansichten, während die Herzen sich lieben möchten – alles erfaßte mich mit solcher Gewalt, daß ich in heiße Tränen ausbrach. Mein Bruder war beinah erschrocken und sagte: »Du bist krank, und das erklärt vielleicht deine Verirrungen.«

»Nein,« sagte ich ihm endlich, »ich bin nicht krank; aber ich weine, weil ich euch alle innig liebe und weil ich sehe, daß ihr unfähig seid, die Toleranz zu üben, die allein uns in der alten Liebe über dem Abgrund vereinen könnte, den unsere Ansichten zwischen uns gegraben haben. Denn wisse es: mein Glück kann ich euch opfern und meine persönlichen Wünsche, aber nichts wird meine Überzeugungen ändern. Ich erkenne mir das Recht zu, solche zu haben, und selbst wenn ich sie ändern wollte, würde ich es nicht können, denn ich kann meine Vernunft nicht zwingen, falsch zu finden, was sie für recht erkennt.« Ich erneuerte ihm jedoch meine Versicherung, nicht nach England gehen zu wollen – der Umstand, den er am meisten zu fürchten schien – und dankte ihm schließlich, daß er gekommen wäre, da ich doch darin trotz aller harten Dinge, die er gesagt, einen Beweis seiner Liebe zu mir fände.

Er war gerührt und erzürnt zugleich. Im Fortgehen sagte er mir, daß, wenn ich seiner bedürfe, ich nun wisse, wo er zu finden sei, und daß, wenn mir etwas mangele, ich mich stets an ihn wenden solle. Ich antwortete nichts auf diese [242] Anerbietungen, aber ich gelobte mir im Herzen, nie zu dieser Hilfe meine Zuflucht zu nehmen und lieber von meiner Hände Arbeit zu leben. Ich wollte ihm wenigstens Achtung vor diesen Prinzipien, die er verdammte, abzwingen und ihm zeigen, daß, wenn die Religion das Betteln und auf anderer Kosten leben kanonisiert hatte, die Demokratie im Gegenteil als ersten Grundsatz aufstellte, daß der Mensch arbeiten soll, und daß seine Würde es erheischt, daß er sich seine Unabhängigkeit durch eigene Anstrengung erwerbe.

Anna, die uns nicht hatte stören wollen, die aber lebhaftes Gespräch und Weinen gehört hatte, trat ein, sobald mein Bruder fort war. Sie nahm liebevollsten Teil an meiner Trauer und suchte mich zu trösten. Ich griff abermals zu meinem alten Mittel, zu einem einsamen Spaziergang. Aus den geräuschvollen Straßen der großen Hauptstadt fort eilte ich einem Ort außerhalb der Tore zu, den ich allen anderen Spaziergängen der Stadt vorzog. Es war ein kleiner Hügel, auf dem sich eine gartenähnliche Anlage befand, die die Gräber der 1848 im Kampfe gegen die Soldaten gefallenen Kämpfer für die Freiheit enthielt. Die Demokratie hatte ihnen zur Zeit ihrer Macht, gleich nach dem Kampf dieses Asyl geweiht, wo sie allein, unter wohlgepflegten Blumen und einfachen Denkmälern schlummerten. Ich setzte mich an einem Grabe nieder, das von Fabrikarbeitern den gefallenen Brüdern errichtet war und dessen Inschrift lautete:


»Im Kampfe für des Volkes Freiheit sterben,
Das ist das Testament, nach dem wir erben.«

Zu meinen Füßen breitete sich die stolze Hauptstadt mit ihren Palästen, ihrem Luxus, ihrem geistigen Leben und ihren triumphierenden Soldaten in der weiten Ebene aus. Alles war übergossen von den Strahlen der untergehenden Sonne, die in den Nebeln und Dünsten, die der nordischen Atmosphäre eigen sind, mannigfaltige glänzende Farbenspiele hervorrief. Fernher tönte das Geräusch der volkreichen Stadt, wie das Rauschen des Meeres. Um mich her aber, im stillen[243] Garten des Todes, war ein tiefer Friede. Der Gesang der Nachtigall, das Wehen des Abendwinds, der mit den Düften der Gräberblumen spielte, unterbrachen allein die Stille. Ich glaubte mich ganz allein unter diesen Gräbern und betrachtete das Bild vor mir, indem ich die schmerzlichen Betrachtungen weiter verfolgte, die die soeben erlebte Szene hervorgerufen hatte. Diese Toten, die da um mich ruhten, hatten sie den Preis des vergossenen Blutes erhalten? Hatten sie die Rechtfertigung des Erfolgs gehabt? Und ich, hatte ich die großmütigen Bestrebungen, für die mein Herz glühte, verwirklichen können? Hatte ich durch Vernunft und Liebe über den Widerstand, den ich antraf, gesiegt? – Sie lagen da unter der Erde, stumm und unmächtig, und ihre überlebenden Brüder waren mehr wie je unter dem Joch, und mußten ihr Lasttierleben weiterführen. – Ich war allein, geschieden von den Meinen, meine höchsten Neigungen galten Toten, meine Arbeit war vernichtet. – Hatten sie denn Unvernünftiges verlangt? Wollten sie sich durch den Ruin anderer erheben? Nein, sie hatten nur die Arbeit von dem Fluch befreien wollen, den die Tradition auf ihr ruhen läßt, seit er an der Pforte des verlorenen Paradieses ausgesprochen war. Sie hatten freie Institutionen verlangt, um ein freies, starkes, glückliches Volk zu werden. – Und ich, hatte ich jemals gesagt, daß die Familienbande nicht heilig sind, daß die Frau sich emanzipieren soll, indem sie die besonderen Pflichten ihres Geschlechts von sich wirft und von dem Manne annimmt, was auch bei ihm sehr oft häßlich ist? Ich hatte ja im Gegenteil die Frauen würdiger machen wollen, Frauen und Mütter zu sein, durch die Entwicklung ihrer geistigen Fähigkeiten, durch die sie nicht nur die leiblichen Erzeugerinnen, sondern auch die wahren Erzieherinnen und geistigen Bildnerinnen der Jugend werden könnten. Ich hatte gewollt, daß die Frau, anstatt des Mannes Brutalität nachzuahmen, so sehr ihm ebenbürtig werden sollte für die Kulturaufgabe der Menschheit, daß sie auch ihm helfen sollte, sich von allem Schlechten zu befreien.

[244] Weshalb waren wir denn also scheinbar im Unrecht, die Toten und ich? Die Schuld war gewiß nicht unser, sondern unseres gemeinsamen Feindes, des Despotismus im Staate und in der Familie. Ich sah klarer denn je, daß die beiden Despotinnen ein und dieselbe Sache sind und aus derselben Quelle fließen. Es ist die ewige Bevormundung der Individuen wie der Völker: verordneter Glaube, verordnete Pflichten, verordnete Liebe. Statt dessen sollte man dem Individuum sagen: »Wähle dir nach deiner Einsicht deinen Glauben, deine Verpflichtungen, deine Neigung; wir ehren deine Freiheit; ist deine Wahl unwürdig, trage die Folgen; bleibst du ein sittliches Wesen, so werden wir dich lieben trotz der Verschiedenheit unserer Ansichten.« – Und den Völkern: »Sprecht frei über eure Klagen, eure Bedürfnisse; beraten wir uns, ihnen abzuhelfen! wir sind nur da, um allen gerecht zu werden, um den vernünftigen Willen aller zu verwirklichen.« – Ist es denn so schwer zu begreifen, daß die Freiheit das stärkste Gesetz ist? Die Kinder dazu erziehen, die Völker daran gewöhnen, dies zu begreifen – damit wäre eigentlich die ganze Aufgabe der Zivilisation erfüllt. Die Familie und der Staat würden dadurch ihre wahre beglückende Form finden, während die gewaltsame Autorität ewig die Empörung an ihrer Türe finden wird.

Während ich diesen Gedanken nachhing, war die Sonne untergegangen, und tiefe Abendschatten bedeckten die Stadt, auf dem Hügel der Toten aber herrschte noch eine leuchtende Klarheit. »Das Licht unserer Ansichten wird einst noch leuchten, wenn aller Despotismus mit den Schatten ewiger Vergangenheit bedeckt sein wird,« sagte ich mir, indem ich meine Blicke zu den Gräbern wandte, wie um auch die zu trösten, die darin schlummerten. Da bemerkte ich, daß ich nicht allein war. In einer kleinen Entfernung standen ein junger Arbeiter und ein junges blondes Mädchen, das sich auf seinen Arm stützte. Beide betrachteten mich mit dem Ausdruck tiefer Aufmerksamkeit und Ehrfurcht. Ich stand auf, sie wollten sich entfernen, aber ich ging zu ihnen hin.

[245] Der junge Mann sagte: »Entschuldigen Sie, wenn wir Ihre Betrachtungen gestört haben; wir haben Sie lange angesehen; als Sie da so traurig und gedankenvoll saßen, sagte ich meiner Braut: Das ist sicher eine der Unseren.«

Ich versicherte ihnen, daß ich allerdings eine der Ihrigen wäre, und ließ mich in ein Gespräch mit ihnen ein. Sie erzählten mir, daß sie noch zu arm wären, um zu heiraten, daß sie fern voneinander wohnten, sich nur selten sehen könnten, da er in einer Fabrik, sie als Dienstmädchen, sehr beschäftigt wären, daß sie aber, wenn sie einmal eine Stunde Zeit hätten, sich meist an diesem Ort zusammenfänden, wo so viele ihrer Freunde ruhten und wo sie sich die heiligen Hoffnungen in das Gedächtnis riefen, für die jene gestorben wären.

Ich erzählte ihnen dagegen, welche Gedanken mich eben beschäftigt hätten und wie, trotz allem, was die Gegenwart Trauriges hätte, wir überzeugt sein dürften, daß dieses Blut nicht umsonst geflossen wäre; daß die großmütigen Opfer niemals unfruchtbar wären; und daß die Zeit wiederkehren würde, wo der Samen der Freiheit aufgehen und Früchte bringen müßte; daß sie, noch so jung, diese Zeit vielleicht noch sehen würden. Dann sprachen wir von dem Handwerkerverein, der eben von der Regierung aufgelöst worden war, und der junge Mann sprach über den veredelnden Einfluß, den dieser ausgeübt hätte. »Indem man uns verbietet, unsere Erholung in der Belehrung und im Lesen zu suchen, zwingt man uns förmlich, sie wieder in der Schenke zu suchen; und das nennt man die wirklichen Interessen des Volks wahren und die Revolution ersticken,« setzte er mit bitterem Lächeln hinzu.

Ich verließ sie endlich mit einem herzlichen Händedruck. Diese Stunde der Betrachtung und das Gespräch mit den armen jungen Leuten, die während der kurzen Augenblicke, wo sie sich ihrer Liebe freuen konnten, das Asyl der Toten suchten, um sich in ihren Grundsätzen zu befestigen, hatten mir wohlgetan und mir wieder Ruhe gegeben.

[246] An demselben Abend kam Charlotte von England zurück, wo sie einige Wochen bei einer Freundin zugebracht hatte. Sie erheiterte unsere Einsamkeit durch Erzählungen aus dem bewegten Leben der Weltstadt und besonders aus dem Kreise der Emigration. Zuweilen erweckten ihre Erzählungen einen großen Wunsch in mir, diese Reise zu machen, um zu versuchen, mich gewaltsam durch eine neue Tätigkeit, durch die Macht neuer Eindrücke aus meiner tödlichen Traurigkeit zu reißen. Aber ich hatte mein Wort gegeben, nicht zu gehen, und ich wollte es halten, aus Liebe zu meiner Mutter. Das Leben war mir zur Last, ich wünschte aufrichtig, zu sterben, auch wurde meine Gesundheit von Tag zu Tag schwächer. Anna zwang mich förmlich, endlich einen Arzt zu fragen, der mir eine stärkende Kur verordnete.

Am Tag, wo ich diese beginnen wollte, dachte ich früh morgens beim Erwachen, daß es vorsichtiger sein würde, noch an demselben Tag meine Papiere in Ordnung zu bringen und die Briefe meiner demokratischen Freunde, eigne Aufzeichnungen meiner Ansichten usw., obgleich alles an sich unverfängliche Dinge, doch lieber an einem sicheren Ort zu verbergen. Die Reaktion wurde immer finsterer, immer mißtrauischer, und wir hielten es nicht für unmöglich, daß man einmal eine Haussuchung bei mir vornehmen könne, um so mehr, da das Dienstmädchen uns erzählt hatte, daß schon mehreremal Männer in bürgerlicher Kleidung, die sie für Polizeidiener erkannt hätte, sie angeredet und gefragt hätten, was ich in dem Hause mache, welche Besuche ich empfinge usw. – Mehrere Damen, demokratischer Gesinnung verdächtig, waren schon in dieser Weise heimgesucht worden. Dieselbe Sache konnte mir also auch begegnen, obgleich es mir zu absurd erschien, um daran zu glauben. Aber wie es häufig zu gehen pflegt, daß man eine Sache als möglich voraussieht, daß man Zeit hat, den Folgen vorzubeugen, und dies doch, aus einer Art von blindem Vertrauen in das Schicksal, unterläßt, so unterließ auch ich es, noch an dem Morgen meine Papiere zu ordnen, beschloß aber bei mir, zunächst [247] für nichts als für die Herstellung meiner Gesundheit zu leben, um bei wiedererlangten Kräften alsbald eine theoretische Arbeit über Erziehung zu beginnen.

Anna hatte eben an dem Tag eine starke Migräne und lag zu Bett. Charlotte war bei ihr, sie zu pflegen. Ich hatte mich in Annas kleinen Salon gesetzt und schrieb einen Brief an meinen Freund in Amerika, als das Mädchen eintrat und einen Herrn meldete, der mich zu sprechen wünsche. Ich dachte, es wäre einer der demokratischen Herren, die, wie ich gesagt habe, zuweilen kamen, und ließ ihn eintreten, war aber sehr erstaunt, einen mir völlig fremden Menschen zu sehen. Er verbeugte sich sehr höflich, und auf meine Frage, was ihn zu mir führe, erklärte er mir, nicht ohne große Verlegenheit, daß es ein sehr unangenehmer Auftrag sei, indem ihn der Chef der Polizeibehörde beauftragt habe, meine Papiere zu durchsuchen und mich vor das Polizeiamt zu laden. Ich blieb äußerlich so ruhig als möglich und fragte kalt nach der Ursache einer solchen Maßregel. Er entschuldigte sich, indem er sagte, er führe eben nur erhaltene Befehle aus, aber er glaube gehört zu haben, daß ich mit einem gewissen Weigelt in Briefwechsel stehe – dies war, wie ich schon früher erwähnte, der Name unseres Predigers in Hamburg. – Ich lächelte und sagte, da müsse man viel zu tun haben, wenn man die Papiere all der Menschen untersuchen wollte, die mit diesem liebenswürdigen, sanften Manne, der sich gar nicht um Politik bekümmere, korrespondierten. Er fragte, ob das Zimmer, in dem wir uns befänden, das meinige sei. Ich verneinte es. »Aber Sie schrieben doch, als ich eintrat?« sagte er und ging auf den Tisch zu, auf dem meine Schreibmappe mit dem angefangenen Brief lag. Er bemächtigte sich dieser Dinge, indem er sich, wie zur Entschuldigung, gegen mich verbeugte. Der Zorn wallte heftig in mir auf, als ich diese gemeine Hand die Blätter ergreifen sah, auf denen ich Gedanken und Gefühlen Ausdruck gegeben hatte, die man nur der Freundschaft anvertraut. Welche Zivilisation war das, wo solche Barbarei verübt werden konnte! Ich würde [248] die orientalische Sitte vorziehn, wo man dem Menschen, gegen den man Verdacht hegt, freimütig den Strick zuschickt, ohne das Heiligste, was der Mensch hat: die Intimität seiner Gedanken und Gefühle, im Namen der Gerechtigkeit und des Gesetzes zu verletzen.

Der Beamte verlangte mein Zimmer zu sehen. Der äußere Eingang zu diesem war von innen verriegelt, und so konnte man nur durch Annas Schlafzimmer hinein. Da der Beamte mir andeutete, ich dürfe mich nicht aus seiner Gegenwart entfernen, so mußte ich Charlotte rufen, um sie zu bitten, meine Tür von innen zu entriegeln. Sie war natürlich bestürzt über den unerwarteten Besuch, und hatte deshalb wohl leider nicht die Geistesgegenwart, rasch aus meinem Zimmer wenigstens Theodors Briefe zu entfernen und diese teuren Andenken vor der Entweihung, die ihrer wartete, zu retten, während ich mit dem Beamten den Umweg über den Gang machte, um zum äußeren Eingang meines Zimmers zu gelangen. Ich sah mit Empörung und Ironie, daß ein bewaffneter Soldat im Vorzimmer stand, dem der Beamte meine Schreibmappe übergab. Hatte man denn geglaubt, daß ich die friedlichen Boten der öffentlichen Ordnung mit dem Revolver in der Hand empfangen würde? War das die Art, wie die Polizei die Emanzipation der Frau verstand? Es war wohl dieses Irrtums wegen, daß der Polizeibeamte so beschämt, so verlegen war. In meinem Zimmer ging er gerade auf meinen Schreibtisch los und nahm alle darin befindlichen Papiere zusammen, indem er flüchtige Blicke hineinwarf. Unter diesen Papieren befand sich ein Päckchen einzelner Blätter, die Notizen enthielten, die ich während der Vorlesungen in Hamburg zu schreiben pflegte. Ich wußte, daß dabei ein einziges Blatt lag, das einer argwöhnischen Polizei als corpus delicti hätte dienen können, obgleich es nichts enthielt, was die Sicherheit des Staats gefährden konnte. Es war einfach eine Liste der mit den Freunden in Hamburg verabredeten Ausdrücke und Benennungen, durch die wir uns ungenierter Mitteilungen machen konnten, da es [249] bekannt war, daß in den Zeiten, in denen wir lebten, die Wahrung des Briefgeheimnisses für die Beamten ein großes Vergehen gewesen wäre. Ich nahm das Päckchen loser Blätter in die Hand, blätterte sie vor den Augen des Beamten durch und sagte: »Sie sehen, das sind wissenschaftliche Notizen, die mit der Politik nichts zu tun haben.« Er warf einen flüchtigen Blick hin und fuhr fort, die Tischschublade zu leeren. In dem Augenblick schob ich, von ihm unbemerkt, das bewußte Papier in meine Tasche und reichte ihm dann das Päckchen, das er zu den übrigen Sachen tat. Ich war selbst mit meiner Geistesgegenwart in diesen peinlichen Augenblicken zufrieden. Ich glaube auch, der mutigste Mensch kann seiner selbst nicht sicher sein, ehe er sich nicht in irgendeiner Gefahr bewährt hat. Nur die Prahler sind unfehlbar vor der Prüfung.

Trotz dieser Befriedigung sah ich aber doch mit tiefem Schmerz alle diese Blätter und Briefe zusammenpacken, die teuren Andenken glücklicher und unglücklicher, aber gleich heiliger Stunden. Es gelang mir aber, äußerlich ruhig zu bleiben. Nachdem alles zusammengepackt war, verlangte der Beamte ein besonderes Gespräch mit Charlotte zu haben, während dessen ich in meinem Zimmer bleiben mußte. Dann mußte man ihn sogar in das Schlafzimmer der armen Anna führen, deren Kopfweh durch die Aufregung natürlich verdoppelt war. Als er sah, daß sie wirklich krank zu Bette lag, stammelte er eine Entschuldigung und zog sich zurück. Ehe er ging, wiederholte er mir den Befehl, binnen einer Stunde auf dem Polizeiamte zu erscheinen, verbeugte sich tief und sagte mit einiger Bewegung: »Ich bitte Sie als Mensch um Verzeihung für das, was ich als Beamter habe tun müssen.«

»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen,« erwiderte ich, »im Gegenteil: ich bedaure Sie. Es muß traurig sein, wenn die Pflichten des Beamten und die des Menschen unter sich in so großem Widerspruch stehen.«

Als er fort war, fand ich Anna in Tränen, die Verwandten, mit denen sie zusammenlebte, in tiefster Bestürzung. [250] Ich war die ruhigste von allen, denn ich hatte meine Geistesgegenwart nötig für das, was mir noch bevorstand. Alle zitterten für mich, dachten an Gefängnis und alle möglichen Schrecken; doch mußte ich gehen.

Ich ging allein und zu Fuß; ich wollte niemand kompromittieren und so einfach als möglich in dieser ganzen Sache bleiben. Am Polizeiamt angekommen, fragte ich nach dem Beamten, der mir als derjenige genannt worden war, mit dem ich zu verhandeln haben würde. Man sah mich mißtrauisch an und öffnete mir in ziemlich grober Weise eine Tür. Ich befand mich nun in einem Saal, wo eine Menge Beamte an Schreibtischen arbeiteten. Alle sahen mich an, lächelten und flüsterten. Ich fragte noch einmal stolz und verachtungsvoll nach dem bezeichneten Namen. Man wies auf eine andere Tür. In dieser Weise mußte ich noch mehrere Gemächer durchschreiten, bis ich mich endlich im Kabinett des bezeichneten Polizeichefs befand. Er empfing mich höflich, bat mich, auf dem Sofa Platz zu nehmen, und setzte sich daneben auf einen Stuhl, so daß das volle Licht auf mein Gesicht fiel, wenn ich mich zu ihm wandte, während er im Schatten saß – wahrscheinlich eine schlaue polizeiliche Maßregel, um die Anzeichen der Schuld besser im Gesichte der Beschuldigten lesen zu können. Er fing damit an, mir zu sagen, wie unangenehm es für die Regierung sei, eine solche Maßregel gegen eine Dame nehmen zu müssen, die einer allgemein geachteten Familie angehöre und deren eigner Bruder sich in einer hervorragenden Stellung in Berlin selbst befände. Er fragte mich, wie es nur habe kommen können, daß ich mich so von den Ansichten meiner Familie entfernt hätte, und daß ich einen Weg verfolgte, der mich auf ewig von der Gesellschaft, in der ich geboren und erzogen worden wäre, trennte. Ich fragte ihn dagegen, ob er nicht glaube, daß Frauen auch Überzeugungen und die Energie haben könnten, ihnen zu folgen. Anstatt der Antwort zuckte er die Schultern und begann dann ein förmliches Verhör. Die schlaue und doch dumme Art, mit der er sich benahm, [251] flößte mir eine außerordentliche Geringschätzung ein. Ich gab ihm nur ganz kurze Antworten. Die einfachen und aufrichtigen Zugeständnisse, die ich ihm machte, schienen ihn zu beschämen und zu verwirren. Er fragte, ob ich mit der Emigration in London in Verbindung stehe; ich bejahte ruhig und sagte, ich hätte da Freunde, mit denen ich in Briefwechsel wäre. Besonders schien er wissen zu wollen, wen ich in Berlin selbst kannte und sähe, und nannte mir den oben erwähnten Redakteur. Ich sagte, daß ich ihn kennen gelernt hätte auf Veranlassung eines ihm zugesandten Artikels. Dann sprach er von »gewissen anderen Leuten«, die auch gekommen sein müßten, mich zu sehen. Hier verneinte ich. Die Gespräche mit jenen Herren hatten keinen andern Zweck gehabt, als für die Arbeiter unter der damaligen Reaktion möglich zu machen, was sie nun glücklicherweise am Licht des Tages tun dürfen: sich verbinden zu Zwecken der Bildung, der gegenseitigen Unterstützung, der wahren Solidarität – nicht als eine Klasse der Opposition um jeden Preis, sondern als eine wohlberechtigte Klasse der Gesellschaft, ja zum Teil als deren wahre Grundlage, die ihre Rechte haben muß, damit sie ihre Pflichten üben kann. Ich wollte diesen Plan, der einen Keim der Zukunft für die Arbeiter enthielt, nicht den Mißverständnissen der Polizei ausliefern und beschloß des halb, die Bekanntschaft mit jenen Herren zu verleugnen, um sie nicht in die Unannehmlichkeiten zu verwickeln, die mir vielleicht bevorständen.

Als der Beamte sah, daß er kein Geständnis irgendeiner Schuld erhielt, daß ich ruhig und fest blieb und nicht das kleinste Zugeständnis machte, änderte er plötzlich den Ton, wurde zutraulich und freundschaftlich, und bat mich, zu glauben, daß dies alles zu meinem Besten geschähe, daß man einer hochstehenden Familie einen Dienst leisten und mich auf den Weg zurückführen wolle, den ich meiner Erziehung und meinem Rang nach gehen müsse. Ich dankte ihm ironisch für diese Vorsorge, bedauerte aber, ihm sagen zu müssen, daß ich keinen andern Weg gehen könne, als den, den mein Gewissen [252] mir vorschreibe. Als er sah, daß auch diese Saite nicht anschlug, versuchte er noch etwas anderes und deutete an, daß ich vielleicht unrecht habe, mich auf die zu verlassen, die ich meine Freunde nannte; daß Charlotte in dem Gespräch, das der Unterbeamte mit ihr gehabt, sich nicht allzu zärtlich für mich gezeigt hätte. Das war der erste Streich, mit dem er wirklich mein Herz traf. Alle Verluste und Gefahren, die mir vielleicht bevorstanden, hatten mich noch nicht erschüttern können, aber daß eine von denen, die meine Einsamkeit teilten und meinen Charakter und meine Schicksale kannten, mich hätte verraten können, das traf. Dennoch antwortete ich ihm kurz, daß ich es nicht glaube.

Endlich, als er sah, daß auch dies nichts half, sagte er: »Ich sehe, daß ich nichts mit Ihnen machen kann. Ich muß mir zuvor neue Instruktionen holen und Ihre Papiere lesen. Übermorgen um dieselbe Stunde müssen Sie sich wieder hier einfinden. Übrigens,« fügte er mit schlauem Lächeln hinzu, »habe ich wohl nicht nötig, Ihnen anzudeuten, daß Sie den Verlauf Ihrer Aufenthaltskarte hier nicht abzuwarten brauchen.«

(Ich hatte, gleich nach meiner Ankunft eine Aufenthaltskarte auf der Polizei geholt.)

Sollte das ein Wink sein, den man mir gab, um mich zu entfernen, damit man der Unannehmlichkeit überhoben sei, ferner gegen mich vorzugehen?

Ich antwortete ihm: »Sie wollen sagen, daß ich Berlin verlassen soll? Das tue ich gern, denn der Aufenthalt hier gefällt mir wenig.«

»Ja, nicht wahr, die dicke, bureaukratische Luft hier ist erstickend?« fragte er mit schlauem Lächeln und rieb sich die Hände vor Vergnügen.

Ich sah ihm fest in die Augen und erwiderte: »Das ist ein Ausdruck, den ich vor kurzem in einem wohl versiegelten Brief an einen Freund in Hamburg gebraucht habe.«

Er blieb etwas verwirrt stehen, denn er hatte mir klar bewiesen, daß meine Briefe erbrochen und gelesen würden. Ich [253] grüßte ihn kalt und ging. Als ich das Polizeigebäude verließ, fühlte ich meine Kräfte schwinden. Ich warf mich in einen Wagen und fuhr nach Haus, wo ich alle in unaussprechlicher Aufregung fand. Anna umarmte mich mit Tränen; sie hatte geglaubt, sie würde mich nicht wiedersehn, man würde mich in das Gefängnis führen. In meiner Seele war nur ein schmerzender Punkt, der Zweifel wegen Charlotten, den jener Mensch hineingeworfen. Das war im Augenblick die Empfindung, die alles andere beherrschte. Ich begriff es da, daß der schmerzlichste Moment im Leiden Christi der sein mußte, von einem Freund verraten worden zu sein. Ich nahm Charlotte beiseite und sagte ihr offen, was jener gegen sie vorgebracht. Es wurde ihr nicht schwer, mich zu überzeugen, daß der Beamte frech gelogen hatte. Alle im Hause waren der Ansicht, daß ich sogleich fort müsse, ohne das zweite Verhör abzuwarten, und ehe der Weg der Freiheit mir vielleicht versperrt würde. Ich war auf diesen Entschluß noch nicht vorbereitet: ich wollte noch bleiben, um meine Unschuld zu beweisen und meine Papiere, deren Verlust mir unerträglich weh tat, wiederzuerlangen. Aber Anna beschwor mich, meine Freiheit nicht auf das Spiel zu setzen. Sie bewies mir mit Recht, daß man aus meinen Papieren hundert Vorwände nehmen könnte, um mich wenigstens einer Untersuchungshaft zu unterwerfen, die nicht nur für meine schwache Gesundheit vernichtend, sondern auch für meine Familie tausendmal schmerzlicher sein würde als eine völlige Entfernung. Ich hielt noch an dem meinem Bruder gegebenen Versprechen fest, aber sie wies mich darauf hin, daß dies Versprechen, für ein freiwilliges Scheiden gegeben, nicht für ein gezwungenes gültig sei. »Die Zeit des freiwilligen, unvermeidlichen Märtyrertums, so wie sie damals war, als Theodor den Artikel schrieb, der zu seiner Verurteilung führte, ist vorüber. Jetzt gilt es, sich gehässigen Verfolgungen zu entziehen und die edeln Kräfte für eine bessere Zukunft zu retten. Das Schicksal, das sich diesmal in die Polizei der Reaktion inkarniert hat, kommt Dir selbst zur Hilfe. Benutze den Wink, [254] den es Dir gibt: geh', um frei in einem freien Lande nach Deinen Grundsätzen zu leben. Kehr' wieder, wenn der Tag der Auferstehung kommt; wenn nicht – Du kannst arbeiten und Du willst es, Du wirst Dir Deine Stellung schaffen. Sehen wir uns nicht wieder – nun, so sind wir doch eine der andern sicher, und wir leben gemeinsam in den Ideen der Zukunft.«

Ich gab ihr recht und beschloß zu gehen. Anna und Charlotte baten mich, ein wenig zu ruhen, nach der furchtbaren Aufregung des Morgens, während sie die Vorbereitungen für mich trafen. Ich warf mich auf das Bett und wollte schlafen, aber es war mir unmöglich. Mein Herz schlug mit solcher Heftigkeit wie in der Nacht, nachdem ich erfahren hatte, daß Theodor eine andere Frau liebe. Das waren in der Tat die zwei entscheidenden Momente meines Lebens. Es war die lange wundersame Kette von Ursachen und Wirkungen, die in diesen Momenten am schlagendsten hervortrat und obgleich aus meinem Charakter selbst hervorgegangen, zum Schicksal wurde, das meinen Weg bestimmte. Ich erhob mich endlich; ich fühlte, daß ich nicht überlegen, sondern handeln müsse. Zum Glück besaß ich durch mein äußerst sparsames Leben eine kleine Summe, die für die Reise nach England auszureichen versprach. Ich nahm zunächst nur einen Reisesack mit den unentbehrlichsten Dingen mit; Anna übernahm es, mir meine übrigen Sachen nachzuschicken. Als die Dämmerung kam, brach ich auf. Alle umarmten mich weinend und gaben mir heiße Segenswünsche mit. Annas Vetter, ein junger Mensch von achtzehn Jahren, gab mir den Arm, und wir gingen ruhig zum Hause hinaus, wie um einen Spaziergang zu machen, denn wir wußten, daß das Haus bewacht wurde. Auf der beliebtesten Promenade der Stadt mischten wir uns in die dichtesten Haufen der Spaziergänger, um, wenn uns etwa gefolgt würde, die Beobachtung irre zu leiten. Endlich, in ziemlicher Entfernung, bogen wir in eine menschenleere Seitenstraße ein, wo wir uns überzeugten, daß wir nicht verfolgt würden. Wir wandten uns dann einem [255] neuen, noch unbelebten Stadtteil zu, wo ein junges Ehepaar wohnte, das ich in Ostende gekannt und seit meiner Anwesenheit in Berlin einige Male besucht hatte. Es waren liebenswürdige, gebildete, demokratisch gesinnte Menschen, aber durchaus nicht kompromittiert. Bei ihnen wollte ich die Nacht zubringen, um am frühen Morgen wegzufahren, was bei Anna nicht unbemerkt hätte geschehen können. Die jungen Leute waren glücklicherweise allein zu Hause und nicht wenig betrübt, als sie die Ursache meines Besuchs erfuhren. Sie boten mir in der liebenswürdigsten Art ihre Hilfe an. Mein junger Begleiter verließ mich, um mich am folgenden Morgen, in erster Frühe, mit dem Wagen abzuholen. Meine lieben Wirte taten alles Mögliche, um mich zu trösten und zu ermutigen. Der junge Mann ging in später Nachtstunde, um einen seiner Freunde (einen bewährten Demokraten, der im Jahre Achtundvierzig für das Volk gekämpft hatte) zu bitten, mich am Morgen zu begleiten, da er es für ratsamer hielt, mir einen erfahrenen männlichen Begleiter mitzugeben. Während seiner mehrstündigen Abwesenheit blieben die junge Frau und ich zusammen sitzen, in Gespräche über die höchsten Probleme des Lebens vertieft, denn keine von uns hatte Lust zu schlafen. Meine ganze Energie war mir zurückgekehrt, und ich fühlte mich wieder stark, mit dem Schicksal zu ringen. Gegen Morgen kamen die zwei Herren. Ich dankte dem mir Unbekannten voll Rührung, daß er eine immerhin mißliche Begleitung der Art übernehmen wolle. Er versicherte mir, das sei nur eine einfache Pflicht der Solidarität der Ansichten, und ich erkannte, daß dies ein edlerer Ritterorden wäre als alle früheren.

Als der Tag anbrach, kam Annas Vetter mit einem offenen Wagen wie zu einer Spazierfahrt. Wir hatten gedacht, es sei besser, bis zu der nächsten Station im Wagen zu fahren, da man mich möglicherweise an den Stationen in Berlin am Fortgehen hätte verhindern können. Ich umarmte meine lieben Wirte mit innigstem Dankgefühl und stieg dann mit meinen zwei Begleitern in den Wagen. Es war gegen Ende Mai [256] und ein ungewöhnlich warmer Frühling. Selbst um diese frühe Stunde war es schon drückend warm, und am Himmel stand ein Gewitter. Die Fahrt wurde angenehm verkürzt durch die interessanten Mitteilungen meines großmütigen Begleiters. An der Station angelangt, frühstückten wir zusammen in einer Laube, während das Gewitter anfing sich zu entladen. Wir waren beinahe lustig und ich sagte scherzend: »Wem gelten diese Donnerschläge – mir oder meinen Feinden?« Als ich im Eisenbahnwagen saß und das Zeichen zur Abfahrt ertönte, da reichte ich meinen Begleitern zum letztenmal die Hand und sagte: »Es galt jenen; ich gehe in die Freiheit.«

Während der Fahrt nach Hamburg empfand ich vollständig das abscheuliche Gefühl der Furcht, das despotische, unreine, argwöhnische Regierungen einflößen, denen gegenüber die Unschuld kein Schutz ist. Ich dachte mit Grauen an alle die edlen Opfer, die in ihre Hände gefallen und durch die Martern durchgegangen waren, die sie zu verhängen wissen; an alle, die ich in den Gefängnissen meines Vaterlands, in dem mörderischen Klima von Cayenne und den anderen traurigen Orten zurückließ, in denen die brutale Gewalt die Intelligenz, die Tugend und den Patriotismus gefangen hielt. Ich sah mißtrauisch auf jeden neu in den Wagen Eintretenden und drückte mich auf den Stationen in die Ecke, um nicht gesehen zu werden.

Endlich kam ich ohne Hindernis an, ging sogleich zu Emilien, die anfangs bestürzt, dann aber über die Wendung meines Schicksals erfreut war. Auch der »Demokrat«, den wir rufen ließen, war Emiliens Ansicht. Die Freunde besorgten schnell alles zur Abreise. Ein englisches Schiff fuhr am folgenden Morgen ab, mein Platz wurde darauf genommen. Meine letzte Sorge war, meiner Schwester zu schreiben, um ihr zu sagen, daß, wenn das Gerücht meiner Abreise sich verbreiten würde, ich schon auf den Wogen des Meeres in Sicherheit sei; ich bat sie, meine Mutter zu trösten und ihr zu sagen, daß ich nicht freiwillig meinem Versprechen untreu geworden wäre.

[257]

Um zehn Uhr abends begleiteten mich der »Demokrat« und der brave Tischler, von dem ich früher gesprochen, und den man gleich das Vorgefallene hatte wissen lassen, an Bord des Schiffes, wo ich schlafen wollte, da es bei Tagesanbruch abging. Die beiden blieben bei mir auf dem Deck bis Mitternacht. Über uns schimmerten unzählige Sterne, aber auf der Erde herrschte tiefe Finsternis, wie in dem Geschick des Volkes und des Vaterlandes, das wir liebten. Wir standen da zusammen: der eine ein Mann des Gedankens – der andere ein Mann des Volkes, aber beide tapfere und unerschütterliche Kämpfer, auf der gefangenen Erde zurückbleibend, um ihr Los zu teilen – und ich, eine schwache Frau, hinausziehend in das Exil, einem ungewissen Schicksal entgegen, einzig aufrecht erhalten von der Kraft, die reine Überzeugungen und das Bewußtsein, ihnen treu gewesen zu sein, geben. Endlich schlug es Mitternacht, und sie mußten das Schiff verlassen. Wir reichten uns die Hände. »Wir werden uns nur wiedersehn, wenn das Vaterland frei ist, sonst sterb' ich fern von ihm,« sagte ich ihnen. Sie antworteten nicht, sie waren zu bewegt. Aber ich wußte, daß ich in ihren Herzen leben würde.

[258]

Zweiter Teil

1. Kapitel. Das Exil
Erstes Kapitel
Das Exil

So schwamm ich denn auf den Meereswogen, allein, flüchtig und tiefbetrübt. Ich dachte daran, wie oft der Mensch in seinem Wahn das Schicksal aufhält, um es nachher sich in bitterer, beleidigenderer Weise erfüllen zu sehen. Hätte mich damals nicht die Rücksicht auf meine Mutter zurückgehalten, nach Amerika zu gehen, auf jene freie Erde, wo ich meinen Überzeugungen gemäß hätte leben können, ohne mit der Gesellschaft, in der ich geboren war, in Widerspruch zu geraten, ohne die Sympathien meiner Familie zu verletzen, so hätte ich mir wahrscheinlich zu der Zeit schon irgendeine friedliche Existenz jenseits des Ozeans zu gründen vermocht, und die Meinigen hätten meiner mit Bedauern, ja mit Schmerz gedacht, aber ohne jede Bitterkeit, die ihnen die Art meiner Abreise notwendig zurücklassen mußte. Und doch war ich dabei schuldlos, es war ja alles nur die Folge des Zusammenstoßes des Charakters mit den äußeren Verhältnissen, der mit unerbittlicher Logik niemals weder in der einen noch der anderen Richtung führt, sondern zwischen beiden in einer Diagonale, zu einem Punkt, an den wir selbst niemals gedacht hatten. Eines Tages hatte ich freiwillig das Vaterland verlassen wollen, in dem das Ideal, das ich geträumt hatte, sich nicht verwirklichte; aber jetzt, als ich die deutsche Küste hinter mir versinken sah, und nur die grüne Welle und der bleigraue Himmel sich noch meinen Blicken darboten, da fühlte ich, daß es hart ist, aus der Heimat in das Exil fliehen zu müssen.

Am Morgen der Abreise hielt ich mich in der Kajüte, wie mir meine Freunde geraten hatten, bis der Inspektionsbesuch der Behörde, der auf jedem abfahrenden Schiffe stattfindet, vorüber war. Als wir abfuhren, ging ich auf das Deck und glaubte daselbst bleiben zu können, wurde aber bald inne, [259] daß dem nicht so sei und daß ich dem Meere meinen Tribut zu zahlen haben würde. Ich verließ die Kajüte während der Überfahrt, die zwei Tage und zwei Nächte dauerte, nicht mehr und machte keinerlei Bekanntschaft, woran mir auch nichts gelegen war. Als ich hörte, daß wir die Mündung der Themse erreicht hätten, stand ich auf und begab mich auf das Deck. Hier sah ich nun, unter einem nebligen Himmel, eine neue, reiche, mächtige Welt sich vor mir auftun. Große Schiffe lagen vor Anker, Dampfer und Boote von allen Größen schossen auf dem breiten Strome hin und her, Städte und Dörfer winkten von den Ufern, an denen buntes Gewimmel Zeugnis gab von der Lebendigkeit des Verkehrs, und alles das steigerte und mehrte sich, je näher wir der großen Welthauptstadt kamen. Ich war angezogen, interessiert und zu gleicher Zeit bedrückt, denn ich kam allein an, von niemand erwartet, kaum wissend, wohin ich meine Schritte richten sollte und, obgleich ich die Sprache vollkommen kannte, doch kaum verstehend, was die Kehllaute meinten, als ich sie zum erstenmal aus dem Munde des Volkes hörte. Endlich hielt unser Schiff in den großen Sankt-Katharinen-Docks, und ich verließ es gleich den anderen Passagieren, um mich auf das daselbst befindliche Zollamt zu begeben. Die Durchsicht des einzigen Reisesacks, den ich bei mir hatte, war bald gemacht. Es überkam mich aber ein angenehmes Gefühl der Freiheit, als man mir keinen Paß abforderte. Sich auf einer gastfreien Erde zu fühlen, ohne das beleidigende Verhör von »wer? woher? wohin?« durchmachen zu müssen, das war wohltuend und ein Sachverhältnis, würdig eines großen Volkes, das sich sicher fühlt unter dem Schutz seiner Gesetze und den Fremdling daher von vornherein mit Vertrauen aufnimmt. Zeigt er sich dessen unwert – nun, so wird er die Folgen derselben Gesetze fühlen, die da sind, um die Gesellschaft zu beschützen, nicht um sie zu bedrücken. Ich konnte also gehen, wohin ich wollte, und bat einen der Beamten, mir die Weise anzuzeigen, wie ich Sankt-Johns-Wood, einen Teil Londons, wo die Flüchtlingsfreunde [260] wohnten, an die ich mich zu wenden dachte, erreichen könne. Er zeigte mir ziemlich bereitwillig einen großen Omnibus, der mich dorthin bringen würde. Ich vertraute dem Führer meinen Reisesack, nannte ihm die Adresse, die ich suchte, und übergab mich meinem Schicksal. Ich hatte geglaubt, glücklich eine Reise vollendet zu haben, merkte aber bald, daß ich eine neue angetreten hatte, denn wir fuhren durch Straßen und über Plätze, über Plätze und durch Straßen ohne Zahl und ohne Ende. Die dunklen, hohen Häuser, der graue Himmel, der Lärm der sich unaufhörlich folgenden Wagen, die Massen der Fußgänger, die sich auf den Trottoirs in fieberhafter Hast drängten, als ob das Leben davon abhinge, einer dem andern zuvorzukommen – alles das verwirrte und betäubte mich. Mein Nachbar im Omnibus erklärte mir, daß dies die »City« sei, der Mittelpunkt des Handels-und Arbeitslebens von London.

Danach kamen wir in schönere, breitere Straßen mit palastähnlichen Häusern, mit dem unverkennbaren Charakter eines Daseins voll Pracht und Macht, aber immer ebenso von dem Schleier des grauen, bleifarbenen Himmels umzogen; das war das »Westend«, der Aufenthalt der Aristokratie.

Endlich, nach einer Fahrt, die mir eine Ewigkeit schien, erreichten wir einen Teil der Riesenstadt, wo alles einen freundlicheren, vertrauteren Anstrich annahm. Hübsche, kleine, neue Häuser, in buntestem Baustil durcheinander gebaut, von zierlichen Gärten umgeben, machten einen versöhnenden Eindruck nach den dunklen Steinmassen, die wir bis jetzt durchfahren; ebenso die breiten, ungepflasterten Straßen, auf denen das Wagengerassel weniger empfindlich war, und die Fußgänger, die still auf den Trottoirs einherschritten, statt sich in ängstlicher Hast zu jagen. Man fühlte hier, daß man auch irgendwo in diesem Ungeheuer von Stadt ruhig leben und atmen könne, und ich ward angenehm überrascht, als unser Omnibus anhielt und der Kondukteur mir erklärte, daß wir am Ziel seien und ich nun bloß zu Fuß die Straße, an deren Ecke wir hielten, weiter zu verfolgen habe, [261] um an das bezeichnete Haus zu gelangen. Er reichte mir meinen Reisesack, ich hielt ihm eine Hand voll kleiner, englischer Münze hin und ließ ihn, was er wollte, nehmen, da ich sie noch nicht gut kannte. Dann verfolgte er seinen Weg nach einer anderen Seite und ließ mich an der Straßenecke allein. Ich faßte meinen Sack und schritt, nicht ohne eine tiefe innere Erregung, dem Hause zu, in dem ich die bekannten und doch unbekannten Freunde finden sollte, die mein einziger Anhaltspunkt waren.

Um dies zu erklären, muß ich ein wenig zurückgreifen und berichten, was ich, um den einheitlichen Gang der Erzählung nicht zu stören, im Anfange ausgelassen habe. Schon ehe ich nach Hamburg ging, hatte ich, aus meiner Einsamkeit heraus, eine Korrespondenz mit einer Frau angefangen, deren Genie und deren Unglück mich gleich anzogen. Diese Frau war keine andere als Johanna Kinkel. Ich hatte zuerst von ihr reden hören durch Theodor, der ein Schüler ihres Mannes auf der Bonner Universität gewesen war und mir oft mit Begeisterung von dem von der akademischen Jugend vergötterten Lehrer erzählt hatte, sowie von dessen hochbegabter, sehr eigentümlicher Frau und ihrem reizenden häuslichen Leben.

Im Frühjahr des Jahres 1849, als Kinkel, der einzige unter seinen akademischen Kollegen, die Waffen ergriff, um als gemeiner Soldat im badischen Revolutionsheere seine Überzeugungen mit seinem Leben zu vertreten, hatte sich mein Interesse für ihn bis zur Begeisterung gesteigert, und mit tiefem Anteil hatte ich den Verlauf seines Prozesses, seiner Verurteilung zum Tode, seiner Begnadigung zu lebenslänglichem Zellengefängnis verfolgt. Als ich später den Bericht über sein Kölner Verhör und die von ihm bei dieser Gelegenheit gehaltene Rede las, lief ich in leidenschaftlichem Schmerz im Zimmer auf und ab, zerknitterte die Zeitung in meinen Händen und verwünschte meine Ohnmacht. Das Bild des Gefangenen, dessen schönheitsdurstige Augen jetzt auf nackten Zellenwänden ruhten, der, anstatt daß er in jungen [262] Seelen durch seinen Vortrag Begeisterung weckte oder seiner Seele Träume in Liedern ausströmte, Wolle spinnen mußte, aus der ihm von nun an seine grobe Kleidung gefertigt werden sollte – dieses schmerzensvolle Bild kam mir Tag und Nacht nicht aus dem Sinn. Auch war bei allen Redlichen in Deutschland nur ein Schrei des Schmerzes und der Empörung über dieses Schicksal. Nur die Pietisten frohlockten, denn ihnen schien jetzt diese Seele, die ihnen vordem aus der Theologie in die Freiheit entflohen war, eine sichere Beute, auf die sie sich in der grauenvollen Einsamkeit der Zelle mit Traktätchen und Bibeln niederlassen konnten, um sie in ihren Krallen in den pietistischen Himmel zu entführen. Mit ebensoviel Sympathie als an ihn dachte ich aber auch an seine hochherzige Frau, die, nachdem sie alles vergebens zu seiner Rettung versucht hatte, nun, wie ich wußte, außer dem ungeheuren Schmerz auch noch die Sorge um den Unterhalt ihrer Familie zu tragen hatte, den sie als treffliche Musikerin durch Stundengeben zu bestreiten suchte. Zu ihr mit liebevoller Teilnahme zu dringen war nicht so unmöglich wie zu ihrem Gatten. Ich entschloß mich ihr zu schreiben, und wohl mußte mein Brief das Gepräge der tiefen Mitleidenschaft getragen haben, denn ich erhielt die allerherzlichste Antwort und die Aufforderung, mehr von mir selbst zu sagen, damit wir uns nicht fremd blieben, uns persönlich vertraut würden. Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, und es kam damit ein neues, hohes, erwärmendes Interesse in mein damals so armes Leben. Bald kannte ich ihre Geschichte, ihr vergangenes Glück, ihr jetziges Leiden, die Charaktere und Anlagen ihrer Kinder; sie dagegen wußte in kurzem mein ganzes Leben, den Dualismus, in dem ich mich befand, die Leiden, die ich für meine Überzeugungen duldete. Sie billigte ganz und gar meinen Entschluß, nach Amerika zu gehen; sie schrieb mir darüber: »Was ist Ihr Leben hier? Eine Quelle ewigen Schmerzes für Sie und die Ihren. Was kann Ihr Leben dort sein? Eine belebende Sonne für Ihre dortigen Freunde.« Als ich in Hamburg war, schrieb sie mir, um mich zu fragen, [263] ob ich ihr nicht Briefpapier mit Vignetten schicken könne. Sie durfte ihrem Manne nur einmal im Monat schreiben; ihre Briefe wurden vom Direktor des Gefängnisses gelesen und mußten sich auf Familiennachrichten beschränken. So hatte sie sich ausgedacht, auf Bogen mit Vignette zu schreiben, um die Öde des Gefängnisses dadurch etwas zu erheitern. In Bonn und Köln hatte sie alles erschöpft, was sich von illustrierten Briefbogen finden ließ, und sie wandte sich nun an mich, um zu sehn, ob ich ihr etwas Neues schicken könne. Ich kam auf den Einfall, selbst kleine Zeichnungen, Kopien von schönen Architekturen oder von Landschaften auf Briefbogen zu verfertigen und ihr diese zu schicken, und so suchte ich noch einmal mein altes Talent hervor, um einem edlen Unglück zu dienen. Einmal, auf die Aufforderung seiner Frau, schrieb ich dem Gefangenen, natürlich einen offenen Brief, der nur literarische Fragen enthielt. Ich bekam auch eine sehr schöne, Leben, ja Heiterkeit atmende Antwort. Später wurden mir Mitteilungen gemacht über einen Plan, der entworfen war, um Kinkel zur Flucht zu verhelfen, und wie groß war mein Glück, als eines Abends in der Hochschule, als Theodor den Prometheus von Äschylus vorgelesen hatte, nach dem letzten Wort Jakob Venedey in den Saal trat und mit lauter, freudig bewegter Stimme ausrief: »Meine Herren und Damen, ich bringe eine frohe Nachricht: Kinkel ist aus Spandau entflohen!«

Seitdem bewohnte die glücklich wieder vereinigte Familie London, und schon mehr als einmal war von dort aus die Aufforderung an mich ergangen, auch nach London zu kommen, und mir dort gleich ihnen eine neue Heimat der Arbeit zu gründen. Nun trieb mich das Schicksal selbst, der Aufforderung Genüge zu leisten, und zu ihnen, zu Kinkels war es, daß ich jetzt, ein einsamer Flüchtling, meine Schritte lenkte. An dem kleinen »cottage«, das, wie fast alle Häuser jenes Teils von London, an der Tür des sie umgebenden, mehr oder minder großen Gartens einen besondern Namen, außer der Hausnummer, angeschrieben hatte, stand ich einen [264] Augenblick still, um das gewaltige Pochen meines Herzens zu beschwichtigen. Über dieser Tür stand sicher nicht geschrieben: »Lasciate ogni speranza, voi ch'entrate!« Im Gegenteil: wenn es auf Erden noch etwas zu hoffen für mich gab, so lag der Anfang davon hinter dieser Tür; gab es aber überhaupt noch etwas für mich zu hoffen auf dieser Welt? War der Kampf um das nackte Dasein es noch wert, ihn aufs neue zu beginnen? – Da indes in solchen Augenblicken das Schicksal uns gewöhnlich keine Antwort gibt, sondern uns stumm den Versuch wagen läßt, so entschloß ich mich endlich, die Klingel zu ziehen und das darauf erscheinende Mädchen zu fragen, ob Frau Kinkel zu Hause sei. Sie ließ mich in ein Zimmer ebener Erde eintreten und verließ mich, kehrte aber bald darauf mit einem Blättchen Papier und einem Bleistift in der Hand zurück und bat mich, meinen Namen aufzuschreiben. Ich schrieb bloß meinen Vornamen, und sie verließ mich abermals, um den Zettel in die obere Etage zu bringen. Gleich darauf hörte ich ein freudiges Aufschreien mehrerer Stimmen, eilige Schritte flogen die Treppe herunter, die Tür ward aufgestoßen, und ehe ich irgend etwas unterscheiden konnte, fand ich mich von großen und kleinen Armen umfangen und mit Jubel begrüßt. Mit Rührung empfand ich es, was die Vergütung sei für den bittern Kelch des Exils, nämlich: daß die, die sich vordem nie gesehen, sich augenblicklich als Kinder derselben idealen Heimat erkannten und sich als einander angehörig fühlten, ohne alle die Zeremonien durchmachen zu müssen, die die alte Gesellschaft, deren Hauptzweck es war, den Menschen vor dem Menschen zu verstecken, für erforderlich hielt.

Nachdem der erste Sturm des Fragens und Antwortens sich gelegt, nachdem sich ihr Erstaunen und ihre Entrüstung über das mir Widerfahrene, das die Ursache meiner Flucht geworden war, ausgesprochen hatte, kam ich dazu, mir den ersten Eindruck klar zu machen, den ich von meinen neuen Freunden empfing. Johanna Kinkel hatte nichts in ihrem Äußern von dem, was man gewöhnlich bei Frauen schön [265] oder anmutig nennt; ihre Züge waren stark, fast männlich, ihr Teint auffallend dunkel, ihre Gestalt massiv, aber über dem allem thronten ein paar wunderbare dunkle Augen, die von einer Welt von Geist und Empfindung zeugten, und in den reichen Modulationen ihrer tiefen, vollen Stimme tönte eine Fülle des Gefühls, so daß man unmöglich beim ersten Eindruck sagen konnte: »Wie häßlich ist diese Frau!« sondern sagen mußte: »Welch eine bedeutende Frau! und welches Glück wird es sein, sie näher kennen zu lernen!« – Kinkel dagegen war, trotz aller überstandenen Leiden, in der vollen Kraft seiner männlichen Schönheit; sein Benehmen hatte etwas Sanftes, Feines, ja Zierliches, das man Johannens schrofferem Wesen gegenüber weiblich nennen konnte; er war höflich bis zur Galanterie, äußerst angeregt in der Unterhaltung und voller Witz, dem er zuweilen absichtlich den Anschein der Frivolität geben wollte, weshalb ich ihm später, als wir herzlich gute Freunde waren, einmal lachend sagte: »Ach geben Sie sich doch nicht so viel Mühe, frivol zu scheinen, es gelingt Ihnen ja doch nicht.« Er kam mir mit der freundlichsten Offenheit entgegen, dennoch fühlte ich bestimmt vom ersten Eindruck an, daß er, trotz so vieler glänzender Vorzüge, mir nie so viel werden würde wie Johanna, wohl aber, daß ein festes Vertrauen in seinen Charakter, der durch die mannigfach schillernden Äußerlichkeiten und einen Anflug von selbstgefälligem Wesen, in echt deutscher Treue, Redlichkeit und Männlichkeit durchschaute, in mir die Grundlage zu einer dauernden Freundschaft werden könnte, die sich denn auch durch die Jahre und den Wechsel der Geschicke hindurch bewährt hat. Die vier Kinder waren noch zu klein, um etwas anderes von ihnen zu sagen, als daß ihr munteres, zutrauliches Wesen und ihre geistige Lebendigkeit den wohltuendsten Eindruck machte.

Beide Gatten gingen sogleich mit wahrhaft rührender Sorglichkeit zur Beratung der praktischen Lebensfragen für mich über. Ihre angebotene Gastfreundschaft wollte ich unter keiner Bedingung länger als für den ersten Tag in Anspruch [266] nehmen. Ich wußte, wie beschränkt ihre Mittel waren und wie hart sie kämpfen mußten, um sich in diesem Land, wo die Arbeit besser bezahlt wird als irgendwo, wo aber auch das Leben im Verhältnis teurer ist, mit der Familie eine Existenz zu gründen. Johanna, die zum Glück an diesem Tage keine dringende Arbeit hatte, ging mit mir, und der Zufall fügte es so gut, daß wir ganz nahe bei ihnen eine kleine Wohnung fanden. Nachdem ich bei ihnen gegessen und den Abend traulich wie unter den Meinigen verbracht hatte, geleitete Kinkel mich in dieses neue Asyl und verließ mich mit ermunternden Worten und Wünschen.

Kaum fand ich mich aber in meinem engen unschönen Zimmerchen, in dem ein kolossales Bett, wie sie in England üblich, fast den ganzen Raum einnahm, allein, als das volle Gefühl meiner Lage mit Allgewalt über mich kam. Zum erstenmal im Leben war ich ganz allein, fern von allen, die ich bis dahin geliebt hatte, auf einer fremden Erde, mit dürftigen Mitteln, vor einer Zukunft, die stumm, düster und verheißungslos vor mir aufstieg. Die Aufnahme, die ich bei Kinkels gefunden hatte, war so liebevoll als möglich gewesen und hatte mir innig wohlgetan, aber rechnen durfte ich doch nicht auf sie, denn sie mußten, wie gesagt, selbst den schweren Kampf um das Dasein in diesem stürmischen Ozean von Leben, der London heißt, kämpfen, und sie hatten bei aller Freundschaft nicht einmal Zeit für mich, da die Zeit in London alles ist, das große Kapital, das ein jeder so hoch als möglich zu verzinsen strebt. Die Aussicht, die sich vor mir auftat, war, Stunden zu geben und so auch in die peinliche Lage zu kommen, den Freunden, den Bekannten Konkurrenz machen zu müssen. Noch stärker als die Sorge um die Zukunft quälten mich aber die Gedanken an die Vergangenheit; die Furcht, wie meine Mutter die Nachricht meiner Flucht aufgenommen haben würde, was meine Freunde in Berlin vielleicht noch zu leiden gehabt haben würden nach meiner Abreise, das Weh über das, was auf ewig versunken und verloren war – alle diese Sorgen und [267] Schmerzen umstanden wie bleiche Gespenster mein Lager, als ich mich endlich, bis zum Tode erschöpft, niederlegte, und verscheuchten für lange Zeit die Ruhe, deren ich so dringend bedurfte.

Als ich am Morgen erwachte, kehrte mit dem Tageslicht auch mir etwas Mut zum Leben zurück, und ich begann damit, mich in meiner neuen Häuslichkeit umzusehen. Ich wohnte zu ebener Erde in einem Hause, das zwei Fenster in der Front und drei obere Stockwerke hatte, während die Küche und das Schlafzimmer der Hauswirtin sich im Souterrain befanden. Jedes Stockwerk hatte zwei Zimmer, eins nach vorn und ein Schlafzimmer dahinter; die zu ebner Erde waren kleiner, weil die Haustüre und der Gang davon abgeschnitten waren. Das vordere Zimmer ebner Erde heißt in England immer »the parlour« (das Sprechzimmer) und dient meist, wenn nur eine Familie das Haus bewohnt, als Eßzimmer. Wenn mehrere Mietsleute im Hause sind, so ist es öfter die Hauswirtin, die sich dieses Zimmer vorbehält und den Nießbrauch davon dem Mieter, der das hintere Schlafzimmer bewohnt, überläßt. Diese Einrichtung hatte auch ich getroffen: ich hatte nur die kleine hintere Schlafstube gemietet, durfte mich aber am Tage mit meiner Arbeit in dem parlour aufhalten, indem ich dabei freilich jeden Augenblick einer Unterbrechung durch die Hauswirtin, die auch ihre Besuche hierher führen konnte, gewärtig sein mußte. Aber es blieb mir keine Wahl, denn das Schlafzimmer enthielt außer einem, wie schon gesagt, enorm großen Bett, einer Kommode, dem Waschtisch und zwei Stühlen nur gerade noch so viel Raum, um meinen zu erwartenden Koffer hinzustellen; zudem ging es in einen düstern kleinen Hof und hatte also weder Raum noch Licht zur Arbeit; eines der oberen Stockwerke zu mieten, hatte ich aber keine Mittel. Vor dem Hause befand sich ein kleiner viereckiger Raum mit ein paar dürftigen, von Straßenstaub bedeckten Sträuchern und einem winzig kleinen Rasenplätzchen, das gegen die Straße mit einem Gitter und einer Tür abgeschlossen war, durch die [268] man zu dem Hause einging. Diese Beschreibung paßte auf sämtliche Häuser der Straße, die sich so durchaus ähnlich sahen, daß man sein Haus nur an der Nummer erkennen konnte, und sie paßte nicht allein auf die Häuser dieser Straße, sondern auf die meisten Londoner Häuser, nur daß in den reicheren, vornehmeren die Dimensionen andere waren und ein Haus alsdann nur von einer Familie bewohnt wurde. Meine Hauswirtin war nicht die Eigentümerin des Hauses, sie hatte es nur auf eine Reihe von Jahren gemietet, es möbliert, und vermietete es nun wieder. Es ist auch dieses etwas sehr Allgemeines in England und bildet die Erwerbsquelle einer ganzen Klasse von Menschen, freilich auch zuweilen ihren Ruin.

Ich suchte mich zunächst mit meiner Hauswirtin bekannt zu machen. Sie war Witwe und hatte kürzlich ihren einzigen Sohn verloren. Bei unserer ersten Unterredung erzählte sie mir gleich alle diese Umstände und schilderte ihren sehr natürlichen Schmerz mit einem so komischen, prahlerischen Pathos, daß mein Mitgefühl dadurch etwas beeinträchtigt wurde. Auch hatte der Kummer offenbar ihrer Gesundheit nicht geschadet, denn sie war rund und fett und kupferrot im Gesicht, welche blühende Farbe, wie ich bald merkte, die Folge des häufigen Genusses von »gin« und »brandy« war, denen sie, wie viele Engländerinnen ihres Standes, einen allzu eifrigen Kultus widmete. Diese anderen Götter, die sie neben dem Gotte ihrer anglikanischen Kirche verehrte, hätten sie mir sicher sehr antipathisch gemacht, wenn sie nicht dabei eine sehr komische Seite gehabt hätte und ein so volkstümlicher Typus gewesen wäre, daß es mich unterhielt, sie zu studieren. Sie war die leibhaftige Mrs. Quickly aus Shakespeares Heinrich V., es fehlte nur Falstaff, um die Szene zu vervollständigen. Dabei trug sie sich auch ganz abenteuerlich; ich sah sie nie anders, als im Haus, als mit einem kurzen, schäbigen, alten Sammetmäntelchen und auf dem Kopf einen ebenfalls alten, verbogenen, schwarzen Hut mit vergilbten Trauerblumen. Ich merkte bald, daß dies ihr gewöhnlicher [269] Anzug sei, und als ich mehr von London gesehen hatte, begriff ich den Grund. In London macht nämlich keine Frau aus dem Volke, keine Magd einen Schritt aus dem Hause, ohne einen Hut auf dem Kopf, und es ist das eines der häßlichsten englischen Vorurteile. Während das reinliche weiße Häubchen der französischen Dienstmagd hübsch und anständig aussieht, ist dieser meist schmutzige, verbogene, mit verblichenen Blumen oder Bändern geschmückte Hut der Engländerin, der sie »respectable« macht, abscheulich. Zur Aufwartung im Hause hatte Mrs. Quickly nur ein einziges vierzehnjähriges Mädchen, ein kleines, mageres, schwärzliches, schmutziges Geschöpf, dessen Glück sie zu machen behauptete, indem sie ihm eine tüchtige praktische Erziehung gäbe. Diese Erziehung bestand darin, daß ihr alle grobe Arbeit des Hauses aufgebürdet wurde, daß sie laufen und arbeiten mußte, vom Morgen bis zum Abend, so daß sie oft vor Müdigkeit umfiel, und daß sie tüchtige Ohrfeigen und Püffe bekam, wenn sie nach Mrs. Quicklys Ansicht nicht genug gearbeitet hatte oder wenn der Gin Mrs. Quicklys Sinne derart umnebelt hatte, daß ihr kein Schatten von Vernunft mehr blieb. Oft hielt sie aber auch noch in solchen Momenten dem Mädchen lange Reden voll hochtönender Phrasen, die aber nie über einen gewissen Anfang hinauskamen. Ich mußte ihrer in späteren Jahren öfter gedenken, als ich den trefflichen Komiker Robson in einer seiner beliebtesten Rollen sah, wo er sich im betrunkenen Zustande bemühte, die Definition eines vollkommenen Menschen zustande zu bringen, aber nie über die drei ersten Worte hinauskam. Kurz, Mrs. Quickly war mir eine der ersten typischen Erscheinungen des englischen Lebens, wie sie in Charles Dickens' Romanen mit photographischer Treue geschildert sind. Ich wollte jedoch durchaus mit ihr in gutem Einvernehmen bleiben und hörte im Anfang mit unerschütterlicher Geduld den Erzählungen zu, die sich alle um das einzige Thema, ihren verstorbenen Sohn, drehten und mit bombastischen Reden seine unvergleichlichen Tugenden priesen. Doch wollte ich auch dem armen, dienenden Wesen nicht so [270] viel Mühe machen und, schon seit lange gewöhnt, jeder Dienstleistung anderer für meine Person zu entbehren, nahm ich die Kleine in dieser Beziehung gar nicht in Anspruch. Einen der ersten Tage stieg ich, ein Musselinkleid auf dem Arm, zur Küche hinab, um mir ein Eisen zu erbitten und das Kleid dort zu bügeln. Die Küche war das wahre Königreich von Mrs. Quickly; hier herrschte sie allein am Herd, und das Mädchen durfte den Kasserollen auch nicht von ferne nahen. Mrs. Quickly sah mich mit unverhohlenem Erstaunen an, als ich eintrat, aber als ich meine Bitte vortrug, verwandelte sich ihr Erstaunen in Zorn: »Wie?« schrie sie, »Eine ›lady‹ will in der Küche bügeln? Das ist unmöglich!« Und mit der Miene beleidigter Majestät entriß sie mir das Kleid, befahl der Kleinen, einen Stahl ins Feuer zu legen und das Kleid zu besorgen; dann wandte sie sich wieder zu mir und sagte mit tragischem Ausdruck: »Sie sind eine Fremde, Sie kennen unsere englischen Gewohnheiten nicht; wir halten es aber für sehr unladylike, wenn eine Dame in die Küche kommt, und nun gar, wenn sie ihr Kleid selbst ausbügeln will. No Ma'am, please to ring the bell, wenn Sie etwas nötig haben, Sie verderben mir sonst meine Diener!« Sehr beschämt über meine Unwissenheit in Beziehung auf diese hohe Moral englischer Sitten, schlich ich mich in mein »parlour« zurück und mußte herzlich lachen, indem ich dies ziemlich schmutzige, erbärmlich möblierte Zimmerchen ansah und dachte, welchen Abgrund die Beschränktheit des Vorurteils zwischen dieser Stube zu ebener Erde und der Küche im Souterrain gegraben hat. Dann aber wurde ich traurig, denn ich sah, daß ich, die ich durch so viele schmerzensvolle Kämpfe gegangen war, um mich von Vorurteilen unabhängig zu machen, in diesem Lande noch dümmeren Vorurteilen zu begegnen haben würde, ohne die Möglichkeit, ihnen entgegen zu treten, weil ich, um mir eine Existenz zu gründen, von einer Gesellschaft abhängig werden mußte, die so eifersüchtig auf ihr »savoir vivre« ist, daß sie jede Abweichung davon wie eine Todsünde ansieht. Ich fand mich angesichts eines [271] der greulichsten sozialen Probleme, die es gibt, nämlich: Heuchler sein und sich erniedrigen zu müssen, um des täglichen Brotes willen. Bittere Betrachtungen belagerten meine Seele und erhöhten die Melancholie, die ohnehin von mir Besitz genommen hatte. Ich hatte die Elastizität der ersten Jugend nicht mehr, nicht mehr den ungemessenen Glauben an die Zukunft, der über die Abgründe hinwegträgt; meine Wunden waren noch zu frisch und öffneten sich alle wieder vor einer Gegenwart, die auch nicht einen heilenden Balsam hatte. In den ersten Tagen ging ich nicht aus; ich erwartete Briefe von Anna, von meiner Familie; ich fühlte mich unfähig, die neue Welt, die mich umgab, in Augenschein zu nehmen. Meine neuen Freunde kamen ein paar flüchtige Augenblicke, mich zu sehen, aber sie hatten nicht lange Zeit. So kam der Pfingstsonntag heran. Früh am Morgen erschienen die lieblichen kleinen Kinkelschen Mädchen und brachten mir ein Billet vom Vater, welcher schrieb: »Werte Freundin! Wollen Sie heute mit uns nach Hampton-Court, um Woolsey-Palast, den von Wild belebten Park, Raffaels Kartons, Holbeins Bilder, Mantegnas Triumph Cäsars und den baumgrünsten Fluß Europas, die obere Themse, zu sehen? Schütteln Sie Krankheit und Heimweh von sich, auch jeden tieferen Schmerz, und rasten Sie in großer verschönter Waldnatur einmal aus.

Um neun Uhr müssen wir in den Omnibus, sonst haben wir längst nicht Zeit genug, da man dort ohnehin nicht fertig wird. Ich hole Sie zu dieser Stunde ab. Wir gehen entweder per Eisenbahn oder Dampfboot.

Geben Sie den Kleinen zwei Zeilen Antwort. Herzlich

Ihr Freund Kinkel


Ich nahm die freundliche Einladung an, und nachdem uns ein Omnibus an das Ufer der Themse gebracht hatte, bestiegen wir eines der unzähligen Dampfboote, die besonders an Festtagen den Fluß hinauffahren, um Richmond, dem reizenden, stromaufwärts an der Themse gelegenen Städtchen, [272] dem Sommeraufenthalt der Geld- und Ahnen-Aristokratie zuzueilen. Kinkel hatte recht: die Themse ist der grünufrigste Fluß in Europa. Bäume von einer Schönheit und Fülle, wie man sie selten trifft, neigen ihre gewaltigen Äste bis zur Erde und oft bis ins Wasser hinab und bilden undurchdringliche Laubdächer, deren frisches Grün sich im Flusse spiegelt; Landhäuser, halb von hinüberrankendem Efeu versteckt, schauen freundlich von herrlichen Rasenplätzen herab, die den Fremden überraschen, der noch nicht weiß, daß der Rasen in England durch besondere Pflege eine frische und sammetartige Schönheit erhält, wie nirgends anderswo. Der ungewöhnlich helle, sonnige Tag, das fröhliche Leben der großen und kleinen Schiffe auf dem Strom, die Scharen festlich geputzter Menschen am Ufer, die liebenswürdige Unterhaltung meiner Freunde endlich, die mir mit begeisterten Worten das Land der Freiheit, das ihre neue Heimat geworden war, priesen, – alles das zog mich von meinen trüben Gedanken ab, und ich überließ mich den Eindrücken der neuen Welt, die sich um mich ausbreitete. Nach eingenommenem Mittagsmahl in Richmond bestiegen wir eine jener »hackneycoaches« (Art von Postwagen), wie sie früher in England üblich waren, ehe Eisenbahnen das Land in allen Richtungen durchzogen und die in den englischen Romanen oft eine Rolle spielen. Ich sah mit Vergnügen, daß meine Freunde sich unabhängig von englischen Vorurteilen erhielten, sobald es außerhalb der Verpflichtungen, die ihnen ihr Beruf auferlegte, möglich war, denn sie luden mich ein, mit ihnen die »Impériale« des Postwagens zu besteigen, um das schöne Land besser zu sehen. So fuhren wir fröhlich nach Hamptoncourt, einem königlichen Schlosse, einstens Residenz des Kardinals Woolsey. Man kommt dahin durch eine lange Kastanienallee, die in voller Blüte war und einen prächtigen Anblick bot. In dem großen Park zu beiden Seiten weideten friedlich Rudel von Rehen und Hirschen. Ich war ganz überrascht von der Pracht, mit der die Kunst hier die Natur unterstützt und eine Landschaft herstellt, die zugleich zivilisiert [273] und wild ist und ihresgleichen in andern Ländern sucht. Wir besuchten das Schloß, seiner Bildergalerie und besonders den Kartons von Raffael zu Liebe. Hier sah ich zum erstenmal Originalwerke dieses Meisters, dessen Name schon in meine Kindheit herüber getönt hatte und der in meiner Vorstellung mit einer wahren Verklärung der Erscheinung umgeben war. Als wir am Abend heimkehrten, war der Zweck meiner Freunde erfüllt worden. Ich hatte für einen Tag mein tiefes Weh vergessen und mich beinah zu Hause gefühlt in dieser neuen Welt, in der die Freundschaft mir von vornherein ihren Trost entgegenbrachte. Freilich, als ich mich wieder allein fand in meinem häßlichen kleinen Schlafzimmer, da fiel die alte Zentnerlast mir wieder auf die Brust; aber eins war doch gewonnen: ich hatte beschlossen, in England zu bleiben, daselbst zu arbeiten wie die anderen, um mir eine Existenz zu gründen, und nicht noch weiter auf das Ungewisse hin nach Amerika zu gehen. Dies war das Resultat dieses Tages und der verständigen Vorstellung meiner Freunde, und die Gewißheit, gefunden zu haben, wie man handeln soll, gibt immer eine gewisse Ruhe im tiefsten Schmerz.

2. Kapitel. Nachklänge aus der Heimat
Zweites Kapitel
Nachklänge aus der Heimat und Bekanntschaft mit dem englischen Leben

Ich bekam endlich Briefe aus Deutschland, zunächst einen erfreulichen von meiner liebsten Schülerin aus Hamburg, einem hochbegabten, erst siebzehnjährigen Mädchen, die mich mit Leidenschaft liebte. Er lautete: »Geliebteste Malwida! ›Das Verhängte muß geschehen, das Gefürchtete muß nahn.‹ »Das fuhr mir durch die Seele, als ich hörte, was Dir widerfahren! O es ist wahr, keiner entgeht seinem Schicksale. Wie oft sagten wir's Dir im Scherze voraus! Kaum dämmerte in uns die Ahnung, daß das, was wir leichtsinnig [274] und lachend heraufbeschworen, sich erfüllen würde. Es hat mich sehr erschüttert. Doch als ich es näher bedachte, fand ich es nicht so ganz schrecklich. Das tragische Unglück, so vernichtend es im ersten Augenblick scheint, erhebt uns unendlich; und ich kann wohl sagen, daß ich Dich ein wenig beneidet habe um das Bewußtsein, das Du haben mußt: auch ich half mit, das große Kreuz der Menschheit tragen, und mein Wirken bringt die Freiheit vielleicht um einige Tage früher zur Reife! Denn wenn ein jeder nur für einen Tag sorgte, wir sparten manch Jahrhundert. Das Märtyrertum für die Freiheit ist gewiß so heilig wie das für einen blinden Glauben, und wer leidet, tut oft mehr, als wer handelt. Die Menschheit hatte immer einen großen Gedanken, den sie verfolgte: das Christentum, die Kreuzzüge, die Entdeckung der Neuen Welt, die Reformation; endlich die Idee der Freiheit. Diese aber, als diejenige, die alles andere in sich schließt, erregt am meisten Widerwillen bei den Leuten, die ihre Zeit nicht begreifen, und glauben, eine Zeit, die vor Alter zusammenschrumpft, sei noch nicht ausgewachsen. Nun müssen immer die Gerechten büßen für die Ungerechten. Ich denke mir nämlich: es kann gar keinen Menschen geben, der sein Haupt ewig knechtisch beugen möchte. Denn wie die Menschen nur sittlich sind, weil sie es absolut sein müssen (diese Idee liegt so tief in uns, daß wir bei jeder, noch so unsinnigen Religion immer finden, daß ein Sittengesetz vorhanden, dessen Befolgung Lohn, der Ungehorsam dagegen Strafe bringt), so glaube ich, daß die Lust zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit mit unserem Wesen durchaus verwachsen ist. Ebenso aber ist das Vergnügen zu herrschen in uns. Nun überwiegt immer eine dieser Neigungen die andere. Im besseren Menschen hat die Gerechtigkeit und Sittlichkeit, bei einer unedlen Natur die Herrschsucht das Übergewicht, und der Ungerechte sucht die Freiheit nur für sich, um an anderen Herrschaft auszuüben; der Gerechte aber will sie für alle. So mußt Du nun sühnen, was die andern verschuldet haben.«

Dann kamen traurige Briefe von meinen Schwestern, die [275] mir den schrecklichen Eindruck schilderten, welchen meine, durch die Zeitungen bekannt gemachte Ausweisung und meine darauf erfolgte Abreise auf die Meinigen, besonders auf meine Mutter, gemacht hatten. Ihr Stolz war sehr begreiflicherweise tief gekränkt, noch mehr aber waren ihre liebevollen Herzen ergriffen von der Sorge um mein Schicksal, und auch die tröstenden Zeilen, die ich ihnen über meine glückliche Ankunft und den freundlichen Empfang bei Kinkels geschrieben, hatten nicht vermocht, das herbe Weh des Eindrucks zu lindern. Tief und schmerzlich tönte ihr Leid in mir wieder, und ich gelobte mir selbst, daß, wie sich auch mein Los gestalten möge, welche Prüfungen und Entbehrungen ich durchzumachen haben würde, ihnen die dunkle Seite meines Daseins möglichst verborgen bleiben und, so weit es in meiner Macht läge, nur Milderndes und Beruhigendes über mich zu ihnen hingelangen solle.

Bald darauf kamen auch Briefe von Anna. Sie war nach meiner Abreise noch sehr durch die Polizei gequält worden. Man war gekommen, sich nach mir zu erkundigen, und da man mich nicht fand, hatte man sie auf die Polizei vorgeladen, und sie hatte demselben widerwärtigen Menschen, der auch mich verhört hatte, Rede und Antwort stehen müssen. Endlich, da man sich hatte überzeugen müssen, daß sie nichts von den gefährlichen Verschwörungen und Majestätsverbrechen, deren man mich für schuldig hielt, wußte, war sie in Ruhe gelassen worden, aber sie hatte natürlich sehr unter diesen Quälereien gelitten.

Diese Nachrichten drückten mich tief darnieder. Eine große Bitterkeit erfüllte mein Herz und zum erstenmal fühlte ich, daß mein Idealismus, mein Glaube an etwas erreichbar Besseres als die brutale Gewalt, die uns überall umgibt, anfing zu wanken. Eine tiefe Melancholie kam über mich, und die meisten äußeren Eindrücke waren bis dahin nicht der Art gewesen, dagegen einzuwirken.

Ich wohnte nahe bei dem großen Regents-Platz, einer jener grünen Tröstungen, die man zwischen die ungeheuren [276] Steinmassen dieses Komplexes von Plätzen und Straßen, der London heißt, eingeschoben hat. Dorthin richtete ich täglich meinen einsamen Spaziergang und bewunderte die Kunst, die durch grüne Wiesen, schöne Baumgruppen, frische Wasserpartien, durch Herden von Schafen und alle Arten von Wasservögeln ein wohltätiges Abbild des Landlebens geschaffen hat für die Tausende von Kindern, die in den dunklen, geschwärzten Häusern, den engen Straßen, der dicken mit Kohlendampf geschwängerten Atmosphäre leben – für die Bürgerfamilien, deren Vermögen nicht hinreicht, um im Sommer die Stadt zu verlassen – ja selbst für die Proletarier, von denen mehr als einer unter den Bäumen dieses Parks sogar sein Nachtlager findet. Aber wenn ich dann den beinah immer grauen Himmel ansah, der all diese grünen Bilder wie mit einem bleiernen Dach überwölbt, dann fühlte ich doppelt, daß, so wie ihnen das belebende freundliche Sonnenlicht und das heitere Himmelsblau fehlten, auch in meinem Leben schwere undurchdringliche Nebel die klaren Gestirne verdeckten, die allein Mut und Ausdauer geben für die Arbeit des Tages. Dabei drängte sich mir täglich mehr das Bedürfnis auf zu arbeiten, um Geld zu verdienen, denn die geringe Barschaft, die ich mitgebracht hatte und die ich noch dazu zum größten Teil der Güte eines, freilich sehr vermögenden Freundes aus Hamburg verdankte, ohne dessen Hilfe ich die Reise nach England gar nicht hätte machen können, schmolz bedeutend zusammen, und trotz meiner sparsamen Lebensweise sah ich ihr Ende mit raschen Schritten herannahen. Von meinen kleinen Revenüen hatte ich noch gar nichts in nächster Zeit zu erwarten, und sie waren wie Null im Vergleich zu den selbst bescheidensten Ansprüchen an eine Existenz in London. Von den Meinigen aber niemals Unterstützung zu erbitten, hatte ich mir heilig gelobt, nicht weil ich an ihrer Bereitwilligkeit mir zu helfen gezweifelt hätte, sondern weil ich es als eine ernste Pflicht ansah, den selbstgewählten Weg auch selbständig zu gehen und seine Mühen und Sorgen für mich zu tragen, ohne sie denen aufzubürden, [277] die nicht mit ihm übereinstimmten. Es hat mir immer so geschienen, als dürfe man materielle Opfer nur von denen annehmen, mit denen man sich in vollständiger Übereinstimmung des Denkens und Handelns befindet, doch niemals von der Liebe derer, denen wir, um unserer Überzeugungen willen, bitteres Leid zufügen mußten. Ich fing demzufolge an, mich nach allen Seiten hin um Arbeit umzusehen, besonders auch nach Stellen als Erzieherin, da ich sah, daß schon gar zu viele Personen mit bloßem Stundengeben beschäftigt waren. Es ist wahr, daß der Gedanke, in einem englischen Hause Erzieherin zu werden, für mich etwas Entsetzliches hatte. Ich wußte, daß die Erzieherinnen in England Wesen sind, die eine besondere Klasse der menschlichen Gesellschaft bilden, ein Etwas zwischen Herrschaft und Dienstboten, das einen streng begrenzten Anteil an gesellschaftlichen Rücksichten, einen engsten Horizont von Freuden und Erholungen, und eine unmäßig lange Liste von Verpflichtungen und Aufgaben zugemessen bekommt. Aber das war bei weitem nicht alles, was mich erschreckte. Zunächst hatte ich starke Zweifel, ob meine Gesundheit die Anstrengungen eines solchen Lebens, nur nach den Bedürfnissen anderer und nie nach den eigenen eingerichtet, würde ertragen können; ferner, und dies war die Hauptsache, hatte ich ein Grauen vor der Heuchelei, die ich notwendig würde ausüben müssen. Gleich in den ersten Tagen nach meiner Ankunft in London hatte mich ein junges Mädchen besucht, die in unserer Hochschule als Schülerin gewesen war und nun in England eine Stelle als Erzieherin bekleidete. Sie erzählte mir von ihren Erfahrungen, und daß es eine der ersten Verpflichtungen einer solchen Stellung sei, die Schülerinnen Sonntags zur Kirche zu begleiten – in liberalen Häusern, wie das, in dem sie sich befand, einmal, in orthodoxeren zweimal. Schon wenn man eine Erzieherin engagiere, sei die erste Frage nach der Religion. Manchmal kämen Einwände vor gegen die eine oder die andere Kirche; die eine Familie wolle keine Katholikin, die andere keine Protestantin, aber eine Person, die gar [278] keiner Kirche angehöre, wolle niemand, und es würde völlig unmöglich für eine solche sein, überhaupt eine Stellung zu finden. Meine junge Bekannte, die in Hamburg jeden Sonntag die Vorträge unserer freien Gemeinde besuchte, hatte sich als Protestantin angegeben und mußte regelmäßig mit ihrer Schülerin zur Kirche; da sie aber eine lustige, praktische Natur war, so kam sie auf allerlei Hilfsmittel, um der Langeweile des einförmigen, endlos langen Rituells der anglikanischen Kirche auszuweichen und nahm statt des Gebetbuchs (the prayerbook), das in den englischen Familien und den englischen Buchhandlungen eine so große Rolle spielt, irgend ein anderes Buch mit, das jenem äußerlich ähnlich sah, »Emilia Galotti« z.B. oder sonst ein klassisches Werk, um es während der Litanei zu lesen.

Die Predigt benutzte sie wie eine Stunde in der englischen Sprache, da es angenommen ist, daß die Prediger das reinste und beste Englisch sprechen. Der Gedanke, eine solche Komödie spielen zu müssen, widerte mich aber aufs höchste an, und ich war fast erfreut, als mir, durch Vermittlung einer deutschen in England wohnhaften Dame, die ich in Hamburg bei einem Besuch in der Hochschule kennen gelernt und an die ich mich schriftlich gewendet hatte, eine Stelle als Erzieherin in einer jüdischen Familie angeboten wurde. Es war eine von den jüdischen Familien, die durch ihren kolossalen Reichtum den Widerstand der christlichen Gesellschaft besiegt und ihre verfolgte Rasse gerächt haben, indem sie die Verfolger zwingen, sich vor der Allmacht des Geldes zu beugen. Sie war jedoch auch durch persönliche, wahre Verdienste bekannt. Mehrere ihrer männlichen Mitglieder waren zu öffentlichen Ehrenämtern zugelassen, die Frauen waren ausgezeichnet durch Liebenswürdigkeit und Bildung und die ganze Familie wurde mit Recht, wegen ihrer großmütigen, unermüdlichen Anstrengungen zum Besten ihres Volkes, gepriesen. Eine dieser Damen bedurfte nun einer Erzieherin für ihre Töchter, und zu ihr begab ich mich. Ich wurde in das parlour geführt, denn nur da empfängt man in England [279] die geschäftlichen Besuche; in das drawing-room kommen nur die ebenbürtigen Visiten. Sie empfing mich in einer viel wohlwollenderen und weniger stolz zurückhaltenden Weise als die andern englischen Damen, die ich bisher gesehen hatte. Die erste Frage war jedoch wieder selbstverständlich: »Welcher Religion gehören Sie an? Sind Sie Katholikin?« – »Nein.« – »Ach, das ist gut, dann sind Sie Protestantin – übrigens kommt die Religion bei der Erziehung meiner Töchter nicht in Betracht, die Religionsstunden gibt der Rabbi, aber ich habe andere Einwendungen gegen die Katholiken.« (Ich verstand später, warum sie recht hatte.) Sie verweilte nicht länger bei diesem Gegenstand und ersparte mir somit die peinliche Antwort. Darauf fragte sie mich, ob ich schon die Erziehung eines oder mehrerer Kinder geleitet hätte. Ich sagte ganz ehrlich: »Nein!« fügte aber hinzu, daß mich seit mehreren Jahren die Gedanken über Erziehung ausschließlich beschäftigt hätten, und daß ich es mir zutraue, ein Werk der Erziehung übernehmen zu können. Sie wurde nachdenklich, fragte noch Verschiedenes und entließ mich dann, indem sie mir versprach, mich ihren Entschluß am folgenden Tage wissen zu lassen. Ich erhielt auch am folgenden Tage wirklich ein Billet, in dem sie sehr höflich ihr Bedauern aussprach, mich, trotz des persönlichen vorteilhaften Eindrucks, nicht engagieren zu können, da mir die »Routine« abgehe. Ich fühlte mich innerlich erleichtert, daß das Joch noch einmal an mir vorübergegangen war, und machte es wie der Vogel Strauß, der seinen Kopf in den Sand vergräbt, als ob der ungesehene Tod ihm nicht doch ebenso sicher nahe. Dann schrieb ich an die deutsche Dame, die mich empfohlen, teilte ihr den Erfolg ihrer Bemühungen mit und ließ mich unwillkürlich in eine längere Auseinandersetzung meiner Erziehungstheorien ein, die ich für vorzüglicher halten zu müssen glaubte, als die »Routine« der »gouvernantes de métier«. Sie antwortete mir ganz entzückt, sagte, daß alles, was ich geschrieben, mit ihren Ansichten übereinstimme, daß sie sich längst nach einem Wesen gesehnt habe, das diese Ansichten [280] teile, und lud mich ein, zwei oder drei Wochen bei ihr auf ihrem Landsitz zu verbringen, wo sie sich augenblicklich mit ihrer Familie befinde, damit wir uns näher kennen lernen und unsere Gedanken austauschen könnten. Sie fügte mit vieler Zartheit hinzu, daß sie sich denke, die Ausgabe für die Reise könnte mir im Augenblick beschwerlich fallen und daß sie das nicht auf ihr Gewissen nehmen könnte, um sich eine Freude zu bereiten, daß sie daher ihrem Geschäftsführer in London aufgetragen habe, zu mir zu gehen, und alles Nötige zu besorgen.

Der Geschäftsführer, ein freundlicher, englischer Gentleman, erschien auch, führte mich zur Eisenbahn in einen Waggon erster Klasse, ohne daß ich mich um das Wie zu bekümmern hatte, wünschte mir glückliche Reise und – fort brauste der Zug. Ich hatte einen großen Teil von Alt-England zu durchfahren, denn das Ziel meiner Reise lag im Norden von Wales. Der einförmige Charakter der Landschaft im mittleren England, die nur aus großen Wiesenflächen, schönen Baumgruppen, üppig grünen Hecken und Feldern besteht, wechselte, als wir uns Wales näherten, und wurde von immer malerischerer Schönheit, als die Eisenbahn zwischen dem Meeresufer und den kühn und kühner sich erhebenden Felsen und Bergen der Gebirgskette sich hinzog. Wir hielten endlich in Bangor, einer kleinen freundlichen Stadt an den sogenannten Menay Straits, der Meerenge, die die Insel Anglesey von dem Festlande von Wales trennt und über die der Unternehmungsgeist der Engländer außer einer sehr schönen Hängebrücke für Wagen und Fußgänger auch die berühmte, einen doppelten eisernen Tunnel enthaltende Eisenbahnbrücke (Tubular Bridge) gebaut hat, die die große Verbindungsstraße mit Irland ist, indem nun die Eisenbahn nach Anglesey hinüberfährt, wo sich die Schiffe anschließen, die nach Irland gehen. In Bangor wurde ich von einer englischen Dame angeredet, die sich mir als eine Abgesandte von Madame S... zu erkennen gab, und mit deren Wagen auf mich wartete, um mich nach Anglesey, [281] wo das Landgut der Familie lag, hinüberzuführen. Am Portal des schönen Landhauses empfing mich meine Wirtin mit ausnehmender Herzlichkeit. Ich hatte sie nur einmal flüchtig in der Hochschule gesehen, aber es strahlte ein solch aufrichtiges Wohlwollen, eine so unmittelbare Herzensgüte von ihr aus, daß man sich sogleich voll Vertrauen zu ihr hingezogen fühlte. Ich befand mich nun zum erstenmal ganz inmitten eines englischen Haushalts, obwohl meine Wirte deutscher Abkunft waren. Niemand unterwirft sich so leicht den Gewohnheiten eines fremden Landes, nimmt so leicht fremde Sitten und eine fremde Sprache an und identifiziert sich so stark und vollständig mit den Eingeborenen, als wie die Deutschen. Fast alle deutschen Familien, besonders die reicheren, die in England sind, haben sich ihr Leben ganz nach englischer Weise eingerichtet, und zwar bis zu solch einem Grade, daß ihre Kinder die Muttersprache vergessen und sich mit Stolz Engländer nennen. Auch das Haus von Madame S... war völlig nach englischer Sitte eingerichtet. Der Reichtum trat an die Stelle adeliger Herkunft, um den ganzen Kontingent eines aristokratischen Haushalts zu liefern. Der »buttler«, eine Art Hausmeister, Haupt der Dienerschaft, in schwarzem Frack und weißer Halsbinde, die übrigen Diener, Kutscher usw. in Livreen, die »housekeeper« oder Haushälterin, die Kammerjungfern und die »housemaids« oder Stubenmädchen, die »grooms« oder Stalljungen, diese ganze Hierarchie des englischen Bedienungswesens mit ihren Rangunterschieden, die ebenso heilig gehalten werden wie die in der hochgeborenen Gesellschaft, fand ich auch im Hause von Madame S... vor. Für die zahlreichen Kinder war ein deutscher Hauslehrer, eine französische Erzieherin und die gehörige Anzahl »upper and unders nurses« da, und das architektonische Ganze gipfelte in einer englischen Dame, Miß B..., derselben, die mich in Bangor empfangen hatte, die die genaueste Kenntnis des englischen Kodex vom savoir-vivre hatte. Sie herrschte beim Mittagstisch und kannte keine Gnade für den kleinsten Verstoß gegen die Sitten, die von [282] der öffentlichen Meinung als einzig gentleman- und lady-like anerkannt sind. Ihr wachsames Auge entdeckte z.B. gleich, ob am andern Ende des langen Tisches Master James oder Master Henry das erforderliche Stück Brot in der linken Hand hätten, das beim Essen des Fisches unumgänglich nötig ist und das Messer ersetzt, das den Fisch niemals berühren darf. Sah sie solch einen Verstoß gegen die Sitte, so rief ein Zeichen des Kopfes einen der Diener an ihre Seite, sie legte ihm ein kleines, zierlich geschnittenes Stückchen Brot auf den silbernen Präsentierteller, indem sie sagte: Master James oder Master Henry! worauf dann die so Zurechtgewiesenen auf den Pfad der Sittlichkeit zurückkehrten. Aber auch in weiteren Verhältnissen war Miß B... eine organisierende und praktische Natur. So schrieb sie unter anderem für Madame S... die unzähligen Billets und Briefe, die den Vormittag englischer Damen allgemein in Anspruch nehmen, und die in den großen Städten der ungeheuren Entfernungen und der dadurch bedingten Zeitverschwendung wegen, allerdings notwendig geworden sind. Außerdem hatte Madame S... aber eben auch eine ganz besondere Leidenschaft für das Briefschreiben und eine unglaubliche Menge von Korrespondenzen, denen sie allein gar nicht genügen konnte. Ihre bekannte Güte zog ihr eine Unzahl von Bittstellern und Anliegen aller Art zu, die Gastfreundschaft und die zahlreichen Verbindungen des Hauses erforderten, unaufhörlich Einladungen zu geben und zu empfangen; dann kamen die Briefe an Kaufleute, Lieferanten, Schneiderinnen, Verwalter der Häuser in der Stadt oder der Güter auf dem Lande usw., endlich die vielfachen Beziehungen, die Madame S... in den meisten Ländern Europas mit zum Teil bedeutenden und hervorragenden Persönlichkeiten aller Klassen der Gesellschaft unterhielt. Das Arbeitskabinett dieser Dame glich dem Bureau eines Ministers, wo sie an dem mit Papieren aller Art bedeckten Schreibtisch anordnete, diktierte, und Miß B..., mit der Geschicklichkeit und Gewandtheit eines Kabinettsrats ausführte, schrieb und expedierte, indem [283] sie mit weiser Mäßigung die zu ausführlichen Ergießungen ihres Chefs beschnitt und abkürzte. Mit allen Einzelheiten des Lebens dieser Familie vertraut, weihte Miß B... sich ihr mit einer unvergleichlichen Treue und Hingebung und lebte für deren Interessen, als wären es ihre eigenen. Natürlich hielt sie dabei ihren Standpunkt fest; denn sie hatte zwei Ideale, zu denen sie wenigstens die junge Generation der Familie hätte hinführen mögen: die Aristokratie und die englische Hochkirche. Sie träumte aristokratische Verbindungen für die jungen Leute und Rückkehr in den Schoß der für sie allein seligmachenden Kirche, denn die Eltern S... gehörten zu den Unitariern und erzogen ihre Kinder in ihren Ansichten.

Am Morgen nach meiner Ankunft erschreckte mich der dröhnende Schall eines Instruments, das ich bis jetzt nur im Theater und zwar in der Oper Norma gehört hatte, wenn die Priesterin mit einer Keule an ein ehernes Schild schlägt, um das Volk zusammenzurufen. Ich glaubte, dies sei das Signal zum Frühstück und beeilte mich, dem erschütternden Rufe zu folgen. Ein Diener öffnete mir eine Tür, und ich befand mich in einem Bibliothekzimmer, in dessen Mitte ein Pult stand, auf dem eine große Bibel aufgeschlagen lag und vor dem Herr S... saß. Alle Bewohner des Hauses, bis auf den letzten Dienstboten, saßen in feierlichem Schweigen im Halbkreis umher; man bot mir schweigend einen Sitz, und Herr S... begann alsbald nach einem einleitenden Gebet, ein Kapitel aus der Bibel und dann eine Predigt von Channing, dem Haupt und Ideal der Unitarier, vorzulesen. Zum Schluß wurde das Vaterunser gebetet und dann kniete ein jeder auf die Erde, das Gesicht seinem Stuhle zugewendet und in beide Hände vergraben, um still für sich zu beten. Hiermit war die Hausandacht beendet, und alle kehrten zu ihren Tagesaufgaben zurück, die Herrschaft zum Befehlen, die Diener zum Bedienen, und so war die irdische Ordnung wieder hergestellt, die einen Augenblick lang von der unsichtbaren Gegenwart Gottes unterbrochen worden [284] war. Ich war bei alledem sehr angenehm berührt durch diese Art, den Tag zu beginnen, die in den meisten englischen Familien, besonders auf dem Lande, dieselbe ist. Diese Stunde gemeinschaftlicher Sammlung und ernster Stimmung beim Beginn des Tages hätte sicher immer eine sittliche Wirkung, sobald man damit keinerlei Zwang verbände, wodurch man Heuchler macht, weshalb diejenigen, die in den religiösen Formen ihre Befriedigung nicht mehr finden, einen anderen Gegenstand gemeinschaftlicher Betrachtung wählen sollten. In England aber, dem Lande der hochmütigen Rangunterschiede par excellence, hatte diese Sitte etwas doppelt Patriarchalisches und Rührendes, weil da wenigstens für eine Stunde jene Unterschiede in einem gemeinsamen Gefühle schwanden. Ich hielt es jedoch für meine Pflicht, Madame S... zu sagen, daß ich nicht mehr bei diesen Morgenandachten erscheinen würde, da die religiösen Formen keine Bedeutung mehr für mich hätten. Sie hatte in ihrer großen, menschlichen Güte den wahren Geist der Toleranz gefunden, bat mich, ganz zu tun, wie ich für gut fände, und ließ auch die Freundlichkeit und Teilnahme, die sie mir gezeigt hatte, nicht einen Augenblick darunter leiden. Dagegen bemerkte ich wohl, daß die übrigen Mitglieder des Hauses, besonders Miß B..., mich seitdem nicht mehr mit so günstigen Augen ansahen, wenn auch namentlich letztere es nie an der streng konventionellen Höflichkeit fehlen ließ. Außer Madame S... hatte ich aber noch ein Mitglied des Hauses, und zwar dessen Haupt, für mich, Herrn S... nämlich, einen Mann, der mir große Achtung einflößte. Er gehörte jenem Teil der Bourgeoisie an, die, durch eigene Anstrengung zu kolossalem Reichtum gelangt, in England mehr wie irgendwo anders eine mächtige, kompakte, tätige Partei des aufgeklärten Liberalismus, des praktischen Fortschritts und der großartigsten Freigebigkeit bildet. Die Namen von Richard Cobden, John Bright und anderen haben sie verherrlicht, und S... war ein Freund aller dieser Männer und stets bereit zu helfen, wo es ein großes öffentliches Unternehmen zu[285] fördern oder persönliches Elend zu mildern galt. Für die Arbeiter seiner Fabriken hatte er ein wahrhaft väterliches Interesse und sorgte für ihr materielles und geistiges Wohl; daneben hatte er aber auch die kleine Eitelkeit des parvenu und fühlte sich geschmeichelt durch den Umgang mit dem Adel. Ein sehr praktischer Geschäftsmann, liebte er gleichwohl auch die schönen Künste und war ihr eifriger Beschützer. Besonders liebte er die Musik, spielte selbst recht gut Klavier, und hier war es, wo wir uns begegneten. Er begleitete mich jeden Abend zum Gesang, wo wir dann die Liederschätze deutscher Musik durchnahmen, was mich sehr bei ihm in Gunst setzte.

Das große und prächtige Haus war fast fortwährend voll von Besuchern, die sich mehr oder minder lange aufhielten. Hier lernte ich die schönste Seite des englischen Lebens kennen, das Landleben nämlich auf den großen Besitzungen des begüterten Teils der englischen Gesellschaft. Es ist wahr, es ist gerade hier, wo der auf die Spitze getriebene, genußsüchtige Egoismus sich am breitesten entwickelt hat. Der ungeheure Grundbesitz der einzelnen, die unabsehbaren Parks mit ihren Waldesschatten, die nur für den Genuß des Besitzenden da sind, scheinen eine Sünde gegen die Nationalökonomie wie gegen die Humanität, wenn man daneben die Hunderttausende bedenkt, die in den Fabriken, an der Maschine, in elenden, von Dampf geschwärzten Häusern, oder noch schlimmer ohne Obdach, unter dem vom Kohlenrauch geschwängerten, bleigrauen Himmel der großen Städte Englands leben und von dem Despotismus des Kapitals abhängig sind, während der Boden, der allen Brot zusammen mit gesünderer Arbeit geben könnte, brach liegt, damit eine begünstigte Gesellschaft in elegantem Müßiggang dort ihre Tage verschwelgen kann, oder junge, reiche »Dandies« die Untätigkeit ihres Daseins mit dem Lärm und der scheinbaren Geschäftigkeit der Jagdpartien bemänteln. Wenn man aber diesen schwarzen Hintergrund des Gemäldes etwas aus den Augen verliert – und man kann es eben dort am ersten, [286] weil auf dem Lande auch das Leben der unteren Klassen eine freundlichere, das menschliche Gefühl weniger verletzende Gestalt hat –, so muß man gestehen, daß die großartige Gastfreundschaft, die völlige Zwanglosigkeit und edle Freiheit des Verkehrs, die mit allen Mitteln zu genußreichem Dasein ausgestatteten Lokalitäten, die einem hier geboten werden, etwas dem ästhetischen Bedürfnis hoch Zusagendes haben und daß sich wohl kaum in irgendeinem andern Lande etwas dem zu Vergleichendes findet.

Unter den zahlreichen Besuchern, die sich während meines Aufenthaltes dort einfanden, kamen mehrere Persönlichkeiten vor, die ganz und gar zu jenen scharf ausgeprägten Typen gehörten, die man vorzugsweise in England antrifft. Es sind dies Typen, die so stark in ihrer Einseitigkeit sind, daß sie in ihr beinahe die Vollkommenheit erreichen, während sie nach anderen Seiten sich als beschränkt und mittelmäßig zeigen. Zu diesen gehörte unter andern ein alter Mann aus Manchester, der mich ungemein interessierte. Er war früher selbst Arbeiter gewesen, hatte sich dann eine bescheidene Unabhängigkeit gemacht und lebte nun für die Verbesserung des Loses der Arbeiter und namentlich für die Verbesserung des Strafkodex und der Einrichtung der Gefängnisse. Er war besonders in letzterer Angelegenheit schon mehrere Male vor dem Parlament mit Reformplänen erschienen und diese waren nicht unberücksichtigt geblieben. Man hatte ihm das Recht gegeben, alle Gefängnisse Großbritanniens frei besuchen zu können und sich von den dort herrschenden Zuständen zu überzeugen. Er war der Freund, Tröster, Ermahner und Sittenprediger der Gefangenen geworden und hatte mehr als einen Verurteilten zu der Richtstätte begleitet und seinen Mut bis zum letzten Augenblick aufrecht erhalten. Ich betrachtete den einfachen schlichten Greis, mit dem Antlitz voll Güte, Milde und Energie, mit dem schneeweißen Haar, dem stets untadelhaften, schwarzen Anzug und der weißen Halsbinde, voll Ehrfurcht und Sympathie, und suchte seine Unterhaltung, wo ich nur konnte. Da er mein lebhaftes Interesse für die Fragen, [287] die ihn beschäftigten, gewahrte, schlug er mir eines Tages vor, ihn in das Gefängnis des, dem S... schen Gute zunächst gelegenen kleinen Ortes, das er zu besichtigen wünschte, zu begleiten. Ich nahm das mit Freuden an, und so wanderten wir eines Morgens inmitten der herrlichen Landgüter voll lachender, frischer, üppiger Vegetation, die die Straße in ununterbrochener Reihe begrenzen, unserem Ziele zu. Mein ehrwürdiger Gefährte war wirklich religiös, gehörte ebenfalls der Unitarierkirche an, war aber durchaus, wie ich es später in England noch öfter und besonders bei Geistlichen fand, für die Notwendigkeit der Todesstrafe, die er sogar mit noch mehr düsterer Majestät umkleidet wünschte, als dies in England der Fall ist, weil er glaubte, der dadurch erregte Schrecken und das unwillkürlich eintretende Grauen vor dem Tode könnten erfolgreich für die Verminderung der Verbrechen werden. Vergeblich bestritt ich ihm die Moralität eines solchen Mittels und suchte vergebens zu beweisen, daß es unmöglich logisch sein könne, wenn die Gesellschaft auf legalem Wege dasselbe tue, wofür sie strafe, nämlich: morde. Seine einseitige Vortrefflichkeit war diesen Argumenten unzugänglich, und er berief sich auf die himmlische Gerechtigkeit, um die irdische Ungerechtigkeit versöhnend zu erklären.

Die Pforten des Gefängnisses taten sich bei Nennung seines Namens auf, und wir traten bei den zwei einzigen Gefangenen, die sich augenblicklich, zum Ruhme der Moralität des kleinen Ortes, dort befanden, ein. Das Gefängnis bestand aus einem reinlichen, weiß getünchten, ziemlich geräumigen Zimmer mit vergitterten Fenstern, hölzerner Bank und eben solchem Tisch und zwei hölzernen Betten mit Matratze. Der eine der Gefangenen war ein sanfter, still aussehender Mensch, der mit Rührung den guten Worten zuhörte, welche mein Begleiter an ihn richtete, und von einer tröstenden Hoffnung belebt schien, als jener dem wahrhaft Reuigen nach vollbrachter irdischer Gerechtigkeit die Vergebung jenseits des Grabes verhieß. Der andere, ein wüst aussehender Irländer, hörte ihm in finsterem Schweigen zu, und als der Greis geendet [288] hatte, schüttelte er den Kopf und sagte trotzig: »Wozu dient mir das, dermaleinst auf ein gutes Leben zu hoffen, wenn ich hier Elend und Hunger habe tragen müssen? Nein, das sagt mir gar nichts. Führt mich aus dem Gefängnis, gebt mir genug zu essen und zu trinken; denn wenn ich draußen bin, fange ich doch wieder an zu trinken, um mein Elend zu vergessen, und dann schlage ich meine Frau wieder und schlage sie vielleicht tot und komme an den Galgen. Übrigens ist auch das noch besser, als so wie ein Hund leben.«

Mein frommer Gefährte wollte ihm antworten, der Gefangene aber zuckte verächtlich die Achseln, drehte ihm mit einem Ausruf der Ungeduld den Rücken, stützte die beiden Ellenbogen auf den Tisch, verbarg sein Gesicht in den Händen und gab kein weiteres Zeichen der Teilnahme mehr bei allem, was der alte Mann ihm noch sagte, grüßte auch nicht, als wir Abschied nahmen und gingen. Mein Gefährte war betrübt über den Mißerfolg seiner liebevollen Ermahnungen, aber so sehr ich seine Absicht und sein wahrhaft humanes Handeln ehrte, so konnte ich doch nicht umhin, im stillen dem Gefangenen recht zu geben. Kann den, der trotz saurer Lasttierarbeit Weib und Kind in Hunger und Elend verkommen sieht, der aus Mangel an Erziehung und edlerer Gewöhnung immer in sich die brutalen Triebe siegen fühlt, kann den, sage ich, die unbestimmte Aussicht auf ein fernes, ersatzvolles Jenseits versöhnen, und lehren, die wilde Empörung der ewig gereizten angebornen Roheit zu dämpfen?

Noch einen andern merkwürdigen Typus, ganz vom andern Ende der Gesellschaft, lernte ich eines Tages kennen, als ein großes Gastmahl, das das ganze Haus in Aufruhr brachte, stattfand. Der nächste Gutsnachbar von Herrn S... war ein Baronet, dessen Frau die Tochter eines alten Lord Amhurst war, der sich zu der Zeit, als ich im S...schen Haus weilte, bei seinem Schwiegersohn aufhielt. Auf dem Lande konnte der reiche Fabrikherr, der sich durch sein Geld, seinen Fleiß und seine Redlichkeit einen Namen und eine Stellung erworben hatte, mit den adeligen Gutsnachbarn [289] wie mit seinesgleichen umgehen, und schon waren mehrere Besuche und Gegenbesuche ausgetauscht worden.

Die Gegenwart des Lords gab Veranlassung, mehr zu verlangen; es wurde eine Einladung zum Mittagessen gegeben und angenommen. Die Vorbereitungen dazu waren der Art, als gälte es einem welthistorischen Ereignis, und hier war es, wo sich Miß B...s Organisationsgeist in vollem Glanze zeigte. Sie entwarf ihren Schlachtplan und hielt an unsichtbaren Fäden die ganze Armee der Unterbeamten, die noch bedeutend durch in Livreen gesteckte Gärtnerburschen usw. vermehrt wurde, in Ordnung, und erst als alles auf das glänzendste bereit war, zog sie sich selbst zurück, um Toilette zu machen. Endlich schlug die feierliche Stunde, und die Wagen der adeligen Nachbarn fuhren am großen Eingang des Hauses vor. Weißbehandschuhte Bediente standen bereit, den Arm hinzuhalten, damit die Damen sich beim Aussteigen darauf stützen könnten, denn auch dies ist englische Etikette, daß ein Diener bei solcher Gelegenheit nie anders behilflich sein darf, als indem er den gebogenen Arm oder gar einen schönen Stock als Stütze vor hält, da seine Hand die Hand der Lady nicht berühren darf. Madame S... empfing ihre Gäste im Salon, und wenige Augenblicke darauf trat auch Herr S... in schwarzem Frack und weißer Halsbinde ein. Ich erstaunte über den Ausdruck von Verlegenheit und Unterwürfigkeit, der sich in Gesicht und Benehmen dieses wirklich verdienstvollen Mannes den Abkömmlingen langer Ahnenreihen gegenüber zeigte, die vielleicht weniger ausgezeichnete Eigenschaften hatten wie er und sicher weder Rang noch Reichtum durch Anstrengung und Arbeit gewonnen hatten. Was hatte es denn für eine Bewandtnis mit diesem freien Lande, wo ich auf Schritt und Tritt dem ungeheuren Ansehn der Geburt, dem strengsten Formalismus in allen Lebensverhältnissen und dem tief eingewurzelten Kastengeist begegnete! War dies alles Folge des Gesetzes, das eine freie Gesellschaft sich selbst auferlegt und ein Zeugnis ihrer Moralität, oder war es nur eine andere [290] Form derselben Widersprüche der Sitte und einer edleren Lebensanschauung, die ich hinter mir gelassen hatte, und die auch hier bekämpft werden mußten, wenn schon mit andern Waffen?

Unter den Gästen interessierte mich am meisten der alte Lord Amhurst, der der wahre Typus des feinen aristokratischen Weltmanns im besten Sinne des Wortes war; ein Typus, der heutzutage fast schon der Tradition angehört und in unserer modernen, mit Bourgeoisie und Geldadel durchflochtenen Gesellschaft nicht mehr vorkommt. Er war bereits über achtzig Jahre alt, erfreute sich aber einer trefflichen Gesundheit und war von jugendlicher Lebendigkeit, besaß im höchsten Grade das, was der Franzose »esprit« nennt, dazu ein außerordentliches Gedächtnis, das ihm einen reichen Vorrat interessanter Mitteilungen zu Gebote stellte – ihm, dem Zeitgenossen der großen französischen Revolution und ihrer beiden Bastarde von 1830 und 1848; ihm, der nicht nur beinah alle europäischen Höfe und Länder kannte, sondern auch längere Zeit in China als englischer Gesandter gelebt und alle nur irgendwie hervorragenden Persönlichkeiten am Ende des vorigen und in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts gekannt hatte. Als ich ihm vorgestellt wurde, redete er mich sogleich im besten Deutsch an und sagte mir, er habe einen ausgezeichneten Staatsmann meines Namens gekannt, in dem ich nach wenigen bezeichnenden Worten meinen Vater erkannte. Nach dem Mittagessen zogen die Damen nach englischer Sitte sich zurück, und ich hatte nun auch Gelegenheit, die Tochter zu beobachten, die nichts von den liebenswürdigen, wahrhaft hinreißenden Eigenschaften des Vaters geerbt zu haben schien, sondern ganz jene abstoßende, kalte, trockne Weise hatte, der man in England so häufig begegnet und deren Verschlossenheit nicht etwa verborgne Schätze, sondern ein inhaltleeres Wesen verbirgt. Als die Herren sich wieder eingefunden hatten, wurde musiziert. Ich mußte, von Herrn S... begleitet, singen, und dann schlug Lord Amhurst, der in der heitersten Laune war, seiner Tochter [291] vor, eines ihrer alten Duette zu singen, denn er war ein leidenschaftlicher Freund der Musik und war selbst ein berühmter Dilettant gewesen. Das Duett des achtzigjährigen Vaters und der halbhundertjährigen Tochter war sehr ergötzlich – es war ein komisches Duett aus der älteren italienischen Musik – und die Art, wie es vorgetragen wurde, zeigte noch die treffliche Schule und Künstlerschaft der beiden Sänger.

Außer den täglichen Spaziergängen in der herrlichen Besitzung selbst machte ich auch mehrere größere Landpartieen mit. Man zog gewöhnlich in mehreren Wagen aus, während ein Teil der Gesellschaft, Herren sowohl wie Damen, zu Pferd folgten. An irgend einem besonders schönen Punkt der Umgegend, am Fuße des Snowdon, des höchsten Gipfels der Walliser Berge, oder im Schatten hundertjähriger Eichen in den herrlichen Parks, fanden wir von geschäftigen Dienern ein köstliches Frühstück serviert, oder es wurde an einem bestimmten Punkte Halt gemacht, um zu Fuß in die wilderen, den Wagen unzugänglichen Gebirgsgegenden vorzudringen, unter anderen einmal in die ungeheuren Schieferbrüche, die zu der, Anglesey gegenüberliegenden, wundervollen Besitzung Pennant-Castle gehören und ihrem Besitzer allein über hunderttausend Pfund Sterling jährlich einbringen. Mir fiel bei diesen malerischen, in wilden Zacken aufsteigenden, dunkelbläulichen Massen die Gebirgsszene aus dem zweiten Teil des Faust ein, und ich wiederholte mir leise: »Gebirgesmasse bleibt mir edel stumm.« Der Eindruck, den die großen geologischen Urformen, die gewaltigen Konturen der primitiven Zustände unserer Erdrinde auf uns machen, beschäftigt unser Auge, unsere Einbildungskraft, unser wissenschaftliches Interesse; sie treten uns aber niemals so nahe, reden nicht so lebendig und vertraut zu uns, wie die Erscheinungen der organischen Welt, und wir fühlen uns kaum versucht, ihnen das geheimnisvolle Wort der alten vedischen Weisheit: »Das bist du«, zuzuflüstern.

Die Naturschönheiten des herrlichen Landes übten mehr [292] als die Gesellschaft einen wohltätigen, versöhnenden Einfluß auf mein Gemüt, und ich sah mit Angst der Rückkehr nach London und in die schwüle Atmosphäre des Flüchtlingslebens entgegen, von dem ich zwar noch nicht viel gesehen, desto mehr Unerquickliches aber gehört hatte. Mir kam aufs neue die Lust, nach Amerika zu gehen, in frische, noch vom Kampf der Zivilisation nicht berührte Zustände, und in dieser Stimmung schrieb ich an Kinkels. Ich erhielt bald darauf von beiden Gatten die freundlichsten Antworten, in welchen sie mich aber entschieden wegen meiner Furcht vor der Rückkehr in das Londoner Leben bekämpften. Er schrieb: »Ich danke Ihnen herzlich für den freundlichen Brief und den Hauch von Naturglück, der aus ihm mir herüber weht. Ich teile aber Ihre Ansicht über Emigration und Erfrischung der Menschheit durch Natur nicht. Wie friedlich sieht Ihr Anglesey Sie an! Und doch grünen seine Bäume von eingesognem Blut. Dort versammelte ein christlicher König Englands die Druiden wie zu einer Ratsversammlung und ermordete sie alle, alle. Es wäre aus ihrem Naturleben und Naturkultus keine moderne Menschheit, keine Geschichte, kein England und Wales von heute geworden. Die sogenannte Natur verbessert den Menschen nicht. Es gibt zwei Klassen von Menschen, ehrliche und unehrliche, mit matten Mittelgliedern, Schattierungen, dazwischen. Die Gesellschaft kann den Charakter der letzteren etwas rascher, etwas freundlicher entwickeln, aber zum Bessern verändern wird ihn keine Natur. Die Elemente, die Ihnen London momentan widerlich machen, sind überall, und jeder kann sich an jedem Ort von ihnen scheiden. So werde ich jetzt tun, klar, scharf und rein, wie einst, Anno 1841, von den Feinden in Bonn. Aber ins Weite fliehen, frommt zu gar nichts; man muß wie der am Pfahl angebundene Bär ehrlich um sich beißen, bis man Ruhe hat. Nur die ernste Arbeit der Geschichte fördert, und die Geschichte ist Kampf. Fallen Sie nicht auf Rousseaus Standpunkt zurück!«

Noch entschiedner schrieb Johanna: »Von Herzen freue ich [293] mich, daß die Eindrücke des schönen Landes Dich so sehr beglücken. Wie es Dir mit der Natur dort, so ist es mir mit den Menschen ergangen, die ich hier kennen und achten lernte. England wird mir täglich heimatlicher, und der große Sinn seiner Bewohner läßt mich verschmerzen, was unsere Landsleute verschulden. Menschen, die aus dem Kleinlichen ihrer Persönlichkeit nicht herauszureißen sind, muß man eben ihrem Schicksal überlassen. Aber daß Du aus Verdruß über die Londoner Umgebungen nach Amerika flüchten willst, ist unpraktisch und gleicht Deiner verständigen Weise nicht. Eine Atmosphäre des Klatsches und der Intrigue wird es in Amerika so gut geben wie an jedem Ort der Welt. Wer den Willen hat, einem solchen Kreise sich in London zu entziehen, der kann es ja in jedem Augenblick. Wir haben es sogar in einer kleinen deutschen Stadt ehedem gekonnt, indem wir konsequent alle Brücken abbrachen, die aus dem Poppelsdorfer Schloß in die Bonner Gesellschaft führten, indem wir uns von den angenehmsten Bekannten lösten, wenn sie uns einen Hauch aus der verdorbenen Luft in unser gereinigtes Haus brachten. So haben wir mehr bewirkt, indem wir die gleichartigen Elemente an uns heranzogen, als wenn unser Lebensfunke in jenem Dunstkreise erstickt worden wäre.

»Ich war diesen Winter sehr in Gefahr, der Schwäche nachzugeben, aus Mangel, einer andern – einer herabziehenden Gesellschaft zur Beute zu werden. Ich war krank, unfähig, meine entfernt wohnenden Freunde aufzusuchen – die Abende waren oft sehr hart. Aber es hat sich mir belohnt, daß ich eine oft bittre und freudlose Einsamkeit einem Schwanken im Prinzip vorzog. Ich habe keine Schlinge um den Fuß, und wo ich jetzt in selbstgewählte Kreise trete, da umweht mich eine klare, durch nichts getrübte Luft. Bald sind die letzten Fäden durchgerissen, die noch aus vermoderten Verhältnissen in unsre neue, schöne reine Welt hineinreichen, und dann entfalten wir wieder die alten breiten Schwingen und sind wieder ganz wir selber.«

Ich fühlte, daß sie recht hatten, und beschloß nach London [294] zurückzukehren, da ich doch auch nicht länger von der Gastfreundschaft der mir noch so wenig bekannten Familie S... Gebrauch machen wollte. Madame S... gab mir beim Abschied die Versicherung ihres wärmsten Interesses und sprach von Plänen für die Zukunft. Ich schied von ihr mit inniger Dankbarkeit und Freundschaft im Herzen. Herr S... fuhr mich selbst nach Bangor hinüber zur Eisenbahnstation. Als er mir mein Billet genommen hatte, frug er mich, ob es mir Freude machen würde, mit Lord und Lady Palmerston zu fahren. Ich bejahte, und er führte mich zu einem Waggon, in dem, außer den Genannten, weiter niemand saß. Herr S... nahm in deutscher Sprache von mir Abschied und reichte mir ein Körbchen mit herrlichen Weintrauben aus seinen Treibhäusern zur Erquickung auf der Reise. Es war mir nicht schwer, Lord Palmerston zu erkennen, dessen Äußeres mir durch die vortrefflichen Karrikaturen in dem englischen Witzblatt »Punch« genügend bekannt war. Er las ein englisches Journal, und als er es beendet hatte, bot er es mir mit ein paar höflichen, in gebrochenem Deutsch gesprochenen Worten an und entschuldigte sich dabei, daß er so schlecht Deutsch spreche. Ich antwortete ihm auf Englisch; er setzte die Unterhaltung sogleich in dieser Sprache fort und machte mich sogleich auf zwei Artikel in dem Journal aufmerksam, die er als die wichtigsten bezeichnete. Der eine beschrieb die Rückkehr des jungen österreichischen Kaisers von seiner offiziellen Rundreise durch seine Staaten, auch durch das von russischen Waffen unterworfne und vom Henker beruhigte Ungarn, sowie die Freudenbezeugungen, das Glockenläuten, Blumenstreuen und Vivatrufen, womit er in Wien empfangen worden war. Der zweite gab einen Bericht von der Abfahrt des ersten großen Dampfschiffs, das den regelmäßigen Dienst zwischen England und Australien machen und die Reise in drei Monaten zurücklegen sollte, und beschrieb den freudigen Enthusiasmus, mit dem die freiwillig herbeigeeilten Tausende von Zuschauern diese Abfahrt begrüßt hatten. Nachdem ich beide Artikel gelesen hatte, gab ich Lord [295] Palmerston das Journal zurück und sagte ihm, daß der Enthusiasmus, von dem man im zweiten Artikel spräche, eine weit größere Bedeutung habe, als der im ersten beschriebene, da er einem Ereignis gälte, das einen neuen Fortschritt der Zivilisation und der die Erde erobernden Kultur bezeichne und von einem freien Volke, ungeheuchelt, einer Tat des Friedens dargebracht worden sei, während der Enthusiasmus der Wiener mir als eine schamvolle Tat über den frischen Gräbern ihrer gemordeten Brüder und ihrer zertretenen Freiheit erscheine, daß ich aber auch an diesen letzteren nicht glaube und ihn für einen polizeilich befohlenen und bezahlten halte. Er schien erstaunt, daß eine sehr einfach aussehende Reisende ihm solche Ansichten vortrug und dabei die Kühnheit hatte, ihm und »her ladyship« Weintrauben aus ihrem Körbchen anzubieten, die die letztere stolz und kalt ablehnte, die er hingegen freundlich dankend annahm. Das Gespräch schien ihn aber zu interessieren, und er fragte mich, ob, was ich eben gesagt, sich auf eigne Beobachtungen gründe und ob ich die Stimmung in Deutschland kenne. Ich bejahte, fing an, ihm von den Zuständen, die ich erst seit so kurzem verlassen hatte, zu erzählen, und sprach meine Überzeugung aus, daß die Reaktion, die jetzt mit all ihren Schrecken hereingebrochen sei, nicht allzu lange dauern könne und daß, trotzdem der Schein dagegen sei, die Zeit unaufhaltsam zur Bekämpfung jedes Despotismus vorwärts schreite. Er hörte mir höflich und aufmerksam zu. Vielleicht regte sich etwas wie ein Vorwurf in seinem Gewissen, als ich, mit absichtlicher Wärme, von dem heldenmütigen Ungarn sprach, das Englands Intervention von der Unterjochung durch russische Waffen hätte retten können. Freilich war er gerade einer jener Staatsmänner, deren Gewissen den Figuren aus Kautschuk gleicht, die nach dem jeweiligen Druck irgend eine beliebige Form annehmen und, nachdem der Druck aufhört, in ihre frühere Form zurückspringen; denn sonst hätte er nicht immer wieder, in den verschiedenartigsten politischen Kombinationen, Minister werden, hätte nicht der Freund des [296] Kaisers Nikolaus (im geheimen sogar von ihm besoldet, wie das Gerücht sagte) sein und zugleich mit jedem Liberalismus kokettieren können. Sehr zu meinem Leidwesen stiegen, gerade im lebhaftesten Ganz unserer Unterhaltung, andere Personen in den Waggon ein, besetzten die Plätze zwischen uns und machten so dem Gespräch ein Ende. In London angelangt, wartete er, der zuerst ausstieg, auf mich, die ich die letzte war, und während seine Frau mit dem Bedienten, der sie an der Station erwartet hatte, dem ihrer harrenden Wagen zuschritt, bot er mir die Hand zum Aussteigen und nahm einen höflichen Abschied. So war ich denn wieder in diesem Riesenstrom des Londoner Lebens, kehrte in mein kleines Stübchen bei Mrs. Quickly zurück und fragte mich nun: »What next?«

Meine Freunde Kinkel entschieden die Frage, indem sie mir ankündigten, daß sie deutsche Sprachstunden für mich gefunden hätten. Freilich waren es nur zwei Stunden die Woche, und die Stunde trug nur zwei und einen halben Schilling ein; aber es war doch ein Anfang, und diese fünf Schillinge jede Woche füllten schon einen Teil der Öde aus, die sich in meiner Kasse zu zeigen anfing. Und dann – Stundengeben war wenigstens individuelle Freiheit und Unabhängigkeit nach der Arbeit. Die Gewißheit, mich nach den Stunden in einer eigenen, wenn noch so bescheidenen Häuslichkeit zu finden, zog ich tausendmal dem Luxus vor, der mich vielleicht als Gouvernante in einem reichen Hause umgeben hätte, den ich aber mit fortwährender Unterwerfung unter einen fremden Willen und mit der Heuchelei eines Glaubens, den ich nicht mehr hatte, hätte erkaufen müssen. Ich war also hocherfreut über diesen bescheidenen Anfang und betrat, doch nicht ohne seltsame Empfindung, die Laufbahn derjenigen, die ihr Brot verdienen. Zum Glück war diese erste Erfahrung keine harte. Meine zwei kleinen Schülerinnen waren allerliebste Mädchen, Töchter eines Arztes, dessen Frau mich gleich bei der ersten Zusammenkunft durch ihr freundliches Entgegenkommen und ihre sympathische Schönheit [297] einnahm. Sie war durch Kinkels, mit denen sie befreundet war, vorteilhaft für mich gestimmt und behandelte mich eher wie eine Freundin, als wie eine Lehrerin, und das in immer höherem Grade, je mehr sie sah, daß ihre Kinder mich von Stunde zu Stunde lieber gewannen und die Stunden wie ein Fest ansahen. Es herrschte ein zarter Mystizismus in dem Hause, die Eltern waren Anhänger von Swedenborg; aber das mißfiel mir weniger als die trockne Orthodoxie der Hochkirche, und wenn die reizende kleine Florence mir von den bösen und guten Geistern sprach, die ihre Handlungen beeinflußten, so hütete ich mich wohl, daran zu rühren. Bald verschaffte mir die Mutter neue Stunden, für die ich etwas mehr fordern konnte, da die Familie reicher war als die ihre, und so sah ich mich auf meiner neuen Laufbahn vorwärtsschreiten. Persönliche Empfehlungen, von Familie zu Familie sind die besten Mittel, um zu etwas zu kommen; es gibt auch noch den Weg zur Anzeige im Journal, aber das erste ist besser, mehr »respectable!« – Ich kann nicht sagen, mit welcher Rührung ich nach einem Monat das erste selbstverdiente Geld empfing. Weit davon entfernt, mich dadurch gedemütigt zu fühlen, kann ich im Gegenteil sagen, daß mir niemals Geld mehr Freude gemacht hat. Ich hatte ja Wort gehalten: ich verdiente mir mein täglich Brot, ich war eine Arbeiterin wie die Töchter des Volks, und ich fand wieder, daß nur so das Geld einen sittlichen Wert hat, indem es Austauschmittel wird zwischen dem, der Dienste verlangt, und dem, der sie leistet. Ich kam durch die Praxis auf meine alten Theorieen von der Abschaffung des Erbrechts zurück, und es schien mir von neuem, als ob die Sittlichkeit und die menschliche Würde nur dabei gewinnen könnten. Jedes menschliche Wesen hat Anspruch auf eine Erziehung, die es fähig macht, auf sich selbst zu ruhen; dieses Recht müßte die Gesellschaft ihm sichern, indem sie die Eltern im Fall der Not zwänge, es ihm zu gewähren, oder, bei absolutem Mangel an Mitteln von deren Seite, selber helfend einträte. Jeder Erwachsene aber (ausgenommen die durch [298] Krankheit völlig Unfähigen, für die die Gesellschaft natürlich zu sorgen hätte) sollte sich durch Arbeit sein Leben selbst verdienen. Welch eine tiefe und gesunde Revolution würde das in den Sitten, in den Grundideen des Daseins geben! Die Eltern würden, anstatt Reichtümer für ihre Kinder aufzuhäufen, so viel als möglich für eine gute, nach allen Seiten vollständige Erziehung ausgeben, nur mit dem Unterschied, daß man, anstatt kleine mittelmäßige Talente oder einen bloßen Gesellschaftsfirnis zu entwickeln, die vorherrschende individuelle Anlage berücksichtigen würde, um eine Spezialität auszubilden, durch die das Individuum ökonomisch unabhängig würde. So würde nicht nur vor der Notwendigkeit der Arbeit und der Freude an einer mit Erfolg auszuübenden Befähigung der Müßiggang verschwinden, sondern mit ihm noch eine Menge anderer Übel, zunächst die falsche aber so häufige Tendenz der Eltern, an der Erziehung zu sparen, um dem künftigen Wohlleben der Kinder etwas zuzufügen, sowie die Oberflächlichkeit des Vielwissens und der Mangel an tüchtig ausgebildeten Spezialitäten. Welche Wohltat würde es z.B. für die Gesellschaft sein, wenn man es nicht mehr für nötig hielte, jedes junge Mädchen vom Bürgerstande an bis hinauf zur Aristokratie, ob sie Talent habe oder nicht, Klavier lernen zu lassen, um so während mehrerer Stunden des Tages die Ohren und Nerven ihrer Umgebungen zu martern, während vielleicht eine andere Fähigkeit, die sie zu einem höchst nützlichen Mitgliede der Gesellschaft gemacht hätte, unausgebildet bleibt, und es ganz andere Mittel gibt, um wirklich musikalische Menschen, mit wahrem Verständnis für Musik, zu bilden. Ähnliche Beispiele ließen sich unzählige auffinden, und es ist kein Zweifel, daß die Gesellschaft nicht nur durch das Wegfallen der falschen Bildung gewinnen würde, sondern auch durch die erhöhte Zahl starker, ausgeprägter Individualitäten, die sich gegenseitig um so mehr interessante Dinge zuzubringen hätten, als ein jeder irgend eine Sache aus dem Grund verstände und jede Sache, die gründlich gewußt ist, eine interessante Seite hat. Es versteht [299] sich von selbst, daß bei der vorherrschenden Entwicklung einer Spezialität die allgemeine Bildung nicht vernachlässigt werden dürfte. Der Unterricht in den nötigsten allgemeinen Gegenständen des Wissens gehört in die erste Jugend, wo alle Anregungen für wissenschaftliche oder künstlerische Richtungen, alle nötigen Elemente gegeben werden müßten für alle. Daraus würde sich dann, durch die vorherrschende Anziehung, die Spezialität herausstellen, die aber immerhin, gerade je tüchtiger sie ergriffen würde, noch Zeit übrig lassen würde, um auch für die allgemeinen Dinge einen offenen Sinn und ein teilnehmendes Interesse zu bewahren. Man könnte einwenden, daß dies alles eine so kostspielige Erziehung, so ungeheure Mannigfaltigkeit der Mittel, eine solche verwickelte Organisation der Lehrkräfte erfordern würde, daß es die Kräfte der Gesellschaft überstiege. Darauf braucht man nur einfach zu erwidern: wenn die Gesellschaft die Mittel findet, den Luxus der Höfe und das ungeheure Budget der stehenden Heere zu bestreiten, so wird es ihr auch wohl möglich sein, die Mittel aufzufinden, durch die sie sich selbst vervollkommnen und aus sich selbst das vernünftig und organisch sich entwickelnde Wesen machen kann, für das zuletzt jene kolossalen Ausgaben von selbst wegfallen, weil für Völker, die sich selbst zu regieren und zu erziehen verstehen, sowohl die Pracht monarchischer Höfe als wie der Hemmschuh des bürgerlichen Lebens, die stehenden Heere, überflüssig werden.

3. Kapitel. Die politischen Flüchtlinge
Drittes Kapitel
Die politischen Flüchtlinge

Schon ehe ich nach Wales ging, hatte ich mich etwas in dem Kreis, wenigstens der deutschen politischen Flüchtlinge, umgesehen und hatte eben dort jene Eindrücke empfangen, deren in den Briefen von Kinkel und Johanna Erwähnung getan wurde und die mich von neuem schwankend gemacht hatten, ob es nicht besser sei, ganz aus diesen Beziehungen zu scheiden und nach Amerika hinüber zu gehen. Einmal nach London zurückgekehrt, konnte ich es nicht unterlassen, die [300] angeknüpften Bekanntschaften fortzusetzen, teils, weil ich aufgesucht wurde und zu allein war, um allem Verkehr auszuweichen, teils, weil sich wirklich interessante und bedeutende Persönlichkeiten darunter fanden, die mich anzogen und deren Umgang lehrreich und wohltuend für mich sein konnte. Ich beschloß, mich eben auch nur diesen letzteren näher anzuschließen, im übrigen aber mich mehr beobachtend zu verhalten und jedenfalls sehr auf meiner Hut zu sein, nicht in das Netz kleiner Intriguen und häßlicher Klatschereien verwickelt zu werden, die auch hier sich einstellten, wie überall, wo Menschen zusammenkommen, deren Leben nicht scharf gezeichnete Ziele und unausgesetzte Beschäftigung mit großen Gedanken oder mit notwendiger Arbeit in sich schließt.

Nur wenige Häuser von mir entfernt hatte sich für die deutsche Emigration ein Zentrum gebildet in dem Hause einer Dame, deren Bekanntschaft ich schon in Hamburg gemacht hatte, wo sie sich einige Zeit aufhielt und die Hochschule öfter besuchte, bis sie, nach einer polizeilichen Haussuchung, die man bei ihr vornahm, es für besser hielt, mit ihrer Familie nach England überzusiedeln. Sie war eine Deutsch-Russin aus einer der höchsten aristokratischen Familien der Ostseeprovinzen und an einen livländischen Baron verheiratet, von dem sie mehrere Kinder hatte. Reich, von schöner Gestalt und einnehmendem Gesicht, elegant und vornehm im Betragen, gebildet, gutmütig, lebhaft, eine enthusiastische Natur, hatte sie, ich weiß nicht wie, sich der Demokratie angeschlossen, hatte sich in der Heimat mißliebig gemacht und diese verlassen, war dann aber auch, da des Kaisers Nikolaus Arm weit reichte, in Deutschland und der Schweiz stets von dem beobachtenden Auge der Polizei verfolgt worden und, da man sie der Teilnahme an Kinkels Flucht, obgleich grundlos, für verdächtig hielt, war sie schließlich, wie schon erwähnt, durch direkte Maßregeln zu dem Entschlusse getrieben worden, sich auf den gastfreien Boden Englands zu retten. Im Anfang ihres Aufenthalts in London hatte sie, gleich den andern Flüchtlingen, im Kinkelschen Hause das natürliche Zentrum [301] für den politischen Kreis gesucht, der sich im Exil zusammenzufinden strebte, um die Heimat in der Ferne wieder herzustellen und sich von den gemeinsamen Hoffnungen, Wünschen und Plänen zu unterhalten. Aber einesteils waren mannigfache Mißstimmungen entstanden, vielleicht aus Mißverständnis, vielleicht aus wirklich unvereinbaren Gegensätzen, und andernteils hatten Kinkels durchaus keine Zeit, einer müßigen Gesellschaft zu leben und in unfruchtbaren Beratungen die Stunden zu vergeuden, die sie in anstrengender Arbeit verbringen mußten, um sich und den Kindern eine neue Heimat zu gründen. Kinkel wurde, vielleicht ebensoviel durch diese Notwendigkeit, als durch seinen klaren praktischen Blick von vornherein zu der Überzeugung geführt, daß es sich darum handle, den bisher immer wiederholten Irrtum aller politischen Emigrationen zu vermeiden, den Macaulay in seiner Geschichte, bei Erwähnung der englischen Flüchtlinge in Holland, so trefflich beschreibt: den nämlich, daß sie, anstatt die Zeit des Exils kräftig zu benutzen und mit fruchtbringender Arbeit auszufüllen, sie in steriler Erwartung demnächst eintreten müssender Ereignisse, der Rückgabe des Verlornen, des Vaterlandes und ihrer politischen Machtstellung, verschwenden. Es geht den politischen Parteien darin wie den Individuen: nach großen Katastrophen, die das Leben schmerzlich verändern, hofft der Mensch immer im Grunde der Seele darauf, daß das Schicksal noch einmal so gut sein werde, dieselben Verhältnisse, dieselbe Sachlage herbeizuführen, damit er diesmal die früher gemachten Fehler vermeiden und Herr der Situation bleiben könne. Aber ach! Das Schicksal ist nicht so gütig; was sind ihm die Schmerzen und Sorgen eines Individuums oder einer Partei? Es gab ihnen ja die Gelegenheit, anders zu handeln, und nun sie so gehandelt, wie sie es getan, nun muß mit eherner Notwendigkeit auch die lange Kette von Folgen eintreten, von deren starken Banden uns kein Gott erlöst, außer wenn wir es begreifen: daß jedes Gutmachen vergangener Fehler, jeder Sieg über die Vernichtung, die tragische Schicksale mit sich [302] bringen, nur vorwärts liegt, im großen, reinen, energischen Handeln, das den gegebenen Moment mit seinen Forderungen annimmt und ausfüllt, ohne in müßiger Qual ewig nach rückwärts zu schauen, und das für ewig Vergangene wieder heraufzubeschwören.

Nur sehr wenige in der Emigration begriffen dies, und so zog sich denn, als Kinkels ihre Tür verschlossen hatten und in die strenge Tageseinteilung keine Zeiträuber mehr eindringen ließen, die ganze Schar der Flüchtlinge in das Haus der obenerwähnten Frau von Brüning, die es gastfreundlich öffnete und eigentlich nichts mehr verlangte, als Königin und Gottheit dieser wandernden Demokratie zu sein. Sie hatte ein ganzes Haus mit ihrer Familie inne, mit derselben Einteilung, wie das oben beschriebene, in dem ich wohnte, nur mit größeren Räumen und eleganterer Ausstattung. Man kam in Versuchung, immer nur von ihr zu sprechen, wenn man von der Familie sprach, denn sie war allerdings die Seele des Ganzen und ihr Wille herrschte unbedingt. Ihr Gatte teilte, wie er offen aussprach, ihre demokratischen Ansichten nicht, und sicher war der Kreis, den sie im Hause versammelte, nicht der Umgang seiner Wahl. Dennoch fügte er sich in alles, was die viel jüngere. Gattin anordnete und wohnte stets, wenn auch oft mit mürrischem Angesicht, den allabendlichen Versammlungen der flüchtigen Demokratie im Salon seiner Frau bei. Was ihn zu dieser Unterwerfung brachte, weiß ich nicht. Ob er sie, trotz ihrer ihm antipathischen politischen Richtung, zu tief liebte, um ihr offen entgegenzutreten, ob es, wie einige behaupten, war, weil das Vermögen ihr gehörte und er zu zartfühlend war, sie in dessen freiem Gebrauch zu hindern, oder ob er, um seiner Kinder willen, duldete, was er nicht ändern konnte – das sei dahingestellt; eins ist gewiß: daß er das, was seine Frau durch glänzende Liebenswürdigkeit im Salon vor ihm voraus hatte, durch größere Sorgfalt für das Haus, besonders für die Kinder, er setzte; denn diese wuchsen von seiten der Mutter so ziemlich wie wilde Ranken auf. Kurz, wenn man [303] als Gesinnungsgenosse der Frau von Brüning zweifelhaft darüber sein konnte, ob man ihr als Charakter die volle Anerkennung zollen dürfe, die man ihrer Anmut darbringen mußte, so konnte man, trotzdem man nicht seiner Meinung war und seine Liebenswürdigkeit nicht eben allzusehr hervorleuchtete, doch nicht umhin, Herrn von Brüning als einen völligen Ehrenmann zu betrachten und zu schätzen.

Frau von Brüning nahm mich freundlich, aber nicht mit der Zuvorkommenheit auf, die sie ihren anderen Gästen angedeihen ließ. Es war ein geheimer, von vornherein gefühlter Antagonismus zwischen uns, der nur, wie ich später erzählen werde, in einer feierlich ernsten Stunde sich aufhob und versöhnte. Dieser Antagonismus konnte sich sicher nicht durch weibliche Eitelkeit erklären, denn sie mußte von vornherein sehen, daß in mir auch nicht der leiseste Anspruch sein konnte, ihr, der Schönen, Anmutigen, Gefeierten, den Rang streitig zu machen und mir, deren Seele ein so schmerzlich tiefer Ernst füllte, der Sorgen aller Art mit dunklen Fittichen um das Haupt rauschten, mir konnte es nicht in den Sinn kommen, ein glänzender Stern der Parteigeselligkeit sein zu wollen, wie sie war. Das heimlich Trennende zwischen uns war vielmehr wohl dies: ihr Enthusiasmus galt mehr den Persönlichkeiten, der meine mehr den Prinzipien: sie wollte im Bereich unserer Ideen mit ihren reichen Mitteln herrschen, ich wollte ihnen dienen mit dem wenigen, was ich war und hatte. Dazu kam, daß sie mich mit Recht für eine Freundin von Kinkels hielt, mit denen sie eben damals auf ganz gespanntem Fuße lebte und die sie nicht mehr sah. Ich wurde daher auch keineswegs ein täglicher Gast bei ihr wie die übrigen, ja zuweilen kam ich so selten, daß man schickte, mich zu holen und mir Vorwürfe wegen meines Ausbleibens machte. Dennoch ging ich von Zeit zu Zeit gern hin, weil ich gewiß war, dort eine oder die andere interessante Persönlichkeit zu finden, so unter anderen den Doktor Löwe aus Kalbe, der mit seinen klugen, scharfen Augen einem so recht bis ins Herz hinein zu schauen schien und dessen Gespräche [304] mich durch ihre Klarheit, durch ihre Präzision und Verstandesschärfe vor denen aller übrigen anzogen. Eine sehr geistvolle Freundin in Deutschland, der ich von dem Eindruck schrieb, den er mir gemacht, antwortete mir darauf: »Alles, was Sie mir von den Londoner Verhältnissen und den Menschen, mit denen Sie dort verkehren, sagen, interessiert mich auf das lebhafteste. Ganz vorzüglich Ihre Erwähnung Löwes, weil wir uns da auch in einer Anerkennung begegnen. Ich sah und hörte Löwe im Jahr 1848 in Frankfurt, hatte damals kaum seinen Namen gehört und hatte doch den ganzen entschiedenen Eindruck des unbegrenztesten Vertrauens zu seiner Einsicht wie zu seinem Charakter. ›Für den verbürge ich mich unbedingt‹, sagte ich damals und hatte stets eine Herzensfreude, wenn es mir durch sein späteres Verhalten und sein Ausharren bis an das Ende bestätigt wurde. Zuerst hörte ich von ihm in tiefem Abenddunkel eine Rede am Grabe eines verstorbenen parlamentarischen Freundes, nach ihm sprach Gagern! Da schied ich sie schon gleich, wie sie sich später gezeigt: ruhig fest der eine, leidenschaftlich schwankend der andere.«

Wenn Löwe unter den Männern reiferen Alters als ganz bedeutend hervortrat, so zeichnete sich unter den jungen Leuten eine wahrhaft ideale Jünglingsgestalt aus, die alle andern so weit überragte, daß man auch ohne Prophet zu sein, sagen konnte: »Der allein hat eine große fruchtbringende Zukunft!« Ich meine Carl Schurz, der durch seine kühne Tat, die Rettung Kinkels aus Spandau, bereits einen Namen hatte, der den einen furchtbar, den andern mit einem Lorbeer umgeben war. Noch ganz jung, kaum zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt, hatte er bereits die badische Revolution an der Seite seines Lehrers und Freundes mitgemacht, hatte sich aus dem eingeschlossenen Rastatt vor der Übergabe auf die verwegenste Weise durch eine Wasserleitung, die aus der Festung nach dem Rhein zu führte, nach Frankreich gerettet und hatte dann, im Verein mit der hochherzigen Johanna, den Plan entworfen und ausgeführt, durch den er den geliebten [305] Lehrer aus dem langsamen Martertod der Zelle befreite. Ich hatte ihn bereits in Hamburg kennen gelernt, als er, natürlich unter falschem Namen, auf dem Wege nach Berlin war, wo er, selbst zum Tode verurteilt, mehrere Monate lang unter den Augen seiner Henker lebte und sich frei bewegte, ohne erkannt zu werden, bis seine Vorbereitungen gereift waren und er jenen die Beute mit sicherer Hand entführte. Damals schon, bei einem mehrstündigen Zusammensein, hatte ich in ihm eine Natur von Begabung erkannt, wie sie nur selten sich findet. In beschränkten Verhältnissen aufgewachsen, aber ein Kind des schönen Rheinlandes, vereinigte er in sich alle Elemente, die jener glückliche Boden hervorzubringen vorzugsweise geeignet ist: neben der größten Einfachheit und Anspruchslosigkeit im Äußern, tiefe, sinnige Gemütlichkeit, Güte und Poesie, feste klare Auffassung des Lebens, sehr viel praktischen Sinn und jene unerschütterliche Energie, die in einem heitern und berechtigten Selbstvertrauen wurzelt und das unerläßliche Erfordernis für kühne Erfolge ist. Ich war seit seinem Aufenthalt in England, woselbst Retter und Geretteter zugleich ankamen, beständig in Korrespondenz mit ihm gewesen und hatte hierdurch Gelegenheit gehabt, die großartigen Anlagen dieses jungen Mannes näher kennen zu lernen und nächst Kinkels war er es gewesen, auf den ich mich in England am meisten gefreut hatte. Er kam auch gleich nach meiner Ankunft, mich zu sehen, und von da an sah ich ihn fast täglich bei mir, bei Kinkels, oder bei Frau von Brüning, wo ihn nun ein der Politik fernabliegendes Interesse allabendlich hinführte. Ihm hatte sich das Exil, statt dem herben Tranke, den es anderen bot, bereits segenspendend erwiesen. Unter der Zahl der politischen Flüchtlinge befand sich auch Johannes Ronge, dessen Frau eine intime Freundin der Frau von Brüning geworden war. Sie hatte für einige Zeit ihre jüngste Schwester bei sich zu Besuch, ein noch ganz junges, schönes, mit den liebenswürdigsten Anlagen ausgestattetes Wesen, die ich von der Hochschule her kannte, wo sie eine der ersten Schülerinnen gewesen war, [306] bis sie diese verließ, um zu ihrer Schwester nach London zu gehen. Sie war ein Liebling im Hause der Frau von Brüning, und dort hatte Schurz sie kennen und lieben gelernt und sich mit ihr verlobt. Dieses liebenswürdige Brautpaar gab dem Kreis im Brüningschen Hause einen besonderen Reiz, der noch dadurch gesteigert wurde, daß beide ungewöhnlich musikalisch begabt waren und Schurz häufig den seelenvollen Gesang seiner Braut begleitete. Leider blieben sie der Gesellschaft nicht lange erhalten, denn nach ihrer im Laufe des Sommers erfolgten Verheiratung beschlossen sie, nach Amerika zu gehen. Schurz wußte wohl, daß er in England vielleicht durch Stundengeben sich ein reichliches Auskommen schaffen könnte, aber einesteils fühlte er in sich die Befähigung zu etwas Höherem, und dann wollte er sich eben aus dem unfruchtbaren Warten der Emigration auf eine bald neu ausbrechende Erhebung befreien und die Zeit zwischen der eingetretenen Reaktion und einer möglichen Änderung der Umstände benutzen, um die Freiheit in ihrer realen ungehinderten Entwicklung in Amerika zu sehen und zu beobachten. Noch recht frohe Stunden verlebte ich mit dem jungen Paar in ihrer ländlichen Einsamkeit in Hampstead, einem dem Teile von London, wo ich wohnte, nicht allzu fernen kleinen Ort mit reizenden Landhäusern und frischer Landluft. Noch vor Ende des Sommers aber schieden die jungen Leute, begleitet von meinen treuesten Wünschen. Ihr Scheiden ließ eine tiefe Lücke in meinem Leben zurück und entpoetisierte mir den Kreis im Brüningschen Hause so sehr, daß ich von nun an weit weniger hinging. Was die übrigen Flüchtlinge betraf, so enthielten die Worte, die mir eben dieselbe Dame, die mir über Löwe geschrieben, in ihrem Briefe sagte, leider nur zu viel Wahres: »Erzählen Sie mir von den Unseren in London, es interessiert mich ein jeder dort Geborgene. Ich wünsche allen leidliche Tage und praktischen Sinn. In bezug darauf ist aber manches unfreundlich, was herüberklingt; ich fürchte, sie leben im ganzen zu viel nur mit sich und verlieren die übrige Welt indem sie [307] diese nur als Material für ihre sozialistischen Ideale betrachten, aus den Augen, sie denken, es sei ein totes Material, während es doch lebt, nicht um viel und weit, aber doch um an sich zu denken und sich gar nicht über seinen augenblicklichen Vorteil hinaus benutzen lassen zu wollen. Ich habe immer die Angst, daß sich unsere Besten an das wenden, was den bestehenden Verhältnissen gegenüber eine Tollheit ist. Die Massen müssen uns auch bis zum nächsten Schritt noch weiter nachreifen. Ich mache darin täglich trübe Erfahrungen. Möglich, daß der Süden sich schon weiter entwickelte, wir haben das Joch noch vollkommen nötig, das über uns liegt; glauben Sie mir, die Lehren, die man in Hessen und Schleswig-Holstein jetzt empfängt, sind um nichts zu stark. Wenn ich dies ganze trostlose Gebiet überschaue, stockt mir die Kraft zum Leben, und ich möchte für mich ›Schlafenszeit‹.«

Zum Teil wurden aber auch die törichten Hoffnungen, denen sich so viele hingaben, von Deutschland aus genährt. Dort erwartete man viel von der Emigration, von der man glaubte, daß sie eine Wünschelrute besäße, um goldne Hilfsquellen aus dem Boden zu zaubern; die Flüchtlinge hingegen hielten es für unnütze Mühe, sich um dauernde Arbeit umzusehen, da sie glaubten, stets auf der Wacht stehen und bereit sein zu müssen, mit wehenden Fahnen und klingendem Spiel der diesmal siegenden Revolution zu Hilfe zu eilen. Es erschienen auch einzelne Abgesandte der revolutionären Partei von dort, um im Falle günstiger Eventualitäten ein gemeinsames Handeln zu verabreden. Unter ihnen war ein ehemaliger Artillerieoffizier, der sich mit besonderem Eifer diesen Verhandlungen hingab, die bestimmtesten Hoffnungen auf eine bald zu erwartende Erhebung aussprach und sich gründlich über die einzelnen Persönlichkeiten und die von einer jeden zu erwartenden Hilfe unterrichten zu wollen schien. Ich sah ihn nur einmal, aber er flößte mir ein instinktives Mißtrauen ein; und erst später erfuhr ich, wie vollkommen dies gerechtfertigt war. Denn als nach einigen [308] Monaten die Verfolgungen und Verhaftungen in Berlin und Rostock erfolgten, und der lange, traurige Prozeß begann, da ergab es sich, daß dieses selbe Individuum der Verräter gewesen war, dessen freilich falschen und lügnerischen Angaben wohl auch ich meine Ausweisung zu danken gehabt hatte. Er war frech genug gewesen, ausdrücklich nach England herüberzukommen, um zu sehen, ob er seinen Judaslohn noch vergrößern und noch mehr Opfer in die Falle locken könne, die eine neue Verherrlichung des Systems werden sollte, durch das das Polizeiregiment des Herrn von Hinckeldey sich eine so klägliche Unsterblichkeit errungen hat. Welcher Zustand mußte der Deutschlands sein, wenn eine Regierung wie die preußische sich elender Spione bediente, um die Gesinnung solcher Leute auszuforschen, die wenigstens den Mut ihrer Überzeugungen gehabt, Heimat, bürgerliche Stellung, Vermögen und jede hoffnungsvolle Grundlage der Existenz aufgegeben hatten, um ihnen treu zu bleiben, und keines anderen Vergehens schuldig waren, als zu schnell und zu kühn von den Regierenden die edle Einsicht notwendiger Konzessionen, von den Massen die unmittelbare Befähigung zur vernünftigen Ausübung voller Freiheit verlangt zu haben! Wie es dort aussah, drückten schmerzvoll wenige Worte meines teuren Freundes, des Predigers der freien Gemeinde zu Hamburg, aus, der mir schrieb: »Ich beschäftige mich jetzt ausschließlich mit Kant. Gäbe es einen jüngsten Tag und an ihm ein Weltgericht, so müßte ohne alle Gnade das deutsche Volk verurteilt werden, das fünfzig Jahre nach solch einem Manne sich von Pfaffen gängeln läßt. Was mühen sich doch kleine Geister mit Denken und Reden ab, nachdem Männer wie Kant so scheinbar vergeblich gedacht haben!«

Aber auch die flüchtige Demokratie war, bis auf wenige Ausnahmen, darin schuldig, daß sie an ihren theoretischen Idealen hängen blieb und darüber den offenen Blick für die Zustände, die sie umgaben und aus denen sie so viel hätte lernen können, verlor. Häuser, wie das der Frau von Brüning, nährten diese verderbliche Richtung. Dort wurde [309] dem theoretisierenden Müßiggang und jenen eitlen Hoffnungen Vorschub geleistet durch törichtes Geschwätz, bei dem man sich gegenseitig exaltierte und zur phantastischen Gewißheit geträumter Vorgänge hinaufschraubte, während eine angenehme Geselligkeit mit stets gut besetzter Tafel und materielle Hilfe durch die allezeit bereite Großmut der Hausfrau über die Not des Augenblicks und die Nötigung der Arbeit täuschten. Wie den Einsichtsvollen hierüber die Augen aufgingen, sobald sie aus dem engen Dunstkreis der Emigration heraustraten, bewies mir ein Brief von Schurz, den ich aus Amerika, einige Monate nach seinem Scheiden, von ihm erhielt; er schrieb unter anderem:

»Ich habe in Amerika noch nicht viel gesehen, aber sehr viel gelernt. Es ist das erste Mal, daß ich in einem demokratischen Lande lebe, und daß ich sehe, wie ein Volk sich gebärdet, das frei ist. Ich gestehe, ohne zu erröten, daß ich davon früher nur schwache Begriffe hatte. Meine politischen Meinungen haben eine Art innere Revolution erlebt, seit ich in dem Buche lese, in dem allein das Wahre steht, im Buche der Wirklichkeit. Wenn ich mir nun die meisten der hitzigen Revolutionäre von Fach vorstelle, wie die Emigration sie heranbildet, oder die meisten freisinnigen Damen der gebildeten Stände mit ihrer sentimentalen Demokratie in die hiesigen Verhältnisse hineingesetzt denke, wie sie beide schrecklich räsonieren würden, die ersteren über das Wesen der Bourgeoisie und die Umtriebe des Pfaffentums, die letzteren über die wilde Zügellosigkeit des Volks, und wie beide dann zu dem Schluß kommen würden, daß es nichts sei mit diesem Eldorado – dann will es mir ein wenig bange werden um die künftige europäische Republik, die ihre Stützen in jenen beiden Elementen finden soll. In der Tat ist es wahr, der erste Anblick dieses Landes erfüllt uns mit stummem Erstaunen. Hier sehen Sie das Prinzip der individuellen Freiheit bis zu den letzten ihrer Konsequenzen: der Verachtung des freigemachten Gesetzes getrieben; dort sehen Sie den krassesten religiösen Fanatismus sich in brutalen Akten austoben; [310] die große Masse des arbeitenden Volkes sehen Sie hier in der vollsten Freiheit für ihre Emanzipationsbestrebungen und daneben den Spekulationsgeist des Kapitals sich in unerhörten Unternehmungen herumtummeln; hier eine Partei, die sich die demokratische nennt und die zugleich die Hauptstütze des Instituts der Sklaverei bildet, dort eine Partei, die gegen das himmelschreiende Unrecht des Sklaventums donnert, aber all ihre Argumente auf die Autorität der Bibel stützt und in einer unglaublichen geistigen Abhängigkeit steht; hier der unaufhaltsame Geist der Emanzipation, dort das tätige Gelüst der Unterdrückung – alles dies in voller Freiheit, in buntem Gewirre durcheinander, nebeneinander. Der von Europa herübergekommene Demokrat, der bisher in der Welt der Ideen gelebt und noch keine Gelegenheit gefunden hat, diese Ideen in Menschennatur umgesetzt, verkörpert zu sehen, fragt sich stutzend: Ist das ein freies Volk? Ist das eine wirkliche Demokratie? Ist die Demokratie eine Tatsache, wenn sie all diese entgegengesetzten Prinzipien in ihrem Schoße beherbergt? ist das mein Ideal? – So fragt er sich zweifelnd und tritt mit unsicherm Fuß in diese neue, wirklichneue Welt. Er beobachtet und denkt, streift allmählich die Vorurteile ab, die ihm Europa aufgeladen, eins nach dem andern, und zuletzt kommt er zur Lösung des Rätsels: Ja, so sind die Menschen, wenn sie frei sind. Die Freiheit bricht die Fesseln der Entwicklung entzwei. Alle Kräfte, alle Schwächen, alles Gute, alles Schlechte, zeigen sich am Licht des Tages und in ihrer Wirksamkeit; der Kampf der Prinzipien kämpft sich unbeschränkt durch; die äußere Freiheit zeigt erst, welche Feinde zu besiegen sind, bis wir die innere erobert haben. Wer die Freiheit will, darf sich nicht wundern, wenn die Menschen sich nicht besser zeigen, wie sie sind. Die Freiheit ist der einzige Zustand, in dem es den Menschen möglich ist, sich selbst kennen zu lernen, indem sie sich hinstellen, wie sie sind. Dabei kommt das Ideal nicht heraus, das ist gewiß, aber ein unglücklicher Gedanke wäre es, das Ideal trotz den Menschen herausforcieren [311] zu wollen. Hier läßt man die Jesuiten wirtschaften, man schlägt sie nicht tot und treibt sie nicht aus – denn die Demokratie statuiert die Freiheit eines jeden Bekenntnisses, so lange es nicht die bürgerliche Freiheit anderer beschränkt, – man bekämpft sie nicht mit der Waffe der offiziellen Gewalt, sondern einfach mit der öffentlichen Meinung. Das ist nicht allein demokratischer, sondern auch solider, denn geht der Kampf der öffentlichen Meinung gegen die geistige Abhängigkeit langsam, so ist das ein Zeichen, daß die Menschen eben noch nicht reifer sind. Dieser Kampf hat den Vorteil, daß er stets gleichen Schritt hält mit dem Standpunkt der Menge, darum sind seine Siege weniger schnell, weniger glänzend, aber dauerhafter und entscheidender. So geht's hier mit allem. Der europäische Revolutionär wird darüber ungeduldig und möchte kräftige Schläge hineintun; aber die Menschen sind nun einmal so, daß sie sich nicht vernünftig klopfen lassen, und die wahre Demokratie ist einmal so, daß in ihr der öffentliche Verstand regiert, nicht wie er sein sollte, sondern wie er ist. Es ist meine feste Überzeugung, daß die europäischen Revolutionäre eine nächste Revolution durch ihre bloße Regierungslust, durch den bloßen Drang, schnell und positiv besser zu machen, in die Reaktion hineintreiben werden. Jeder Blick in das politische Leben Amerikas gründet meine Überzeugung fester, daß die Aufgabe einer Revolution nichts anderes sein kann, als dem Volkswillen Raum zu schaffen, d.h. jede Autorität, die im Staatsleben ihre Organisation hat, zu brechen und die Schranken der individuellen Freiheit so weit als immer möglich niederzuwerfen. Der Volkswille wird sich dann austoben, Dummheiten machen usw., aber das ist einmal seine Art; will man ihm etwas vortun und ihn darnach frei lassen, so wird er seine Dummheiten dennoch machen, trotz allem, was ihm vorgetan worden ist. Jede dieser gemachten Dummheiten aber absolviert etwas, während das Klügste, was man dem Volke vortut, nichts absolviert, bis der öffentliche Verstand selbst so weit ist, es tun zu können. Bis dahin [312] muß das Betreffende à force de l'autorité bestehen oder es schwankt. Besteht es aber durch die Autorität, dann steht's schlimm mit der Demokratie. Hier in Amerika kann man täglich sehen, wie wenig ein Volk nötig hat, regiert zu werden. In der Tat, was man in Europa nur mit Schaudern nennt, die Anarchie, sie existiert hier in schönster Blüte. Es gibt wohl Regierungen, aber keine Herren; es gibt Gouverneure, aber sie sind Kommis. Was hier in Amerika an großen Unterrichtsanstalten, an Kirchen, an großen Verkehrseinrichtungen usw. entsteht, verdankt fast alles seine Existenz nicht der offiziellen Autorität, sondern dem spontanen Zusammenwirken der Privatleute. Man tut hier einen Blick in die Produktivität der Freiheit. Hier sehen Sie eine kostbar gebaute Kirche: eine Aktiengesellschaft hat sie gegründet; dort eine Universität: ein reicher Mann hat zu Erziehungszwecken ein bedeutendes Legat hinterlassen, das dient nun als Kapitalstock, und die Universität gründet sich fast ganz auf Subskription; dort ein Waisenhaus von weißem Marmor gebaut: ein reicher Bürger hat es errichtet – und so geht's weiter ins Unendliche. Man wird hier erst gewahr, wie überflüssig die Regierungen in einer Menge von Angelegenheiten sind, wo man sie in Europa für durchaus unentbehrlich hält, und wie die Möglichkeit, etwas tun zu können, die Lust weckt, etwas zu tun.«

Hochinteressant waren mir diese Mitteilungen meines jungen Freundes, deren Richtigkeit sowohl in bezug auf Amerika als auf die demokratische Flüchtlingspartei und die Revolution mir gleich einleuchtete. Ich hatte zu viel von dem revolutionären Treiben in der alten Welt gesehen, um nicht die naturgemäßere Entwicklung der Freiheit in der neuen zu begreifen. Nur eins glaubte ich festhalten zu müssen, dessen Verkennung seinerseits mir ein Irrtum schien: nämlich die Möglichkeit einer ästhetischeren, künstlerischeren Form des freien Lebens, in Deutschland wenigstens, wenn einmal dort die Idee der Freiheit vollständig gesiegt und sich von innen heraus entwickelt hätte, da ich sonst vollkommen [313] mit Schurz einverstanden war, daß das Octroyieren von freien Systemen, daß eine theoretische Freiheit, dem lebendigen aber noch unreifen Volkselement aufgepfropft, niemals zum fruchtbringenden Baume werden könnte. Aber in Europa ging ja das Streben nach Freiheit von anderen Voraussetzungen aus, als in Amerika; dort, wo sich eine neue Gesellschaft, ohne historische Vergangenheit, ohne ein eigentümlich entwickeltes nationales Element, ohne irgend eine ideale Tendenz außer jeder gegebenen Möglichkeit in der Freiheit, aus den verschiedenartigsten Nationalitäten auf allgemein anerkannten Grundlagen freisinniger Institutionen entwickelt hatte, konnte sie, auch durch vorerst endlose Raumentwicklung begünstigt, sich auch endlos in den verschiedensten Experimenten versuchen und jeder Partei und jeder individuellen Entwicklung freien Spielraum lassen. In Europa hingegen (und ich meinte hier freilich besonders Deutschland, von dem ich in dieser Beziehung eine ganz andere Ansicht, als von den übrigen revolutionären Ländern Europas haben zu können mich berechtigt glaubte) mußte sich notwendig das theoretische Element zuerst aus den Fesseln der traditionellen Verhältnisse losringen und mehr oder minder konvulsivische Versuche zu seiner Verwirklichung wagen. Ungeschickte Experimentatoren mußten dabei untergehen, lange und mühsam mußte vielleicht die Schule sein, die das deutsche Volk, das bedächtig seinen Weg geht und nicht neuerungssüchtig ist, durchzumachen hätte, aber es schien mir nicht unmöglich, daß auch eine theoretische Erziehung zur Freiheit endlich zu dem gewünschten Resultat führen könnte und daß ihre Blüte dann eine um so höhere sein würde, als das durch den äußeren Druck mehr in die Tiefe als in die Breite entwickelte Geistesleben nicht sowohl in Entfaltung materieller Interessen, als in der Befriedigung der im Verborgenen genährten Ideale und Kunsttriebe hervortreten würde. Wie hoffnungslos mir die nächste Zukunft war, wie sehr der Zweifel an der Fähigkeit der revolutionären Partei sich fortwährend in mir steigerte, wie grauenvoll die Reaktion mit Nacht und Vernichtung[314] jede schöne Blüte bedrohte, dennoch dachte ich es immer von neuem mit innerer Zuversicht: wenn es einst wirklich tagt in Deutschland, so wird die Freiheit auch schön werden. Wie durch die deutsche Geschichte der merkwürdige Zug nach dem Süden geht, wie der nordische Faust in seinem »dunklen Drange« das schönheitumflossene Idealbild des Südens sucht, so muß auch einst der deutsche Volksgeist, wenn er sein Dasein selbstgestaltend in die Hand nimmt, notwendig zu der Freiheit sich die Schönheit schaffen, und anstatt noch, wie in Amerika, das despotische Treiben der Diener versunkener, knechtender Religionen zum Schaden der Intelligenz und Moral fortdauern zu lassen, wird er neuen, idealeren Götterbildern der Freiheit neue, ideale, freie Tempel bauen.

Was diese Tempel sein könnten, davon war mir ein seliges Ahnen aufgedämmert, als ich, noch in Deutschland, nacheinander drei neu erschienene Bücher aus ein und derselben Feder gelesen hatte, nämlich: »Die Kunst und die Revolution«, »Das Kunstwerk der Zukunft« und »Oper und Drama« von Richard Wagner. Der Verfasser, seit der Dresdener Revolution im Frühjahr 49, auch ein Flüchtling, in der Schweiz lebend, war mir persönlich unbekannt, aber zu mächtig ergriffen von dem Strome der Gedanken, der mir aus diesen Büchern entgegenflutete, und in denen ich das Evangelium der Zukunft Deutschlands, wie auch ich sie träumte, erkannte, schrieb ich ihm, nachdem ich »Oper und Drama« gelesen, und erhielt auch eine freundliche Antwort. Von seinen musikalischen Werken, die eben anfingen, auf deutschen Bühnen hier und da gegeben zu werden, hatte ich leider nichts vor meiner Abreise nach England hören können; nur den Text zum »Tannhäuser« haben wir noch mit Theodor und Anna in Hamburg zusammen gelesen und waren davon hingerissen worden. Daß sich hier eine neue Bahn für eine wahrhaft erlösende Kunst auftat, hatten wir alle mit froher Rührung empfunden. Jener Text voll tiefer ethischer Bedeutung war nicht länger ein Werk, das zu frivoler Zerstreuung nach der abstumpfenden Einförmigkeit [315] der Tagesarbeit einlud, wie die Mehrzahl der Opern, die auf unseren Bühnen aufgeführt wurden, hier wurden wir gefesselt zu ernster Sammlung, fortgerissen zum tiefsten, leidenschaftlichen Mitempfinden und Mitleiden und schmerzlich beglückt durch die tragische Versöhnung, mit der das wahre Drama, gleich einem großen Schicksal, uns in erhabener Stimmung über das Elend des Lebens erhebt. Ich dachte mit Entzücken daran, was dieser Text, durch den Ausdruck der Musik gesteigert, bei lebendiger Darstellung sein müßte, und es blieb mir ein tiefes Sehnen im Herzen, einer solchen Darstellung beiwohnen zu können. Mein Verlassen Deutschlands schnitt mir dazu jede Hoffnung ab. Auch die Korrespondenz mit dem genialen Schriftsteller und Dichter-Komponisten suchte ich nicht weiter fortzusetzen, weil ich ihm, als ihm gänzlich unbekannt, nicht beschwerlich fallen mochte, und weil überhaupt alle jene erlösenden Zukunftsgedanken doch in eine, wie es mir schien, für mich nicht mehr erreichbare, unabsehbare Ferne entrückt waren.

Noch einen nachwirkenden bedeutenden Eindruck hatte ich, ebenfalls noch in Deutschland, durch ein Buch empfangen, das freilich in ganz anderer Weise wirkte, als die eben erwähnten Bücher, und auch auf einem anderen Gebiet, nämlich kritisch, skeptisch in der Politik und der Entwicklung der Weltverhältnisse. Noch in Hamburg kam eines Tages einer der mir befreundeten Arbeiter und brachte mir ein Buch, indem er sagte: »Der das geschrieben hat, ist auch einer von den Unseren.« Dieses Buch führte den Titel: »Vom andern Ufer« und sein Verfasser war ein Russe, Alexander Herzen. Ich hatte bis dahin noch nie etwas von diesem Russen gehört, überhaupt war mir Rußland, und mit mir wohl so ziemlich dem größten Teile der westeuropäischen Gesellschaft, eine terra incognita, und nur durch Custines Buch und das viel verdienstvollere des Freiherrn von Haxthausen war eine Ahnung aufgegangen von einem eigentümlichen, unseren Kulturzuständen ziemlich fremden Leben, das sich in den ungeheuren Ebenen von der Weichsel bis zum Ural und vom [316] nördlichen Eismeer bis zum kaspischen und schwarzen Meer regte. Den russischen Hof hatte man wohl gekannt, man kannte Peter den Großen, der westeuropäisches Leben in seine Steppen überführte, man kannte das blutige Spiel, mit dem die Krone des Selbstherrschers von einem Haupt auf das andere flog, man kannte die geistreiche, frivole Katharina II., die mit den geistreichen Männern Frankreichs, über Deutschland hinweg, liebäugelte, während sie unter ihren Untertanen Auserwählte mit minder platonischen Gunstbezeugungen erfreute; man kannte persönlich den liebenswürdigen, sentimentalen Alexander I., der als Sieger über Napoleon mit in Paris einzog und als Sieger über so manche Frauenherzen unauslöschliche Erinnerungen zurückließ; man kannte endlich den strengen Nikolaus, dessen furchteinflößender Blick europäische Berühmtheit hatte und dessen eisernes Zepter nicht nur auf seinem Reiche lastete, sondern auch Europa, namentlich Deutschland, in Abhängigkeit und Schrecken erhielt. Alles das kannte man; unter dem Begriff des Autokratentums auf dem Thron faßte man Rußland zusammen. Wer aber wußte etwas von einem russischen Volk, von russischer Literatur? Kaum daß der Name Puschkins als der eines russischen Dichters erwähnt wurde, und erst seit Haxthausens Buch sprach man von der russischen Gemeinde als einer primitiven Einrichtung, wie sie alle indogermanischen Völker gehabt und bei zunehmender Zivilisation aufgegeben hätten.

Mich hatte aber das Haxthausensche Buch und die mir ganz neue Beschreibung der kommunistischen Einrichtung der Gemeinden sehr interessiert und mein Nachdenken auf Rußland hingelenkt. Wenn ich auf der Landkarte die ungeheure, durch keine geographische Zerrissenheit gestörte Einheit des russischen Bodens betrachtete, und dagegen die vielfach geklüfteten, wie in Fetzen zerrissenen, durch Meere, Ströme, Alpen und Bergketten scharf getrennten Länderkomplexe von Europa, so hatte sich mir mehr als einmal der Gedanke aufgedrängt, daß, während sich in Europa die Entwicklung des individuellen Lebens bis zu seinen äußersten Grenzen, sowohl [317] beim einzelnen als bei der Nation, zu vollziehen gehabt hätte, Rußland, neben dem ebenfalls durch festere, weniger gespaltene Konturen als kompakte Einheit sich darstellenden Amerika, vielleicht dazu berufen wäre, jene sozialistischen Tendenzen zu verwirklichen, die als Idealbild der Zukunft vor unser aller Augen schwebten, um deren Erfüllung wir gerungen hatten und um deren schmerzliches Unterliegen wir nun in tiefer Herzenspein trauerten. Ich hatte einmal meinem Freunde in Amerika über diese Gedanken geschrieben, und er hatte mir erwidert, daß er sie teile und sie für so richtig ansehe, daß er meiner Auseinandersetzung gar nichts hinzuzufügen habe.

So schon in meinen Gedanken auf Rußland hingelenkt, ergriff ich mit einiger Erwartung das Buch des Russen. Da es mir einer der am weitesten in sozialistische Theorieen vertieften Arbeiter gegeben hatte, so erwartete ich darin ein neues sozialistisches System zu finden. Kaum aber hatte ich angefangen zu lesen, so fühlte ich, daß mir hier etwas ganz anderes entgegentrat, als eine bloße Theorie. Ein Feuerstrom lebendiger Empfindungen, leidenschaftliche Schmerzen, brennende Liebe, unerbittliche Logik, beißende Satire, kalte Verachtung, unter der sich ein getäuschter Glaube barg, stoische Entsagung und verzweifelnder Skeptizismus – das alles brauste mir aus diesem Buch entgegen, rief ein tausendstimmiges Echo in meiner Seele wach und beleuchtete mir mit dem erbarmungslosen Lichte der Wahrheit und der zersetzenden Kritik das kürzlich Erlebte in allen Phasen, von der Frühlingshoffnung im Februar und März Achtundvierzig an bis zu den Ereignissen in Wien in der Brigittenau und bis zu dem zweiten Dezember zweiundfünfzig und seinem Gefolge von Gemetzel, Kerker und Cayenne. Wie erstaunte ich über diese Spiegelung unserer eigenen zerstörten Ideale und Wünsche, unserer eigenen Hoffnungslosigkeit und Resignation in der Seele eines Russen, der, wie er selbst sagte, mit leuchtenden Hoffnungen und seligen Erwartungen nach Europa gekommen war und nun eben daselbst nichts anderes gefunden [318] hatte, als was er zu Haus geflohen. Wie noch viel mehr erstaunte ich über die Kraft und Kühnheit dieses Denkers, der, anstatt in den Illusionen der Revolution nach so bitteren Enttäuschungen zu verharren, wie die Mehrzahl es tat, sich nicht scheute, mit scharfem Schnitt das Messer in die Wunde zu senken, die herben Wahrheiten der geschichtlichen Entwicklung prüfend als Maß auch an unsere fehlgeschlagenen Hoffnungen zu legen, um den Grund des Mißlingens ganz ohne Rückhalt, ohne Phrase zu erkennen. Die Form des Dialogs, in der der größte Teil des Buchs geschrieben ist, erleichterte, indem beide Seiten der Anschauung vertreten wurden, die gründliche Darlegung der Gegensätze in belebtester Weise. Stellen, wie die folgende z.B., zeigten in frappanter Klarheit die enthusiastische Borniertheit auf der einen und die erbarmungslose Kritik des philosophischen Geistes, der vor dem verwundendsten Erkennen nicht zurückbebt, auf der andern Seite:

»– – Der Wissenschaft haben sich immer sehr wenige hingegeben. Auf dies abstrakte Feld gehen nur strenge Geister, die den Beruf dazu in sich fühlen. Wenn Sie den Zusammenhang der höchsten Idee einer Zeit mit den Massen sehen wollen, so müssen Sie sich zu lebendigeren Sphären wenden, und sollten Sie dort nicht so viel Nüchternheit finden, so treffen Sie doch eine poetische Begeisterung, die die höchste Wahrheit der Zeit den Menschen in einer andern Form zugänglich macht. Was sagen Sie von der Predigt des Evangeliums? Was für ein energischer Widerhall antwortete auf den Zuruf der zwölf Apostel?

»– Schade um diese Menschen! sie haben das vollkommenste Fiasko gemacht. – –

»– – Ja, und dazu die halbe Welt getauft!

»– – Im Verlauf von vier Jahrhunderten eines hartnäckigen Kampfes und von sechs Jahrhunderten vollständiger Barbarei! Und nach diesen Anstrengungen, die tausend Jahre dauerten, hat sich die Welt so getauft, daß von der Doktrin der Apostel nichts übrig blieb, daß aus dem befreienden [319] Evangelium ein unterjochender Katholizismus und aus einer Religion der Gleichheit und Liebe eine Kirche des Blutes und der Hierarchie wurde. Die alte Welt bereitete sich, nachdem sie alle ihre Lebenskräfte vergeudet hatte, zum Tode vor; das Christentum hat sie beerdigt und erschien am Sterbebette als Arzt und Tröster; aber indem es sich der Laune des Kranken fügte, wurde es selbst römisch, barbarisch, kurz alles was Sie wollen, nur nicht evangelisch. Da sehen Sie einmal die Macht des Gattungslebens, die Macht der Massen. Die Menschen meinen, es reiche hin, eine Wahrheit wie ein mathematisches Theorem zu beweisen, und die anderen werden sie dann gleich annehmen; es reiche hin, an etwas zu glauben, und die anderen werden es auch glauben. Daher rühren die größten Mißverständnisse. Die einen tragen etwas vor, die anderen hören ihnen zu, aber verstehen etwas ganz anderes, denn ihre geistige Entwicklung ist eine ganz andere. Was haben die ersten Christen gepredigt, und was blieb im Bewußtsein der Massen? Die Masse begriff alles Unbegreifliche, sie nahm alles Traditionelle, Mystische oder Absurde an. Das Klare, Einfache und Große in der Lehre war ihr unzugänglich. So haben die Völker alles angenommen, was das menschliche Gewissen fesselt und nichts, was es befreite. Gehen Sie zu den Zeiten der Revolution über, so werden Sie dasselbe Verhältnis finden. Der hingerissene Teil des Volks hat die Revolution als eine blutige Vergeltung, als Guillotine und Schrecken, betrachtet. Die bittere historische Notwendigkeit, zu diesem Mittel zu greifen, wurde zum feierlichen Ruf, und zum Worte »fraternité« fügte der Mensch das Wort »ou la mort!« hinzu. Nachdem wir das alles gesehen haben, müssen wir ein- für allemal annehmen, daß es nicht genug war, der römischen Welt das Evangelium anzukündigen, um aus ihr eine demokratische Republik zu machen, wie sie die Apostel sich dachten, nicht genug in zwei Kolonnen eine illustrierte Ausgabe der Menschenrechte herauszugeben, um aus einem Knechte einen freien Menschen zu machen.« – Und ferner diese Stelle, die ein Schrei des Schmerzes über die Junitage ist:

[320] »Drei Monate lang hatten die durch das allgemeine Stimmrecht von ganz Frankreich gewählten Menschen nichts getan. Auf einmal standen sie in ihrer ganzen Größe auf, um der Welt ein Schauspiel zu geben, das man niemals gesehen hatte: das Schauspiel von achthundert Menschen, die wie ein Missetäter und Wüterich handelten. Das Blut floß in Strömen, und sie fanden kein Wort der Liebe und des Mitleids. Alles Hochherzige, alles Menschliche wurde von ihnen mit einem wilden Schrei der Rache und der Indignation überdeckt, sogar die Stimme des sterbenden Affre konnte diesen polycephalen Caligula, diesen in kupferne Scheidemünzen gewechselten Bourbon nicht rühren. Sie drückten die Nationalgardisten, die wehrlose Menschen ohne Gericht totgeschossen hatten, an ihr Herz. Sinard segnete von der Tribüne herab den blutigen Cavaignac – und Cavaignac weinte still verschämt ob dieses Segens, nachdem er die greulichsten Missetaten vollbracht hatte, um das Vertrauen dieser Advokatenseelen zu rechtfertigen. – Aber das ist ja alles die Majorität! – Und wo war denn die Minorität? – Der Berg machte sich unsichtbar, die kräftigeren Volkstribunen schwiegen still, im Innern ihrer Seele zufrieden und dankbar darüber, daß man sie nicht erschossen und in feuchte Keller geworfen hatte. Sie sahen allem zu, ohne nur den Mund zu öffnen, sahen, wie man die Bürger entwaffnete, wie man die Deportationen dekretierte, wie man Menschen ins Gefängnis schleppte für alles Mögliche, unter anderem dafür: daß sie nicht auf ihre Brüder schießen wollten (denn man muß wissen, daß der Mord an jenen Tagen zur heiligen Pflicht wurde, und daß derjenige, dessen Hände nicht vom Proletarierblut troffen, dem Bourgeois verdächtig erschien). Die Majorität hatte wenigstens den Mut, sich offen als Missetäter zu zeigen – aber diese armseligen verächtlichen Freunde des Volkes, diese Rhetoren, diese hohlen Herzen! – Nur ein männlicher Schrei des Unwillens, nur eine große Indignation hatte den Mut, sich Luft zu machen, aber das war außerhalb der Mauern der Kammer. Der [321] schwarze Fluch des Greises Lamennais wird als Brandmal auf der Stirn jener entsetzlichen Kannibalen haften bleiben, und noch schwerer auf jenen Schwächlingen, die so frech waren, das Wort Republik auszusprechen, während sie doch vor dessen Sinn kleinlich erbebten.

»Paris! O wie lange glänzte dieser Name als ein leuchtender Stern für die Völker! Wer liebte es nicht, wer huldigte ihm nicht? Aber seine Zeit ist vorbei, man lasse es von der Bühne abtreten. In den Junitagen hat es einen Kampf angefangen, den es selbst nie lösen wird. Paris ist alt geworden und die jungen Phantasieen stehen ihm schlecht; entkräftet wie es ist, braucht es starke Erschütterungen, um wieder aufzuleben; es ist an die Bartholomäusnächte und die Septembertage gewöhnt. Leider aber haben selbst die Greuel des Juni es nicht wieder belebt. Wie wird denn der alte Vampyr noch das Blut der Gerechtigkeit finden, das bei der Illumination am 27. Juni die Lämpchen der siegestrunkenen Bourgeoisie widerstrahlten? Armes Paris! Alles, was dir teuer war, wendet sich gegen dich: du liebtest es, mit Soldaten zu spielen, du hattest dir einen glücklichen Soldaten zum Kaiser ernannt, du hast diesen Missetaten, die man Siege nennt, Beifall zugejauchzt, du hast Triumphbogen und Statuen errichtet, du hast die spießbürgerliche Figur des kleinen Korporals auf eine Säule gestellt, damit sie die ganze Welt bewundere, du hast fünfundzwanzig Jahre nach seinem Kasernendespotismus die Reliquien des Soldaten zu den Invaliden getragen, und jetzt hofftest du wieder den Anker des Heiles der Feiheit und Gleichheit in dem Soldaten zu finden; du riefst die Horden der verwilderten Afrikaner gegen deine Brüder, um nicht dein Gut mit ihnen zu teilen, und ließest sie von der kalten Hand der Mörder par métier niedermetzeln. – Man lasse also Paris die Folgen seiner Taten büßen. Es füsiliert ohne Gericht. Das kann nicht ungerächt hingehn; Blut schreit nach Blut, und was wird aus diesem Blut? Wer kann es wissen? Aber möge kommen was da wolle, es ist genug, daß in diesem Brande [322] des Wahnsinns, des Hasses, der Rache, der Wiedervergeltung und des Haders die Welt untergehn wird, die den neuen Menschen niederdrückt, die ihn am Leben hindert, die die Verwirklichung der Zukunft nicht erlaubt. Ist denn das nicht genug?

»Und deswegen lebe das Chaos und die Extermination! Vive la mort! Platz der Zukunft!«

Dies war geschrieben am 24. Juli 1848, nachdem der Verfasser die blutigen Greuel der Junitage mit eignen Augen gesehen und mit seinem scharfen Blick erkannt hatte, was von der französischen Republik zu hoffen war, noch ehe diese durch Besiegung der römischen Schwester sich das unauslöschliche Brandmal aufgedrückt und es bewiesen hatte, daß sie eben nichts anderes war, als die alte despotische Ordnung der Dinge unter anderem Namen. Aber neben diesen mit dem eignen Herzblut geschriebenen Lava-Ausbrüchen einer feurigen Seele kamen auch Mitteilungen über jenes ferne Volk im Osten, das unter seinem, allen anderen Despotismen ähnlichen Despotismus ein eigentümliches, der europäischen Zivilisation fernabliegendes Dasein bewahrt hatte und in seiner »festen Burg«, der Kommune, stumm und unausgebildet, der Möglichkeit einer zukünftigen Entwicklung entgegenharrte. Es kamen Hindeutungen auf eine Literatur der Opposition gegen das düstertyrannische Regiment von Petersburg, die nicht unbedeutend sein konnte und deren Charakter folgendermaßen gezeichnet wurde: »Eine bittere Hoffnungslosigkeit und eine bittere Ironie des eignen Geschicks bricht überall durch, sowohl in den Versen Lermontoffs als in Gogols Hohngelächter, das, wie er sagt, die Tränen verdeckt.«

Als ich Hamburg verließ, hatte mir eine der mir liebsten Schülerinnen der Hochschule das Buch geschenkt, indem sie hineinschrieb: »Ich schenke Ihnen in diesem Buche mein liebstes Eigentum, weil ich gerne recht lebhaft in Ihrem Andenken leben möchte.« – Ich hatte es also mit mir nach England genommen und oft schon beim Wiederlesen dieser [323] feurigen Ergüsse Trost gefunden. Wie freudig mußte es mich also berühren, als ich eines Tages bei Kinkels hörte: »Der Russe Alexander Herzen ist in London angekommen!« Ich äußerte meinen lebhaften Wunsch, ihn kennen zu lernen, worauf Kinkel mir sagte, daß nichts leichter sei, da er einen der nächsten Abende zu ihnen kommen werde. Wirklich erhielt ich auch einige Tage darauf die Aufforderung, abends hinzukommen, um Herzen zu begegnen. Ich ging mit großer Erwartung hin und fand bereits den mit Herzen befreundeten und mit ihm zusammenlebenden General Haug mit Herzens jungem, damals bildschönem Sohne vor. Haugs Namen hatte ich auch schon nennen hören; es war mir lieb, den klugen, vielgereisten Mann kennen zu lernen, dessen energisches Handeln ihm bereits meine Achtung erworben hatte, und ich freute mich an der großen Schönheit des Knaben. Endlich trat Herzen selbst ein, eine gedrungene, kräftige Gestalt mit schwarzem Haar und Bart, etwas breiten, slavischen Zügen und wunderbar leuchtenden Augen, die mehr als alle anderen Augen, die ich je gesehen, im lebendigen Wechsel der Empfindungen das Innere wiederstrahlten. Er wurde mir vorgestellt, und bald war die lebendigste Unterhaltung im Gange, bei der sich der mir aus dem Buche schon kenntlich gewordene, scharfe, blitzende Geist, durch eine glänzende Dialektik noch hervorgehoben, in bedeutendster Art zeigte. Sonderbarerweise fand sich fast bei allen Punkten, die das Gespräch berührte, mehr Übereinstimmung meiner mit seinen Ansichten, als mit denen der übrigen Mitglieder der Gesellschaft, und als uns nach dem Tee nach englischer Sitte Wein und die unter dem Namen »sandwich« bekannten Butterbrötchen serviert wurden und man verschiedene Toaste ausbrachte, erhob ich mein Glas gegen Herzen und sagte scherzend: »Die Anarchie!« worauf er lächelnd anstieß und erwiderte: »ce n'est pas moi qui l'ait dit.« – Er, sein Sohn und Haug begleiteten mich bis zur Tür meines Hauses, und ich hatte nach diesem Abend das wohltuende Gefühl, daß eine bedeutende [324] Persönlichkeit in mein Leben eingetreten war, zu der ich mich durchaus harmonisch fühlte.

Eines Flüchtlingshauses habe ich noch zu gedenken, in dem ich zu jener Zeit viel verkehrte. Es war das Haus des Grafen Oskar Reichenbach, der mit seiner Familie in einem weit abgelegenen, ganz andern Stadtviertel als dem unsern wohnte und daher nur selten in dem Brüningschen Kreis erschien. Ich war durch Kinkels dort eingeführt, und da ich freundlichst aufgenommen und zu öfterem Kommen eingeladen worden war, mich auch sehr angezogen fühlte, so ging ich so oft hin, als es meine Zeit erlaubte; denn wenn ich nicht wenigstens einen halben Tag dort zuzubringen hatte, so lohnte es nicht der Mühe, die weite Reise im Omnibus, dessen ich mich bediente, da Droschken zu teuer waren, zu machen. Hier war es nun vor allem der Hausherr, der den anziehenden Mittelpunkt der Häuslichkeit bildete. Graf Reichenbach war der Typus eines nordischen Aristokraten: hoch, schlank, blond, vornehm in Zügen und Haltung, äußerlich kalt und zurückhaltend, sparsam mit Worten, anscheinend öfters hart und gebieterisch. Bei unserer ersten Bekanntschaft machte mich dies zwar imponierende aber etwas starre Wesen fast ungeduldig und stieß mich ab. Man war so gewohnt, mit den Gesinnungsgenossen sich von vornherein auf einem gemeinschaftlichen Boden und durch gemeinschaftliche Interessen verbunden zu fühlen, daß man diese adeligen Barrièren mit einer Art von Unmut empfand. Aber wie das nordische Eis, wenn es schmilzt, uns den Frühling doppelt schön finden läßt, so brauchte es für den guten Beobachter nicht lange Zeit, um hinter der kalten Außenseite eine Fülle der edelsten Eigenschaften zu entdecken, die diesen Mann im wahren Sinn des Worts zum Aristokraten stempelten. Eine ritterlich hochherzige Gesinnung bestimmte sein Urteil und sein Handeln, wie es denn seine bis zur letzten Konsequenz getriebene Überzeugungstreue, die ihn in das Exil führte, bewiesen hatte. Er war im praktischen Leben nur als Edelmann zu handeln gewohnt gewesen und hatte für den Betrieb [325] irgend einer Erwerbstätigkeit, selbst wenn sie nicht in die gemeine Sphäre des Schacherlebens hinunterstieg, wenig Fähigkeit. Aber in den Höhen mathematischer Probleme, großer kosmischer Gedanken, wissenschaftlicher Naturbetrachtung war er ein Denker, dem an Schärfe und Klarheit wenige gleichkamen. Dabei milderte sich für die, denen er wohlwollte, sein starres Wesen zu einer Herzlichkeit, die doppelt angenehm überraschte, je weniger man sie erwartet hatte. Gegen mich war er immer freundlich, und trotzdem er mich ein wenig einschüchterte, fand ich doch große Freude an seiner Unterhaltung. Seine Frau, eine Bürgerliche, erweckte meine innigste Teilnahme durch ihre Güte und die Resignation, mit der sie vielfache Leiden trug, und ich ging gern zu ihr, um sie zu trösten, aufzuheitern und ihren Erzählungen aus der Vergangenheit zuzuhören, in denen sie mir unzählige Züge von dem Edelmut ihres Gatten berichtete und von der Art, wie er, noch vor Beginn seiner politischen Laufbahn, als großer schlesischer Gutsbesitzer seine adelige Stellung zum Besten der ärmeren Klassen benutzt hatte. Drei noch kleine Kinder vollendeten die Familie, in der häufig auch ein Bruder der Gräfin erschien, einer der seltensten menschlichen Typen, die mir je vorgekommen sind. Wäre er mir in der Kleidung eines indischen Büßers oder eines buddhistischen Priesters erschienen, so würde ich seine Erscheinung ganz natürlich gefunden haben, aber in der modernen Welt der Industrie, der Habsucht und Gewinnsucht einer solchen Selbstlosigkeit und inkarnierten Menschenliebe zu begegnen – das war überraschend und fremdartig. Man hatte auch das Seltene einer solchen Gemütsart nicht anders als durch Wahnsinn zu erklären gewußt und hatte, vor vielen Jahren, den Armen in eine Irrenanstalt gesteckt; aber auch da hatte die Überzeugung, daß er wirklich war, was er schien, nämlich: ein ungewöhnlich selbstloser, aufopfernd edler Mensch, den Sieg davongetragen. Er lebte seitdem als Hauslehrer in England, hatte immer hervorragende Stellungen in den Familien der englischen Aristokratie, wurde seiner [326] vielfachen gründlichen Kenntnisse und seines tadellosen Charakters wegen hoch geachtet und mit mehr Auszeichnung behandelt als die meisten Lehrer und hätte auch wahrscheinlich materiell sehr gut für sich sorgen können, wenn er nicht das Gebot des Evangeliums wörtlich genommen und wirklich alles, was er hatte, mit denen, die ärmer waren als er, geteilt hätte. Er erschien öfter im Kreis der Frau von Brüning, so daß ich ihm vielfach begegnete. Er war ein Optimist, wie ich selten einen gesehen, und in allen den ungünstigen Umständen, in denen die meisten Freiheitskämpfer ein Unglück erblickten, ja selbst in dem Wüten der eingetretenen Reaktion, sah er nur die notwendigen Entwicklungsphasen der Geschichte der Freiheit, deren glorreiche Erfüllung er fortwährend in nächster Nähe glaubte und zu deren Vollziehung er eine neue Inkarnation der Zukunftsideen in einer großen Persönlichkeit erwartete. Er hatte eine ungemein große Kenntnis des englischen Lebens und der wahrhaft typisch englischen Verhältnisse, und durch seine Vermittlung verkehrten mehrere der bedeutendsten englischen Persönlichkeiten im Reichenbachschen Hause. Ich sah dort unter andern den Schriftsteller Thomas Carlyle und seine Frau, mit welcher letztern besonders ich nachher näher bekannt wurde.

Meine eigentliche Heimat in der Flüchtlingswelt war und blieb aber im Hause von Kinkels. Sie, obgleich sie das Vaterland und die Republik immer im Grund des Herzens trugen und jeden Augenblick bereit waren, wieder alles dafür aufzuopfern, hatten sich entschlossen und rückhaltlos an die unausgesetzte, oft harte Arbeit um das tägliche Brot begeben, und ihr einfaches, ernstes Leben glich fast in allem dem, das sie vor der Revolution an den Ufern des Rheins geführt hatten, nur daß die heitere Poesie ihrer rebenbekränzten Heimat in den Nebeln von London fehlte. Bei ihnen fühlte ich mich in einer sittlich reinen Luft und fand Teilnahme und Rat für alle meine großen und kleinen Sorgen.

[327]
4. Kapitel. Arbeit und Erfahrungen der Lehrjahre
Viertes Kapitel
Arbeit und Erfahrungen der Lehrjahre

Der Aufenthalt bei Mrs. Quickly wurde mir denn doch allmählich unerträglich; meine Stunden mehrten sich, und ich bedurfte einer etwas bessern Wohnung, in der ich Besuche empfangen konnte, und die durch eine zentralere Lage mir die weiten Wege zu den fernabliegenden Stunden erleichtern würde. Eine junge Hamburgerin, ältere Schwester einer unserer Hochschülerinnen, die Klavier- und Singstunden gab, machte mir den Vorschlag, mit ihr zusammen ein Logis zu nehmen, auf diese Weise billiger und angenehmer zu leben und zugleich einer an der andern einen Trost zu verschaffen. Da sie mir sympathisch war und mir als eine ernste, strebsame Natur erschien, so ging ich auf den Vorschlag ein, umsomehr, da unsere Interessen nicht miteinander in Kollision kamen, wir uns im Gegenteil auch in betreff der Stunden, eine die andere empfehlend, sehr nützlich sein konnten, und da mir die Gesellschaft der jüngern, heitern Gefährtin, besonders an den traurig langen Abenden eines Londoner Winters, tröstlich erschien. Ich verließ also Mrs. Quickly und St.-Johns-Wood, und wir zogen in eine hübsche, ziemlich stille Straße, nahe einem der sogenannten Squares, der mit Rasen, Blumen und Bäumen versehenen Plätze, die die Steinwüste Londons freundlich beleben und für die daran Wohnenden, namentlich die Kinder, eine Wohltat sind. Wir hatten ein doppeltes Zimmer zu ebener Erde als gemeinschaftlichen Salon und zwei Schlafzimmer im zweiten Stock, da auch dies Haus, wie mein früheres, nur je zwei Zimmer per Stock enthielt, doch von etwas größeren Proportionen.

So hatte mein Leben denn, wenngleich noch immer eine sehr bescheidene, doch eine etwas freundlichere Gestalt gewonnen. In unseren Zimmern waren wir doch nun die Herren, und die Wirtin konnte nicht beliebig eindringen; wir konnten uns mit unseren Büchern und Papieren umgeben, und wenn wir ermüdet von den Stunden heimkehrten, so [328] fanden wir ein Zimmer mit einem guten Kaminfeuer, ein Mittagessen mit gesunder, wenn auch höchst einfacher Kost und das Heimatsgefühl, das gegenseitiges Wohlwollen in unser Zusammenleben brachte. Aber es mußte tüchtig gearbeitet werden, um dies dürftige Wohlbehagen zustande zu bringen, denn unter zwei Pfund Sterling die Woche ließ sich dies Notwendigste nicht bestreiten; dazu kamen noch die Ausgaben für die Kleidung, die nicht vernachlässigt werden durfte, da der Erfolg der Lehrer zum Teil auch davon abhing; endlich die notwendigen Fahrgelder der Omnibusse, mitunter auch der Droschken, wenn die Zeit drängte, denn die ungeheuren Entfernungen Londons machen das Gehen von einer Stunde zur andern unmöglich, und selbst das Fahren nimmt soviel Zeit weg, daß es eine anerkannte Sache ist, daß zehn Minuten oder eine Viertelstunde an der Stunde abgerechnet werden müssen. Was es aber heißen will, besonders in der Regen- und Nebelzeit, wenn man kaum einen Schritt weit sehen kann und überall von einer dichten, gelblichen, feuchten, übelriechenden Atmosphäre umgeben ist, durch die die Sonne nur wie eine in Öl getränkte Papierlaterne hindurchscheint und wobei es oft so düster in den Häusern ist, daß man um Mittagszeit Licht anstecken muß, um arbeiten zu können – was es heißen will, an solchen Tagen von einer Stunde in die andere zu gehen, aus warmen Stuben wieder hinaus in die feuchte Kälte, an den Straßenecken auf die Omnibusse zu warten, in ihnen naß und triefend mit anderen nassen und triefenden Wesen zusammengepackt zu sein und oft sich nur mit einem flüchtig zwischen zwei Stunden in einem Bäckerladen eingenommenen magern Frühstück bis zum späten Nachmittag zu begnügen – das kann nur der wissen, der das selbst mit durchgemacht hat. Und doch mußte man sich freuen, wenn man recht viele Stunden hatte und vom Morgen bis zum Abend beschäftigt war, denn das war die Möglichkeit, am Abend die müden Glieder im eignen kleinen Zim mer nach Belieben ausstrecken zu können; das war das Mittel, etwas beiseite zu legen, um im Sommer, wenn die Stunden [329] nach vollendeter »season« aufhörten, sich an der Meeresküste zu erfrischen; das war endlich die Aussicht, für jene Tage, in denen Alter und Krankheit das Arbeiten nicht mehr gestatten, einen Notpfennig übrig zu haben, der es erlauben würde, in die Heimat zurückzukehren, um daselbst zu sterben. Welche Aufregung war auch stets die Aussicht auf eine neue Stunde! Wie suchte man sich mit Zeit und Entfernung einzurichten, um sie annehmen zu können! Wie unterwarf man sich notgedrungen, obgleich fast vor sich selbst errötend, auch jenen Dingen um den Preis, die gerade in den wohlhabendsten Klassen die Engländer sich nicht entblöden, den armen Lehrern gegenüber auszuüben, sowie sie sich auch nicht scheuen, sie lange, ja manchmal von einerseason zur andern, auf das mühsam verdiente Stundengeld warten zu lassen, während sie Hunderte und Tausende für die Toiletten- und Fest-Ausgaben der Saison verschwenderisch hinwerfen. Glücklich der Lehrer, den sein Stern in dieser Beziehung zu den besseren, redlichen Ausnahmen führt, und noch glücklicher der, der bei seinen Schülern Fähigkeit, guten Willen und Sympathie findet, und so das sterile Lehren der deutschen Sprache in ein etwas ergiebigeres Feld edleren Unterrichts verwandeln kann. Die deutsche Sprache gehörte ganz unbestritten zu jeder fashionablen Erziehung, seitdem ein deutscher Prinz der Gemahl der Königin und die deutsche Sprache am Hofe gleichbedeutend mit der englischen geworden war. Aber der Mehrzahl der Lernenden lag es eben nur daran, dem Erfordernis der fashionabeln Erziehung nachzukommen, und gering war nur die Anzahl derer, denen die deutsche Sprache ein Mittel war, um zum Verständnis deutschen Geistes und deutscher Literatur zu gelangen. Ich kann sagen, daß ich wenigstens insofern zu den vom Schicksal begünstigten Lehrern gehörte, als ich mehrere unendlich liebliche, schöne und talentvolle Wesen unter meinen Schülerinnen hatte, zu denen ich nicht nur in dem Verhältnis der bezahlten Lehrerin stand, sondern mit denen sich freundlichere Beziehungen gestalteten, die mich einweihten in ihr Leben, ihre Freuden und [330] Sorgen, und die manches Mal ihre deutsche Arbeit vergaßen, um sich Rat bei mir zu holen, Meinungen mit mir zu diskutieren, neue, ihrem Lebenskreise fremde Tatsachen von mir zu hören. So hatte ich unter anderem eine Schülerin, die Tochter eines Parlamentsmitgliedes, ein Mädchen von sechzehn Jahren, klug, witzig, begierig, über die engen Grenzen ihres konventionellen Lebens hinüber zu schauen in andere, freiere Lebensverhältnisse, aber wenig geneigt, mit Zeitwörtern und Deklinationen in eine ernsthafte Beziehung zu treten. Sie hatte fast nie, oder im besten Fall nur zur Hälfte, die Aufgaben fertig, die ich ihr von Stunde zu Stunde gab; grammatische Genauigkeit kümmerte sie wenig, und sie wußte sehr bald sowohl Lese- wie Schreibbuch zu beseitigen, um mich mit Fragen aller Art zu bestürmen und mir zu versichern, daß die liebste Stunde, die ich ihr geben könnte, die sei, ihr auf ihre Fragen zu antworten. Sie interessierte sich sehr für Politik und hatte mir bald genug ein Glaubensbekenntnis abgelockt, wonach sie mich nun nur scherzend die rote Republikanerin nannte und meinte, so weit würde sie nicht gehen, wiewohl sie die liberalen Ansichten ihres Vaters, der zur Manchesterpartei gehörte, teilte. Doch sah ich aus dem Eifer, mit dem sie so oft als möglich zu dem Gegenstand zurückkehrte und aus den Konzessionen, die sie zu machen anfing, daß nicht alles, was ich gesagt hatte, auf dürren Boden gefallen war, und daß das Nachdenken darüber sie mehr beschäftigte, als das Auswendiglernen deutscher Vokabeln. Einmal erzählte sie mir, daß sie singen lerne und daß man ihr als erste Regel gesagt habe, sie dürfe kein Gefühl zeigen beim Gesang, das passe sich nicht für ein junges Mädchen, besonders da die meisten Lieder Liebeslieder seien, »aber«, fügte sie hinzu, »die Deutschen scheuen sich nicht, Gefühl, ja Leidenschaft zu zeigen, wenn sie singen, das ist also eigentlich unpassend«. Als ich ihr nun erwiderte, daß deshalb auch das meiste, was man in englischen Gesellschaften von englischen Dilettanten höre, gar kein Gesang sei, da fing sie an zu lachen und rief: »Ich glaube, im Grunde [331] haben Sie recht, und wenn ich eine Deutsche wäre, so würde ich höchst gefühlvoll singen, so aber – darf ich es nicht ...«

Unvergeßlich werden mir auch drei Schwestern bleiben von sechzehn, fünfzehn und vierzehn Jahren, die man wirklich die drei Grazien nennen konnte, denn alles, was die Natur an Liebreiz auf menschliche Geschöpfe ausgießen kann, war ihnen zugeteilt. Die Älteste schlank, stolz, eine junonische Schönheit, geistvoll und hochstrebend; die zweite blond, rührend und anmutig, fast unwiderstehlich lieblich; die dritte eine neckische Sylphide, mit so viel Schelmerei in den braunen Augen, daß man es den Schwestern gern glaubte, wenn sie fast in jeder Stunde mir Beispiele von den Neckereien des unerschöpflich heitern, witzigen Mädchens erzählten. Alle drei hatten bald eine glühende Freundschaft für mich gefaßt, und es gab zu Anfang jeder Stunde einen heftigen Kampf um den Platz neben mir, so daß ich eine Abwechslung in bestimmter Reihenfolge anzuordnen genötigt war und ebenso auf das bestimmteste befehlen mußte, ihre an mich gerichteten Liebesbeteuerungen in deutscher Sprache vorzubringen, damit der Zweck der Stunden einigermaßen erreicht werde, wobei denn freilich oft die seltsamsten und komischsten Redensarten zustande kamen. Diese reizenden Wesen hatten zum Glück eine sehr verständige Mutter, die an das Naturwüchsige ihrer Kinder nicht mehr Fesseln legte, als eine wirklich gute Erziehung es verlangt.

Solche schöne Ausnahmen sind glücklicherweise nicht selten in England, und ihnen verdankt man dann die herrlichen, wahrhaft vollendeten Frauen, deren England mehr als jedes andere Land sich zu rühmen hat.

Aber eben nicht alle Erfahrungen, die ich während meiner mich tief in das häusliche englische Leben blicken lassenden Lehrerinnenlaufbahn machte, waren so liebenswürdiger Natur. Andere zeigten mir im Gegenteil die trostlosen Abgründe, die Mode, Egoismus, beschränkte und verkehrte Lebensansichten und alle Kehrseiten der Gesellschaft, die man »die gute« nennt, in den bevorzugten Klassen gegraben haben, so daß [332] man mit Recht sagen kann, daß hier Reformen ebenso nötig sind, wie in den unteren Schichten, oder vielmehr, einzig nötig, denn in jenen ist noch das Chaos. Wie manches feurige, jugendliche Sehnen wird in diesen erdrückenden Regeln der fashionablen Erziehung erstickt, wie manches Talent hoffnungslos geknickt, wie manche Blüte der Menschlichkeit zur steifen Gliederpuppe des »gentleman« und »ladylike« ausgetrocknet, wie manches entwicklungsfähige Gehirn vom trüben, poesielosen Lernen der notwendig zur Kategorie »gute Erziehung« gehörigen Fächer, zur dumpfen Gleichgültigkeit gegen alles wahre Erkennen getrieben. Hiervon erhielt ich ein Beispiel in den Stunden, die ich in einer der ersten Familien der hohen englischen Aristokratie gab. Das Studierzimmer war ein großer Saal, dessen eine Wand ein Flügel einnahm, an dem einer der Klavierlehrer, die augenblicklich in Mode waren, der ältesten Tochter, einem Mädchen von achtzehn Jahren, finishing lessons (Fertigmachestunden) gab. Solche Stunden kosten eine Guinee und werden daher nur zum letzten Firnis genommen, weil für den Anfang, nach der gewöhnlichen, grundfalschen Annahme, jeder Lehrer gut genug ist. In der Mitte des Saales stand ein runder Tisch, an dem ein alter englischer Lehrer eins der jüngeren Kinder beschäftigte; an der Wand, zunächst dem einen Fenster, befand sich ein Sofa, auf dem eine Untergouvernante saß und eines der anderen Kleinen lesen lernte; gegenüber am andern Fenster war ein Tisch, an dem die deutschen Stunden gegeben wurden. Zwischen den beiden Fenstern auf einem Sofa nahm die Obergouvernante Platz und las, nachdem sie die Runde an den Tischen gemacht und sich überzeugt hatte, daß der von ihr dirigierte Mechanismus des Stundenuhrwerks im gehörigen Gange sei. War keine Klavierstunde, so kam ein Violinlehrer zu einem der Knaben, und alle diese verschiedenen Stunden gingen zu gleicher Zeit vor sich. Zuweilen öffnete sich die Tür, und die Dame des Hauses, eine der stolzesten Aristokratinnen der drei vereinigten Königreiche von Großbritannien, schleppte [333] ihr schwer seidenes Kleid herein, machte ebenfalls die Runde an den Tischen, grüßte jedoch die Lehrer und Lehrerinnen nicht, sondern richtete nur einige Worte an die Kinder, indem sie fragte: wie die Stunde ginge, ob es sich heute gut lerne usw. Nur den vornehmen Klavierlehrer, den »homme à la mode«, würdigte sie eines auszeichnenden Grußes und einiger freundlichen Worte, danach rauschte sie im Bewußtsein erfüllter Mutterpflichten wieder zur Türe hinaus. Der vornehme und verwöhnte Klavierlehrer aber stand auf, wenn ihm das unaufhörliche Wiederholen eines Bravourstückes, das für eine Salonaufführung eingeübt werden mußte, zu langweilig wurde, wärmte sich am Kamin, ja, streckte sich sogar wohl auf dem Sofa aus und blätterte in dem Buch, wenn die Obergouvernante gerade Sofa, Buch und Studierzimmer verlassen hatte. War die Dreiviertelstunde, die er nur zu geben verpflichtet war, um, so verließ der gewissenhafte Lehrer eilig diesen Höllenpfuhl guter Erziehung, in der frohen Gewißheit, wieder eine Guinee gewonnen zu haben.

In der deutschen Zimmerecke saß ich während alledem mit meinen Schülern, die aber nie zusammen ihre Stunde nahmen, sondern einer nach dem andern. Unter ihnen war ein Knabe von neun Jahren, der mir auch wieder ein ganz besonderes Vertrauen schenkte und mir, wenn die Obergouvernante nicht nahe war und niemand uns hörte, sein kleines Herz aufschloß. Er klagte über die tödliche Langeweile der meisten seiner Stunden, namentlich der Geschichtsstunden. »Ah,« sagte er, »es interessiert mich gar nicht, immer nur Namen und Zahlen auswendig zu lernen, wann der und der König geboren ist, wann er auf den Thron stieg, wann er starb; weiter sagt man mir nichts in der Geschichtsstunde. Ich möchte viel lieber Zeitungen lesen, da erfahre ich doch, was die Leute denken und tun. Ich möchte gern etwas über Kossuth wissen, den die Ungarn so lieben; mir sagt man, er sei kein guter Mann, weil er sein Volk gegen den Kaiser aufgewiegelt habe? Ist das wahr?« – Ich sagte ihm, daß das durchaus nicht wahr sei; daß Kossuth nur gewollt habe, [334] daß sein Volk keine ungerechte Unterdrückung leide, sondern daß es sich frei, seinen Anlagen gemäß entwickeln und sich selbst regieren könne, ungefähr wie es das englische Volk tue; ich erklärte ihm auch, daß das Studium der Geschichte einen ganz andern Zweck habe, als bloß Namen und Daten auswendig zu lernen; daß er ganz recht habe, sich bei dieser Auffassung der Geschichte zu langweilen, daß sie ihm aber ganz anders erscheinen würde, wenn er darin den Anfang der Entwicklung des menschlichen Geistes, den unzerreißbaren Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart kennen lernen, oder die Heroen der Menschheit mit begeistertem Gemüt anschauen würde, um sich an ihrem Beispiel zu stärken zu hohem, menschenwürdigem Handeln. Zum Glück sprach der kluge Knabe schon ziemlich geläufig Deutsch und ich konnte ihm also all meinen gesetzwidrigen Unterricht in deutscher Sprache geben, die den Spürohren der französischen Obergouvernante, deren dürrem französischen Konvenienzverstand diese Unterhaltungen als gänzlich außer dem »reglement« erschienen sein würden, ein verschlossenes Buch war. Mich interessierte der arme, wißbegierige Knabe, dessen kindlicher Geist weit über die Sphäre der dürftigen, »guten Erziehung« hinausstrebte und ungeduldig mit den Flügeln gegen die Wände des engen Käfigs schlug, in den ihn das »konventionell Wissenswerte« zwängte. Ich fragte mich oft: Welches von beiden wird in ihm die Oberhand gewinnen? Wird er einst im House of Commons (denn er war nicht der älteste Sohn, folglich nicht für das Haus der Lords) sich erinnern, daß ein Volk keine Unterdrückung dulden und daß die Geschichte nicht bloß eine Aufzählung von Daten sein sollte, sondern vielmehr die Darstellung jenes riesigen Kampfes der Gewalten, die in der einzelnen Menschenbrust wie im Völkerleben miteinander um die Herrschaft streiten, und daß es die Aufgabe jedes einzelnen ist, sei es auch in der bescheidensten Sphäre, das Seine beizutragen, um der idealen Gewalt den Sieg zu verschaffen?

Leider verlor ich ihn zu bald aus den Augen, als daß ich [335] mir ein bestimmteres Prognostikon für seine Zukunft hätte stellen können. Die Obergouvernante kündigte mir nach einiger Zeit mit erzwungenem, höflichem Bedauern die Stunden unter irgendeinem nichtigen Vorwand auf. Ich vermutete, daß sie einesteils gegen die staatsgefährlichen Unterhaltungen in der deutschen Ecke Verdacht geschöpft, andernteils aber jedenfalls einen entschiedenen Grund zur Entfernung einer so bedenklichen Lehrerin in folgendem Umstand gefunden habe: Die eine der Töchter, die bei mir Stunden hatte, ein sehr hübsches und ebenfalls begabtes Mädchen, erzählte mir in der deutschen Konversation von ihrem Leben im Sommer auf dem Lande, von ihren Beschäftigungen, von den verschiedenen Mitgliedern ihrer Familie und unter anderem auch von ihrem Onkel, der Deutschland sehr liebe und einen Teil des Jahres immer in Deutschland zubringe. Ich erkundigte mich nach seinem Familiennamen und konnte, als ich ihn hörte, nicht zweifeln, daß dieser Onkel ein und dieselbe Person wäre mit einem jungen Engländer, den ich vor vielen Jahren in jenem deutschen Badeort getroffen hatte, wo ich mit meiner Mutter und Schwester war, und die russische Fürstin kannte, deren Abenteuer ich im ersten Band erzählt habe. Er war dort einer unserer liebsten Bekannten und eifrigsten Tänzer gewesen, und ich besaß noch ein Albumblatt, das er mir damals geschenkt hatte. Auch nach dem Badeaufenthalt, bei einem Zusammentreffen in einer größern Stadt Deutschlands, hatte er uns häufig besucht. Es fiel mir nun nach dieser Entdeckung auch ein, an wen mich das junge Mädchen erinnerte – eine Ähnlichkeit, die ich bisher vergebens in meinem Gedächtnis gesucht hatte: sie glich ganz ihrem Onkel, so wie er damals, in frischer Jugend, gewesen war. Ich teilte ihr diese Bemerkung mit, indem ich sagte, daß ich ihren Onkel in Deutschland gekannt habe, ohne jedoch zu erzählen, daß wir daselbst auf dem Fuße gesellschaftlicher Gleichheit gestanden hätten und daß er bei uns aus- und eingegangen sei. Sie schien sehr verwundert und hatte wahrscheinlich der Obergouvernante [336] ihr Erstaunen darüber mitgeteilt; diese aber hatte es für vorsichtiger gehalten, die arme deutsche Lehrerin zu entfernen, die zu bekennen wagte, daß sie den stolzen Pair von England, den Erben eines der ältesten Geschlechter und eines kolossalen Vermögens, kenne und daß Kossuth kein schlechter Mann sei. Ich verließ das Haus mit dem aufrichtigen Bedauern, meinem kleinen freiheitsdurstigen Schüler nicht ferner etwas Stillung für sein sehnendes Herz zuführen zu können, aber auch mit einem Lächeln über die Ironie des Schicksals, das mich gerade in dieses Haus geführt hatte, unter die Augen dieser hochmütigen Lady, die sich für berechtigt hielt, die Lehrerin ihrer Kinder nicht einmal eines Grußes zu würdigen, während dieselbe Lehrerin, die um ihrer Überzeugungen willen jetzt als ein untergeordnetes Wesen vor ihr stand, einst eine ihr ebenbürtige, von ihrem Bruder ausgezeichnete Dame gewesen war und jetzt ihren im Geiste darbenden Kindern das Manna zu geben vermocht hätte, nach dem sie sich in der Wüste ihres hocharistokratischen Lebens sehnten.

Noch ein solches Studierzimmer, aus einem Hause der Geldaristokratie, will ich erwähnen, von dessen innerem Leben und Treiben ich lange Zeit eine vertraute Zeugin war, und durch das mir auch die früher erwähnte Abneigung einer jüdischen Dame gegen katholische Gouvernanten erklärt wurde. Es war das Haus einer jener jüdischen Familien, die in London eine wahre Macht bilden und, durch Heiraten und verwandtschaftliche Bande untereinander verbunden, durch ihren kolossalen Reichtum unabhängig gemacht, die sie verachtende christliche Welt allmählich zwangen, sie anzuerkennen und ihren siegenden Einzug in das englische Parlament nicht länger zu verhindern. Das Haus, in einer der stillen, vornehmen Straßen gelegen, die sogar durch ein Gitter am Eingang gegen die lärmenden, großen Handels- und Verbindungsstraßen zwischen City und Westend abgeschlossen sind, wurde, nachdem man, wie an allen englischen Häusern, mit dem Klopfer an die Tür geschlagen hatte, durch gepuderte Bediente in reicher Livree geöffnet. Stand gerade unten die [337] Tür des Eßzimmers offen, so sah man im Vorübergehen die Pracht des Silbergeschirres, das die Tafel zierte; über reiche Teppiche, die die Treppen deckten, stieg man an den prachtvollen Wohnzimmern des ersten Stocks vorüber zum zweiten Stock empor, wo sich die Studierstube befand, ein düsteres, nach dem Hof gelegenes, unschön möbliertes, großes Zimmer, in dem sich die Kindheit und erste Jugend der vier Töchter des Hauses abspann. Die Mädchen waren weder hübsch noch sehr begabt, aber es waren gutmütige, fleißige und nicht gerade dumme Wesen, die vielleicht sogar einer weiteren Entwicklung fähig gewesen wären, hätte ihre fashionable Erziehung ihnen dazu die Möglichkeit gegeben. So aber saßen sie Tag für Tag unter der Aufsicht einer französischen Gouvernante in der freudlosen, einförmigen Ordnung ihres Lebens, ohne jede andere Verbindung mit der Außenwelt als einen regelmäßig jeden Tag zu derselben Zeit sich vollziehenden Spaziergang in dem nahe gelegenen Park und die Ankunft der Lehrer, die nach dem Schlag der Uhr aus-und eingingen. Sie kannten nichts von den Merkwürdigkeiten und Kunstschätzen Londons, waren weder in dem Britischen Museum noch in der Nationalgalerie gewesen, und hatten keine Ahnung von Musik, außer den Modestücken, die sie bei ihrem Musiklehrer heruntertrommelten. Aber – sie erhielten die erforderliche standes- oder vielmehr geldgemäße Erziehung! ... Es wäre auch unmöglich gewesen, den kindlichen Sinn zuweilen auf den goldnen Flügeln der Phantasie in Wald und Flur mit Vögeln und Schmetterlingen umherschweifen zu lassen, oder ihm einen Einblick zu gewähren in das erhabene Gebiet der Kunst, so daß ihm eine Ahnung von anderen Reichen, als denen der Mode und des Geldes, aufgegangen wäre, denn – die Zeit drängte. Mit sechzehn oder siebzehn Jahren mußte die ganze Erziehung beendigt sein, damit die jungen Mädchen als »finished young ladies« hinausgeführt werden konnten in die Gesellschaft (»come-out«, wie der technische Ausdruck dafür lautet); und oh! zu diesem glücklichen Zeitpunkt sah die freudlos durchlebte Kindheit aus [338] dem engen Studierzimmer mit gespanntem, sehnsuchtsvollem Verlangen hin. Die Gouvernante dieser Mädchen war ein borniertes Geschöpf, die außer ihren participes présents und passés, die sie, nach Noël et Chapsal, ihren Schülerinnen gewissenhaft einstudierte, nichts besaß als einen glühenden Fanatismus für die katholische Kirche und eine verbissene Verachtung für die jüdischen Herren ihres Schicksals, die, die auf ewig Unseligen, dennoch durch schnödes Geld die Macht in Händen hatten, sie zu der freudlosen Existenz zu zwingen, die sie in dem düstern Studierzimmer führte. Aber sie rächte sich an ihnen. Erstens ging sie jeden Morgen um sechs Uhr, ehe ihre Amtspflichten begannen, Sommer und Winter, trotz Schnee, Kälte und Regen, in die Messe, um als getreue Tochter der Kirche sich einen Ehrenplatz zu verdienen im Paradiese des allein seligmachenden Gottes, aus dem dessen unechter Rival Jehovah und seine Anhänger, trotz ihrer goldenen Macht auf Erden, in Ewigkeit ausgeschlossen sind. Dann aber arbeitete sie auch eifrig und mit großer Schlauheit daran, aus ihren Zöglingen Proselyten zu machen. Sie stickte fast den ganzen Tag, während sie den Stunden der Mädchen bei andern Lehrern beiwohnte, an Meßgewändern, Stolen und Altardecken für ihre Kirche, für ihren französischen Abbé usw.; sie war geradezu Künstlerin in diesen Arbeiten, und indem sie die einzige Leidenschaft ihres Wesens darauf richtete, schuf sie wirklich Bewundernswertes, auf dessen prachtvolle Ausstattung gewiß ein großer Teil des den Juden in der Schmach der Dienstbarkeit abgewonnenen Geldes hinging. Die Mädchen schauten aus ihrer nüchternen Existenz heraus auf diese Prachtwerke mit einer Art Begeisterung, und dabei schilderte ihnen die Gouvernante die Wunderwelt der katholischen Kirche mit so glühenden, verführerischen Farben, daß sie ganz verwirrt wurden, und daß sich besonders in der Ältesten, die am meisten Phantasie hatte, entschieden ein Verlangen regte, zu jenem Glauben überzutreten, der mit seinen kerzenerhellten, weihrauchdurchdufteten Tempeln, mit seinen liebenswürdigen Abbés und geschmückten[339] Priestern, allzu verlockend abstach gegen das öde Studierzimmer und den alten Rabbiner, der sie Hebräisch lehrte. Ich durchschaute dieses ganze Treiben sehr wohl, da ich dreimal wöchentlich am Nachmittag für zwei Stunden hinging und mich auch hier wieder des allgemeinen Vertrauens erfreute, so daß die Kinder es sich wenigstens einmal die Woche als größte Gunst von der Mama erbaten, mich zum Abendbrot einladen zu dürfen, das gleich nach Beendigung unserer Stunde eingenommen wurde. Dies bestand gewöhnlich nur aus Tee, Brot und Butter. Wenn ich aber da war, so machten die Gouvernante und die ältesten Mädchen eine Verschwörung und schickten eine der Kleinen ab, um den diensttuenden Bedienten (der den Tee hinaufzubringen hatte, denn auch der wurde im Studierzimmer genommen) mit Bitten zu bestechen, damit er uns noch ein Stück Käse, oder etwas Brunnenkresse, oder eine derartige kostbare Zutat zur Verherrlichung des Tees gebe. Während wir nun bei diesem mehr als einfachen Abendmahl saßen, rauschte gewöhnlich die Mutter, eine noch jugendlich hübsche Frau, herein in glänzender Toilette, Blumen im Haar und Brillantschmuck auf dem bloßen Hals und den Armen, küßte ein jedes der Mädchen, indem sie dabei, ohne die Antwort abzuwarten, sagte: »How are you, dear?« richtete ein paar freundliche Worte an »Fräulein« – und »mademoiselle«, die mit der unterwürfigsten Miene von der Welt antwortete, hinter der ich, die ich sie besser kannte, aber den ganzen tiefen Haß der dienenden Katholikin gegen die herrschende Jüdin sah – und rauschte dann wieder hinaus, die Treppe hinab in den Wagen, neben dem der betreßte und gepuderte Bediente harrte, um der Dame, da die Hand der Geldaristokratin so wenig wie die der Geburtsaristokratin die gemeine Hand des Dieners berühren durfte, den schönen Stock vorzuhalten, auf den sie beim Einsteigen die mit dem Glacéhandschuh bedeckte Hand legte. Die Gouvernante und die Kinder aber begleiteten das Weggehen der Mutter mit einem vielsagenden Lächeln, und wenn ich sie fragte, ob sie nicht zuweilen die [340] Abende mit der Mutter zubrächten, so erwiderten sie spottend, daß ich doch so etwas nicht denken möge; Mama könne keinen Abend zu Hause bleiben, außer wenn Diner und Gesellschaft im Hause sei. Das fürchteten die armen Wesen aber noch mehr als die Einsamkeit, denn dann mußten sie wenigstens eine Stunde lang unter der Hand des Friseurs und der Kammerjungfer bleiben, um endlich, steif aufgeputzt, unter Führung der Gouvernante, für zehn Minuten beim Nachtisch im Eßzimmer oder imdrawingroom zu erscheinen und mit den gewöhnlichen Redensarten über Wachstum, Alter usw. behelligt zu werden. Dann zogen sie sich wieder in ihr Erziehungslaboratorium zurück, wo sie mit chemischen Lernexperimenten präpariert wurden, um aus natürlichen, einfachen, heiteren Wesen eben solche vergnügungssüchtige, zerstreute, äußerliche Geschöpfe zu werden, wie ihre Mutter und die meisten Frauen ihrer Welt es waren.

Doch genug dieser Beispiele aus der Privaterziehung, die, die schlechten bei weitem mehr noch als die guten, nicht etwa vereinzelt dastanden, sondern für ganze Gesellschaftsschichten als charakteristisch angesehen werden konnten. Nur eines Mitglieds dieser Erziehung will ich noch eingehender erwähnen: der Gouvernante nämlich, deren Stellung ich bei diesem häufigen Verkehr so recht gründlich kennen lernte, wobei ich einsah, wie recht ich gehabt hatte, vor diesem Beruf zurückzuschaudern.

Die Stellung der Gouvernante ist eine trostlose. Sie ist eine Art Polyp, ein Übergangsgeschöpf zwischen Tier und Pflanze, d.h. zwischen Herrschaft und Dienerschaft. Sie wird von oben herab schlecht behandelt, mit einer empörenden Herablassung, und sie wird ebensowohl von unten herauf schlecht behandelt, denn die Diener gehorchen ihr unwillig, und das Oberhaupt der Dienerschaft, eine furchtbar absolute Majestät in ihrem Gebiet, die »upper nurse« (oberste Kinderwärterin), die meist alt ist, oft schon zweien Generationen in der Familie gedient hat und in der »nursery« (der Kinderstube) allmächtig herrscht, tut alles, was in ihren Kräften [341] steht, um die Gouvernante, die die Kinder aus ihren Händen empfängt, zu ärgern. Das unglückliche Wesen ist auf das Studierzimmer angewiesen, wo sie mit ihren Zöglingen ihr Leben verbringt. Meistenteils verlangt man von ihr alle möglichen Kenntnisse, d.h. allen möglichen Unterricht in den Dingen, die zur Erziehung gehören, nämlich: moderne Sprachen, Musik, Zeichnen, Geschichte (in der oben erwähnten Weise), Geographie, Handarbeiten usw. Wie sie diesen gibt, ist Nebensache. Wenn aber auch noch Lehrer für die verschiedenen Zweige des Unterrichts genommen werden, so darf sie doch mit keinem Schritt aus dem Studierzimmer weichen, da es gegen den Anstand wäre, die jungen Mädchen mit Lehrern allein zu lassen. Ein regelmäßiger Spaziergang unterbricht die Einförmigkeit des Tages. Um ein Uhr ist das Mittagessen der Kinder und das ihre, dem die Mutter meist beiwohnt, für die es das zweite Frühstück ist. Dann hat sie weiter nichts mehr von Nahrung zu erwarten, als den Tee mit Brot und Butter um sechs Uhr. In die Zimmer der Herrschaft kommt die Gouvernante nie, außer zehn Minuten abends, nach dem Mittagessen, wo sie den Eltern die Kinder vorzuführen hat, oder auf ausdrückliche Einladung, wenn sie aufgefordert wird, den Abend im »drawingroom« zu verbringen, wozu sie dann Toilette machen, d.h. in ausgeschnittenem seidenen Kleid erscheinen muß. Kann sie Klavier spielen und singen, so wird sie als willkommenes Werkzeug benutzt, die Langeweile des Abends zu verscheuchen, und steigt besonders auf dem Lande, wo weniger Zerstreuung ist, im Preise. Der späte Abend auf ihrem einsamen, oft sehr unschönen, im Winter meist kalten Zimmer ist die einzige freie Zeit, die ihr bleibt; aber dann ist sie gewöhnlich zu abgestumpft von dem ermüdenden Tag, um noch viel für sich tun zu können. Auch der Sonntag gehört ihr nicht, denn sie muß mit ihren Zöglingen ein- oder zweimal in die Kirche und muß überhaupt die Sonntagsprozedur der frommen Langeweile mitmachen. Nur wenn zufällig die Kinder einmal für einige Stunden mit den [342] Eltern sind, hat sie Zeit, etwas für sich zu tun oder, wenn sie Freunde hat, diese zu besuchen.

Es versteht sich von selbst, daß auch hier wie überall ehrenvolle Ausnahmen stattfinden; daß es Eltern gibt, die die Leute, denen sie sozusagen das ganze geistige und leibliche Wohl ihrer Kinder anvertrauen, als nahestehende Freunde und Ratgeber betrachten und daher suchen, ihnen eine edlere Stellung einzuräumen. Im eignen Hause gelingt dies natürlich; aber was die gesellschaftliche Stellung anbelangt, so mißlingt es immer auch bei dem besten Willen. Ich kannte ein Beispiel, wo eine hochstehende, über Vorurteile erhabene, edeldenkende Dame sich eifrig bemühte, der Erzieherin ihrer Kinder, die durch Bildung und vortreffliche Eigenschaften die Ebenbürtige der besten Gesellschaft war, eine angemessene Stellung in ihren Kreisen zu verschaffen. Unmöglich! Die Leute zuckten die Achseln und sagten: »Madame N... will, daß wir eine Freundin aus der Person machen – das geht nun einmal nicht, sie ist und bleibt doch nur eine Gouvernante.«

Eine andere sehr ausgezeichnete Person, eine Engländerin obenein, die Gouvernante gewesen war, erzählte mir, wie sie persönlich in einem höchst glücklichen Verhältnis zu der Familie ihrer Zöglinge gestanden habe, und daß es dieser auch gelungen sei, ihr den Weg in ihre Gesellschaft zu erzwingen; man habe sie mitgebeten in Häuser, wo die eignen Gouvernanten nicht erschienen; aber sie habe sich nie wohl dabei gefühlt, sondern immer die unangenehme Empfindung gehabt, daß es nur um der Familie willen, bei der sie war, geschähe.

Zwischen den verschiedenartigen Erscheinungen dieser Welt verfloß nun mein Leben. Ich war befriedigt, wie der Taglöhner befriedigt ist, wenn er die Lastarbeit des Tages vollbracht hat, die ihm Brot gewährt. Aber in meinem Innern war tiefe Grabesstille; kein Wunsch, kein Hoffen, keine Begeisterung mehr. Ich nahm die Tage, wie sie kamen, ohne mehr von ihnen zu verlangen, als sie geben konnten. Nach[343] Deutschland sehnte ich mich nicht zurück; zu viele Gräber des persönlichen wie des öffentlichen Lebens starrten mir dort entgegen. Was konnte mich nach einem Lande zurückziehen, von dem mir eine geistreiche Freundin schrieb:

»Der Zeitgeist? – was ist denn jetzt der Zeitgeist? Ich begreife gar nicht, wie manche Radikale ihre Partei für so reich halten können. Der Zeitgeist im Katholizismus sind die Jesuiten, im Protestantismus ist es die innere Mission, bei den Freidenkern der Glaube an den tierischen Magnetismus. Die haben alle weit mehr Anhänger als wir; die machen den Zeitgeist, und wenn man andern glaubt und auf sie hofft, so täuscht man sich.«

In England fühlte ich mich wenigstens inmitten der Strömungen eines großen, politisch freien Lebens, und wußte, daß kein Polizeidirektor Macht hatte, mich über meine persönlichen Anschauungen zu verhören, wenn ich nichts tat, was gegen die Gesetze der öffentlichen Sicherheit und des Eigentums verstieß. Die unbedingte persönliche Freiheit, die sogar den Verbrecher innerhalb seiner eignen vier Wände schützt, flößte mir eine große Achtung ein. Ein solcher Zustand der Dinge gibt dem Leben einen Hintergrund von Ruhe, der notwendig ist zur Entwicklung einer menschlich würdig organisierten Gesellschaft. Freilich erfuhr ich, was ich schon an mehreren Beispielen gezeigt habe, mit Trauer, wie im ewigen Spiel der Gegensätze der Mensch sich selbst beschränkt, nicht im Sinne des reinen Maßes, das die Ausgleichung der Gegensätze auf der edelsten und letzten Stufe der Entwicklung ist, sondern im Sinne der willkürlichen, verdummenden Schranke. Gegenüber der großen politischen Freiheit stand eben überall die soziale Beschränkung und die konventionelle Torheit. Tausendfache Gelegenheit hatte ich, zu bemerken, wie z.B. das religiöse Leben nicht ein tiefer, das Leben heiligender Glaube, sondern einfach eine jener Formeln war, die zum Begriff »respectable« sowohl in der Gesellschaft wie im Familienleben gehören. Nichts beweist dies besser, als die wahrhaft empörende Art der Heilighaltung [344] des Sonntags, die gerade eine Nichtheilighaltung ist, indem man der gröbsten Langeweile, der nüchternsten Stimmung Tür und Tore öffnet. Ich befand mich am Sonntag in englischen Häusern, wo die Herren sich aus einem Lehnstuhl in den andern warfen und mit entsetzlichem Gähnen den öden Zustand ihres Innern kundgaben; wo die Kinder in trostloser Freudlosigkeit umherschlichen, weil sie weder spielen noch irgendein Unterhaltungsbuch, nicht einmal Grimms Märchen lesen durften; wo der ganze geistige Genuß des Hauses in sogenannter »sacred music« bestand, die eine junge »Miß« auf dem Klavier ableierte, oder noch schlimmer, absang. Ein junges Mädchen sprach sich einmal gegen mich in harten Worten über die Deutschen aus, die am Sonntag Theater und Konzerte besuchten. Ich fragte, ob sie, wenn sie ihr Gewissen streng untersuchte, in Wahrheit sagen könnte, daß sie in der Stille ihres Sonntags heiligere Gefühle, erhebendere Gedanken finde, kurz, daß sie sich als ein besserer Mensch fühle, wie bei Anhörung einer Beethovenschen Symphonie oder eines Shakespeareschen Dramas oder sonst einer edlen Kunstschöpfung. Sie gestand verlegen ein, daß sie dies nicht sagen könne, fügte aber doch den logischen Schluß hinzu: daß es demungeachtet von den Deutschen sehr schlecht sei, die Sonntagsfeier so wenig zu beachten. Eine andere Dame, eine gebildete und freisinnige Person, forderte mich einmal auf, mit ihr nach »Temple-Church« zu gehen, einer der ältesten und schönsten Kirchen Londons in der City, zu dem großen Häuserkomplex von Templebar gehörig, wo die englische Justiz ihren Sitz hat. Die Musik von Temple-Church ist berühmt, und ich hatte den Wunsch geäußert, sie zu hören. Ich ging also mit meiner Hausgenossin und jener Dame hin und saß zwischen den beiden. Während der Predigt hatte ich alle Mühe, mich des Schlafs zu erwehren, kämpfte aber doch, um der Schicklichkeit willen, mit Anstrengung dagegen an. Wie erstaunt war ich aber, als ich einen Seitenblick auf meine Nachbarin rechts warf und sah, daß sie fest schlief, dann links blickte und dort dasselbe wahrnahm. Ich schaute [345] nach den anderen Menschen und sah mehr als eine Person in das Nirwana der Andacht entrückt. Als wir die Kirche verließen, fragte ich die Engländerin, die sehr humoristisch war, ob sie gut geschlafen habe. »Ja,« sagte sie lachend, »es hat mir so gut getan.« – »Warum gehn Sie denn aber hin?« sagte ich. – »Ach, meine Liebe, was wollen Sie? Es muß nun mal so sein am Sonntag.« –

Noch schlimmer aber als für die gebildeten Klassen ist diese stumpfe Sonntagsbeschränkung für das Volk. Es fing eben damals der große Streit an, ob man dem Volke den Zutritt zu den Museen, dem Kristallpalast und ähnlichen Anstalten am Sonntag gestatten solle. Die Frage wurde im Parlament verhandelt und abschlägig entschieden. Man fürchtete, die Kirchen würden dann leer bleiben, und die Moralität würde leiden, wenn das Volk anfangen würde, heidnische Götterbilder, Kunstwerke und Naturmerkwürdigkeiten dem Besuch der Kirchen vorzuziehen. Wenigstens konnte man nur so allein sich diese Entscheidung erklären. Die Kirchen und die Wirtshäuser blieben die einzigen öffentlichen Lokale, die am Sonntag offen waren. Die Kirche war gut für ein paar Morgenstunden, aber den Nachmittag und Abend? Da blieb eben nur das Bierhaus als Zuflucht für den von der Last der groben Arbeit zusammengedrückten Arbeiter und Proletarier, dem keine Bildung und Gewohnheit geistiger Beschäftigungen die Mußestunden des Sonntags verschönen konnte und keine anlockende, freundliche Häuslichkeit die Ruhe am eigenen Herd zur besten Erholung nach den anstrengenden Wochentagen machte. Auch war es dann so: daß die Bierhäuser übervoll waren, und daß der heilig gehaltene Sonntag nur zu viel durch den unheiligen Anblick von betrunkenen Männern und, was noch schrecklicher war, Frauen, entweiht wurde; aber nicht nur das, sondern beim mächtigen Locken der Versuchung, der man sie gewaltsam in die Arme trieb, ging der mühsam erworbene Wochenlohn der Arbeiter darauf, und die Kinder daheim blieben ohne Brot und die Stunden der Not in der Zukunft ohne den [346] Sparpfennig, der sie hätte erleichtern können. Die rohe, tierische Natur der Halbmenschen aber wurde immer roher, immer tierischer durch die entwürdigende Leidenschaft des Trunkes, die in ihrem Gefolge nur zu häufig den Mord und zwar in schaudererregender, brutaler Weise hatte.

Wir verabredeten einmal im Kreise der Frau von Brüning, einen Gang durch die Straßen zu machen, wo am Sonnabend abend die Proletarier ihre Einkäufe für den Sonntag zu machen pflegen. Es war dies wirklich kein kleines Unternehmen, und nur in Gesellschaft von mehreren, mit guten Stöcken bewaffneten Herren und mit Zurücklassung von Uhren, Ketten, Börsen und sonst leicht entwendbaren Dingen zu bewerkstelligen. So zogen wir eines Sonnabend abends aus, jede Dame am Arme eines Herrn und noch einige Herren als Schutzmannschaft hinterher. Man brauchte nicht gar weit zu suchen: oft an der Rückseite von Palästen, die eine große schöne Straße zieren, fand man eine enge Gasse, in der zerlumpte Frauen und halbnackte Kinder im Schmutz vor den elenden Wohnungen saßen und mit widrigen Manieren, ja oft mit unsaubern Worten und Gebärden, den wohlhabenden Eindringling bestürmten und ihn um ein Almosen förmlich anschrieen, immer bereit, es sich mit geschickter Hand selbst aus dessen Taschen zu erobern, im Fall seine Bereitwilligkeit nicht groß genug gefunden würde. Wir sahen die Nachtszenen, wie nur Dante sie in seinem Inferno geschildert hat. Aus den düstern Nebeln der eben erwähnten Gassen, in denen die elenden Gestalten wie bleiche Schatten verstorbener Sünder aus dem Boden stiegen, traten wir in andere, von Gasflammen, die frei im Winde flatterten, mit einem unheimlichen, höllischen Licht erleuchtet, in deren Glanz das rote, blutige, in den Fleischerläden aufgehängte Fleisch widrig barbarisch sich hervorhob, während Käse, halbfaule oder getrocknete Seefische und ähnliches die Luft mit entsetzlichen Dünsten füllten. Hier wogte und drängte, mit Geschrei, mit lautem keifenden Handeln und Feilbieten, eine furchtbare Menge, die wie den Schlünden unterirdischer[347] Werkstätten von Kobolden entstiegen aussah: entmenschte Wesen, entweder durch das Elend oder durch das Laster bis zur Fratze des Ebenbildes Gottes entstellt. Vom Schein der Gasflamme grauenhaft beleuchtet, kauften sie das traurige Prachtmahl des Sonntags ein, auf das wohl schon die ganze Woche hindurch die hungrigen Kinder sich gefreut hatten. Mit welchem Haß, mit welcher Verachtung, oder mit welch höhnischer Gleichgültigkeit starrten sie uns an – uns, die ihrer Welt Fremden, die nichts gemein hatten mit ihren Freuden und Leiden, die die Neugierde herführte, um die martervollste Wirklichkeit sich wie ein Schauspiel anzusehen! Wie tief fühlte ich das ganze Verdammungsurteil, das aus diesen rotberänderten, unheimlich glühenden oder halb erloschenen, tief eingesunkenen, in düsterer Hoffnungslosigkeit starrenden Augen uns entgegen blickte! Ja, ich vergab ihnen die Schimpf- und Schandwörter, die sie uns hier und da zuriefen, denn was hieß es anders als: »Ihr seid es, die ihr uns verdammt habt in die Hölle, ihr, die uns zu Dämonen macht, ihr, die uns ausschließt vom Licht des Tages, vom freudigen Strahl des Sonnenlichts, des beglückenden: die uns hinbannt in die verpestete Luft unsauberer Grüfte, während ihr, Olympier, auf heiteren Höhen ein unbewölktes Dasein führt. Was kommt ihr hierher, uns zu stören? Hebt euch hinweg von den scheußlichen Orgien der Armut und des Elends, laßt uns den dumpfen Rausch unseres gin und brandy, der uns wenigstens für Augenblicke Vergessen bringt, wenn er auch oft zum Morde führt. Was kümmert's uns, am Galgen zu enden? Es ist noch besser, als in langsamer Qual des Hungers mit Frau und Kindern zu sterben. Hinweg! weil ihr nicht gekommen seid, uns zu erlösen, weil ihr nicht mit freigebiger Hand die Nacht, die uns umgibt, zerstreuen und uns zu einer menschenwürdigeren Existenz führen wollt! Rührt nicht an die Verzweiflung, die sich selbst betäubt – sie könnte sich einmal gewaltig gegen euch erheben und dann wehe euch!« Alles das und noch mehr sprach mir aus diesen entsetzlichen Nachtszenen, und ich [348] kam heim mit einem Weh im Herzen, das mich lange keine Ruhe wieder finden ließ.

Eine Abendunterhaltung erfreulicher Art unterbrach die Einförmigkeit meines Lebens. Es war dies eine Reihe von Vorlesungen über Kunstgeschichte, die Kinkel im Saale der Londoner Universität hielt. Schon damals fing Kinkel an, außer den Stunden, die er gab, auch zuweilen Abendvorlesungen zu halten, was seine Stellung bald zu einer andern als der eines gewöhnlichen Lehrers machte, da wohl in keinem Lande das sogenannte »lecturing« so in der Mode ist wie in England, wo es sogar zu einer Spezialität geworden ist, die die einzige Beschäftigung mancher Leute bildet, die dann dieselbe Reihe von Vorlesungen, oder eben auch nur eine einzige, sei es über Politik, über wissenschaftliche oder über literarische Gegenstände, an mehreren Orten hintereinander halten, wozu ihnen die Leichtigkeit des Verkehrs vermittelst der Eisenbahnen in England allen Vorschub leistet. Die Vorlesungen Kinkels hatten in dem Amphitheater der Universität eine zahlreiche und gewählte Gesellschaft versammelt. Nach der letzten Vorlesung erging sich das Publikum in den anstoßenden Sälen, die freigebig geöffnet waren, um die daselbst aufgestellte große, prächtige Flaxmansche Kunstsammlung zu betrachten und durch die Anschauung an das eben Gehörte anzuknüpfen. Ich stand mit Kinkel, seiner Frau und anderen Bekannten zusammen im Gespräch, als Herzen, der den Vorlesungen mit Haug und seinem Sohne beigewohnt hatte, herzutrat, eine englische Dame, die er am Arm führte, verließ und sich, geläufig deutsch redend, in unser Gespräch mischte. Ich hatte ihn seit jenem Abend bei Kinkels nicht wieder gesprochen und freute mich, daß er sich zu mir wie zu einer alten Bekannten wendete und mir einige geistvolle Bemerkungen über das Gehörte und Gesehene mitteilte, die verrieten, wie sein feuriger Geist auch auf anderen Gebieten als dem der Politik scharf beobachtete, warm empfand und treffend urteilte. Ich wußte sonst zu der Zeit von ihm nichts anderes, als daß er in einem kleinen [349] Hause, nahe bei Primrose Hill, in einer der grünen, freieren Gegenden der Londoner Wüste, dicht am Regents Park, wohnte und sich mit literarischen Arbeiten beschäftigte. In dem Flüchtlingskreise der Frau von Brüning war er nur einmal gewesen und dann nie wiedergekommen. Sie war keine Natur, die ihn anziehen konnte. Ihr Champagnerschaum von Enthusiasmus, der immer mehr den Persönlichkeiten als den Ideen und Dingen galt, mußte seinem durchdringenden Blick fade erscheinen, und dann fand er wahrscheinlich bald genug heraus, daß sie, trotz des demokratischen Fanatismus, zu dem sie sich bekannte, doch im Grunde vollkommen die russische Aristokratin geblieben war, nicht sehr weit entfernt von dem, was mir in früheren Tagen eine hochgeborene Russin als Inhalt des russischen Frauenlebens angegeben hatte: »Nous sommes élevées pour plaire.«

In den Kreisen, in denen Herzen verkehrte, in den englischen Häusern nämlich, die sich besonders der flüchtigen italienischen Demokratie erschlossen hatten, war ich zu der Zeit nicht bekannt; dagegen eröffnete sich mir ein anderer Kreis der Emigration, der sich mir durch eine wieder angeknüpfte Bekanntschaft, die ich auf die seltsamste Art gemacht hatte, erschloß. Der Leser erinnert sich vielleicht der Begegnung, die ich im Eisenbahnwagen auf der Fahrt nach Ostende mit einer jungen Frau hatte, die, auf der Reise nach England begriffen, mir den lebhaften Anteil verriet, den sie an den Geschicken Ungarns nahm, das eben damals dem Nachbardienst, den Rußland Österreich leistete, erlegen war. Ich suchte sie schon einige Zeit nach meiner Ankunft in England auf und fand sie mit ihrem Gatten, Franz Pulszky, als den eigentlichen Mittelpunkt der ungarischen Emigration, die zu der Zeit sehr zahlreich in England vertreten war. Ihre drei kleinen Söhne, die sie in Ungarn hatte zurücklassen müssen, waren ihr durch einen treu ergebenen Freund allen Gefahren zum Trotz nachgebracht worden. Sie hatte nun bereits mit dem großen organisatorischen Talent, das sie besaß, eine, wenn auch für sie, die in ästhetischem Luxus Aufgewachsene [350] und Verwöhnte, höchst bescheidene, aber wohnliche Häuslichkeit gegründet, die zugleich eine Heimat für die Heimatlosen, daheim dem Kerker und Galgen Entflohenen geworden war.

Sie nahm mich mit der liebenswürdigsten Freundlichkeit auf, erinnerte sich sehr wohl unserer eigentümlichen ersten Bekanntschaft und lud mich ein, oft zu kommen. Die Sympathie, die mir ihr tief durchbildetes, zartes und doch so energisches Wesen einflößte, schien bei ihr ein Echo zu finden, und es vereinte uns fast vom ersten Augenblick an eine gegenseitige Neigung, die sich zu einer festen, durch alles Schwanken der Verhältnisse hindurch unverändert gebliebenen Freundschaft ausbildete.

Therese Pulszky war neben Johanna Kinkel die bedeutendste Frau der Emigration. Aber beider Jugend hatte sich in so verschiedenen Verhältnissen bewegt, daß dadurch die Verschiedenheit der Naturen zum völligsten Kontrast, den man sehen kann, geworden war. Nur in einem glichen sie sich: in der Energie, mit der sie den Schlägen des Schicksals trotzten, und in der unermüdlichen Tatkraft, durch die sie sich über die Ungunst der Verhältnisse erhoben und diesen den Stempel ihres Wesens aufdrückten. Während aber in Johanna frühe Not und dunkler Kampf eine Festigkeit entwickelt hatten, die zuweilen an Härte streifte, während ihr angeborner köstlicher Humor, durch das Leben gereizt, oft den Charakter beißender Ironie annahm und die Häufung bitterer Täuschungen einen Hang zum Argwohn in ihr genährt hatte, war in Therese Pulszkys liebenswürdiger Natur durch eine ungetrübte, auf das anmutigste verlebte Jugend, eine solche Harmonie von Ernst und Heiterkeit, von Festigkeit und Milde, von ungewöhnlicher intellektueller und künstlerischer Bildung entstanden, daß man die feine zierliche Erscheinung wohl zu den seltensten ihres Geschlechts rechnen konnte. Sie war die einzige Tochter eines reichen Wiener Bankiers, hatte unter der Leitung ihrer geistreichen Mutter eine äußerst sorgfältige Erziehung erhalten und ihre Jugend [351] in den höchsten ästhetischen Genüssen, wie nur Bildung und Reichtum zusammen sie gewähren können, verlebt. Nach Neigung vermählt, hatte sie ihrem neuen Vaterland, Ungarn, ein warmes Herz entgegengetragen, und als die politischen Stürme über dieses hereinbrausten, hatte sie sich mutig auf die Seite der Patrioten gestellt, bis sie, beim Falle Ungarns, ihrem Gemahl nach England folgte. Die österreichische Regierung konfiszierte nicht nur das Vermögen Pulszkys, sondern auch das seiner Gattin, wozu sie auch nicht einmal den Schein des Rechts hatte, und die an Luxus und Überfluß Gewöhnten fanden sich nun im Exil – mit sehr beschränkten Mitteln, mit einer jungen Familie und mit unendlichen Ansprüchen, die von allen Seiten an sie gemacht wurden. Mutig und energisch ordnete Therese sofort ihr Leben, gab sich literarischen Arbeiten hin, übernahm fast allein den Unterricht ihrer Kinder, kultivierte, namentlich im Interesse ihres Vaterlands, die höhere englische Gesellschaft, beteiligte sich fortwährend an der politischen Agitation, die in den ersten Jahren noch eifrig betrieben wurde, war die Raterin und Helferin der emigrierten Ungarn, und versammelte bei alledem häufig im eigenen Hause einen durch vielfache Interessen belebten Kreis. Dort sah ich zum ersten Male Kossuth, den bei seiner Ankunft in England so hoch Gefeierten. Er nahm im Kreise der ungarischen Emigration damals noch fast die Stelle eines Herrschers ein, und man umgab ihn mit einer Art von Hofzeremoniell. Das erstemal, als ich einer Einladung zu einer Abendgesellschaft bei Pulszkys folgte, fand ich einen zahlreichen Kreis, der zum größten Teil aus Ungarn bestand. Plötzlich, nachdem alles versammelt war, erscholl der Ruf: »The governor«, worauf sich die Gesellschaft alsbald auseinanderteilte und zu beiden Seiten des Zimmers aufstellte. Nun öffnete sich die Türe, und herein schritt Kossuth mit einer gewissen Feierlichkeit, neben ihm seine Gattin, hinter ihm seine kleinen Söhne und ein paar Herren gleich diensttuenden Adjutanten. Er trug den ungarischen Schnürenrock und sein bedeutendes Gesicht, von [352] dem schon etwas ergrauenden Vollbart umrahmt, hatte den Ausdruck des Ernstes und der Würde. Er grüßte nach beiden Seiten mit Herablassung und ließ sich dann mit den Bevorzugten in ein Gespräch ein. Mir erweckte er zunächst kein anderes Interesse, als das, das sich an seine so rasch begonnene und beendete Laufbahn knüpfte. Seine Persönlichkeit erregte mir keinen Wunsch, ihn näher kennen zu lernen. Ebenso wenig fühlte ich mich von seiner Frau angezogen, der ich vorgestellt wurde und deren unruhiges, leidenschaftliches Wesen, beherrscht von einer hervortretenden Eitelkeit auf die Stellung des Mannes und die Zukunft der Söhne, ihr ohnehin wenig anmutiges Äußere noch unsympathischer machte. Ein Mitglied dieser Familie sollte ich später freilich kennen lernen, das mir unaussprechlich sympathisch wurde: die Tochter Kossuths nämlich, die aber damals noch zu klein war, um in Betracht zu kommen. Ich sah sie dann, als sie eben in erster Jugendblüte einer weißen Rose glich, deren zarter, wie aus Duft gewobener Blätterkelch nicht für die Dauer gemacht scheint. Leider war es so mit ihr. Reich mit Talenten begabt, studierte sie bei schnellem Wachstum so eifrig, daß sie vielleicht dadurch beitrug, den Keim des frühen Todes zu entwickeln. Sie schwand dahin, kaum an der Schwelle des jungfräulichen Lebens angelangt, wie ein holder Morgentraum und ließ einen leisen, wehmütig zitternden Ton, wie von Äolsharfen, in der Erinnerung zurück.

Übrigens fand ich bei den ungarischen Emigrierten einen mir neuen, sehr eigentümlich nationalen Charakter, der entschieden abstach gegen den deutschen. Ihr Patriotismus hatte eine weniger reflektive, aber viel unmittelbarere Intensität; es genügte, eine solche Versammlung beisammen zu haben, wie ich sie an jenem Abend bei Pulszkys fand, um eine feurige demonstrative Stimmung hervorzurufen, die immer wie zur unmittelbaren Aktion bereit erschien. An dem erwähnten Abend war ein talentvoller Künstler da, ein Violinspieler, der auf allgemeines Bitten sein Instrument ergriff und ungarische Weisen vortrug, die die ganze Gesellschaft wie mit [353] einem leidenschaftlichen Weh nach der fernen Heimat und der wilden Freiheit der Pußta ergriffen, bis er, selbst bis zur äußersten Exaltation erregt, endlich in den Rakoczy-Marsch überging, worauf alle, von einem überwältigenden Rausch fortgerissen, mitsangen, mit den Füßen stampften, Eljen riefen und sicher bereit gewesen wären, hätte der Erbfeind ihnen gegenübergestanden, sich in todesmutiger Freude ihm entgegenzuwerfen, um zu siegen oder zu sterben. Diesem naturwüchsig ritterlichen Wesen entsprach auch die romantische, knappenhafte Treue, mit der einzelne sich den Größen ihres Vaterlandes in persönlicher Ergebenheit und zu persönlichem Dienst angeschlossen hatten. Ein solcher Treuer hatte sich der Pulszkyschen Familie zugesellt, der er die Kinder aus dem von den Siegern scharf bewachten Lande zugeführt hatte, und bei der er nun wie ein guter Hausgeist helfend, lehrend, schützend verblieb, die Heimat und ihre Vorzüge aufgebend, die ihm, dem nicht schwer Kompromittierten, sonst offen gestanden hätte. In gleicher Weise war Kossuth von einem ritterlichen Schutzmann begleitet, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, über dieses damals Ungarn so teure Leben zu wachen und es vor den etwaigen Gefahren, die auch übers Meer hinaus weitgreifende Hände ihm bereiten konnten, zu schützen. Aber nicht nur das, auch die zartesten Aufmerksamkeiten, die das tägliche Leben verschönern und den herben Kelch des Exils für die zu so plötzlicher Höhe gestiegene und so jäh gestürzte Familie mildern konnten, hatte sich dieser Kurwenal zur Aufgabe gestellt, und es war rührend, mit welcher Zartheit er, der Begütertere, die Lücken ausfüllte, die in dem beschränkten Haushalt der gar nicht vermögenden Kossuthschen Familie entstanden.

Neben diesen schönen ritterlichen Eigenschaften sah dann aber mitunter ein recht rohes Element hindurch und ein großer Mangel an wirklicher Bildung. Gerade auch in dieser letzteren Beziehung, wie in allen anderen, ragte Franz Pulszky bedeutend unter seinen Landsleuten hervor. Er war nicht nur ein gebildeter Mann, er war ein Gelehrter, und [354] die edle Mäßigung, die wahre Bildung gibt, sowie die Zuverlässigkeit seines Charakters machten es begreiflich, daß ihn eine Therese verehrend liebte.

Ich besuchte diese Kreise damals jedoch nicht oft, da meine Zeit zu beschränkt und ich abends meist zu müde war, um mich noch auf Abendgesellschaften einzulassen. Dazu kam, daß eine plötzlich ausbrechende Herzkrankheit der Frau von Brüning, die sie an das Krankenlager fesselte, meinem Umgang dort eine neue Wendung gab und mich öfter hinführte als früher. Diese Frau, die mich in der Zeit ihres Glanzes durch Frivolität und Eitelkeit oft abgestoßen hatte, wurde mir im Leiden lieb. Die Geduld, ja die Heiterkeit, mit der sie es ertrug, die stoische lächelnde Ruhe, mit der sie den Tod, den sie als unabwendbar fühlte, nahen sah, rührten mich sehr. Sie sprach oft, wenn der kleine Kreis der treuern Freunde um ihr Bett saß, von ihrem Ende, und man konnte sagen, daß sie, die jedem Glauben an persönliche Fortdauer entsagt hatte, graziös der Vernichtung entgegen ging. Mehr als eine Nacht verbrachte ich wachend bei ihr, meist mit Löwe, der ihr Arzt war und den ich bei dieser Gelegenheit von der humanen Seite seines Wesens kennen lernte, während ich ihn bisher nur als geistvollen Menschen gekannt hatte. Während der Nacht mit der gemeinsamen Pflege der Kranken beschäftigt, zuweilen jedoch auch mit ihr, die wenig schlief und immer voll bewußt, ja geistig erregt war, in bedeutende Gespräche vertieft, gingen wir nachher gewöhnlich im ersten Morgengrauen zusammen durch den Regents Park heim, und manches ernste Wort entsprang da natürlich dem tiefen Ernst der bei einer Sterbenden verlebten Stunden. Löwe teilte mein Gefühl, daß jetzt, da der nahende Tod die Fesseln der Eitelkeit und Tändelei von dieser Seele löste, ihre ursprüngliche Lieblichkeit reiner zurückkehre und man sich wohler in ihrer Nähe fühle. Wir sprachen über die Kunst des Lebens überhaupt und wie wenige, selbst unter den Guten, es verstehen, das Leben vor Zersplitterung, vor Aufgehen in dem »Verfänglichen des [355] irdischen Geschwätzes« zu hüten und die flüchtige Zeit zu retten für das, was »allein not tut« im höchsten ethischen Sinn. Löwe erzählte mir, daß das schönste Kompliment, das man ihm je im Leben gemacht habe, das gewesen sei, ihm zu sagen, er sei ein Lebenskünstler, und wir kamen überein, daß die höchste Aufgabe der Erziehung sein sollte, diese Kunst des Lebens auszubilden, damit das ganze Dasein nur ein fortwährendes Enthüllen und Ausarbeiten einer erhabenen Idee in uns würde, mit der wir uns selbst zum höchsten Kunstwerk umgestalten und das Leben von den Fesseln des »Nichts in ewiger Bewegung« erlösen könnten.

Nach solchen durchwachten Nächten war es mir jedoch nicht vergönnt zu ruhen, sondern wenn ich zu Hause gefrühstückt hatte, ging es fort an die Arbeit des Tages, an die ermüdenden Stunden, und dazu war es Winter, und es dauerte nicht etwa Tage, sondern Wochen und Monate. Die ängstliche Spannung schloß den kleinen Kreis in jenem Hause enger aneinander, als je die Freude es vermochte, und mit wahrer Teilnahme scharten wir uns alle um Herrn von Brüning, der in den schweren Stunden alles vergaß, was ihn früher wohl von der Gattin getrennt hatte, und sich mit rührender Aufopferung um sie bemühte. Endlich gegen Ende Januar schien sie selbst zu fühlen, daß das Ende nahe. In einer Nacht, wo ich wieder mit Löwe bei ihr wachte, sprach sie ruhig und klar über das Bevorstehende und beauftragte mich, nach ihrem Tode einem Freunde, den sie sehr geliebt und den ein Mißverständnis von ihr getrennt hatte, zu sagen, daß sie unschuldig gewesen sei an allem, was zwischen sie getreten, daß sie ihm die reinste Freundschaft bewahrt habe und daß sie dies im Angesicht des Todes mit gutem Gewissen sagen könne. Am folgenden Tage hatte ich erst gegen Abend Zeit, einen Augenblick hinzugehen und nach ihr zu sehen. Sie war sehr schwach, aber sie drückte mir warm die Hand, sah mich mit sanftem Lächeln an und sagte: »Wie soll ich Ihnen danken für alles, was Sie mir Gutes getan haben?« Wir küßten uns innig, zum erstenmal seit wir uns kannten, und [356] so schied ich von ihr. Am andern Morgen früh kam die Nachricht, daß sie in der Nacht gestorben sei. Drei Tage darauf war ihr Begräbnis auf dem schönen Kirchhof von Highgate, der nach ihr noch so manches Opfer des Exils empfangen sollte. Zahlreich war die Versammlung derer, die den trauernden Gatten und die verwaisten Kinder am Grabe umgaben. Löwe sprach tief ergriffen wenige herrliche Worte, und ein deutscher Arbeiter-Gesangverein sang ihr, die ja auch deutscher Abkunft und ihren Sympathien nach deutsch war, Abschiedsgrüße in die Gruft nach. Am Ausgang des Kirchhofs traf ich mit Herzen zusammen, der ebenfalls zu der Beerdigung gekommen war. Er war sehr bewegt und sagte mir, indem er mir die Hand reichte: »So stand ich auch mit meinen Waisen vor noch nicht einem Jahre an einer Gruft.«

Bald nach dem Tode der Frau von Brüning löste sich der ganze Kreis, der in ihrem haus versammelt gewesen war, auf. Die Familie verließ England. Reichenbachs, Löwe und andere gingen nach Amerika. Sie redeten mir alle zu, mitzukommen, und einen Augenblick lang schwankte ich wieder sehr, aber die Scheu vor dem ewig von vorn Anfangen der Existenz und die Angst, meiner Mutter, die sich kaum beruhigt hatte, einen neuen Schlag zu versetzen, hielten mich zurück. Doch sah ich sie mit Wehmut scheiden, besonders Reichenbachs, die ich wahrhaft liebte und um deren Schicksal ich mir auch Sorgen machte.

Nach ihrer Abreise fühlte ich mich sehr allein. Kinkels sah ich nicht oft. Sie hatten ein größeres, schöneres Haus, das etwas zentraler lag, genommen, da ihre Verhältnisse anfingen, sich zu bessern, und die allgemeine Anerkennung, die sich beide als Lehrer erwarben, ihnen nicht nur Schüler in Menge zuführte, sondern ihnen auch erlaubte, die üblichen höheren Preise für ihre Stunden zu fordern. Aber in der ungeheuren Anstrengung eines so arbeitsvollen Lebens blieb ihnen nur wenig Zeit zur Geselligkeit, und nur selten einmal [357] kam es dazu, daß wir einen Abend zusammen verbrachten, der freilich dann immer doppelt genußreich und heiter war.

Es war Frühjahr geworden, als ich eines Tages einen Brief von Herzen bekam, der mir sagte, daß er seine beiden kleinen Töchter, die nach dem Tode der Mutter einstweilen bei einer befreundeten Familie in Paris geblieben waren, durchaus am Jahrestage des Todes seiner Frau bei sich haben wolle, und daß er meinen Rat darüber wünsche, wie er ihr Leben einrichten solle. Einer englischen Pension wolle er sie nicht übergeben, da es ihm vor der Heuchelei des englischen Lebens graue; zu mir habe er Vertrauen, und wenn ich mich selbst entschließen könne, der Ältesten Stunden zu geben, so würde er sehr damit zufrieden sein. Ich erwiderte ihm, daß ich noch einige Stunden für seine Kleine frei habe, daß ich sie ihr gern geben würde und daß man dann das Weitere überlegen könne. Ich sprach ihm bei der Gelegenheit meine volle Sympathie für sein persönliches Schicksal aus, das eine Reihe von entsetzlichen Unglücksfällen über ihn verhängt hatte, die mit dem größten, dem Tode seiner Frau, endeten, und sagte ihm, wie gern ich dazu beitragen würde, in etwas wenigstens die Herbigkeit dieses Schicksals zu mildern, indem ich mich der Kinder annähme, an denen er mit der aufopferndsten Liebe hing. Er schrieb mir wieder voll Dankbarkeit für diesen Ausdruck aufrichtiger Sympathie und sagte: »Sie erinnern mich durch Ihre Freundschaft an meine vergangene Jugendzeit. Ihre Freundschaft ist eine tätige, das ist die einzige, die ich verstehe, die ich habe. Die passive Freundschaft hat man von allen Seiten, l'amitié raisonnée, collaboration, conspiration, francmaçonnerie, Emanzipationssucht, die Freundschaft der Glaubensgenossen auch – aber alles das ist unbestimmt und abstrakt. Ich danke Ihnen auf das wärmste, mich daran erinnert zu haben, daß es eine andere, menschlichere und persönlichere Sympathie gibt in diesem vacuum horrendum, mit dem uns die Welt umgibt. Glauben Sie mir, daß trotz meines Äußeren [358] à la Falstaff es kein noch so zartes, kaum faßbares, echtes Gefühl gibt, das nicht ein Echo in meinem Herzen fände.«

Wenige Tage darauf kam er, mir seine älteste Tochter, ein Mädchen von sieben Jahren, zu bringen, ein eigentümlich schönes Kind von einem fremdartigen Typus, der, wie mir der Vater sagte, echt russisch sei, mit großen herrlichen Augen und einem seltsam gemischten Ausdruck von Energie und sanfter, schwärmerischer Innerlichkeit. Sie gewann mein Herz beim ersten Anblick, und es rührte mich sehr, mit welcher mütterlichen Zärtlichkeit der Vater für sie sorgte, indem er lächelnd sagte: »Ich muß jetzt auch die Bonne machen.«

Am folgenden Tage ging ich hin in das neue Haus, das er an einem der großen Squares von London genommen hatte, und fand, indem ich in das parlour unten eintrat, ein deutsches Kindermädchen mit Nähen beschäftigt und in einem großen Lehnstuhl meine neue Bekannte vom vorigen Tag und neben ihr ein ganz kleines Mädchen von zwei Jahren, ein Miniaturwesen von wunderbarer Lieblichkeit. Bald kam auch Herzen und weihte mich in die häuslichen Verhältnisse ein. Das Haus war einfach aber vollständig organisiert. Der Sohn hatte seine Lehrer, die kleinen Mädchen waren vorläufig gut versorgt mit der deutschen Wärterin, die ein gebildetes Mädchen war, und ich fing nun mit der Ältesten meine Stunden an. Nach diesen lud Herzen mich öfter ein, hinauf in seine Zimmer zu kommen, und fing an, mich etwas mit der russischen Literatur bekannt zu machen, indem er mir aus den Übersetzungen von Puschkin, Lermontoff, Gogol und anderen vorlas und mir dabei lebhafte Schilderungen des russischen Lebens und Wesens überhaupt gab.

Die neue Welt, die mir hiermit aufging, interessierte mich ungemein. Manches fand ich geradezu hinreißend durch den Hauch von Naturfrische, durch die Abwesenheit aller Phrase, durch den Stempel echter Poesie, die nicht aus gesuchten Effekten, sondern aus der Macht der Situation und der Wahrheit der Empfindung geboren wird, in dem Sinne, in [359] dem Goethe sagte, daß jedes Gedicht Gelegenheitsgedicht sein solle. Puschkin zog mich am wenigsten an, obgleich er, was Schönheit der Form, was Entwicklung und Abrundung des Gegenstandes betraf, der vollendetere Dichter war, aber in ihm klang zu sehr der blasierte vornehme Mann der aristokratischen russischen Gesellschaft durch, dessen Typus sein Onägin ist. Man hatte in diesem eine Nachahmung Byrons erkennen wollen. Herzen widerlegt das in seinem »Développement des idées révolutionnaires en Russie«, wo er sagt: »Man hat in Puschkin einen Nachahmer von Lord Byron zu sehen geglaubt. Der englische Dichter hat wirklich sehr viel Einfluß auf den russischen gehabt. Man geht niemals aus den Beziehungen zu einem bedeutenden sympathischen Menschen hervor, ohne seinen Einfluß erfahren zu haben, ohne an seinen Strahlen gereift zu sein. Die Bestätigung dessen, was in unserem Herzen lebt, durch die Zustimmung eines Geistes, der uns teuer ist, gibt uns einen neuen Anstoß, eine neue Tragweite. Aber diese natürliche Wirkung ist weit entfernt, Nachahmung zu sein. Nach den ersten Dichtungen, in denen der Einfluß Byrons mächtig zu fühlen war, wurde Puschkin mit jeder Schöpfung originaler. Stets voll Verehrung für den großen englischen Dichter, war er weder sein Klient noch sein Parasit, weder traduttore noch traditore.

Puschkin und Byron entfernen sich völlig voneinander gegen das Ende ihrer Laufbahn, und das aus einem sehr einfachen Grunde: Byron war echt englisch, Puschkin echt russisch, russisch wie die Menschen der Petersburger Periode. Er kannte alle Leiden des zivilisierten Menschen, aber er hatte einen Glauben an die Zukunft, den der okzidentale Mensch nicht mehr hatte. Byron, die große, freie Individualität, der Mensch, der sich in seiner Unabhängigkeit isoliert und sich mehr und mehr in seinen Stolz, in seine skeptische erhabene Philosophie einhüllt, wurde immer düsterer, immer unerbittlicher. Er sah keine bessere Zukunft nahen, und von bitteren Gedanken niedergedrückt, der Welt überdrüssig, ging [360] er, um sein Leben einem Volke von slavo-hellenischen Piraten zu widmen, die er für Griechen der alten Welt hielt. Puschkin im Gegenteil beruhigte sich immer mehr, vertiefte sich in das Studium der russischen Geschichte, sammelte Materialien zu einer Monographie von Pugatscheff, schrieb ein historisches Drama: »Boris Godunoff« und hatte einen instinktiven Glauben an die Zukunft Rußlands. – –

– – Diejenigen, die sagen, daß Onägin der russische Don Juan sei, verstehen weder Byron noch Puschkin, weder England noch Rußland; sie halten sich nur an die äußere Form. Onägin ist die bedeutendste Schöpfung Puschkins, er hat sein halbes Leben darauf verwandt. Das Gedicht stammt aus den traurigen Jahren, die dem 14. Dezember folgten – und man könnte glauben, daß ein solches Werk, eine solche poetische Autobiographie eine Nachahmung sei?

Onägin ist weder Hamlet noch Faust, weder Manfred noch Obermann, weder Trenmor noch Karl Moor. Onägin ist ein Russe und ist nur in Rußland möglich; da ist er notwendig und man begegnet ihm auf Schritt und Tritt. Er ist ein Müßiggänger, weil es niemals Arbeit für ihn gegeben hat, ein überflüssiger Mensch in der Sphäre, in der er lebt, ohne die Kraft des Charakters, aus ihr heraus zu treten. Er ist ein Wesen, das das Wesen bis zum Tode versucht und das den Tod versuchen möchte, um zu sehen, ob er nicht besser ist als das Leben. Alles hat er angefangen ohne irgend etwas zu verfolgen, er hat um so mehr gedacht, als er weniger getan hat, ist mit zwanzig Jahren alt und vergnügt sich durch die Liebe, als er anfängt zu altern; er hat immer etwas erwartet, wie wir alle, weil man nicht toll genug sein kann, um zu glauben, daß der jetzige Zustand in Rußland dauern könne – es ist nichts anderes gekommen und darüber ist das Leben hingegangen. Onägin, als ein Typus, ist so national, daß man ihm in allen russischen Romanen und Gedichten, die einige Bedeutung haben, begegnet, nicht weil man ihn hat kopieren wollen, sondern weil man ihn überall neben sich oder in sich selbst antrifft.«

[361] Tiefer als Puschkin ergriff mich Lermontoff, in dem die vollständige Hoffnungslosigkeit und der Skeptizismus sich mit tragischer Gewalt zur Poesie erhebt, und der, indem er jedem subjektiven Anspruch entsagend völlig objektiv wird, zuweilen eine wunderbar wehmütige Schönheitswelt vor unseren Blicken entfaltet, in der der große Schmerz für Augenblicke verstummt, wie z.B. in seinen Szenen und Schilderungen aus dem Kaukasus, dessen wildromantische Pracht er während seines Exils daselbst zu beobachten Gelegenheit hatte.

Sollte man Lermontoff mit einem Dichter einer anderen Nation vergleichen, so würde ich ihn neben den Italiener Leopardi stellen, von dem er keinenfalls etwas gewußt hat und dem er doch innigst verwandt ist. In beiden ringt das gläubige Element, das in jeder Dichternatur lebt, und die aus der Erkenntnis vom wahren Wesen des Daseins um desto mächtiger emporschlagende Flamme der Poesie mit der vernichten den Gewalt eben jener Erkenntnis, die hinter dem gleißenden Bilde der Erscheinung die furchtbaren Mächte gewahrt, die dämonisch die ewige Kette von Ursache und Wirkung flechten, nach der der Arme schuldig und der Pein überlassen wird, weil nach ehernem Gesetz alle Schuld auf Erden sich rächt. – Nur darin unterscheiden sie sich, daß Lermontoff sich aus dem Abscheu über die ihn umgebende Welt in die wilde Schönheit kaukasischer Bergwüsteneien und kühner, noch von keiner Zivilisation ergriffener Naturvölker flüchtet, während Leopardi unablässig hinüber schaut nach dem versunkenen Glanz griechischer Kultur und die nüchternen Höhen und Haine wieder beleben möchte mit den schönen Gebilden dichtenden Wahns, mit denen sie einst den schönheitsdurstigen Augen der Griechen bevölkert erschienen.

Diese Stunden, in denen der geistvolle Russe mir die unbekannte Welt seiner großen, fernen, nebelverhüllten Heimat aufschloß, waren Oasen in dem trockenen Einerlei meines Lebens, und bald wurde dieses Haus mit den reizenden Kindern für mich eine Stätte der Erholung und Erquickung, an der ich wieder anfing, dem Leben einen sanften, wohltuenden [362] Reiz abzugewinnen und die Arbeit nicht mehr als einen bloßen Frondienst anzusehen, sondern auch ihren milden Segen in beglückendem Erfolge zu empfinden.

Herzen lud mich eines Tages ein, den Abend in einem Kreise seiner näheren Bekannten bei ihm zuzubringen. Es war dies der Kreis einer mir noch unbekannten Größe der Emigration, nämlich der Kreis Mazzinis, der, ihn selbst und seinen Freund Aurelio Saffi ausgenommen, nur aus Engländern bestand. Lange schon hatte ich gewünscht, den großen Italiener, den Triumvir von Rom, den Feuergeist kennen zu lernen, an dessen Flammen ein ganzes Volk seit zwanzig Jahren seinen patriotischen Enthusiasmus unter Priester- und Despotendruck aufrecht erhalten hatte. Es hatte sich bisher noch nicht machen wollen, denn mit den anderen Flüchtlingskreisen verkehrte er nicht. So freute ich mich denn sehr, die lang ersehnte Gelegenheit gefunden zu haben, und ging mit der Erwartung hin, die man dem Ungewöhnlichen entgegenträgt. Wenn mich im ungarischen Kreise das fast höfische Zeremoniell, mit dem man Kossuth umgab und seine einem Monarchen zugehörige, vornehm herablassende Haltung unangenehm berührt hatten, so war ich nun überrascht von der gänzlichen Einfachheit und Bescheidenheit in Haltung und Auftreten des Mannes, den mir Herzen als Joseph Mazzini vorstellte; des Mannes, dessen Gedanken eine ganze Nation inspirierten und lenkten, und vor dessen politischer Bedeutung mächtige Fürsten zitterten. Mazzini war von mittlerer Größe, fein und schlank gebaut, eher mager als stark, keine imponierende Gestalt – sein Kopf allein entsprach der Vorstellung, die man sich von ihm machte, und wenn man die edlen Züge ansah, die Stirn, auf der der Gedanke thronte, die dunklen Augen, aus denen zugleich das Feuer des Fanatikers und die Milde des Gemütsmenschen sprachen, so fühlte man sich gleich wie gebannt in den Zauberkreis dieses Menschen und begriff von vornherein, daß es eine der Persönlichkeiten war, an denen man nicht gleichgültig vorübergehen kann, bei denen man für oder wider [363] sie Partei ergreifen muß. Allein sprach ich nur wenig mit ihm an jenem Abend, mit tiefstem Interesse aber folgte ich einer Diskussion, die er mit Herzen und Saffi hatte, und worin er gegen diese beiden das Dogma der revolutionären Aufgabe, die Pflicht und Mission der »heiligen Tat«, verteidigte und mit Heftigkeit gegen den bloßen Skeptizismus, die bloße Negation des Bestehenden, eiferte. Herzen mit seiner scharfen Dialektik führte ihm die unzähligen Niederlagen der absichtlich ins Werk gesetzten Revolutionen und insbesondere die noch kürzlich überall so gänzlich zu Tage gekommene Unfähigkeit der demokratischen Partei zu organisieren vor, und Saffi stimmte diesem bei. Es schien Mazzini sehr empfindlich zu sein, daß dieser junge Mann, sein Kollege im Triumvirat von Rom, sein Freund und vordem sein Jünger, jetzt ihn zu bekämpfen wagte und sich der Meinung Herzens anschloß, daß für den Augen blick gar nichts anderes zu tun sei, als gegen das Bestehende zu protestieren und die alte Welt in ihren politischen, religiösen und sozialen Formen zu negieren. Mazzini war im Gegenteil gläubig überzeugt, daß die bloße Negation ein demoralisierendes Prinzip und daß nur das Bewußtsein einer zu erfüllenden Pflicht, die man den Völkern beizubringen hätte, die Aufgabe wahrer Revolutionäre sei. Er versicherte mehrere Male, daß ihm nichts an Italien liege, wenn es nichts anderes wolle als materielle Größe und materielles Wohlergehen; was ihm einzig des Kampfes wert scheine, sei dieses: daß Italien eine große Mission des Fortschritts für die Menschheit erfülle, indem es selbst edler, moralischer, pflichtgetreuer werde. Er kam dabei auf seinen fast mystischen Glauben an die Bedeutung Roms zu sprechen, dessen Name selbst schon eine wunderbare Andeutung seiner endlichen Bestimmung enthalte, indem der Name Roma, umgekehrt Amor, gleichsam vorzeichne, daß Rom zum dritten Male die Welt beherrschen werde, aber diesmal durch die Macht der Liebe, der wahren Brüderlichkeit, die von da ausgehen und mit leuchtendem Beispiel die anderen Völker nach sich ziehen werde.

[364] Vor dem überwiegenden Interesse, diesen wunderbaren Mann zu sehen und sprechen zu hören, verschwand mir der übrige Teil der Gesellschaft völlig, und dieser Abend blieb bedeutungsvoll in meiner Erinnerung, obgleich nun lange Zeit vergehen sollte, ehe ich den italienischen Flüchtling wiedersah.

Die Londoner Saison war vorüber; der Sommer war da und begann die heißen, von der Dunstatmosphäre Londons bedrückten Straßen unerträglich zu machen. Die Gesellschaften und Bälle hatten aufgehört, die musikalischen Genüsse, die, in die kurze Zeit von drei bis vier Monaten zusammengedrängt, mit ihrem bunten Durcheinander einem beinah Ekel an der Musik beibringen könnten, waren verstummt; der Adel und die reiche Bourgeoisie entflohen auf das Land oder auf den Kontinent, und die Stunden hörten auf. Zum Glück war wenigstens in materieller Beziehung das Resultat der schweren Arbeit so gewesen, daß ich mir nun die Erquickung eines Aufenthaltes am Meeresufer mit Seebädern gönnen konnte, und das beschloß ich zu tun, da meine Gesundheit dieser Stärkung dringend bedurfte. Ich suchte mir einen Ort aus, wohin die Reise äußerst billig war, da man sie zu Wasser machen konnte, indem der Ort am Ausfluß der Themse in das Meer liegt und die Dampfschiffe dort anhalten. Meine Hausgenossin war durch Geschäfte in der Stadt zurückgehalten, und so ging ich allein, was mir auch bei weitem lieber war, da ich mich nach der bienenartigen Geschäftigkeit und dem jedes inneren Zusammenhanges entbehrenden Geräusch des verlebten Winters und Frühjahres nach Einsamkeit, Sammlung und Einkehr in mich selbst sehnte. Leid tat es mir nur, von meinen reizenden kleinen Freundinnen im Herzenschen Hause zu scheiden und den Unterricht der Ältesten zu unterbrechen. Aber Herzen versprach halb und halb, die Kinder mit der Bonne nachzuschicken, ja vielleicht sie selbst zu bringen. So reiste ich ab, mir froh der zeitweilig wieder erlangten Unabhängigkeit vom Frondienst bewußt und die Freiheit mit wahrem Genuß [365] empfindend. Die Fahrt die Themse hinab war schön, schöner, als ich sie mir von meiner ersten Einfahrt her erinnerte, und das kleine Örtchen Broadstairs, mein Ziel, grüßte mich gar einladend von hohen weißen Klippen herunter. Am Ufer fand ich gleich bereitwillige Führer, um mich zu Wohnungen zu geleiten. Die meisten englischen Orte an den Küsten sind auf Besuch von Gästen eingerichtet, die die Zeit des Seebades da zubringen, und eine Menge Wohnungen sind eben nur während der kurzen Sommerzeit bewohnt. Broadstairs gehörte damals noch zu den kleinen bescheidenen Orten dieser Art, obwohl es sich nun im Lauf der Jahre, wie so manche andere, sehr vergrößert haben soll. Es bietet auch eigentlich keine großen Schönheiten außer den hohen Klippen, der besonders wilden Brandung der Nordsee an diesen und der Aussicht auf das Meer. Zu der Zeit war nur ein bemerkenswertes Haus dort, das einsam auf hoher Klippe stand: es war das Haus, in dem Charles Dickens öfters den Sommer zuzubringen pflegte und in dem er mehrere seiner Romane geschrieben hat. Man führte mich in einigen verhältnismäßig teuren und unendlich banalen Wohnungen umher, die alle in der unschönen Hauptstraße des Städtchens lagen und keine Aussicht hatten. Sie gefielen mir alle nicht, überstiegen mein Budget und versprachen mir keine Stimmung, wie ich sie mir wünschte, denn sie atmeten dieselbe Banalität wie die Londoner »lodgings«, nur in verkleinertem, beschränktem Maßstabe. »Aber gibt es denn keine Wohnung mit der Aussicht auf das Meer?« fragte ich endlich verzweiflungsvoll. »Ja, es gibt da wohl ein Zimmer bei Schifferleuten, aber das ist keine Wohnung für eine Lady,« war die Antwort. »Einerlei, ich will sie sehen«, erwiderte ich; man zeigte mir den Weg und überließ mich dann meinem Schicksal, da es nicht der Mühe wert schien, ein Wesen, das so plebejischen Neigungen folgte, länger zu geleiten. Ich fand auf einem Klippenvorsprung, den ein wenig Rasen bedeckte und den dürftige Sträucher, von der Salzflut zu oft gebadet, einfaßten, ein kleines Häuschen, [366] das sich mit der Rückwand an die höher aufsteigende Klippe lehnte. Eine gutmütig aussehende Frau empfing mich fast beschämt, als ich sie nach einer Wohnung fragte, und meinte, ihr Zimmer würde wohl nicht gut genug für mich sein. Als ich dennoch darauf bestand, es zu sehen, führte sie mich durch den untern Raum des Hauses, der Küche und Aufenthaltsort der Familie zugleich war, eine enge Stiege hinauf in das einzige Zimmerchen des ersten Stocks, das ein großes Bett, eine Kommode, einen Tisch und zwei Stühle enthielt, dessen einziges Fenster aber die Aussicht auf das wilde Klippenplätzchen hatte, zu dessen Füßen sich die Welle schäumend brach und zuweilen ein Sturzbad weißen Schaumes hinauf sandte, und dann darüber hinaus auf das weite Meer. Ich hatte gefunden, was ich suchte und war entzückt; die Aussicht ließ an wildem Reiz der Einsamkeit nichts zu wünschen übrig; das Stübchen war bei seiner Schmucklosigkeit äußerst reinlich und nicht banal wie die anderen, ich fragte nach dem Preis, und die Frau verlangte zögernd fünf Shilling die Woche, indem sie mich besorgt ansah, ob es mir auch nicht zu viel dünke. Ich sagte ihr den geringen Preis mit Freuden zu; sie versprach mir das Essen, das ich bestellen würde, zu kochen und unten im Küchen-Wohnzimmer zu servieren. Über meinem Zimmer war nur noch das Schlafzimmer der Familie, die aus dem Mann, der Lotse war, der Frau und zwei kleinen Kindern, von denen das jüngste noch an der Brust lag, bestand. Ich war nun installiert nach meines Herzens Wunsch und sah mit tiefem Behagen den kommenden Wochen entgegen.

Die englischen Seebäder haben den großen Vorzug vor den kontinentalen Badeorten, daß sie wirklich Erholungsorte sind und nicht die großen Städte mit ihren geselligen Vergnügungen auf einen Kurort übertragen, wie jene es tun. Hier lebt ein jeder für sich wie er will: man braucht keine große Toilette zu machen; man sieht die anderen Leute am Strand, wo besonders die Kinder sich in Scharen aufhalten und im Meeressande spielen, aber man macht keine Bekanntschaften; es sind [367] keine Kursäle, keine tables d'hôte da, man wohnt in Privatlogis, wo man auch Essen bekommt, oder wer eine große Familie hat, nimmt ein Haus und macht eigene Küche. Es ist dies wieder eine gute praktische Einrichtung des englischen common sense, denn so ist es ein wahrer Landaufenthalt, wo man sich von den Strapazen des Winters erholt und in Luft, Wellen und Ruhe dem Körper neue Kraft zuführt. Ich genoß die Einsamkeit mit wahrem Fanatismus und floh selbst vor jedem zufälligen Begegnen, das mich etwa hätte in Beziehungen zu Menschen bringen können. Mein einziger Umgang waren meine Schifferleute und eine Menge kleiner Kinder der hier herum wohnenden Fischerfamilien. Wenn ich vom Lesen oder Schreiben müde war, dann setzte ich mich mit diesen Kleinen auf mein wildes Plätzchen vor dem Haus und erzählte ihnen Geschichten, oder ließ mir von ihnen ihre Lieder vorsingen, oder kroch mit ihnen zwischen dem Felsgeblöck am Meer umher, um Muscheln zu suchen. Oft ging ich mit meinem Buch an den Klippen entlang, lagerte mich auf einer der höchsten Spitzen, wo die Felswand jäh ins Meer hinabsank und die weite Wasserflut sich vor mir ausbreitete, und las. – Ich war damals noch ganz in der wissenschaftlichen Richtung, in die mich das Leben in der Hochschule gebracht hatte. Ich glaubte die Lösung aller Probleme und Phänomene des Lebens nur an der Hand der Naturwissenschaften finden zu können. Das Kohlenstoffatom, das heute in einer Dichterstirn der Mitarbeiter unsterblicher Gedanken ist und morgen aufblüht als ein Blumenkelch, oder in der Lerchenkehle hoch im ewigen Äther dem strahlenden Licht einen Freudenhymnus zujubelt, schien mir das tiefsinnige Zeugnis einer Einheit alles Seins, die mein Herz mit geheimnisvoller Seligkeit füllte, und zuweilen sandte ich, voll innerer Freude von meinen deutschen Büchern aufblickend, über die dunkelgrünen Wellen meinen Gruß hinüber an die deutsche Heimat, die ich in ihrem geistigen Schaffen nun wieder versöhnt liebte. – Am Abend saß ich in meinem kleinen Stübchen und schrieb, und die Gedanken strömten mir zu, gleich als ob [368] Geister hinter mir ständen und sie mir ins Ohr flüsterten. Oft auch sah ich hinaus auf das mondbeglänzte Meer, das einen breiten Strom geschmolzenen Silbers in langen leisen Wellen und ruhigem, ernstem, harmonischem Rauschen durch die stille Nacht dahinfließen ließ. Mir war es, als sähe ich an der Horizontlinie das Wasser sich dem Mond entgegenheben, bewegt von der Kraft der Anziehung – vielleicht die erste Form der Liebe in der Materie. Ich gedachte der entzückenden Phantasieen der Griechen, wie sie dies nächtliche Geheimnis der Liebe zwischen den Gestirnen, in der Fabel von Luna, die den schlafenden Endymion küßt, personifiziert haben. Wie tief mußte dies begnadete Volk empfinden, um im Zauber der Dichtung, des verklärten Wahns, das Geheimnis der Erscheinung in eine Schönheitswelt von Formen zu bannen, von denen die moderne Welt nur das nackte Gerippe der sogenannten Realität übrig behalten hat! In der wunderbaren Stimmung, die solche Mondnächte am Meer erzeugen, begreift man es, wie sie diese Luna Diana zum süßesten Ideal jungfräulicher Reinheit schaffen mußten, die, fern von jedem wollüstigen Reiz, nur einfach vom ewigen Zauber der Schönheit gerührt, sich in keuscher Seligkeit zum Kuß auf die Stirn des schönen Schläfers neigte, ohne ihn zu wecken, ohne erwiderndes Umfassen zu verlangen. Und wer weiß, inwieweit ihr symbolisierendes Naturgefühl recht hatte? Wer weiß, ob nicht in jenen Formen der Erscheinung, die unserem Begreifen verschlossen sind, ein Empfinden und Genießen stattfindet, das nur andere Ausdrucksweisen hat wie das unsere? Wer weiß, ob z.B. der Sphärentanz des Pythagoras nicht wirklich die erste Form, die »ewige Idee« des Rhythmus ist? Warum sollten wir allein das Privilegium der Empfindung haben? Da die Experimentalwissenschaft uns versichert, daß dieselben Stoffe, die unser irdisches Dasein zusammensetzen, sich ebenso in der Bildung anderer Weltkörper finden, warum sollten nicht auch die Begriffe, die der Welt als Vorstellung entwachsen, eben darum aber notwendig mit dem Stoff, der diese Welt bildet, zusammenhängen, sich außerdem, als [369] mit dem Stoff verbunden, darstellen? Warum sollte daher z.B. der Rhythmus eine bloß unserem Geist gleichsam eingeborene Fähigkeit sein, und nicht ebensowohl ein inneres Gesetz, das die Bewegung der Gestirne regelt? ...

Zuweilen lockte es mich auch an das Ufer hinab, selbst in dunklen Nächten, wenn das brausende Element seine gewaltigen Symphonieen zu mir herauftönen ließ. In dieser völligen Freiheit und zwischen den guten Menschen der Küste störte mich keine gesellschaftliche Rücksicht, ich warf meinen Mantel um und schritt dem Strande entlang. Da, wenn Sturm und Wellen um die Wette brausten, durchdrang mich ein göttliches Gefühl der Freiheit. Keine Furcht war in mir, keine Knechtschaft außer mir. Mit Lust hörte ich die aufgewühlte Tiefe heulen; mit Wonne trank ich die scharfe Nachtluft, die vom Meere her ein milder Hauch durchdrang. Dann dachte ich der Sünden der Erziehung, die die Menschen – wenigstens die Frauen – fernhält von den großen, befreienden Einflüssen, vom Umgang mit den elementaren Gewalten, mit allem Ursprünglichen, und dadurch das Ursprüngliche in den Menschen selbst vernichtet. Sich den großen Eindrücken mit reiner Liebe hingeben, das macht den Menschen stark und gut. In einsamen Sternennächten mit den Gestirnen Umgang pflegen, kühn in die schwersten Labyrinthe des Gedankens eintreten, den Körper härten im Kampf mit Sturm und Wellen, dem Tod furchtlos ins Angesicht sehen und ihn verstehend feiern – all das heißt den gewöhnlichen Erziehern Überspannung, Torheit, Tollkühnheit. Aber z.B. auf Bällen, im Rasen unschöner, ja unmoralischer Tänze mit gehaltlosen Schwätzern, mit leichter Kleidung sein Leben gefährden, das heißt rechtmäßige jugendliche Freude. Die Autorität, die solche Vorschriften gibt, heißt die Stimme der Vernunft. Die kleinen Seelen, denen es graut vor Nacht, Sturm und Wellen, die aber im Salon, in der künstlichen Atmosphäre des modernen Lebens ihre Kinder lehren, elegante Memmen zu sein wie sie selbst, das sind die weiblichen Wesen par excellence, die wahren Frauen!

[370] Bei solchen Gedanken erfaßte mich wieder die alte Leidenschaft des Kampfes. Ich wünschte mir noch Leben, Kraft und Gelegenheit, um Heldenfrauen bilden zu können, die fähig wären, ein Geschlecht aufzuziehen, in dem einst alle sittliche Feigheit verschwände, aus der jede andere, die politische und soziale Feigheit entsteht. Oder sollte der wahre, sittliche Mut ewig nur das Geheimnis einzelner Naturen bleiben? so fragte dann zweifelnd mein Herz. »Nein,« sprach die Hoffnung, »es ist möglich, ihn durch die Erziehung in den weitesten Kreisen zu verbreiten und den größeren Teil der Menschheit zur sittlichen Freiheit zu erziehen, die das stärkste Gesetz ist, indem sie die Notwendigkeit einer sittlichen Weltordnung anerkennt, sie schafft und sich ihr aus Überzeugung unterwirft. Dazu aber ist vor allen Dingen nötig, die von keiner Afterbildung, von keiner falschen Konvenienz verkrüppelte Originalität der Naturen zu erhalten, die sich selbst das Wesen der Welt aufdeckt und selbst zu genießen weiß. Käme die Erziehung erst dahin, daß wahre Bildung auch zugleich wahrer, ursprünglicher Mensch hieße, so wäre damit mehr getan als mit allen Beglückungstheorieen. – –

Einmal auf einer dieser nächtlichen Streifereien befand ich mich plötzlich auf der sonst ganz leeren Klippe einem Individuum gegenüber, gehüllt in einen weiten, von einem Gürtel zusammengehaltenen Mantel, auf dem Kopf einen breitkrämpigen, großen Hut und im Gürtel zwei Pistolen und einen kurzen Degen. Ich war im ersten Augenblick ein wenig betroffen von der sonderbaren Erscheinung, wurde aber bald beruhigt, als der Mann stehen blieb und mit gutmütigem Tone fragte, ob ich mich nicht fürchte bei Nacht auf der einsamen Klippe, und mir dann auf meine Frage, wer er denn sei, erwiderte, er sei einer der Strandwächter, die zum Schutz des Einkommens des Staates an den Klippen bestellt seien gegen die französische Kontrebande, die besonders mit Cognac und Liqueurs stark an dieser Küste getrieben werde. Des Mannes gemütliches Wesen bewog mich, seiner Gesellschaft nicht auszuweichen, wenn ich ihm später öfter auf meinen [371] nächtlichen Wanderungen begegnete. Er erzählte mir manches aus seinem einsamen wilden Strandleben, das von allerlei Gefahren durch Menschen und Elemente bedroht ist. Durch die ersteren, wenn diese als Kontrebandiers in den vielen kleinen Buchten, die das Meer am Felsenufer bildet, landen, die einzuschmuggelnde Ware bis zum Weitertransport in den Felsenklüften bergen und dabei von den Strandwächtern überrascht werden – durch die Elemente aber wird mehr als eines dieser in unscheinbarer Pflichterfüllung verbrachten Leben vorzeitig vernichtet. So erzählte er mir von einem seiner Gefährten, der durch einen heftigen Windstoß bei Nacht über die Klippen geweht und unten im Meeressande und Geröll, die ein ewiges Spiel von Ebbe und Flut sind, begraben worden sei. Lange Zeit hatte man nicht gewußt, was aus ihm geworden, bis einige Monate nach seinem Verschwinden der Wind den Sand aufgewühlt und seinen Leichnam bloßgelgt habe. Zuweilen rissen sich auch im Winter durch den Frost Stücke von den Klippen los und begrüben einen unter den Trümmern, oder das Gestein bräche plötzlich ein und risse den Obenstehenden mit hinab in die Tiefe, oder der Sturm schleudere einen von der nackten, umheulten Klippe hinaus in das Meer. Der Mann erzählte das mit so einfachem Ton, als ob es selbstverständlich wäre, daß es so kommen und daß man diesen Lohn des Schicksals für treue Pflichterfüllung ohne Murren hinnehmen müsse. Es fiel ihm gar nicht ein, zu denken, daß vernünftigere Staatseinrichtungen: Handelsfreiheit, Abschaffung der Schutzzölle usw. dem Schmuggelhandel von selbst Einhalt tun und das Amt des Strandwächters erleichtern würden, da er sich dann, besonders in gefahrvollen Nächten, die jetzt die Schmuggler gerade für ihr finsteres Handwerk suchen, der Wut der Elemente nicht auszusetzen brauchte.

Anders ist es freilich mit den Lotsen der Rettungsmannschaft, zu denen mein Hauswirt gehörte. Ihr Amt besteht darin, der Wut der Elemente das eigene Leben preiszugeben, um das fremde zu retten. Dieser schweren aber erhabenen [372] Pflicht wird man sie nicht nur nicht entziehen können, sondern sie wird immer mächtiger und fordernder werden, je mehr Menschlichkeit und Pflichtgefühl wachsen. Ich ward auch Zeuge einer solchen Stunde, in der die mutigen Männer, die das Rettungskorps der Küste bilden, ihr Leben ohne Bedenken einsetzten. Es war dies eines Abends, als ich gerade in dem Raum, der Küche und Familienstube zugleich war, mein Abendessen einnahm. Draußen wütete und tobte das Meer, der Sturm heulte und der Regen floß in Strömen nieder. Plötzlich ertönten dumpfe Töne in kurzen Zwischenräumen durch die Nacht. Die Frau fuhr erschreckt auf. »Das sind Notsignale!« rief sie, und noch ehe ich Zeit fand zu fragen, stürzte der Mann ins Zimmer: ein Schiff sei in Not in der stürmischen See und das Rettungsboot müsse hinaus. Rasch zog er sich die großen Wasserstiefel an, warf den Kautschukmantel und die Kappe mit dem hinten den Hals bedeckenden Kragen daran um, eilte nach kurzem, entschlossenem Lebewohl an Frau und Kinder fort dem Ufer zu, wo schon das große Rettungsboot harrte und, bald bemannt, in die tosenden Wellen hinausfuhr. Erschüttert stand ich bei der jammernden Frau, die, nachdem sie ihm ohne Klage geholfen sich anzukleiden, erst nach seinem Weggehen ihrer tödlichen Sorge freien Lauf ließ. »So ist mein Leben, so muß ich ewig in Todesangst sein um ihn,« klagte sie weinend, plötzlich warf sie mir ihren Säugling in die Arme. »Halten Sie ihn mir,« rief sie, »ich muß ihm nach, ich muß ihn abfahren sehen.« Sie nahm den Rock über den Kopf und stürzte hinaus an den Strand, um dem wegfahrenden Boot, so lange es die Dunkelheit erlaubte, nachzusehen, bis es in den sich türmenden Wellen verschwand. Ich blieb zurück in der Hütte mit dem Fischerkinde im Arm, seltsam bewegt von dem kleinen Drama. Das unbedenkliche Einsetzen des Lebens auf den Ruf der Pflicht von seiten des Mannes, die Liebe der Frau, die die stumme Angst um den Gatten, den Vater ihrer Kinder, hinaustrieb in die furchtbare Nacht, nicht um ihn zurückzuhalten – denn das durfte sie nicht und versuchte sie auch [373] nicht – aber um ihn so lange als möglich mit den angstvollen Herzensschlägen zu begleiten, während sie mir, der Fremden, ihr Kind anvertraute – alles das waren so einfache, so wenige Züge, beinahe nur Konturen eines Menschenschicksals, und doch lag eine seltsame Poesie darin, die mich ergriff: die Poesie der Situation, jenes Unerklärlichen, das das Leben zuweilen in besonderen Momenten an uns heranführt, das dichtend zu schaffen aber nur selten und nur dem wirklichen Genie gelingt. Am folgenden Tag, erst um die Mittagszeit, kehrte der Mann auf schon beruhigter See glücklich heim, nach heißer Arbeit, die aber auch den doppelten Lohn, den der völligen Rettung der Gefahrumdrohten und den mäßigen Geldeslohn, der den Rettern wird, mit sich brachte.

Eine gehoffte Freude nur blieb mir während dieses Aufenthaltes versagt, die nämlich, meine kleinen Freundinnen, die Töchter Herzens, dort zu sehen. Ich wünschte mir die Kinder herbei, die mir so lieb geworden waren, und ich wußte, daß sie es auch wünschten. Ich schrieb endlich an Herzen, um zu fragen, was denn der Grund ihres Nichtkommens sei, und sagte halb im Scherz, er könne sich wohl von London, den vielfachen Beziehungen, die er dort habe, und den Anregungen des dortigen Lebens nicht trennen; daß freilich das Leben in Broadstairs für ihn auch kein Interesse biete, weil außer den Klippen und den Wellen nichts da sei. Einige Tage darauf erhielt ich von ihm folgende Antwort:

»Sie haben es mit einem Menschen zu tun, der von einer Fatalität selbst in den einfachsten Dingen verfolgt wird.

Ich weiß nicht, wann wir kommen können. Mein Sohn ist krank: ich hätte Ihnen die Kleinen mit der Bonne schicken können, aber die letztere ist eben jetzt unentbehrlich. Ich werde Ihnen das Ultimatum in einigen Tagen schreiben.

Inzwischen habe ich Ihren Brief erhalten – also Brutus, auch du? Es schien mir, Sie kennten mich besser als irgend jemand in London, und auch Sie denken, daß mir – ja was denn? – daß mir das Café von Very, das Restaurant von Piccadilly, die Regentstreet, die Volksmenge, die Diskussionen [374] nötig sind? Denn im Grunde habe ich doch nichts anderes hier. Sie kennen jetzt unser Leben, es ist zerrissen, wüst, es gleicht einem jener alten verödeten Paläste aus der Vorzeit, in denen nur noch ein kleines bewohnbares Eckchen ist. Was sollte der Reiz sein, der mich an ein solches Leben bände? Es gibt eine Seite in meinem Leben, die ich fanatisch liebe, das ist die Unabhängigkeit – aber dort am Meeresufer würden Sie mich nicht tyrannisieren, denke ich; die andere sind die Kinder, und die wären dort. Nein, Sie durften mich nicht so beurteilen!

Ich habe ein Leben in die Breite gehabt, ein Leben des entraînement und des Glücks – tempi passati! Eine Sache, die mir noch bleibt, ist die Energie des Kampfes – und ich werde kämpfen. Der Kampf ist meine Poesie. Alles übrige ist mir beinahe gleichgültig. Und Sie glauben, daß mir etwas daran liegt, ob ich in London oder in Broadstairs, bei Newroad oder bei Ramsgate bin? – Als wir vor einiger Zeit einmal zusammen sprachen, sagte ich, daß Sie die einzige Person sind, mit der ich nicht nur freimütig über die allgemeinen Dinge spreche (denn das tue ich mit allen Menschen, die ich achte), sondern auch über die intimeren Angelegenheiten. Diese Wohltat wiegt, denke ich, die kleineren Unannehmlichkeiten mit solchem Reichtum auf, daß sie nicht mehr der Erwähnung wert sind.«

Ich antwortete Herzen, fragte nach des Sohnes Gesundheit, erzählte ihm von meinen einsamen Freuden und bat ihn, mir mehrere wissenschaftliche Bücher, die er, wie ich wußte, besaß, zu schicken, unter anderen Moleschotts Kreislauf des Lebens. Einige Tage nachher erhielt ich wieder einen Brief, in dem er sagte, daß die Krankheit noch nicht gehoben sei, und dann fortfuhr: »Als ich Ihren Brief las, habe ich unwillkürlich gesagt: Mein Gott, was sind Sie noch jung in Sein und Gefühl! Alles was Sie sagen, weiß ich auch – aus der Erinnerung – auch ich war in Arkadien geboren! Aber ich habe diese Frische, diese sonorité nicht mehr. Sie gehen noch vorwärts, ich gehe zurück. Der Trost, der mir bleibt, [375] ist meine Liebe zur Arbeit. Nur da bin ich noch jung, da besitze ich mich wieder selbst, wie früher. Moleschott ist sehr Spezialist in dem Buche: Kreislauf des Lebens. Kennen Sie das vortreffliche Buch: »Earth and Man« von Gugot? Dann die Pflanzenkunde von Schleiden? Ich kann Ihnen das alles schicken.«

Er schickte sie mir auch wirklich. Dann aber hörte ich längere Zeit nichts mehr von ihm, und besorgt wegen des Knaben, verwundert über das unerklärte Schweigen und Nichtkommen, fragte ich nach dem Grunde und fügte halb im Scherz hinzu, daß ich doch hoffe, seine gänzliche Hoffnungslosigkeit habe ihn noch nicht dazu geführt, sich totzuschießen. Ich bekam gleich eine Antwort:

»Erstens habe ich Briefe aus Rußland erhalten, in denen man mir einen Besuch von dort hier in London verhieß, den ich mit tiefen Herzensschlägen erwartete. Gestern erst habe ich die Anzeige erhalten, daß dieser Besuch erst im September kommen wird. Zweitens brachte der Morning Advertiser einen Artikel, in dem gesagt wurde, Bakunin sei ein russischer Spion. Der Artikel war F. M. gezeichnet. Man mußte also F. M. eine gehörige Lektion geben und seine Antwort abwarten. Endlich waren allerlei Streitigkeiten der allerunangenehmsten Art. Das war keine Stimmung, um heitere Briefe zu schreiben. Und so ist die Zeit von einem Tag zum andern vergangen.

Sich totschießen? Man tötet sich nicht infolge eines Raisonnements; die Kugel ist kein Syllogismus; nur ein einziges Mal in meinem Leben habe ich an Selbstmord gedacht, niemand hat jemals etwas davon gewußt, ich schämte mich, es einzugestehen und mich jenen Elenden gleichzustellen, die den Selbstmord ausbeuten. Ich habe jetzt keine Leidenschaft mehr, die stark genug wäre, mich zum Selbstmord zu treiben; ich habe sogar einen ironischen Wunsch, eine bloße Neugierde, zu sehen, wie alles gehen wird. Es sind jetzt zwei Jahre her, da schrieb ich eine Widmung an einen Freund und sagte: ›Ich erwarte nichts für mich; nichts wird mich [376] mehr sehr erstaunen, nichts mehr sehr erfreuen. Ich habe so viel Kraft der Gleichgültigkeit, der Resignation, des Skeptizismus des Alters endlich erlangt, daß ich alle Schläge des Schicksals überleben werde, obgleich ich weder lange zu leben, noch bald zu sterben wünsche. Das Ende wird kommen, wie der Anfang gekommen ist, durch Zufall, ohne Bewußtsein ohne Vernunft. Ich werde es nicht zu beschleunigen suchen, noch es fliehn.‹

Diese Zeilen waren in vollster Aufrichtigkeit geschrieben. Denken Sie darüber nach. Sie könnten mir meine Müdigkeit vorwerfen, wenn ich mich beklagte, aber ich beklage mich niemals, außer wenn eine Freundeshand an die schmerzlichen Saiten rührt. Sonst spreche ich von Revolution, demokratischen Komitees, von Mailand, Amerika, der Moldau usw. Ja es gibt Leute, die mich für den zufriedensten Menschen auf der Welt halten, z.B. G... und C...; es gibt andere, die, wenn sie mich nachdenklich sehen, das nur politischem Ehrgeiz zuschreiben, wie z.B. die meisten Polen.

Ja, es kommen noch Augenblicke, wo ein Sturm im Herzen tobt – oh, wie man sich da nach einem Freund sehnt, einer Hand, einer Träne – man hat so viel zu sagen! – dann wandere ich durch die Straßen; ich liebe London bei Nacht; ganz allein; ich gehe und gehe – einen der letzten Tage war ich auf der Waterloo-Brücke, niemand war da außer mir – ich setzte mich lange hin, und mir war das Herz so schwer – ein Jüngling von vierzig Jahren!

Und dann geht das auch wieder vorüber. Der Wein ist für mich eine Gabe des Himmels, ein Glas Wein gibt mich mir selbst wieder ... Aber genug davon! Man kann das alles im ersten besten Roman lesen. Ich liebe es nicht, mich in diesen lyrischen Ergüssen gehn zu lassen.«

Ich antwortete ihm darauf:

»Die klagelose Gleichgültigkeit, in die Sie, einer der wenigen Erwählten der Freiheit, versunken sind, tut mir weh. Das, was Sie sagen, ist eine Seite der Wahrheit, und Sie behalten ganz recht, wenn das Leben wirklich weiter [377] nichts ist als das bloße Spiel einer kalten Notwendigkeit oder eines unbekannten Zufalls, der uns hineinwirft und nach Momenten, wo wir ein Scheinglück von Jugend, Liebe, Schönheit, Geist genossen (alles grausame Täuschungen in dem Fall), uns wieder in das Nichts der Materie entläßt, um aus unseren Atomen neue Nichtigkeiten von Existenzen zu bilden. Solch ein Resultat geben uns der negierende Verstand, die experimentierende Wissenschaft, das verarmte Herz. Danach bleibt nur zweierlei übrig: der Selbstmord mit ruhiger Überlegung, als die freiwillige Beschleunigung der letzten Konsequenz dieser Anschauung, oder die passive, ironisch neugierige Resignation. Ist das Leben nichts anderes als dies ewig wiederkehrende einförmige Spiel der Existenzen, dann dürfte ich weiter nichts sagen, weil die Erzählung jener Stimmungen dann wirklich unnütze lyrische Ergüsse wären, denen nachzugeben eine Schwäche wäre und die zu gar nichts führten. Aber wohl uns! dem ist nicht so; die ewige Poesie des Lebens, die höchste Vernunft, die Einheit, oder wie Sie es nennen wollen, empört sich gegen jenes Vernichtungsurteil und geht siegend aus der Analyse der zersetzenden Kritik, der Einsamkeit des Herzens hervor. Nach solchen Briefen, wie der Ihre, frage ich mich immer, ob ich denn weniger radikal bin als Sie, ob ich noch einen Rest Dogma irgendwo versteckt in mir habe? Aber nein; schonungslos habe ich ja jede Illusion zerstört, die liebsten Bande zerrissen, die angenehmsten Verhältnisse geopfert, als sie mich hemmen wollten auf meinem Weg zur Freiheit. Dennoch finde ich nach jedem noch so bitteren Kampf und Schmerz diese Einheit des Lebens wieder, nicht als einen Glauben, sondern als ein intuitives Wissen. Nein, das Leben ist kein solches Auf- und Untergehn ohne andern Zweck als den der Neuheit, der doch am Ende auch nichts mehr wäre. Freilich, die individuelle Erscheinung und ihre Denkkraft ist an den Organismus gebunden und vergeht mit ihm; aber die Gesamtentwickelung des Bewußtseins wird gleichsam ein Konkretes, ein Geist über der Welt, und schreitet vor zu [378] neuen Idealen, zu dem vollkommeneren Kunstwerk des Daseins, zu dem die vorhergehenden Epochen ihm den Weg gebahnt. Um Zeuge davon zu sein, lebe ich noch gern, mit junger Freude am Leben, das ja für mich persönlich die schönsten Stunden schon begraben hat. Deshalb bin ich so gern mit Kindern, weil sie Erben jener fortschreitenden Zukunft sind, deren Samen ich in sie pflanzen möchte. Darum freute ich mich so heute abend, als ich den Moleschott erhielt, weil in ihm auch ein Teil des neuen Evangeliums verkündet wird, zu dem die Menschheit sich vorbereitet: ewige Transformation; darum freue ich mich bei den Torheiten der Reaktion, nicht um ihrer Schmach willen (das wäre ein elender Triumph), sondern um des unaufhaltsamen Kommens neuer Zustände willen, in denen die Menschheit, sei es auch unter scheinbarer Zerstörung, sicher einen Fortschritt macht. Ja, glauben Sie es nur: jene Stunden, wie die an Waterloo-Bridge, sind die Rache der Vernunft und der Poesie an Ihrem Verstand, der jene unterjochen will.«

Ich mußte mich endlich doch entschließen, meiner geliebten Meereinsamkeit zu entsagen und zu der schweren Arbeit meines Londoner Lebens zurückzukehren. Ich fühlte mich aber gestärkt und ermutigt, denn ich hatte einmal wieder mit mir selbst gelebt, hatte mich in jene objektive Beschaulichkeit versenkt, in der allein uns das Mysterium des Lebens verständlich wird und aus der, als aus dem Gefühl der großen Einheit aller Dinge, uns die Kraft erwächst, die Zerrissenheit des alltäglichen Lebens zu ertragen. Am letzten Abend, da der Vollmond gerade mit silbernem Glanze die Meeresfläche erleuchtete, ließ ich mich noch einmal von meinem Hausherrn im Kahne hinausfahren aufs Meer. Ich kenne kaum einen schönern Naturgenuß, als bei ruhiger See hinauszufahren in die laue Nachtluft, die auf dem Wasser milder ist als auf dem Land und, bald in dem glitzernden Silber, bald auf der dunklen Flut, dahin zu gleiten in die unbegrenzte Weite, still, traumhaft, als ginge es hinaus aus dem Reich der Erscheinung in das ewige Wesen der Dinge. Lange verloren [379] in ein der Musik verwandtes Empfinden, hatte ich im Kahn gesessen und hatte beinahe vergessen, daß die gleichmäßigen Ruderschläge von einem menschlichen Geschöpf herrührten, als mein Fährmann plötzlich das Schweigen brach und anfing, mir zu erzählen, wie er als junger Knabe schon zur See gewesen sei, weite Weltfahrten mitgemacht und viele Nächte unter den Tropen auf dem Meer verbracht habe. Er schilderte mit glühenden Farben die Pracht des südlichen Sternenhimmels, der duftberauschten Luft, die ganzen wollüstig seligen Wunder jener phantastischen Zone. »Aber,« fügte er hinzu, »sobald wir ans Land stiegen, war es mein Erstes, schnell hinzulaufen und irgendwo Zeitungen zu lesen, denn nichts hat mich im Leben so interessiert wie die Politik; Sie müssen wissen, daß ich ein Republikaner bin, und zwar bin ich es nur aus eignem Nachdenken geworden, indem ich die verschiedenen Zustände der Länder, die ich bereiste, miteinander verglich und ausfand, daß die Republik die einzige, freier Menschen würdige Staatsform sei. Ich nehme auch heißen Anteil an all den verbannten Republikanern, die jetzt auf unserer Insel weilen.«

Ich sagte ihm, daß ich auch zu deren Zahl gehöre; da rief er lebhaft, das habe er schon lange bei sich gedacht und schon zu seiner Frau gesagt, ich müsse gewiß eine Republikanerin sein, weil ich so einfach menschlich mit ihnen verkehre. Dann fragte er mich, ob ich Ledru Rollin kenne. Ich sagte: nicht persönlich, wohl aber von Ansehn, und daß ich leicht mit ihm bekannt werden könnte, wenn ich wollte. »Nun wohl,« versetzte er nach einigem Zögern, »so sagen Sie ihm: wenn er je eines zuverlässigen Seemanns bedarf, um im sichern Kahn einen mutigen Mann, der dort das gesegnete Werk vollbringen will, das französische Volk von seinem Tyrannen zu befreien, hinüberzuführen zur französischen Küste, und ihn nach vollbrachter Tat ungefährdet zurückzuführen, so solle er meiner gedenken und mich rufen. Ich sei alle Zeit dazu bereit!«

Aus dem Traumland der schweigenden Meernacht rief mich [380] diese seltsame Eröffnung zurück in die leidenschaftlich bewegte Welt der sogenannten Wirklichkeit, in der die finstern Mächte der fleischgewordenen wütenden Triebe herrschen, die die Tyrannei und in ihrem Gefolge den Mord wecken, zwischen deren finsteren Umarmungen das Ideal nur wie ein flüchtiges Meteor eine Welt erleuchtet, um dann, sich in unbekannte Fernen rettend, zu entfliehn.

5. Kapitel. Die Familie der freien Wahl
Fünftes Kapitel
Die Familie der freien Wahl

Als ich mich wieder dem Dunstkreis näherte, der über der ungeheuren Weltstadt wie ein dunkler Raubvogel über der zu verschlingenden Beute lauert, fiel mir unwillkürlich der Chor aus Fidelio ein, als die Gefangenen zurück müssen in den Kerker und mit schmerzlicher Wehmut singen »Leb wohl, du schönes Sonnenlicht, nun schwindest du uns wieder.« Für den, der in diesem Weltstrom mitschwimmen will, um das goldne Eiland des Gewinns und des Genusses, nach dem die meisten streben, zu erreichen, oder für den, den die Gegensätze, die das Leben so großer Städte bietet, als Studium interessieren, oder endlich für den, der an einem der großen Zentren des politischen Lebens zu weilen vorzieht, für diese alle mag London ein Eldorado sein, zu dem Herz und Sinne mit Sehnsucht zurückeilen. Wem es aber in der Wiege mitgegeben war, lieber den Offenbarungen zu lauschen, die aus Luft und Wellen, aus Vogelsang und grünem Laubwald tönen, oder da zu weilen, wo im ernsten Kampf der Geister die großen Weltgedanken sich der Nacht des Chaos entringen, das sie unserem sterblichen Auge birgt, dem ist die Rückkehr nach London, wenn er, wie ich, in das Tret-Rad des Stundengebens hinein muß, eine Rückkehr aus der Freiheit ins Gefängnis.

Ich fand nur wenige meiner Schülerinnen vor, da es noch weit vom Anfang der Saison war und die meisten Familien noch auf dem Lande waren. Aber im Herzenschen Hause [381] fing ich alsbald meine Stunden wieder an und freute mich der holden Kinder, die mir wahre Blumen in der Wüste waren. Eines Abends führte mich mein Weg am Hause vorbei, und da ich am Morgen nicht dagewesen war, so ging ich hinein, um zu sehen, wie es den Kindern gehe. Ich traf Herzen mit ihnen unten im Eßzimmer und sah, daß er verstört und traurig aussah. Als ich wegging, begleitete er mich hinaus und brach plötzlich in Tränen aus, indem er mir sagte, daß das häusliche Leben sich nicht organisieren wolle, daß er sich Sorgen mache um die Kinder, daß sein Haus eine Ruine sei, und wiederholte mehreremal: »Ich habe es nicht verdient, ich habe es nicht verdient!« – Es erschütterte mich tief, ihn so zu sehen. Es hat immer etwas Ergreifendes, einen Mann weinen zu sehen, um wieviel mehr einen, der äußerst sparsam ist mit Gefühlsäußerungen und im Weltgetriebe so absorbiert scheint, daß man ihn der Empfindlichkeit engeren Verhältnissen des Lebens gegenüber kaum für fähig hält. Zugleich rührte mich aber auch sein Zutrauen zu mir, und als er sagte: »Geben Sie mir Rat!« versprach ich ihm, dar über nachzudenken, was zu tun sei. Zu Hause überlegte ich lange, was ich raten solle. Schon oft hatten die Kinder und die Bonne gesagt, ich solle doch ganz zu ihnen kommen, und hatten Pläne gemacht, wie schön wir dann leben wollten. Von einer Seite war mir der Gedanke lockend gewesen, wenn ich an ein Zusammenleben mit den Kindern in so freien Verhältnissen und an ein Werk der Erziehung, das edle Früchte bringen konnte, statt des traurigen Stundengebens dachte. Dennoch war ich immer wieder davor zurückgeschreckt, denn ich hatte Angst vor jeder neuen, tieferen Anhänglichkeit an Menschen. Die öde Ruhe meines Alleinstehens schien mir jetzt den Leiden, die Liebe bringen kann, vorzuziehen. Ich hatte diese ja in jeder Form und in ihrer ärgsten Bitterkeit kennen gelernt und ihre zerstörende Macht sattsam erfahren. Mein dermaliger Zustand war wenigstens Ruhe und Geistesfreiheit, wenn auch kein Glück. Er glich dem schmerzlichen Wohlgefühl, das der Schiffer empfinden [382] mag, wenn er nach dem Sturm auf hoher See mit zersplittertem Mast, mit zerrissnen Segeln, mit verlorner Habe sich in der Ruhe des Hafens findet. Sollte ich mich noch einmal den Schicksalen, die das Gefühl über uns heraufbeschwört, aussetzen? – da ich mich kannte, da ich wußte, wie tief und ausschließlich mein Herz sich jeder wahren Neigung hingab, so daß, wenn sie zerrissen wurde, auch ein Teil meiner selbst mit abgerissen und mein Leben gefährdet wurde? Hier konnte ja von keinem Gouvernantenverhältnis die Rede sein, sondern es war der Eintritt in die Familie der freien Wahl, es war die Schwester, die zu dem Bruder ging, um ihm die der Mutter beraubten, verwaisten Kinder zu erziehen. So nur wollte ich wenigstens den Schritt tun, so nur oder gar nicht. Die holden Kinderaugen lockten mich wie Sterne, indem sie mir bei der Arbeit auch der Arbeit Segen verhießen. Das geistige Element, das durch Herzens Umgang wieder in mein Leben treten würde, der Austausch, ja auch vielleicht der Kampf der Ansichten, in den sich aber nichts von der Heuchelei zu mischen brauchte, die man mehr oder minder im englischen Leben üben muß, alles das zog mich an. Dazu kam die Rücksicht, daß meine Gesundheit voraussichtlich einen zweiten Winter so angestrengten Stundengebens nicht würde ertragen können. Ich setzte mich also hin, schrieb an Herzen und sagte ihm, daß mich sein Schmerz sehr gerührt habe, und daß der Wunsch, ihm zu helfen, viele andere Bedenken in mir überwöge; ich bot ihm an, die Erziehung der Kinder ganz in die Hand zu nehmen, fügte hinzu, daß ich dazu natürlich ins Haus ziehen müsse, daß ich es aber durchaus als ein Werk der freien Wahl, als eine Pflicht der Freundschaft ansähe, und daß von dem Augenblick meines Lebens im Hause an jede pekuniäre Verpflichtung zwischen uns aufhöre. Zu dem Zwecke würde ich noch einige wenige Stunden außer dem Hause geben, deren Ertrag für meine bescheidenen Bedürfnisse hinreiche, damit ich dann ungestört eine ideale Arbeit übernehmen könne, deren Gelingen ihr einziger Lohn sei. Ich schloß damit, daß es sich von selbst verstände, daß [383] wir beide diesen Vertrag als freie, gleichberechtigte Menschen eingingen, mit voller gegenseitiger Freiheit, ihn zu lösen, wenn es dem einen oder dem andern so besser scheinen würde.

Ich bekam bald eine Antwort. Er schrieb, daß ihm der Vorschlag schon hundertmal auf den Lippen geschwebt habe, daß aber ungefähr gleiche Skrupel wie die meinen ihn bis jetzt zurückgehalten hätten, nämlich die grenzenlose Liebe zur Freiheit und Unabhängigkeit – das Höchste, was nach dem Schiffbruch des Lebens übrig bliebe, und die Angst vor allen menschlichen Beziehungen, die so leicht die traurige Ruhe der einsamen Resignation, der von unzähligen Kugeln durchbohrten Trophäe, die wir aus dem heißen Streit mitbringen, gefährden. »Ich habe vor allen Angst, auch vor Ihnen,« sagte er, fügte dann aber hinzu, »ja, probieren wir es: Sie tun das Höchste für mich, wenn Sie mir die Kinder retten: ich habe kein Talent zur Erziehung, ich weiß es und täusche mich darüber nicht; aber ich bin bereit, in allem zu helfen, alles zu tun, was Sie für nötig und gut halten.«

Nun die Scheu einmal überwunden war, nun drängte er selbst zur Eile, und nach wenigen Wochen zog ich in das Haus. Ich fand manches zu reformieren in Beziehung auf die Kinder, auf die Organisation des Hauses, ja sogar auf die geselligen Verhältnisse, die Herzen um sich hatte aufwachsen lassen, die ihn selbst drückten und oft gar verstimmten und die er doch nicht die Energie hatte zu regeln und seiner bessern Einsicht gemäß zu gestalten. Denn von vornherein begegnete ich diesem Charakterzug in ihm, daß er, der im Prinzipienstreit kein Haarbreit wich, der felsenfest in seiner Opposition war, der an der freiwillig gewählten Arbeit mit einer Ausdauer blieb, wie nur die es tun, denen die Arbeit die heilige Betätigung der innewohnenden Schöpferkraft und kein Berufszwang ist – daß er, sage ich, in den täglichen Lebensverhältnissen scheu vor jedem Eingreifen zurückwich. Er ließ lieber tausenderlei Unannehmlichkeiten über sich hereinbrechen, ehe er mit kräftiger Hand die Dinge um sich her ordnete, und fand sich dadurch oft als den Sklaven [384] der Umstände, während er seine Unabhängigkeit doch fanatisch liebte. In seinem Hause hatte sich ein wahrer Heuschreckenschwarm von russischen und polnischen Flüchtlingen eingefunden. Sie hatten förmlich davon Besitz ergriffen, fühlten sich darin als Herren, und schalteten und walteten, wie es ihnen beliebte; kein Tag, kein Abend war sicher vor diesen Eindringlingen, jedes Familienleben, jedes Zusammensein mit den Kindern, jede gemeinschaftliche Lektüre wurde beliebig von ihnen gestört. Herzen selbst litt am meisten darunter, und oft artete seine Verstimmung bis zum äußersten Mißmut aus. Ich konnte dies nicht billigen, konnte es besonders in Beziehung auf die Kinder nicht dulden und erklärte dies Herzen offen. Wir hatten lange, lebhafte Diskussionen darüber. Ich sagte ihm freimütig, daß ich gekommen sei, ihm seine Kinder, soweit ich es vermöchte, in die rechte Bahn zu lenken, aber ebenso auch den Kindern den Vater zu erhalten und ihnen mit seiner Hilfe die glückliche Heimat zu schaffen, in der allein die Kindheit gedeiht, in der man im Segen den Samen ausstreuen kann, der einst Blüte und Frucht bringen soll. Mit der außerordentlichen Wahrhaftigkeit gegen sich selbst, die auch ein Charakterzug in ihm war, und mit der Freimütigkeit, mit der er stets den von ihm erkannten Mangel eingestand, gab er zu, daß es Schwäche sei, diese Zustände nicht zu ordnen, und gab mir Vollmacht, es zu tun. Ich riet ihm, einfach zwei Abende in der Woche zu bestimmen, wo er die Bekannten sehen wollte, am Tag aber und an den übrigen Abenden mit einem strengen Verbot im Hause ein für allemal Ruhe zu schaffen. Er fand, daß es mit einem Abend genug sei, nahm seine Maßregeln, und bald war in dieser Beziehung um uns Frieden. Natürlich zog mir das alsbald einen Haufen von Feinden zu, die ohnehin mein Kommen in das Haus nicht gern gesehen hatten, da sie den von ihnen dort gehofften Einfluß bedroht sahen. Ich sollte auch nicht ungestraft davonkommen.

Es verstand sich jedoch von selbst, daß vortreffliche Ausnahmen [385] unter jenem in seine Schranken gewiesenen Schwarm sich befanden. Diesen blieb der Zutritt unverwehrt; ihrer edleren Natur nach aber machten sie auch eben keinen Mißbrauch davon. Unter diesen waren mehrere, denen ich später in Freundschaft näher treten sollte; zunächst aber fiel mir vor allen ein Pole auf, dessen Märtyrergestalt mich mit Mitleid und Ehrfurcht erfüllte. Es war dies Stanislaus Worcell, ein Mann aus einer der ersten aristokratischen Familien Polens, an dessen Wiege die Deputationen einiger dreißig Dörfer gestanden hatten, um als Untertanen den Eltern zu seiner Geburt Glück zu wünschen. Er hatte als Kind und Jüngling nur von Silber gespeist, war von Dienern umringt gewesen und im höchsten Luxus aufgewachsen. Doch hatte er nicht versäumt, seinen Geist zu bereichern, und vereinigte in sich eine Fülle von Kenntnissen, die bei ihm zur wahren Bildung geworden waren. Dabei aber war er erfüllt von jenem mystisch-fanatischen Patriotismus, den ich später beim Lesen der polnischen Dichter, Mickiewicz und anderen, noch näher kennenlernte. Polen war der mystische Stern, der der großen edlen Seele Worcells auch hinter den trüben Wolken des Exils, das ihm den bittersten Kelch gereicht und keine schmerzvolle Entsagung erspart hatte, verklärend leuchtete. Reich, angesehen, glücklich verheiratet, Vater mehrerer Kinder, hatte er alles unbedenklich für die Unabhängigkeit des Vaterlands eingesetzt, als die große polnische Revolution kam. Nachdem die Übermacht des fremden Herrschers gesiegt hatte, blieb ihm, wie so vielen anderen, nichts als das Exil. Was es ihm aber bitterer machte als anderen, das war der Verrat von Gattin und Kindern, die, anstatt ihm zu folgen, in das Feindeslager übergingen, wo sie natürlich mit Ehren überhäuft wurden, da der Verräter der natürliche Bundesgenosse des Tyrannen ist und ihn in seinen eigenen Augen rechtfertigt. Wie tief dieses Schwert in Worcells Seele gedrungen sein mußte, bezeugten die tiefen Furchen, die der Schmerz in seinem edlen Antlitz, das von ergrautem Haar [386] und Bart umgeben war, gezogen hatte. Doch kam nie ein Wort der Anklage über seine Lippen; er sprach überhaupt nie von denen, die sich im Glanz der kaiserlichen Gnade zu Petersburg sonnten, während er in Armut und Entbehrung lebte. Er hatte den edlen Stolz des Gerechten, der seine Wunden nicht zur Schau trägt; wie er denn überhaupt nie klagte und stets, wenn man ihm begegnete, der feine, geistvolle, tief gebildete Mann war, der alle modernen Sprachen in größter Vollkommenheit sprach, und dessen scharfe Dialektik, dessen philosophischer Geist, aus dem Quell der mannigfaltigsten Kenntnisse schöpfend, die Unterhaltung zu einer wahren Erquickung machten. Er lebte vom Unterrichtgeben in der Mathematik und in Sprachen und unterrichtete in ersterer auch Herzens Sohn, was ihn viel in das Haus führte. Doch kam er auch außerdem oft hin, da Herzen ihn hochschätzte. Er war der erste, der mit wärmster Sympathie Herzen entgegenkam, als in diesem der längst gehegte Plan zur Reife gedieh, in London eine russische Presse zu gründen, um durch diese gegen den Despotismus in Rußland zu operieren. Sich aus tiefem, persönlichem Leid zu retten, in das er nach dem Tode seiner Gattin und vieler geliebter Menschen versunken war, hatte Herzen den Vorsatz gefaßt, dem geknechteten russischen Gedanken im Auslande eine Zufluchtsstätte zu bereiten. Von da sollte er, unumwunden ausgesprochen, zurückkehren in die Heimat, um der Rächer der Unterdrückten, der Verbreiter von Licht und Aufklärung und der Bote einer besseren Zukunft zu werden. So wie Herzen allein diesen Gedanken gefaßt hatte, so gedachte er auch ihn allein mit eigenen Mitteln ins Werk zu setzen. Ein Pole war es, eben Worcell, der die Tragweite dieses Gedankens zuerst begriff und sich ihm freudig anschloß, indem er Herzen die Mittel, über die die polnische Emigration verfügte, um Flugschriften nach Polen und Rußland hinein zu bringen, zur Verfügung stellte. Wie hätte er als edler, großartiger Mensch auch anders empfinden sollen gegen ein Unternehmen, das sich eröffnete mit dem tiefgefühltesten [387] Bekenntnis dessen, was Rußland an Polen verschuldet, mit der Darreichung der Bruderhand an die Unterdrückten, zum gemeinsamen Kampfe gegen den gemeinsamen Feind, den Despotismus, der auf Rußland wie auf Polen lastete? Ich war dabei, als Worcell aus Herzens Hand das erste, in London in russischer Sprache gedruckte Blatt empfing, und teilte die freudige Rührung beider Männer. Ich sah nun doch wenigstens nach einer Seite hin wieder einen Samen der Freiheit aufgehen, den im freien Albion so leicht nichts hindern konnte, zur Blüte zu gelangen. Lange ehe ich Herzen kannte, hatte sich in mir der Gedanke ausgebildet, daß Rußland und Amerika die nächsten Kulturfelder sein würden, auf denen die sozialistischen Zukunftsideen, die in Europa theoretisch geboren, da nur Kampf und Streit hervorriefen, zur Entwicklung kommen würden. Der Blick auf die Karte hatte mir hauptsächlich diese Überzeugung erweckt. Das alte, in viele Fetzen zerrissene, so individualistisch markierte Europa mußte scharf ausgeprägte Völkerindividuen, schroffe Gegensätze, ganz getrennte Staats- und Lebensformen zur Erscheinung bringen. Der offenbare Zug der modernen Geschichte aber, der auf Massenvereinigung, auf Zusammenwirken vieler Kräfte, auf Assoziation und Verbindung weitester Strecken durch Kulturmittel hinausgeht, schien mir einen geeigneteren Boden zu seiner Verwirklichung in den weiten, nicht durch Gebirge, Ströme und gewaltige Meereinschnitte getrennten Strecken der ungeheuren Kontinente von Amerika und Rußland zu finden. Da schien die Leichtigkeit ackerbaulicher und industrieller Unternehmungen wie von selbst die ungehinderte Vereinigung menschlicher Kräfte dazu aufzufordern, die humanen Theorien der Zeit in das Leben zu rufen. Diese Theorien, die zunächst die unerläßlichsten materiellen Lebensbedingungen für alle als Grundlage einer neuen bessern Zukunft verlangten, negierten den Satz des Malthus, daß nicht alle zum Bankett des Lebens berufen seien. Sie stellten im Gegenteil den Satz auf: Wer arbeitet, soll auch genießen. Seit ich Herzen kannte, hatten sich mir durch seine [388] Mitteilungen über die russische Gemeinde diese Ideen befestigt und entwickelt. Es schien mir, als sei in dieser Gemeinde durch den gemeinschaftlichen Besitz der Erde das furchtbare Problem des Proletariats gelöst, das sich über Europa wie eine gewitterschwere Wolke immer drohender zusammenzieht. Wer genug Erde besitzt, um sich und die Seinigen zu ernähren, braucht nicht zu darben. Damit schien mir das Messer an die eiternde Wunde gelegt, die am Marke des alten Kontinents frißt und seine Lebenskraft verzehrt.

Natürlich mußte mir bei solchen Voraussetzungen das großmütige Unternehmen Herzens von äußerster Bedeutung scheinen. Einem Lande, das in den Grundformen seines Lebens die Bedingung gegen das materielle Unglück der Gesellschaft zu besitzen schien, konnte allerdings weiter nichts fehlen, als die Fesseln eines viel plumperen Despotismus wie der europäische zu zerbrechen und mit dem freien Wort und der Erkenntnis alle die gebundenen Kräfte zum Leben zu wecken.

Nicht bloß Worcell, sondern auch viele andere Personen begrüßten Herzens Werk auf das freudigste. Michelet, der französische Geschichtsschreiber, schrieb infolgedessen: »Welcher Haß hat noch das Recht zu existieren, wenn Polen und Russen sich verbinden?«

Nicht alle Polen jedoch waren so sympathisch, so vortrefflich wie Worcell, und ich sollte bald die Erfahrung des kleinlichen Neides und der Intriguensucht machen, die in dieser Emigration herrschten. Eine polnische Familie, die mit Herzen bekannt war und deren Kinder viel mit den seinen verkehrten, hatte sich eng der deutschen Wärterin der letzteren angeschlossen. Man lud sie häufig mit den Kindern ein, behandelte sie ganz als Ebenbürtige und hoffte wahrscheinlich, so einen Einfluß im Hause auszuüben. Im Anfang benahm man sich auch äußerst zuvorkommend gegen mich; man besuchte mich, lud mich ein und hätte mich vielleicht noch lieber ganz für sich gewonnen. Aber die Familie war mir nicht sympathisch; sie hatte nicht die einfache, stumme Würde des Unglücks wie Worcell. Sie trug das ihre mit [389] Ostentation. Ich konnte mich oft nicht enthalten zu lächeln, wenn der Vater und andere ihm verwandte Polen zu Herzen kamen mit geheimnisvollen Mienen, argwöhnisch umherschauend, mit dumpfer Stimme flüsternd, als fürchteten sie Späher-Ohren und als trügen sie ein Geheimnis, von dem die Geschicke der Welt abhingen, mit sich herum; kurz, sie erschienen »drapés dans la conspiration«, wie ich einmal zu Herzen sagte.

Ich hielt mich etwas von ihnen zurück und suchte auch ein wenig den Umgang der Kinder zu beschränken, da er mir keinen guten Einfluß auf die mir Anvertrauten zu üben schien. Natürlich ward diese ganze Clique von da an mir feindselig. Mit der Wärterin war mein Verhältnis im Anfang das allerbeste. Sie war froh, daß noch ein weibliches Wesen im Hause war, mit dem sie sprechen konnte, das ihre Erzählungen mit anhörte und ihre Teilnahme bewies an den Angelegenheiten, die sie innerlich am meisten beschäftigten, wozu auch eine Herzensangelegenheit in der Heimat gehörte, deren Vertraute ich sogleich wurde. Ich gab ihr nie Veranlassung zur Klage; das Leben im Hause wurde für sie heiterer, denn ich veranstaltete zu Geburtstagen, zu Weihnachten, zu Neujahr kleine Feste für die Kinder, an denen sie natürlich teilnahm und wobei sie sich mehr als alle amüsierte. Ein wirkliches Familienleben fing an im Hause zu herrschen, das alle Hausgenossen als Zusammengehörige vereinigte und gemeinsame Interessen, Bestrebungen, Scherze und Arbeiten hervorrief, wie sie eben ein wohlgeordnetes Familienleben zu haben pflegt und worin sein Reiz und das wohltätige Gefühl der Zusammengehörigkeit bestehen. Es wurden auch gerade in diesem Winter mehrere Kinderkrankheiten durchgemacht, wobei ich meine Pflicht mit der Liebe tat, wie sie nur eine Mutter ihren Kindern erzeigen kann, denn schon waren mir diese Kinder, besonders die beiden Mädchen, innigst ans Herz gewachsen. Meine natürliche angeborene Neigung zum Familienleben trat wieder vollständig hervor. Ich dachte viel über die damals überhandnehmende [390] Tendenz nach, die Familie zu zerstören und sie gleichsam als den Tod der Individualität hinzustellen. Dies gilt nur von der Familientyrannei. Die Familie darf sich allerdings jene Autorität nicht anmaßen, die das Individuum in seiner freien, naturgemäßen Entwicklung hemmt, so wenig wie der Staat dies darf. Beide, Staat wie Familie, sollen im Gegenteil das Individuum darin schützen und fördern, sich seiner allereigensten Natur gemäß zu entwickeln. In der Familie im engern, im Staat im weiteren Maßstabe sollen dem Individuum die Mittel gereicht werden, zu schöner und freier Bildung zu gelangen. Nie aber dürfen Familie oder Staat der freien Selbstbestimmung des Individuums hindernd oder zwingend in den Weg treten. Ist eine Familie religiös und will sie den unmündigen Kindern eine religiöse Erziehung geben, so sei sie frei dies zu tun. Aber das selbständig gewordene Individuum zwingen wollen, bei den anerzogenen Ansichten zu verbleiben, oder es im Widersetzungsfall zu verfolgen, ist Tyrannei. Ebenso kann der Staat Religionsunterricht in seinen Schulen verordnen, aber seine Beamten zwingen, in die Kirche zu gehen, ist Despotismus usw. – Eindrücke und Beispiele sollten die Hauptmittel sein, mit denen Familie und Staat auf die Erziehung der Individuen wie der Völker wirken. Den jugendlichen Menschen umgeben mit schönen Eindrücken, ihm vorleuchten mit edlen, erhabenen Beispielen, und im übrigen die Natur ihren Gang mit innerer Notwendigkeit gehen lassen, ohne sie zu stören: das wäre Weisheit. Je mehr mich die übernommene Pflicht wieder mit allem Sinnen und Denken auf das große Problem der Erziehung hinführte, desto tiefer wurde in mir diese Überzeugung, daß Eindrücke und Beispiele die mächtigsten Hebel einer guten Erziehung sein müssen, nicht aber die Dressur, die das gewöhnliche Gouvernantentum, die gewöhnliche Schulmeisterei, das gewöhnliche Staatswesen mit sich bringen. Wodurch wurde das athenische Griechentum so unsagbar schön? Weil bei den Athenern keine Dressur die freie Anmut der Natur in Schranken legte, weil sie umgeben [391] waren von Eindrücken der Schönheit, weil die Natur sie mit ihrem höchsten Liebreiz, mit Anmut und Erhabenheit zugleich umfing, weil die Kunst in immer steigenden Inspirationen sie dazu führte, das ideale Schöne gleichsam in die Form gebannt zu schauen, weil die Alten, Weisen sich liebevoll in den Geist befreienden Gesprächen zu der Jugend niederließen, weil die Beispiele göttlicher Heroen den jungen Seelen Flammen der Nacheiferung in der Seele weckten. In Sparta, wo die Dressur herrschte, kamen starke, regelrechte Menschen zum Vorschein, aber keine Lieblinge der Götter, wie es die Athener waren.

Die sehr originellen Naturen, die ich zu erziehen übernommen hatte, führten mein Nachdenken nun auf spezielle Fälle, und ich suchte ihnen die Theorie so weit es ging anzupassen. Zunächst war es freilich die älteste Tochter, mit der ich mich am meisten beschäftigte, deren Unterricht ich ganz allein übernahm und deren schon sehr ausgeprägte Natur ich mit Sorgfalt studierte. Aber mit grenzenloser Zärtlichkeit schloß ich auch das kleinste Mädchen in mein Herz, die noch zu klein war, um zu lernen, die sich aber auch mir mit einer in einem so kleinen Wesen wunderbaren, fast leidenschaftlichen Liebe anschloß. Dies gab die erste Veranlassung zu Äußerungen eifersüchtigen Mißmuts von seiten der Wärterin, die für dieses Kind, das bis dahin ihr ausschließlich überlassen gewesen war, eine besondere Vorliebe zeigte. Ihr Benehmen gegen mich fing an sich völlig zu verändern. Ich schrieb das zuerst auf Rechnung dieser kindischen Eifersucht. Bald aber sah ich, daß wohl noch mehr dahinter war, und erlangte die Gewißheit, daß jene Polen allerlei Argwohn in ihr wachgerufen hatten, der sich in der traurigsten Art gegen mich kundgab, teils durch Verstimmungen, teils durch Zurückziehen, durch früheres Sich-Entfernen mit den Kindern, die noch nach der ersten Anordnung des Hauses mit ihr zusammenschliefen usw. – Ich suchte anfangs die Sache zu ignorieren und blieb nach wie vor freundlich. Endlich aber wurde auch ich gereizt, da dies Benehmen entschieden [392] anfing, auf meinen ältesten Zögling einzuwirken: sie wurde scheu und mißtrauisch gegen mich, stellte sich auf die Seite der Wärterin, machte ihre Arbeiten schlecht oder unlustig, und wurde, wie ich sehr wohl bemerkte, ebenfalls von den Polinnen beeinflußt. Dazu kam, daß die Wärterin bisher jede Anordnung hinsichtlich der Kinder in Händen gehabt hatte und diese, da Herzen darin durchaus keine festen Bestimmungen getroffen hatte, auch behielt. Sie hatte daher genug Gelegenheit, mir die Kinder zu entziehen und immer noch ihr Leben fast nach ihrer Willkür einzurichten. Ich machte endlich, da ich einsah, daß mein Einfluß auf die Kinder nichtig würde, wenn das so fortginge, Herzen darüber Mitteilungen. Ich verlangte von ihm ein bestimmtes Ordnen der Verhältnisse, ehe das Übel um sich griffe und zu unheilbaren Verstimmungen führe. Wieder trat mir da seinerseits jenes vorhin erwähnte Schwanken entgegen, jene Scheu, in die Verhältnisse zu rechter Zeit einzugreifen, um künftigen Übeln vorzubeugen. Es war dies ein ganz nationaler Zug in ihm, den ich bei vielen Russen wiedergefunden habe. Er verleiht ihrem Leben etwas an den Zufall Hingegebenes, etwas Schwankendes, und macht wohl eine der Hauptverschiedenheiten ihrer Naturen gegen die des westlichen Europas aus, sowie er einer von den Antagonismen ist, die ihnen das deutsche Wesen mit seinem festen, ordnenden Vorbedacht antiphatisch machen. Herzen sah die Sache an, begriff sie nicht, meinte, das würde sich ausgleichen, und ließ es gehen. Leider kam es nicht so. Die unangenehmsten Szenen folgten; die Wärterin fing an Krämpfe zu bekommen, wenn ich mich längere Zeit mit dem kleinen Mädchen beschäftigte und wenn diese, deren lebhafte Phantasie und empfängliches Wesen angezogen wurden durch die Anregungen, die ich ihr gab, in feuriger Neigung sich an mich anschloß. Endlich sah denn doch auch Herzen, daß es nicht mehr ging, und daß er zu wählen haben zwischen ihr und mir. Ich stellte es ihm durchaus frei, unser Verhältnis zu lösen, wenn es ihm schwer falle, die einmal eingewohnte Dienerin zu entlassen. Davon [393] wollte er aber nichts hören, und so entschloß er sich endlich, sie in schonendster Weise gehen zu heißen. Ich stand ihm darin völlig bei, da ich immer selbst tausendmal lieber Opfer brachte, als sie für mich oder um meinetwillen bringen ließ. Es tat mir auch innigst leid, dies Wesen, die jetzt schon reuevoll anfing, ihr Unrecht einzusehen und nach Art beschränkter Naturen einlenken wollte, da es zu spät war, zu betrüben und von den Kindern zu trennen, da sie diese nach ihrer Art liebte. Dennoch fühlte ich, daß hier etwas Höheres auf dem Spiele stand, nämlich das Wohl der Kinder und mein Einfluß auf sie, und so blieb ich fest, wie viel es mich auch kostete. Nach ihrer Abreise nahm ich die Kinder zu mir und richtete mir mein Leben mit ihnen nach meinem Sinn ein. Wieder ward es Frieden um mich her, obwohl in der ältesten meiner Zöglinge jene polnischen Mißtöne noch eine Zeitlang fortklangen und mir manches zu schaffen machten, was ich aber mit der Zeit schon zu überwinden hoffte.

Es trat eben damals in unser engstes Leben ein russisches Ehepaar ein, das zur Zeit, als Herzens Familie noch vollständig war, in Nizza mit ihr zusammen gewesen war. Es waren dies wieder eigentümliche Typen, die aber, er besonders, eine ganze Generation repräsentierten – jene Generation, die schon nach Herzens Entfernung aus dem Vaterland in das Alter der Tat eingetreten war und sich durch mehrere, natürlich mißlungene Verschwörungen bekannt gemacht hatte. Herr E... war ein Freund Petrascheffskis, der (nach dem Zeugnis aller, die ihn kannten, ein ausgezeichneter Mensch) als das Haupt einer dieser Verschwörungen gefangen und nach Sibirien geschickt worden war. E..., kränklich, bis zur äußersten Reizbarkeit nervös, war einer von den ganz theoretischen Menschen, wie sie auch Herzen schon unter seinen Zeitgenossen gefunden und geschildert hatte. Mit scharfem, zersetzendem Verstand, glänzender Dialektik, philosophischem Scharfsinn begabt, brachte er es mit diesen dennoch durch die gänzliche Lähmung jeder Tatkraft unter dem unsinnigen [394] despotischen Druck zu nichts anderm, als zu bitterer Ironie und zur furchtbarsten Skepsis in allem und jedem. Letztere trat um so unheilbringender hervor, als daneben das Bewußtsein der Befähigung einen gewissen Anspruch erzeugte, den kein Erfolg rechtfertigte. In der Herzenschen Generation war, außer all jenen oben genannten Eigenschaften, eine große poetische schöpferische Kraft, die viele rettete; so, außer Herzen selbst, Turgeniew, Belinski, Lermontoff und andere. Wem es »ein Gott gab, zu sagen, was er leide«, der konnte seinen Schmerz wenigstens hinüberretten in eine reinere Region. Wem das aber versagt war, der mußte ein »traurig freudlos Leben« führen, und es war nicht zu verwundern, wenn die Russen im allgemeinen sich im Lethe des Weins Vergessen tranken, wie es, den Turgeniewschen Novellen nach zu urteilen, allerdings durchgehends auch im Volk der Fall sein mußte. Ich hatte E... sehr gern und unterhielt mich häufig mit ihm, weil es eine wahre Gymnastik des Geistes war, mit ihm zu diskutieren oder zu streiten. Sein Witz und Spott amüsierten mich, denn er vernichtete mit diesen scharfen Waffen nur das Vernichtungswerte, aber niemals das Schwache, Hilfsbedürftige. Im Grund seines Herzens war unter allem Hohn und bitterem Zweifel doch ein echt menschliches Fühlen übrig geblieben. Er konnte kein Tier leiden sehen und kannte sich nicht vor Wut, wenn er eines mißhandelt sah. Seine Frau zog mich weniger an; sie war schön, kalt, stolz, klug, positiv und doch mystisch – ein seltsames Gemisch von Eigenschaften. Aber ihr Mann liebte und verehrte sie unaussprechlich. Beide Gatten waren nun die häufigen Gäste im Hause, besonders da sie auch die Kinder sehr liebten und ihnen viel von ihrer Mutter erzählten, die sie gekannt und hoch verehrt hatten.

Außer ihnen kamen jetzt häufig Mitglieder der französischen Emigration, aber nicht des doktrinär-republikanischen Teils, an dessen Spitze Ledru-Rollin stand, sondern der sozialistischen Partei, als deren Haupt Louis Blanc damals angesehen wurde. Dieser gab uns oft Anlaß zum Lachen, [395] indem die kleinste Herzen ihn wegen seiner knabenhaften Gestalt für einen Spielkameraden nahm und ihm deshalb ihre besondere Gunst zuwandte, er aber darüber so geschmeichelt war, daß er sich gleich nach dem Kind erkundigte, sobald er kam und oft halbe Stunden lang mit ihr au volant oder sonst ein Spiel spielte. Ja er war sogar so eingebildet auf diese Eroberung eines drei Jahre alten Mädchenherzens, daß er ernstlich böse wurde, als einer der andern Franzosen ihm einmal spottend sagte: »Mein Gott, Louis Blanc, Sie werden sich doch nicht einbilden, das Kind sei in Sie verliebt? Das gilt ja nur Ihrem blauen Rock mit den schönen gelben Knöpfen.« Er trug nämlich immer einen blauen Frack mit großen gelben Knöpfen darauf. Die kleine Anekdote war sehr bezeichnend für ihn; er war unendlich eitel und glaubte sich einen großen Mann trotz seiner Körperkleinheit. Doch muß man, um gerecht zu sein, sagen, daß er wirklich liebenswürdig war und seine Bedeutung ganz sich selbst verdankte. Er besaß nicht nur ein großes Talent als Historiker, sondern auch eine tiefe, logisch entwickelte Überzeugung, die er zwar stets mit rhetorischem Schwung auch im intimen Gespräch, aber doch ohne jenen Schwall von revolutionären Phrasen vortrug, durch den die meisten seiner Landsleute sich auszeichneten. Auch er war ein Doktrinär und sein System hatte sich bereits als unhaltbar erwiesen, aber er war geistvoll und verteidigte seine Theorie mit großer Gewandtheit und Hartnäckigkeit, wenn Herzen ihm auch oft auf das schärfste ihre Mängel nachwies. In allen diesen oft heißen Verhandlungen blieb er aber stets, trotz seiner doktrinären Rechthaberei, der vollkommene gentleman, und wenn er in der Diskussion heftig und halsstarrig war, so war er unmittelbar nachher liebenswürdig, freundlich und erzählte mitunter ganz reizend die allerkomischsten Anekdoten. In vertraulichen Gesprächen liebte er es sehr, von seinem Leben mit den französischen Arbeitern zu sprechen und Züge von der Liebe zu berichten, die sie ihm stets bewiesen hätten. So unter anderem erzählte er, wie er einmal mit [396] einem Mitgliede der provisorischen Regierung vom Jahre Achtundvierzig spazieren gegangen sei und bemerkt habe, daß ein Mann in einer Bluse ihnen in einiger Entfernung hartnäckig folgte. Welche Wendung des Wegs sie auch einschlagen mochten, der Mann folgte ihr auch. Eine arme Frau trat heran und bat Louis Blanc um ein Almosen. Er suchte in der Tasche und fand, daß er keine Münze habe. Da trat der Mann in der Bluse rasch hinzu, legte ihm einige Sous in die Hand und sagte: »Es soll niemand sagen können, daß Louis Blanc einen Armen ohne Almosen von sich gelassen habe.« Es stellte sich nun heraus, daß immer einer der Arbeiter ihm folgte, wohin er auch ging, um über ihn zu wachen und stets zu seiner Hilfe bereit zu sein.

Einer der wenigen Franzosen, die Louis Blanc trotz aller Anerkennung in der Diskussion entgegen zu treten wagten, wurde bald ein täglicher Gast im Hause. Es war dies Joseph Domengé, ein noch ganz junger Mann, aus dem südlichen Frankreich gebürtig, der Sohn unbemittelter Eltern, der, von diesen in früher Jugend schon in das Chaos des Pariser Lebens entlassen, seinen Weg allein hatte suchen müssen und sich mit dem ganzen Ungestüm einer begeisterten Seele in die Revolution gestürzt hatte. Die Folge davon war auch für ihn das Exil und die Armut. Herzen hatte ihn eines Abends bei einem gemeinschaftlichen Bekannten getroffen und war von dort mit ihm weggegangen, so in Gespräche vertieft, daß sie die halbe Nacht in den Londoner Straßen umhergeirrt waren, ohne enden zu können. Am folgenden Tag erzählte mir Herzen von ihm und sagte: »Unter allen Franzosen, die ich kenne, habe ich noch keinen so freien Menschen und so denkenden philosophischen Kopf gefunden wie diesen.« Ich lernte ihn auch bald darauf kennen, und er machte mir einen so gewinnenden Eindruck, daß ich Herzen vorschlug, ihn für seinen Sohn als Lehrer zu nehmen. Seinem edel schönen Äußeren entsprach auch die hohe Intelligenz, sein mutiger, freier Blick, der ihn über alles konventionelle Denken hinweg hob und vorurteilsfrei die Natur der Dinge [397] betrachten ließ. Er hatte kein philosophisches System a priori angenommen, aber seine ganze Art zu sehen war philosophisch, und mit unerschrockener Kritik begegnete er den Theoremen, mit denen seine Landsleute, jeder in seiner Weise, die Welt von oben herab beglücken wollten. Er hatte studiert und schien mir in jeder Weise geeignet, den heranwachsenden Jüngling zu leiten. Herzen war derselben Ansicht, und Domengé kam von nun an täglich mehrere Stunden in das Haus zum Unterricht. Er blieb dann meist auch zum Essen, wodurch die Unterhaltung immer mannigfaltiger und angeregter wurde.

Ein anderes Mal sagte mir Herzen: »Nun bereiten Sie sich vor, einen sehr merkwürdigen Menschen kennen zu lernen, der mich eben besucht hat, ich habe ihn auf den Abend eingeladen.« Den Namen dieses Menschen hatte ich schon gehört; es war vielfach von ihm die Rede gewesen wegen eines Duells, das er mit einem Anhänger Ledru-Rollins gehabt und in dem er seinen Gegner erschossen hatte. Infolgedessen hatte er vor dem englischen Schwurgericht gestanden, und es hatten sich bei der Verhandlung sonderbare Unredlichkeiten ergeben, die seine politischen Gegner gegen ihn verübt hatten. Sein Name war Barthélemy; er war ein einfacher Arbeiter aus dem heißblütigen Marseille, hatte schon in früher Jugend zu der geheimen Gesellschaft der Marianne gehört, die damals in Frankreich revolutionäre Zwecke verfolgte, war in dieser durch das Los bestimmt worden, Rache an einem Polizeisergeanten zu nehmen, der sich an einem Mitglied der Gesellschaft vergangen hatte, hatte ihn, wie ihm befohlen, getötet, war gefangen genommen und zum Bagno verurteilt worden. Bald darauf brach die Revolution von Achtundvierzig aus. Er wurde aus dem Bagno befreit, kämpfte in den Juni-Tagen mit Löwenmut auf seiten der Arbeiter und entkam nur mit Mühe und unzähligen Gefahren neuer Gefangenschaft und dem Exil in Cayenne, gegen das denn doch das Exil im freien England, trotz Armut und Entbehrung, eine beglückende Rettung war. Ich war wohl begierig, diesen Menschen zu sehen, dem schon in der Jugend so wilde [398] abnorme Schicksale begegnet waren, doch hatte ich auch ein geheimes Grauen vor ihm, dessen Hand schon mehr als einmal den Tod gegeben hatte. Wie war ich erstaunt, als Herzen mir am Abend einen Menschen von feiner, ruhiger Haltung vorstellte, der sich äußerlich in nichts von jedem andern Herrn der Gesellschaft unterschied, und als er mich mit einer Stimme anredete, deren tiefer, musikalischer Wohllaut eine unwiderstehlich sympathische Wirkung ausübte. Dieser Wilde war zurückhaltend, bescheiden, ja fast schüchtern, durchaus edel in Bewegung und Benehmen. Nur in dem dunklen Auge, das in dem melancholischen Gesicht unter der gedankenvollen Stirn hervorleuchtete, blitzte es zuweilen wie das ferne Wetterleuchten eines drohenden Sturmes, der mit vernichtender Gewalt im gegebenen Moment losbrechen wird. Er wurde in der Diskussion nie heftig, schrie nicht wie die anderen Franzosen, deklamierte nicht wie sie, hatte keine akademische Rhetorik des Vortrages, sprach überhaupt nicht viel. Aber wenn er sprach, dann verstummten nach und nach die andern. Die tiefe, wohllautende Stimme tönte allein klar und bestimmt über dem verhallenden Chaos und sprach Meinungen aus, die wie aus Stein gemeißelt schienen, so unerschütterlich schienen sie fest zu stehen. Nur selten zitterte ein ferner Klang der Leidenschaft in dieser Stimme, der es verriet, daß seine Gesinnung nicht nur überhaupt zur Tat werden könnte, sondern auch zu solch rascher Tat, daß sie ihn vielleicht selbst gereuen würde. Ich war so ergriffen von der Bekanntschaft dieses Menschen, daß Herzen, obgleich er ihn selbst sehr bedeutend und anziehend fand, über meinen Enthusiasmus lachte. Noch in Deutschland war ich daran gewöhnt gewesen, mit sehr unterrichteten Arbeitern zu verkehren, die die sozialen Fragen mit Ernst und Nachdenken behandelten; aber eine so harmonische Durchbildung wie bei Barthélemy, ein so völliges Heraustreten aus seiner Sphäre durch Anstand und Benehmen, wie bei ihm, hatte ich noch nirgends gefunden. Er flößte mir eine Achtung vor dem französischen Arbeiterstand ein, die mich berechtigte, [399] anzunehmen, daß alles Heil der Zukunft in jenem Lande lediglich in diesem Stande ruhe. Ich ahnte damals noch nicht, daß es möglich sein würde, daß das Kaiserreich zwanzig Jahre dauern, mit seinem demoralisierenden Einfluß auch diesen Stand gründlich verderben und zu den traurigsten Konsequenzen seiner damaligen Theorie führen könnte.

Außer diesen drei hervorragenden Individuen waren mir die übrigen Mitglieder der französischen Emigration, die zu Herzens Abenden zu kommen pflegten, nicht nur uninteressant, sondern fast unangenehm durch ihre Phrasen, durch ihre ewigen Wiederholungen desselben Themas. Freilich war es ja überhaupt nur immer die Individualität, die in allem den Ausschlag gab. So wie es in all den verschiedenen Nationalitäten, die das Schicksal hier zusammengeworfen hatte, des Gleichgültigen, des Verkehrten, ja des Widerwärtigen genug gab, so gab es auch überall schöne, hervorragende Gestalten, die mit der Menge versöhnten. Darin unterscheidet sich ja überhaupt der Mensch von der Natur; diese letztere interessiert sich nur für die Gattung und ihre Erhaltung, sie wirft das kostbarste Individuum, das körperliche und geistige Schönheit hoch über die andern stellt, mitleidlos in dieselbe Grube mit dem, der sein völliges Gegenteil war – aber dem Menschen ist nur das Individuum hochbedeutend; nach ihm mißt er die Bedeutung der Jahrhunderte, ihm reicht er den Kranz der Unsterblichkeit, in ihm liebt er die Menschheit.

Auch aus der italienischen Emigration wurden mir in Herzens Haus einzelne Persönlichkeiten näher bekannt und lieb. Mazzini sah ich damals nicht, denn er ging abends nie aus, außer in seinen nächsten englischen Freundeskreis, wo ich nicht bekannt war. Dagegen kam sein einstiger Kollege im römischen Triumvirat, zugleich sein Schüler und Freund, Aurelio Saffi, öfters zu uns. Herzen liebte ihn außerordentlich, und Saffi neigte sich immer mehr und mehr Herzens Anschauungen zu, die freilich wesentlich von denen Mazzinis abwichen. Mazzini hatte ein Dogma, allerdings ein schönes, reines, aber doch ein Dogma, zu dem er die Welt [400] bekehren wollte und an dessen Unfehlbarkeit und endliche Verwirklichung er glaubte. Herzen hatte den Fanatismus der Freiheit, er wollte die unbegrenzte Entwickelung aller Möglichkeiten und haßte und negierte deshalb die bestehenden tyrannischen Gewalten, die versteinern wollen. Er würde auch die Republik negiert haben (und tat es schon damals mit der französischen Republik von Achtundvierzig), wenn diese zum bindenden Dogma für den Gedanken hätte werden wollen. Saffi fing auch an einzusehen, daß es eine Unmöglichkeit sei, von der Emigration aus dem Vaterland Gesetze und den Gang seiner Entwicklung vorschreiben zu wollen. Anstatt zu konspirieren, wandte er sich einer bestimmten Tätigkeit im Lande des Exils zu, da ihm seine Vermögensverhältnisse keine Unabhängigkeit boten. Nach einiger Zeit erhielt er einen Ruf an die Universität in Oxford, dem er folgte. Er war ein literarisch hochgebildeter Mensch, eine poetische, träumerisch melancholische Natur. Stundenlang konnte er sitzen, ohne nur ein einziges Wort zu sprechen. Oft erwachte er, wenn man ihn anredete, wie aus einem fernen Traum. Einmal hatten wir ihn lange einem Franzosen gegenüber sitzen sehen, der ihm alte, von uns allen bis zum Überdruß gehörte Geschichten aus der Zeit der Revolution von Achtundvierzig vortrug, ohne daß Saffi auch nur einmal den Mund zu einer Bemerkung geöffnet hätte. Endlich machte die Essenszeit diesem Monolog ein Ende, und Herzen fragte Saffi lachend, ob er nun gründlich über die Angelegenheiten der Mairie des dreizehnten Arrondissements unterrichtet sei? – Saffi sah ihn erstaunt an und sagte: »Ich habe nichts gehört,« was denn natürlich ein allgemeines herzliches Gelächter hervorrief. Trotz dieser Zerstreutheit und Versunkenheit war er aber eine der liebenswürdigsten Erscheinungen in der ganzen Emigration. Er war nicht zum politischen Menschen geboren, der Patriotismus war ihm eine Poesie, und die Erhebung Italiens hatte den Dichterjüngling ergriffen wie ein verkörpertes Ideal. Noch ganz jung mit dem älteren Freund an die Spitze der römischen Republik gerufen, war [401] sein erstes Begegnen mit der Tat der entzückende Traum eines neu auferstandenen Roms gewesen. Der Traum war zerronnen, und als er erwachte, fand er sich einsam im nebelverhüllten Exil. Das tiefe Leid, das seine Seele füllte, zeigte sich, außer in seinem Schweigen, auch dann, wenn er zuweilen im engsten Kreise plötzlich anfing, Verse zu rezitieren; entweder die unsterblichen Terzinen seines großen Landsmanns, auch eines Verbannten und vom tiefen Schmerz des Exils Erfüllten, oder die am Born des Leidens selbst geschöpften Dichtungen des nach Dante größten und edelsten italienischen Dichters, Giacomo Leopardi. Dann war es, als spräche er aus seiner eigenen Seele, und sein ganzes Wesen erwachte aus der Versunkenheit, die ihm gewöhnlich war. Er liebte Herzen mit fast kindlicher Zärtlichkeit und hörte bewundernd zu, wenn bei diesem die Gedanken sprühten und der feurige Geist die Zuhörer mit fortriß in alle Gebiete des Denkens. Nur Herzens sprudelndem Witze war es gegeben, ihm manchmal ein herzliches Lachen abzugewinnen.

Ganz das Gegenteil von Saffi, und doch auch ein echt italienischer Typus, war Felice Orsini, der, mit Herzen auch schon von Italien her bekannt, ihn jetzt in London aufsuchte. Er war das Bild eines Condottiere des Mittelalters, wie ihn sich die Phantasie nicht besser träumen konnte, eine jener Gestalten, wie sie Machiavell vorschwebten, als er, in objektiver Anschauung seiner Zeit, den politischen Typus aufstellte, den man ihm so sehr verdacht und den man fälschlich für sein Ideal genommen hat. Orsini war schön, ganz anders schön wie der blasse träumerische Saffi. Er war der echte Römer mit der scharf gebogenen Nase, den festgeschlossenen Lippen, den dunklen blitzenden Augen und der hohen Stirn. Seine Gestalt war gedrungen, das Bild der Kraft. Er sprach auch wenig, wie Saffi, aber nicht, weil er träumte oder in andere poesieerfüllte Welten entrückt war, sondern weil er beobachtete, plante, sich nie und nimmer gehen ließ, nie erraten ließ, welches eigentlich der Grund seines Gedankens sei. Er war schon mehreremal im Gefängnis gewesen und [402] erzählte mir, daß er im Gefängnis die »Neue Heloise« gelesen, dadurch zu einer höheren Auffassung des weiblichen Wesens gekommen sei, als er sie früher gehabt habe, und daß er sich nun ganz für die Gleichberechtigung der Frauen erkläre, da er sie in jeder Beziehung dem Manne ebenbürtig erachte. Er kam oft des Abends auf eine Stunde zu gemütlichem Gespräch, beschäftigte sich viel mit den Herzenschen Kindern und sprach mit Wehmut von den zwei kleinen Töchtern, die er in Italien zurückgelassen hatte. Diese gemütliche Seite überraschte sehr in ihm, es war mir die erste Offenbarung der tiefen Familienanhänglichkeit, die in den Italienern ein charakteristischer Zug ist und die man gewöhnlich nicht bei ihnen voraussetzt.

In lebhafte Aufregung wurde die italienische Emigration versetzt durch die Ankunft Garibaldis, der mit einem Genueser Schiff, das er als Kapitän befehligte, aus Südamerika zurückkam, wo er für die Unabhängigkeit der Republiken gefochten hatte. Auch ihn kannte ich bereits aus Herzens Schilderungen, der mit ihm in Italien zusammengetroffen war. Mit Rührung hatte mir Herzen oft erzählt, wie nach dem Tode seiner Frau eine unbekannte Dame mit zwei Kindern gekommen sei und ihm gesagt habe, sie wisse wohl, daß er nicht ihren Glauben teile, aber er werde ihr gewiß nicht versagen, mit den Kindern, die auch die Mutter verloren hätten, am Sarge der Geschiedenen zu beten. Die Kinder waren die Garibaldis, und die Dame war ihre Erzieherin. Zu jener Zeit kannte man Garibaldi nur als den Führer des Heeres der römischen Republik, der die französischen Republikaner (die durch diese Expedition eine jener Schandtaten vollbrachten, durch die sich ihr Erscheinen in Italien so oft traurig ausgezeichnet hat) wahrscheinlich damals zurückgeschlagen und so vielleicht die Geschicke Italiens geändert haben würde, hätte nicht Mazzinis Vertrauen in die Reinheit der republikanischen Gesinnung Garibaldi am energischen Vorgehen gehindert. Es war dies ein Idealismus, den Mazzini und mit ihm Italien schwer büßen mußte. Mazzini selbst [403] erzählte mir später mehreremal, daß es ihm unmöglich gewesen sei zu glauben, daß die französischen Republikaner etwas gegen die römische Republik unternehmen könnten. Es war eine der vielen Täuschungen der Revolution von Achtundvierzig, denen die ganze revolutionäre Generation jener Zeit unterworfen war.

Wenn aber auch seine schönsten Lorbeeren ihm damals noch nicht zuteil geworden waren, so war Garibaldis Name schon neben dem Mazzinis der ersten Sterne einer für das freiheitliebende Italien. Seine neuesten Heldentaten in Südamerika hatten einen romantischen Schimmer hinzugefügt, der ihn wie einen Helden der Vorzeit erscheinen ließ, der auf ferne Ritterfahrten, zur Hilfe der Bedrängten, ausgezogen war. Herzen ging gleich ihn zu sehen, und lud ihn zu Tische bei sich ein. Garibaldis Bild ist seit jener Zeit allen, auch denjenigen, die ihn nicht persönlich kennen, so vertraut geworden, daß man es nicht mehr zu beschreiben braucht. Aber wenn sein Äußeres schon, ohne schön zu sein, einnahm, so tat dies noch mehr der sanfte Ausdruck des guten Auges, das milde Lächeln, die ganze einfache und in ihrer Einfachheit doch so würdevolle Persönlichkeit. Seine Erscheinung war wie der stille Zauber eines schönen Tags, nichts Verborgenes, Geheimnisvolles, Aufregendes, kein stechender Witz, keine blitzende Leidenschaftlichkeit, kein hinreißender Schwung der Rede; er flößte aber eine stille freudige Erregung, eine Gewißheit ein, daß hier ein Mensch vor einem stehe, der in allem wahr sei, bei dem nie zwischen Rede und Tat ein Dualismus obwalten werde, der selbst in seinen Irrtümern noch kindlich liebenswürdig blieb. Seine Unterhaltung war frisch, bewegt, voll liebenswürdiger Einfachheit wie sein Wesen und durchweht von einem poetischen Hauch, mit dem er seine Erlebnisse in Südamerika erzählte, den Guerillakrieg, den er da geführt, wie er mit den Seinen unter dem Sternenhimmel geschlafen, wie sie wirklich noch im alten, edlen Waffenkampf dort von Mann zu Mann gekämpft. Man glaubte einen Helden Homers zu hören, und wohl begriff [404] man es, wie seine Anita, von unauslöschlicher Liebe ergriffen, ihm in heldenkühner Treue nachfolgen mußte bis in den Tod. Ganz zu ihm paßte der Lieblingsgedanke, den er uns mitteilte: es war sein Traum gewesen, daß die ganze Emigration von Achtundvierzig sich auf einige Schiffe begeben sollte, um eine segelnde Republik zu bilden, immer bereit, da zu landen, wo es für die Freiheit zu kämpfen gelte. Er meinte, die Idee wäre durchaus nicht unausführbar gewesen; Genua, das ihm sein Schiff gegeben, würde noch mehrere gegeben haben, und so hätte man auf dem freien Meere ein Asyl der Freien gründen können, wie es auf dem Festlande nirgend möglich war.

Nach Tisch kamen mehrere Italiener, die sich von Herzen diese Erlaubnis erbeten hatten, um Garibaldi über seine Ansichten und seine jetzigen Ideen für Italien zu befragen. Er setzte ihnen einfach und klar seinen Standpunkt auseinander. Er bevorwortete zunächst, daß er keinem erlaube, an seiner echt republikanischen Gesinnung zu zweifeln, und setzte dann hinzu, daß es ihm klar sei, daß der Weg zur Einheit Italiens nur durch Piemont und die Dynastie Savoyen gehn könne. Seiner Ansicht nach sollte jeder wahre Patriot für den Augenblick die persönlichen Sympathien und Wünsche hintansetzen, um dieses große Ziel zu erreichen. Er war der Meinung, daß Revolutionen ganz unnütz geworden seien und daß nur im Anschluß an die italienische Regentenfamilie, die sich immer den liberal-patriotischen Bestrebungen geneigt gezeigt hätte und leicht auch die Sympathien des übrigen monarchischen Europas für sich haben würde, ein erfolgreiches Handeln möglich sei.

Die übrigen Italiener hörten ihm mit Achtung zu, waren aber nicht alle seiner Meinung. Noch viel weniger war es Mazzini, vor dem er seine Ansichten ebenso klar ausgesprochen hatte. Es stellte sich sogar zwischen beiden damals eine Spannung ein, die erst viel später wieder ausgeglichen wurde. Garibaldi lud uns vor seiner Abreise zum Frühstück auf seinem Schiffe ein. Am bestimmten Tage wurde Herzen durch [405] heftiges Kopfweh verhindert, mitzugehn, und ich ging demnach allein mit Herzens Sohn. Das Schiff lag weit hinaus in dem tieferen Fahrwasser der Themse, und wir mußten vom Ufer aus in einem kleinen Boot hinüberfahren. Beim Schiffe angelangt, wurde mir ein Lehnsessel, mit einem schönen Teppich belegt, vom Bord heruntergelassen, auf dem ich hinaufgezogen wurde. Oben empfing uns Garibaldi in malerischer Tracht; ein kurzes faltiges Oberkleid von grauer Farbe, ein goldgesticktes rotes Mützchen auf dem blonden Haar, Waffen im breiten Gürtel. Seine dunkelbraunen Matrosen, mit den Augen und der Hautfarbe einer anderen Sonne, waren, ebenfalls in malerischem Anzuge, auf dem Verdeck versammelt. Zwei englische Damen, die ich kannte, waren bereits vor mir angelangt. Garibaldi führte uns in die Kajüte, wo ein Frühstück, aus allerlei Seedelikatessen, Austern, Fischen usw. bestehend, serviert wurde. Die herzlichste und liebenswürdigste Unterhaltung herrschte dabei. Zuletzt stand er auf, ergriff ein Glas einfachen Weins aus seiner Heimat Nizza, den er immer bei sich führte, entschuldigte sich, daß er als guter Patriot uns keinen Champagner vorsetze, sagte, er sei ein einfacher Mann und habe nicht die Gabe der Rede, aber er wolle trinken auf das Wohl der Frauen, die mit reiner Hingabe den Männern beiständen, der wahren republikanischen Freiheit den Weg zu bahnen. – Nachher zeigte er uns das Schiff, seine Waffen, die einfachen Gegenstände, die ihn umgaben. Seine Matrosen schienen ihn alle zu vergöttern und man konnte nicht umhin, den poetischen Zauber zu empfinden, der diese Persönlichkeit hier umgab: der schlichte, einfache, freie Held, durch Güte und Gerechtigkeit ein Herrscher über diese kleine schwimmende Republik, die Hilfe seines Arms und seines kriegerischen Talents in ferne Länder zur Erringung der Freiheit tragend, da er dem Vaterland im Augenblick nicht dienen konnte. Kaum hat wohl je ein Mann seit der antiken Zeit sich so mit dem Zauber der Situation zu umgeben gewußt wie er, aber nicht aus Affektation oder um Effekt zu machen, sondern [406] aus der eingeborenen Poesie und Redlichkeit seines Wesens heraus, das allen äußeren Glanz und jede Auszeichnung, die nicht unmittelbare notwendige Folge des inneren Wertes sind, verschmäht, und sich, wie die wahrhaft Freien es tun, immer dahin begibt, wo seine eigenste Natur keine Fesseln zu tragen braucht, sondern im Einklang steht mit der Umgebung. So war er hier auf seinem Schiff, so war er in Südamerika gewesen, so war er später im Kriege und auf Caprera. In dieser Einfachheit und Treue gegen sich selbst liegt der unwiderstehliche Zauber, den er namentlich auf das Volk ausübt und der ihn bereits bei seinem Leben zu einem Helden der Legende gemacht hat. Das Volk in Neapel trägt jetzt schon sein Bild als Amulett, feiert seinen Namenstag nicht mehr um des heiligen Joseph, sondern um seinetwillen und glaubt fest, daß der erste Garibaldi schon lange gestorben ist, daß er aber immer wieder aufersteht und daß es stets einen Garibaldi geben wird.

Es finde hier eine bedeutungsvolle Äußerung Richard Wagners ihre Stelle, die dieser mir später, als die Gunst des Schicksals mir in ihm einen Freund geschenkt hatte, schrieb, nachdem Garibaldi die Einheit seines Vaterlands vollendet hatte:

»Ich hatte mit großem Eindruck wieder im Plutarch Timoleons Leben gelesen, auf das ich ganz zufällig geriet. Dieses Leben hat die ganz unerhört seltene Bedeutung, daß es wirklich vollkommen glücklich zu Ende geht, ein ganz ausnahmsweiser Fall in der Geschichte. Es tut einem wirklich wohl, doch zu sehen, daß so etwas einmal möglich war, ich kann mich aber im Hinblick auf alles übrige Edle nicht erwehren, solch einen Fall eigentlich nur als Lockvogel vom Welt-Dämon aufgestellt zu erkennen. Diese Möglichkeit mußte offen bleiben, um so Unzählige über den eigentlichen Inhalt der Welt in die Irre führen zu können. Stellte diese Möglichkeit sich nirgends einmal dar, so dürfte man fast annehmen, daß es uns möglich sein müßte, auf kürzerem Wege dahinter zu kommen, wohin wir Occidentalen – so scheint es – erst [407] auf sehr langem Umwege gelangen werden. Wie viel Berührungspunkte gab es nun, die mich neuerdings Garibaldi auf Timoleon beziehen ließen. Noch ist er glücklich! Sollte es möglich sein, daß ihm die eigentliche furchtbarste Bitterkeit erspart werden dürfte? Von Herzen wünsche ich es ihm. Doch erschrecke ich oft, wenn ich ihn doch nur als Fliege im großen europäischen Spinnennetze ersehe. Viele Möglichkeiten stehen aber offen. Vielleicht ist die Fliege zu groß und stark.«

Leider war sie es nicht, und auch Garibaldi mußte den bittersten Kelch bis auf die Hefe leeren.

6. Kapitel. Landleben
Sechstes Kapitel
Landleben

Inzwischen war das Frühjahr herbeigekommen. Freudig begrüßte ich den Vorschlag Herzens, London zu verlassen und nach Richmond zu ziehen, das wegen seiner Nähe doch die Vorteile Londons mit genießen läßt, und zugleich in den Spaziergängen an der Themse, in seinem herrlichen Park und dem nahen Kew-Garten, alle Vorzüge des ländlichen Aufenthalts bietet. – Von jeher war mir das Landleben als das wahre Leben erschienen. Die unbegrenzte Liebe zur Natur, die Ruhe und der Frieden, die sie allein zu geben vermag, die große Unschuld, die in ihr herrscht, in der die wilden Triebe noch nicht erwacht sind, die schon bei den Tieren Raub, Mord und Qual zur Folge haben – alles dies ließ mich mit Entzücken darauf hinsehen, nun endlich einmal dieses noch so selten genossenen Glücks teilhaftig zu werden. Dazu freute ich mich, aus dem noch immer zu regen Verkehr im Hause fortzukommen. Freunde und Besucher, von denen ein jeder glaubte, er müsse doch die Ausnahme sein, mit der man die Zeit verbringen könne, waren mir noch immer zu viele. Ich sehnte mich nach Ruhe und Stille, zumal ich alles im Hause hatte, dessen ich bedurfte: für mein Gefühl die Kinder, für meine Tätigkeit die Beschäftigung mit ihnen, Herzens Umgang [408] für meinen Geist. Herzen ging nach Richmond, um ein Haus zu suchen, und als es gefunden war, zogen wir hinaus. Herr E... mit seiner Gattin zogen uns nach. Domengé kam jeden Tag und blieb bis zum Abend, teils Stunden gebend, teils teilnehmend an unseren Spaziergängen, Wasserfahrten usw. – Ich lebte nun mit den Kindern so ganz nach meinem Sinn und erfreute mich an ihrem Gedeihen. Bei der Ältesten verloren sich jene früher erwähnten Mißklänge immer mehr und wir kamen uns herzlich näher. Mit der Kleinen schloß sich das tiefe Liebesband, das uns von Anfang an vereint hatte, immer fester, und oft stand ich abends an dem Bettchen, wo sie schlummerte, und dachte mit wahrem Dankgefühl an die Mutter, die ich nicht gekannt und die mir dies teure Vermächtnis hinterlassen hatte. Ich fühlte all die heiße Liebe, all die Aufopferungsfähigkeit einer Mutter, all ihre brennende Sehnsucht, über solchem jungen Leben zu wachen und es zur schönsten Blüte zu erziehen. Die Grazie dieses Kindes entzückte mich mit den reinsten Hoffnungen für ihre Zukunft; ihre Fehler und kleinen Unarten wurden meine tiefste Sorge und mein Denken ging auf in den großen Problemen der Erziehung und ihrer Anwendung auf den einzelnen Fall. Viele Wochen verstrichen im reinsten Frieden. Dann fing E..., dessen kränkliches, gereiztes Wesen immer einen Gegenstand der Unzufriedenheit und Kritik finden mußte, und, da er nicht im Großen beschäftigt war, sich überall an Details des täglichen Lebens stieß, an, seine Kritik an der Erziehung der Kinder zu versuchen. Er fand, daß ich nicht streng genug sei, nicht genug zurechtweise, meinte, das fröhliche Gelächter und die Ausgelassenheit der Kleinen griffe ihm die Nerven an, wenn er zu uns komme, und was der Klagen mehr waren. Anstatt sich aber direkt an mich zu wenden, klagte er Herzen darüber. Bei diesem bedurfte es auch oft nur eines Anstoßes, um ihn aus der vertrauensvollen Sicherheit, in die er seinen nächsten Freunden gegenüber versank, zur skeptischen Grübelei und dem Sehen von Gespenstern am hellen Tage zu verlocken. [409] Er fing nun auch an, sich zu beunruhigen. Eines Abends, als er, E... und ich allein beisammen saßen, nachdem die Kinder schlafen gegangen waren, brachte er das Gespräch auf die Erziehung. Mit der edlen Offenheit, die ich so hoch an ihm schätzte, verhehlte er mir nicht, daß zwischen E... und ihm die Rede darüber gewesen sei, daß ich zu wenig Gewicht auf die Disziplin in der Erziehung lege. Es entspann sich eine lange Diskussion. Ich setzte meine Ansichten auseinander. Sonderbarerweise war E... nun ganz auf meiner Seite, sagte Herzen, daß er gar nichts von Erziehung verstände, was dieser auch freimütig eingestand, und nachdem wir mehrere Stunden diskutiert hatten, hatte ich eigentlich meine Gegner fast zu dem Bekenntnis gebracht, daß ich recht hätte. Als ich in mein Schlafzimmer im oberen Stock, in dem auch die Kinder schliefen, kam, fand ich die kleine Olga wach, ihr lächelndes Gesichtchen auf beide Händchen gestützt, meiner Ankunft harrend. Sie sah so unbeschreiblich liebenswürdig aus, daß ich E..., der eben die Treppe hinunterging, zurief, doch noch einmal rasch heraufzukommen. Er kehrte um, und Herzen und er stiegen zum zweiten Stock herauf. Ich zeigte ihnen das Kind und sagte ihnen leise: »Skeptiker, die ihr seid, braucht man bei solcher Grazie zu verzweifeln, wenn nicht in einem Augenblick alles gelingt, was nur in Jahren sich entwickeln kann und wenn die Frucht nicht vor der Blüte kommt?«

Sie mußten sich beide des holden Anblicks freuen und gingen lächelnd weg. Am andern Morgen jedoch gab mir Herzen einen Brief, den er mir noch in der Nacht geschrieben. Es war schon öfter zwischen uns Gebrauch gewesen, obgleich wir unter demselben Dach lebten, nach bedeutenden Diskussionen, oder wenn wir einer gegen den andern etwas auf dem Herzen hatten, zu schreiben, da man dem Papier gegenüber freier, besonnener, konzentrierter ist und das eigentlich Bedeutende des zu Sagenden besser zusammenfassen kann. Der Brief lautete:


»Ich will Ihnen schreiben wegen unseres gestrigen Streites. [410] Die Diskussionen führen niemals zu etwas Gutem, man erhitzt und erzürnt sich, die Eigenliebe kommt ins Spiel; man sagt mehr als man fühlt. Zuerst muß ich Ihnen in vollster Wahrheit versichern, daß ich ganz und gar Ihrer Meinung bin in Beziehung auf den Tadel, den Sie und E... gegen mich ausgesprochen haben betreffs meines Anteils an der Erziehung. Ich kenne diese Mängel meines Charakters sehr gut; ich versuche es, mich zu ändern – das ist aber nicht leicht. Ebenso stimme ich vollkommen überein mit Ihrer Theorie und Ihrer Praxis, was die moralische Erziehung und den Unterricht der Kinder betrifft – es wäre also unnütz, darüber noch zu reden. Das unermeßliche Gute, das Sie in diese Ruinen einer Familie gebracht haben, besteht nicht allein in der Reinigung der Atmosphäre um uns her, sondern auch in der Einführung eines Elementes der Gesundheit und Unabhängigkeit, das bewunderungswürdig auf die Kinder gewirkt hat und das ich stets auf das tiefste anerkannt und geschätzt habe.

Es bleibt also die äußere Erziehung, ›die Dressur‹, wenn Sie wollen – allerdings kommt sie erst in zweiter Reihe und doch ist sie eine ästhetische und sozialeNotwendigkeit. In dieser Beziehung finde ich bei Ihnen nicht dasselbe Talent. Und wissen Sie die Ursache? Weil weder Sie noch ich praktische Wesen sind; weil die Welt der Details nicht nur langweilig, sondern auch sehr schwer ist für alle diejenigen, die meist in Gedanken gelebt haben, in den Sphären der Meditation und der Theorien und keine wirkliche Spezialität für die Organisation, Administration und Ausübung der Macht haben. Seien Sie offenherzig und sagen Sie, wenn Sie an die Erziehung dachten, dachten Sie am wenigsten an die Dressur? Und sie entflieht Ihnen, wie sie mir entflieht. Und doch ohne diese Dressur keine Sicherheit, kein Gehorsam, keine Möglichkeit, die Gesundheit zu pflegen oder Gefahren vorzubeugen. Sie werfen mir vor, daß ich quälerisch, hart einschreite, [411] wenn die Kinder zu tadeln sind, und ich beschuldige Sie, daß Sie diese Aufgabe zu sehr mir überlassen. Sie sagen, daß Sie es nachher tun. Das mag sein, öfter, aber zuweilen sehen Sie es auch gar nicht, vielleicht weil Sie keinen Wert auf diese Dinge legen. Die Kinder lieben Sie, Olga liebt Sie leidenschaftlich. Warum gehorchen sie Ihnen nicht immer in dem Maße? Ich sage es offen: weil Sie nicht die Kunst haben zu befehlen, oder die fortwährende Autorität, die in Atem erhält, auszuüben.

E... hat mir auch davon gesprochen, und das war der Anfang unserer Diskussion über Erziehung. Ich habe ihm vorgeschlagen, zusammen mit Ihnen darüber zu sprechen. Aber nicht nur, daß er Sie nicht überzeugt hat gestern, sondern er stimmte dermaßen mit Ihnen überein, daß ich zuletzt nicht mehr dazu schweigen konnte. Ich werde mehr und mehr unbarmherzig gegen meine Freunde, und es waren E...s Bemerkungen, nicht die meinen, die ich Ihnen mitgeteilt habe. Es ist dies ein Aviso, das von unten kommt aus der praktischen Welt. Sie haben eine ungeheure Aufgabe auf sich genommen, die Erziehung ist eine Hingabe, eine chronische Resignation. Sie ist das völlige Aufgehen des ganzen Lebens, und noch dazu muß man für die materielle Seite einen Beruf ad hoc haben. Darum beeilte ich damals nichts, sondern erwartete Ihren Vorschlag, weil ich wußte, welche Last Sie auf sich nähmen. Ich wußte es um so mehr, als Sie sich vielleicht in bezug auf mich täuschten. In Worten und in Romanen sind die Menschen, die ihrem Unglück treu bleiben, die vor dem Schmerz nicht fliehen, die gebrochen sind von schweren Schicksalsschlägen, sehr interessant; in der Wirklichkeit ist das nicht so, da ist das eine Krankheit wie eine andere, und alle Kranken sind kapriziös und unausstehlich.

Als Sie mir Ihre Freundeshand reichten, um die Erziehung der Kinder zu unternehmen, hatten Sie einen doppelten Zweck. Sie haben mir es oft gesagt, Sie wollten mich auch heilen; ich verstehe das und bin tief dankbar für jeden Beweis [412] einer wahren tätigen Freundschaft. Aber es konnte Ihnen nicht gelingen, und dann erst haben Sie eingesehen, daß außer der Sympathie für alle die Dinge, die uns beiden heilig und teuer sind, außer der persönlichen Sympathie – wir dennoch Antipoden sind. Ich suche die Kinder zu erhalten, einziger Rest der Poesie in meinem Dasein, ich arbeite, ich lese die Times, ich liebe meine Freunde aufs tiefste, die wahren, und in diese Zahl gehören Sie, aber diese alle können nichts an der Weise ändern, die mein Wesen einmal genommen hat. Gut noch, wenn auch Sie mit dem Leben fertig wären, dann wären wir wie zwei Schiffbrüchige, die alles verloren haben. Sie aber haben – und das ist vollkommen gerecht – noch Ansprüche an das expansive Leben, an den Genuß, Sie haben noch eine Zukunft, haben noch Wünsche. Und Sie denken, daß meine Seele so egoistisch ist, nicht zu leiden, wenn ich bedenke, wie unerträglich Ihnen das Leben unter diesem verwünschten Dach sein muß? Ich leide um so mehr, als dabei nichts zu ändern ist, denn ich kann ohne Heuchelei kein anderes Leben führen.

Haben Sie an alles das gedacht, als Sie mir den Vorschlag machten, sich auf dieser Galeere einzuschiffen? Nein!

Wie mir das alles schwer auf dem Herzen liegt! Glauben Sie es mir.

Ihr aufrichtiger Freund

A. Herzen


Ich mußte lächeln, als ich diesen Brief las. Woher kamen auf einmal diese Gewitterwolken, dieses tragische Unglück, nachdem seit der Katastrophe mit der Wärterin alles in schönstem Frieden gewesen war? Weil einem krankhaft gereizten Menschen die Lebhaftigkeit fröhlicher Kinder einigemal die Laune verdorben hatte. Dabei erkannte ich allerdings etwas von dem »Antipodentum« unseres Wesens in jener Ungeduld und Verzweiflung, wenn nicht gleich alle Resultate reiften, die Ausdauer und stille Arbeit allein erzielen können. Ich setzte mich hin und schrieb ihm wieder:


[413] »Da Sie diesen Weg eingeschlagen haben, so wende ich mich auch noch einmal zu ihm, weil es wahr ist, daß man dem Papier gegenüber kühler, leidenschaftsloser und präziser ist.

Einem Irrtum Ihrerseits muß ich zuerst entgegentreten, weil es mich wundert und schmerzt, daß Sie mich so durchaus mißverstehn. Ich mache keine Ansprüche an das Leben mehr; aber das Leben macht noch Ansprüche an mich und denen entziehe ich mich nicht. Das Bewußtsein hiervon hielt mich zweimal vom Selbstmord zurück, dem ich mit der ruhigen Gewißheit ins Angesicht sah, daß ich das Recht habe, ihn zu begehen. Nicht im Sturm der Leidenschaft, sondern aus dem allertiefsten Grunde eines unendlichen Schmerzes heraus begriff ich mein Recht, ein Leben abzuschließen, das einen vollen Inhalt gehabt hatte, das ganz und ungeteilt durchlebt war in jedem Augenblick. Neben jenem Recht aber fühlte ich eine andere Forderung: die des Lebens an mich, an meine noch unverbrauchte Kraft, an meinen Geist, der noch begreifen, an mein Herz, das noch mitleiden und trösten konnte. Diese Forderung behielt die Oberhand, und ich suchte sie nun auch ganz zu erfüllen. Da ich nicht gestorben war an meiner Vergangenheit, wollte ich auch nicht an ihr kränkeln. Wie die Alten einst die Vergänglichkeit des menschlich Schönen in unsterbliche Halbgötter verklärten, so begriff ich in heiliger Wehmut an meinen Erinnerungen das Gesetz des Vergänglichen und des Ewigen in unserem Dasein. Wenn es einst soweit ist, so werde ich mich ruhig niederlegen mit dem Bewußtsein, in dem einen oder andern Herzen als ein verklärtes Bild meiner selbst fortzuleben. Mir schrieb kürzlich eine Freundin: ›wie gern möchte ich bei Deinem Tode sein! Du hast das menschlichste Leben gelebt, das ich kenne – Du wirst auch so sterben‹. Was aber meine Ansprüche auf ›Genuß‹ betrifft, so schwöre ich Ihnen zu, daß ich mich oft in dem ›genußreichen‹ bewegten Leben in London herzlich langweilte, mich hinwegschlich aus den tötenden Wiederholungen desselben Themas und aufatmete oben an den [414] Betten der Kinder im Anschauen ihres unschuldigen Schlafs und in der Empfindung reiner, ewig menschlicher Gefühle. In diesen letzten Wochen, als alles so friedlich zwischen uns war, fühlte ich es oft mit wahrem Glück, daß wir anfingen, ein vernünftiges Leben zu führen. Ich empfand die stillen Stunden in inhaltvollen Gesprächen mit wenigen Edlen und das immer schöner aufblühende Leben mit den Kindern als den einzigen Genuß, den ich noch vom Geschick als Belohnung für meine gesunde Treue verlange, den ich mit Dank und Freude empfange, ohne mich eigensinnig dagegen zu sträuben, ohne mich krank zu wähnen, wo ich gesund bin, d.h. noch fähig, das Edelste im Leben zu empfinden, zu geben und zu empfangen.

Als ich den Entschluß faßte, zu Ihnen zu kommen, sah ich eine liebe Aufgabe vor mir und gelobte mir, sie nach besten Kräften zu erfüllen. Ob ich ihr gewachsen sein würde, sagte ich nicht; ich unternahm es im Gegenteil nur auf gegenseitige Probe. Daß meine Aufgabe eine doppelte war, ist gewiß; sie konnte nur für die Kinder gelingen, wenn ich auch Sie mit dem Leben versöhnte. Aus dem ersten überraschenden Gelingen gingen die Hindernisse hervor, die mir nachher eine Zeitlang das Leben verbitterten. Vielleicht waren auch Fehler meinerseits dabei, ich wollte ja damals auch gehen: Sie willigten nicht darein, und ich blieb. Im Anfang habe ich selbst manche Bedenken, manche schwere Stunde wegen der Kinder gehabt und gezweifelt, ob meine Kraft der Aufgabe gewachsen sei. Jetzt glaube ich fest, daß ich mein Ziel erreiche und zwar so, daß durch die allmähliche Veredelung ihres Wesens und durch ein beständig gutes Beispiel die Kinder von innen heraus sich zum Schönen bilden werden. Zu dieser Bildung halte ich es für notwendig, jede unschöne Szene zu vermeiden, und mir scheinen Korrekturen in Gesellschaft vor vielen entsetzlich verletzend: entweder demütigen sie zu viel und rufen einen inneren Widerstand hervor, oder sie befördern die Heuchelei, d.h. das Streben, sich vor andern besser zu zeigen, als man ist, nur [415] um in ihrer Gegenwart nicht zurechtgewiesen zu werden. Vielleicht habe ich Unrecht, aber ich kann Beispiele anführen, wo ich viel wirksamer auf meine Weise gewesen bin, als wenn ich anders gehandelt hätte. Ich glaube, zwischen dem wirklichen Erzieher, dem Bildner und seinem Zögling, sollte ein solches Verständnis herrschen, daß ein Blick genügte, den letzteren aufzuklären über das Unzulässige, was er getan. Soweit bin ich bereits mit Natalie, und nach den Schwierigkeiten, die man uns zusammen in den Weg gelegt hat, finde ich, daß ich schon viel mit ihr erreicht habe. Sie arbeitet, wo sie lieber spielte, sie unterläßt manches, wenn mein Blick ihr sagt, daß es zu tadeln wäre. Bleibt nun auch noch vieles zu wünschen übrig, so wird das schon werden. Mir selbst sind unschöne Manieren furchtbar, nur müssen die guten eben nicht Dressur, sondern die Blüte sein, die dem organisch zum Edlen und Schönen entwickelten Wesen allmählich entsteigt, denn dann erst sind sie wahrhaft gut und im harmonischen Einklang mit dem ganzen Menschen. Wenn das Kind aber einmal ein wenig Kaffee umgießt oder dergleichen, so ist das eine Ungeschicklichkeit, die sie fühlen muß, die aber doch nicht so arg ist, um darüber eine Szene zu machen, besonders wenn den erwachsenen Personen manchmal dasselbe passiert. Ebenso wenn Olgas übermütige Natur zuweilen über die Stränge schlägt, oder wenn sie eigensinnig ist, so ist das für die Erwachsenen einen Augenblick lang vielleicht unangenehm, besonders für die, die vergessen haben, daß das Kind sein eignes Leben hat und seinen Kampf durchmachen muß, so gut wie der erwachsene Mensch. Aber was dagegen geschehen muß, läßt sich weit besser mit Ruhe und Konsequenz tun als mit Heftigkeit. Die weckt nur die Opposition im Kinde und verlockt es zu unschönen Äußerungen, weil es ein gewisses Recht fühlt, sein Wesen kundzugeben. E... z.B. fordert die Kleine immer heraus, und sie ist immer unartiger, wenn er da ist, während sie bei seiner Frau und mir reizend ist. Was die Gesundheit betrifft, so blühen und gedeihen die Kinder ja gottlob prächtig, und [416] wenn man auch nicht allem Unglück vorbeugen kann, so ist ihnen bis jetzt doch glücklicherweise auch nicht der leiseste Unfall zugestoßen. Ich glaube, daß man recht gut über Kinder wachen kann, ohne sie in jedem Augenblick die ängstliche Aufsicht fühlen zu lassen, die sie jeder Selbständigkeit beraubt und sie entweder furchtsam oder leichtsinnig macht, indem sie sich auf die immerwährende Aufsicht verlassen. Das Kind frühzeitig an die eigne Besonnenheit gewöhnen, durch die es Gefahren vermeidet, scheint mir unerläßlich, um freie, sichere Menschen zu bilden. Das geschieht aber viel besser, wenn sie nicht unaufhörlich fühlen, daß sie bewacht sind. Ich glaube sogar, daß dies das einzige richtige Verfahren nicht nur in physischer, sondern auch in moralischer Hinsicht ist.

Sie wissen indes, lieber Freund, daß, wenn es Ihnen zu langsam geht, wenn Sie nicht glauben, daß ein Einfluß, der moralisch und geistig richtig fördernd wirkt, auch mit der Zeit und stiller geräuschloser Arbeit, die kleinen Mängel der äußeren Erscheinung zu beseitigen wissen wird, ich stets bereit bin, den freien Vertrag zwischen uns zu lösen und die begonnene Arbeit in andere Hände zu übergeben. Sie sagen, Sie werden mehr und mehr unbarmherzig gegen Ihre Freunde. Ich werde es in einem gewissen Sinne auch. Ich verlange unbegrenztes Vertrauen, oder sonst lieber völligen Bruch. Nur nicht im Halben verkommen lassen, was ganz, wahr und schön sein muß, wenn es Früchte bringen soll. Mein ›Genuß‹ wäre es gewesen, wenn ich Ihrem Hause Einheit und Poesie hätte zurückgeben können. Leider aber wird dies Ziel wohl nie ganz erreicht werden, weil Sie krank bleiben wollen, weil Sie sich nicht so befreien wollen, wie es Ihrer Natur allein würdig wäre, und das ist das Übel Ihres Russentums. Ja, da finde ich allerdings etwas, was uns zu Antipoden macht. – Haben Sie aber noch das alte Vertrauen zu mir, so lassen Sie mich gewähren und glauben Sie mir: ich komme an das Ziel.«


Herzens Natur war eine von jenen schönen Naturen, bei [417] denen vor jedem wahren, aufrichtigen Wort die Wolken des Mißmuts und der momentanen Verkennung verschwinden, und die sich dann ganz voll und rein wieder hingeben. So war er, nachdem er meinen Brief gelesen hatte, überzeugt, daß er sich Hirngespinste gemacht hatte und daß ich im Grunde recht habe. Das weitere Vertrauen zwischen uns stellte sich wieder her. Ja, im Gefühl mir vielleicht eine unangenehme Empfindung hervorgerufen zu haben, trug er nun selbst auf eine kleine Reise an das Meer an, die ich vor einiger Zeit vorgeschlagen hatte und die er damals abschlug.

Wir brachen also auf. Domengé ging mit uns, und wir fuhren hinüber nach der Insel Wight, deren Naturreize ich schon lange zu sehen verlangte. Auf der Fahrt über die kleine Insel nach dem Städtchen Ventnor, das an der Südseite liegt, saßen Herzen, sein Sohn und Domengé oben auf der Postkutsche; die Kinder und ich saßen innen. Ganz entzückt von dem reizenden Weg rief ich einmal hinauf: »Nun, ist das nicht schön? Hatte ich nicht recht, es vorzuschlagen?« Lachend rief Herzen herunter: »Ja, ich wollte es Ihnen eigentlich gar nicht sagen, aber Sie haben recht: es ist wunderschön und gut, daß wir gekommen sind.«

Wir verlebten in dem schönen Ventnor fröhliche Tage. Abends waren wir meist mit Pulszkys, die den Sommer dort zubrachten, zusammen. Theresens Mutter, eine Wiener Dame voller Bildung und Geist, war zu Besuch bei ihnen und bereitete uns durch ihren Witz und köstlichen Humor manche heitere Stunde. Kossuths waren auch da, und er zeigte sich im engeren Zusammensein bei weitem liebenswürdiger als bei den offiziellen Vorstellungen in London. Die Gedanken waren damals sehr in Anspruch genommen durch den von Rußland angefangenen Krieg in der Türkei. Herzen namentlich war sehr aufgeregt. Er prophezeite von Anfang an die Niederlage der Russen und hoffte sie, da er infolgedessen den Sturz des Autokratentums hoffte. Wir teilten seine Hoffnung, und nur durch diese konnte der unsinnige Krieg überhaupt ein allgemeines Interesse haben, außer dem einen [418] traurigen, daß Menschen sich einmal wieder an irgendeiner Stelle des alten Europa massenweise mordeten, und daß Tausende von Witwen und Waisen mit ihrem bitteren Leid eine dunkle Seite mehr in das Buch der Geschichte einschrieben.

Es sollte dieser Krieg freilich, zufolge der bitteren Ironie der Weltgeschichte, die so oft Fortschritte der Zivilisation mit dem Blute von Tausenden erkauft, auch manche andere gute Folge haben. So befreite er unter anderem die englische Gesellschaft von vielen Vorurteilen und brachte den Insulanern ein etwas höflicheres Wesen gegen die Sitten und Gebräuche der Fremden bei, die sich auf das wasserumgürtete Albion verirrten. Zu der Zeit, als wir in Ventnor waren, existierten diese Vorurteile noch, z.B. gegen die langen Bärte, die die Ausländer, namentlich die Emigrierten aller Länder, trugen, und die den an die glatten Kinne gewöhnten englischen Augen sehr »shocking« und barbarisch vorkamen.

Es passierte uns, daß, als wir auf einem Spaziergang an einem Landhaus vorüberkamen, wo einige elegante Damen auf dem Balkon saßen, diese sich nicht entblödeten, beim Anblick von Herzens und Domengés Bärten in ein lautes Hohngelächter auszubrechen. Domengé wandte sich nach ihnen um und sagte laut genug, um gehört zu werden: »Quelle canaille!« – Die Damen zogen sich nicht zurück, wennschon das Gelächter verstummte. Ähnliches war andern Bartträgern in den Straßen Londons begegnet.

Nach dem Krimkrieg, als die britischen Soldaten zurückkehrten, erschienen nach und nach überall bärtige Gesichter. Das Barttragen wurde nun, wie das in England geht, »fashion« und sogleich ins Extreme getrieben, so daß man bald kein männliches Gesicht mehr sah, das nicht von einem enormen Bart eingerahmt gewesen wäre. Auch wurden durch diesen Krieg in England eine Menge Schäden in der Militärorganisation aufgedeckt, und namentlich wurde die Aufmerksamkeit auf das schamlose Verkaufen der Offiziersstellen [419] hingelenkt, das bisher den Offiziersstand zu einer Versorgungsanstalt für die jüngeren Söhne der großen Familien gemacht hatte, ohne Rücksicht auf Befähigung und auf das notwendige Wissen, das diesem sonst so vielfach traurigen Stand eine moralische Würde verleiht. Ferner erweckte das großmütige Beispiel der Miß Nightingale eine Tätigkeit unter den englischen Frauen, die auch bisher noch nicht dagewesen war und die eine weite Nachwirkung haben sollte. – Mit Freuden hebt man die guten Folgen hervor, die ein so abscheuliches Ereignis wie ein Krieg, und noch dazu ein Krieg, unter so nichtswürdigen Vorwänden angefangen, mit sich bringt. Sie versöhnen in etwas mit dem vergossnen Blut und mildern wenigstens die Blutschuld vor der Geschichte, wenn auch diejenigen, die ihn veranlaßten, der gleiche Fluch trifft. –

Nach kurzer, froh verlebter Zeit kehrten wir nach Richmond zurück und fingen das gewohnte Leben wieder an, das sich immer friedlicher gestaltete. Ich begann die russische Sprache zu lernen, da ich mir nicht nur selbst Freude davon versprach, sondern auch Nutzen für die Kinder, deren einzige Tradition mit dieser Sprache zusammenhing. Ich empfand es oft, wie viel schwerer die Erziehung dieser Kinder des Exils sei, als wie die Erziehung derjenigen, die ein Vaterland haben und in der Heimat aufwachsen, umgeben von den heimatlichen Sitten und Gebräuchen, vielleicht von alten bewährten Dienern, Verwandten und Freunden. Alles dieses war bei den Kindern der Exilierten nicht der Fall, ganz besonders nicht bei den Kindern Herzens, wo der Vater allein das heimatliche Element vertrat. Dann fehlten zwei der wichtigsten Grundlagen der bisherigen Erziehung bei ihnen gänzlich, nämlich: Sprache und Religion. Die Muttersprache, in der der Begriff zugleich mit dem Wort heranwächst, in der alles Fühlen und Denken beinah unmittelbar in den Ausdruck übergeht und jene Originalität der Färbung erhält, die das nationale Element im Wesen eines Volks ausmacht – fehlte ihnen. Sie sprachen drei, vier Sprachen zu gleicher [420] Zeit, mit der spielenden Leichtigkeit, mit der Kinder überhaupt andere Sprachen lernen und durch die sie darin viel vor dem erwachsenen Menschen voraus haben. Dafür aber hatten sie nicht das tiefe Verwachsensein des Gedankens mit dem Wort, das z.B. für den Dichter ein unerläßliches Erfordernis ist, weshalb denn auch wohl selten jemand in einer anderen Sprache als der seinen bedeutende Dichterwerke liefern wird. Chamisso, den man mir als Beispiel anführen könnte, war doch durch Erziehung und Neigung zu gänzlich Deutscher geworden, als daß man es gelten lassen könnte.

In gleicher Weise wie die Sprache fehlte ihnen die religiöse Erziehung, die den bisherigen Generationen aller Länder ein Band des Zusammenhangs mit dem Vergangenen und Gegenwärtigen, eine Tradition gewesen war, aus der von selbst eine Menge Folgerungen hervorgingen, die den heranwachsenden Menschen in bestimmte Formen bannten und in einen festgestellten Zusammenhang mit der ihn umgebenden Welt brachten. Alles dies sind Hilfsmittel, durch die die Erziehung erleichtert wird.

Es verstand sich von selbst, daß ich völlig mit Herzen einverstanden war, daß von Erziehung und Unterricht in einer positiven Religion, in einem kirchlichen Dogma, nicht mehr die Rede sein konnte. Wie sollten wir das, woraus wir uns selbst in schweren inneren Kämpfen befreit hatten, wieder als eine Fessel um die Kinder legen, um ihnen einst den gleichen Kampf zuzumuten? das lag außerhalb jeder Frage und darüber war ich mir ganz klar. Natürlich billigte ich nicht, was ich in einzelnen Familien der Emigration gesehn hatte, nämlich daß es den Kindern erlaubt war, mit den Dingen, die der Mehrzahl der Menschen noch heilig sind, Spott zu treiben. Das konnte nur oberflächliche, arrogante Menschen bilden, die, ohne selbst geprüft zu haben, über etwas zu spotten wagten, was Jahrhunderten das ferne Ideal, das die Menschheit sucht, dargestellt hatte. Der richtige Weg zur Lösung des schwierigen Problems einer [421] Erziehung ohne positive Religion, in einer noch christlich dogmatischen Gesellschaft, schien mir ungefähr der zu sein: zunächst den Kindern Ehrfurcht in das Herz zu pflanzen für alles Schöne und Gute, für alles, was durch Alter, Erziehung und Vorzüge aller Art berechtigt ist, solche einzuflößen. Besonders gehören dahin die großen Menschen, die durch ihren Genius und ihre Tugend heilig gesprochen sind und an die Stelle der antiken Halbgötter und der katholischen Heiligen treten. Es wäre geradezu eine Kultur der Heroen der Menschheit. Ferner: sie zurückzuhalten von voreiligem Urteil und sie lehren, die Überzeugungen anderer, auch wenn sie ihnen fremd oder unverständlich scheinen, zu ehren, solange wenigstens ihr Urteil nicht gereift genug ist, sie mit redlichen Waffen zu bekämpfen. Schließlich: ihnen den historischen Verlauf und Wert aller der religiösen Formen darzustellen, durch die die Menschheit schon durchgegangen ist und in denen sie sich noch gegenwärtig befindet. Dann aber vor allem: das tätige Mitleid in ihnen zu pflegen, das das eigentlich religiöse Element ist, das erlösende und das wahrhaft ethische. Daß auf diesem Wege der Erziehung schwere Fälle vorkommen, wo man dem kühnen Fragegeist des Kindes gegenüber in Verlegenheit kommt, ist gewiß. Aber man hat ja mit dem Hinweis auf einen Gott, der alles aus nichts gemacht hat, dem Kinde ebensowenig eine befriedigende Lösung gegeben, als wenn man ihm einfach eingesteht, daß man den letzten Grund der Dinge selbst nicht kennt. Die Folgerung liegt zu nah, die ich selbst von einem Kinde hörte, als man es auf seine Frage nach dem Ursprung der Dinge an den persönlichen Gott verwies: »Wer hat denn aber den lieben Gott gemacht?«

Läßt man das Kind aber ahnen, daß da alles erhabenes Mysterium ist, so flößt man ihm von vornherein den heiligen Schauer ein, den das Bewußtsein von der Endlichkeit unseres Erkennens in jedem denkenden Wesen hervorruft – die wahre Demut, die sich ihrer Begrenzung und ihres Unvermögens bewußt ist und sich nicht in eitlem Behagen als [422] Inhaber der ein- für allemal gefundenen Wahrheit mit aller Sehnsucht und allem Suchen abfindet. Auch gibt es ja für das Kind so unendlich viele Zwischenstufen, die seinem unbefangenen, ganz objektiven Sinn näher sind und ihm vollauf zu tun geben, ohne daß es, hinreichend damit beschäftigt, in Versuchung kommen wird, die ihm noch fern liegende Abstraktion vom letzten Grunde aufzusuchen. In der allmählichen Bekanntschaft mit dem Reichtum der vorbildenden Natur, die die Stufen der Entwicklung seiner menschlichen Gefühle ihm im Reich des Lebendigen verständlich und begreiflich macht, wird es so viel zu tun haben, wird so ganz von dem ihm Nahen, Zugänglichen in Anspruch genommen sein, daß viele Zeit vergehen wird, bis ihm die Frage nach dem Abstrakten auf die Lippen kommt. Und käme sie eher, bei Ausnahmsnaturen, so würde die Hinweisung auf das Geheimnisvolle des großen Rätsels hinreichen, um den fragenden Geist in Schranken zu halten, bis ihm die Flügel des Gedankens genug gewachsen sind, um den Flug in das unbekannte verhüllte Reich der Abstraktion zu wagen, in dem doch zuletzt nur die Intuition der reinen, höchsten Seelen der wahre Führer ist.

Ich verhehlte mir nicht, daß den Kindern aus dieser Erziehung manche Verlegenheiten und mancher Zwiespalt erwachsen würden, namentlich in einer so konventionell orthodoxen Gesellschaft wie die englische. Zum Glück kamen die Kinder Herzens fast gar nicht mit der englischen Welt in Berührung, und die beiden Mädchen waren sehr erstaunt, als eines Sonntagmorgens, wo sie im Park von Richmond mit Reifen spielten, eine englische Dame auf sie zukam und sie mit strengem Ton fragte, wie sie etwas so Unziemliches tun könnten.

Es wurde mit allseitiger froher Zustimmung beschlossen, auch den Winter auf dem Lande zu bleiben. Nur wurde das Haus zu klein gefunden und ein größeres, an der Themse gelegenes, genommen, mit einem herrlichen Garten, der bis zum Fluß ging und voll alter prächtiger Bäume war. Das Haus war geräumig, so daß, außer der bequemsten Einrichtung [423] für die Familie, auch noch für viele Gäste Unterkommen war.

Unter den Gästen, die von Zeit zu Zeit sich hier einfanden, waren jetzt auch alte liebe Freunde aus der Heimat. Anna, die sich endlich mit dem Mann ihrer Liebe, mit Friedrich Althaus hatte verheiraten können, war mit ihm herübergekommen, um sich eine Existenz in London zu gründen. Mit ihnen war Charlotte gekommen, die unzertrennliche Freundin Annas. Ich machte sie mit Herzen bekannt. Er schätzte Friedrich sehr, und bald gehörten sie zu den intimeren Besuchern des Hauses, was für mich natürlich eine große Freude war.

Der Winter in dem herrlichen Hause fing auf das friedlichste an. Am Morgen blieb Herzen streng bei seiner Arbeit. Er liebte nicht, dabei gestört zu werden, und jeder Besuch blieb seinem Zimmer alsdann ferne. Domengé war mit dem Sohn, ich mit den Mädchen beschäftigt. Das Haus und der Garten waren der Kinder und meine Welt; ich sehnte mich nicht über deren Grenze hinaus, denn ich war vollkommen glücklich. Bei den Mahlzeiten und am Abend vereinten uns erquickende Gespräche. Herzens ewig frischer, angeregter Geist war wie eine lebendige Quelle, die nie versiegt. Abends, wenn die Mädchen zu Bett gegangen waren, las er seinem Sohn und mir vor. Zunächst machte er den Jüngling mit Schiller bekannt und las ihm mit besonderem Entzücken den Wallenstein vor, den er vorzüglich liebte und für Schillers schönstes Werk hielt. Es war außerordentlich schön, wie Herzen sich in solchen Stunden dem Sohne hingab, und wenn er sagte, daß er kein Talent zur Erziehung habe, so hatte er doch gewiß die Gabe, aus der eignen, feurigen Seele Funken in das junge Gemüt zu werfen und Flammen der Begeisterung darin zu wecken, die die schönste Erziehung sind, wenn sie auf empfänglichen Boden fallen. In diesen Augenblicken, wo der Skeptiker und politische Polemiker in ihm schwiegen und nur der tief ästhetische und künstlerische Mensch aus ihm sprach, schien es mir immer, als könnte nichts befruchtender [424] und bildender für ein junges Wesen sein, als der Umgang mit ihm. Dazu gehörte aber eben ein solch friedvolles, im Äußeren fast ganz ungestörtes Leben, wie wir es damals führten.

Eine große persönliche Aufregung sollte es unterbrechen. Domengé kam eines Tages in äußerster Erregung und erzählte uns, daß Barthélemy, den wir seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatten, der Held eines blutigen Dramas geworden sei und sich nun im Gefängnis, in den Händen der Justiz befinde. Er hatte sich schon seit längerer Zeit fast von allen seinen Freunden zurückgezogen. Man sagte, daß die Liebe zu einer Frau, mit der er lebte, die Schuld davon trage, und daß diese Leidenschaft ihn ganz unzugänglich für andere mache. Dann hatte sich das Gerücht verbreitet, daß er London verlassen würde. Wohin er wollte, war unbekannt. Eines Nachmittags war er vollständig zur Reise gerüstet, mit dem Reisesack in der Hand und in Begleitung jener Frau, zu einem reichen Engländer gegangen, den er seit einiger Zeit öfter besuchte und der bloß mit einer Köchin in seinem eignen Hause lebte. Was sich bei diesem Besuch ereignet hatte, wußte niemand. Bekannt war nur, daß plötzlich eine Detonation im Hause gehört wurde, daß Barthélemy, nachdem er der Frau, die er liebte, durch eine einsame Seitenstraße hatte entkommen halfen, selbst, wahrscheinlich um deren Flucht zu sichern, von der schreienden Köchin verfolgt, die Hauptstraße hinablief, von einem Polizeidiener aufgehalten wurde und diesen im Handgemenge mit dem Revolver, den er in der Hand hielt, erschoß. Die herbeigeeilte Menge hatte ihn dann überwältigt und in Verwahrsam gebracht. Jener Engländer aber war von der Köchin, die nach der Detonation in sein Zimmer geeilt war, tot auf dem Boden in seinem Blute liegend gefunden worden. Bei einem ersten vorläufigen Verhör auf der Polizeistation, wo man den Mörder hingebracht hatte, hatte er ein hartnäckiges Schweigen beobachtet, nur behauptet, daß er den Polizeidiener nicht willentlich erschossen, sondern daß sich im Ringen mit ihm der Revolver [425] entladen habe. Es war natürlich, daß dies Ereignis bei uns allen die tiefste Bestürzung hervorrief. Einen Menschen, den wir gekannt und geschätzt hatten, der eine Zeitlang ein Mitglied unseres Kreises gewesen war, nun in solcher Lage zu wissen, war um so erschütternder, als bei uns allen feststand, daß er kein gemeiner Verbrecher war, zu welch schrecklicher Tat auch Leidenschaft und heißes südliches Blut ihn hatten hinreißen können. Er war eine edel angelegte Natur, die nun sicher in den tiefsten Seelenqualen das rasch Vollbrachte büßte.

Die französische Emigration war in der größten Aufregung. Die Partei Ledru-Rollin freute sich fast über den Fall des energischen Sozialisten, der ihr immer feindlich gegenübergestanden und ihren doktrinären Republikanismus gegeißelt hatte, bis ihn jenes vorhin erwähnte Duell vollends mit ihr entzweite.

Die anderen Mitglieder der Emigration, Domengé an der Spitze, nahmen nicht nur tiefen Herzensanteil an dem Vorgefallenen, sondern traten auch öffentlich als die Verteidiger von Barthélemys Charakter gegen die hämischen Angriffe seiner Feinde auf. Konnten sie auch das eben Vorgefallene nicht rechtfertigen, so wollten sie es keinesfalls nach gemeinem Maßstabe beurteilen und richten. Übrigens wollte in das Dunkel dieser Geschichte kein rechtes Licht dringen. Der einzige, der vollen Aufschluß darüber hätte geben können, Barthélemy selbst, schwieg fortwährend bei den Verhören. Er schien entschlossen, dem Gang der Gerechtigkeit nichts in den Weg zu legen und sein Schicksal zu erleiden, gewiß als Sühne für das eigne edlere Gefühl, das unter der Last eines unleugbaren doppelten Verbrechens seufzte. Was aber endlich doch als Gewißheit aus allen Gerüchten und Vermutungen hervorging, war dieses: daß Barthélemys Reise keinen andern Zweck gehabt hatte als den, Frankreich von seinem Tyrannen zu befreien. Es hieß, daß jener Engländer ihm Geld zur Ausführung des Unternehmens versprochen gehabt, es ihm aber, als Barthélemy im Augenblick der Abreise [426] es holen wollte, verweigert hatte, daß dann ein Streit entstanden sei, der Barthélemy in die äußerste Aufregung versetzt und ihn zur unglückseligen Tat geführt habe. Inwieweit dies richtig war, und weshalb der Engländer verweigerte, was er erst versprochen hatte, war nicht zu ermitteln, da die beiden einzigen männlichen Teilnehmer des blutigen Dramas, der Tote und der Lebende, stumm blieben, und die weibliche Zeugin auf rätselhafte Weise verschwunden war. Welchen Anteil sie an der Sache gehabt, warum sie bei einem so gewagten Unternehmen an Barthélemys Seite hatte bleiben wollen, schien auch anfangs unerklärt bleiben zu sollen, bis sich nach und nach aus seltsamen Gerüchten über ihre Persönlichkeit feststellte, daß sie eine französische Spionin und abgesandt gewesen war, den energischesten Emigrierten in das Verderben zu locken. Dies war ihr denn auch nur zu gut gelungen. Daß sie gleich nach der Tat sich der wichtigsten Papiere Barthélemys, deren Versteck unter einer Diele des Fußbodens nur sie kannte, bemächtigt, sie in Frankreich an betreffender Stelle abgeliefert und sich selbst dort in Sicherheit gebracht hatte, war mehr als wahrscheinlich. Man hatte bei der Haussuchung die Diele ausgehoben, alles im Zimmer in Unordnung, aber keine Papiere mehr gefunden, und die für die Vorgänge so wichtige Zeugin wurde überall in England vergebens gesucht.

Daß dem Gefangenen über die schreckliche Verirrung seiner Leidenschaft, die vielleicht allein Schuld war, daß er in den Abgrund stürzte, die Augen aufgegangen wären, glaubte ich aus einem Brief schließen zu dürfen, den er aus dem Kerker an seinen Associé, der mit ihm verkehren durfte, schrieb, und den dieser Herzen und mir zu lesen gab. Er enthielt unter anderem folgende Worte: »Ich bin so grenzenlos unglücklich, daß ich mich nicht retten will, auch wenn ich es könnte.«

Was mußte seine stolze, feurige Seele leiden, als ihm das abscheuliche Licht über die verratene Liebe aufging, deren Folgen nicht nur sein Gewissen mit doppeltem Morde befleckten, sondern auch sein Leben in der vollsten Jugendkraft [427] abschnitten, während noch so viel Gedanken in ihm gärten, so viel edle Taten ihm zu tun übrig waren! O gewiß, wenn es eine Gerechtigkeit gäbe, wie sie sein sollte, die die Taten der Menschen nicht nach einem gemeinsamen Maßstabe, sondern nach der Natur des Täters, den innersten Motiven der Handlung und ihrer Wirkung auf ihn beurteilte, so hätte Barthélemy freigesprochen werden müssen um der Schmerzen willen, die ihn bestürmten, um der Buße willen, deren er fähig gewesen wäre! Aber in den Augen der weltlichen Justiz war er ein Mörder wie ein anderer, und wir zitterten für sein Schicksal. Seltsamerweise jedoch klagte man ihn nicht wegen des ersten Falles, wo entschiedener Mord vorlag, an. Man überging diesen vielmehr mit Stillschweigen und sprach bei den Verhandlungen nur von dem zweiten Fall, der Tötung des Polizeimanns, der nach englischen Gesetzen bloß als »manslaughter«, d.h. Totschlag, aber nicht als Mord bestraft werden durfte. Diese Strafe besteht in der Deportation, und wir hofften, daß man die Todesstrafe vermeiden würde.

Wochen auf Wochen vergingen in der schrecklichsten Aufregung und Ungewißheit. Mir ließ das Schicksal des Unseligen keine Ruh. Tausend Pläne und Gedanken zu seiner Rettung kreuzten sich in meinem Kopf. Aber es war unmöglich, zu ihm zu gelangen. Er wurde mit äußerster Strenge bewacht. Nur sein Associé durfte ihn hinter doppeltem Gitter sehen, und nur der katholische Geistliche durfte ihn besuchen.

Inzwischen war der Schluß des Jahres herangekommen. Zum Neujahrsfest versammelte sich ein auserlesener Kreis von Gästen, um mehrere Tage in dem geräumigen Hause bei uns zu verweilen. Ich liebte es, von Zeit zu Zeit Feste zu bereiten, die den Kindern einen poetischen Eindruck, ein ausnahmsweise helles Lichtbild in der übrigens kindlich glücklichen Einförmigkeit ihres Daseins hinterlassen sollten. Den Weihnachtsbaum, der in seiner christlichen Bedeutung für sie keinen Sinn hatte, hatte ich schon im Jahr vorher am Silvesterabend in seiner antiken Bedeutung, als Symbol des [428] wiederkehrenden Lichts der Sonne, eingeführt. Jetzt bereitete ich ihn abermals und schmückte ihn mit Gaben, die ich zum größten Teil selbst verfertigt hatte für all die kleinen und großen Gäste. Es war ein wahrhaft internationales Fest. Russen, Polen, Deutsche, Franzosen, Italiener, Engländer hatten sich zusammengefunden, und von jeder Nationalität waren es der Besten welche. Als die Mitternacht herannahte, überreichte Herzen seinem Sohn ein russisches Exemplar seines Buches »Vom andern Ufer«, das er zuerst in deutscher Sprache herausgegeben und nun selbst in das Russische übersetzt und seinem Sohn gewidmet hatte. Diese Widmung, die der Jüngling noch nicht kannte, las er ihm jetzt im Kreise der Freunde vor.

Sie lautete:


»Lieber Alexander!

Ich widme Dir dies Buch, weil ich nichts Besseres geschrieben habe und wohl nichts Besseres schreiben werde, weil ich das Buch liebe als das Denkmal eines Kampfes, in dem ich vieles geopfert habe, nur nicht die Kühnheit des Gedankens, und endlich, weil ich es nicht fürchte, diesen zuweilen verwegenen Protest einer unabhängigen Individualität gegen veraltete, knechtische, lügnerische Anschauungen, gegen absurde Götzen, die einer andern Zeit angehören, und die, sinnlos geworden, ihre Existenz zwischen uns beendigen, indem sie die einen hindern und die andern erschrecken – in Deine Jünglingshände niederzulegen.

Ich will Dich nicht im Irrtum lassen. Kenne die Wahrheit, wie ich sie kenne! Empfange sie ohne peinliche Fehler, ohne schmerzliche Enttäuschungen durch das einfache Recht der Erbschaft!

In Deinem Leben werden andere Fragen, andere Kollisionen auftreten, es wird Dir weder an Leiden noch an Arbeit fehlen. Du bist erst fünfzehn Jahre alt und hast schon schwere Schicksalsschläge erfahren. Suche keine Lösung in diesem Buche; es enthält keine, wie überhaupt unsere Zeit [429] keine enthält. Was gelöst ist, ist auch beendet, und die zukünftige Revolution fängt kaum an.

Wir bauen nicht, wir zerstören; wir verkündigen keine neue Offenbarung, wir beseitigen nur die alte Lüge. Der gegenwärtige Mensch, ein trauriger pontifex maximus, kann nur die Brücke legen. Ein anderer, Unbekannter, Zukünftiger wird sie beschreiten. Bleibe du nicht am alten Ufer; besser ist es, mit ihm untergehen, als wie sein Heil im Hospital der Reaktion zu suchen.

Die Religion der zukünftigen sozialen Reorganisation, das ist die einzige Religion, die ich Dir vermache. Sie hat kein Paradies, keine Vergeltung außer der in unserem eigenen Gewissen. Geh, wenn die Zeit gekommen sein wird, diese Religion bei uns in Rußland zu predigen. Einst liebte man dort meine Worte, und vielleicht wird man sich meiner erinnern.

Ich segne Dich zu dieser Reise im Namen der Vernunft, der persönlichen Unabhängigkeit und der Brüderlichkeit.«


Der Jüngling stürzte sich, Tränen im Auge, in des Vaters Arme. Wir alle waren tief bewegt. Ein jeder dachte wohl mit Wehmut seiner fernen Heimat, dachte daran, wie fern, wie fern die Zeit noch sei, ja ob sie jemals kommen werde, wo man zurückkehren undjene Religion frei würde bekennen können. Zugleich aber fühlten wir auch alle, daß in diesem kleinen interessanten Kreise ein Hauch jenes Geistes wehe, der zufolge unserer Hoffnung einst die Menschheit zu einem schönen Bunde vereinen werde, und ein herzliches Gefühl war es, mit dem wir uns zum neuen Jahr die Hand reichten – eine kleine Gemeinde der Freien, im Exil, die es wußten, daß wenn auch noch manches Jahr sich in der Verbannung erneuern sollte, sie doch schon der zukünftigen wahren Kirche einer edleren, geläuterten, freieren Menschheit angehörten.

Es war eine jener schönen, klaren, sternenhellen Nächte, wie sie in England so häufig sind, im Gegensatz zu den trüben, [430] nebligen Tagen. Die Erde war fest gefroren, und dennoch war es nicht kalt. Wir gingen, nachdem die Heiterkeit wieder die Oberhand gewonnen hatte, in den herrlichen Park hinaus, wo die jüngeren Leute im Mondlicht scherzten und spielten, während die älteren Personen in schönen Gesprächen lustwandelten. Drei Tage lang blieb der ganze Kreis versammelt. Herzen war in der heitersten Stimmung und der liebenswürdigste Wirt, den man sich denken konnte. Alle waren entzückt von dem Aufenthalt und versicherten, nie zuvor schöner erfahren zu haben, was wahre Geselligkeit sei. Als wir sie zum Bahnhof begleiteten, sagte mir eine der Damen voll Begeisterung: »Herzen ist ein Gott!« –

Mittlerweile war die Sache Barthélemys noch immer nicht entschieden und erhielt uns fortwährend in schmerzlicher Aufregung. Sein Prozeß zog sich auf seltsame Weise in die Länge, obgleich er selbst nicht den leisesten Versuch machte, sich zu rechtfertigen. Nur die Verleumdungen, die seine eignen Landsleute in der ihm feindlichen republikanischen Partei über ihn ausstreuten, die hämische Genugtuung, mit der sie ganz in vorderster Reihe bei den Verhören unter den Zuschauern saßen, schienen ihn tief zu empören. Ein Zeugnis hierfür war folgender Brief, den ich auf dem oben angeführten Wege ebenfalls zu sehen bekam:


»Newgate, 8. Januar 1855.


Ich bitte Freund B..., diesen Brief an Fräulein R... zu geben, die ihn wiederum an die Person, für die er bestimmt ist, gelangen lassen wird.

Wenn ich Sie nicht erhaben wüßte über die kleinlichen Rücksichten, die die Menschen bewegen, denen die sozialen Vorurteile für Tugend gelten, so würde ich nicht wagen, Ihnen den Titel Freund zu geben. Aber ich weiß, daß Sie nicht zu denen gehören, die die Toten treffen, und daß ich für Sie etwas anderes war als ein Elender. Alles was ich erfahren habe, verwundert mich nicht; ich kenne jene Persönlichkeiten hinreichend, um zu wissen, was sie wert sind. Wäre ich frei, so würde ich, ungeachtet des Scheines, der[431] wider mich ist, mich dem Tribunal meiner Feinde stellen und sie beschämen. Aber wozu? Ich bin tot, und wenn es unserer Sache dienen könnte, daß sie mich in den Schmutz ziehen, möchten sie es tun. Es ist das vielleicht das einzige Geschäft, für das sie taugen. Ich wollte es wünschen, daß mein Fall in den Abgrund sie auf die Höhe des Berges heben könnte, aber dem wird nicht so sein. Die Mittelmäßigkeit wird ihr Los sein bis zum Ende. Die Devotionsgeschichten, von denen Sie gelesen haben, kommen aus derselben Fabrik, die in der Times die Geschichte von dem Fetzen, den Vardigon mir in meine Pistole gestopft hatte, 2 wieder auffrischt. Ich sterbe; aber der Beweis für diese Tatsache bleibt und wird seinerzeit veröffentlicht werden. Leben Sie wohl!

E. Barthélemy.«


Endlich erfolgte das Urteil. Es lautete auf Tod am Galgen, obgleich, wie schon gesagt, der erste Fall ganz aus der Anklage weggelassen worden war, und der zweite nur mit Deportation bestraft werden konnte. Wir alle und Barthélemy selbst hatten nur an diese Strafe gedacht. Der gutgesinnte Teil der französischen Emigration hatte sich mit einem Gesuch zugunsten des Angeklagten an Lord Palmerston gewendet, der damals Minister war, und dieser hatte sich nicht ungünstig ausgesprochen. Um so schwerer traf uns alle die Entscheidung. Mehrere Male waren Barthélemy Geld und Wäsche von seiten der Freunde zugestellt worden; jetzt nach der Entscheidung stellte man ihm auch, im Saum eines Hemdes verborgen, eine Portion Strychnin zu, um im Fall es zum Äußersten käme, dem schimpflichen Tod durch den Strang und all den qualvollen, ihm vorangehenden Förmlichkeiten durch ein freiwilliges Ende zu entgehen. Nachher aber hatte sein Associé mit einer gleichen Quantität Strychnin eine Probe an einem Hund gemacht und bei ihm nur entsetzliche Leiden, aber nicht den Tod hervorgerufen. [432] Er hatte dies Barthélemy mitgeteilt, als er am Sonnabend, den 19. Januar, zum letztenmal zur Unterredung mit seinem Freund zugelassen wurde. Er bereitete auf diese Weise dem Unglücklichen die grausame Qual, das Mittel zur Befreiung vom schimpflichen Tod in Händen zu haben und ungewiß zu sein, ob es ihm das völlige Resultat gewähren oder ihn nur der Kräfte berauben würde, das Unvermeidliche mit Würde zu erleiden. Seine stolze Seele scheute zurück vor dem Gedanken, sich durch die Anwendung des Gifts vielleicht zu unmännlicher Schwäche zu verurteilen, und er entschied, sich seiner nicht zu bedienen.

Ich litt Unsagbares während dieser Tage. Ein grenzenloses Mitleid füllte mein Herz bis zum Zerspringen. Daß ich ihn nicht retten konnte, wußte ich genau, aber ich verlangte sehnlich danach, dem Verurteilten den Trost mitzugeben auf den letzten Weg, daß es Menschen gäbe, die anders dächten als die irdische Gerechtigkeit und seine Feinde. Zugleich wünschte ich aber auch, der Empörung Ausdruck geben zu können, die die Servilität der englischen Regierung in mir erregte, da es nunmehr außer allem Zweifel war, daß das Todesurteil nur auf ausdrückliches Verlangen der französischen Regierung bestätigt worden war. Die Geschworenen hatten auf mildernde Umstände erkannt und den Verurteilten der königlichen Gnade empfohlen. Ich schlug Herzen und Domengé vor, für uns drei um die Erlaubnis nachzusuchen, den Unglücklichen auf seinem letzten, schweren Wege begleiten zu dürfen. Ich fühlte, daß ich die Kraft haben würde, dies zu tun. Ich sehnte mich danach, weil ich überzeugt war, daß Barthélemy im tiefen Schmerz den blinden Willensakt gebüßt hatte und nun durch einen schweigend und edel zu erleidenden Tod die große Schuld sühnen wollte. Ihn in diesem erhabenen Augenblick der Buße allein zu lassen, bloß umgeben von einer widerwärtig gaffenden Menge, war mir wie ein tiefer Vorwurf. Mir schien es, als sei es unsere Pflicht, auf der Schwelle der Ewigkeit ihm gleichsam die Entsühnung anzukündigen durch diesen Beweis des heiligsten [433] Mitgefühls, der erbarmenden Liebe. Zugleich erschien es mir recht, durch eine solche Handlung, im Namen einer zukünftigen gerechteren Ordnung der menschlichen Gesellschaft, zu protestieren gegen das Richten nach schematischen Begriffen, anstatt nach dem inneren Wesen der Tat und des Täters. Herzen und Domengé hatten nicht den gleichen, sehnsuchtsvoll ungestümen Wunsch wie ich, doch zogen sie Erkundigungen ein. Sie erfuhren aber, daß die Sache unmöglich sei, da man uns unter keiner Bedingung die Erlaubnis erteilen würde, weil ein solcher Schritt gegen alles Herkommen sei und die schauerlich gefühllose Routine des zum Geschäft, wie jedes andere, gewordenen Vorgangs stören würde. So blieb mir denn nichts übrig, als in der Tiefe meines Herzens mit ihm zu leiden und die furchtbar ernsten Stunden in Gedanken mit ihm durchzukämpfen. Den Sonntag, der sein letzter Tag war, verbrachte ich in einer Stimmung, die ich nicht anders bezeichnen kann, als wie ein fortwährendes, heißes, inbrünstiges Gebet, und wenn es Seelenströmungen gibt, die sich aus der Ferne fühlbar machen, so mußte Barthélemy es fühlen, daß er in den schweren Prüfungsstunden nicht allein war.

In England müssen alle Hinrichtungen am Montagmorgen stattfinden, und zwar in der ersten Morgenfrühe. Ich erwachte lange vor Tagesanbruch und meine Gedanken eilten in jene schauerliche Zelle im alten Newgate-Gefängnis, wo der aus seinem letzten irdischen Schlummer Erwachte jetzt die erniedrigenden Vorbereitungen zum letzten Gange durchmachen mußte. Als ich die Glockenschläge hörte, die die sechste Stunde verkündeten, verbarg ich mein Gesicht in das Kopfkissen und weinte bitterlich. Einige Stunden später ließ Herzen mich bitten, in sein Zimmer zu kommen. Er kam mir entgegen mit dem Ausdruck tiefster Erschütterung und reichte mir ein Zeitungsblatt. Es war die Times, die bereits einen Bericht über die letzten Stunden Barthélemys und die vollzogene Hinrichtung brachte. Ich konnte nicht lesen vor hervorbrechenden Tränen, Herzen las es mir und dem Sohne [434] vor. Wie während des ganzen Verlaufs des Prozesses die Haltung des Gefangenen musterhaft edel, ruhig, bescheiden gewesen war, so hatte die Würde seines Benehmens in diesen letzten Stunden alle Zeugen mit Anteil und Bewunderung erfüllt. Sogar die Times gestand, daß dieser Mörder kein gemeiner Mensch gewesen sein könnte. Er hatte die Richter, die kamen, ihm zu verkünden, daß seine letzte Stunde gekommen sei, mit Ruhe und Anstand empfangen. Auf die Frage, ob er sich der Gnade Gottes empfohlen habe, hatte er gesagt, es könnte nur voneiner Gnade hier die Rede sein: der der Königin, die ihm die Tür des Gefängnisses geöffnet hätte; das übrige sei seine Sache, die er mit sich selbst abzumachen habe: er sei bereit zu sterben. Den jungen katholischen Geistlichen, der ihn hatte besuchen dürfen, hatte er gebeten, ihn als Freund zum Richtplatze zu begleiten. Auf die Frage, ob er nicht noch einen Wunsch habe, dessen Gewährung ihm Trost sein könne, bat er, einen Brief, den er tags zuvor erhalten hatte, in der Hand behalten zu dürfen bis zuletzt. Es war dies ein Brief aus dem südlichen Frankreich, aus dem Geburtsort des Gefangenen, der, von den Behörden vorschriftsmäßig gelesen, ihm als unverfänglich zugestellt worden war: ein kurzer rührender Brief, nicht einmal ganz orthographisch geschrieben, mit einem weiblichen Taufnamen unterzeichnet. Er enthielt nichts weiter als die einfache Versicherung einer Liebe, die über Schuld und Tod hinaus ihre Treue bewahren werde. Den Gefangenen hatte dieser Brief tief ergriffen. Vielleicht war es der Nachklang einer ersten Jugendliebe, aus der Zeit, ehe noch wilde Leidenschaft und mißleitete Energie die hochbegabte Seele mit dunkler Schuld, die nun nur im Tode gesühnt werden konnte, befleckt hatten – und wie den armen Erdensohn, den im Leben Fluch- und Schuldbeladenen, zuletzt die reine, erste Liebe, das Ewig-Weibliche, hinanzieht und entsühnt, so blieb auch Barthélemy kein anderer Wunsch mehr, als mit diesem letzten Gruß der großen Erlöserin das Reich des Wahns und der Schuld zu verlassen.

[435] Würdevoll, gefaßt und mutig hatte er sich den letzten Vorbereitungen unterworfen. Seinen Gefangenwärter hatte er, mit herzlichem Dank für alle ihm bewiesene Liebe, umarmt und dann selbst die bewegten Richter aufgefordert, den letzten Gang anzutreten. Den Brief in die Hand gepreßt, war er an der Seite des jungen Geistlichen fest und ruhig dem Richtplatz zugeschritten. Als er die Stufen, die zum Galgen führten, betrat, hatte er einen Augenblick stillgestanden und gerufen: »In wenigen Augenblicken werde ich es also kennen, das große Geheimnis!« – Dann, oben angelangt, hatte er noch einmal ruhig und lange auf die den Richtplatz umgebende Menge geblickt, den Geistlichen umarmt und sich dem Henker übergeben.

Wir schwiegen lange, lange, und stille Tränen sagten mehr als Worte. Ich hatte viele tage hindurch Mühe, meine Fassung wieder zu erlangen. Begierig forschte ich nach jedem Aufschluß, den ich noch irgendwie über des Gestorbenen letzte Seelenstimmung und Gedanken erfahren konnte. Daß man auch selbst den Toten noch fürchtete, erhellte daraus, daß, als nach der Hinrichtung sein Associé kam, um die ihm vom Freunde vermachten, während der Gefangenschaft geschriebenen Memoiren und sonstigen Mitteilungen in Besitz zu nehmen, sich nichts vorfand, als einige unbedeutende beschriebene Blätter und daß niemand von etwas anderem wissen wollte. Wahrscheinlich waren die Hauptsachen sogleich weggenommen und an dabei interessierter Stelle abgeliefert worden. Die Zeitungen ergingen sich noch während mehrerer Tage in Mutmaßungen, Schmähungen, Verdächtigungen, bis die Flut des Neuen auch diese Wellen hinwegspülte. Um so wohltuender überraschte mich ein Brief des katholischen Priesters, der Barthélemys Besucher gewesen war, den die Times brachte. Der Schreiber sprach sich auf das entschiedenste gegen die böswilligen Entstellungen aus und versicherte, daß er den Gerichteten genau kennen und trotz der beklagenswerten Tat, zu der ein leidenschaftliches Temperament ihn hingerissen, schätzen gelernt habe und daß er jetzt, [436] wo die große Sühne vollzogen sei, bereit wäre, für sein Andenken in jeder Weise aufzutreten.

Der Brief war sehr schön und gab mir das Vertrauen, daß das Schicksal dem Unglücklichen eine edle Ausnahme der gewöhnlichen Priesterschaft zum Troste zugeführt gehabt habe. Ich schrieb diesem Priester, erzählte ihm von dem lebhaften Interesse, das Barthélemys Intelligenz und sein ernstes innerliches Wesen mir früher eingeflößt hatten; ferner, daß ich ihn dann aus den Augen verloren gehabt habe und daß ich nun, durch sein tragisches Ende mit dem tiefsten Mitleid erfüllt, ein sehnliches Verlangen fühle, Näheres über ihn und seine letzten Seelenzustände zu erfahren. Ich bat ihn dringend, mir darüber, soweit es möglich sei, Mitteilungen zu machen. Wenige Tage darauf erhielt ich folgende Antwort:


»Ich bedaure sehr, dem Wunsch, den Sie mir ausdrücken, nicht nachkommen zu können, Ihnen über die letzten Tage des unglücklichen Barthélemy Einzelheiten zu berichten, die ich ebenso den Journalen wie Mitgliedern meiner Familie habe verweigern müssen. Es haben zwischen diesem Unglücklichen und mir Mitteilungen so intimer Natur stattgefunden, daß sie mir der Klasse von Dingen anzugehören scheinen, über die strengstes Geheimnis zu beobachten eine der ersten Pflichten meines Amtes ist. Ich erkenne mit Ihnen an, daß Barthélemy eine schöne Intelligenz, große Charakterfestigkeit und ein großmütiges Herz besaß, aber – er hatte auch heftige Leidenschaften, und diese Leidenschaften sind es, die ihn zu einem schimpflichen Tode geführt haben. Es ist unleugbar, daß der Mord Moores (des Polizeibeamten) ohne Vorbedacht geschehen ist; dennoch hat es nicht bewiesen werden können, daß dieser Mord im Interesse einer legitimen Verteidigung nötig war. Der Angeklagte konnte nicht wohl freigesprochen werden, aber eine unparteiische Gerechtigkeit hätte ihn nicht zur Todesstrafe verurteilen müssen. Ich habe getan, was irgend in meiner Macht stand, um sein [437] Leben zu retten; man hatte es mir versprochen, und bis zum Sonntag, dem Vorabend seines Todes, hatte ich noch Hoffnung. Umstände, die dem Mord fremd waren, haben die Wagschale sich nach der Seite der Härte neigen lassen. Er ist wahrhaft mutig gestorben, aber er hat tief gelitten vor dem Sterben. Er fühlte das Bedürfnis religiösen Trostes, aber er fürchtete sich, ihn zu empfangen im Angesicht von Freunden, die ihn beobachteten und die doch so tief unter ihm standen. Seine Seele kämpfte einen furchtbaren Kampf, der eine weniger starke Organisation als die seine gebrochen hätte; aber ich darf glauben, daß meine Gegenwart und meine Worte ihm den furchtbaren Kelch, den er bis auf die Hefe hat trinken müssen, weniger bitter gemacht haben. Ich will es Ihnen gestehen, daß ich um ihn geweint habe, denn er war mir beinahe ein Freund geworden. Wer weiß, wie alles gekommen wäre, hätte ich ihn zu der Zeit gekannt, wo Sie ihn kannten. ›Ihre Lehren sind sehr schön,‹ sagte er mir an einem der letzten Tage; ›wenn das Leben mir erhalten worden wäre, hätte ich sie verbreitet, ohne selbst daran zu glauben, und vielleicht wäre ich noch dahin gekommen, selbst daran zu glauben.‹ Er hat mir zum Andenken ein kleines Buch geschenkt, das einzige Gut, das er noch auf der Welt besaß.

Dies sind die wenigen Einzelheiten, die ich denen, die Sie in den Zeitungen gelesen haben, hinzufügen kann. Ich bitte Sie, mich deshalb zu entschuldigen und die Versicherung meiner ehrfurchtsvollsten Huldigung entgegen zu nehmen.

L. Roux.«


Hiermit war für mich die Möglichkeit, noch etwas von Barthélemy zu erfahren, geschlossen, und es blieb mir nichts übrig, als über dem schimpflichen Grabe des Verbrechers in Newgate eine im höchsten Leiden von der Schuld des Daseins gereinigte und verklärte Gestalt zu erblicken, die sich mir zu unauslöschlicher Erinnerung eingrub.

[438]
7. Kapitel. Noch ein Toter
Siebentes Kapitel
Noch ein Toter

Kurz darauf sollte ein anderer Tod uns in eine freudige Aufregung versetzen. Eines Morgens, als ich mit den Kindern bei unseren gewöhnlichen Beschäftigungen saß, hörten wir einen lauten Ausruf Herzens aus seinem Arbeitszimmer, und gleich darauf trat er in höchster Erregung zu uns herein, ein Zeitungsblatt in der Hand und rief: »Der Kaiser Nikolaus ist tot!«

Dieser letzte der europäischen völligen Autokraten starb noch in höchster Manneskraft, als er einsah, daß seine Macht sterblich sei, und daß sie ihm nur im sklavisch unterjochten Rußland unüberwindlich erschienen war, daß sie aber vor den Kräften geordneter zivilisierter Staaten weichen müsse. Es schien, als wenn sein Tod nicht nur Rußland, sondern auch Europa von einem ungeheuren Druck befreie, als wenn jetzt ein Aufatmen möglich sei, und die gebundenen Kräfte des russischen Volkes nun notwendig zur freien Äußerung und Entwicklung kommen müßten. Herzen war ganz überwältigt von Glück. Er hoffte zuversichtlich, daß der Thronfolger, schon gezwungen durch die Tradition, die den Erben gewöhnlich eine freiere Politik vorschreibt, wenn ihre Vorgänger despotisch waren, noch mehr aber durch die Lage und Stimmung, in der Rußland sich nach dem Krimkriege befand, seine Aufmerksamkeit besonders der Aufhebung der Leibeigenschaft und der Einführung konstitutioneller Staatsformen zuwenden werde. Vielleicht regte sich auch im Grunde seines Herzens die Hoffnung, daß die Umstände so sich verändern könnten, um ihm die Rückkehr in das Vaterland zu ermöglichen. Er liebte dieses Vaterland immer tiefer, je mehr ihm die westeuropäischen Zustände ihre eigne innere Trostlosigkeit enthüllten und ihr versiechendes Leben zeigten. Immer fester wurde sein Glaube an die der Entwicklung fähigen Keime eines neuen Lebens in Rußland. Jedenfalls hob und begeisterte ihn dies alles so, daß er alsbald den Entschluß faßte, [439] seiner Hoffnung einen Ausdruck zu geben. Die Monatsschrift, die einst die Teilnehmer der Revolution von 1825 herausgegeben hatten, wollte er mit demselben Titel: »Der Nordstern« (l'étoile polaire) wieder aufleben lassen. Schon als dreizehnjähriger Knabe hatte er mit seinem Freunde auf einem Hügel bei Moskau vor dem Glanz der untergehenden Sonne gelobt, jene Männer, die den Märtyrertod am Galgen starben, zu rächen. Jetzt, gerade nach dreißig Jahren, ward es ihm vergönnt, sein Gelübde zu erfüllen und jene Stimmen gleichsam aus dem Grabe wieder aufzuwecken, damit sie ihrem Volke das Ende der Knechtschaft und eine neue Ära verkünden sollten. Die Revolution von 1825 war, zum erstenmal in Rußland, von den gebildetsten und edelsten Leuten des Landes ausgegangen, während alle früheren Erhebungen, wie z.B. die Pugatscheffs, durch das wilde, regellose Volkselement hervorgerufen waren. Die Verschwörer, die Blüte der russischen Gesellschaft, meist Offiziere, mußten den Versuch teils am Galgen, teils in den Bergwerken von Sibirien büßen. Sie hatten der freisinnigen russischen Jugend als ein Vorbild vorgeleuchtet. Es war eine tiefe Genugtuung für Herzen, jetzt beim Tode dessen, der jene dem Tode geweiht hatte, die Erinnerung an sie zu feiern, indem er den Nordstern wieder aufgehen ließ über Rußland, um es einzuladen, die Bahn, die jene betreten hatten, weiter zu verfolgen. Eine Medaille, die die Profile der fünf Anführer der Revolution darstellte, die gehängt wurden, diente als Vorbild für die Vignette der neuen Monatsschrift.

Die Entwerfung dieses Planes beschäftigte Herzen den ganzen Morgen; am Nachmittag kamen mehrere Bekannte aus London, um ihm für Rußland Glück zu wünschen. Wir waren alle in ausgelassen heiterer Stimmung. Der Garten lief längs der Themse hin, von der er nur durch einen schmalen, sandigen Uferrand, auf dem Kinder aus dem Dorfe spielten, geschieden war. Herzen trat an die Hecke und warf den Kindern Geld hinunter, indem er ihnen zurief, Hurra, den englischen Freudenruf, hören zu lassen. Die Kinder ließen [440] sich das nicht zweimal sagen und fingen ein Freudengeschrei an, sämtliche Gäste wurden von der Aufregung ergriffen und warfen hinunter, was ihre Taschen an kleinen Münzen enthielten, was dann natürlich den Jubel unten bis zu solcher Raserei steigerte, daß wir endlich für gut fanden, durch unseren Rückzug dem ein Ende zu machen.

Ich freute mich sehr, als Herzen sich, auf Grund der nun mit Bestimmtheit in ihm aufblühenden Hoffnungen für Rußland, geneigt erklärte, in einem internationalen Meeting, das zur Feier der Februarrevolution von 48 veranstaltet wurde, sprechen zu wollen. Es erschien mir schön, daß ein so glühender Patriot öffentlich sich darüber aussprechen würde, daß er die Niederlage der russischen Waffen als ein wünschenswertestes Ereignis betrachtete, weil der Krieg ein ungerechter und eine Sache des Absolutismus war. Sonderbarerweise war Herzen, der im persönlichen Verkehr der freieste Mensch war, den man sehen konnte, und dem im Gespräch und in der Diskussion das Wort so zu Gebot stand wie wenigen, nicht imstande, öffentlich zu sprechen. Er sagte öfter, daß er es nie gekonnt, und er ging auch jetzt auf den Vorschlag nur ein, wenn er seine Rede ablesen dürfe, was ihm natürlich zugestanden wurde. Es ging ihm darin wie Mazzini, der auch niemals öffentlich sprach, weil ihn eine gewisse Schüchternheit übermannte, die ihm in der Privatdiskussion ganz fremd war. – Wir fuhren an dem für das Meeting bestimmten Abend in die Stadt; die große Halle, in der es gehalten wurde, war gedrängt voll. Ernest Jones, der zur Chartistenpartei gehört hatte und seit deren Auflösung das Haupt der radikalen Arbeiterpartei war, war chairman. Um ihn herum auf der Tribüne saßen die Mitglieder des Komitees, meist Polen und Engländer und die Redner des Abends. Auch Herzen begab sich dorthin, sein Sohn und ich waren unter den Zuhörern. Der Zweck des Meetings war: die Sympathien des englischen Volkes für die polnische Sache zu einer energischen Demonstration aufzurufen. Den nie ersterbenden Hoffnungen der Polen erschien [441] der Augenblick, wo Rußland von den vereinigten Mächten auf seinem eigenen Gebiet hart bedrängt war, günstig, das verhaßte Joch abzuschütteln. Immer als Bittende am Fuß der europäischen Throne, insbesondere des französischen, stehend, mit sehnsuchtsvollem Blick nach jeder geeigneten Stunde ausspähend, wo glücklichere Völker ihnen die rettende Bruderhand reichen würden, hatten die Polen noch nicht gelernt, einzusehen, daß bei den Franzosen die polenfreundliche Gesinnung zum Teil revolutionäre Phrase, zum Teil vielleicht politische Maßregel war, als eine stets im Hintergrund aufgestellte indirekte Drohung gegen Rußland. Daß sie sich aber schwerlich in eine andere Tat verwandeln würde als das Asylrecht und die materielle Unterstützung der in Frankreich lebenden Polen, wollten sie nicht begreifen. – Ebensowenig verstanden sie, daß bei den Engländern die ungehinderte lange Übung der politischen Freiheit die seltsame Erscheinung zu Tage gebracht hatte, daß, wenn die wirklichen warmen Sympathien des Volkes im Meeting einen öffentlichen energischen Ausdruck gefunden hatten, das Volk, durch die legale Ausübung seiner politischen Vereinigungs- und Rede-Freiheit beruhigt, sich zurückzog und die Dinge ihren Gang gehen ließ. Als der chairman die überraschende Nachricht verkündigte, daß in einem den polnischen Interessen geweihten Meeting ein Russe das Wort ergreifen wolle, jetzt, wo Rußland, der Unterdrücker der polnischen Freiheit, im Kampf mit England begriffen sei, erhob sich ein nicht endenwollender Jubel. Herzen bestieg die Tribüne und wurde enthusiastisch empfangen. Seine Rede wurde oft durch die lebhaftesten Beifallsrufe unterbrochen. Als er geendet hatte, wollte die jubelnde Anerkennung seiner edlen gerechten Anschauung gar kein Ende finden. Die Polen umringten ihn, um ihm die Hand zu drücken, und eine polnische Dame überreichte ihm einen Blumenstrauß. Er trat noch einmal vor, um dem Publikum dieses Symbol der Versöhnung zwischen den Bruderstämmen, die der Despotismus von oben trenne, zu zeigen. Das Publikum jauchzte Beifall. [442] Nach Herzen sprachen mehrere Polen und Engländer. Beim Weggehen umringte uns eine Menge von teilnehmenden Bekannten und Freunden. Saffi fuhr mit uns nach Twickenham hinaus, um die Nacht und den folgenden Tag dort zuzubringen. Es war mitten in der Nacht, als wir ankamen. Wir blieben noch eine Weile beim Abendessen in ernst bewegten Gesprächen beieinander. Endlich brachen wir auf und ich ging in mein Schlafzimmer, wo auch die Kinder schliefen. Welch ein Schreck überfiel mich hier, als mir die ängstlichen Hustentöne von dem Lager entgegentönten, auf dem die kleine Olga schlief. Ich erkannte sogleich ihre gefährliche Bedeutung und stürmte hinunter, wo Herzen und Saffi noch beisammensaßen, die mir hastig nach oben folgten, und bestätigten, daß dies ein Croupanfall sei. Saffi rannte fort, um den Arzt des kleinen Ortes herbeizuholen, da der Hausarzt in London wohnte, mithin Stunden vergangen sein würden, bis man ihn herbeigeschafft hätte. Der Arzt kam und verordnete die nötigen Mittel, unter anderem ein heißes Fußbad. Ich hielt während dessen das Kind auf meinem Schoß und behielt es so während des übrigen Teils der Nacht, da im Liegen die Hustenanfälle beschwerlicher waren. Der gute Saffi saß uns zu Füßen und hielt ein Händchen des Kindes in seiner Hand; Herzen blieb natürlich auch, und so verbrachten wir den Rest der Nacht, weitab von der politischen Aufregung, in der wir uns am Anfang befunden, zuweilen nur leise zusammen flüsternd, meist schweigend und doch verständnisvoll miteinander des dunklen Mysteriums denkend, das uns in jedem Augenblick des Lebens umschwebt, und oft, wenn wir es am wenigsten erwarten, den Faden abreißt, aus dem unsere teuersten Bande gewebt sind. –

Als der Morgen tagte, sahen wir, daß das Kind außer Gefahr war, und schieden, indem wir uns schweigend die Hand reichten; tags darauf sagte ich Domengé, indem ich ihm die überstandene Gefahr erzählte: ich glaubte mich gewaffnet und fest gegen alle Schläge des Schicksals, ich dachte, [443] ich hätte die schwersten Prüfungen überstanden und wäre gefeit; aber eine Prüfung gibt es, von der ich noch nicht weiß, wie ich sie bestehen würde, das wäre der Tod dieses Kindes. So tief hatte alles, was das Heiligste der Mutterliebe ausmacht, sich in mir entwickelt und auf dies Kind konzentriert. Daß die Mutter das Kind, das sie geboren hat, liebt und pflegt, das teilt sie mit dem Tiere, das ebenso zärtlich für seine Jungen sorgt. Was aber den höheren Inhalt der Mutterliebe ausmacht: die heiße Sorge um das geistige Leben, den Charakter, die volle Entwicklung aller Fähigkeiten, die Sehnsucht, in dem jungen Leben die eigene Unsterblichkeit zu erleben, das, was als Ideal in uns gewohnt hat, zu neuer Blüte hinüberzuretten in die Jugend der Erscheinung; dieses Hüten der jungen Seele, über der man noch eifersüchtiger wacht als über der eignen, um sie vor geistigem und moralischem Unheil zu bewahren, um sie in keuscher, unverletzter Schönheit der Sonne der Erkenntnis und des Bewußtseins zu erschließen – all dieses erlebte und empfand ich in mir, in Beziehung auf dies schöne, liebenswürdige Kind. Ich fand darin einen neuen Beweis dafür, daß jenes Empfinden, das man meist bei der Frau nur für die Kinder, die sie unter dem Herzen getragen hat, voraussetzt, im allgemeinen ein wesentlicher Bestandteil der weiblichen Natur ist, der die Frauen, auch wenn sie nicht selbst Gattin und Mutter werden, ganz vorzüglich auf die Pflege und Erziehung der Kindheit hinweist, und zwischen Erzieherin und Zögling oft ebenso feste, durch die heiligste Liebe geknüpfte Bande hervorbringt, als zwischen der leiblichen Mutter und dem Kind. Nur müßte freilich dieses mütterliche Element nicht verdorren im öden Gouvernantentum; nur müßten die Erziehungsanstalten, die von Frauen geleitet werden, nicht Dressur-Anstalten, sondern wahre Mutterhäuser sein; nur müßten in den edelsten Verhältnissen der Art die Rechte der Mutter auch auf die, die im höchsten Sinn in ihre Stelle getreten ist, übergehn.

Leider mußten wir im Frühjahr das schöne Haus verlassen, [444] in dem uns so glückliche Tage voll inneren Friedens, freudiger Tätigkeit und schöner Resultate geblüht hatten. Wie von banger Ahnung erfüllt, sagte ich zu Herzen, als wir die Schwelle zum letztenmal überschritten: »Wie ängstlich das Herz doch bei vorrückendem Alter und nach vielen Schicksalsschlägen wird! Während die Jugend in jeder schönen Zeit nur die Bürgschaft für endlose, schönere Zeiten sieht, fühlt man, wenn man älter wird, nach jedem schönen Abschluß den bangen Zweifel, ob es noch je wieder so gut werden könne, und ob nicht das Schicksal schon gewaffnet vor der Tür stehe, um einen neuen, unerwarteten Streich zu führen.«

»Nun, Sie sehen wenigstens, daß es gut ist, daß Sie geblieben sind und sich nicht durch die vielen Schwierigkeiten haben abschrecken lassen,« erwiderte Herzen; »jene russische Dame kann nicht kommen, hat sich verheiratet und hat nun ihren eignen Herd (er hatte diese Nachricht kürzlich bekommen). Ein verheiratetes Paar hat seine Welt für sich und kann sich nicht noch mit einem andern Familienleben befassen. Bleiben und arbeiten wir zusammen weiter und suchen wir so dem Einfluß böser Geister zu wehren.«

Wir blieben jedoch noch auf dem Lande, in dem uns liebgewordenen Richmond. In große Aufregung versetzte mich die Nachricht, daß für die dermalige Londoner Saison Richard Wagner als Dirigent der Konzerte der New Philharmonic Society aus Zürich, wo er im Exil lebte, berufen sei. Ich habe schon früher erwähnt, daß ich noch in Deutschland seine Bücher: »Das Kunstwerk der Zukunft«, »Kunst und Revolution« sowie »Oper und Drama« gelesen hatte, und daß der tiefe Eindruck, den ich durch sie empfangen, mich bewogen hatte, an den mir persönlich Unbekannten zu schreiben. Später waren mir auch die Texte des Tannhäuser, des Lohengrin und des Rings des Nibelungen bekannt geworden. Wie oft hatte ich schon in frühester Jugend, als die leidenschaftliche Neigung für das Theater mich sogar zu dem Wunsche begeisterte, selbst Künstlerin zu werden, [445] um das Ideale unmittelbar gleichsam mit mir identifiziert, darstellen zu können, darüber nachgedacht, welch wichtiges Bildungsmittel das Theater sein müßte, wenn die Kunst in ihm zu einem Kultus erhoben, wenn sie Religion würde und ihre Jünger Priester, die die Aufgabe hätten, die ideale Weihe, die sie in sich fühlten, auszudrücken und den Zuschauern mitzuteilen. Je mehr mir die Kirche mit ihrer orthodoxen Moral zu einer öden, jedem lebendigen Quell heiligender, poetisch verklärender Begeisterung fremden Stätte geworden war, je mehr war mir die Bedeutung des Theaters gewachsen. Ich hatte nicht angestanden, ihm in meinen Gedanken die erste Stelle unter den wahren Bildungs-und Veredlungsstätten eines Volkes anzuweisen. Es erschien mir als das edelste Ergebnis der Kultur, wo sich der Genius, dieser Gesamtausdruck alles Höchsten, was die Natur in einem Volk gemeint hat, und die Menge, wie Geber und Empfänger zueinander verhalten und die letztere ihr erhabenstes Fühlen und Denken in dem erkennt, was der erstere ihr reicht. Später, von der politischen Strömung und dem Mitleid mit dem tiefen sozialen Elend fortgerissen, war mir jenes schöne Ideal in weite Ferne entrückt worden. Ich glaubte fest an die wahre Vollendung und Erlösung des Lebens durch die Kunst. Aber mir schien es, als müsse noch eine lange, schwere Arbeit vorangehen, gleichsam die Urbarmachung des harten Erdreichs, ehe diese höchste Blüte entkeimen könne. In den Schriften Wagners hatte ich die vollendete Theorie dessen, was ich in unbestimmten Zügen empfunden und geahnt hatte, gefunden. Wenn ich von der Bedeutung des musikalischen Dramas auf das innigste durchdrungen und ergriffen wurde, so war mir durch jene wundervollen Texte ein Vorgefühl dessen geworden, was das höchste tragische Kunstwerk auf dem Hintergrunde der verklärenden Musik für eine, alles andere weit übersteigende und das Leben veredelnde Wirkung haben müsse. Der Wunsch, etwas von jener Musik hören zu können, war für mich zur brennenden Sehnsucht geworden, zu deren [446] Erfüllung aber auch nicht die leiseste Aussicht vorhanden schien. Wie sehr mußte mich nun die Nachricht erregen, daß der Verfasser jener bedeutungsvollen Bücher, der Schöpfer jener poesieerfüllten Texte, nach London käme. Ich hörte von seinem Eintreffen durch meine ehemalige Hausgenossin, die junge deutsche Musikerin, und beneidete sie, daß sie ihn mehreremal im Hause einer ihr befreundeten Familie gesehen hatte. Mir war es nicht leicht, auch nur einmal zu den Konzerten in die Stadt zu kommen, da bei den Londoner späten Stunden sie bis tief in die Nacht dauerten und mir alsdann die Rückkehr auf das Land unmöglich war. Ich mußte also suchen, die Nacht über in der Stadt bleiben zu können, und ruhte nicht, bis ich dies eingerichtet hatte. Was ich in dem Konzerte, dem ich beiwohnte, erlebte, war der Art, daß ich mich nureines ähnlichen Eindrucks durch musikalische Leistungen erinnerte, nämlich, als ich einst in meiner Jugend die Schröder-Devrient gehört hatte. Durch jene unvergleichliche Künstlerin wurde mir die erste wirkliche Offenbarung über das Wesen der dramatischen Kunst. Sie weckte eine grenzenlose Begeisterung in mir durch Darstellungen, die mich sonst wenig angezogen hatten, wie z.B. die des Romeo in der Bellinischen Oper, wo ihr alles verklärender künstlerischer Genius das süße Melodiengetändel der italienischen Musik mit heroischem Feuer und namenloser Poesie adelte und zum tragischen Kunstwerk erhob. Diese selbe Offenbarung wurde mir nun in jenem Konzert durch eine Orchesteraufführung, die mir wie zum erstenmal die geheimnisvolle Sprache der Tonwelt aufzuschließen schien, und mir längst Gekanntes und Vertrautes wie eine neue, nun erst im rechten Licht erkannte Gabe überlieferte. Ganz besonders war dies der Fall mit der Ouvertüre zum Freischütz. Eine leidenschaftliche Verehrerin Webers, hatte ich alle seine Opern unendlich oft, den Freischütz aber, sozusagen von Kindheit auf gehört und wußte ihn beinahe auswendig. Nun war es mir, als hörte ich das poetische Tongemälde der Ouvertüre zum erstenmal, und es ward mir plötzlich klar, [447] daß ich sie jetzt erst höre, wie sie gehört werden müsse. Die ganze Waldsage mit ihrem Zauber, ihrem Schrecken und ihrer süßen Unschuld und Poesie stand wie verklärt vor meinem Blick. Die Persönlichkeit des Dirigenten kam so wenig wie beim Lesen seiner Bücher bei diesem Eindruck in Betracht. Ich saß zu fern, um mir von ihr einen rechten Begriff machen zu können; nur hatte ich die Empfindung, als flöße sichtbar von seinem Taktstock eine Harmoniewelle über das Orchester hin und mache die Musiker gleichsam unbewußt in einer höheren Weise spielen, als sie es bis jetzt je vermocht hatten. Unter allem, was ich im konzertreichen England bis jetzt gehört hatte, stand dies Konzert einzig da.

Man kann sich denken, mit welcher Freude ich einige Zeit darauf eine Einladung von Anna annahm, um einen Abend mit Wagner, der ihnen zugesagt hatte, bei ihnen zuzubringen. Nichts anderes war imstande, mich zum zweitenmal für zwei Tage und eine Nacht, von meinen geliebten Kindern zu trennen, von denen fern ich eigentlich immer ein tiefes Unbehagen und eine quälende Unruhe empfand. Aber diese lange gewünschte Begegnung konnte ich mir nicht versagen. Die sehr zurückhaltende, kühle Weise, in der Wagner unser aller warmes Entgegenkommen aufnahm, befremdete mich im ersten Augenblick etwas. Dann aber erklärte ich sie mir ganz natürlich aus der uns unumwunden ausgesprochenen, unbefriedigten Stimmung, in die ihn der ihm unsympathische englische Aufenthalt versetzte. In der Tat hatte sich auch zwischen ihm und der englischen, vom Mendelssohn-Kultus durchdrungenen Gesellschaft von vornherein ein Antagonismus festgestellt, der in den musikalischen Berichten und Kritiken der Saison zu Absurditäten wie die folgende Anlaß gab, daß man unmöglich das Rechte von einem Dirigenten erwarten könne, dersogar Beethovensche Symphonien auswendig dirigiere. Nur kurz wurde indes des unbefriedigenden musikalischen Treibens gedacht. Fast von vornherein wandte sich das Gespräch auf die Werke eines Philosophen, dessen Name ganz plötzlich wie ein strahlendes Gestirn aus [448] der Vergessenheit, in der man ihn mehr als ein Vierteljahrhundert gelassen hatte, heraufgestiegen war. Dieser Philosoph war Arthur Schopenhauer. Wohl erinnerte ich mich, in früher Jugend bei einem längeren Aufenthalt in Frankfurt am Main öfters einen kleinen Mann in einem grauen Mantel mit mehreren Kragen, damals Chenille genannt, gesehen zu haben, der am Mainquai, von einem Pudel gefolgt, zur bestimmten Stunde seinen täglichen Spaziergang machte. Ebenso erinnerte ich mich, daß man mir gesagt hatte, dieser Mann sei Arthur Schopenhauer, der Sohn der Schriftstellerin gleichen Namens, und er sei ein völliger Narr. Besonders pflegte ein Bekannter von uns, damals Senator der freien Stadt Frankfurt, ein sehr angesehener Mann, der täglich mit jenem an der table d'hôte zu Mittag aß, über ihn zu spotten und Anekdoten zum Beweise seiner Narrheit aufzutischen. Nachher hatte ich nie wieder von ihm gehört, bis nun seit einiger Zeit wiederholt von Deutschland die Kunde herübergekommen war, daß jenes Mannes Werke, obgleich längst veröffentlicht, jetzt erst gelesen würden und er von einigen als der größte Philosoph nach Kant bezeichnet, von anderen aber noch weit über diesen gestellt werde. Ich weiß nicht, auf welche Weise Friedrich erfahren hatte, daß auch Wagner diese letzte Ansicht teile. Er brachte das Gespräch auf Schopenhauer und bat Wagner um eine Auseinandersetzung der Grundgedanken der Schopenhauerschen Philosophie, die er auch noch nicht kannte. In dem darauf folgenden Gespräch traf mich mit besonderer Macht der Ausdruck »die Verneinung des Willens zum Leben«, welchen Satz Wagner für das Endresultat der Schopenhauerschen Weltanschauung erklärte. Gewohnt, den Willen als die Kraft der sittlichen Selbstbestimmung anzusehen, obgleich ich nie ganz in meinem Denken den Widerspruch zwischen dessen offenbarem Gebundensein und seiner vom christlichen Dogma erklärten Freiheit hätte lösen können – war mir dieser Satz, als höchste ethische Aufgabe der Menschheit, ganz unverständlich. Hatte ich doch gerade die Richtung des Willens [449] auf unausgesetzte sittliche Vervollkommnung und Tat als das letzte Ziel des Daseins angesehen. Doch klang dieser Satz in mir nach wie ein Etwas, vor dem ich nicht als Rätsel stehen bleiben dürfe und dessen Verständnis in mir vorbereitet liege. Er zog mich an, als ob er der Schlüssel sein müßte zu der Pforte, hinter der das Licht der letzten Erkenntnis, zu der mich ahnungsvoll mein Leben geführt hatte, mir scheinen werde. Der Abend verlief, ohne daß sich ein wärmerer Ton zwischen Wagner und uns hergestellt hätte. Ich fühlte ein Unbefriedigtsein von dieser Begegnung, das mich um so schmerzlicher traf, als ich dem Verfasser jener Schriften, dem Dirigenten jenes Konzertes, mit so warmer Begeisterung entgegengegangen war. Um es nicht bei diesem Eindruck bewenden zu lassen, schrieb ich nach einiger Zeit ein paar Worte an Wagner und lud ihn ein, nach Richmond hinauszukommen, da auch Herzen sich freuen würde, ihn kennen zu lernen. Leider erhielt ich eine abschlägige Antwort, die seine nahe Abreise und die ihr vorhergehenden Beschäftigungen als Grund angab.

Eine betrübende Erfahrung hatten wir wieder in unserem engeren Kreise zu machen. E..., dessen gereiztes Wesen stets nach neuen Vorwänden griff, um sich in heftigen Angriffen bald hier, bald dorthin zu entladen, war von der übelsten Laune, die sich diesmal gegen Herzen selbst wendete. Schon im Anfang des Krimkrieges hatte er eine Erfindung gemacht, von der er sich ungeheuren Erfolg versprach. Er hatte einen Plan ausgedacht, um vermittelst kleiner Luftballons, die in einer mäßigen Höhe in der Luft zerplatzen mußten, revolutionäre Flugblätter, die ihnen entfallen sollten, über ganz Rußland zu verbreiten und dadurch die Landbevölkerung zum Aufstand gegen die despotische Regierung zu vermögen. Ich erinnere mich nicht mehr, auf welche Weise er die Luftballons nach Rußland hineinbringen und daselbst aufsteigen lassen wollte. Ich weiß nur noch, daß er ganz erfüllt war von diesem Plan und den Moment für sehr geeignet hielt, da der Krieg, der dem Landvolk seine Söhne [450] und Ernährer raubte, bei diesem sehr unbeliebt war. Zudem rechnete er auf dessen abergläubische Gesinnung, die diese gleichsam vom Himmel fallenden Aufforderungen zu einer Art von religiösem Fanatismus steigern würde. Die Erfindung schien ihm so wichtig, der Erfolg so zweifellos, daß er alles in Bewegung setzte, um die Sache zu verwirklichen. Herzen war ihm zu lau und skeptisch seiner Idee gegenüber. Er wandte sich daher durch einen Mittelsmann an den Kaiser Napoleon, den er für fähig hielt, die Wichtigkeit eines solchen Mittels einzusehen und alles dazu Nötige herzugeben. Allein auch diese Voraussetzung schlug fehl; er erhielt von Paris eine ablehnende Antwort. Ihm selbst fehlten die Mittel, die Sache in das Werk zu setzen, er sah seinen geträumten Erfolg scheitern und empfand darüber einen tiefen Mißmut. Dieser wandte sich in immer steigendem Maße gegen Herzen, da er es ihm als Schuld anrechnete, dies Werkzeug zur Bekämpfung des russischen Despotismus nicht angewandt zu haben. Herzen hatte ihm vergebens mehrere Male auseinandergesetzt, daß er in dem Augenblick gar keine Erhebung in Rußland wünschen könne, da sie nur zu blutigen Repressalien, vielleicht sogar zum Einschreiten der Alliierten führen könne, jedenfalls aber den infolge der Niederlage des Gouvernements zu hoffenden inneren Reformen Einhalt tun würde. Er war der Ansicht, daß man augenblicklich nichts zu tun habe, als das Ende des Krieges und die sich daran knüpfenden Folgen abzuwarten. Zu dieser ersten Verstimmung E...s gesellte sich eine zweite: literarische Eifersucht. Herzen hatte gerade den Besuch eines Russen, des ersten der alten Moskauer Freunde, dem es möglich gewesen war, herauszukommen und ihn, wenn auch im strengsten Inkognito, aufzusuchen. Er brachte auch eine Menge kleiner Gegenstände, werte Erinnerungen vergangener Zeiten aus dem zurückgelassenen Eigentum Herzens mit. Alles dies war für Herzen eine unendlich große, wenngleich wehmütige Freude. Besonders aber beglückten ihn die Erzählungen von dem unerhörten Erfolg, den seine importierten [451] Schriften in Rußland hätten. Der Freund erzählte, daß ein Bekannter ihn eines Nachts aus dem Schlaf geweckt habe, um ihm unter vier Augen eine Neuigkeit von der höchsten Wichtigkeit zu verkünden: die Ankunft eines Exemplars der ersten in London gedruckten Herzenschen Schrift. Man hatte sich sogleich hingesetzt, um sie noch in derselben Nacht durchzulesen; dann war sie heimlich von Hand zu Hand gegangen, ja, man hatte sie abgeschrieben, da man nicht hoffen durfte, viele Exemplare zu bekommen. Jedes fernere Produkt der freien Londoner Presse hatte man mit immer steigendem Enthusiasmus begrüßt. Herzens Name war auf das Banner geschrieben worden, unter dem sich alle Hoffnungen und Bestrebungen der russischen Fortschrittspartei sammelten. So war denn auch der erste Teil der neuen Vierteljahrsschrift »l'étoile polaire« mit der Vignette der fünf Märtyrer mit Entzücken aufgenommen worden. Die größte Anerkennung aber hatte darin den Beiträgen Herzens gegolten, während ein sehr geistvoller, radikaler, aber etwas unbehilflich geschriebener Artikel E...s weniger beachtet worden war. Dies vollendete dessen Unmut. Herzen klagte mir mehreremal, daß der Umgang mit E... fast unmöglich werde wegen der aggressiven Stimmung, in der sich dieser fortwährend befinde. Eines Morgens nun, während ich mit Natalie zusammensaß und las, kam E..., rannte im Zimmer umher, in der größten Aufregung, indem er die bittersten Ausfälle gegen Herzen machte, und gebärdete sich wie ein Unsinniger. Ich rief ihn anfangs freundlich, dann immer ernster zur Ordnung und bat ihn, zu bedenken, daß er vor Herzens Tochter rede. Aber er war nicht aufzuhalten in seinem blinden Zorn. Plötzlich blieb er uns gegenüber an dem Tisch, an dem wir saßen, stehen, zog einen kleinen Revolver aus der Tasche und sagte, indem er ihn, vielleicht ohne zu wissen, was er tat, auf uns richtete: »Sehen Sie, dieser Revolver ist immer geladen, und ich trage ihn immer bei mir, wer weiß, was einmal passiert, wenn der Zorn mich übermannt.« Natalie war sehr erschrocken, ich blieb ruhig, sah ihn fest an und sagte: »Zuerst [452] stecken Sie die Waffe ein, damit kein Unglück passiert, das Sie sich ewig vorwerfen müßten, und dann gehen Sie nach Haus und beruhigen Sie sich. Ich werde später kommen und mit Ihnen sprechen.« Meine Ruhe ernüchterte ihn etwas, und er ging. Ich beruhigte Natalie und bat sie, ihrem Vater einstweilen nichts zu sagen, dann überlegte ich, was zu tun sei. Daß rasch gehandelt werden müsse, war mir klar, denn wenn Herzen von dem Vorgefallenen gehört hätte, so würde ihn das so sehr empört haben, daß ein Konflikt unvermeidlich geworden wäre. Das Würdigste schien mir, E... augenblicklich zu einem völligen Abbrechen des Umgangs zu bewegen, um dadurch die Möglichkeit jedes persönlichen Zusammenstoßes zu vermeiden, da auf eine Ausgleichung und Besänftigung eines so gereizten Gemütszustandes vorerst nicht zu hoffen war. Geschah dies mit Anstand, so konnte ja später, bei ruhigerer Stimmung, auch wieder angeknüpft werden, wenn mir gleich eine Freundschaft kaum noch von großem Wert erschien, die solch krankhaften Regungen zur Beute werden konnte. Infolge dieser Überlegung schrieb ich einen klaren, verständigen Brief an E..., worin ich ihn an alle Gespräche, die wir über unsere Grundsätze geführt hatten, erinnerte, und ihn aufforderte, zu bedenken, daß für Menschen von unserer Gesinnung der Revolver wahrlich kein Mittel sei, tief innere Gegensätze und Verstimmungen zu lösen, sondern daß, wenn eine Verständigung und ehrliche Ausgleichung unmöglich schiene, nur ein Weg bleibe: sich still und würdevoll zu trennen und mit Achtung des Gewesenen den Weg, der einem jeden der rechte scheine, weiter zu gehen. Ich versicherte ihm, daß es mir persönlich sehr leid tue, da ich eine aufrichtige Freundschaft für ihn gehabt hätte, daß ich in diesem Falle aber doch Partei ergreifen und auf seinen Umgang verzichten müsse, weil ich dies meiner Freundschaft für Herzen und die Seinen schuldig sei. Ich bat ihn, das Beispiel einer wenn auch schmerzlichen, doch einzig würdigen Lösung solcher unheilbaren inneren Konflikte zu geben und so uns die Zukunft vielleicht offen zu erhalten. [453] Ich sandte ihm den Brief, noch ehe Herzen, der gerade in London war, eine Ahnung davon hatte, und erhielt sogleich eine Antwort, die, mit dem Ausdruck innigster persönlicher Achtung, zugleich eine völlige Zustimmung zu meinem Vorschlag und eine bestimmte Versicherung enthielt, fortan jeden Anlaß zu einem Konflikt vermeiden zu wollen. Als Herzen abends nach Hause kam, erzählte ich ihm die Geschichte und zeigte ihm die Briefe. Er war auch bewegt davon wie ich, dankte mir aber auch für meine Intervention, die er als eine Tat wahrer Freundschaft bezeichnete. Somit verschwand diese eigentümliche, höchst begabte, aber unglücklich krankhafte Persönlichkeit aus unserem Leben, um nie wieder darin zu erscheinen. Wenn der eigensinnige Groll, der ihn nun fern hielt, auch vielleicht mit der Zeit verschwunden wäre, so kam doch der Tod dem zuvor. Er zerstörte das arme, entstellte Gefäß einer groß angelegten Natur, die in ihren Gebrechen eine furchtbare Illustration zu dem Elend lieferte, zu dem eine unsinnige despotische Regierung auf Generationen hin ein Volk verdammen kann – ein Elend, das Lermontoff in folgenden bitteren Worten schildert: »Ich sehe unser Geschlecht mit Kummer an; seine Zukunft ist leer und dunkel, es wird in Untätigkeit altern, es wird unter der Wucht des Zweifels und einer unfruchtbaren Wissenschaft zusammensinken. – Das Leben ermüdet uns wie eine lange Reise, die keinen Zweck hat. Wir gleichen jenen frühreifen Früchten, die sich seltsamerweise zuweilen schon bei den Blüten finden; sie erfreuen weder das Auge noch den Geschmack und fallen im Augenblicke der Reife ab. – Wir eilen zum Grabe, ohne das Glück, ohne den Ruhm gekannt zu haben, und ehe wir niedersinken, werfen wir einen Blick voll bitterer Verachtung auf die Vergangenheit. – Wir werden unbemerkt über die Erde gehen: eine düstere, schweigende, bald vergessene Menge. – Wir werden unseren Nachkommen nichts hinterlassen, weder einen fruchtbaren Gedanken noch irgend ein Werk des Genius. Sie werden unsere Asche verhöhnen mit einem verächtlichen Gedicht oder mit dem Sarkasmus, [454] mit dem ein ruinierter Sohn seinen ausschweifenden Vater anredet.« Mit derselben Empfindung hat Leopardi, dessen kurze schmerzerfüllte Lebenszeit in die Zeit der tiefen Knechtschaft Italiens fiel, ehe auch nur das fernste Morgengrauen einen neuen schöneren Tag verkündete, diesem hoffnungslosen Schmerz Worte gegeben:

»Jetzt wirst du ruhen für immer, mein müdes Herz. Der ungeheure Irrtum, daß ich mich ewig wähnte, verging. Er verging: Wohl fühl ich, daß nicht nur die Hoffnung, nein, daß selbst der Wunsch der süßen Täuschungen erstorben ist. Ruhe für immer, du schlugst genug. Deine Erregungen helfen zu nichts, auch ist die Erde keines Seufzens wert. Bitter und langweilig ist das Leben, nichts anderes, und die Welt ist Kot. Beruhige dich nun. Verzweifle zum letztenmal. Unserem Geschlecht gab das Schicksal nichts als das Sterben. Verachte dich selbst, die Natur, die häßliche Macht, die im Verborgenen zum allgemeinen Schaden herrscht, und die unendliche Eitelkeit des Ganzen.«

Ach! und Leopardi und Lermontoff waren unter den Edelsten ihres Volkes, Lieblinge der Natur, an der Wiege mit allen Gaben des Geistes und der Poesie ausgestattet!

Ebenso war E... eine seltene Intelligenz! Vor welchem Richterstuhle müssen die Despoten antworten für die geknickten Geistesblüten und die gebrochenen, großen Herzen, denen sie das Lebenslicht der Freiheit geraubt, die sie im Moderduft des weiten Kerkers, zu dem sie ihre Länder machten, erstickt haben?

Nach dem schmerzlichen Eindruck jener Trennung schlug Herzen selbst vor, wieder für einige Wochen nach dem schönen Ventnor auf der Insel Wight zu gehen. Dies wurde natürlich von den Kindern und mir mit Freuden angenommen. Dort wurde ein bequemes Haus am Meer gemietet, und in der köstlichen Seeluft an der reizend schönen Küste stellte sich die getrübte Heiterkeit wieder her. Pulszkys waren auch wieder dort. Sie kamen oft des Abends, und ich erfreute mich des vertrauten Umgangs mit der edlen Therese, deren tief [455] gemütvolles Wesen sich mir in dieser Stille mehr enthüllte, als es in der ewigen Unruhe und politischen Aufgeregtheit ihres Londoner Lebens der Fall sein konnte. Dort erreichte uns auch die Nachricht von der Einnahme des Malakoff. Damit war der Fall Sebastopols und das Ende des Krieges vorauszusehen. Wir freuten uns der Nachricht, nicht nur aus allgemein menschlichen Rücksichten, sondern insbesondere auch für Rußland, da es anzunehmen war, daß der neue Kaiser nach Beendigung dieses von ihm als traurige Erbschaft übernommenen Krieges sich zu inneren Reformen wenden werde.

Nach unserer Rückkehr wurde der Beschluß gefaßt, wieder nach London überzusiedeln, da Herzens Sohn die London-University und das Laboratorium des berühmten Chemikers Hofmann besuchen sollte, und auch für Natalie einige Stunden nötig wurden, die ihr zu geben ich mich nicht für kompetent hielt. Mit wahrem Schmerz schied ich von der geliebten Landeinsamkeit, von der reizenden Aussicht des Hauses auf die Themse und ihre grünen Ufer, von dem herrlichen Park von Richmond und den Gärten von Kew, in denen ich täglich mit den Kindern so glückliche Stunden verlebt hatte, von jenem in sich geschlossenen und befriedigten Leben, das nun wieder den Schwankungen und vielleicht störenden Einflüssen einer an uns näher herantretenden Außenwelt preisgegeben war und in Gefahr kam, anstatt sich immer sicherer und organischer von innen heraus zu gestalten, durch ein Unvorhergesehenes, von außen her erschüttert oder gar zertrümmert zu werden!

8. Kapitel. Schicksal. Trennung
Achtes Kapitel
Schicksal. Trennung

Wir waren nach London zurückgekehrt und hatten ein Haus am äußersten Ende des freundlichen St. Johns-Wood, der Vorstadt mit den vielen grünen Gärten bezogen, von wo aus mannigfaltige Wege in den verschiedensten Richtungen ins Freie führten nach den reizenden Dörfern Hampstead [456] und Highgate hin, so daß wir uns noch beinahe auf dem Lande wähnen konnten. Der Unterricht der Kinder wurde auf das reichlichste organisiert, und ganz besonders gereichte es mir zur Beruhigung, seine musikalische Seite in die Hände Johanna Kinkels legen zu können, die, obgleich selbst Musikerin ersten Ranges, es sich doch ganz vorzüglich zur Aufgabe gemacht hatte, den ersten Musikunterricht von Kindern zu leiten. Namentlich legte sie Gewicht auf eine Singklasse, durch die sie das musikalische Gehör und die Fertigkeit im Treffen der Intervalle entwickelte. Dieser Singklasse beizuwohnen gewährte mir ein besonderes Vergnügen, denn unter der vorsichtigen Leitung Johannas entstanden hier reizende musikalische Wirkungen, die das kindliche Organ nicht nur nicht beschädigten, sondern im Gegenteil es durch gesunde Übung kräftigten und verschönten. Die Wichtigkeit eines so vortrefflich geleiteten Gesangunterrichts in frühester Jugend wurde mir klar, besonders eben in Beziehung auf die harmonische Entwicklung des Stimmorgans im allgemeinen. Man bereitet hierdurch dem Menschen einen fast unschätzbaren Vorzug, da die Anmut der Stimme auch beim Sprechen eine der schönsten Eigenschaften der äußeren Erscheinung ist und oft nachhaltiger einnehmend wirkt, als die Schönheit. Daß ich nun wieder Gelegenheit hatte, Johanna Kinkel, diese treffliche, von mir innig geliebte Freundin, öfter zu sehen, gehörte mit zu den Dingen, um derentwillen ich die Rückkehr nach London als einen Gewinn ansah. Außerdem hatte ich aber Mühe, dem aufs neue drohenden geselligen Andrang zu wehren, damit er nicht die schöne Ordnung und den Frieden der Häuslichkeit störe, denn nur in dieser fand ich mein eigentliches Glück. Da fand ich es aber auch so durchaus, daß ich eines Tages in einem Brief an meine Schwester schrieb: »Ich kann Dir weiter nichts von mir sagen als: möge es so bleiben, wie es ist, ich verlange nichts mehr darüber hinaus.« Wenn das völlig glückliche, und durch die günstige Entwicklung der Kinder sich immer reicher gestaltende Tagesleben mit ihnen vorüber war, so waren [457] es des Abends die gemeinschaftlichen Lektüren mit Herzen, die meinem Geiste neue Spannkraft und Nahrung gaben. Seine leuchtende Intelligenz, sein unfehlbares Gedächtnis und seine universellen Kenntnisse begleiteten dieses Lesen stets mit so wertvollen Bemerkungen und Erörterungen, daß sie dem Vorgelesenen einen zweiten reichen Inhalt beimischten. So lasen wir unter anderem eine eben herausgekommene Bearbeitung des Prozesses der St.-Simonisten, der mir ein hohes Interesse einflößte, besonders die Rede des Père Enfantin. Er sprach sich darin über die von dieser Seite angestrebte sogenannte Emanzipation der Frauen aus, die vom Publikum so vielfach ins Lächerliche gezogen worden war, hier mir aber als durchaus schön und edel aufgefaßt entgegentrat. Die mystisch-religiöse Lebensanschauung der St.-Simonisten teilte der Frau eben dieselbe priesterliche Weihe und Aufgabe zu, als wie dem Manne. Sie erhob die Gesellschaft zu einer großen patriarchalischen Hierarchie, in der Alter, Weisheit und Würde allein zu den höheren Graden befähigten. Die Frau wurde in jeder Hinsicht dem Manne als ein ebenbürtiges Wesen zur Seite gestellt. Enfantin sagte mit einer damals noch unter den Männern äußerst seltenen Bescheidenheit, daß es dem Manne durchaus nicht zukomme, weder als Gesetzgeber, noch als Lehrer oder Ordner der geselligen Lebensverhältnisse dem Weibe irgendwie eine Grenze setzen zu wollen, sondern daß die Frau hervorkommen müsse und für sich selber sprechen, um ihre wahren Bedürfnisse und Ansprüche zu formulieren. Ich war von dieser Darstellung der Sache um so freudiger überrascht, als eben in England eine von zahlreichen Unterschriften der edelsten, gebildeten englischen Frauen bedeckte Bittschrift um Zutritt zum Studium der Medizin an den Universitäten vom Parlament abschlägig beschieden worden war. Ich fühlte tief, wie richtig es sei, daß nur die Frauen selbst ganz sagen können, was ihnen nottut, und daß es daher Pflicht eines jeden denkenden weiblichen Wesens sei, jene Forderungen in sich klar zu machen, um damit im engeren oder weiteren Kreise hervorzutreten. Demzufolge [458] tauchte alsbald der Gedanke in mir auf, auch mein Wort in dieser Angelegenheit zu sagen. Ich setzte mich gleich unter dem Eindruck des Gelesenen hin und schrieb eine Widmung an den Père Enfantin, der damals noch lebte, die der beabsichtigten Arbeit voranstehen sollte.

Im übrigen verlief dieser Winter nach außen hin ziemlich ereignislos. Der Krieg in der Krim war seit Anfang September beendigt, und Herzens Hoffnungen auf eine neue Ära in Rußland waren um so lebendiger, je mehr die politische Demütigung des stolzen Autokratentums durch den Pariser Frieden ihm die Notwendigkeit innerer Reformen und dadurch wiederhergestellten Ansehens aufzuerlegen schien. Seine schriftstellerische Tätigkeit nahm nun einen beinahe ausschließlich politischen Charakter an. Ganz besonders war es die Emanzipation der Leibeigenen, die das Hauptthema seiner Besprechungen bildete und von ihm als die unerläßliche Bedingung einer neuern, bessern Zukunft für Rußland hingestellt wurde. Er hatte dabei jedoch immer die Beibehaltung des russischen Gemeindewesens mit Verteilung der Erde und ihrem gemeinschaftlichen Besitz im Auge. In der Erhaltung dieser primitiven Einrichtung sah er die einzig mögliche Abwehr gegen das Elend des europäischen Proletariats und zugleich ein gerechtes staatliches Prinzip, daß die Erde dem gehören solle, der sie bebaut. Es kamen ihm zu dieser Zeit auch schon immer häufigere Mitteilungen aus Rußland zu, und seine in London gedruckten Schriften gelangten mit immer größerer Leichtigkeit dorthin. Alles dieses brachte die zufriedenste Stimmung im Hause hervor, und ich glaubte wirklich nicht, daß der Ausdruck übertrieben war, mit dem Johanna Kinkel einmal ihre Empfindung nach einem Besuch bei uns schilderte; sie sagte: »Es war mir ganz, als träte ich in ein kleines Himmelreich.«

Der Kreis von Bekannten, der sich bei uns zu bestimmten Zeiten versammelte, war aus weit weniger leidenschaftlich aufgeregten politischen Persönlichkeiten zusammengesetzt, als der frühere im ersten Winter in London. Es waren viele [459] junge Leute verschiedener Nationalitäten darin, die sich mit begeisterter Anhänglichkeit um Herzen gruppierten, von ihm lernten und durch ihre verschiedenartigen Bestrebungen die Unterhaltung auch auf andere Gebiete als die rein politischen hinüberlenkten. Zu diesem jüngeren Kreis gehörte in dem Winter auch Carl Schurz, der wegen der Gesundheit seiner Frau für einige Zeit nach Europa gekommen war. Zwischen ihm und Herzen entspann sich eine ganz besondere Freundschaft, und wenn Schurz mit seiner lebendigen Auffassung und seinem Scharfblick uns die interessantesten Schilderungen des amerikanischen Lebens gab, so lernte er dagegen mit hohem Interesse aus Herzens Mitteilungen jenes nebelhafte Rußland kennen, dem beide, zusammen mit Amerika, die Suprematie der nächsten Kulturepoche voraussagten. Es war ein Lieblingsgedanke Herzens, auf den er immer und immer wieder zurückkam, daß der große Ozean in der nächsten Zukunft dieselbe Rolle spielen werde, die das Mittelmeer in der alten Welt gespielt hatte, das heißt: das Zentrum der Kulturstaaten dieser Zukunft zu sein.

Es waren dem nächsten Kreise auch jetzt mehrere Frauen beigesellt, wodurch ebenfalls der ausschließlich politische Charakter der Gesellschaft geändert und durch Musik und andere heitere gesellige Anregung unterbrochen wurde, was besonders für die Kinder erfreulich und anregend war. Anna freilich er schien nicht mehr so häufig, da ihre vorrückende Schwangerschaft sie mehr an das Haus fesselte. Ich ging dagegen, so oft ich konnte, auf ein Stündchen zu ihr und genoß so recht von Herzen das Zusammensein mit dieser lieblichen und edlen Natur, die durch die Erwartung des späten Mutterglücks eine noch höhere Weihe erhielt. So war ich auch in den letzten Tagen des Januar am Nachmittag eine Stunde bei ihr. Wir hatten die anmutigsten Gespräche natürlich in Beziehung auf das neue Wesen, das sie erwartete. Sie sprach dabei auch von der Möglichkeit ihres Todes mit großer Ruhe und Klarheit, obgleich sie gewiß in diesem Augenblick mehr als je zu leben wünschte. Ich trennte mich von ihr in [460] herzlicher Liebe, und sie trug mir noch lachend allerlei scherzhafte Dinge zur Bestellung an Herzen auf. Am folgenden Morgen wurde ich früh, als es draußen noch ganz finster war, durch ein Klopfen an meiner Stubentür geweckt. Ich fuhr erschreckt empor, als Herzen, mit einem Licht in der Hand, bleich und verstört eintrat, und auf meine bestürzte Frage, was denn vorgefallen sei, mit zitternder Stimme erwiderte: »Ich habe eben eine Botschaft von Charlotte bekommen – Anna ist diese Nacht plötzlich gestorben.« Ich war wie versteinert bei dem unerwarteten Schlag. Mich ankleiden und hineilen war das Werk einiger Augenblicke. Da war es denn wirklich so! Die ich am Abend vorher in anscheinender Gesundheit, in voller Geistesfrische verlassen hatte, lag nun kalt und still, zusammen mit der noch ungeborenen Blüte, durch die uns wenigstens ein lebendiger Abdruck der holden Mutter geblieben wäre. Mein Schmerz verstummte vor dem des armen Friedrich, dem in einer Hülle zwei Kleinode, Gegenwart und Zukunft, entrissen waren. Der Tod war ganz plötzlich, bei vollem Bewußtsein, eingetreten, und es war keine Zeit gewesen, wenigstens das eine junge Leben zu retten. Bald nach mir erschien auch Herzen, und es ist nicht zu sagen, wie warm und liebevoll er sich erwies. Er brachte eine Menge der schönsten Blumen, um das Totenbett nach der freundlichen italienischen Sitte zu bestreuen, wie er vor noch nicht allzulanger Zeit ein Totenbett geschmückt gesehen hatte, auf dem das Liebste ruhte, was er auf der Welt besessen. Bei solchen Gelegenheiten zeigte sich ganz die tiefe, gemütvolle Seite seiner Natur, die diejenigen kaum ahnten, die ihn nur als den scharfen, polemisierenden Politiker oder den geistvollen witzigen Gesellschafter kannten.

Die folgenden Abende waren wir stets im Trauerhause im engsten Kreise versammelt: Friedrich und Charlotte, Schurz und seine Frau, Herzen, sein Sohn und ich. Herzen las uns eine seiner schönsten Sachen vor, die er am Morgen rasch zu dem Zweck aus dem Russischen in das Französische übersetzt hatte. Es war dies eine Erinnerung aus Rom und [461] der begeisterten Zeit von Achtundvierzig, wo er mit seiner Frau und mehreren Freunden an den künstlerisch schönen, vom seligsten Freiheitstraum verklärten Volksszenen des römischen Lebens teilgenommen hatte. Die Behandlung war so schön, so dramatisch, so in ideelle Sphären hinüberschauend, daß sie vollkommen für unsere Stimmung paßte und unsern Schmerz in einer höheren Rührung milderte. Innig dankbar empfand ich das Zeichen zarter Freundschaft, als er am Schluß der Lesung mir die Übersetzung überreichte mit den Worten, die er auf das Titelblatt geschrieben: »Ich lege diese Blätter als einen kleinen blassen Immortellenkranz neben die Blumen, die unsere Verstorbene schmücken, und ich widme sie Ihnen an dem Tag, nachdem Sie Ihre Freundin verloren.«

Einige Tage darauf zog ein stiller kleiner Trauerzug, nur aus den obenerwähnten Personen bestehend, zu dem schönen Kirchhof von Highgate hinaus, wo ich schon einmal an einem Grabe mit Herzen gestanden hatte. Es war ein schöner Platz, an dem wir Anna zur ewigen Ruhe betteten. Nichts Störendes, kein Priester, kein fremder, unfühlender Zeuge war zugegen; Schurz sprach ein paar herrliche Worte, die wie Frühlingsrosen auf das Grab fielen und es uns scheinen ließen, als schwebe die Geschiedene mit dem Lächeln der Erlösten auf den Lippen über der Gruft, in der wir ihr Irdisches versenkten. Den ganzen Tag über blieben die Freunde bei uns im Hause, und wenn etwas die Bewunderung und Freundschaft hätte steigern können, die wir alle für Herzen empfanden, so wäre es sein Benehmen bei dieser Gelegenheit und an diesem Tage gewesen.

Anfang April war der Geburtstag Herzens, und ich hatte zur Feier ein kleines Examen vorbereitet, bei dem die Kinder ihm von ihrem Erlernten Rechenschaft ablegen sollten. Des Morgens auf dem Frühstückstisch fand er an seinem mit Blumen geschmückten Platz eine schriftliche Einladung dazu, und nach dem Frühstück begann die Prüfung, die das allerbefriedigendste Resultat lieferte. Eine festlich frohe Stimmung [462] verbreitete sich davon über den ganzen Tag, der sich am Abend durch den Besuch einiger vertrauterer Freunde, die an der Anmut und dem Gedeihen der Kinder lebhaften Anteil nahmen, auf das heiterste abschloß. Als wir uns trennten, sagte ich lachend zu Herzen: »Nun, über das Antipodentum, die Zweifel und Stürme, sind wir nun glücklich hinaus und hoffentlich im Hafen angelangt für alle Zeit.«

Ist es Vermessenheit des Menschen, auf einen dauernden Zustand der Befriedigung zu hoffen, selbst wenn er das Ergebnis redlichster Bemühung, reinsten Strebens ist? Oder lauern tückische Dämonen, wenn irgendwo der Friede in eine Existenz einzog, neidvoll darauf, um die sicher werdende Seele gewaltsam aus der schönen Täuschung zu wecken? Ich weiß es nicht, gewiß aber ist, daß nur zu oft im Leben dem friedlichsten Zustande der jähe Wechsel folgt, gleichsam als wollte das Schicksal uns auf die Probe stellen, ob wir immer den Panzer unter dem Friedenskleide tragen und dessen stets eingedenk sind, daß unser Leben Kampf ist und nicht Ruhe. Wenige Tage nach dem eben erwähnten Geburtstagsfest saßen wir gerade beim Mittagessen, als ein mit Koffern bepackter Wagen vor dem Hause vorfuhr. Ich konnte ihn von meinem Platz am Tisch aus sehen, sprang auf und rief: »Das ist Ogareff!« – dies war der Name von Herzens Jugendfreund, den er über alles liebte und von dem er mir so oft und so ausführlich gesprochen hatte, daß es mir war, als kenne ich ihn bereits selbst. Er war es, der sich kürzlich mit jener Dame verheiratet hatte, die die Erziehung der Kinder hatte übernehmen sollen und die Herzen eine Zeitlang vergebens erwartet hatte. Es war auch nicht die leiseste Nachricht angelangt, daß Ogareff, der seiner bekannten politischen Gesinnung wegen immer unter einer Art von polizeilicher Aufsicht stand, Rußland würde verlassen können, aber eine bestimmte Ahnung sagte mir, daß er es sein müsse und kein anderer. Herzen, immer ängstlich, daß etwas Störendes in das Leben kommen könne, ging dem aussteigenden Fremden scheu entge gen, bis er wirklich den so viele Jahre lang nicht [463] gesehenen Jugendfreund erkannte. Er führte ihn nebst seiner ihn begleitenden Gattin zu mir und den Kindern in das Zimmer und machte uns miteinander bekannt. Wie es zuweilen zu gehen pflegt, daß eine innere Stimme fast mit unumstößlicher Sicherheit bei gewissen Ereignissen oder Begegnungen uns eine plötzliche Wendung unseres Schicksals voraussagt, so ging es auch mir hier. Es waren solche ahnungsvolle Momente, die bei den Alten zu den Stimmen warnender Gottheiten wurden, die den Menschen am Rande des Abgrunds zurückhielten, oder aber, wenn er sich über den Inhalt der Warnung täuschte, gerade in das Verhängnis, dem er entfliehen wollte, hineinrissen. Ich war auf das günstigste für die Freunde des mir so sehr befreundeten Hauses gestimmt, und doch fühlte ich jetzt, als sie vor mir standen, mich von der eisigen Hand jenes Schicksals berührt, das mitleidslos Bande knüpft und sie wieder löst, ohne zu fragen, ob Herzen dabei brechen oder nicht.

Es war natürlich, daß dieser Besuch von vornherein eine große Umwälzung in unserem geordneten täglichen Leben hervorbrachte. Mit diesem Freunde kam sozusagen Herzens Vergangenheit fast von der Kindheit her, es kam das Vaterland und die Heimat, es kamen die vergangenen Freuden und Leiden und alle gemeinsamen Hoffnungen zurück. Es war derselbe Freund, mit dem Herzen einst, als dreizehnjähriger Knabe, auf dem Hügel bei Moskau beim Schein der Abendsonne geschworen hatte, Pestel und die anderen Opfer des vierzehnten Dezember zu rächen. Mußte schon dies allein Herzen auf das tiefste erregen, so mußte es noch mehr der Umstand, daß dieser Freund schwer leidend ankam, so daß sein Zustand ernste Besorgnisse einflößte. Seine Frau war die intimste Freundin von Herzens Gattin gewesen. Sie hatte mit der damals noch glücklich vereinigten Familie die freudig bewegte erste Zeit, die diese im Ausland verlebte, in der glorreichen Erregung von 48 in Italien und Frankreich verbracht. Auch mit ihr kam daher eine Welt von glückseligen, aber auch ebenso tiefschmerzlichen Erinnerungen zurück, da [464] sie Herzen seit dem Tode der von beiden leidenschaftlich geliebten Frau nicht wiedergesehen hatte. Ich ehrte die Ausschließlichkeit, mit der alle diese Dinge im Anfang Besitz von Herzen nahmen und den Charakter unseres häuslichen Lebens völlig umwandelten. Ich erkannte an, daß bei einer so tief und wahr für alle wirklichen Bande der Neigung empfindenden Natur wie die Herzens ein solches Erlebnis vorerst völlig die Oberhand behalten und alle andern Rücksichten in den Hintergrund drängen mußte. Doch hoffte ich, daß nach und nach auch alles übrige wieder in sein Recht treten und der gewohnte Gang des Lebens, den ich der Kinder wegen als für den allein richtigen erkannte, keine dauernde Störung erleiden werde. Ich fühlte allerdings vom ersten Augenblick an, daß ich hier noch einmal, und zwar in unendlich verstärkter Weise, mit jenem Antipodentum des russischen Wesens würde zu kämpfen haben, das ich seit einiger Zeit so glücklich und vollständig, in Beziehung auf die Kinder, bei Herzen überwunden hatte. Es trat mir hier viel ausgeprägter und unmittelbarer entgegen, besonders in der russischen Dame, die alle die charakteristischen Eigenschaften ihrer Heimat, vereint mit einem fanatischen Patriotismus, in sich trug. Ich hoffte jedoch bestimmt, daß Herzen diesmal, durch frühere Beispiele gewarnt, die Initiative ergreifen, von vornherein den Verhältnissen ihre bestimmte Form geben und mir die Ausübung meiner Wirksamkeit ungeschmälert erhalten werde. So ließ ich denn die Dinge anfangs ruhig ihren Gang gehen, indem ich mich bemühte, meinerseits durch jede freundliche Aufmerksamkeit und tätige Teilnahme das Verhältnis auf das freundlichste zu gestalten. Es ward mir dies um so leichter, als mir Herzens Freund eine wahrhaftige, tiefe Sympathie und ein ganz unbegrenztes Mitleid einflößte. Ich wußte bereits durch Herzen, welch eine tiefe und edle Natur mir in diesem Manne entgegentrat. Ich kannte seine Lebensschicksale und wußte, daß ich in ihm eines jener Opfer sah, die die unglückliche Nikolaussche Periode sich gerade unter den besten und begabtesten Menschen [465] in Rußland erwählt hatte. Wie viele Namen kannte ich nicht von reich ausgestatteten Persönlichkeiten, die in der dumpfen Atmosphäre jenes trostlosen, alle geistige Entwicklung hemmenden Despotismus untergegangen waren. Wo nun aber die Macht der Begabung trotz alledem sich Bahn gebrochen hatte, da hatte eben alles einen gewaltsamen Charakter angenommen und hatte oft in exzentrischen Lebensäußerungen eine Art von Betäubung für das versagte harmonische Schaffen und Wirken gesucht. Auch Ogareff hatte auf europäischen Reisen ein sturmbewegtes und dann wieder in russischen Wäldern und Steppen ein seltsam beschauliches, weltentrücktes Leben geführt. Er hatte eine seltene Organisation, hohe geistige Gaben und ein glänzendes Vermögen mit der Jugend zusammen dahinschwinden sehen müssen, ohne davon in der Welt eine äußere sichtbare Spur zu hinterlassen. Doch konnte man auch auf ihn mit vollem Recht das Schillersche Wort anwenden:


»Adel ist auch in der sittlichen Welt. Gemeine Naturen
Zahlen mit dem, was sie tun, edle mit dem, was sie sind.«

Nach dem einstimmigen Urteil seiner Freunde war die Wirkung nicht gering anzuschlagen, die seine Persönlichkeit ausgeübt hatte. Herzen hatte mir oft gesagt: »Wer weiß denn, was ich und andere, die gehandelt haben, der Rede und dem Einfluß dieses Mannes verdanken!« Von Natur viel mehr zum Dichter als Politiker angelegt, hatte sich sein inneres Leben nach außen hin auch nur in Gedichten kundgegeben, deren mehrere in russischer Sprache, auch durch Herzen in dessen Presse, veröffentlicht worden waren. Im Verkehr war er von jeher äußerst schweigsam gewesen; jetzt war er es doppelt, da leider seine Gesundheit ganz zerstört war und ein tiefes Versunkensein ihn oft stundenlang teilnahmlos am Gespräche dasitzen ließ. Blieb er auf diese Weise ziemlich unnahbar, so zogen mich doch die unverkennbare Güte seines Wesens und sein stilles Leiden auf das innigste an und erweckten meine tiefe Teilnahme.

[466] Ganz anders war der Eindruck, den mir die russische Dame machte. Hatte mich schon bei ihrer Ankunft das Gefühl befallen, als wenn hier jemand in mein Leben träte, der keinen wohltuenden Einfluß darin ausüben würde, so blieb mir auch, trotz alles Bestrebens meinerseits, das beste Vernehmen einzuleiten, eine gewisse unbehagliche Ahnung, daß dies zu keinem Ziele führen werde und daß unsere zwei Naturen ganz und gar nicht zueinander paßten. Ich konnte nicht recht zur Klarheit in mir gelangen über diese seltsame Persönlichkeit. Ich fühlte mich niemals frei in ihrer Gegenwart und ihr eignes, sonderbar scheues Wesen machte mich auch befangen. Ich glaubte jedoch zu sehen, daß ihr meine Stellung im Hause eine unangenehme Überraschung gewesen war; sie hatte wohl gedacht, eine gewöhnliche Gouvernante vorzufinden und dabei den Wunsch sich erfüllen zu sehen, die Stellung bei den Kindern, die deren sterbende Mutter ihr zugedacht, nun einzunehmen. Statt dessen fand sie eine Freundin, die die Hausfrau im Haushalte und bei den Kindern die Mutter vertrat. Dazu kam, daß ihr das deutsche Wesen verhaßt war, und viele Einrichtungen, die ich im Interesse der Kinder gemacht hatte, ihren russischen Gewohnheiten gänzlich zuwider waren. Um davon nur eine Kleinigkeit anzuführen: ich hatte mit vieler Mühe und Überredung Herzen davon abgebracht, fast täglich, bei jedem Ausgang, den er machte, den Kindern unnütze Spielereien und Gegenstände mitzubringen, die zu nichts anderem dienten, als sie abzustumpfen gegen die Freude an guten und nützlichen Gaben, und die Zerstörungslust, die ohnehin in Kindern gewöhnlich ein vorherrschender Trieb ist, zu wecken. Nun hatte aber die russische Dame eine wahre Leidenschaft, die Kinder mit Geschenken zu überhäufen. Sie sagte mir einmal, sie könne an keinem der vielen schönen Läden mit Spielwaren in London vorübergehen, ohne den Wunsch zu empfinden, alles darin Befindliche kaufen und den Kindern mitbringen zu können. Es ist dies ein entschieden russischer Zug. Hatte mir doch eine andere Russin früher einmal gesagt, sie wolle ihren Knaben, ihr [467] einziges Kind, so sehr mit Geschenken aller Art überhäufen, daß er dadurch blasiert werden und die Lust am Besitz verlieren solle. Ich versuchte umsonst, Madame Ogareff meine Ansicht hierüber annehmbar zu machen. Sie fuhr fort, die Kinder in dieser Weise zu beschenken und hörte erst damit auf, als ich Herzen in schonendster Weise auf das wieder einreißende Übel aufmerksam gemacht und dieser sein Veto dagegen eingelegt hatte. Ähnliche Verschiedenheiten der Ansichten und noch über wichtigere Dinge fanden sich in Menge vor. Dabei aber wünschte Herzen, wie dies bis zu einem gewissen Grade auch natürlich war, daß die Dame sich viel mit den Kindern beschäftigte, ihnen von der verstorbenen Mutter erzähle, russisch mit ihnen spreche und sie soviel wie möglich mit dem nie gesehenen Vaterland bekannt mache. Wäre dies alles einfach und natürlich geschehen, nur als ein schönes Mehr in dem schon Vorhandnen, so würde sich alles leicht und freundlich gestaltet haben. Allein, wie schon erwähnt, es war ein peinliches Etwas in den Persönlichkeiten und den Beziehungen, das ich mir wegzuleugnen suchte, das sich mir aber täglich mehr mit unheilvoller Ahnung aufdrängte. Nach der Tagesarbeit mit den Kindern, die zuweilen, trotz aller Liebe, mit der ich sie tat, doch erschöpfend war, fehlte dann auch die gewohnte frühere geistige Erfrischung durch Gespräch oder Lektüre mit Herzen. Die russische Sprache und russische Interessen beherrschten die Unterhaltung, und wenn ich erstere auch etwas kennen gelernt und mit den letzteren mich ziemlich vertraut gemacht hatte, so waren mir doch beide immer noch zu fremd, um ganz ausschließlich darin zu leben und meine geistige Erholung zu finden. Zu meinem Leidwesen sah ich, daß Herzen, getreu seiner Natur, die Dinge abermals gehen ließ, immer in der Hoffnung, daß sich das alles von selbst finden werde, und voller Furcht, nach der einen oder der andern Seite hin vielleicht wehe zu tun und zu verletzen.

Derselbe Fehler in den Lebensbeziehungen von Personen, die aufeinander angewiesen sind, den er früher schon begangen, [468] wiederholte sich auch hier. Nur sollte er dieses Mal noch unheilvollere Folgen haben als zuvor. Als ich die Verstimmung unaufhaltsam hereinbrechen sah, fing ich an, Herzen leise darauf aufmerksam zu machen und freundschaftlich zu warnen. Mir schien, daß dasjenige, das mir in Beziehung auf ihn und den Frieden seines Hauses eine notwendig auszuübende Pflicht gewesen war – nämlich die unbedingte Solidarität und Parteinahme der Freundschaft, auch von ihm unbedenklich vollzogen werden müsse. Es war ja keineswegs die Rede davon, die Rechte seiner Freunde zu schmälern, noch ihm selbst die Wohltat seiner russischen Erinnerungen zu entziehen. Es kam einzig darauf an, den bisherigenstatus quo des Hauses, der sich als segensreich für die Kinder und nach seinem eignen Zeugnis zu seiner vollkommenen Zufriedenheit gestaltet hatte, zu erhalten und damit das Leben mit den Freunden sympathisch zu verbinden, ohne es als ein beliebig willkürlich wirkendes, zersetzendes oder erhaltendes Element aufwachsen zu lassen. Es hätte dies in das Kapitel der Lebenskunst gehört, die so wenige verstehen, zu der uns der große Lebenskünstler Goethe einen noch viel zu wenig beachteten Wink in den Wahlverwandtschaften gegeben hat. Kann man auch nicht allen Verwicklungen und Verwirrungen vorbeugen, die aus Begegnen, Finden, Dazwischentreten und Trennen entstehen, so kann man doch gewiß, in den meisten Fällen, durch ein vernünftiges Einschreiten und Ordnen der Verhältnisse zu rechter Zeit, unzählige Mißverhältnisse vermeiden, und, indem man die Rechte eines jeden wahrt, den Zusammenstoß der Charaktere und seine Folgen verhüten. Aber dies war durchaus nicht Herzens Art, und, aus einer übergroßen Scheu, einzugreifen und die Freiheit des einen oder andern zu gefährden, ließ er den Dingen ihren Lauf, bis der gordische Knoten geknüpft war und dann nur mit einem Schwertstreich, der aber auch ins Herz schnitt, gelöst werden konnte.

Es wäre unnütz, alle die Phasen anzuführen, durch die der innere Konflikt immer wachsend ging. Ich wußte durch [469] andere Personen, wie sehr die russische Dame wünschte, die ihr einst im Haus bestimmt gewesene Stelle einzunehmen. Ich sah, wie Herzen täglich mehr dem Wunsch sich hingab, daß das russische Element bei den Kindern wieder das vorherrschende würde, und wie gleichgültig ihm alle nichtrussischen Beziehungen wurden, die er noch vor kurzem mit Teilnahme und Herzlichkeit gepflegt hatte. Ich litt unsäglich unter diesen Zuständen, denn der Gedanke drängte sich mir mit Macht auf, daß es zu einer Trennung kommen werde. Ich fühlte, daß ich schon um der Einheit der Erziehung willen die Kinder dem russischen Element allein würde überlassen müssen, da ich nicht mit ihm gehen konnte, gegen es aber zu arbeiten mich dieser verstärkten Macht gegenüber nicht mehr ausreichend fühlte. Außerdem hielt ich solch einen Dualismus für das Wohl der Kinder schädlich. Ich muß es Herzen nachsagen, daß er anfangs mit Entrüstung jede Andeutung auf Trennung zurückwies. Den innern Zwiespalt zu klären, schlug er Unterredungen und Erörterungen bald mit Ogareff, bald mit dessen Frau vor. Dies wies ich jedoch zurück als etwas, was zu gar nichts führen konnte. Die bestehenden Verschiedenheiten der Naturen, Ansichten und Gewohnheiten konnten unmöglich ausgeglichen werden. Es kam ja überhaupt nur darauf an, daß er erklärt hätte, die Erziehung und die ganze Hausordnung solle fortbestehen wie bisher, ohne jede Einmischung und ohne das Übergreifen eines Elements, für das es im besten Falle noch zu früh war.

Es ist möglich, daß, wenn ich weniger ausschließlich an meinem damaligen Leben und den frei übernommenen Pflichten gehangen hätte, wenn ich sie mehr als eine geschäftliche Verpflichtung denn als eine innerste Herzenssache, in der ich mit der ganzen leidenschaftlichen Hingebung meiner Natur stand, behandelt hätte, es ist möglich, sage ich, daß ich dann die ganze veränderte Lage der Dinge ruhiger aufgenommen und beherrscht hätte. Aber es ging mir eben in der Freundschaft, wie es mir einstmals in der Liebe gegangen war: ich hatte alles gegeben und erkannte nun mit unmäßigem [470] Schmerz, daß das nicht vollkommen gegenseitig war, daß im Gegenteil andere stärkere Bande das Leben beeinflussen und ihm eine andere Richtung geben würden. Ich war allerdings auch zu selbständig und unabhängig in meiner bisherigen Wirksamkeit gewesen, als daß es mir leicht geworden wäre, darin eine Veränderung vorgehen zu sehen. Diese Anforderung an die Fortdauer der unbeschränkten Ausübung meiner Verpflichtung war dadurch gerechtfertigt, daß ich sie mit ganzer Treue und nach tiefster Überzeugung, recht zu tun, erfüllte. Dennoch hätte ich hierin kleine Änderungen eintreten lassen können, wenn die Naturen, denen ich gegenüberstand, andere gewesen wären und sich freier und verständnisvoller zu mir gestellt hätten. Eine ganz unpersönliche Rücksicht gab der Sache den Ausschlag. Ich fühlte, daß sich hier ein natürlicher Kreis um die exilierte Familie schloß, in der auch den Kindern wieder das heimische Element nähertreten konnte, wie es des Vaters innigster Wunsch war. Einheit in der Erziehung aber erschien mir ein unerläßliches Erfordernis. Indem ich diese russischen Händen zurückgab, erreichte ich wenigstens dies eine. Dennoch zerriß es mir das Herz, an Trennung zu denken, und ich machte noch einen letzten Versuch, mich mit Herzen darüber zu verständigen. Er, gut und sympathisch wie immer, versicherte, daß er alles tun werde, die Sache harmonischer zu gestalten, und bat mich, nur Vertrauen zu ihm zu haben. Ich fing noch einmal an zu hoffen und versuchte von neuem eine freundschaftliche Annäherung und ein Verständnis für das, was ich einzig für recht und den Kindern in der Erziehung zuträglich hielt. Allein das Mißverständnis blieb dasselbe und ich sah, daß auch Herzen anfing, Bedenken zu finden, wo er früher keine gefunden hatte. Endlich, an einem Morgen, an dem er schon früh fortgegangen war aufs Land, um erst am Abend zurückzukehren, brachte man mir einen Brief, den er für mich zurückgelassen, da ich ihn vor seinem Weggehen nicht mehr gesehen hatte. Dieser Brief enthielt zum erstenmal auch seinerseits die Annahme der Notwendigkeit einer Trennung, die er bisher noch stets [471] zurückgewiesen hatte. Nur schlug er vor, sie zu einer Art Feier zu machen, gleichsam zu einem ernsten Fest. Die Notwendigkeit, daß die Trennung sich nun vollziehen müsse, wurde mir nach diesem Briefe alsbald klar. Er hatte gewählt zwischen den Freunden und mir, und da war für mich keines Bleibens mehr. Der Gedanke aber, aus dem, was mir ans innerste Leben ging, eine Art Fest zu machen, ruhig und gefaßt zu scheiden, wo ich mich nur mit blutender Seele losriß, war mir unfaßbar. Ich fühlte, daß ich es nur mit einem gewaltsamen Entschluß und zwar gleich, in einer Art Ekstase, tun mußte oder gar nicht. Ich entschloß mich also, das Opfer noch am selben Tag zu vollbringen, besonders da Herzens Abwesenheit mir dazu günstig erschien. Ich fing rasch an, meine Vorbereitungen zu machen, meine Sachen zu packen, schrieb an Herzen einen kurzen Abschiedsbrief, einen andern an die russische Dame, worin ich ihr die Kinder übergab und sie bat, meine bisher an ihnen vollzogene Aufgabe weiterzuführen. Dann setzte ich mich zur letzten Mahlzeit mit den zwei Kindern nieder. Ich war in einer jener Stimmungen, in denen allein große weltüberwindende Opfer möglich sind. Mein Golgatha war da, und diese Mahlzeit war mein Abendmahl, bei dem aber kein Verräter zugegen war. Diese vier unschuldigen Kinderaugen allein waren Zeugen des großen Kampfes der Entsagung, den ich kämpfte. Ich sprach zu ihnen Worte der heiligsten Liebe und Weihe, nahm zuletzt ihre beiden Hände in die meinen und segnete sie, indem ich sie bat, dieser Stunde, deren Bedeutung sie jetzt noch nicht verständen, zu gedenken. Dann befahl ich dem Mädchen, die Kinder anzukleiden, und sie mit dem für sie bestimmten Brief zu der Dame zu bringen. Ich drückte sie, die, erstaunt und betroffen, nicht begriffen, was vorging, noch einmal an mein Herz und entließ sie. Dann nahm ich selbst das Nötigste mit mir und verließ das Haus. An der Schwelle hielt der alte Diener, ein Italiener, der mir äußerst ergeben war, mich auf und sagte flehend: »Gehen Sie nicht, es bringt diesem Hause Unglück.« Ich drückte ihm schweigend die Hand und[472] ging zu Friedrich und Charlotte, da ich im Augenblick noch kein anderes Unterkommen wußte. Diese waren im äußersten Grade bestürzt, als sie das Vorgefallene erfuhren, stimmten aber vorerst mit mir überein, daß ich gehen mußte, sobald Herzen selbst sich dafür entschieden. Ich war unsäglich traurig; mehr als das, ich war von einem verzweiflungsvollen Schmerz erfaßt, und rings um mich gähnte ein offenes Grab. Glaube nur niemand, daß der unmittelbare Augenblick eines großen, das Leben erschütternden Opfers das Schwerste sei! Wohl denen, die im Augenblick der Ekstase das Opfer mit dem Leben besiegeln können. Nein, das Kreuz ist der Prüfungen schwerste nicht. Indem wir die höchsten Güter des Daseins hingeben um einer Idee oder eines Gefühls willen, verliert das Dasein seinen Wert, und der Tod ist die Erlösung von dem Schmerz, sein zu müssen ohne das, was uns das Sein verklärte. Darum war die Entsagung Buddhas größer, wie die von Christus. Buddha durchlebte die ganze Qual des Daseins, indem er seine schmeichlerischen Täuschungen, seine beseligenden Wahngebilde in ihrem wahren Wesen erkannt hatte. Er ertrug diese Qual, um sich in erhabenster Entsagung darüber zu erheben. Christus ging in der Ekstase der höchsten Stunden seines Lebens, nachdem das Volk ihn als Messias erkannt und ihm zugejubelt hatte, dem Opfertod entgegen, der eine Welt erlösen und ihn aus dem dornengekrönten Leben in die angeborene Herrlichkeit zur Rechten des Vaters zurückversetzen sollte. Mein Opfer war vollbracht, aber nun hieß es: weiter leben, fern von der lieben Heimat, die ich mir selbst gegründet und die kaum erst angefangen hatte, ganz sich nach meinem Wunsche zu gestalten. Alles in mir sträubte sich gegen das noch einmal anfangen müssen, und wenn in dem Augenblick der Tod in irgendeiner Form, auch der gewaltsamsten, zu mir gekommen wäre, ich hätte mich ihm wie dem Erlöser entgegengestürzt und hätte gerufen: »O, nur aufhören, zu sein, nur Vernichtung, Vernichtung, und Ende dieser gräßlichen Qual, leben zu müssen!« Wohl begreift man in solchen [473] Stunden, wie die christliche Anschauung zu dem häßlichen, jedes Schmucks des Daseins entkleideten Knochenbilde vom Tode kam. Es war der Ausdruck jenes Schmerzes, der verzweifelnd aus dem Dasein flieht und sich lieber in das Reich der Vernichtung rettet, als noch länger die erkannte Täuschung der Existenz fortsetzt. Nur dem Griechen, dem in künstlerischer Verklärung das Leben gleich einem schönen Traum scheinen konnte, durfte der holde Zwillingsbruder des Schlafs mit der umgekehrten Fackel nahen.

Noch am Abend, als wir schweigend zusammensaßen, in schmerzliches Sinnen verloren, erschienen Ogareff und der junge Alexander, um mir einen Brief von Herzen zu überbringen und mir ihr Leid über den so rasch von mir getanen Schritt auszusprechen. Dies letztere tat besonders Alexander in so herzlicher Weise und mit so rührend kindlichem Gefühl, daß es mich tief bewegte, und ich einsah, daß ich in diesem Jüngling eine wahrhafte Sohnesanhänglichkeit gefunden hatte. Als sie fort waren, las ich Herzens Brief, er lautete:


»Liebe Freundin!

Mit Tränen in den Augen habe ich Ihren Brief gelesen; nein, nicht so mußten wir uns trennen, nein und abermals nein. Aber wenn es Ihnen einen schweren Schritt erleichtert hat, so sei es. Aber keine Entzweiung. Ogareff und Alexander bringen Ihnen mehr als meinen Brief: meine tiefste Bewunderung, meine unbegrenzte Freundschaft. Ja, von einer Seite haben Sie recht; das Schweigen und diese vier Kinderaugen, um derentwillen Sie die Schwelle dieses unglückliches Hauses einst überschritten. – Ja, es war schön, so Abschied zu nehmen, und ich nehme Ihren Segen an für meine Kinder; für mich selbst aber verlange ich Ihre Freundschaft.

Ihr Bruder und Freund

A. Herzen.«


[474] Ich las diese Zeilen mit einem Gemisch von tiefer Rührung und herber Bitterkeit. Warum hatte diese Freundschaft nicht tätiger eingreifen und zu rechter Zeit alles retten können, was nun unwiederbringlich verloren war? Warum sind auch die besten, die begabtesten Menschen doch nur Spielbälle in der Hand des Zufalls, der den sichersten Pfad plötzlich mit dem Unerwarteten durchkreuzt und für immer von seiner Richtung ablenkt?

[475]

Dritter Teil

1. Kapitel. Neue Einsamkeit
Erstes Kapitel
Neue Einsamkeit

Friedrich und Charlotte bestanden darauf, daß ich die ersten Tage bei ihnen bleiben sollte, bis ich eine Wohnung gefunden und überhaupt einen Entschluß gefaßt hätte. Ich nahm dies auch mit Dank an, denn nach dem Glück des Zusammenlebens mit einer selbstgewählten, sympathischen Umgebung, nach dem innigen Herzensverkehr mit den Kindern, war mir die plötzliche Einsamkeit ärger wie der Tod, und ich klammerte mich wie der Ertrinkende an einen Strohhalm, an jedes Zeichen von Sympathie und Liebe, das mir zuteil wurde. So rührte es mich unaussprechlich, als beim Mittagstisch ich die einzige war, die einen Teller mit guter Bouillonsuppe erhielt. Im Hause herrschte damals noch nichts weniger als Luxus; Friedrich mußte streng arbeiten, um dem Haushalt zu genügen, und Charlotte trug ebenfalls durch Stundengeben das Ihrige dazu bei. Es gab daher keineswegs an jedem Tage Bouillonsuppe, und jener Teller war von Charlotte vom vorigen Tage her vorsorglich für Friedrich zur Stärkung nach der Arbeit aufgehoben. Daß ich ihn nun erhielt, rührte mich bis zu Tränen. Es war ein Ausdruck des Wunsches, mir wohlzutun, bei dem alle Worte ohnmächtig und überflüssig waren, aber ich sagte es ihnen durch Tränen, daß ich diesen Teller Suppe nie vergessen würde. Nach einigen Tagen fand ich ein kleines Zimmer in der Nähe, für einen äußerst geringen Preis, in das ich einzog, um zu überlegen, was nun weiter zu tun. So war ich wieder allein, wieder auf diese freudlose Einsamkeit eines englischen lodging-Hauses beschränkt, die mir doppelt farblos und entsetzlich vorkam nach der von Licht und Liebe erfüllten Heimat, aus der mich ein jähes Schicksal vertrieben. Aufs neue mußte ich mich fragen, was anfangen? Zu der freudlosen, undankbaren Arbeit des Stundengebens zurückzukehren, dazu fehlte mir der Mut, seitdem ich bei dieser Art Arbeit auch deren Segen im Gedeihen und [5] der Entwicklung der Kinder gesehen hatte. Ich beschloß, es mit schriftstellerischer Tätigkeit zu versuchen. Ich verhehlte mir nicht, welche Schwierigkeiten und Enttäuschungen auf diesem Wege meiner warten würden, aber die Beschäftigung selbst wenigstens verhieß mir unendlich viel mehr Befriedigung als das Stundengeben, und wenn es mir gelingen konnte, mit eigner Produktion durchzudringen, so war, das fühlte ich, der einzig wahre Weg möglichen Trostes gefunden. Ich hatte schon während meines Aufenthaltes im Herzenschen Hause einen Versuch mit einer Übersetzung aus dem Russischen in die englische Sprache gemacht. Er war günstig ausgefallen. So gedachte ich zunächst mit Übersetzungen fortzufahren und mir so die Bahn für weiteres zu brechen. Ich ging auch alsbald an die Arbeit, aber noch war sie weit davon, ihre heilende Kraft an mir bewähren zu können. Ein unsäglicher Schmerz wühlte Tag und Nacht in meinem Herzen, und es war mir unmöglich, der Qual über das Vorgefallne auch nur auf Stunden Ruhe zu gebieten. Ich schwankte hin und her zwischen dem Zweifel, ob ich nicht hätte einen andern Weg einschlagen und die ganze Katastrophe verhüten können, und der Überzeugung, daß ich nicht anders hätte handeln können. Die Bitterkeit, daß es von der andern Seite zu dieser Trennung hatte kommen können, kämpfte mit dem Schmerz um das Verlorene und der Sehnsucht, dahin zurückzukehren, wo ich so glücklich gewesen war, wo ich, wie auf einem natürlichen Boden, mit allen Kräften meines Wesens mich festgewurzelt hatte. Erschütternd war mir das erste Wiedersehen mit Herzen, der mit seinem Sohne kam, mich zu besuchen, noch erschütternder das mit den beiden Kindern, die man zu mir sandte. Sie waren erstaunt, betroffen, die ihnen so vertraute Freundin nun plötzlich in so ganz veränderter Umgebung wiederzufinden, und als man sie wieder fortführen wollte, brach die kleine Olga in leidenschaftliche Tränen aus und verlangte, bei mir zu bleiben. Eine der härtesten Proben, die ich zu bestehn hatte, war, als am Sonntag, dem Tag, wo im Herzenschen Hause[6] sich, nach meiner Anordnung, die Bekannten abends zusammenfanden, Friedrich und Charlotte dem gewohnten Zuge nicht widerstehen konnten und sich wie sonst dahin begaben. Wie furchtbar es mir war, als sie zu dem bekannten Kreise gingen, dessen Seele, nächst Herzen selbst, ich bisher gewesen war, das ahnten sie nicht, sonst hätten sie es sicher nicht getan. Als ich allein zurückblieb, dachte ich mit bitterem Weh darüber nach, wie vergänglich im Grunde die Wirkung der Persönlichkeit ist, wie schnell die Spur verweht, die wir mit der ganzen Macht unserer Liebe und unserer Hingebung gegraben zu haben meinten – gerade wie wenn die Welle über den Meeressand läuft, in den wir einen geliebten Namen eingeschrieben haben. Wir durften uns, auch bei wirklicher Bescheidenheit, sagen, daß wir einen Platz im Leben in nicht ganz unbedeutender Weise ausfüllten; nun kam das Schicksal und riß uns von ihm weg; uns schien es unmöglich, daß nicht eine offene Kluft bliebe, daß nicht das Leben für einen Augenblick still stände, wie es in uns selbst zerbrochen schien – arge Täuschung! Die Welle des Lebens rauschte weiter, die Lücke schloß sich, die Spur verwischte sich, die Flut wallte dahin wie früher, der Seufzer, der uns vielleicht gegolten, verhallte ungehört in dem Geräusch der Brandung. Ist der Schlüssel zu diesem Geheimnis vielleicht der, daß wir nicht zu heftig an der Kreatur hängen sollen, wie es in der Bibel steht? Was mit andern Worten heißen will, daß wir den Schwerpunkt unsres Wesens nicht in das Umfassen der Erscheinung, sondern in die Hingabe an die Idee setzen! Sollte es das sein, daß wir den Kreis der holden Täuschungen nur durchlaufen müssen, um endlich, losgelöst von der Erscheinung, geläutert und gereinigt nach all den schweren Proben, reif zu sein, in das Allerheiligste einzutreten, den Schleier von dem Angesicht der Wahrheit fallen zu sehen und keiner irdischen Qual mehr zugänglich zu sein? Oh, dann war ich noch nicht so weit; der tödliche Schmerz, den ich litt um mein verlorenes Paradies, machte es noch nötig, daß das Schicksal mir von neuem den Wanderstab in die [7] Hand gab und meinen widerstrebenden Fuß hinausgehen hieß in die öde Wüste, die ich schon so oft durchmessen hatte.

Wie es leider in allen menschlichen Verhältnissen zu gehen pflegt, wo einmal Verwirrungen entstanden sind, die sich durch die Intensität der Gefühle bis zu leidenschaftlichen Zuständen steigern, daß die »Mittler« dazwischen kommen und, wenn schon alles sich wieder gütlich auszugleichen schien, es aufs neue verwirren, so ging es auch hier. Hätte ich mich entschließen können zu gehen, die bisherigen Verhältnisse mit ihrer zu mächtigen Anziehungskraft zu fliehen und die Ferne zwischen mich und das Verlorene zu legen, so würde sicher der Kampf in mir ein gewaltsameres, die heroischste Anstrengung verlangendes, aber auch schnelleres Ende gefunden haben. Schurz, der mit den Seinigen in kurzem nach Amerika zurück wollte, redete mir lebhaft zu, sie zu begleiten und mir drüben im Verein mit ihnen eine neue Heimat zu gründen. Eigensinnig wie das Schicksal ist, indem es das Gewünschte meist dann erst gewährt, wenn es seinen Wert für uns verloren hat, kam mir diese Aufforderung jetzt zum zweiten Male, als mein Herz wieder mit so starken Banden an die alte Welt geknüpft war, daß ich mich nicht imstande fühlte, sie zu zerreißen und den Ozean zwischen mich und das Zerrissene zu legen. Nichts charakterisiert vielleicht das Pathologische leidenschaftlicher Schmerzen so sehr als die Unmöglichkeit, sich von ihren Ursachen loszureißen und durch einen moralischen Klimawechsel dem Organismus die Bedingung zur Genesung zurückzugeben. Wer es immer gleich vermöchte, dem wäre wahrscheinlich in den meisten Fällen geholfen; allein es ist eben eine Amputation, und nicht alle haben den Mut, sich ihr zu unterwerfen. Ich hatte ihn auch nicht, wie ich ihn auch damals nicht gehabt hatte, als mein sterbender Freund und die sterbende Hochschule mich in Deutschland festhielten, obgleich ich in den Zwischenzeiten, als mein Herz mit jeder subjektiven Empfindung abgeschlossen hatte, sehnlichst darnach verlangt hatte, mir mein Schicksal in der neuen Welt zu gründen. Wer [8] vermag mit diesen Widersprüchen in der menschlichen Natur zu rechten? Wer sie immer gleich in sich besiegen könnte, der wäre eben über das Schicksal erhoben und könnte von keinem Wechsel mehr berührt werden. Außerdem, daß durch das Hin- und Hertragen jener allezeit bereiten und überall sich einfindenden »Mittler« manches bittere Element mehr in den ohnehin schon so bittern Kelch gemischt worden war, so folgte ich auch noch meiner angeborenen selbstquälerischen Neigung, die Schuld des Vorgefallenen plötzlich in mir selbst zu suchen. Ich sagte mir, daß mit noch etwas mehr Geduld, mehr Nachgeben, mehr Ausdauer und Selbstverleugnung ich jene mir so teuer gewordenen Verhältnisse hätte bewahren und in ihrer früheren beglückenden Einfachheit erhalten können. Ich verfiel dabei demselben Irrtum wie die Charlotte in den Wahlverwandtschaften, die auch meint, daß sich das einmal aus dem Geleise Gebrachte wieder einrichten ließe, sobald allen nur die vernünftige Einsicht gekommen sei, wie die Verwirrung entstanden und wie sie zu lösen sei. Indem ich mich selbst und meine Empfindung analysierte, schien es mir auf einmal, daß im Übermaß der Freundschaft, Liebe und Hingebung ich, mir selbst unbewußt, viel leicht zuviel von den andern gefordert hätte, daß die Selbstsucht meinen Blick getrübt und mir Verhältnisse und Personen im falschen Lichte hätte erscheinen lassen, ja daß vielleicht Eifersucht auf meine innegehabte exklusive Stellung mich ungroßmütig hätte handeln lassen. Es kam wie ein plötzliches Glück über mich, als diese Erkenntnis mir aufging, denn es schien mir, als sei damit jedes Hindernis beseitigt, als könne ich in die früheren Verhältnisse zurückkehren und mich in noch selbstloserer Pflichttreue den geliebten Kindern widmen. Ich schrieb an die russische Dame einen Brief, worin ich ihr in reinster Aufrichtigkeit und Freude die Entdeckung, die ich in mir selbst gemacht zu haben glaubte, mitteilte und ihr von ganzem Herzen die Hand zum neuen Bunde bot, indem ich nicht daran zweifelte, daß mit dieser Erkenntnis jedes Hindernis zur Wiedervereinigung und zum gemeinschaftlichen [9] Wirken gehoben sei. Zu gleicher Zeit schrieb ich an Johanna Kinkel und teilte es ihr mit, indem ich hinzufügte, daß nun doch die unbegreifliche Verwirrung gelöst sei und alles gewiß sich wieder friedlich einrichten werde. Zu meiner Verwunderung erhielt ich von Johanna eine Antwort, in der sie mich bedauerte, eine solche Erkenntnis ausgesprochen zu haben, und mir versicherte, daß, soviel sie das Leben kenne, dies nur das entgegengesetzte Resultat von dem haben würde, das ich erwartete. Von Herzen er hielt ich eine Antwort auf jenen nicht an ihn gerichteten Brief, abermals voll warmer enthusiastischer Anerkennung; er schrieb:


»Ja, das ist das wahre, das große Gebiet, auf dem ich mich zu Hause mit Ihnen fühle: das Gebiet der reinen uneigennützigen Freundschaft. Sie bringen ein Opfer; es ist eine verhängnisvolle Notwendigkeit, die uns in einen tragischen Konflikt geführt und ein gemeinsames Leben zerstört hat. Niemand ist schuldig dabei, alle waren aufrichtig, aber es war ein falscher Ton hineingekommen, der hinderte. Was ich wünschte, das war jene feierliche Trennung, die ich damals vorschlug, Ihr rasches Scheiden aus dem Hause hinderte alles, aber Ihnen gebührt jetzt der Ruhm, ja der Ruhm, alles wieder zum Guten zurückgeführt zu haben. Ich habe viel nachgedacht gestern über Ihren Vorschlag: Nein! das gemeinschaftliche Leben würde halb vernarbte Wunden wieder öffnen. Aber verbinden wir uns für Unternehmungen von russischen Übersetzungen in derselben Stadt oder anderswo; überall haben Sie an mir einen Bruder. Leben Sie wohl. Nun, meine Herren Verleumder? Die Freundschaft hat gesiegt.

A. Herzen.«


Ja, die Freundschaft hatte gesiegt; aber das Opfer blieb unwiderruflich vollzogen und die Trennung blieb mit ihrem Schmerz. Ich ging nun wieder in das Haus, sie zu besuchen, aber es war mir jedesmal ein tiefes Weh, und die freudlose Öde meiner Einsamkeit nachher war mir so bitter, daß ich [10] es als eine Art Erlösung begrüßte, als der Tag der Abreise nach Hastings mit Kinkels herankam. Kinkels hatten mich nämlich überredet, für die Zeit der Sommerferien mit ihnen an das Meer zu gehen. Bei diesen lieben Freunden war die Zeit der Freiheit vom Stundengeben und der Abreise in das mühsam erarbeitete Seebad stets ein Fest. Sie suchten mit liebevoller Teilnahme mich zu überzeugen, daß es ihnen diesmal doppelt ein solches sei, da ich mitkomme und in ihrer Liebe und Treue einen heilenden Ersatz für das Verlorene finden würde. Unaussprechlich rührte es mich, als auf dem Wege nach Hastings während der Durchfahrt durch einen Tunnel ich mich plötzlich von zwei kleinen Kinderarmen warm und liebend umschlungen fühlte. Es war die kleine Adela, das Ebenbild ihrer Mutter, die es wußte, wie tief die Trennung von den Kindern, die sie auch kannte und liebte, mein Herz getroffen, und die nun in der Dunkelheit des Tunnels den Mut bekam, dem schüchternen Mitleid ihrer kindlichen Seele diesen stummen Ausdruck zu verleihen. In Hastings richteten wir uns in einem kleinen Häuschen am Meer ein – ungleich bescheidner und einfacher, als ich es mit Herzens gewohnt gewesen war, aber hinreichend wohnlich, um unter so trefflichen Freunden glücklich zu sein. Ich wäre es auch gewesen, hätte nicht die frische Wunde noch allzu stark geblutet. Doch ging ich mit Ernst und starkem Willen an die Arbeit: eine Übersetzung aus dem Russischen, für die mir in London Abnahme zugesagt worden war. Man fing in England an zu begreifen, daß auch in Rußland bereits eine Literatur existiere, und eine gewisse Neugierde gab sich kund, diese unbekannte Region des menschlichen Geistes näher kennen zu lernen. Obgleich es die Zeit der Erholung war, so hieß das bei Kinkels keineswegs Zeit des Müßiggangs, sondern nur Arbeit nach Neigung. Eine strenge Zeiteinteilung gab auch hier dem häuslichen Leben einen ernsten, würdigen Charakter. Am Vormittag zogen Kinkel, die Kinder und ich hinauf auf das alte Schloß, das auf einem Fels gelegen das Meer überschaut und innerhalb [11] seiner ruinenhaften Mauern einen reizenden Garten birgt, in dessen verschiedenen Lauben wir uns einzeln, ein jeder zu seiner Arbeit, einrichteten. Die Kinder arbeiteten nach des Vaters Aufgabe, und so blieb Johanna der Morgen frei, um in Muße, die ihr in London selten zuteil wurde, ihrer Kunst, d.h. der Musik zu leben. Am Nachmittag übernahm sie den Musikunterricht der Kinder, den sie mit seltener Begabung leitete, so daß das kleine Quartett bereits zu lieblichen Leistungen befähigt war. Dann blieb Kinkel frei für seine Arbeit. War endlich die Arbeitszeit vorüber, so zogen wir alle zu einem Spaziergang in die schöne Umgegend von Hastings aus, fuhren auch zuweilen nach entlegeneren interessanten Orten, z.B. nach dem Schlachtfelde, wo einst die angelsächsische Herrschaft ihr Ende und der edle Harold seinen Tod fand. Öfter aber auch ließen Johanna und ich Kinkel mit den rüstigen Kindern zu einer weiten Fußwanderung allein ausziehen. Wir gingen dann zu zweien die näheren Klippenpfade hin und tauschten Gefühle und Gedanken miteinander aus. Das waren Stunden, in denen ich mich fast glücklich fühlte; vor mir erschloß sich eine der reichsten und großartigsten weiblichen Naturen, die ich je gekannt, und es war mir ein Genuß, in dieser Seele zu lesen und mich in ihr wie in einer Heimat zu fühlen. Ich empfand dann immer, wie unwahr die Gemeinplätze über weibliche Freundschaften sind, natürlich bei Frauen, die etwas Besseres kennen als die Alltäglichkeiten des Lebens. Ich glaube im Gegenteil, daß eine Freundschaft zwischen edlen Frauen eines der uneigennützigsten und edelsten Gefühle auf Erden ist. Auch die Abende waren genußreich und voll innigster Gemütlichkeit, wenn die Kinder zu Bett gegangen waren, und Kinkel, seine Frau und ich allein blieben. Da wurde meist zusammen gelesen, oft eigene Produktionen des einen oder des andern. Ganz besonders schön waren die Abende, an denen uns Johanna ihre begonnenen Memoiren vorlas, die sie leider nie vollendet hat. Es war bei dieser Lesung, bei dem köstlichen Humor, mit dem sie Anekdoten [12] aus dem Leben ihrer Großeltern und Eltern erzählte, daß ich zum erstenmal wieder herzlich lachte, worüber Johanna große Freude hatte.

Im Grunde aber blieb meine Stimmung unverändert. Der Schmerz um das Verlorne nagte an meiner Seele. Oft erwachte ich des Morgens, indem ich laut den Namen Olga rief, jenes kleinen Wesens, das ich mit mütterlicher Liebe liebte, und fand mein Kissen von Tränen naß, die ich, während ich von ihr träumte, vergossen hatte. Ja zuweilen wuchs der Schmerz zu solcher Höhe an, daß der Überdruß am Leben und an der Arbeit, die mir kein beglückendes Resultat mehr gab, mich mit dunklen Fittichen umrauschte, und das Meer, wenn es am Abend im Mondesglanz schimmernd vor mir lag, mich mit leiser Gewalt hinabzog in die verschwiegne Tiefe, wo endlich alle Qual und alles vergebliche Sehnen ihre Ruhe finden würden. Diese geheimsten Regungen verschwieg ich Kinkels; es hätte sie zu sehr betrübt, da sie so liebevoll alles taten, was in ihren Kräften stand, um mir zu helfen. Aber brieflich teilte ich sie einem mit, dessen Freundschaft sich mir, seit jener schweren Katastrophe, als ein wahrhaftiger Anker im Schmerz und Verlassensein bewährt hatte. Dies war Domengé, jener Franzose, der ein täglicher Zeuge meines Lebens im Herzenschen Hause gewesen war. Er war von allen, die im Hause aus- und eingingen, derjenige, der mit ungebrochner Treue auf meiner Seite stehen blieb, während andere, ja mehrere meiner eignen Landsleute, es vorzogen, sich auf die Seite zu stellen, wo ein gastfreies Haus ihnen Annehmlichkeiten bot, während sie von mir, die nichts zu bieten hatte, sich scheu zurückzogen. Als ich nach Hastings ging, versprach Domengé, mir oft zu schreiben, und hielt auch Wort, was ihm um so höher anzurechnen war, als er, bei seinen sonstigen trefflichen Eigenschaften, die Schwäche hatte, nicht sehr präzis mit Einhaltung der Zeit oder der Erfüllung solcher Versprechungen zu sein. Seine Briefe waren immer trostreich, aber auch streng in der Art, wie er gegen meinen Schmerz zu reagieren suchte. Doch erkannte ich auch in [13] dieser Strenge seine Freundschaft und den Wunsch, mir zu helfen. Einst hatte ich ihm in einer besonders bitteren Stunde geschrieben, wo nicht nur der Schmerz um das Verlorne, sondern auch die tiefe Gereiztheit über kleinliche Einmischung dritter Personen mich zu keinem Frieden kommen ließen, und ich dabei mir auch Selbstvorwürfe nicht ersparte. Darauf antwortete er sogleich:

»Ihr letzter Brief voll eines noch tieferen Schmerzes als die vorhergehenden, macht es mir zur dringenden Pflicht, Ihnen einmal alles zu sagen, was ich über Ihre Lage denke und was ich in meinem Gewissen bestimmt für die Wahrheit halte. In den großen wie in den kleinen Krisen des Lebens gibt es nur ein, ich will nicht sagen Heilmittel, denn gewisse schmerzen wollen gar nicht geheilt sein, aber es gibt nur ein Festes, Unerschütterliches, einen einzigen Anhalt, der nicht in unseren Händen zerbricht, indem er uns verwundet, und das ist die Wahrheit. Selbst die festesten Seelen können sie nicht gleich durch die Tränen und die Verwirrung der Leidenschaft oder des Schmerzes hindurch erkennen. Aber nach Verlauf einiger Zeit ist es eine absolute Pflicht für alle, sie zu verstehen, so wie sie ist, ohne Vorurteil gegen sich selbst oder gegen die andern; es ist ganz besonders eine Pflicht für uns, die wir das Bewußtsein haben, zu dem Vortrab zu gehören.

Nun wohl; diese Pflicht, Sie haben sie noch nicht erfüllt, und deshalb findet Ihr Leiden keinen Trost. Sie sagen sich nicht die Wahrheit über sich selbst. Welcher Schuld klagen Sie sich an? Einer absoluten Hingebung von beinah drei Jahren, die Sie nur in der edelsten Weise bezeugt haben? Im Feuer Ihrer Hingebung reiben Sie sich damit auf, an sich selbst eine eingebildete Schuld zu finden. Sie erzürnen sich gegen sich selbst, indem Sie sich verleumden. Das ist ein seltner Fehler, aber es ist dennoch ein schwerer Fehler. Wenn die Hingebung bis zur Aufopferung des legitimen Selbstgefühls, des individuellen Stolzes geht, so bleibt sie zwar noch edel, aber sie ist unnatürlich; sie ist in Gefahr, das [14] Grundgesetz der Natur, die Erhaltung der Persönlichkeit zu zerstören. Dieser Fehler muß bestraft werden, und er wird es in Ihrem Fall durch ein providentielles Leiden.«

Nun folgte eine Analyse der verschiedenen Personen, die in diesem intimen Drama beteiligt gewesen waren, von denen er einigen die wahre Schuld an ihm beimaß; dann fuhr er fort: »Ich überlese meinen Brief mit tiefer Traurigkeit; dennoch werde ich ihn abschicken. Sie haben mich dazu gebracht, eine Analyse zu machen, vor der bis jetzt mein geheimster Gedanke zurückschreckte. Machen Sie sie nun auch von Ihrer Seite, ohne Leidenschaft, ohne Vorurteil, weder für noch gegen sich selbst, weder für noch gegen die andern; Sie müssen es tun im Namen der Wahrheit.

Das Opfer ist abscheulich; diese Vernichtung dessen, was man geliebt, dieses Umwerfen von Idolen, die man mit aller Liebe geschmückt hat, ist die grausamste Aufgabe des Lebens. Weinen, weinen Sie über diesen vorzeitigen Tod eines Teils Ihres Herzens, nähren Sie Ihren Schmerz, lassen Sie ihn nicht heilen; aber sagen Sie nicht: weshalb danach noch leben? was bleibt nach all den verlornen Illusionen?

Was bleibt, das sind Sie: die Bejahung Ihres Wesens; Ihr Selbst mit allem, was Ihnen aus der Vergangenheit gehört, mit Ihrer Hingebung, mit Ihrer Liebe; das sind Sie, geprüft, aber stärker geworden durch die Prüfung; Sie, die Sie sich selbst und andern Rechenschaft schuldig sind von den Kräften, die Ihnen gegeben sind und für die es ein so edles Feld der Tätigkeit, in der Gegenwart und Zukunft nach allen Seiten hin gibt. ›Weshalb noch leben?‹ Ach streichen Sie dies Wort aus, das die Angst des tiefsten Leidens kaum entschuldigen kann. Weshalb leben? Um das Leben der Hingebung fortzusetzen, um noch morgen zu leiden, wenn es sein muß, wie Sie gestern gelitten haben, nicht mehr für einen oder ein paar Menschen, sondern für die Menschheit, für die Millionen Unglücklicher, die uns umgeben und die, ich hoffe es fest, wir befreit haben werden, ehe wir sterben.«

[15] Ich las diesen edlen Brief mit tiefer Rührung, ich empfand alles, was er Wahres enthielt und unterzog mich der Prüfung, die er von mir forderte, immer und immer wieder. Aber was half es? Ich arbeitete ja redlich, unaufhörlich; ich tat, was ich konnte, aber immer kamen mir die Worte des Herzogs aus der »Natürlichen Tochter« von Goethe in den Sinn, als ihn der Weltgeistliche über den Tod Eugeniens zu trösten sucht:


»Wie schal und abgeschmackt ist solch ein Leben,
Wenn alles Leben, alles Treiben stets
Zu neuem Regen, neuem Treiben führt,
Und kein geliebter Zweck auch endlich lohnt.«

Von Herzen erhielt ich dann und wann Nachricht; er erhielt mich in der allgemeinen Kenntnis dessen, was im Hause vorging. Er schrieb mir unter anderem, daß er eine kleine Erholungsreise auf das Festland habe machen wollen, daß aber der Minister des Innern in Paris ein bestimmtes Verbot gegeben habe, ihm den Paß zu visieren als einem »sehr gefährlichen Individuum, das in politischen Zwecken reise und unter dem Namen Iskander schreibe«. Er fügte hinzu, daß er nun ein Landhaus in der Nähe von London genommen habe, und kündigte mir an, daß er eine Einleitung schreiben wolle zu den Memoiren der Fürstin Daschkoff, die ich gerade in das Deutsche übersetzte. Das war ein Buch, das wir noch zusammen, vor der Ankunft seiner Freunde, gelesen hatten und das uns lebhaft interessiert hatte. Diese Freundin Katharinas der Zweiten, dieser letztern an Geist und Bildung ebenbürtig, aber durch Charakter und Sitte weit überlegen, ist sicher eine der bedeutendsten weiblichen Erscheinungen unter allen, die aus dem engen Kreis des häuslichen Lebens heraus in die Öffentlichkeit getreten sind. Später sandte er mir diese Einleitung; sie war außerordentlich interessant und wurde den Memoiren, die bei Hoffmann und Campe in Hamburg herauskamen, vorgedruckt. Der alte Campe schrieb mir bei dieser Gelegenheit: »Alles, was Sie von Herzen übersetzen, nehme ich unbedingt an, denn er hat [16] sich das Bürgerrecht in der deutschen Literatur erworben.« Herzen fügte hinzu, daß er in der nächsten Zeit viel arbeiten wolle, »denn«, schrieb er, »ich muß fortfahren, obgleich ich mich recht müde und alt fühle, aber im Angesicht des Erfolges ist es nicht möglich, nicht fortzufahren«.

Und wirklich steigerte sich der Erfolg seiner Publikationen in überraschender Weise. Ein angesehener Buchhändler übernahm ihre Einführung in Rußland, und trotz der polizeilichen Aufsicht fanden sie in unzähligen Exemplaren dorthin ihren Weg und zündeten in der Jugend mit unwiderstehlicher Gewalt. Auch die Besuche russischer Reisenden mehrten sich, sowie die Zusendung von Artikeln und Mitteilungen für das neugegründete russische Blatt: »Die Glocke«, deren Schall ganz besonders der Aufhebung der Leibeigenschaft galt.

Auch über seine Lektüre schrieb er mir, unter anderem, als ich ihn wegen des neu erschienenen Buches von Proudhon: »De la Justice« gefragt hatte, da ich es lesen wollte: »Seit lange bin ich nicht von einem so tiefen Schmerz ergriffen worden, als durch das Buch von Proudhon. Die romanische Welt geht unter – dies ist ein Leichenstein; Proudhon machte sich selbst zur Statue wie die Frau Loths. Nachdem er alles verstanden hat, kommt er dazu, den Menschen der Familie zum Holokauste zu bringen und danach – danach – soll der Triumph der Gerechtigkeit kommen! Der dritte Teil, das Kapitel über den Fortschritt ausgenommen, ist traurig – traurig – traurig. Das ist ein Greis, der sein Testament schreibt; ein Mensch, der einen Band (zweihundert Seiten und mehr) katholisch-romanischer Unbilde gegen die Frauen schreiben konnte, ist kein freier Mensch.«

So blieb ich wohl etwas vertraut mit den geistigen Eindrücken seines Lebens, aber es war doch nicht mehr dasselbe, als wie das tägliche unmittelbare Mitteilen und das sich Hineinleben in einen gewissen Kreis von Interessen und Gedanken. Mich hatte die in jenem Augenblick so vielversprechende [17] Entwicklung des russischen Lebens lebhaft interessiert. Ich sah und hoffte da, wie Herzen selbst, eine Lösung der Zeitfragen, wie sie im alternden Europa nicht mehr möglich schien, und der Erfolg der Herzenschen Tätigkeit war mir eine werte Angelegenheit geworden. Nun war mir das alles wieder entrückt, und auch das entbehrte ich schmerzlich, wie es denn überhaupt wohl nur oberflächlichen Menschen gegeben ist, sich mit Leichtigkeit von einer bestimmten Richtung, die das Leben genommen hat und die man mit Eifer verfolgt, loszureißen und zu einer andern überzugehen. Dem edlen Menschen ist es ein Bedürfnis, ein Ziel fest in das Auge zu fassen und es mit aller Konzentration seiner Kräfte zu verfolgen. Dann erst entfaltet sich ihm der ganze Reichtum seiner Befähigung, auch alles andere zu verstehen und in alle Gebiete des Lebens denkend hinüber zu blicken. Er hat dann wie Archimedes den einen Punkt gefunden, von dem aus er die Welt aus ihren Angeln hebt. Dem Genius zeichnet die eigene Natur das Ziel in Flammenzügen vor, ihm ist die Mühe des Suchens erspart, und nur die Hindernisse, die Welt und Verhältnisse ihm in den Weg legen, machen ihm das Verfolgen seines Zieles oft zur Qual. Wenn sie ihn zwingen, diesem Ziel zu entsagen, ihn gewaltsam aus seiner Bahn drängen, so ist es Tod und Vernichtung für ihn. Die von der Natur minder reich Begnadeten müssen suchen, bis sie den wahren Punkt finden, von dem aus ihr Wesen in Einheit und Mannigfaltigkeit zugleich sich entfaltet und still beglückt die Blüte seiner selbst erreicht. Von diesem Punkt verdrängt zu werden ist ein unaussprechliches Leiden, ja ein verzehrender Schmerz. Manche gehen daran unter, und die Starken, die ihn überleben, tragen doch den Schmerz der Wunde durch das Leben mit sich. Es stieg mir damals der Gedanke auf, welch eine Macht die sogenannten legalen Bande noch über die Gemüter der Menschen, selbst auch der freiesten, haben – oft, ohne daß sie es sich eingestehen. Hätte mich irgendein legales Band an die Familie geknüpft, anstatt der freien Sympathie und Freundschaft, so hätte der Freunde [18] Ankunft keine Änderung gemacht, es wäre natürlich alles geblieben, wie es war. Im Laufe des Lebens sollte mir noch öfter Gelegenheit werden, diese Erfahrung in der frappantesten Weise bestätigt zu sehen. Die öffentlich Verlobte, die angetraute Gattin, die leibliche Mutter werden nicht so leicht verlassen werden, wie die noch so heiß, nur heimlich Geliebte, die treueste, edelste Freundin, die, welche in jeder Beziehung eine wahre Mutter gewesen ist. Woran liegt das? besonders bei Menschen, für die weder der Segen des Priesters, noch die Sanktion des Gesetzes mehr einen Wert haben, die vielmehr nur in Freiheit, nach ihrem innern Sittengesetz handeln? Hat die menschliche Schwäche doch jenes äußern Moralkodex, jener bindenden Fessel des legalen Zusammenhangs nötig? Auf der Voraussetzung dieser Nötigung beruht schließlich alle Gesetzgebung, ja alles, was die Kirche zum Sakrament erhob, um sich dadurch zum obersten Tribunal der Gewissen und der menschlichen Verhältnisse zu machen. Es beruhen darauf Eide, Kontrakte, Geschäftsverbindungen, Beamtentum usw., und je zivilisierter eine Gesellschaft wird, je mehr ist das ganze Leben in eine förmliche Architektur solcher konventionellen Verpflichtungen eingegrenzt und innerhalb derselben geordnet. Ist es darum sittlicher, edler? Was jedem menschlichen Verhältnis, jeder menschlichen Handlung den Wert verleiht, ist die innere Treue, die aufrichtige Hingebung, die Gewissenhaftigkeit und Liebe. Sind diese verschwunden, so ist die äußere Verpflichtung wie eine Schale ohne Kern, wie das am Sonntag zur Kirche Gehen, weil es respektabel ist, aber nicht weil ein tiefes, religiöses Bedürfnis dahin treibt, wie die ausgesprochene Eidesformel, der der Mensch vielleicht in seinem Innern flucht. Wenn aber die verschärfte Gesetzmäßigkeit des Lebens nicht zum Ziel führt, höchstens ein Automatentum schafft, das nach einem gewissen Uhrwerk ohne innere Belebung arbeitet, was soll dann das Leben schützen vor einem immer wiederholten Auseinanderfallen in willkürliche Richtungen, vor dem Spiel der Leidenschaften und dem Faustrecht, gegen das das Gesetz nur vermittelst bewaffneter [19] Gewalt sich wehren kann? Einzig eine idealere Auffassung des Daseins: die ideale Pflicht gegenüber dem starren Gesetz, das ideale Prinzip als Motiv der Handlung. So war die Treue, jene echt germanische, eingeborene Tugend, die das Charakteristische der Helden des deutschen Heldengesanges ist und sie veranlaßt, Krone und Reich zu lassen, um die gefangenen Gefährten zu suchen und zu befreien. Ist die Menschheit wirklich befähigt, ein höheres ethisches Dasein zu erreichen, so wird sie auf weitem Umweg aus ihrem konventionellen Lebensgebäude zurückkehren in die bewußte Einfachheit idealer Prinzipien, die als Empfindung bereits in großen Seelen lebendig waren von Anfang der Zeiten an. Die Rede des Mannes wird dann ja, ja! und nein, nein! sein, ohne der Eidesformel zu bedürfen, die Bande, die im Geist und der Wahrheit geknüpft waren, werden höher gelten als die, welche Priester oder Beamte sanktionierten; kurz, das Wesen wird den Schein ersetzen, und die ideale Einfachheit des Guten wird an die Stelle der komplizierten Schutzmauer der Konvention gegen das Böse treten.

Aber ach! welch ein ferner Zukunftstraum, wenn nicht überhaupt ein Traum! –

Die Zeit der Ferien nahte ihrem Ende und Kinkels rüsteten sich zur Abreise. In mir aber reifte der Entschluß, vorerst in Hastings zu bleiben. Es schien mir, als ob das Leben in der hier wirklich schönen Natur und die Nähe des Meeres endlich beruhigend auf meine verwundete Seele wirken müßten. Auch schreckte mich hier der Gedanke nicht so zurück, wieder einige Stunden zu geben, da die Entfernungen klein waren, die Ermüdung demnach nicht so groß sein konnte, es eben auch nicht das alte bekannte Feld war, auf das zurückzukehren mir so schmerzlich gewesen wäre. Ich wollte dies in so weit tun, um die Bedürfnisse des täglichen Lebens damit zu bestreiten, die auch in Hastings nicht so hoch kamen als in London, und hoffte noch Muße übrig zu behalten, mich dann frei den lieberen Beschäftigungen zu widmen. Bei dieser Gelegenheit empfand ich es wieder recht, wie viel leichter [20] es für den Reichen ist, jedem, auch dem tiefsten Schmerz, zu begegnen. Ich hatte eine Sehnsucht in mir, von der ich fühlte, daß sie eine große Versöhnung über mich gebracht haben würde. Dies war die Sehnsucht, nach Italien gehen zu können, nach dem Lande meiner Jugendsehnsucht. Hätte ich mich in die Schönheit von Natur und Kunst versenken, mir als Ersatz für die geliebte Olga ein Kind suchen können mit solchen schwarzen, ahnungsvollen Augen, wie die raffaelischen Kinder haben, die in die Ferne schauen, als sähen sie in das Wesen der Dinge selbst – so würde der Schmerz seinen Stachel verloren haben und zur sanften Wehmut geworden sein. Aber freudlose, mühselige Arbeit an die Stelle des verlornen Glücks setzen zu müssen, das ist hart. Das muß man in Betracht ziehen, und zwar in erster Reihe, wenn man an die Unterschiede denkt, die der Besitz des schnöden Metalls zwischen den Menschen feststellt. Dem Reichen, auch wenn er das Geliebteste verloren hat, bleibt noch die Macht, dem Verlornen einen erhabenen Tempel zu bauen, in dem der Schmerz in seiner Heiligkeit unberührt bleibt; ihm bleibt die Macht, fremde Tränen zu trocknen und das Lächeln getrösteten Elends sein eigen Leid mit versöhnendem Schimmer überstrahlen zu lassen. Dem Armen, dessen Herz blutet, was bleibt ihm? Die innere Arbeit der Resignation, die unter dem Druck des äußeren Tagelöhnertums nur zu oft zur Tantalus-Qual wird.

Ich teilte Kinkels meinen Entschluß mit. Sie billigten ihn, obwohl es ihnen leid tat, mich zu verlassen. Als aber der Tag der Abreise da war und ich sie zur Eisenbahn begleitete, als ich ihnen Lebewohl sagte und der Zug, der sie entführte, fortbrauste, da war es mir doch, als wankte der Boden unter meinen Füßen. Ein Gefühl des Verlassenseins kam über mich, wie ich es beinah noch nie empfunden. Ich ging in die kleine Wohnung am Meer, die ich mir genommen, richtete mich ein und suchte gleich durch einen festen Plan der Beschäftigungen Ruhe zu gewinnen. Aber ich vermißte die lieben Freunde überall, und schwermutsvoll lauschte [21] ich dem einförmigen Rauschen des Meeres unter meinen Fenstern, das nun die einzige Stimme war, die zu mir sprach. – Am folgenden Tag schon erhielt ich einen Brief von Johanna:


»Liebste! Du sollst das erste Lebenszeichen erhalten, das ich von meinem wieder eroberten Schreibtisch aus sende. Gestern blieb die blaue Seeluft noch eine gute Weile über uns, aber nach der letzten Hügelkette hinter Reigate nahm schon die Welt wieder graue Farben an, und der Londoner Lärm empfing uns mit den wildesten Lauten. Das Äußerste von Zivilisation sieht den allerwildesten Zuständen wieder ähnlich. Ich habe heute (es ist Abend) noch nicht bis zum Auspacken der nötigsten Gegenstände durchdringen können, denn unabweisbare Besuche kamen von früh an bis jetzt. Ich hoffe, die Einsamkeit des heutigen Tages hat gut auf Deine Seele gewirkt. Die große, prächtige Natur, die Dich umgibt, hat etwas so Tröstendes. Gewiß, die Poesie besucht Dich bald wieder und Du wirst mit Wald und Meer verschwistert leben, bis wieder ein Menschenauge Dich recht liebevoll ansehen wird. Ich habe schon heute Dein Bild besucht und lange mit Leid betrachtet, wie schwermütig Du darauf aussiehst. Ich wollte, Du lachtest einmal wieder recht herzlich, und doch weiß ich jetzt nichts vorzubringen, um Dich lachen zu machen; ich müßte Dich denn an die Szene mit den Gewichtssteinen meines Urgroßvaters erinnern. Wir haben stündlich an Dich gedacht, und Deinen Namen höre ich so oft, als Du noch bei uns wärest. Deine Stimme umgibt uns noch immer. Ich glaube, es wird nicht lange währen, so fährt einer von uns hinüber nach Hastings.

Gute Nacht, Beste, wir haben Dich so sehr lieb.

Von Herzen

Deine Johanna.«


Diese liebevollen Zeilen taten mir innigst wohl; ihnen folgten bald andere, alle vom gleichen Hauch wahrer Freundschaft durchweht. Sie brachten immer einen Strahl von [22] Freude in mein Leben. Zudem hegte ich die Hoffnung, daß Emilie Reeve es würde möglich machen können, herüber zu kommen und den Winter mit mir zuzubringen. Mit diesem seltenen Wesen war ich, seit der Trennung von dem Herzenschen Hause, oft zusammengetroffen und nah verbunden. Hatte ihre erste, schriftliche Annäherung uns damals überrascht und von vornherein die Ansicht gegeben, daß wir es hier mit einem Geist ersten Ranges zu tun hätten, so war mir dies nur im engen Verkehr zur Überzeugung geworden. Ich hatte sie in der letzten Zeit öfter in ihrem eigenen Hause aufgesucht und die Mitte kennen gelernt, in der sie aufgewachsen war. Eine kleinbürgerliche Familie, die in bescheidnen Verhältnissen in einer jener zentralen Londoner Straßen wohnte, die mit ihren dunkelbraunen Häusern wie von selbst jeden weiten freien Gedanken auszuschließen scheinen, da frische Luft und frisches Grün weitab wie in unbekannten Zonen weilen und kaum je ein klarer Sonnenstrahl die trübe dunsterfüllte Atmosphäre durchdringt. So beschränkt wie der äußere Horizont war auch der innere: man las an Wochentagen die Times, erfüllte seine Berufsgeschäfte und ging am Sonntag zur Kirche; das war alles. Ja so konservativ – einförmig – englisch waren die Begriffe im Hause, daß selbst die Dampfwut, die doch so ziemlich jedem Engländer eigen ist, hier noch nicht eingedrungen war. Eine der Schwestern Emiliens sagte mir, als ich von einer kleinen Exkursion mit der Eisenbahn erzählte, sie begriffe gar nicht, wie man mit einem Expreßzug fahren könnte, da das doch so schwindelerregend schnell gehe und so gefährlich sei. In diesem engen äußern und innern Dunstkreis war Emilie aufgewachsen wie eine bleiche Blume in Kellerluft, aber eine Blume, die nur des Lichts und der Wärme bedurfte, um Farbe und Glanz zu gewinnen. Von den Ihrigen wurde sie beinahe verspottet, von den Schwestern mit einem Gefühl unendlicher Superiorität behandelt, wie ein kindisches Wesen, das weder den Haushalt zu führen noch die Sonntagstoilette zum Besuch der Kirche zu verfertigen wußte, an die man[23] doch, bei den beschränkten Mitteln, selbst Hand anlegen mußte. Ja nicht nur das, sondern sie war sogar höchst gleichgültig gegen diese Toilette und verwendete lieber das nicht reichliche Taschengeld zum Ankauf von Büchern. Und was für Bücher! Shakespeare? Nun, gegen den konnte man nichts sagen, denn am Ende wagt es doch kein Brite, etwas gegen den großen William vorzubringen. Aber Byron, diesen unmoralischen Menschen? Aber Shelley, diesen Gottesleugner? Dazu philosophische Bücher aller Art – wozu braucht die ein Mädchen? Zum Glück versteht sie sie wohl gar nicht, sie ist zu einfältig dazu, laß sie denn fortvegetieren in ihrer Weise! so trösteten sich die Guten.

Aber der Sonnenstrahl fand seinen Weg auch in den Keller und beleuchtete die Blume und machte sie in stiller Farbenpracht erglühen. Ein Pole, aus dem Vaterland in das Exil getrieben, wurde Mieter eines überflüssigen Zimmers im Hause. Er erbot sich, Emilien französische Stunden zu geben, wenn sie ihm dafür Unterricht in der englischen Sprache erteilen wollte. Emilien erschloß sich ein neuer Horizont durch den Umgang mit dem erfahrnen und gereiften Mann. Ihre politischen und religiösen Ansichten befreiten sich schnell von der anerzognen konventionellen Beschränktheit, ihr scharfer, logischer Geist, der im Denken vor keiner kühnen Initiative zurückschreckte, zeigte ihr die Schattenseiten des englischen Wesens im schärfsten Licht. Sie wurde von da an eine unversöhnliche Feindin der englischen Heuchelei auf jenen beiden Gebieten. Aus dem gegenseitigen Lehren wurde bald ein gegenseitiges Lieben. Da aber die Verhältnisse von beiden Seiten den Gedanken an eine eheliche Verbindung vorerst unwiderruflich aus schlossen, so trat die Notwendigkeit der Trennung und Entsagung ein, die Emilie mit derselben passiven Seelenstärke übernahm, mit der sie bisher die freudlose Geisteseinsamkeit ihres Lebens getragen hatte. Ihr Freund ging nach Paris, sie blieben aber in unausgesetztem Briefwechsel. Seit dieser Zeit hatte sich bei Emilien das Interesse für die Schicksale [24] der slavischen Völker entwickelt, das sie auch dazu führte, nachdem sie eine von Herzens Schriften gelesen hatte, an diesen zu schreiben. Hierdurch wurden wir mit ihr bekannt und wurde der Weg gebahnt, der sie später aus ihrem engen Lebenskreise heraus führen sollte. Mein Scheiden aus Herzens Haus hatte sie tief betrübt, aber sie hatte mir seitdem eine verdoppelte, zarte und tiefe Neigung gezeigt. Wir sahen uns oft, und ich bewunderte in ihr jene geschlossene Kraft des englischen Geistes, der, wenn er sich einmal über das Niveau des Gewöhnlichen erhebt, mit unerbittlicher Logik zu den kühnsten Konsequenzen fortschreitet und mit einem universellen Blick weit über sein in Formen gefangenes Inselland hinaus schaut. Da ist dann kein Schwanken zwischen Theorie und Praxis, kein Zerwürfnis zwischen Innerlichkeit und Form, keine Idealität, die am Licht des Tages in ohnmächtige Nebel zerfließt, wie so oft bei den germanischen Stammverwandten. Theorie und Praxis gehen vielmehr Hand in Hand; was sich innerlich als fester Kern gestaltet, erscheint auch als bestimmt ausgeprägte, ruhig in sich abgeschlossene Individualität, die das eigentümlich nationale mit dem universellen Element zu verschmelzen weiß. So zeigen sich uns die englischen Geistesgrößen, die Poeten, Denker und Staatsmänner, so begegnet man, in minder hohen Sphären, einzelnen Gestalten, die wie aus Marmor gemeißelt, in fester plastischer Ruhe uns entgegentreten. Nur herrscht in ihrem Herzen nicht die Kälte des Steins, sondern eine tiefe warme Empfindung in derselben Ganzheit, die sie überhaupt charakterisiert. Wem einsolches englisches Herz sich in Liebe gegeben hat, der mag darauf rechnen bis zum Tode.

Eine derartige Gestalt war Emilie Reeve, und wenn ihr Sein nicht in weitere Kreise hinaus wirkte, so war dies anfänglich die Schuld der engen Verhältnisse, in denen sie geboren war, dann aber eines zu frühen Todes, der sie abrief, als sie gerade angefangen hatte, ihre Kräfte glänzend auf einem Felde edelster Tätigkeit zu bewähren.

[25] Der Wunsch, zusammen zu leben, war in uns beiden bei näherem Verkehr lebendig geworden. Nun schrieb ich ihr von Hastings aus, zu kommen, wenn es ihre Verhältnisse erlaubten, denn leider erlaubten es mir die meinen nicht, ihr ein freies Asyl zu bieten. In der Hoffnung auf dieses Zusammenleben verging mir die erste Zeit bei der Arbeit erträglich. Die einsamen Spaziergänge in die schöne Umgegend waren meine Erholung, und eines Tages, als ein wunderschöner Herbstmorgen mich weit über die Klippen gelockt hatte, alte Gedankenflüge wieder ihre Schwingen regten und die Phantasie mich durch den Schleier, den Schmerz und Leid ihr verhüllend übergeworfen, mit einem verheißenden Blick ansah, da war es mir, als ob die Sträucher und Blumen, die Wolken und die Wellen mir tröstend zuriefen: »Auch du bist eine Dichterseele, und in der Poesie allein ist die Wahrheit!«

Nun aber kam der Spätherbst mit seinen Nebeln, seinen Stürmen und kalten, regnerischen Tagen, das Meer brauste trüb und schaurig und hinderte mich am Schlafen. Von Emilie Reeve kam ein trauriger Brief, um zu sagen, daß ihre Verhältnisse es unmöglich machten, jetzt zu kommen; sie hatte auf eine literarische Arbeit gerechnet, die es ihr ermöglichen sollte; das war aber fehlgeschlagen. Nun war sie zu zartfühlend und schüchtern, um von den Ihrigen ein Opfer zu verlangen, wie sie denn überhaupt zaghaft war, nach außen in ihrem Schicksal irgendeine Initiative zu ergreifen, so kühn ihr Geist auch auf den Bahnen des Denkens vorwärts drang. Nach dieser bittern Enttäuschung wurde mir die Einsamkeit doppelt schwer zu tragen. Auf sympathischen Verkehr in Hastings durfte ich nicht rechnen, denn das Leben in den kleinen englischen Provinzstädten hat etwas Tötendes, und die paar Menschen, die ich bisher kennen gelernt hatte, langweilten mich unerträglich. Dazu wurde ich krank, und in einer schweren Leidensnacht, wo das Meer in wilden Melodien schaurige Grablieder sang und mein Herz in heftigen Schlägen an seine Wände pochte, als wollte es sie [26] sprengen, beschloß ich nach London zurückzukehren, wo der große Strom des Lebens brauste, der durch sein Getöse selbst auf Augenblicke wenigstens zum Lethe wird, und wo der Umgang mit intelligenten bewährten Freunden doch von Zeit zu Zeit eine anregende Stunde möglich machte. Gleich in den folgenden Tagen führte ich den Vorsatz aus, denn so sind die Widersprüche in der menschlichen Natur, daß die Einsamkeit uns nur dann eine Helferin und Trösterin ist, wenn die Philosophie bereits die heilende Hand auf unsere Wunden gelegt hat, und der Weheruf des verödeten Herzens still geworden ist vor den Stimmen ewiger Geister, die uns beglückend umtönen und uns selbst entführen.

An Emilie Reeve schrieb ich, um sie zu bitten, mir ein kleines Logis in einer von mir bezeichneten Gegend zu mieten. Domengé, dem ich auch meinen veränderten Entschluß mitteilte, schrieb mir froh darüber und sagte: »Kommen Sie, diese trostlose Einsamkeit wird Sie töten. Hier rechnen Sie auf mich, wie auf einen Bruder.« Auch Kinkels schrieben erfreut, mich wieder in der Nähe zu haben. Nur Herzen erlaubte sich, einen Spott auszusprechen, als ich auch ihm geschrieben hatte, ich kehre nach London zurück. Er meinte, ich könne der Geselligkeit nicht entbehren, und diese Bemerkung von ihm, der drei Jahre lang mein freiwillig ganz auf die Häuslichkeit beschränktes Leben mit angesehen hatte, verletzte mich tief. Ich beschloß daher endlich, völlig mit dieser Vergangenheit zu brechen, meinen neuen Wohnort in London dort gar nicht anzuzeigen und nicht hinzugehen.

So kam ich nach London zurück, nahm das kleine Logis, das Emilie mir bei freundlichen Leuten, wo ich auch Kost im Hause haben konnte, ausgesucht hatte, und richtete mich wieder für ein Leben der Arbeit ein. Domengé hielt Wort, kam oft, mich zu sehen und zeigte mir die Ergebenheit eines Bruders. Emilie Reeve kam, und zu Kinkels ging ich von Zeit zu Zeit, so daß ich mich wenigstens von Teilnahme und Freundschaft umgeben wußte und mich ruhiger fühlte. So beschränkt auch meine Mittel waren und so unsicher der [27] Erwerbsweg, den ich eingeschlagen hatte, so mietete ich mir doch ein Klavier, denn das Bedürfnis nach dem Trost, den nur die heiligste aller Künste geben kann, war in mir zu verzehrender Sehnsucht geworden. Von frühester Jugend an im elterlichen Hause mit Musik genährt und zwar mit dem Edelsten und Besten, was sie bis dahin gegeben hatte, war mir das, seit ich im Exil lebte, eine schwere Entbehrung, daß ich nur äußerst selten wahrhaft gute hörte, die in London zwar wohl zu hören ist, aber nur mit großem Kostenaufwand. Auch im Herzenschen Hause war es das einzige, was mir gefehlt hatte. Jetzt, wo ich allein war, fühlte ich, daß ich es nicht länger entbehren konnte. Zwar war ich nie eine Virtuosin gewesen und hatte nun auch durch den langen Mangel an Übung alle Fertigkeit verloren, doch konnte ich noch singen. Der Gesang war mir von jeher der einzige Ausdruck dessen gewesen, was in der Seele wie aus einer andern Welt herübertönt aus den Tiefen des Seins, wo das Wort nicht hinreicht. Wenn ich im Gespräch stets bis zum Verzweifeln schüchtern gewesen war, so konnte ich im Gesang jeder Empfindung Ausdruck geben. Es sprach dann gleichsam ein anderes aus mir, das ich doch so ganz und innigst selbst war. Deshalb hatte es mich einst so gelockt, auf das Theater zu gehen, weil es mir göttlich schien, jede tiefste und erhabenste Empfindung in Tönen ausströmen lassen zu können, das Idealste und Höchste vor den Menschen sein zu dürfen, ohne Furcht, mißverstanden zu werden oder die innere Flamme zu entweihen, wie es einzig und allein für den darstellenden Künstler möglich ist. Nie war mir sein Vorrecht in begeisternderem Licht erschienen, als damals, wo ich in den schönsten Tagen meiner Jugend die Schröder-Devrient sah und hörte, die größte aller dramatischen Sängerinnen, die je gelebt haben. In dieser unvergleichlichen und unvergeßlichen Künstlerin war mir das Hohepriestertum der darstellenden Kunst klar geworden. Sie weihte die Bühne wirklich zu einem Tempel, wo eine neue Religion herrschte, die Religion des bewußten Wahns, der uns vom Elend des Lebens im [28] tragischen Spiegelbild versöhnend erlöst. Durch jene einzige hatte ich erkannt, was dramatischer Gesang sei, und indem ich diesen in der Stille zu meiner eigenen Befriedigung bei mir auszubilden suchte, war mir das Singen überhaupt zu einer Quelle des Friedens und des Trostes geworden.

Auch jetzt flüchtete ich mich in den Stunden, wo die Schwermut überhand nahm, zu jenem Heilmittel. Aber nicht immer gelang es mir, auch selbst damit die dunklen Geister zu bannen, die meine Seele belagerten. Ja zuweilen sogar ergriffen sie mich mit doppelter Gewalt, wenn in dem einsamen Raum meine eigene Stimme mir, wie aus dem dunklen Schacht des Daseins heraus, zu tönen schien und mir den hoffnungslosen Schmerz des Lebens in klagenden oder stürmischen Tönen zum Bewußtsein brachte. Dann mußte ich oft geradezu vom Klavier fliehen, nur damit mir jene geheimnisvolle Sphinx nicht allzu klar verkünde, was das Leben eigentlich sei, denn ich hatte noch nicht die Kraft gewonnen, diese furchtbare Offenbarung zu ertragen. So ging es mir auch eines Abends, als ich ein Schubertsches Lied: »Wehe dem Fliehenden, Welthinausziehenden usw.«, gesungen hatte. Das schneidende Weh durchschauerte mein Herz so tief, daß ich aufsprang und fühlend, daß ich es nicht länger tragen könne, nach einem Messer griff, das auf dem Tisch lag, um dieser Qual ein Ende zu machen. Aber indem mir die blanke Klinge entgegenblitzte, trat das Bild meiner Mutter vor meine Seele; der Gedanke, ihr noch diesen neuen, unerträglichen Schmerz zu machen, fesselte meine Hand wie mit eherner Gewalt, und das Messer sank zu Boden. Ich mußte mir aber selbst entfliehen, das fühlte ich, damit der Augenblick der Versuchung nicht vielleicht mit unwiderstehlicherer Macht wiederkehre. Rasch nahm ich Hut und Mantel, eilte hinaus in einen der vorüberfahrenden Omnibusse und fuhr nach dem Strand-Theater, wo an dem Abend Othello gegeben wurde von einem Künstler, dessen Leistung mir Domengé als ganz unübertrefflich geschildert hatte. Ich war jetzt so unbekannt in dieser Riesenwelt von London, es war mir auch [29] so gleichgültig, was man davon denken könnte, daß ich keinen Anstand nahm, allein abends in ein Theater zweiten Ranges zu gehen. Ich gehörte jetzt zu den Proletariern, und ich war nicht zu stolz, es zu machen wie sie, um mir einen Kunstgenuß zu verschaffen. Ich ging ins Parterre, wo der Platz einen Schilling kostete, und saß auch neben einem Proletariermädchen von etwas zweifelhaftem Aussehen, die beständig aß von allerlei Vorräten, die sie sich mitgebracht hatte. Das war freilich keine angenehme Nachbarschaft, aber auch das war mir gleichgültig vor dem Verlangen, im Anhören eines erhabenen Kunstwerks das Elend der Welt und mein eigenes zu vergessen. Auch wurde ich bald mächtig gefesselt durch den Künstler, der den Othello gab. Es ist seltsam, wie sich in England oft auf den kleinen Bühnen zweiten, ja dritten Ranges bedeutende Talente finden, die in aller Bescheidenheit und vor einem Publikum, das in der Majorität gewiß nicht zu der sogenannten gebildeten Gesellschaft gehört, eine Auffassung und Belebung der großen tragischen Charaktere zeigen, die zu dem Vorzüglichsten gehören, was man sehen kann. So war Phelps am Adelphi-, so war nun dieser Dillon am Strand-Theater. Noch nie hatte ich den Othello so schön darstellen sehen, so ruhig, frei und würdig im Anfang, im edlen Bewußtsein seiner Kraft und seines Verdienstes den stolzen Venetianern gegenüber, so tief liebend und erfüllt von gänzlichem Vertrauen bei Desdemona, so widerstrebend gegen das Gift, das ihm der Verräter tropfenweise ins Herz träufelt, so furchtbar, als die Leidenschaft über ihn Herr geworden, und so rührend und wieder liebenswert, als das blutige Werk vollbracht ist, der Schleier von seinen Augen fällt und er mit erschütternder Bescheidenheit dessen gedenkt, was er einst war und wie er handelte, wie er liebte, und ewig hätte lieben mögen, ehe das wilde Unwesen in ihm, die unbekannte Macht, »die den Menschen schuldig werden läßt«, erwachte und ihn zur abscheulichsten Tat fortriß. Ein Othello kann danach nur sterben; seine Reue, sein Abscheu über sich selbst können ihn nur zur Selbstvernichtung [30] führen; den heißen Drang des Lebens, der ihn zum Verbrechen brachte, muß er auf ewig verstummen machen, und darin zeigt sich Shakespeare so viel größer wie Calderon, der nach der gleichen Tat die tragische Versöhnung im armen Begriff gesühnter Ehre sucht. Durch diese treffliche Darstellung war es mir, als verstände ich nun erst Shakespeare ganz, er, dessen Stücke alle wie aus dem Grunde des Daseins selbst entstanden scheinen, bei denen man die Persönlichkeit des Dichters vollkommen vergißt, in denen man lebt. So versunken war ich in diese gewaltige Schöpfung, daß ich mich selbst und die Umgebung, in der ich mich befand, vergessen hatte. Ich erinnerte mich erst daran, als ich gegen das Ende etwas wie ein unterdrücktes Schluchzen neben mir vernahm. Ich sah mich um und gewahrte meine Nachbarin, die, ebenfalls ihrer Welt entrückt, auf die Bühne starrte. Ihre Eßvorräte waren zu Boden gesunken, heiße Tränen rollten über ihre Wangen, und für eine Stunde wenigstens hatte das tragische Kunstwerk auch sie vom Schmutz des Lebens gereinigt und erlöst.

Als ich nach Hause kam, hob ich still das Messer auf, das noch am Boden lag, und mein letzter Gedanke an dem Tag war ein Dankgebet an Shakespeare. Ja, nur der Genius und die hohe tragische Kunst machen das Leben erträglich!

Ich hatte nicht mehr an Herzen geschrieben, ihm nicht angezeigt, wo ich wohne, und hörte mehrere Wochen lang nichts von dort. Nun kam mein Geburtstag, der sonst im Hause immer fröhlich gefeiert worden war und den ich jetzt zuerst wieder einsam verlebte. Am Nachmittag erschien plötzlich der junge Alexander und brachte mir freundliche Zeilen vom Vater und ein Angebinde von seiten der Kinder. Sie hatten durch Nachforschungen ausfindig gemacht, wo ich eingekehrt sei, und hatten diesen Tag erwählt, um die unterbrochene Verbindung wieder anzuknüpfen. Mein Herz war nur allzu geneigt, zu vergeben und zu vergessen, was von dieser Seite ihm Übles geschehen, und so versprach ich, der dringenden [31] herzlichen Einladung Alexanders Folge zu leisten und nächstens hinauszukommen nach dem mit der Eisenbahn zu erreichenden ländlichen Ort, wo sie jetzt wohnten. Nach einigen Tagen entschloß ich mich denn auch, hinzugehen, da meine Sehnsucht, die Kinder wiederzusehen, groß war. Doch zog sich mir das Herz zusammen vor tiefer Bewegung, als ich mich dem Hause näherte, in dem nun das einst von mir so liebend erfaßte Leben vor sich ging, ohne meine Hilfe, ohne meine stetige Teilnahme, und ich fühlte daran, wie wenig ich noch überwunden hatte. Herzen empfing mich mit alter Freundlichkeit, die Kinder voller Liebe, die Freunde höflich. Nur meine kleine Olga, die wiederzusehen mich bis zu Tränen rührte, war etwas scheu und zurückhaltend. Aber als nach einiger Zeit ich zufällig einen Augenblick mit ihr allein blieb, warf sie sich plötzlich um meinen Hals und küßte mich mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit. Ich verstand von dem Augenblick an, daß ein einschüchternder Einfluß auf das Kind geübt war und dieses nun instinktiv fühlen mochte, daß die allmächtige Liebe zwischen uns sich nicht mehr so frei zeigen dürfe wie früher. Dies war ein neuer Schmerz für mich; ich hatte gehofft, die Kinder noch glücklicher wiederzufinden, als sie bei mir gewesen waren, und ich fand, wenigstens bei Olga, das Gegenteil, mußte also einsehen, daß unsere Trennung nicht nur für mich, sondern auch für dies geliebte Wesen ein Unglück gewesen war. Um ihretwillen aber beschloß ich nun, jede bittere Empfindung, jedes erneute Leid zu ertragen und öfter hinzugehn, damit das Kind die große Liebe, die ich ihr gewidmet, sich noch nahe fühle, und diese wie ein unsichtbarer Schutzgeist über ihr wache.

Im Laufe des Winters machte ich einige Bekanntschaften, die mir zum Teil zu sehr angenehmen Beziehungen wurden. Unter diesen befand sich Angelika von Lagerström, eine unverheiratete Dame, ungefähr von gleichem Alter wie ich. Sie hatte sich auch, wie ich, der Bewegung der freien Gemeinden in Deutschland angeschlossen, und nur deshalb, ohne daß sie sich im mindesten bei politischen Vorgängen beteiligt [32] hätte, wurde sie nicht nur aus Preußen verwiesen, sondern auch, als sie sich in Dresden niederlassen wollte, daselbst polizeilich verfolgt und in das Exil getrieben. Zunächst war sie in die Schweiz gegangen, dann nach England, wo sie, da sie auch kein Vermögen hatte, denselben Weg ging wie die andern, d.h. Stunden gab. Ihr Schicksal war auch nicht leicht; sie hatte eine angenehme, mit vieler Jahre Arbeit selbst erkämpfte Existenz in der Heimat und das Zusammenleben mit teuren, hochverehrten Menschen aufgeben müssen, um nun, an der Schwelle des nahenden Alters, allein und freudlos das Brot des Exils zu essen. Ich wußte, welch ein unendlich schönes Leben sich damals in den aufblühenden freien Gemeinden in Deutschland zu entwickeln begonnen hatte; ein Leben, wo die Kirche zur Schule geworden war, in der die höchsten ethischen Gesichtspunkte, frei von allem dogmatischen Zwang, für alle Fragen des Lebens entscheidend behandelt wurden; wo die menschlichen Beziehungen aller Stände zueinander eine wahrhaft humane Form erhalten hatten: wo eine allgemeine Bildung angestrebt wurde, die nicht mehr ein bloßes gelehrtes, auf Kreise oder Individuen beschränktes Wissen war, sondern ein Lebendigwerden des Gelernten, in Umgang, Rede und Wesen bei Höhern und Niedern. – Ich wußte dies, vermochte daher ganz zu würdigen, was Angelika von Lagerström hatte aufgeben müssen, und bewunderte um so aufrichtiger den kräftigen Mut und den köstlichen, unverwüstlichen Humor, mit dem sie ihr Schicksal ertrug. Bei ihrer übrigen großen Bildung trug dieser Humor nicht wenig dazu bei, ihre Unterhaltung interessant und erheiternd zu machen, und ich verdankte ihr manche gute Stunde. – Sie hatte mir mehreremal von einer Engländerin erzählt, mit der sie durch die deutschen Stunden, die sie deren kleiner Tochter gab, bekannt geworden war, und mich auf ihre Bekanntschaft neugierig gemacht. Nun traf es sich, daß, als Saffi eines Abends eine öffentliche Vorlesung über italienische Zustände hielt, der ich beiwohnte, ich auch Fräulein von Lagerström daselbst fand, die mir eine [33] große, schöne Frau als eben jene Mrs. Bell vorstellte, von der sie mir gesprochen hatte. Fielen mir schon die hohe schlanke Gestalt, die großen dunklen Augen, die ganze Erscheinung der Dame angenehm auf, so berührte mich noch sympathischer der Ton ihrer Stimme. Eine sanfte, wohllautende Stimme ist für mich immer einer der größten Zauber der Erscheinung gewesen; hier erfreute mich aber der Ton dieser Stimme um so mehr, als die englische Sprache mit ihren sonst so häßlichen Gurgellauten bei diesem sanften Organ geradezu musikalisch wohllautend wurde. Eine Einladung, mich zu besuchen, die ich aussprach, wurde auch nach wenigen Tagen befolgt. Ich war schon von den Hauptpunkten im Schicksal der Mrs. Bell durch die Lagerström unterrichtet, und das Vertrauen, das sie mir gleich unaufgefordert schenkte, überraschte mich daher nicht. Mein innigstes Mitgefühl aber wurde rege, um so mehr, da es sich hier wieder nicht um eine gewöhnliche Natur, die sich in ihren Verhältnissen nicht glücklich fühlt, sondern um eine außergewöhnliche, stark ausgeprägte Individualität handelte, die, im gänzlichen Widerspruch mit der Mitte, in der sie lebte, sich durch eignes Denken zu einem bewunderungswürdigen Grad der Freiheit heraufgearbeitet hatte. Sie war als das einzige Kind sehr wohlhabender Eltern im Komfort, ja im Luxus erzogen. In Italien geboren, hatte sie auch daselbst ihre erste Kindheit verlebt, und es war ihr von dort eine halb traumartige, poesieerfüllte Erinnerung geblieben, die gleichsam den Grundton in ihrer Natur gebildet hatte, auf den sich später alle Saiten ihres Wesens stimmten. Dann mit den Eltern zurückgekehrt, hatte sie mit wachsendem Bewußtsein auch den sonderbaren Widerspruch in sich wachsen fühlen, in dem sie mit ihren nächsten Umgebungen stand. Ihr Vater war ein kluger, witziger, frivoler Lebemann, der einen Teil seines Vermögens in den verschiedenen Vergnügungen eines unabhängigen Gentleman verloren hatte, der sich innerlich über jede Rücksicht hinwegsetzte und alles Glaubens spottete, äußerlich aber streng das konventionelle Dogma [34] nach allen Seiten hin beobachtete. Seine Frau war das Musterbild einer nach allen Regeln der Orthodoxie und des »respectable« lebenden Dame, die das »Er soll dein Herr sein!«, das sie am Altar gehört, mit unverbrüchlicher Gewissenhaftigkeit über sich ergehen ließ, unfehlbar zweimal Sonntags zur Kirche ging und an diesem Tag keine Arbeit anrührte, niemals »anders war als andere Leute«, die in die Schicht des »respectable« gehörten, der auch der Leumund keinen Verstoß gegen die hergebrachte Sitte anhängen konnte; dabei aber kalt, steif und prüde. Zwischen diesen beiden Extremen wuchs Eugenie empor, beiden in allem unähnlich. Eine freie, reine, edle, offne Natur mußte ihr des Vaters Frivolität, mit dem Deckmantel des Gentleman umgeben, bald zuwider, ja verächtlich werden, da seine Libertinage wohl die Augen der Welt, nicht aber die der Tochter scheute. Die kalte, steife, unschöne Tugend, Pflichttreue und Religiosität der Mutter aber überzog das warme, phantasievolle, von dämmernden Idealen erfüllte Herz des Mädchens wie mit einem eisigen Hauch. Wenn sie, in einer Aufwallung kindlichen Gefühls, in Liebessehnsucht sich an das Mutterherz stürzen wollte, erhielt sie zur Antwort, man müsse ladylike und so wie andere Leute sein; wenn sie dem jugendlichen Frohsinn einmal die Zügel schießen lassen wollte, wurde sie an Sitte und Anstand gemahnt; wenn sie heiß nach ernstem Unterricht verlangte, wenn sie irgend eine Kunst gründlich treiben wollte, wurde ihr erwidert, das brauche eine junge Lady nicht, das gehöre nur für die Leute von Profession. Die Gouvernanten, die man ihr gehalten, die »finishing lessons«, die man ihr hatte geben lassen, waren ja hinreichend für ein junges Mädchen von Rang und Vermögen! So in dem eisernen Käfig der Konvention und Beschränktheit eingesperrt, ließ der arme Vogel endlich die Flügel hängen und wagte nur noch in einsamen Träumen den Flug ins Idealland. Da fand das heiße Herz Wesen seiner Art und führte, fern von der sterilen Wirklichkeit, ein poesieerfülltes, aber gefahrvolles Dasein, das es immer unheilbarer [35] von den gegebenen Verhältnissen entfernte. Die in seltener Schönheit aufgeblühte Jungfrau begegnete mit siebzehn Jahren unter der Zahl der Bewerber, die sich einfanden, einem Künstler, der, was die äußere Stellung betraf, den Ansprüchen, die ihre Eltern machten, am wenigsten von allen genügte. Eugenien aber schien es, als habe das Schicksal ihr den Retter geschickt, der sie aus der Öde ihres Lebens nun in die Wirklichkeit ihrer Ideale führen sollte, als müßte der, der Götter und Heroen zu bilden sich erkühnte, auch einem Weibe den Himmel auf Erden aufzuschließen imstande sein. Sie besiegte die Einwendungen der Eltern und wurde seine Gattin. Nicht lange aber währte der Traum. Bald sah sie ein, daß es auch ein konventionelles Künstlertum gebe, und daß, sowie der äußere Gentleman die innere Verderbtheit überdecken könne, so auch eine gewisse äußere künstlerische Bildung den Mangel an aller Idealität und wirklichen Schöpferkraft, für den ersten Blick, dem Unerfahrenen verbergen konnte. Die Geschichte ihres Herzens wurde von nun an die so unzähligemal wiederholte Geschichte aller der Herzen, die ein früher Irrtum in jenes Joch schmiedet, das der Gesellschaft darum für heilig gilt, weil die Kirche es für unauflöslich erklärt hat. Was aber bei ihr anders war als bei den meisten ähnlichen Fällen, das war die gewaltige Arbeit des Geistes, die sich bei ihr vollzog und die sie zu einem inneren Protest gegen die sie umgebende Welt, mit ihrer Heuchelei, mit ihrer inneren Roheit und Verderbnis, mit ihrer falschen Moral brachte. Es war dies um so bemerkenswerter bei ihr, als ihr nichts dabei zu Hilfe kam, weder ein Buch, noch ein Mensch, die ihr gesagt hätten, daß die Gedanken, die sie bewegten, längst das Bekenntnis eines großen Teils der Gesellschaft wären, und daß der Kampf, den sie einsam kämpfte, schon lange die Welt erfülle. Sie war zweimal Mutter gewesen, aber den Sohn hatte ihr der Tod wieder geraubt. Es blieb ihr nur eine kleine Tochter, und es wurde zum Ziel ihres Lebens, diese anders zu erziehen, als sie selbst erzogen worden war. In ihr hoffte sie auch [36] das Band zu finden, das sie ferner noch mit dem nicht mehr geliebten Gatten in achtungsvoller Freundlichkeit verbinden sollte. Sie hatte es für ihre Pflicht gehalten, sobald die Illusion der Liebe erloschen war, auch jeden ehelichen Verkehr aufzuheben, der ihr von nun an nur Prostitution schien; auch darin nicht wie die Mehrzahl der Frauen, die die Erniedrigung des ehelichen Verkehrs ohne Liebe gar nicht fühlen oder, was noch schlimmer ist, sie fühlen und sich ihr dennoch aus Mangel an sittlichem Mut unterziehen. Herr Bell, der den tiefen ethischen Gründen im Betragen seiner Gattin keine Rechnung trug, nötigte sie nach einigen Jahren, mit ihm und ihrem Kind wieder in das Haus ihrer Eltern zu ziehen, wo eine größere, glänzendere Häuslichkeit ihm wahrscheinlich eine angenehme Existenz als Ersatz für das verlorene innere Glück verhieß. Dies war für Eugenie ein Todesurteil; das elterliche Haus, in dem sie ihre traurige Jugend verlebt, in dem man ihr die Schwingen des Geistes so gründlich mit dem toten Buchstaben beschnitten hatte, war ihr wie ihr und ihres Kindes Grab. Aber all ihr Flehen war umsonst: die Autorität des legalen Gebieters ihres Schicksals siegte, und sie mußte gehorchen. Immer tiefer wurde nun der Riß zwischen ihrer inneren Entwicklung und ihrer Umgebung. Die ganze banale Welt der Konvention mit ihrer Religiosität, ihrer Moral, ihrem Begriff von Anstand, ihrer Geselligkeit und ihrer Kunst, ward ihr täglich verächtlicher. Ihr Kind davor zu wahren, blieb ihre einzige Lebenshoffnung; sie übernahm seinen Unterricht größtenteils selbst, besonders den religiösen Unterricht, und versuchte es, in der kindlichen Seele ein einfach poetisches Gefühl der Verehrung vor »etwas Höherem, Reinerem, Unbekanntem« zu erwecken, sonst aber ihr den Wust und leeren Formelkram der dogmatischen Kirche fern zu halten. Allein hier war der Punkt, wo der innerlich gärende Konflikt zum Ausbruch kommen und zum offenen Krieg werden mußte, denn hier verstand die Mutter Eugeniens keinen Spaß, und die unselige Verirrung, in der der Geist der Tochter befangen war, sollte nicht auch auf die Enkelin [37] übergehen. Vater und Schwiegersohn waren natürlich auf seiten der »untadelhaften, regelrechten« Frau. Eugenie hatte sich von dem Sonntagsbesuch der Kirche schließlich völlig zurückgezogen, der ihrem hellen Geist nur noch Gegenstände der Polemik bot; ihr Kind mußte die Großmutter dahin begleiten. Eugenie wollte ihre Tochter zu der edlen Einfachheit in Kleidung und Gewohnheiten erziehen, zu der sie sich selbst erzogen hatte, da ihr künstlerischer Sinn die Unnatur der Mode und die Geschmacklosigkeit vieler Luxusbedürfnisse verschmähte. Die Großeltern hingegen überhäuften die Kleine mit all jenen überflüssigen Gaben, die in der Kindheit den Trieb zur Selbständigkeit und zum Schaffen lähmen und, trotzdem sie eine frühe Übersättigung hervorrufen, dennoch die unzähligen Bedürfnisse einpflanzen, die das moderne Leben gefangen genommen haben und Zeit und Geld für edlere Dinge rauben. Wie in diesen, so ging es in allen Beziehungen. Die Anschauungen kamen zur Sprache. Eugenie hielt mit den ihrigen nicht zurück, da sie der Wahrheit ein offenes Bekenntnis schuldig zu sein glaubte. Darüber entstanden die heftigsten Szenen. Von ruhiger Erörterung war keine Rede; die Welt des Absolutismus muß absolut in allem recht haben. Nur ein Zweifel erschüttert ja schon die unabänderlich gegründete Veste der Lebensdogmen. Dazu war Eugeniens Vater ein maßlos heftiger Mann, der im Ausbruch der Leidenschaft jede Form des Gentleman vergaß und sich bis zu den wildesten Drohungen hinreißen ließ. Er hatte mehr als einmal geäußert, daß ein so verkehrtes und sich von aller herkömmlichen Moral entfremdendes Wesen nur im Irrenhause endigen könne. Natürlich blieb dieser Zwiespalt kein Geheimnis, und der Kreis der Bekannten fing an, Eugenien mit mißtrauischen Blicken zu betrachten und sich leise von ihr zurückzuziehen. Ermattet von den nutzlosen Kämpfen, in allen Lebenstiefen gereizt und gekränkt, zog auch sie sich immer mehr zurück und lebte endlich ausschließlich in dem obersten Stock des Hauses, wo sie ein Schlafzimmer mit ihrem Kind und dessen Spielstube hatte. Dort begrub [38] sie ihre Jugend, ihre Schönheit, ihre glänzenden Geistesgaben und Talente, um einzig, womöglich, der Rettung ihrer Tochter zu leben. Dabei wartete ihrer aber der tiefste Schmerz von allem, was sie bisher erlebt, denn sie entdeckte mehr und mehr in dem heranwachsenden Mädchen die Natur des Vaters, deren Äußerlichkeit und kalter Egoismus sich in jeder Weise viel mehr von den glänzenden Lockungen des Lebens bei den Großeltern angezogen fühlte, als von dem Zusammenleben mit der Mutter. Denn diese brachte schon in die bunten Zerstreuungen der Kinderstube eine Anforderung sittlichen Ernstes und legte viel mehr Gewicht auf das Wesen, als auf die Form. Letztere war aber so viel leichter zu beobachten, ohne Mühe und Anstrengung und ohne den entgegengesetzten Neigungen viel Zwang anzutun. Das war natürlich ein Schlag für Eugenie, gegen den alles übrige zurücktrat. Er führte sie aber, wie alle Kämpfe ihres Lebens, zu allgemeinen Schlußfolgerungen, die sie das eigene Leid vergessen machten in der Betrachtung des allgemeinen Leidens, und in dem Nachdenken über seine Ursachen und Wirkungen. Man kann sagen, daß diese merkwürdige Natur auf induktivem Wege aus ihren eigenen armen Lebenserfahrungen sich eine Fülle allgemeiner Sätze bildete, zu denen die Philosophie und Wissenschaft ihr keinen Weg gezeigt hatten, da beide außerhalb ihres Lebenskreises geblieben waren. Zu alledem kam nun noch eine Entdeckung, die der wunderbarste Zufall sie machen ließ, und die ihr Aufschluß über ein bis dahin rätselhaftes Dunkel ihres Daseins gab. Sie erfuhr nämlich, daß sie nicht das Kind der Frau sei, die sie bisher für ihre Mutter gehalten hatte, sondern das illegitime Kind einer Dame, von der sie eine leise Erinnerung wie von einer Lichtgestalt aus ihrer frühesten Kindheit aus Italien hatte. Die merkwürdigsten Fügungen verschafften ihr die Bestätigung dieser Tatsache, und die Kenntnis vom Namen und Vaterland ihrer wahren Mutter. Wie es gekommen war, daß die legitime Gattin das illegitime Kind adoptierte und es als das ihre erzog, wie die wahre Mutter sich entschließen [39] konnte, es zu verlassen, das blieb ihr ein Geheimnis, da sie die Familie um keinen Preis wissen lassen wollte, daß sie um die Sache wisse. Aber es war ihr nun klar, woher die tiefe Kluft kam, die sie zwischen sich und ihrer vermeintlichen Mutter stets gefühlt hatte, und weshalb sie, das Kind einer Frau, die einer feurigeren Nationalität angehörte, nie an diesem kalten Herzen hatte ruhen können. Von dieser Seite fühlte sie sich erleichtert und befreit, und wie von einer unfreiwilligen Schuld entbunden, da sie nun gegen eine Frau, die auf ihre Art eine gewiß nicht leichte Mutterpflicht an ihr geübt hatte, achtungsvolle Dankbarkeit empfinden konnte, wo sie kindliche Liebe nie empfunden hatte. Auf der andern Seite fühlte sie auch ihre Abneigung gegen ihren Vater noch mehr gerechtfertigt, der sie der wahren und, wie sie ihr vorschwebte, so sympathischen Mutter beraubt und diese selbst vielleicht zu langem bitteren Leid verurteilt hatte. Sie empfand nach dieser Mutter eine grenzenlose Sehnsucht, wußte aber nur, daß sie sich später verheiratet hatte und zwar nach Rußland, nicht aber, ob sie noch am Leben sei oder nicht.

Der Zufall hatte Angelika von Lagerström als Lehrerin der deutschen Sprache für das Kind in das Haus geführt, und diese Bekanntschaft war für Eugenie eine wahre Offenbarung gewesen. Durch diese tief gebildete, freie, edle Persönlichkeit war ihr zuerst klar geworden, daß die Entwicklung zu freiem, selbständigem Denken und die Verneinung starrer, alles Geistes beraubter Dogmen, die sie wie ein Verbrechen in sich verschließen mußte, frei am Licht des Tages ein anerkanntes Recht der Menschen geworden waren. Ihr Erstaunen darüber war ebenso groß wie ihre Freude, und als sie kam, mich zu besuchen, teilte sie mir ihr Glück mit, in mir einer zweiten Gesinnungsgenossin zu begegnen.

Sie kam nun, so oft sie konnte, und ihr feuriger Geist entwickelte sich rasch, als sie sich von der Furcht befreit fühlte, daß eigentlich ihr ganzes Denken und Empfinden etwas Abnormes sei, das in der übrigen Welt kein Echo habe. Neben der Freude aber, die es mir machte, ihr [40] die Pforten der Welt, zu der sie selbstschöpferisch sich durchgerungen hatte, aufzuschließen, fühlte ich es auch als eine Notwendigkeit, ihr beizeiten Freunde zu schaffen, die ihre Geschichte kennen sollten, um, im Fall einer Katastrophe, die ich unaufhaltsam kommen sah, Stützen und Helfer für sie bereit zu haben. Zunächst machte ich sie mit Herzen bekannt, als dem, der am besten imstande sein würde, Erkundigungen einzuziehen, ob ihre Mutter noch lebe, da sie wußte, daß sie sich in Rußland verheiratet hatte. Er brachte auch nach einiger Zeit die Nachricht, daß sie noch lebe, welchen Namen sie trage, wo sie sich aufhalte. Eugenie war tief ergriffen von dieser Nachricht, und lange kämpfte sie mit dem Wunsche, sich an das Mutterherz zu flüchten und dessen Schutz für sich und ihr Kind anzuflehn. Dann aber siegte die Rücksicht in ihr, daß es der Mutter, die jetzt in neuen Familienverhältnissen lebte, einen schweren Schlag versetzen könnte, plötzlich die vielleicht nie von ihr bekannte Tochter wiederzufinden. Warum sollte sie den Frieden derjenigen stören, die wahrscheinlich einst schwer unter der Notwendigkeit gelitten hatte, ihr zu entsagen, nun aber wohl längst, sie glücklich wähnend, die Vergangenheit zur Ruhe gebracht hatte! Ich fand diese Gründe so edel, daß ich ihnen nichts entgegensetzen wollte, obgleich ich Eugenie gern bei einer wahren Mutter geborgen gewußt hätte. Außerdem aber machte ich sie noch mit einem der bedeutendsten Advokaten Londons bekannt, den ich durch Herzen kannte. Wir verbrachten mehrere Stunden mit ihm, um ihm den ganzen Fall auseinander zu setzen und seinen Rat zu erbitten, inwiefern das möglich sei, was Eugenien als einziger Ausweg vorschwebte, nämlich: mit ihrem Kind zu entfliehen und sich, womöglich, in eine unbekannte Ferne der neuen Welt zu retten, wo sie von ihrer Arbeit leben und ihr Kind zu würdigeren Ansichten auferziehen wollte. Der Advokat, ein edler, gefühlvoller Mensch, war sehr gerührt von ihrer Lage und bereit, ihr in jeder Weise zu helfen, aber er verhehlte ihr nicht, daß eine solche Flucht die größten Schwierigkeiten hätte, daß das Gesetz den Vater ermächtige, [41] sein Kind wieder zu holen, wie fern man es auch führe, und daß es schwer sein würde, sich so zu verbergen, daß polizeiliche Nachforschungen, die jedenfalls eintreten würden, nicht auf die Spur kämen. Daß auch denen, die zu einer solchen Flucht helfen würden, die strengsten Strafen, selbst Deportation, bevorständen, erwähnte er nicht; ja er sagte in einer Aufwallung großmütigen Mitleids: »Ich würde bereit sein, Ihnen zu helfen!« welche Äußerung Eugenie bis zu Tränen rührte.

Durch den Umgang mit Emilien und Eugenien kam ich dem englischen Leben wieder viel näher, als es während der Zeit meines Aufenthalts im Herzenschen Haus der Fall gewesen war. Der sogenannten guten Gesellschaft freilich näherte ich mich nicht und suchte alle Verbindungen aus der ersten Zeit meines Londoner Aufenthalts nicht wieder anzuknüpfen, denn mir fehlte die Neigung dazu. Auch erlaubten meine Verhältnisse den Aufwand von Toilette, Wagen usw. nicht, den solche Beziehungen in London notwendig machen. Ich wandte mich aber der Kenntnis des Volkslebens, der sozialen Zustände, des sozialen Elends zu, teils weil da, wie immer, mich das Mitgefühl hinzog, teils weil ich für ein deutsches Journal schreiben wollte, und mir Gegenstände eines tieferen Interesses suchte, als die Gesellschaft mir bieten konnte. Ich wurde mit einer deutschen Dame bekannt, die zu einem von einem deutschen Prediger gestifteten Verein zur Unterstützung armer deutscher Familien gehörte. Sie bot mir an, sie zuweilen in ihren Wanderungen in jene Quartiere, wo die Armen wohnen zu begleiten. Ich nahm das gern an, und so fuhren wir eines Morgens im Omnibus dem Gebiet von White Chapel zu – eine unendlich lange Fahrt, denn White Chapel liegt noch hinter der City und repräsentiert den niedrigsten Grad des Geschäftslebens. Hier lebt die unterste arbeitende Klasse, das Proletariat und das offenkundige Laster.

Arme deutsche Familien gibt es da zu Hunderten; zum Teil sind es die deutschen Straßenmusikanten, die Orgeldreher [42] usw., zum Teil Handwerker aller Art, die ihren Lebensunterhalt hier zumeist durch das Reinigen von Häuten und das Verfertigen grober Pantoffeln verdienen; harte, mühselige und ungesunde Beschäftigungen, besonders die erste, da sie dabei im Wasser stehen müssen. In diesem Winter aber fehlte oft auch dieses karge Brot, denn es war sehr kalt. Hunderte von Arbeitern waren ohne Arbeit, und dies traf zunächst natürlich die Ausländer, deren Elend doppelt groß war, da sie, die Frauen wenigstens, nur notdürftig englisch sprachen und sich doch immer in der Fremde fühlten. Der deutsche Frauenverein, nebst dem Prediger und dem Lehrer an der deutschen Armenschule, in der die in England gebornen Kinder wenigstens die Muttersprache lernen, taten zwar ihr Möglichstes, aber was war das gegen die große Not! –

Wir besuchten zunächst eine Straße mit ärmlichen kleinen Häusern, die fast alle von Deutschen bewohnt sind. Da fanden wir eine Familie aus der Wetterau, Bauern, die eben gar nichts anderes verstanden als Feldarbeit. Natürlich waren sie im äußersten Elend, »aber,« sagte die Frau in ihrem Dialekt, »drübe ging's uns so schlecht, daß mer's nit mehr aushalte kunnt'; die viele Tax', die mer zu zahle hat, das ging net mehr; da hab i ketzt en' englisch Kammerjungfer g'sehn, die hat gefragt von wo mer sein, da hab' i g'sagt, aus der Wetterau, da bei Gieße' rum; ach, hätt' se g'sagt, so e' schön Land habe se verlasse? Ja wohl, e' schön Land, hab' i g'sagt, für d'Leut' die's Geld habn', aber für's arm' Volk das Hunger leid, da is' halt net schön, und so schlimm's hier is', so is' doch halt noch besser als daheim.«

Ähnliche schwere Urteile hörte ich von allen, und mein Herz sandte zornige, vorwurfsvolle Gedanken hinüber in die Heimat, die ihren Kindern das arme Leben so schwer macht, daß das Elend in der Fremde ihnen noch vorzuziehen scheint, ja daß sie sich nicht einmal mehr nach der Scholle sehnen, mit der doch das ganze bißchen Poesie verknüpft ist, das auch im ärmsten Menschenleben sich an Feld, Wald und Hütte [43] knüpft, wo zuerst die Sonne, nach dem Maße der Empfindung, auch für den Ärmsten, den Schleier der Maya aus goldnen Strahlen webte. Alle die Familien, die wir besuchten, waren gute, ehrliche, von den Damen des Frauenvereins längst gekannte Leute. Aber auch selbst in dieses tiefe Elend, in diese gänzliche Armut suchten der Betrug und die listige Schlechtigkeit sich noch einen Weg. So war eine dieser armen Familien grausam betrogen worden. Ein Mann kam mit einer Frau und mietete sich bei ihnen in einem Zimmer ein, während die Familie, aus den Eltern und vier Kindern bestehend, des kleinen Erwerbs froh, sich im anderen Stübchen der erbärmlichen Wohnung zusammendrängte. Der Mann hatte sich für einen Elsässer ausgegeben und erzählt, die Frau sei seine Magd gewesen, er habe sie geheiratet und sich darüber mit seiner Familie entzweit; dann sei er Soldat geworden, es habe ihm aber nicht gefallen und er sei desertiert, er könne daher nicht nach Frankreich zurück, wenn er aber Reisegeld hätte, so wolle er die Frau nach Frankreich schicken, um seine Mutter, die sich mit ihm versöhnt habe und sein großes Vermögen besitze, abzuholen; dann würde er ihnen gern eine Summe vorschießen, um ein kleines Bäckergeschäft einzurichten. Die gutmütigen und leichtgläubigen Leute, von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft verführt, trugen alles ins Pfandhaus, was sie nur irgend entbehren konnten, und brachten das Reisegeld zusammen. Die Frau ging; der Mann blieb, aß und trank noch mit ihnen das wenige, was sie hatten, sagte dann, er habe einen Brief bekommen, die Frauen seien in Dover gelandet und er wolle sie an der Eisenbahn abholen. Er nahm noch den Mantel des Wirts um und – »die Tage gingen wohl auf und nieder, den Mann aber brachte keiner wieder«.

Die armen Geprellten aber saßen da, die letzten Kohlen auf dem Kaminfeuer, die hungrigen Kinder am leeren Tisch, das eine krank im Bett, die Frau nur noch im Unterrock, da sie alle Kleider weggegeben hatte, Ströme von Tränen weinend, der Mann ohne Stiefel, mit tiefem, verbissenem Gram [44] im Gesicht; dazu keine Arbeit, keine Hilfe im fremden Land, und in drei Tagen mußte unabweisbar die Miete gezahlt werden!

»Viele haben uns geraten, aufzubrechen und in ein anderes Haus zu ziehen, ohne die Miete zu bezahlen,« sagte die Frau schluchzend, »das will ich aber nicht; eher sollen sie mir auch das Bett wegnehmen, ehe ich mir den Namen hier unter den Deutschen mache.«

So war das deutsche Ehrgefühl der letzte Funke von Patriotismus, der sie am Rande des Abgrundes zurückhielt. Und solches namenlose Elend und noch tieferes barg die große glänzende, goldgefüllte Weltstadt in ihrer Mitte! Aber sie dachte nimmer daran, es zu schauen und verhüllte es weitab von ihren Freuden in Nacht und Grauen. – Gladstone rief es ihr in einer Rede, die er damals beim Beginn der Saison hielt, warnend zu: »Ost und West laufen parallel und das Westend sollte sich in seinem Glanz, seiner geselligen Lust, seinem Luxus daran erinnern, daß es auch ein Ostend gibt, wo die Schale in eben dem Maße sinkt, als sie im Westend steigt.« Noch eine Szene komischen Tugendstolzes erlebten wir auf dieser sonst so traurigen Fahrt. Wir traten in einen Bäckerladen ein, um nach einer Straße zu fragen, in der wir auch noch eine Familie besuchen wollten. Die Bäckerin, eine kleine, ungewöhnlich dicke Frau, warf den Kopf zurück, maß uns von oben bis unten mit höhnischem Entsetzen und fragte: »Wie, in die Straße wollen Sie gehen? O Himmel, da wohnen ja nichts als schlechte Frauenspersonen! In die Straße würde ich keinen Fuß setzen, und wenn meine leibliche Mutter darin wohnte!«

In dem Augenblick trat ein Mann zum Laden herein, die tugendhafte Entrüstete wandte sich sogleich zu ihm und rief: »Denken Sie doch, die Damen wollen nach Brunswick-Place. Ist das nicht schrecklich?«

»Um da zu wohnen?« fragte der Mann mit zweideutigem Lächeln.

[45] »Um eine arme Familie zu besuchen,« erwiderte meine Gefährtin.

»Bei meiner Ehre, es ist unmöglich, in eine solche Straße zu gehen!« rief die Bäckerin abermals in immer steigendem Eifer und erzählte nun fortwährend allen Leuten, die in den Laden kamen, die schreckliche Mär. »Nein,« fuhr sie fort, »wir, die wir hier herum leben, wir wissen etwas davon zu sagen, was für ein Abscheu das ist; am Tag die zerlumpten, scheußlichen Gestalten, und am Abend kommen sie heraus, so aufgeputzt, daß man sie nicht wiedererkennt, und dann kommen die Matrosen – o – und pfui!« Die tugendhafte Bäckerin hielt sich die Hand vor das Gesicht, wie um die Bilder abzuwehren, die sie heraufbeschworen.

»Aber Sie sollten diese Unglücklichen lieber bemitleiden und sie zu bessern suchen, als Steine auf sie zu werfen,« sagte ich.

»Bessern? Good gracious me! bessern?« rief sie, indem sie den Kopf abermals stolz zurückwarf und mir einen zornigen Blick zuschleuderte. »Sind nicht hier in der Nähe mehr Kirchen als anderswo? Können sie nicht dahin gehen? Nein, sie wollen gar nicht gebessert sein; es ist ihnen bequemer, so Geld zu erhalten, als durch ehrliche Arbeit. Unsereins muß arbeiten von vier Uhr morgens bis abends spät, und am Sonnabend gar volle siebzehn Stunden; aber es ist ehrlich gewonnenes Brot; und dabei halten wir unsere Leute gut: ein Gesell bei uns bekommt seine sechzehn Schilling die Woche, jeden Tag ein Brot und Sonnabends Tee und Brot und Butter, so viel er will. Das heißt sich ehrlich ernähren! Aber die Kreaturen! – da verdirbt immer eine die andere, und dann kommen sie zu uns und nehmen Brot auf Kredit, und wenn sie nicht zahlen können, gehen sie zu einem andern Bäcker – ja so geht's, wenn man zu gut ist.« –

»Können Sie nicht einen deutschen Bäckergesellen brauchen?« unterbrach ich den Redestrom der Tugendhaften, [46] die immer röter wurde und förmlich aufschwoll vor Selbstgefühl.

»Nein, die Engländer sind bessere Bäcker als die Deutschen,« war die kurze positive Antwort.

Wir verließen diesen selbstzufriedenen Falstaff in Frauenkleidern und begaben uns dennoch in die gefürchtete Gasse, wo wohl das Laster in seiner rohesten Gestalt wohnen mochte, wo uns aber weiter nichts begegnete, als der herzzerreißende Anblick der armen Familie, die wir suchten. In einem finstern kleinen Raum ebener Erde saßen zusammengedrängt: der Vater, ein Deutscher, der Seitenkämme machte, mit seiner Arbeit, die Mutter, eine Engländerin, die älteste Tochter, mit Näharbeit beschäftigt, und drei schüchterne kleine Kinder auf einem Bänkchen. Der Vater war jahrelang krank gewesen, und als er wieder arbeiten konnte, war die Mode der Seitenkämme vorbei, und wurden diese zudem durch Maschinen schneller und billiger gemacht. Ein anderes Geschäft konnte er nicht anfangen, denn zu jeder ersten Einrichtung gehörte Geld, das er nicht hatte. Es blieb also nichts übrig, als im engen Stübchen zu sitzen und Kämme zu machen, die dann die Frau, so gut es ging, in den Straßen verkaufte. Von dem kargen Erlös lebten sie, und die Kinder hielten sie ängstlich im kleinen Stübchen fest, denn wenn auch der Körper in der furchtbaren Atmosphäre dieses dumpfen Lochs verkrüppelte, so war sie doch besser wie die draußen, denn da verdarb die Seele.

Draußen war aber diesmal ein herrlicher klarer Wintertag, sogar die City hatte blauen Himmel, und auf den Dächern der Häuser funkelten Sonnenstrahlen; es war spät geworden über all den Besuchen. Doch mein Herz war schwer und es brannten glühende Tropfen darauf, die Tränen, die ich in so vielen Augen an diesem Tag gesehen. Als wir dahin rasselten den endlosen Weg durch die City und ich an alle die Millionen dachte, die da aufgehäuft sind in den Gewölben der reichen Kaufherren, da überkam mich ein Grauen vor der Verantwortung, die die eine Hälfte der [47] Gesellschaft auf sich ladet. Es fiel mir eine Geschichte ein, die mir Domengé erzählt hatte, der jetzt Geschäfte besorgte für einen unermeßlich reichen jungen Mann der City, eines jener gedankenlosen Kinder des Glücks, die schon im Reichtum geboren, nicht wissen, wie sie das Leben am besten verschleudern sollen. Domengé mußte jeden Sonnabend in die City zu ihm ins Kontor, um Rechnung abzulegen. Er erzählte mir, wie ihm oft das Blut koche vor Zorn, wenn der junge Fant hereintrete und mit hochmütigem Behagen auf die seiner harrenden Geschäftsleute herabsehe, als wolle er sagen, »die alle hängen von mir ab,« und wenn er dann mit der Wollust eines Tyrannen seine Launen an ihnen auslasse. Domengés Geist imponierte ihm, und ihn behandelte er höflich, lud ihn auch zum Essen oder sonstigen Vergnügungen ein. Einmal hatte bei einer solchen Gelegenheit Domengé versucht, einen Proselyten an ihm zu machen, oder ihn wenigstens zu dem Geständnis zu bringen, daß der jetzige Zustand der Dinge ungerecht sei. Er hatte ihm mit dem größten Eifer vorgeredet und alle Einwände des andern mit der edelsten Beweisführung totgeschlagen, bis der junge Mann endlich sagte:

»Mein Gott, das ist alles recht schön und gut, aber was geht es mich an? Ich bin im Besitz geboren, ich habe ein Recht zu genießen und ich gebrauche meinRecht

»Nun gut,« erwiderte Domengé, indem er aufstand, um sich zu empfehlen, »gebrauchen Sie Ihr Recht, nur wundern Sie sich nicht, wenn dann eines Tages auch die andern ihr Recht gebrauchen.« –

Es war ein furchtbar kalter Winter, und die Erscheinungen des Elends mehrten sich infolgedessen so, daß man nicht einmal im eigenen kleinen Stübchen Ruhe davor hatte. Oft wurde ich plötzlich von der Arbeit aufgescheucht durch einen düsteren Gesang, der mein Herz erbeben machte und wie ein Chor der Erinnyen klang, die kommen, eine furchtbare Tat an den Sterblichen zu rächen. Ich trat dann, vor Erregung zitternd, an das Fenster und sah, »in langsam abgemessenem [48] Schritte« einen Zug nahen. Nicht etwa Greise und gebrechliche Menschen, sondern kräftige, stark gebaute Männer, die ein Lied sangen mit einer schaurigen Grabesmelodie, dessen Refrain war: no work! (keine Arbeit). Sie gingen einer hinter dem andern her, und der Vorderste trug einen grünen Zweig an einen Stock gebunden. Traurige Ironie! das Grün der Hoffnung für die Hoffnungslosen! – Sie hielten vor jedem Hause an und schauten sehnend zu den Fenstern hinauf. Öffnete sich keines, warf keine mildtätige Hand Hilfe herunter, so zogen sie langsam weiter. So sehr war dieses sonderbare Volk vom Geiste der Legalität durchdrungen, daß diese hungernden Zyklopen nicht einmal die Faust ballten gegen die verschlossenen Fenster und, ihr Grablied singend, weiter zogen. Diese Züge waren nicht etwa vereinzelt, sondern sie folgten sich ununterbrochen, und zwar wiederholte sich das schon seit einer Reihe von Jahren nur in immer steigendem Maße, je mehr die Preise der Lebensmittel stiegen und je weniger der Arbeit wurde. Die einzigen legalen Mittel, die sie anwendeten, waren: 1. Meetings, in denen ihre damals beliebtesten Volksredner, zu denen Ernest Jones, der Chartistenführer, gehörte, sprachen, um die Ursachen der Not und die Mittel zur Abhilfe klar zu machen; 2. das Appellieren in Masse an die Arbeitshäuser und, wenn das nichts half, an den Magistrat des Bezirks. Ich ging hin, einem solchen Meeting beizuwohnen, die gewöhnlich auf freien Plätzen in den verschiedenen Stadtbezirken gehalten wurden. Dieses fand auf einer Wiese in der Gemeinde von St. Pancraz statt, wo die Bevölkerung meist aus außerordentlich armen Arbeitern besteht. Der Redner, auch ein Arbeiter, stand auf einem kleinen Hügel; ringsum drängten sich Hunderte von Menschen beiderlei Geschlechts. Er entwarf klar und scharf mit der praktischen Kürze des Engländers ein Bild des Arbeiterlebens und des unnatürlichen Verhältnisses zwischen Arbeit und Lohn. Man fühlte an jedem Wort, daß es aus seinem eigenen Erleben kam, daß er wußte, um was es sich handle. »Ich erröte,« [49] sagte er unter anderem, »und bin seit mehr als acht Jahren, wo ich in London bin, errötet, daß ich arbeite, arbeite, und niemals mehr erarbeiten kann, als um gerade notdürftig zu leben. Dennoch fühle ich Fähigkeiten in mir, die gerade so gut sind, wie die jener, die im Überflusse leben.« – Dann entwickelte er treffend die notwendigen Resultate des jetzigen Zustandes der Gesellschaft, wie der ungeheure Reichtum auf der einen Seite notwendig die Armut auf der andern nach sich ziehe. Er wies darauf hin, wie wenig die Reichen an eine solche Konsequenz dächten. Wenn sie z.B. ausfahren wollten und hätten dazu zwanzig Personen in Bewegung gesetzt, vom Kammerdiener und der Kammerjungfer an bis zum Stallknecht herab, und beim Einsteigen nahe sich ihnen bittend ein Kind des Elends, so sagten sie ungeduldig: »Gott! kann man denn die Bettler gar nicht los werden?« Die natürliche Folge dieser Zustände sei denn auch, daß Räuber und Diebe in England überhandnähmen und daß die Straßen von London so unsicher seien wie eine öde Gebirgsgegend.

Seine Vorschläge zur Abhilfe waren hauptsächlich: freie, vom Gouvernement garantierte Emigration und Verkürzung der Arbeitszeit. Es waren dies die Vorschläge der Arbeiterpartei, die unter dem Einfluß der Geistlichkeit stand, während die Chartisten die Idee der Auswanderung total bekämpften und behaupteten, daß die Bebauung des vielen brachliegenden Landes in der Heimat hinreichen würde, der Armut abzuhelfen. Sie hatten dabei den ungeheuren Grundbesitz des englischen Adels und die meilenweit sich erstreckenden Parks, die nur zum Genuß einzelner da sind, im Auge. Sie fürchteten, daß mit der Auswanderung der Gärungsstoff aus der Heimat entführt würde, sowie ein Teil der starken rüstigen Arbeiterbevölkerung, auf der die Wohlfahrt eines jeden Landes beruht.

Die Chartisten suchten überhaupt der Bewegung einen politischen Charakter zu geben, und dies wußte man sehr wohl und fürchtete es. Auch war die Sache ernst genug, [50] und die Times beschäftigte sich eingehend mit der Frage und ermahnte zur Abhilfe, besonders durch gründliche Reform der Arbeitshäuser. Wie wenig diese letzteren zur Abhilfe der Not ausreichten, davon erzählten mir die Umstehenden eben bei jenem Meeting eine Menge Beispiele. So berichtete unter anderem eine Frau, daß ihr Mann seit Wochen ohne Arbeit gewesen sei und sich daher genötigt gesehen habe, sich im Arbeitshaus zu melden. Er war Zimmermaler von Profession, dort aber hatte man ihm Steine zu brechen gegeben. Dafür bekam er am Abend ein Brot und drei englische Pfennige. Seine Hände waren aber von der harten Arbeit so verdorben worden, daß sie für lange zu seinem eigentlichen Handwerk untauglich waren. Nun mußte er in das Land hinein gehen, um andere Arbeit zu suchen, und Frau und Kinder saßen inzwischen harrend und hungernd daheim. Ähnlicher Fälle waren es unzählige.

Nach beendigter Rede zog die ganze Masse in geordnetem Zuge, der Redner voran nach dem St. Pancraz-Arbeitshaus und stellte sich dort ordentlich und still auf. Einige der Führer mit dem Redner stiegen die hohe Treppe hinauf, auf deren oberem Absatz mehrere Beamte des Arbeitshauses standen und mit finsterem trotzigen Gesicht auf die Menge herab schauten. Da gab es nun ein langes Hin- und Herreden, während dessen ich mich wieder mit den mir zunächst Stehenden unterhielt.

»Ach,« sagte mir eine Frau, »da drinnen ist alles gespickt voll von Polizeidienern, und machten wir nur den geringsten Versuch der Gewalt, so würden sie augenblicklich erscheinen und die Männer in Gewahrsam bringen. Die Herren vom Arbeitshaus wissen wohl, warum sie uns nicht gern vor den Magistrat lassen: dann würden die Sachen genauer untersucht werden; sie haben aber ihren Vorteil dabei, wenn sie uns Arme schlecht behandeln.« –

»Aber wenn ihr es doch wißt, daß euch dies Appellieren an die Arbeitshäuser nichts hilft,« sagte ich, »warum geht ihr denn nicht alle zusammen, fünfzig oder sechzig Tausend [51] an der Zahl, und stellt euch um das Parlamentshaus herum auf und fordert ruhig, daß sie euch hören? Sagt, ihr wollt keine Gewalt brauchen, aber ihr wollt nicht eher weggehen, bis sie euch Hilfe geschafft haben. Ihr seid ja ein freies Volk, warum gebraucht ihr eure Freiheit nicht?«

»Ach,« erwiderte die Frau, »wir armen Leute sind immer so furchtsam, ehe wir so etwas tun.«

Inzwischen war die Unterredung oben beendet. Einer der Beamten trat vor und rief mit strenger Stimme der Menge eine Warnung zu, auch nicht das leiseste Zeichen von Widersetzlichkeit zu geben, weil sie sonst nichts erreichen würden. Er wiederholte mehreremal fast drohend: »Nehmt euch in acht, nehmt euch in acht; es sind Spione unter euch, denen traut nicht.« Wahrscheinlich meinte er damit die Chartistenführer.

Das Volk versprach, sich ruhig zu verhalten, und die Beamten verschwanden im Haus zur Beratung. Natürlich kam dabei weiter nichts heraus als leere Versprechungen, mit denen die hungernde Menge nach Hause ging.

Infolge aller dieser Vorfälle machte der Lord-Mayor mit einigen Magistratspersonen eine nächtliche Expedition à la Harun-Al-Raschid und überraschte mehrere der Armenhäuser mit seinem unerwarteten Besuch. Da fanden sich denn allerdings unerhört schreckliche Dinge; so unter anderem, daß die Häuser, in denen die obdach- und arbeitslosen Armen für die Nacht ein Unterkommen finden sollten, weiter nichts waren als Ställe, wo Männer und Frauen auf Lumpen in schaudererregendem Elend zusammen lagen. Dazu waren diese elenden Schutzstätten oft noch meilenweit entfernt, so daß die Armen, die sich abends müde und matt bis zum Armenhaus geschleppt hatten, wenn sie auch noch eine Aufnahmekarte bekamen, nun noch weit gehen mußten, um das trostlose Nachtquartier zu erreichen.

Die eingehende Beschäftigung mit diesen Dingen trug natürlich nicht dazu bei, meinen Sinn aufzurichten und einen versöhnenden Schimmer über mein Leben zu werfen. Nur [52] daß ich, in der großen Kette der Leidenden und Elenden, mir das Recht absprach, mich zu beklagen oder mein Leid höher anzuschlagen als das der Tausende, die in der Qual des Daseins seufzten. Mir stieg zum erstenmal der ernste Zweifel an der Möglichkeit der Perfektibilität der Welt auf, und es fing an mir klar zu werden, daß das Dasein selbst das Übel sei, von dem wir uns zu erlösen suchen müßten. Wenn ich diese Tausende ansah, die allein in der großen Weltstadt, in einem mehr tier- als menschenähnlichen Zustand dahinlebten, dann überfiel mich ein Grauen; wie war hier zu helfen? Daß die politische Revolution allein nicht helfen könne, war mir längst klar geworden. Daß die soziale Revolution, wenn sie im Zorn kommen und sich wie ein verheerender Bergstrom über die zivilisierte Welt stürzen sollte, auch nicht helfen würde, das war ebenso klar. Hatte doch die große, französische Revolution sattsam gezeigt, welche Früchte die entfesselte Roheit und die blinde Leidenschaft des Nivellierens bringt. Wie sollte daraus Gutes keimen, wenn im Sturm der Vernichtung alle die teuersten Güter der Menschheit, die Summe ihrer idealen Existenz, mit fortgefegt würden? Wenn der Spiegel des historisch Gewordenen, in dem die Menschheit ernst und sinnend ihr Bild anschauen sollte, um daran zu lernen, zertrümmert würde, würden nicht die rohen Elemente, die von vorne anzufangen hätten, so ziemlich denselben Weg gehen, den die vorigen Jahrtausende gingen, nur mit dem Nachteil, des warnenden oder erhebenden Rückblicks auf das Gewesene zu entbehren? Würden nicht Kraft, Klugheit und Geist immer wieder aus der Masse einzelne Individuen hervorheben und die moralische Ungleichheit wieder herstellen, selbst wenn es gelänge, eine Formel zu finden, unter der die materielle Gleichheit möglich wäre?

Schwer lasteten diese Bedenken und Zweifel auf mir. Oft fragte ich mich voll Schrecken: Hat Malthus recht, ist wirklich nicht für alle Raum am Bankett des Lebens? Bringt die verschwenderische Natur, wie sie im Frühling tausend [53] Blüten vom Baume weht, die keine Frucht tragen, so auch die Masse nur hervor, um die Gattung zu bilden, unbekümmert darum, ob unzählige Individuen zu Grunde gehen oder nicht? Kommt es nur darauf an, daß der Genius lebe und wie ein einsames Meteor durch die Nacht der Allgemeinheit strahle? Die Natur selbst ist aristokratisch; ihre vorzüglichsten Organismen, ihre großen Geisteshelden, bringt sie nur sparsam hervor, während sie verschwenderisch ist mit der Masse, gleichsam als ob ihr nichts daran läge, daß davon Tausende untergehn, ohne nur einmal einen Moment der Gottähnlichkeit gefühlt zu haben.

Mein Herz protestierte gegen diese Gedanken; wie viele, wie Unzählige, die zur herrlichsten Entwicklung berufen gewesen wären, gehn auch verloren in der Masse, durch Mangel an Mitteln, und in jedem Falle: war nicht das Leiden da, das tiefe Elend, und fühltendas nicht alle? Mußte da nicht geholfen werden? –

Zu einem Schluß führten mich jedoch diese Gedanken, nämlich daß wir, die wir alle Idole und falschen Götter zertrümmert zu haben meinten, uns freiwillig einen neuen Götzen geschaffen hatten: das Volk nämlich. »Das Volk« war der Refrain der demokratischen Phrase geworden, als wenn es ein Wesen höherer Art, eine bisher verkannte Gottheit sei, als wenn von ihm der Inhalt der neuen Weltlehre ausgehn und eine verklärtere Moral an die Stelle der alten gesetzt werden würde. Was die Massen, das sogenannte Volk, in ihrem bisherigen Zustand waren, das hatten wir in den Jahren Achtundvierzig und Neunundvierzig gesehen: ein Werkzeug in den Händen geschickter Führer. Was sie mit der Freiheit anzufangen wußten, ohne dafür erzogen zu sein, das bewiesen die Plebiszite in Frankreich. Daß in diesen unwissenden brutalen Massen auch schöne menschliche Empfindungen, erhabne Tugenden, rührende Entsagung und Selbstverleugnung vorkommen, daß Talente aller Art dort im Keime vorhanden sein könnten, wer hätte es leugnen wollen? Worauf kam es also an? Nicht darauf, die rohe [54] Masse, als solche, zur Herrschaft zu erheben, wie die Demokratie es ihr schmeichelnd versprach, sondern die Wege zu öffnen, die Rechte festzustellen, die Institutionen zu gestalten, damit Arbeit und Verdienst für alle da sein und in die dumpfe Öde der Lasttierexistenz der beglückende Strahl wahrer Bildung dringen könne. Dieses tat und tut, aber nicht nur nach unten, sondern auch nach oben hin, not, um alle Stände zu vereinen zu einem Volk, das sich in freudiger Anerkennung um seine Genien und Heroen schare und in ihrem segenspendenden Lichte beglückt lebe; wie es denn ja, nach dem Genius selbst, das größte ist, den Genius zu erkennen und zu lieben.

Wenn ich aber an die Größe dieser Aufgabe dachte, schwindelte mir. Konnten Jahrhunderte dazu genügen? Und wenn die nackte Wirklichkeit in ihrer grauenerregenden Gestalt vor mich hintrat, dann ergriff mich Verzweiflung. Eines Abends, wo ich zum erstenmal nach meiner Rückkehr aus Hastings bei Friedrich und Charlotte gewesen war, ging ich nach zehn Uhr nach Hause. Ich ging allein, obgleich es eine wahre Reise bis heim zu mir war, aber ich hatte niemand, mich zu begleiten, und einen Wagen zu nehmen, war mir zu teuer. So hatte die Not mich gelehrt, furchtlos zu sein. Es war ein häßlicher, feuchter Winterabend. Mein Herz war schwer, denn das Vergangene war mir dort im Hause wieder lebhafter wie je vor die Seele getreten, und ich empfand es bitter, was jene bleichen, unseligen Schatten sagen: »Nessun maggior dolore che ricordarsi del tempo felice nella miseria.« Ein feiner Regen näßte meine Kleider und machte die Straße schlüpfrig; ehe ich an die große Fahrstraße der Omnibusse kam, glitt mein Fuß aus, ich fiel auf die feuchte Erde, mein Kopf dicht an einen großen Stein. Zum Glück war der Omnibus nahe, und ich konnte wenigstens einen Teil des Weges fahren. Dann aber mußte ich wieder zu Fuß eine der langen, volkreichen gewerbetätigen Straßen durchmessen, bis ich zu der stilleren Seitenstraße kam, in der meine Wohnung lag. Während dieses Weges [55] starrten mir nun alle die grausigen Nachtbilder entgegen, an denen das ungeheure London so reich ist. Da stand, unbeweglich wie eine Bildsäule, am Weg eine skelettartige Frau in Lumpen, an der von Kälte starren Brust einen totenbleichen Säugling, neben sich zwei andere, halb nackte, frierende Kinder, die sich ängstlich an den zerfetzten Rock der Mutter schmiegten, um sich zu wärmen. Die Frau sagte nichts, sondern blickte nur mit gläsernen Augen die Vorübergehenden an, aber um den Hals hing ihr ein pappenes Schild, auf dem in großen Buchstaben stand, daß der Mann krank darniederliege, daß sie »out of work« (der furchtbare Refrain des Arbeitsliedes) seien und das Mitleid der Vorübergehenden ansprächen. Schaudernd legte ich meine kleine Gabe in die dürre Hand, die sich maschinenmäßig öffnete und schloß, ohne daß die Lippen weder Bitte noch Dank aussprachen. Ein paar Schritte weiter standen andere Frauengestalten, auch die Armut, aber die entehrte, mit frechen Blicken und frechem Lachen, in widerlichen Flitter gehüllt; dann wieder Männer, so tierisch, brutal und scheußlich, daß man den Blick abwandte. Dann keuchende Greise, von denen man kaum begriff, wie ihnen das elende Leben nicht schon so zur Last sein mußte, daß sie es lieber freiwillig beendeten, und die doch noch mit lüsternem Blick nach den erleuchteten Schaufenstern der Bäcker- und Konditorladen schauten. Dann endlich – halbnackte Knaben und Mädchen, die das Laster schon mit seinem scheußlichen Stempel gezeichnet hatte. Außer mir, das Herz zerrissen von unsäglichen Qualen, erreichte ich endlich meine Wohnung. »Das ist die Menschheit, von deren Erlösung auch du den begeisterten Traum geträumt hast?« rief ich händeringend, »für die du alles hinwarfst, was das Leben schön und lieblich macht, für die so viele Heroen den Marter- und Kreuzestod erlitten? Das ist die Welt, in der der Egoist behaglich sein beglücktes Leben lebt und die der Welten beste sein soll? Das ist das Ebenbild des Gottes, von dem blödsinnige Priester sagen, daß er der Allgütige, Gerechte, Allliebende [56] sei?« In fieberhafter Aufregung durchschritt ich noch lange mein kleines Zimmer, und als ich spät mein Lager suchte, verfolgten mich wilde Träume. Die Welt war nur mit Tigern und Panthern bevölkert, die sich untereinander zerfleischten, während furchtbare Schlangen sich zischend um die Sterbenden ringelten.


* * *


Im Februar ereignete sich ein Todesfall in der Emigration, der mich sehr ergriff. Der edle Pole Stanislaus Worcell erlag endlich dem schon lange ihn verzehrenden Übel. Ich hatte ihn seit meinem Scheiden aus dem Herzenschen Hause nicht wiedergesehen. Aber die Ehrfurcht vor seiner hohen Tugend war mir geblieben und machte es mir zu einer Pflicht, bei seinem Begräbnis mitzugehen, und ihm die letzte Ehre zu erweisen. In England sind die Frauen nicht ausgeschlossen von den Begräbnissen. Es steht ihnen frei, dem Bedürfnis des Herzens zu folgen und ihre Geliebten auf dem letzten Wege zu begleiten – ein Bedürfnis, das auf die ewige Sehnsucht der Liebe gebaut ist, bis zum letzten Augenblick alles tun zu können für die Geliebten und ihnen nahe zu bleiben, bis sich die Erde über ihnen geschlossen hat. Es war ein schöner, klarer Wintermorgen, als ich zu dem Trauerhause ging, ein einfaches, bürgerliches Haus, in einer der stillen, nicht von der Aristokratie bewohnten Straßen. Hier hatte Worcell, in einer trefflichen englischen Bürgerfamilie, die letzte Zeit seines Lebens zugebracht. Großherzige englische Freunde hatten ihn unterstützt, als die schwere Krankheit den von geistigen und körperlichen Leiden früh Gealterten hinderte, seine vielfachen Kenntnisse durch Stundengeben länger für seinen Lebensunterhalt zu verwerten. Ich habe schon früher erzählt, welch bitteres Leid Worcell widerfahren war und mit welcher Seelengröße er es trug. Seine edle, über jeden Tadel erhabene Persönlichkeit hatte ihn zu einem Gegenstand tiefster Verehrung für [57] alle, die ihn näher kannten, gemacht. Er war unausgesetzt einer der Chefs der demokratischen polnischen Partei gewesen und hatte nie den Glauben an die Zukunft Polens verloren. Noch beim Anfang des Krimkrieges hatte er bestimmt auf eine polnische Erhebung und ihre Unterstützung von seiten der Alliierten gehofft. Damals wurden in ganz England große Meetings in diesem Sinne gehalten, bei denen Kossuth das Wort führte, da die Polen keinen Redner hatten, denn Worcell, der es der Fähigkeit nach gewesen wäre, konnte seines Asthmas wegen nicht öffentlich sprechen. Aber er begleitete Kossuth überall hin und sprach durch seine Erscheinung für die Sache. Auch fanden die Meetings enthusiastische Teilnahme im englischen Volk, aber dabei blieb es. Die alliierten Mächte hatten weder die Kühnheit noch den Willen, sich der Revolution als Mittel gegen den Feind zu bedienen, und die Völker nahmen weiter keinen Anteil an diesem Krieg, als daß sie bluteten und Geld zahlten. Worcell jedoch hoffte und hoffte bis zum letzten Augenblick, und als sein Freund Joseph Mazzini (von dem Worcell einmal in meiner Gegenwart sagte, er sei der reinste Charakter, den er je im Leben gekannt) an seinem Sterbelager stand, um Abschied von ihm zu nehmen, da flüsterte Worcell mit der kaum noch vernehmbar schwachen Stimme: »Wenn sich die Völker einst wieder erheben, dann vergeßt auch Polen nicht.« – Ja, und wenn Polen einst seinen Märtyrern im Glanz der mit ihrem Blut erkauften Freiheit ein Denkmal setzen sollte, so muß es den Namen von Stanislaus Worcell in die ersten Reihen schreiben, denn er hat den Tod, der bitterer ist als der auf dem Schlachtfelde, für sein Vaterland gelitten. Als ich am Trauerhause anlangte, fand ich bereits zahlreiche Gruppen der Verbannten aller Länder davor versammelt, von Scharen neugieriger Engländer jeden Alters und Geschlechts umgeben, die mit Staunen auf die vielen ihrem Inselland Fremden hinsahen und auf das Ungewöhnliche, aller englischen Sitte Widersprechende, warteten. Ich trat in das Haus und in das offene Zimmer des [58] Erdgeschosses, wo der Sarg stand. Er war noch offen, damit alle noch einen Blick auf das edle Antlitz werfen könnten. Die Züge hatten eine plastische Schönheit; auf der reinen, faltenlosen Stirn, von grauem Haar umgeben, lag die Verklärung der Überwinder. Ein englischer Künstler, ein poetischer Mensch, naher Freund des Verstorbenen und auch mir bekannt, trat mit mir zum Sarg. Wir sprachen leise zusammen von dem wunderbaren Geheimnis des Todes, der die Züge edler, großer Menschen fast immer verklärt und ihnen den Stempel dessen aufdrückt, was die Grundessenz ihres Daseins gewesen ist und was im bewegten Leben so oft durch Wolken der Seele und durch physische Einflüsse verdüstert wird. Das anstoßende Zimmer war gedrängt voll Menschen; alle nationalen Typen waren hier zu finden: Polen, Russen, Italiener, Franzosen, Deutsche; auch Engländer fehlten nicht, und ein Maler hätte eine prächtige Auswahl schöner Studienköpfe gefunden. Die Dame des Hauses mit ihren Töchtern folgten dem Sarge des verehrten Mietsmannes in einem Wagen, und sie bat mich so dringend, für den weiten Weg mit ihnen darin Platz zu nehmen, daß ich es annahm, obwohl ich lieber zu Fuß gefolgt wäre. Wir fuhren hinter dem Leichenwagen, dann kamen die Polen paarweise zu Fuß, dann die Fahnenträger mit den Fahnen der verschiedenen Nationalitäten, in der Mitte die große rote Fahne der allgemeinen Republik; hinter den Fahnenträgern kam ein Musikchor, den Beethovenschen Trauermarsch spielend, dann schloß sich der lange Zug der Emigrierten anderer Nationen an. Das schöne Wetter begünstigte das Schauspiel für die Scharen der Neugierigen, die folgten.

Meine Gefährtinnen hörten nicht auf, mit Tränen der Liebe und Verehrung von dem Toten zu erzählen. Es waren gute, liebevolle Wesen aus dem kleinen Bürgerstand, bei denen die Güte des Herzens den Mangel höherer Bildung ersetzte. Sie hatten den Toten gepflegt, geliebt, geehrt, und betrauerten ihn jetzt wie einen teuren Verwandten. Unerschöpflich[59] waren sie im Lobe seiner Güte, Freundlichkeit und Teilnahme.

»Ach,« sagte die Mutter, »wenn wir in irgendeiner häuslichen Verlegenheit waren, wie sie bei Leuten unseres Standes öfter vorkommen, so ging ich zu ihm und sagte: »Lieber Herr Worcell, was soll ich tun? Dann hörte er mich an, beriet und überlegte, als wäre es seine eigene Sache.«

»Und er hatte auch so viel Geschmack,« versetzte die Tochter, »wir kauften kein Kleid, keinen Hut, ohne seinen Rat, und er riet immer das Schönste.«

»Ja, und oft, wenn er traurig war,« begann die Mutter wieder, »und ich neben ihm saß und nichts zu sagen wußte, was ihn hätte trösten können, dann nahm er plötzlich meine Hand und sagte mit seiner leisen Stimme: Ich weiß, Sie sind meine Freundin.«

Diese rührenden Züge von einem, der einst so hoch gestanden hatte auf der Leiter irdischer Ehren und durch Geist und Bildung diesen armen Frauen so sehr überlegen gewesen war, bewegten mich tief und erinnerten mich an ein reizendes kleines Erlebnis, das ich selbst mit Worcell gehabt hatte und das mir damals schon die ganze Tiefe seines Gemüts erschloß. Am ersten Weihnachtsfest, das ich im Herzenschen Hause erlebte, hatte ich mir ausgedacht, anonym eine kleine Überraschung für Worcell zu bereiten, der damals, sehr leidend, außerstande war, viel Stunden zu geben, und sich in den dürftigsten Umständen befand. Ich wählte dazu einige Foulard-Taschentücher, die ich selbst säumte, und verschiedene andere Kleinigkeiten, die ihm nützlich sein konnten. Die Herzenschen Kinder, denen ich meinen Plan mitteilte, waren entzückt davon, da sie den ehrwürdigen Mann auch kindlich verehrten, und beschlossen gleich, dazu beizutragen und einen Teil ihres Taschengeldes dazu zu verwenden. Nichts begünstigte ich lieber in den Kindern als solche Regungen, das Gute und Freundliche im geheimen zu tun, ohne Anspruch auf Dank und Anerkennung. So wurde denn am Weihnachtsabend, ohne daß selbst Herzen etwas davon wußte, ein [60] schön gefülltes Körbchen zu Worcell hingeschickt in solcher Weise, daß er nicht ahnen konnte, von wo es komme. Wie es aber zu gehen pflegt, daß Mißgunst und kleinlicher Neid den Weg in die zarten Geheimnisse freundlicher Seelen zu finden wissen, um hämisch die unschuldige Freude zu stören, so hatten dennoch, ich weiß nicht wie, jene früher erwähnten mißgünstigen Polen ausfindig zu machen gewußt, wer die Gabe gesandt. Sie hatten es Worcell so darzustellen gewußt, als ob es eine Art Almosen sei, so daß dieser, wie ich erfuhr, tief verletzt war. Entrüstet über solch ein abscheuliches Verfahren schrieb ich an Worcell, erzählte ihm einfach, wie ich ihm eine Freude habe machen wollen, wie die Kinder in herzlicher Liebe sich mir darin angeschlossen, und bat ihn, von der Unmöglichkeit einer andern Auffassung der Sache überzeugt zu sein. Am Nachmittag, als wir nach dem Essen noch alle im Eßzimmer versammelt waren, trat Worcell ein. Herzen, der nun auch von der Sache unterrichtet war, ging ihm etwas befangen entgegen, aber Worcell sagte: »Heute komme ich nicht, um Sie zu sehen.« Er kam auf mich zu, und fuhr fort: »Heute komme ich zu Ihnen,« drückte mir warm die Hand, setzte sich zu mir und blieb ein paar Stunden in angeregter, geistvoller Unterhaltung bei mir sitzen. Jenes Vorfalls erwähnte er mit keinem Wort; aber es war auch nicht nötig; wir hatten uns verstanden, und mit einem freundlichen Blick zog er eines jener Taschentücher hervor, die im Korb gewesen waren.

Wir waren endlich alle in Schweigen und Erinnerungen versunken auf dem stundenlangen Wege. Ich dachte daran, wie ich nun schon zum dritten Male diesen Weg zum schönen Kirchhof von Highgate fahre, der auf einem Hügel liegt, von wo der Blick fernhin über das endlose Häusermeer von London hinschweift, das sich am Horizont im Duft verliert. Das erste Mal hatte ich auch ein Mitglied der Flüchtlingsschaft hinausbegleitet, jene Frau von Brüning, deren Haus eine Heimat für die Exilierten geworden war, mit deren Tod [61] ein ganzer Lebenskreis zerfiel, und um deren Grab ein großer Kreis von Trauernden stand. – Das zweite Mal war mein Herz tiefer leidtragend dabei gewesen; da führten wir im engen Freundeskreise die holde Freundin hinaus, die auf dem Gipfel der schönsten Hoffnung, die des Weibes Leben krönt, plötzlich starb. Ihr Begräbnis war eine wehmutsvolle, poesieerfüllte Feier der Liebe. – Dies dritte Mal war es die Teilnahme an einer erhabenen Trauer, wie um den Tod eines Helden, die mich hinführte. – Auch in meinem persönlichen Leben bezeichneten diese drei Fahrten drei Abschnitte. Das erste Mal war ich noch im Anfang des harten Flüchtlingslebens gewesen, resigniert, stark, fest, auf die Arbeit angewiesen, ohne Glückempfindung, aber über den herbsten Schmerz der Vergangenheit gefaßt. – Beim zweitenmal stand ich auf einer reinen Höhe meines Daseins; ich hatte die ideale Vollendung jedes Lebens gefunden: die segenerfüllte Heimat der freien Wahl, der schönsten menschlichen Sympathie. Die Verstorbene hatte mich in dieser Heimat gekannt und sich meines Glücks gefreut. – Nun kam ich wieder allein, ein einsamer, heimatloser Wanderer; nicht fest und freudlos unerschrocken wie das erste Mal, sondern mit der ungeheilten Wunde der zerrissenen letzten Poesie des Lebens im Herzen!

Wir waren endlich in Highgate angelangt. Leider trug man, dem englischen Vorurteil zuliebe, den Sarg dort erst in die Kapelle. Hätte man überhaupt von Religion sprechen wollen, so hätte der Sarg in eine katholische Kapelle gehört, da Worcell als Katholik getauft worden war. Er hatte aber schon lange nicht mehr in jene engen Formen gehört, sondern sich zu der Religion der Menschlichkeit und Freiheit bekannt, in der das unverständliche Murmeln eines geistlosen Priesters keine Bedeutung mehr hat, sondern wo jeder Mensch, dessen Herz für Wahrheit und Güte schlägt, ein Priester ist. Als man aus der Kapelle trat, nahten die ersten Vertreter der Emigration, um den Sarg auf ihren Schultern den Hügel hinauf zu tragen: Mazzini, Herzen, Ledru-Rollin [62] und andere. – Alle drängten sich zu dieser letzten Ehrenbezeugung. Am Grabe wurden ringsum die Fahnen aufgepflanzt. Zuerst sprach ein Pole in seiner Muttersprache, dann trat Ledru-Rollin hervor (den ich hier zum ersten Male sah und zum einzigen Mal sprechen hörte) und sagte:

»Mitbürger! Noch einer der unsern, der weder das Signal des Erwachens noch den Siegesjubel hören wird! Immerfort düstere Erlebnisse, immerfort Trauer, immerfort Tod! Nichts unterbricht die Stille des Exils, als nur der Klageton des Schmerzes. Schon ruht in allen Teilen der Erde von unserem Staub, und auch wir, die wir hier versammelt sind ohne Vaterland, ohne Herd, ohne Familie – haben wir eine andere Gemeinschaft mit dem Boden, auf dem wir stehen, als die des Grabes?

Und im Angesicht dieses düstern Bildes triumphiert das Laster, von Weihrauch umgeben, toll vom Rausch des Stolzes. Betrachtet man diesen ungeheuren, unerklärlichen Kontrast, so könnte man zweifeln, ob es ein Gesetz des Fortschritts, ein ewiges Gesetz der Wahrheit und Gerechtigkeit gäbe, wenn unsere Toten nicht wären, die den Stempel unveränderlicher Heiterkeit, unüberwindlicher Hoffnung tragen und uns zu Propheten werden, an denen sich unsere Seelen stärken und aufrichten.

Inmitten unseres Schmerzes laßt uns also dem Tod einen Trost entnehmen, da er zur Kraft für uns geworden ist! Zürnen wir ihm nicht, da er für uns streitet und unsere Zahl unter seinen Schlägen vermehrt! Verstehen wir es, daß, wenn sich unsere Reihen im Exil lichten, sie sich in der Heimat verstärken durch die Kraft der Belehrung und die befruchtende Größe des Beispiels!

In der Tat, wie er auch kommen möge, dieser Tod – langsam, Tropfen um Tropfen, auf dem Bett des Elends, in den Kerkern, unter dem ungastlichen Himmel von Afrika und Cayenne, oder rasch und gewaltsam von Henkershand, überall und in welcher Form es sei, trifft er den gleichen Empfang: Stärke und Unerschrockenheit, kein Murren, kein [63] Bedauern außer dem einen: nicht mehr kämpfen zu können, und immer den begeisterten Blick des Kriegers, der im Fallen noch in die Fernen der Zukunft taucht und den naheliegenden Sieg verkündet.

Ach, es ist kein Zweifel: unsere Prüfungen sind lang und grausam, aber unsere Aufgabe ist auch groß, und wir mußten erst alle Wunden und alle Quellen des Schmerzes in unseren Herzen tragen, um siegreich aus jenen Prüfungen hervorzugehen.

Denn es handelt sich heutzutage nicht mehr bloß darum, ein Vaterland wieder zu erobern, oder eine Regierungsform zu wechseln: es handelt sich um eine gänzliche Umwälzung der Gesellschaft. Es gilt das Joch von Jahrhunderten zu brechen, Vorurteile und Finsternisse durch Wissenschaft und Licht zu überwinden. Keine Sklaverei sei mehr auf Erden, sei sie offen oder versteckt, heiße sie Dienstbarkeit oder Proletariat: An ihre Stelle trete die freie Arbeit der Assoziation als die Basis der künftigen Gesellschaft. Es gebe keine tributpflichtigen, von Fremden beherrschten Völker mehr; Gleichheit und Solidarität sei zwischen den einzelnen! Gleichheit und Solidarität zwischen den Völkern!

Solidarität der Völker! Wort, das in meiner Seele eine ruhmvolle und traurige Erinnerung weckt! Denn dieser neunte Februar, an dem wir heute Trauer tragen, war vor acht Jahren für Italien ein Tag der Freude und der Auferstehung. An ihm erhob sich das gebeugte Rom der Päpste als Republik. O Italien, Mutter unserer vergangenen Zivilisation, große Lehrerin des Okzidents, du, die durch das Frankreich der Prätorianer erstickt wurde, empfange aus meinem Munde, dem Munde eines Besiegten unserer Sache, empfange im Namen des republikanischen Frankreichs dies Wort der Sühne: Der Tag wird wiederkehren, wo sich die Fahne wieder erheben wird, auf der geschrieben steht: ›Einer für alle, alle für einen.‹ Am dreizehnten Juni wurde sie zerrissen; aber sie wird dennoch die Erde erobern, und an dem Tage wird das Morgenrot der allgemeinen Republik aufgehen. [64] Ja, die allgemeine Republik, die Solidarität der Menschheit, das ist es, was wir, Bruchstücke so vieler Völker, hier als Hoffnung in uns tragen. Brüder! das ist mehr wie eine politische Idee, das ist ein Glaube, ein Dogma, eine Religion, deren Propaganda aus den Gräbern steigt. Der Proselytismus der Despotie empört und vergeht, während der der Märtyrer rührt, überzeugt, ergreift und bleibt.

Dann erst, wenn man um sich her so viele Bekenner des eignen Glaubens hat fallen sehen, versteht man ganz die Worte des Psalmisten: ›Ihre Gebeine werden das Feld ihres Glaubens befruchten und ihr Tod wird noch mehr nützen als ihr Leben.‹ So wird es mit dem Tod des großen Patrioten sein, dessen Überreste wir hier begraben; wir mußten ihn verlieren, damit er uns ganz offenbar werde. Das Leben Stanislaus Worcells war in der Tat so einfach, so bescheiden, so frei von jeder Ostentation, so wahrhaft republikanisch, daß selbst ich, der ich ihn zwanzig Jahre gekannt habe, erst seit gestern das ganze Maß seiner Hingebung, die volle Ausdehnung seines Opfers kenne.

Während so viele andere heutzutage sich entehren, um sich zu bereichern und zu erheben, während das Geld ihr Gott und die Habsucht ihre Tugend ist, während die Gesellschaft in ihrem Schwindel an das Kapitel im Machiavell erinnert, das zum Titel hat: ›Von denen, die sich durch ihre Verbrechen zu Fürsten machen‹, genügte es für Worcell, geboren zu werden, um ein Großer dieser Erde zu sein. Aus einem alten aristokratischen Geschlecht, Besitzer unermeßlicher Reichtümer, mit fürstlichen Familien verwandt, hat er Ehren, Rang, Vermögen in den Abgrund geworfen, in dem sein teures Polen versank. Eine Macht der alten Welt, hat er sich ohne Aufsehen, ohne Prahlerei zu einem einfachen Bürger der neuen Welt gemacht. Er hat noch mehr getan! Er, so zärtlich, so gut, so liebevoll, er hat um seiner heiligen Sache willen die süßesten Bande zerrissen. Seine Gattin, seine Kinder, die sich in den Schutz des Henkers begeben haben und überhäuft sind mit Gnaden, er hat sie verleugnet, [65] wie durch eine unreine Tat beschimpft. Er hat die Bande der Familie zerrissen, um desto besser in die große Familie der Menschheit einzutreten. Ehre solcher antiken Tugend! –

Siebenundzwanzig Jahre hat er diese Agonie der Seele und des Leibes getragen, ohne zu wanken, ohne sich jemals zu beugen. Ein Zeichen, ein Wort hätte genügt, alles wieder zu erlangen; er hat alles verachtet!

Siebenundzwanzig Jahre glorreichen Kampfs! Er hat sich wörtlich Tag für Tag, Stunde für Stunde mit dem Elend gemessen – immer ruhig, immer gütig, immer er selbst, und hat nicht aufgehört, dem Unglück zuzulächeln, wie andere dem Glück.

Und dieses Märtyrerleben ist durch einen Tod gekrönt worden, der nicht minder einfach, nicht minder groß ist. Als er schon nicht mehr reden konnte, verlangte er die Feder und schrieb: ›Ein treuer Kämpfer, habe ich meine Aufgabe hier vollendet, möge ein andrer mich ablösen; ich gehe, sie anderswo fortzusetzen.‹ – Brüder! In der Gegenwart eines solchen Endes, hatte ich nicht recht zu sagen, daß der Tod selbst, diese geheimnisvolle Macht, die erhebt und größer macht, für uns kämpfe?

Dies ist nicht der pomphafte eitle Tod des Stoikers, der die Menge der Menschen mit Verachtung durchschritten hat und nur damit beschäftigt gewesen ist, über die Eigenschaften seiner unsterblichen Seele zu reden. Es ist auch nicht der egoistische Tod des Christen, der das Gute auf Erden tut, um sich im Himmel einen sichern Lohn zu erwerben, und dennoch, bis zum letzten Augenblick, von den Schrecken der Ungewißheit über seine Rettung geplagt wird. Nein, es ist dies der Tod eines Apostels der Menschheit, der für die Schätze, die er von ihr empfangen hat – Schätze des Geistes, durch Jahrhunderte her aufgehäuft –, sie selbst wieder bereichert hat durch seine rückhaltlose, selbstlose Hingebung. Es ist der Tod des wahren Freiheitskämpfers, der an einen unendlichen Fortschritt glaubt, unaufhörlich hofft, zu ihm beizutragen, und sich von Sphäre zu Sphäre hebt, um [66] ihn in Ewigkeit anzuschauen. O wie wünschte ich unsere Feinde herbei, um diese Totenfeier mit anschauen zu können! Sie würden uns hier alle, von demselben Gefühl ergriffen, von demselben Gedanken bewegt, vereinigt finden. Hier auf dem Niveau des Todes, wo die Leidenschaften schweigen und die Seele sich von aller Selbstsucht befreit, hier sind wir wahrhaft wir selbst, d.h. das, was Edles, Erhabenes, Ideales in uns ist. Wir fühlen hier, bei der Betrachtung eines solchen Lebens und Todes, daß, wenn wir auch über die Mittel uneins sind, wir doch alle nur dasselbe Ziel haben: den Kultus des Großen, Schönen, Wahren, des Heiles der Menschheit.

Brüder, laßt denn die Macht der Sehnsucht nach der Erfüllung unseres Zieles dasselbe tun, was hier der Tod tut: laßt sie uns vereinigen zum Kampfe, wie uns diese Ruhestätte hier vereinigt. Es bleibe nur ein Wetteifer zwischen uns: der der Opferfreudigkeit und Hingebung, und nur eine Liebe: die Liebe zur Menschheit.«

Lange, anhaltende Rufe und ein Blumenregen auf den Sarg, der nur langsam in die Gruft hinab sank, folgten dieser Rede. Noch einen Blick hinunter, noch einen Händedruck den guten Frauen, und ich wandte mich, um still und bewegt den Rückweg anzutreten. Da kam Franz Pulszky, gab mir den Arm und führte mich in sein in Highgate nahe beim Kirchhof gelegnes Haus, um den Tag dort im Kreise der liebenswürdigen Familie zu beschließen. Als ich aber am Abend mein einsames Zimmer wieder betrat, tönte durch meine Seele die große Symphonie des Todes in erhabnen Klängen, und ich dachte, wie an jenem Grabe die Worte lebendig geworden waren, die der Priester, ohne Empfindung, in der Kapelle hergemurmelt hatte: »Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?« –

Einige Tage nachher brachte die Times einen Leitartikel über dies Begräbnis, das im französischen Moniteur mit vieler Galle und großem Aufheben besprochen worden war. Zu einer andern Zeit hätte die Times vielleicht sich auch sehr [67] bedenklich geäußert, jetzt aber lag es in ihrem Interesse, dem Moniteur gegenüber die Flüchtlinge in Schutz zu nehmen. Freilich war es ein Schutz, der einem Almosen ähnlicher sah als der gastlichen Aufnahme am Herd eines freien Volkes, »denn,« sagte sie, »was bedeuten in der großen Weltstadt London eine Handvoll Flüchtlinge, von denen niemand etwas weiß? Wenn sie sich gut betragen und nichts gegen die englischen Gesetze tun, so mögen sie in Ruhe hier wohnen.« Natürlich freute sie sich dann weiter mit großem Selbstgefühl der Vortrefflichkeit des englischen Staats, der gar keine Notiz nehme von den politischen Agitatoren und damit ihrer Bedeutung ein Ende mache, während der Kontinent sich fortwährend um sie beunruhige und ihnen dadurch erst eine Bedeutung gebe. Die Times hatte in dem Augenblick nur ganz vergessen, daß das englische Volk noch vor kurzem einigen dieser jetzt im Winkel geduldeten Flüchtlingen jubelnd zugejauchzt und sie mit solchen Ehrenbezeugungen empfangen hatte, wie sie selten einem König zuteil werden. Sie hatte ferner vergessen, daß ein Flüchtling anderer Art, wiewohl auch ein politischer, einst ebenfalls in einem Winkel von London geduldet lebte, dessen Allianz das stolze Albion nun, da er auf einem Throne saß, noch vor kurzem eifrig gesucht hatte, und den sie noch immer, wenngleich mit einem sauersüßen Ton, den Alliierten nannte. Sie hatte eben überhaupt vergessen, daß die menschlichen Geschicke wandelbar sind, und daß sie vielleicht noch einst die Allianz der Partei, zu der jene Eckenbewohner gehörten, suchen würde. – Aber was war denn auch die Times? Das Organ der öffentlichen Meinung, sagten viele. Das war sie aber so wenig, daß zwei Stunden, nachdem sie ausgegeben war, die Majorität der Leser genau das wiederholte, was die Times als das Richtige proklamiert hatte, wenn sie Tags vorher auch noch ganz verschiedener Meinung gewesen waren. Was war sie also? Sie war der große »Standard« des Erfolgs, und darin lag das Geheimnis ihrer Macht; denn sind nicht auch die meisten Menschen Sklaven des Erfolgs? So lange [68] z.B. die Allianz mit Frankreich für England ein Bedürfnis war, stand Louis Napoleon unter dem allmächtigen Schutz der Times, und sie nahm keinen Artikel an, der gegen ihn geschrieben wurde. Seit sich aber das Blatt gewendet hatte, erschienen plötzlich jene Artikel, die also offenbar ad acta gelegt worden waren, und sie erschienen nicht etwa, weil die Times den humanen Standpunkt, von dem aus sie geschrieben wurden, teilte, sondern weil ihr die Artikel jetzt gelegen waren, um dem Alliierten eine Ohrfeige zu geben. Allerdings nützten sie immer noch, und es war gut, daß sie gelesen wurden; nur war es nicht die Prinzipientreue der Times, die sie an das Tageslicht gebracht hatte. Gerade zu der Zeit brach Streit zwischen der Schweiz und Preußen aus, und die Times stand sogleich mit Enthusiasmus auf der Seite des freien Volkes, weil sie im voraus wußte, daß ganz Europa auf dieser Seite stehen würde. Durch ihre vortrefflichen Hilfsquellen befähigt, kennt sie im voraus die Seite, auf die die Wagschale sich neigt, und bläst in die Posaune des Erfolges. Diesem Schlachtruf folgt dann der Teil des Publikums, dessen Existenz auch am Erfolg hängt: die Männer der Börse, der City, überhaupt alle, deren Steuer nicht ein festes sittliches Prinzip ist, das sie mutig durch die Wechselfälle des Lebens führt, sondern die Gier nach den goldnen Früchten des Augenblicks.

2. Kapitel. Persönliche Beziehungen
Zweites Kapitel
Persönliche Beziehungen und Teilnahme an fremden Schicksalen

Meine Beziehungen zu Mrs. Bell wurden immer inniger und freundschaftlicher. Sie kam so oft sie konnte, und ich bewunderte immer mehr die außerordentlichen Anlagen ihrer künstlerisch begabten Natur. Ihre Lage wurde jedoch immer trostloser, der Riß zwischen ihr und den Ihrigen immer weiter. Endlich erklärten ihr der Vater und der Mann, daß sie das Kind als »ward in chancery« geben, oder es in [69] eine Pension zur ferneren Erziehung tun würden, um es den verderblichen Einflüssen der Mutter zu entziehen, die durch die »Fremden, mit denen sie verkehre, und die überhaupt alle gute, altenglische Sitte verdürben«, noch vermehrt würden. Der Gedanke, das Kind als »ward in chancery«, d.h. als Mündel des Gerichtshofs der »chancery« zu sehen, war für die Mutter ein Todesschlag. Es entzog die Erziehung des Kindes für immer ihrem Einfluß, zufolge der in Beziehung auf die Frau so ungerechten englischen Gesetze. Dagegen vor Gericht zu protestieren, hatte sie keine Macht, denn der Wille des Vaters war darin entscheidend. So zwischen zwei Übel gestellt, wählte sie das, das wenigstens die Hoffnung auf eine zu ermöglichende Änderung ließ: die Pension; wiewohl sie bisher den Gedanken weit von sich geworfen hatte, ihr Kind einer jener englischen Pensionen anzuvertrauen, in denen die Heuchelei und Konvention beinah prinzipiell anerzogen werden. Sie erklärte ihren Tyrannen, daß sie darein willige, das Kind von sich zu geben, wenn sie ihr erlauben wollten, selbst nach einer Pension zu suchen. Sie kam dann zu mir, um mich zu bitten, sie auf diesen Wallfahrten zu den verschiedenen Schulen und Erziehungsanstalten zu begleiten. Natürlich tat ich dies sehr gern, teils um ihretwillen, teils um die Zustände des englischen Schulwesens näher kennen zu lernen. Da trat mir denn freilich in Wirklichkeit entgegen, was mir aus englischen Romanen und mündlichen Schilderungen bereits bekannt war. In den meisten dieser boarding-schools oder Erziehungsanstalten (natürlich gab es auch ehrenvolle Ausnahmen) waren die zwei Hauptgesichtspunkte der Erziehung: die Beobachtung der formellen Frömmigkeit und der formellen Feinheit des Betragens, d.h. des ladylike-Seins. Um die hohe Respektabilität und Vortrefflichkeit einer boarding-school zu bezeugen, dazu gehörte erstens: daß irgend ein »Reverend«, ein Pastor, darin den Religionsunterricht erteilte, ferner daß jeden Morgen gemeinschaftlich Gebete hergesagt wurden, daß die Pensionärinnen Sonntags, von der Lehrerin angeführt, [70] wenigstens einmal zur Kirche zogen, daß sie am Sonntag nicht musizierten, malten, nähten, spielten, ja nicht lasen, außer im Gebetbuch. Dann kam das Betragen, d.h. also, daß die jungen Mädchen gehen, stehen, sitzen mußten, wie es sich für eine junge lady gehörte, daß sie niemals so »vulgar« sein durften, vertraulich mit Dienstboten zu sprechen – mit Menschen von noch geringerem Stande natürlich noch weniger (denn die Unterschiede der Stände sind ja von Gott eingesetzt!), daß sie bei Tisch Messer und Gabel in der vorgeschriebenen Weise halten, daß sie »modest« im Benehmen sein mußten, d.h. niemals von Herzen laut auflachten, sich im Wohnzimmer nie rasch bewegen durften usw. Aber Kleider bis aufs äußerste ausgeschnitten durften sie tragen; ja es wäre sogar unpassend gewesen, wenn sie abends imdrawingroom anders erschienen wären. Das übrige Lernen verhielt sich diesen Hauptsachen analog und war im höchsten Grad oberflächlich, nur auf das »finishing«, das Fertigmachen abgesehen, wie es denn auch eigentliche »finishing schools« gab, wo nur der letzte Firnis aufgetragen wurde. Welch ein furchtbares Mißverständnis: Schulen um fertig zu machen! Sollte doch die Schule gerade dazu dienen, dem Menschen die Bahnen anzuzeigen, auf denen er immer weiter wandeln und nie fertig werden soll. Sollte sie ihm doch die Augen öffnen, um mit dem eigenen Blick die Welt zu betrachten und von innen heraus die Form schön und edel zu entfalten, nicht aber ihm von vornherein eine Maske vortun, die die Maske aller ist und in der jeder individuelle Charakterzug verschwindet. Wir sahen mehrere solcher Erziehungsanstalten und wandten uns mit Widerwillen davon ab. Dann besuchten wir auch einige der noch nicht sehr lang entstandenen, sogenannten Ladies-Colleges, in denen allerdings ein großer Fortschritt zum Besseren sich anbahnte. Sie boten nur Klassen für höheren Unterricht in allen möglichen Fächern, der von Lehrern ersten Ranges erteilt wurde. Erst als man sah, wie wenig die Mädchen, die diese Klassen zu besuchen kamen, durch gründlichen Elementarunterricht [71] vorbereitet waren, fügte man auch Schulen mit Elementarklassen hinzu. Diese Colleges entsprachen einem höheren Bedürfnis der Ausbildung für das weibliche Geschlecht; sie waren eine Errungenschaft des Geistes, der aus den Schranken alter Vorurteile hinausdrängte zu freierer Entwicklung. Das religiöse Element war dabei ganz untergeordnet; die Teilnahme daran war eine Sache der freien Wahl und kein konventioneller Zwang wie in den boarding-schools. Meist waren edle Frauen, von höherer Einsicht geleitet, Gründerinnen dieser Colleges. Ich kannte eine von ihnen, eine alte Mrs. Reed, die das »Bedfort Ladies-College«, zum größten Teil aus eigenen Mitteln, gegründet hatte. Sie war eine der feinen, tiefgebildeten energischen Naturen, wie sie das englische Leben, als Ausnahmen gewiß, aber dann auch, wie schon öfter bemerkt, in seltenster Qualität hervorbringt. Klein von Gestalt, mit einem geistvollen Gesicht, von weißem Haar umgeben, fast immer leidend, aber dabei immer liebenswürdig und geistig bewegt, war sie eine jener sympathischen Erscheinungen, durch die man nie verletzt, sondern geistig angeregt und gemütlich befriedigt wird. In ihrem schönen, komfortablen Haus in Regents-Park, wo sie allein mit einer Schwester lebte, verbrachte ich manche gute Stunde. Sie bewies mir ein besonderes Wohlwollen, und ich hegte für sie eine töchterliche Neigung. Wie ganz sie in der Aufgabe lebte, der sie sich gewidmet, und auf die sie, in echt englischer Weise, alle Kraft ihres Geistes und ihrer pekuniären Mittel konzentrierte, um, was sie tat, ganz und gut zu tun, beweist folgendes Fragment eines Briefes, den sie an eine Dame schrieb, die sie aufgefordert hatte, sich an einer Sammlung zur Förderung der Sache der Freiheit in Italien zu beteiligen:

»Ich stehe keinem nach im Haß gegen Tyrannei, Unterdrückung, Ungerechtigkeit aller Art. Italien hat besondere Ansprüche an meine Sympathie und Liebe. Aber ich habe mich einer Aufgabe in der Heimat gewidmet und darf mir nicht erlauben, davon abzuschweifen. Unser College bedarf [72] gar sehr des Geldes, und jeder Schilling, den ich erübrigen kann, geht dahin, denn es sind wenige, die uns helfen! Die Frauen mögen untergehen – kein Mann kümmert sich darum. Sie sind Ihrer edlen Sache so ergeben, daß Sie vielleicht nicht bemerken, was um uns her vorgeht: den beklagenswerten Zustand, in dem die Erziehung der ›Ladies‹ ist, und die Art von Teufels-Kreuzzug, der dagegen gepredigt wird. Man muß genau mit einem unserer ›Colleges‹ bekannt sein, um die Stärke der Opposition zu verstehen, die dagegen gemacht wird; eine Opposition, an deren Spitze die Geistlichen stehen, die falschen Freunde der Frauen zu allen Zeiten, die ihre Autorität und ihren zu großen Einfluß von jeher mißbrauchten; eine Opposition, die in jeder Familie hervorgerufen wird durch den Geist des Monopols unter den Männern. ›Unsere jungen Männer lieben die Colleges nicht,‹ sagte mir kürzlich eine Dame, welche kam, um das unsere zu sehen, aber ohne ihre Töchter, weil das ›eine zu offene Nichtachtung der Meinung ihrer Brüder‹ gewesen wäre. – Ja die Opposition ging so weit, daß es eine Zeitlang in Frage stand, ob wir die Sache aufgeben oder mit allen erdenkbaren Opfern dafür fortkämpfen sollten. Wir entschieden uns für das letztere.«

Zu dieser trefflichen Frau führte ich auch Mrs. Bell, und sie wurde von ihr auf das wohlwollendste aufgenommen und beraten. Sie entschied sich auch für eins der »Colleges«, dem eine Pension beigesellt war, und wo auch ihrem Einfluß noch ein Feld übrig blieb, da sie die Tochter dort öfter hätte sehen können. Mit diesem Vorschlag trat sie in der Familie hervor, indem sie zugleich ihrem Mann erklärte, daß sie, wie sie immer gesagt habe, selbst das Haus verlassen würde, sobald ihr Kind es verlasse, weil dieses das einzige Band sei, das sie noch an dasselbe binde. Ihr ward nur Hohn zur Antwort. Das Kind in eins der Colleges, in diese von »fremden Ideen« durchdrungenen Anstalten zu geben, sei außer aller Frage; man habe bereits eine in jeder Beziehung »respectable« Erziehungsanstalt [73] gewählt, und die Schmach, das Haus zu verlassen, würde sie sich doch wohl selbst nicht antun, da es in England die höchste Schande für eine Frau sei, das Haus zu verlassen, und die Schuld davon unwiderruflich auf die Frau zurückfalle. Mrs. Bell kam in Verzweiflung zu mir; die Pension, die man genannt hatte, war gerade eine von jenen, in denen am meisten die oben beschriebenen Gesichtspunkte herrschten und die ihr darum einen unausbleiblichen Geistestod für ihr Kind in Aussicht stellte. Dazu fühlte sie es als absolute Notwendigkeit, aus dem Haus zu gehen, wenn das Kind fort sei. In dieser Hölle allein fortzuleben war auch für sie, physisch und moralisch, der Tod. Wir überlegten, tief bekümmert, was zu tun wäre. Endlich beschlossen wir, zu einem alten Advokaten zu gehen, demselben, der einst ihren Ehekontrakt gemacht hatte. Sie kannte den Kontrakt nämlich nicht, da sie bei Schließung ihrer Ehe noch so jung und gänzlich unerfahren alles mit sich hatte machen lassen, was die Herren ihres Schicksals wollten. Sie hatte nie selbst über Geld zu verfügen gehabt, wußte nicht, welche Mitgift ihr der Vater ausgesetzt hatte, da alles in die Hände des Mannes gegeben worden war, der ihr nach seinem Gutdünken kleine Summen gab. Nun hatte sie aber in Erfahrung gebracht, daß sie vom Advokaten Kenntnisnahme des bei ihm niedergelegten Kontrakts und eine Abschrift fordern könne. Wir beschlossen also, uns wenigstens zu versichern, welches ihre äußere Lage sei, und ob sie auf irgendeine Unabhängigkeit in pekuniärer Beziehung rechnen dürfe. Der Alte empfing uns zwar mürrisch, konnte aber, was gesetzlich war, nicht verweigern und machte uns demnach mit dem Inhalte des Kontrakts bekannt. Mrs. Bell ersah daraus, daß ihr eine jährliche Rente ausgesetzt war, die zwar im Verhältnis zu dem, was sie als einzige Tochter und Erbin zu erwarten gehabt hätte, gering war, aber doch hinreichte, ihr eine bescheidene Unabhängigkeit zu sichern. Eine legale Abschrift des Kontraktes wurde ihr auch zugesagt. Das war aber auch der einzige Trost, den wir erhielten, denn der alte [74] knöcherne Gesetzesmann verneinte mit eisiger Ruhe alle anderen Fragen wegen etwaiger Rechte auf das Kind. Er schloß endlich mit dem positiven Ausspruch: »Sie haben absolut gar keine Rechte Ihrem Manne gegenüber; nicht nur, daß er über das Kind nach seinem Gutdünken verfügen kann, sondern er kann auch Ihr Vermögen nehmen, ja sogar, wenn Sie selbst etwas erwerben, und er will es, so kann er kommen und es in Beschlag nehmen.«

Erstaunt, betroffen, von Schmerz durchdrungen vor der Ungeheuerlichkeit solcher Gesetze und einer Gesellschaft, die ruhig unter solchen Gesetzen lebt, saßen wir eine Weile schweigend im Wagen, der uns unserem fernen Stadtviertel (wir bewohnten beide dasselbe) zuführte. Aus der gänzlichen Hoffnungslosigkeit der Situation heraus aber überkam uns beide plötzlich ein Anfall ausgelassenen Humors, der ja überhaupt die Blüte ist, die auf dunklem Grunde sprießt und von dem eine starke Beimischung in Mrs. Bells phantasievoller Künstlernatur war. Wir entwarfen den Plan einer zu stiftenden Gesellschaft der Elenden (association of miserables), bestimmten den Grad des Elends, der zur Aufnahme befähige, und verfolgten dies Projekt bis in die kleinsten Einzelheiten in so drastischer Weise, daß wir zuletzt bis zu Tränen lachen mußten und uns in der Stimmung ironischester Weltverachtung trennten.

Es vergingen mehrere Tage, ohne daß ich etwas von ihr hörte; dann aber erschien plötzlich ihr Mädchen, die ihr sehr ergeben war, und brachte mir einen Zettel, auf dem mit Bleistift geschrieben stand: »Man hält mich im Haus gefangen, möchte mich für wahnsinnig erklären; wenn Sie können, gehen Sie zu Ashurst, daß er zu meiner Hilfe herbeikommt.«

Aufs äußerste erschrocken, fragte ich das Mädchen, was vorgefallen sei; die konnte mir aber nur sagen, daß am Abend vorher eine heftige Szene zwischen Mrs. Bell und ihrem Mann stattgehabt hatte, daß Herr Bell infolgedessen seine Frau in ihrem Zimmer eingeschlossen, das Kind von ihr [75] entfernt und einen Arzt gerufen hätte, aber nicht den gewöhnlichen Hausarzt. Ich bedachte mich nicht lange, eilte zu Ashurst, jenem Advokaten, der sich so wohlwollend gegen Mrs. Bell gezeigt hatte, und forderte ihn auf, tätlich als ihr Anwalt einzuschreiten. Dann irrte ich um ihr Haus herum, sah zu den Fenstern ihres Schlafzimmers hinauf, das im obersten Stock lag, und dachte der Armen, die dort allein saß, in ein heißes Zimmer eingeschlossen, bei einer für England ungewöhnlich brennenden Frühlingssonne, und in Empfindungen versenkt sein mußte, die sie, bei einiger Dauer solchen Zustandes, wohl hätten zum Wahnsinn treiben können. In das Haus zu gehn konnte ich nicht wagen; erstens wurde niemand bei ihr vorgelassen, und dann haßte mich die Familie bereits gründlich, weil ich, als Fremde, wie sie meinten, Mrs. Bell noch in ihren Irrtümern bestärke. Am folgenden Morgen kam das Mädchen wieder; es war ihr abermals gelungen, unter einem Vorwand das Haus zu verlassen, um mir einen Brief zu bringen, den ihre Herrin in der Nacht geschrieben hatte und worin sie mir das Vorgefallene erzählte. Es war ihr also angekündigt worden, daß das Kind in wenigen Tagen in die ihr verhaßte Pension gebracht werden würde. Der furchtbare Abscheu, den sie vor dieser Erziehung empfand, der Gedanke, sich vom Kinde zu trennen, von dem einzigen, was sie noch im Leben hatte, ergriff sie mit verzweiflungsvollem Schmerz, und sie beschloß, einen letzten Versuch zu wagen. Sie ging abends in das Zimmer ihres Mannes und beschwor ihn, ihr das Kind zu lassen, mit ihr und dem Kinde das unselige Haus der Eltern zu meiden und aufs neue eine eigene Häuslichkeit zu gründen, in der das Kind und die Sorge für seine Zukunft das gemeinsame Band zwischen ihnen sein solle. Sie bat und flehte, ja sie warf sich ihm zu Füßen; er aber sprang auf, klingelte heftig, befahl den Arzt einer Privatirrenanstalt zu rufen und schloß die natürlich in äußerster Aufregung sich Befindende ein. Eugenie wußte, was das bedeute; es war nicht das erstemal, daß sich ein Fall der Art in England [76] ereignete, daß man ein Mitglied der Familie, dessen man sich entledigen wollte, in eine Irrenanstalt brachte, und daß gewissenlose Ärzte solcher Privatanstalten sich dazu hergaben, ein Zeugnis von Geistesverwirrung auszustellen, auf das hin die Gesunden als Kranke in ihre Anstalt gebracht und dort oft erst zu Kranken wurden. Ungefähr um dieselbe Zeit hatte sich ein solcher Fall mit einer Notabilität Englands ereignet, der natürlich viel von sich reden gemacht hatte. Sir Henry Lytton Bulwer, der bekannte Romanschriftsteller, hatte seine Frau in ein solches »lunatic asylum« gesteckt, aus dem sie aber bald entlassen werden mußte, da von anderer Seite eingeschritten und ihre geistige Gesundheit bewiesen wurde. Dieses gräßliche Schicksal bedrohte also auch Eugenie, und es hätte sie wahrscheinlich wirklich zum Wahnsinn geführt nach all dem bittern Elend, das sie erlebt hatte. Herr Ashurst begab sich nach dem Hause, wurde aber mit dem Bescheid abgewiesen, Mrs. Bell sei krank und könne niemand sehen. Er beriet sich mit einem der ersten Rechtsgelehrten Londons und ging am folgenden Tag wieder hin, um im Namen des Gesetzes, als legaler Anwalt Mrs. Bells, Einlaß zu verlangen. Zum Glück waren die Großeltern und Mr. Bell eben außer dem Hause, da sie das Kind, ohne es von der Mutter haben Abschied nehmen zu lassen, in die Pension begleiteten. Herr Ashurst wurde also von dem getreuen Mädchen ohne weiteres zu Eugenien geführt, hatte Zeit, sich mit ihr zu besprechen und Maßregeln zu verabreden. Die an dern kehrten zurück, während er noch da war. Herr Bell trat wütend in das Zimmer und fragte, mit welchem Rechte er sich bei seiner Frau befände. Ashurst erwiderte ruhig: Mit dem Rechte ihres Anwalts, verließ Eugenie und begab sich zu den Eltern, wohin Bell ihm folgte. Hier nun versuchte Ashurst in edelster Weise an die menschlichen Gefühle zu appellieren, verhehlte nicht, daß Eugenie wisse, daß sie die Tochter einer anderen Frau sei, und gab zu bedenken, wie natürlich es sei, daß diese Entdeckung sie noch mehr entfremdet habe, als es die ungerechte Opposition gegen ihr [77] eigenstes Denken und Fühlen bereits getan hätte. Die Aufdeckung dieser Tatsache wurde mit großer Betroffenheit aufgenommen, aber nicht geleugnet. Alle übrigen Argumente Ashursts blieben jedoch fruchtlos. Er sah sich also genötigt, im Namen des Gesetzes zu verlangen, daß eine Konsultation stattfinde von zwei der ersten Männer der medizinischen Fakultät, um in einer längeren Unterredung mit Eugenien deren Geisteszustand zu beurteilen. Es mußte, wenn auch noch so unwillig, zugestanden werden. Ashurst ging das Nötige zu besorgen, nachdem er mir zuvor die Beruhigung gegeben hatte, daß soweit alles geschehen und für den Augenblick nichts weiter zu fürchten sei. Am darauffolgenden Tage reisten die Eltern Eugeniens ab, da in Schottland gerade die Zeit der Salmfischerei begonnen hatte und Eugeniens Vater dieses wichtige Geschäft nicht versäumen konnte, selbst in dem Augenblick nicht, wo sein einziges Kind vor einer so furchtbaren Entscheidung stand. Wahrscheinlich wollte er den unangenehmen Dingen, die noch bevorstanden, entgehn und überließ es Herrn Bell, diese zu Ende zu führen. Eugenien gab dies herzlose Verlassen den letzten Stoß und löste sie für immer von jenem, der ihr das Leben gegeben, es aber auch zu einer so schweren Prüfung für sie gemacht hatte. Den Tag darauf erschienen die zwei ersten Ärzte Londons, denn das Gesetz will, daß immer zwei zu gleicher Zeit einen solchen Fall beurteilen. Sie hatten eine mehrstündige Unterhaltung mit Eugenien, hauptsächlich über religiöse Dinge, da dahin die Hauptanklage der Verwandten gerichtet war. Sie suchten sie durch allerlei Kreuz- und Querfragen zu überraschen und zu verwirren. Eugenie aber, fühlend, daß es sich um Tod und Leben handle, nahm ihre ganze Geisteskraft zusammen und antwortete so schlagend, so logisch, so gewandt, daß die Herren endlich mit dem Bekenntnis aufrichtigster Hochachtung von ihr schieden und dem unten harrenden Herrn Bell die Erklärung abgaben, daß seine Frau nicht nur geistig völlig gesund, sondern ungewöhnlich begabt und bedeutend sei. Die Doktoren wollten [78] zu Eugenien zurück und ihr das Verdikt ankündigen, aber Herr Bell sagte, er selbst werde das tun, und entließ sie. Dann ging er zu seiner Frau und sagte ihr: »Du bist frei, ich kann dich nicht halten; so geh nur und sinke tiefer und tiefer!« Dies war der Abschiedsgruß, der sie aber kaum noch verletzte, neben dem Glück frei zu sein. Noch am selben Tage verließ sie das Haus der Qual, nahm nur ihre Garderobe und kleinen persönlichen Besitztümer mit sich und kam vorläufig in ein Zimmer, das sich gerade in dem Hause, wo ich lebte, leer fand. Mein kleines Wohnzimmer teilte ich mit ihr, und wir nahmen unsere Mahlzeiten gemeinschaftlich ein. Ich sah mit wahrer Bewunderung, wie freudig die an äußeren Komfort Gewöhnte sich in die beschränkte Einfachheit dieses Lebens fand, und wie das Gefühl, nun ohne Widerstand ein Leben geistiger Entwicklung führen zu können, sie hinaushob über alles persönliche Unglück, ausgenommen natürlich die Trennung von ihrem Kinde. Diese lastete schwer auf ihrem Gemüt, da man ihr verweigerte, die Tochter zu sehen, und sie nur durch das Mädchen Nachricht von ihr erhielt und eine Botschaft zu ihr gelangen lassen konnte. Endlich wurde ihr das unerträglich, und sie beschloß, mit Ashursts Zustimmung, vor Gericht zu gehen und sich den Zutritt zu ihrem Kinde zu sichern. Zu völliger Scheidung waren keine legalen Gründe da; auch war damals noch nicht das neue Scheidungsgesetz im Parlament durchgegangen, durch das die früher nur mit enormen Kosten und daher nur für die Reichsten zu ermöglichende Ehescheidung auch minder Begüterten möglich gemacht wurde. Es blieb ihr daher nur übrig, Trennung von Tisch und Bett und den Zutritt zu ihrem Kinde zu fordern. Die peinlichen Tage der Gerichtsverhandlung kamen. Ich entließ die arme Eugenie mit schwerem Herzen, denn ich wußte, welche Aufgabe es für sie war, die furchtbare Geschichte ihres Lebens vor fremden Männern zu erzählen – noch dazu vor Engländern, denen die Art ihres Kampfes und ihre Entfremdung von den herrschenden Ideen in Religion und Gesellschaft[79] selbst im besten Fall als eine Verirrung des Geistes erscheinen mußte. Zum Glück waren die Verhandlungen privat, im Kabinett des Lord-Kanzlers, der ein äußerst wohlwollender Mann war. Jeder der beiden Gatten wurde besonders von ihm verhört. Eugenie erzählte mir, daß er während ihrer Erzählung Tränen in den Augen gehabt und sich wahrhaft väterlich gegen sie erwiesen habe. Dennoch war die Entscheidung eine ganz den englischen, für die Frauen so harten Gesetzen, gemäße. Zwar erhielt sie Erlaubnis, ihr Kind zu sehen, was wahrscheinlich die Folge des günstigen Eindrucks war, den ihr Wesen hervorgebracht hatte, aber nur ein einziges Mal die Woche, und dann nur zu der Stunde und für die Zeitdauer, die Herr Bell bestimmen würde. So hart dies war, so war sie doch froh, wenigstens nicht ganz von dem Kinde geschieden zu sein. Auch hatte sie die Hoffnung, jetzt vielleicht besser auf sie einwirken zu können als früher, schon durch das Beispiel, daß eine Frau auch allein, in bescheidenen Verhältnissen, ohne eignes Haus und Dienerschaft, in einem »lodging« (einer Mietwohnung) ein achtungswertes Leben führen könne. Ferner hoffte sie, daß sie ihr ihre Anschauungen jetzt vielleicht unbedingter würde klar machen können. Ihre pekuniären Verhältnisse hatte Ashurst insofern genügend geordnet, als sie das ihr vom Vater im Ehekontrakt ausgesetzte Jahrgeld zugesichert erhielt. Der Mann gab ihr nichts, aber sie war entschlossen, mit jener für ihre bisherigen Ansprüche geringen Einnahme auszukommen, ja davon zurückzulegen für etwa kommende Notfälle, und auch so die Ihrigen Lügen zu strafen, die sie in Beziehung auf Geldsachen stets wie ein unmündiges Kind behandelt und ihr Hang zur Verschwendung vorgeworfen hatten. Sie mietete in meiner Nähe eine kleine Wohnung, richtete ihr Leben in streng geordneter Weise ein, umgab sich mit Büchern, deren sie nun so viele zu lesen hatte, und begann ihre Besuche bei ihrer Tochter, die jedesmal auf zwei Stunden und zu unbequemer Zeit festgesetzt waren. Sie unterwarf sich all den demütigenden Bedingungen ohne Murren, fest entschlossen, [80] ihre Mutterpflicht, soweit die Verhältnisse es noch gestatteten, bis auf das äußerste zu erfüllen. Sie kam pünktlich zur gesetzten Zeit und blieb bis zur letzten Minute. Nichts hielt sie zurück, nicht Unwohlsein, nicht schlechtes Wetter. Verbittert wurde ihr auch dies karg zugemessene Glück durch die offenbare Beeinflussung des Kindes von seiten der Familie und der Lehrerin, die in der Frau, die ihr Haus verlassen und gegen die Hochkirche sich aufzulehnen gewagt hatte, nur ein gefallenes Wesen sehen konnte; ferner durch die Wahrnehmung, wie sehr ihr Widerwille gegen das Pensionswesen recht gehabt hatte, und wie oberflächlich und nur auf den Schein gerichtet Unterricht und Erziehung in der Anstalt waren; endlich durch die traurige Gewißheit, daß das Kind sich mehr und mehr jener Welt zuneigen und von der ihren entfernen werde. – Aber dennoch wurde sie keinen Augenblick in dem Entschluß wankend, sich bis zur letzten Möglichkeit ihrer Aufgabe zu widmen und gegen das Verderben anzukämpfen.

In dieser Lage verließ ich sie in der Mitte des Sommers, um an der Meeresküste wieder etwas Erholung von dem angestrengten Arbeiten zu suchen. Sehr willkommen war mir der Vorschlag einer liebenswürdigen Landsmännin, mit ihr zusammen an die See zu gehen. Es war dies Sophie Klingemann, die Gattin von Karl Klingemann, der als hannövrischer Gesandtschaftssekretär schon seit langen Jahren in London lebte und in dortigen Kreisen als geistvoller, liebenswürdiger Ehrenmann und intimer Freund Mendelssohns bekannt war. Seine Gattin, Tochter eines Mannes, den ich hoch verehrt hatte, war mir in Deutschland als junges Mädchen bekannt und befreundet gewesen. Ich hatte die Jugendfreundin in London wieder aufgesucht und war in dem gastfreien, durch eine intelligente Geselligkeit ausgezeichneten Hause stets auf das freundlichste aufgenommen worden. Da Klingemann durch Geschäfte in der Stadt zurückgehalten war, fuhr ich mit Sophie, ihrem Kind und der Bedienung nach Eastbourne, einem kleinen, damals erst aufblühenden Seebadeort, der sich [81] nur durch einen dem Baden günstigen Strand und durch die dort plötzlich steil, fast senkrecht aufsteigenden weißen Kalkwände der Klippen auszeichnet. Dort lebten wir ein paar Wochen still zufrieden miteinander, und das alte Jugendband wurde aufs neue ein recht liebevolles, obgleich unsere Lebensrichtungen ziemlich auseinander gegangen waren. Besondere Umstände nötigten Klingemanns aber, früher abzureisen, als sie gewollt, und so blieb ich allein zurück. Hatte ich in London angestrengt arbeiten müssen, um zu leben und mir den Sommeraufenthalt möglich zu machen, und hatte ich mich dort mit dem beschäftigen müssen, was am meisten Geld brachte, nämlich Übersetzungen aus dem Russischen und Journalartikel, sowohl für englische wie für deutsche Blätter, so erlaubte ich mir hier nun die Lust des freien Schaffens. Ich schrieb an einem Roman, der schon früher angefangen, aber vor der dringenden Arbeit zurückgelegt worden war. Täglich zog ich mit Büchern und Schreibzeug an das Meeresufer, setzte mich dort auf den Sand und schrieb, während die Welle sich zu meinen Füßen brach und ein großer Frieden der Einsamkeit mich umgab. Eines Tages saß ich auch so unterhalb des gemauerten Uferkais, mit dem Gesicht nach dem Meer gewandt und ganz in meine Arbeit vertieft, als plötzlich ein Regen von kleinen Steinchen um mich niederfiel. Verwundert sah ich in die Höhe nach dem Kai hin und gewahrte zwei Damen und einen Herrn, die oben standen, lachend nach mir heruntersahen und auf diese Weise meine Aufmerksamkeit herausgefordert hatten. Den Herrn hatte ich nur einmal, schon vor mehreren Jahren, näher gesehen und gesprochen, aber es war nicht möglich, ihn zu vergessen oder sich in der Persönlichkeit zu irren, wenn man ihm nur einmal begegnet war. Ich erkannte ihn auch augenblicklich wieder; es war Joseph Mazzini. Die beiden Damen waren Schwestern, aus jener englischen Familie, in der Mazzini eine zweite Heimat gefunden hatte und in der er gleich einem Heiligen verehrt und geliebt wurde. Beide waren verheiratet; ich hatte sie an einem Abend in Herzens Hause [82] kennen gelernt, noch ehe ich selbst darin lebte. Seitdem hatte ich aber nur die eine, Emilie, wiedergesehen, die öfter in das Herzensche Haus kam und die ich auch nach meinem Scheiden aus diesem zuweilen besuchte, als sie eine Wohnung nahe der meinigen bezogen hatte. Sie war ein anziehendes Wesen, voll feinster Bildung, war Malerin von Bedeutung, und hatte das schönste Bild von Mazzini gemacht, das von ihm existierte, in dem sich sein Wesen am besten aussprach. Was sie aber mehr als alles andere interessierte und beschäftigte, das waren die italienischen Angelegenheiten, eine natürliche Folge des Umgangs mit dem von der ganzen Familie so hoch geliebten und verehrten Freund. Sie hatte mich vom Anfang unsrer Bekanntschaft an sehr angezogen, und ich freute mich, als ich öfter Gelegenheit hatte, sie zu sehen und manchen gemütlichen Abend bei ihr zuzubringen. Bei ihr machte ich auch die Bekanntschaft von Jessie White, jenem energischen, mutigen, geistvollen Mädchen, die sich später einen Namen in der Geschichte des italienischen Befreiungskrieges durch Garibaldi machte und schließlich durch Heirat mit einem Italiener Italien zur Heimat erkor. Emilie Hawkes war es denn auch, die mich dort in Eastbourne am Strande erkannt und den andern genannt hatte. Ihre Schwester Karoline, eine sehr hübsche Frau, der ich bis dahin noch nicht näher getreten war, forderte mich auf, sie zu besuchen, und lud mich gleich, um jeden formellen Besuch überflüssig zu ma chen, für den folgenden Tag zum Essen ein. Sie war mir nicht so anziehend wie Emilie, und es tat mir fast leid, in meiner Einsamkeit gestört zu werden, doch konnte ich die Einladung nicht abschlagen und ging also hin. Auch bereute ich es nicht, denn die ganze Gesellschaft bestand aus den zwei Schwestern, Mazzini und mir. Ich hatte demnach volle Gelegenheit, den Mann kennen zu lernen, dessen Namen die Tyrannen zittern machte und den alle, die ihn näher kannten, schwärmerisch liebten und verehrten. Seine äußere Erscheinung rechtfertigte die Furcht nicht, die er seinen Feinden [83] einflößte. Er hatte nichts von jenem kühnen, stolzen Typus des Condottiere, den Orsini besaß. Die Haltung seiner feinen, magern, mittelgroßen Gestalt hatte etwas Bescheidenes, fast Gedrücktes, sein Kopf, mit den edlen, geistvollen Zügen und der gedankenvollen Stirn, war der eines Philosophen und Weisen. Nur aus den wunderbar schönen, dunklen Augen blitzte es zuweilen gewaltig auf und verriet die Flamme der Tat, die in seiner Seele brannte. Er sprach geläufig englisch, doch mit dem südlichen, singenden Akzent, der der unmelodischen Sprache etwas Anmutiges gab. Emilie Hawkes, die mich immer wegen des von ihr gehaßten Materialismus, zu dessen Anhängern sie mich zählte, halb im Scherz, halb im Ernst angriff, brachte das Gespräch gleich auf dieses Thema und bat Mazzini, mir seine Weltanschauung auseinander zu setzen. Dies tat er in der liebenswürdigsten Weise. Er geriet dabei in das Feuer dessen, der eine absolute Wahrheit auszusprechen meint und andere auch von dem unfehlbaren Dogma überzeugen möchte. Der Urgrund alles Seins war für ihn ein geistiges Prinzip, das er Gott nannte und aus dem die Ideen des Guten, Schönen, Wahren als eingeborne Ideen uns mitgegeben seien. Die Perfektibilität der Welt war sein Dogma, und die Arbeit daran war die Pflicht des Menschen und dessen Lebensaufgabe. Er verglich das Leben mit einer um einen hohen Berg herum laufenden Spirale; von jedem höheren erreichten Punkte aus ließ sich ein größerer Teil des zurückgelegten Wegs übersehen; erst auf dem Gipfel aber war das Ganze zu überschauen und wurde der volle Begriff von Grund, Zweck und Ziel des Daseins klar. Wenn man will, so war sein Standpunkt insofern noch ein katholischer, als ihm Glaube ohne Werke nichts war, und hätte er die Bibel übersetzen sollen, er hätte sicher gesagt: »Im Anfang war die Tat.«

Ich war damals theoretisch noch in der positivistischen Richtung befangen, die sich bei mir, vielleicht als Reaktion gegen den unbestimmten suchenden Idealismus meiner Jugend, besonders seit der Hochschule zu Hamburg und der [84] dort gemachten näheren Bekanntschaft mit den Naturwissenschaften Bahn gemacht hatte. Mein Empfinden zwar widersprach die ser Richtung eigentlich auf Schritt und Tritt, und ich ertappte mich hundertmal, aus der Welt der positiven Tatsachen heraus, auf dem Fluge ins Gebiet der metaphysischen Hypothese. Ich diskutierte eifrig mit Mazzini, und es wurde spät, ehe unser Kreis auseinander ging. Aber wir schieden mit dem mir abgenommenen und von mir freudig gegebenen Versprechen, uns oft wiederzusehen, auch später in London, wo zum Glück meine Wohnung nicht allzufern von der Karolinens lag, in deren Nähe auch Mazzini wohnte.

Große, bedeutende Menschen können nicht in unser Leben eintreten, ohne eine tiefe Spur darin zurückzulassen; ja es wäre sogar traurig, wenn es anders wäre. Es ist damit keineswegs gesagt, daß wir unsere Persönlichkeit aufgeben oder uns ihnen blindlings unterwerfen sollen. Aber wie die Pflanze an den Strahlen der Sonne wächst und reift, so wird auch die eigene Persönlichkeit wachsen und reifen, indem sie sich an der größeren mißt und von ihrem Lichte so viel als möglich aufnimmt. Wenn Mazzini auch eine von der Herzens völlig verschiedene Natur war, so fühlte ich doch, wie ich es damals bei Herzens Bekanntschaft gefühlt hatte, daß der Durchgang dieses Gestirns durch mein Leben mich zwar nicht aus meiner Bahn bringen, wohl aber eine tiefe Anziehungskraft auf diese ausüben würde.

Ich kehrte kurz nach jenem ersten, schönen Zusammentreffen nach London zurück, da es nottat, daß ich mich wieder an die Geld bringende Arbeit begab. Bei Herzen machte ich Besuch und fand ihn im Begriff, nach Manchester zu gehen, wo eine Gemäldeausstellung alter und moderner Bilder stattfand, zu der aus allen Teilen Englands, aus öffentlichem und Privatbesitz, das Beste geliefert wurde, was dies reiche Land besitzt, das sich aus allen Ländern das Beste zusammenzutragen gewußt hat. Zu meiner großen Freude erhielt ich von Madame Schwabe, mit der ich immer in Verbindung geblieben war, eine Einladung, sie in Manchester zu [85] besuchen, um die Ausstellung zu sehen, und dann für einige Wochen mit ihr nach dem Norden von Wales auf ihr schönes Landgut zu gehen, wo ich schon im ersten Sommer meines englischen Aufenthalts eine so angenehme Zeit verlebt hatte. Noch ehe ich ging, kam Herzen zurück und schrieb mir vor meiner Abreise:


»Ich bin sehr zufrieden mit der Manchester-Ausstellung; der Reichtum des Vorhandenen, das Lokal, die Abwechslung ernster Musik mit den Bildern. – Alles das gibt eine tiefe Ruhe und einen großen Genuß. Der künstlerische Epikuräismus ist der einzige Hafen, das einzige Gebet, das wir haben, um auszuruhen. Murillo beherrscht alles. Beachten Sie, außer der Madonna, eine Frau, die aus einem Kruge trinkt, und einen kleinen Knaben mit Schafen. Rembrandt, Van Dyck und Rubens sind sehr gut repräsentiert, Van Dyck besonders in großer Fülle. Ich habe mich Rubens etwas genähert, betrachten Sie besonders sein herrliches Bild der Königin Thamary.

Vergessen Sie nicht Ruysdael, Van Kuyp und die andern großen Landschaftsmaler der Niederländer zu studieren. Übergehn Sie Ihre alten Deutschen, ausgenommen das Porträt des Vaters von Albrecht Dürer.

Gehen Sie gar nicht in den Saal der modernen Malerei, oder wenigstens nur, um die Porträts von Reynolds zu sehen, z.B. Garrick und seine Frau.

Vergessen Sie auch nicht, eine kleine Geliebte anzusehen, die ich in der Ausstellung habe, keine Aristokratin vom Pinsel Raffaels oder Murillos, sondern eine Sigismonda von Furini.

Die russische Völkerwanderung setzt sich fort. Ein Gardekapitän ist ganz militärisch gekommen und sagte: ›Da ich in London war, hielt ich es für meine Pflicht, mich vorzustellen.‹ Sie können denken, daß ich gleich den Ton eines Generals annahm.

Alles hier grüßt Sie freundlichst.

P. S. Ich bitte sehr, übergehn Sie nicht die Porträts von Velasquez.« –


[86] Was mir die Reise noch erfreulicher machte, war der Umstand, daß Kinkel und Johanna, die auch zur Ausstellung wollten, mit mir fuhren. Der Weg wurde so in heiterster Weise zurückgelegt, und in Manchester trennten wir uns mit dem Versprechen, uns jeden Tag in der Ausstellung zu treffen. Im Hause von Madame Schwabe wurde ich wieder freundlichst empfangen. Sie war inzwischen Witwe geworden, aber ihr gastliches Haus vereinigte noch wie früher Gäste aus allen Ständen und Ländern, und zwischen diesen fanden sich stets einige hervorragende Persönlichkeiten, denen zu begegnen angenehm war. Die schöne Art der englischen Gastfreundschaft, dem Gaste, neben allem Komfort des häuslichen Lebens, die volle Freiheit zu geben, seine Zeit anzuwenden, wie es ihm gefällt, ließ auch mir den vollen Genuß der Ausstellung auf meine Art, und indem ich mich da jeden Morgen mit Kinkels zusammenfand und zum Teil mit ihnen die Kunstwerke besah, wurden es Stunden reiner künstlerischer Freude, die ein gemeinschaftliches Frühstück im Restaurant der Ausstellung auf das heiterste unterbrach.

Diese Ausstellung war einmal eine von jenen gelungenen Unternehmungen, bei denen nicht bloß der Gesichtspunkt der Massenanhäufungen herrschte, der jetzt in jedem Gebiet des Lebens das Charakteristische der Zeit ist. Ein wirklich ästhetischer Sinn hatte bei der Anordnung vorgewaltet. Es war eben nur die Kunst, nicht auch die Industrie, auf die es hier abgesehen war. Das Lokal, eigens dazu erbaut, war ebenso schön als zweckmäßig eingerichtet, um dem ungeheuren Übelstand gewöhnlicher Galerien so viel als möglich zu entgehen, wo sich alles, auch das Heterogenste, das Mittelmäßige und Schlechte, neben dem Besten bunt durcheinander findet, eins dem andern schadet und der unbedeutende Nachbar einem die Ruhe nimmt, das Große, das isoliert sein sollte, würdig zu genießen. Es war alles streng nach Schulen geschieden, und jeder der großen Meister hatte seinen Saal für sich, wo man mit ihm allein war und ihn in den verschiedenen Phasen seines Genius beobachten konnte. Hier [87] sah man erst, wie viel der Reichtum Englands den Ländern entführt hat, in denen die Kunst ihre Heimat hatte – leider zumeist der Privatreichtum, der also all das Kostbare in den Palästen und Landhäusern der Reichen verbirgt. Zu dieser Ausstellung hatten jedoch alle in liberalster Weise, was sie besaßen, zum allgemeinen Genuß gesandt. Wie schon Herzen mir geschrieben hatte, so war es Murillo, der aufs reichste vertreten war und dessen Bilder allein ein großes Gemach füllten. Ich lernte zum erstenmal die spanischen Maler wirklich kennen und war erstaunt über den tiefen nationalen Charakterzug, der durch sie und ihre Dichter geht. Neben einer wunderbaren Realistik, die uns gleichermaßen in Murillos Bettelknaben, in Velasquez' Fürsten und Granden, wie in Calderons und Lope de Vegas Gestalten mit lebenswarmer Wirklichkeit entgegentritt – überall glühende, fanatische Innerlichkeit, dämonische Ironie, zauberhafter, berauschender Duft der Poesie, der aber, wie der Giftbaum der Wilden, etwas Tödliches in sich hat. So steigert sich der Begriff der Ehre bis zum wahnsinnigen Dogma, so glüht die verzückte, zur Ekstase gesteigerte Andacht der Heiligen, so sprüht dämonisch aus den dunklen Feuerblicken Zurbaranscher Mönche die Leidenschaft der Askese. Man begreift es, wie in dem Lande solcher Künstler, solcher Dichter die Inquisition entstehen konnte und Feuer und Schwert die Waffen der Religion werden mußten.

Ich vergaß auch nicht die kleine Geliebte Herzens aufzusuchen, ein wunderbar liebliches Mädchenantlitz, dessen Ausdruck eine ganze Geschichte von Seelenschönheit, Güte und tragischen Schicksalen erzählte.

Kinkels verbrachten einen Abend im Hause von Madame Schwabe, wo Johannas Spiel alle Welt entzückte. Dann kehrten sie nach London zurück. Im Hause, wo ich weilte, war aber ein buntes Getreibe und so viel Geselligkeit, daß es mir zu viel war. Ich schrieb dies an Johanna, der ich eines Auftrags wegen schreiben mußte. Sie antwortete mir einige Tage darauf:


[88]
»Und hinter ihnen schloß im Nu
Des Glückes stille Pforte zu.«

»Uns ging es im Gemüte just wie Dir. Gleich hinter dem heitern, beruhigenden Kunstgenuß kam der wirre Strudel. Nach drei Stunden in London war es, als ob die Räder das Gehirn gefaßt hätten und es in tollem Schwunge umher trieben. Wie uns in den letzten Tagen die Menschen geplagt haben, das ist über alle Begriffe; man kann eben in London seines Lebens nicht froh werden, wenn man nicht die Haustüre dreifach verrammeln darf. Preise Dein Geschick, wenn Du für einige Zeit in einer fremden Familie ein Asyl gefunden hast. Ein abgeschlossener Kreis reißt doch nie so viele Stücke von unserer Individualität ab, als wenn die ganze Welt ihr Recht an uns geltend macht. Anfangs, so lange man in einem neuen Hause selber was Neues ist, mag vielleicht mehr von einem gefordert werden, aber da, wo viele neue Gestalten ab und zu strömen, solltest Du doch, glaube ich, endlich eine Abgrenzungslinie erobern können.

Hast du gelesen, daß wir eben um einen Tag vor dem großen accident die »Sheffield Line« passiert haben? Wären wir nun vorsehungswütig, so würden wir ein stolzes Gefühl haben, daß gerade wir Nixnütze gerettet wurden, indem minder Begnadigte daran mußten. So bleibt uns nichts als die Demut vor dem Zufall.

Hast Du die Intrigue in Stuttgart beachtet, wie sie die Kaiserin Eugenie blamiert haben? Was denkst Du davon? Solche dumme Späße werden zuweilen die Weltgeschichte.

Laß uns oft von Dir hören. Ich bin Dir hier zu allen Diensten bereit.

Leb' wohl, Du Liebe, Gütige!

Von ganzer Seele

Deine Johanna.«


In Wales angelangt, gestaltete sich das Leben angenehmer als in der geräuschvollen Geselligkeit in Manchester. Der [89] Herbst war schön und gestattete den Genuß der herrlichen Umgegend. Mehrere interessante Menschen waren bleibende Gäste des Hauses, andere kamen ab und zu. Unter den ersteren befand sich der Kunsthistoriker Professor Anton Springer mit seiner schönen Frau und drei engelhaften Kindern, deren Umgang mir für Geist und Gemüt gleiche Befriedigung gab. Dazu kam ein Freund Springers, ein junger Maler, namens Jaroslav Czermak, wie Springer Czeche von Geburt, eine selten liebenswürdige, schöne Natur. Zwischen ihm und mir legte gegenseitige Sympathie dort den Grund zu einer Freundschaft, die sich später fest und dauernd entwickeln sollte. Auch ein junger schwedischer Musiker, ein vertrauter Schüler Chopins, verweilte längere Zeit dort und erfreute uns durch sein geistvolles Spiel Chopinscher Kompositionen. Dann erschien, wenn auch nur flüchtig, eine Frau, deren Ruf seit kurzem ganz England füllte. Es war dies Mrs. Gaskell, die Verfasserin von »Mary Barton«, dem Romane, der mit so ergreifender Wahrheit die Leiden und Entbehrungen der arbeitenden Klassen in den Fabrikstädten schildert, daß selbst englische Staatsmänner, wie z.B. Richard Cobden, auf das tiefste von der Lesung desselben ergriffen worden waren. Mrs. Gaskell war die Frau eines Predigers in Manchester; obgleich hoch gebildet, hatte sie doch früher nicht daran gedacht, als Schriftstellerin hervorzutreten. Der grenzenlose Schmerz um den Verlust ihres einzigen Sohnes trieb sie für einige Monate in eine totale Zurückgezogenheit von der Welt. Als sie wieder daraus hervorging, hatte sie diesen trefflichen Roman geschrieben, in dem sie ihr eigenes Weh ausströmte in dem Weh der Tausende, die im Frondienst des Lebens ein so schweres Joch tragen, daß es die edelsten Naturen zerbricht oder zum Verbrechen treibt. Leider war meine Begegnung mit ihr zu kurz, um mir andres als einen schönen Eindruck edelster Weiblichkeit zu hinterlassen.

Die zwei Monate meines Aufenthalts in Wales hatten mich geistig und körperlich gestärkt. Ich nahm bis spät in [90] die Jahreszeit hinein Seebäder und war beinahe den ganzen Tag im Freien, in der erfrischenden Seeluft. Endlich mußte aber doch geschieden sein, und Madame Schwabe selbst brach auf. Sie, Springers, Czermak und ich fuhren zusammen nach London. Als wir in den großen Nordbahnhof einfuhren, in dem die unzähligen Gasflammen trüb und durch den Nebel schienen und das Gebrause der Weltstadt uns entgegentönte, sagte ich lachend zu meinen Gefährten: »Es ist ganz, als ob man in den Rachen eines Ungeheuers einführe – es ist ein abscheuliches Produkt der Zivilisation, und doch umstrickt es uns mit Basiliskenzauber und wir können's nicht entbehren.«

3. Kapitel. Mazzini
Drittes Kapitel
Mazzini

Unter den ersten Besuchen, die ich machte, waren die bei den Schwestern Emilie und Karoline. Ich wurde sehr freundlich aufgenommen, wurde mit Karolinens Mann bekannt gemacht und aufgefordert, mich an den Freitag Abenden, wo sie regelmäßig ihre Freunde bei sich sahen, einzufinden. Ich nahm das natürlich an und trat nun in diesen, mir bisher fremden Kreis ein. Ich sah Mazzini wieder, der alle seine Abende in diesem Hause verbrachte, und wurde von ihm in der herzlichsten Weise begrüßt. Bald wurde ich dort heimisch; es war da ein gemütlicher ungezwungener Ton, der nichts mehr von der englischen ungeselligen Steifheit an sich hatte. Ganz natürlich und ohne es zu wollen, beherrschte Mazzini diesen kleinen Kreis, wie es die Superiorität eines bedeutenden Menschen immer tun wird unter Menschen, die sie willig anerkennen und sich ihr freudig hingeben. Aber es war ein großer Unterschied zwischen dem natürlichen Herrschertum einer überlegenen Persönlichkeit und dem anspruchsvollen Auftreten Kossuths, wie ich es bei einer früheren Gelegenheit beschrieben habe. Im Gegenteil, niemand, der ihn nicht kannte, konnte ahnen, daß es der berühmte Agitator [91] war, wenn die Türe sich geräuschlos ein wenig öffnete und eine schmale, feine Männergestalt im einfachen schwarzen, meist bis oben zugeknöpften Überrock, fast schüchtern in das Zimmer glitt. Nur wenn er seinen gewöhnlichen Platz vor dem Kamin, fast immer stehend, einnahm, wenn, ganz von selbst, der Kreis sich um ihn bildete, er zu sprechen anfing und das dunkle Auge erglänzte, dann fühlte man, daß man sich in der Gegenwart eines ungewöhnlichen Menschen befinde. Wir hatten gleich viele bedeutende Diskussionen zusammen, nicht sowohl auf dem religiösen Gebiet, das er nie wieder so eingehend berührte wie jenes erstemal, aber nach verschiedenen Seiten hin. So hatte ich schon öfter von seiner entschiednen Opposition gegen den Sozialismus gehört, und daß er z.B. ein absoluter Gegner Louis Blancs sei. Ich brachte ihn auf dies Thema. Er erhitzte sich leicht im Sprechen gegen eine Theorie, die für ihn abgetan und in seinen Gedanken gerichtet war. Viele Menschen nannten ihn deshalb intolerant; so sagte mir Mrs. Carlyle einmal, sie fände, er sei so intolerant geworden – früher sei er nicht so gewesen. Ich verstand ihn bald besser und sah ein, daß seine scheinbare Heftigkeit nichts anderes war, als die Ungeduld eines in seinen Theorien fertigen Menschen, der keine Zeit mehr hat, das für ihn Abgetane zu wiederholen, weil es ihn drängt, für sein Ideal tätig zu sein. Bei einer solchen Diskussion sagte er mir einmal wörtlich: »Ich greife nur den sozialistischen Sektarianismus an, den Fourierismus, Ikarianismus usw.; alle diese Theorien, die als Prinzip der Regeneration ausschließlich die Befriedigung der Begierden, das materielle Interesse und ähnliches hinstellen. Ich habe schon zwanzigmal den Unterschied festgestellt, den ich stets zwischen der sozialen Idee, die auch ich habe, und den Lösungen der sozialistischen Sekten mache. Jedoch fällt es mir nicht ein, zu verlangen, daß man der Unabhängigkeit des Gedankens, in der Art, das soziale oder philosophische Problem zu betrachten, entsagen solle. Was ich möchte, wäre, daß wir alle uns vereinigen könnten auf dem Boden der Tat.[92] Eine gewisse Anzahl Wahrheiten sind schon für uns alle erobert; ich meine, wir sollten uns bemühen, diese praktisch darzustellen, indem wir uns im übrigen unsere Freiheit bewahren. Wir könnten den Weg, bis zu einem gewissen Punkt, zusammengehen und uns nachher trennen. Wir sollten uns verständigen, um gemeinsam gegen den gemeinsamen Feind zu arbeiten, indem wir uns unsere Unabhängigkeit vorbehielten für den organischen Teil, der folgen muß.« Er erzählte mir dann viel von seinem praktischen Sozialismus während der kurzen Zeit seines Triumvirats in Rom; wie er sogar dazu gekommen sei, dem Räuberunwesen beinah ein völliges Ende zu machen, indem er überall verkünden ließ, daß, wer entschlossen sei, ein ordentliches, arbeitsames Leben zu führen, eine bürgerliche Anstellung und ehrenhafte Beschäftigung finden werde. Er versicherte, daß sich eine Menge Leute eingefunden hätten, die aus Vagabunden ordentliche Leute geworden wären. Überhaupt waren seine Erzählungen aus jener Zeit äußerst anziehend. Ich glaube, daß sein praktischer Idealismus bei der tiefen Kenntnis, die er von seinem Volke hatte, dessen edelste Verkörperung er selbst war, etwas Dauerndes hätte schaffen können. Allein die Reaktion war noch zu stark, und leider verleitete ihn eben auch sein Idealismus, zu glauben, daß in Frankreich der Republikanismus eine Wahrheit geworden sei, wie es in ihm und in einer großen Anzahl seiner Römer war. Es war dies auch eine wunde Stelle, an die man nicht gern bei ihm rührte. Doch sagte er mir einmal: »Ich hielt es nicht für möglich, daß französische Republikaner die römische Republik stürzen wollen könnten, und so hielt ich Garibaldi von energischerer Verfolgung der Franzosen zurück.«

Als Neujahr herannahte, bat mich Mazzini, ihm eine illustrierte Ausgabe der Nibelungen zu besorgen, die er der Freundin Karoline als Neujahrsgabe schenken wolle. Ich fand beim deutschen Buchhändler nichts vorrätig als eine Ausgabe mit den Illustrationen von Schnorr, doch wurde mir versprochen, in acht Tagen noch eine andere, mir unbekannte [93] zur Auswahl zu bringen. Ich schrieb dies Mazzini, er antwortete mir:


»Ich werde die Woche warten. Ich habe die gebundene Ausgabe nicht eher nötig, als bis am Silvesterabend. Ich glaube aber, ich werde die gebundene Ausgabe von Schnorr nehmen. Wenn man aber die beiden sehen könnte, wäre es besser.

Ach ja, wir werden noch von dem ›armen heiligen Deutschland‹ sprechen, so viel Sie wollen. Nur hat Deutschland ein großes Unrecht, das Sie nicht auslöschen können. Nämlich: auch gar nichts von dem einfachen revolutionären Axiom zu verstehen, daß der Sieg nur die Folge der Konzentration aller möglichen Kräfte auf einen Punkt sein kann. Für Deutschland ist eine Initiative unmöglich, die Initiative ist aber möglich für Italien. Das sollte genügen, wenn die Frage in einem europäischen Sinn verstanden würde, damit das ganze patriotische Deutschland sich mit uns und für uns erklärte. Wir suchen die initiative Tat; wir werden sie suchen, bis sie gelungen ist. Ich bin der einzige, der es tut – warum der einzige?

Ich sammle jetzt Fonds unter uns, vermittelst Subskriptionen von 200 Franken. Glauben Sie, daß wir nur vierzig deutsche Unterschriften haben würden? Nein! Das ist das größte Argument, das ich gegen Deutschland habe. Diese Tatsache beweist, daß Deutschland den Gedanken haben kann, aber daß die Tat, die Inkarnation des Gedankens in die Handlung, ihm nicht eigen sind. Deshalb bleibt es hinter seinen Pflichten und seiner Mission zurück. Das ist alles, was ich gegen Deutschland zu sagen habe. Sie sollen mich bei der ersten Gelegenheit widerlegen, wenn Sie es können.

Ich bin geblieben, was ich war; jene sind nicht geblieben, was sie waren.

Ihr Freund J. Mazzini.«


Ich trat zu dieser Zeit einem Lesezirkel bei, den die Familien, die den engeren Kreis dort bildeten, unter Mazzinis [94] Leitung und Auswahl eingerichtet hatten. Es handelte sich natürlich nur um französische und englische Literatur, da die meisten Teilhaber des Zirkels nicht deutsch verstanden. Mazzini las es, sprach es auch ein wenig und hatte große Sympathie für deutsche Poesie und Philosophie trotz des Vorwurfs wegen Mangel an Tatkraft, den er den deutschen Revolutionären oft, wie in obigem Briefe, machte. Goethe, besonders den Faust, liebte er außerordentlich, und er sagte mir einmal, daß, wenn er nicht Italiener wäre, er am liebsten ein Deutscher sein wollte. Die Auswahl der Bücher war vortrefflich und brachte, außer den besten Revüen beider Sprachen, nur ernste Werke wie Tocqueville, Volabelle, Carlyle usw. – Mazzini hatte mir die Bücher zuzuschicken, da ich ihm zunächst auf der Linie in die Stadt wohnte, an deren äußerstem Ende er war. Dies gab mehreremal wöchentlich Veranlassung zu Sendungen, die mir von einem vertrauten Italiener überreicht wurden und die sehr häufig von einem Billet, das sich auf ein oder das andere Vorgefallene oder Besprochene bezog, begleitet wurden.

Auf diese Weise lernte ich auch durch kleine, aber höchst bedeutsame Züge die tiefe Güte und das unendliche Zartgefühl kennen, die die Grundzüge seines Charakters bildeten und die bei einem, der so viel in Verschwörungen und in Beziehungen lebte, die das Herz hart und fühllos machen, doppelt rührend waren. Wie sehr er, dem man vorwarf, daß er den politischen Mord predige, davor zurückscheute, irgend jemand zu verletzen, oder nur eine Mißstimmung zu veranlassen, zeigte mir, unter tausend anderen Beweisen, nachfolgendes Billet. Ich erhielt es am Morgen nach einem Zusammensein, wo er mich mit Hinneigung zu Kommunismus, Atheismus usw. geneckt hatte; es begleitete eine mir versprochene Schrift:


»Meine liebe Freundin!

Hier das Verlangte, obgleich ich glaube, daß Sie es nicht werden brauchen können.

[95]

Eine Benachrichtigung: Nehmen Sie niemals meine Scherze über T..., über Kommunismus, Atheismus nsw. im Ernst. Ich kenne Sie jetzt; ich schätze und achte Sie, wie Sie es verdienen. Es ist möglich, daß Sie sich intellektuell zuweilen verirren, wie ich, wie alle Welt es tut. Aber Sie haben zu viel Poesie in der Seele, um Atheistin, Kommunistin, Feuerbachianerin zu sein. Ich scherze zuweilen als ein Zeichen der Freundschaft, weil ich viel Bitterkeit auf dem Herzen habe und in ein absolutes Schweigen verfallen würde, wenn ich nicht scherzte. Verzeihen Sie mir und glauben Sie mich

Ihren Freund Joseph Mazzini.«


Unter den Italienern, die den Kreis bei Karolinen besuchten, und zu denen insbesondere Saffi und Quadrio gehörten, hatte ich immer zu meinem Erstaunen Felice Orsini vermißt, bis ich erfuhr, daß er mit Mazzini gespannt und völlig außer allem Verkehr sei. Ich hatte ihn seit jenem ersten Winter im Herzenschen Haus nicht wieder gesehen und hatte nur dann und wann gehört, daß er meist nicht in London sei, daß er Vorlesungen in mehreren Städten Englands halte usw. – Um so erschütternder wirkte nun die Nachricht des Attentats in der Rue Lepelletier in Paris, sein Mißlingen und die Gefangennahme Orsinis. Auch Mazzini war tief erschüttert. Er wußte, daß die Welt ihn der Mitverschworenschaft für schuldig erklären würde und daß es eine neue Veranlassung sein würde, Steine auf ihn zu werfen. Aber das war es gewiß nicht, was sein edles Herz am meisten bewegte. Ihn schmerzte das unabweisbare Schicksal, das Orsini drohte, trotzdem er nicht mit ihm übereinstimmte. Es ist sicher, daß Mazzini nicht den Charakter des politischen Verschwörers à tout prix hatte, sondern daß ihm das Mittel der Konspiration ein durch die Umstände aufgedrungenes, seiner tiefhumanen Natur widerstrebendes war, das er nur ergriff, um der Erreichung eines ihm vorschwebenden höheren Zieles willen. Mit tiefem, [96] angstvollem Anteil verfolgte man den Gang des Prozesses. Man hoffte immer noch, daß Napoleon möglicherweise das Leben Orsinis schonen würde. Man war hingerissen von Bewunderung über die Haltung Orsinis, der, seinem Charakter treu, nicht einen Augenblick seinen Mut, seine stolze Standhaftigkeit verlor.

Die Aufregung in England war furchtbar. Die anmaßende Sprache, die offenbaren Drohungen, die von jenseits des Kanals, besonders von seiten der französischen Militärs herübertönten, reizten die nationale Empfindlichkeit auf den höchsten Grad. Die kecke Forderung: das stolze Vorrecht britischer Freiheit, das Asylrecht auf diesem meerumgürteten Boden aufzugeben, empörte den sonst so ruhigen Insulaner. Mit gerechtem Selbstgefühl sah er aus der vornehmen Sicherheit seiner Institutionen, die jede Meinung gewähren lassen, wenn sie nicht tatsächlich gegen das Gesetz verstößt, hinüber auf die fieberhafte, von Eitelkeit gespornte Unruhe derer, die sich an der geheimen Wunde ihrer Ehre getroffen fühlten und, wie das zu gehn pflegt, desto mehr schrieen, um die Schmach, Sklaven zu sein, zu verdecken. Daß jeder Brite (bis auf einen, Lord Palmerston nämlich, der wieder einmal Minister war und wie immer über den Kanal hinüber liebäugelte) entschlossen war, bis zum äußersten in der Verteidigung der nationalen Freiheiten zu gehen, bewies der kriegerische Eifer, der sich der sonst so friedliebenden Nation bemächtigte. Sogar Frauen fingen an, Schießübungen zu machen, und es war ganz ernstlich die Rede davon, daß sich ein weibliches Bataillon bei einer etwa nötig werdenden Küstenverteidigung bilden würde. Die Emigration war natürlich in keiner geringeren Aufregung, denn es handelte sich für sie um Sein und Nichtsein.

Nun kam der Monat März. Ich war an einem Abend mit Friedrich und Charlotte zusammen bei dem jüngeren Bruder Friedrichs, der sich als Arzt etabliert hatte und uns ein kleines Einweihungsfest seiner neuen Wohnung gab. Wir waren ganz fröhlich, als plötzlich in der Straße Ausrufer sich [97] hören ließen, die, wie in London üblich, besonders gedruckte Zettel ausbieten, wenn der Telegraph abends noch ein wichtiges Ereignis verkündet hat. Wir hörten nur den Namen: Orsini. Einer der Herren stürzte hinaus und brachte das Blatt herein, dessen Inhalt uns alle mit Schaudern füllte: an dem Tage war, in der Morgenfrühe, das Haupt Orsinis, dieses schöne, stolze Haupt, auf der Guillotine vor la Roquette gefallen.

Zu sagen, wie mich diese Nachricht ergriff, wäre unmöglich. Zum zweitenmal erlebte ich es, daß ein Mensch, der durch viele bedeutende Eigenschaften ein warmes, menschliches Interesse einzuflößen berechtigt war, den gewaltsamen Tod des Verbrechers starb. Wenn der natürliche Tod von Menschen, die uns nahe standen, die Wunde schlägt, die weder der religiöse Glaube, noch die philosophische Resignation zu bannen oder zu heilen vermögen, so haben wir darüber doch nur mit jenem Fatum zu rechten, das mit eiserner Hand seine unwiderruflichen Dekrete über unseren Häuptern vollzieht. In solchen Fällen aber, die, scheinbar wenigstens, in das Bereich der menschlichen Willkür fallen, wo das Fatum nur in Gestalt der dunklen Mächte erscheint, die im Innern des Menschen das tragische Schicksal vorbereiten, das sich im Zusammenstoß mit den äußeren Verhältnissen erfüllt – da empört sich das Herz gegen das Verhängnis, da möchte man eingreifen und retten. Ich hatte keine Zeit, in den ersten Tagen nach dem Ereignis zu Kinkels zu gehen, hatte aber an Johanna Geschäftliches zu schreiben und schrieb ihr dabei auch über meine Empfindungen bei Orsinis Tod. Sie antwortete mir auf das Geschäftliche und fügte hinzu:

»Auch ich bin tief erschüttert von Orsinis Schicksal, und Tag und Nacht kommt dieser große Mensch mir nicht aus den Gedanken. Möge er ewig im Liede der freien Seelen fortleben.«

Die Aufregung in England wuchs indes fort. Englische Untertanen, der Mitwissenschaft verdächtigt, wurden im Ausland gefangen genommen, so unter anderen in Genua [98] Miß Jessie White und Mr. Hodge, ein intimer Freund Orsinis, dem er die Sorge für eine seiner Töchter in seinem merkwürdigen Testament übertragen hatte. Beide wurden zwar aus Mangel an Beweisen freigegeben, doch war es Öl in das Feuer englischer Entrüstung. Die unverschämte Sprache und die Drohungen der französischen Presse dauerten fort. Nun kam die Gefangennahme des Franzosen Bernard, von französischer Seite der unmittelbaren Mitwissenschaft an dem Orsinischen Komplott angeklagt. Die Aufregung war zum höchsten Gipfel gestiegen, als die Verhandlungen des Prozesses herannahten. Alles drängte nach Old Baily, dem alten Gerichtshof in der City, der schon so manches tränenvolle Ereignis hat verhandeln sehen, schon so manches »Schuldig« sprechen hören.

Ich war fest entschlossen, es koste was es wolle, den Verhandlungen beizuwohnen. Am Morgen, wo sie ihren Anfang nehmen sollten, begab ich mich früh um acht Uhr in die City, in den alten düsteren Gerichtshof, und fragte einen der am Eingang befindlichen Gerichtsdiener, ob und wie ich hinein könne. Zuerst wollte er von nichts hören, sagte, es sei kein Platz für Frauen usw. Dann, als ich ihm meine Karte gab mit dem Bescheid, er solle sie in den Gerichtssaal Herrn Ashurst, einem der geachtetsten Advokaten, bringen, der würde mir schon einen Platz verschaffen, da wurde er etwas nachgiebiger und meinte, oben auf der Zuschauergalerie sei die letzte Bank für Damen frei. Ich ließ mich hinführen; es war ein schlechter Platz, von dem man weder den Angeklagten sehn noch gut hören konnte. Ich ließ daher nicht nach, bis er mir einen Platz in den vordersten Reihen eingeräumt hatte, wo ich gerade auf die Bank der Angeklagten hinunter sah und den ganzen Gerichtshof vollständig überschaute.

Es war das erstemal, daß ich einen solchen sah, und ich konnte mich eines Lächelns nicht enthalten über die Allongeperücken der Richter und das altväterliche Kostüm, obwohl ich mir gestehen mußte, daß es einen gewissen feierlichen Eindruck machte und dem ganzen Anblick eine Art [99] von Würde gab. Bald aber wurde mein ganzes Interesse in Anspruch genommen, als der bleiche Angeklagte auf seinem Platze erschien und das Zeugenverhör begann. Wenn etwas von vornherein geeignet gewesen wäre, unparteiische Richter für die Angeklagten einzunehmen, so wäre es das Erscheinen der französischen Zeugen gewesen, deren eine große Menge vorhanden waren. Sie trugen alle, ohne Ausnahme, den Stempel solcher Gemeinheit, solcher offenbaren Absichtlichkeit, daß man nicht verkennen konnte, wie sie gedungene Werkzeuge waren, und die Beschuldiger entschuldigten den Angeklagten mehr als alles andere. Besonders war ein Mann darunter, Roger mit Namen, der sich bei der Anklage sehr eifrig bewiesen hatte, den man offenkundig als besoldeten französischen Spion kannte. Dieser Mann hatte sich Haar und Bart dermaßen nach dem Vorbild des damaligen Oberhaupts von Frankreich gemodelt, daß sein Äußeres beinah eine vollständige Ähnlichkeit mit ihm erlangt hatte, wie denn dies überhaupt zu der Zeit in einer gewissen Schicht der französischen unteren Beamtenwelt Mode geworden war und einen überaus widerwärtigen Typus erzeugt hatte, der eine grausame Ironie auf das kaiserliche Frankreich war. Der offene Stempel der Niederträchtigkeit, den dieser Mann an der Stirn trug, wurde ein gewichtiges Argument in der Rede des Verteidigers Bernards, als die Verhandlungen beendigt waren und nach dem Anklagepunkte des Oberrichters, James, einer der geschicktesten Advokaten Londons, für Bernard das Wort ergriff. Mit klopfendem Herzen sah ich den Advokaten sich erheben. Sein Äußeres erinnerte an die Bilder von Mirabeau, und seine volltönende Stimme schallte laut und vernehmlich durch den ganzen Raum, in dem Geschworene und Publikum nun in atemloser Spannung lauschten. Die Rede war ein Meisterstück energischer Logik, beißenden Spottes und des stolzesten Patriotismus, der in der Sache seines Klienten zugleich die hohen Vorzüge englischer Freiheit und Unabhängigkeit verteidigte. Jenen Roger nannte er gar nicht anders als den Spion Roger, um mit dieser [100] Ironie zu zeigen, welcher Art die Leute waren, die man gegen Bernard ins Feld geschickt hatte. Der Lord Oberrichter rief ihn deshalb zur Ordnung. Darauf entschuldigte er sich, daß er den Spion Spion genannt habe, da er nicht gewußt habe, daß es nicht erlaubt sei, einen Spion Spion zu nennen, indem er so das verpönte Wort wohl zehnmal hintereinander wiederholte und erst recht aufmerksam darauf machte. Ganz besonders kam ihm das gereizte Nationalgefühl der Engländer zu Hilfe, an das er sich in glänzender Weise wandte, indem er sie aufforderte, das heilige Asylrecht zu schützen, das nur dem auf strafbarer Tat Ertappten entzogen werden könne, so daß alles bei Beendigung seiner Rede in einen kaum zu bewältigenden Beifallssturm losbrach. Die Geschwornen zogen sich zurück, und wenn auch bereits eine leise Hoffnung das Herz schwellte, so war es doch ein verhängnisschwerer Augenblick der Erwartung. Meine Blicke hingen an dem Angeklagten, der mit männlicher Ruhe und Fassung die für ihn so ernste Stunde erlebte. Endlich kehrten die Geschwornen zurück, und im Saal ward es still wie im Grab. Als aber der Obmann der Geschwornen vortrat und das »Nichtschuldig« aussprach, da brach im Saale selbst und draußen, wo der dichtgedrängten Menschenmenge, die Old Baily umlagerte, das Verdikt blitzschnell verkündet ward, ein solcher Jubel los, daß die festen Mauern erzitterten. Ganz unbekannte Menschen drückten mir die Hände zum Zeichen der Freude, und ein alter Mann sagte mir mit Tränen in den Augen: »Welch ein glorreicher Tag für England!« –

Mazzini hatte mich gebeten, am Abend nach Beendigung des Prozesses zu Karolinen zu kommen und ihnen Bericht zu erstatten. Natürlich wußten sie bereits den glücklichen Ausgang, als ich hinkam, denn die Nachricht hatte sich mit Blitzesschnelle durch das ungeheure London verbreitet und überall einen Ausbruch patriotischen Jubels veranlaßt. Ich mußte alles bis aufs kleinste erzählen, und obgleich Mazzini keine persönliche Sympathie für Bernard hatte, so freute er sich doch des Ausgangs von Herzen. Karolinens Mann – [101] Mr. Stanfield – sagte: »Nun gottlob! Nun sind wir auch Lord Palmerston los, denn der ist nun für immer unmöglich geworden.« In der Tat mußte er nach einem Monstre-Meeting im Hyde-Park, das eine Demonstration gegen ihn war, seinen Abschied nehmen. Aber Stanfields Hoffnung ging doch nicht in Erfüllung, denn ein Jahr darauf war er wieder Minister. Mazzini bat mich, ihm einen Bericht über die fünf Tage des Prozesses für sein italienisches Journal, »Dio e il Popolo«, zu schreiben. Schon früher hatte ich, auf seinen Wunsch, einen Artikel über deutsche Zustände für dasselbe Journal geschrieben, den er sehr gelobt hatte. Ich schrieb in französischer Sprache, da mir damals die italienische noch nicht geläufig war, und Mazzini sorgte für die Übersetzung. Als ich den verlangten Bericht fertig hatte, schickte ich ihn an Mazzini. Er schrieb mir darauf:


»Liebe Freundin!

Ich danke Ihnen von Grund des Herzens für Ihren Bericht, den ich selbst übersetzt und abgeschickt habe.

Wie konnten Sie denken, daß ich etwas an Ihrer Auffassung der Verteidigungsrede von James geändert hätte? Sie halten mich also für recht intolerant?

Was Sie getan haben, entbindet Sie aber durchaus nicht von der zweiten deutschen Korrespondenz. Wenn Sie die deutschen Journale lesen, suchen Sie sich auf einige Tatsachen für Ihre Reflexionen zu stützen. Sie wissen, was die Korrespondenzen der politischen Journale sind. Ich möchte, daß es von Zeit zu Zeit ein Gesamtüberblick über den politischen Gang der Ereignisse in Deutschland, von der Höhe eines philosophischen Gedankens aus, würde. Könnten Sie nicht auch eine Stunde einem Überblick über die gegenwärtige politische deutsche Presse und ihre Tendenzen, gegenüber Frankreich, England und Rußland widmen?

Verzeihung für alle diese Anforderungen, aber Sie sind gut und der Sache ergeben; ich brauche und mißbrauche das.

Ihr Freund und Bruder Joseph.«


[102] Dies war jedoch nicht die einzige Tätigkeit, zu der er mich anfeuerte. Was ihm besonders am Herzen lag, das war die Organisation der Partei, zunächst die jeder Nationalität und dann aller zusammen als der europäischen Partei der Tat. Er ging von der allerdings gewiß sehr richtigen Idee aus, daß die Partei des Ultramontanismus und Despotismus eben ihrer festen Organisation und ihrem Zusammenhalten ihre immer noch so große Macht verdankte. Er hatte es sich daher zur Lebensaufgabe gestellt, von der anderen Seite eine gleiche, fast militärische Organisation und Schlagfertigkeit zustande zu bringen. Dabei aber wollte er, daß ein jeder, indem er den Ideen des Fortschritts, der Freiheit und Vernunft diene, von dem Bewußtsein durchdrungen sei, daß er damit nur seine Menschenpflicht erfülle. Vor allem aber lagen ihm hierbei die Arbeiter am Herzen. Ebenso wie er unausgesetzt, auch aus der Ferne, die Arbeiter seiner Heimat beeinflußte, um ihnen höhere sittliche Ideen und den Geist der Gemeinsamkeit beizubringen (Ideen, die weit verschieden waren von dem törichten Kommunismus und den ausschweifenden Nivellierungsgelüsten der damals schon beginnenden Internationale, da sie die Pflicht aller gegen alle obenan stellten) – ebenso wünschte er auch, daß man in andern Ländern ein Gleiches tue. Er fragte mich fortwährend, was in dieser Beziehung in Deutschland geschähe, und da die Zeit der großen Reaktion damals im Vaterland wenig hoffen ließ, so forderte er mich auf, zu versuchen, ob sich die vielen deutschen Arbeiter in London nicht zu einer Gesellschaft vereinigen ließen, in der man, statt der vielfältigen unklaren, halben Theorien, eine wahre, gesunde Anschauung von Bürgerpflicht und Gemeinwesen entwickeln könnte. Ich kannte einige der deutschen Arbeiter, unter denen denkende, tüchtige Menschen waren, und versprach Mazzini, einen Versuch zu machen. Als ich mit ihnen über die Sache sprach, fand ich sie alle bereit und der Idee geneigt. Dies schrieb ich an Mazzini und teilte ihm zugleich mit, daß ich für einige Wochen an das Meer gehen würde, weil ich traurig sei, um [103] alles persönlichen und öffentlichen Leids willen, und mich in Einsamkeit und Naturschöne trösten müsse. Er antwortete:


»Sie sind traurig; ich bin auch traurig. Sie gehen an das Meer; ich möchte auch hingehen, aber ich kann nicht. Meine Arbeit ist die des Handwerkers, der nicht von der Maschine fort kann. Ich verdorre dabei, aber es muß sein. Hier schicke ich Ihnen einige Zeilen für Kossuth. Sie müssen seine Wohnung in Ventnor suchen. Jedermann wird sie Ihnen zeigen können; ich nenne Sie im Anfang des Briefes als meine Freundin.

Warum denken Sie, daß ich nicht zufrieden sei? Ich bin vollkommen zufrieden mit allem, was Sie tun, mit allem, was Sie zu tun suchen. Ich halte Ihre Arbeit mit den Arbeitern für sehr wichtig. Wenn Sie mir sagen werden, daß Sie ein wenig Grund gewonnen haben und Sie es für gut halten, daß ich mich an sie wende, so werde ich es tun.

Adieu meine Freundin! Zweifeln Sie nie an meiner Achtung und Zuneigung, sie sind Ihnen sicher. Seien Sie stark und tapfer. Die endliche Krisis bereitet sich doch trotz allem.

Ihr Bruder

Joseph.«


In Ventnor traf ich Pulszkys, die lieben Freunde, mit denen ich immerfort in Verkehr war, die ich aber in London der ungeheuren Entfernung wegen, in der wir voneinander lebten, selten sah. Ich gab meinen Brief bei Kossuths ab und fing an, mich in der geliebten Meeresluft wieder etwas zu erholen. Wie sehr wünschte ich nun auch dem geplagten, verehrten Freund diese Erholung. Ich schrieb ihm und forderte ihn auf, zu kommen und sich einmal eine kurze Frist zu gönnen. Er ließ mich ziemlich lange auf Antwort warten; endlich schrieb er:


»Liebe Freundin!

Ich hätte Ihnen früher antworten sollen, aber ich war mit Arbeit überhäuft und auch ein wenig schlechter Laune. Nein, ich komme nicht auf die Insel. Es ist unmöglich, und [104] es ist unnütz, darüber zu sprechen. Ich habe wohl Lust, mich irgendwo an das Meer hinzuflüchten, aber wenn ich es tue, geschieht es später und nicht auf der Insel Wight. Sie ist zu schön für mich. Wahrscheinlicher aber ist es, daß es bei der Lust bleibt, und daß ich nirgends hingehe. Wozu auch? Im Vergleich mit dem, was in mir vorgeht, bin ich noch gut genug, wo ich bin; traurig und finster, macht mich die schönste Landschaft wie die schönste Musik noch tausendmal finsterer. Wenn ich in dieser Stimmung bin, gibt mir alles Schöne einen wahren Krampf der Verzweiflung und ein Gefühl von Ermattung, das nicht gut ist.

Ich schicke Ihnen diese Zeilen durch eine teure und liebenswürdige Botin. Ich freue mich, daß sie zu Ihnen geht. Wenn sie ihr Kopfweh dort verliert, wenn Sie zusammen der Luft des Meeres, der Landschaft sich freuen, so ist das genug, damit ich der Insel Wight innig dankbar bleibe.

Sie haben ›Glauben und Zukunft‹ gelesen. Ist es nicht ein wenig mehr deutsch, als Sie geglaubt hätten?

Unsere Organisation in Italien geht vorwärts. Es wird doch noch wieder dort sein, glauben Sie mir, wo die Initiative unserer Sache ergriffen werden wird. Die Geldfrage ist immer die größte Schwierigkeit, aber ich verzweifle nicht, sie zu überwinden.

Adieu! Arbeiten Sie und denken Sie zuweilen an Ihren Freund

Joseph.«


Die Botin, die mir diesen Brief brachte, war niemand anders als Karoline, die eine der beiden Mazzini so innig befreundeten Schwestern, in deren Haus ich zwar nun schon viel aus- und eingegangen war, die mir bisher aber noch nie so nah getreten, noch nie so liebenswert erschienen war, wie ihre Schwester Emilie. In Ventnor bildete sich in der Ungeniertheit des Landlebens rasch ein intimerer Verkehr aus, und ich wurde überrascht von manchen Seiten dieser anmutigen Natur, die mir bisher entgangen waren, da im [105] geselligen Verkehr ihres Hauses meine größte Aufmerksamkeit Mazzini zugewendet gewesen war. Ihre liebenswürdige Heiterkeit gab dem ungezwungenen Zusammensein des Landlebens einen großen Reiz und entzückte mich wahrhaft. Ich teilte Mazzini diese Empfindung mit, als ich ihm, besorgt wegen längeren Schweigens seinerseits und wegen eines neuen, von ihm herauszugebenden Journals, dessen erste Nummer ich nicht zur bestimmten Zeit erhalten hatte, schrieb.

Er antwortete: »Ich erhalte Ihren besorgten Brief. Sie haben recht, aber seien Sie nie argwöhnisch mit mir. Ich wechsle nicht, ich bin nicht launisch in meiner Zuneigung, und nichts mißfällt mir, wenn ich einmal Vertrauen in die Zuneigung anderer habe. Ich habe aber Zeiten, in denen es mir schwer wird zu schreiben, ausgenommen Geschäftliches: das ist, wenn ich traurig bin; ich mag nicht heucheln, wenn ich schreibe, und ich mag auch die andern nicht betrüben. Nun war ich eben traurig. Jetzt bin ich besser und ich bedaure mein Schweigen sehr.

In einer der ersten Nummern des Journals werde ich eine allgemeine Aufforderung machen hinsichtlich der Organisation der Partei.

Vergessen Sie nicht, mir einige deutsche Verleger oder sonstige Deutsche anzugeben, denen ich, wenn Sie glauben, daß sie es erhalten, ein Exemplar meiner ersten Nummer zuschicken könnte. Ich möchte, daß das Journal in Deutschland bekannt würde; es könnte ja auch sein, daß uns einige Abonnements von da zukämen. Wir brauchen sechshundert, um die Kosten zu decken. Die Empfänger riskieren nichts. Es ist natürlich, daß wir suchen, das Journal bekannt zu machen, und die einfache Zusendung hat nicht die Gefahren eines Briefes, der zeigen würde, daß man liiert ist.

Ich habe Ihren Brief über deutsche Verhältnisse abgeschickt. Er ist sehr interessant. Sie sind entzückt von Karoline; ich glaube es wohl, und es freut mich innigst. Sie hat sicher sehr viel Intelligenz und ein großes Teil geraden Sinns – eine Eigenschaft, die noch seltener ist als die Intelligenz. Ihr [106] Herz ist gut; sie offenbart sich nicht leicht, aber sie ist wie das Meer: sie hat Perlen im Grund.

Ich werde an Kinkel schreiben, wie Sie mir geraten, wegen eines Beitrags zum Journal, aber ohne Hoffnung auf Erfolg. Ich könnte wohl Ruge bitten, aber was zum Teufel würde er mir schreiben? Ich fürchte seine Exzentrizität und seine Rachsucht gegen die Individuen. Was denken Sie davon? Würde er in solcher Weise schreiben, um nützlich zu sein? Sie können wohl denken, daß man es nicht abschlägt, einen Artikel von Ruge einzurücken, ohne sich einen Feind aus ihm zu machen.

Es sind uns sechzig italienische Abonnenten aus Alexandria in Ägypten zugekommen. Man schreibt mir von allen Seiten; es wäre wohl etwas zu tun zur Einigung der Partei, aber wirklich, ich kann nicht alles tun. Ich habe mich heute nicht vom Schreibtisch gerührt, ich habe den ganzen Tag geschrieben und ich habe nicht die Hälfte von dem getan, was ich tun sollte.

Adieu! Ihr Bruder

Joseph.«


Gleich in den ersten Tagen in Ventnor begegnete ich einem Landsmann, auch Flüchtling, den ich bisher nur einmal, ganz am Anfang meines Aufenthalts in London, dann nie wieder gesehen hatte, obgleich wir mehrere gemeinschaftliche Bekannte hatten. Dies war Lothar Bucher, der charaktervollste der preußischen Abgeordneten vom Jahre 48. Wenn man in der riesigen Weltstadt jahrelang leben konnte, ohne sich zu treffen, so war dies anders im kleinen Ventnor, wo der Strand alle zusammen führte, die sich dort aufhielten. Wir wurden miteinander bekannt, und ich lernte mit Freude und Interesse den feinen, klugen, tief unterrichteten Mann kennen, wenn ich auch anfänglich ein wenig Furcht vor seinem scharfen kritischen Verstand hatte, dem alles Phantastische, auf Intuition Gegründete, nicht auf positiven Tatsachen Beruhende ein Greuel war. Er gesellte sich Karolinen und mir [107] häufig zu. Wir verbrachten manche heitere Stunde zusammen auf Spaziergängen und am Meer, besonders des Abends, wenn der Mond silbern über die gekräuselte Fläche schien und wir, am Ufer sitzend, oft bis spät in die Nacht hinein, bald ernst, bald heiter plauderten.

Ich schrieb an Mazzini über Bucher, daß ich ihn mehr für einen organisierenden Staatsmann, als für einen Revolutionär halte, daß aber gerade deshalb seine Mitwirkung beim neuen Journal sehr wünschenswert sei, und fragte, ob ich ihn nicht zur Mitarbeit auffordern sollte. Mazzini antwortete:


»Ja, ich kenne Bucher dem Namen nach und würde stolz sein, seine Hilfe zu haben. Er wird nach der ersten Nummer beurteilen können, ob er mir etwas schicken will. Ich möchte, daß das Journal die Frage der Nationalitäten vom Gesichtspunkt der zukünftigen Allianz und ihrer Notwendigkeit zum Siege aus behandelte. Die Organisation der Partei scheint mir gegenwärtig das zu lösende Problem für uns alle. An dem Tag, an dem wir alle organisiert sein werden wie eine Armee, an dem Tag, wo ein jeder, der jetzt vereinzelt, untätig bleibt, sein Kontingent an Geld, an Berichten, an Einfluß, an Reisen, an Propaganda der Ideen, hinzubringen wird, an dem Tage werden wir siegen. Es ist eine Schande, daß, wenn wir es können, wir es nicht tun. Das Journal kann dabei nützen, indem es die Ideen predigt und zeigt, daß wir eins sind.«

4. Kapitel. Resultate
Viertes Kapitel
Resultate

Die heiter angeregte Zeit verging. Zuerst schied Bucher, bald darauf Karoline, dann gingen Pulszkys, und ich blieb allein. So lieb mir die andern gewesen waren, so überkam mich doch eine große Freudigkeit, als ich allein war. Es regte sich in mir eine Lust des Schaffens, ein Bedürfnis der Konzentration und des Zusammenseins mit meinem eigentlichen [108] Selbst, wie ich sie lange nicht gefühlt. Ein Wort meines jüngsten Bruders, das er mir einst sagte, als ich noch sehr jung war: »Laß keine Zeit deines Lebens vorübergehen ohne ein Resultat!«, kam mir in den Sinn. Ich fühlte, daß wieder eine Zeit gekommen war, wo ich Rechnung mit der Vergangenheit abschließen, wo ich das Resultat des bisherigen Lebens mir klar machen mußte. Zum zweitenmal im Leben, nach dem großen Schiffbruch alles dessen, was dem Dasein Reiz und Wunsch auf unendliche Dauer verleiht, war ich aus dem Abgrund der Schmerzen und der Vernichtung erstanden und fühlte mich wieder ich selbst und voller Trost. Doch war ich nicht mehr jung, doch stand ich allein, mit schwankender Gesundheit, auf meine Arbeit angewiesen, doch waren die Illusionen des Da seins zerflossen, und ich hoffte nichts mehr, weder persönliches Glück, noch die volle Verwirklichung der Ideale in der Menschheit, wie ich sie geträumt hatte. Was war mir denn nun geblieben? Was gab mir diesen Trost und Frieden? Hatte ich das Rätsel der dunklen Sphynx, die Leben heißt, erraten? War mir der Schleier vom Angesicht der Wahrheit gefallen? Hatte der Positivismus mir die Befriedigung gegeben, die mir der Spiritualismus einst nicht hatte geben können? Entschieden tönte auf diese letzte Frage aus meiner Seele ein: Nein! Ich erkannte, daß auch diese von mir gehoffte Lösung des Lebensrätsels nur eine Durchgangsstufe gewesen sei.

Es wurde mir klar, daß das, was den Gelehrten bei der mühsamen Erforschung einer einzelnen Tatsache der Wissenschaft aufrecht hält, nicht die Tatsache selbst ist, sondern die Seligkeit, einer Idee zu dienen, Stein an Stein zu fügen zu dem Leuchtturm, der sein helles Licht weit hinauswerfen und den Schiffer führen soll auf der Fahrt über die dunkle Flut des Lebens. Ferner: daß das, was den Künstler bei der schwerfälligen Ausführung des geflügelten Schöpfergedankens nicht verzagen läßt, die Götterlust des Schaffens selbst ist, die aus dem vergänglichen Stoff ein Unsterbliches entstehen sieht. Endlich: daß das, was den Erbarmenden [109] bei der Tat der mitleidsvollen Liebe tröstet, nicht der geringe Erfolg der einen getrockneten Träne unter den Millionen Tränen ist, sondern die heilige Flut des Mitleids selbst, dem Erlösung vom Leiden eine innere Notwendigkeit ist. Kurz ich erkannte: daß das, was in allen, die wirklich leben und den Namen Mensch verdienen, wirkt und schafft, das »Wesen« ist, das über die unvollkommne Erscheinung hinausgeht, das sich als Geist ewig fühlt in allem Geistigen, das sich als Schaffendes ewig fühlt in aller Schöpferkraft, das sich als Erbarmen eins fühlt mit der gewaltigen Liebe, die von jeher das Leid des andern zu dem ihren macht. Konnte dies »Wesen« das unbewußte Atom sein, dessen Ewigkeit mich einst entzücht hatte und in dessen Metempsychose in Dichterstirn und Rose ich den wahren Schlüssel des Lebensrätsels gefunden zu haben meinte? Abermals rief es in mir: Nein! Aber wenn es nicht der Spiritualismus mit seinem Dualismus von Geist und Natur, wenn es nicht der Positivismus mit seiner einzigen Anerkennung der Materie und der greifbaren Tatsachen war – was war es denn, was übrig blieb, was der nach Wahrheit seufzenden Seele als ein tröstender Stern durch die Nacht des Lebens leuchten konnte? Die Intuition wies mich hin auf eine Einheit alles Seins in einem Unbekannten, unserer beschränkten Auffassung Entrückten, dem »Wesen an sich«, von dem die ganze Erscheinungswelt nur eine Manifestation sei. Je mehr ich dieser Hinweisung nachdachte, desto mehr entsprach sie meinem ganzen vernünftigen Denken, desto mehr klärten sich mir durch sie die Phänomene des Daseins auf. Jener mystische Zug nach dem Idealen, der durch die ganze Menschheit geht, der den Grundton aller Religionen bildet, der rohesten wie der veredelteren, er ist kein Erzeugnis der Zivilisation, er ist der Menschheit eingeboren – wie der Genius, wie Güte und Mitleid dem Individuum nicht anerzogen werden können, sondern ihm eingeboren sind. Kann die unbewußte Materie und deren zufällige chemische Kombination Ursache und Zeugerin dieser Fülle von Geist, Denken, Gefühl und Liebe[110] sein, die sich in der Menschheit bewegt? Abermals rief es in mir: Nein! Alle Erklärungen von Tätigkeit der Gehirnnerven, vom Kreislauf des Lebens, vom Urschlamm usw. erschienen mir nur als bloße Beiträge zur näheren Kenntnis der Mechanik dieser Erscheinungswelt, aber ebenso ungenügend, um den letzten Grund der Dinge zu erklären, als der willkürliche Schöpfer einer Schöpfung aus dem Nichts. Daß hier unser Verstand an seiner unübersteigbaren Grenze angelangt sei, wurde mir klar. Gehört er ja doch selbst auch in die Beschränkung der Erscheinung hinein; wie sollte das in die Endlichkeit Gebannte das Unendliche fassen, wie das an Zeit und Raum Gebundne das Zeit- und Raumlose sich vorstellen können? – Sehr wohl hörte ich gleich den Einwand, mit dem die Positivisten mir antworten würden: »Was geht uns auch das Unabweisbare an? Welchen Wert hat es für unsere Existenz, die nur von den Resultaten der auf Erfahrung begründeten Wissenschaft wahren Vorteil ziehen kann?« Aber hat es denn etwa keine Resultate für die Menschheit gehabt, daß, von weiter Vorzeit her, große Denker wunderbare Gedankenaxiome aufgestellt haben, zu denen ihnen kein Experiment die Basis geliefert hatte, die aber, wie Fixsterne, mit ihrem eignen Licht durch die Nacht der Zeiten leuchteten, als die Wissenschaft noch arm und dürftig umhersuchte und oft erst lange nachher, auf dem Wege der Empirie, mühsam die Bestätigung dessen fand, was jene Kühnen im heißen Kampfe des Gedankens mit sich selbst gefunden?

Blieb es spurlos im Leben der menschlichen Gesellschaft, als ein großes Herz, vom Elend des Daseins gerührt, von allumfassender Liebe erfüllt, eine neue, reinere Moral zur Erlösung predigend, selbst den Tod nicht scheute, um sein Werk des Erbarmens zu vollbringen?

Oder war es keine aufs höchste anzuschlagende Wirkung, wenn die Inspirationen des Genius in tausend Herzen wiederzitterten und ein Volk, wenn auch nur auf Stunden, aus der trüben Alltagsatmosphäre seiner Existenz heraus hoben?

Alle diese aber gingen nicht an der Hand der Erfahrung, [111] sondern schöpften aus dem Born der Intuition, die sie im reinen Denken, im allerbarmenden Gefühl, in himmlischer Begeisterung zum Schaffen führte.

Wenn wir also anerkennen müssen, daß unser Begreifen eine Grenze hat, daß kein Experiment uns an den letzten Grund der Dinge, an die Erkenntnis des »Wesens« führen wird, sollten wir deshalb verschmähen, was die Intuition, was der Genius uns gibt: jene heiligen Entzückungen, die nichts mit der Empirie zu tun haben?

Nein, im Gegenteil. Wir sollten uns ihnen viel tausendmal mehr hingeben, als wir es tun. Die Wissenschaft wird uns helfen, im Dienste der Intuition Vorurteile und Unwissenheit zu vernichten, den idealen Kern aus seiner Schale zu befreien und den Individuen wie den Völkern das neue Evangelium zuzurufen: ›Erlöset euch selbst!‹ – Ja, das ist es! Wir sollen uns selbst erlösen von dem Wahnbegriff, als sei dies Leben mit seinen Gütern etwas anderes als eine vorübergehende Erscheinung des ›Wesens‹. Der Buddhismus und das Christentum suchten bereits diesen Wahnbegriff zu zerstören, aber sie lehrten zugleich die Verachtung dieser Existenz des Scheins und trieben damit zur tatlosen Askese, oder, als Reaktion, zur unmäßigen Begierde nach dem Genuß. Die wahre Erlösung wäre aber die, es zu wissen, daß das Leben einen metaphysischen Zweck hat, zu dessen Erreichung es die höchste Kraftanstrengung fordert, nämlich: das Herausbilden des Ideals im einzelnen wie in der Menschheit. Dieses Ideal steigt in dämmernden ahnungsvollen Zeichen, wie ein fernes Nebelbild, in der Geschichte von Zeit zu Zeit auf. Es zieht wie eine brennende Frage, wie eine dunkle Qual, wie eine sehnsüchtige Liebe, wie der Drang, sich ›einem Höheren, Reineren, Unbekannten‹ hinzugeben, von Jugend auf durch das Herz des einzelnen. Es ist der Grund all der tiefsinnigen Mythen, mit denen die poesieerfüllte Kindheit unseres Geschlechts den von jeher existierenden Drang der Menschheit zu erklären strebte. Von der Verschuldung des Geborenseins zur Endlichkeit und Beschränkung, [112] und durch sie zum Irrtum und zur Sünde, müssen wir uns erlösen zu der Wiederherstellung des aus seiner Götterheimat vertriebenen Unsterblichen. Nur indem wir diesem Faden nachgehen in der Geschichte, hat ihr Studium für uns einen ethischen Wert; nur indem wir, durch die Naturforschung, demselben Trieb begegnen, von der unvollkommnen Erscheinung zu der vollkommeneren fortzuschreiten, hat die Lehre von der Vervollkommnung der Gattung eine tiefe Bedeutung für uns. Aus einer hinter unserem Erkennen liegenden, uns unbekannten Einheit herausgerissen in die Vereinzelung der Erscheinung, sind wir dem Schmerz und der Qual und der überall begrenzten Endlichkeit anheimgegeben. Ein tiefes Heimweh klagt in uns wie Sehnsucht nach einem verlornen Paradies, lockt uns mit Hoffnungstönen zu einem zukünftigen Glück. Wir suchen dies im Lande der Täuschung, im Bereiche des Wahns. Aber ach! aus jedes Bettlers hohlen Augen, aus jedem tränengefüllten Blick, von jedem Sterbebett schauert uns ein Protest des Elends, des Schmerzes und der Verwesung an. Das Herz, an das wir uns gebettet, erkaltet, und die Lippen, die uns Worte der Liebe geflüstert oder erhabene Weisheit verkündet, verstummen; die Menschheit, der wir wohltun wollten, zuckt die Achseln und kreuzigt oder verspottet uns. Sie tanzt noch heute um das goldene Kalb, wie sie es vor tausend Jahren getan; sie häuft die Schätze an, die Motten und Rost fressen, und nennt sich doch Jüngerin dessen, der schon vor so langer Zeit gesagt hat, daß etwas ganz anderes nottut. Sie bekennt eine Religion der Bruderliebe, und dabei wühlt das Schwert ohne Unterlaß im Herzen der Brüder, und die Erfindung neuer Mordwerkzeuge wird höher belohnt als die Werke des Genius. Ja, der Schmerz über das Unzulängliche der Erscheinung öffnet uns die Augen, und wir beginnen zu begreifen, ›daß alles Vergängliche nur ein Gleichnis‹ ist, nur vorübergehende Erscheinung der ewigen Einheit, von deren Seligkeit uns zuweilen in den höchsten Momenten des Lebens, in den Blitzen der Begeisterung eine ferne Ahnung[113] durchzuckt. Also Erlösung von dem dunklen Schmerz der Erscheinung, das ist die Aufgabe! Aber nicht etwa, indem wir willkürlich ihr ein Ziel setzen und die Schranke durchbrechen – damit wäre nichts gewonnen – sondern indem wir uns, wie Wieland der Schmied, selbst die Flügel schmieden, um uns in das Land der Geliebten unsrer Jugend, in das Land des Ideals zu erheben. Nach jeder Todesnacht der Schmerzen, nach jedem Golgatha, wo unser heiligstes Empfinden ans Kreuz geschlagen wurde, sollen wir auferstehen, immer verklärter, immer unsterblicher und heiliger, immer mehr die göttliche Idee in uns enthüllend. Das ist die Aufgabe der Individuen, der Völker, der Menschheit. Wer sie nicht erfüllt, wem das Endliche Selbstzweck und nicht bloß Mittel ist, der verharrt in der Qual des Daseins, an den Fluch des Suchens ohne Frieden, des Irrtums ohne Berichtigung, der Sünde endlich, gebunden, und nach der tiefsinnigen Mythe hochbegabter Völker muß er so lange wiedergeboren werden, bis ihm das Geheimnis der Erlösung aufgegangen ist. Wem es aber aufgegangen ist, der sehnt sich mit tiefem, endlosem Mitleid, alle mit hineinzuziehen, die noch in der Nacht des Scheins und des unseligen Irrtums wallen. Der möchte sein Leben hingeben, um sie zu erlösen – wenn einer es für alle tun könnte – wenn es nicht immer wieder heißen müßte: Erlöset euch selbst.

So schien mir denn das Rätsel des Lebens gelöst; mein dunkles Suchen hatte endlich den Stern schimmern sehn, in dessen Licht ihm Erfüllung werden sollte.

Ich war allein am Meeresufer, als mich all diese Gedanken befreiend und versöhnend umfluteten, und wieder, wie einst in fernen Tagen in den Alpen der Dauphiné, trieb es mich hier niederzuknien vor der unbegrenzten Flut, Sinnbild des Unendlichen.

Ich fühlte, daß ich betete, wie ich nie zuvor gebetet hatte, und erkannte nun, was das eigentliche Gebet ist: Einkehr aus der Vereinzelung der Individuation heraus in das Bewußtsein [114] der Einheit mit allem, was ist, niederknien als das Vergängliche und aufstehen als das Unvergängliche.

Erde, Himmel und Meer erklangen wie in einer großen weltumfassenden Harmonie. Mir war es, als umgäbe mich der Chor aller Großen, die je gelebt. Ich fühlte mich eins mit ihnen und es schien mir, als hörte ich ihren Gruß: »Auch du gehörst mit in die Zahl der Überwinder!«

5. Kapitel. Neue Verluste
Fünftes Kapitel
Neue Verluste

Die heiligen Entzückungen jener Momente, wo wir auf dem Sinai knien und die Offenbarung in Flammenzungen empfangen, sind, wie es sich von selbst versteht, nur voübergehend. Der irdische Nebel hüllt uns wieder ein, und der Weg durch die Wüste beginnt wieder mit seiner Mühe und Pein. Aber es bleibt doch eine tief ernste Freudigkeit im Grund der Seele, ein Bewußtsein des geheimen Bundes mit der Ewigkeit, über den das dunkle Leben keine Macht mehr hat. So fuhr auch ich endlich dem Weltgetriebe wieder zu, als die Arbeit mich durchaus nach London zurückrief; ruhig und gefaßt wieder die Last des Tages zu tragen, aber mit einem Kleinod tief verborgen im Bewußtsein, von dessen lichtem Schein ein Trost ausging, wenn ich den Blick nach innen wandte. – In London kehrte ich zunächst an die bestimmte Tagesarbeit: Übersetzung und Journalartikel, zurück. Einige Kritiken, die ich über russische, neu erschienene Bücher geschrieben hatte, zogen mir Aufträge zu Übersetzungen von seiten englischer Verleger zu; so unter anderen ein Buch vom Grafen Nicolai Tolstoy »Kindheit und Jugend« (Childhood and Youth), eins der liebenswürdigsten Bücher in Memoirenform, das man finden kann. Es hat den Reiz des einfachen Freimuts, mit dem alle die bedeutenden russischen Autoren sich selbst und die sie umgebenden Zustände schildern, dabei die feine Analyse der menschlichen Empfindungen, die ohne psychologische Abhandlungen, die den Gang der Handlung stören, aus der Situation selbst[115] hervorgeht und einen großen Zauber ausübt, weil sie den Leser gleichsam zum Mithandelnden, Mitempfindenden macht.

Komische Erfahrungen machte ich bei diesem Verkehr mit der englischen literarischen Welt. So schrieb ich unter anderem einmal wegen Beiträgen an eine der ersten Monatsschriften, die in Edinburgh herauskommt. Ich erhielt eine sehr höfliche Antwort, daß man gern bereit sei, Beiträge aufzunehmen, nur müsse man bevorworten, daß sie weder politischen noch religiösen, kritischen, historischen oder sozialen Inhaltes sein dürften, daß im übrigen aber alles willkommen sei. Da ich nun nicht recht wußte, was noch übrig sei, so enthielt ich mich der Beiträge an dieses charaktervolle Journal. Ferner sandte ich einmal das Manuskript eines von mir in englischer Sprache geschriebenen Romans an einen Verleger. Er sandte mir es zurück mit dem größten Lobe des Inhalts (den er sogar genial nannte), wie der Sprache, bedauerte aber sehr, es doch nicht drucken zu können, da es der herrschen den religiösen Ansicht nicht entspräche. Es ist nämlich eine sehr auffallende Erscheinung, daß fast alle, auch die vorzüglichsten englischen Romane, mit einem orthodoxen Glaubensbekenntnis endigen, selbst wenn der Anfang durchaus nicht auf eine solche Gesinnung von seiten des Verfassers hat schließen lassen. Es hat sich dies übrigens in neuester Zeit schon modifiziert und wird sich wohl immer mehr modifizieren, je mehr die Eisrinde der konventionellen Beschränktheit dem langsamen, aber sicheren Prozeß des englischen Fortschritts weicht. Damals aber war die Zeit noch nahe und zum Teil noch da, wo in der Mehrzahl englischer Familien Byrons und Shelleys Werke verpönt waren.

Dieser Winter war eine fruchtbare, arbeitsame Zeit für mich. Wenn am Tage die Arbeit geschafft wurde, die Geld brachte, so kam am Abend noch das Bedürfnis des eigenen Schaffens zu seinem Recht, und es entstanden mehrere Novellen und Aufsätze über verschiedene, namentlich Erziehungsfragen, die ich fast alle in englischer Sprache schrieb, aber ad acta legte, da ich nun wußte, in England würden sie [116] ihrer Tendenz wegen nicht gedruckt werden. Mit Deutschland aber war ich zu sehr außer aller Beziehung, um dort einen Versuch zu machen.

Ich war sehr viel mit Mrs. Bell zusammen, und uns beschäftigten vorzugsweise die Fragen über Ehe, Familie, Erziehung und alle Folgen, die sich für die menschliche Gesellschaft an diese wichtigen Stadien des menschlichen Lebens knüpfen. Wir studierten statistische Berichte und suchten uns die tatsächlichen Belege dafür auf, wie vollständig auch hier geistige Entwicklung und wahre Bildung die entscheidenden Faktoren sein würden, denn je tiefer die Volksschichten, je geringer der Grad geistiger Zeugung und Befriedigung und je größer die physische Produktion, mithin die Tatsache, daß in den ärmsten Volksklassen die Kinderzahl am größten ist. Wäre denn aber das nationalökonomische Prinzip, daß die große Zunahme der Bevölkerung der beste Reichtum eines Landes sei, unbedingt das richtigere? Ist die Übervölkerung, namentlich der rohen, ungebildeten Klassen, nicht vielmehr ein Hindernis der Kultur, eine Ursache des Proletarierelends und vielfacher Übel, ersichtlich schon daraus, daß überall, wo sie eintritt, Abfluß durch Auswanderung nötig wird? – Wir, Mrs. Bell und ich, kamen bei solchen Diskussionen zu dem Schluß, daß es ein unermeßlicher Vorteil sein würde, wenn durch gesteigerte Bildung und Befähigung zu geistiger Produktion dem brutalen Zeugungstriebe eine edle, natürliche Schranke angelegt würde, und wenn weniger, aber edlere, vollkommenere Exemplare der menschlichen Gattung produziert würden. Wir erinnerten uns der Sage, daß eine Königin des Orients, ein geistig und körperlich vollendetes Wesen, zu Alexander dem Großen kam, um mit ihm einen Sohn zu zeugen, ein Bild vollendeter Menschheit, und wir kamen überein, daß nur so eine edlere Menschheit entstehen könne, wenn die höchsten Typen sich zusammenfänden und dem menschlichen Wesen mit vollem Kunstbewußtsein, als einem wahren Kunstwerk, das Leben gäben. Die Griechen wußten es – denn was anders bedeuten ihre Mythen von [117] der Vermählung unsterblicher Götter mit irdischen Auserwählten? Sie wußten es, daß es einzig auf die Erzeugung des Heros, des vollendeten Menschen, ankommt, wie im Gestüte auf die Erzeugung der edlen Rassepferde, und nicht auf die Vermehrung der Herde. Mit Mrs. Bell hatte ich überhaupt einen regen geistigen Verkehr und besuchte öfter mit ihr Galerien und Ausstellungen, da ihr tiefer künstlerischer Sinn solches gemeinsame Schauen zu einem wahren Genuß machte.

Eine andere geistige Anregung kam in mein Leben durch die in Ventnor angeknüpfte Bekanntschaft mit Lothar Bucher, die sich in London fortsetzte. Er war so gütig, auf meinen Wunsch einzugehen und wöchentlich einmal einen Abend mir über Nationalökonomie teils Verschiedenes vorzulesen, teils mündlich zu erläutern. Ich fühlte es als einen großen Mangel, daß ich mir nie eine nähere Kenntnis der nationalökonomischen Grundsätze verschafft hatte, sondern, diese Lücke lassend, gleich zur Beschäftigung mit den sozialistischen Systemen übergegangen war. Diesem Mangel wollte ich gern abhelfen, und wie hätte ich es besser gekonnt, als unter der Leitung des tief gründlichen Mannes? Freilich gaben ihm mein obstinater Sozialismus und meine allzu idealistischen politischen Ideen manches Ärgernis. So machte es ihn z.B. einmal sehr böse, daß ich die Zwischenträger zwischen Produzierenden und Konsumierenden nicht als notwendige Faktoren des nationalökonomischen Prozesses anerkennen wollte und meinte, der Verkehr könne direkt zwischen jenen stattfinden. Ebenso hielt er es für eine unreife Ansicht, daß ich meinte, Deutschland solle die seiner Herrschaft beharrlich widerstrebenden ehemalig polnischen Landesteile zurückgeben; denn, sagte er, das größere Kulturelement habe das Recht, das geringere zu absorbieren. Bei alledem war er aber doch unermüdlich freundlich, hilfreich und geduldig mit meinem oft so mangelhaften Wissen, und erfreute mein Leben mit vielen liebenswürdigen Aufmerksamkeiten, die mich um so mehr rührten, als man, bei seinem abgeschlossenen [118] Wesen, dergleichen nie von ihm erwartete. Da wir weit auseinander wohnten, so wurde auch viel brieflich verhandelt, und es war mir eine wahre Wohltat, so viel von einem Menschen lernen zu können.

Bei Kinkels war ich gleich nach meiner Rückkehr aus Ventnor gewesen, hatte aber nur Johanna getroffen. Sie waren, zum erstenmal seit ihrem Aufenthalt in England, in den Sommerferien nicht aus der Stadt gewesen, sondern hatten sie dazu benutzt, eigene literarische Werke zu vollenden. Johanna hatte ihren Roman: »Hans Ibeles« beendet, worüber ich mich sehr freute, da die mir von ihr bekannten Schriften: Novellen, die in einem Band mit denen Kinkels veröffentlicht waren, und anderes Ungedruckte, was sie mir vorgelesen hatte, mir außerordentlich gefielen und es mich immer hatten bedauern lassen, daß sie nicht in größerem Maße zur Ausübung ihrer schriftstellerischen Begabung kam, die ihrer musikalischen gewiß gleich war. Sie erzählte mir, wie besonders schön und heiter diese Ferienzeit gewesen sei, und wie sie sich kaum, seit ihrer Brautzeit, einer glücklicheren Epoche erinnere. Sonderbarerweise aber trat mir neben diesen heiteren Mitteilungen, zum erstenmal gegen mich gewendet, jenes mißtrauische Element gegenüber, das das einzige war, das zuweilen die große, schöne Natur Johannas verdunkelte. Es handelt sich um einen Besuch, den ich, noch vor meiner Reise nach Ventnor, mit einer dritten Person im Hause gemacht hatte, nicht ohne sie vorher um Erlaubnis gefragt zu haben, ob ich diese Person einführen dürfe. Sie warf mir plötzlich vor, bei diesem Besuch eine Absicht gehabt zu haben, die, wenn sie wirklich vorhanden gewesen wäre, den vollständigen Verlust ihrer Freundschaft und absoluten Bruch mit ihr hätte nach sich ziehen müssen. Ich war so überrascht von diesem unerwarteten und unverdienten Angriff, daß mein Schmerz größer war als mein Unwille, und ich, als einzige Antwort, in Tränen ausbrach. Ich liebte Johanna so aufrichtig, bewunderte sie so ganz, nahm so innigen Anteil [119] an ihrem Glück, daß es mir wie ein Sakrilegium vorgekommen wäre, irgend etwas zu tun, was dieses Glück hätte trüben können, abgesehen davon, daß die einzige Absicht jenes Besuches gewesen war, der erwähnten dritten Person wohlzutun, indem ich ihr die Bekanntschaft Kinkels und Johannas und deren Schutz verschaffte. Meine Tränen entwaffneten Johannas Leidenschaft und beunruhigten sie. Sie bat mich, wegzugehen, ehe Kinkel nach Hause käme, da es ihm schrecklich sei, weinen zu sehen. Sie küßte mich und versicherte, daß nun, da sie sich ausgesprochen habe, wieder alles gut und wie sonst zwischen uns sei. So war es aber doch nicht in mir. Es fiel mir nicht ein, ihr zu zürnen, und ich vergab ihr, weil ich es verstand, wie dies hatte kommen können. Es war dies das Krankhafte in ihr, der ihrer Natur mitgegebene Mangel, der sich überall, auch in den edelsten Naturen, in einer oder der andern Form findet und, oft zu unserem eigenen Erstaunen, wenn wir ihn durch unsere Anstrengungen längst überwunden glauben, aus den Tiefen unseres Seins wieder auftaucht; ein Beweis, daß wir wesentlich, als ein Unveränderliches aus der geheimnisvollen Werkstatt der Natur hervorgehen. Vergab ich ihr auch völlig um dieses Verständnisses willen, so blieb doch ein schmerzlich verstimmter Ton in mir darüber, daß wieder einmal eine ganz reine Tat, noch dazu des Mitleids, so hatte verkannt werden können. Ich mußte ihm Zeit lassen, sich aufzulösen in jene stille Harmonie der Wehmut, die, je mehr wir das Leben verstehen lernen, je vernehmlicher in den Tiefen unserer Seele tönt; Wehmut darüber, daß auch das Schönste und Vollendetste, in die Grenze der Erscheinung gebannt, nicht fleckenlos bleiben kann. Ich ging nicht sobald wieder hin. Johanna schrieb mir, um alles wieder in das Gleichgewicht zu bringen. Ich antwortete nicht, weil die Wellen in mir noch zu hoch gingen und ich abwarten wollte, daß sie sich ganz beruhigt hätten. So kam mein Geburtstag und mit ihm folgender Brief von Johanna:


»Nimm unsere vereinten herzlichen Glückwünsche zu Deinem [120] Geburtstag. Ein kleines Geschenk, das ich Dir zugedacht hatte, wird morgen oder übermorgen bei Dir eintreffen. Du hast mir auf meinen letzten Brief nicht geantwortet. Ich will nicht fragen, ob in Deinem Gemüt eine Bitterkeit gegen uns zurückgeblieben ist; ich will Dir lieber sagen, daß mit dem Ergießen meiner Verstimmung im mündlichen Vorwurf jede Spur des Zorns verschwunden ist. Ich überlasse es der Zeit, ob meine innerste Herzensmeinung wieder klar vor Deinem Verstande stehen wird. Du hast einen zu großen und klaren Verstand, um nicht auch einen von dem Deinen abweichenden Standpunkt als berechtigt zu achten. Für mich sprechen oft wiederholte Erfahrungen, die ich Dir nicht detaillieren kann, ohne perfid gegen ehemalige Freunde zu sein. Ich möchte auch diejenigen, die mich unverzeihlich zu kränken suchten, nicht ohne Not denunzieren. Sogar um mich selbst zu verteidigen, will ich es nicht tun, denn meine bescheidne Wirksamkeit in der Familie hängt nicht von dem lächerlichen Ruf ab, den man mir draußen in der Welt anhängt. Es gibt freilich einen Namen, der mir teuer ist, und ich werde nicht dulden, daß man ihn mutwillig verunglimpft. Er selbst ist stolz genug, ohnmächtige Schmähung zu verachten, aber mir bricht der leiseste Schatten das Herz, den böse Menschen auf ihn bringen. Auf Wiedersehn! Sei herzlich geküßt von Deiner

Johanna.«


Dieser Brief rührte mich sehr. Ich kannte ihr Herz ja so genau, das so gut, so demütig, so liebend, trotz aller leidenschaftlichen Aufwallungen, war. Ich wußte ja, trotzdem sie mir in jener letzten Unterredung gesagt hatte: »Ich lebe nicht mehr für Menschen, ich lebe nur noch für Ideen,« wie eigentlich der Kern und Inhalt ihres Lebens doch nur die vergötternde Liebe für ihren Mann und ihre Kinder war. So antwortete ich ihr denn auch in herzlichster Weise und verhieß meinen baldigen Besuch. Dennoch gingen noch wieder Tage hin, ehe ich dazu kam, weil in London für beschäftigte [121] Menschen bei den weiten Entfernungen das »bald« ein unberechenbares Ding ist. Am 14. November kam Angelika von Lagerström mich zu besuchen und erzählte mir, daß sie tags zuvor bei Johanna gewesen sei und sie wieder an einem, fast alle Winter wiederkehrenden Anfall von Bronchitis krank und an ihr Schlafzimmer gefesselt gefunden habe. Doch sei sie heiter und guten Muts gewesen und habe, als ihr jüngster Sohn, ein schöner, blühender Knabe, eben in das Zimmer getreten sei, mit überwallender Liebe gesagt: »Wie soll man denn auch nicht guten Mutes sein, wenn man so ein Hermännchen hat!«

Es beunruhigte mich trotzdem, sie wieder krank zu wissen, da diese Bronchitis-Anfälle sie immer sehr angriffen, und ihre Gesundheit ohnehin eine schwankende war. Es hatte sich längst herausgestellt, daß sie an einer Herzkrankheit litt. Im Winter vorher war sie einmal in einer Gesellschaft, von einem Herzkrampf befallen, hingestürzt und wäre ihm vielleicht, ohne die zufällige Anwesenheit eines Arztes, damals erlegen. Ich beschloß also, jedenfalls den folgenden Tag zu ihr zu gehn und mich selbst von ihrem Befinden zu überzeugen. Aber auch an dem Tag ward es mir unmöglich gemacht; ich hatte vielleicht nur eine Stunde nachmittags frei, und das war zu wenig zu einem Besuch in dem weitab gelegenen Stadtteil, wo Kinkels wohnten und wohin der Weg allein mindestens eine halbe Stunde nahm. Ich richtete nun meine Arbeit so ein, um am folgenden Tag sicher ein paar Stunden frei zu haben. Am Morgen des sechzehnten November erhielt ich mit der frühsten Stadtpost einen Brief, dessen Adresse von Kinkels Hand geschrieben war. Ich erbrach ihn und las:


»Liebe Freundin!

Meine Frau ist tot, heute halb drei Uhr. Wenn ich nichts weiter hinzufüge, Sie verdenken mir's nicht.

Wollen Sie mir aus alter Freundschaft etwas helfen kommen – ich bin so hilflos wie ein Kind. Ihr

G. Kinkel.«


[122] Ein furchtbarer, unerträglicher Schmerz ergriff mich. So also mußte auch diese große, mir tief in das innerste Leben gewachsene Liebe endigen? So jäh abgerissen, so unvermittelt alles vorbei, noch ehe ich ihr die volle unverminderte Ergebenheit, die gänzliche Vergebung jener bitteren Stunde hatte zeigen können! Es war dies sicher von allen harten Schlägen meines Lebens einer der härtesten; er traf mich so unvorbereitet, so recht mitten in das Herz hinein.

Natürlich ließ ich Arbeit und alles und begab mich sofort zu Kinkel. Welch ein Wiedersehn war das! Ich erfuhr nun erst, daß der Tod ein gewaltsamer, durch den Sturz aus dem Fenster ihres Schlafzimmers in den Hof veranlaßter gewesen sei und daß, da sie im Augenblick des Sturzes allein im Zimmer gewesen war, der bittere Zweifel aufsteigen mußte, ob dieses Abreißen des Lebensfadens nicht ein freiwilliges gewesen sei. Dem tiefgebeugten Gatten mußte dieser Zweifel, trotzdem sein Herz eine andere Gewißheit hatte, die Last des Schmerzes noch schwerer machen. Dagegen sagte Johanna (die älteste Tochter, ein wahrhaft ideales Geschöpf, in der kindlichen Hülle eines vierzehnjährigen Mädchens schon eine große, heldenmütige, mit jedem edelsten Reiz geschmückte Seele tragend) mit ruhiger Gewißheit: »Nein, die Mutter hat uns nicht freiwillig verlassen.« Diese Gewißheit ward auch mir, als ich vor der Leiche der so tief geliebten Freundin stand und auf die festen, wie in Erz gegossenen Züge, über denen in feierlichem Schweigen das Geheimnis des Todes lag, blickte. War doch ihr letztes Bekenntnis an mich das des reinsten Glücks gewesen. Ihr Leben hatte, nach so schweren Kämpfen, ja gerade einen Höhepunkt erreicht. Ihre Stellung war jetzt so, daß die einstigen materiellen Sorgen sie nicht mehr drückten. Die Arbeit konnte so weit vermindert werden, daß sie nicht mehr Last, sondern Freude war. Es blieb Zeit zu eigenem freudigen Schaffen. Die Kinder wuchsen, gesund an Geist und Körper, zu immer schönerer Freude der Eltern heran. Kinkel stand in voller Kraft und erfolgreichem Wirken [123] nach vielen Seiten hin. – Was hätte das feurig liebende Herz Johannas bestimmen sollen, das dunkle Todeslos dem endlich so heiter gewordnen Dasein, dessen Licht und Liebe spendender Mitelpunkt sie selbst war, vorzuziehn? In vollster Überzeugung stimmte ich der lieblichen Tochter bei. Ich widmete mich den Verlassnen für die nächsten Tage ausschließlich und suchte ihnen über die traurigen Besorgungen wegzuhelfen, die, nicht als heilsame, sondern als qualvolle Zerstreuung, dem Schmerze bei einem Todesfall aufgebürdet werden. Die Art dieses Todes aber machte noch andere peinvolle Dinge nötig, die ich den Trauernden leider nicht erleichtern konnte, nämlich Obduktion und Totenschau vor der Jury. Die erstere ergab, daß das Herz sich zu dem Doppelten seiner natürlichen Größe ausgedehnt hatte. Es schien nun ganz erklärlich, daß ein eingetretner Herzkrampf die Verstorbene veranlaßt hatte, an das Fenster zu eilen, um frische Luft zu schöpfen, daß sie dabei das Gleichgewicht verloren hatte und hinausgestürzt war. Das Fenster war eines jener in England noch so häufig vorkommenden, die von unten in die Höhe geschoben werden. Dies erfordert meist eine ziemliche Anstrengung, da die Fenster schwer sind und bis zu einer gewissen Höhe geschoben werden müssen, um nicht wieder herunter auf den Kopf zu fallen. Die Brüstung des Fensters war nur zwei Fuß über dem Fußboden des Zimmers; bei einem raschen Hinausbiegen konnte der Oberkörper leicht das Übergewicht bekommen. Von diesem Fenster aber bis auf das Pflaster des kleinen Hofes, in den es hinaus schaute, waren es sechsundvierzig Fuß. Dazu war es einer jener trostlosen November-Nebeltage Londons, wo die Luft keine Luft ist und ein vom Krampf geänstigtes Wesen, um nur atmen zu können, leicht jede Berechnung, im Schwindel der Beängstigung, verlieren kann. Für uns stand die Sache fest. Aber noch blieb die peinliche Notwendigkeit der öffentlichen Prüfung und Bestätigung des Falles. Dieser Akt konnte erst am fünften Tage nach dem Tode stattfinden. Die nächsten Freunde versammelten sich [124] bei Kinkel, um ihn und die Kinder auf diesem schweren Gang zu begleiten, denn auch die Kinder mußten mit, und die edle Johanna war bereit, für die geliebte Mutter zu zeugen. Kinkel war, wie ich ihn immer in entscheidenden Augenblicken fand, mutig gefaßt, männlich besonnen und entschlossen, ja fast gehoben von dem Gedanken, noch etwas für sie tun zu können. Als wir uns auf den Weg zu dem nahe gelegenen Gerichtslokal des Stadtbezirks begaben, sagte er mir: »So nun wollen wir noch einmal für sie kämpfen.«

Er wurde als erster Zeuge vor die Geschworenen berufen. Nachdem er die einleitenden Fragen über Namen, Alter, Stand, Lebensverhältnisse beantwortet, gab er eine Schilderung seines häuslichen Lebens, der Schicksale, die seine Frau und er zusammen erlebt, der Liebe, die sie ihnen hatte tragen helfen. Er endete mit der Erzählung des letzten Gesprächs, das sie, eine Stunde vor ihrem Tod, zusammen gehabt hatten, in dem er ihr die Mitteilung angenehmer geschäftlicher Aussichten machte, und nach dem er sie in der heitersten Stimmung verließ, um sich zu einer Klasse zu begeben, die er im eignen Hause hielt, und aus der man ihn nach zehn Minuten abrief, um sie im Hof als Leiche aufzuheben.

Die Rede war so einfach, würdig, trug so ganz das Gepräge der lautersten Wahrheit, daß alle Zuhörer sichtlich davon bewegt waren. Als Kinkel nun sagte: er habe nichts weiter hinzuzufügen, draußen aber stehe seine junge Tochter, die auch bereit sei, ihr Zeugnis abzulegen, da erhob sich der Vorsitzende und wendete sich an die Geschworenen mit den Worten: »Ich denke, meine Herren, das, was wir eben gehört haben, reicht hin, um in uns allen eine und dieselbe Überzeugung hervorzurufen, und es ist überflüssig, noch andere Zeugen zu vernehmen.« Alle erhoben sich, stimmten bei und gaben das Verdikt: zufälliger Tod.

Ich bewunderte in tiefster Seele dies schöne, menschliche Verfahren. Es erschien mir als die einzig wahre Höhe der [125] menschlichen Justiz, wenn das moralische Feinfühlen so gestärkt wird, daß der sittliche Eindruck der entscheidende bleibt und, in einem ohnehin so peinlichen Fall, unnütze Pein erspart. Wir alle begleiteten Kinkel nach Haus und verbrachten eine fast frohe Stunde bei ihm, indem wir sein erhobnes Gefühl teilten, daß er für die Teure diesen letzten Sieg errungen hatte. Dann gingen die andern. Ich blieb noch, um mit ihm und den Kindern Abschied zu nehmen von dem, was vergänglich an ihr war, die fortan unvergänglich fortleben sollte in unseren Herzen. Ich hatte sie mit frischen Blumen geschmückt, und sie lag unter ihnen wie schlummernd, in erhabner Ruhe, die kunstvollen Hände, deren seelenvolles Spiel uns so oft begeistert hatte, über der Brust gekreuzt. Es war ein schönes Bild, das auch den kindlichen Seelen sich einprägen durfte zu heiliger Erinnerung. Ich drückte den letzten Kuß auf die kalte Stirn, wir löschten die Lichter aus und verließen schweigend das Zimmer.

Die Individuation des ewigen Lebensgeheimnisses in dieser einen Hülle war vorüber. Aber sie hatte ihr Ziel erreicht; sie war erlöst von der Knechtschaft des Daseins in die ewige Freiheit hinübergegangen, für die ihr großes Herz schon hier geschlagen hatte.

Am folgenden Morgen vereinigten wir uns zum Begräbnis und zwar auf einer Eisenbahn-Station. Kinkel hatte zur Begräbnisstätte nicht den Friedhof von Highgate, sondern den vierundzwanzig englische Meilen von London entfernten neuen Friedhof der Nekropolis erwählt, weil er nicht vor Menschenaltern von der Stadt erreicht werden kann. Man fährt mit der Bahn dahin. Ich fuhr mit Kinkel und den Kindern in einem Waggon. Die Herren, die sich zum Begräbnis eingefunden, Deutsche und Engländer, waren ebenfalls auf dem Zug. Kinkel teilte mir unterwegs seinen Vorsatz mit, am Grab zu sprechen. Ich sagte, mir wär' es auch so um das Herz, als müßte ich es tun. Er bat mich sehr darum, aber schon schwand mir der Mut, wie ich denn [126] von je eine unüberwindliche Schüchternheit gehabt hatte, in irgendeiner Weise öffentlich zu sprechen, und eigentlich nur im Zwiegespräch mich frei fühlte. In London war es kalt und neblig gewesen, draußen aber war es hell und warm. Am Eingang des Friedhofs ordnete sich der Zug. Der Ruheplatz für sie war schön gewählt. Die blauen Hügel von Hampshire sahen freundlich herüber und erinnerten an die rebenbekränzten Berge ihres Rheinlandes, das sie so geliebt hatte und das die Wiege ihrer schöpferischen Begabung in Musik und Dichtkunst gewesen war. Zuerst sprach ein englischer Freund, dann Kinkel selbst, Worte, wie nur ein Dichter sie der Heißgeliebten nachrufen kann in das Grab. Er sprach von ihrem hohen Mut, wie der Feind nie eine Träne in ihrem Auge gesehen, wie sie ihr Vaterland geliebt habe, wie sie fortlebe in ihren Liedern, und ihr Glaube und ihr Streben in ihren Kindern und in braven Herzen, in denen sie das heilige Feuer angefacht. –

Als er geendet, trat der edle Freiligrath hervor und legte einen Lorbeerzweig auf den Sarg, ich bestreute ihn mit Blumen, und dann sank er hinunter in das offene Grab. Die Sonne schien freundlich hinab, als wolle auch das Land, das sie gastlich aufgenommen und ihr eine zweite Heimat geworden war, sie noch zum Abschied grüßen und sie warm betten. Es hatte ihren hohen Wert erkannt und geehrt. Wir aber, die wir diese Gruft umstanden, fühlten, daß auch Deutschland hier etwas Seltenes verloren hatte. Ein leuchtendes Beispiel, daß auch das Weib eine unerschrockene Kämpferin für Wahrheit und Recht und unermüdlich tätig sein kann auf den höchsten Gebieten geistigen Schaffens, dabei aber nicht nur jede Pflicht des häuslichen Lebens als Gattin und Mutter in edelster Weise erfüllen, sondern sogar für den materiellen Unterhalt der Familie mitsorgen kann. Einige Tage nach der Beerdigung erhielt ich von Freiligrath das nachstehende schöne Gedicht, das er den Freunden der Verstorbenen als doppelt teure Erinnerung zusandte:


[127] Nach Johanna Kinkels Begräbnis

(20. November 1858.)


Zur Winterszeit in Engelland,
Versprengte Männer, haben
Wir schweigend in den fremden Sand
Die deutsche Frau begraben.
Der Rauhfrost hing am Heidekraut,
Doch sonnig lag die Stätte,
Und sanften Zugs hat ihr geblaut
Der Surrey-Hügel Kette.
Um Ginster und Wachholderstrauch
Schwang zirpend sich die Meise, –
Da wurde dunkel manches Aug',
Und mancher schluchzte leise;
Und leise zitterte die Hand
Des Freundes, die bewegte,
Die auf den Sarg das rote Band,
Den grünen Lorbeer legte.
Die mutig Leben sie gelehrt
Und mut'ge Liederweisen,
Am offnen Grabe stand verstört
Das Häuflein ihrer Waisen;
Und fest, ob auch wie quellend Blut
Der wunden Brust entrungen,
Ist über der verlaß'nen Brut
Des Vaters Wort erklungen.
So ruh' denn aus in Luft und Licht
Und laß uns das nicht klagen,
Daß Drachenfels und Ölberg nicht
Ob deinem Hügel ragen!
Daß er nicht glänzt im Morgentau,
Noch glüht im Abendscheine,
Wo durch Geländ und Wiesenau
Die Sieg entrollt zum Rheine!
Wir senken in die Gruft dich ein,
Wie einen Kampfgenossen;
Du liegst auf diesem fremden Rain,
Wie jäh vorm Feind erschossen;
Ein Schlachtfeld auch ist das Exil –
Auf dem bist du gefallen,
Im festen Aug' das eine Ziel,
Das eine mit uns allen!
[128]
Drum hier ist deine Ehrenstatt,
In Englands wilden Blüten;
Kein Grund, der besser Anrecht hat,
Im Sarge dich zu hüten!
Ruh' aus, wo dich der Tod gefällt!
Ruh' aus, wo du gestritten!
Für dich kein stolzer Leichenfeld,
Als hier im Land der Briten!
Die Luft, so dieses Kraut durchwühlt
Und diese Graseswellen,
Sie hat mit Miltons Haar gespielt,
Des Dichters und Rebellen:
Sie hat gewebt mit frischem Hauch
In Cromwells Schlachtstandarten;
Und dieses ist ein Boden auch,
Drauf seine Rosse scharrten!
Und auf von hier zum selben Bronn
Des goldnen Lichtes droben
Hat Sydney, jener Algernon
Sein brechend Aug' erhoben;
Und oft wohl an den Hügeln dort
Ihr Aug' ließ Rahel hangen. –
Sie, Russels Weib, wie du der Hort
Des Gatten, der gefangen!
Die sind's vor allen, diese vier,
Dies Land, es ist das ihre!
Und sie beim Scheiden stellen wir
Als Wacht an deine Türe!
Die deinem Leben stets den Halt
Gegeben und die Richtung, –
Hier stehn sie, wo dein Hügel wallt:
Freiheit, und Lieb', und Dichtung.
Fahrwohl! und daß an mut'gem Klang
Es deinem Grab nicht fehle,
So überschütt' es mit Gesang
Die frühste Lerchenkehle!
Und Meerhauch, der dem Freien frommt,
Soll flüsternd es umspielen,
Und jedem, der hier pilgern kommt,
Das heiße Auge kühlen!

Ferdinand Freiligrath.


[129] Mußte nun auch das Leben in seine gewohnte Bahn zurück und mußte ein jeder wieder den Weg der Arbeit gehen, so verweilte ich doch in der nächsten Zeit, so oft es möglich war, bei den Verlassenen. Ich verbrachte manchen Abend bei Kinkel, zusammen mit ein oder dem andern der Bekannten, die ihm in aufrichtiger Teilnahme genaht waren, so unter anderem mit Bucher, der früher in gar keiner Beziehung zu ihm gestanden hatte. An einem dieser Abende eröffnete Kinkel uns beiden seine Absicht, ein Journal in deutscher Sprache in London herauszugeben und forderte uns zur Mitarbeit daran auf. Bucher hatte zwar dabei seine Bedenken, die er mir später mitteilte, sagte aber doch zunächst einige Artikel zu. Ich hatte keine Bedenken und sagte unbedingt zu. Kinkel wünschte, daß ich ihm vermittelst meiner Verbindungen mit Herzen Berichte über russische Zustände gäbe, von denen Herzen aus authentischen Quellen fortwährend zuverlässige Kunde hatte. Besonders sollte ich Rücksicht nehmen auf alles, was in betreff der Emanzipation der Bauern gesagt und geschrieben würde.

Diese Frage wurde von allen Seiten jetzt so dringend besprochen, daß die Notwendigkeit einer Entscheidung an die Regierung herantrat. Selbst wenn der Wille des neuen Kaisers weniger gut gewesen wäre, als von ihm gerühmt wurde, so hätte er endlich dieses Werk vollbringen müssen. Es war eine reife Frucht, die notwendig vom Baume fallen mußte. Nicht nur daß Herzen es in seiner zu einer wirklichen Macht gewordenen »Glocke« unablässig forderte und von allen möglichen Seiten in bezug der praktischen Ausführung beleuchtete und erörterte – auch von anderen Seiten erschienen Broschüren und Artikel, die den Gegenstand behandelten und Vorschläge zu seiner Verwirklichung machten. Es gab mir das Gelegenheit, mich gründlich über diese Frage zu unterrichten und mehrere der bezüglichen Broschüren zu lesen. Mich interessierte dabei hauptsächlich die Frage: wird mit der Freiheit die kommunistische Einrichtung der Gemeinde in Rußland bestehen bleiben? Oder wird der [130] Individualismus, wie im übrigen Europa die Oberhand gewinnen? Wird das Bedürfnis nach persönlichem Besitz die Tradition überwinden, und werden damit alle guten und schlechten Folgen des verstärkten Individualismus eintreten? Wird dann Rußland denselben Prozeß durchzumachen haben, den in Jahrhunderte langem Kampf das übrige Europa durchmacht, zwischen dem ungeheuren Anspruch des einzelnen und dem Anspruch aller? Dieser Kampf, der sich erst im vollendeten Staat endigen kann, wo jedes Einzelinteresse, geschützt und befriedigt, sich harmonisch mit dem Gesamtinteresse verträgt? Dies waren freilich Fragen, die erst eine ferne Zukunft lösen konnte. Sie mußten ohne Einfluß bleiben auf die augenblickliche Forderung einer einfachen menschlichen Gerechtigkeit, die die Aufhebung der Sklaverei, die ein Schimpf für Europa war, forderte. Ich verkehrte viel brieflich mit Herzen wegen dieser Gegenstände, da er außerhalb der Stadt wohnte. Seine Propaganda war in größter Blüte, und sein Blatt hatte einen immer wachsenden Einfluß. Aus guter Quelle wurde versichert, daß der Kaiser Alexander es lese und beherzige.

Herzen war auch weit entfernt, ein eigentlich revolutionäres Programm zu haben. Er war zu umsichtig, um Sprünge in der historischen Entwicklung zu verlangen, und begriff vollkommen, daß ein Land wie Rußland nicht sogleich aus der Sklaverei in die Freiheit der Republik eintreten konnte. Sein Programm bestand positiv aus vier Forderungen, die er so formuliert hatte:


  • 1. Emanzipation der Bauern mit dem Besitz der Erde, die sie bebauen.
  • 2. Abschaffung der Präventiv-Zensur.
  • 3. Abschaffung des geheimen Untersuchungsverfahrens und der Urteile bei geschlossenen Türen.
  • 4. Abschaffung der Körperstrafen.

Dies war, wie er selbst sagte, nicht so sehr à la Robespierre und Marat, um davor zu erschrecken. Es waren die einfachsten Forderungen für die Auflösung einer großen Despotie [131] in einen Kulturstaat, in dem menschliche Kräfte sich zu der ihnen eigentümlichen Wirksamkeit und zur ruhigen Entwicklung ihrer nationalen Aufgabe entfalten konnten. Aber was ihn und sein Blatt gefürchtet machte, das war, daß er die Missetaten der privilegierten Räuber in Rußland an das Licht des Tages zog, sobald er sich von der Wahrheit der Tatsachen überzeugt hatte, und ihre Namen der öffentlichen Kritik preisgab. Das empörte natürlich alle die gegen ihn, die bisher ungestraft im stillen ihr Wesen getrieben hatten und denen seine »Glocke« eine Glocke des Gerichtes war, das nun über sie erging.

Überhaupt war Herzen auch jetzt, auf dem Gipfel seiner Tätigkeit und seiner Erfolge, nichts weniger als ein doktrinärer Revolutionär. Er war viel zu geistvoll, um zu glauben, daß man den lebendigen Strom der Geschichte in das Bett eines Systems, einer vorgefaßten Theorie zwängen könne. Es war ihm gleichgültig, ob Monarchie oder Republik, vorausgesetzt, daß das Leben nicht stagniere, daß die Wellen hoch gingen und das Dasein vorwärts trugen zu neuen Entwicklungen. Er haßte die doktrinären, in ihrem System beschränkten Republikaner fast ebenso wie die absoluten Monarchisten. Ihm war es nur zu tun um Freiheit der Bewegung, um Möglichkeit der Entwicklung in naturgemäßer Weise. So schrieb er mir einmal bei Gelegenheit einer kleinen propagandistischen Unternehmung, die einer jener deutschen Doktrinäre versucht und zu der er Herzens Hilfe nachgesucht hatte:

»Ich zweifle an einem Erfolg. Die Zeit der revolutionären Demagogie ist vorbei. Mit jedem Tage sehe ich klarer, daß die ganze Epoche der politischen Revolutionen zu Ende ist, geschlossen wie die Epoche der Restauration, ohne die Frage zu lösen. Ist denn die religiöse Frage beendigt? Nein – aber sie interessiert nicht mehr.

Wir gehen in eine neue Zeit, und alles, was diese Herren, diese Antediluvianer, schreiben, ist Vergangenes!«

Ebenso schrieb er mir einige Zeit nachher, als von einem [132] Krieg zwischen Österreich und Rußland die Rede war (ich hatte ihn ermahnt, in keiner Weise zum Krieg zu treiben oder ihn zu befürworten, da der Krieg immer ein Unglück sei und schwerlich unseren Hoffnungen und Idealen dienen könne):


»Et toi Brutus!«


»Sie auch fangen an zu fürchten, Sie auch haben nicht den Mut der letzten Konsequenz! Lassen Sie doch alle Politikaster, alle die Menschen der alten Welt, und nehmen Sie einen höhern Gesichtspunkt. Das wahrhaft Tragische der Ereignisse fordert einen andern Maßstab. Wie könnte mir so ein Gedanke in den Kopf kommen, daß man Deutschland erobern will? Einen Artikel werde ich schreiben, aber der wird jene nicht beruhigen. Glauben Sie, daß ich jetzt ein Jota ändern werde? Oder glauben Sie, daß ich mich, wie Mazzini, zum Heiligen und Widerspenstigen machen werde und dadurch der Bewegung schaden? Davon bin ich weit entfernt. Nie habe ich zum Kriege geraten, aber auch mit keinem Wort. Der Krieg kommt, aber kein Mensch denkt an Deutschland. Österreich muß untergehn, Frankreich muß in einem Befreiungskriege die Freiheit wieder erlangen oder ganz dem krassesten Despotismus verfallen. Dieser Krieg gegen Österreich wird in Rußland höchst populär sein, und Sie glauben, daß ich den lebendigen Einfluß, den ich habe, vermindern werde, indem ich zur Beruhigung der Mecklenburger gegen eine Tatsache schreiben werde?

Ich bin bereit, mit Ihnen über alle diese Sachen zu diskutieren. Meine Linie ist gezogen, sie kann manchmal abweichen, aber nur auf die Seite der Lebenden, nicht der Toten und Alten.«


Die meisten dieser Äußerungen bezogen sich auf dumme, boshafte Angriffe, die nicht nur von russischen Reaktionären, sondern leider auch von einer gewissen Seite der deutschen Emigration ausgingen, von einer neidischen, hämischen Koterie, durch die sich unbegreiflicherweise auch einige edlere Persönlichkeiten hatten fortreißen lassen, wie z.B. zu meinem [133] innigsten Bedauern auch Karl Blind, für den ich eine achtungsvolle Freundschaft hegte. Herzen war im ganzen ziemlich gleichgültig gegen diese Angriffe und behandelte sie meist mit der ihnen gebührenden Verachtung. So schrieb er mir einmal: »Im Pionier von Heinzen ist ein Artikel, der mich als russischen Agenten, Intriganten, Schurken, als den Sohn einer Jüdin (!) usw. behandelt. Sie sehen, daß die deutschen Golowine 3 mich nicht vergessen haben.«

Mehr kränkte es ihn, als Kinkel plötzlich und unbegreiflicherweise im neu gegründeten deutschen Journal einen Artikel aufnahm, in dem Herzen beschuldigt wurde, von Wien als von der künftigen Hauptstadt eines Slavenreichs gesprochen zu haben. Auch mich traf dies auf das unangenehmste. Ich hatte zunächst durch meine, meist auf Grund Herzenscher Autorität hin geschriebenen Artikel diesen törichten Angriff hervorgerufen. Es tat mir unbeschreiblich leid, dieses Blatt, für dessen Schicksal ich mich interessierte, so von vornherein in der Gefahr zu sehen, ein Tummelplatz jener Kämpfe innerhalb der Partei zu werden, die deren innere Zerrissenheit und die kleinen Leidenschaften, die sie bewegten, so traurig vor der Welt offenbar machten. Auch schmerzte es mich, Herzen diesen Verdruß mit haben bereiten zu helfen. Hauptsächlich aber machte es mich unwillig, wieder nur Hader und Streit entstehen zu sehen, während ich es mir angelegen sein ließ, Frieden zu stiften, die Mitglieder der Partei einander zu nähern zu persönlichem Wohlwollen, zur Vereinbarung auf Grund höherer Gesichtspunkte und mit Beiseitelassung aller kleinlichen Rücksichten und Verdächtigungen. Darin war ich Mazzinis Ansicht, daß nur eins nottat: sich auf Grund allgemeiner Ziele hin zu vereinen und gemeinschaftlich zu handeln, um den großen fundamentalen Prinzipien, die alle bekannten, Geltung zu verschaffen. Dies konnte auch ohne Revolutionen, ohne Schwert und [134] Kampf geschehen, durch die Propaganda der Ideen, aber nimmermehr, wenn kleinliche Parteizwecke, wenn persönliche Feindschaft, wenn Neid und Mißgunst den Krieg gegen Personen richteten, anstatt gegen Prinzipien. Oft kam mir der Gedanke, daß es an einer großen, außerordentlichen Persönlichkeit fehle, die mit der Macht des Genies die zentrifugalen Vielheiten bezwungen und zur Erreichung eines einzigen Ziels vereinigt hätte. Dazu gehörten aber Naturen wie Cromwell, wie Luther, wie Friedrich der Große. Mazzini war zu national dazu, Herzen ebenfalls, unter den Deutschen war auch nicht ein einziger, der, trotz der gerühmten deutschen Universalität, dazu fähig gewesen wäre. So blieb es denn bei der Zersplitterung und den Einzelbestrebungen, die durch beliebige persönliche Ränke vereitelt wurden. Ich war, wie gesagt, so empört über den absurden Angriff in dem Journal, daß ich zu erwidern und die Partei Herzens zu nehmen entschlossen war, da mir die Gerechtigkeit höher galt als die Nationalität. Aber Herzen selbst bat mich dringend, davon abzustehen; er schrieb: »Um Gottes willen keine Rechtfertigung! Sie werden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie gar nichts schreiben. Auf Ihre Antwort kommt eine Kontre-Kritik. Ich aber habe Besseres zu tun, als mich mit Blinden zu schlagen. Wenn Sie aber doch etwas über den Gegenstand schreiben wollen, so zeigen Sie es mir, denn im Falle eines qui pro quo würde ich sagen, daß ich durchaus gebeten habe, mich nicht zu rechtfertigen. Was Wien betrifft, so nannte ich es, weil in Österreich mehr als 16 Millionen Slaven sind.«

Ich schrieb nun auch keinen Artikel als Antwort, sagte aber Kinkel, daß ich überhaupt keinen mehr schreiben und mich der Mitarbeiterschaft am Journal begeben werde. Es war ihm sehr leid. Er hatte wohl einen Akt der Unparteilichkeit zu tun geglaubt, indem er jenen Artikel aufnahm, aber er hatte nicht ganz gefühlt, welcher Gefahr er von vornherein sein Blatt preisgab, indem er es den gehässigen Leidenschaften innerhalb der Partei selbst öffnete. Es wurde ihm [135] auch bald genug verleidet, und nach nicht allzu langer Zeit gab er die Redaktion des Blattes aus den Händen. –

Wenn mich die Teilnahme und der Schmerz um den gemeinsamen Verlust öfter in das Kinkelsche Haus führte, als es je früher der Fall gewesen war, so blieb mein intimster und häufigster Verkehr in diesem Winter doch der in dem englischen Kreise, in dem auch Mazzini einheimisch war. Karoline war voll liebenswürdigster Freundlichkeit für mich, und ich wurde ebenso wie Mazzini beinahe als ein Glied der Familie behandelt. Jeden Sonntag aß ich da zu Mittag, allein mit dem Ehepaar, dem einzigen Kind und Mazzini. Da, bei diesen intimen Zusammenkünften, war es, wo ich die selten schöne, tiefe, gemütvolle Natur Mazzinis ganz kennen lernte. Es ist nicht zu sagen, mit welch rührender Sorge er an allen kleinen Erlebnissen des Tages teilnahm, wie er um das Kind besorgt war, wie reizend er sich mit dem Kleinen beschäftigte, wie ernst beratend er dem Freunde, wie brüderlich aufmerksam der Freundin zur Seite stand. Hier, wo der Politiker fast ganz schwieg, wo nur der gemütliche, philosophische, ästhetische Mensch hervortrat, zeichnete sich mir sein Bild mit unauslöschbaren Zügen. Er war ein ganz nationaler Typus; er hätte nichts anderes sein können als wie ein Italiener. Die hervorragendsten nationalen Eigenschaften fanden sich bei ihm in höchster Potenz vor. Er hatte Züge, die an den größten seiner Landsleute, an Dante, erinnerten; so die mystische Färbung seiner religiös philosophischen Anschauung, in der alles nur Symbol war für eine transzendentale Idee. Als Politiker stand er Cola di Rienzi am nächsten; er hatte dasselbe hartnäckige Festhalten an seinem politischen Ideal, das er, den widerstrebenden Lebenselementen zum Trotz, einzuführen sich für berufen hielt. Nach der praktischen Seite hin hatte er auch etwas von Macchiavell; trotz des hohen Idealismus seiner Ziele verschmähte er die oft dunklen Mittel nicht, die, wie er glaubte, zu ihm führen könnten. Bei allen diesen Eigenschaften aber besaß er auch die edelste Fähigkeit seiner Nation, das [136] Schöne in Poesie und Kunst mit ganzer Seele zu erfassen, sowie die leidenschaftliche Innigkeit des Gefühls in allen persönlichen Beziehungen. Dazu kam die rührende Einfachheit seines Lebens und seiner Gewohnheiten, die nicht Folge der Askese war, denn er liebte das Schöne und bedurfte es, sondern seines Patriotismus und seiner Aufopferung. Das einfachste Leben genügte ihm, um nur alles für die Seinen hinzugeben. Er wohnte in einem bescheidenen Stübchen, aber kein notleidender Landsmann ging ohne Hilfe von ihm, und wenn er selbst nur noch zehn Schilling hatte, so gab er dem Bedürftigen fünf: Kein Heiliger der Kirche, kein Glaubensheld hat mehr sein Leben zum Ausdruck seiner Überzeugung gemacht wie Mazzini. In den Entbehrungen des Exils, fern von der schönen Heimat, die seine Beatrice war, allein, an eine Arbeit gebunden, die der höchsten Begabung seiner Seele nicht entsprach, hat er den bittern Kelch des Daseins bis auf die Hefe getrunken. Aber er ist nicht erlahmt und hat die heilige Flamme der Vaterlandsliebe, eines sittlichen Ideals vom Staate und der Pflicht gegen ihn, aufrecht erhalten in sich und den Seinen. Darin besteht auch sein unsterbliches Verdienst um sein Italien. Wenn er den Irrtum aller fanatisch Gläubigen beging, eine Form für sein Ideal erzwingen zu wollen, die der lebendigen Strömung der geschichtlichen Entwicklung entgegen war, so war das eine Beschränktheit seiner Einsicht. Sein Charakter wird davon nicht verdunkelt und verdient es, als einer der edelsten in der Reihe der Sterne seines Vaterlandes zu leuchten.

Wie rührend gut und teilnehmend er für seine Freunde war, bewies mir unter unzähligen anderen Beispielen der folgende kleine Zug. Ich begegnete ihm eines Morgens in der Straße. Es war dies eine Seltenheit, da er fast nie des Morgens ausging. Wir sprachen lange miteinander, und es fiel mir auf, daß er mich mit einem Ausdruck von Besorgnis lange und forschend ansah. Einige Tage nachher besuchte mich ein Bekannter, ein Arzt, den ich zuweilen schon um Rat gefragt hatte. Ich sagte ihm, daß es mir gar nicht[137] gut gehe und daß besonders meine Augen immer schwächer würden. Ich war auch wirklich so leidend, daß ich oft morgens nicht wußte, wie ich aufstehn und mich der Arbeit des Tages unterziehen sollte. Aber die Arbeit war notwendig, und so saß ich auch jeden Morgen früh zur bestimmten Stunde am Schreibtisch und verließ ihn nicht eher, bis die Aufgabe des Tages vollendet war. Meine Augen aber, von jeher schwach, fingen an, mir den Dienst zu versagen. Das war besonders traurig an den langen Winterabenden, wenn ich allein war und meine Seele danach lechzte, mir nun, nachdem die Arbeit der Pflicht getan war, in guten Büchern Gesellschaft, geistige Erquickung und Belehrung zu suchen. Auch erregte es mir angstvolle Besorgnis wegen der Zukunft; denn wenn ich nicht arbeiten konnte, wie sollte ich leben? – Der Arzt erklärte mir, ich müsse weniger arbeiten, ja eine Zeitlang vielleicht ganz aufhören, sonst sei der Verlust des Gesichts beinahe unabwendbar. Schwerer Sorge voll, erwähnte ich dieses Urteil in einem Brief an Mazzini, den ich ihm in den folgenden Tagen wegen einer für ihn gemachten Besorgung schrieb. Er antwortete:


»Ich wußte es im voraus, meine arme Freundin. Ich war betroffen von der Gefahr, als ich Ihnen neulich in der Straße begegnete. Ich sagte es am selben Tage zu Karoline. Da ich aber kein Arzt bin und kein Recht habe, gehört zu werden, so wartete ich, bis andere, Berechtigte, Ihnen die strenge Vorschrift gegeben hätten. Resignieren Sie; konzentrieren Sie sich und denken Sie: Sie sind noch jung genug, und die Welt ist verwirrt genug, um Ihnen die Zeit zu gewähren, nützlich sein zu können. Wenn sie fort müssen von hier, sagen Sie es mir, damit ich Sie vorher sehe. Dann werde ich Ihnen schreiben – unkompromittierende Briefe, die ein jeder lesen kann. Ja, wir werden den europäischen Krieg haben, und das ist gut. Wir sprechen darüber.

Ich gehe heute auf das Land zu M., werde aber morgen zurück sein.
Adieu, ich liebe und achte Sie!

Ihr Freund Joseph.«


[138] Als ich ihn das nächste Mal sah, drückte er mir mit warmer Teilnahme die Hand und sprach darüber, ob es nicht möglich für mich sei, nach Genua zu gehen, da mir der Arzt von der Notwendigkeit eines südlicheren Klimas gesprochen hatte. »Dorthin«, sagte er, »würde ich Ihnen Empfehlungen mitgeben, nach denen Sie wie eine Schwester aufgenommen, geliebt und gepflegt werden würden.« Ich wagte nicht, ihm die volle Wahrheit zu sagen, d.h. daß mich von allen solchen Hilfs- und Erleichterungsmitteln des Leidens die materielle Schwierigkeit, der Mangel an Geld, zurückhielt. Seine grenzenlose Güte würde ihn wahrscheinlich veranlaßt haben, da in irgendeiner Weise helfend eintreten zu wollen, und das konnte und wollte ich nicht annehmen, von ihm, der, wie gesagt, selbst beschränkt war in seinen Mitteln und alles, was er konnte, hingab für seine höheren Zwecke.

Inzwischen war ich beschäftigt, den Arbeiterverein zustande zu bringen, den Mazzini für so wichtig hielt.

Er schrieb mir wieder über diese Organisation:

»Das Ideal wäre dieses: die Arbeiter sich ihren Weg machen lassen; dann ein Komitee von drei Personen aus dem Mittelstande zu bilden, um auch in ihm eine Sektion zu organisieren; zwischen diesem Komitee und dem der Arbeiter eine brüderliche Beziehung auf dem Boden der Gleichheit herstellen; sich damit beschäftigen, dieser Organisation alle möglichen Elemente anzuschließen hier, in Deutschland, auf dem europäischen Kontinent von der einen Seite, und von der andern die sehr zahlreichen Elemente in Amerika.«

Ich hatte ihm dann berichtet, daß ich sechs brave Männer zusammen hätte, die ich als ganz zuverlässig kannte und die nun unter den ihnen bekannten Arbeitern andere auffordern würden, der Organisation beizutreten. Er antwortete:


»Liebe Freundin!

Das ist gut – Sie haben sechs zusammen. Wenn nun ein jeder festen Willen hat und täglich unausgesetzt tätig ist, wenn ein jeder der sechse sich an jedem Abend fragt: was [139] habe ich heute versucht, für unsern Zweck zu tun? – so werden Sie bald eine große Anzahl haben. Versuchen Sie, den deutschen Arbeitern begreiflich zu machen, daß die Organisation des Volkes das beste Mittel ist, um zu verhüten, daß die Revolutionen nicht in dem engen Kreise der Politik stecken bleiben. Wenn eine große Liga des Volkes die beste Kraft der europäischen Partei der Tat bilden wird, so werden die Rechte der Völker und der arbeitenden Klassen nicht mehr hintenan gesetzt werden können; seien Sie dessen gewiß. Wenn Sie Ihr Programm gemacht haben werden, so werde ich dem Verein die Definition des Bandes, das uns vereinigen soll und der Reihe von Pflichten, die es praktisch ausdrücken soll, zusenden.

Ja, es geht nichts über die Arbeit für eine große und gute Idee. Das reinigt und veredelt die persönlichen Schmerzen. Gott weiß, daß ich auch mein Teil davon gehabt habe.

Ihr Freund Joseph.«


Die letzten Worte bezogen sich auf Mitteilungen, die ich ihm gemacht hatte über meinen nie vernarbten Schmerz um die Trennung von jenem lieblichen Kinde, das mir so tief ins Herz gewachsen war, und dessen Erziehung nun durchaus nicht der Art war, wie ich sie für es wünschte, ja dessen junges Leben unter einer wenig wohlwollenden Leitung schon durch manchen schweren Kampf verdüstert wurde. Dieser tiefe Kummer kam zu den persönlichen Sorgen, die meine Gesundheit und die daraus entspringenden Folgen für meine Lage mir erregten. Dem so edel teilnehmenden Freunde hatte ich mehreremale davon gesprochen, und es war, glaubte ich, auch in Beziehung darauf, daß er mich immer wieder zur Tätigkeit für allgemeine Zwecke anzuspornen suchte. Er verstand eben mit der feinsten Empfindung jede Seelenstimmung, jedes zarteste Gefühl im andern und legte sanft die heilende Hand der Freundschaft auf die geheimen Herzenswunden.

[140] So war ich eines Abends bei Karolinen ungewöhnlich schweigsam gewesen, und als er mich deshalb fragte, sagte ich nur, daß das Weh des Lebens, der Einsamkeit schwerer wie sonst auf mir gelegen hätte. Er schrieb am andern Morgen unter andern Sachen: »Sie waren noch stiller wie gewöhnlich; ich bin es auch oft so sehr; die Empfindung, von der Sie mir sprachen, ist die meine. Es begegnet mir häufig, daß das Gefühl der Leere einer ganzen persönlich einsamen Vergangenheit, eines ganzen persönlich verlornen Lebens mich mit unerträglicher Gewalt erfaßt. Dann erhebe ich mich wieder, ein wenig mehr Skelett wie vorher.«

Solche wenigen Worte erschlossen mir genugsam den Grund dieses großen einsamen Herzens, das die Welt nur von ehrgeizigen, tollkühn abenteuerlichen oder gar verbrecherischen Träumen erfüllt glaubte. Er war ein Märtyrer der Idee und seines Glaubens, wie nur je einer gewesen. Er trug die Dornenkrone und das Kreuz, an dem sein persönliches Leben verblutete. War die Idee, für die er sich opferte, eine irrige? Ihm erschien sie als Wahrheit. Konnte sie die Welt erlösen? – Hat denn die Idee, für die das Kreuz auf Golgatha sich erhob, die Welt erlöst? – – –

Über den tiefen Einblick in des einen und des andern Herz senkte sich dann wieder der Schleier, der das Allerheiligste des menschlichen Innern vor der Profanation bewahrt, und die äußere Tätigkeit begann von neuem. Ich hatte ihm von einem Polen geschrieben, den ich als zuverlässig kannte und der sich ihm in allem zur Verfügung stellte. Zugleich bat ich ihn, mir nicht zu zürnen, daß die organisatorische Arbeit, die er so sehr wünschte, nicht schneller ging.

Darauf schrieb er:


»Beste Freundin!

Ich erzürne mich nie, außer zuweilen mit meinen Italienern; besonders aber könnte ich mich nie gegen Sie erzürnen, ein Wesen so voll Herz, edlen Willens und sanft, wie es je nur eins gab.

[141] Arbeiten Sie also, aber wissen Sie zugleich, woran ich selbst bin, um sich danach zu richten.

Ich bin mit dem Komitee der demokratischen polnischen Zentralisation in Verbindung und muß gewisse Rücksichten für sie haben. Ist Ihr Pole in Verbindung mit jenen? Wenn nicht, so ist es einerlei. Jede Arbeit im Innern ist mir willkommen und wird gern von mir angenommen. Wenn er mit jenen in Verbindung ist, so möchte ich nicht, daß es schiene, als entzöge ich ihnen ihre Elemente. Alles, was Ihnen auf dem angedeuteten Wege zu tun gelingt, hat meine Billigung und Hilfe. Ich werde mit jedem Verein der Partei der Tat, wo er sich auch bilden mag, in Verbindung treten.

Was T. betrifft, so wollen wir den Artikel abwarten. Im allgemeinen will ich Ihnen sagen: Handeln Sie so wenig als möglich mit Franzosen zusammen und so viel als möglich mit Deutschen. Die Franzosen kenne ich fast alle, und ich weiß, was von ihnen zu erwarten ist. Wir haben eine Arbeit einer geheimen Assoziation unter ihnen, die sich in diesem Augenblick ausbreitet; wir müssen uns begnügen, ihr einzeln die Individuen beizufügen, die wir anderen Vereinen, die wir für schlecht organisiert oder zu sehr spioniert halten, entführen können.

Glauben Sie nicht, daß ich die Franzosen aus der republikanischen Verbrüderung ausschließen will. Aber ich kenne sie; ich glaube, im Grunde und alsMasse werden wir nichts Positives für unsere Sache durch sie gewinnen. Nur die einzelnen muß man nach und nach in eine neue Organisation von uns einführen.

Adieu, meine Freundin!

Joseph.«


Gegen die Franzosen war er entschieden mißtrauisch, eben weil er sie so gut kannte, und mündlich und schriftlich warnte er mich vor ihnen und scheute sich vor jeder Annäherung, besonders der Elemente aus der sozialistischen Partei, während [142] er mit Ledru-Rollin und den Seinen in Verbindung stand. Ich hatte ihm öfter von einem jungen Franzosen gesprochen, der jener Partei angehörte, den ich sehr schätzte und den ich Mazzini gern nähern wollte, da ich sein hohes persönliches Beispiel für alle die jungen Leute als ein erhebendes und wohltätiges ansah, und da es überhaupt mein Bestreben war, Frieden stiftend in der Emigration zu wirken, und die zersplitterten Elemente auf Grundlage der höchsten allgemeinen Prinzipien zu vereinen.

Ich hatte jenem jungen Mann so viel von Mazzini gesprochen, daß er lebhaft wünschte, ihm persönlich näher zu treten. Ich gab ihm Mazzinis Adresse und sagte ihm, selbst hinzugehn, indem ich versprach, diesen davon zu benachrichtigen. Mazzini schrieb mir darauf:

»Liebe Freundin! Indem Sie T... meine Adresse gaben, haben Sie sie der Polizei gegeben. Die Partei, der T... angehört und der er alles mitteilt, wimmelt von Spionen. Ich mache Ihnen damit keinen Vorwurf, ich konstatiere nur eine Tatsache. Was mich betrifft, so kann alles, was ich schreibe, ausgenommen das, was Operationen betrifft, an alle Polizeibehörden der Welt gehen. Ich kann es im Fall der Not sogar drucken.

Nennen Sie mich exklusiv, intolerant, alles, was Sie wollen, aber lassen Sie mich Ihnen eine Sache sagen: Arbeiten Sie mit Ungarn, mit Polen, mit Serbiern, mit Montenegrinern und Zirkassiern, wenn Sie können, mit den Deutschen vor allen Dingen, wenn es gelingt – aber, ich wiederhole es, bemühen Sie sich nicht zu viel mit den Franzosen. Sie sind zu gut und vertrauensvoll, um das zersetzende Element entdecken zu können, das bei jenen vorhanden ist. Sie sprechen mir z.B. von Bernard; es sind kaum drei Tage her, daß in einer Versammlung, wo jemand den Franzosen vorschlug, eine Subskription für einen jährlichen Beitrag von einem Schilling, als Pfand der Solidarität, zu zeichnen, Bernard sich erhob und dagegen sprach. Er behauptete, daß das vorgeschrittenste italienische Journal nicht ›l'Italia del Popolo‹ [143] sei, sondern die ›Ragione‹. Dies ist ein materialistisches Journal, das in Turin herauskommt, sich sozialistisch nennt, ohne jedoch eine einzige ökonomische Frage ernst zu erörtern, und das gegen die Bewegung schreit, weil man vor allen Dingen erst das Volk sozialisieren müßte. Abgesehen davon ist ›l'Italia del Popolo‹ mehr als dreißigmal mit Beschlag belegt worden, die ›Ragione‹ einmal; es ist also die ›Italia‹, der man helfen muß. Bernard, der zur Zeit seines Prozesses eine immense Teilnahme unter den Italienern gefunden hat, ist der letzte, der eine solche Sprache halten sollte.

Sie sprechen mir von einem Meeting zur Vereinbarung aller Nationalitäten. Ich weiß wohl, daß Leute aller Nüancen der Partei dazu kommen würden. Aber glauben Sie mir, es käme nichts dabei heraus, und außerdem werde ich, wie schon gesagt, nur mit Individuen, nicht mit Vereinen verhandeln. Die Kommune ist voller Spione.

Für mich besteht die wichtige Arbeit darin, die italienische Bewegung mit den Nationalitäten in Verbindung zu bringen, die sich noch konstituieren. Frankreich ist in einer besondern Lage. Dort ist nur eine Sache zu tun; wenn die unmöglich ist, so muß man erwarten, was von innen heraus geschieht. Eine Verschwörung würde niemals zu einer siegreichen Insurrektion führen. Eine ausgedehnte Propaganda ist in Frankreich unmöglich, ohne entdeckt zu werden. Arbeiten Sie also, liebe Freundin, so viel Sie können mit den Nationalitäten der Zukunft, aber lassen Sie sich auf keinen Versuch mit den französischen Kommunisten ein. Ich würde Ihnen dabei nicht folgen. Es wäre etwas anderes, wenn sich neue Elemente, wenn sich Franzosen aus dem Innern präsentierten. Das einzige Gute, was die andern tun könnten, wäre, ihre Sprache zu mäßigen, ein gemeinschaftliches Programm anzunehmen und der Welt zu zeigen, daß man einig ist. Jede geheime Arbeit mit ihnen zusammen ist unmöglich und gefährlich.«

Wieder noch in einem andern Brief berührte er dies [144] Thema, da ich ihm eine Arbeit überschickt hatte, die mich ein Franzose gebeten hatte, ihm zur Durchsicht zu geben.

»Ich werde nicht vor Ende der Woche Zeit haben, die Arbeit zu lesen, aber ich werde sie lesen und Ihnen dann meine Ansicht mitteilen.

Was die gemeinsame Arbeit betrifft, so beeilen Sie sich nicht – ich meine mit den Franzosen. Wenn man mir Vorschläge macht, so werde ich natürlich antworten. Ich will und kann Ledru-Rollin nicht verlassen; ich werde es nie tun, es wäre denn, daß er die Fahne wechselte. Aber nichts hindert mich, zu arbeiten, mit wem es immer sei, und niemals werde ich es verweigern, mich mit ehrlichen Patrioten zu verbinden, die sich redlich mit mir verständigen wollen. Erinnern Sie sich aber daran, daß meine Zeit ganz besetzt ist. Sie wissen, ich gehe nirgends hin. Ich bin mit Arbeit überhäuft, und obgleich ich, von acht Uhr morgens an bis abends neun Uhr an meinem kleinen Schreibtisch sitze, so kann ich doch nicht die Hälfte der Arbeit vollbringen, die ich für Italien machen müßte, wo ich, außer der Emigration, eine ganze Partei im Innern zu dirigieren habe. Diese Arbeit ist heilig, ich kann sie nicht aufgeben. Es ist gut, daß man das wisse und daß man eine gezwungene Zurückgezogenheit nicht falsch auslege. Ich kann keine Meetings, keine häufigen Unterredungen haben. Es ist besonders schriftlich, daß ich handeln und mich mitteilen kann.«

Inzwischen war es mir wirklich gelungen, einige zwanzig deutsche Arbeiter zu vereinen. Sie sollten einmal wöchentlich am Abend zusammenkommen, um durch Besprechung und gemeinschaftliches Nachdenken sich über die wahren Interessen und Pflichten ihres Standes aufzuklären, ein Programm vernünftiger Forderungen für die Zukunft zu entwerfen und über die Mittel zu beraten, ihm Anhänger zu erwerben und die Solidarität der Gesinnung und des Handelns unter den Arbeitern jenseits und diesseits des Kanals zu fördern. Ich forderte Mazzini auf, wie er versprochen,[145] diesen kleinen, nunmehr gebildeten Verein einzuweihen, indem er einmal in ihm erschiene und zu den Leuten spräche. Er erklärte sich freundlichst dazu bereit, und es wurde ein Abend bestimmt, wo die Zusammenkunft in meinem Zimmer stattfinden sollte. Zur bestimmten Zeit fanden sich die Arbeiter ein, alle in einer gewissen feierlichen Spannung, da sie wußten, wen sie zu erwarten hatten. Mazzini kam und begrüßte die Leute mit brüderlicher Freundlichkeit. Ich hatte ihn noch nie in einer solchen Versammlung und mit Leuten aus dem Volke gesehen, und nie war er mir edler und liebenswürdiger erschienen, als an dem Abend. Er war weit davon entfernt, wie so viele der Volksführer, einen andern Ton anzuschlagen, indem er zu Leuten niederen Standes sprach – entweder sie mit Herablassung zu behandeln oder eine gemeine und brutale Vertraulichkeit anzunehmen, wie ich es von mehr als einem Demokraten hatte tun sehen. Er blieb vollkommen er selbst, einfach, natürlich, edel. Er stieg nicht zu ihnen hinab, er hob sie zu sich herauf, indem er ihnen vertrauensvoll entgegen kam, um sie zu belehren und ihnen zu raten. Er sprach längere Zeit über die Notwendigkeit, das Gefühl der Solidarität in den verschiedenen Nationalitäten zu wecken, zunächst sich über die großen Grundgedanken der Zukunft zu vereinigen und dafür, mit vorläufiger Beiseitelassung aller einzelnen organisatorischen Systeme und Ideen, zu wirken. Er wies sie besonders darauf hin, wie er es auch bei seinen Italienern tue, daß sie nicht nur Forderungen zu machen, sondern auch Pflichten zu erfüllen hätten.

Einige der Arbeiter, die ich als sehr gute, denkende Männer kannte, hörten ihm aufmerksam und ehrfurchtsvoll zu. Andere, die schon zu sehr vom Kommunismus angesteckt waren, nahmen eine ziemlich trotzige Haltung an und unterbrachen Mazzini mehreremal, da sie alle französisch sprachen und es vollkommen verstanden. Einer, ein kluger Mensch, aber, wie ich später erfuhr, ganz unter dem Einfluß von Marx und den Kommunistenführern stehend, fragte plötzlich: »Und welche Garantien geben Sie uns für die Zukunft? Wenn die [146] allgemeine Republik sich verwirklichen sollte, was würden Sie für den Arbeiterstand tun?«

Mazzini lächelte und erwiderte: »Aber lieber Freund, welche Garantien soll ich Ihnen geben? Wenn ich die Verwirklichung unserer Ideen erlebe, so werde doch nicht ich es sein, der die neue Organisation der Gesellschaft, besonders bei Ihnen in Deutschland, zu machen hat, sondern wir alle, Sie so gut wie ich. Dann ist es Ihre Aufgabe, dem Arbeiterstand seine Rechte zu wahren und seine Pflichten zu bestimmen.«

Wir beschlossen die Zusammenkunft, indem ich allen ein Glas Wein anbot, und Mazzini freundlich mit allen anstieß auf die zukünftige allgemeine Republik. Als er gegangen war, wurde noch beschlossen, daß ein jedes Mitglied an jedem Versammlungsabend einen Beitrag von sechs Pfennig in eine gemeinschaftliche Kasse legen solle, um so nach und nach einen kleinen Fond zu bilden für die Bedürfnisse der schriftlichen Propaganda usw. Ich begab mich nun regelmäßig an dem Vereinsabende in das zu diesem bestimmte Lokal, in einem kleinen Wirtshaus in der City, wo wir in einem Nebenzimmer, abgesondert von den übrigen Gästen, saßen. Angelika von Lagerström und einige andere deutsche Frauen kamen mit, um an den Verhandlungen teilzunehmen und fördernd einzuwirken. Im Anfang war ich freudigen Mutes bei der Sache. Je mehr ich aber hinging, desto mehr sank mein Mut. Ich sah ein, daß dieselben Elemente, denen ich mit Schmerz in den höheren Schichten der Partei begegnet war, sich auch hier vorfanden. Neid, Eifersucht, Egoismus, persönlicher Ehrgeiz mischten ihre unlautern Motive in das Streben nach Verständigung über die höchsten Ziele, nach Feststellung sittlich reiner Grundlagen für das bürgerliche und staatliche Leben und die Bestimmungen über Rechte und Pflichten. Und alles das trat um so widriger hervor, als es mit einem gewissen geckenhaften Bestreben verbunden war, aus der eignen Sphäre herauszutreten und mehr zu scheinen, als man war; ja wohl gar gegen die Damen eine gewisse [147] plumpe Galanterie auszuüben, indem man völlig den edlen Ernst, der jene leitete, verkannte. Mit tiefem Schmerz fragte ich mich abermals: Ist das die Menschheit, die Masse, für die auch du dein Kreuz auf dich nahmst, und von deren Befreiung und Vollendung zu sittlicher Schöne du den höchsten Traum geträumt? Ich fühlte es manchmal wie Menschenverachtung durch mein Herz zucken. Ich mußte mich nur immer wieder daran erinnern, daß jene Prinzipien, um derentwillen der Kampf aufgenommen worden war, die rechten waren, daß das Schicksal der Massen nicht abhängen dürfe von Willkür und despotischer Macht einzelner, daß, unter dem Schutz weiser, gerechter Gesetze, einem jeden einzelnen die Möglichkeit werden müsse, alles zu werden, was er seiner Naturanlage nach werden kann. Daß aber das christliche Gebot der allgemeinen Menschenliebe ein unerfüllbares sei, das wurde mir immer klarer. Lieben kann man nur die einzelnen, die Großen, die Guten. Die Menschheit im ganzen, wie sie sich in der Geschichte und, für die persönliche Erfahrung, in der Masse zeigt, ist eine furchtbare Offenbarung des Grundes der Dinge in der Individuation. Was den Denker, dem endlich der Schleier der frommen Täuschung zerreißt, noch mit der Menschheit verbindet, das ist das Mitleid, das unsägliche, mit dem unsäglichen Elend und Leiden. Deshalb, wenn man sich von der Mehrzahl der Erscheinung mit Ekel und Grauen abwenden muß, fordert das Erbarmen mit dem Leiden des Daseins immer wieder jede Anstrengung und jedes Opfer, um mitzuhelfen am großen Werke der Erlösung.

Mit rechtem Zorn sah ich aber auch bei dieser Gelegenheit, welches Übel die falschen Führer anrichten, die Doktrinäre und die Gewissenlosen, die unter dem Weihrauch, den sie den Massen streuen, nur den eigenen Ehrgeiz verbergen. Alle diese Leute, mit denen ich da zusammenkam, waren von kommunistischen Ideen angesteckt, die sie, bei halber Bildung, nicht einmal verdaut, sondern nur als ein glänzendes Spiegelbild eitler materieller Hoffnungen und [148] Begriffe von Rechten aufgefaßt hatten. Dadurch war mancher kluge, verständige, gerade Sinn verkehrt, in manchem andern der innere und äußere Anspruch geradezu bis zum Lächerlichen und Widerwärtigen entstellt. Ich hielt lange aus; als ich aber sah, daß jeder dieser Pygmäen wieder in diesem Kreise der erste sein wollte und mit Eifersucht den Vorzug beobachtete, der etwa einem andern zuteil wurde – als es nicht möglich schien, jenen ernsten Drang nach Bildung hervorzurufen, den ich in den Arbeitervereinen in Deutschland gesehn – als sogar eine plumpe gesellschaftliche Vertraulichkeit einreißen zu wollen schien, da zog ich mich nach und nach zurück. Ich hatte den Anstoß gegeben, die Sache gegründet, war Lebensfähigkeit darin, so mußte sie durch sich selbst gedeihen. Leider erfuhr ich später, daß dem nicht so war.

Es war das Jahr Neunundfünfzig. Tiefe Aufregung herrschte in den politischen Kreisen. Die Sphinx in Paris hatte am Neujahrstag ihr geheimnisvolles Wort gesprochen, die Kriegswolken standen am Horizont. Mazzini war in voller Tätigkeit, nichts lag ihm so am Herzen, als die Parteigenossen zu vereinen zu gemeinsamem Handeln. Er schrieb mir eines Tages:

»Mir ist es klar, daß, wenn vor den deutlichen Projekten der beiden Zaren, vor der erneuten Drohung eines zweiten Tilsit oder Erfurt und der Teilung der europäischen Welt zwischen den Despoten – die Patrioten nicht alle das Bedürfnis fühlen, praktisch zu arbeiten, so bleiben sie hinter ihrem Glauben und ihrer Aufgabe zurück.«

Der italienische Krieg ward erklärt. In der italienischen Emigration rüstete sich alles zum Aufbruch, Mazzini auch. Manche Stunde verbrachte ich noch mit ihm und den bedeutendsten italienischen Patrioten, unter anderem Saffi und Mario, dem Gemahl von Jessie White, in Karolinens Salon oder, bei den schönen Frühlingstagen, auf deren Terrasse. Dann kam der Abschied. Zuerst schied Mario mit seiner energischen mutigen Gattin, die dem neuen Vaterland mit [149] ganzer Seele zugetan war. Dann Saffi und die andern, zuletzt Mazzini. Ich wußte längst, wie töricht und unwahr die Beschuldigung sei, die man fortwährend gegen ihn erhoben hatte, nämlich, daß er sich immer zurückziehe, wenn die Gefahr, in die er die anderen schicke, herannahe. Er hatte nie gefehlt, wenn irgendeine Unternehmung für die Befreiung Italiens gemacht worden war. Jedesmal hatte er sich der langen Reise unterzogen, auf der er fortwährend in der Gefahr war, in einem der Länder, die er zu passieren hatte, erkannt und gefangen genommen zu werden – stets an den betreffenden Orten gegenwärtig, wo er nur durch die Wachsamkeit und Treue der Seinen immer wieder aus der Judasgefahr, die ihm im Vaterland drohte, errettet wurde. Daß er nicht unter seinem Namen reisen, nicht öffentlich seine Anwesenheit proklamieren konnte, verstand sich von selbst. Ebenso war es natürlich, daß er kein militärisches Kommando übernehmen, nicht selbst mitkämpfen konnte wie Garibaldi usw. Er war ein Organisator, aber kein Soldat. Doch gehörte ganz ebenso viel Mut dazu, in seiner Stellung Europa zu durchziehn, da ihm die ganze europäische Polizei auf den Fersen war, oder im Vaterland gegenwärtig zu sein, bei Bewegungen, als deren Urheber man ihn kannte und für die man ihn mit dem Tod bestraft hätte, hätte man ihn gefangen.

Auch jetzt also, wo der Unabhängigkeitskampf Italiens wirklich entbrannte, wollte er nicht fehlen. Ich verbrachte den letzten Abend mit ihm im Kreis der Freunde bei Karolinen. Er war ernst und feierlich gestimmt; die Entscheidung seiner großen Lebenshoffnung, um derentwillen er alles geopfert, alles getragen, alles gewagt hatte, stand vor ihm. Sie kam in ganz anderer Gestalt, durch ganz andere Mittel, als er gehofft. Aber er war zu sehr wahrer, großsinniger Patriot, um sie nicht auch so willkommen zu heißen, und er ging hin, seine Pflicht zu tun. Als er mir zum Abschied die Hand reichte, sah ich ihn einen Augenblick lang voll tiefer Wehmut an. Er erschien mir als eine der [150] tragischesten Gestalten der modernen Geschichte (und ich wußte damals noch nicht, inwieweit sich dies noch steigern würde), aber ich fühlte auch, daß da kein Zurückhalten, kein sentimentales Zagen möglich war. Er mußte gehn und sein Geschick erfüllen. Er war der Apostel eines neuen Glaubens, einer regenerierten Moral für Italien; ebenso überzeugt, ebenso innerlich wie Arnold von Brescia, Giordano Bruno, Savonarola es gewesen waren. Er kam zu früh, wie sie zu früh gekommen waren, und wie sie mußte er den kühnen Blick in die Zukunft, dies Hellsehen des Propheten, mit dem Martertod zahlen, wenn auch nicht mehr auf dem Scheiterhaufen, sondern in einer mehr modernen Form, in der langsamen Qual des Exils. Ich segnete ihn in meinem Herzen, und so schied ich von ihm, um ihn nie wiederzusehen.

6. Kapitel. Abschied von England
Sechstes Kapitel
Abschied von England

Meine Gesundheit hatte sich inzwischen immer mehr verschlechtert, und meine beinah erblindeten Augen versagten mir fast den Dienst. Zu dieser Zeit kam jene deutsche Dame, die in Manchester lebte, Madame Schwabe, mit der ich immer in Verkehr war, nach London. Es war ein längst gehegter Herzenswunsch von ihr, daß ich mich mit ihr vereinigen möchte – teilweise um ihr zu helfen, die Erziehung ihrer Kinder in einem idealeren Sinn zu leiten, als dies in den gegebenen Verhältnissen geschah. Außerdem aber wünschte sie meine Hilfe bei den vielen philanthropischen Werken, denen sie ihre Zeit und Mittel widmete. Schon im Anfang meines Aufenthalts in England, kurz nachdem ich bei ihr in Wales gewesen war, war sie eigens nach London gekommen, um mich zu fragen, ob ich mich ganz ihrer ältesten Tochter widmen wolle, die damals ein Mädchen von vierzehn Jahren war. Es war das zu der Zeit, als ich meine mühevolle Laufbahn des Stundengebens angefangen hatte. [151] Was sie mir bot, war bequemer, materiell aussichtsreicher und in mancher Beziehung anlockender als dies Stundengeben in London. Dennoch lehnte ich es ab, da ich die mühselige Unabhängigkeit doch höher schätzte, als die bequeme Abhängigkeit, und da ich einsah, daß bei den religiösen und konventionellen Schranken der Erziehung in England mein Werk doch nur ein halbes bleiben würde. Jetzt erneuerte sie ihre Anerbietungen und schlug mir vor, im Sommer nach Wales zu kommen und den folgenden Winter mit ihr nach Paris zu gehen, woselbst sie mit ihrer Familie den Winter zuzubringen gedachte. Allerdings erschien mir dies Anerbieten jetzt als eine Fügung, die ich nicht von mir weisen dürfe, da meine Gesundheit mir so entschieden die Fortsetzung der bisherigen Lebensweise untersagte. Ich nahm es daher an, wenngleich der Entschluß, mich von London und allen, die mir da lieb und teuer waren, zu trennen, mir unendlich schwer wurde. Es lag in meiner Natur ein tief konservatives Element; da, wo ich einmal mit meinem Empfinden und meinen Gewohnheiten Wurzel geschlagen hatte, da liebte ich zu bleiben, zu erhalten, zu pflegen, zu entwickeln. Treue war ein Grundzug meines Wesens, und doch trieb der seltsame Widerspruch, in dem sich das Geschick zuweilen zu gefallen scheint, gerade mich immer von neuem hinaus, von dem sicheren Boden, den ich mir erworben, in das Schwankende, Ungewisse neuer Verhältnisse, riß mein Herz mit Schmerzen los von dem, was es in fester Liebe umfaßt hatte, gönnte dem Geiste nicht, in fester Konzentration an einem Werke seine Kraft zu üben und die Freude des Erfolges zu erleben. Was war es, was hatte das Schicksal mit mir vor durch diesen Widerspruch zwischen meiner innersten Natur und meinen Lebenswegen? War es vielleicht, weil, um mit St. Martin zu reden, »l'empire de l'oeil de mes semblables« zu viel Macht über mich hatte? Weil ich zu tief, zu selbstvergessen die Menschen liebte, denen ich einmal mein Herz hingab? War es, weil ich zu maßlos um eine zerrißne Liebe, um ein gestörtes irdisches Glück litt, und weil [152] ich zu der Ruhe des Weisen, des Heiligen gelangen sollte, der, obschon ein unstäter Wanderer in der Wüste des Lebens, immer mehr das eine, Unvergängliche, das nottut, in sich selbst enthüllen und mit sich tragen soll durch allen Wechsel? – Wunderbar sind die Wege der Erziehung, auf denen das Schicksal uns führt. Wohl dem, der sie erkennt, der diese Winke benutzt und seine eigne Erziehung vollendet. Ihm winkt die endliche Erlösung und das Eingehn in das Nirwana – nicht in die Vernichtung, denn das ist der rechte Begriff des Nirwana nicht, sondern in die selige Einheit des Grundes der Dinge, in der alle Unruhe der Erscheinung aufgehört hat, und die Vollendung, die wir »im dunklen Drang« gesucht, uns in reinen Wellen umflutet. –

Da ich erst versprochen hatte, im Sommer, zu meiner gewöhnlichen Reisezeit, zu kommen, so vergingen mir noch einige Wochen in den gewohnten Beschäftigungen. Plötzlich erschien Herzen, der nichts von dem Plan mit Madame Schwabe wußte, und fragte, ob ich mich nicht entschließen wolle, für einige Zeit wieder hinauszuziehen zu den Kindern, in das schöne Gartenhaus, das er in einer Londoner Vorstadt bewohnte. Die russische Dame, die dem Hause vorstand, war durch ihre Gesundheit genötigt, an das Meer zu gehen, und war bereits mit ihrem eignen Kinde nach der Insel Wight abgereist. Er meinte, wir könnten dann später auch alle dorthin gehen und sehen, wie sich das Leben weiter gestaltete.

Fast gleichzeitig schlug Kinkel mir vor, mit ihm und seinen Kindern zusammen an das Meer zu gehen und die Sommerferien da zu verbringen. Ich schwankte einen Augenblick zwischen diesen verschiednen Vorschlägen, dann aber entschied die wunderbare, fast unerklärliche Liebe, die ich für die kleine Olga Herzen hegte, und bestimmte mich, Herzens Anerbieten anzunehmen. Es kam ein geheimes Gefühl hinzu, als habe ich eine Schuld gegen dies Kind auf mich geladen, als ich damals das Haus verließ, indem die Dame, die nun ihre Pflegerin wurde, diese liebliche Natur weder erkannte noch [153] liebte und keinenfalls richtig behandelte. Ich sagte mir oft, ich hätte um ihretwillen manches auf mich nehmen und ertragen sollen, was mir bei der früher erwähnten Veränderung dort im Hause nicht mehr gefiel. Ich stellte mir vor, daß ich durch geduldiges Ausharren vielleicht vieles hätte ändern, jedenfalls diesem Kinde eine schützende Vorsehung hätte bleiben können. War es mir eine tiefe Genugtuung, daß Herzen sich wieder an mich wandte, so schien es mir auch, als böte mir das Geschick nun die Gelegenheit, jene Schuld zu sühnen und das holde Geschöpf, das ich mit Mutterliebe liebte, nun von neuem an treuer Hand zu der schönen Entwicklung zu führen, zu der mir seine Natur angelegt schien. Ich schrieb daher Madame Schwabe und Kinkel ab und nahm Herzens Vorschlag an. Meine kleine Häuslichkeit hob ich nur vorläufig auf, da ich freilich noch gar nicht wußte, wie sich die Zukunft gestalten und ob ein festeres Verhältnis sich dort von neuem organisieren werde. Am meisten bedauerte ich es, meine Leseabende mit Lothar Bucher aufgeben zu müssen. Sie waren mir in jeder Beziehung lieb und wert gewesen, sowohl wegen der Fülle von Belehrung und Wissen, die mir der Umgang mit dem hochgebildeten Manne darbot, als wegen der zarten Beweise wirklicher Freundschaft, die er mir gab und die doppelt rührend und erfreuend für mich waren, da sie bei dem verschlossenen und gegen die meisten Menschen vielfach mißtrauischen Wesen Buchers gewiß nicht häufig vorkamen. Auch überkam mich anfangs ein Gefühl von Reue, als ich meine kleine, fast dürftige, aber selbstgeschaffne Unabhängigkeit verlassen hatte und mich wieder in Verhältnisse einpassen mußte, die ich nicht selbst gestaltet, denen ich nicht wenigstens zum Teil den Stempel meiner Individualität aufgedrückt hatte. Was ich einst mühsam in diesem Hause geschaffen, war dahin. Die Kinder waren in eine andere Bahn gelenkt, als wohin ich sie geführt hätte. Alles hatte wieder einen exklusiv russischen Anstrich angenommen. Ich empfand es tief, wie notwendig dem ausgeprägten Charakter die Unabhängigkeit [154] ist, d.h. die Möglichkeit, sein äußeres Leben nach seinem inneren Bedürfnis zu gestalten, sich selbst zu affirmieren in den Verhältnissen. Die Ruhe, die der Geist genießt, wenn er sich selbst gemäß leben darf, ist das einzig wahre unzerstörbare Glück; dies sich zu erwerben und zu erhalten, sollte das Bestreben jedes selbstbewußt entwickelten Wesens sein. Alles übrige ist Schmuck des Daseins – oft wonnevolle Arabeske, die sich um seinen eigentlichen Kern schlingt, goldne Frucht der Hesperiden, die das Schicksal in guten Stunden manchem Sterblichen als besonderem Liebling in den Schoß wirft. Dieses zu entbehren ist schmerzlich, aber jenes zu entbehren ist unerträglich, und es bäumt sich das Beste, das Edelste in uns gegen ein Leben in Umgebungen auf, denen in jedem Augenblick unsere Überzeugung, unsere innerste Notwendigkeit widerspricht. Dennoch hielt mich die Freundschaft und Achtung für Herzen und die Liebe zu den zwei kleinen Mädchen fest, und ich versuchte es, mich mit ihnen wieder wie früher einzuleben. Nach ein paar Wochen rief uns Herzen auch nach der Insel Wight, wo wir, wie früher, Pulszkys und Kossuths fanden, mit denen sich, wie sonst auch, ein geselliges Leben organisierte. Bald jedoch stellten sich die verschiedenen Ansichten über Erziehung, wie überhaupt die Grundverschiedenheit der Naturen zwischen jener russischen Dame und mir, wieder so peinlich heraus, die Konflikte in der Praxis der Erziehung waren so unvermeidlich, daß ich von neuem einsah, wie unmöglich ein solches Zusammenleben und Zusammenwirken sei. Abermals mit tiefem Schmerz, aber entschiedner und ruhiger als das erste Mal, erklärte ich es Herzen, daß ich nicht frei handeln und wirken könne, wenn nicht ganz meinen Ansichten gemäß. Ihm war es auch leid wie das erstemal, und doch fühlte er wohl selbst, daß ich recht hatte. Ich schrieb an Madame Schwabe und sagte ihr, ich wolle nun doch im Herbst mit ihr nach Paris gehen. Sie schrieb erfreut wieder und war gutmütig genug, es mir nicht nachzutragen, daß ich, um der größeren Liebe willen, ihr anfangs abgeschrieben hatte. Dann beschloß ich zunächst [155] noch für einige Wochen nach Eastbourne zu gehen, wo ich schon früher gewesen und wo sich meine näheren Beziehungen zu Mazzini und Karolinen angeknüpft hatten. Die letztere war auch jetzt da mit Mann und Kind, und außer ihr war Lothar Bucher dort, den ich schriftlich bat, mir eine Wohnung dort zu nehmen. Was mir von neuem das Herz zerriß, das war der Abschied von der kleinen Olga, die traurig und stumm das kaum neu geknüpfte Liebesband sich wieder lösen sah. Ein unsägliches Mitleid hielt mich bei ihr zurück. Dennoch fühlte ich, daß ich unter den gegebenen Verhältnissen nicht bleiben könnte. Herzen fuhr mit mir nach Porthsmouth, da er nach London zurück wollte. Der Wagen, der uns von Ventnor nach Ryde über die Insel führen sollte, stand vor der Türe, und die Mitglieder der Familie, die zurückblieben, standen Abschied nehmend dabei. Da trat die kleine Olga aus dem Garten und reichte mir leise und wie beschämt, daß sie nichts anderes zu geben hatte, ein paar Zweige blühender Myrte, die in dem milden Klima Ventnors im Freien wächst. Dabei sah das dunkle, unschuldige Kinderauge traurig zu mir auf. Das kleine Wesen wußte es, daß sie, die Mutterlose, in mir das Mutterherz wiedergefunden hatte, und es war zum zweitenmal zwischen uns ein Scheiden wie zwischen Mutter und Kind. Ich nahm die Myrtenzweige mit grenzenloser Wehmut, und als der Wagen fortrollte und das kleine Geschöpf meinen Augen entschwand, war es wieder, als wäre die letzte Poesie des Lebens dahin.

In Portsmouth trennte ich mich von Herzen. Er ging nach London, ich fuhr mit der Bahn der Küste entlang nach Eastbourne. Dort traf ich Bucher, der mir ein Logis besorgt hatte, dann Karoline, die mit ihrem Kind da war und deren Mann immer für den Sonntag von London heraus kam. Der kleine Kreis wäre hinreichend gewesen, um eine stille frohe Zeit zu verleben, aber das Intermezzo von Ventnor lag trüb und verstimmend auf meiner Seele, und der Gedanke an das Kind, dem die rechte Liebe fehlte, ließ keine Freudigkeit in mir aufkommen. Dazu kam die Angst um [156] Mazzini, der auf seinen gefährlichen Streifzügen in der Nähe des durch den Frieden von Villafranca nur halb befreiten Italiens verweilte. Eines Tages, als ich bei Karolinen war, erhielt sie einen Brief von ihm, worin er eine tief poetische, wehmutsvolle Schilderung seiner Fahrt über den Vierwaldstättersee machte. Er schrieb, wie in der feierlichen Stille jener erhabenen Natur die tiefste Andacht der religiösen Stimmung über ihn gekommen sei; ein gläubiges Schauen und Hoffen, gleichsam in weitester Ferne, für sein Vaterland, das er so glühend liebte und dem er nur heimlich nahen durfte. Er fügte hinzu, daß er überzeugt sei, wie auch sie, obwohl eine Skeptikerin, von der Macht der Stunde ergriffen, mit ihm niedergekniet sein würde in Anbetung des Weltgeistes, dessen Gegenwart ihm so fühlbar gewesen sei in dem Augenblicke. Ich wandte mich ab, um Karolinen, die auch beim Lesen dieser Zeilen skeptisch blieb, die Träne zu verbergen, die in mein Auge trat. Ich fühlte jene Stunde mit ihm, fühlte, was dies einsame, große, gläubige Herz empfunden hatte inmitten des feierlichen Schweigens jener Riesenmauern, die seine schönheitatmende Heimat abschließen. Er nahte ihr noch immer als ein Ausgestoßener, ein Flüchtling. Aber er hatte ihr ja längst das Opfer seiner individuellen Existenz gebracht, und jener Augenblick war sicher einer von denen gewesen, in denen die Märtyrer der Idee, im intuitiven Schauen über die Grenze der Zeit hinaus, die erhabene Seligkeit der Überwinder genießen. Ich schrieb ihm am folgenden Tag unter dem Eindruck jenes Briefes. Bald darauf erhielt ich, in einen Brief an Karoline eingeschlossen, folgende Antwort:

»Meine liebe Freundin, heute nur zwei Worte als Antwort auf Ihre Zeilen! Habe ich nötig, Ihnen zu versichern, wie lieb sie mir waren? Ich verdiene nicht alles, was Sie mir darin sagen, ich erreiche zu wenig von dem, was ich erstrebe, aber ich glaube, mein Herz ist mehr wert als meine Intelligenz, während bei den meisten andern die Intelligenz mehr wert ist als das Herz. Das ist der Grund, [157] warum jene nicht handeln. Hätte ich einige zwanzig Männer mit Ihrem Herzen und Ihrer Fähigkeit der Hingebung zur Seite, ich hätte zu dieser Stunde Europa regeneriert. Aber solche existieren nicht. Deshalb müssen Sie fortfahren, mich zu lieben um dessentwillen, was ich hätte tun mögen. Ihre letzte zerstörte Hoffnung mit Olga hat mir sehr leid getan. Aber ich glaube, ich weiß selbst nicht warum, daß Sie wohl tun, mit Madame Schwabe zu gehen. Man wird Sie dort lieben. Karoline, die mir oft von Ihnen schreibt, sagt mir nichts von Ihren Augen. Sie selbst sagen mir auch nichts davon. Wie geht es damit? Lassen Sie es mich durch K. oder Sie selbst wissen.

Vor vierzehn Tagen glaubte ich an die Wahrscheinlichkeit, Sie bald wiederzusehen, jetzt weiß ich wieder nicht, wann? Ich muß noch bleiben. Ich habe Euch alle zusammen in Eastbourne recht beneidet.

Ich lebe hier nur durch den Kopf, durch die Indignation und das Gefühl der Pflicht; das Herz hat dabei nichts zu tun und ist fern von hier. Was halten Sie von der Agitation für die Einheit, die sich in Deutschland regt? Was denken K., B. und die andern davon? Was hoffen Sie?

Hier hat die Krisis nur erst angefangen.

Leben Sie wohl, liebe Freundin, ich hege für Sie eine aufrichtige und unzerstörbare Freundschaft. Joseph.«

Leider trat zu Ende meines Aufenthalts eine tiefe persönliche Verstimmung bei mir ein, die mich mehr und mehr von dem kleinen Kreis meines bisherigen Umgangs entfernte und mich ganz isolierte. Was ich von der fleckenlosen Liebenswürdigkeit des Charakters eines Mitglieds dieses Kreises geglaubt hatte, erschien mir als eine Täuschung, und der Schmerz darüber machte mich vielleicht ungerecht gegen die anderen Teilnehmer der kleinen Gesellschaft. Der Mangel an Leichtlebigkeit in meiner Natur, der schon so oft Dingen, über die ein leichterer Sinn spielend hinweggekommen wäre, einen tragischen Charakter gegeben hatte, machte auch hier die Situation für mich zu einer unerträglichen, aus der ich nur [158] durch völligen Bruch mich schließlich retten konnte. Am Tag zog ich mit meinen Büchern auf einsame Punkte der Klippen und versenkte mich in allgemeine Gedanken. Aber die Abende, wenn ich allein war, waren traurig. Unfähig, mit meinen kranken Augen zu arbeiten, war es dann meine Beschäftigung, Seepflanzen zu trocknen, die ich in ein Buch klebte, das ich für Olga bestimmt hatte. Ich betrieb diese Arbeit mit einer Sorgfalt, als gelte es ein wichtiges Werk. Nur wer es weiß, wie sehnsuchtsvoll die Liebe nach Betätigung verlangt, wie schwer es ist, eine freudlose Einsamkeit zu tragen, wenn jeder Pulsschlag dafür klopft, sich geliebten Menschen widmen zu können, wie furchtbar die Herzensöde wird, wenn körperliches Gebrechen dann auch den Geist hindert, seiner Arbeit zu leben und so das Gleichgewicht herzustellen – nur der vermag zu empfinden, welchen schmerzlichen Trost mir jene Beschäftigung gewährte. Ich suchte mit ihr mich selbst über all die Entbehrung, über all die Leere zu täuschen, indem ich noch etwas – das einzig im Augenblick Mögliche, für das Wesen tat, das durch die geheimnisvolle Macht der Sympathie für mich zu einem Verhängnis wurde. Dieses Buch mit den kunstvoll geordneten Algen enthielt ein ganzes Drama von Empfindungen und Gedanken, die bei seiner Herstellung in mir sich bewegt hatten. Wie viele stumme Zeugen solcher Lebensdramen gibt es, die nie ein Blick enträtseln, nie ein teilnehmendes Herz vernehmen wird! Könnten sie reden, könnten sie die Geschichte all der Unzähligen berichten, deren Kämpfe und Leiden ungekannt auf der großen Bühne der Welt sich abspielen – der Phantasie würde nichts mehr zu erfinden übrig bleiben, und vor der hohen Tragik des Lebens würde selbst die höchste Dichtkunst verstummen.

Endlich kam die Zeit, wo ich in Brighton Madame Schwabe treffen wollte, um mit ihr zusammen nach Paris zu gehen. Ich schied von Eastbourne um ein Gefühl ärmer, das mein Leben in den letzten Zeiten freundlich erhellt hatte. War die Schuld mein, war sie der anderen – ich konnte [159] es selber nicht entscheiden. Ich fühlte nur das eine bestimmt: jenes Gefühl war in mir erloschen, weil es auf einer Täuschung beruht hatte, und es konnte nicht wieder belebt werden.

In Brighton mietete ich mir ein ganz kleines dürftiges Stübchen, da alles andere mir zu teuer war. Den ganzen Tag aber brachte ich auf einer weit in das Meer hinaus gebauten Terrasse zu, wo ringsum die Wogen brausten und die frische Meeresluft mich stärkend umfing. Ich kannte keinen Menschen und fühlte mich himmlisch frei. Mein Schreibzeug nahm ich mit, und die Gedanken fingen wieder an zu strömen. Die Fesseln der inneren Verstimmung fielen von mir ab. Oft saß ich da noch, wenn der Mond mit seinem Silberglanz den weiten Wasserspiegel um mich her erhellte, und ferne Segelboote traumhaft über die glitzernde Flut zogen. Sie erschien mir wie der Lethe, in den allmählich wieder alles jüngst erlebte Leid versank, während mein Dämon sich mit entfalteten Flügeln aus den Wellen erhob und, Freiheit und Friede atmend, das Geheimnis des Lebens aufs neue mir kund gab: sich selbst erlösen aus der Unruhe des Vergänglichen und sich versenken in das Reich der Ideen, in das Unvergängliche. Die Unruhe des Vergänglichen erniedrigt uns; sie ist die bange Sorge um das schlechte Ich, um die vorübergehende Individuation der unbekannten Weltseele. Die Erlösung aus dieser Unruhe ist die Erhöhung unserer selbst zu unserer wahren Würde, zu unserem wahren Ich, das sich eins fühlt mit allem Göttlichen, Erhabenen und Schönen. So groß wurde wieder mein inneres Glück in diesem Einklang mit mir selbst, daß ich des Abends in meinem häßlichen kleinen Stübchen, bei meinem bescheidenen Nachtmahl, mich schon auf den folgenden Morgen freute, wo ich wieder an die Arbeit gehen und den Strom der Gedanken mich umfluten lassen würde am flutenden Meer.

Dann gingen auch diese Tage zu Ende. Ich schiffte mich mit Madame Schwabe und ihrer Familie nach Frankreich ein und zwar von Newhaven nach Dieppe, welche Fahrt [160] einige Stunden länger dauert als von Dover nach Calais. Als ich die weißen Küsten Albions allmählich in die grüne Flut versinken sah, war es mir, als versänke mir eine zweite Heimat. Sieben Jahre des Exils, voll schwerer Entbehrungen, harter Arbeit, tiefer Leiden, Verluste und Kämpfe waren in ihr verstrichen. Aber wie viel Liebe, Freundschaft, geistigen Fortschritt und Wachstum in dem einen, was nottut, hatte sie mir doch gegeben! Mit dankbarster Empfindung sah ich nach dem Inselland zurück, das mit seinen blühenden Fluren, mit seiner hohen Kultur, mit seinen festen, starken, unabhängigen Menschen wie eine höchst merkwürdige, des Studiums werte Erscheinung inmitten des Ozeans daliegt.

7. Kapitel. Paris und ein Deutscher
Siebentes Kapitel
Paris und ein Deutscher

Wir waren in Paris angekommen. Es war eins jener sogenannten Hotels, ein ganzes, elegant eingerichtetes Haus mit kleinem Garten, wie sie in der Nähe der Champs Elysées häufig sind, für uns genommen worden, denn außer Madame Schwabe und ihrer Familie kam auch Richard Cobden mit seiner Frau und vier Töchtern, es zu bewohnen. Ich hatte mir vorgenommen, mich den neuen Eindrücken, die mich erwarteten, ganz hinzugeben und ihnen so viel als möglich an Erkenntnis, Wissen und Verständnis abzugewinnen. Ich kann nicht sagen, daß ich mich je sehr nach Paris gesehnt hätte, immer viel mehr nach dem Süden. Aber es war doch die Stadt, um die tausendfache geschichtliche Erinnerungen, Macht und Glanz der Gegenwart, Kunst, Zivilisation und Mode eine schimmernde, die Neugierde erregende Fata Morgana schufen. Es war der Mühe wert, Paris nach London kennen zu lernen, schon um des Vergleichs willen. Zudem hatte ich es nötig, von der Arbeit auszuruhen und in einem weniger feuchten Klima wie das englische eine Zeitlang zu leben. Kaum ein wenig häuslich eingerichtet, [161] ging ich allein die Champs Elysées entlang den Tuilerien zu und setzte mich dort auf eine Bank, um mich meinen Gedanken hinzugeben. Da lag es denn vor mir, das alte französische Königsschloß, und schaute mich an wie ein alter Bekannter. So hatte ich es unzähligemal in meiner Kindheit Tagen, in einem großen illustrierten Werk über die französische Revolution, das mein Vater besaß, gesehen. Auf jenen Bildern war es dargestellt, umstürmt von wütenden Volkshaufen, die der Legitimität Hohn sprachen und den absolutistischesten Staat der Erde in eine Pöbelherrschaft verwandelten. Sie stiegen wieder alle vor meiner Erinnerung auf, jene Bilder; die Bastille, auf die die Kanonen des Volks gerichtet waren; Camille Desmoulins auf einem Tisch stehend, im Garten des Palais Royal und zu dem Volke sprechend; die königliche Familie, heimgebracht von der mißglückten Flucht; vor allem ein Bild, das mir als Kind stets das tiefste Interesse und innigste Mitleid eingeflößt hatte: Ludwig XVI., von seiner Familie Abschied nehmend, als man ihn zum Tod führte. Ich sah ihn wieder vor mir in kurzen schwarzen Hosen und weißem Hemd, das vorn geöffnet, den Hals schon frei ließ für das Beil des Henkers. Die eine Hand reichte er seiner frommen Schwester Elisabeth, die auf den Knien lag und ihr Angesicht auf seine Hand drückte. Von der andern Seite hingen die unglückliche Gattin und Königin, die weinenden Kinder in verzweifeltem Schmerz an ihm. Es war mir unter den hohen Bäumen dieses Gartens, beim Anblick jener Mauern, die all das Schreckliche geschaut, als sähe ich nur wieder, was ich längst gekannt, was ich mit erlebt hätte. Dem kindlichen Mitleid in mir war eine Epoche hoher Bewunderung für die französische Revolution gefolgt. Jenes gigantische Erwachen der Menschheit zum Gefühl ihrer Rechte, jenes Zersprengen der Fesseln, in die ein despotischer Wille Millionen von Geschöpfen schlug, jene erhabenen, kühnen Morgenträume allgemeiner Freiheit, die begeisterte Schwärmer in die Wirklichkeit übersetzen wollten, jene phantastisch großartigen [162] Momente der ersten Zeit der Revolution – wie hatten sie mich bewegt und hingerissen. Sie hatten mich erglühen gemacht in Begeisterung und mich nachsichtig gestimmt für die schaudervollen, wüsten Ausartungen, zu denen schließlich, ebenso wie die absolute Monarchie, die absolute Volksherrschaft gekommen war. Jetzt hatte in dem Schlosse vor mir das zweite Kaiserreich, die zweite Frucht der Revolution, seinen Sitz und ich durchlief in Gedanken den Gang der geschichtlichen Ereignisse von jener Zeit an bis auf diese, die in ihrer Korruption, ihrer Knechtschaft, ihrer auf den Schein, die Mode und den äußeren Glanz gebauten Herrlichkeit kaum hinter jener zurückstand, die mit solchen vulkanischen Ausbrüchen, solchen Strömen Bluts vernichtet worden war. Mich ergriff ein wahrer Schauder vor den Rätseln der Geschichte, wo jeder Schritt vorwärts mit einem kolossalen Rückschritt bezahlt werden muß. Das Christentum war ein Fortschritt über das verderbte, in sich verfaulte römische Reich, aber es brachte das Mittelalter herauf, in dem jede Blüte der Kunst und Wissenschaft welkte und grausenhafte Barbarei die Stelle der Kultur einnahm. Die Reformation war ein freudiger Fortschritt über die im Laster versunkene katholische Kirche, aber ihr folgte der dreißigjährige Krieg und langer geistiger Tod und physisches Elend. Die französische Revolution war das Erwachen der Massen zu ihrer Selbständigkeit, der Anerkennung der menschlichen Würde in jedem einzelnen Geschöpf, aber ihr folgten die Greueltaten der Schreckensherrschaft, die Despotie des ersten Napoleon, die triviale Herrschaft der Bourgeoisie unter dem Bürgerkönig Louis Philipp und die abgeschwächte Wiederholung der Despotie des Onkels durch den Neffen. Unter solchen Betrachtungen verlief mein erster Ausgang in Paris. Alle die Eindrücke der zunächst folgenden Tage waren zugunsten Englands, das mir, in dem soliden Genuß wirklicher politischer Freiheit, jetzt im Glanze einer hohen Moralität erschien, im Vergleich mit der wahrhaft knechtischen Abhängigkeit, in der ich hier alles von dem Willen eines einzelnen fand. Die ewig [163] festliche Schaustellung eines Herrschertums, von der man sich bei dem einfachen englischen Königtum so ganz entwöhnt hatte, die Anwesenheit des Militärs überall, während es in England überall abwesend ist, das müßige Schlendern und frivole Genießen, dem man auf den Boulevards und anderswo begegnet, gegenüber der puritanisch nüchternen, aber besonnen ehrenhaften Tätigkeit der Engländer – alles das machte mich in Sehnsucht an England denken, und es war mir, als atme ich in Paris verpestete Luft.

Inzwischen hatte sich unsere Häuslichkeit organisiert. Richard Cobden, unter demselben Dach mit mir lebend, war mir zunächst eine neue interessante Persönlichkeit zum Studium. Ein so ganz englischer Typus, wie er nicht englischer gedacht werden kann, vereinigte er alle Tüchtigkeit der englischen Spezialisten auf dem einen Feld ihrer Tätigkeit mit ziemlicher Beschränktheit nach andern Seiten. Zugleich aber besaß er eine solche Güte und liebenswürdige Milde des Charakters, daß er einem jeden wert werden mußte, der ihn näher kennen lernte. Er war in Paris, um den Freihandelsvertrag mit Frankreich abzuschließen. Dies gab Gelegenheit, ihm viele Fragen über nationalökonomische Probleme vorzulegen und von ihm zu lernen. Er baute das ganze Evangelium einer sittlicheren Zukunft auf den Freihandel. Sonderbarerweise war er darin, vielleicht ohne es zu wissen, völliger Materialist, trotzdem er ein frommer Mann war und auch sogar die Kirche besuchte. Er sagte mir einmal, wie er hoffe, daß durch die freie Einfuhr der leichten französischen Weine in England dem Branntwein-und »Gin«-Trinken des englischen Volkes Schranken gesetzt werden würden. Dadurch versprach er sich den Anfang einer größeren Moralität, und gewiß nicht mit Unrecht. Nur vergaß er, wie viele andere Faktoren damit Hand in Hand gehen müßten, um den Erfolg herbeizuführen. So lange das englische Volk in seinem jetzigen bedürftigen, oft bis an das schrecklichste Elend reichenden Zustand ist, würden ihm die leichten französischen Weine nicht zusagen: »Gin« und[164] »Brandy« sind der Lethe, der auf Stunden die tierische Existenz vergessen macht. Verminderte Arbeitszeit, erhöhte Löhne, Schulunterricht, geistige Entwicklung, das Öffnen der Museen, der öffentlichen Vergnügungs- und Belehrungsorte anstatt der Trinkhäuser am Sonntag – alles das müßte zuerst kommen. Dann würde auch der leichte Wein annehmbar sein, anstatt des Alkohols. Man würde dann in den Straßen von London nicht mehr so oft dem scheußlichen Anblick betrunkener Männer und Frauen begegnen.

Übrigens erhob sich auch gegen Cobden eine heftige Opposition. Die französischen Schutzzöllner ließen es an Protesten aller Art nicht fehlen. Nur Napoleon und Rouher hatte er völlig auf seiner Seite, und das war denn freilich entscheidend. Cobden kam von seinen häufigen Privatkonversationen mit dem Kaiser stets entzückt von dessen Persönlichkeit zurück. Er konnte nicht genug die liebenswürdige Vertraulichkeit und das verständnisvolle Eingehen auf alle Fragen, die zwischen ihnen verhandelt wurden, rühmen. Es war gerade einer der glänzendsten Höhepunkte in Napoleons Karriere erreicht. Der italienische Krieg war beendet. Freilich hatte er sein Wort nicht gehalten, Italien frei zu machen von den Alpen bis zur Adria, freilich hatte er zwei schöne Juwelen aus der neu geschmiedeten Krone Italiens als Lohn für sich herausgenommen. Aber dennoch strahlte die alte französische Glorie von neuem in hellem Glanz, und eines Morgens erschallte Trommelwirbel in den Straßen, eine Abteilung Soldaten zog umher, und ein Ausrufer verkündete mit lauter Stimme, es gäbe jetzt viele tausend Franzosen mehr; Savoyen und Nizza waren über Nacht französisch geworden. Des waren die Franzosen über die Maßen froh. Alles schien glücklich im Glanz der hellstrahlenden Kaisersonne, und sogar der Typus des Gesichts von Napoleon III. vervielfältigte sich, wovon ich schon oben gesprochen. Man begegnete überall Gesichtern, die sich durch den nach ihm modellierten Bart, durch die Tracht des Haares und der Kleidung eine Art Ähnlichkeit mit ihm verschafft hatten.

[165] Ich sah ihn nur einmal ganz in der Nähe. Wir hatten Billets erhalten zu dem großen Saal, durch den am Sonntag Morgen der Hof sich in die Kapelle der Tuilerien zur Messe begab. Ich ging mit ihm hin, weil ich diesen Parvenu, der wie ein Meltau auf den Blüten des europäischen Lebens lag, den ich seit dem 2. Dezember haßte, der wie einer der alten römischen Imperatoren mitleidlos mit Blei, Kerker und tödlichen Klimaten die Gegner seiner Tyrannei hingeopfert hatte, einmal genau sehen, einmal wissen wollte, wie ein solcher Mensch aussieht. Es war dies ein beliebtes Schauspiel für Fremde, und der Saal war voller Menschen. Plötzlich erschien ein in eine violette goldgestickte Uniform gekleideter Hofbeamter und rief: »L'empereur!« Nun erschien Napoleon, Eugenie führend, von Höflingen gefolgt, und schritt langsam an uns vorüber der Kapelle zu. Ich stand an einer Säule, so nahe gingen sie an mir vorbei, daß der Kaiserin Kleid mich streifte. In der Kapelle, wohin wir uns ebenfalls begaben, stand ich so, daß ich die Gesichter des kaiserlichen Paares gerade vor mir hatte. Ich gestehe, daß ich während der Messe, die unten gelesen wurde, mit nichts anderem beschäftigt war, als diese beiden Physiognomien zu studieren. Mit der Kaiserin wurde man, trotz ihrer regelmäßigen Schönheit, bald fertig. Es war eine schöne Grisette mit dem Diadem geschmückt. Tausendmal mehr wie Napoleon trug sie den Stempel der Parvenue. Wenn sie vielleicht aus Weltklugheit und auch von den Verhältnissen in Schranken gehalten, nicht fähig war, unvorsichtig, übermütig, jugendlich und leichtsinnig zu handeln wie Marie Antoinette, so war sie gewiß noch weniger fähig, groß zu leiden, im Unglück moralisch zu wachsen und heroisch zu sterben wie jene. Ich wandte meinen Blick mit Geringschätzung von ihr ab. Daß Napoleon sie zur Gattin nahm, war vielleicht einer seiner schlimmsten Fehler, verhängnisvoll für Frankreich und ihn selbst. Länger gefesselt blieb ich durch ihn. Sein unbegreiflich unschönes Gesicht hatte dennoch eine gewisse Hoheit, die Eugenien völlig fehlte. Aber[166] es war eine passive Festigkeit und Geschlossenheit in den häßlichen Zügen, die das Gesicht wie eine Maske erscheinen ließen. Als er so da kniete, die geballte Faust, auf der sein Kinn ruhte, auf das Samtkissen vor ihm gestützt, war es unmöglich, zu unterscheiden, was und ob überhaupt etwas seine Seele füllte. Keinenfalls war es die Andacht, die aus den Tiefen des Wesens zu einem geahnten Höheren aufsteigt, mögen wir dies nun Gott, Weltgeist oder anderswie nennen – die Andacht, in der allein die erlösenden Gedanken geboren werden, erlösend für das Individuum oder für die Welt.

Vielleicht dachte er gerade damals darüber nach, ob er gründlich mit der Partei brechen sollte, die ihn bisher getragen und gestützt hatte, mit der klerikalen nämlich. Gewiß ist, daß diese es war, die in dem Augenblick am meisten gegen ihn empört war. Man sprach gar nicht allzuheimlich darüber, daß die Priester es vielleicht jetzt übernehmen würden, das zu vollführen, was Orsini mißlungen war, und man war überzeugt, daß die Hand, die von da käme, ihr Ziel nicht verfehlen würde.

Ein angenehmer Umstand, den ich dem Zusammenleben mit Richard Cobden verdankte, war die Bekanntschaft vieler der bedeutendsten literarischen und politischen Persönlichkeiten der damaligen französischen Gesellschaft. Es war einmal wöchentlich Empfangsabend bei uns, wo sich stets eine ausgewählte Gesellschaft zusammenfand. Außerdem wurden oft die hervorragendsten Leute zum Essen gebeten, und hier, im kleineren Kreise, lernte man sie näher kennen und erfreute sich an ihrer Unterhaltung. Hier sah ich Mignet, Laboulaye, Cousin, Dollfus, Renan und andere. Letzterer hatte damals noch nicht die Berühmtheit erlangt, die ihm sein Leben Jesu, der Apostel usw. eintrugen, aber er erschien mir bedeutender als die meisten andern. Der Zufall fügte es oft, daß er mein Tischnachbar wurde und ich so Gelegenheit zu langen und eingehenden Gesprächen mit ihm hatte. Ich sagte danach mehrere Male zu Madame Schwabe: »Dies ist [167] jedenfalls einer der bedeutendsten Menschen in der französischen literarischen Welt, und die Zukunft wird es noch erweisen.« – Ich freute mich aufrichtig, als meine Prophezeiung später in Erfüllung ging.

Durch Herzen hatte ich eine Empfehlung an Michelet, dessen Geschichtswerke wir zum Teil zusammen mit großer Freude an den geistreichen Aperçus, der phantasievollen Darstellung und der warm und lebendig durchschimmernden Empfindung gelesen hatten. Herzen war sehr mit ihm befreundet und seine Empfehlung verschaffte mir bei Michelet und seiner Frau den liebenswürdigsten Empfang. In dem bescheidenen kleinen Empfangszimmer des ausgezeichneten Paares, von dessen Fenstern man die Aussicht auf die grünen Bäume des Luxembourg hatte, empfing ich die besten unter all den mannigfaltigen Eindrücken der Pariser Gesellschaft. Der kleine Mann mit dem geistreichen Gesicht, vom langen weißen Haar umrahmt, machte zugleich den Eindruck eines feinen, originalen, blitzartig sprühenden Geistes und eines gemütvollen, echt humanen Herzens. Das fragmentarische, wie ein laut gewordenes Denken Aussehende seines Stils, das zuweilen durch das allzu Kurze, Abgerissene der Sätze ermüdet, hatte im Gespräch etwas ungemein Anregendes. Er warf Gedankenblitze hin, die im andern Gedanken entzündeten und so zu einem lebhaften Austausch Anlaß gaben, der nie schleppend wurde, nie des Stoffs ermangelte. Er gab mir gleich seine warmen Sympathien für Deutschland und deutsche Literatur zu erkennen. Damals arbeitete er an jener Reihe kleinerer Schriften, die ihn auf ein ganz anderes Gebiet als das der Geschichte hinüberführten. Seine kluge, liebenswürdige Frau half ihm dabei. Es ist wahr, daß diese psychologischen und physiologischen Phantasien und Betrachtungen etwas dilettantisch behandelt waren. Doch waren sie voll Poesie und Geist. Eines dieser Bücher, das eben erschien, »La femme« betitelt, erregte in der Pariser Gesellschaft eine laute Opposition und wurde mit dem beißendsten Spott, mit vernichtender Kritik aufgenommen. Dies beirrte[168] aber weder Michelet noch seine Frau. Sie sagte mir einmal von ihrer gemeinsamen Arbeit: »Ich sammle die Bausteine, er fügt das Gebäude.«

Noch eine freundliche Zuflucht hatte ich in dem großen Paris, wo es mir vertraut und heimisch wurde, wo mich eine Welt umfing, wie sie meiner innersten Natur gemäß war. Das allgemeine, flüchtige Interesse, das die größere Geselligkeit mir als Neuheit darbot, ließ bald nach. Die Hausgenossenschaft hatte, mit Ausnahme von Madame Schwabe und Cobden, so oberflächliche, nur der Eitelkeit und dem Äußerlichen angehörende Neigungen, daß ich mich oft mit Widerwillen fragte: Wie komm' ich in diese Umgebung? und mit Tränen der bittersten Empörung es dem Schicksal vorwarf, daß es mich zu solcher Abhängig keit nötigte. Ich entfloh dann in jenes Asyl, das ich meinen Hausgenossen verschwieg, damit man mir nicht dahin folge. Ich ließ sie in dem Glauben, daß ich zu geheimen politischen Zusammenkünften gehe und mich mit Arbeitern verschwöre – war ich doch sicher, daß sie mir dahin nicht nachkämen. Mein Asyl war aber kein anderes, als das Atelier des Malers Jaroslav Czermak, desselben, den ich einst in Wales kennen gelernt und den ich in Paris wiedergefunden hatte. Es befand sich in einer der altertümlichen Straßen des alten Paris, in dem ehemaligen Kloster der Cordeliers, in demselben Saal, der während der großen Revolution den Sitzungen des Klubs der Cordeliers gedient hatte und der jetzt in einige große Ateliers geteilt war. Das Czermaks enthielt noch dieselbe Tribüne, von der einst die wilden Führer zu den aufgeregten Leidenschaften der Massen gesprochen hatten. Jetzt war es phantastisch mit allem, was einem Künstler zu seinen Studien dient, geschmückt. Besonders aber zierten es Kostüme und Waffen aus den Donaufürstentümern und Montenegro. Czermak hatte seinen Stammesverwandten in jenen Gegenden eine besondere Vorliebe geschenkt, öfter lange Zeit dort verweilt und eine Menge schöner Motive mitgebracht, die er nun nach und nach mit poetischer Empfindung und vollendeter[169] Technik zur Ausführung brachte. Auch ein Klavier fehlte nicht, denn Czermak war auch ein tief musikalischer Mensch. Die Sympathie, die er mir schon in Wales bei unserm ersten Begegnen eingeflößt hatte, steigerte sich bei unserem Wiedersehen zu wahrer Freundschaft. Mit Freude nahm ich sein Anerbieten an, mit meiner Schreiberei mich in sein Atelier zu flüchten, wenn ich einsam sein wolle, und da ruhig zu arbeiten, während er male. Ich hatte meine Verbindung mit Kinkels Zeitung wieder angeknüpft, um meine Pariser Eindrücke daselbst mitzuteilen, eigentlich mehr, um mir so die Qual des Briefschreibens und der Wiederholungen derselben Dinge zu ersparen und meine Zeit endlich einmal frei für mich selbst zu nützen. Zu Hause fand ich keine ruhige ungestörte Stunde zu der Arbeit, die vielen zerstreuten Bilder, die an mir vorüber schwebten, in einen Rahmen zu fassen. Wie gern entschlüpfte ich daher wöchentlich zwei- oder dreimal dem eleganten Hotel, den vornehmen Champs Elysées, der geräuschvollen, glänzenden Modestadt am rechten Seineufer, und schritt dem alten, malerischen Paris der Revolution zu. Hier schien einen wirklich eine andere Welt zu umfangen, die bis dahin glücklicherweise noch nicht von Herrn Hausmanns alles Originelle und Schöne zum Kasernenstil nivellierenden »Verschönerungen« berührt worden war. Schon der Eingang und die Treppe zum alten Kloster waren originell und interessant. Dann ging ich den langen Gang entlang zu der letzten Tür und klopfte. Der Freund kam und öffnete, und wenn ich mich an den Fortschritten seiner Arbeit erfreut hatte, setzte ich mich in eine Ecke, packte mein Schreibzeug aus und schrieb, während er weiter malte. Oft verstrichen so Stunden, ohne daß einer von uns ein Wort sprach. Durch den denkwürdigen Raum schwebte es wie der Hauch einer wilden, großartigen Vergangenheit und gab den Arbeiten, die uns beschäftigten, den Hintergrund der Stimmung. Das herzliche Wohlwollen, das mich mit dem so viel jüngeren Manne vereinte, machte es uns behaglich und traulich in diesem Beisammensein. Oft auch sprang [170] Czermak auf, setzte sich an das Klavier und spielte einen Satz von Beethoven oder den Trauermarsch von Chopin oder, was mich noch mehr ergriff, Sachen aus »Tannhäuser« und »Lohengrin«. Er war ein eifriger Verehrer der Wagnerschen Musik. Ich kannte bis jetzt nur dürftige Bruchstücke davon, die ich in England am Klavier durch einen mir befreundeten deutschen Musiker gehört hatte. Aber auch dies wenige hatte mich schon mit einem Zauber ergriffen, wie nie zuvor Musik, und mein höchstes Sehnen war, einmal ganz und voll die Macht jener Eindrücke zu erfahren, die mein Ahnen mir von den Werken Wagners verhieß. Meist frühstückten wir nachher zusammen. Ein Kellner in weißen Hemdärmeln, mit einer langen grauen Schürze, wie sie dort im Quartier Latin noch gesehen werden, brachte uns aus einem benachbarten Restaurant zwei Beefsteaks und eine Omelette aux confitures herauf; Czermak holte den Wein dazu aus einer Ecke seines großen Ateliers, die den Keller vorstellte. So beschloß dies Frühstück, bei dem Ernstes und Heiteres besprochen wurde, diese in rein menschlich schöner Weise verlebten Stunden. Ich besaß Czermaks ganzes Vertrauen und lernte durch ihn auch auf eine meinen Hausgenossen verborgene Weise die Frau kennen, der er sein Herz und Leben geweiht hatte und von der ihn damals noch unüberwindlich scheinende Hindernisse getrennt hielten, was ihn oft mit der tiefsten Schwermut erfüllte. Einmal schien alles sogar so hoffnungslos, daß er entschlossen war, Paris zu verlassen und in sein geliebtes Dalmatien zu gehen. Er erzählte mir von der Schönheit jener Küstenstriche am adriatischen Meer, und wie da noch in entzückenden Tälern prächtige Marmorvillen, aus der Glanzzeit der venetianischen Republik her, fast für einen Spottpreis zu haben seien. Dort wolle er eine kaufen; ich solle mit ihm gehen, desgleichen ein czechischer, hochgelehrter Freund. Da wollten wir friedlich zusammen leben und ein Werk ausarbeiten über jene Länder: der gelehrte Freund den wissenschaftlichen Teil, ich den belletristischen, er den künstlerischen. Seine Bilder brächten ihm so viel Geld ein, daß [171] es ihn fast beschäme; es sei genug für uns alle, um davon zu leben. Mir gefiel der Plan wohl: fort aus dem Getriebe einer Kulturwelt, an die mich eigentlich nichts mehr fesselte, in eine wonnige Einsamkeit des Südens, der immer das Ziel meiner Sehnsucht geblieben war, in Gesellschaft zweier bedeutender Menschen, eines Gelehrten und eines Künstlers, zu einem ernsten Werk vereinigt – was hätte ich mir Besseres wünschen können? Durfte ich doch überzeugt sein, daß Czermak mit der Treue eines jüngeren Bruders für mich sorgen würde.

Allein der schöne Plan zerrann in nichts, da jene Wolken, die ihn hervorgerufen hatten, sich aufhellten und ihm das eigene Lebensglück wieder als möglich in Aussicht stellten.

Nun traf mich aber auch eine Nachricht, die für den Augenblick jeden Wunsch nach Entfernung aus der Welt, in der ich mich befand, verstummen machte. Es war die Nachricht, daß Richard Wagner in Paris angekommen sei und sich daselbst niederlassen wolle. Zugleich wurden drei Konzerte in Aussicht gestellt, die er im Hause der italienischen Oper geben und worin er eine Auswahl seiner Kompositionen selbst dirigieren werde. So sollte denn auch dieser heiße Wunsch mir in Erfüllung gehen, einmal etwas von Wagnerscher Musik, wenigstens mit vollem Orchester und von ihm selbst dirigiert, zu hören. Ich besuchte alle drei und fühlte mich wie in einem seligen Traum befangen, als ich diese Klänge vernahm, die eine andere schönere Welt, voll idealer Gestalten, voll großer, reiner, menschlicher Empfindungen, voll erhabener Leidenschaft und tiefer, aus dem innersten Kern des Herzens hervorbrechender Andacht vor mir aufschlossen; eine Welt, wie sie in den heiligsten Träumen meiner Seele mir vorschwebte, aus der nur die Musik mir bisher schöne, aber schmerzliche Grüße gebracht hatte, wie aus einer unerreichbaren Heimat, die nie Gestalt gewinnen könne. Hier aber fühlte ich, daß sie Gestalt gewonnen hatte. Da der Text mir bekannt war, ersetzte meine Phantasie die mangelnde Darstellung, und ich ahnte, daß hier ein Genius den Schlüssel [172] gefunden habe, der das Reich des schönen bewußten Wahns erschließen sollte, in dem die sogenannte Wirklichkeit zum Wahnbild und das Ideal zur wahren Wirklichkeit werden würde.

Ich war wie getragen von einer inneren seligen Gewißheit, von einer unfehlbaren Offenbarung. Mein nächstes Ziel war, den Schöpfer so hoher Dinge wiederzusehen. Zwar hatte unser Zusammentreffen in England keinen freundlichen Charakter gehabt, und ich wußte nicht, ob es ihm genehm sein würde, mich wiederzusehn. Aber ich wollte es doch ehrlich versuchen. Ich fühlte, daß ich ihn verstand, und kam ihm mit der reinsten Huldigung für seinen Genius entgegen. So, dachte ich, wird sich auch die Brücke finden, auf der ich zu ihm gelange. Der Zufall fügte es, daß in einem Konzert, wohin ich mich mit einer ungarischen Dame, deren Bekanntschaft ich gemacht hatte, begab, wir hinter Wagner und seine Frau zu sitzen kamen. Die Ungarin kannte Wagners und redete sie an. Ich wandte mich zu ihm und begrüßte ihn. Er erkannte mich und sagte freundlich: »Ach ja, bei Ihnen habe ich auch etwas gut zu machen; ich war damals sehr schlechter Laune; daran waren aber bloß die englischen Nebel schuld.«

Darauf machte er mich mit seiner Frau bekannt und beide luden mich freundlich ein, sie zu besuchen. Es verstand sich von selbst, daß ich bald von dieser Einladung Gebrauch machte. Wagners hatten sich ein kleines Haus mit einem Gärtchen, nicht zu weit von den Champs Elysées, in einer stillen Straße eingerichtet. Es sah reizend behaglich darin aus; besonders Wagners Arbeitskabinett und das Musikzimmer daneben waren, wenn auch klein, doch von künstlerischer Bedeutung. Hier nun fingen eine Reihe glücklicher Stunden an. Wagner erschien mir jetzt erst im rechten Licht; die Londoner Nebel waren gewichen, und mit staunender Freude sah ich diese gewaltige Persönlichkeit sich vor mir enthüllen. Er schien viel geselliger gestimmt wie in London. Gastlich öffnete sich sein Haus des Abends wöchentlich einmal, [173] und es drängten sich zu diesen Empfangsabenden bedeutende, freilich auch unbedeutende Menschen genug. Wagner aber beherrschte die Gesellschaft so völlig, daß man eigentlich nur ihn sah und hörte und die andern darüber völlig vergaß. Ich erinnere mich eines Abends, wo er vor mehreren Personen, zu denen auch ich gehörte, stand und über die Seltenheit dessen, was man Glück nennt, sprach, indem er schließlich die Worte der Eleonora d'Este anführte: »Wer ist denn glücklich?« Mein Herz klopfte jedem Wort, das er sagte, Beifall zu. Ich verstand ihn, aber es war mir seltsam, daß er vor so vielen so wundervolle Dinge sagte, denn ich sah es den meisten Gesichtern an, wie sie ihn nicht verstanden, und ich dachte: »Warum wirft er das Köstliche an die Unempfänglichen weg?« Freilich, vielleicht ist es so das Wesen des Genius, der schafft, sei es in Werken oder Worten, unbekümmert darum, wer ihn hört oder aufnimmt; gerade wie die Sonne scheint über Böse und über Gute.

Meinen Freund Czermak, den eifrigen Bewunderer Wagners, führte ich dort ein, und er kam oft, mich zu jenen Empfangsabenden abzuholen. Ich lernte da, unter anderen mehr oder minder interessanten Persönlichkeiten, auch die Tochter Liszts, die Gattin Emil Olliviers kennen, eine wundersam fesselnde Erscheinung. Ollivier selbst hatte ich im Salon der Madame Holland gesehen, einer vornehmen Engländerin, die in Paris einen Salon hielt, der noch der Idee entsprach, die man sich von den früheren, so berühmten Pariser Salons machte, die man bei den Pariserinnen selbst nun vergebens suchte. Mir war von Anfang an aufgefallen, welch ein sonderbar steifer Ton in deren Gesellschaften herrschte; die Damen saßen auf einer Seite, die Herren standen auf der andern. Selten, daß sich einer der letzteren in den feierlichen Damenzirkel wagte, und wenn es ja geschah, so wendete er sich meist nur an die älteren Damen. Die jüngeren unverheirateten Männer redeten nie mit den jungen Mädchen, denn das wäre sogleich als eine Demonstration angesehn worden. Die geistreiche Plauderei, wie sie[174] früher in den Salons de l'Abbaye bei Madame Récamier und auch noch unter der Restauration, in der belebten Epoche der französischen Literatur, durch Lamartine, Alfred de Musset, Victor Hugo und andere geherrscht haben mochte, war nirgends mehr zu finden. Nur jener reichen Ausländerin, die alle Winter in Paris zubrachte, war gelungen, was die Pariserinnen, die unter dem zweiten Kaiserreich Geist und Grazie eingebüßt hatten, nicht mehr vermochten. Sie besaß selbst keinen hervorragenden Geist, aber sie hatte das große gesellige Talent, kluge Männer sprechen zu machen und den Faden der Unterhaltung immer fein wieder anzuknüpfen, wenn er abzureißen drohte. So wurde sie die Vermittlerin einer geistig belebten, lebhaften, oft hoch interessanten Unterhaltung, in der, wie es bei wahrhaft schöner Geselligkeit sein sollte, immer nur einer auf einmal sprach, während die andern zuhörten und, wenn er geendet, in gleicher Weise gegen den verfuhren, der nach ihm das Wort nahm. Nichts zeigt vielleicht mehr wahren geselligen Takt und feine Bildung, als wenn man zuzuhören versteht. Bei Madame Holland versammelten sich die Männer der Opposition gegen das Kaiserreich, besonders die Anhänger der Orleanistischen Dynastie, aber auch deren frühere Opponenten, wie unter anderem der alte Odilon Barrot, den ich hier öfter sah. Dann waren dort: Rémusat, Jules Simon, Pressensé und andere, und es gab fast immer etwas Interessantes zu hören. Außer diesem war es nur noch ein Salon, der mir ein bestimmtes charakteristisches Bild zurückließ und der zugleich einen Anflug früherer Zeit trug. Es war ein Salon des Faubourg St. Germain: der von Frau von Staël, Schwiegertochter der Verfasserin von Corinna. Hier hatte sich noch etwas von der Tradition des achtzehnten Jahrhunderts erhalten. Man saß durcheinander, nicht in feierlichem Halbkreis, sondern wie es sich zur Plauderei eignet. Die jungen Damen waren mit Stickereien beschäftigt, die jungen Männer, allescousins et cousines, standen oder saßen dabei und schwatzten gemütlich miteinander. Die älteren Leute sprachen unter sich. [175] Da waren die Broglie und andere aristokratische Namen, da war auch der alte Guizot, dem ich vorgestellt wurde und mit dem ich mich längere Zeit unterhielt. Ich sagte ihm, daß mein Vater mich einst auf ihn und seine Politik verwiesen habe, als ich ihn um Belehrung über politische Ansichten gefragt, da er ihn für den wahren Staatsmann gehalten. Das schien ihn sehr zu erfreuen. Er sagte mir darauf, daß er allerdings prinzipiell die Republik für die beste Staatsform halte, sie aber als unausführbar betrachte. Als ich dieses Gespräch später Renan erzählte, lachte er und meinte, das sage der alte Schlaukopf immer, würde aber sehr wenig damit zufrieden sein, wenn die Republik wirklich eingeführt würde.

Diese eben angeführten Salons waren die einzigen, wie schon gesagt, die mir noch eine Idee davon gaben, was der ehemalige, so berühmte Pariser Salon gewesen sein mußte. Freilich eben auch nur eine schwache Idee, denn welch ein schwaches Abbild waren selbst die interessantesten Leute, die sie füllten, gegen jene geistvollen Menschen des achtzehnten Jahrhunderts, wie sie sich z.B. bei Madame Necker versammelten, und unter deren Gesprächen die junge Germaine Necker ihre ersten geistigen Anregungen empfing!

Wie ganz anders war der oben erwähnte deutsche Salon in Paris. Hier war es nicht das geistreiche, belebte Gespräch einer Menge bedeutender Menschen, sondern es war die überlegene Größe und Allseitigkeit eines Genius, die ihm die Bedeutung gaben. Es traf sich, daß einer der wärmsten Anhänger und zugleich ein Schüler Wagners, Klindworth, ein trefflicher Klavierspieler, nach Paris kam. Nun wurden die Empfangsabende in das Musikzimmer oben verlegt, und an jedem wurde etwas aus den Werken Wagners aufgeführt, wobei Klindworth die Begleitung übernahm, Wagner selbst aber die verschiednen Stimmen sang. Man hätte denken sollen, daß dies wenig geeignet hätte sein können, einen vollkommnen Eindruck zu geben, und doch war es so. Keiner verstand es so, obgleich mit wenig Stimme, seine Intentionen [176] und den ganzen ergreifenden Eindruck des neuen Gesanges, den er einführen will, klar zu machen. Ich begriff von vornherein, daß sich eine völlig neue Gesangesschule mit diesen Werken bilden müsse, daß es mit der bloßen Kantilene, zu der eine gute und geschulte Stimme ausreicht, vorüber sei. Es war der wahre, dramatische Gesang, der hiermit anfing, in dem das Wort von ebenso hoher Bedeutung ist, wie der es begleitende musikalische Ausdruck, und in dem daher eine ganz andere, wahrere Deklamation stattfinden muß, als in dem bisherigen Gesang. Es war ein Glück für mich, daß ich so mit den lang ersehnten Werken bekannt wurde, denn es ging mir dadurch von vornherein ein richtigeres Verständnis dafür auf, als wenn ich sie zuerst in den meist stümperhaften Ausführungen der deutschen Theater gehört hätte. So lernte ich Lohengrin und Tristan und Isolde ganz, die Walküre und Rheingold zum größten Teil kennen. Ich war auch noch besonders bevorzugt, da Wagner sehr gut gegen mich war und mir völlige Freiheit gab, auch am Morgen allein zu kommen und zuzuhören, wenn er mit Klindworth musizierte. So geschah es eben einmal, daß die beiden Tristan und Isolde beinah von Anfang bis zu Ende durchnahmen, vor mir als einzigen Zuhörerin. Immer tiefer nahmen mich diese gewaltigen Schöpfungen gefangen, immer heller wurde die Offenbarung in mir, daß dies allein der wahre Fortschritt in der Kunst und ihr höchstes Ziel sei: die Vereinigung aller Künste zum musikalischen Drama. An Urkraft der Empfindung, an Größe der Leidenschaft, an voller menschlicher Wahrheit der Gestalten konnte ich alles dies nur mit Shakespeare vergleichen, aber hier ist außerdem noch die Musik, die den gewaltigen Gang der tragischen Handlung wie mit einem verklärenden Äther umgibt. Und welche Musik! Es verhält sich mit ihr auch wie mit Shakespeare. Man vergißt, daß sie etwas von einem menschlichen Gehirn Geschaffenes ist. Sie scheint wie aus dem Wesen der Dinge selbst herausgestiegen, eine Naturnotwendigkeit, ein organisches Ganzes mit der Wahrheit der Gestalten. Raum und [177] Zeit verschwinden bei Anhörung eines solchen Kunstwerks. Wir durchleben ein tragisches Verhängnis, aber umwoben von jenem idealen Zauber, der von allem Schmutz und allen Flecken der irdischen Existenz befreit und im tragischen Untergang, im heiligsten Leiden die Seele erlöst.

Bei dem Anhören dieser wunderbaren Schöpfungen erfaßte mich das Gefühl, das beim Lesen von »Oper und Drama« einst schon so schlagend meinen Verstand überzeugt hatte. Nun ging mir auch ganz das Verständnis für den Mann auf, dessen gewaltiger Dämon ihn zwang, so unglaublich Großes zu schaffen. Von der Zeit an wußte ich, daß mich nichts mehr an ihm irre machen würde, daß er mir verständlich bleiben würde auch in dunkeln Stunden, in heftigen Äußerungen seiner reizbaren Natur, in Sonderbarkeiten, die die große Menge veranlassen würden, Steine auf ihn zu werfen. Ich wußte es, daß er von nun an auf mich rechnen könne in Not und Tod, und daß sein Genius eine der wenigen Leuchten sein würde, deren Glanz mir überhaupt noch es wert machen würde, zu leben. Ich war eines Tages dort zum Essen eingeladen. Als ich hinkam, fand ich alle in freudiger Aufregung, denn am Morgen war plötzlich die Nachricht gekommen, daß Napoleon wünsche, den »Tannhäuser« an der großen Oper aufgeführt zu sehn. Der Direktor, der noch vor wenigen Wochen Wagner mit einem kühlen Bescheid abgefertigt hatte, war nun ganz Untertänigkeit und Bereitwilligkeit, alles nach des Meisters Wünschen einzurichten. Die plötzliche Veränderung war der Fürstin Metternich zu danken, die, als große Verehrerin der Musik Wagners, den Kaiser dazu bestimmt hatte. Natürlich war auch ich höchlich erfreut, und der Entschluß stand sogleich in mir fest, es auf irgendeine Art möglich zu machen, im folgenden Winter zu dieser Aufführung wieder nach Paris zu kommen. Denn erst im folgenden Winter war an die Möglichkeit einer Aufführung zu denken, da der nötigen Vorbereitungen zu viele waren, unter anderen zunächst die Übersetzung des Textbuchs, [178] und da ohnehin die Wintersaison für dies Jahr bereits ihrem Ende nahte.

Auch unser Aufenthalt in Paris nahte seinem Ende. Die Familie Cobden war längst geschieden, da Cobden seiner Gesundheit wegen nach Algier geschickt wurde. Madame Schwabe, ihre Familie und ich hatten das große Hotel verlassen und eine Etage in der Straße Rivoli bezogen. Der Frühling war wunderschön in Paris. In einer Nacht entlud sich ein heftiges Gewitter und am andern Morgen prangten, wie durch einen Zauberschlag, die Bäume der Champs Elysées, die Gärten und Büsche im frischen Schimmer des ersten Grüns. Wagner sagte mir, daß ihm diese Erscheinung große Freude gemacht habe. In Rheingold nämlich schlägt Donner an den Felsen, worauf die Wolken sich zum Gewitter zusammenballen, und als sie sich verziehen, prangen Walhall und die Erde im Frühlingsschmuck. Nun waren ihm gerade in jener Nacht Gedanken darüber gekommen, ob dies zulässig sei. Da hatte ihn denn dieser Vorgang in der Natur angenehm beruhigt.

Je schöner Paris und die reizende Umgegend waren, desto schwerer wurde mir der Gedanke an das Weggehn. Der Winter hatte eine große heilende Wirkung auf mich gehabt. Das milde Klima hatte meiner Gesundheit gut getan. Die neuen angenehmen Beziehungen, an die sich keine traurigen Erinnerungen knüpften, hatten mich freundlich angeregt. Das bewegtere geistige Leben und der leichtere Verkehr der Franzosen, im Vergleich mit den Engländern, waren mir erfrischend gewesen. Manche kleinere literarische Arbeit, von der ich fühlte, daß sie gelungen war, hatte innere Befriedigung gegeben. Herzen schrieb mir in Beziehung auf die Artikel, die ich in Kinkels Zeitung sandte: »Vous travaillez – vous vivez d'une bonne vie; c'est autant de pris sur le diable.« – Alles das, vor allem aber die Bekanntschaft mit Wagner und seinen Werken, waren so viele Bande, die mich an Paris knüpften, und ich überlegte hin und her, wie ich es möglich machen sollte, wiederzukommen. Da erhielt ich zu [179] meiner Überraschung einen Brief von Herzen, in dem er mich aufforderte, die Erziehung der Kinder, besonders Olgas wieder ganz zu übernehmen, da die häuslichen Verhältnisse sich so gestaltet hätten, daß die Erziehung darunter leide und nicht zu seiner Zufriedenheit ausfalle.

Eine schönere Genugtuung für das Vergangne konnte mir nicht werden. Das volle Vertrauen, das er mir einst geschenkt und das der unerschütterlichen Freundschaft, die ich ihm geweiht hatte, entsprach, hatte nun wieder über alles andere gesiegt. Die Liebe zu dem Kinde, das Mütterliche in mir, wallte hoch auf. Doch kämpften andere Bedenken damit, andere Anziehungen, vor allem die zur Freiheit. Ich hatte es sattsam einsehn gelernt, daß Liebe auch Abhängigkeit ist, vielleicht sogar die größte. Bei einer bloß äußeren Abhängigkeit bleibt die Seele frei und unabhängig von dem Opfer äußerer Gewohnheiten und Neigungen. In der Liebe, auch in der mütterlichen, wird die Seele Sklave, und man bringt nur zu oft das Opfer seiner selbst, d.h. das, das man nicht bringen darf. Ich konnte mich daher nicht gleich entscheiden und schrieb nun Herzen, daß, wenn ich es annähme, wenn ich alle Vorteile, die Madame Schwabe mir biete, aufgäbe um Olgas willen, ich es zur Bedingung machen müsse, von nun an völlig freie Hand in deren Erziehung zu behalten und den nächstfolgenden Winter mit ihr wieder in Paris zuzubringen, wo meine Gesundheit sich entschieden bessern und ich auch Gelegenheit finden würde, das Beste für Olga zu tun.

Noch ehe ich eine Antwort hierauf erhielt, bekam ich einen andern Brief, von jemand, den ich bisher nur dem Namen nach kannte, von Mr. Hodge, jenem Engländer, dem Freunde Orsinis, dem dieser letztere in seinem Testament die eine seiner Töchter zur Erziehung übergeben hatte. Die andere hatte er einem anderen Engländer, auch einem intimen Freunde, vermacht. Er hatte sie nicht gern bei der Mutter lassen wollen, da er diese für wenig geeignet hielt, sie zu erziehen. Die zweite war aber kurz nach des Vaters Tod [180] gestorben. Mr. Hodge schrieb mir, daß er noch unverheiratet und zu jung sei, um die Erziehung eines kleinen Mädchens zu leiten. Er habe sich daher bei den Schwestern Emilie und Karoline erkundigt und den Bescheid erhalten, er könne nichts Besseres tun, als sie mir anzuvertrauen, wenn ich es übernehmen wolle. Er fügte hinzu: »Ich brauche wohl keine Entschuldigung, daß ich mich so an Sie wende; denn wir haben auf denselben Schlachtfeldern gekämpft und sind uns deshalb keine Fremde.« Das Zusammentreffen dieser beiden Anerbietungen bestimmte meinen Entschluß. Es schien mir eine schöne Fügung des Geschicks, gerade diese beiden Kinder zusammen erziehen zu können und, in der Entfaltung edelster Weiblichkeit in ihnen, beiden Vätern ein würdiges Denkmal zu setzen. Mein Herz schlug ihnen entgegen wie zwei geliebten Töchtern. Ich sah eine glückliche Lösung meines Schicksals in dieser Aufgabe, der meine Körperkraft noch gewachsen war, die mein Herz befriedigte und die mir noch Zeit ließ, für meinen Geist zu sorgen. Ich antwortete Hodge also, daß ich freudig auf sein Anerbieten eingehe, schrieb in demselben Sinn an Herzen und verwies beide auf meine demnächstige Ankunft in London. So kam der Tag der Abreise heran. Mit Wagner hatte ich noch so viel verkehrt, wie nur irgend möglich. Ich war so glücklich gewesen, ihm durch meine Vermittlung einen nicht unwesentlichen Dienst leisten zu können, und er hatte sich bei dieser Gelegenheit mit der Offenheit, wie man sie einer langjährigen Freundin zeigt, über seine Verhältnisse ausgesprochen. So waren wir uns auch gemütlich nahe gekommen, und die Sorge um ihn und sein Geschick lag mir schwer auf der Seele. Ein Genius, wie der seine, konnte nur frei in den Höhen seiner Ideale schaffen, ohne herabsteigen zu müssen zu Konzessionen an den schlechten Unverstand der Menge. Um das aber in Ruhe zu können, hätte er frei sein müssen von jeder pekuniären Not, und das war er nicht. Gänzlich mittellos, verstand er es auch nicht, den Verlegern und den deutschen Theatern gegenüber, die durch seine bereits so populär gewordenen [181] Werke große Einnahmen hatten, seine Interessen zu wahren. Er hatte dem praktischen Leben gegenüber jene Hilflosigkeit des Genius, die so rührend ist, weil sie mit einer tiefen Naivität der Begriffe über die Verhältnisse des gewöhnlichen Lebens zusammenhängt, die nur von der Bosheit und Mittelmäßigkeit mißverstanden werden können. Tausend Pläne, wie ihm zu helfen sei, kreuzten sich in meinem Hirn, und es war wieder einer von den Fällen, wo ich die eigne Mittellosigkeit mit bitterem Schmerze empfand und mich mit Leidenschaft nach dem Glück sehnte, das darin liegen muß, aus reichen Mitteln dem Genius die Bahn zu ebnen, auf der er Unsterbliches schafft. Ist das doch die einzige Art, den ungeheuren Wert, den das an sich so wertlose Metall in der Welt erlangt hat, zu heiligen, wenn man es zu edlen Zwecken verwendet – indem man die toten Mächte der Materie im Dienste der Lichtgeister braucht.

Den Tag vor unserer Abreise ging ich noch einmal hinaus nach dem père Lachaise (der großen Totenstadt von Paris), der einer meiner liebsten und häufigsten Spaziergänge war. Dort besuchte ich zum letztenmal Börnes Grab, an dem ich schon öfter geweilt hatte in dankbarer Erinnerung der frohen Stunden, die mir dieser feine, ironische und doch so tief empfindende Geist beim Lesen seiner Schriften einst gegeben. Es war mir stets peinlich gewesen, sein geistvolles Reliefbild hier auf dem kalten Stein zu sehen, dicht von andern Steinbildern umgeben, deren lebende Originale seinem ästhetischen Sinn vielleicht höchst unsympathisch gewesen wären. Ich wollte daher nicht von Paris scheiden, ohne ein schützendes Grün zwischen ihn und seine Nachbarn gesetzt zu haben. Ich kaufte dazu einige Efeupflanzen, die ich mit hin nahm und mit Hilfe des Kirchhofgärtners zur Seite des Grabsteins pflanzte. Dann saß ich lange dort inmitten des zauberischen Grüns, mit dem der Frühling die Totenstadt geschmückt hatte, und machte mir das Resultat meines Pariser Aufenthaltes klar. Es war ein gutes; ich hatte vieles in Frankreich lieben und schätzen [182] gelernt, manches Wissenswerte erfahren und viel in mir beruhigt. Der größte Gewinn aber, den ich davon trug, – das fühlte ich deutlich – war die Bekanntschaft mit Wagner und seinen Werken. Mit einem frohen huldigenden Gruß an die deutsche Heimat und den deutschen Geist verließ ich die französische Erde. Die grünen Wellen trugen mich und meine Reisegefährten dem stolzen Insellande wieder zu, das wie eine natürliche Festung mit seinen hohen Klippenwällen in geschlossener Individualität daliegt.

8. Kapitel. Das Kind, der Künstler, der Philosoph
Achtes Kapitel
Das Kind, der Künstler, der Philosoph

Madame Schwabe hatte ein schönes Haus mit Garten in London genommen, und dahin begaben wir uns zunächst. Ich sagte ihr nun, welche Aufforderung von seiten Herzens an mich ergangen und wie die alte Liebe zu dem Kinde, das ich von so frühem Alter an gepflegt und behütet, wieder alles andere in mir überwiege und mich bestimme, Herzens Vorschlag anzunehmen. Sie war sehr betrübt darüber, denn sie hatte gehofft, ich würde bei ihr bleiben. Ich war ihr persönlich sehr zugetan und schätzte ihre edlen Bestrebungen, ihren unermüdlichen Eifer für das Wohl anderer und für gemeinnützige Zwecke, ihre wirkliche Aufopferungsfähigkeit. Aber zunächst war mir das alles, ihre Tätigkeit sowohl wie die Verhältnisse, in denen sie lebte, zu geräuschvoll, zu sehr mit Äußerlichkeiten verbunden, die meinem innersten Wesen widerstrebten. Dann aber hatte ich längst eingesehen, daß zwischen ihren Kindern und mir kein wirklich fruchtbringendes Verhältnis entstehen konnte. Der Same, den ich säen wollte, konnte da unmöglich aufgehen. Alle diese Kinder waren durch ihre Erziehung und ihr Naturell vorbereitet, sehr nützliche, angenehme, allgemein beliebte Mitglieder der reicheren Klasse, der sie angehörten, zu sein. Was hatte ich da zu tun? Die gingen unabänderlich ihren Weg – die breite, wohlgeebnete Straße der in dieser Welt komfortabel eingerichteten [183] Menschheit. Ich konnte nur denen etwas sein, nur die richtig leiten, die den schmalen Pfad der Einsamen auf Erden gehn, die mehr nach den Sternen sehen, als nach den Kronleuchtern eines Ballsaals, die den Offenbarungen des Genius mehr vertrauen als der offiziellen Moral der Welt. Madame Schwabe schlug mir vor, Olga fürerst zu holen und sie in ihrem Hause einige Zeit bei mir zu behalten, um zu sehen, ob sich nicht ein gemeinsames Leben organisieren ließe. Ich fuhr also aufs Land hinaus, wo Herzen noch wohnte, ward freundlichst empfangen, erhielt Erlaubnis, Olga mitzunehmen, und fuhr mit ihr in die Stadt zurück. Dieses liebe Kind war so glücklich, bei mir zu sein, freute sich so seelenvoll über jeden kleinsten Umstand dieses Erlebnisses, das wie ein Unerwartetes, Verheißungsvolles in ihr Leben trat, daß es mich innigst rührte. Ich fühlte, daß das Schicksal uns beide einander zugewiesen und mir die heilige Aufgabe der Mutter im höchsten ethischen Sinn an einem Wesen vorbehalten habe, das von vornherein das Herz gefangen nahm durch den Zauber, den die Natur ihm mitgegeben, das ich bereits so sehr geliebt und um das ich schon so viel tiefen Schmerz gelitten hatte. Von da an stand mein Entschluß fest, dieser Aufgabe die letzte Kraft meines Lebens zu weihen und sie der höchsten Auffassung des mütterlichen Berufs gemäß zu erfüllen. Es sollte mir vom Schicksal gegeben werden, auch diesen Teil meines Lebensprogramms, um das ich so viel gekämpft, so viel geopfert hatte, erfüllen zu können. Daß die Frau um ihrer heiligsten Überzeugung willen einen ebenso treuen Kampf kämpfen und um ihretwillen die Schranken der Verhältnisse durchbrechen könne, so gut wie der Mann – diese meine Ansicht war nicht Theorie geblieben, ich hatte sie verwirklicht. Daß ferner die Frau auf sich selbst ruhen und sich eine ehrenhafte Stellung durch Arbeit und achtunggebietendes Leben erwerben könne – auch hierin war ich meinen ausgesprochenen Grundsätzen treu geblieben. Zum zweitenmal legte es endlich das Schicksal in meine Hand, das beim erstenmal unterbrochene [184] Werk in der Familie der freien Wahl fortzusetzen, und zwar nun speziell das mütterliche. So durfte ich auch hier beweisen, daß auch die unverheiratete Frau den ausschließlich sogenannten weiblichen Beruf, die Walterin des häuslichen Lebens, die Mutter aufblühender Jugend zu sein, erfüllen kann – daß daher keineswegs wie bisher der Gedanke an die Ehe den jungen Gemütern eingepflanzt und als das Ziel des Lebens für die Frau von klein auf hingestellt zu werden braucht. Diese unheilvolle Ansicht, die die meisten Mütter noch vertreten, muß aufgehoben werden. Das Mädchen muß, so gut wie der Knabe, von vornherein die größtmögliche Entwicklung seiner Fähigkeiten, das Streben, aus sich selbst ein möglichst vollendetes Wesen zu machen, als seine Aufgabe betrachten. Wie auch die äußeren Verhältnisse sein mögen, ein jedes Mädchen sollte eine Spezialität haben, durch die es selbständig oder, im Fall dies nicht nötig ist, anderen nützlich sein könnte. Die nächste Aufgabe eines jeden Wesens sollte es sein, aus sich selbst ein Kunstwerk zu machen. Wie sehr würde dadurch in den meisten Fällen all das unnütze, oft so häßliche Spielen mit den Gefühlen wegfallen, die Selbsttäuschung und das Andere-täuschen, wie es jetzt von den jungen Mädchen nur zu oft geübt wird. Wie sehr würde aber auch die Zahl der leichtsinnig geschlossenen Ehen und damit all das Unglück, das die Folge davon ist, sich vermindern. Kommt dem entwickelten Charakter, dem in sich ruhenden Wesen, die wahre Liebe als Blüte und Krone des Lebens dazu, nun wohl dem Glücklichen! Das Mädchen aber, das diese wahre Liebe nicht findet, soll sich nicht um jeden Preis in die Ehe stürzen, die dann weiter nichts ist als Prostitution. Sie soll arbeiten oder das Mütterliche in ihrem Herzen befriedigen durch die Sorge für andere Kinder, die ihr gerade so teuer werden können wie eigene. Nur das schönste Verhältnis des Lebens nicht entweihen, nicht heruntersinken lassen zu der Gemeinheit und Banalität, zu der es in den meisten Fällen gesunken ist! Ein widriges Zeugnis der Brutalität oder der Gleichgültigkeit [185] der Mehrzahl der Menschen, und die große Quelle der meisten Übel in der Familie, der Gesellschaft, dem Staat.

Ich blieb noch einige Wochen mit Olga im Hause der Madame Schwabe. – Manche interessante Persönlichkeiten gingen aus und ein; unter anderen sah ich dort Grote, den berühmten Verfasser der Geschichte Griechenlands, und seine sehr originelle Frau. Es war eigentlich ein beständiger Wirbel von Gesellschaften, Mittagessen, Besuchen usw. Mir wurde es viel zu viel, und ich sehnte mich nach Stille und Konzentration. Was mich einzig anregte und befriedigte, war die Hilfe, die durch meine Vermittlung auf die Schlachtfelder von Neapel, an Garibaldis heroische Scharen gesendet wurde. Ich erhielt nämlich einen Brief von Jessie White Mario, die dem Heere Garibaldis in mutiger Treue folgte und die Verwundeten pflegte. Sie forderte mich auf, in England für Zusendung von solchen Gegenständen, wie man sie für Verwundete braucht, tätig zu sein. Madame Schwabe, immer bereit zu helfen, wo leidende Menschen Hilfe bedurften, und durch ihre vielfachen Verbindungen imstande, Hilfe im großen Maßstab zu schaffen, nahm die Sache in die Hand. Bald gingen Kisten voll Matratzen, Zelte, Verbandmaterial und was sonst noch nötig, zu Schiff nach Neapel ab. Die heroische Unternehmung Garibaldis und seiner Tausend war es überhaupt, die jener Zeit ein tiefes, poetisches Interesse verlieh. Dieser Zug nach Sizilien war wie eine Erzählung des Homer – ein Epos von jener Heldenhaftigkeit, jenem phantastischen, alles aufopfernden Patriotismus verklärt, der auch Blut und Wunden und geopfertes Menschenleben mit einer Glorie umgibt.

Ich erklärte endlich Madame Schwabe, daß ich die Fortsetzung des bisherigen Zusammenlebens untunlich finde, da ich beschlossen habe, den Rest meines Lebens Olgas Erziehung zu widmen, Herzen sie aber keinesfalls mit nach Wales und Manchester, wohin Madame Schwabe bald zurückzukehren gedachte, gehen lassen würde, endlich auch die Art des Lebens im Hause mir nicht gestatte, die Erziehung in meinem Sinn [186] zu leiten. Ich setzte hinzu, daß ich es immer vorzöge, eine Sache ganz zu tun, wenn sie auch nach außen weniger erscheine, als vieles Glänzendere nur halb. Ich erbat mir von Herzen die Einwilligung, mit Olga voran an das Meer zu gehen, wohin auch er mit dem übrigen Haushalt zu kommen gedachte.

Dann schied ich von Madame Schwabe in freundschaftlichster Weise und gegenseitigem Wohlwollen. Ein junges deutsches Mädchen, das von Hamburg herübergekommen war, um sich als Erzieherin eine selbständige Stellung zu schaffen, dazu mir noch zu jung schien, mir aber durch sein verständiges, charaktervolles Wesen sehr gefiel, erbat ich mir von Herzen als Gehilfin bei Olga. Leider ward mir die zweite Pflegetochter nicht zuteil. Hodge hatte sich vergebens bemüht, die Witwe Orsinis dazu zu bestimmen, ihm die Tochter zu überlassen. Er war eigens dazu nach Italien gereist; da er aber keine legalen Mittel hatte, mußte er die Sache endlich aufgeben. Ich fuhr mit Olga und Marie nach einem Ort an der Küste, wo ich bisher noch nicht gewesen, dessen wilde Schönheit und große Stille mir aber gerühmt worden war. Hier verlebte ich ein paar Wochen, mit der Beobachtung der Natur des Wesens, dessen Obhut nun mein heiligstes Ziel geworden war, beschäftigt. In der Zeit, in der ich sie nicht um mich hatte, schrieb ich an einem Roman, der schon lange begonnen war, in dem wenig konzentrierten Leben der letzten Zeit aber nicht hatte vollendet werden können. Nach einigen Wochen kam auch Herzen mit dem Sohn und der älteren Tochter. Ich hatte ein schönes Haus auf hohen Klippen, an deren Fuß die Brandung schäumte, ausgesucht, und hier umfing uns wieder der alte Frieden von ehedem, da kein störendes Element zugegen war und ich ruhig meine eignen Ideen mit dem Kinde verfolgen konnte, denn die ältere Schwester war bereits über das Alter der eigentlichen Erziehung hinaus. Mehrere interessante russische Besuche, unter anderen Turgeniew, brachten eine angenehme Abwechslung in das Leben, obgleich es deren für [187] mich nicht bedurfte. Ich war wieder ganz befriedigt. Die düster schöne, wilde Natur des Ortes, der damals erst im Entstehen war, und die unbegrenzte Freiheit des Lebens, die keine Konvenienz, keine gesellige Verpflichtung störte, gaben mir ein tiefes inneres Behagen. Die Beschäftigung mit der Jugend füllte meinen Tag aus. Der Abend war wieder, wie ehedem, interessanten gemeinschaftlichen Lektüren mit Herzen geweiht. Nur ein Mangel machte sich noch tiefer als sonst fühlbar: der Mangel des Musikalischen in unserem Leben. Seit Paris, seit Wagner, hatte die Sehnsucht nach diesem einzigen Element, das aus einer andern Welt als der Welt der sogenannten Wirklichkeit zu uns spricht, wieder überhand in mir genommen. Von frühester Kindheit an war diese Sprache die eigentliche Sprache meines innersten Lebens gewesen. Ich war nie zu großer Virtuosität in der Ausführung gelangt, aber was Bestes in mir sich bewegt hatte, das war mit Tönen verwandt. Ich war fast nie, ohne innerlich von irgendeiner Harmonie, einem inneren Gesang begleitet zu sein. Auch wenn ich über anscheinend gleichgültige Dinge sprach, tönte irgendeine schöne Weise in mir fort. Wie oft in jungen Jahren, wenn am Abend im häuslichen Kreis meine Schwester (die viel besser spielte als ich) Beethoven oder Mozart vortrug, ging ich im Zimmer auf und ab, weil ich meiner leidenden Augen wegen nicht arbeiten konnte, und während jener Klänge dehnten sich mir die engen Zimmerräume zu hohen Tempelhallen aus. Dann vernahm ich Offenbarungen, die mich trösteten über die Banalität meines Lebens, mir wuchsen Schwingen, die mich aus den Schranken des gebrechlichen Körpers und der mit dem Oberflächlichen beschäftigten Welt hinaushoben und mich eine edlere Existenz ahnen ließen. Ich habe schon gesagt, wie mir wurde, als ich in Paris Wagners Werke hörte. Nun war es mir aufs neue klar, daß ein Leben ohne Musik ein dürftiges sei, eine Wanderung durch die Wüste ohne die Erquickung des himmlischen Manna. In Olgas Seele die Empfänglichkeit für jenes Manna zu nähren, war ein Hauptzweck [188] meiner Erziehung. Aber gewiß nicht in der stumpfsinnigen Weise eines äußern Virtuosentums, wodurch meistenteils bei der Erziehung mehr Schaden als Nutzen gestiftet wird. Wem keine inneren Harmonien tönen, den wird man sich vergeblich bemühen, zum musikalischen Menschen zu machen. Darauf allein aber kommt es an, wenn man nicht Musiker von Fach ist, also ein Instrument in technischer Vollkommenheit lernen muß. Im Gegenteil, ich habe es schon an einem andern Ort gesagt, es wäre ein Segen für die Gesellschaft, wenn es weniger ausübende Dilettanten gäbe und mehr musikalische Menschen, wenn die Meisterwerke Beethovens, Bachs, Mozarts und anderer nicht bis zum Überdruß in stümperhafter Weise gehört würden, wenn die Menschen nur mehr angeleitet würden, große, vollendete Aufführungen zu empfinden und ethisch auf sich wirken zu lassen.

Natürlich war das Musizieren mit Olga noch nicht geeignet, mir Genuß zu gewähren. Außer dieser Entbehrung aber war der Aufenthalt ein sehr wohltuender und verlief in vollem Frieden. Herzen hatte mir sein Wort gegeben, mich mit Olga für den Winter nach Paris zu entlassen. Ich blieb fest bei diesem Vorsatz, da mich, außer meiner Gesundheit, die Aufführung des Tannhäuser unwiderstehlich dahin zog. Zudem kehrten im Winter auch alle jene Elemente in das Haus zurück, mit denen ich nun bereits mehreremal ein Zusammenleben als unmöglich für mich und Olga erkannt hatte. Herzen wünschte jedoch seine älteste Tochter im Hause zu behalten und eine passende Begleiterin für sie zu finden. Ich schlug ihm die von mir so sehr geliebte und von ihm hochgeschätzte Emilie Reeve vor, die ich in jeder Weise für geeignet hielt, einem erwachsenden Mädchen als geistiger Vormund zur Seite zu stehen. Zugleich hoffte ich auch, ihr dadurch die Wohltat zu erzeigen, aus ihrem engen Kreis herauszutreten in eine ihr geistig ebenbürtige Welt. Herzen ging freudig auf den Vorschlag ein, und ich schrieb demnach an Emilie, die es hoch entzückt annahm. Als ich Herzen die bejahende Antwort mitteilte, sagte er mit inniger Befriedigung: [189] »Ich bin doch ein glücklicher Mensch; meine zwei Töchter in solchen Händen – was kann ich mehr wünschen?«

Wir kehrten nach London zurück. Ich nahm Abschied von den Freunden und schiffte mich zum zweitenmal nach Frankreich ein, mit Olga und der jungen eben erwähnten Deutschen. Es tat mir leid, Herzen und Natalie zu verlassen, aber ich hoffte, gut für sie gesorgt zu haben durch Emilie Reeves Aufenthalt im Hause. Das Kind aber, das ich mit mir nahm, war ja nun der Gegenstand, dem ich mein Leben weihen wollte. Darum versank jedes andere Bedauern in der Befriedigung, sie mit mir zu haben und nun »hinter allem Regen, allem Treiben, den geliebten Zweck zu sehn, der endlich lohnt«.

Ich richtete uns in Paris ein. Nicht in Luxus und großem Stil, wie im vorigen Jahr mit Madame Schwabe, sondern sehr bescheiden in einem vierten Stock, hoch über der lärmenden Pariser Welt, aber mit dem Blick auf die grünen Bäume des Tuileriengartens. Als wir eingerichtet waren, ging ich zu Wagners. Ich fand sie nicht mehr in dem freundlichen Häuschen vom vergangenen Winter, sondern in einem zweiten Stock, in einem großen, von vielen Menschen bewohnten Haus, in einer der geräuschvollsten, dunklen Straßen von Paris. Der Wechsel hatte aus pekuniären Rücksichten stattfinden müssen. Es schnitt mir tief in das Herz, das zu sehen. Ich fühlte, wie schrecklich es für Wagner sein mußte, in einer so unsympathischen Wohnung zu weilen. Als ich hinkam, hörte ich schon von außen, daß musiziert wurde. Ich wurde in den Saal geführt; Frau Wagner kam mir entgegen, hieß mich flüsternd willkommen und bot mir einen Sitz an, auf den ich mich schweigend niederließ. Wagner selbst war am Flügel mit einer jungen Sängerin beschäftigt, die den Gesang des Hirtenknaben aus dem Tannhäuser studierte. So kam ich denn gleich zu den ersehnten Studien. Nach beendigter Probe kam Wagner auf mich zu, bewillkommte mich herzlich und sagte: »Wie gut, daß Sie gekommen sind! [190] Eine bessere Aufführung wie die hiesige werden Sie nie hören; sie wird ausgezeichnet.«

So teilte sich nun mein Leben zwischen meinen häuslichen Beschäftigungen mit Olga und meinen Besuchen bei Wagners. Leider verstand ich es immer tiefer, daß der Freund in seinen ehelichen Verhältnissen nicht glücklich war. Es war mir schon im vergangenen Winter klar geworden, daß seine Frau wenig zu ihm passe, daß sie nicht imstande war, ihn über die vielen Mißverhältnisse und die Ungunst seiner Lebenslage zu erheben oder sie mit Seelengröße und weiblicher Anmut versöhnend zu mildern. Dem so ganz von seinem Dämon Beherrschten hätte von jeher ein hochgesinntes, verständnisvolles Weib zur Seite stehen müssen – ein Weib, die es verstanden hätte, zwischen dem Genius und der Welt zu vermitteln, indem sie begriffen hätte, daß diese beiden sich ewig feindlich zueinander verhalten. Frau Wagner hatte dies nie erkannt. Sie wollte vermitteln, indem sie von dem Genius Konzessionen an die Welt verlangte, die dieser nicht bringen konnte, nicht bringen durfte. Aus dieser gänzlichen Unfähigkeit, das Wesen des Genius und die daraus entspringenden Folgen in seinem Verhältnis zur Welt zu begreifen, entstand nun fast tägliche Pein und Qual im Zusammenleben, das durch die Kinderlosigkeit der Ehe auch noch des letzten versöhnenden und mildernden Elements entbehrte. Dennoch war Frau Wagner eine gute Frau und in den Augen der Welt entschieden der bessere und der leidende Teil von den beiden. Ich unterschied anders und empfand ein grenzenloses Mitleid mit Wagner, dem die Liebe hätte die Brücke bauen müssen, über die er zu den andern Menschen hinüberschritt, und dem sie statt dessen den bitteren Kelch des Lebens noch bitterer machte. Ich stand übrigens recht gut mit Frau Wagner, sie war freundlich und vertrauensvoll mit mir und kam oft, mir ihr häusliches Leid zu klagen. Ich tat dann, was ich konnte, um sie zu einem bessern Verständnis ihrer Lebensaufgabe zu bringen, allein natürlich vergeblich. Es war ihr in fünfundzwanzigjähriger Ehe nicht aufgegangen [191] und konnte es auch nicht, eben ihrer innersten Natur nach. Oft sprach ich mich über diesen Gegenstand mit Blandine Ollivier, der Tochter Liszts, aus, mit der ich die vorjährige Bekanntschaft erneuert hatte und die ich öfter besuchte. Dieses holdselige Wesen zog mich am meisten an unter all den Frauen, denen ich in Paris begegnete. Sie verband die Grazie der Französin und einen feinen, witzigen, fast sarkastischen Geist mit einem tiefen, seelischen, weiblichen Element, das, im Verein mit ihrer edlen Erscheinung, sie unwiderstehlich anziehend machte. Sie war mit Wagner, als dem Freunde ihres Vaters von Kindheit auf bekannt. Wir trafen einander oft in seinem Hause und waren beide der Ansicht, daß wohl kaum je zwei unpassendere Menschen zu einem so engen Bunde zusammengeführt worden seien.

Was mir nun nächst der Aufführung des Tannhäuser am meisten am Herzen lag, das war, endlich mit der Philosophie Schopenhauers bekannt zu werden. Ich teilte dies Wagner mit, und er war so gütig, mir das große Werk des Philosophen, »Die Welt als Wille und Vorstellung«, nicht nur zu leihen, sondern zu schenken, da er zwei Exemplare davon besaß. Nun saß ich oben in meinem Adlernest, wie ich es nannte, hoch über dem bunten Treiben von Paris, und wenn ich nicht mit Olga beschäftigt war, so las ich in Schopenhauer und war selig. Es fiel wie Fesseln von mir ab. Für alles, was sich seit Jahren in mir vorbereitet und durchgekämpft hatte, was sich in immer größerer Deutlichkeit in mir entwickelte, fand ich nun hier den wahren geistigen Schlüssel. Durch die Erklärung Schopenhauers vom »Willen« fiel mit einemmal all der unerklärliche und widersinnige Dualismus weg, den die christliche Anschauung von der Freiheit des Willens und dabei seinem ewigen Gebundensein durch göttliche Vorherbestimmung aufgestellt hat. Die Phänomene der Erscheinung wurden klar. Ich sah nun überall das gespenstisch unheimliche, bestialisch wilde Element des Urwesens in der Erscheinung, ehe es durch die Einsicht von der Notwendigkeit der Verneinung des Willens zum Leben erlöst wird. Die[192] »Verneinung des Willens zum Leben« – dieses Wort, das mich einst so wunderlich betroffen hatte, als ich es in London zuerst von Wagner hörte – jetzt war mir sein Sinn aufgetan. Ich begriff, daß es längst in mir ein natürlich Waltendes gewesen war, schon in früher Jugend, als ich mit der christlichen Askese Ernst machen wollte. Ich sah nun klar, daß dieser Kampf zwischen dem Willen zum Leben und seiner Verneinung überhaupt der Kampf meines ganzes Lebens gewesen war. Zum zweitenmal ging es mir wieder hell auf, das: »Erlöse dich selbst!« Der gebundene Gott in uns muß sich befreien aus den Schranken der Individuation, in die ihn der ungestüme Drang zum Leben gebannt hat. Das lange, qualvolle Ringen des Daseins hat keinen andern Sinn, als den der Auferstehung nach dem Kreuzestod, an dem das Ich, das Persönliche stirbt, um als Universelles fortzuleben. Nur wer das christliche Symbol so versteht, hat es recht verstanden. Das Leiden des Daseins hat von je die großen Erlöser hervorgebracht. Buddha, Christus und alle, die nach ihnen in heiligem Mitleid es versuchten, die Menschheit über die eigentliche Natur des Daseins und seinen Zweck aufzuklären, haben nichts anderes gemeint, als das große Ideal der Erlösung hinzustellen für alle Zeit. Sie wollten im edelsten Symbol den Weg zeigen, der aus dem in Armut, Krankheit, Tod und Sünde gebundnen Elend des Daseins hinausführt in die Freiheit der Kinder Gottes, in das Nirwana, das »Nichtwahnland« derer, die den Schein überwunden haben.

Durch Schopenhauer lernte ich auch Kant erst verstehen. Vor allem aber gewann ich durch ihn die Liebe zu jenen Urvätern unseres Geschlechts, jenem wunderbaren Volk im Osten, das am heiligen Strome unter Lotos und Palmen, das tiefsinnige Geheimnis von der Einheit alles Seins längst vor aller europäischen Kultur gekannt und vielleicht mehr als irgend ein Volk seine philosophische Weltanschauung in sei nem Leben zu verwirklichen gestrebt hat. Sehnsuchtsvoll zog es mich fortan, alles zu erfahren, was auf jene heilige Urzeit Bezug hatte, und ich segnete von nun an jeden Abend [193] beim Schlafengehen Olga mit dem großen Worte der Vedas: »Tat wam asi.«

Inzwischen gingen die Proben des Tannhäuser vorwärts, und Wagner forderte mich auf, in die erste vollständige Orchesterprobe zu kommen. Es waren nur wenige Bevorzugte im großen Opernhause gegenwärtig, von Damen nur Wagners Frau und ich. So hörte ich denn zum erstenmal vollständig vom Orchester diese Musik, die so lange das Ziel meiner Sehnsucht gewesen war, und ich war davon ergriffen wie von etwas Heiligem, davon berührt wie von dem Hauch der Wahrheit. Es ging auch alles wunderschön, und nach dem herrlichen Sextett, wo die Minnesänger den wiedergefundnen Tannhäuser begrüßen, erhob sich das Orchester wie ein Mann und brachte Wagner ein freudiges Hoch der Begeisterung aus. Es war 1 Uhr in der Nacht, als die Probe zu Ende war. Wagner war freudig erregt, weil alles so Herrliches zu versprechen schien, und forderte mich und seine Frau auf, in der Maison d'or des Boulevard des Italiens ein Abendbrot einzunehmen. Wir saßen in einem kleinen Zimmer für uns allein. Es war eine schöne Nachtstunde, die der herrlichen Probe folgte. Wagner erzählte uns, wie er der jungen Marie Sachs, die er ihrer prächtigen Stimme wegen für die Elisabeth gewählt hatte, obgleich sie noch ganz Anfängerin war, diese idealisch schöne Partie erklärt habe; unter anderem die Stelle, wie sie mit stummer Gebärde auf die Anfrage Wolframs, ob er sie begleiten dürfe, zu antworten habe: »Ich danke dir für deine zarte Freundschaft, aber mein Weg geht dorthin, wohin mich keiner begleiten kann.«

Hätte es noch eines Beweises für mich bedurft, so hätte es mir jene Nacht klar gemacht, daß allein das höchste Kunstwerk uns den Schmerz des Lebens verklären kann. Die Erlösung durch die Verneinung des Willens zum Leben ist ein schmerzvoller Kampf; allein im tragischen Kunstwerk, im bewußten Wahn, wird der Schmerz zur Verklärung und wir sehen, daß nur das Leben heroischer und darum tragischer [194] Menschen Wert hat, denn das allein kann Gegenstand der Kunst sein. – Indes kurz nach dieser Probe trübten sich leider die Aussichten auf ein schönes Gelingen. Die schadenfrohen Kobolde, die so gern einen idealen Moment im Menschenleben vereiteln, waren geschäftig und bliesen von allen Seiten Wolken des Mißmuts, des Neids, der Ungunst auf. Politische Grübler waren unzufrieden, daß es die Fürstin Metternich war, die zunächst die Einführung des dem französischen Temperament so ganz fremden Kunstwerks veranlaßt hatte. Die Presse war unzufrieden, weil Wagner nicht, wie Meyerbeer und andere getan, den Rezensenten diners fins gab, um ihren Geschmack im voraus zu bestechen. Die Claque, die sonst von jedem Komponisten förmlich engagiert wurde, war von Wagner geradezu verbannt und schäumte natürlich vor Wut. Auch im Orchester entstanden Parteien, besonders war der sehr unfähige Dirigent feindlichen Sinnes geworden. Wir, die Freunde und Anhänger, beklagten es tief, daß Wagner anfangs abgelehnt hatte, selbst zu dirigieren, wie wir alle es sehnlich wünschten. Endlich aber – und dies war die Hauptsache – waren die jungen Pariser Löwen, die Herren des Jockey-Klubs, empört, daß kein Ballett in der gewöhnlichen Form und zu der gewöhnlichen Zeit, d.h. im zweiten Akt, stattfinde. Es war notorisch, daß die Ballettdamen eine Erhöhung ihrer Gage von diesen Herren erhielten, und daß die letzteren gewohnt waren, nach beendigtem Diner in die Oper zu gehen, nicht um Harmonien zu hören, sondern um die unnatürlichste und scheußlichste Ausgeburt der modernen Kunst, das Ballett, zu sehen, nach dessen Beendigung sie sich hinter die Kulissen zu näherem Verkehr mit den springenden Nymphen begaben. Was lag diesen vornehmen Wüstlingen an der Aufführung eines keuschen Kunstwerks, das den Sieg der heiligen Liebe über den Sinnenrausch feiert? Oder vielmehr es lag ihnen nicht nur nichts daran, sondern sie mußten es von vornherein, noch ehe sie es gehört hatten, hassen und verdammen. Es war ja das Gottesurteil ihrer inneren Gemeinheit, ihrer maßlosen Verdorbenheit. Von [195] diesen ging denn auch die Hauptintrigue unter denen, die sich zum Falle der Aufführung vorbereiteten, aus. Sie hatten die Gemeinheit, sich im voraus kleine Pfeifen zu kaufen, mittels deren sie ihr Kunsturteil abgeben wollten. So zogen sich die Wolken immer drohender zusammen, und mit Bangen ging ich in die Generalprobe, in die ich auch Olga mitnahm, weil ich wollte, daß sie am Größten und Schönsten die Kunst lieben lernen sollte. Die Probe ging ohne äußere Störung vor sich. Das zahlreiche Auditorium bestand zum größten Teil aus Freunden, unter denen die Fürstin Metternich sich mit lebhaften Beifallsbezeugungen hervortat. Mir war es ein himmlischer Abend, denn mir brachte er das Längstersehnte, und obwohl ich fühlte, daß vieles in der Ausführung zu wünschen übrig blieb und daß sie Wagner nicht befriedigen würde, so war manches doch sehr schön, so die Elisabeth von der Sachs, und ich hatte doch nun einen Eindruck des Ganzen, der meine Ahnung bestätigte. Auch auf die kleine Olga wirkte der Zauber, wie ich gehofft; sie saß in Andacht und Begeisterung versunken, ohne zu ermüden, obgleich es spät in der Nacht war, als die Probe endete. Beim Herausgehn traf ich Wagner, der auf seine Frau wartete. Ich sah es an den Wolken des Unmuts auf seiner Stirn, wie wenig er befriedigt war, wie wenig er von dieser Aufführung den Sieg über die feindlichen Mächte hoffte. Ein Tag aufregender Erwartung verstrich, dann kam der Tag der Aufführung. Ich war mit befreundeten Damen und Czermak in einer Loge. Die Ouverture und der erste Akt verliefen ohne Störung, und obwohl die Anordnung des gespenstischen Götterreigens im Venusberg weit hinter Wagners Idee zurückblieb und die drei Grazien im rosa Ballettkleid erschienen, so war es doch so, daß ich aufatmete und hoffte, die Befürchtungen würden zuschanden werden. Aber bei der Wandlung der Szene, bei dem hinreißend poetischen Wechsel aus dem wüsten Bacchanal da unten in die reine Morgenstille des Thüringer Waldtals, bei den Klängen der Schalmei und des Hirtenliedes, brach plötzlich der lang vorbereitete Angriff aus, und [196] ein gewaltiges Pfeifen und Lärmen unterbrach die Musik. Natürlich blieb auch die Gegenpartei nicht untätig, d.h. die Freunde und der Teil des Publikums, der ruhig hören und dann entscheiden wollte. Da sie numerisch doch die stärkere war, behielt sie auch den Sieg, die Aufführung ging weiter, die Sänger blieben unerschrocken und taten ihr Bestes. Allein es dauerte nicht lange, so fing auch der Lärm wieder an. Ebenso der Protest der Gutgesinnten, die auch schließlich immer den Sieg behielten, so daß die Aufführung völlig zu Ende kam. Aber freilich, sie war so grausam gestört und zerstückelt, daß auch den Wohlwollendsten nicht die Möglichkeit geworden war, sich eine richtige Vorstellung des Ganzen zu bilden. In welcher Aufregung und Empörung ich war, ist kaum zu sagen; aber auch die andern Gutgesinnten waren in einem ähnlichen Zustande. Czermak war so wütend, daß er nur mit Mühe zurückgehalten werden konnte, sich an einigen der Hauptanführer tätlich zu vergreifen. Die Herren hielten nämlich gar nicht zurück mit ihren boshaften Machinationen, sondern saßen recht geflissentlich sichtbar, in ihren mit Glacéhandschuhen bedeckten Händen die kleine Pfeife haltend, die dann auf ein gegebenes Signal die schrillen Töne hervorbrachte.

Am folgenden Tage ging ich zu Wagners. Ich fand ihn männlich gefaßt, und so sehr war dies der Fall, daß auch die wütendsten Journale in dem Kampf, der gleichzeitig in der Presse entbrannte, es bekannten, daß er sich am Abend der Aufführung dem Sturm gegenüber auf das würdevollste verhalten habe. Er wollte die Partitur zurückziehen und eine zweite Aufführung verhindern, denn er hatte mit richtigem Blick erkannt, daß mit diesem Publikum der großen Oper an keinen wahren Erfolg zu denken sei. Wir alle, die näheren Freunde, die ihn umgaben, stimmten dagegen und für die Wiederholung, da wir bestimmt hofften, daß die Sache durchdringen müsse. Wir gaben uns in unserer leidenschaftlichen Erregung keine Rechenschaft darüber, daß dies jetzt eigentlich geradezu eine Unmöglichkeit war.

[197] So kam die zweite Aufführung heran. Die feindliche Partei hatte sich noch entschiedener gerüstet, aber ebenso auch die der Freunde. Der Kampf wurde ein noch viel erbitterterer als das erstemal. Ich war mit Wagners Frau und der oben erwähnten ungarischen Dame in einer Loge. Neben uns waren Franzosen, die sich besonders durch Pfeifen, Zischen und Schreien hervortaten. Ich war völlig außer mir vor Empörung und machte nun auch laut, in französischer Sprache, meinem Zorne Luft. »Das ist das Publikum, das sich anmaßt, der Welt vorzuschreiben, was Geschmack, was schön und vortrefflich sei? Ein Haufen von Straßenbuben ist es, der nicht einmal Lebensart genug hat, Leuten, die anders denken, Ruhe und Muße zum Hören zu geben.« In dieser Weise sprach ich ganz laut fort, so daß Frau Wagner mir erschrocken zuflüsterte: »Mein Gott, Sie sind zu kühn, Sie werden sich Unannehmlichkeiten zuziehn.« Ich dachte aber an nichts als an meinen Zorn und meine Verachtung eines solchen Publikums, und endlich wandte ich mich direkt an die Nachbarn und sagte: »Meine Herren, wenn Sie auch auf nichts anderes Rücksicht nehmen, so bedenken Sie wenigstens, daß die Frau des Komponisten hier neben Ihnen sitzt.« Sie wurden einen Augenblick lang stutzig und etwas stiller. Dann aber fingen sie von neuem an. Dennoch gelang es auch diesmal nicht, den Vorhang zum Fallen zu bringen, und die Aufführung wurde bis zum Ende durchgeführt.

Wagner war nun noch mehr geneigt, fernerem Skandal Einhalt zu tun, aber wir andern alle stimmten für die dritte Wiederholung. Sie sollte mit aufgehobnem Abonnement stattfinden, und wir hofften nun gewiß, die Ruhestörer würden fernbleiben und nur das Publikum, das wirklich hören wollte, würde kommen. Wagner hatte jedoch beschlossen, diesmal nicht hineinzugehen, um sich die unnütze Aufregung zu ersparen. Das Gleiche tat seine Frau. Ich hatte eine Loge genommen, um Olga und die junge bei uns wohnende Marie mitzunehmen. Ich hoffte, sie würden von dieser Vorstellung einen [198] ungestörten Genuß haben. Leider aber kam es anders. Die Ruhestörer hatten sich noch zahlreicher eingefunden, um ihr Werk fortzusetzen, und waren sogar von Anfang an da, was sie ihren Gewohnheiten nach sonst nie waren. Die Sänger benahmen sich wirklich heldenmütig, sie mußten oft fünfzehn Minuten lang und noch länger anhalten, um den Sturm, der im Publikum tobte, vorüberzulassen. Aber sie standen ruhig, sahen unerschüttert in das Publikum hinein, und sowie es stille wurde, nahmen sie ihren Gesang wieder auf und führten auch diesmal die Vorstellung zu Ende, obgleich das wahnsinnige Toben natürlich jede Freude an den einzelnen guten Leistungen und schönen szenischen Effekten verdarb. Die kleine Olga war ebenso leidenschaftlich erregt wie ich. Sie hatte bereits eine große Verehrung für Wagner und war in den Tiefen ihrer jungen Seele bewegt von dieser Musik, mit der sie eigentlich in das Reich der Töne eintrat. Diese übte eine so entschiedene, wunderbare Macht über sie, daß mir daran von neuem ihre innere Wahrhaftigkeit klar wurde. Olga mischte sich mit wahrer Wut in den leidenschaftlichen Kampf der Parteien, lehnte sich über die Brüstung der Loge und rief mit aller Kraft: »à la porte, à la porte!« indem sie auf die pfeifenden eleganten Herren zeigte. Zwei Herren, die neben uns in der Loge waren, schienen ganz entzückt von dem Eifer des Kindes und sagten mehrere Male: »Elle est charmante.«

Es war zwei Uhr in der Nacht, als wir uns im Foyer mit mehreren Freunden zusammenfanden und vereint zu Wagners gingen, die, wie wir voraussetzten, eines Berichts des Ausgangs harren würden. Auch hatten wir uns nicht getäuscht. Sie saßen gemütlich beim Tee und Wagner rauchte eine Pfeife. Er empfing die Nachricht des abermaligen, und zwar des erbittertsten Kampfes von allen mit Lächeln und scherzte mit Olga, indem er ihr sagte, er habe gehört, sie hätte ihn ausgepfiffen. Aber am Zittern seiner Hand, als er mir sie reichte, fühlte ich, daß das unnatürliche häßliche Begebnis ihn dennoch tief erregt hatte. Wenn auch[199] alles Unschöne, Rohe, Hassenswerte des Vorganges auf das Publikum zurückfiel, das sich eines solchen Betragens schuldig gemacht hatte, so war doch nun wieder eine Hoffnung für ihn dahin und der rauhe Lebensweg, der sich gar nicht ebnen wollte, lag wieder düster, mühevoll und hoffnungslos vor ihm. Das zerschnitt mir das Herz um so mehr, als alle meine Bemühungen, da zu helfen, fruchtlos blieben. Wagner zog jetzt natürlich die Partitur zurück und somit war dem Kampf auf dem Theater ein Ziel gesetzt. In der Presse und in der Gesellschaft aber dauerte er wochenlang in erbitterter Weise fort. Seit Glucks Zeiten war etwas Ähnliches nicht dagewesen. Sehr vereinzelt waren die Stimmen, die tadelnd auftraten und das Benehmen des Publikums rügten, aber sie kamen doch und von nicht unbedeutender Seite. Unter anderen schrieb der alte Jules Janin einen sehr graziösen Artikel, indem er an den Fächer der Fürstin Metternich, den diese im Zorne über das Vorgefallene zerbrochen hatte, anknüpfte und dabei das Verfahren der Pariser auf das schärfste geißelte. Ich schrieb einen getreuen Bericht der Vorgänge nach England, der auch in den Daily News gedruckt wurde, und den mir Klindworth bei meiner Rückkehr nach England, ohne zu wissen, von wem er sei, mit großer Freude zeigte.

Wagner reiste bald darauf nach Karlsruhe, wohin ihn ein ehrender Ruf des Großherzogs führte. Dann ging er nach Wien, wo er zum erstenmal seinen Lohengrin, den das deutsche Publikum längst kannte, aufgeführt sah, und zwar zu seiner innigsten Zufriedenheit, wie er an seine Frau schrieb, die mir den Brief mitteilte. Zugleich wurden ihm die enthusiastischesten Ovationen zuteil, die recht eigentlich als eine Gegendemonstration gegen das Pariser Verfahren anzusehen waren. Ich war glücklich über das Gute, was ihm nach so vielem Herben und Abscheulichen widerfuhr.

Inzwischen vertiefte ich mich wieder in das Leben Schopenhauers, und meine Befriedigung wurde immer größer. Ich kann sagen, dieser Winter gab meinem Leben den Abschluß.

[200] Ich hatte das Ziel und die Pflicht gefunden, denen mein persönliches Leben fortan geweiht sein würde: ein Wesen zu der höchstmöglichen Vollendung seiner selbst zu erziehn. Je mehr mir die Hoffnung schwand, als Mitglied der Partei, der ich bis dahin angehört hatte, etwas erreichen zu können, je mehr mir überhaupt die Hoffnung schwand, daß diese Partei noch eine fernere Aufgabe habe, desto inniger faßte ich meine Einzelaufgabe ins Auge, die zugleich mein Herz befriedigte.

Dann hatte ich den Künstler gefunden, dessen Streben mir allein ein neues Ideal verwirklichte und mir die Ahnung bestätigte, daß das Reich des Ideals überhaupt nur in der Kunst sei. Mir ging die Überzeugung auf, daß, wie sich einst in Italien nach dem Scheitern des lombardischen Städtebunds und mit ihm des Scheiterns eines geträumten, vollendeten Zustandes politischer Freiheit die ideale Sehnsucht in das Reich der Kunst flüchtete und dort eine verklärte Menschheit, ein ideales Vaterland schuf, so auch jedes, selbst das größte Erreichen auf politischem Gebiet nur mangelhaft bleiben würde, wie alles, was der Beschränkung des Irdischen anheimfällt, daß aber vornehmlich der deutsche Geist ewig die Vollendung seines Wesens in einer idealen Welt suchen müsse. Was ich ihm eine Zeitlang zum Vorwurf gemacht hatte, erkannte ich nun wieder als seine wahre Größe, als seine ureigenste Bestimmung, und es war ja auch ein deutscher Genius, der den Weg dahin zeigte.

Endlich hatte ich auch den Philosophen kennen gelernt, dessen Anschauungen meinem Ahnen zu Hilfe kamen und mich aufklärten über die Phänomene des Lebens, soweit dies für unsere Einsicht, die ja innerhalb derselben steht, möglich ist; den Philosophen, dessen erhabene Weisheit mir die unerschütterliche Stütze bot, an der ich den Weg des Lebens weiter wandern sollte.

Damit hat mein Suchen ein Ende; damit auch der Abschnitt meines Lebens, den ich den öffentlichen nennen könnte, weil er in Berührung und Beziehung zu öffentlichen Ereignissen [201] und Personen stand. Was darüber hinausgeht, was nun noch folgte, gehört nicht mehr, wenigstens nicht in dieser Form, vor das Publikum. Es würde unbescheiden sein, noch weiter davon zu reden.

Und war es nicht unbescheiden, überhaupt davon zu reden? werden manche fragen. Ich glaube nicht. Es gibt im Leben jedes Menschen, »der immer strebend sich bemüht«, Augenblicke und Zeiten, wo das allgemeine Sehnen und Suchen der Menschheit, sich auch in ihm, in einer individuellen Form, ausspricht. Diese haben ein allgemeines Interesse; sie zeigen das ewige Antlitz des »einen«, das in allen ist, in einer besonderen Auffassung. Sobald diesem Sehnen und Suchen seine Bahn gefunden ist, sobald der Schlüssel des Lebensrätsels uns von einem Größeren gereicht wird, hören wir auf, individuell zu sein. Wir folgen den Spuren dessen, der die Wahrheit bereits größer und besser hingestellt hat, als wir es vermochten. Unsere persönliche Geschichte hört dann auf – wenigstens für andere, die nächsten Freunde ausgenommen. Was noch folgt, muß ein Bewähren durch die Tat oder durch die Entsagung und das Leiden dessen sein, was wir durch jene Größeren erkannt. So ist es auch mit mir geworden. Leicht zeichnete mir das Schicksal auch den Pfad des Alters nicht. Es gefällt ihm, mich bis zuletzt beim Wort zu nehmen. Ich hoffe, es soll mich nicht wanken sehen, und durch die Stunden schwerer körperlicher Leiden, vielen und tiefen Seelenschmerzes, in den spärlichen Momenten reiner Freude und innigen Genusses, wie im Angesicht der ernsten Stunde, die den letzten Schleier hebt, sage ich feierlich und überzeugt mit meinem Philosophen: »Und dennoch dürfen wir getrost sein!«

[202]
Fußnoten

1 Ich nehme hiervon das moderne Pariser Französisch aus.

2 bei dem oben erwähnten Duell.

3 Golowin war ein Russe, der sich in den elendesten Angriffen gegen Herzen gefiel.

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TextGrid Repository (2012). Meysenbug, Malwida Freiin von. Autobiographisches. Memoiren einer Idealistin. Memoiren einer Idealistin. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-374B-0