Malwida Freiin von Meysenbug
Der Lebensabend einer Idealistin
Nachtrag zu den Memoiren einer Idealistin

[Widmung]

[204] Meinen teuersten Freunden

Olga und Gabriel Monod

zum 6. März 1898

in unvergänglicher Liebe zugeeignet

[204]

Vorwort

Wie gütig ist das Schicksal doch zuweilen! So erlaubte es mir, der Hochbetagten, mit Euch noch den Tag zu feiern, der Euch das Siegel auf fünfundzwanzig Jahre eines edlen Glücks drückte und mir die trostreiche Hoffnung gab, daß auch ferner gute Sterne über Euch leuchten werden, wenn meine Augen sich schon für alles Irdische geschlossen haben.

Warum ich Euch an dem Tag diese Blätter zur Erinnerung weihte, das war, weil sie Erlebtes und Gedachtes aus den Jahren enthalten, in denen ich nur teilweise mit Euch vereint war und wo das hier Erzählte Euch fremd blieb.

Warum ich nun noch einmal in die Öffentlichkeit damit trete, das ist, weil ich so über alles Erwarten liebevolle Teilnahme in der unbekannten Menge fand und daher voraussetzen darf, daß alle diese guten Freunde gern noch einmal einen Gruß von mir empfangen.

Möge es denn so sein! Von Euch bin ich dessen getrost, aber möge mir auch wieder ein zustimmendes Echo von nah und fern die Gewißheit geben, daß es eine weitverzweigte Gemeinde gibt von solchen, die sich nie gekannt, nie gesehen, und die doch fest verbunden sind durch das gleiche Streben nach dem Guten, nach dem Ideal, nach der äußeren und inneren Vollendung des Lebens.

Sie allein werden zuletzt recht behalten!

[205]

[Einleitung]

Die Zeit des Kampfes war vorüber, die größere Hälfte des Lebens war verflossen, nach innen und nach außen war die Freiheit gewonnen, die der Preis jedes edeln Strebens ist; die selbstgewählte Aufgabe der Erziehung einer Tochter der freien Wahl war erfüllt, sie hatte ihr eigenes Leben begonnen, in einer jedes wahre Glück verheißenden Ehe; das Alter nahte mit raschen Schritten, und nun galt es, doch noch einmal einen Entschluß zu fassen, sich für einen Wohnort zu entscheiden und dem Leben eine würdige, dem Alter angemessene Gestalt und einen ausfüllenden Inhalt zu geben. Nach der Trennung von jenem Wesen, dem, in jahrelanger Vereinigung, die Fülle der Liebe, die mein Herz umschloß, gegolten hatte, war mein festes, schon lange ins Auge gefaßtes Ziel gewesen, in das Vaterland zurückzukehren, und zwar an den Ort, wo mir damals die Blüte des wahrhaft deutschen Geistes, eine neue Heimat gefunden zu haben schien – nach Bayreuth, und so, nicht nur der mir so innig befreundet gewordenen Familie des großen Meisters nahe zu sein, sondern fortan auch ganz in der idealen Kunstsphäre zu leben, die sich durch ihn und um ihn dort entwickeln sollte.

Ich war schon einmal dort gewesen, als im Jahre 1872 der Grundstein zu dem Theaterbau gelegt wurde, und, als herrlichste Einweihung, in dem hübschen Rokoko-Theater von Bayreuth, die neunte Symphonie, von Wagner selbst dirigiert, zur Aufführung kam. Wer jene Tage miterlebt hatte, mußte eine ewige Erinnerung daran bewahren, als an einen jener idealen Momente, wie sie das Leben zuweilen den Sterblichen schenkt, um zu zeigen, was möglich wäre, wenn die Menschheit, anstatt sich nur um das »allzu Flüchtige« zu bemühen, die ewigen Schätze, die der Genius ihr bietet, pflegen und mit liebendem Verständnis zu erfassen tätig sein wollte. In dem Lichtglanz, den jene Tage über das kleine Städtchen im Bayernland verbreitet hatten, erschien mir kein Ort so geeignet, meinem Alter eine Heimat zu werden, als diese, der hohen Kunst geweihte Stätte, und ich nahm Abschied[206] von der Sonne des Südens, um unter einer idealen Sonne im kalten Norden zu leben.

Dort den Freunden verbunden, im engsten Familienkreis mit ihnen verkehrend, schien mir die glücklichste Wahl getroffen. Die Abende, wo gemeinschaftliche Lektüre uns vereinte, waren Stunden seltensten Genusses, weil jedes Werk, das vorgenommen wurde, durch Wagners Kommentare und Bemerkungen erhöhten Wert erhielt. Eine Zeitlang waren es die spanischen Dichter, die Wagner vorlas und deren zauberische Anmut mich entzückte, so wie die tiefe Glut der Empfindung mich an die Bilder Zurbarans erinnerte, die ich einst in der berühmten Ausstellung in Manchester gesehen hatte, zu der alle englischen Großen die reichen Schätze ihrer Schlösser, auf fremdem Boden gesammelt, eingesandt hatten. Diese Glut der Innerlichkeit, die in dem spanischen Maler sich zum düsteren Fanatismus steigert, fand ich in Calderon poetisch verklärt wieder, während mich in Lope de Vega und anderen mehr das feine, vornehme, blumenreiche Spiel anzog, wenn es auch gleich manches unserer Kultur Fremdes enthält, wie z.B. den spanischen Begriff der Ehre.

Unvergleichlich schön aber war es, wenn Wagner Shakespeare vorlas; es schien, als verstände man den großen Dramatiker nun erst ganz, und ich sagte einmal im Scherz zu Wagner, er habe seinen Beruf verfehlt, er hätte Schauspieler werden müssen, um Shakespeare zu spielen, um die gewaltige Größe des Genius den Menschen voll zum Verständnis zu bringen.

Zuweilen wurde das häusliche Leben durch Besuche auswärtiger Freunde unterbrochen, so wiederholt durch den Besuch Friedrich Nietzsches, damals noch durch die hingebendste Freundschaft mit Wagner verbunden. Ich hatte ihn bei der Grundsteinlegung im Jahr 72 kennengelernt, nachdem ich vorher schon mit Begeisterung seine Schrift »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« gelesen hatte. Dann hatte ich ihn in München wiedergesehen, wo ich mit Olga weilte, um den Aufführungen von »Tristan und Isolde« beizuwohnen, die uns alle ganz glücklich machten. Jetzt erfreute [207] er uns oft durch sein wahrhaft wundervolles Klavierspiel, meist freie Improvisationen, so daß Wagner ihm einmal im Scherz sagte: »Nein, Nietzsche, Sie spielen zu gut für einen Professor.« Auch Brockhaus aus Leipzig, Wagner verschwägert, kam und erzählte unter anderem, wie die Werke Schopenhauers lange Jahre als unverkäuflich bei ihm auf dem Boden unter dem Dach gelegen hätten, und daß er nahe daran gewesen sei, sie als Makulatur zu gebrauchen, bis plötzlich Schopenhauers Stern aufging. Welchem Schicksal sind oft die großen Schätze der Menschheit ausgesetzt! Aber Schopenhauer wußte es wohl, daß sein Tag kommen würde; sein Glaube hat ihn nicht betrogen.

Das schöne, wahrhaft ideale Zusammenleben in der kleinen, neu erworbenen Heimat wurde aber leider auf eine Weise gestört, die keinen Widerspruch zuließ. Meine Gesundheit, seit so vielen Jahren an südliche Winter gewöhnt, konnte den nordischen, noch dazu in dem kalten Klima von Bayreuth besonders rauhen Winter nicht mehr vertragen. Ein heftiges Kopfleiden stellte sich ein, und als ich nach München ging, um einen dortigen mir bekannten Arzt zu befragen, verordnete er mir, auf der Stelle nach Italien zurückzukehren, wenn ich die ernstesten Folgen vermeiden wollte. Er drängte so, daß mir nicht einmal Zeit blieb, noch einmal nach Bayreuth zu gehen und von den Freunden Abschied zu nehmen, was mir aber auch zu schmerzlich gewesen wäre, wie ich auch wohl wußte, daß dieser gewaltsame Aufbruch ebenfalls in ihrem Leben ein trüber Augenblick sein würde. So zog ich Anfang Januar wieder über die Alpen zurück, traf die Ebene der Lombardei tief mit Schnee bedeckt und ging nach San Remo an die Riviera, wo die Menschen wieder unter Orangenbäumen und zwischen blühenden Rosen im Freien saßen. Ich mußte aber erfahren, wie recht der Arzt in München gehabt hatte, denn es war eine lange, leidenvolle Zeit, die ich durchzumachen hatte, und ohne den trefflichen Arzt, den ich in San Remo fand, hätte ich wohl der Walküre, deren Wink ich schon gesehen zu haben glaubte, folgen müssen. Endlich [208] soweit hergestellt, daß ich reisen konnte, ging ich nach Ischia, wo ich schon den Sommer vorher, nach Olgas Heirat, vor meiner Ansiedlung in Bayreuth gewesen war und die Wohltat der dortigen Bäder erfahren hatte. Dort in der Einsamkeit der zauberischen Insel, mit dem Blick auf den Golf von Neapel und den Vesuv, erholte sich mein Gemüt von der schmerzlichen Resignation, in die es nach der gezwungenen Trennung von der idealen Heimat, die ich in Bayreuth gefunden hatte, versunken war. Ich fühlte, daß ich noch Kraft zum Leben hatte, daß ich noch denken, arbeiten, noch das Schöne empfinden und das Gute tun könnte, und damit war mein Entschluß gefaßt. Konnte ich des Klimas wegen nicht in jenem irdischen Walhall leben, so wollte ich wenigstens einen Ort wählen, wo etwas erlebt war, wo große Erinnerungen in bleibenden Zeugen hehrer Monumente einen Kranz der Unsterblichkeit um das Vergangene schlingen, und wo die ewig gütige Natur auch die Trümmer stets von neuem mit holdem Jugendschmuck umgibt. So wählte ich Rom zum letzten Asyl.

Schon zehn Jahre früher (in den Jahren 1863, 64 und 65) hatte ich drei Winter in Rom zugebracht mit den zwei mir anvertrauten Töchtern Alexander Herzens. Es war noch die Zeit der päpstlichen Herrschaft, unter Pio IX., und während das übrige Italien sich bereits zu einem einigen geschlossenen Staat zusammenfügte, herrschte hier noch das Mittelalter in den Zuständen, aber daneben auch noch der Zauber der lebendigen Überlieferung großer Vergangenheiten, der die Seele mit Stimmungen erfüllte, so voll von Poesie, von Glorie der Vorzeit, von schönheitsseligen Entzückungen – wie keine andere moderne Stadt sie hervorrufen konnte. Auch das gesellige Leben hatte noch nicht das Touristenhafte, das es jetzt hat. Noch war kein Eisenbahnnetz um die ewige Stadt geschlungen; noch hatte man nach alter Art mit dem Vetturino, in bequemer Kutsche, von munteren, mit Glöckchen behängten Pferden gezogen, den Weg auf guter Fahrstraße, von Florenz über Viterbo zu machen. Wenn man dann, [209] auf der Höhe der alten Flaminia angelangt, den Ruf erschallen hörte: »Ecco Roma!«, Halt machen ließ, ausstieg und nun die Kuppel von St. Peter vom Abendgold umstrahlt, und die Campagna in tausend wunderbare Farbentöne getaucht vor sich sah – dann hatte man die Empfindung, die einst die Pilger gehabt haben mögen, die ihres Seelenheiles willen hierherzogen, niederzuknien und das Wehen jener Weltmacht zu fühlen, die unsichtbar in den irdischen Geschicken waltet und die ewigen Ideen durch Jahrtausende hindurch, allem menschlichen Mißverständnis und Widerstand zum Trotz, zu ihrer Erfüllung leitet.

Wie schon gesagt, damals war Rom noch nicht die Stadt der bloßen Touristen, die auf wenige Wochen oder wohl gar Tage kommen und nun meinen, sie kennen Rom. Früher kam man hin, um sich auf ganze Winter und Frühlinge häuslich einzurichten, wirklich da zu leben in einer vielfach fremdartigen Welt, die aber in den Erscheinungen vergangener Geschichtsepochen eine Fülle anregender Eindrücke bot. Auch ich richtete unser Leben damals ganz häuslich ein, sorgte für genügenden Unterricht der jungen Mädchen, den die künstlerischen Anschauungen in edelster Weise vervollkommnen halfen, und genoß mit ihnen die liebenswürdigen Beziehungen, die sich in der damaligen Gesellschaft so leicht und angenehm bildeten. Man war lange genug beisammen, um engere Freundschaftsbande anzuknüpfen, und so fanden auch wir uns bald in einem Kreise heimisch, zu dem unter anderen auch Ferdinand Gregorovius gehörte, der damals schon eine hochgeachtete Stellung in der römischen Gesellschaft einnahm, und mit dem uns bald herzliche Freundschaft verband. Wie fröhlich und echt römisch waren die Sonntage, wo wir mit ihm, mit einigen Künstlerfamilien und munteren Kindern, Gefährten der noch im Kindesalter stehenden Olga, hinauszogen in die Campagna, uns in irgendeiner der vielen Osterien, die sich da finden, niederließen, und bei trefflichem Landwein und ländlicher Kost bis spät am Abend die Poesie des von allem modernen Leben so verschiedenen Daseins genossen.[210] Oder wenn wir uns auf der alten Fähre – dem damals außer dem Ponte S. Angelo einzigen Verbindungsmittel der beiden Ufer – über den Tiber fahren ließen, und nach dem Monte Mario hinaufwanderten, wo dann bei dem nächtlichen Rückweg die Gebüsche von Leuchtkäfern funkelten, die die Kinder sich in die Haare setzten und mit dem glänzenden Brillantschmuck entzückt heimwärts zogen. O Poesie des Lebens, wie wenig bedarfst du des Reichtums und Luxus, um deine holden Blüten zu treiben! In den reinen Herzen und den edeln Intelligenzen, in Liebe, Güte, Geist und Natur sind deine Elemente, und wie wenig wissen die Menschen aus diesen reichen Quellen zu schöpfen! Sie suchen in äußeren Dingen, was doch nur von innen kommen kann.

Nach diesen drei glücklichen Wintern in Rom, die mit Sommerfrischen am Meer bei Neapel oder auf den Inseln wechselten, nahm ich mit Olga bleibenden Aufenthalt in Florenz, woselbst ihr Bruder eine Anstellung auf dem naturwissenschaftlichen Institut, das unter der Leitung des berühmten Physiologen Moritz Schiff stand, gefunden hatte. Mein Leben war damals einzig der Aufgabe geweiht, der zur Jungfrau heranreifenden Olga die fehlende Mutter, und nach dem Tode Herzens, der im Januar 1870 in Paris starb, auch den Vater zu ersetzen, und so schön und inhaltsvoll das intime Leben, das sich um uns gebildet hatte, auch war, so hatte es doch keinen Anspruch auf öffentliches Interesse und fand seinen Abschluß mit Olgas Heirat, die sie in ein anderes Land führte, fern von mir, und mich allein zurückließ.

Ich kam dann also nach Rom zurück, das ich mir zur letzten Heimat erkoren. Es wurde aber vorläufig nur ein provisorisches Heim, da meine Schwestern mir die Absicht kundgaben, den Winter nach Rom zu kommen, das sie noch nicht kannten, und ich daher nur eine möblierte Wohnung mietete, wo ich mit ihnen zusammen wohnen konnte. Ich hatte schon seit vielen Jahren die Freude erlebt, daß alle Mitglieder meiner Familie sich mit mir wieder versöhnt und sich mir liebend zugewendet hatten, nachdem ihnen die Überzeugung [211] geworden war, daß ich nie bloß phantastischen Impulsen gefolgt wäre, sondern einer Idee gedient hätte, die, wenn sie auch nicht die ihre war, vor keinem Richterstuhl der Erde verurteilt werden konnte. Es war ein schöner Sieg der Liebe und Gerechtigkeit, wie er zwischen guten Menschen immer stattfinden sollte, wenn nicht Laune oder Willkür, sondern ernste Überzeugungen das Trennende zwischen ihnen gewesen sind. Meine Mutter war gestorben, als ich noch in England weilte, aber meine Schwestern hatte ich in Deutschland wiedergesehen, als ich von Florenz aus mit Olga nach langen Jahren zum erstenmal wieder deutschen Boden betrat. Dieser Winter wurde nun zu einem freundlichen Zusammenleben; durch das zufällige Eintreffen vieler interessanter Persönlichkeiten in Rom noch belebt und verschönert. Es waren da Levin Schücking, Carl Hillebrand, Liszt, Gregorovius und andere, und von Italienern Raffaele Mariano, der neapolitanische Hegelianer, Pasquale Villari, der Autor des Lebens von Savonarola, Macchiavelli usw. und noch viele andere, die auch bei uns aus und ein gingen und dem Leben einen geistig bewegten Inhalt gaben.

In dem darauffolgenden Sommer ging ich zum erstenmal nach zweijähriger Trennung, um Olga in ihrer neuen Heimat in Paris zu besuchen. Ich hatte mich mit Absicht so lange fern von ihr gehalten, teils um ihr Zeit zu geben, sich ganz frei in die neuen Verhältnisse einzuleben, teils um erst in meinem eigenen Herzen die Wunde der Trennung soweit heilen zu lassen, daß auch ich, frei von jedem egoistischen Gefühl, rein teilnehmend ihr gegenübertreten konnte. Ich fand sie bereits als glückliche Mutter von zwei holden Kindern und verbrachte mehrere Monate mit ihr in einer Sommerwohnung bei Paris, in liebevollster Eintracht, die in nichts den alten Ton der Liebe vermissen ließ, trotz der neuen Elemente, die so mächtig herrschend in ihr Leben getreten waren. In so vielen Fällen trennt die Ehe und besonders das neue Verhältnis zu den Kindern das frühere zwischen der Tochter und der Mutter oder derjenigen, die ihre Stelle vertrat, und [212] es ist vielleicht daher, und nicht immer mit Unrecht, die häßliche Sage von den bösen Schwiegermüttern entstanden. Wenn es aber der Zweck der Erziehung gewesen war, der Persönlichkeit die größtmögliche Freiheit der Entwicklung zu gewähren, und wenn daneben die eigne Natur genug Fülle und Tatkraft besitzt, um sich ein würdiges Leben zu schaffen, auch wenn die Aufgabe an einer anderen erfüllt ist, wenn endlich die Liebe, die hier verbindend gewirkt hatte, die wahre, reine gewesen war, frei von Egoismus im Geben und Nehmen, – dann kann das neue Verhältnis sogar eine Bereicherung des alten werden, gleich der Pflanze, die man mit Sorgfalt großgezogen hat, und die sich nun herrlich in Blüten vervielfältigt.

Im Spätherbst kehrte ich nach Rom zurück. Da aber mein Leben zu der Zeit fast nur ein rein innerliches war und äußerlich keinen Anspruch auf öffentliches Interesse hatte, so möge hier nur ein Bruchstück aus diesem Innenleben folgen.

Gedachtes

Einem Freunde, der mir schrieb, es sei eigentlich unnütz, zu schaffen, da doch alles dem Nichts verfalle, antwortete ich heute: »Teilen Sie die geschaffenen Werke in zwei Hälften; die eine Hälfte, die nur von der Welt der Erscheinung handelt, verfällt dem Nichts, wie alles, was nur Erscheinung bleibt, so auch die Menschen.

Die andere Hälfte, in der der göttliche Funke glüht, verfällt nicht dem Nichts; sie hat sich eingereiht in den Akkord der großen Symphonie, die im Grunde der Dinge tönt, die die wahren Künstlerseelen von fern in ihren Träumen ahnen, und die sie hören werden, wenn die Form zerbrochen ist, und sie es erreicht haben, nicht wieder erscheinen zu müssen. Die Inder haben das alles schon gewußt.


* * *


Ich sprach mit einer Bekannten über den Glauben. Sie meinte, er müsse bewußte, gewollte Überzeugung sein. Dann [213] ist es aber nicht Glaube, sondern Wissen. Glaube ist gerade die Macht des Gemüts, die etwas, allem Wissen, allem Wollen zum Trotz, festhält. So gibt es den Glauben an einen Menschen, selbst wenn wir ihn augenblicklich auf falschen Wegen wandeln sehen, so gibt es den Glauben an eine metaphysische Welt, trotzdem jede dogmatische Vorstellung zerstört ist; so gibt es den Glauben an ein Ideal, ungeachtet der Ideallosigkeit der uns umgebenden Welt. Der Glaube ist das Spontanste, Unzerstörbarste in dem Gemüt, das gläubig angelegt ist. Er wirft nur die Formen ab, die vor der Kritik der Vernunft nicht Stich halten, während gerade diejenigen, die sich an diese Formen anklammern und meinen, dadurch den Glauben festzuhalten, keinen mehr haben, wohingegen das gläubige Gemüt hinter jedem verlassenen Horizont einen neuen, weiteren, mit neuen lichteren Sonnen aufleuchten sieht.


* * *


Man kann vernünftig denken, daß das Diesseits alles sei. Freilich kommt es nur auf uns an, daß es viel sei, indem wir das kurze Leben mit reichem Inhalt füllen. Wir haben dann immer noch vor jenen, mit denen wir das Schicksal der Vernichtung zu teilen hätten, das voraus, daß wir Götterfreuden im Streben und Werden genossen haben, wo jene stumpf vorübergingen, oder den ungelöschten Durst am Vergänglichen stillen wollten.


* * *


Wir sind ja nicht am Ende des Wissens angelangt; und das ist unser Trost und sicheres Bewußtsein, daß die Entwicklung des Lebens unendlich ist, daß der Tod nichts ist, als der Übergang in neue Formen des Daseins, daß die Atome, die einst eine Dichterstirn, ein begeistertes Herz bildeten, vielleicht in einer duftenden Blüte wieder erscheinen, und ihre Wanderung von da wieder in neue Menschenformen fortsetzen, und daß die herrlichen Gedanken, die jener Stirn entsprangen, die Liebe, die jenes Herz zu tröstenden Taten des [214] Mitleids trieb, eingeflochten sind in die Unsterblichkeit des Lebensquells, der, von Mensch zu Mensch und von Geschlecht zu Geschlecht fortzeugend, das Gute, Große, Schöne weckt. Daneben freilich tragen wir den Schmerz der Endlichkeit, der Notwendigkeit, der unerbittlichen Göttin, die wir schweigend verehren, und gegen die es nur Gehorsam gibt, während auf der anderen Seite Freiheit ist, das heißt: Freiheit, das Vollendete zu wollen und das Mögliche zu erreichen.


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Ein Bibelausspruch, der gegen die Lehre vom Fegefeuer und die katholischen Zwischenstationen spricht, ist doch der, daß Christus am Kreuz zu dem Schächer sagt: heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein! Der war aber doch ein Sünder und konnte demnach noch nicht vorbereitet sein, sich Gott zu nahen.


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Da es Spiegelungen der Existenz gibt, in denen der Wille zum Leben nicht mehr störend eintritt, in denen das objektiv Schöne beinah in völliger Idealität vor uns steht, dürfen wir uns da nicht mit Recht der Hoffnung hingeben, daß einst, wenn der Kampf mit dem wilden Tiger ausgekämpft ist, uns das Glück des leidenlosen, objektiven Anschauens und Begreifens zuteil werden wird? Vielleicht liegt der Zweifel nur in dem Verwechseln von Subjektivität, d.h. Egoismus, und Individualität. Je höher, je reiner diese ist, je mehr ist sie fähig, sich dem Objektiven hinzugeben. Je subjektiver, d.h. je gebundener im Willen, je getrübter ist die Fähigkeit zur Selbsterlösung, und mithin zum idealen Glück. Ein Werk des Genius spricht dies deutlichst aus. Wer fühlte es nicht vor der Himmelfahrt der Maria von Tizian, in der Pinakothek zu Venedig, daß hier die Seligkeit der Erlösung vom Willen wirklich dargestellt ist? Da ist keine Leinwand mehr, da sind keine Farben. Da ist eine reine, große Individualität, die überwunden hat, und nun Freiheit atmend aufsteigt in das universelle Dasein, in das Glück der idealen [215] Existenz. Ihr nach sehnt sich in stürmischem Drang, was noch unten weilt im elementaren, unruhvollen Kampf.


* * *


Jedes tiefe innerliche Leben klingt mit einem Mollakkord aus, wie die ahnungsvolle Poesie der Völker es im Volksliede ausspricht.


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Die einzige Aufforderung, zu der der Gedanke an den Tod uns führen sollte, wäre die, das Leben mit dem höchsten Inhalt zu füllen, jedem Augenblick den edelsten Wert zu verleihen.


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Es ist das Schicksal aller tiefen Naturen, zuletzt mit sich selbst allein zu bleiben, d.h. mit dem, was das Universelle in uns ist, und deshalb ist es keine traurige Einsamkeit, sondern die Rückkehr in die ewige Einheit des Daseins, und damit in den wahren endlichen Frieden, dasselbe, was die christliche Anschauung »Frieden in Gott haben« nennt.


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Wenn wir es auch wissen, bei dem Tode geliebter Menschen, daß die eigentliche Realität dieser Erscheinung zurückgekehrt ist in die ewige Einheit ihres Ursprungs, so bleibt der Schmerz der Trennung für das Herz doch derselbe unheilbare, denn das Wesen der Liebe ist es, die unendliche Gegenwart, die unendliche Betätigung ihrer selbst zu bedürfen.


* * *


Wenn das Christentum die früheren Religionen mit umfaßt, diese gleichsam sein Johannes der Täufer sind, so ist damit schon der allmähliche Entwicklungsgang des religiösen Bewußtseins angedeutet und der Nimbus einer ein für allemal gegebenen Religion zerstört. Wenn Plato schon die idealen Keime des Christentums in sich trug, wie ich eben las, so beweist dies nur, daß tiefe Denker schon vor der Erscheinung [216] Christi die idealen Menschheitsgedanken hatten, und daß Christus eigentlich nur mit der Tat bewies, was theoretische Denker schon vor ihm ausgesprochen hatten. Da also die Religionen sich entwickeln, so ist das Absolute nicht in ihnen.


* * *


»Als Kinder in das Paradies eingehen«, sagt der Talmud. Wie unsäglich schön.

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Ich fuhr mit einer Bekannten, von Frankreich nach Italien zurückkehrend, über den Gotthard, und wir sprachen über die Bedeutung der Stelle aus Faust: »Wenn hohe Geisterkraft die Elemente an sich herangerafft« usw. – Je höher wir aber kamen, je mehr verstummte das Gespräch, denn die elementare, die Zauberwelt Faustens, umfing uns in Wirklichkeit und lockte die Phantasie in eine Tätigkeit hinein, die keine Worte hatte. Das irdische Leben mit seinem bunten Schein war wie verschwunden; ringsum starrten eisbedeckte Riesen; eine einst vielleicht gewesene Schöpfung schien zurückgesunken in den traumlosen Schlaf des Chaos. Wolken und Nebel kämpften, Form und Fels verhüllend, mit unsichtbaren Gewalten; Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Man wußte nicht mehr, in welcher Region man dahinsauste, vom Dampf, wie von einer gestaltlosen, unterirdischen Macht getragen. Es war so phantastisch, wie ich selten etwas gesehen hatte, und plötzlich fuhr man nun ein in die alte ewige Nacht des Urschoßes der Dinge, aus dem auf den geheimnisvollen Wink eines Erzeugers einst blühendes Leben hervorstieg. Ich dachte, was wohl ein Geschlecht geworden wäre, das sein Dasein in solcher Nacht hätte vollbringen müssen, ein Nibelungengeschlecht, das das freudige Licht nie geschaut hätte? Was hätten solche Gehirne hervorgebracht? – Da – plötzlich, nach kaum fünfundzwanzig Minuten, brausen wir hervor aus dem Höllenschlund, und sonnenbeglänzte Gipfel lachen uns an, rötlich glühen die Berge, braungoldig schimmert das Laub, das noch herbstlich die [217] Bäume bedeckt – kurz: es ist Italien, und in mir ruft es: »Am farb'gen Abglanz haben wir das Leben!«


* * *


Das Leben erreicht zuweilen einen Punkt, wo in der Seele nur noch Schweigen ist, wo wir darauf verzichten, noch gegen das Schicksal zu kämpfen, und das Haupt beugen.


* * *


Es gibt Tage, wo wir besonders unter dem Bann der großen Lebenstragödie stehen und uns nicht freimachen können von dem Druck, den das uns unbekannte Fatum, das die Erdenlose regiert, auf uns ausübt.


* * *


Die Natur ist mitleidslos; um so mehr ist das Mitleid das wahrhaft Ethische, das Bewußte im Gegensatz zu dem Unbewußten.


* * *


An einem schwülen Sciroccotag in Villa Mattei:
Schwer liegt wie Blei auf der Welt
Der schwüle südliche Luftstrom,
Hüllet in Nebel die Fern',
Die sanfte Form des Gebirges;
Scheint's doch, als seufze Natur
Ob schmählicher sündlicher Taten,
Und als rief's durch das All:
Erlöse uns endlich vom Bösen!

* * *


Zuweilen breitet sich von allen Seiten wie ein schwarzer Schleier über das ganze Leben: dann geht es wie in der Natur: eine Blütezeit ist vorüber und kehrt nicht mehr zurück. Doch der Frühling kommt wieder, und die Bäume und die Pflanzen grünen und blühen wieder; dieselben Arten erscheinen aufs neue, nur die individuelle Form hat sich geändert.


[218] * * *


Schön leiden zu sehen, welch ein erhebender, rührender, trostreicher Anblick! Häßlich leiden zu sehen, wie unendlich betrübend! Es gibt dem Mitleid einen Zusatz von Geringschätzung für die unausgebildete Seele.


* * *


Ja, so ist es! Die besten Wesen werden immer trauriger, je weiter das Leben vorrückt, weil sie mehr und mehr die unendliche Eitelkeit des Ganzen »l'infinita vanità del tutto«, wie Leopardi sagt, begreifen. Dafür gibt es keine Hilfe. Das Leben der Großen zeigt uns, mit wenigen Ausnahmen, immer dasselbe Schauspiel: die Überzeugung, die sich langsam aus der Erfahrung entwickelt, daß auch die schönsten Werke, die Schöpfungen der erhabensten Begeisterung, nur selige Träume großer Seelen sind und von der Menge unverstanden bleiben, und daß die ideale Reform, die der Genius vollziehen will, wenn sie stattfindet, den Stempel der Vulgarität erhält, den ihr die Berührung mit der Wirklichkeit der Welt aufdrückt. Der idealste Ausdruck, den die Kunst jemals für diese unausbleibliche Traurigkeit gefunden hat, ist der in dem Christuskopf auf dem Abendmahl des Leonardo da Vinci, jene sanfte Bitterkeit auf dem edeln Antlitz, die sagt: »Keiner hat mich verstanden, und einer hat mich verraten!«


* * *


Wer große Schicksale und Schmerzen wahrhaft durchlebt hat und dadurch geläutert und vertieft ist, bei dem wird die edle Scham immer mehr hervortreten, seinen Schmerz vor profanen Augen zu verhüllen, denn der Schmerz hat seine Schamhaftigkeit wie die Liebe. Die weltlichen Menschen, denen es Bedürfnis ist, auch selbst ihre Leiden und Schmerzen an die große Glocke zu hängen, fühlen sich dadurch getroffen und nennen das Kälte, während es doch nur der edle Stolz ist, der sein Allerheiligstes vor Entweihung bewahrt. Denn ist es nicht Entweihung, wenn das innerste Leben der Seele auf offenem Markte bloßgestellt wird?


[219] * * *


Das ganze Leben wird nach und nach Erinnerung, und es ist seltsam, diese innere Welt zu sehen, die mit so vielen geliebten Bildern bevölkert ist, die da ihre Unsterblichkeit gefunden haben, während ihre irdische Erscheinung verschwunden ist, gerade wie das Licht der Sterne, das uns noch zukommt, wenn die Himmelskörper selbst längst zerstört sind.


* * *


Könnte ich wünschen, noch einmal in das Leben zurückzukehren, so wäre es, um noch mehr zu lernen, zu erkennen. In dem Geheimnis dieser Sehnsucht liegt eigentlich der Schwerpunkt des ganzen Lebens und wie eine tröstende Verheißung, daß diese unsichtbaren Flügel der Seele, die Sehnsucht nach Erkenntnis heißen, uns irgendwo an schöne Gestade tragen.


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Das Leben selbst ist des Lebens Zweck. Gelebt zu haben ist unsere Aufgabe. Wie hoch oder wie niedrig man die versteht, ist eines jeden Sache.


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In der Art, die Dinge zu verstehen und aufzufassen, verraten die Menschen am meisten ihre Individualität.


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Die Gewißheit, daß wir das eigentliche Wesen der Dinge erst erleben werden, wenn wir dieses Traumkleid abgestreift haben, wird immer größer in mir und damit die Freudigkeit. Dieses Leben ist zu erbärmlich bedingt, um dem Geistgebornen alles zu sein. Das Leiden kann allerdings bis zu einem gewissen Grad aufgehoben werden durch die Erkenntnis, aber doch nur deshalb, weil wir fühlen, daß etwas in uns ist, was über die Erscheinung hinausgeht. Die Welt wird auch dazu zurückkommen. Das wird das neue Ideal sein, schöner, großartiger, verklärter als das christliche; es wird dem Geiste neue Flügel geben, um schon hier, in diesem Purgatorio, neue Himmel zu entdecken.


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»Bedenken Sie, daß vom Baume der Erkenntnis essen, nichts weiter sagt, als sich zum Kampf für dieses Leben geschickt [220] machen,« schrieb mir heute mein 91 Jahre alter Freund. Wie schön in wenigen Worten die ganze Allegorie der Genesis erklärt!


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Es ist ja wahr, daß das Leben traurig genug ist, und daß die Mehrzahl der Menschen nicht viel taugt! Aber wenn ich einen jungen begabten Mann sagen höre: »Für Neuerungen unter den Menschen, den sogenannten Fortschritt, habe ich nie Begeisterung empfunden, weil das Pack immer gleich erbärmlich bleibt, wie hohe Stelzen man ihm auch verleihen mag« – dann möchte ich immer sagen: sieh doch einmal von der Mehrzahl weg auf die Guten und Bedeutenden, die es doch auch gibt und die beweisen, was möglich ist. In jedem Fall aber, selbst wenn alle Dämonen wären, und man fühlte in sich die Macht des Guten und das Streben nach dem Ideal, so müßte man den Mut haben, der einzige Engel unter Teufeln zu sein.


* * *


Gestern abend hatte ich eine heftige Diskussion mit A ... Das ist das Unglück der Menschen, die sich einseitig mit den Naturwissenschaften beschäftigen, daß sie den philosophischen Gedanken gar nicht verstehen. Sie sehen immer nur das Greifbare, das Experiment, also das Einzelne, nie aber, wie der Philosoph, den Zusammenhang der Dinge, die ewige Kausalität. Der Streit entspann sich, indem A. behauptete, das Objekt habe seine vollständige Realität auch ohne das erkennende Subjekt, und die Ansicht Berkeleys, daß ohne dieses das Objekt gar nicht existiere, sei vollkommener Unsinn. Er führte mir als Beweis das Mammut an, das man kürzlich in Sibirien, im Eise fast frisch erhalten, ausgegraben hatte, und das da also existiert habe, ohne daß das erkennende Subjekt etwas davon gewußt hätte. Vergebens wandte ich ihm ein, daß das Mammut jetzt erst anfange, Objekt zu sein, nachdem das erkennende Subjekt es wahrgenommen habe, und daß es vorher im Eise so gut wie nicht da war. Er ging so weit, die Wirklichkeit der Welt zu behaupten, wenn [221] auch in alle Ewigkeit nichts als Stein und Pflanze, und kein erkennendes Subjekt da wären.

Doch verstummte er endlich, als ich ihn daran erinnerte, daß er selbst zugestanden habe, in einer früheren Diskussion, daß der Materialismus à la Carl Vogt, Büchner usw. ein völlig überwundener Standpunkt sei, und daß die Naturforschung jetzt die untrennbare Einheit von Kraft und Stoff anerkenne. Dann gab ich ihm meine Ansicht in der herrlichen Fassung Goethes:

1. Was wär der Schein, wenn er nicht Wesen hätte? Das Wesen wär es, wenn es nicht erschien? die eigentlich schon die ganze Lösung der Frage enthält. Sie ist der tiefsinnige Untergrund des wundervollen, philosophischen Mythus von der Menschwerdung Gottes, denn wenn das erkennende Subjekt Gott nicht Objekt wurde, sich selbst gegenständlich, so existierte es nicht für das Bewußtsein, wäre also tot, gleich nichts. Das Wesen muß erscheinen, um zu sein, sonst wäre es nicht. Beide sind identisch.

2. Was wär der Stoff, wenn ihm nicht die schaffende Kraft innewohnte, in ewig neuen Kombinationen und Gebilden sich selbst zum Objekt zu machen, und was wär die Kraft, wenn sie im Leeren wohnte und den Stoff nicht hätte, um darin wirksam zu sein? Alles Werdende wäre ja dann die alte Schöpfung aus dem Nichts. Also auch Kraft und Stoff sind identisch. Die Kraft entspringt dem Subjekt, das sich den Stoff gegenständlich macht. Eins ohne das andere wäre nichts.

3. Endlich: Das Subjekt selbst wäre nicht, wenn es sich nicht zugleich Objekt würde, indem es sich erkennt als den Leib, als die Glieder, als den denken den, fühlenden Menschen. Ebenso wäre das Objekt nicht, und wenn es Ewigkeiten dauerte, käme das Subjekt nicht, das es erkennt. Das wäre die Welt, über die das erlösende »Es werde Licht« nicht ausgesprochen wäre, das Chaos, das Nichtsein, der Tod.

[222] Wie tiefsinnig ist auch hier der Mythos! Wie begriffen jene wunderbaren dichtenden Denker der Vorzeit das Geheimnis des Daseins! Wie ganz wußten sie, daß Gott selbst sich gegenständlich werden mußte, um Gott zu sein.


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Schon als ganz junges Mädchen dachte ich dasselbe, noch ehe ich irgendeinen Philosophen gelesen hatte. Immer mit Fragen über das Wesen der Welt beschäftigt, sagte ich mir: Ja, Gott mußte schaffen, sich selbst gegenständlich werden, sonst blieb er sich selbst unbewußt. Somit ist das Subjekt das wahre a priori, ohne es wäre keine objektive Welt, aber es muß auch das Anschauen, das Vorstellen haben, sonst wäre es selbst gleich Null.


* * *


Die Basis aller Toleranz sollte die Betrachtung sein, daß die verschiedenen Anschauungen desselben Objekts für die verschiedenen Subjekte, denen sie angehören, jedesmal wahr sind, wie dies z.B. bei allen Religionen der Fall ist.


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Ohne den idealen Genuß, der uns weit vom Tier, vom blinden Zufall und vom bloßen Nützlichkeitsprinzip scheidet, ist das Leben gemein.


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Jedes rechte Leben findet auch seine Erfüllung, trotz dem Unersetzlichen, was verloren geht.

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Wie kann die wunderschöne Legende der Weihnacht entstanden sein? Nicht durch die Apostel, die erst im Mannesalter zu Jesus kamen, nicht durch Maria oder die Hirten, die noch zu naiv und dem natürlichen Vorgang der Geburt zu nahe waren, um darüber zu dichten. Wahrscheinlich fühlte, im Anwachsen des Mythos, der sich nach und nach um die Person des Messias bildete, ein von Jesus begeisterter Gläubiger sich hingerissen, schon den Eintritt des Gottessohnes in die Welt mit allen Wundern himmlischer Teilnahme zu [223] schmücken, wie es schon frühere Religionen mit ihren Stiftern getan. Denn der Mensch liebt es, das Unbegreifliche des Genius mit Wundern zu umgeben, während doch der Genius selbst das Wunder ist.


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Es gibt Dinge in der Natur, deren Anblick beinah auf uns wirkt, wie ein großes Ereignis, die uns befreien von der Last der persönlichen Existenz, indem sie uns dem Unendlichen, dem universellen Dasein vereinen. So ist das Meer.


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Die Flamme des Geistes ist ein wohltätiges, stärkendes Licht, wenn sie im freien Äther der Erkenntnis, ungetrübt von irdischer Sorge, brennen kann. Aber sie wird zum verzehrenden Brand, wenn die Angst um das materielle Dasein sie schürt und nährt. Die Monumente setzt der schöpferische Genius sich selbst; daß er frei sei, sie sich zu setzen, müßte die Sorge seiner Zeitgenossen sein.


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Eine Bekannte frug mich heute: »Glauben Sie, daß die Leidenschaft wirklich nötig ist, große Dinge zu schaffen?« Ich sagte ihr: »Ja, die Leidenschaft für die großen Dinge ist nötig, um sie zu schaffen, aber nicht die persönliche Leidenschaft, die immer egoistisch und exklusiv ist, außer wenn sie zur Leidenschaft für die großen Dinge führt.«


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Die unegoistische Liebe ist ein arger Tyrann; sie zwingt uns mit unwiderstehlicher Gewalt zu immer neuen Opfern; dem Glück kann man entsagen, dem Mit–leiden nicht.


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Die meisten Menschen lieben uns mehr um das, was wir tun, als um das, was wir sind.

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Etwas zu sein ist das beste Mittel gegen das etwasscheinen zu wollen.

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Das Herz schließt endlich seine Pforten zu. Es ist ein Pantheon, in dem schon alle Nischen mit geliebten und verehrten Bildern besetzt sind; für neue ist kein Raum mehr da.


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Der reifende Geist kann einsam sein, und in der Einsamkeit die Fülle des Daseins genießen. Das Herz kann nur selig sein, wenn es das Leben einzelner geliebter und verehrter Menschen oder das von Tausenden schmücken kann. Das wäre auch die wahrhaft schöne und berechtigte Seite des Herrschertums: die Macht zu beglücken, und gerade an dieser Möglichkeit scheitert der Wille. Welch arger Widerspruch! Man müßte an der menschlichen Natur verzweifeln, wenn es nicht gerade ein Beweis wäre, daß keiner ein allmächtiger Gott sein soll unter Menschen, und daß nur Gleichberechtigte eine vernünftige menschliche Einheit bilden können.


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Freundschaft ist persönliche Sympathie ohne Beimischung von Leidenschaft, und daher unegoistisch. Die Definition des Aristoteles: »Freundschaft ist, wenn man alles tut, was der andere will, ohne an sich selbst zu denken«, scheint mir nicht vollständig. In der Freundschaft ist die Erkenntnis tätiger als der Wille; in der Liebe ist es umgekehrt; daher ist in der Freundschaft Ruhe, in der Liebe Unruhe.


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O Stille, Gesegnete! Du, die du allein würdige Stimmungen erzeugst.

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Gewisse Kranke wollen mit großer Rücksicht behandelt sein, man muß Schwächen in ihnen schonen und nicht glauben, sie könnten sie überwinden. Daß sie es nicht können, ist eben ein Teil ihrer Krankheit. Besonders können manche Kranke es nicht ertragen, daß man an ihrer Krankheit zweifelt, da sie sich selbst für kränker halten als alle anderen. Aber auch zartfühlenden Naturen ist dies, wenngleich aus anderen Gründen, empfindlich, da sie andere nicht gern mit [225] der Erzählung ihrer Leiden plagen und doch den Anforderungen, die man an Gesunde macht, nicht genügen können.


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Dem Freigeist kann man keine Gebote vorschreiben, sonst ist er ja nicht mehr Freigeist. Er erkennt auch Gesetze an, aber im Geiste des Solon, die sich mit steigender Erkenntnis ändern und verbessern lassen.


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Man vergleiche die Gesichter von Savonarola und Luther. In ihnen spricht sich schon der ganze Unterschied der deutschen und italienischen Reformation aus. Der südliche Reformator bleibt Fanatiker, quand même; Luther bleibt derb, schlicht, energisch, aber nicht fanatisch.


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Das Verbot des Vaters der Schwanenjungfrauen an seine Frau, nicht zu fragen, wer er sei, ebenso das Verbot Lohengrins, sind sie nicht verwandt mit dem Verbot im Paradies, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen? Nur nicht erkennen, besonders die Frau nicht, von alten Zeiten her. Wer ist der Neidische, der es verwehrt? Ein Mann.


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Der Idealist allein hat den Glauben, der Berge versetzen kann, weil in ihm der Wille schon auf seine Verneinung gerichtet, sich mit aller Kraft auf die Verwirklichung des Ideals wendet, und ihm den Mut gibt, auszuharren, bis er sein Ziel erreicht. Er hat daher vielleicht weniger innere Kämpfe, als andere, weil ihm sein Weg unabänderlich vorgezeichnet ist. Er leidet aber tiefere Schmerzen durch den Widerstand der ideallosen Welt.


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Gregorovius sagt einmal, die großartigste aller Legenden sei die von Moses, der von der Höhe aus unten das gelobte Land erblickt, und dann stirbt. Alle Idealisten erleben diese Legende; der Geist führt sie auf die Höhe, wo sie ihr Land der Verheißung erblicken, aber erreichen tun sie es nicht.


[226] * * *


Im Jahre 382 nach Christi schrieb der heilige Augustin: »Nihilisti apellantur quia nihil credunt et nihil docent.« (Nihilisten genannt, weil sie nichts glaubten und nichts lehrten.) Er sprach von einer Gesellschaft, deren Zweck Verneinung und Vernichtung alles Bestehenden war. Also ist auch das nichts Neues, nur das Dynamit ist ein moderner Zusatz.


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Die Greuel der Reaktion in Neapel nach 1799 sind so abscheulich, daß sie allein schon ein jüngstes Gericht verdienten, und keine Flammen der Hölle heiß genug wären für solche Unmenschen, wie König Ferdinand, Maria Carolina, Acton und Genossen. Die Vernichtung wäre ein zu großes Glück für solche Wesen. Die müssen braten in ewiger Qual!

Episoden aus den Jahren 1876 und 1877

Es waren bedeutungsvolle Jahre für mich. Schon im Juni des Jahres 76 bereitete sich in Genua ein Fest vor, das das demokratische Italien, das zu der Zeit noch einen Teil der idealen Begeisterung besaß, die seine Einheit hauptsächlich zustande gebracht hatte, – in große Erregung versetzte, und auch meine innigste Teilnahme in Anspruch nahm. Es sollte in Genua das Monument enthüllt werden, das die Stadt ihrem edelsten Sohne, Joseph Mazzini, setzte, der vier Jahre vorher, zwar auf heimischer Erde, aber immer noch ein Exilierter und zwar der einzige Exilierte, gestorben war. Das Festkomitee hatte durch ein Manifest die italienische Nation zur Teilnahme aufgefordert und es war zu erwarten, daß besonders von den demokratischen Arbeitervereinen aus allen Gegenden Italiens ein großer Zuzug stattfinden würde. Denn Mazzini war den Arbeitern immer ein wahrer Freund und Lehrer gewesen. Er zeigte ihnen ihre Rechte, aber er forderte von ihnen auch die Erfüllung ihrer Pflichten, und hätte er die Geschicke Italiens lenken können, von der Zeit [227] seines Triumvirats in Rom an bis zu seinem Tod, er hätte sicher den Sinn für Pflichterfüllung und Gesetzlichkeit in seinem Volk geweckt, und es würde heute auf einer höheren Stufe der Moralität stehen, als es jetzt der Fall ist.

In Genua ist Mazzinis Andenken lebendig unter den arbeitenden Klassen, die es wissen, wie sehr er sie im Herzen trug und für die Verbesserung ihres Schicksals bemüht war. Noch bei meinem letzten Aufenthalt dort zeigte mir ein Arbeiter die Reihe guter, reinlicher Wohnhäuser für Arbeiter, die auf Mazzinis Anregung gebaut wurden, und versicherte mir, daß sie treu an seinen Lehren hingen. Dasselbe bekräftigte mir der Kutscher, der mich auf den schönen Kirchhof von Staglieno fuhr, wo die irdische Hülle Mazzinis ruht. Der Ort liegt weit hinaus vor der Stadt und zieht sich einen Berg hinan, von dem man eine herrliche Aussicht genießt. Hier befindet sich auf der Höhe, in den Fels eingehauen, die geräumige Gruft, in der der Sarg steht. Auf einem freien Platz davor ist das Grab seiner Mutter, mit der ihn die innigste Liebe verband. Sie liegt da, wie um ihn, den ihre aufopfernde Mutterliebe im Leben nicht vor der tiefsten Tragik des Schicksals schützen konnte, wenigstens im Tode vor der Tücke des Hasses und Neides sicherzustellen. Seine Ruhestätte könnte nicht schöner sein, aber seine Vaterstadt will das Verbrechen, das Italien an ihm beging, wenigstens durch ein Monument sühnen, das wie das des Kolumbus davon zeugen soll, daß Genua auf seine großen Söhne stolz ist. Das Fest wird glänzend sein, prachtvolle Ausschmückung der Stadt und des Weges bis zum Kirchhof, Vergnügungen für das Volk, Musik, Illumination – nichts wird fehlen. Nur eins wird fehlen: die Erfüllung dessen, was Mazzini für sein Volk gewollt und gehofft hat, und wofür er das lange Märtyrertum des Exils und die unzähligen bitteren Enttäuschungen mit unerschütterlicher Standhaftigkeit getragen hat. Wie es ihm nur um dies hohe Ziel zu tun war und wie er dabei allen Ehrgeiz, allen persönlichen Erfolg hintenan setzte, davon gibt Alexander Herzen eine schöne [228] Schilderung, nachdem er Mazzini, nach dem Krieg von 1859, wiedergesehen hatte. Herzen spricht von den politischen Ereignissen der Jahre 59 und 60, und wie im Schlachtenlärm und Pulverdampf die befreundeten Gestalten der Freiheitskämpfer eine Zeitlang verschwanden, bis sie dem besorgt forschenden Blick der Freunde endlich unversehrt wieder erscheinen. Dann sagt er: »Aber eine Persönlichkeit stand fern von diesem Rauch, diesem Getöse des Krieges, vom Jubel der Sieges-Festlichkeiten und von den Lorbeerkronen, und erreichte im Schatten der Einsamkeit eine außerordentliche Größe. Unter den Verwünschungen aller Parteien, des betrogenen Pöbels, der wilden Priester, der feigen Bourgeoisie, des piemontesischen Gesindels, wie bei den Verleumdungen aller Organe der Reaktion, vom päpstlich-kaiserlichen Moniteur an bis zu dem Eunuchen der Londoner Geldmäkler, der Times (die den Namen Mazzini nie ohne Hinzusetzung eines gemeinen Schimpfwortes aussprach), blieb Mazzini nicht nur unerschütterlich, sondern er segnete freundlich sowohl Freund wie Feind, wenn sie nurseinen Gedanken, sein hohes Ziel ausführen wollten. Man konnte von ihm sagen, was Puschkin von seinem Abbadonna sagt:


Das Volk, das im geheimen du gerettet,
Verhöhnt nun deine heil'gen weißen Haare.

Nur, daß bei ihm nicht Kutuzoff, sondern Garibaldi stand. Durch die Gestalt seines Helden und Befreiers sagte sich Italien doch nicht von Mazzini los. Warum aber gab ihm nicht Garibaldi die Hälfte seines Kranzes? Warum berief sich der römische Triumvir nicht auf seine Rechte? Warum bat er selbst nicht, an ihn zu denken, und warum schwieg der Volksführer, der doch rein war wie ein Kind, und erlog eine Entzweiung? – Darum, weil beide etwas hatten, was ihnen teurer war als die eigene Persönlichkeit, als Name und Ruhm – Italien!

Aber die gemeine Gegenwart verstand sie nicht. Sie war nicht tief genug, um solche Größe zu fassen. Garibaldi [229] wurde immer mehr eine Gestalt des Cornelius Nepos. Auf seiner kleinen Insel erschien er so antike Größe, so einfach und rein wie ein Held Homers, ohne Rhetorik, ohne Dekoration und Diplomatie, im Epos ist das alles nicht nötig. Als die Sache beendet war, entließ ihn der König, wie man den Postillon entläßt, der uns an Ort und Stelle gebracht hat, und war nur verlegen darüber, was er ihm als Trinkgeld geben sollte, und als er erriet, daß seine Undankbarkeit Garibaldi betrübe, schickte er ihm Fasanen, die er geschossen, Blumen aus seinen Gärten und unterschrieb seine Briefe: »Immer Dein Freund Vittorio.«

Für Mazzini existierten die Menschen nicht, für ihn gab es nur eine Sache. Wieviel Fasanen und Blumen ihm auch der König schicken möchte, es würde ihn nicht rühren, er würde sich aber gleich mit ihm, den er für einen gutmütigen aber leeren Menschen hält, verbinden, wenn dieser für die Sache arbeiten wollte. Mazzini ist der Asket, der Calvin, der Procida der Befreiung Italiens; er ist ewig nur mit einer Idee beschäftigt, stets bereit zu handeln und hält, mit derselben Geduld und Hartnäckigkeit, mit der er aus unklaren Menschen und ihren Bestrebungen eine Verschwörungspartei schuf, auch Garibaldi, seine Genossen und das halb befreite Italien wach, indem seine magere, traurige Hand fortwährend nach Rom zeigt. Als ich früher über Mazzini schrieb, verweilte ich nicht besonders auf seinem Zerwürfnis mit Garibaldi im Jahr 54 und auf der Verschiedenheit unserer Ansichten. Ich tat dies aus Zartgefühl, aber ich hatte un recht, dieses Zartgefühl ist zu klein für Mazzini. Über solche Menschen muß man nicht schweigen, die braucht man nicht zu schonen. Nach seiner Rückkehr aus dem eroberten Neapel schrieb er mir ein paar Zeilen. Ich eilte beklommenen Herzens zu ihm und erwartete ihn traurig und in seiner höchsten Liebe beleidigt zu finden, denn seine Lage war tief tragisch. Ich fand ihn körperlich gealtert, aber geistig geradezu verjüngt. Er kam mir entgegen, faßte nach seiner Gewohnheit meine beiden Hände und sagte: »So ist es[230] denn endlich vollbracht!« Dabei glänzten seine Augen voll Begeisterung, und seine Stimme bebte vor Erregung. Er erzählte mir von den Ereignissen der letzten Zeit, vor und nach der Expedition nach Sizilien. Aus der Wärme und Liebe, mit denen er von den Waffentaten und Siegen Garibaldis sprach, leuchtete seine Freundschaft für diesen auf das innigste hervor, aber er ereiferte sich auch über dessen blindes Vertrauen in die Menschen und seine Unfähigkeit, sie zu beurteilen und zu unterscheiden. Ich dachte, ob ich wohl einen Hauch, einen Ton der beleidigten Eigenliebe entdecken würde – aber nein! Er war nur traurig, traurig so, wie die Mutter, die der verliebte Sohn auf eine Zeitlang verlassen hat. Sie weiß, daß der Sohn zurückkehren wird und daß er glücklich ist, das ist ihr Ersatz für alles. Mazzini ist voller Hoffnung für Italien, er und Garibaldi stehen sich näher als je. Er erzählte lächelnd, wie die neapolitanischen Volkshaufen sein Haus umgeben, und, von den Agenten Cavours aufgewiegelt, geschrien hätten: »Tod dem Mazzini!« Man hatte sie nämlich, unter anderen Dingen, glauben gemacht, daß er ein »bourbonischer Republikaner« sei. »Es waren gerade«, sagte er, »mehrere unserer Leute bei mir, und unter ihnen ein junger Russe, der war ganz erstaunt, daß wir, als das Geschrei vorüber war, unser unterbrochenes Gespräch ruhig fortsetzten. Fürchten Sie nichts, sagte ich ihm, sie werden mich nicht töten, sie schreien nur.«

»Nein, solche Menschen braucht man nicht zu schonen!« wiederholt Herzen, und er hat recht. Getötet haben sie Mazzini freilich nicht, aber den bittern Kelch des niedrigsten Undanks haben sie ihn trinken machen; er mußte, der einzige Exilierte, endlich unter fremden Namen kommen, um auf der geliebten heimatlichen Erde zu sterben am 10. März 1872, und als der Arzt, der den schon Todkranken behandelte, ihn einen Engländer glaubend, sich wunderte, wie gut er italienisch spreche, sagte der Sterbende: »Es hat auch niemand Italien so geliebt wie ich.« Daß sein Volk ihm jetzt das [231] Denkmal dankbarer Erinnerung setzt, ist gut, aber es kann die Schuld nicht sühnen, die man an dem Lebenden beging.

Im Monat Juli desselben Jahres begab ich mich auf die Reise nach Deutschland, zu den ersten Aufführungen im Theater von Bayreuth. So war es nun wirklich geschehen! Der Theaterbau, bei dessen Grundsteinlegung wir, die wir Wagners Idee verstanden und mit Begeisterung erfaßt hatten, voll freudiger Hoffnung zugegen gewesen waren, denkend, daß das deutsche Volk seinem großen Meister mit bereitwilligster Hilfe entgegenkommen werde – wir, die wir dann jahrelang mit tiefem Unmut die dumpfe Gleichgültigkeit von der einen, die gehässige Bosheit und den kleinlichen Neid von der anderen Seite angesehen hatten, so daß wir beinahe am Gelingen des Werks im bitteren Schmerz verzweifelt wären, – wir sahen uns nun am Ziel. Die hohe Gesinnung eines großherzigen Fürsten hatte auch hier wieder helfend eingegriffen, da die Anzahl der gezeichneten Patronatscheine die nötige Summe nicht eingebracht hatte, und die erste Aufführung im Theater von Bayreuth, die Tetralogie der Nibelungen, war gesichert. Mit wahrem Glücksgefühl zog ich der kleinen deutschen Stadt wieder zu, die ich mir zur letzten Heimat hatte wählen wollen, woran mich die Ungunst des Klimas gehindert hatte. Sie prangte nun im festlichen Schmuck und in der Hoffnung einer leuchtenden, ganz einzig dastehenden Zukunft, die ihr der Genius mit seiner Wahl zu verheißen schien. Wie durch einen Zauber war dies vergessene Heim der geistvollen Schwester Friedrichs des Großen, der Markgräfin Wilhelmine, wieder zum Leben gerufen, und zu welchem Leben! Hier sollte ein Kulturwerk entstehen, wie die moderne Geschichte nichts Ähnliches aufzuweisen hatte, ein Kulturwerk im griechischen Geist, wo nur einmal im Jahr, losgelöst von den Fesseln der Alltäglichkeit, das deutsche Volk sich versammeln und im Spiegelbild höchster Kunstschöpfungen, sein eigenes edelstes Selbst verklärt erkennen sollte. So wenigstens hatte ich Bayreuth verstanden, so wenigstens, glaube ich, verstand es Friedrich [232] Nietzsche damals, und verstand es die kleine Anzahl derer, die sich mit Begeisterung von Anfang an um den Meister geschart hatten. Mein Aufenthalt, der für die ganze Zeit der Aufführungen geplant war, verhieß mir in jeder Beziehung ungemein freundlich zu werden, denn meine töchterliche Freundin Olga, ihr Mann, ihre Schwester und ihr kleiner Sohn kamen ebenfalls, die ganze Zeit mit mir zu verbringen; dazu gesellten sich manche liebe Freunde beinahe täglich in dem zu unserer Wohnung gehörigen schönen Garten, Nietzsche, Eduard Schuré aus Paris und andere, so daß Wagner, als er eines Tages zu uns kam, scherzend sagte: »Nun, bei Euch kommt hinter jedem Busch ein Professor hervor,« denn auch Olgas Mann, Gabriel Monod, war ja Professor. Viele der mitwirkenden Künstler kamen und musizierten bei uns, kurz, es war ein fröhliches, genußreiches, geselliges Leben, das die Pausen zwischen den Aufführungen ausfüllte. Nun aber diese selbst! Wer vermöchte den Eindruck, die freudige Rührung und Ergriffenheit zu beschreiben, die man empfand, als sich zum erstenmal die Räume dieses künstlerisch erdachten, so einfach und so edel vornehm ausgeführten Baues öffneten; als man sogleich begriff, wie nur so ein großes Kunstwerk würdig anzuhören sei, indem ein jeder Sitz im Haus nur die Bühne als Augenziel hatte, und nicht eine hell erleuchtete Logenreihe mit geputzten Zuschauern darin; als dann die Lampen erloschen, das unsichtbare Orchester seine wunderbaren Töne wie aus einer Geisterwelt hervorsandte, und als endlich der Vorhang auseinanderging und über den »mystischen Abgrund«, wie Liszt den tiefen Raum zwischen der Bühne und den Zuschauern genannt hatte, hinüber die Szene wie ein Traumbild sichtbar wurde, und Handlung und Musik die Sinne so gefangen nahmen, daß man, der Alltagswelt entrückt, eine ideale Wirklichkeit erlebte! Nur wer ihn mit erlebt hat, diesen ersten, entzückenden Eindruck der kaum für möglich gehaltenen Verwirklichung eines idealen Schöpfungsgedankens, kann es begreifen, mit welcher Inbrunst sich das Herz an die Hoffnung [233] hingab, daß eine neue Kulturepoche, so wie unsere größten Geister sie geträumt, für Deutschland emporkeimen werde, daß die materielle, durch die Waffen gewonnene Macht, sich verklären könne in dem, was des deutschen Geistes bestes Erbteil ist. Kein späterer Erfolg des Bayreuther Unternehmens kam jemals wieder dem Glück dieser Hoffnung gleich, denn wie Hohes auch erreicht wurde und noch wird, diese Hoffnung schlug doch fehl, das deutsche Volk blieb hinter seiner Aufgabe zurück.

Damals aber störte nichts den holden Traum; jede kleine Kritik verstummte, der Neid und die Bosheit bemühten sich umsonst, Gift in den Freudenbecher zu mischen, und was etwa noch mangelhaft blieb bei der Ausführung, wurde kaum gefühlt in der Glorie des Ganzen. Und wie befestigte sich da mein lang gehegter Gedanke, daß das Theater zu einem der edelsten Kulturmittel für das Volk werden müßte, statt daß es heutzutage beinahe ein Mittel der Korruption geworden ist. Theaterbauten, dem zu Bayreuth ähnlich, sollten sich an verschiedenen Orten Deutschlands erheben, das Geld fände sich schon, wenn man ernstlich wollte, warum findet es sich z.B. für die vielen neuen unnützen Kirchen, die man baut, oder für die ungeheuren Militärausgaben in Friedenszeit? Ebenso wie für das Musikdrama müßte für das rezitierende Drama gesorgt werden; höchstens zweimal im Jahr vollendete Aufführungen der edelsten Meisterwerke, und zwar mit so billigen Preisen, daß auch die Unbegüterten daran teilnehmen und durch den Einfluß hoher Kunst zur Gesittung geführt werden könnten. Das wären Kulturaufgaben für die Regierungen, die besser wirken würden gegen Roheit und Verbrechen, als Gefängnisse und Zuchthäuser.

Damals glaubte ich noch an die Möglichkeit, solche Dinge ins Leben zu rufen, jetzt ist die Hoffnung wieder entflohen, weit in eine nebelhafte Zukunft – ach wie weit!

Die schönen Tage aber gingen froh zu Ende; wir hatten Herrliches erlebt und gingen mit Schätzen der Erinnerung [234] im Herzen fort. Am Schluß der Aufführungen vereinte noch einmal ein großes Bankett das ganze zuletzt gebliebene Publikum, wobei Wagner eine herrliche Rede hielt, die mit den viel zitierten, oft mißverstandenen Worten schloß: »dann haben wir eine deutsche Kunst«. Nach ihm sprach Liszt, den er gerührt als einen der edelsten Förderer seines Werks gepriesen, mit der ihm eigenen Grazie und Feinheit der Bildung wenige aber schöne Worte und sagte, wie er sich vor Dante Alighieri und vor Michelangelo beuge, so beuge er sich nun vor dem Genius, dessen Tat wir erlebt hätten. Die Umarmung der zwei Männer, jetzt sich auch verwandtschaftlich so nahe, war ein schön bewegter Schluß eines Kulturfestes von der allerhöchsten Bedeutung. Leider war die Welt noch nicht reif genug dafür.

Nach einem Aufenthalt im Verein mit Olga in einem deutschen Badeort ging ich im Herbst nach Italien zurück, und zwar noch nicht zu bleibendem Aufenthalt nach Rom, sondern zunächst nach Neapel zur Ausführung eines Planes, der von mir erdacht, sich dort verwirklichen sollte. Die Gesundheit Friedrich Nietzsches, mit dem mich nun schon seit dem Jahre 72 warme Freundschaft verband, hatte sich nämlich in solchem Maße verschlechtert, daß er für nötig fand, einen längeren Urlaub von der Universität in Basel zu erbitten, um sich einmal ganz auszuruhen, und zwar zog es ihn nach dem Süden, da es ihm schien, als müßte die wonnevolle Natur dort ihn, den schönheitsdurstigen Griechen, ganz herstellen können. Er hatte aber vorsorgliche Umgebung und Pflege nötig, und da weder Mutter noch Schwester ihn damals begleiten konnten und ich mir noch kein festes Asyl in Rom gegründet hatte, so bot ich ihm schriftlich an, mit ihm zusammen nach Sorrent zu gehen, um den Winter da zu verbringen und im glücklichen dolce far niente des Südens Erholung, ja Genesung zu suchen. Er antwortete: »Verehrteste Freundin, ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen für das in Ihrem Briefe Ausgesprochene und Angebotene danken soll; später will ich Ihnen sagen, wie [235] zur rechten Zeit dies Wort von Ihnen gesprochen wurde und wie gefährlich mein Zustand ohne dieses Wort geworden sein würde; heute melde ich Ihnen nur, daß ich kommen werde« usw. – In einem späteren Brief schrieb er dann noch: »Ungefähr alle acht Tage habe ich meinen Leiden (Kopf- und Augenschmerzen) ein dreißigstündiges Opfer zu bringen, deshalb vertröste ich mich ganz und gar auf das Zusammensein mit Ihnen am Golf von Neapel. Wir wollen dort schon die Gesundheit erzwingen. An dieser Hoffnung hat mich bisher nichts irre gemacht.«

Ich hatte bereits vorbereitend eine Fahrt nach Sorrent gemacht und eine Wohnung gefunden, wie sie für die kleine Kolonie paßte, zu der unser Duo angewachsen war. Nietzsche hatte nämlich einen von ihm sehr geschätzten Freund, Dr. Paul Rée, und einen seiner Schüler, einen jungen Basler, Brenner mit Namen, zum Mitgehen nach Sorrent vorgeschlagen, und da ich nichts dagegen hatte (ich kannte nur den letzteren, da er seiner Gesundheit wegen in Rom gewesen war), so wurde auch auf Wohnen in demselben Hause Rücksicht genommen. Es fand sich eine unbesetzte, von einer Deutschen eingerichtete Pension, mitten in einem Weingarten, wo im ersten Stock sich Zimmer für die drei Herren, mit Terrassen, im zweiten Stock Zimmer für mich und meine Jungfer, und ein großer Saal zum gemeinschaftlichen Gebrauch vorfanden; von den Terrassen hatte man die herrlichste Aussicht über den grünen Vorgrund des Gartens hinweg auf den Golf und den eben damals sehr aufgeregten, abends Feuersäulen emporsendenden Vesuv. Nachdem ich so für Unterkommen gesorgt hatte, ging ich nach Neapel zurück, meine Gefährten zu erwarten. Sie kamen zu Schiff von Genua her, und Nietzsche war etwas enttäuscht, weil ihm die Seefahrt und die Ankunft in Neapel mit dem schreienden, lärmenden, zudringlichen Volk sehr unangenehm gewesen waren. Gegen Abend jedoch lud ich die Herren zu einer Fahrt auf den Posilip ein. Es war einer jener Abende, wie man sie nur dort erlebt, Himmel, Erde und [236] Meer schwammen in einer Glorie von Farbentönen, die man nicht beschreiben kann, die aber die Seele durchdringen mit dem Zauber einer wonnevollen Musik, einer Harmonie, in der sich jeder Mißton auflöst und verschwindet. Ich sah, wie Nietzsches Gesicht sich in freudigem, beinahe kindlichem Staunen aufhellte, wie ihn innige Rührung überkam, und endlich brach er in einen Jubelausruf über den Süden aus, den ich als eine gute Vorbedeutung für seinen Aufenthalt begrüßte.

In Sorrent nun richtete sich das Leben ganz behaglich ein. Am Morgen fanden wir uns nie zusammen, ein jeder blieb in völliger Freiheit bei seiner eigenen Beschäftigung. Erst das Mittagessen vereinigte uns, und zuweilen am Nachmittag ein gemeinschaftlicher Spaziergang in der zauberischen Umgebung, zwischen Orangen- und Zitronengärten hin, deren Bäume, hoch wie unsere Äpfel- und Birnbäume, ihre von goldenen Früchten beladenen Äste über die Gartenumzäunung herüber, den Weg beschattend, hängen ließen, oder hinauf auf die sanften Höhen, oft an Bauernhöfen vorüber, wo anmutige Mädchen in heiterem Zusammensein die Tarantella tanzten, nicht die gekünstelte, wie sie jetzt von geputzten Banden für die Fremden in den Gasthöfen getanzt wird, sondern in ursprünglicher, von natürlicher Grazie und Sittsamkeit begleiteter Art. Oft zogen wir auch zu weiteren Ausflügen auf Eseln aus, die dort für die unwegsameren Bergtouren bereit gehalten werden, und da gab es meist viel Lachen und Spaß, besonders mit dem jungen Brenner, dessen lange Beine beinahe mit denen des Esels zugleich auf der Erde fortliefen, und dessen noch etwas ungeschickte schülerhafte Art die Zielscheibe gutmütiger Scherze wurde. Am Abend vereinte uns aufs neue das Abendessen und nach diesem im gemeinschaftlichen Salon angeregtes Gespräch und gemeinsame Lektüre.

Der erste Monat wurde noch durch die Anwesenheit von Wagner und seiner Familie verschönt, die nach den Anstrengungen des Sommers während der Aufführungen durch [237] eine Reise in Italien Erholung suchten. Sie wohnten im Hotel, wenige Schritte von uns, und ich verbrachte natürlich den größten Teil meiner Zeit mit ihnen, besonders mit der von mir so innig geliebten und hochgeschätzten Cosima, mit der das Zusammensein mir stets geistig und gemütlich den höchsten Genuß gewährte. Wagner las dort mit großem Interesse die Geschichte der italienischen Republiken von Sismondi und rief Cosima und mich oft herbei, um uns eine oder die andere Episode, die ihm besonders gefiel, vorzulesen, so unter anderen eine, die er nachher in Rom dem damals noch lebenden, sehr begabten italienischen Dichter Cossa zu dramatischer Bearbeitung empfahl, die aber nicht zustande kam. Öfters wurde auch unser Quatuor abends zu Wagners geladen; es befremdete mich allerdings dabei, in Nietzsches Reden und Benehmen eine gewisse gezwungene Art von Natürlichkeit und Heiterkeit zu bemerken, die ihm sonst ganz fremd war; da er sich aber nie mißfällig über oder widerstrebend gegen den Verkehr äußerte, so kam mir der Verdacht nicht, daß eine Änderung in seinen Gesinnungen vorgegangen sein könnte, und ich gab mich mit ganzem Herzen diesem Nachgenuß von Bayreuth im Verein mit so ausgezeichneten Menschen hin. Das Glücksgefühl, in solcher geistigen Intimität zu leben, gab mir eines Abends, als wir alle dort zu Tisch waren, Gelegenheit, einen von mir sehr geliebten Spruch von Goethe zu zitieren: »Selig wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt, einen Freund am Busen hält und mit dem genießt, was von Menschen nicht gewußt oder nicht bedacht, durch das Labyrinth der Brust wandelt bei der Nacht.«

Wagners kannten den Spruch nicht, waren aber entzückt davon, und ich mußte ihn wiederholen. Ach wie wenig ahnte ich da, daß die Dämonen, die auch im Labyrinth der Brust bei der Nacht wandeln und das göttliche Geheimnis der Sympathie zwischen edlen Geistern feindlich betrachten, bereits am Werk waren, um zu entzweien und zu trennen.

Wagners schieden Ende November, und nun begannen [238] erst recht unsere Lese-Abende. Wir hatten eine reiche und vorzügliche Auswahl von Büchern mit, aber das Schönste unter dem Mannigfaltigen war ein Manuskript, nach den Vorlesungen von Jakob Burckhardt über griechische Kultur, in Basel an der Universität gehalten, von einem Schüler Nietzsches geschrieben und diesem auf die Reise mitgegeben. Nietzsche gab dazu mündliche Kommentare, und gewiß hat kaum je eine herrlichere und vollkommenere Darlegung dieser schönsten Kulturepoche der Menschheit stattgefunden, als hier schriftlich und mündlich, durch diese beiden größten Kenner des griechischen Altertums. Meine Vorliebe für jene herrliche Blütezeit des menschlichen Geistes steigerte sich dadurch zu höchster Begeisterung. So entzückte mich die Definition Burckhardts über das Wesen des griechischen Volks: »Pessimismus der Weltanschauung und Optimismus des Temperaments.« Gewiß eine treffliche Mischung, um ein vollendetes Volk zu schaffen. Der Pessimismus der Erkenntnis verhindert die falschen Anschauungen und Schlüsse im Leben, und das optimistische Temperament treibt dessenungeachtet zu Taten und zur Idealisierung der als schlecht erkannten Welt. »Die allgemeine Weltanschauung, die sich im Mythos der Heroen offenbart,« sagt Burckhardt ferner, »ist wieder die, daß die Welt schlecht ist, aber es ist gar nicht die Reflexion, sondern das innerste Träumen und Sinnen der Griechen, das den Mythos schafft. Und zwar wird die Welt immer schlechter; Mord, Haß, Neid herrschen im Heroentum; dazu kommt die schreckliche Denkweise der mythischen Frauen, Medea, Klytämnestra und andere. Die letzte Ermahnung des Amphiaraus an seine Söhne ist: ›Ermordet eure Mutter‹. Die seltenen, herrlichen, reinen Gestalten, wie Achill, Antigone usw., müssen früh sterben.«

Der Mythos ist also das ewige Bild der Nation, in der der Grieche seine Vorzeit und sich selbst mit all seinen Gedanken, seiner Philosophie, seinen Eigenschaften, seiner Lebensauffassung anschauen wollte. So hat auch Wagner [239] seine Nibelungen zum Mythos des deutschen Volkes geschaffen, nicht bloß, indem er die Vergangenheit im alten Mythos wiederholte, sondern indem er das ewige Wesen des deutschen Volks darin bespiegelt.

Wie tief und herrlich erschien mir dann wieder folgende Betrachtung, als Burckhardt von der Religion sprach und sagte, es sei ein ewig denkwürdiges Schauspiel, diese uralte Tradition zu sehen, die, von der prachtvollsten Phantasie getragen, niemals durch eine Theologie korrigiert worden sei. Als die Philosophen es endlich hätten versuchen wollen, sei es zu spät gewesen. Die griechischen Götter, obgleich herrliche Wesen, seien wenig geachtet worden, der Kultus, obgleich rießengroß, habe es doch nicht vermocht, die trübsten Gedanken über das Erdenleben zu beschwören. Diese Widersprüche, meint er, würden wir wohl nie bis zur völligen Klarheit entwirren können, und doch würden wir dies schöne Rätsel nicht los werden bis ans Ende der Tage. Dem ähnlich sei es auch mit dem Heroenkultus; das heroische Zeitalter wäre durchaus nicht das goldene gewesen, sondern habe in vollem Maße das Böse gekannt. Die Perser, die Ägypter, selbst die Inder hätten ein Heroentum gehabt, doch bei allen habe sich darüber eine Theologie entwickelt, nur die Griechen seien davon frei geblieben. Ihre Heroen stammten von den Göttern, waren aber zugleich gewaltige Menschen, die wieder nach oben rangen. Die Griechen waren überzeugt, daß das Große und Herrliche nicht langsam ansetzt, wie der Kristall in der Felshöhle, und daß die Vögel es nicht auf ihren Fittichen zusammentragen, sondern daß es dazu großer Individuen bedarf, ohne die nichts geschehen kann.

Nietzsche sagte, daß die eigentliche Blütezeit des griechischen Volkes die drei Jahrhunderte nach dem heroischen Zeitalter bis zu der Schlacht bei Marathon gewesen seien, die Zeit des Agon, des Wettkampfes, wo ein jeder der erste sein konnte, weil die Eifersucht des großen Strebens es nicht litt, daß einer zu hoch emporrage. Er hatte dies Thema schon [240] früher einmal in einem Aufsatz, »Homers Wettkampf« betitelt, berührt und erwähnt, daß die vorhomerische Zeit eine Zeit äußerster Grausamkeit gewesen sei, die den Mord und die Kinder der Nacht, der grausamen Eris entsprungen, erzeugt habe, daß aber auch die hellenische Blütezeit Neid und Haß angenommen habe, doch als Kinder einer anderen milderen Eris, die alle ruhmreichen schönen Taten veranlaßte, indem sie den Wettkampf hervorrief. Dieser entsprang dem glühenden Streben, kein einzelnes hervorragendes Genie aufkommen zu lassen, sondern ein ganzes Volk gleichbegabter, in Vorzüglichkeit miteinander wetteifernder Menschen zu bilden, wo das Beispiel des einen den andern zu gleich herrlichen Taten anfeuern sollte. Das erklärt auch in mildernder Weise den Ostrazismus, der gerade die bedeutendsten Menschen traf, weil ihre hervorragende Größe bedenklich wurde. Diesen Neid gegen die Größe einzelner Sterblichen fühlten selbst die Götter; so verblendeten sie z.B. die Sinne des Miltiades, weil er nach Marathon von zu hohem Ruhm umstrahlt war, damit er in der Liebe für eine Priesterin entbrenne, bei Nacht die heiligen Tempelmauern übersteige, um ihr zu nahen, dann aber von Grauen ergriffen zu Boden stürze; verwundet wurde er gefangengenommen und verurteilt.

Welch ein Feuer der Größe mußte in diesen griechischen Seelen brennen, daß sie auch selbst die Tyrannei des Genius nicht ertragen konnten! Denn es war ja nicht das Niveau der Mittelmäßigkeit, das sie erstrebten, sondern Neid und Haß waren ihnen Tugenden, die dem Streben nach dem Höchsten Nahrung gaben. Vielleicht kann man es aber auch so erklären, daß sie es nicht ertragen konnten, einen Flecken an ihren Heroen zu sehen, und wenn eine heller strahlende Persönlichkeit plötzlich eine Schwäche zeigte, eine Nachtseite der Natur, so verbannten sie diese rasch, um sich das göttergleiche Lichtbild nicht verdunkeln zu lassen.

Wie viele Seiten geistvoller Auffassung der Lebensvorgänge bei den Griechen kamen da zur Sprache. Ich erzählte, [241] daß es mir kürzlich bei einem Besuch im Museum in Neapel aufgefallen sei, wie anmutig und fein die Griechen die aufsteigende Stufenleiter lebender Organismen darzustellen gewußt hätten, ohne der Affentheorie zu bedürfen. Ihre Satyren, Kentauren, Faune sind doch nur Halbmenschen, Übergangsgeschöpfe, denen der schöne Mensch und zuletzt der Halbgott folgt. Aber wie reizend ist diese Übergangswelt gezeichnet. Wer würde nicht fröhlich, wenn er die tanzenden Faune ansieht, jene unschuldig sinnlichen Naturkinder, die im heiteren Licht des Tages noch nicht viel über der Genußfähigkeit des Schmetterlings, der von Blume zu Blume fliegt, stehen. Der Neapolitaner aus dem Volk ist noch ganz der antike Faun; es sind dieselben Bewegungen beim Tanz, dasselbe tierische glückliche Lächeln, das Wesen, das, wie das Kind und das Tier, nur Gegenwart kennt, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Wie feinfühlig aber mußten sie auch sein, um die leisesten Übergänge im seelischen Leben zu charakterisieren. So stellte der Künstler Skopas den Himeros, die Sehnsucht, und Pothos, das Verlangen, in einer Gruppe mit Eros dar. Wie fein mußte er empfinden, um diese nahen Verwandten zu unterscheiden. Und wieder ein anderes Beispiel: Mars hieß der Leuchtende, und war ursprünglich eins mit Apoll bei Griechen und Italikern; wurde erst später Gott des Kriegs. Dionysos hingegen war der Dunkle, und war eins mit Orpheus. Wie geistvoll ist das: Der Krieg entzündet sich am Tag, an der leuchtenden Helle, am Schein, der die Menschen in die Leidenschaften des Wahns verstrickt. Die Musik steigt aus den dunklen Tiefen der Seele auf, deshalb muß Orpheus in das Reich der Nacht hinab, um die verlorene Liebe durch Töne wie der zu erringen. Die Nacht gebiert die Musik, den Ausdruck des tiefsten wahren Lebens, außerhalb alles Scheins. In der Nacht, der für uns scheinbaren Nacht, ruht also das eigentliche harmonische Dasein, das, von dem uns die Musik in Ahnungen redet.

Nachdem wir die Vorlesungen Burckhardts beendet hatten, [242] lasen wir Herodot und Thukydides. Der letztere riß mich zu höchster Bewunderung hin. Seine Schilderung vom Untergange Athens durch die Niederlage bei Syrakus, wo zum erstenmal dessen bis dahin unbesiegte Seemacht unterlag, die Flotte zerstört, das glänzendste Heer vernichtet wurde, ergriff mich tief durch ihre furchtbare Tragik. Thukydides nennt es das größte Ereignis der griechischen Geschichte. Mir schien es der tragischeste Untergang einer Weltgröße in der ganzen Weltgeschichte, denn alle die, die da untergingen, wußten es, daß mit ihnen das Vaterland unterging, und ich empfand den Schmerz des alten, edlen Nikias mit ihm; hatte er es doch vorausgesagt und gegen den kühnen Alkibiades vom Kriege abgeraten. Was mich aber besonders am Thukydides rührte und ergriff, das war die unendliche Einfachheit, mit der die Menschen das Höchste sagen, als wär' es nur das Gewöhnliche, das dem Menschen Angemessene. In der modernen Welt sagt man das Höchste mit Pathos als etwas Außergewöhnliches, weil man gewöhnlich trivial spricht.

Am Morgen des ersten Januars 1877 machte ich allein mit Nietzsche einen schönen Spaziergang längs des Meeres, und wir setzten uns auf einen Felsvorsprung, der weit in die tiefblaue Flut hineinragte. Es war schön wie ein Frühlingsmorgen; laue Luft wehte und von den Ufern grüßten die goldenen Früchte der grünen Orangenbäume. Wir waren beide in der friedlich-harmonischsten Stimmung, liebliche, bedeutende Gespräche standen im Einklang mit dem glückverheißenden Anfang des Jahres, und wir kamen schließlich überein, daß das wahre Ziel des Lebens sein müsse, nach Weisheit zu streben. Nietzsche sagte, daß dem rechten Menschen alles dazu dienen müsse, auch das Leiden, und daß er insofern auch das letzte leidenvolle Jahr seines Lebens segne. Ja, sagte ich, für alle diese höchsten Wahrheiten hat doch auch die Bibel immer ein schönes Wort, das im Grunde dasselbe meint, was mir meinen; sie drückt es nur so aus: Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.

[243] Wie milde, wie versöhnlich war Nietzsche damals noch, wie sehr hielt seine gütige, liebenswürdige Natur noch dem zersetzenden Intellekt das Gleichgewicht. Wie heiter konnte er auch noch sein, wie herzlich lachen, denn bei allem Ernst fehlten doch auch Scherz und Heiterkeit nicht in unserem kleinen Kreise. Wenn wir so abends beisammen saßen, Nietzsche gemütlich im Lehnstuhl hinter seinem Augenschirm, Dr. Rée, unser gütiger Vorleser, beim Tisch, wo die Lampe brannte, der junge Brenner am Kamin mir gegenüber und mir helfend Orangen schälen für das Abendbrot, da sagte ich oft scherzend: »Wir repräsentieren doch wirklich eine ideale Familie; vier Menschen, die sich früher kaum gekannt, kein verwandtschaftliches Band haben, keine gemeinsamen Erinnerungen, und nun in vollkommener Eintracht, in ungestörter, persönlicher Freiheit, ein geistig und gemütlich befriedigtes Zusammenleben führen.« Auch fehlte es bald nicht an Plänen für eine Erweiterung des so glücklich gelungenen Experiments. Ich erhielt damals gerade besonders viele Briefe von Frauen und Mädchen aus der unbekannten Menge, die mir infolge meiner »Memoiren einer Idealistin« ihre Sympathie kund gaben, wie dies übrigens auch in der langen Reihe folgender Jahre zu meiner innigsten Freude und Befriedigung fortwährend der Fall gewesen ist. Diese Tatsache gab einer Idee Nahrung, die bei mir entsprungen war, und die ich meinen Gefährten mitgeteilt hatte, nämlich eine Art Missionshaus zu gründen, um erwachsende Menschen beiderlei Geschlechts zu einer freien Entwicklung edelsten Geisteslebens zu führen, damit sie dann hinausgingen in die Welt, den Samen einer neuen, vergeistigten Kultur auszustreuen. Die Idee fand den feurigsten Anklang bei den Herren; Nietzsche und Rée waren gleich bereit, sich als Lehrer zu beteiligen. Ich war überzeugt, viele Schülerinnen herbeiziehen zu können, denen ich meine besondere Sorge widmen wollte, um sie zu edelsten Vertreterinnen der Emanzipation der Frau heranzubilden, damit sie helfen, dieses so wichtige und bedeutungsvolle Kulturwerk vor Mißverständnis [244] und Entstellung zu bewahren und in reiner, würdevoller Entwicklung zu segensvoller Entfaltung zu führen. Wir suchten schon nach einem passenden Lokal, denn in dem herrlichen Sorrent, in der wonnevollen Natur, und nicht in städtischer Enge sollte die Sache zustande kommen. Wir hatten unten am Strand mehrere geräumige Grotten, wie Säle innerhalb der Felsen, offenbar durch Arbeit erweitert, gefunden, in denen sogar eine Art Tribüne, wie expreß für einen Vortragenden bestimmt zu sein schien. Die dachten wir in heißen Sommertagen als sehr geeignet, um unsere Lehrstunden da zu halten, wie denn überhaupt das ganze Lehren mehr ein gegenseitiges Lernen nach Art der Peripathetiker, und im allgemeinen mehr nach griechischem als modernem Muster sein sollte. Dieser Plan beschäftigte uns oft, und wir hielten die Ausführung nicht für unmöglich, hatte ich doch einst in Hamburg in der Hochschule schon Ähnliches mit dem schönsten Erfolg gekrönt erlebt. Und dennoch scheiterte auch dieses wieder, wie so vieles Ideale, an den Verhältnissen, die störend dazwischen traten, besonders von seiten der Herren.

Unsere gemeinschaftlichen Lektüren nahmen jetzt einen anderen Charakter an. Wir verließen das schöne griechische Altertum, und es kam ein Gemisch von neueren, doch stets bedeutenden Sachen an die Reihe. Rée hatte eine besondere Vorliebe für die französischen Moralisten und teilte diese auch Nietzsche mit, der sie vielleicht schon früher gelesen hatte, deren nähere Bekanntschaft aber sicher nicht ohne Einfluß auf seine spätere Entwicklung geblieben ist und ihn namentlich zu dem Ausdruck seiner Gedanken in Aphorismen geführt hat, wie ich später Gelegenheit hatte zu bemerken. Auch beeinflußte ihn offenbar die streng wissenschaftliche, realistische Anschauungsweise Dr. Rées, die seinem bisherigen, immer von dem ihm innewohnenden poetischen und musikalischen Element durchdrungenen Schaffen beinah etwas Neues war und ihm ein fast kindlich staunendes Vergnügen machte. Ich bemerkte das öfter und sagte es ihm [245] auch scherzend als Warnung, da ich Rées Anschauungen nicht teilte, trotz meiner hohen Achtung für seine Persönlichkeit und meiner Anerkennung seiner gütigen Natur, die sich besonders in seiner aufopfernden Freundschaft für Nietzsche zeigte. Sein Buch »Über den Ursprung der moralischen Empfindungen« erregte mir nur den entschiedensten Widerspruch, und ich nannte ihn im Scherz »chemische Kombination von Atomen«, das er sehr freundlich hinnahm, während uns im übrigen herzliche Freundschaft verband.

Wie sehr seine Art, die philosophischen Probleme zu erklären, auf Nietzsche Eindruck machte, ersah ich aus manchen Gesprächen. So kam es einmal auf einem Spaziergang zwischen Nietzsche und mir zu einem philosophischen Streit, indem er das Gesetz der Kausalität leugnete und sagte, es gäbe nur ein Nacheinander von Dingen und Zuständen, aber nicht als Wirkung der einen aus den anderen; was wir als Ursache und Wirkung empfänden, seien unerklärte Tatsachen. Die griechischen Philosophen, die Eleaten hätten zwar das Seiende, das Unveränderliche für die alleinige Ursache und die wahre Realität erklärt, dem widerspräche aber in jedem Augenblick die Welt als ein ewig Werdendes und Wandelbares. Ich entgegnete ihm, daß sicher das Seiende, das Unveränderliche die wahre Realität sei, das Ding an sich, das sogenannte Metaphysische. Wir müßten uns nur nicht fürchten, das anzuerkennen. Die scheinbar ewig werdende Welt sei nur die Erscheinung des Seins, nur für uns sei sie Wechsel, für unsere beschränkten Sinne. Aber in all dem Wandel, in Leben und Tod, in Werden und Vergehen offenbare sich das All-Eine, das Sein. Die Inder wußten es schon: »tat wam asi«, das bist du. – Ein anderes Mal in einem Gespräch über Schopenhauer äußerte er, es sei der Irrtum aller Religionen, eine transzendentale Einheit hinter der Erscheinung zu suchen, und das sei auch der Irrtum der Philosophie und des Schopenhauerischen Gedankens von der Einheit des Willens zum Leben. Die Philosophie sei ein ebenso ungeheurer Irrtum, wie die Religion. [246] Das allein Wertvolle und Gültige sei die Wissenschaft, die allmählich Stein an Stein füge, um ein sicheres Gebäude aufzuführen. Die beiden ersten hielten die Menschen auf in ihrem Gang zur Wahrheit, sie drückten nur die Tendenz unseres Geistes aus, die Lösung des Lebensrätsels ein für allemal finden zu wollen.

Ich wendete ihm ein, daß mir das gerade ein Irrtum schien, diese Einheit als etwas Transzendentales anzusehen, während sie doch gerade das alles Ausfüllende, in der Erscheinung sich Kundgebende sei. Weil die Beschränktheit unseres Erkenntnisvermögens der Hilfsmittel von Raum und Zeit bedürfe, so hätten wir doch nicht das Recht, das außerhalb Liegende transzendental zu nennen, nur unsere Wahrnehmungsfähigkeit reiche nicht daran. Dennoch sei es ein logischer, vernunftgemäßer Schluß, daß das außer unserer Wahrnehmung Liegende dieselben Bedingungen in sich trüge, und sich nach denselben Gesetzen bewege, wie das uns Erkennbare, daß also da nicht von transzendental die Rede sein könne. Und um wie viel weniger noch sollten wir die herrliche Macht des Gedankens in ein unhaltbares transzendentales Gebiet verweisen, der, eine enge Form nach der anderen abwerfend, siegreich durch die Nacht der Zeiten vorwärtsschreite zu immer größerer Klarheit. Es scheine mir das nur der alte Hochmut der Menschen zu sein, der, nachdem die Theorie der Abstammung vom Affen die der Einblasung göttlichen Odems zerstört habe, sich nun in die vornehme Abweisung des Metaphysischen, Transzendentalen flüchte, und sich nur an das Experiment halte – an die oft so armselige Tatsache!

Und was doch gerade die frühere Schrift Nietzsches »Schopenhauer als Erzieher« so hoch stellte, war, daß er es darin aussprach, die Kultur habe einen metaphysischen Zweck!

Mit dem beginnenden Frühjahr schieden Rée und Brenner, um ein jeder in seine Heimat zurückzukehren. Nietzsche und ich blieben allein, etwas in Not wegen unserer Abende, da wir beide, augenleidend, nun unseres trefflichen Vorlesers [247] beraubt waren. Aber Nietzsche sagte fröhlich: »Nun, da wollen wir desto mehr zusammen reden.« Und so geschah es auch, denn es fehlte nie an reichem Stoff zu Gesprächen. So sprachen wir unter anderem einmal über die »Braut von Korinth« und Nietzsche bemerkte, Goethe habe dabei an die alte Sage vom Vampyr gedacht, die antik und schon von den Griechen gekannt gewesen sei, und habe es damit versinnlichen wollen, wie die Sitten und Sagen des Altertums sich in der christlichen Welt zu spukhaften Dingen verdunkelten, und wie die finstere Wendung, die das Christentum sehr bald nach seiner Entstehung nahm, die schöne freie Sinnenwelt der Griechen verunstaltete und das blühende natürliche Leben in Moderduft und Gerippenkultus verkehrte. »Ja,« sagte ich, »man muß nur auch immer daran denken, daß das historische Christentum in den Katakomben geboren ist.«

Ein anderes Mal sprachen wir über »die natürliche Tochter« von Goethe und ich sagte, ich fände es darin so wunderschön, daß in den Dialogen ein jeder immer den höchsten Inhalt von seinem Gesichtspunkt aus erfasse und verteidige, weshalb eigentlich ein jeder recht habe, wie z.B. im Gespräch des Herzogs und des Weltgeistlichen, in dem der Eugenie und des Mönchs usw. Nietzsche sagte, daß Goethe es bei Sophokles gefunden hätte, dessen Personen sprächen alle so schön und würdevoll, daß sie uns alle überzeugten.

Bei Gelegenheit einer Unterhaltung über Goethe und Schiller meinte Nietzsche, Goethe habe in Schiller die gewaltige ihm höhere Natur geehrt, und Schiller in Goethe den gewaltigen ihm höheren Künstler. Ich gab nicht zu, daß Goethe die minder hohe Natur gewesen sei, nur war er die glücklichere, zur Harmonie gelangte, während wir in Schiller die hohe sittliche Kraft verehren, die mit dem Leiden ringt und sich siegend aus ihm erhebt.

Noch an einem anderen Abend kam das Gespräch auf Don Quichote. Nietzsche tadelte es, daß Cervantes die eigentlich ideale Figur, den Menschen mit idealem Streben, zum Spott [248] der Alltagswelt werden läßt, anstatt dem Gegenteil, und meinte, das Buch habe wohl nur einen literarischen Zweck gehabt, dem Lesen schlechter Ritterromane Einhalt zu tun. Ich dagegen verstand das Buch dahin, daß der Mensch mit idealen Bestrebungen, wenn er sie in einer anachronistischen Form vorbringt, ganz natürlich in der Alltagswelt, die die idealen Absichten überhaupt nicht versteht, zum Narren und zur Karikatur wird. Und andererseits schien es mir auch, daß das Buch aus der ungeheuersten Menschenverachtung hervorgegangen ist, aus der hohnlächelnden Ironie, mit welcher der, der die Welt versteht, auf den armen Idealisten sieht, der glaubt, in einer solchen Welt Ideale verwirklichen zu können.

Zuweilen gelang es uns doch, auch ein wenig zusammen zu lesen, so eines Tages die Sakuntala, die Nietzsche noch nicht kannte. Er hatte bei den ersten vier Akten viel einzuwenden, fand zunächst die tragische Motivierung zu leicht, und das Verdienst des Dichters zu gering, da der ganze Hintergrund von Blumen, Tierleben und Büßerhainen usw. Indien an gehöre und nicht ihm. Aber wäre es nicht eher ein Fehler, wenn ein dramatisches Werk des lokalen Hintergrunds entbehrte, keine lokale Färbung hätte? Ist es besser, wenn der Dichter das alles mit der Phantasie schaffen muß, was Kalidâsa aus eigener Anschauung kannte und es ganz natürlich darstellte, so duftig, zart und farbenprächtig wie Indien selbst? Ferner fand Nietzsche das Schuldmotiv zu leicht. Aber spricht sich darin nicht gerade das tiefe, zarte seelische Empfinden der Inder aus? Sakuntala liebt zu sehr, vergißt in ihrer Liebesekstase die heiligste der Pflichten, die der Gastfreundschaft, und dafür trifft sie der Fluch der Gekränkten; der Sinn des Königs wird mit Blindheit geschlagen, so daß er sie nicht mehr kennt, und sie muß nun im Leiden ihre Liebe von aller Selbstsucht reinigen und ihre Heiligung vollbringen. Dann ist der Fluch gelöst und sie darf das Glück vollendeter Seelen genießen. Hat die griechische Tragödie das Schuldmotiv tiefer gefaßt? Antigone [249] verletzt auch wie Sakuntala das Gesetz aus Liebe und muß dafür sterben. Ethisch ist hier vielleicht die indische Auffassung noch die höhere, denn sie gewährt die Vollendung durch die Buße.

Wir sprachen über den Spruch Schillers: »Gemeine Naturen zahlen mit dem, was sie tun, edle mit dem, was sie sind,« und kamen auf Dichter im allgemeinen und auf Mazzini. Aber Mazzini zahlte, und Dichter zahlen auch mit dem, was sie tun, nur mit dem Unterschied, daß der Dichter sein Tun auf seine tragischen Personen überträgt, in ihnen fühlt, handelt, leidet, während Mazzini die tragische Persönlichkeit selbst war, die um der idealen Tat willen das herbste Leiden auf sich genommen hatte. Nietzsche sagte, daß er unter allen Leben am meisten das Mazzinis beneide, diese absolute Konzentration auf eine einzige Idee, die gleichsam eine gewaltige Flamme werde, an der das Individuelle verbrenne. Der Dichter befreit sich von der Tatgewalt, die in ihm ist, indem er sie in Gestalten inkarniert und Tun und Leiden außer sich setzt. Er ist wie der Wille selbst, er muß sich objektivieren, den Drang zur Tat in Erscheinungen ausströmen; jedes Gefühl, jede Leidenschaft ist in ihm als Fähigkeit da, daher kann er alle Verschiedenheit der Wesen darstellen, nachdem er ihre Not, ihre Schuld, ihren Schmerz mit durchgemacht hat. Er erlöst sich wie der Wille, indem er sich objektiviert. Mazzini objektivierte sich durch sein Leben, das eine unausgesetzte Tat der edelsten Individualität war.

Eines Tages kam Nietzsche mit einem großen Paket beschriebener Blätter in der Hand und sagte mir, ich möge sie doch einmal lesen, es seien Gedanken, die ihm auf seinen einsamen Spaziergängen gekommen wären, besonders bezeichnete er mir einen Baum, wenn er unter dem stände, fiele ihm immer ein Gedanke herunter. Ich las die Blätter mit großem Interesse, es waren herrliche Gedanken darunter, besonders solche, die sich auf seine griechischen Studien bezogen, es waren aber auch andere, die mich befremdeten, die gar nicht [250] zu Nietzsche, wie er bisher gewesen, paßten und mir bewiesen, daß jene positivistische Richtung, deren leise Anfänge ich schon im Laufe des Winters beobachtet hatte, anfing Wurzel zu fassen und seinen Anschauungen eine neue Gestalt zu geben. Ich konnte nicht umhin, ihm etwas darüber zu sagen, und bat ihn herzlich, diese Sachen noch ruhen zu lassen, um sie nach längerer Zeit wieder durchzusehen, ehe er sie in den Druck gäbe. Ich sagte ihm, daß er, besonders was die Frauen beträfe, noch keine endgültigen Aussprüche fällen dürfe, weil er noch viel zu wenig Frauen wirklich kenne. Die französischen Moralisten hätten das Recht gehabt, positive, durchaus gültige Urteile auszusprechen, weil sie die Gesellschaft, in der sie lebten, bis auf den Grund kannten, und ihre Bemerkungen wohl auch nur auf diese anwendeten; aber ohne eine solche langjährige genaue und vielseitige Beobachtung sei es nicht ratsam für höhere Intelligenzen, sich über psychologische Vorgänge so bestimmt und ein für allemal auszusprechen. Ich zitierte ihm einen Ausspruch Rées aus dessen früher erwähntem Buch, der mir sehr zuwider und sicher falsch sei, daß Frauen immer die Männer vorzögen, die ihr Leben schon mannigfach genossen hätten. Nietzsche lächelte über meine Entrüstung und sagte: »Aber glauben Sie denn, daß es einen einzigen jungen Mann gibt, der anders denkt?« Ich war recht böse und betrübt, das von ihm zu hören, und sagte ihm auch, daß mir das ein neuer Beweis sei, wie er die Frauen doch nur oberflächlich kenne, und daß ihm daher noch kein allgemeines Urteil zustehe. Doch kamen wir nachher wieder in unser griechisches Fahrwasser, und waren gute Freunde wie zuvor. Leider fand ich jene Sätze nur zu bald veröffentlicht in einer Schrift »Menschliches, Allzumenschliches« betitelt; aber mein Glaube an Nietzsches hohe Begabung war zu fest, um dies alles anders als wie als vorübergehende Phasen seiner Entwicklung anzusehen, aus denen seine Idealität siegend hervorgehen werde.

Unendlich traurig aber war es, daß seine Gesundheit sich [251] in nichts gebessert hatte, ja, daß die Anfälle seines Leidens, die schrecklichen Kopf- und Augenschmerzen mit der zunehmenden Wärme noch häufiger wurden und ihn oft nötigten, Tage und Nächte hindurch in endlosen Qualen zu Bett zu liegen. Sein Vertrauen auf den Süden erlosch, und mit derselben Inbrunst der Zuversicht, wie er dieser Reise entgegengesehen hatte, sah er nun der Rückkehr in die Eisregionen der Alpenwelt entgegen und beschleunigte seine Abreise. Ich war schmerzlich bewegt um dieser fehlgeschlagenen Hoffnung willen, konnte ihn aber doch nicht zurückhalten, da sich auch die liebevollste Sorge als ohnmächtig gegen die Gewalt des Übels erwiesen hatte und man also mit ihm hoffen mußte, daß Veränderung doch vielleicht Besserung bringen könne.

So schied er, und ich blieb allein zurück, verlebte noch einige herrliche Wochen in der zauberischen Einsamkeit des paradiesischen Ortes und entschloß mich schwer, zu gehen. Ich blieb noch ein paar Tage in Neapel, um einen lang gehegten Wunsch auszuführen, nämlich den Vesuv zu besteigen, freilich nur bis zum Observatorium, da ich mich allein doch nicht bis zum Krater wagen wollte. Aber auch dies war schon hoher Eindruck und Genuß. In dieser schwarzen Lavawelt regte die Phantasie mächtig ihre Flügel; man schien sich in einem Bereich versteinerter Höllenungetüme zu befinden, Riesenschlangen, Molche und Skorpione lagen da in chaotischem Durcheinander, wie von einem plötzlichen Machtgebot erstarrt; die Vegetation hatte dies grausige Gebiet geflohen, nur der Ginster wuchs zwischen den Schlacken empor und erhob seine goldfarbigen Blüten tröstend über dem Leichenfeld. Oben aber auf dem Observatorium breitete sich die Herrlichkeit der Welt zu meinen Füßen aus. Vor mir lag der wundervolle Golf, von den Gluten des Abendhimmels übergossen, seitwärts sah man in die Gebirgswelt hinein, in der die herrlichsten Farbentöne im Wechsel der Lichter und Schatten erschienen; alles war Leben, Licht, Farbe, Freude, und der Mensch, überwältigt von der siegenden Schönheit, schmiegt sich immer von neuem an das [252] Herz des wonnigen Verräters, den goldigen Erdentraum, aller Gefahr vergessend, immer aufs neue zu träumen.

In freudiger Rührung, der Schönheit des Daseins huldigend, stieg ich hinab, verließ Neapel, eilte durch Italien, um mich in die Schweiz zu begeben, wohin Olga mit ihrer Familie zum sommerlichen Rendez-vous zu kommen versprochen hatte. Ich wählte diesmal den Weg über den Splügen, da ich die meisten Alpenübergänge schon kannte, hielt mich einen Tag in Chiavenna auf, nahm mir einen Wagen und begab mich mit meiner treuen Dienerin auf die Fahrt über die eisigen Höhen. Es war nicht schön da oben, eine freudlose Öde, an den weiten Schneefeldern vorüber, kein sonniger Tag und keine großartige Aussicht. Es war Ende Juni, aber so kalt, daß ich, um mich zu wärmen, eine Zeitlang zu Fuß ging. Da fand ich am Rand des Eises eine weiße Alpenrose, die seltener sind als die roten; ich pflückte mir das arme Kind der Eisregion zum Andenken, und, ergriffen von dem ungeheuren Kontrast, den ich in kaum acht Tagen durchlebte, schrieb ich in mein Tagebuch:


»An dem Saume ew'ger Eisgefilde
Lag ich stille träumend
In der Knospe Schoß.
Doch den Kelch erschloß mir
Langsam, Sonne dein Strahl,
O warum mich wecken
Zu dem kurzen Dasein?
Nicht mit holder Röte
Färbst du mein bleiches Antlitz.
Nicht zu seliger Liebe
Gibst du heilige Glut mir,
Nahe bei der Vernichtung
Starrendem Eise wohn ich,
Trage seine Farbe,
Und vergebens küssest
Du mir matt die Stirn.
[253]
Ach aus schönem Traume
Hast du mich gestört,
Fern auf sonniger Höhe,
Sah ich glänzend leuchten
Goldenen Ginsters Pracht,
Der an Feuersbrüsten
Flammennahrung sich trank
Und mit strahlenden Sonnen
Liebende Schwüre getauscht.
Ihm zu Füßen die Welt
Lag in göttlicher Schöne;
Lächelnde Fülle des Seins
Nahm dem Tod selbst den Stachel,
Denn ihm droht auch ein Grab;
Schwarze Todesgeburten
Starren mahnend ihn an.
Aber sie deckten mit Nacht
Eine Welt, die gelebt,
Die geliebt und genossen
Höchsten Daseins Entfaltung.
Ja im holden Wahnsinn
Seliger Täuschung vergehen –
O beneidenswert Los!
Aber des Nichts graunvollem Abbild
Ewig ins Antlitz zu schauen –
Matter sonniger Strahl
Warum wecktest du mich?
Ist dies hier die Wahrheit?
O so gib mir die Lüge,
Gib mir nur einen Tag,
Wo im Geist und der Liebe
Sich mir Vollendung genaht –
Und dann lösch eilig die Fackel. –

Hinunter kam ich an die Via mala, an den jugendlichen, rauschenden Rhein, und das erhaben Düstere und doch Belebte [254] dieser grandiosen Straße erfrischte mich wieder, und heiter eilte ich dem Thuner See zu, um mich mit den geliebten Freunden zu vereinen.

Ein römisches Idyll

Wenn man sich in Rom da sein Nest gebaut hat, wo die Fülle des Malerischen und charakteristisch Römischen noch nicht durch die moderne Bau-Invasion verdorben ist, so kann man noch römische Idyllen erleben, die an jene unvergeßlich schöne Zeit erinnern, wo Rom, wie ein Märchen aus alten Tagen, wie eine von der rollenden Zeit vergessene, zaubervolle Sage, inmitten der modernen Welt dalag, ein Ort zur Beschaulichkeit und zum Träumen geeignet, wie kein anderer in der Welt. So ist wirklich mein Nest. 1

Rings um mich bauen sich jene großartigen Trümmerfelder auf, über denen die Weltgeschichte wie mit ausgebreiteten Flügeln zu schweben scheint, ein melancholisches memento mori für die Gegenwart, während die sich ewig erneuernde Natur mit ihrem tröstenden Grün reizvoll die zerfallenden Mauerwerke überzieht. Da ist das Forum, der Palatin, das Kolosseum, und in der Ferne blaut die sanfte Linie des Albanergebirges. Will man nun an diesen herrlichen Frühlingstagen einen Spaziergang in der Morgenfrühe machen, so hat man zu wählen zwischen so vielem Schönen. Ich fange mit dem Platz S. Pietro in Vincoli an, der auch neben meiner Wohnung liegt. Es ist ein vornehmer Platz in seiner Abgeschlossenheit und Ruhe, auf der einen Seite die gleichnamige Kirche mit dem Haus der dazu gehörigen geistlichen Herren, gegenüber das Kloster der Maroniten, der Mönche vom Libanon, in deren Garten eine der größten Palmen Roms steht, hinter der man im bläulichen Duft in der Ferne die Acqua Paola auf dem Janiculum und davor das Kapitol mit seinem Turm sieht. Die dritte Seite des Platzes ist von einem alten Palast begrenzt, [255] der einst den Borgia gehörte. Die Mutter der Lucrezia wohnte dort, und er hat etwas Unheimliches durch eine dunkle Bogenwölbung, unter der eine steinerne Treppe in die tief unten liegende Straße führt. Unwillkürlich malt sich die Phantasie allerlei Schreckbilder aus von den dunklen Taten, die zur Zeit der Borgia unter diesem Bogen, zwischen den schwarzen feuchten Mauern, geschehen sein mögen; die Neuzeit aber hat sie entsühnt, indem das Gebäude dem polytechnischen Institut eingeräumt wurde. Die vierte Seite des Platzes ist von dem Garten der Maroniten voll herrlicher Bäume eingefaßt; es ist wenig Verkehr dort, immer gute reine Luft, und jetzt erfüllt ihn Duft der Orangenblüten aus dem Garten hinter der Kirche herwehend.

Es lohnt sich der Mühe, auf diesem schönen, stillen Platz wandelnd, den Tag zu beginnen. Hier stört den Morgenfrieden kein lautes Gewühl des Marktes, noch das dumpfe Gerolle schwerbeladener Karren, oder die ohrenzerreißenden Stimmen der Ausrufer von Zeitungen, Gemüsen, Obst und dergleichen. – Es sind nur gute, stille Beschäftigungen, die hier den Tag anfangen. Da schleicht ein altes Mütterchen herbei, tritt in die Kirche zum Gebet, um dann die Last des Alters am Tag leichter zu tragen. Ein junges Mädchen geht auch dahin, vielleicht um von der Madonna Stärkung zur Arbeit oder Kraft, der Versuchung zu widerstehen, zu erbitten. Eben kommt ein alter Mann herbei, an jeder Hand ein kleines Enkelkind, und tritt in den heiligen Raum ein. Er kniet nieder, die Kleinen knien neben ihm, falten die Händchen und schauen mit großen, ernsten Augen hinauf zu dem Gewölbe der Kirche, als möchten sie den lieben Gott doch auch sehen, zu dem der Großvater sie beten lehrt und dessen Schutz er sie empfiehlt, denn sie sind Waisen und wer kann sagen, wie lange der greise Nonno noch für sie wird sorgen können. Mir scheint es, als ob über die Züge des gewaltigen Moses von Michelangelo – der in dieser Kirche seit drei Jahrhunderten sitzt und mit erhabenem Zorn auf die Menschheit schaut, die immer noch um das goldene Kalb tanzt, – [256] als ob über die strengen, marmornen Züge ein menschliches Rühren flöge und der Zorn für Augenblicke dem unendlichen Erbarmen mit diesen stillen Betern Platz mache, die in der Not des Lebens keine andere Zuflucht wissen als zu der unsichtbaren Macht, die sie in Tempelhallen gegenwärtig glauben.

Vor der Kirche beginnt nun aber anderes Leben sich zu regen. Jünglinge der bürgerlichen Stände ziehen ernst und sittsam dem Polytechnikum zu, um ihren Studien obzuliegen. Von verschiedenen Seiten wandern Mütter oder Dienstmädchen herbei, um die kleinen Kinder zu den Kommunalschulen, deren sich einige in der Nähe befinden, zu führen; niemals gehen die Kinder, auch die ärmsten nicht, allein, immer ist ihnen die Begleiterin zur Seite, neben der sie verständig und artig einhergehen, ihre Schulbücher tragend, oft auch ein Sträußchen Blumen für die Lehrerin, da die freigebige Natur hier auch dem Armen so liebliche Aufmerksamkeiten möglich macht. Nun zieht aber etwas anderes, den Kindern freilich nicht zu Fernes, den Blick des still Wandelnden auf sich. In der dunklen Wölbung des Borgiabogens erscheinen plötzlich zwei Hörner, und nach ihnen der mächtig große Kopf eines Ziegenbocks, der gravitätisch, im stolzen Gefühl seiner Feldmarschallwürde, die steile Treppe erklommen hat; ihm folgt ein langer Zug von schwarzen, weißen, grauen Ziegen, die das finstere Gemäuer furchtlos passieren, um den gewohnten Weg gerade über den Platz in die gegenüber mündende Straße fortzusetzen. Hinter ihnen her kommt der Hirte, das zottige Fell an den Hosen, in der einen Hand den langen Stab, mit dem er die säumenden Tiere zum Marsche antreibt, in der anderen das Blechgeschirr, in das er vor den Häusern seiner Klienten die Milch melkt. Dies war alte römische Sitte und erinnert an patriarchalische Zustände vergangener Zeiten. Noch ist aber der feierliche Zug nicht ganz vorüber, da zieht von der tieferen Straße neben dem Maronitenkloster herauf ein neuer ebenso feierlicher Zug von lauter schwarzen, schönen Ziegen. Die ehrwürdigen Häupter des Zugs schreiten [257] wacker voran und sind schon beinah, den ersten Zug kreuzend, über den Platz hinüber, als sie plötzlich gewahr werden, daß die jungen Zicklein stehen geblieben sind und sich neugierig nach dem Hirten umsehen, der unten an der aufwärts steigenden Straße angehalten hat und mit einer Frau spricht. Ob nun die Alten es nicht leiden mögen, daß die jungen Geschöpfe so vorwitzig sind und gleich wissen wollen, was sich für ihr Alter vielleicht noch gar nicht paßt – genug, sie machen Halt, und es beginnt ein gewaltiges Meckern, das crescendo heranwächst bis zu einem ganz gebieterischen Ruf. »Chiamano i figli« (sie rufen die Kinder) sagt neben mir ein alter Straßenkehrer, den ich jeden Morgen wegen seiner Sorge für die Reinlichkeit des Platzes lobe, mit solcher Innigkeit im Ton der Stimme, daß man sah, er wisse, was Vatersorge um das Wohl der Kinder ist. Nun kommen sie auch angetrabt, die jungen Schelme, und die Ehrwürdigen wenden sich zum Weitergehen, da jetzt auch der Hirte langsam schreitend naht. Auch er trägt die zottigen Hosen, die lange dunkle Jacke und hat den breitkrämpigen Hut tief auf die Stirn gedrückt und den langen Stab immer horizontal unter dem Arm, ein Zeichen, daß er gut und geduldig ist und ein hinkendes Tier, wenn es nicht recht fort kann, nicht gleich schlägt, wie es der andere Hirte tut. Wenn er an mir vorüberkommt, wirft er mir einen Seitenblick zu, und ein kleines Nicken des Kopfes bedeutet einen dankenden Gruß, da er sieht, wie ich seine schwarzen Ziegen bewundere.

Nachdem ich noch einem jungen Mädchen, das auf den Kirchenstufen sitzt und eifrig an einem Strumpfe strickt, guten Morgen gewünscht habe, wandere ich dem Wäldchen zu, das hinter dem Kolosseum seine grünen Schatten zum Schutz gegen die steigende Sonne bietet. Es wird so oft behauptet, der südliche Frühling komme dem im Norden nicht an Reiz gleich. Das können aber nur die sagen, die ihn nie ganz im Süden erlebt haben. Allerdings ist er nicht das Erwachen aus gänzlichem Tod, das langsame Sichbesinnen der [258] Natur, daß sie den Menschen doch eine Entschädigung schuldig ist für die Entbehrungen des Winters; es ist vielmehr hier das freudige Symbol der unausgesetzten Schaffenskraft im Weltall, die neben dem dunkeln ernsten Laub der Bäume, das nie abstirbt, das frische jugendliche Grün oft in einer Nacht, wie mit einem Zauberschlag, hervorlockt, und den Strom des reichen Lebens verschwenderisch ausgießt in rasch entfalteten Blüten, gleich als wollte sie eifern gegen den menschlichen Wahn, daß es überhaupt Vernichtung und Tod gäbe, und es zur tröstenden Gewißheit machen, daß alles ewig ist.

Aber leider war das liebe Wäldchen, das mir so oft ein freundliches Asyl ist, heute gerade von den Rekruten besetzt, die in der Morgenfrische da eingeübt wurden, um das von niemand angegriffene Vaterland zu verteidigen und den immer von neuem proklamierten Weltfrieden, bis an die Zähne bewaffnet, glänzend zu beweisen. Zugleich machten die Trompeter des Regiments ihre Studien mit einem so ohrenzerreißenden Eifer, daß das grüne Paradies zur Hölle wurde, die ich mich beeilte zu verlassen. Da kam ich an der Kirche von San Giovanni und Paolo vorüber, die am Ausgang des Wäldchens neben einem Kloster der Passionisten liegt. Ich trat in die leere Kirche ein und in eine nie zuvor betretene Kapelle, wo gerade einer der Mönche kehrte und reinigte. Wieder wie in so vielen Kirchen Roms, war auch hier eine verschwenderische Pracht kostbarer Marmorarten angebracht, aber ehe ich mich noch recht umsehen konnte, bemerkte ich, daß der Mönch die Gittertür, durch die ich eingetreten war, verschloß. Ich fragte verwundert, warum er mich einschließe, da deutete er stumm auf eine kleine Seitentür, die ich nicht bemerkt hatte, und die durch die Sakristei in die Kirche zurückführte, ging aus derselben und ließ sie offen. Ich sah mich nun in dem reichgezierten Raum um und gewahrte unter dem Altar einen gläsernen Sarg, in dem die Leiche des Stifters des Ordens im Ordenskleid liegt. Ihm ist also die Kapelle geweiht. Ist dies [259] Aufbewahren der Erscheinung nicht etwas dem ägyptischen Todeskultus Verwandtes, gleichsam als ob die entflohene Seele das verlassene Kleid wieder aufsuchen und anziehen würde, wie es ja freilich die katholische Kirche auch meint? Wer hat es aber nicht schon am Totenbett geliebter Menschen erfahren, wie seltsam fremd uns alsbald das Bild ansieht, wenn der Hauch des geistigen Lebens es nicht mehr belebt? Wenn es uns aber dennoch das Herz zerreißt, auch dies Vergängliche von uns zu lassen und der Verwesung zu übergeben, so ist es, weil damit der ewigen Trennung das Siegel aufgedrückt wird, weil das Wesen, um dessentwillen wir auch das Bild geliebt, uns nie mehr erscheinen wird. Goethe hat in den »Wahlverwandtschaften« in der Kapelle Ottiliens die Erhaltung des Bildes poetisch verklärt, aber schöner ist doch der Gebrauch der Alten, das Irdische durch die läuternde Flamme verzehren zu lassen und die Atome dem Kreislauf des Lebens unmittelbar zurückzugeben. Doch den Passionisten, denen das Kloster gehört, hat es anders geschienen, wie das Altarbild beweist, auf dem der Stifter des Ordens nicht als immaterielle Seele, sondern im schwarzen Ordenskleid, wie er da unter dem Altar liegt, gen Himmel fliegt, wo ihn Christus, inmitten der himmlischen Heerscharen, mit offenen Armen empfängt. Das Bild ist modern, ebenso sind es die Fresken, die die Seitenwände der Kapelle bedecken. Hier ging es mir aber seltsam. Als ich den Blick zu einer dieser Fresken erhob, fühlte ich mich plötzlich von Rührung ergriffen. Da kniete die Mutter allein vor dem dunklen Felsengrab, den Leichnam des Sohnes auf den Knien haltend, und schaute in bitterem vorwurfsvollen Schmerz gen Himmel. In der Ferne sah man Golgatha; die drei Kreuze zeichneten sich scharf ab von dem feurigrot beleuchteten Abendhimmel, während die Gruppe vorn im Schatten war. Jener flammende Himmel schien wie ein ewiges Verdammungsurteil über die Menschen, die immer von neuem das »Kreuziget, kreuziget ihn« rufen, wenn der Genius, der ihnen [260] die Erlösung durch Freiheit und Liebe verkündet, unter ihnen erscheint. Und daneben der einsame Todesschmerz der Mutter, die ihn allein durch die Intuition der Liebe verstanden hat, und der Leichnam, auf dessen Lippen noch das »es ist vollbracht« zu schweben scheint; ja, vollbracht das ungeheure Opfer, und dabei die schwermutsvolle Frage: »waren sie es wert, werden sie es würdigen, wird es ihnen nützen?« – Alles das ergriff mich tief in der Weltentrücktheit dieser Kapelle; ich wandte mich dem gegenüber befindlichen Fresko zu und blieb nicht weniger bewegt davor stehen. Da kniete er am Ölberg, der vor dem letzten Opfer noch einmal zurückbebende Mensch, und rang mit seinem Dämon, der ihn zur Entscheidung drängte, und in dem milden, märchenhaften Licht, das durch das feine Laub der Oliven zitterte, schwebte der Engel heran, der ihm den Kelch der Entsagung und des Todes brachte, aber auch der Verheißung, daß denen, die getreu sind bis an den Tod, die Krone des Lebens werden wird.

Ich beugte mein Haupt vor diesem erhabensten Gedicht der Menschheit, und still und bewegt trat ich durch die kleine Tür in die Sakristei, um fortzugehen. Da standen zwei Passionistenmönche in schwarzer Tunika und schwarzem Skapulier, auf der linken Brust den Namen Jesu und ein kleines silbernes Herz mit einem Kreuz, und sprachen miteinander. Sie sahen erstaunt auf die unerwartete Erscheinung, die da so plötzlich aus dem verschlossenen Innern des Heiligtums hervortrat. Ich aber dachte: Verständet ihr nur alle den wahren Sinn des Mysteriums, dessen Behüter ihr euch wähnt, da würde das Erdenleben zu einem Idyll, wie es mir dieser Morgen war, und die Opfer der erlösenden Liebe vollbrächten sich nicht mehr am Kreuz, sondern in schöner Freiheit von Mensch zu Mensch.


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Sehr lebhaft hatten sich mir gerade in den Tagen Betrachtungen darüber aufgedrängt, wie wenig das Ideal christlicher Liebe und Eintracht in jenem Stand, der am ersten [261] dessen Vertreter sein sollte, verwirklicht sei. Gewiß, wenn irgendeine Institution der Geschichte den Eindruck einer kompakten Einheit macht, die wie ein organisches Ganze erwachsen zu sein und sich in organischer Ordnung und Harmonie zu bewegen scheint, so ist es die Hierarchie der katholischen Kirche, und doch ist dies ein vollkommener Irrtum. Kaum haben sich von jeher irgendwo schroffere Gegensätze, tieferer Haß, schlimmere Verleumdungen kundgegeben, als wie unter den Trägern jener Religion der Liebe, deren Verkündigerin die Kirche ist. Und nicht allein den Lebenden gilt der Streit und der Haß, – auch den Toten. Jetzt eben toben beide wieder um eine der edelsten Gestalten, die der katholische Klerus in der Neuzeit aufzuweisen gehabt hat, um Antonio Rosmini, den philosophischen Denker, in dem die Würde des wahrhaft apostolischen Priesters einmal wieder lebendig geworden war. Er lebte am Lago Maggiore, und in seinem Kollegium empfingen viele der ausgezeichnetsten Männer des damaligen Italiens ihre Bildung und blieben seine Anhänger und Freunde. Die Jesuiten aber machten ihm von Anfang an einen wütenden Krieg, denn sie hatten alsbald gesehen, wie gefährlich er ihnen werden würde. Durch unausgesetzte Verfolgungen und Verleumdungen brachten sie es auch endlich mit Hilfe des damaligen Königs von Neapel dahin, daß Pius IX., als er im Exil in Gaeta war, die Ernennung Rosminis zum Kardinal widerrief. Um sich wegen dieses Widerrufs zu entschuldigen, pflegte der Papst zu sagen, er sei der Gefangene eines Königs, der Rosmini für ein Haupt der Insurrektion halte. Später indes veranlaßte Pius IX. selbst das »Dimittantur«, und die Jesuiten wagten, trotz ihrem Haß, doch den Streit wegen Rosmini nicht wieder aufzunehmen. Erst nach dem Tode Pius IX. brach das verhaltene Feuer wieder aus. Jesuiten und Dominikaner vereinigten sich, trotz ihrer früheren Feindseligkeiten, gegen den gemeinsamen Feind, den ernstesten, erleuchtetsten, frömmsten Geist, den die Kirche in diesem Jahrhundert gehabt hat. Begünstigt durch die Nachsicht des neuen Papstes, eröffneten [262] sie damals einen Feldzug; schon ist es ihnen gelungen, die Bücher des religiösen Philosophen dem Dimittantur zu entziehen, und nicht zufrieden damit, daß man ihm bei Lebzeiten die Kardinalswürde, die ihm schon verliehen gewesen war, wieder genommen hatte, und daß er endlich aus Schmerz über die unwürdigen Verfolgungen gestorben ist, arbeiten sie darauf hin, ihn noch nach dem Tode als Ketzer erklären und seine Bücher verbrennen zu lassen. Noch widersteht der Papst, aber wird er den wiederholten Angriffen der vereinigten Zeloten immer widerstehen können?

Ein eben veröffentlichtes, bisher noch nicht gedruckt gewesenes Buch des frommen Denkers, dessen bereits begonnene Veröffentlichung im Jahre 1840 durch Rosmini selbst unterbrochen wurde, um den damals etwas beruhigten Streit nicht wieder anzufachen, hat jetzt das feindliche Lager aufs neue in vollen Aufruhr gebracht. Man geht sehr weit in der eigenmächtigen Verfolgung dieser Schriften. Vor einiger Zeit wurde in der Hauptdruckerei Roms der Druck einer neuen Auflage der Briefe Rosminis begonnen, dieses trefflichen Buches, in dem sich das innere Leben der edlen Persönlichkeit von Jugend auf dem Leser kundgibt. Einer der eifrigsten Gegner, der im Vatikan Sitz und Stimme hat, kam in die Druckerei, sah die bereits gedruckten ersten Bogen und befahl wutentbrannt, den Druck sofort einzustellen. Nach einem Bericht im Vatikan wurde das Verbot von dort bestätigt. Die Sache machte aber Aufsehen und rief den Protest hervor, und als man sie von anderer Seite vor den Papst brachte, versicherte dieser, nichts davon gewußt zu haben.

Dessen ungeachtet – oder vielleicht gerade deshalb erst recht – mehrt sich aber besonders in Oberitalien der Anhang Rosminis unter der jüngeren Geistlichkeit in hohem Grade. In den Klöstern männlicher sowohl wie weiblicher Rosminianer entfaltet man eine segensreiche Wirksamkeit auf dem Gebiete der Erziehung und der hilfreichen Barmherzigkeit. Sie verschmähen es nicht, dem Fortschritt der modernen Wissenschaft eifrig zu folgen, es gibt dort mehrere ausgezeichnete [263] Gelehrte, und das ganze Streben ist auf reine Frömmigkeit im wahren Sinn einer christlichen Kirche gerichtet. Man wird dadurch an die reformatorische Bewegung erinnert, die in Italien am Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts stattfand. Möchte es ihnen besser gelingen als den edlen Vorkämpfern jener Zeit, und möchte sich ein Papst finden, der ihren Feinden, den Sturmgeistern der Kirche, das Wort zuriefe, das Clemens VIII., müde der ewigen Wühlereien mit denen, deren Vorgänger den Frieden der Welt und die Ruhe der Gewissen störten, diesen zurief: »Aufrührer, ihr seid die Störenfriede in der Kirche Gottes.«


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Ich lebte damals in sehr häufigen und herzlichen, besonders aber geistig anregenden Beziehungen zu einer eifrigen Katholikin, der Fürstin Caroline Wittgenstein. Schon bei meinem ersten Aufenthalt in Rom, in den Wintern der Jahre 64 und 65 (mit den beiden Töchtern Herzens) hatte ich ihre Bekanntschaft ge macht; wir waren uns aber nicht näher gekommen, obwohl zu der Zeit die damalige römische Gesellschaft sehr mit ihr beschäftigt war, und eine förmliche Parteinahme für und gegen sie stattfand. Es war der Augenblick, wo nun endlich durch den Tod des Fürsten, ihres Gemahls, alle Hindernisse gehoben schienen, die ihrer Verbindung mit Liszt, der großen Liebe ihres Lebens, entgegengestanden hatten. Nur in der Absicht, dieses Eheband, in dem sie nie Glück gefunden hatte, durch die Kirche lösen zu lassen, war sie nach Rom gekommen und hatte ausdauernd, trotz aller widerwärtigen Erschwerungen, die ihr in den Weg gelegt wurden, und sogar mit materiellen, bedeutenden Opfern, ihr Ziel verfolgt. Nun stand sie vor dem errungenen Erfolg. Liszt war auch in Rom, ich sah ihn öfter, sowie einige seiner Schüler, die ihn stets umgaben, und unter denen besonders einer, ein Engländer, mit fanatischer Liebe an ihm hing. Eines Abends fand ein Konzert statt, von römischen Fürstinnen für einen wohltätigen Zweck veranstaltet, in dem Liszt, großmütig wie immer, spielte. Am [264] Morgen darauf erschien eben jener Engländer bei mir, in größter Bestürzung, und sagte, Liszt sei verschwunden, niemand wisse von ihm, und man fürchte, es sei ein Unglück geschehen. Natürlich erregte die Sache das größte Aufsehen, und in den damals noch so kleinen, geselligen Verhältnissen war von nichts anderem die Rede. Der Schüler war trostlos; nach einigen Tagen jedoch erschien er wieder freudestrahlend; Liszt war wieder da, nur in der Kleidung eines Abbé; er hatte sich aber dem treuen Schüler in die Arme geworfen und gesagt: »Ich bin immer derselbe.« Im Vatikan, in der Privatkapelle des Kardinals Hohenlohe, war die Aufnahme in den geistlichen Stand vollzogen worden, und unmittelbar nachher hatte Pio IX. den neuen Priester empfangen, der sich ihm mit den Worten vorstellte: »Saint père, la moisson est grande, voici un moissonneur de plus.«

Was da vorgegangen war, welche inneren Motive diese plötzliche Wandlung am Vorabend der anderen, endlich möglich gewordenen Entscheidung herbeigeführt hatten, blieb der Welt ein Geheimnis, und müßige Neugier bemühte sich vergebens, den Schleier zu lüften, der von den Beteiligten mit größter Diskretion über den Grund der vollzogenen Tatsache gedeckt war. Man erfuhr nur, daß es der größte Wunsch der Fürstin sei, daß die Leitung der geistlichen Musik in der Kirche Roms, die mehr und mehr moderner Mittelmäßigkeit verfiel und die erhabenen Werke alter Meister vernachlässigte, Liszt in die Hände gegeben werde. Warum es auch hierzu nicht kam, warum Liszts Stellung zum Vatikan keine sehr günstige wurde, blieb ebenfalls ein Geheimnis für die Welt, so viele Vermutungen und Gerüchte auch in Umlauf gesetzt wurden.

Ich stand der Fürstin damals zu fern, um an dieser großen Krisis ihres Lebens teilzunehmen, und dann verließ ich Rom für viele Jahre und hörte kaum etwas von ihr. Erst als ich mir Rom zum bleibenden Wohnsitz erwählt hatte, kam ich wieder in Berührung mit ihr, und sie zeigte mir alsbald ein so herzliches Wohlwollen, und ihre große Intelligenz versprach [265] mir so viele genußreiche Stunden, daß ich gern der Aufforderung Folge leistete, sie öfter zu besuchen. Sie kam auch häufig zu mir und holte mich im Wagen zu weiten Spazierfahrten in die römische Campagna ab, wobei sie mir interessante und anmutige Erzählungen über ihre polnische Heimat und das dortige Landvolk machte. So sagte sie einmal, als wir seltsame Wolkenbildungen in der Campagna bewunderten, eine Eigentümlichkeit ihres heimischen Klimas, namentlich im Süden Polens, sei die große Elektrizität der Luft, und infolgedessen die auffallend schönen und phantastischen Wolkenbildungen. Da sei es Gewohnheit der Landleute, in den weiten Grasebenen auf dem Rücken zu liegen, dem Spiel und Zug dieser Wolken zuzusehen und zu träumen; vielleicht Träume voll Poesie und Glück, als Entschädigung für die nackte, armselige Wirklichkeit.

Sie wohnte in einer sehr bescheidenen, möbliert gemieteten Wohnung im dritten Stock, die ziemlich geschmacklos, ohne alle wahre Eleganz, wie es damals in den römischen Mietwohnungen meist der Fall war, ausgestattet war, besonders hingen abscheuliche Bilder aller Art an den Wänden, deren Duldung von seiten der Fürstin mir unbegreiflich war, da sie einen leidenschaftlichen Kultus für die Kunst hatte, freilich vor allem für die Musik. Auch nahm der Flügel einen großen Platz in dem kleinen Salon ein, in dem sich um das Kamin herum der Versammlungsplatz befand, d.h. der Lehnstuhl der Fürstin, auf dem sie ihre Besuche empfing, daneben ein Tisch stets mit Vasen voll Blumen, oft mit sehr stark duftenden, beladen, was den Kopf der Fürstin, trotzdem sie mit ihm fortwährend arbeitete, nicht anzugreifen schien; Bücher, Noten, Schriften lagen überall, selbst im Vorzimmer umher, nach okzidentalen Begriffen in ziemlicher Unordnung, doch ihr, die jeden Augenblick etwas nachzuschlagen, etwas auszuführen hatte, bequem. Charakteristisch war eine große kristallne Bonbonniere, immer mit Schokolade und anderen Bonbons gefüllt, die dem Besucher sogleich angeboten wurden, nach slavischer Sitte, wie man mir sagte. Das [266] Ganze dieses Raumes sowie auch der übrigen Räume der Wohnung war wirklich weder standesgemäß noch einfach schön, und als ich später auch mit Liszt nahe genug befreundet war, um mit ihm über dergleichen Dinge zu sprechen, sagte er mir einmal ganz in Verzweiflung, er habe nun endlich in einem bekannten fürstlichen Palast Roms das, was man eine Wohnung nennen könne, für die Fürstin gefunden, und nun sei durch ein Zusammentreffen von Umständen Veranlassung gewesen für die gegenwärtigen Hausleute, der Prinzeß Carolina sich sehr dienstwillig und aufopfernd zu erweisen, und da wolle sie nun aus Dankbarkeit das Logis nicht verlassen.

Übrigens vergaß man auch bald genug die wirklich nicht sympathische Einrichtung, saß man einmal auf einem der Stühle, die um den der Fürstin herum für die Besucher bereit standen, denn wenn sich nicht bald ein bedeutendes Gespräch über irgendeinen inhaltvollen Gegenstand entspann, so war es sicher die Schuld des Besuchers, und nicht die der Fürstin. Sie war nicht schön, war es nie gewesen und erzählte mir einmal lachend, daß ihre Mutter, eine elegante, schöne, den Weltfreuden zugetane Frau, sich betrübt habe, daß sie so häßlich sei, und daß sie ihr zum Trost gesagt hätte, sie solle nur ruhig warten, nach der Auferstehung werde sie wunderschön sein. Übrigens hatte sie eines jener Gesichter, die keine eigentliche Jugend haben und daher oft mit dem Alter eher gewinnen, und wenn man mit ihr sprach, und der Gegenstand des Gesprächs sie interessierte oder begeisterte, so belebten sich die Züge so ausdrucksvoll und die Augen glänzten so feurig, daß man vergaß zu prüfen, ob sie schön sei oder nicht, denn man fühlte sich unter dem Bann einer außerordentlichen Persönlichkeit, eines ungewöhnlichen Intellekts, die der äußeren Reize nicht bedurften, um zu fesseln. Doch war sie nicht ganz gleichgültig gegen das, was der äußeren Erscheinung Anmut verleiht, sie kleidete sich meist in helle Farben und sagte mir einmal, da ich viel schwarz trug, sie habe das früher auch getan, aber dann sei es ihr klar geworden, daß der liebe Gott es nicht wollen könne, da er die [267] Erde so schön mit den Blumen in allen Farben geschmückt habe, und seit der Zeit hatte sie auch alle Farben des Frühlings und Sommers in ihrer Kleidung, besonders an den flatternden Bändern der übrigens häßlichen Hauben, die sie trug; und ebenso wählte sie ganz besondere Anzüge, wenn sie, was häufig geschah, sich photographieren ließ, z.B. den vier Jahreszeiten gemäß, oder im Wagen, den Blick nach oben gerichtet, um »den letzten Stern zu suchen«.

Aber diese kleinen Koketterien verzieh man ihr gern, um der vielen Vorzüge wegen, die ihren Umgang von dem gewöhnlichen Alltagsverkehr unterschieden; denn man konnte sehr verschiedener Meinung mit ihr sein, aber das Gespräch wurde nie banal, und die Kontroverse blieb, auch wenn sie von beiden Seiten eifrig, ja hitzig wurde, stets in den Grenzen des freundlichsten, wohlwollendsten Verkehrs. Ihre Bildung war eine universelle, und sie fühlte sich auf keinem Gebiete des Wissens fremd. Sie hatte sich viel mit Schopenhauerscher Philosophie beschäftigt, und unsere Gespräche führten uns oft darauf. Sie war nicht ungerecht gegen ihn, aber sie bestritt seine Ansicht über den Willen und sagte, der Mensch träte ins Leben mit absoluter Freiheit, zu werden, was er wolle; sie führte mir dabei, da wir meist französisch sprachen, ein Wort der französischen Bibelübersetzung an: »Dieu traita l'homme avec révérence« und mit einem Ausdruck von fast übermütigem Trotz setzte sie hinzu: »Je n'aurais pas voulu son cadeau de la vie, s'il ne m'avait pas donné la liberté.« Sehr sympathisch war ihr Schopenhauers Zurückgehen auf indische Weisheit und indische Ansichten; auf diesem Gebiet hielt sie ihr Wissen für unfehlbar, und sie wurde fast böse, als ich sagte, ich glaube gar nicht, daß das Nirvana das absolute Nicht-mehr-Sein bedeute, sondern daß es vielmehr den seligen Zustand der Erlösung von der Welt der Sansara und die Wiedervereinigung mit Brahm, mit der Gottheit, ausdrücke. Das bestritt sie mir absolut und sagte, es sei entschieden das Nichtsein, da das Sein den Indern ja als eine Schuld, als etwas [268] zu Verneinendes erschienen sei. Ebensowenig wie hierüber aber bekehrte sie mich zu Ansichten auf andern Gebieten, besonders dem religiösen, so gern ich mich von ihr über theologische Dinge belehren ließ, die mir bisher gänzlich fern gelegen hatten und unbekannt geblieben waren, in denen sie aber gründlich unterrichtet war und die sie mit einer eignen Innigkeit und Wärme vortrug, so daß man fühlte, sie wollte dafür gewinnen. Ob sie, wie man es von ihr sagte, überhaupt gern Proselyten machte, weiß ich nicht, aber gewiß ist, daß sie es bei mir versuchte, und zwar mit einer Ausdauer und einem Eifer, die mir nur bewiesen, daß sie mich aufrichtig liebte, wodurch ihr Wunsch gerechtfertigt erschien, meine Seele hinüber zu retten in den Schoß der allein seligmachenden Kirche. Einmal in der Fastenzeit, wo gewöhnlich Prediger aus anderen Orten in den römischen Kirchen predigen, forderte sie mich auf, mit ihr in die Kirche S. Luigi de' Francesi zu gehen, wo eben der Bischof Mermillod, der aus der Schweiz fortgemußt hatte, die Fastenpredigten hielt. Ich ging mit ihr und fand die Predigt durch einige fein ausgeführte Gedanken anziehend. Das freute die Fürstin, und nach einigen Tagen erhielt ich eine Einladung, zu ihr zu kommen, um den Bischof Mermillod, der da sein werde, kennen zu lernen. Da ich wußte, daß er mit meinen katholischen Verwandten in Wien viel verkehrt hatte, war es mir angenehm, seine Bekanntschaft zu machen, und ich ging hin. Sein Äußeres und seine etwas hochmütige Art zu sprechen und zu fragen, nahmen mich nicht für ihn ein, aber der Fürstin zuliebe ging ich freimütig darauf ein, seine Fragen zu beantworten, die sehr inquisitorisch forschten, warum ich mich den Überzeugungen meines katholisch gewordenen Bruders in Wien nicht angeschlossen habe. Nach einiger Zeit entfernte sich die Fürstin und ließ uns allein, wahrscheinlich in der Hoffnung, daß er nun direkter auf das Ziel losgehen sollte. Er sagte denn auch gleich, es komme eigentlich nur auf drei Fragen an, die schon Bossuet einem Engländer, der ihn um [269] Rat fragte, als das Wesentliche vorgelegt habe, zuerst die Frage, ob man an Gott glaube, zweitens ob man an Christus glaube, und drittens – und das sei das Wesentlichste – ob man an die Kirche glaube. Darauf sagte er, er werde mir Bücher schicken, und ich solle ihm freimütig Rechenschaft geben von dem Eindruck, den sie mir gemacht hätten. Als die Fürstin wieder eintrat und nach dem Resultat unserer Unterredung fragte, sagte er mit zuversichtlichem Lächeln: »Das wird schneller gehn, als Sie denken« und ging. Die Fürstin, in einem Sturm des Entzückens, ergriff, ehe ich es mich versah, den Saum meines Kleides und küßte ihn, und als ich ganz erschrocken rief: »Aber Fürstin, was tun Sie?« sagte sie mit wirklich freudestrahlendem Angesicht: »Der Gedanke, mit Ihnen an den Altar zu treten, ist zu schön und riß mich fort.« Ich dankte ihr gerührt für ihre Liebe, ging aber bekümmert fort, da ich wußte, daß ihr auch jetzt, wie schon bei allen früheren Versuchen, die bittere Enttäuschung bevorstand.

Am folgenden Tag war Mermillod bei mir gewesen, hatte mich nicht getroffen, aber ein Paket Bücher gelassen: die Predigten Lacordaires und das Leben der Mme. Seton, einer konvertierten Amerikanerin, die ihr Leben nach ihrer Bekehrung ganz der Arbeit für ihre leidenden Mitmenschen gewidmet hatte. Nachdem ich die Bücher gelesen hatte, sandte ich sie zurück und schrieb dabei an Mermillod:

»Ich habe die Reden des père Lacordaire sowie das Leben von Madame Seton mit dem größten Interesse gelesen. Ich neige mich immer vor den Worten und vor einem Leben, die den Opfern der erbarmenden Liebe, die der Tod des Egoismus ist, geweiht sind. Ich bewundere alles, was den Menschen über seine engere Sphäre erhebt, sei es der Schwung des Gedankens zu den höchsten Anschauungen, sei es die Tat des Herzens und des reinen Mitleids. Ich bestätige voll Glück meinen Glauben daran, daß wir in uns einen Funken jenes ewigen Lichts tragen, das im Grunde des Seins leuchten muß, und das unsere schwachen Sinne [270] nur von ferne ahnen können. Ich erkenne es als unsere höchste Pflicht, diesen Funken in uns zur Flamme werden zu lassen und das Göttliche in uns zu verwirklichen, das sich auch in einem jeden von uns inkarniert hat. Aber wovon ich nicht überzeugt worden bin und es nie sein werde, das ist die Annahme, daß die Wahrheit ein für allemal gegeben sei, und daß eine dogmatische Kirche sie für immer umschließe. Ich glaube im Gegenteil, daß die Wahrheit in ewigem Wachsen sei und eine Hülle nach der anderen abwerfe, um immer vollkommenere Blüten und Früchte zu tragen.«

Natürlich hörte ich darauf nichts mehr von Mermillod, und auch die Fürstin schwieg vollkommen über das Vorgefallene, von dem sie ohne Zweifel unterrichtet war. Aber sie ihrerseits ließ nicht ab, ihr Ziel zu verfolgen. Einmal, wo wir wieder eine längere Unterredung über die Vorzüge der katholischen Kirche gehabt hatten und ich gern gestand, daß ich sie als Organisation bewunderungswert finde, und daß ich mit Verehrung anerkenne, wie sie der erste Versuch gewesen sei, die Menschheit durch ein geistiges, ideales Band zu einer Gemeinschaft zu vereinen, forderte sie mich geradezu auf, mich ihr anzuschließen. Ich sagte, halb scherzend, um der Dringlichkeit des Versuchs, die unserem guten Verhältnis leicht hätte schädlich werden können, zu entgehen: »Aber ich brauche doch die Kirche, von Menschenhänden gemacht, nicht, um meinen Gott zu verehren; ich tue es draußen in seiner großen herrlichen Kirche, wo er offenbar wird in der Schönheit jeder Blume, im Vogelsang, in Goldwolken, wo ihn seine Schöpfung preist mit Worten, wie sie kein menschlicher Mund je gesprochen.«

»Nein, meine Liebe,« sagte sie, »es ist gerade in der Kirche, wo er sich besonders offenbart. Kommen Sie ihr nur näher, so werden Sie es selbst erfahren.«

Es kamen dann lange Pausen, in denen dieser Gegenstand der Unterhaltung vollständig ruhte, denn sie war zu geistvoll, um nicht zu verstehen, daß ein lebhafteres Drängen nach dem ersehnten Ziel mich ermüden und schließlich von ihr entfernen [271] werde; ich war ihr dankbar dafür, denn ich hatte eine aufrichtige Anerkennung für ihre großen Eigenschaften, und der geistige Verkehr mit ihr war mir genußreich und wert. Oft begegnete ich auch interessanten und gelehrten Leuten bei ihr, so unter anderen mehrere Male dem Grafen Schack, der uns Gedichte von sich vorlas, und obwohl er mir nicht den bedeutenden Eindruck machte, den ich erwartet hatte, doch manches sagte, was mich interessierte. Einmal sah er auf dem Tisch der Fürstin die »Memoiren einer Idealistin« liegen, nahm das Buch und schlug es auf, wo gerade ein Kapitel anfing, über dem geschrieben stand: »Mazzini«. Er steckte es darauf ohne weiteres in die Tasche und sagte: »O, das will ich lesen, dem Manne bin ich begegnet und habe mich lebhaft für ihn interessiert.« Später erzählte mir die Fürstin, er habe das Buch für seine Bibliothek gekauft, obgleich er im allgemeinen ein Gegner der Schriftstellerei von Frauen war. Eine andere Persönlichkeit, die ich dort kennen lernte, und die mir die tiefste Sympathie einflößte, war der gelehrte Benediktinermönch Padre Tosti von Monte Cassino, von dem ich schon durch Gregorovius, der sich lange seiner Studien wegen in dem Kloster aufhielt und den Tosti sehr ehrte, gehört hatte. Die milde, liebenswürdige Persönlichkeit des greisen Priesters zog mich auf das innigste an, ganz eingenommen aber wurde ich für ihn durch ein von ihm selbst verfaßtes episches Gedicht, das er der Fürstin mitzuteilen versprochen hatte und bei dessen Lesung er auch mir freundlich erlaubte, gegenwärtig zu sein. Das Gedicht war von so hoher Schönheit, daß die Fürstin und ich gleich hingerissen davon waren; danteskische Größe der Naturbeschreibung, ergreifende Schilderung der Leidenschaft und himmlische Verklärung idealer Liebe, alles tönte aus dem Munde dieses Greises doppelt rührend und erhaben. Als er geendet hatte zu lesen, fragte ich ihn, ob das Gedicht gedruckt würde und sprach die Hoffnung aus, daß dem so sein möge. Der alte Priester lächelte und sagte, daß es nie gedruckt werden dürfe, da es ihn in den Bann der Kirche tun würde.

[272] Den größten Freund der Fürstin aber, den sie über alles liebte und dem sie einen tiefen, ewigen Kultus in ihrem Herzen geweiht hatte, den großen Künstler Franz Liszt, sah ich nur selten dort, freilich durch Zu fall, denn er kam jedes Jahr nach Rom und war dann täglich bei ihr. Zuweilen aber traf ich ihn doch da, so unter anderem einmal am Tage San Carlo, wo ich hingegangen war, der Fürstin Caroline, als an ihrem Namenstag, den man nach katholischem Gebrauch feierte, einige Blumen zu bringen. Liszt kam bald nach mir, fragte, ob sie seine Blumen erhalten, und erzählte uns, daß, als er früh am Morgen über den spanischen Platz gegangen sei, mehrere der Knaben, die dort mit großen, blumengefüllten Körben auf dem Kopf einhergehen, ihm zugerufen hätten: »Signor Francesco, è la San Carlo, bisogna portar fiori là«, indem sie nach der Straße gedeutet hätten, wo die Fürstin wohnte. Liszt lachte herzlich über seine offenbare Popularität unter diesen halb naiven, halb schlauen Verkäufern des Schönsten, was die Erde gibt, und ich lachte mit ihm, da auch ich diese so anständige Vertraulichkeit des italienischen Volks, die mehr das Gefühl der Gleichberechtigung als wie Zudringlichkeit ist, kenne und liebe. Die Fürstin hingegen war bestürzt und sagte fast beschämt, man habe ihr nur gesagt, es seien die Blumenverkäufer der Piazza draußen, und da sie ihren Gärtner habe, der an bestimmten Tagen Blumen bringe, so habe sie gesagt, man solle sie wegschicken. Es war ihr augenscheinlich sehr leid, ja höchst peinlich, so die Absicht des Freundes vereitelt zu haben, und es rührte mich, die fast demütige, schüchterne Art ihres Benehmens dem verehrten Manne gegenüber zu sehen, sie, die sonst so selbstbewußt, so sicher anderen gegenübertrat. Nur einmal hörte ich ihn bei ihr spielen, wobei sie in Andacht versunken zuhörte. Ich hörte ihn aber oft in jenen Jahren in einigen anderen Häusern, besonders bei einer liebenswürdigen jungen Russin, wo sich ein kleiner, auserwählter Kreis zu musikalischen Aufführungen regelmäßig zusammenfand, und sein Spiel erschien mir in seinen vorgerückten [273] Jahren noch unendlich viel bedeutender, als in den Zeiten seiner großen Konzerterfolge, wo ich ihn auch gehört hatte. Es war eine Ruhe, eine Seelentiefe, gleichsam eine Verklärung über dieses Spiel gekommen, das auch dem Instrument seine Beschränktheit nahm und ihm einen Zauber verlieh, wie ich es bei keinem der vielen großen Pianisten, die ich hörte, in dem Grad wiedergefunden habe.

Die Fürstin sprach mir oft von dem einzig geliebten Freund, immer mit der gleichen begeisterten Verehrung, nie kam ein Wort der Klage über ihn von ihren Lippen, das den Gerüchten hätte recht geben können, die ohne Aufhören von müßigen, nach Effektgeschichten haschenden Köpfen über die Vergangenheit und die tragischen Episoden dieses Verhältnisses in Umlauf gesetzt wurden. Nur einmal, in einer besonders gerührten und intimen Gesprächen geweihten Stunde, kam sie dazu, mit Offenheit über die herbste Epoche ihres Lebens zu sprechen und den Schleier zu lüften, der ein tief verwundetes Herz bedeckte; nie kam ein solcher Augenblick wieder, und das absolute Schweigen und die völlige Resignation einer stolzen Seele bildeten allein den Hintergrund der Beziehung zu dem Freund, die dem Publikum kund wurde. Ebenso war es aber auch von seiten Liszts ein nie endendes Beweisen seiner Anhänglichkeit und verehrenden Freundschaft, das er bis an das Ende aufrecht erhielt. Als er das letzte Mal nach Rom kam und mich zu besuchen bei mir eintrat, rief ich ihm entgegen: »Es ist doch schön, daß Sie Rom treu bleiben.« Da sagte er mit der fast bitteren Bestimmtheit, die er zuweilen bei seiner sonst so sanften Art zu reden hatte: »Es ist füreine Person, daß ich komme, sonst setzte ich den Fuß nicht mehr hierher.«

Was die Fürstin trotz der herben Erfahrungen ihres Lebens aufrecht hielt, das war außer der Religion die Arbeit. Sie schrieb unausgesetzt und häufte Band auf Band meist theologischen Inhalts, aber auch anderen Gegenständen, politischen und künstlerischen, gewidmet. Es war das auch einer der Gründe, der sie in ihrer bescheidenen Wohnung festhielt, [274] denn sie hatte da die Druckerei und den Raum, in dem ihre Bücher niedergelegt wurden, ganz in der Nähe. Zuweilen gab sie mir kleinere Aufsätze über diesen oder jenen Gegenstand zu lesen, aber während ihre Unterhaltung stets anregend voller Leben und Geist war, fehlte ihren schriftlichen Äußerungen Klarheit des Gedankens und Anmut der Form; die Schwerfälligkeit des Stils ermüdete und schreckte ab vom Lesen. Ihr größtes Werk jedoch »Über die inneren Gründe der äußeren Schwäche der Kirche«, sollte erst viele Jahre nach ihrem Tode veröffentlicht werden, und sie sagte mir einmal, als sie davon sprach: »O in fünfzig Jahren etwa werden die Herren da oben sagen, die Frau hatte doch recht.« Denn sie wußte sehr wohl, daß man ihr in den höchsten Regionen der Kirche Opposition machte. Früher noch, unter dem Pontifikat von Pio IX., war sie, besonders mit Antonelli sehr befreundet, im Vatikan gewesen, ja dieser Papst hatte sogar ein Wunder an ihr vollzogen. Sie litt zu der Zeit sehr an den Augen, und eines Tages, als sie sich in einer Privataudienz beim Papst befand, ließ sie sich auf die Knie vor ihm nieder, ergriff seine Hände, legte sie auf ihre Augen und bat ihn, sie zu heilen. Sie blieb so einige Minuten. »Ich weiß nicht, was der Papst machte,« sagte sie, »aber ich glaube, er betete; dann segnete er mich, und als ich nach Haus zurückkam und zu arbeiten versuchte, fand ich meine Augen gesund, und sie sind es bis auf diesen Tag geblieben.« Das mußte nun – ob durch Wunder oder nicht – wohl so sein, denn sie arbeitete meist bis spät in die Nacht hinein, und am Tag, wenn man zu ihr kam, glänzten ihre Augen so feurig im Lauf der Rede, daß man sah, sie litt nicht daran.

Seit vielen Jahren schon verließ die Fürstin Rom nicht mehr, auch nicht im Sommer, und wenn ich im Herbst von meinen nun zur Regel gewordenen Reisen durch Deutschland nach Frankreich zu Olga zurückkam, sagte sie mir immer, ich täte unrecht, soviel Kraft wegzugeben, im Alter müsse man nicht mehr reisen und sich konzentrieren auf das Innenleben [275] und die Arbeit, so sei das Alter die glücklichste Zeit des Lebens. Und bei ihr war das anscheinend wenigstens zur Wahrheit geworden; es umgab sie wie eine Aureole von Freudigkeit und Frieden, die sie nicht hinderte, lebhaft teilzunehmen an allem, was die Außenwelt bewegte und besonders an den Schicksalen und Erlebnissen ihrer Freunde. Die letzten Jahre jedoch nahm ihre Gesundheit sichtlich ab, und sie verließ ihre Wohnung nicht mehr, weder im Sommer noch im Winter. Im Herbste 1886 kehrte ich mit einem bangen Gefühl zu dem Wiedersehen mit ihr nach Rom zurück, denn im Juli des Jahres war Liszt in Bayreuth während der dort stattfindenden Aufführungen gestorben. Ich fand sie stiller als sonst, äußerlich gealtert und mehr wie je an ihr dumpfes, jedem frischen Luftzug verschlossenes Zimmer und an ihren Lehnstuhl gebannt. Ich sah es gleich, daß auch ihre Lebensflamme dem Erlöschen zueilte; das Leben hatte seinen Wert für sie verloren, Liszt hatte prophetisch gesprochen, denn er hatte einmal geäußert, daß er überzeugt sei, sie werde ihn nicht überleben. Nach einigen Wochen wurde sie völlig bettlägerig und sah nur noch wenige Menschen. Ich gehörte zu diesen und verbrachte noch manche Stunde vor ihrem Bett. Jetzt sprach sie mir viel von dem geschiedenen Freund, und ich sah, daß sie glücklich war in der Hoffnung baldiger Wiedervereinigung. Sie hatte immer die Gewohnheit gehabt, mir, auch in derselben Stadt lebend, viele und lange Briefe zu schreiben, und auch jetzt noch, vom Krankenlager aus, erhielt ich deren häufig, so einen, wo sie nur von ihm und der Hoffnung sprach, ihn wiederzufinden und mit den Worten schloß: »Erlebt – ja er lebt, denn er liebte Jesus Christus.« Als ich dann wieder noch einmal länger bei ihr gesessen hatte, fragte sie plötzlich: »Ach, Liebe, warum wollen Sie nicht an die Gottheit Christi glauben?« Ich sah, es war ihr noch ein Herzenswunsch, dies letzte Werk der Bekehrung zu vollenden, und es schmerzte mich wahrhaft, ihr in diesen Abschiedsstunden noch die bittere Enttäuschung bereiten zu müssen. Ich schrieb ihr daher am folgenden Tag [276] und bat sie liebevoll, dies Thema nicht mehr zu berühren, da ich doch nicht gegen meine Überzeugung handeln, sie nicht mit einer falschen Hoffnung hinhalten könne, und es mir schmerzlich sei, ihr immer nein sagen zu müssen. Ich erhielt eine Antwort, in der ich wohl herausfühlte, wie sie enttäuscht sei, aber ich verstand es ja, daß es ihr bitter sein mußte, diesen Wunsch nicht erfüllt zu sehen, in dem ich doch nur einen Beweis ihres innigen Anteils an meinem Heil erkennen konnte. Einige Tage wurde ich verhindert, zu ihr zu gehen, hörte auch, daß ihre Tochter gekommen und sie also nicht allein sei. Doch hatte ich nun bestimmt vor, am 10. März 1887 zu ihr zu gehen, als ich am 9. März abends ein Billet von einer Bekannten erhielt, die mir schrieb, daß die Fürstin gestorben sei. Ich eilte am folgenden Morgen hin, konnte sie aber nicht mehr sehen.

In der sympathischen Kirche Santa Maria del Popolo war die Totenfeier. Der Kardinal Hohenlohe vollzog die Messe, und es wurde ein Requiem von Liszt aufgeführt. Ich war dort mit Frau Minghetti, und als der Kardinal den Sarg einsegnete, der die sterbliche Hülle umschloß, sagte ich ihr in meinem Herzen ein gerührtes Lebewohl. Als wir aus der Kirche traten, kam Monsieur Herbert, damals noch Direktor der französischen Akademie in der Villa Medici, der mit der Fürstin befreundet gewesen war, uns zu begrüßen, und sagte: »Oui c'était quelqu'un!« Das war das rechte Wort; ja Fürstin Caroline Wittgenstein war jemand, und von wie wenig Menschen kann man das sagen.

Gedachtes [1]

Gedachtes

Eben schrieb mir mein alter zweiundneunzigjähriger Freund über das schmerzliche Ach am Ende des rätselvollen Lebens. Mein schmerzliches Ach wird nur der einen gelten, in deren Leben mein Scheiden die tiefe Lücke reißt. Sonst [277] freue ich mich des Endes. War es der Zufall, der das bunte Wechselspiel des Daseins veranlaßte, so habe ich ihm getrotzt, indem ich mir ein Ziel vorsetzte und mutig nach einer vernünftigen Ordnung der Lebensaufgabe strebte; und ist im Grund der Schöpfung ein erhabenes Geheimnis, so habe ich mich vorbereitet, es zu verstehen.


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Der Dichter lebt zwei Leben, eines für sich, eines für die Welt. Wehe der Frau, die ihn liebt, das nicht versteht und eifersüchtig ist auf diese Teilung. Sie wird den Genius brechen, oder ihr eigenes Herz.


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Der Geist vom Ende dieses Jahrhunderts, der industrielle Geist, bemächtigt sich sogar des Schönen in der Natur für seine Zwecke, und verhäßlicht jene. So hörte ich kürzlich, man habe ein reizendes Wäldchen am Meeresstrand bei Antibes abgehauen, um Felder mit Blumen, zum Verkauf in Nizza und Toulon, zu bepflanzen.


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Hochnäsige Duldung, Philistertugendstolz, die kann ich nicht ertragen. Güte, Aufrichtigkeit, Gleichheit der Gesinnung oder stolze Ebenbürtigkeit, das verlange ich in Beziehung zu andern.


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Eine sehr schlimme Art der Koketterie beruht auf dem Reiz, bis an die äußerste Grenze des Versuchbaren zu gehen, und sich dann kalt vor dem letzten Schritt zurückzuziehen. Es ist die Koketterie der Neugierde, der Vivisektion der Gefühle. Man gibt Gift, um zu sehen, wie der andere zappelt und sich vor Schmerzen krümmt. Diese Sucht der Gefühlsanatomie findet sich häufig bei den Frauen der sogenannten »guten Gesellschaft«, die ihre Stellung nicht verderben, sich nicht kompromittieren wollen, es aber sehr lieben, in andern zu experimentieren [278] und leicht bewegliche Naturen vorwärts zu treiben, um, mit der Lorgnette vor den Augen, zuzusehen, wie gewisse Gifte wirken. Diese raffinierte Verderbtheit der Seele ist eine der häßlichsten Erscheinungen unter den Gebrechen der modernen Gesellschaft. Sie schon in einem jungen Mädchen zu finden, ist über alles Maß schmerzlich und empörend.


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Ihr Frauen der »großen Welt«, eure Liebe gleicht Irrlichtern, die über Sümpfen tanzen. Wehe dem, der diesen lockenden Lichtern folgt! Ihr kennt die wahre Liebe nicht, denn ihr denkt nie an den Mann und seine Qual; ihr denkt nur an euch selbst.


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Es ist erschreckend, mit welcher Leichtigkeit die Frauen in Italien sich preisgeben und die Forderung, daß der Körper der Tempel einer keuschen Seele und daher selbst unentweiht sein soll, gar nicht verstehen. Auch ist es unbegreiflich, warum sie sich so schwer entschließen, den Geschlechtsfreuden zu entsagen, da diese im Alter doch geradezu widerwärtig sein müssen, weil ihr Zweck, die Fortsetzung der Gattung, nicht mehr erreicht werden kann. Der Ersatz für das Alter ist ja die Geschlechtslosigkeit, die Ruhe vom Verlangen, die Annäherung zum reinen Geistsein, die zweite Jungfräulichkeit der Seele. »Und jene himmlischen Gestalten, sie fragen nicht nach Mann und Weib.«


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Duclos, ein französischer Moralist des 18. Jahrhunderts, sagte von den frivolen Frauen seiner Zeit: »Ces femmes qui donnent à Dieu ce que le diable ne veut plus.« Eine entsetzliche Kritik, und wie wahr auch noch heutzutage.


[279] * * *


Die italienischen Frauen haben etwas, das zugleich ein Vorzug und ein Mangel ist: die große Natürlichkeit in betreff natürlicher Dinge, die sie einerseits von der Prüderie der Frauen des Nordens freihält, ihnen andererseits aber auch sehr oft die edle Scham nimmt, die die dem tierischen Leben angehörigen Vorgänge mit einem Schleier bedeckt, den man auch den Schleier des vornehmen sittlichen Gefühls nennen könnte.


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Es gibt zwei Arten des Daseins für eine illegitime, aber große, wahre Liebe: frei und offen am Licht des Tages, oder, wenn die Umstände es nötig machen, tiefes, keusches Geheimnis. Aber das Hineinziehen von Unbeteiligten, das Besprechen und Verhandeln eines solchen Gefühls mit andern, außer dem einen, der es am ersten wissen müßte, dem legitimen Gatten – ist verächtlich.


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Der heilige Augustin hat gesagt: »Si vous épousez une femme perdue, vous faites une bonne action.« Das klingt beinah wie eine Vorrede zu Alexandre Dumas.


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In der alten Welt glaubten die Frauen wirklich, Umgang mit Göttern gehabt zu haben. Es war ihnen nicht etwa ein Märchen, eine Lüge, es war ihnen Wirklichkeit. Welcher herrlichen Art mußten die »Wanderer« sein, die ihnen so erschienen! Und welchen Einfluß mußte es auf die Kinder haben, die gleich als Halbgötter geboren wurden! Wie prosaisch die armen Frauen der Jetztzeit, die in keines Gottes Umarmung mehr erwarmen!


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Gastfreundschaft war eine der schönsten griechischen Eigenschaften. Bettler und Fremde waren ihnen von den Göttern gesendet. Homer sagt, man müsse die Bettler ehren, weil [280] sie vielleicht einen Gott verhüllten. Eine große Zeit, wo man das Göttliche auch in der elendesten Gestalt sich nahe glauben konnte.


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In der Antigone sehe ich das unleugbare Zeugnis, daß, wenn die Griechen im täglichen Leben der Frau eine untergeordnete Stellung anwiesen, die Dichter wenigstens das höchste Ideal von ihr hatten. Wie kann man sich ein edleres Wesen vorstellen als Antigone, die allen Gefahren Trotz bietet, um die ideale Pflicht zu erfüllen, die Pflicht, die die innere Stimme den auserwählten Naturen gebietet, und die nur zu oft mit dem absoluten, äußeren Gesetz in Widerspruch steht. Der Unterschied zwischen dem idealen Menschen, der gegen das Gesetz handelt, um recht zu tun, und dem Pflichtmenschen, der das Gesetz buchstäblich befolgt, und dabei im höheren Sinn unsittlich handelt, ist nirgends erhabener dargestellt, als in Antigone und Kreon. Das ist eine der ewigen Schöpfungen, die einen Konflikt malen, der sich so lange wiederholen wird, wie die Geschichte der Menschheit dauert. Die Antworten Antigones an Kreon enthalten alles, was den Menschen adelt und ihn unter die Sterne versetzt. Was könnte der heutige Mensch, der für die Freiheit kämpft, der Tyrannei, die sich hinter das Gesetz versteckt, Besseres erwidern? Daß der Dichter eine Frauengestalt wählte, um den Kontrast darzustellen, ist gewiß ein Beweis, daß in den kunstgeweihten Seelen der Griechen das schönste Ideal der Frau lebte. Außerdem braucht man auch nur an die Minerva zu denken, in deren Antlitz sich die höchste Majestät des Gedankens mit der vollendeten Schönheit der Form verbindet, um zu begreifen, daß nicht nur die Dichter, sondern auch die Künstler Griechenlands die Frau darstellten, wenn sie der höchsten Vereinigung menschlicher Eigenschaften Ausdruck geben wollen.


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Alle großen Dichter, auch späterer Zeiten, haben in der ethischen Welt das Weibliche am höchsten gestellt, so Dante, [281] Goethe u.a. Die dichtenden Völker taten es auch: Athene, Jungfrau Maria usw. In den meisten Sprachen ist Weisheit weiblich, also die höchste Potenz des Geistig-Ethischen, das Erlösende; ebenso die Erlösung.


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Vor vielen Jahren noch in England, als die Bewegung zur Emanzipation der Frau einen immer stärkeren Ausdruck fand, erschien dort ein neues Journal, diesem Zweck geweiht, und die Redaktion wendete sich an mich um Beiträge. Ich schrieb damals in Antwort: »Niemals vielleicht hat eine Idee des Fortschritts solch ein plötzliches Ins-Leben-Treten, solch ein Erwachen an den verschiedensten Orten zu gleicher Zeit gehabt, wie diejenige, für die Ihr Journal sich zum Organ macht. Früher pflegte es nur eine Inkarnation des neuen, reformatorischen Gedankens zu geben, einen Propheten, einen Reformator, der das Wort sagte, das dann hinausging in die Welt, sich seine Existenz zu erkämpfen. So ist es heute nicht mehr; der heilige Geist ist auf viele herunter gekommen, und die menschliche Gesellschaft strebt danach, das größte aller Prinzipien zu verwirklichen, das vom Anbruch der Zeiten an der Traum aller einsamen Denker gewesen ist, der Stern des Orients, der sie führte, die Glorie der Welt in einer einsamen Hütte zu suchen. Dieses Prinzip, das einst das geheime Losungswort für die Freunde der Menschheit geworden war, die das Gute vor den Augen des Bösen, das die Welt noch regierte, verstecken mußten, und das jetzt in das Tageslicht hervortritt und seine Verwirklichung in allen Richtungen fordert: das Prinzip der Gleichheit, gleichbedeutend mit Gerechtigkeit


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Für Gedanken gibt es kein Herrscherwort: sie schlüpfen vom Geist in den Geist hinüber, wecken da die Schlummernden, werden zu Stahl und Eisen im Blut, drängen hinaus zum Schwert in der Hand, und ruhen nicht eher, bis sie [282] eine Macht geworden sind, die zur Tat fortschreitet, und erst wenn sich Despotismus und Demokratie im offenen Felde gegenüberstehen, wenn es keine Wahl mehr gibt, als zwischen diesen zweien, dann erst wird die Stunde der Entscheidung gekommen sein. Dann erst ist es ein ehrlicher Kampf, denn dann erst weiß man, wofür und gegen was man kämpft, und dann erst werden die Waffen, auf deren Seite die neue Weltentwicklung liegt, den Sieg erringen.


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In einem der schönsten Kapitel der »Kultur der Renaissance« bespricht Jakob Burckhardt die Zunahme wahrhaft ausgebildeter Menschen im fünfzehnten Jahrhundert, das harmonische Ausrunden ihres geistigen und äußeren Daseins, die Vollendung der Persönlichkeit. Er führt die Worte eines der Größten jener Zeit, eines Urbildes des uomo universale an, der sagt: »Die Menschen können von sich aus alles, wenn sie nur wollen. Mitten in die Welt habe ich dich gestellt, spricht der Schöpfer zu Adam, damit du um so leichter um dich schauest, und sähest alles, was darinnen ist. Ich schuf dich als ein Wesen, weder irdisch noch himmlisch, weder sterblich noch unsterblich, allein, damit du dein eigner freier Bildner und Überwinder seiest; du kannst zum Tier entarten und zum gottähnlichen Wesen dich wiedergebären. Die Tiere bringen aus dem Mutterleibe mit, was sie haben sollen; die höheren Geister sind von Anfang an oder bald hernach, was sie in Ewigkeit bleiben werden. Du allein hast eine Entwicklung, ein Wachsen nach freiem Willen, du hast Keime eines allartigen Lebens in dir.«

Wenn man solche Worte der Leo Battista, Alberti, Pico und anderer ihrer edelsten Zeitgenossen erwägt, dann fragt man sich, wie viele unter den Nachgebornen, Lebenden dieses Bildungsideal verwirklicht haben? Unsere moderne Bildung ist mehr in die Breite gegangen, umfaßt mehr Gegenstände des Wissens, aber sie hat sicher, im Vergleich mit [283] jenen, an Tiefe verloren, an dem inneren Grund, dem die Blüte der wahren Schönheit entwächst.

Auch Burckhardt sagt: »Laut genug pflegt auch unser laufendes Jahrhundert den Wert der Bildung überhaupt und den des Altertums insbesondere zu proklamieren. Aber eine vollkommen enthusiastische Hingebung, eine Anerkennung, daß dieses Bedürfnis das erste von allen sei, findet sich doch nirgends, wie bei jenen Florentinern des fünfzehnten und Anfang des sechzehnten Jahrhunderts.«


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Es muß wohl den Menschen ein tief innewohnendes Bedürfnis sein, Feste zu feiern, denn von den ältesten Zeiten an haben sie besondere Tage ausgezeichnet und ihnen eine andere Bedeutung gegeben als den übrigen. Die nächste Veranlassung hierzu mag das Bedürfnis der Ruhe gewesen sein. Das Leben verpflichtet den Menschen zur Arbeit, seine Neigung ladet ihn zum Genuß ein. Tiefsinnige Gesetzgeber, wie Moses z.B., begriffen dies; und das: »Sechs Tage sollst du arbeiten und den siebenten sollst du ruhen« war ein auf die Bedürfnisse der menschlichen Natur gegründetes Gesetz. Bei dem lebensfrohsten Volk der alten Welt, den Griechen, führte dies Bedürfnis eine Menge festlicher Tage herbei, an denen das künstlerische Volk sich seiner Kraft und Geschicklichkeit, seiner Dichter und Sänger, ja seiner Götter freute. Ihm mußte selbst noch der tragische Schluß des Lebens, der Tod auf dem Schlachtfeld, ein festliches Gepräge haben, sie kämmten und bekränzten sich dazu wie zu einem Fest. Der Kultus aller Religionen baute auf dies Bedürfnis, indem er eine Menge Festtage einsetzte zu Ehren der Götter oder Gottes, an denen die Menschen sich inniger in die Nähe der Unsichtbaren versetzen und eine vertrautere Gemeinschaft mit ihnen pflegen sollten. Ganz besonders tat dies die katholische Kirche, und es ist das ohne Zweifel ein großes Mittel ihrer Macht gewesen und ist es noch. Dies Bedürfnis, in Gemeinschaft mit andern Stunden und Tage festlich zu begehen, [284] wird auch bleiben, wenn viele der gewesenen Feste ihre Bedeutung verloren oder gewechselt haben. So wie das Weihnachtsfest ursprünglich der Feier des wiederkehrenden Lichts geweiht war, und wie das Osterfest sogar von den alten Frühlingsgöttern den Namen beibehielt, und nichts war als Frühlingsfest, bis sie dann beide in den christlichen Kultus übergingen, so wird vielleicht eine neue Zeit ihnen ihre ursprüngliche Bedeutung zurückgeben. Wenn die Sonne uns hinauslockt auf neuergrünte Wiesen, wo die ersten Veilchen uns entgegenduften, warum sollten wir nicht ein heilig schönes Fest in Verehrung der allgewaltigen Schöpfungskraft der Natur feiern, die uns an ein ewiges Dasein glauben lehrt, indem sie immer von neuem den Tod in Leben verwandelt und aus der scheinbaren Verwesung strahlende Schönheitsformen hervorgehen läßt? Wenn die Menschheit einmal wieder die jetzige Phase ihres Entwicklungskampfes bestanden hat, so kann man mit Recht hoffen, daß eine Zeit neuer Blüten kommen wird, wo das ästhetische, künstlerische Bedürfnis neue Feste schafft, reicher und schöner als alles Dagewesene, weil sie einem neuen, reicheren und schöneren Zustand der Gesellschaft entsprechen.


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Wenn nur erst die Einsicht, daß dieses Leben nichts ist als Erscheinung des Seins, mehr verbreitet sein wird, wie viel falscher Wahn, wie viel törichte Sucht und Begierde werden alsdann aufhören! Durch das Schöne und Ehrwürdige das religiöse Gefühl wecken, das in seinem tiefsten Grund nichts anderes ist als die Ahnung des Idealen, Vollendeten, das ist Aufgabe der Erziehung, aber ohne Kirche, ohne Hierarchie, ohne bindende Dogmen.


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Die wahren Schmerzen sind die, die uns von denen kommen, die wir am meisten lieben, und die uns am meisten lieben. Alles übrige ist roba da nulla, graue Wolken, die vorüberziehen. Verwundeter Stolz, verletzte Eitelkeit, getäuschte [285] Hoffnung usw., alles das ist bitter, aber es trifft nicht dort unten an der Quelle des Lebens.


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Fühlte mich heute wie eine Sibylle, schaute die Wahrheit in den Tiefen der Erscheinung; auch Christus ein Kunstwerk; bewußter Wahn einzige Religion; alles nur Symbol!


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Man kann das Schicksal nicht zwingen und ebensowenig die Charaktere, die unveränderlich sind.

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Auch der Schmerz vergangen! ein Tropfen im Ozean des Gewesenen.

Landleben in Italien

An einem Abend auf einem Landsitze Minghettis in den Apenninen hatten wir eine Diskussion über das Weltsystem; wir, die Bewohner der Villa, der katholische Pfarrer des Orts und ein Franziskanermönch, der bei ihm zu Besuch war. Beide waren Anhänger Rosminis. Der Franziskaner, ein geistig angeregter, feuriger Mann, stellte die Behauptung auf, daß die in der Materie wirkenden Kräfte der Anziehung und Abstoßung immer latent dagewesen seien, bis ein allmächtiges Schöpfungswort sie in das Leben gerufen habe. Ich entgegnete ihm, daß es doch wohl vernunftgemäßer sei, zu denken, daß die eine Weltkraft in ihrer doppelten Äußerung nicht passiv, sondern von Ewigkeit her, in der Materie wirkend gewesen sei, deren Chaos sie geschieden und gestaltet habe. Ebenso widersprach ich ihm, als er die Realität von Zeit und Raum behauptete, und erklärte sie für ein bloßes Bedürfnis des Subjekts, das, beim Erkennen des Nebeneinander den Begriff des Raums, und beim [286] Erkennen des Aufeinander den der Zeit nötig habe. Der Mönch war erstaunt, aber nicht beleidigt; man sah, daß religiöse Vorurteile ihn nicht hinderten, freieren Gedanken gerecht zu werden und sie zu weiterer Betrachtung aufzunehmen. Er hatte entschieden ein hohes sittliches Bewußtsein seines Standes, und zu anderen Zeiten hätte vielleicht ein Savonarola aus ihm werden können.

Ich sprach nachher infolgedessen mit Minghetti über Rosmini und ließ mich über dessen Philosophie belehren. Minghetti nannte ihn den Nachfolger Kants, nur habe er dessen Kategorien auf eine einzige beschränkt, auf das Sein (l'essere). Nur dem Menschen habe er das Verständnis durch die Intelligenz zugeschrieben, während die Tiere allerdings auch Eindrücke hätten, aber nur ein Verständnis der Sensibilität. Der Mensch aber verstehe das: es ist, und von dem Augenblick an, wo er das verstehe, mache sich das Licht des Geistes geltend, und könne er reden. Die Tiere könnten nicht reden, weil ihnen der Begriff des Seins fehle. Aber dies Sein sei noch nicht Gott, nur gleichsam die Leinwand, auf der sich alle übrigen Wahrnehmungen zeichnen, wie auch die Kategorien Kants Beobachtungen der Sinne seien. Das wirkliche Sein Rosminis aber ist Gott; das gewordene Sein ist das Wort, der Sohn; und das ideale Sein: der heilige Geist. Rosmini stand jedoch nicht außerhalb der Kirche.

Außer dem Landsitz, auf dem diese Gespräche stattfanden, besaß Marco Minghetti dicht vor den Toren von Bologna, seiner Vaterstadt, eine anmutige Villa, deren Geschichte interessant ist, wie die so vieler kleiner, jetzt in den Privatbesitz übergegangener Orte in Italien. Der Hügel, auf dem die Villa liegt, wurde früher in den Reisehandbüchern als eine der Sehenswürdigkeiten von Bologna angeführt, da sich auf ihm die Kirche von St. Apollonia di Mezzaratte befand, deren Fresken aus der Schule Giottos und ein Teil von ihnen von ihm selbst herrühren. Jetzt gehört diese Kirche schon seit vielen Jahren zu dem Besitztum Minghettis; sie [287] ist dem Gottesdienst entzogen und mit dem Landhaus verbunden.

Schon seit mehreren Jahren hatte mich das Schicksal mit Donna Laura Minghetti, der Frau Marco Minghettis, zusammengeführt. Nicht in Rom, da ich mich der vornehmen römischen Gesellschaft nicht mehr angeschlossen hatte, weil mir sowohl die Gesundheit wie die Lust fehlten, ein müßiges Gesellschaftsleben aufs neue zu beginnen, sondern in Bayreuth, wohin sie mit ihrer kunstliebenden Tochter, einer der eifrigsten Beförderinnen des Bayreuther Unternehmens und der glühendsten Verehrerinnen Wagnerischer Musik, zu den Festspielen im Jahre 76 gekommen war. Die Bekanntschaft setzte sich in Rom fort und wurde bald zu aufrichtiger Freundschaft, die ich ihr um so höher anrechnete, als sie, die geistreiche, schöne, liebenswürdige Frau, eine der gefeiertsten Erscheinungen der italienischen Gesellschaft war, ich hingegen ein so stilles, weltabgewandtes Leben führte, daß ich einem glänzenden Weltkind wenig zu bieten hatte. Dankbar aber nahm ich es an, daß sie mich in den engeren Kreis ihres Hauses zog, wo sich eine Anzahl der in Politik wie in Wissenschaft bedeutendsten Männer versammelten und wo unausgesetzt ein geistig angeregter Verkehr herrschte.

Hier lernte ich sozusagen die zweite Schicht der hervorragenden Männer der italienischen Gesellschaft dieses Jahrhunderts kennen. Die erste Schicht war die jener Emigrierten, jener Idealisten, die im Exil unter schweren Prüfungen festhielten an ihrem Ideal eines vom Fremdjoch befreiten, zu neuer Blüte auferstandenen, einigen Vaterlands. Sie hatten in hoher Idealität alles geopfert, weil sie die Verwirklichung ihrer Hoffnung für möglich hielten, und waren zum großen Teil bitter enttäuscht gestorben. Diese zweite Schicht waren die Männer der klugen, berechneten Tat, der Praxis und des Erfolges; gebildete, rechtschaffene Leute, angenehm im Umgang, konservativ insofern, als sie das Erreichte festzuhalten suchten, ohne nach Höherem zu streben, und ohne die Idealität, die jene ersten umgab. Hier sah [288] ich, außer Minghetti selbst, als die Bedeutendsten: Ruggiero Bonghi, Giovanni Morelli, Francesco Brioschi.

Bonghi war einer jener glänzend geistreichen, kritisch und satirisch veranlagten Geister, wie sie in den romanischen Völkern häufiger vorkommen, als in den germanischen. Wenn der kleine, häßliche Mann zugegen war, konnte man sicher sein, daß es in der Unterhaltung sprühte und blitzte von geistreichen Aperçus, witzigen Einfällen, scharfen Bemerkungen, die alle oft mehr im Augenblick blendeten, als sie bei ruhiger Prüfung Wert behielten, besonders, wenn das schallende Lachen, das sie meist begleitete und Ansteckendes hatte, weil es so spontan und herzlich kam, verstummt war. So sagte er einmal, als von Napoleon I. die Rede war: »C'était un grand homme vulgaire.« Ich erlaubte mir zu bemerken, daß es mir zweifelhaft schiene, ob ein großer Mensch vulgär sein könne, oder ein vulgärer Mensch groß, aber die Phrase hatte gezündet, und der Einwand ging ohne Lösung vorüber. Ein anderes Mal, als er bei Tisch neben mir saß, kam er auf den Faust zu sprechen und sagte, das Gretchen sei ein sehr ordinäres Geschöpf, da es sich durch eine Kette verführen ließ. Dies war mir nun allerdings ein so seichtes Urteil, daß von der Zeit an seine Kritik allen Wert bei mir verlor, und daß sich eine Art Entfremdung zwischen uns bildete, die sich bis zu seinem Tod nicht ausglich. Auch als Politiker war er keiner von jenen unerschütterlich festen Charakteren, wie ich sie in jener ersten Schicht gekannt hatte. Selbst seine näheren Freunde waren oft ärgerlich über die Inkonsequenzen, die er sich als Politiker zu schulden kommen ließ. Dagegen aber war er von einer Schaffensfähigkeit, die an das Unglaubliche streifte. In dem großen, schönen Arbeitszimmer seiner Villa standen drei Schreibtische, und auf ihnen lagen Arbeiten, durchaus verschieden untereinander, an denen er zu gleicher Zeit, bald an diesem, bald an jenem Tisch, arbeitete. Was sein Andenken aber mehr ehrt, als der vergängliche Glanz seiner geistigen Begabung, das sind die zwei, von ihm in echter Humanität geschaffenen Anstalten in [289] Assisi und Anagni, erstere für die männlichen, letztere für die weiblichen Waisen der armen Schullehrer. Die Anstalt in Anagni besonders soll eine wahre Musteranstalt sein und ist das schönste Monument, das er sich selbst gesetzt hat.

Giovanni Morelli war eine durchaus andere Natur als Bonghi, ebenfalls sehr charakteristisch italienisch, aber die andere Seite dieses reichen Nationalcharakters vertretend. Aristokratisch im besten Sinn, fein, vornehm in Gesinnung und Form, äußerst liebenswürdig und gütig, waren seine geistigen Interessen ganz der Kunst zugewandt. Ein genauer und geistvoller Kenner aller Schulen und jedes einzelnen Künstlers, besonders der seiner Heimat, ging er deren Werken auch im Ausland nach und veröffentlichte in deutscher Sprache, die er vollkommen sprach und schrieb, ein hochinteressantes Buch unter dem Pseudonym: Ivan Lermolieff. Er gab darin zum Studium der Werke der bildenden Kunst Anfängern die bedeutendsten Ratschläge und wies besonders auf eigne Anschauung und genaue Prüfung der Werke selbst hin, anstatt der unselbständigen Annahme der von anderen aufgestellten Theorien, kurz, empfahl die Experimentalmethode ebenso in der Kunst, wie in der Wissenschaft. Unter dem Ministerium Minghettis waren ihm die Restaurationen der alten Kunstschätze anvertraut, und er hatte in Bologna, wo er damit anfing, Vorzügliches bewirkt, so z.B. in der Kapelle der heiligen Cäcilia die Fresken von Costa, Francia und andern, ganz von den entstellenden Übermalungen befreit und in ihrer ursprünglichen Gestalt hergestellt. Leider dauerte das Ministerium und damit seine Beauftragung nicht lange, sonst wäre wohl manches schöne Werk von der Verunglimpfung durch unkundige Hand erlöst worden. So sagte er mir einmal, als ich meinen Zorn über das abscheuliche Blau auf dem jüngsten Gericht des Michelangelo in der Capella Sixtina aussprach, es könne das ganz leicht weggenommen und das Gemälde dadurch seinem ursprünglichen Zustand zurückgegeben werden. Aber, wie es [290] ja leider allzu häufig geschieht, auf den weisen Rat hört man nicht, und die Pfuscher läßt man ihr Handwerk treiben, bis das Unersetzliche verloren ist. In seiner Wohnung in Mailand hatte er selbst eine schätzenswerte Sammlung edler Kunstwerke um sich gebildet, in der sein Künstlersinn Erquickung und Befriedigung fand, und manchem Freunde hatte er geholfen, bei dem Ankauf von Kunstsachen das Echte zu unterscheiden und nur das Würdige zu nehmen. So verdankte der prachtvolle künstlerische Besitz des Sir Henry Layard, des ehemaligen englischen Gesandten in Konstantinopel, seine größten Schätze dem Rate Morellis. So fern sein Unabhängigkeitssinn und sein Widerwillen gegen alle leere Form ihn auch von Hofkreisen hielt, so hatte er doch wahre Freundschaften unter fürstlichen Personen, wenn diese seine künstlerischen und geistigen Sympathien teilten, und es verging z.B. in früheren Zeiten fast kein Sommer, wo er nicht irgendwo im nördlichen Italien mit der nachherigen Kaiserin Friedrich, damals noch Kronprinzeß, zusammentraf und mit ihr und meist Minghetti eine Zeit in kunstgeweihtem Verkehr zubrachte. Ich war gerade an einem Sonntag Morgen, zusammen mit meinem jungen Freunde Rolland, bei Frau Minghetti zum Frühstück, und Rolland hatte uns eben ganz herrlich Bach gespielt, als ein Telegramm aus Mailand eintraf, das den Tod Morellis anzeigte. Daß er krank war, wußten wir, aber ein so rasches Ende des noch anscheinend kräftigen, noch in den besten Jahren stehenden Mannes hatten wir nicht erwartet. Frau Minghetti, ihm näher befreundet als ich, war schmerzlich getroffen, bat aber Rolland um mehr Musik. Dieser schlug die ersten Töne des Trauermarsches von Beethoven an, da rief sie aber: »Nein, das nicht, das ist nicht zu ertragen,« und so kamen wir zu Bach zurück, und in den hehren Tönen hielten unsere Herzen dem edlen Geschiedenen die würdige Totenfeier.

Der dritte der oben Genannten, Francesco Brioschi, war wieder ein anderer, von den beiden ersten sehr verschiedener Typus. Man hätte ihn für einen Römer der antiken Zeit [291] halten können, so eisern fest war sein Charakter, sein Unabhängigkeitssinn, sein vollständiger Mangel an eitlem Ehrgeiz und Streben nach Auszeichnung und irdischen Ehren. Gewiß gingen wenige Männer der italienischen Generation, von der ich jetzt spreche, so unbeugsam fest ihren Weg wie er. Ein Mann der Wissenschaft, der berühmteste Mathematiker Italiens, und als solcher auch im Auslande gekannt und geehrt; einte sich doch bei ihm das theoretische Wissen mit dem unausgesetzten Trieb der Tat, und man kann sich kein arbeitserfüllteres, tätig eingreifenderes Leben denken als das seine. Er war Direktor des ausgezeichneten polytechnischen Instituts in Mailand, und wie er dort wirkte, bezeugen die Worte eines seiner Schüler, der an seinem Grabe sagte: »Er war streng gegen uns, indem er uns zu Arbeit und Pflichterfüllung anhielt, aber er war uns auch ein liebevoller Vater, bei dem wir stets Rat und Trost fanden.« Als Präsident der Lincei, der Akademie der Wissenschaften in Rom, wurde er immer von neuem gewählt, wenn sein Mandat zu Ende ging, weil man keinen Würdigeren zu finden wußte, und außerdem leitete er unzählige Kommissionen und technische Unternehmungen. Was ihn mir aber besonders wert machte, das war sein tiefes Verständnis für die subtilsten Regungen der Seele, für die feinsten Unterschiede von Schein und Wesen; das war sein Haß gegen alles Unechte und Halbe, das war sein Idealismus, der ihm die abstrakteste aller Wissenschaften verklärte und nach den nüchternst-realistischen Geschäften des Tages am Abend ideale Befriedigung brachte. So sagte er mir einmal: »Wenn ich mehrere Stunden der Nacht mit tiefster Konzentration gearbeitet habe, um ein schwieriges Problem zu lösen, und Kopf, Augen und Hand müde sind, dann lehne ich mich im Stuhl zurück und fühle mit Wonne etwas Erhabenes, eine himmlische Harmonie in mir.«

Das sind die Momente, wo sich die Seele als Teil der universellen Einheit fühlt, indem sie mithilft an dem ewigen Werk des Schaffens. Wie versteht man dann die Worte aus Faust:


[292]
»So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit,
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.«

Denn alles wahre Schaffen, und sei es auch nur die Pflege heiliger Gefühle im Innern des Herzens, heißt die Gottheit zur Erscheinung bringen, ihr lebendiges Kleid wirken.

Dieser Mann des eisernen Willens, der unverwüstlichen Tatkraft schien auch von einer so eisernen Gesundheit, daß auch seine nächsten Freunde keine Sorge um ihn hatten und man kaum an die Möglichkeit von Krankheit glaubte. Doch war es geschehen, daß er im vorigen Jahr, in heißester Sommerglut in den Bergen in Sizilien mit einer hydraulischen Arbeit beschäftigt, den Todeskeim empfing, der ihn anfangs dieses Jahres ins Grab brachte. Er war eine von jenen stark ausgeprägten Individualitäten, die man nie mehr vergißt, und die so fest im Leben zu stehen scheinen, daß man kaum an ihr Scheiden glauben kann, immer meint, sie müßten wieder da sein, und die ganz besonders jetzt in Italien immer seltener werden. Mit ihm schied der letzte aus dem engen Kreise des Hauses Minghetti, und auch dieser einst so lebenerfüllte Mittelpunkt der römischen Gesellschaft gehört nun der Vergangenheit an.

Aber nicht nur hervorragende Italiener, auch bedeutende Fremde aus allen Weltgegenden fanden sich in dem gastlichen Hause ein. Eine Persönlichkeit, die mich sehr interessierte, hatte ich schon bei der Fürstin Caroline Wittgenstein kennen gelernt. Es war der Bischof Stroßmayer aus Kroatien, bekannt durch seinen mutigen Widerstand gegen die Infallibilität des Papstes. Die Fürstin, mir damals außerordentlich geneigt, hatte ihm von den »Memoiren einer Idealistin«, gesprochen, und er sagte mir, er wolle sie lesen, denn auch er sei ein Idealist. Er besuchte mich darauf, und ich erkannte seine echt slavische Natur, die ihn sich viel unmittelbarer, stürmischer und allerdings ideeller äußern ließ, als ich es bei römischen Priestern gefunden hatte. Einmal war ich mit ihm zusammen bei Minghettis zum Frühstück, wo auch Bonghi und einige andere Italiener anwesend waren. [293] Er sprach mit tiefem Ernst über die Schuld der Kurie, die darin bestehe, daß sie den Völkern keine Freiheit gäbe, während ihre Aufgabe sein müßte, sie Tugend und freies Denken zu lehren. Dann erzählte er uns von dem Bau einer Kathedrale, die er in Agram aufführen ließ, und die größer werden solle, als die Peterskirche, auch davon, wie er gleich einem Fürsten ausreite zur Jagd mit einem Gefolge von hohen Prälaten und vornehmen Herren; dabei begeisterte er sich im Lobe des Slaventums und rief endlich in heiterem Übermut den italienischen Herren zu: »Ihr seid die Alten, wir sind die Jungen, die Zukunft gehört uns!«

Wird die Zukunft diese heitere Zuversicht rechtfertigen? Bis jetzt hat sie es noch nicht getan, und es ist schon manches Jahr seitdem verflossen.

Noch lieber aber, als diese Vereinigungen in der Stadt waren mir die Wochen, die ich viele Jahre hin durch, von Donna Laura liebevoll eingeladen, bei ihnen auf ihrem Landsitze verbringen durfte, ehe ich meine alljährliche Reise nach Norden zu Olga antrat. So war ich ein einheimischer Gast auf dem obengenannten Mezzaratte geworden, und Minghetti gab mir Dokumente und Urkunden, aus denen ich die Geschichte des Orts kennen lernte. An der Fassade der Kirche ist ein antiker Kopf mit einer phrygischen Mütze eingemauert, und dieses heidnische Ornament erklärt sich, wenn man erfährt, daß hier, zur Zeit des römischen Reichs, ein Tempel des Mithras stand, dessen sieben, vom Kultus vorgeschriebenen Eingangsstufen noch an der einen Seite des Hügels sichtbar sind. Auf der Stelle dieses Sonnentempels erbaute um das Jahr 1106 eine der frühesten christlichen Brüderschaften ein Hospital und eine Einsiedelei, woselbst die armen Pilger, die zu den heiligen Orten wallfahrteten, Aufnahme und Pflege fanden. Nahe bei dieser Einsiedelei war die Richtstätte, und die Brüderschaft erhielt das Recht, die zum Tode Verurteilten auf ihn vorzubereiten und zu trösten, ein Recht, das sie mehrere Jahrhunderte hindurch ausübte, bis nach und nach der religiöse Eifer erkaltete und ihr das Jus [294] des Tröstens entzogen wurde. Um das Jahr 1290 wurde das »Haus der Mitte« von den Brüdern der Konfraternität der »Laude della Madonna« (Lob der Madonna) in Besitz genommen, die an den Abenden vor einem Festtag heraufkamen, jeder mit einem Körbchen, das Brot und Wein enthielt, bewaffnet, um hier zu beten. Sie sammelten Geld, um die Kirche zu bauen, zu der sie auch die Einsiedelei gebrauchten, und beschlossen, diese nach und nach würdig ausmalen zu lassen. In der Zeit zwischen 1300 und 1400 blühte in Bologna gleichzeitig mit der Entwicklung der Malerei in Toscana die Malerschule des Manno und des Franco, den sogar Dante der Erwähnung wert hielt. Einer der Schüler Francos war Vitale von Bologna, der den Meister an Freiheit und Anmut der Bewegung übertraf. Ihm schreibt man das Fresko im Innern der Kirche von Mezzaratte über dem Haupteingang zu. Es stellt die Geburt Christi dar, und einige Engel sind noch gut erhalten und sehr lieblich. An der rechten Seite der Kirche befinden sich Szenen aus dem alten Testament, von Abraham an bis Joseph, und darunter steht: Jacobus f. Auch dieser Jacobus war ein Schüler des Franco. Ein anderer Schüler desselben Meisters war Simone da Crocefissi, der diesen Beinamen erhalten hatte, weil er im Anfang nichts anderes malte, als immer Christus am Kreuz, »der aus Liebe zu uns diesen Tod erlitt«. Vitale hingegen wollte diesen Gegenstand nie malen, denn er sagte, es sei mehr als zuviel, daß die Juden Christus einmal an das Kreuz geschlagen hätten, und daß ihn die schlechten Christen täglich mit ihren Sünden durchbohrten. Jacobus malte im Anfang nur Madonnen mit dem Kinde, später aber vereinigte er sich mit Simone, und sie malten zusammen verschiedene Gegenstände mit so lebendiger Komposition und so viel Ausdruck, als es die Entwicklungsstufe jener Zeit zuließ. Beider Namen finden sich vereint an der linken Seite der Kirche, unter Szenen aus dem neuen Testament, an denen sich auch andere Maler der Schule von Bologna beteiligten.[295] Den Hauptwert aber enthielten diese Fresken durch die vier Felder aus der Geschichte Moses, die Giotto gemalt hat; als er sich einige Zeit bei den Freunden in Bologna aufhielt, ließ er ihnen dies Andenken zurück. Was noch davon erhalten ist, zeigt allerdings die Hand des größeren Meisters, und als Michelangelo in Bologna bei Julius II. war, soll er diese Fresken sehr bewundert haben.

Am Ende des vorigen Jahrhunderts kam die Kirche mit dem dazu gehörigen Bodenbesitz in die Hände eines Spekulanten, der die Hälfte davon in Wohnräume umgestaltete und die Fresken mit Kalk überzog. Als Canova nach Bologna kam, besuchte er die Kirche und sagte, es müßten dort Fresken gewesen sein, nahm ein Geldstück und fing an, den Kalk wegzukratzen und siehe da! es erschien ein Kopf. Im Jahre 1820 erstand Minghettis Vater die ganze Besitzung, aber erst nach des Vaters Tod ließ der Sohn den Kalk wegwaschen und was noch von den Fresken übrig war, der Beschauung zurückgeben. Jetzt ist dieses Mezzaratte durch die schöpferische Hand der Besitzer zu einem blühenden Idyll geworden, das die Höhe, auf der das künstlerisch angelegte Wohnhaus mit der Kirche steht, umgibt. Rechts und links von dieser Höhe ziehen sich ähnliche grüne Ausläufer der Apenninen, mit stolzen Gebäuden gekrönt, hin, und zu ihren Füßen liegt die Stadt Bologna und die weite, fruchtbare, mit Villen, Städten, Dörfern besäete Ebene der Romagna, an deren Horizont man bei hellem Wetter den Silberstreifen der Adria und gegen Norden die Schneefelder der Ortler-Alpengruppe erblicken kann.

In diesem Tuskulum ruhte der italienische Staatsmann von den heißen, leider oft so unfruchtbaren Kämpfen in der Aula von Montecitorio in Rom aus. Es war eine klassische Ruhe, könnte man sagen, denn aus der reichhaltigen, hier befindlichen Bibliothek suchte er vorzugsweise die lateinischen Schriftsteller hervor, und in erster Morgenfrühe konnte man ihn im Garten wandeln sehen, ein Buch in der Hand haltend und eifrig lesend. In dem einen Sommer waren es besonders [296] die Metamorphosen des Ovid. »Es ist gut,« sagte er, »den Tag mit etwas Poesie zu beginnen.« Beim Frühstück, das im Garten eingenommen wurde, las er dann das eine oder andere Schöne den Anwesenden vor und zwar so geläufig italienisch, als stände es so geschrieben, denn ihm war die lateinische Sprache so geläufig wie seine Muttersprache. Die edle Gastfreundschaft, die auf Mezzaratte geübt wurde, lockte im Sommer viele der nächsten Freunde herbei, die einer nach dem anderen kamen, um sich einige Tage auch von den Kämpfen auf politischem und den Arbeiten auf wissenschaftlichem Gebiet auszuruhen. Am Abend, wenn die erquickende Frische eintritt, die das Nachtleben der Italiener so natürlich und köstlich macht, kamen Besuche aus der Stadt heraus aus allen Schichten der gebildeten Gesellschaft; die Aristokratie von Bologna, die so viele geschichtlich berühmte Namen aufzuweisen hat, wie Bentivoglio, Pepoli, Gozzadini usw., mischte sich hier vorurteilslos mit den anderen Ständen, und besonders fehlt es nicht an Künstlern, die die kunstsinnige Gemahlin Minghettis mit Vorliebe herbeizieht. Beim Licht der Sterne sitzt man im Garten beieinander, und in der ungezwungenen Weise, die die italienische Geselligkeit zur angenehmsten der Welt macht, berührt die Unterhaltung bald Heiteres, ohne jedoch banal zu werden, bald Ernstes, das mit Eifer und Gründlichkeit besprochen wird.

Bologna ist ja noch immer eine der geistig angeregtesten Städte Italiens, wenn es auch nicht mehr den Ruhm besitzt, die erste Hochschule Europas zu sein. Der bedeutendste unter den jetzt lebenden Dichtern Italiens, Carducci, lebt in Bologna. An der medizinischen Fakultät der Universität befand sich einer der ersten Chirurgen der Jetztzeit, Professor Loreto. Er kam öfter nach Mezzaratte, und seine anziehende Persönlichkeit, sein Wissen und seine reichen Erfahrungen sicherten ihm stets einen Kreis wißbegieriger Zuhörer. Besonders wußten ihm die Frauen Dank, daß er ihrem Geschlecht die edelste Anerkennung zollte und sie nicht nur an geistiger Begabung dem Manne gleichstellte, sondern infolge [297] unzähliger Beobachtungen ihnen auch den größeren Heroismus zusprach.

Öfter kam das Gespräch freilich auch auf traurige Zustände der Öffentlichkeit, besonders auf die Vernachlässigung von seiten der Regierung für die, die dem Vaterlande uneigennützig und um eines Ideals willen gedient hatten. Der Nepotismus, der einst in der päpstlichen Romagna herrschte, hat sich in den ebenso schlimmen Protektionismus verwandelt und ruft an den Universitäten, Schulen und anderen Staatsanstalten, ein System der Beförderung von Günstlingen hervor, die die Besoldung nehmen und nichts leisten, während Fähige, die nicht um Gunst buhlen, sondern nur redlich ihre Pflicht tun, zurückgesetzt werden. Traurige Erfahrungen dieser Art hatten mehrere der Besucher von Mezzaratte gemacht, und manche waren so entmutigt, daß sie dem Vaterlande den Rücken wenden und ins Ausland gehen wollten. Ja, undankbar war Italien von jeher; Dante mußte ins Exil wandern, und Mazzini starb unter fremdem Namen unerkannt auf der heimischen Erde.

Oben in dem blütenreichen Mezzaratte wurde aber alles mit tiefem Schmerz empfunden, was dem Vaterlande nicht zur Ehre gereicht, doch der Trost wurde auch da gesucht, wo er allein zu finden ist, in dem Gefühl, die eigne Pflicht treu erfüllt zu haben, in Ausübung unbestechlicher Gerechtigkeit, und in dem geistigen Zusammenhang mit allen Großen, die vor uns dagewesen sind, und deren Bestes, befreit von den Mängeln der Sterblichkeit, in der herrlichen Bibliothek von Mezzaratte zu finden ist.

Noch einfacher, intimer und von dem Weltgetriebe noch mehr losgelöst war das Leben auf der zweiten, eine Stunde von Bologna hoch in den Apenninen gelegenen großartigen Besitzung Minghettis, »Sette Fonti« genannt. Da war er wirklich Gutsherr; denn auf seinem Grund und Boden lebte eine Menge ansässiger Bauern, deren Wohnungen hier und da auf den in malerischen Formen auf- und absteigenden Bergflächen zerstreut liegen. Hier oben war er stets der[298] erste, den erwachenden Tag zu begrüßen. Wenn ich (auch dort ein liebevoll empfangener Gast) in früher Morgenstunde in den Park hinuntereilte, um die balsamische Luft einzuatmen und unter den uralten Eichen dem Morgengesang der Nachtigallen zu lauschen, so sah ich ihn in seinem schlichten leinenen Hausrock und mit dem breitkrämpigen Strohhut schon von einem Gang in die schöne Gebirgswelt, die ihn umgab, zurückkehren, und dann lag jene heitere Ruhe auf seinem Antlitz, die nur die reinen Seelen kennen, die »von dem Wust der Welt entladen, am ewig frischen Quell der Natur gesund sich baden«. Darauf stieg er zur Arbeit in sein mit klösterlicher Einfachheit eingerichtetes Schreibzimmer, um in der Stille die Konzentration und Stimmung zu finden, die ihm für seine dortige Beschäftigung nötig waren. Er schrieb seine Memoiren.

Am Nachmittag, wenn die glühenden Strahlen der Sonne milder wurden und man aus den kühlen Zimmern wieder hinauseilte in die wonnige Luft, dann erschien auch Minghetti auf einer der großen, von hundertjährigen Eichen beschatteten Wiesen des Parks, wo der kleine Kreis der Hausgenossen sich bereits gelagert hatte und von wo man eine entzückende Fernsicht genoß: die Ebene der Romagna von Flüssen durchschlängelt, mit ihrem Reichtum an bewohnten Orten, am Horizont die funkelnde Adria und seitwärts die auf- und abwogenden Linien der in alle Farbenpracht getauchten Apenninen. Dann brachte er wieder ein Buch mit und las uns vor, immer aus seinen Klassikern; was für ein moderner Ton hätte auch wohl in diese klassisch schöne Welt gepaßt?

Bei diesen Versammlungen war meist der junge Geistliche zugegen, dessen Pfarrhäuschen nebst der kleinen Kirche dieser weit umher in den Bergen zerstreut wohnenden Gemeinde dicht neben dem Herrenhaus steht. Der junge Geistliche, ein Bauernsohn aus den Apenninen, geistig sehr begabt, verehrte in Minghetti den Retter seiner Seele, wie er sagte. Mit quälenden Zweifeln im Herzen, in dieser Bergeinsamkeit von allem geistigen Verkehr abgeschnitten, war er der Verzweiflung [299] nahe gewesen. Da kam Minghetti nach Sette-Fonti und lernte den Seelenzustand des Armen kennen. Er wurde der Arzt seiner Seele, gab ihm die Schriften Giobertis und Rosminis zu lesen, in denen der junge Mann ein reineres religöses Ideal fand, als das, was ihm bisher als Religion vorgeführt war, – und leitete den übersprudelnden Gärungsstoff dieser Intelligenz in die ruhigeren Bahnen religiös-philosophischen Denkens und zu der treuen Ausübung seines Amtes, als Freund und Tröster der ihm anvertrauten Armen, die hier in der kümmerlichen Existenz der Berge, in dem Pfarrer den Arzt für alle Leiden suchen.

Aber auch den Mitgliedern der ländlichen Gemeinde wurde die väterliche Fürsorge Minghettis zuteil. Kein Spaziergang wurde in der Abendkühle in den schönen Umgebungen unternommen, ohne zugleich an einem der Bauernhöfe vorzusprechen, Erkundigungen über den Zustand der Familie einzuziehen und eine Gabe zurückzulassen, alles in einfachster freundlicher Weise, wie etwas, was sich von selbst versteht. Und diese primitiven, noch von der Zivilisation nicht verdorbenen Menschen, die von dem berühmten Staatsmann kaum etwas wußten, ehrten in ihm denMenschen, der das Wort des Evangeliums zur Wahrheit machte, daß, wenn die eine Hand gibt, die andere nichts davon wissen soll. Eines Nachmittags, als wir wie gewöhnlich auf der Wiese oben gelagert waren, kam eine über achtzig Jahre alte Frau, von einer lieblichen jungen Enkelin geführt, hinauf und trat vor Minghetti hin. Mit der demonstrativen Lebendigkeit ihres Volkes, die auch dem Alter noch etwas Jugendliches gibt, erzählte sie, wie schon Minghettis Eltern so viel Gutes an ihr und den Ihrigen getan hätten, wie sie ihn schon als Knaben gekannt und es einzig ihm verdankte, daß sie jetzt im Kreise von Kindern und Kindeskindern ein ruhiges Alter erlebe. Nur eine Sorge habe sie noch, nämlich, daß nach ihrem Tode die Ihrigen vielleicht nicht mehr so brav bleiben würden. »Jetzt versammle ich sie alle Abende um mich und bete mit ihnen für die Unseren, die schon vor uns heimgegangen [300] sind, damit sie die nicht vergessen und gut bleiben um ihres Andenkens willen. Versprecht mir nun,« sagte sie zu Minghetti, »daß ihr über ihnen wachen wollt, damit sie brav bleiben, wenn ich gestorben sein werde.« Minghetti versprach es ihr ernst und feierlich. »Ach, nun bin ich ruhig!« rief sie begeistert aus, »hier kann ich es nicht vergelten, aber wenn ich an einen guten Ort komme« (dabei sah sie gen Himmel), »da werde ich's vergelten und für Euch beten.«

Dieser kleine Vorgang trat vor meine Seele, als ich am Morgen des 11. Dezember 1886 an dem Ruhebette stand, auf dem Marco Minghetti, von Blumenkränzen umgeben, lag. Ein schmerzvolles Leiden hatte den sonst noch rüstigen Mann binnen Jahresfrist an das Ende eines Lebens geführt, das dem Vaterlande noch so nützlich hätte sein können. Er wußte, daß er sterben würde, und sah dem Tod mit der Ruhe des Weisen entgegen. Ein paar Tage vor dem Ende war er noch in der Kammer gewesen und hatte dem Präsidenten, seinem Freund, gesagt, er wünsche, daß keine Kommemoration, wie sonst üblich, in der Kammer stattfinde. Rasch nahte das Ende, und er konnte sein Lager nicht mehr verlassen. Am Morgen vor dem Todestag war ich mit Ruggiero Bonghi, dem intimen Freund des Hauses, bei Frau Minghetti zum Frühstück, da sie natürlich nur vertraute Freunde sah, die kamen, die schweren Stunden mit ihr zu teilen. Wir mußten sie aber schnell verlassen, da der König und die Königin ihren Besuch ansagen ließen, um den treuen Diener und Freund noch einmal zu sehen. Als beide an sein Lager traten, hatte er mit letzter Kraft noch das kleine Mützchen, das sein Haupt bedeckte, abgenommen und gesagt: »Ich hätte noch gern meinem Lande und meinem König gedient.«

Als ich am folgenden Morgen wieder hinging, um mir Nachricht zu holen, fand ich alle Türen geöffnet, und an den bewegten Mienen der alten treuen Diener, die nur leisen Schrittes einhergingen und kaum vernehmbar flüsterten, sah ich schon, daß die letzte große Stunde bevorstand.

[301] In dem Saal befanden sich schweigend ein paar der nächsten Freunde, am Kamin standen Depretis, damals Ministerpräsident, und Giovanni Morelli, der feine Kunstkritiker aus Mailand, der intimste Freund des Hauses. Als Frau Minghetti aus dem anstoßenden Zimmer, wo der Sterbende lag, heraustrat, mich zu begrüßen, äußerte ich ihr den Wunsch, ihn noch einmal zu sehen, dem sie alsbald willfahrte, indem sie mich an das Sterbelager führte, an dem ihr Sohn stand und dem schon in Agonie Begriffenen den Schweiß von der Stirne trocknete. Er erkannte mich nicht mehr, und ich nahm schweigend und innigst bewegt von ihm Abschied.

Am folgenden Morgen kam ich hin und fand die Leiche bereits in würdig einfacher Ausstattung der Umgebung, den Besuchern zugänglich. Der Tod hatte den Ausdruck schmerzvollen Leidens verwischt und den Zügen den Stempel eines erhabenen Friedens aufgedrückt. Er lag da in seiner schwarzen Kleidung, das Bild des vollkommenen Gentleman, in der edelsten Bedeutung des Worts. An seinem Totenbette trauerte eine ganze Nation, ihr Herrscher an der Spitze; prachtvolle Blumenkronen, von nah und fern gesendet, waren ein Ausdruck der allgemeinen, aufrichtigsten Teilnahme. Ich aber sah im Geist jenes alte Mütterchen und all die Armen aus den Bergen von Sette-Fonti vor mir, und es war mir, als sähe ich sie eine Krone winden aus Tränen der Dankbarkeit, des Segens und der Gebete gläubiger Herzen und sie niederlegen auf das bleiche ehrwürdige Haupt. Diese Krone schimmerte hell wie eine Aureole um den Toten, und vor dieser Vision sagte ich dem edlen Manne das letzte Lebewohl.

Schöne Tage

Im Frühling 1880 lud mich Frau Minghetti, mir immer freundschaftlichst gesinnt, ein, mit ihr einen Ausflug nach Sorrent zu machen. Da ich ohnehin schon für etwas später [302] eine Einladung für den herrlichen Süden hatte, nahm ich es mit Freude an. Der Frühling war im vollen Erwachen und goß alle seine Zauber über die Erde dort aus. Bis Neapel und Castellamare führte uns die Eisenbahn, dann aber fuhren wir im offenen Wagen den Weg längs des Meeres dahin, umgeben von Wogen der Orangenblütendüfte, da diese Strecke ja nur wie ein Orangengarten ist. In Sorrent umfingen mich liebe Erinnerungen an den Winter, den ich mit Nietzsche dort verlebte, und in Gesellschaft der liebenswürdigen Freundin erneuten sich schöne Tage in heiterem Genuß der strahlend schönen Welt. Wir trafen im Hotel außer anderen Bekannten auch den Grafen Harry Arnim, der, ein todkranker Mann, mit seiner Familie hier weilte. Frau Minghetti kannte ihn von der Zeit seiner Gesandtschaft in Italien her, und er gesellte sich uns oft zu, wenn wir am Abend auf der großen Terrasse des Hotels, von der man auf das Meer hinabsieht, auf und nieder gingen und die göttlichen Frühlingsabende genossen. Da entlud sich das Herz des schwer Gekränkten in bitteren Äußerungen über das Unrecht, das ihm nach seiner Ansicht geschehen war, und in Ausdrücken des tiefsten, unversöhnlichen Hasses gegen den, den er für den Urheber der erlittenen Verfolgungen hielt. Er war ein gebrochener, schwer leidender Mann, konnte nichts tun, sich zu rächen, und das Gefühl seiner Ohnmacht lastete schwer auf ihm. Zuweilen kamen aber auch mildere, fast mystische Stimmungen über ihn; so sagte er eines Abends, es sei sicher, daß wir von einer unsichtbaren, besseren ätherischen Welt umgeben seien, daß aber unsere Sinne nicht fähig wären, sie zu erkennen. Wie wunderte es mich, diesen Gedanken bei dem verbitterten Aristokraten zu finden, und wie leid tat es mir, daß er in solchen Gedanken nicht den versöhnenden Trost fand für die tiefe Kränkung, die ihm in dieser unvollkommenen, von Eitelkeit und Herrschsucht erfüllten Welt zuteil geworden war.

Nach vierzehn frohen Tagen trennte ich mich von Frau Minghetti, die noch in Sorrent zurückblieb, und fuhr nach [303] Neapel zu Wagners, die den Winter daselbst verbracht und mich eingeladen hatten, sie zu besuchen. Sie wohnten in einer herrlichen Villa am Anfang des Posilippo, auf hohem Felsen gelegen, zu der die Gärten terrassenförmig aufsteigen und sich noch über diese höher hinaufziehen. Von der Terrasse, unter dem von Säulen getragenen Vordach des Hauses, beherrscht der Blick den Golf, die Stadt und den schönen zweigegipfelten Verräter, der gerade in dem Frühjahre in großer Tätigkeit war und jeden Abend eine Feuersäule gen Himmel sandte. In diesem wundervollen Aufenthalt traf ich außer den teuren Freunden, die mich eingeladen, zwei junge, mir auch schon bekannte Männer, deren Gegenwart den häuslichen Kreis noch bereicherte. Der eine war der russische Maler Joukowsky, Sohn des ausgezeichneten Dichters und Übersetzers deutscher Meisterwerke, der Erzieher Alexander II. gewesen war. Joukowsky wohnte jedoch nicht in der Villa, sondern hatte sein Atelier unten am Posilip, war aber oben der tägliche Gast. Der andere, Heinrich von Stein, war ein Bewohner des Hauses, und zwar infolge einer seltsamen Fügung durch meine Vermittlung. Er war wenige Jahre früher einen Winter in Rom und durch die Empfehlung eines Freundes bei mir eingeführt. Noch ganz jung, nach eben beendeter Universitätszeit, hoch und schlank gewachsen, hellblond, verriet sein Äußeres ganz den Nordländer, sowie auch sein etwas steifes, zurückhaltendes, schwer zum Ausdruck kommendes Wesen. Er wurde aber mitteilsam, als ich ihn bat, mir etwas von der sogenannten Wirklichkeitsphilosophie des Philosophen Dühring mitzuteilen, als dessen Schüler er sich mir vorgestellt hatte. Nun hielt er mir kleine Vorträge über die auf- und absteigende Welle, unter welchem Bild Dühring das Leben auffasse, und versuchte mir den Idealismus des Realismus zu beweisen, ein Axiom, dem er sein erstes Buch geweiht habe, das jetzt im Druck begriffen sei. Alle Ideen oder Annahmen des Transzendentalen waren streng aus den Anschauungen des jungen Realisten ausgeschlossen, aber ich mußte oft im stillen lächeln, wenn ich den reinen [304] Idealismus sah, der aus der ganzen Natur dieses Jünglings sprach, während er seinen Positivismus verteidigte. In demselben Winter war Paul Heyse mit seiner Frau in Rom, lebte aber, von einem schweren Schicksalsschlag getroffen, sehr still und zurückgezogen. Ich gehörte zu den wenigen Begünstigten, die er zuweilen besuchte. Stein erfuhr das und vertraute mir an, daß es sein lebhafter Wunsch sei, Heyse kennen zu lernen. Ich erzählte das diesem, und er ging freundlich darauf ein und bestimmte einen Abend, wo er Stein bei mir treffen wolle. Wir sprachen dann über die jungen Schriftsteller der Zeit, wie die so schnell zu Werke gingen und die Sache so leicht nähmen. »Sie meinen nur,« sagte Heyse, »so ins Volle greifen, hier einen Stern und da einen Stern herunterholen zu können und denken nicht daran, welche Mühe, welche Arbeit es unseren Großen gekostet hat, ihre Werke zu schaffen.« Als dann der bestimmte Abend kam und Heyse Stein begrüßt hatte, sagte er zu mir, ob ich mich unseres letzten Gesprächs erinnere über die jungen Schriftsteller und ihre rasche Art, mit dem Schreiben fertig zu werden? Es sei ihm gerade wieder ein Beispiel davon vorgekommen, ein Verleger aus Bonn habe ihm die Probebogen einer Erstlingsschrift eines jungen Autors in dessen Auftrag zugeschickt, die ihm viel Unreifes zu enthalten scheine, sie sei halb Lyrik, halb Prosa. Ich erschrak etwas bei diesen Worten, da Stein mir gesagt hatte, sein Buch werde in Bonn gedruckt, und da sah ich, wie er heftig errötete, auch unterbrach er Heyse und sagte rasch, das würde wohl sein Buch sein, denn er habe dem Verleger den Auftrag gegeben. Es war ein peinlicher Moment, aber Heyse half uns allen dreien in liebenswürdigster Art über die Verlegenheit hinweg, sagte, er könne freilich nicht zurücknehmen, was er einmal ausgesprochen habe, aber sein Urteil sei noch nicht endgültig, denn er habe noch nicht fertig gelesen und habe schon in dem lyrischen Teil viel Hübsches bemerkt. Dann lud er Stein freundlichst ein, ihn zu besuchen, und war so gütig und teilnehmend für ihn, daß Stein ganz entzückt von ihm war.

[305] Nach dieser kleinen Begebenheit lernte ich Stein immer mehr kennen und schätzen. Er war noch sehr unfertig in seinen Anschauungen und Urteilen, aber sein edler, reiner Charakter wurde mir schon völlig erkennbar und erfüllte mich mit wahrer Sympathie. Unter seinen kleinen Erlebnissen in Rom, die er mir mitteilte, war auch ein Besuch bei der mir wohlwollend zugetanen Fürstin Caroline Wittgenstein, die ihn nach seinem politischen Glaubensbekenntnis gefragt hatte. Er hatte sehr aufrichtig seine Hinneigung zum Sozialismus bekannt, worauf sie ihm versicherte, daß es das höchste Interesse des Sozialismus sei, sich mit der Kirche zu verbinden, zusammen würden sie der um sich greifenden Immoralität steuern und das Leben der modernen Gesellschaft reinigen und erneuern. Nichts lag Stein ferner als solch ein Bündnis, als ich ihn aber dann nach seinen Zukunftsplänen fragte, sagte er, sein höchster Wunsch sei, in einer Familie, wo er als Freund aufgenommen und behandelt würde, die Erziehung eines Knaben zu übernehmen und nach seinem Sinne zu leiten. Ich sprach ihm mein Bedenken aus, daß dies wohl schwer zu finden sein würde, und er verließ Rom in völliger Ungewißheit über seine Zukunft.

In demselben Jahr war ich in Bayreuth zu Besuch bei Wagners, und einmal im Laufe des Gesprächs fragte mich Wagner, ob ich nicht einen gebildeten, in jeder Beziehung empfehlenswerten jungen Mann kenne, der wie ein Freund zu der Familie gestellt sein sollte und die Erziehung des kleinen Siegfried übernehmen würde, den er nicht gern in die öffentlichen Schulen schicken wolle. Ich mußte lachen über dies merkwürdige Zusammentreffen und erzählte nun von dem Wunsche Steins, worauf Wagner mir alsbald den Auftrag gab, diesem zu schreiben. Die Antwort war ein freudiges Eingehen auf den Vorschlag, nur stand ihm gerade sein Jahr Militärdienst bevor. Er fügte aber hinzu, wenn Wagners ein Jahr warten wollten, so könne er sich kein schöneres, alle seine Wünsche krönendes Geschick denken. Nach einem Jahr kam diese Vereinigung wirklich zustande, zu gegenseitiger[306] höchster Zufriedenheit. Stein war eine so edle, vom höchsten Adel der Gesinnung durchdrungene Natur, daß er zunächst schon das erste Erfordernis eines Erziehers besaß, durch sein Beispiel alles Gute zu lehren, und unter dem Einfluß des ausgezeichneten Kreises, in den er eintrat, wurde er das, was er von Natur war: ein vollkommener Idealist und dann ein so verständnisvoller, begeisterter Anhänger Wagners wie wenige.

Ihn also traf ich hier in Neapel, bei seiner übernommenen Tätigkeit im häuslichen Kreise wieder. Neben ihm, wie schon gesagt, den Russen Joukowsky, einen Maler von großem Talent, der neben allen schönen Eigenschaften der Russen aber auch ihre Indolenz besaß, so daß er aus seinem Talent nicht das machte, was es hätte werden können, wogegen aber seine liebenswürdige Persönlichkeit nicht wenig zur schönen Geselligkeit des Hauses beitrug. Am Morgen ging ein jeder seinen eignen Beschäftigungen nach. Das Mittagessen vereinigte uns alle, und danach nahm man den Kaffee auf einer Terrasse, wobei sich meist bedeutende Gespräche entspannen, die natürlich gewöhnlich von Wagner ausgingen. Dann kam für alle eine Stunde der Ruhe, und darauf begegnete man sich in den terrassenartigen Gärten, wo Wagner mit den jugendlichen, ihm zugehörigen Wesen allerlei Scherz und Neckerei trieb. So war es unter anderem ein Lieblingsspiel, die Frucht eines Strauches, die eine die Kerne enthaltende mit Luft gefüllte Kapsel ist, aufzudrücken, wobei ein kleiner Knall erfolgt, und er war noch so außerordentlich beweglich und behende, daß er meist den Kindern bei Erreichung dieser Kapseln zuvor kam. Eines Nachmittags aber traf ich ihn ganz bestürzt vor einem solchen Strauch stehend, weil bei dem Haschen nach den hochhängenden Kapseln es ihm begegnet war, einen der schönsten Zweige des Strauchs zu knicken, der nun traurig, dem Sterben geweiht, herunterhing. Er, der gleich den Indern das göttliche Urprinzip auch so gut im Tier und in der Pflanze wie im Menschen erkannte, war tief betrübt, hier einen empfindenden Organismus zerstört zu[307] haben, und schickte eine der Töchter, die bei ihm waren, ins Haus hinab, um Leinen zum Verband zu holen. Als sie damit zurückkehrte, verband er den geschädigten Zweig mit der Sorgfalt, wie er es bei einem Tier oder Menschen getan haben würde, in der Hoffnung, daß die Wunde sich schließen und der Ast wieder anwachsen würde.

Nur wer solche kleine Züge mit stillem Verständnis beobachtete, konnte die Natur dieses außerordentlichen Menschen ganz begreifen, in der sich kindliche Heiterkeit, überströmendes Mitleid, gewaltige Leidenschaft, Forscherblick des allsehenden Intellekts, weltverachtende Ironie und tiefe Schmerzfähigkeit vereint fanden, und die deshalb auch einen alles umfassenden Kosmos aus sich erschaffen konnte. Ich erinnere mich noch eines andern jener kleinen so bedeutungsvollen Züge aus jener Zeit. Wir gingen eines Abends auf der großen Terrasse unter dem Portikus des Hauses auf und ab. Eine ungeheure Prozession von Millionen Ameisen zog quer über die Terrasse hin, wie ich sie in Italien öfter, z.B. in Sette-Fonti, auf dem Landsitze Minghettis, gesehen hatte, wo sie ihre Wanderstraße von einem Berggipfel zum andern und mitten durch eine Kirche geführt hatte. Wir sprachen über ernste Lebensfragen, ich bemerkte aber im stillen mit Rührung, wie Wagner jedesmal, wenn wir an die wandernden Scharen kamen, einen großen Schritt machte, um nur nicht eines der kleinen klugen Wesen zu zertreten.

Auf jener großen Terrasse mit der Aussicht auf den Golf und den Vesuv, aus dem an jedem Abend wie von einem Opferaltar eine Feuersäule gen Himmel stieg, wurden meistenteils die Abende verbracht, wozu sich auch öfter Besucher aus der Stadt einfanden. Unter den vielfachen, mehr oder minder bedeutenden Gegenständen, die besprochen wurden, kam an mehreren Abenden das Gespräch auf Schiller, und Wagner las uns das Gedicht »Die Götter Griechenlands« vor, so schön, wie nur er lesen konnte. Es war einem dabei, als höre man die Sachen zum erstenmal, und man fühlte es neu, wie herrlich Schiller jene Welt nachempfunden [308] hat, wo alles zum personifizierten Ausdruck der Schönheit wurde, alles eine Bedeutung erhielt, als stamme es von geisterfüllten Wesen und nicht von blinden Naturgewalten ab, und wo alles daher zum freudigen Genuß des blühenden göttlichen Lebens einlud, ohne Zweifel, ohne Reue, ohne Schmerz. An einem anderen Abend kam das Gespräch auf den »Don Carlos«, und einer der Anwesenden behauptete, die Beziehung des Marquis Posa zum König Philipp sei ein großer Fehler und nicht zu rechtfertigen. Wagner aber sagte, sie sei vollständig zu rechtfertigen, da der Dichter im übrigen den historischen Charakter festgehalten und nur die Möglichkeit angenommen habe, daß solch ein Moment auch einmal an einen Menschen wie Philipp herantreten könne. Außerdem zeichne es ja auch den Charakter des Königs nur desto schärfer. Wieder ein anderes Mal sprach Wagner darüber, wie wenig man eigentlich die Menschen lieben könne, wenn man die Geschichte studiere und die Anhäufung von Greueln sähe, mit denen der sogenannte Fortschritt meist begleitet sei, wie z.B. die Einführung des Christentums. Er meinte, man könne dann höchstens noch zur Liebe kommen, wenn man sich als Angehöriger eines Volksstammes fühle, dessen Interessen, Freuden und Leiden man teile, was dann schließlich zur Familie zurückführe. Ich ging weiter und meinte, daß man im Grunde nur durch das Mitleid mit der Menschheit zusammenhänge; sie lieben als etwas Vortreffliches könne man wahrlich nicht, da in ihr der rohe Naturtrieb der Gewalt des Stärkeren über den Schwächeren, und der Rache dieses durch List ebenso vorkomme, wie bei den Tieren; wo es aber weniger roh sei, da wäre es doch meist nur infolge egoistischer Interessen. Das Mitleid bände uns an jene Menge, die leidet, ringt, stirbt wie wir, sowie der Wunsch, sie zu erlösen vom Elend, und zwar gewiß ohne Unterschied der Nationalität. Das Stammgefühl trete nur in den Vordergrund, wenn es sich um Dinge des Intellekts, um Lebensanschauungen usw. handle, oder in Augenblicken der Tat. Und wieder später sagte Wagner einmal, man [309] würde vielleicht weniger geringschätzig von der Welt denken, wenn keiner hienieden sich glücklich wähnte. Es erinnerte mich dies an einen Abend in Paris im Winter 1859, wo Wagner an einem seiner Empfangsabende mit Blandine Ollivier, der Tochter Liszts, und mit mir über dasselbe Thema sprach und uns an die Worte der Prinzessin in Goethes Tasso erinnerte: »Wer ist denn glücklich?«

Und doch durften wir uns hier in der entzückend schönen Welt, die uns umgab, und der noch schöneren Geisteswelt, in der wir lebten, wenigstens für eine Zeitlang glücklich wähnen. Wagners Geburtstag nahte heran, und es wurden Vorbereitungen gemacht, ihn festlich zu begehen. Am Morgen begrüßte den Gefeierten ein hochpoetisches kleines Festspiel, von Frau Wagner gedichtet, das das Sternbild des Wagens redend vorführte, das mit seinen sieben Sternen der Zahl der Familienmitglieder entsprach und von den Kindern rezitiert wurde. Beim Mittagstisch, an dem auch Herren aus München, Mitglieder des Wagner-Vereins, teilnahmen, wurde ein von Stein gedichteter Toast ausgebracht. Wagner antwortete darauf in der eigentümlich ergreifenden Weise, in der nur er zu sprechen verstand, und gedachte des langen, qualvoll bewegten Lebens, das nun in schönem, harmonischem Frieden seinen Abschluß gefunden habe, so daß alle, die ihm fortan nahen wollten, ihn nur noch – indem er auf das Bild des Siebengestirns zurückkam – im Kreise der Sieben finden könnten.

Als der Abend kam, stiegen wir alle von unserer Höhe hinab an den Golf; zwei Barken nahmen uns auf, und wir fuhren hinaus in die herrliche Mondnacht, in die der Vesuv seinen Feuergruß hinaufsandte. Die neapolitanischen Fischer ließen es sich nicht nehmen, bengalische Feuer auf unseren Barken anzuzünden, so daß wir wie kleine Feuerinseln dahinschwammen, und ein Volkssänger, den Joukowsky seiner schönen Stimme wegen in Dienst genommen hatte, sang neapolitanische Volkslieder mit Begleitung der Mandoline, woran Wagner Freude hatte. Endlich kamen wir heim und [310] fanden den Saal feenhaft geschmückt. Frau Wagner hatte so viele Rosenstöcke, als Wagner damals Jahre zählte, bringen lassen, und mit diesen war das Zimmer bei hellster Beleuchtung in einen Rosenhain verwandelt. Um aber den schönen Tag mit dem Schönsten zu beschließen, wurde dann das Musikzimmer geöffnet, und da begann eine Aufführung, die aus der Schönheit irdischen Seins zu einer Ahnung der Schönheit überirdischen Seins führte und die Seele mit dem reinsten Glücksempfinden erfüllte, das Erdgeborenen zu fühlen vergönnt ist. Joseph Rubinstein, der treue Wagnerianer, der leider zu früh freiwillig aus dem Leben schied, begab sich an den Flügel, Wagner, die Münchener Herren und die Kinder standen bei ihm und führten die ganze erste Szene im Gralstempel aus dem Parsifal auf, die ich zum erstenmal hörte. Die Kinder hatten die Knabenstimmen des Chors herrlich einstudiert, und gewiß hat nie eine Aufführung des hehren Werks in erhobenerer Stimmung, in innigerer Rührung und Ergriffenheit stattgefunden. Solche Stunden wiegen Jahre des Leidens auf und bleiben wie Fixsterne am Lebenshimmel stehen, wenn manches andere freundliche Licht längst erloschen ist. Sie leuchten noch in meiner Erinnerung fort in unvergänglicher Wirklichkeit, während bereits drei aus jenem Kreis, und unter ihnen der Größte, der Meister selbst, in das Nichtwahnland hinübergegangen sind.

Gedachtes und brieflich Geschriebenes

Wieder zog ich aus dem wonnevollen Süden über die Alpen, die lieben Menschen zu suchen, die ich wie meine irdische Zukunft ansehe, Olga und die Ihrigen. Es war kurz nachdem ich mit den Freunden in Sorrent den schönen Winter verlebt und auch nach ihrem Weggange noch einmal tief all die Zauber der südlichen Natur auf mich wirkend empfunden hatte. Nun umfing mich der graue Norden, und als ich am frühen Morgen in der Eisenbahn fahrend die Sonne aufgehen sah, tönte es mir in der Seele:


[311]
Hell steigt die Sonne
Auch hier ja empor,
Aber sie färbt nicht purpurn
Das selige Meer.
Belebt nicht edele Höh'n
Mit freudig vergoldendem Strahl;
Es raucht ihr nicht
Des alten Opferaltars
Düster flammende Wolke;
Nicht reicht die Liebe uns hier
Mit verjüngendem Blick
Den heiligen Trank
Der uralten, göttlichen Welt
Herrlicher Wesen
Ohne Leid, Alter und Tod!
Still, ohne Klage
Zieh ich des Wegs,
Denkend dessen, was war.
Aber es steigt leuchtend
Die Sonne hier auch empor,
Scheint vielleicht Glücklichen,
Die sie jauchzend verehren.

* * *


In den nächsten Zeiten nach dem Aufenthalt in Sorrent war ich in eifriger Korrespondenz mit Doktor Rée, dem einen unseres Quatuors von dort unten, der mir ein sehr lieber Freund geworden war, trotzdem wir in unseren intellektuellen Anschauungen Antipoden waren. Er verließ, wie erzählt, Sorrent mehrere Wochen früher als Nietzsche, und ich schrieb ihm noch von Sorrent aus; zunächst Dank für die »Briefe Bismarcks an seine Familie«, die er mir schickte, und dann über Nietzsches Scheiden: »Vielen Dank für das Buch, das ich mich sehr freue zu lesen. Ich habe nun einmal ein großes Interesse für Bismarck, trotzdem ich deshalb als eine Renegatin von meinen Glaubensgenossen angesehen werde. Das ist aber doktrinäre Beschränktheit, denn einen bedeutenden [312] eigentümlichen Menschen muß man von seinem Standpunkt aus beurteilen und anerkennen können, auch wenn man seine Ansichten nicht teilt.

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»Nietzsche geht wirklich morgen, Sie wissen, wenn er einmal so etwas vor hat, dann tut er es, mag auch der Himmel mit allen Warnungszeichen dagegen sprechen. Darin ist er nicht mehr griechisch, daß er auf die Stimme der Orakel nicht mehr hört. Ebenso wie er seine Landpartien macht, auch wenn es das schlechteste Wetter ist, so geht er jetzt, trotzdem er todmatt ist und ein wütender Wind weht, der das Meer aufwühlt und ihn jedenfalls seekrank macht, da er durchaus von Neapel nach Genua zu Schiff gehen will.«

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Am folgenden Tag, 8. Mai 1877: »Ja, er ist wirklich fort. Da Sorrent mit seinen Blüten, seinen Zaubern ihn nicht zu halten vermochte, so mußte er eben gehen. Aber es ist mir schrecklich, ihn so allein reisen zu lassen, denn er ist so unpraktisch und unbehilflich. Zum Glück ist das Meer heute ruhiger. Wenn Wünsche etwas tun könnten, so müßte es ihm gut gehen, denn meine heißesten Wünsche und mein unsagbares Mitleid folgen ihm. Ach, er ist so zu bedauern! Noch vor acht Tagen hatten wir Pläne für ihn gemacht, für nahe und ferne Zukunft. War es nun nur die Angst, die ihn trieb, dem Leiden zu entfliehen, das ihm plötzlich an das hiesige, allerdings etwas abnorme Frühlingswetter gebunden erschien? Aber wie wäre es wohl anderswo mit ihm in diesem schlechten Frühjahr gewesen? Ich glaube auch, im letzten Augenblick kam ihm der Gedanke, als ob es doch übereilt sei, zu gehen, doch es war zu spät.

Mich hat dies alles, dieses viele und traurige Trennen sehr angegriffen, und ich rufe mit aller Inbrunst den heiteren Intellekt zu Hilfe, denn in diesen Tagen empfand ich es noch recht lebhaft, wie nur der Intellekt heiter ist; er ist das solarische Gebiet; das andere, das tellurische, der Wille, ist das Dunkle, das Schmerzbrütende, Qualenspendende. Ich [313] will sehen, ob es mir gelingt, mich mit Hilfe des Intellekts oben zu erhalten, über allem, was in der letzten Zeit mich wieder betrübt und angegriffen hat. Die alte Kämpferin muß sich doch bis zuletzt bewähren.«


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Zunächst hielt ich in Seelisberg am Vierwaldstätter See an, wo ich meine Freunde erwarten sollte. Ich schrieb von da an Rée: »Meine Einsamkeit ist beinah vollständig, wennschon unter hundert Menschen, denn die ganze deutsche Gesellschaft, die das Hauptkontingent bildet, erregt mir keinen Wunsch nach Bekanntschaft; sie ist greulich, diese albernen Frauen, diese philisterhaften Männer, diese Nichtigkeit der Gespräche! Es ist erschreckend! das nennt man das Volk der Intelligenz! Einzig ein paar englische Tischnachbarinnen sind angenehm. Die eine, schon mit grauen Haaren und lahm, kommt eben von Neu-Seeland, über Kalifornien, Nord-Amerika und die Sandwich-Inseln, zurück! Sie spricht davon, als ob sie eine Spazierfahrt gemacht hätte, und sagt, das schönste Paradies der Erde sei Honolulu, es sei märchenhaft schön. Ja, die Engländer sind darin wie in vielem anderen die klügsten Menschen. Sie sehen die Paradiese der Erde und freuen sich ihrer, ohne sich um die Adams und Evas zu bekümmern.

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Eben Briefe erhalten von Brenner und Nietzsche. Hier ein kleines Gedicht von ersterem, das mich sehr rührt; der arme Junge, er ist schwer krank und wird sterben. Das einzige Glück, das er gekannt hat, war der Aufenthalt in Italien:


»O Lichtland,
Fern flutet dein Glück.
Am weiten Ende
Schimmert ahnende Helle
Deines heiligen Abends,
Träumendes Lichtland!«

[314] Von Nietzsche hatte ich einen merkwürdigen Brief; sein neuster Entschluß ist gerade das Gegenteil von seinem letzten Sorrenter Beschluß, der ihn ganz begeisterte und ihm mit völliger Gewißheit der rechte schien. Auch mir schien er der rechte, wir besprachen ihn genau und kamen zu der Überzeugung, daß es so sein müsse. Er wollte also Basel ganz aufgeben, noch ein Jahr nur der Gesundheit und geliebter Arbeit leben und dann nach gewonnener Stärkung ein neues Leben beginnen. Wir stimmten überein, daß sicher der Zwang, zu arbeiten, was ihn nicht befriedigte, und unterlassen zu müssen, was seinem tiefsten Wesen homogen war, das eigentlich Schöpferische, dazu beigetragen habe, ihn krank zu machen. Er atmete förmlich auf bei dem Gedanken der Freiheit. Jetzt hat die »Vernunft« der Schwester gesiegt. Er bleibt in Basel! Nur als »Gelehrter« ist er gesund gewesen und er will als solcher entweder wieder gesund werden oder im »Handwerk« untergehen. Sehen Sie, das ist wieder das seltsame Schwanken zwischen den beiden Naturen, die »in seiner Brust kämpfen«; die eine, die recht behalten müßte, läßt er unterliegen und wird ewig daran kranken, daß sie die Unterdrückte ist. Ach armer Nietzsche, mir ist es furchtbar leid um ihn, gerade weil seine Begabung so glänzend ist, wie Sie es sagen, und weil er nie glücklich sein kann in einer philisterhaften Existenz.


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Im Sommer 78 war ich zunächst in Montmorency bei Paris, wo Olga einen Sommeraufenthalt machte. Ihre Gesundheit war stark angegriffen und machte mir große Sorge. Ich schrieb an Rée, sprach ihm auch davon und sagte: »Ach, die Pein, ein geliebtes Wesen leiden zu sehen, ist doch die größte von allen.« Hat die Analyse dafür auch den Schlüssel gefunden? (Der streitige Punkt zwischen Rée und mir; er machte alles von Analyse und Experiment abhängig.)

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Dazu welch ein Sommer! Welch ein abscheuliches Klima hier oben jenseits der Alpen! Und welche Politik, wie sie [315] sich eben in Berlin abspinnt! Dieses Verhandeln der Völker, dieser Kommunismus von oben, während man die armen Teufel verfolgt, die nach der mäßigen Gütergemeinschaft des täglichen Brots verlangen! Der alte Zorn wird in mir wach; es ist ja wahr, daß schließlich alles Zielen der Vernunft dienen muß, denn der Gedanke geht über den Egoismus der Mächtigen hinweg, und Asien wird der Kultur geöffnet, von wo sie kam. Freilich wird eine Menge Poesie damit verloren gehen, eine Menge Schönheit, Originalität, Tradition, ja Weisheit, und das Nivellieren, das Stuart Mill so sehr fürchtete, wird sich immer mehr verwirklichen. Aber es ist nicht zu ändern, und aus dem Gleichgewicht in der gesellschaftlichen Entwicklung wird entweder ein neues gewaltiges Ringen nach einem fernen, unbekannten Ideal hervorgehen, oder ein Stillstand, der Stumpfheit und Indifferentismus hervorbringt, oder endlich ein Kataklysmus, der den ganzen irdischen Prozeß verschlingt, der sich dann auf anderen Körpern des Weltalls wiederholt.

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Nach dem Aufenthalt in Montmorency ging ich, eingeladen von Wagners, nach Bayreuth zu Besuch. Ich schrieb von da an Rée: »Meine Reise ging glücklich von statten. An der Bahn empfingen mich Frau Wagner und die Kinder, im Hause Wagner und Liszt, der zu meiner großen Freude noch hier ist. Ja, es läßt sich kaum etwas Schöneres denken, als das Leben hier im Hause: diese beiden hochbedeutenden Männer, zwischen ihnen Friede, Harmonie, Geist und Grazie bringend die herrliche Frau, und um diese drei der Kranz junger, blühender Geschöpfe, die schöne Häuslichkeit, geordnete Verhältnisse, keine Sorgen mehr. Im Augenblick haben wir auch schönes Wetter; hier in Wagners Garten ist es wunderschön, es ist alles so herrlich aufgewachsen und schön gepflegt. Überhaupt das ganze Wahnfried ist ein Heim, wie wohl wenig Menschen selbst in ihren Träumen es sich haben erschaffen können. Es ist ein einziges Beispiel [316] einer spät erfüllten aber vollständigen Gerechtigkeit des Schicksals. Liszt hat mir gestern den Anfang des Parsifal gespielt – ja, lieber Freund, ich kann Ihnen nicht helfen, das ist doch Religion! Ob sie nun ein angeborenes Empfinden oder ein historisch entwickeltes Produkt des menschlichen Organismus ist, es ist ein Etwas, was uns erst wahrhaft zu Menschen macht und seine Erklärung nicht im chemischen Laboratorium findet. Ist es absolut ein Produkt des historischen, entwickelten Menschengeistes, so wird unsere Aussicht grenzenlos, denn dann sind wir fähig, also verpflichtet, uns zu vergöttlichen. – Doch tut es mir manchmal leid, daß sich Wagners durch dies schöne Heim hier gebunden haben, denn der lange Winter ist doch schwer zu ertragen; ja, wenn es zwei Monate wären, aber acht!

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Es tut mir furchtbar leid, von hier zu gehen, aber das arge Klima, die frühe Kälte treiben mich fort. Aber es gibt doch auch ein langes Glück, denn die besten Stunden schließen ewigen Inhalt ein, der wie ein Komet einen langen Lichtstreif hinter sich zurückläßt.

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Nach einem schweren Verlust, der Rée betroffen: »Ja, das sind die Fälle, wo keine Philosophie hilft, sondern einzig die stumme, klaglose Resignation, die den furchtbaren Schmerz, die unermeßliche Entbehrung hinnimmt, wie einen Teil unseres Erdenloses, und sie stolz in das Herz verschließt, es verschmähend, mit den rohen Gewalten zu rechten, die die Geistgeborenen zu solcher Qual verdammen. Nein, es ist gut, daß es keinen Gott im gewöhnlichen Sinne gibt. Wir würden in ewiger prometheischer Empörung gegen den grausamen Despoten sein.«

[317] – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –


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Wenn Montaignes Definition richtig ist, so wär es allein schon der Mühe wert, sich mit Philosophie zu beschäftigen, um dem Ende dieses Lebens mit Ruhe, ja, beinahe Freude, entgegenzusehen. Aber ich habe schon mehreremal bemerkt, daß weder die Beschäftigung mit Philosophie noch mit Religion die Menschen von der Furcht vor dem Tode und von der übertriebenen Anhänglichkeit an das Leben befreit. Nur die philosophisch geborenen Geister und die innerlich religiösen Gemüter fürchten den Tod nicht, sondern erwarten ihn in erhabener Ruhe. Wobei es dann wieder bestätigt wird, daß alles nichts hilft, was man nicht innerlich ist.

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Ich bekam von meinen Schwestern Schillers und Goethes Briefwechsel geschenkt, den ich noch nicht besaß, und habe gleich heute morgen meinen Gottesdienst darin lesend gehalten. Ja, mit dem Genius verkehren, das ist auch, was leben und sterben lehrt. Welche Heroen diese beiden! wie erlösend klar strahlt ihr Geist einen an. Es ist das darin, was befreit.

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Die Tage der Aufregung durch den Tod des Königs sind vorüber, und Rom ist in seine alte Gestalt zurückgekehrt; die 120000 Fremden sind fort; le roi est mort, vive le roi, ist eine Wahrheit geworden; das erste Auftreten und Reden des jungen Königs ist würdig gewesen, und wenn der Parteihaß auch schon wieder anfängt zu züngeln und verdächtigende Vermutungen, düstere Prophezeiungen usw. auszustreuen, so hat sich die nationale Einheit als eine Tatsache erwiesen, die man vergebens wegzuleugnen versucht. Daß sich dies monumental schöne, imposante Leichenbegängnis ohne den Klerus (es waren nur wenige einfache Priester der Quirinal-Parochial-Kirche dabei), im Angesicht des Vatikans und hin zum Tempel des Agrippa, in das heidnische Pantheon, vollzogen [318] hat, bleibt ein historisches Moment von großer Bedeutung. Ja, es war etwas Unvergeßliches, diese Tage hier erlebt zu haben. Ich glaube nicht, daß Gambettas Mission gelungen wäre, hätte auch Viktor Emanuel gelebt, denn die öffentliche Meinung ist jetzt ganz für die Allianz mit Deutschland, und dieser Meinung hatte sich der verstorbene König immer gebeugt, und jetzt ist die Hinneigung wohl noch größer geworden durch das Kommen des deutschen Kronprinzen zum Leichenbegängnis und durch die entschiedene Vorliebe des Königs Humbert für Deutschland. Die armen Türken werden ihrem Schicksal überlassen; ich kann nicht sagen, wie es mir leid tut und wie sehr ich fürchte, daß Europa sein laisser aller den Russen gegenüber zu bereuen haben wird.

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Nun ist auch der Papst drüben im Vatikan gestorben, so kurz nach dem Tode im Quirinal, gerade als wenn sie sich das Wort gegeben hätten! Das Konklave, dem die Fremden insbesondere mit größter Neugier entgegensahen, ist sehr rasch und fast unbemerkt nicht mehr im Quirinal, sondern im Vatikan vorübergegangen. Es war ein merkwürdiges Zusammentreffen, alte und neue Zeit standen sich gegenüber, feindliche und unversöhnliche Gegensätze! Wer wird recht behalten von den beiden? Das alte Rom ist noch sehr stark, denn es ist eine Weltmacht; es kommt darauf an, ob das neue Rom so hohe Kulturgedanken zu verwirklichen fähig ist, daß sie den alten, halb verbrauchten Stoff besiegen, sonst wird der Gegensatz noch lange dauern, vielleicht noch Jahrhunderte. Ich war in diesen Tagen in einer Abendgesellschaft beim deutschen Gesandten, Herrn von Keudell. Gregorovius war auch da, und ich sprach mit ihm über die letzten Begebenheiten und sagte, wie schade es sei, daß dies tragische Zusammentreffen nicht ein paar Jahrhunderte zurück läge. Wie schön würde er es sonst dargestellt haben, ein wirklich historisches Drama: der noch jugendkräftige König und der müde Greis, in den beiden Palästen, aus denen man sich in [319] die Fenster sehen kann, sterbend, der eine notgedrungen der Sieger; der andere der tief Beleidigte, nicht Vergebende, obwohl das Haupt der Kirche der allgemeinen Liebe und Versöhnung. Es wäre ein Seitenstück geworden, nur im entgegengesetzten Sinn, zu dem schönen Bild, das er, Gregorovius, in der Geschichte Roms entworfen, von dem Zusammensein Otto III. mit seinem Vetter Gregor V., den er zum Papst gemacht (der erste deutsche Papst). Beide Jünglinge, von hoher Bildung und edler Gesinnung, zusammen im Lateran, einen Traum beglückender Weltherrschaft träumend. Aber diese Idealisten gingen unter mit ihrem jugendlich holden Traum, und jene modernen Alten blieben, ein jeder das Szepter fest an sich drückend, ein jeder sterbend rufend: »non possumus!«

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Ich schrieb von der Art, wie man intimere Korrespondenzen führen solle, in Tagebuchweise und fügte hinzu: so gibt's ein Stück Seelenleben – Verzeihung! ich habe mir vorgenommen, nicht mehr von Seele zu sprechen; wieder ein Wort, das man aus der Sprache streichen muß, also auch nicht mehr von Psychologie, sondern: graue Gehirnstoffsfunktionologie. Werd ich nicht realistisch? (Es waren dies Neckereien wegen Rées wissenschaftlichem Realismus und meinem angefeindeten Idealismus.)

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Ich sprach von einem gemeinschaftlichen Freunde, an dem ich eine seltsame Erfahrung gemacht hatte. Ach Männer, Männer, welch ein Geschlecht! Ewig werden euch die Philinen besser gefallen, als die edlen, gebildeten Frauen. Deshalb protestiert ihr auch so gegen alle Bestrebungen, die Frauen zu einer höheren Bildungsstufe zu erheben. Nun gut, wenn es nicht mit euch sein kann, so wird es ohne euch und trotz euch geschehen. Ja, ich möchte jetzt Kreuzzüge predigen, nicht gegen die armen Türken, die sind doch ehrlich mit ihren Harems, aber zum energischen Vorgehen möchte ich [320] Frauen und Mädchen anfeuern, zum edlen Kampf mit den Waffen der höchsten Bildung, der höchsten Sitte. Die Zahl meiner unbekannten Freundinnen mehrt sich auch zusehends. Aus Winterthur erhielt ich einen Brief von einer Schweizerin, die mir die Zustimmung und Sympathie eines ganzen Kreises versichert. Zwei Damen aus Danzig sind hier, die mir mit Liebesversicherungen entgegenkamen, kurz, ich sehe einen tiefen Wunsch erfüllt: auf die Frauen einen ermutigenden Einfluß auszuüben. Nicht, daß ich mir einbildete, es wäre etwas Großes! Aber es ist die Korallenarbeit, die mit ihrem kleinen Anteil hilft am Bau der Zeiten, durch die Arbeit an der Veredelung meines Geschlechts, der ich die wichtigsten Folgen für das Kulturleben der Menschheit zuerkenne.

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Ich glaube nicht, daß Sie die Richtigkeit einer Beobachtung daran messen können, wenn Sie die objektiv gemachte nun in sich bestätigt finden. Keines Menschen Inneres ist ein Makrokosmos, in dem sich alle und jede Möglichkeit von Regungen findet, um danach zu urteilen; ich glaube sogar, daß es ein gefährliches Experiment ist, zu viel in sich zu blicken, um eine objektiv gültige Wahrheit hinzustellen. Selbst der Genius, der doch am meisten die Fülle der Welt in sich trägt, muß dennoch viel sehen und beobachten, um wahr zu gestalten. Mir scheint, man muß dabei verfahren wie der Physiolog, dem erst eine ungeheure Anzahl von Beobachtungen mit dem gleichen Resultat den Ausspruch eines allgemein gültigen Gesetzes gestatten. Auch selbst Larochefoucauld finde ich gar nicht immer allgemein gültig; er bleibt zu oft nur von seinem Kreise, der Gesellschaft seiner Zeit, seiner Nationalität bestimmt.


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Am Weihnachtsabend war ich ganz allein und gedachte des Jahres, wo wir in Sorrent so fröhlich beisammen waren. Schöne Bilder aus der langen Lebenszeit umgaben mich fast wie lebende Gegenwart, und ich befand mich in einem fortwährenden, [321] inneren Gebet für alle, die ich liebe. Kennen Sie diese Art des Gebets auch? Es ist vielleicht die einzig wahre, denn sie richtet sich nicht an ein Güter spendendes Wesen und verlangt nichts Irdisches. Es ist nur eine so intensive Stimmung der Liebe, der Reinheit, des Friedens, daß im Gegenteil alles Irdische darin verschwindet, und nur ein segnendes Umfassen der liebsten Menschen, eine große Versöhnung mit allem Schicksal übrig bleibt und der Christgesang zur Wahrheit wird: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. In solchen Stimmungen versteht man alles und verzeiht deshalb alles.

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Meine Gesellschafterin liest mir jetzt abends den Tacitus vor, der mich ganz glücklich macht. Ja, diese klassische Ruhe und Klarheit der Darstellung ist wie ein wohltätiger Balsam, der erquickt und stärkt. Warum haben wir modernen Menschen diese höchste Bildung nicht, einfach zu sein? Ich glaube, weil wir zu subjektiv sind, zu sehr alles im Spiegel unseres Ichs betrachten, anstatt uns ganz der Anschauung des Objekts hinzugeben und uns dabei zu vergessen. So sagte mir Stein neulich viel Schönes über Michelangelo und die Capella Sixtina, worüber ich mich sehr freute, dann aber setzte er hinzu: »aber lehren tut mich Michelangelo nichts, ich habe das alles schon in meiner einsamen Studierstube erlebt und gewußt.« Das ist's, was dem modernen Menschen anhängt, er glaubt sich zu früh reif und meint, er habe nichts mehr von den Großen zu lernen, ohne zu bedenken, wieviel er bereits von ihnen gelernt hat, und wie anders sein subjektives Erkennen sein würde, hätten sie ihm nicht den Weg gezeigt.

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Ach, die Einsamkeit, wieviel Schmerzliches sie auch hat, verwöhnt den Menschen doch, und es bleibt ein ewiges Schwanken in der Seele zwischen der Sehnsucht nach denen, [322] die man liebt, und nach der einzig unerschütterlich treuen Gefährtin der Einsamkeit. Die Säulenheiligen hatten eigentlich recht. Sie wußten, daß man ein Ende machen muß mit diesem Schwanken, und daß nur in unerreichbaren Wolkenfernen das Herz endlich verstummt vor dem denkenden Geist, der seine letzten Aufgaben zu lösen hat.

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Gestern sprach ich mit dem hiesigen Arzt (in einem Kurort in der Schweiz), einem sehr intelligenten, jungen Mann, und sagte ihm, mein einziger, letzter Anspruch sei, noch arbeitsfähig zu bleiben, da die Arbeit doch das einzige sei, was sich nicht als Illusion erweise, und uns die letzte, wirkliche Befriedigung gebe. Er meinte, ja, aber auch das sei schließlich Illusion, denn wie gering sei die Wirkung, die von ihr ausgehe, die Werke des Genius vielleicht allein ausgenommen. Ich gab ihm das zu, sagte aber, die Bedeutung der Arbeit läge nicht sowohl in ihrer Wirkung, als in der Betätigung der Individualität, so scheint es mir, es ist derselbe Vorgang im Mikrokosmos, der sich im Makrokosmos in großen Verhältnissen begibt. Das Schaffende, was es auch sei, ob Wille, ob Anziehungskraft in den Atomen (Rées Theorie), ob ein geistiges Prinzip, immer muß es sich individualisieren, sich betätigen, sich gegenständlich werden, so auch in uns.

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Daß Sie ein solcher Revolutionär werden, et à tout prix das Weltganze neu organisieren wollen, amüsiert mich sehr. Ja, es ist das eben der Traum, den wir alle geträumt haben, daß eine solche Reorganisation möglich sei. Sie ist es aber nicht; die Welt träte sonst aus dem Gesetz der Kausalität heraus. Freilich, der zur höchsten Einsicht gereifte Intellekt wäre auch die Wirkung aller vorhergegangenen Ursachen, und insofern wäre seine Reform in der Kausalitätskette mit einbegriffen; aber nicht bloß das Prinzip selbst, sondern auch die Mittel und Wege, mit denen es sich verwirklicht, entwickeln [323] sich nur langsam, denn der Faden der Gewohnheit ist nicht plötzlich abzureißen; er ist nur allmählich in ein neues Gewebe zu verwandeln. Das ist dann die Aufgabe der helfenden Mächte, die dem die höhere Organisation anstrebenden Intellekt zur Seite stehen.

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Mir scheint jetzt der einzig mögliche und wirkungsvolle Schwerpunkt der Neu-Organisation der Gesellschaft, der wir zustreben, der zu sein: die möglichst große Entwicklung des Intellekts und die materielle Verbesserung der bedürfenden Klassen; infolgedessen die Verminderung sinnlicher Bedürfnisse und die Abnahme der Herdenproduktion der Menschheit. Denn wo werden die meisten Kinder geboren? In den armen, materiell entbehrenden, unwissenden Klassen, und das ist ganz natürlich unter den jetzigen Verhältnissen. Der unwissende Proletarierteil der Gesellschaft wird also vermehrt. Sollte das auch selbst vom rein national-ökonomischen Standpunkt aus ein Gewinn sein? Gewiß nicht. Noch weniger vom philosophisch-humanistischen. Liegen unsere höchsten Kulturzwecke darin, daß ein dicht bevölkertes Land viele Arme habe für Industrie, Handel usw. und schließlich für Kanonenfutter? Dreimal nein! Sie liegen darin, daß ein intelligentes Volk die Erde zu einem Wohnsitz denkender, fühlender, künstlerischer Wesen mache, die den Vorteil der Anzahl durch die Vorzüge höherer Intelligenz und Bildung bei weitem übertreffen und die geistigen Ziele höher stellen als das bloße Wohlleben.

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Ich bin mit Ihrem Satz über das Mitleid nicht einverstanden. Schopenhauer sagt nicht, daß jeder Mensch von Natur dieses als lobenswert empfindet, sondern er sagt, es ist das einzig Ethische, weil wir in ihm uns nicht als egoistische Einzelwesen fühlen, sondern das fremde Leiden wie unser eigenes empfinden, und die gemeinsame Last [324] des Daseins im Mitgefühl gleichsam dem anderen tragen helfen. So ist es, deshalb ist es gut, gar nicht aus christlichem Aberglauben, sondern aus dem einzigen, was den Menschen adelt und ihn über das Tier in ihm erhebt. Und allerdings ist das Mitleid, wie alle anderen Grundtriebe unseres Wesens, eingeboren, denn sonst könnten sie sich nie entwickeln. Wozu kein Keim da ist, kann sich nichts entwickeln. Aber diese Keime liegen in uns gebunden, und unsere Aufgabe ist es, sie zur Blüte zu bringen.


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Am 2. Juni 1882 war in Italien einer jener Augenblicke, wo dasselbe Gefühl in Millionen Herzen zittert, und die Tränen derselben Trauer in Millionen Augen perlen. In solchen Augenblicken verschwinden die kleinen Ränke, die bösen Triebe des Neides und Hasses, die selbstsüchtigen Anfeindungen der Parteiwut, die Leidenschaften, die in blindem Eifer die ruhige Klarheit trüben, die allein die Menschen zu edler Entwicklung und zum Frieden führen kann. Die Massen begreifen dann instinktiv ein höheres Prinzip, das sich ihnen in einer konkreten Gestalt dargestellt hat, und man fühlt mit tiefer Genugtuung, daß die Tugend dennoch eine Macht ist, vor der in den Weihestunden des Lebens die Menschheit das Knie beugt, und das Laster, trotz seiner unermeßlichen Gewalt, verstummt.

Schon hat der Telegraph es der Welt verkündet, was diesen Augenblick hervorgerufen hat: Joseph Garibaldi ist tot! Kein Land der modernen Geschichte hat eine solche Menge wahrhaft epischer Gestalten in einer verhältnismäßig kurzen Epoche hervorgebracht, wie Italien in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, und wenn es mit tiefem Weh jetzt eine nach der anderen von ihnen verschwinden sieht, so bleibt ihm der Trost, daß ihr Ruhm weit hinaus in die Zukunft leben, ja vielleicht noch heller strahlen wird, wenn die Hand des Historikers einst in unparteiischer Betrachtung die einzelnen Züge der Persönlichkeiten und die Ereignisse zu einem [325] großen Bilde vereinigt. Unter den vielen aber ragen zwei besonders hervor: Mazzini und Garibaldi. Dieser hat den ersten um zehn Jahre überlebt, und wiewohl seine Kraft längst gebrochen war, und er, ein siecher Held, auf seinem Schmerzenslager ruhte, so trifft die Nachricht seines Todes doch alle unvorbereitet; wie ein elektrischer Schlag bebt es durch ganz Italien, von Nord nach Süd, daß ein nationales Unglück es betroffen. Beim Tode des Königs Viktor Emanuel war die allgemeine Erregung nicht größer und sicher nicht so innig, als sie jetzt ist. War Garibaldi doch ebenso, wenn nicht mehr, der Befreier gewesen, wie jener. Man muß Italien kennen, um sich vorstellen zu können, mit welcher Spontaneität sich hier ein so tiefergreifendes Gefühl kundgibt. Kaum war die Trauernachricht in das Publikum gedrungen, so hatten sich alle Läden geschlossen, an den Fenstern und Balkonen wurden die Fahnen, mit Trauerflor bezogen, ausgesteckt; schwarzberänderte Anzeigen erschienen an den Mauern und wurden in den Straßen ausgeboten. Die Kammer, der Senat, das Munizipium hielten Sitzungen, um Beschlüsse zu fassen, der König Umberto schickte alsbald ein Telegramm an die Familie nach Caprera und ließ die große Revue abbestellen, die zur Feier des Festes der Konstitution stattfinden sollte. Ebenso wurde das berühmte Feuerwerk, die Girandola genannt, aufgesagt, das in päpstlicher Zeit um Ostern, jetzt an diesem Festtag jährlich abgebrannt wird. Die Theater blieben geschlossen. Der Korso zeigte am Abend das Bild einer Aufregung, wie sie nur ein großes, erschütterndes Ereignis hervorrufen kann. Dichtgedrängt standen die Volksmassen zusammen, die schwarzberänderten Blätter lesend oder in stummer Ergriffenheit miteinander fühlend.

Rom hatte seinen Helden der Jahre 48 und 49 nicht wiedergesehen, bis zum Winter des Jahres 74. Wer damals in Rom war, wird sich des Jubels erinnern, mit dem der Volksheld gleich einem Triumphator der antiken Welt empfangen wurde, der Tausende, die am Bahnhof seiner Ankunft harrten, des Anblicks, wie er des Gebrauchs [326] der Glieder damals noch nicht beraubt, stehend im Wagen, dem man die Pferde ausgespannt hatte und den begeisterte Männer zogen, nach allen Seiten dankend grüßte. Man wird sich erinnern, wie er in der Aula des Parlaments mit Ehrenbezeugungen empfangen wurde, als er kam, seinen Sitz als Deputierter einzunehmen, und wie der König Viktor Emanuel ihn empfing und auszeichnete. Vor allem aber wird man sich erinnern, wie er die Furcht Lügen strafte, die sein Erscheinen in Rom als den Anfang revolutionärer Unruhen bezeichnet hatte. Der edle Kriegsheld kam nur mit Missionen des Friedens; die Urbarmachung der römischen Campagna und die Regulierung des Tiberbettes – das war die Revolution von eingreifenden Folgen für die Gesundheitszustände und die Wohlfahrt Roms, die er zu bewerkstelligen wünschte.

Leider wurden seine großen, praktischen Pläne nicht ausgeführt, wie denn überhaupt sein Alter schmerzvoll genug war, nicht bloß durch physische Leiden, sondern durch herbe Enttäuschungen für seinen edlen, uneigennützigen Patriotismus. Ich sah ihn nur einmal, als ich am Morgen, wo seine Empfangszeit war, in die Villa vor der Porta Via, wo er wohnte, ging, ihn zu begrüßen. Er saß in seinem nun typisch gewordenen roten Hemd, sein kleines Mützchen auf dem Kopf, hinter einem großen Tisch, der mit Karten und Drucksachen bedeckt war, um ihn im Halbkreis saßen die Besuchenden, deren Zahl jeden Tag unendlich groß war und unter denen an jenem Morgen sich Depretis, damals noch nicht Minister, befand (wie denn auch Minghetti seinen morgendlichen Spazierritt täglich nach der Villa lenkte). Viel mit ihm zu reden war unter diesen Bedingungen unmöglich, aber es war eine Freude, ihn wiederzusehen, wenn er freundlich nach italienischer Weise mit der Hand grüßend von seinem Sitz aus mit dem bezaubernden Wohllaut seiner Stimme rief: »addio, addio!«, das von ihm, wie übrigens häufig in Italien, als Willkommensgruß gesagt wurde.

Rom hat ihn nicht wiedergesehen, denn er ging, entmutigt [327] und enttäuscht über die Gestaltung der Dinge, früher als er gewollt hatte, auf sein Eiland zurück. Aber Palermo hat die wehmutvolle Freude gehabt, daß Garibaldis letzter Besuch ihm gegolten, und der unsagbar herrliche Empfang, den Sizilien bei Gelegenheit der sechshundertjährigen Feier der sizilianischen Vesper dem greisen Helden bereitet, und die Beweise begeisterter Liebe, mit denen es ihn umgeben hat, werden nun wie der letzte, schöne Kranz von eines ganzen Volkes liebender Verehrung sich um das Bild des edlen Toten schlingen.

Viele Städte wünschen sich schon die Ehre, die sterblichen Überreste Garibaldis zu besitzen, vor allen Rom, ja es wurde der Vorschlag laut, diese im Pantheon, wohin man auch Viktor Emanuel gebracht, beizusetzen. Der letzte Wille Garibaldis, der soeben bekannt wird, entscheidet die Frage fest und für immer. Er lautet: »Da ich testamentlich die Verbrennung meines Leichnams verordnet habe, so beauftrage ich meine Frau mit der Vollstreckung dieses meines Willens, ehe irgend jemand von meinem Tod benachrichtigt wird. Wenn sie vor mir sterben sollte, werde ich dasselbe für sie tun. Es soll eine granitne Urne verfertigt werden, um ihre und meine Asche einzuschließen. Die Urne soll auf der Mauer hinter dem Sarkophag unserer Kinder unter der Akazie, die ihn beschattet, aufgestellt werden.« – Man wartet auf die Kinder Garibaldis aus erster Ehe, die bei seinem Tode nicht anwesend waren, um diesen seinen letzten Willen zu vollziehen. Es läßt sich nichts der ganzen Gestalt und dem Charakter des einfachen Mannes würdig Passenderes denken, als diese Auflösung der zu verschwindenden Form. Die läuternde Flamme wird, wie bei den antiken Helden, das Irdische verzehren, und das kleine Felseneiland, wohin er zurückkehrte, nachdem er Viktor Emanuel ein Königreich geschenkt hatte, wo er in bescheidener Zurückgezogenheit mit den Seinen lebte, und wo sein edles Herz zu schlagen aufhörte – ist das rechte Piedestal für die Urne, die die Asche eines jener Menschen enthalten wird, wie sie in unserer Zeit immer [328] seltener werden, die die erkennende Nachwelt aber den edelsten Helden der alten Zeit zur Seite stellen wird.

Auch von ihm, wie von Mazzini, entwarf Alexander Herzen ein schönes, nie übertroffenes Bild, ich erinnerte mich daran in diesen Tagen: »Mit Garibaldi wurde ich erst im Jahre 1854 in London näher bekannt, als er von Südamerika zurückkam als Kapitän eines Schiffes, das in den Westindien-Docks auf der Themse lag. Ich ging mit einem seiner früheren Gefährten im römischen Krieg, ihn zu besuchen. In seinem dicken, hellfarbigen Paletot, seinem bunten Tuch um den Hals und dem kleinen Mützchen auf dem Kopf erschien er mir mehr gleich einem vollkommnen Seemann, denn als der Führer des römischen Heers, dessen Bild mit phantastischer Kleidung damals in der ganzen Welt verkauft wurde. Die gutmütige. Einfachheit seines Benehmens, die Abwesenheit aller Prätension, die unverkennbare Herzensgüte, mit der er uns empfing, gewannen ihm gleich meine Neigung. Seine Schiffsmannschaft bestand hauptsächlich aus Italienern, er war der Befehlshaber und sicher ein strenger; aber er wurde dennoch von allen geliebt und verehrt, alle waren stolz auf ihren Kapitän. Er gab uns ein Frühstück in seiner Kajüte und bewirtete uns mit besonders zubereiteten Austern aus Südamerika, mit getrockneten Früchten und Portwein. Plötzlich sprang er auf und rief: »Halt, mit Ihnen muß ich einen andern Wein trinken.« Er lief aufs Verdeck, und darauf erschien ein Matrose mit einer Flasche. Garibaldi lächelte und füllte unsere Gläser. Was konnte man da nicht erwarten von einem Mann, der von jenseits des Ozeans kam? Es war aber nichts anderes als Belett, Landwein von Nizza, seiner Heimat, den er nach Montevideo und von da wieder nach London immer mit sich führte. In unserer gemütlichen Unterhaltung aber fühlte ich, daß ich mich in der Gegenwart einer außerordentlichen, großen Natur befand. Ohne daß er Phrasen und Gemeinplätze brauchte, erkannte man in ihm doch den mächtigen Volksführer, der selbst alte, erfahrene Soldaten durch seine Taktik in Erstaunen gesetzt [329] hatte, und es war nicht schwer, in diesem schlichten Schiffskapitän den verwundeten Löwen zu erkennen, der nach dem Fall von Rom nur Schritt vor Schritt der Übermacht wich, und nachdem er seine ersten Gefährten verloren hatte, Soldaten, Bauern, Räuber, wen er nur finden konnte, zusammenrief, um einen neuen Schlag auf den Feind auszuführen. Und das geschah nach dem Tode seiner heißgeliebten Frau, die den Mühsalen und der Angst eines solchen Feldzuges erlegen war. Schon in diesem Jahr 1854 wichen seine Ansichten wesentlich von denen Mazzinis ab, obgleich sie persönlich sehr gut zusammen standen. Er sagte in meiner Gegenwart zu Mazzini, daß es nicht ratsam sein würde, das piemontesische Gouvernement zu reizen, daß zunächst das Nötigste sei, sich vom österreichischen Joch zu befreien, und daß er sehr zweifle, ob Italien schon für eine Republik reif sei, wie Mazzini sie wünsche. Er war entschieden gegen jeden Versuch einer Revolution. Als er London verließ, sagte ich ihm, daß mir sein Seeleben außerordentlich gefalle, und daß er unter allen politischen Flüchtlingen das beste Teil erwählt habe. »Wer hält die anderen ab, ein Gleiches zu tun?« sagte er mit Wärme. »Es war dies immer mein Lieblingstraum und ist es noch, Sie mögen nun darüber lachen oder nicht. Die Menschen in Amerika kennen mich; ich hätte dort drei bis vier Schiffe haben können, um die ganze Emigration aufzunehmen. Alle Mannschaft würde aus den politischen Flüchtlingen genommen sein. Was ist denn jetzt in Europa zu tun? Entweder Sklave sein, oder sich ruinieren lassen, oder still in England leben. In Amerika sich niederzulassen ist noch schlimmer, dann ist alles vorbei, denn das ist ein Land, in dem man das Vaterland vergißt, und das einem zur zweiten Heimat wird, wo es andere Interessen gibt und alles anders ist als hier. Menschen, die sich in Amerika niederlassen, scheiden aus der alten Welt aus. Was könnte aber besser sein als mein Plan?« setzte er mit vor Begeisterung strahlenden Augen hinzu: »Die ganze Emigration um ein paar Maste versammelt, auf dem [330] Ozean lebend, gehärtet durch ein rauhes Matrosenleben, im Kampf mit Elementen und Gefahren – das wäre eine schwimmende Armee, unnahbar, unabhängig und immer bereit, wenn es der Freiheit gilt, an irgendwelchem Ufer zu landen.«

In diesem Augenblick erschien er mir wie »einer jener klassischen Helden, eine Gestalt der Aeneïde, der in einem anderen Zeitalter lebend, seine Legende, seine arma virumque cano gehabt haben würde«. Soweit Herzen. Er hat es nicht mehr erfahren, daß Garibaldi wirklich schon seine Legende hat bei dem Volke in Neapel, das fest überzeugt ist, daß es immer einen Garibaldi geben wird und jetzt schon den Tag des heiligen Josef mehr zur Erinnerung an diese neue legendäre Gestalt, als um des alten Heiligen willen feiert. Doch fehlen auch jetzt die Stimmen nicht, die stets die großen Gestalten, die aus der Geschichte in die Legende übergehen, verunglimpfen, da die Menschheit es ja nicht lassen kann, das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu ziehen. So wagt man es von deutscher Seite, diesem einfachen, ehrlichen Volksmann Bestechlichkeit und Gewinnsucht vorzuwerfen. Weiß ich doch gewiß, daß man ihm in England, wohin er nach der vollbrachten Einigung Italiens eingeladen als Gast des Herzogs von Sutherland ging und wo er die Huldigungen der ganzen englischen Aristokratie empfing – eine große Besitzung und ein ansehnliches Vermögen dazu anbot, als Beweis der unbegrenzten Verehrung, die ihm die Engländer zollten, daß er aber entschieden alles ablehnte und rasch in seine bescheidene Häuslichkeit auf Caprera zurückkehrte. Da lebte er in patriarchalischer Einfachheit, liebevoll sorgend für alles, was ihn umgab. Ein Freund erzählte davon unter anderem das folgende rührende Beispiel: »Eines Tages vermißte man ein junges Lämmchen, durch die Wehklagen der Mutter aufmerksam gemacht. Garibaldi und der bei ihm befindliche Freund machten sich alsbald auf, das Tierchen zwischen den Klippen und Felsenspalten der Insel zu suchen. [331] Man fand es aber nicht, und endlich begaben sich abends alle ermüdet zur Ruhe. Der besagte Freund konnte nicht schlafen, und als tiefe Stille im Hause herrschte, hörte er, wie die Tür von Garibaldis Zimmer sich leise öffnete und dieser vorsichtig, um kein Geräusch zu machen, das Haus verließ. Nach längerer Zeit, noch mitten in der Nacht, hörte er ihn zurückkommen und erfuhr am folgenden Tag, daß Garibaldi das Tierchen nach langem Suchen noch gefunden und, da es vor Kälte zitterte, zu sich ins Bett genommen habe, um es zu erwärmen und am Morgen der Mutter zurückzugeben. Solche Züge sagen mehr als Worte!

Als nun im März 1882 nach 600 Jahren der Jahrestag der sizilianischen Vesper wiederkehrte, die in der Geschichte jener schönen Insel ein Denkmal von dem edlen Unabhängigkeitssinn der Bevölkerung bleibt, bereitete Palermo ein großes Fest und lud vor allen anderen den ehrwürdigen Volkshelden dazu ein, der selbst wie eine Erscheinung aus dem heroischen Zeitalter der Menschheit war. Hatte er doch für das herrliche Inselland beinah Ähnliches vollbracht, wie einst Johann von Procida, nämlich ihm Freiheit und Unabhängigkeit gegeben durch seinen Zug der Tausend, der eher einem Gesang des Homer glich, als einem modernen Feldzug. Garibaldi, obwohl schon alt und sehr krank, machte sich zu dieser letzten Feier seines Heldenlebens auf. Seine Reise war wie ein Triumphzug; an jeder Station mußte der Zug anhalten, damit die Bevölkerung den geliebten, greisen Führer noch einmal sehen könne, und nur die Rücksicht auf seine Gesundheit mäßigte etwas den Jubel, mit dem man ihn in Palermo empfing. Garibaldi dankte der enthusiastischen Stadt mit einem Brief, worin er sie aufforderte, stets die erste zu sein, um das kaum entstandene Italien vor äußeren und inneren Gefahren zu schützen. Insbesondere warnte er sie vor dem Papsttum, und erinnerte sie daran, daß 1282 es der Papst gewesen sei, der die Räuber geschickt habe, die sie so heldenmütig [332] in die Flucht getrieben hätte. Er schloß den Brief folgendermaßen: »Bilde in Deiner Mitte, in der so viele großmütige Herzen schlagen, eine Verbrüderung unter dem Namen ›Befreierin der menschlichen Intelligenz‹, deren Aufgabe es sei, die Unwissenheit zu bekämpfen, den freien Gedanken zu wecken und dem Volke, anstatt der Lüge, die Religion des Wahren und Guten zu lehren.« Wie würde das Herz des edlen Volksmanns geblutet haben, hätte er es erlebt, das Elend dieser Tage zu sehen, das sein geliebtes Inselvolk wieder dazu trieb, in Waffen aufzustehen, leider aber gegen die eigenen Brüder, die von der selbstgewählten Regierung gesendet wurden zu dem sogenannten »Ordnungsstiften« im traurigen sozialen Krieg. (Vor einigen Jahren, als das überhandnehmende Elend die Sizilianer zu revolutionären Aufständen trieb, die unter dem Ministerium Crispi, der selbst ein Sizilianer ist, und einer der Tausend unter Garibaldi gewesen war, mit Waffengewalt unterdrückt wurden!)

Gedachtes [2]

Gedachtes

Viele Gedichte Goethes kann man gar nicht bloß rezitieren, man muß sie singen. Die Töne ergeben sich von selbst dazu, die Worte kommen so aus dem innersten Leben, daß sie Musik in sich enthalten, z.B. das »Über allen Gipfeln ist Ruh«. Gestern abend nach dem glorreichsten Sonnenuntergang, vor der leuchtenden Klarheit eines römischen Sternenhimmels, mußte ich es singen mit einer wunderbaren Melodie, die ganz von selbst den Worten entstieg. Es wurde mir himmlisch wohl dabei.


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»Arbeit ist der göttlichste Orden, so er je auf Erden gestiftet ist worden.« So sagt Hans Rosenblüt am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Wie sagen wohl unsere Arbeiter am Ende des neunzehnten Jahrhunderts?


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Wir sind selbst das Metaphysische, das Ding an sich in der Erscheinung, der umgekehrte Spiegel Schopenhauers. Dühring nimmt die Erscheinung für bare Münze, und insofern als sie unsere einzige Kursbezahlung ist, hat er recht. Aber sie ist nur corso forzoso, das Silbergeld ist jenseits der Erscheinung. Doch ist das eine vom anderen nicht zu trennen, und nur wer das Papiergeld in sich ins edle Metall umsetzt, hat die volle Summe.


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Das Karmân der Buddhisten ist die unendliche Folge von Ursache und Wirkung, deren Produkt wir sind. Das Nirvâna ist die Aufhebung des Karmân. Welch ein Licht!


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Auf einsamem Bergpfad, hoch in den Alpen wandelnd, grauer drohender Himmel, freudlose Alpennatur, starr und kalt ringsum. Gewiß hat der Mensch von jeher Zwiesprache mit der Natur gehalten, gewiß haben Sonnenstrahlen ihn erheitert und hat solch düsterer Ernst wie hier ihm Ehrfurcht oder Furcht eingeflößt. Aller Götterglaube hat da seinen Ursprung. Sobald der Mensch da war, waren Frage und Antwort da.


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Die Sprache kann nur durch die Gemeinsamkeit entstanden sein. Man kann sich denken, daß ein einzelner Mensch Begriffe gehabt und die Gegenstände außer sich unterschieden hat, ohne einen Ausdruck dafür zu suchen. Mit anderen mußte nach und nach ein Ausdruck gefunden werden, durch den man sich den Begriff mitteilte.


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Je weiter man im Leben kommt, je einfacher werden die Grundlinien des Charakters sichtbar. Die Dinge, die uns die Welt angehängt hat, fallen ab; es bleiben der heilige Zorn und die Charitas, wie in der Kapelle Sixtina auf dem jüngsten Gericht: Christus und Maria.


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Eben las ich in dem lieblichen Buch über die Jugend[334] Michelets (von seiner Witwe herausgegeben), wie sein Freund Poinsaut die Offenbarung der wahren Liebe durch den Tod der Virginie (im Roman »Paul et Virginie«) erhält, indem Virginie lieber stirbt, als daß sie die holde Scham verletzte, die sie in der Nähe des Geliebten empfindet. Ist es nicht ebenso mit Tugend und Sittlichkeit? Die haben auch das Hindernis in sich selbst, das zu oft den irdischen Erfolg vereitelt. Der zur Tugend, zur wahren Sittlichkeit angelegte Mensch kann nicht gegen diese handeln, ohne sich selbst die tödliche Wunde beizubringen, die tiefer schmerzt als das, was man auf der anderen Seite verliert.


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Sehr rührend und schön ist die Erzählung des psychologischen Vorganges in Poinsaut, der reinen Herzens war und dessen Verstand nur durch die frühen Mitteilungen unsittlicher Kameraden verwirrt wurde. Wenn man bedenkt, welche Wirkung jenes paradiesisch unschuldige Buch (»Paul et Virginie«) auf die damalige, durch so viele Korruption durchgegangene Welt hatte, so fragt man sich, würde ein solches Buch heute nach Zola und seiner ganzen Schule noch so wirken? Ein schlimmes Fragezeichen für unsere Zeit, die sich rühmt, so viel moralischer zu sein als jene.


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Wir armen Sterblichen machen uns wahrhaftig zuviel Sorge um die schweren Stunden, die wie ein Traum vergehen, während wir nie genug daran denken, das Ewige in die flüchtige Zeit zu bannen und diese dadurch aufzulösen in einen bloßen Begriff, gleichsam in ein Hilfszeitwort, mit dem sich unsere Vernunft das Ewige in verschiedene Phasen zurechtlegt.


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Offenbar ist die Furcht vor dem Tode ein Hauptmotiv in der ganzen katholischen Dogmatik. Das Paradies muß auf alle Weise gewonnen werden. Die guten Werke sind das Mittel, der Hölle zu entfliehen.

[335] Wie schrecklich ist solch ein Vorlesen, wie das der M...! Sie liest laut für sich, nicht für die andern. Es ist ein seelenloses, oberflächliches Lesen. Auch in solchen Dingen verrät sich die Persönlichkeit. Wie anders liest ein wirklich innerlicher Mensch!


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Im Alter wird die Natur einem noch vertrauter und wichtiger als in der heißblütigen Jugend, die Teilnahme von ihr verlangt und sich über ihren kalten Metallglanz ärgert. Das Alter hingegen ruht aus in der Objektivität der um individuelle Leiden und Freuden unbekümmerten, nach ewigen Gesetzen wirkenden Natur, in deren Schoß alles Lebendige nach überstandenem Erdentraum zurückkehrt.


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Der Intellekt ist ja auch nur ein Teil der Erscheinung und hängt von ihren Existenzbedingungen mit ab, während das Unveräußerliche, der Charakter, das eigentlich Metaphysische, das als Wille mit uns geboren wird, bleibt. Ein rührendes Beispiel hierzu erlebte ich kürzlich. Ein alter Künstler, der in Rom seit seiner Jugend lebte und sowohl wegen seiner Leistungen wie als Mensch hoch geachtet war, wurde nun durch Krankheit und Alter in einen Zustand völliger Hilflosigkeit versetzt und hing von den Dienstleistungen seiner Frau und der Magd ab. Eines Tages kam das Bewußtsein seiner Lage, seines geistigen und physischen Absterbens noch einmal mit Klarheit über ihn, und er fing an bitterlich zu weinen. Umsonst versuchten seine Frau und seine kleine Tochter ihn durch Liebkosungen zu beruhigen. Ein Freund, der zugegen war, sagte ihm endlich, er sei doch noch gut daran, habe liebende Wesen um sich, ihn zu pflegen, und brauche wenigstens nicht zu darben; aber er solle des armen A ... gedenken, eines einst auch berühmten Künstlers, der, älter und hilfloser noch als er, niemand auf Erden habe, der für ihn sorge, außer einem gemeinen Aufwärter, der ihm etwas zu essen bringe und ein paarmal am Tag nach ihm sehe. Des alten Mannes Tränen versiegten [336] und er schwieg. Am folgenden Tag rief er die Köchin herbei und fragte sie leise: »Könnten wir nicht dem alten A ... ein Süppchen schicken?«

Wem würde bei so etwas nicht zumute, wie wenn ein Sonnenstrahl durch finsteres Gewölk bricht? So bricht hier durch den sich umnachtenden Intellekt, der an die Erscheinung gebunden ist, das Leuchten des Metaphysischen, Unzerstörbaren, das, jenseits unserer Erkenntnis, aus geheimnisvollen Ursachen uns den Charakter zubereitet hat; hier zeigt es sich als die Güte, die, auch entkleidet von dem schmückenden Gewand des Intellekts und des Talents, in ursprünglicher rührender Schönheit zutage tritt.

Deshalb ist auch der Tod guter Menschen meist so schön und rührend, weil, selbst wenn der Geist schon umflort ist und erlischt, die letzten Bilder und Worte, die das ersterbende Bewußtsein noch hervorbringt, der liebenswerten Natur entsprechen. So hatte z.B. mein Vater, dessen liebevolles, edles Gemüt für ganz anderes gemacht war, als für die heißen Kämpfe der Politik und der Revolution, in denen sein Leben verfließen mußte, schon einschlummernd zum ewigen Schlaf, nur noch Vorstellungen von Blumenwiesen und Vergißmeinnichtsträußen, von denen er lächelnd und leise flüsternd sprach. Ich sah nie einen Bösen sterben, aber der Tod eines solchen muß schrecklich sein, denn nun kommt das wahre jüngste Gericht zum Vorschein, und kein Blitzen des Verstandes, kein Funkeln des im Leben erworbenen gleißnerischen Schimmers kann den Abgrund des Wesens mehr verbergen. Bezeichnend ist hierfür das Wort des Kaisers Augustus, der, als er die letzte Stunde nahen fühlte, sich freute, daß er nun endlich aufhören könne, Komödie zu spielen.


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Im geistreichen Buch des Grafen Gobineau: »Sur la diversité des races humaines« steht, daß die Makedonier über Athen siegten, weil sie unvermischtes arisches Blut hatten, und daß Athen an der Mischung mit semitischem [337] Blut zugrunde ging. Da aber die Makedonier gar keine Kultur hervorbrachten und sogleich in der Vermischung mit dem Orient untergingen, so ist das doch kein Beweis ihrer Superiorität über die Rassenmischung in Athen, die unleugbar den höchsten Glanzpunkt menschlicher Kultur hervorgebracht hat. Warum hätte das nicht fortdauern sollen, wenn nicht andere Ursachen des Verfalles dagewesen wären?


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Malthus hat meiner Meinung nach darin recht, daß er die überhandnehmende Bevölkerung der Erde nicht als ein Glück ansieht. Nur darin hat er unrecht, daß er Krieg und Vernichtung als notwendige Mittel bezeichnet, um sich der überflüssigen Mehrzahl zu entledigen und der egoistischen Minorität den Genuß des Lebens zu sichern. Der Wirklichkeitsphilosoph meint, man solle die Natur nur zunächst quantitativ verfahren und produzieren lassen, sie werde einmal an die Grenze kommen, wo sie einhalten und qualitativ verfahren müsse, um dann vielleicht eine höher organisierte Menschheit hervorzubringen. Ich denke, der Kulturmensch solle es nicht der Natur überlassen, sondern mit Bewußtsein darauf hinarbeiten; die Statistik beweist, daß die Vermehrung der Menschenherde am zahlreichsten in den untersten Gesellschaftsklassen vor sich geht, als Ersatz für höhere Lebensfreuden aus vorherrschenden animalischen Trieben. Je mehr daher geistiges Leben und wahre Bildung zur Herrschaft gelangen werden, je gebändigter wird der bloß animalische Trieb sein, und je edler werden die Exemplare werden, denn darauf allein kommt es an.


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Neulich sagte eine verheiratete Frau, halb im Scherz und halb im Vorwurf, zu ihrem Mann, daß sie gar nichts mehr für ihn sei neben ihren zwei jungen Töchtern, die er zärtlich liebt. Eine ähnliche Erfahrung habe ich schon bei anderen Ehen gemacht. Ist das vielleicht so, weil die Leidenschaft, deren Gegenstand die Frau war, befriedigt ist, und weil der Egoismus des Mannes in den Kindern einen Teil [338] seiner selbst wiederfindet, während die Frau ihm doch immer ein fremdes Wesen ist? Das würde an Schopenhauers Idee der Ehe erinnern. Oder ist's, weil das Hilflose des Kindes ihm noch mehr das Gefühl des Beschützers gibt, als bei der Frau? Oder endlich – und das wäre die schönste Erklärung – weil er im Kinde die Mutter doppelt liebt und im Kinde das Siegel ihres Bundes, ihr gemeinsames Vermächtnis an die Menschheit sieht?


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Vor vielen Jahren, noch in England, schrieb ich einmal in mein Tagebuch: Am heutigen Abend spät ging ich auf der Insel Wight am Meeresstrand entlang, von einem Besuch kommend, einen weiten Weg allein zurück. Es war heller Mondschein; auf der einen Seite war der Weg von hohen Felsen begrenzt, auf der andern vom mondbeglänzten Meer. Dieses Alleinsein in der Natur rührte mich, wie immer, tief; das elementare Leben umfing mich so heimatlich, so liebevoll. Deutlicher als je stieg das Bewußtsein meiner eigentlichen Bestimmung in mir auf. Gibt es denn doch eine »Idée préexistante« im Menschen, zu der ihn sein ganzes Leben gewaltsam hindrängt? Schaffen – das ist's! Auf andere veredelnd wirken, Kinder, leibliche oder geistige, zeugen, das Leben fortsetzen, also immer der Zukunft entgegen, nie zurück! Das stößt die christliche Theorie des ein für allemal gegebenen Ideals um. Aber das Wesentliche in jener Theorie bleibt, daß die Liebe, die nicht Schwäche, sondern unangreifbare, unbesiegbare Stärke ist, schließlich das allein Siegende bleibt. Ja, Nazarener, am Kreuz besiegtest du dennoch die Welt! Es ist nur viel tiefer, als die Dogmatiker denken.


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Wenn man nach langen Jahren an einen Ort zurückkommt, wo man früher einmal gelebt hat, so überfällt einen, fast mit Grauen, die Überzeugung, daß es immer dasselbe ist, was lebt. Alles, was wir einst gekannt haben, ist längst im Grabe, eine neue Generation ist an die Stelle getreten, [339] aber es sind dieselben Typen; was wir einst jung gesehen haben, ist wieder jung da; wir meinen Bekannte zu erkennen; es ist dasselbe ruhe- und ziellose Treiben, dasselbe Lachen, dasselbe Weinen, dieselbe Verliebtheit und Torheit, derselbe alte, ewige Schmerz. Ist das auch nur Gattungsbegriff wie beim Tiere? Entwächst das Individuum, das den Gott in sich enthüllte, dem allgemeinen Schicksal der Erscheinung nicht? Ist das nicht das einzige, was über die Erscheinung hinausgeht, wieder Ding an sich wird?

Ich fühlte von früh auf tief, wie notwendig es ist, daß unser Leben Tat werde, aber nicht bloß praktische Tat des Handelns, sondern ideale Tat der künstlerischen Vollendung. Wir können uns nicht damit begnügen, daß wir den Marmor brechen, der einst der Zukunft Göttertempel herstellen soll, wir müssen ihm auch gleichzeitig, schon wenigstens in einer Form, die Ahnung eines idealen Lebens einhauchen, und wär' es auch nur in dem verschwiegenen Umgang mit unserer eigenen Seele.


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Die Propheten gehen den neuen Epochen voran, die Philosophen beschließen die alten, ihre Ären nähern sich demnach einander; deshalb verwechselt man sie so oft.


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Heute haben zwei militärische Exekutionen stattgefunden, eine in Palermo und die des Soldaten Misdea in Neapel. Dieser hatte ein entsetzliches Verbrechen begangen: sieben Soldaten, zum Teil seine Vorgesetzten, in einem Anfall von Wut erschossen. Er war wie eine wilde Bestie und dennoch kein schlechter Mensch. Im Gefängnis hat er gedichtet, und der Geistliche, der ihn besuchte und ein guter Mann war, hat ihn beweint. Er war ein Sohn der wilden Berge, ein Calabrese, ein heißblütiges, unerzogenes Wesen, seine Kameraden hatten ihn verspottet und schlecht behandelt, und er hatte sich gerächt. Hätte die Gesellschaft sich seiner angenommen, ihm die Mittel der Bildung gegeben, er wäre vielleicht ein ganz ausgezeichneter Mensch geworden. Da sie [340] es aber nicht tat, sondern ihn seinen wilden Instinkten überließ, so kam sie nun gesetzlich dazu, dasselbe zu tun, wofür sie ihn strafte: sie mordete!

Welche Logik und welche Zustände!

Und dadurch soll die militärische Disziplin gebessert werden? Denn das ist ja der Vorwand, unter dem man hier in Italien diese Exekutionen vollzieht, wo doch die Todesstrafe abgeschafft ist. Es wird den Soldatenstand verhaßt machen und auch die Regierung, die einen Menschen zwei und einen halben Monat im Gefängnis hielt und ihn dann, ungeachtet des Protestes aller fühlenden Herzen, erschießen ließ; diesen wild aufgewachsenen, ungebildeten Menschen, der, durch unverdienten Spott zur Wut gereizt, in einem Augenblick alles überwiegender Aufregung tat, was er bei kaltem Blute nicht getan hätte und was er tief und herzlich bereute. Der Beweggrund des Urteils war, wie schon erwähnt, die militärische Disziplin, womit demnach gesagt wurde, daß es für das Militär eine andere Moral gibt als für die anderen Staatsbürger, da man Mörder, die nicht in der Uniform stecken, in diesem milden Lande nicht hinrichtet. Also nur weil der Soldat die Autorität im Vorgesetzten respektieren muß, wird er, falls er es nicht tut, mit dem Tode bestraft, während er als gehorsame Maschine, auf Befehl, Hunderte im Kriege morden kann.

In Misdeas Fall waren die Priester die humane Partei, und die freisinnige Regierung war die inhumane. Der Erzbischof von Neapel, Sanfelice und Monsignore de Luce, die den Verurteilten liebe- und erbarmungsvoll behandelten und trösteten, werden im Herzen des Volkes einen Altar haben; die Richter Misdeas nicht.


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»Gott ist nicht gerecht, nur einer ist gerecht – der Tod,« sagte mir eine alte Frau aus dem Volk, die neben mir stand auf der Straße, als eben ein glänzender Leichenzug vorüberging.


[341] * * *


Joseph de Maistre erkennt in seinem Buch »vom Papst«, freilich in mystischen Ausdrücken, die ungeheure intellektuelle Revolution an, die sich infolge der politischen Revolution vollzogen hat. Er sagt, die Sprache der Priester sei abgenützt und überzeuge nicht mehr, die Sprache der Laien müsse dafür eintreten. In dem anderen Buche, »Sur le principe générateur des constitutions«, erklärt er die religiösen Analogien der Völker, vernichtet also die direkte Offenbarung. Er schlägt vor, in einer großen Stadt, auf antiken Überresten, eine Statue von Christus zu errichten mit der Inschrift: »A l'Osiris chrétien dont les envoiés ont parcouru le monde.« Er erkennt damit eine christliche Mythologie an. O Joseph de Maistre, liebenswürdiger, feiner Geist, sympathisch trotz deiner Irrtümer, wie konntest du dir so widersprechen!


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Wenn ich dem heiligen Augustin darin beistimmte, daß der Mensch des Besitzes der absoluten Wahrheit bedürfe, um glücklich zu sein, und daß das bloße Suchen nach ihr ihn nicht befriedige, so würde ich mich alsbald in den Schoß der katholischen Kirche begeben, denn da ist positive Wahrheit für alle Lebensprobleme. Wenn man es kann, muß es sich sehr bequem darin ruhen lassen. Ich halte es aber mit Lessing und glaube, daß in der Einsicht unserer Beschränkung, die es uns unmöglich macht, das Absolute zu erkennen, die einzige Ruhe liegt, zu der wir gelangen können, indem wir dann erst mit vollem Bewußtsein uns »immer strebend bemühen«, und so der Erlösung vom Schmerz des Unbefriedigtseins teilhaftig werden.


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Das Prinzip des Guten und Bösen ist da, soweit das Bewußtsein zurückreicht; aber es geht nicht von einem Herrscherwort aus, das den Menschen fesselt, denn damit bliebe immer ein Widerspruch zwischen Freiheit und Gewalt. Das Gute ist Freiheit der Entwicklung: alles, was eine ausgelebte Form verewigen will, ist böse. Darin ist der [342] Geist auch dem unabwendbaren Gesetze der Natur unterworfen, daß er Hülle um Hülle zerbrechen, sich ewig neue Formen, gleich den neuen Frühlingen, schaffen muß. Wer dem Einhalt tut, beschränkt das Gebiet der Freiheit, tut Böses, bereitet moralischen Tod.


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Den Kampf des Lebens schon vor dem leiblichen Tod ausgekämpft haben, ist das vielleicht eine neue Form der Religion? Nicht mehr der Schmerz und der Kampf, sondern der Frieden und das Glück. Ist alles Drängen und Treiben nur das Sehnen danach, und wird damit die Erde schon zur vergöttlichten Heimat? Es wären die Griechen, nur in höherer Potenz.


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Erst wenn die Hälfte des Lebens vorüber ist, fangen wir an, unsere eigene Natur und ihre wahren Bedürfnisse ganz zu verstehen und fühlen dann den bitteren Schmerz, das an uns Versäumte nicht nachholen, uns nicht selbst zum vollkommenen Kunstwerk machen zu können. Die Erziehung in den Händen einsichtsvoller Menschen könnte uns vieles zu Bedauernde ersparen. Welche herrliche Aufgabe, und wie mangelhaft wird sie meist noch erfüllt!


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In der Neujahrsnacht von 1878 auf 79 lag ich schlaflos und hörte in Gedanken den letzten Akt aus Wagners Götterdämmerung, und bei der Stelle »Deine Raben hör ich rauschen« fiel mir ein, wie doch fast alle Götter Vögel zu Attributen hatten, wohl als die im Luftmeer Heimischen, dem Himmel Nahen, so Wotan die Raben, Zeus den Adler, Minerva die Eule, Venus die Tauben usw. Wieder der geistreiche Symbolismus der Alten.


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Ostermorgen in Neapel. Himmlischer Morgen! Der Vesuv raucht wie ein Opferaltar, Christ ist erstanden! Die alte Sage umklingt mich heute in aller Schönheit.


[343] * * *


Der Sommer 1882 rief mich nun wieder nach Bayreuth, und zwar schon früh, um allen Proben zum Parsifal beizuwohnen, der zum erstenmal aufgeführt werden sollte. Als ich einige Jahre früher, im Sommer 78, zu Besuch bei Wagners war, kam der Meister eines Tages aus seinem Arbeitszimmer oben im Haus zu uns herunter und sagte: »So, nun habe ich meinen zweiten Akt fertig gemacht. Das ist mir schwer geworden, so etwas schreib ich nicht wieder.« Dann hörte ich von Liszt aus dem ersten Akt spielen und drei Jahre später in Neapel, wie erwähnt, die erste Gralsszene singen. Nun war das Werk vollendet und zur Aufführung bereitet, und um nichts in der Welt hätte ich versäumen mögen, dieser ersten Aufführung beizuwohnen. Schon im Jahr vorher in Neapel hatte mich Joukowsky, der ein Haus in der Nähe von dem Hause Wagners gemietet hatte, aufgefordert, mich in dem Parterre, das er nicht benutzte, einzumieten, und ich war gern darauf eingegangen, da außer mir nur noch Stein im Hause wohnte und dies mir also ein sehr sympathisches Trio wurde, das die Stimmung zuließ, wie sie zur Anhörung des erhabenen Kunstwerks einzig sein mußte. Wie sich nun in den Proben nach und nach diese Wunderwelt der Töne vor mir auftat, steigerte sich von Tag zu Tag meine Ergriffenheit. In der Generalprobe, wo nur wenige Eingeweihte zugelassen waren, saß ich neben Liszt, der die Partitur vor sich hatte; plötzlich in Ekstase ergriff er meinen Arm und sagte ganz außer sich: »Ce n'est pas à croire à ses oreillies!« Seine älteste Enkelin, die feurige Daniela von Bülow, die auf der anderen Seite neben mir saß, sagte, als das Liebesmahl im Gralstempel zu Ende war und die Ritter sich den Bruderkuß gaben: »Ich wollte, ich hätte einen Todfeind, um ihm in diesem Augenblick zu vergeben.« Das waren alles Zeugnisse der Wirkung, die von diesem Werke ausging und die sich durch das Anhören sämtlicher Aufführungen nicht abschwächte, sondern eher noch wuchs. Es ist soviel seitdem über Parsifal geschrieben worden, so viele haben ihn gehört, [344] daß es unnütz wäre, noch auf eine Analyse einzugehen. Er ist eben, wie das vollendete Kunstwerk sein soll, jeder Analyse enthoben; er ist da wie ein herrlicher Wunderbau, wie eine Göttergestalt des Phidias, wie alles Vollendete, vor dem die Kritik verstummt, das man in sich aufnimmt, wie man reinen Äther einsaugt, mit einem unaussprechlichen Wohlgefühl, und nach dem man sich edler, allem Hohen verwandter, über alles Erdenleid versöhnter fühlt.

Der törichte Irrtum, dieses Werk als eine Rückkehr Wagners zu der orthodoxen dogmatischen Kirche anzusehen, der sich bald in Ermangelung anderer Kritik hervortat, konnte der erhabenen Schöpfung keinen Abbruch tun für den Verstehenden. Der Gedanke der höchsten Idealität, wie er im Grunde der Legende des Neuen Testaments sich in der Gestalt des Jesus von Nazareth ausdrückt, hat auch den Parsifal geschaffen, hier noch verklärt durch die Macht der Töne, die wie eine Offenbarung des ewig Schönen die Erscheinung umschweben. Es war dies Werk das letzte Siegel, das ein großer Mensch auf sein Leben drückt. Danach braucht man nichts mehr zu sagen, noch zu tun; der Bund mit der Ewigkeit ist geschlossen; das Tagewerk ist vollbracht; das Zeitliche fällt ab, und der ewige Gedanke steigt auf, um unsterblich fortzuleben in den kommenden Geschlechtern und im Verein mit allem dagewesenen wahrhaft Großen den Tempelbau des Geistes über der gemeinen Wirklichkeit zu erheben, in dem die reinen Seelen ihren Götterdienst feiern und dem Ideal huldigen, das sich ihnen durch den Mund des Genius verkündet.

Und es kam so, wie es kommen mußte, unsagbar schmerzlich nach der irdischen, erhaben bedeutungsvoll nach der ewigen Seite. In dem Winter, der diesen herrlichen Wochen folgte, war ich wieder in meinem kleinen Heim in Rom, und Wagners waren in Venedig, einem Lieblingsorte Wagners. Ich hatte oft Nachricht von ihnen, auch durch Joukowsky, der gleichfalls dort war, und freute mich, daß es ihnen gut ging und daß sie sich in der herrlichen Lagunenstadt [345] ausruhten von der Ermüdung, die notwendig mit den Aufführungen in Bayreuth verbunden ist. Wer vermöchte daher meine tiefe Bestürzung zu beschreiben, als ich am 14. Februar 83, früh am Morgen, ein Telegramm von Joukowsky erhielt mit den Worten: »Wagner ist gestern plötzlich entschlafen.« Ich traute meinen Augen nicht, ich suchte zu hoffen, der italienische Telegraphist habe falsch gelesen und falsch geschrieben, aber die traurige Wahrheit drängte sich mir doch auf, und ich fuhr eilig zu der mir innig befreundeten Tochter von Donna Laura Minghetti, die kürzlich in Rom angekommen war und noch im Hotel wohnte. Ich fand sie in Tränen, sie hatte es auch erfahren; sie, selbst ausgezeichnete Musikerin, war Wagner und seinem Werk ebenso ergeben wie ich. Wir teilten den gemeinsamen Schmerz, der nur darin Trost fand, daß es gerade nach der vollendeten Aufführung jenes Werks der erhabensten Versöhnung und des reinsten Friedens hatte sein müssen, ein Abschluß der irdischen Erscheinung, wie er nicht verklärter und – ich gebrauche das verpönte Wort mit vollster Überzeugung – metaphysischer gedacht werden konnte.

Lange Zeit bangte mir um das Werk von Bayreuth. Jahre vergingen, ehe ich wieder dorthin zu gehen mich entschließen konnte, wo nun der Schöpfer fehlte, in dem ich nicht nur den Genius verehrt, sondern auch einen Freund gefunden hatte; aber das Schicksal war diesmal, was es nicht immer ist, groß dem Großen gegenüber, und ließ der einzigen, die, nach dem Meister selbst, die Werke wieder erschaffen konnte, die Kraft wiederkehren, alles in die Hand zu nehmen und herrlich zu gestalten. Als ich dann nach Jahren in tiefster Rührung im Garten zu Bayreuth an dem Grabe stand, in dem das Vergängliche ruht, da sagte ich leise vor mich hin: Dein Werk wird leben, Jahrhunderte überdauern, und dein Genius wird strahlen in der Konstellation derer, die die Menschheit mit Recht unter die Sterne versetzt.


[346] * * *


Die Helden sterben auf der Bresche, aber als Sieger, so auch die großen Künstler. Was liegt daran, ob die Welt ein Kunstwerk mehr oder weniger hat, wenn nur der Mensch das Ideal in sich selbst realisiert hat und dann stirbt.


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Die Art, wie man aus den großen Kämpfen und Prüfungen des Lebens hervorgeht, entscheidet über den Wert eines Menschen.


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Wie es am Allerseelentag bei den Katholiken Sitte ist, die Gräber der Verstorbenen zu bekränzen, so ist es auch dem Herzen ein Bedürfnis, einen Kranz der Erinnerung zu winden für die, die vor uns den Kampfplatz des Lebens verlassen haben und in die Hallen des unbekannten Friedensreiches eingegangen sind.


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O schöne Rätsel reiner Seelen, lösbar nur in einer höheren Existenz.

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Ich hatte schon im Frühjahr viele Wochen mit Olga in Cannes im südlichen Frankreich zusammen verlebt, wohin man sie ihrer Gesundheit wegen geschickt hatte, und es unterblieb daher diesmal meine jährliche Pilgerfahrt nach Versailles in ihr Heim, wo die Sommer zuzubringen nun schon eine stehende Gewohnheit geworden war. So nahm ich die freundschaftliche Einladung von Donna Laura Minghetti an und verbrachte wieder einige Wochen auf dem herrlichen Settefonti, in gemütlichem Behagen und geistiger Angeregtheit. Dann für den übrigen Teil des Sommers folgte ich einer Empfehlung Minghettis und ging nach Crespano, einem Orte am Fuß der venezianischen Alpen, doch schon in allmählichem Ansteigen, 900 Fuß über der Meeresfläche gelegen. Von da überschaut man die prächtige venezianische Ebene mit ihren Flüssen, ihren Orten und Städten, die sonderbare, [347] an Versteinerungen reiche Hügelkette der Euganeen und der paduanischen Berge, und hat den Eindruck, als könne es kein fruchtbareres, reicheres Land geben als dieses. Einst war es auch so unter der Herrschaft der großen Republik, aber jetzt ist viel Not und Armut da, und die Hauptnahrung der Landbevölkerung ist die Polenta, daher denn auch die Maisernte die große Sorge des ganzen Jahres ist. Crespano selbst ist ein kleines Örtchen, das mir nichts Interessantes bot, aber in der Nähe sind eine Menge Orte, wo eine bedeutende Vergangenheit und eine ewig reizvolle Gegenwart einen Bund geschlossen haben, wie man es eben nur in diesem wunderbaren Land Italien findet. So fuhr ich eines Tags zwischen grünen Hügeln und anmutigen Hecken nach Possagno, einem kleinen, reizend gelegenen Dorf, das die Heimat eines berühmten Künstlers ist. Canova wurde hier geboren, ward von hier als armer Knabe nach Venedig geschickt, um sich in der Kunst auszubilden, wurde berühmt und reich und hinterließ ein Vermögen von sechzehn Millionen, das er zum großen Teil dem kleinen Geburtsort und einiges auch dem nahen Crespano und anderen kleinen Orten der Umgegend hinterließ. Eine große Summe bestimmte er für die Errichtung eines Tempels, dessen Plan er selbst zeichnete, den Anfang von dessen Bau noch leitete, und der nach seinem Tode vollendet wurde und zwei Millionen kostete. Er ist nach dem Vorbild des Pantheon gebaut, zum Teil aus weißem Marmor, und macht auf dem Hintergrund der grünen Hügel, vor denen er sich frei, den Ort überragend, erhebt, einen prächtigen Eindruck. Eine großartige Treppe führt hinauf, und sechzehn granitne Säulen tragen die Vorhalle. Das letzte Werk Canovas, zugleich eins seiner schönsten, eine Pietà, vor deren Vollendung er im Jahre 1822 starb, befindet sich im Innern; ein Engländer hat sich die in Marmor begonnene Gruppe vollenden lassen, die hier aufgestellte ist von Ferrari in Bronze gegossen. Ein Marmorsarkophag ihr gegenüber umschließt die Gebeine des Künstlers, und außerdem schmücken den Tempel wertvolle [348] Gemälde, von ihm selbst hierher vermacht. Die Priester, die den Tempel bedienen, sind für immer durch ihn versorgt, ebenso ist es eine große Erziehungsanstalt, die sie leiten. Canovas Geburtshaus ist zu einem Museum eingerichtet, wo alle seine Werke, teils in Ton, teils in Gips kopiert, aufgestellt sind mit einigen wenigen Originalen in Marmor. Die außerordentliche Produktivität, die sich hier in ihrer Fülle zeigt, setzt in Erstaunen, aber es fällt auf, wie einförmig und konventionell er in seinen Typen gewesen ist. Es fehlt die spontane Eingebung durch die göttliche Mannigfaltigkeit des Lebens, wie bei den Griechen. Eine Jugendarbeit, Dädalos und Ikaros darstellend, macht hiervon eine Ausnahme und zeigt eine weit größere Natürlichkeit als die übrigen Sachen. Es brachte mich dies auf den Gedanken, daß Rom auch vielleicht für diesen Hochbegabten die Gefahr gehabt hätte, die es noch heutzutage für viele Künstler hat, nämlich, sich durch das Vorbild der Antike zu sehr beeinflussen und sich die spontane Natürlichkeit des Bildens rauben zu lassen, da doch die Antike in ihrer Eigentümlichkeit nie mehr von modernen Menschen erreicht werden kann, so wie niemand mehr eine Iliade, einen Prometheus oder eine Antigone wird schreiben können. Dessenungeachtet muß man ihn unter die größten Künstler moderner Zeiten stellen und muß ihn als Menschen dafür ehren, daß er sein großes, selbsterworbenes Vermögen dem kleinen Heimatsorte ließ, dessen Abgelegenheit kaum seinem irdischen Ruhme mehr dienen konnte, weshalb es also reinaus ein Akt der Liebe gegen den heimischen Fleck Erde war.

Ein anderer Ausflug führte mich von Crespano nach dem am Abhange eines Hügels gelegenen Städtchen Asolo, jetzt ein kleiner verarmter Provinzialort, einst der Sitz eines geistvollen literarischen Lebens, als Katharina Cornaro, nachdem sie Königin von Cypern gewesen, hier Hof hielt. Von dem Söller ihres Schlosses sah sie über die reiche venezianische Ebene hinweg, nach der stolzen Vaterstadt hinüber, der Königin der Meere, die damals noch in voller Machtfülle [349] prangte. Der Blick überschaut von hier fünf Provinzen mit ihren Hauptstädten, Vicenza, Padua, Venedig, Treviso, Belluno. Flüsse, wie die Brenta, die Piave und andere, eilen mit ihren Nebenflüssen, gleich blitzenden Silberstreifen, durch die Ebene der schönen Adria zu. Von Norden schauen die venezianischen Alpen mit ihren grünen Vorbergen herüber, und alles das prangt im Glanz der Sonne und der wunderbaren Farbentöne, die hier so manches Künstlerauge begeisterten. Aber neben diesem Glanz der Natur, der ewig bleibt, welch ein Bild des Verfalls irdischer Größe bietet dieser Ort! Die stolze Lagunenstadt ist machtlos und verarmt, die prachtvollen Paläste sind zum Teil verfallen; Katharina Cornaros Schloß in Asolo ist fast verschwunden; in dem kleinen noch erhaltenen Teil befindet sich die sogenannte Sala del consiglio, in dem jetzt ein erbärmliches Provinzialtheater aufgeschlagen ist. Der Impresario, die komische Figur, stand gerade davor, als ich in den Saal trat, und erwartete mit angstvollem Blick den Verkauf der Billette, um im voraus die Einnahme des Abends zu berechnen. Ich fragte meinen Führer, ob sich nicht ein beglaubigtes Bild der Königin vorfände. Er bejahte es und führte mich in ein Privathaus, wo eine junge, blonde Witwe, eine wahre Bella di Tiziano, mich sehr artig empfing und mir ein Zimmer aufschloß, in dem ein Bild die Katharina, etwas korpulent und nicht gerade schön, darstellt. Die blonde Bella versicherte, es sei nach dem Leben gemalt, von wem wußte sie nicht. Jedenfalls war sie aber schöner als die Königin, doch als ich sagte, wie schön ihr Städtchen sei, sagte sie mit dem Ausdruck tiefer Bitterkeit: »Die Lage – ja, aber hier leben zu müssen ist schrecklich.« Und wen sollte es auch nicht betrüben, solche Stätten zu sehen, wo einst die Kultur ihre schönsten Blüten trieb, und wo nun ein armseliges Leben sich kümmerlich fristet und nicht einmal mehr die Gaben der reichen Natur durch sorgfältige Pflege auszubeuten weiß.

Crespano wurde mir doch zu heiß zu längerem Aufenthalt, [350] und ich beschloß, in die Tiroler Alpen hinaufzugehen, in die Dolomitenwelt, von deren Wundern ich schon so viel gehört hatte. Im leichten kleinen Wagen, wie es dort noch üblich war, begab ich mich mit meiner treuen Jungfer auf die etwas ermüdende Reise, die aber reichlich durch das mannigfaltig Schöne, was sie zu sehen bot, für die Ermüdung entschädigte. Zunächst erfreute mich das alte Feltre, eine reizende kleine Stadt im Piavetal. Freilich ist sie jetzt verödet, die schönen Häuser im venezianischen Stil haben meist die Fenster mit Brettern vernagelt, die Fresken, mit denen sie bemalt waren, sind halb verwischt, und der ärmliche Betrieb des modernen Lebens paßt nicht zu der künstlerischen Vornehmheit der alten Stadt, die einst, durch großen Handel blühend, als der Sitz alter Geschlechter, berühmter Gelehrten und hoher Bildung ausgezeichnet war. Der Hauptplatz ist von monumentaler Schönheit. Es befinden sich da: das Theater, dessen Unterbau von Palladio, andere Gebäude, die alte, hoch gelegene Kirche S. Rocco, darunter ein prächtiger Brunnen, darüber die Felsen und Berge, die überall malerisch in die Bilder der Stadt hineinragen, eine Säule mit dem Löwen von S. Marco, der an die Zeit der venezianischen Herrschaft mahnt, und endlich zwei moderne Statuen, 1868 der Erinnerung an zwei ausgezeichnete Feltresen gewidmet und zwar nicht etwa tapfern Heerführern, deren es auch viele gehabt, sondern Männern des Friedens, die auf geistigem Gebiet, weit über ihre Zeit hinaus, ein mildes Licht verbreitet haben. Es waren dies Vittorino di Rambaldoni und Pamphilo Castaldi. In der malerischen Tracht ihrer Zeit stehen sich die beiden hier gegenüber, und das Postament des ersteren trägt die Inschrift:


Feltre hat in seinem Vittorino
Aus der Familie der Rambaldoni
Italien das Vorbild eines, der weise lehrt,
Und der Wiedergeburt der Kultur in der Welt
Einen Fürsten der Erzieher gegeben.
[351] Auf dem Postament des zweiten steht:
An Pamphilo Castaldi,
Den großmütigen Entdecker
der beweglichen Buchstaben,
den Tribut der Ehrfurcht,
den verspäteten,
bringt Italien dar.

Diese beiden waren es in der Tat wert, daß ihr Andenken aus den Nebeln der Vergangenheit hervorgezogen wurde. Vittorino war 1378 in Feltre geboren. Er stammte aus dem alten berühmten Geschlecht der Rambaldoni und zeigte von Kindheit an eine solche Liebe zu den Studien, daß man ihn nach Padua zur Universität schickte. Er studierte Griechisch, Latein, Philosophie, Theologie unter den berühmten Lehrern dort, aber seine größte Sehnsucht war, die Mathematik zu lernen, doch ihr Lehrer Pelacane gab seinen Unterricht nur um vieles Geld, und die geringen Mittel Vittorinos reichten dafür nicht hin. Seine wißbegierige Seele ließ sich aber dadurch nicht abschrecken, er verdingte sich als Diener bei dem auf sein Wissen eifersüchtigen Gelehrten und bemächtigte sich so vollkommen der Wissenschaft, daß sich sein Ruf trotz seiner Jugend bald verbreitete und einer seiner Lehrer ihm den eigenen Sohn zu unterrichten gab. Es gab kein Opfer, keine Mühe, die er scheute, um sein Wissen zu vermehren, das er nachher großmütig ohne Bezahlung seinen Schülern mitteilte. Sein Ziel war Religion, Tugend und Wissen harmonisch zu verschmelzen, weil nur so wahre Bildung zu erreichen sei. Sein Ruhm als Erzieher verbreitete sich bald so, daß Gianfrancesco Gonzaga, Herr von Mantua, sich an ihn wendete und ihn mit dem Anerbieten reichen Lohns bitten ließ, die Erziehung seiner Söhne zu übernehmen. Vittorino zweifelte, ob so viel Reichtum mit der Tugend verträglich sei, und ging selbst zu Gonzaga nach Mantua, um dessen Gesinnungen zu prüfen. Er sagte ihm, daß er bisher entschlossen gewesen sei, [352] den Reichtum und fürstliche Wohnungen, die er für Stätten des Ehrgeizes und verderblicher Gewohnheiten halte, zu fliehen. »Doch«, fuhr er fort, »da man mir von dir ein schönes Lob gesagt hat und daß du denkst wie ich, so komme ich auf deine Einladung und werde gerne bleiben, wenn du von mir nur Dinge verlangst, die deiner und meiner würdig sind, und wenn deine Tugend sich bewährt und deine Sitten lobenswert bleiben.« Der Fürst versprach freundlich alles, was Vittorino wünschte und erwähnte dann des reichen Lohnes, den er ihm zugedacht. Darauf sagte Vittorino: »Es scheint mir seltsam, über das noch zu verhandeln, was ich immer verachtet habe. Hätte ich solche Wünsche, so würde deine Freigebigkeit sie gewiß befriedigen. Aber du kannst mir doch nichts Kostbareres geben, als deine Söhne, noch kann ich etwas Wünschenswerteres erlangen, da ich gekommen bin, um die Tugend zu lehren, und nicht um Geld zu erhalten.«

Und dieser Bedürfnislosigkeit des Lebens und der edeln Einfachheit der Sitten blieb er treu, war aber dabei immer bereit, die Not anderer zu lindern und liebevoll Hilfe zu bringen mit Rat und Tat. Die Erziehungsanstalt, »Giocosa« benannt, die er bei Mantua gründete, erlangte bald solchen Ruf, daß nicht nur die Jugend aus ganz Italien, sondern auch aus Frankreich, Deutschland, ja Griechenland, herbeieilte, um hier in jeder edlen Wissenschaft, in ritterlicher Tugend und körperlicher Geschicklichkeit unterrichtet zu werden, vor allem aber durch das Beispiel des geliebten Lehrers sich zur Festigkeit des Charakters in Tugend und Sitte auszubilden. Aber nicht nur den Söhnen vornehmer Geschlechter wandte Vittorino die Wohltat solcher Erziehung zu; wo er bei armen jungen Leuten schöne Anlagen fand, nahm er sie auf, gab ihnen Unterricht, Kost und Kleidung umsonst und sorgte oft auch noch für die Familien, damit die Armut die jungen Leute nicht hindere, die Schule zu besuchen. Vittorino hätte Bände über Philosophie, über griechische und lateinische Literatur schreiben können, aber er[353] zog es vor, persönlich auf seine Schüler zu wirken und anstatt sich Reichtümer zu sammeln mit den freigebigen Spenden seiner reichen Schüler, gab er alles hin, um den Armen zu helfen und starb selbst völlig arm. Seine Ideen über Erziehung waren seiner Zeit weit vorausgeeilt und bleiben in nichts hinter den Ideen berühmter moderner Pädagogen, wie Pestalozzi und anderer, zurück. Grenzenlos war aber auch die verehrende Liebe seiner Schüler für ihn. Einer der edelsten unter ihnen, Federigo di Montefeltro, hatte das Bildnis Vittorinos in seinem Zimmer an hervorragender Stelle angebracht mit der Unterschrift: »Seinem heiligen Lehrer Vittorino von Feltre, der ihm durch Unterricht und Beispiel menschliche Würde lehrte, widmete dies Federigo.«

Erinnert die Gestalt dieses herrlichen Mannes nicht an eine andere, auch herrliche des damals an hervorragenden Menschen so reichen Italiens, an Francesco d'Assisi? Nur daß Vittorino noch höher steht, indem er seine Schüler befähigte, Tugend und höchste Bildung zu vereinen, mitten im Gewühl des Lebens menschliche Würde zu behaupten und kommende Generationen daran zu mahnen, daß die Größe eines Volkes nicht in seiner äußeren Macht und politischen Bedeutung, sondern in der Tugend und Bildung seiner Bürger bestehe.

Der ihm jetzt auf dem Hauptplatz Feltres in Marmor gegenüberstehende andere Feltrese, Pamphilo Castaldi, wurde gleichfalls aus einem alten edeln Geschlecht am Ende des 14. Jahrhunderts geboren. Seine Jugend fiel in die Zeit, wo die Vaterstadt reich war an ausgezeichneten Menschen und wo Vittorino die Liebe zur Tugend und Erkenntnis durch Wort und Beispiel lehrte. Es war eine Zeit, wo das Wissen Hand in Hand ging mit dem sittlichen Leben, und wo diese Vereinigung das hervorbrachte, was allein Bildung zu heißen verdient. Pamphilo gab sich besonders dem Studium der schönen Wissenschaften hin und eröffnete in der damals so blühenden Heimat eine ruhmvolle Schule der Literatur und Wissenschaft, wo er unentgeltlich Weisheit [354] lehrte und neben dem Studium der alten Sprachen, besonders auch zu dem der italienischen Muttersprache Anleitung gab, die, wie Minerva aus dem Haupte Jupiters, so beinahe plötzlich aus dem Genius Dantes entsprungen war. Er gehörte zu den ersten in Italien, die sich dieses Studium angelegen sein ließen, und gerade dies zog auch aus der Fremde eine Menge Schüler herbei, die die Sprache erlernen wollten. Unter den Deutschen, die deshalb kamen, soll Johannes Fust oder Faust gewesen sein, der in Handelsgeschäften nach Venedig gekommen und, vom Rufe des Castaldi gelockt, nach Feltre gegangen sei, wo er sich einige Zeit in dessen Hause aufgehalten und daselbst den Gebrauch beweglicher Buchstaben kennen gelernt habe, welche Erfindung Castaldis er nachher sich zugeschrieben habe.

Das interessante Feltre hat, wie alle Städte und Orte des Friuli, Veneto und Cadore, eine vielbewegte, kriegerische, zum Teil sehr blutige Geschichte. Sie alle mußten dafür büßen, daß sie sich dem Geschick der herrlichen Königin der Meere verbunden hatten. Nachdem sie alle, aus früheren Stürmen, unter das Banner der mächtigen Republik geflüchtet waren, die ihnen treu Versprechen hielt, Schutz gewährte und die lokale Unabhängigkeit nicht antastete, kam die unselige Liga von Cambrai, und die deutschen Heere eroberten, verwüsteten und brandschatzten die blühenden Städte, um ihrer Treue gegen Venedig willen. Feltre aber verdankte seinen schließlichen völligen Ruin, ein zweites Troja, auch einer Helena. Wolfgang Hiberner war als Befehlshaber der deutschen Truppen dort zurückgeblieben und überließ sich im Gefühl seiner Macht jeder Zügellosigkeit und Tyrannei; Helena, die Gattin eines vornehmen Feltresen, Del Lusa, eine durch edle Sitte und weibliche Reize ausgezeichnete Frau, erweckte seine Leidenschaft, er ließ sie entführen und in seinen Palast bringen. Die Feltresen dürsteten nach Rache, öffneten dem venezianischen Heerführer Mocenigo eins der Tore, die deutsche Besatzung wurde überfallen, Del [355] Lusa ließ dem Wolfgang die Augen ausstechen und den Soldaten, die bei der Entführung geholfen hatten, die rechte Hand abhauen. Der Kaiser Maximilian, sobald er dies hörte, schickte wutentbrannt den General Georg Lichtenstein mit einem Heer von 12000 Mann, um Feltre von Grund aus zu zerstören, welchen Befehl Lichtenstein mit unerhörter Grausamkeit vollführte, so daß die seit 600 Jahren blühende, reichgeschmückte Stadt nur noch ein rauchender, blutiger Trümmerhaufen war. Aufs neue entbrannten verzweifelte Kämpfe, und von seiten der Feltresen geschahen so denkwürdige Taten des Heldenmuts, der Vaterlandsliebe, der Opferfreudigkeit, daß sie wohl verdienten, einen Sänger zu finden, der ihnen, wie den Taten vor Troja, unsterblichen Ruhm verliehe.

Der Zug der cadorischen Alpen, die man auf dem Wege von Feltre nach Belluno beständig vor Augen hat, entzückte mich. Es ist gewiß einer der schönsten Gebirgszüge, die man sehen kann. Wild zerklüftete, kühn erhabene Formen, mit allem Farbenreiz des Südens geschmückt, so daß sie nicht finster drohend und vernichtend auf uns niederschauen wie die Alpen der Schweiz. Als die Abendsonne auf den Zacken und Spitzen der Dolomitenriesen spielte, sahen sie aus wie lauter goldene und silberne Götterburgen, wie eine hunderttorige Walhall, und in den Wolken, die phantastisch gefärbt um ihre Gipfel flogen, erschaute ich siegesfrohe Walküren, die auf schnellen Rossen dahergestürmt kamen, die Leichen erschlagener Helden hinführend zu frohem Aufleben, bei Wotans Göttermahl.

Als ich endlich in das engere Piavetal einfuhr, wo die Straße aufwärts zu steigen beginnt, strömte mir der Duft der Tannenwälder entgegen, die diese Gegend beinah zu einem Kurort machen, so wohltuend ist er. Auch war wohl vorzüglich deshalb die damals noch sehr junge Königin von Italien gerade zwei Tage vor mir hier eingezogen, um einige Wochen in einem der unteren Orte des Tales, wo der Geruch am stärksten ist, zuzubringen. Ich fuhr noch [356] unter all den Triumphbogen, mit Tannenzweigen und aus weißem Papier verfertigten Margheritenblumen geschmückt, dahin und wurde Zeuge der herzlichen Freude, die das brave Bergvolk über diesen ersten Besuch der allgemein geliebten Fürstin empfand. Als ich höher hinauf kam, wo beim Dorfe Tai die große strada alemanna, die nach Tirol führt, sich abzweigt, während rechts die Straße zu den Orten des Cadore führt, konnte ich mir sogar die Ehre der Triumphbogen zurechnen, denn die Königin sollte erst am Nachmittag des Tages hinaufkommen. Es rührte mich tief, den Schmuck an den hölzernen Häuschen der Bauern zu sehen, der meistenteils aus weißen Bettüchern, Bändern von buntem und Margheritenblumen von weißem Papier, das alles aus den Fenstern hing, bestand. Jedes arme Häuschen hatte sich herausgeputzt für das noch nie dagewesene Fest. Pieve endlich, wo die Königin heute empfangen werden sollte, prangte, ebenfalls geschmückt, im Glanze der Sonne, die die es umgeben den Dolomitenhäupter vergoldete; aus den Tannen-und Lärchenwäldern ringsum strömte stärkender Wohlgeruch durch die Lüfte. Der kleine Gasthof 2 war vollgestopft von Menschen, die das große Ereignis mit erleben wollten; auf dem Platz vor dem Stadthaus drängte sich die ländliche Bevölkerung der umliegenden Orte; die Musikbande Pieves hatte es zustande gebracht, unter der Leitung eines Musikers, den man eigens von Belluno hatte kommen lassen, die Nationalhymne ziemlich richtig zu blasen, und nun stand sie, den großen Augenblick erwartend; die Schulkinder marschierten auf unter Führung des Lehrers und der Lehrerin; die Glocken fingen an zu läuten und Böllerschüsse ertönten, um anzuzeigen, daß der königliche Wagen in Sicht sei. Die Musiker fingen an zu blasen, zwei Gendarmen zu Pferd kamen angesprengt, hinter ihnen der Vorreiter der Königin in feuerroter Livree, dann der vierspännige offene Wagen, und in ihm die anmutige, blonde [357] Frau mit ihrem noch jungen Sohn, mit Hofdame und Kavalier. Freudenrufe mischten sich mit Musik und Glockenläuten, der Syndikus und die Notabeln des Ortes in schwarzem Frack und weißer Krawatte begrüßten den hohen Gast, ein kleines Kind überreichte Blumen und wurde von der Landesmutter geküßt. Darauf eilte sie die Freitreppe vor dem Stadthaus hinauf, lächelte von oben dem jubelnden Landvolk zu und verschwand dann mit dem Gefolge im Innern des Hauses. Während sie dort verweilte, bliesen die Musiker und schrien die Bauern fortwährend Evviva. Aber alles das war nur Herzlichkeit und Naivität, kein konventionelles Empfangsfest, wie es sonst den Großen der Erde bereitet wird, wobei sie nie die wahre Gesinnung des Volks erfahren. Die guten Cadoriner sahen zum erstenmal ein gekröntes Haupt in ihrer Mitte, und sie begrüßten die holde, freundliche Frau wie ein liebes Familienmitglied. Während der fünf Wochen, in denen sie in Cadore verweilte, sprach das Landvolk von nichts anderem, und man hörte die komischesten Äußerungen in dem naiven Dialekt der Berge, der sie noch anmutiger machte. So sagte mir eine Bäuerin mit ernster Überzeugung: La è molto ben educà (sie ist sehr gut erzogen) è molto pullit (heißt in dem Dialekt: gut). Eine andere sagte: La mi par una sorela (sie scheint mir eine Schwester) und eine dritte erzählte: La ga raccomandà al puteto de studior, de deventa un uomo di sesto e la ga da un bacio. (Sie empfahl dem Knaben zu studieren, ein tüchtiger Mann zu werden, und gab ihm einen Kuß.) Man nannte sie auch la bela siora und versprach den Kindern, sie sollten sie sehen, wenn sie artig sein wollten. Von Berg zu Berg riefen die Knaben, die die Herden hüteten, sich den Namen Margherita zu; die Plätze, wo sie geweilt hatte, wurden nach ihr benannt, so hieß ein Kirschbaum, unter dem sie gefrühstückt hatte: el cereser dela nostra Margherita.

Aber nicht bloß beim Landvolk, auch in den andern Ständen war die Begeisterung für dies allgemein, und es war [358] sicher, daß, so wie die Cadoriner einst für die Republik Venedig in treuer Bundesgenossenschaft zu jedem Opfer und jeder Heldentat bereit gewesen waren – gälte es heute für Margarethe von Savoyen Blut und Leben einzusetzen, keiner zurückbleiben würde. Der sehr kleine Ort Pieve, der nicht der größte, wohl aber der Hauptort des Cadore ist, hat sein Zentrum auf der Piazza, wo alles Bedeutende des dortigen Lebens sich abspielt. Auf ihr steht neben dem Stadthaus ein alter fester Turm, dessen Glocke einst die Bürger zu patriotischen Beratungen zusammenrief. An seiner Basis ist ein Marmorrelief, das Calvi, den Cadoriner, darstellt, der an der Spitze der mutigen Bergbewohner im Jahre 1848 den Aufstand gegen die Österreicher befehligte, und als die Tapfern überwältigt waren, gefangen genommen und in Mantua, wie so viele andere edle italienische Patrioten, erschossen wurde. Inmitten des Platzes steht das moderne bronzene Standbild Tizians, der in Pieve geboren wurde. So bezeichnen diese zwei Monumente, des Patrioten und des Künstlers, die charakteristischen Züge des Cadoriner Volkscharakters; große Intelligenz und künstlerische Begabung, Patriotismus und Opfermut. Diese Eigenschaften machten von jeher die Bezeichnung »ein Mann von Cadore« zu einem Ehrentitel, und in einer langen sturmbewegten Geschichte haben die Cadoriner ihn bewährt.

Man streitet noch über die Abstammung der Urbevölkerung, unnützerweise, wie mir scheint, denn es ist offenbar, daß hier Klima und Boden sich ihre Bewohner gebildet haben, mögen sie hergekommen sein, woher sie wollen. Zwischen den herrlichen Dolomitriesen, die nicht beengen und erdrücken, deren sanfte Vorberge mit herrlichem Grün bekleidet sind, in den schönen Bergtälern, die friedliche Feldarbeit zulassen, unter einem Himmel, der immer noch südlichen Farbenreiz hat, da wurden diese Menschen frei, gut, genügsam, intelligent und stolz auf ihre Unabhängigkeit. Sie hatten von jeher schwer darum zu kämpfen. Schon die Römer zogen dieses Wegs, die Ausgrabungen einer Menge [359] Gräber, offenbar von Soldaten der Legionen, lassen darüber keinen Zweifel. Dann kam der Strom der Völkerwanderung hier herunter. Im elften Jahrhundert waren Grafen von Camino Herren in Cadore. Einer von ihnen, Gherardo, der ebenso groß als gut war, kommt bei Dante vor, der in seinem Exil auch in diese Gegenden kam. Ihre Herrschaft endete 1335, als die Cadoriner ihre erste Schlacht gegen die andringenden Deutschen fochten und ihre Bergpässe siegreich verteidigten. Dann kamen sie eine Zeitlang unter die Patriarchen von Aquileja, und zu der Zeit begegnet man schon dem Namen der Familie Vecellio, der bereits einen guten Klang in Cadore hatte. Im 15. Jahrhundert erlosch die Macht der Patriarchen, und es kam nun darauf an, wem man sich anschließen wolle, dem deutschen Kaiser, den Visconti von Mailand oder der Republik von Venedig. In Pieve, als dem Hauptort, versammelten sich die Gemeinden zur Beratung, kamen aber lange zu keinem Entschluß. Da rief endlich einer: »Wir sind Christen, laßt uns den um Rat anflehen, der die Quelle des Lichts ist, er wird uns zeigen, was wir tun sollen.« Das wurde angenommen, und man zog alsbald in Prozession nach dem Dorfe Valle, wo sich eine Kapelle zum heiligen Geist befindet. Da knieten alle im Gebete nieder, hörten die Messe und kehrten in die Beratungshalle nach Pieve zurück. Hier erhob sich ein Ruf: »Gehen wir zu den guten Venezianern.« Das auf der Piazza versammelte Volk rief mit Begeisterung: »Ja, ja, gehen wir zu den guten Venezianern.« Es wurden Abgesandte nach Venedig geschickt, und Cadore schwur der Republik Treue, die dagegen Schutz, allerlei Privilegien und eine Mannschaft zur Verteidigung in das feste Schloß von Pieve gab. Dies geschah im Jahre 1420, und so wurde Tizian also schon als Venezianer geboren.

Zur Zeit seiner Geburt war Cadore in großer Blüte, Kunst und Wissenschaft hatten ihren Sitz dort aufgeschlagen. Von 1300 an gab es in Pieve hohe Schulen für klassische Studien und Philosophie. Venedig brachte große Opfer, [360] um diese auszustatten, und berief die besten Lehrer aus allen Teilen Italiens dahin, damit die Cadoriner Jugend nicht so früh die Heimat zu verlassen brauche, sondern die Elemente der Bildung dort zwischen ihren Bergen fände. Schon zu jener Zeit finden sich die Namen bedeutender Familien, die dem Vaterland ausgezeichnete Männer in Wissenschaft und Kunst und heldenmütige Verteidiger gaben. Aber leider wurde das herrliche Land fortwährend durch Invasionen von Norden her beunruhigt, und Tizians Kindheit muß Eindrücke wilder aufregender Art gehabt haben. Der Anfang des 16. Jahrhunderts muß besonders traurig für Cadore gewesen sein. Im Jahre 1508 verlangte Kaiser Maximilian von der Republik Venedig den Durchzug nach Rom, wo er sich krönen lassen wollte. Venedig verweigerte diesen für eine bewaffnete Armee. Der Kaiser, wütend darüber, schickte ein Heer von Tirol hinunter mit dem Auftrag, Tod und Verwüstung zu bringen. Es kam zur Schlacht, und die tapferen Cadoriner erfochten einen vollständigen Sieg.

Dies war die Schlacht von Cadore, die Tizian das Motiv zu einem Schlachtenbild gab, das sich im Dogenpalast zu Venedig befand, ein Jahr nach Tizians Tod aber durch Feuer zerstört wurde, welches seltsam traurige Schicksal so viele von des großen Künstlers Werken gehabt haben. Leider erfreute sich Cadore nicht lange seines Sieges, denn nach der Liga von Cambrai gegen Venedig schnitt Maximilian Cadore von der Republik ab. Die Männer der Berge erhoben sich wieder heldenmütig, und ein wackerer Bürger, Costantini, gab sein ganzes Vermögen, um den Widerstand möglich zu machen. Aber der Kaiser schickte immer neue Truppen, und 1511 wurde ganz Cadore durch Feuer und Mord zerstört, die kleinen Orte wurden verwüstet, alles Wertvolle teils vernichtet, teils weggeschleppt, auch Pieve wurde schwer heimgesucht, und sein festes Schloß wurde niedergerissen. Als sie ihr Zerstörungswerk vollendet hatten, zogen sich die Deutschen zurück, und die armen Familien der Bergbewohner [361] kamen aus ihren unzugänglichen Zufluchtsstätten in den Wäldern, zwischen den höchsten Felsen, zurück zu ihren in Schutt und Asche liegenden Wohnstätten. Die mutigen Bürger von Pieve machten sich alsbald an den Wiederaufbau des Schlosses, und als endlich 1516 Friede geschlossen wurde, erstand Pieve rasch wieder, und 1518 wurde das Stadthaus mit dem mächtigen Glockenturm vollendet.

Während dieser ganzen Zeit wird der Familie Vecellio immer ehrenvoll gedacht. Der ältere Bruder Tizians, Francesco, soll ebenfalls großes Talent besessen haben, machte aber zunächst tapfer die Kriege Venedigs gegen die Liga mit, malte dann eine Zeitlang, kam aber nach Pieve zurück, übernahm die Geschäfte der Familie, war der Erste im Rat von Cadore, ging oft in Regierungsgeschäften nach Venedig und starb, 85 Jahre alt, in Pieve. Der Bruder hat seinen edlen, alten Kopf auf einem Familienbild in der Kirche zu Pieve verewigt. Eine ganze Reihe von Künstlern ging aus der Familie hervor, der bedeutendste Mann aber war, außer Tizian selbst, ein Vetter, der nicht Künstler, sondern Rechtsgelehrter und ein hochangesehener Mann in Cadore war, sich auch im Kriege auszeichnete, wonach ihn der Doge adeln wollte, was er aber als demokratischer Cadoriner ablehnte und sich viel lieber »den Redner« nennen ließ, wie man ihn seiner glänzenden Rednergabe wegen nannte. Dazu war er auch Dichter, und es existieren unter anderen Sachen drei Epigramme von ihm auf den Tod der schönen Irene Spielemberg, die Tizian gemalt hat. Cadores größter Sohn, Tizian selbst, 1477 geboren, wurde schon in seinem elften Jahr nach Venedig gebracht, um seine früh hervorgetretene Begabung zur Kunst auszubilden. Als er groß, berühmt und ein Fürst der Kunst geworden war, lebte er in Venedig in der sogenannten casa grande, einem Hause der Insel Murano gegenüber, mit der Aussicht auf die Lagunen und in der Ferne auf seine cadorischen Berge und in der Mitte eines Gartens gelegen, den er mit Liebe schmückte und unterhielt. Hier gebar ihm sein Weib Cäcilia [362] zwei Söhne, Pomponio und Orazio, und eine Tochter Lavinia. Im Jahre 1530 starb seine Frau, und er ging in großem Schmerz mit seinen Waisen hinauf in die Heimat zu den Seinen. Noch lebten sein Vater, sein Bruder Francesco und die Schwester Orsola.

Diese, als sie des Bruders Schmerz sah, erbot sich, mit ihm zu gehen und die Sorge für das Haus und die Kinder zu übernehmen. Sie war ein vorzügliches Wesen, und es gereichte dem Bruder zu großem Trost. Es war keine kleine Aufgabe, seinem Haushalt vorzustehen, denn außer den häuslichen Angelegenheiten der Familie war es auch das gesellige Leben der casa grande, das die größten Anforderungen machte. Freunde, Gäste und Besucher aus allen Ständen kamen von nah und fern, den großen Meister zu sehen und wurden mit edelster Gastfreundschaft bewirtet. Der Brief eines römischen Literaten gibt einen Begriff von den Vereinigungen, wie sie dort üblich waren:

»Ich wurde am 1. August eingeladen, die Art von bacchantischem Fest, das, ich weiß nicht warum, ferrare Agosto genannt wird, in einem herrlichen Garten des Meisters Tizian Vecellio mitzufeiern, eines vortrefflichen Malers, wie jedermann weiß, und eines Mannes, dessen freundliche Höflichkeit wohl dazu dient, jedes Vergnügen zu erhöhen. Nun fanden sich bei dem besagten Meister Tizian, weil Gleiches mit Gleichem sich anzieht, einige der seltensten Geister vereint, die sich in dieser Stadt, gleichwie in unserem Rom, befinden. Da war Herr Pietro Aretino, der schreibt wie ein neues Wunder der Natur, ferner Meister Jacopo Tatti, genannt Sansovino, ein beinah ebenso großer Nachahmer der Natur mit dem Meißel, wie der Festgeber mit dem Pinsel. Auch Herr Jacopo Nardi war da, und ich als der Vierte zwischen so viel Weisheit.

Ehe man die Tische hinaussetzte, womit man etwas zögerte, da man im Garten, obwohl es schon schattig war, doch die Sonnenwärme noch fühlte, verging die Zeit mit Besichtigung der lebensähnlichen Gestalten auf den herrlichen [363] Bildern, von denen das Haus voll ist, und in Bewunderung der großen Schönheit des Gartens, der eine Freude und ein Wunder für jedermann ist. Er liegt am äußersten Ende der Stadt Venedig, am Meer, und man sieht von da die hübsche Insel Murano und andere schöne Orte. Sobald die Sonne untergegangen war, füllte sich das Wasser in der Nähe des Gartens mit Tausenden von Gondeln, in denen schöne Frauen saßen; Harmonien ertönten, Musik durch Stimmen und Instrumente, die bis Mitternacht unser köstliches Abendessen begleiteten. Der Garten ist so schön, so gut unterhalten, so berühmt, daß er mir die lieblichen Gärten von St. Agatha in Erinnerung brachte und mir solche Sehnsucht danach und nach den teuren Freunden erregte, daß ich die längste Zeit des Abends nicht wußte, ob ich in Rom oder Venedig sei. Das Abendessen war ebenso gut und schön angeordnet, wie reichlich. Neben den trefflichen Speisen und kostbaren Weinen genossen wir noch alle die Freuden und Erheiterungen, die zu der Jahreszeit, zu den Gästen und dem Feste paßten. Als wir bei Tisch bis zu den Früchten gekommen waren, kam gerade dein Brief, in dem man die lateinische Sprache lobte und die toskanische tadelte. Darüber wurde Aretino so ärgerlich, daß, hätte man ihn nicht zurückgehalten, er eine der schlimmsten Schmähschriften verfaßt haben würde, denn er schrie wütend nach Papier und Tinte und unterließ nicht, einen Teil seiner Entrüstung in Worten zu äußern. Doch endete schließlich das Abendessen sehr gut.«

Die außerordentlichen Erfolge dieses Malerfürsten, der Glanz, der die casa grande umgab, in der Könige, Fürsten, Kardinäle und andere huldigend einkehrten und fürstlich bewirtet wurden, die Ehren aller Art, die man dem Genius und der edlen Persönlichkeit zuteil werden ließ, riefen natürlich Neid und Verleumdung hervor, die die Rache niedriger Seelen an dem Hohen sind. Auf alle Weise bemühte man sich, die Gestalt des großen Cadoriners zu verumglimpfen. Vor allem wollte man aus seiner Beziehung zu Aretino den Beweis seiner Immoralität herleiten, aber auch dies spricht nicht [364] gegen denn es lag in den Sitten der Zeit, geistreichen Menschen viel nachzusehen; dem Aretino wurde von allen Seiten gehuldigt und die höchsten Personen der Zeit suchten seinen Umgang. Dagegen hatte aber auch Tizian andere ausgezeichnete und ihm innig ergebene Männer zu Freunden, wie Sansovino, Ariosto, Bernado Tasso, Bembo und andere. Ariosto las ihm seinen Orlando furioso vor, um sein Urteil zu hören. Lorenzo Lotto, Paolo Veronese, Giulio Romano waren ihm teuer. Mit Michelangelo, den er in Rom kennen lernte, stand er in Briefwechsel. Dem Kaiser Karl V. war er nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch so wert, daß er ihn zweimal zu sich nach Deutschland rief und ihm die größten Ehren erwies. In Bologna ließ er ihn an seiner Seite reiten, und als ihm die spöttischen Bemerkungen der vornehmen Höflinge darüber zu lästig wurden, erhob er ihn in den Grafenstand des heiligen römischen Reichs.

Nein, sicher war Tizian frei von den häßlichen Lastern, die man ihm andichten wollte. Eine hohe Intelligenz, eine sanfte, großmütige Seele, eine liebenswürdige Natur mit feinen Sitten, ein Begnadeter im Reiche der Kunst, so war der Cadoriner, der noch jetzt in seiner herrlichen Heimat vergöttert wird, wo es kein kleines Bauernkind gibt, das nicht von Tizian zu erzählen wüßte. Und er liebte sie auch, diese Heimat. Fast jedes Jahr zog er mit vielem Gefolge hinauf in seine Berge, um sich an der geheimnisvollen Quelle künstlerischer Eingebungen zu erquicken, an der seine kindliche Seele schon getrunken hatte. In Zeiten der Not kam er Cadore oft zu Hilfe und gab Geld, um Korn zu kaufen. Zwei eigenhändige Briefe von ihm, die als kostbares Besitztum dort aufbewahrt werden und mir vom Syndikus gütig mitgeteilt wurden, geben davon Zeugnis.

In seinen Familienverhältnissen war er nicht so glücklich, wie als Künstler. Seine Frau, die er unendlich geliebt zu haben scheint, starb früh, die treffliche Schwester Orsola starb lange vor ihm, ebenso der Bruder Francesco. Der größte Schmerz für ihn aber war der frühe Tod seiner [365] schönen Tochter Lavinia, die er über alles liebte. Auch sein Lieblingssohn Orazio starb lange vor dem Vater; nur der älteste Sohn, Pomponius, überlebte ihn, aber er war des Vaters unwürdig, führte ein zügelloses Leben, und Tizian lehnte die Bischofswürde, die der Papst dem Pomponius, der Geistlicher war, erteilen wollte, für ihn als deren unwert ab. Auch die nächsten Freunde Tizians starben vor ihm, er überlebte sie alle und war mit dreiundneunzig Jahren noch an der Arbeit. Aber die Pest von 1576, die in Venedig wütete, verlangte auch dieses große Opfer. Er hatte sich nicht früh genug nach Cadore geflüchtet und starb allein, sogar von den Dienern, die sich vor der Ansteckung fürchteten, verlassen. Ein solches Ende nach einem so glorreichen Leben war allerdings traurig, aber vielleicht haben den Sterbenden doch Visionen seiner Unsterblichkeit getröstet. Denn abgesehen von seinen Idealbildern und seinen unübertrefflichen Porträts, durch die er geradezu die Geschichte eines Jahrhunderts auf der Leinwand erzählt, ist er auch als Landschaftsmaler unsterblich. Man hat ihn den Homer der Landschaft genannt, und er hat wirklich in seinen Landschaften das Naturepos seines Cadore geschrieben. Sein Antelao, sein Marmarolo, sein Pelmo und wie die Dolomitriesen alle heißen, sie sind seine epischen Helden, die mit phantastischen Wolkengebilden gigantische Kämpfe bestehen, oder in heiterer olympischer Ruhe die goldfunkelnden Häupter in den reinen blauen Äther erheben. Nur wenn man die wunderbaren Farben-Luftspiele in jenen Bergen gesehen hat, kann man Tizians Landschaften recht würdigen, wie man ihn überhaupt erst recht liebt, wenn man seine Heimat kennt!

Die Cadoriner sind arm, ihre Hauptnahrung besteht in Polenta, ihr Getränk ist Wasser. Sie haben nur drei Monate, um neun zu versorgen; ihr einziger Reichtum besteht im Holzhandel. Aber sie sind genügsam, gut und intelligent, eifrige Patrioten des engeren und weiteren Vaterlands und voll Eifer für die materielle und geistige Wiedergeburt ihrer Heimat. Noch ist bis jetzt der große Strom der modernen [366] Völkerwanderung nicht nach Pieve gekommen. Möge er ihm noch lange fern bleiben! Er führt so viele Übel mit sich, wie man es in der Schweiz z.B. sieht, daß man förmlich aufatmet in der heiligen Frische der Cadorer Wälder und Höhen, wo man sich den Eindrücken der poesieerfüllten Natur noch hingeben kann, ohne von Haufen von Touristen umschwärmt zu sein; wo keine durch die »Inglesi« frech gemachten Bettlerscharen das Mitleid im Herzen verstummen machen; wo, wenn einmal ein Kindchen schüchtern die Hand nach einer Gabe ausstreckt, es sie sogleich fast erschrocken zurückzieht, als habe es eine Sünde begangen; wo jeder bereit ist, eine Freundlichkeit zu erweisen und es beinah als eine Beleidigung ansieht, wenn man ein Trinkgeld dafür geben will. Nein, mein Cadore, laß diesen Strom des modernen Lebens an dir vorüberrauschen! Er ist ein zersetzendes Element, vor dem du dich hüten mußt. Bleibe bei deiner Einfachheit, deiner Reinheit der Sitten und entwickle nur so weit die materiellen Bedingungen des Lebens, um deinen begabten Kindern die Wohltat edler und besonders künstlerischer Bildung zu gewähren. Wer weiß, ob dann nicht wieder manche deiner Hütten Geburtsstätten solcher Großen werden, wie das kleine Haus, in dem Tizian geboren wurde, und ob die Poesie nicht wieder ihre Flügel regt wie einst, wo von Berg zu Berg die Holz fällenden Bauern oder die Hirten sich mit Strophen aus Tassos »befreitem Jerusalem« grüßten, für die sie eigentümlich schöne Melodien erfunden hatten. 3

Oft auf meinen einsamen Spaziergängen überfiel mich die alte Neigung zur gebundenen Rede, und es schrieb sich dann ins Tagebuch, das ich immer mit mir führte, so manches Lied, wie einmal, da mich ein Gewitter überfiel, als ich auf hochgelegener Straße daherkam, neben mir den Abgrund, in dem die Piave rauschte:


[367]
Berggeister grollen, finstre Wolken hangen
Tief in den Abgrund, wo der Bergstrom braust,
Und weiße Nebel züngeln sich gleich Schlangen
Hinauf zum Aar, der über Wolken haust.
Der Donner grollt, und tausendfältig hallen
Die Echo ihm aus dunklen Klüften nach;
Durch das Gewog des luft'gen Chaos fallen
Blutrote Blitze, schaurig, Schlag auf Schlag.
Ich kenne euch, ihr starken Urgewalten,
Nicht schreckt ihr mehr die stille Seele hier,
Ihr braucht es mir nicht fürder vorzuhalten:
»Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir.«
Ihr seid ja nicht des Zufalls blinde Söhne,
Euch bindet auch ein ewig strenges Muß,
Und das Gesetz beherrscht euch, wie das Schöne
Und wie die Liebe und wie den Genuß.
Seid ihr es doch, durch die am heit'ren Morgen
Auf grüner Flur die Alpenblume blüht,
Und in der Bäume Schattendach geborgen
Die Herde still zum Kräutermahle zieht.
Ihr seid's, durch die, in reichgeschmückten Auen
Gewalt'ge Ströme hin zum Meere gehn,
Durch die sich königliche Städte bauen
Und Wunderwerke hoher Kunst entstehn.
Und wieder ihr, durch die in Liebeswonnen
Der Jüngling sich zu seinem Mädchen neigt;
Ihr, immer ihr, wenn an der Weisheit Bronnen
Der Labetrank dem durst'gen Geist sich reicht.
Ich sollt euch fürchten, sollte euch nicht kennen?
Ich glich euch nicht, wär nicht mit euch verwandt?
Ich sollte euch nicht liebend Brüder nennen,
Erscheint ihr auch in drohendem Gewand?
[368]
Durch euch hab ich gelebt, geliebt, gerungen,
Ihr führtet mich durch dunkler Nächte Pein,
Zum Seelenfrieden und von euch umschlungen
Schlaf ich dereinst zur großen Ruhe ein.

* * *


Und noch eines von diesen Cadoriner Alpenkindern möge hier stehen. Es kam mir, als ich an einem ganz toll sprudelnden und springenden Alpenbächlein, das von steiler Höhe sich den Weg in die grünen Talgründe bahnte, vorüber kam. Ich grüßte es so:


Du eilst zu Tal, du munt'res Alpensöhnlein,
Leichtfüßig springst du über Stock und Stein
In sorglos heiterm Übermute scherzend.
Denn dir erneuert sich die Jugend ewig
Aus frischen Quellen schneebedeckter Höhn.
Mir schwand sie längst, die holdeste der Gaben,
Die uns Natur verleiht und wieder nimmt,
Und einsam wandle ich die steilen Pfade
Des Alters fort bis zu der letzten Höh.
Und doch beglückt vor dir! denn in dem Herzen,
Da fließen ewig jung der Liebe Quellen,
Des heil'gen Mitleids reine Harmonien,
Und durch die Seele ziehen Geisterscharen
Erhabener Gedanken; sel'ge Chöre
In Hymnen kündend einen neuen Tag – – –
Nicht neid ich dir der ew'gen Jugend Fülle
Du froher Alpbach eile scherzend fort.

* * *


Bei dem Blick aus meinem Fenster in Rom auf die kunstvollen erhabenen Gegenstände draußen fühle ich es immer, welch eine Wohltat es ist, nicht in banaler Umgebung zu sein, sondern das Schöne, Würdige immer vor sich zu haben. Es ergibt sich daraus eine immerwährende edle Stimmung, in der sich die Ereignisse des täglichen Lebens wie in einem verklärenden Spiegel ausnehmen, in dem das Rauhe, Häßliche, [369] Beleidigende sich mildert. Das hatten die Alten vor uns voraus, daß sie ihr öffentliches Leben so reich mit schönen und würdigen Dingen schmückten, wodurch ein großer Teil der Brutalität, die unser modernes Leben durchzieht, ihnen fern bleiben mußte.


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Heute in der Farnesina vor Raffaels Galathea fiel mir ein, daß Goethe sicher bei seiner Galathea im 2. Teil des Faust an Raffaels Fresko gedacht hat. Raffael war ein Dichter in Farben wie Goethe in Worten. Denn was heißt Dichter sein? Die der Erscheinung innewohnende Idee, das Ewige im Vergänglichen durch Form oder Wort aussprechen, und wir herrlich hat das Raffael getan!


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Unbewußt enthält der Mythos immer den philosophischen Gedanken. Uranos und Gäa sind recht eigentlich das Ding an sich, die Urkraft, die in sich das Doppelprinzip des Seins (Uranos) und Werdens (Gäa) enthält. Uranos wird zerstört durch den aus dem Schoße des Werdens geborenen Sohn, Saturn (Zeit), der Begriff der Zeit zerstört die Einheit des Urdaseins. Rhea (die Erde, also der Raum) bildet mit ihm das Paar, das aus der Zerstücklung des Urdaseins hervorgeht. Saturn verschlingt die eigenen Kinder, die entfliehenden Bruchstücke der Zeit. Rhea schafft das nebeneinander Platznehmende, das Gestaltete: Jupiter der Mensch, der Zeit und Raum auflöst, indem er sie beherrscht und unter seiner Einsicht vereinigt.


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Minghetti, in seinem Buch über Raffael, sagt vom heiligen Hieronymus, »daß er sich verzehrt in Hingebung, und Trost und Leben nur aus dem gnadenreichen Blick ihrer (der Madonna) Schöne nimmt«. Wie tief seelisch ist dies sich Auflösen in andächtiger, inbrünstiger Liebe zur fleckenlosen Schönheit des Weiblichen, der Poesie! Und dann wieder der heilige Franziskus, welch ein Held des Lebens! Ja diese Heiligen waren etwas, vor dem sich die Seele in Demut[370] beugt. Wie wenig dem Ähnliches hat unsere moderne Welt aufzuweisen.


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Herzliches Wohlwollen hilft auch über Meinungsverschiedenheiten hinweg.

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Da das Entsagen zuletzt zu einer wahren Gymnastik der Seele wird, so vollziehen sich dessen Momente zuletzt wie innere Vorgänge, denen man fast als Zuschauer beiwohnt und bei denen man nur noch leise das Zucken des Willens fühlt, der gebändigt durch Vernunft und Liebe sich diesen als zahmer Leu zu Füßen legt, etwa wie in der Goetheschen Novelle der Löwe, besänftigt durch zarten Sinn und Melodie.


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Einfälle kommen meist durch Anschauungen; zuerst sind sie nur mehr plötzliche Empfindungen, noch nicht Denken, nur Nebelflecken, die sich zu Sonnen ballen.


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Der Dichter ist verpflichtet, seine Gestalten künstlerisch abzurunden, sie als ein Gewordnes hinzustellen. Unsere Zeit aber ist so vorzugsweise eine Werdende, alles Leben eilt so ungeduldig neuen Entwicklungen entgegen, daß man die Gestalten unserer Tage kaum für ein Kunstwerk brauchen kann.


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Man las abends in einem kleinen Kreis bei mir die erst kürzlich erschienene Nora von Ibsen, die in der damals sehr zahlreichen skandinavischen Gesellschaft in Rom eine große Aufregung hervorgebracht hatte und der Gegenstand lebhafter Diskussionen war. Eine der Damen bei mir machte heftige Opposition und meinte, Nora hätte ihrem Mann alles früher sagen müssen. Ja, dann wär sie aber gerade nicht die Natur, die Idealistin, die ungewöhnlich handelt und sowohl aus Liebe das Gesetzwidrige tut, als auch sich dann losreißt von Glück, Stellung, Mann und Kind, sobald sie begreift, daß es eine höhere Sittlichkeit gibt, als zu bleiben. [371] Bliebe sie, nachdem sie ihren Mann verstanden, so wäre sie der Prostituierten eine, die in legaler Ehe leben.


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Die feine Psychologie in Nora ist: zum Verschweigen des begangenen Unrechts und dadurch zur Täuschung kommen aus Liebe und Zartgefühl.


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Ibsen, den ich den Vorzug hatte kennen zu lernen, erzählte mir von einem dänischen Schriftsteller, der gesagt habe, durch die Sünde sei die Kunst in die Welt gekommen. – Gewiß, wenn das Leben ohne Sünde wär, so wäre die Kunst nicht gekommen, denn das Leben wäre selbst das Kunstwerk und bedürfte der Erlösung durch die Kunst nicht.


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Es war im Anfang der achtziger Jahre, daß sich hier ein Kunstzentrum bildete, das an die Zeiten der Kunstblüte der Renaissance erinnerte. Franz von Lenbach, der echte Schüler der großen Meister, der Tizian, Velasquez und anderer, kam, sich in Rom niederzulassen, und zwar in den herrlichen Räumen des Palazzo Borghese, die er künstlerisch schmückte mit hohen Kunstwerken alter Zeit, sein Besitztum, und den eigenen herrlichen Schöpfungen, die in Fülle durch seine Meisterhand entstanden. Es dauerte nicht lange, so wurde es Mode, wie es zu gehen pflegt, nachmittags in den von ihm angesetzten Stunden diese einzige Kunststätte zu besuchen, und man sah bald die ganze vornehme römische Welt sich hier bewegen und die schönen Frauen nach der Ehre geizen, von diesem verklärenden Pinsel auf die Leinwand gezaubert zu werden. Mich verband schon seit längerer Zeit herzliche Freundschaft mit dem großen Künstler und dem trefflichen Mann, und ich zog es bei weitem vor, in den Stunden hinzugehen, wo er bei der Arbeit war und man zusehen durfte, wie unter seinen Händen plötzlich sprechendes Leben auf dem toten Material entstand, und wo so manches bedeutende Wort die reiche Ursprünglichkeit seines Geistes bekundete, denn er verschmähte es nicht, beim Schaffen [372] auch ein Gespräch zu führen. So sagte er mir einmal: »Die alten Meister sahen das Unendliche, die modernen sehen das Endliche.« Ein anderes Mal, als er mir einiges Technische erklärt hatte, bemerkte er: »Der echte Künstler muß beim Schaffen im siebenten Himmel sein, er muß aber auch die Kunstsprache lernen, so wie die Alten malten mit Farben, die gleichsam das Materielle verklären.« – Und wieder ein drittes Mal, als er von den großen Meistern der Vergangenheit redete, fügte er hinzu: »Die großen Meister sahen alles wie aus einer gewissen Ferne, sie sahen die ideale Einheit des Gegenstandes; die modernen Maler sehen alles nahe im realistischen Detail.«

Da es mir vergönnt war, seinem Schaffen öfter zu zusehen, so erkannte ich, wie sehr er sich von diesem Geist des Schaffens der alten Meister durchdrungen hat; er malt so, wie Tizian die Typen seiner Zeit malte, in so großem Stil, daß er sie zu historischer Bedeutung erhebt, und man könnte Lenbach den Historiker des 19. Jahrhunderts in Farben nennen.

Leider war es mehr die Teilnahme der Neugierde und der Mode, die er hier fand, als die künstlerischen Verständnisses, und so gab er die Idee, sich hier bleibend niederzulassen, auf und kehrte nach wenigen Jahren in das Vaterland zurück. Ich verlor dadurch nicht nur einen geschätzten Freund, sondern auch ein Kunstheim, wie es sympathischer nicht gedacht werden konnte und wie kein ähnlich bedeutendes in Rom existiert. Aber alles wahrhaft Große und Bedeutende hinterläßt geistige Spuren, die nicht verloren gehen, und so war auch mein Sinn und mein Denken von neuem innigst der bildenden Kunst zugewandt, die hier in Rom allerdings bei weitem den Vorrang vor der Musik hat, denn was die alte italienische Musik Hohes und Herrliches bot, besonders in der alten Kirchenmusik, hat man fast ganz verlassen und moderne Banalität an die Stelle gesetzt; die herrlichen Werke der alten Meister aber leben glücklicherweise noch, und wenn die Gemälde Raffaels und Michelangelos auch schon durch [373] die Zeit gelitten haben, so sind sie doch immer noch so, daß sie reinen Genuß bereiten. So waren denn auch meine Gedanken lange Zeit mehr in dieser Richtung tätig.


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Es war nicht die Religion, die die großen Künstler der Vergangenheit inspirierte, sondern die Kunst war ihnen Religion, sie war ihnen das zu realisierende Ideal, das in Form, Linie, Farbe den höchsten Ausdruck zugleich des Materiellen und Ideellen geben mußte. Das unterscheidet sie von den modernen Künstlern, daß sie das Reale aus seiner Vereinzelung zum Ausdruck eines Universellen, Ewigen erhoben, daher Typen und einen Stil schufen. Es fiel mir gerade ein auf der Profilfigur auf der Verlobung der heiligen Cäcilie von Francia in der Kapelle dieser Heiligen in Bologna. Sie ist durchaus individuell und dennoch ein Typus dessen, was eine edle Gestalt in edler Gewandung sein soll.


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Ich antwortete einem Freund, der meinte, daß die hohe Kunst voll zartester Empfindungen und erhabener Gedanken nur für auserwählte Seelen sei: Ja, so ist es, aber in der Menge gibt es vielleicht viel mehr auserwählte Seelen, als wir denken. Ist der Christus mit den Jüngern in Emmaus von Rembrandt (von dem Bild war die Rede gewesen) nicht auch nur von den auserwählten Seelen verstanden? Sieht der Aufwärter, der ihn bedient, nicht auch bloß das irdische Geschäft und nicht die Gottheit, die von ihm ausstrahlt? Alle Kunst in ihrer höchsten Auffassung ist nur für die auserwählten Seelen. Christus hat es gewußt; er hat zum Volk, das noch in seiner Jungfräulichkeit unberührt von der Fäulnis der Zivilisation war, wie ein großer Künstler geredet, und die auserwählten Seelen in ihm haben ihn verstanden. Der Rest, die Schattenwesen, verstehen ihn nie.


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Die meisten Menschen verlangen von einem Kunstwerk nur, daß es angenehm auf die Sinne wirke. Mir scheint es aber, daß das wahre, große Kunstwerk vor allem ethisch [374] wirken, uns über uns selbst hinausheben und idealisieren muß, wie wir es einst von der Religion verlangten. Das Wesen des Genius ist es, in die ästhetische Form den ethischen Inhalt zu gießen, natürlich unbewußt, er kann nicht anders, er muß es.


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Die Zeichnung ist wie der Grundton, das Kolorit wie das Musikalische, die Melodie im Bild. Man muß auch in der Malerei lesen lernen, die Gedanken des Künstlers.


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Von Venedig kommend, verbrachte ich mehrere Stunden in Castelfranco vor dem herrlichen Bild des Giorgione. Es war nicht kindliche Andacht, was ich empfand, wie vor dem rührenden Bild des Previtali in Serravalle, es war das hohe Glück, Vollendung zu sehen. Alles ist da Harmonie, die Landschaft, die göttliche Frau mit dem Kind, sogar die Falten ihres Gewandes, die ruhig fließen wie Tonwellen, der herrliche gewaffnete Jüngling, selbst die Teppiche auf dem Boden – alles atmet Vollendung und in ihr erhabene Ruhe, wie bei den Göttergestalten des Phidias. Giorgione, frei von aller Tradition, lebt im reinen Äther der Schönheit. Wohl hatte Tizian Grund, den Rivalen zu fürchten.


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Eine Definition des Kunstwerks ist wohl: soll es vollkommen sein, muß es uns überzeugen, muß die Kritik verstummen machen, sich uns als notwendig, so wie es ist, aufdrängen.


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Michelangelo machte der religiösen Tradition in der Kunst ein Ende, wie Sokrates dem Götterglauben, der erste durch die erhabene Realistik seiner Gestalten, der zweite durch die Philosophie.


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Der Eintritt der Landschaft in die Malerei findet schon am Anfang des 15. Jahrhunderts statt. Bei Giotto ist noch keine Spur davon, bei Benozzo Gozzoli, bei Botticelli ist sie [375] bereits da. Costa von Ferrara, der in Bologna malte, hat schon die schönsten Landschaften, die Gegenden am Flusse Reno bei Bologna gemalt. Bei den Carracci wird die Landschaft ein selbständiger Zweig der Kunst und die Figur eine Zutat, statt daß es früher umgekehrt war. Man könnte sagen, die Landschaft trat ein, wie um die Stimmung anzugeben, auf der sich das Leben und die Aktion der Figuren abhebt. Es tritt mit ihr die Bewegung des Seelenlebens, die Handlung ein, während früher der Goldgrund nur das einseitige Versenktsein in das religiöse Nirwana andeutete.


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Der Typus ist das erste in der Kunst, nachher kommt die Grazie, erst Mantegna, Bellini usw., dann Pinturicchio, Botticelli und die anderen. Der Vorteil der schönen südlichen Rassen ist, daß schon ihr Typus etwas sagt, oft freilich mehr, als dahinter ist. Die nordischen Typen müssen das Ideale durch den Seelenausdruck hervorbringen, während jene es schon durch die Form haben. Man sehe die altdeutschen Madonnen, die Holbein, die Dürer usw.


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Die Aufgabe der bildenden Kunst ist die Poesie der Situation. Daher kann auch bloßes Kolorit ohne eine prägnante Idee schon poetisch sein. Das Leben eines Volks in Situationen malen, das wäre das Seitenstück zum Epos, das es in Taten erzählt. Unsere moderne Gesellschaft hat zu beiden zu viel Reflexion, sie malt Philosophie.


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Da ich nun zehn Jahre lang jeden Sommer meist über Deutschland, wo ich meine Schwestern auf einige Wochen besuchte, nach Versailles ging, um in Olgas Familie die schöne Jahreszeit zuzubringen, so besuchte ich auch natürlich wieder oft den Louvre und erfreute mich an den wundervollen Schätzen dieser herrlichen Sammlung, deren edelste Blüten freilich auf fremdem Boden gewachsen sind. So stand ich neulich entzückt vor dem Konzert des Giorgione [376] in dem Salon carré. Welche unaussprechliche Jugendlichkeit und Anmut in diesen Gestalten, welche Freude am Dasein in unschuldiger Natürlichkeit, in reiner Lust an der Schönheit und Harmonie, die die Männer erfüllt, die dem Instrument süße Weisen entlocken und die unschuldvolle Grazie der weiblichen Gestalten wie mit einem Schleier von Reinheit überzieht. Und dabei: wie gemalt! Welche edle Modellierung und welche Harmonie der Farben auch in der Landschaft, die nicht wenig zu dem Eindruck der Reinheit beiträgt, den das Bild macht. Es schwebt über dem Ganzen wie ein Hauch der Antike, die beglückende Empfindung der seligen Schönheit der Natur. Es ist nicht mehr so bei dem Correggio, der dem Bild des Giorgione gegenüber hängt. Hier haben die Zeichnung in der Verkürzung, die Modellierung und die Farbe das Höchste erreicht, was darin zu erreichen ist. Der Kopf der schlafenden Nymphe ist so meisterhaft gemalt, daß man das ruhige Atmen, das aus den schwellenden Lippen hervorschwebt, zu hören meint. Alles ist schön an ihr, und doch hat man trotz dieser Vollendung nicht die reine Freude daran, wie an dem Giorgione, denn man fühlt, daß hinter dieser Höhe der Technik schon der Verfall steht. Der vor Wollust grinsende Faun, der den blauen Mantel von der Schlafenden hebt, gibt einen Beigeschmack, der den reinen Genuß der Schönheit stört und weit entfernt ist von der keuschen Natürlichkeit des Giorgione. »Man fühlt die Absicht und man ist verstimmt.« Schön hat Corregio auf dem Danaëbild in der Galerie Borghese in Rom diese Seite der Komposition zu mildern gewußt durch die ideale Schönheit des Eros und der beiden Putten. Das ist echt griechisch.


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Wieder mehr als je fiel es mir auch auf in diesem Reichtum des Louvre, was für wunderbare Landschaftsmaler diese Alten waren, die Costa, Pinturicchio und andere, und für sie waren die Landschaften doch nur Nebensache, doch nur die Stimmung andeutend, die die Handlung begleitet, etwa wie die [377] Musik den dramatischen Vorgang. Sie sind dabei nicht minder realistisch wie die modernen Landschaftsmaler; wer erkennt nicht bei den Genannten die Gegenden am Reno und bei den Umbriern die umbrische Landschaft wieder? Aber wie poetisch sind diese dabei; sie scheinen wie ein friedliches Traumbild der reinen Existenzen, die den Vordergrund einnehmen. Ja, alle diese Maler waren lyrische Dichter, sie trugen in ihrer Seele eine innere Melodie, während die meisten der modernen Landschaftsmaler doch nur Kopisten der Natur sind.


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Lange stand ich auch wieder vor der »Gioconda«, dieser ewigen Sphinx. Sie scheint zu sagen, was kümmert mich der Tod? Jener Große macht mich unsterblich; mein Lächeln wird Jahrhunderte überdauern und Herzen erobern und verwunden.


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Ein junger Bekannter fragte mich: Wie schafft der Künstler ideale Typen? Ich sagte: Der rechte Künstler hält die Menschen in den einzelnen Momenten ihrer Idealität fest. Das vollendet Schöne findet sich nur bruchstückweise in der Erscheinung; der Künstler faßt die Bruchstücke zusammen und bringt die vollendete, ideale Menschheit hervor. Daher schafft nur er ewige Typen, in der Menschheit sind sie nicht.


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Eine glückliche Stunde im Louvre vor der Venus von Milo verbracht, vor dieser erhabenen Ruhe der Individualität, im Bewußtsein der universellen Idealität.

Dann aber auch wieder Italien! Zauberisches Venedig! So ausgestreckt, ohne Mühe, ohne Gerassel, ohne Pferdegepeitsche und Pflasterstöße, über die Lagune zu schweben und sinnend auf die vom Abendrot glühende Fata Morgana der Inselstadt zu schauen, ist ein so sublimer Genuß, wie wenig anderes auf der Welt.


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Und Siena! Ein Ort so reich an Kunstschöpfungen, wie wenige andere. Wieder dasselbe feste Selbstbewußtsein, wie auch in Perugia und anderswo, nur noch liebenswürdiger und freier; überall das edle Leben eines sich selbst regierenden Gemeinwesens. Sollte das nur in so kleinen Verhältnissen möglich sein? Was hindert in unseren großen Staatskörpern eine solche hohe allgemeine Blüte der Kultur, so daß sie nur eine allgemeine politische Bedeutung haben und jedes eigentümliche Leben der Gemeinwesen darin untergeht? In all jenen kleinen Zentren bewegten sich doch auch Weltgedanken, das intellektuelle Leben war durchaus kein beschränktes, sondern vielleicht größer, freier, strebender als jetzt. Wenn man solch eine Galerie besucht wie die »belle arti« in Siena, wie kann man da das Streben der Geister, aus der versteinerten Form loszukommen, verfolgen, und wie sieht man, daß sie sich gewaltig regten, um mitzuwirken »am sausenden Webstuhl der Zeit«. Und neben dem ernsten Sinn, welche reizende Naivität, z.B. das Fresko am Palazzo pubblico, wo Barbarossa vor dem Papst auf der Erde liegt und die Kardinäle mit Gebärden des Abscheus, des Mitleids und des heimlichen Hohns auf ihn sehen. Solch ein Bild, an einem öffentlichen Ort den Blicken und Bemerkungen des Volks ausgesetzt, könnte es heutzutage noch gemalt werden? Es wäre ja ein crime de lèse majesté. Freilich, wir wollten doch auch nicht mehr nach Canossa gehen!

Welcher Unterschied aber auch in anderer Beziehung mit unserer Zeit! Wie könnte heutzutage der Geist einer einzigen armen Frau ein ganzes mächtiges Gemeinwesen so beherrschen, wie es z.B. durch Katharina von Siena geschah, die als Vorbild jeder Tugend hochgeehrt, als großer Charakter und Intellekt mit politischen Missionen betraut und in den öffentlichen Angelegenheiten mit Vertrauen gehört wurde und die zugleich die Phantasie der großen Künstler ihrer Zeit so begeisterte, daß man sie zur Heldin der religiösen Legende und zu einem Ideal der Kunst erhob. Gleiche Tugend, gleiche Selbstverleugnung findet sich auch noch [379] heutzutage, aber würde z.B. eine Florence Nightingale, trotz ihrer schönen Taten, noch einen Maler so inspirieren? Oder würde noch nach Jahrhunderten die Stätte gezeigt werden, wo sie in harter Entsagung, nach mühevollem Tagewerk, die Ruhe gesucht hatte? Worin lag nun der Zauber, der Katharina verklärte? Sicher zunächst in der großen Individualität, dann aber auch in ihrem Zusammenhang mit einer großen Idee, die die Zeit, in der sie lebte, beherrschte.


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Ein anderes Denkmal auf meiner via Appia.

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Im Jahre 1883 erhielt ich die Nachricht, daß wieder einer der Freiheitskämpfer von 1848 und der Freunde aus dem Exil gestorben sei, Gottfried Kinkel, der, nachdem er England verlassen hatte, in Zürich am Polytechnikum als Professor angestellt gewesen war. Ich habe schon in früheren Aufzeichnungen aus meinem Leben erzählt, welch herzliches Freundschaftsband mich in England mit ihm und noch mehr mit seiner hochbegabten Gattin Johanna verband. Einige Zeit nach seinem Tod erhielt ich von seiner zweiten Frau den in seinen nachgelassenen Papieren gefundenen Brief Johannas, den sie ihm in das Zellengefängnis nach Spandau schrieb, nachdem ich ihr, von tiefster Teilnahme getrieben, ohne sie zu kennen, zum erstenmal geschrieben hatte.

Es war ein Geschenk, das mich auf das innigste rührte, denn gewiß, nach beinah vierzig Jahren solch ein liebevolles Urteil über sich selbst zu hören, war keine geringe Freude. Johanna, die bis dahin nichts von mir gewußt hatte, schrieb: »Die Geister der Gleichgesinnten senden mir ihren Liebesgruß. Vor allem entzückte mich der Brief eines hohen Weibes, die mir ihre Freundschaft antrug und die auf einer Bildungsstufe steht, daß ich keine von den geistreichen Frauen, mit denen ich verkehre, neben sie stellen möchte, und das will etwas sagen, wenn Du an den Kreis unserer Korrespondentinnen denkst. Meine neue Freundin scheint einem nordischen [380] adligen Geschlecht anzugehören; sie hat jahrelang nur dem Kultus der Ästhetik gelebt, hat aber dann begriffen, daß es edler sei, helfend und tröstend zu den Leiden der gequälten untersten Menschenschicht herabzusteigen, als auf einsamen, nur von Göttern bewohnten Höhen zu weilen. Ihr Geist ist von kristallner Klarheit, und dabei besitzt sie eine Anmut der Ausdrucksweise, die verrät, daß sie nur in den allerfeinsten Kreisen geselliger Bildung muß erwachsen sein. Sie muß noch jung sein oder doch den ewigen Jugendzauber eines poetischen Geistes besitzen, über den das dreißigste Jahr keine Macht hat. Wer nach diesem jung war, bleibt es sein lebelang.«

Wie viele Erinnerungen weckten diese Worte in mir, schöne und traurige. Kinkel hatte gewiß zu den hervorragendsten Kämpfern der Jahre 48 und 49 gehört, denn er vereinigte die von hohen Idealen erfüllte Poesie der damaligen Zeit mit dem absoluten Mut der Tat. Diesen Mut, stets die Überzeugung durch die Tat zu bewähren, hatte er schon als Jüngling bewiesen, da er von der theologischen Laufbahn, die er betreten hatte, zurücktrat, sobald die Erkenntnis seines eigentlichen Berufs zu Kunst, Geschichte und Poesie ihn in die Sphären geistiger Freiheit führte. Er verlor dadurch alle Aussichten auf eine glänzende Laufbahn, die ihm die theologischen Gönner, die von seiner Rednergabe und seinem künstlerischen Sinn viel für die kirchlichen Aufgaben hofften, bereiten wollten. Als er dann gar in der ersten Zeit seiner Tätigkeit an der Universität Bonn durch seine Liebe zu der herrlichen Johanna – die zwar von ihrem ersten Mann, mit dem sie namenlos unglücklich gewesen war, getrennt wurde, aber als Katholikin sich nicht wieder hätte verheiraten dürfen – alle Erdenschranken durchbrach und mit ihr den edelsten Bund schloß, da empörte sich die orthodoxe Clique der Bonner Universität, und als Kinkel sich nicht beugte, sondern mit edlem Stolz sein individuelles Recht wahrte, da verfiel er dem Bann, den die Borniertheit stets über die ausspricht, die das Maß ihres Handelns in ihrem [381] eigenen sittlichen Bewußtsein finden, indem sie sich an dem Adel freier Seelen, die um eines höchsten Gutes willen irdische Vorteile dahin werfen, dadurch zu rächen glaubt. Aus einem Bevorzugten wurde er ein Geächteter. Daß es ihn schmerzte, war natürlich, aber es konnte sein stählernes Herz nicht brechen, auch nicht, daß man ihn materiell in jeder Weise bedrückte und einengte, so daß er mit Recht in einer seiner späteren öffentlichen Reden sagen konnte: »Wir haben das Darben gründlich gelernt.«

Wichtiger aber als alle Not und aller Schmerz war seine eigene Entwicklung, die in diesem Kampf sich völlig losrang von der alten vermoderten Tradition und der vollen Freiheit zustrebte, für die er später noch größere Opfer bringen sollte. Doch gönnte ihm das Schicksal endlich die volle Vereinigung mit der geliebten Frau, als deren erster Mann starb; dann wurde ihm eine außerordentliche Professur der Kunstgeschichte zuteil, und sein Stern fing wieder an zu leuchten. Die Jugend strömte zu seinen Vorlesungen, seine literarischen Arbeiten hatten Erfolg, neue Freunde scharten sich um ihn, und wie es mit dem Erfolg zu gehen pflegt, so wurde das ausgezeichnete Paar jetzt aufgesucht und gefeiert. Es erschloß sich ihm die ganze Fülle des Lebens, und ganz naturgemäß in ruhiger Entfaltung gelangte er zu dem politisch-sozialen Radikalismus, den er bald mit der Tat verfechten sollte. Der Frühling 1848 kam. In den Völkern erwachte neues Leben. Die Keime, die still getrieben hatten in Hoffnung und Furcht, blühten rasch empor ans Licht, und die Herzen flogen jubelnd dem Ideal eines freien, von Gerechtigkeit und Schönheit verklärten Lebens entgegen. Wie mußte dieser Frühlingstraum den Dichter ergreifen, den feurigen Mann, der immer ganz und voll im Leben stand, mit Dichterglut alles erfaßte und mit Mannesmut alles tat. Mit voller Seele warf er sich in den Strom der Revolution, trat dem Volke am schönen Rhein, in dessen Mitte er lebte und das er liebte und kannte, innig nahe und verwendete seine Gaben, die das Entzücken aristokratischer Kreise gemacht [382] hatten, nun im Dienste der Bauern, Handwerker und Proletarier, die in ihm das Herz des echten Volksmanns fühlten und ihn zu ihrem Führer wählten. Das geistige Reich der Freiheit und Brüderlichkeit, als dessen Bürger sich der Dichter längst gefühlt hatte, in Wirklichkeit erstehen zu lassen, das wurde sein Ziel; dazu warf er sich rückhaltlos in den heißen Kampf, und als er, vom Volk zum Deputierten gewählt, nach Berlin kam, donnerte er von der Tribüne in der Kammer die stolzen Worte herab, die nachher als Waffe gegen ihn gebraucht wurden: »Siegen wir, dann wehe euch, keine Gnade.«

Sein Freund und Schüler, Theodor Althaus, hat Kinkel charakterisiert wie folgt: »Kinkel gehört zu den bis jetzt noch selten öffentlich hervorgetretenen Charakteren, die revolutionär werden, weil sie im tiefsten und allein edeln Sinn konservativ sind. Der vulgäre, abstrakte Konservatismus ist eine bloße Verneinung und stößt nach rechts und links alles von sich, was das Individuum in einem geistigen, gemütlichen, materiellen Behagen zu stören droht. Der wahre Konservatismus ist eine tiefgewurzelte Treue gegen Vernunft und Freiheit in den philosophischen, eine unwandelbare Liebe zur freien, gesunden Natur in den poetischen Charakteren. In der letzteren Reihe steht Kinkel. Sein Sozialismus ist im edeln Sinne konservativ. Seine ganze Natur protestiert gegen die öden Systeme des uniformierten, bureaukratischen Kommunismus und der destruktiven Gleichmacherei, unter der das ewige Naturrecht der Individualität verschwindet. Den einzelnen und die durch freie Neigung verbundenen Genossenschaften ruft er zu eigener Tätigkeit auf: »Handwerk, errette dich selbst!« Sein sozialistisches Ideal ist ein freier Organismus, dessen Gesetze die Selbständigkeit des Individuums, die höchste Ausbildung aller Arbeitskräfte und jedes Handwerks in seiner Eigentümlichkeit zum Zwecke haben. Der Handwerker soll auf eigenen Füßen stehen, statt von den fabrikmäßigen Spekulationen des Kapitals ausgebeutet und erdrückt zu werden. Die soziale Gesetzgebung [383] soll es ihm möglich machen, ein Haus und eine Familie zu gründen und ein Meister und Lehrer seines Handwerks, statt ein entreprenierender Kapitalist zu werden. Von dieser Gesetzgebung hofft der Dichter dann eine Wiedergeburt der einzig edeln Erscheinung des mittelalterlichen Zustandes, daß das Handwerk, so weit es ihm vergönnt ist, hinüberreiche in die höhere künstlerische Tätigkeit und daß damit auch diese Lebenssphäre hinaufgehoben werde in die Lichtregion des Geistes und der Schönheit. Aber eben weil nicht alle Arbeit in ihrer Eigentümlichkeit dieses Adels fähig ist, muß allen der Stolz der republikanischen Freiheit, geistige Bildung und der Genuß des Schönen erreichbar gemacht werden, damit auch der Geringste seines menschlichen Daseins so froh werde, wie ihm jetzt sein Pariatum die Seele zum Staube niederdrückt. Die Romantiker schaudern vor der Republik, weil ihre beschränkte Phantasie eine Nivellierung der Kontraste und Individualitäten und damit das Ausgehen des poetischen Stoffes fürchtet. Die gesunde Phantasie des modernen Dichters schaut den Reichtum der neuen Welt, und er fordert die soziale Revolution, damit endlich die vollbefriedigte Lust am Dasein die Seele der Poesie neu belebe. Er weiß es, daß nur eine großartige neue Weltgestalt eine ihr ebenbürtige Poesie aus sich zeugen kann, die dann wahrhaft konservativ sein wird.«

So dachten und hofften wir damals, 1848!

Daß Kinkel wirklich zur Tat schritt und als Blusenmann die Aufstände in der Pfalz und in Baden mitmachte, daß er gefangen und zum Tode verurteilt wurde, ist bekannt. Die allgemeine tiefste Teilnahme unterstützte die verzweifelten Anstrengungen Johannas, die ihn heldenmütig nicht zurückgehalten hatte, als er zum blutigen Kampf auszog, ihn zu retten. Eine Tochter Bettinas von Arnim warf sich dem damaligen König von Preußen zu Füßen, um Kinkels Leben zu erbitten, und eine kleine Schrift, die Johanna veröffentlichte, ließ wohl kein fühlendes Herz ungerührt. Auf dem Richtplatz [384] vor den mit den Todeswaffen bereitstehenden Soldaten wurde dem Gefangenen dieBegnadigung zu lebenslänglichem Zellengefängnis und Wollespulen verkündet. In ohnmächtigem Schmerz erbebten alle edleren Menschen, selbst unter seinen Feinden, und heiße Tränen flossen bei der Beschreibung seines letzten Erscheinens vor dem Gerichtshof in Köln, bei dem Lesen der tragisch-edlen Rede, die er gehalten, nach der sein Weib, die Schranken durchbrechend, ihm in die Arme gestürzt war, so daß selbst die feigen Schergen der Gewalt es nicht gewagt hatten, so erhaben Unglückliche zu trennen.

Nicht ohne tiefe Rührung konnte ich während vieler Jahre das Gedicht lesen, das Kinkel im Gefängnis zu Rastatt niederschrieb, als ihm sein Todesurteil verkündet war, und dessen Schlußverse also lauten:


»So warf ich in den Opferbrand
Ein reichbekränztes Leben,
O Glück und Stolz, mein Vaterland,
Für dich es hinzugeben!
Der müden, schwielenharten Hand
Ein sanftes Los zu werben,
Du vierter Stand, du treuer Stand,
Für dich geh ich zu sterben.
Euch Armen treu bis in den Tod,
Für euch zur Tat entschlossen,
Fall ich ums nächste Morgenrot
Vom kalten Blei durchschossen.
So haltet mich in treuem Sinn,
O Meister und Geselle;
Gedenke mein, du Näherin,
In deiner trüben Zelle;
Du Winzer, der am Fels der Ahr
Umsonst die Gluten leidet,
Du arme Tagewerkerschar,
Die fremde Garben schneidet –
[385]
Ich werde nicht vergessen sein,
Du Jugend wirst mich kennen
Und wirst an meines Geistes Schein
Zum Freiheitsdurst entbrennen;
Manch Frauenauge weint um mich,
Den Sänger süßer Lieder,
Als Gruß der Erde neigen sich
Viel Blumen zu mir nieder.
Den letzten Gruß dir überm Rhein,
Du edles Volk der Franken;
Die Völker sollen einig sein
In Herzen und Gedanken.
Stehn soll, so weit auf diesem Rund
Sich Aug' in Auge spiegelt,
Der ewige Bund, der Bruderbund,
Den euch mein Blut besiegelt.« –

So waren die Männer von 48! Deutsche Jugend, kennst du sie noch! Bist du an ihrer Erinnerung zum Freiheitsdurst entbrannt? Bist du bereit, wenn der Tag des großen Kampfes wiederkommt, für die Erinnerung heiliger Ideale den Reichtum des Lebens in den Opferbrand zu werfen? Schlag an deine Brust, frag dich, und wenn dir ein trauriges Nein antwortet, so ermanne dich, denke, daß das Leben keinen Wert hat, wenn es nur nach vergänglichen Gütern strebt, und schreibe auf deine Fahne: »Durch edelste Kultur zur wahren Freiheit.«


* * *


Leider ist auch in Italien jener edlen Generation der Kämpfer für ein hohes Ideal der Freiheit eine Jugend gefolgt, die mehr nach irdischen als nach ideellen Gütern strebt, und die ganze Form des öffentlichen Zustandes ist weit entfernt von dem, was z.B. Mazzini für ein neuerstandenes, einiges Italien geträumt hatte. Es ist wirklich immer, als ob die Natur sich erschöpfte, wenn sie den ideellen Trieb in einer Generation so stark und vorherrschend hervorgebracht [386] hat und als ob dies Gebiet dann eine Zeitlang brach liegen müßte, gerade wie der Acker, der auch ruhen muß, um aufs neue hervorbringen zu können. Traurig stimmen aber mußte es den, der an Italiens Geschicken warmen Anteil nahm und jene edlen Idealisten gekannt hatte, zu sehen, wie falsche Wege seine Politik und Neuorganisation ging. Wie die eitle Sucht, plötzlich eine Großmacht zu sein, es zu Ausgaben und Unternehmungen verleitete, die weit über seine Mittel und seine Kräfte gingen, während die innere Wohlfahrt und die Ordnung erwerbtätiger, strebender Gemeinwesen vernachlässigt wurden. Wie das so hochbegabte, liebenswürdige Volk in manchen Gegenden in beinah barbarischen Zuständen, im äußersten Elend, in Schmutz und Unwissenheit blieb und durch die hoffnungslose Armut zur Massen-Auswanderung getrieben wurde, oder durch den Schreck vor dem ungewohnten Militärdienst und den ebenso ungewohnten, schwer lastenden Steuern in die Berge floh und sich dort durch freie Benutzung der Güter anderer, d.h. durchs Räuberhandwerk, zu helfen suchte.

Sagte mir doch in einem politischen Gespräch sogar einer der bedeutendsten, aber durchaus konservativen Staatsmänner Italiens (der jetzt auch schon längst geschieden ist): »Ja, wenn die Menschen die Geschichte recht verständen, so müßten sie immer zunächst an die Wohlfahrt der Völker im Innern des Landes denken. Würde von den ungeheuren Budgets des Krieges, der Marine, der Steuereinnahmen usw. nur die Hälfte für die innere Verwaltung verbraucht, so würde der allgemeine Wohlstand in solchem Maße wachsen, daß ein Land dadurch allein schon mächtiger werden würde, als durch Furcht einflößende Heere.« Dies aber sagte mir ein Staatsmann, der lange an der Spitze der Verwaltung stand! Wie schwer muß es daher sein, das einfach Vernünftige und Nahliegende im Staatsleben durchzusetzen.

Wie hoch standen daher die alten Inder, die ihre Könige nur priesen, wenn sie Wohltäter ihres Volkes waren und [387] nicht um der Gewaltmittel willen, die sie in Händen hätten. Hierauf bezüglich fand ich eine treffliche Stelle aus dem Gâtahamâlâ des Arga Sûra, von J. S. Speyer übersetzt, die lautet wie folgt: »Unser Monarch hat seine Macht durch seine Seelengröße erhalten. Seine Stärke beruht auf seiner Güte, nicht auf seinem buntgeflaggten Heer, das er nur hält, um der gewohnten Sitte nachzukommen. Redlichkeit ist der Hebel seines Handelns, nicht die politische Weisheit, diese niedrige Wissenschaft. Sein Reichtum dient ihm dazu, die Tugendhaften zu ehren.«

Welch schöneres Programm des wahren Herrschertums könnte man aufstellen als dieses, und wie weit steht unsere Zeit darin zurück, wo sich die Stärke der Regierungen nur auf die kolossalen, auch im Frieden stets zum Krieg bewaffneten Heere stützt, anstatt sich über die nationalen Grenzen hinaus die Hand zu reichen und den Völkerfrieden auf Gerechtigkeit und wahre Bildung zu gründen. Jawohl, der alte Inder hat recht, politische Weisheit, welch niedrige Wissenschaft! In ihr Gebiet gehört der moderne Schwindel der Kolonialpolitik. Auch Italien wurde ja leider davon ergriffen und unter dem Ministerium des schon alten, etwas hinfälligen Depretis siegte die Beredsamkeit Mancinis, eines trefflichen Rechtsgelehrten, aber unfähigen Ministers des Äußeren, und brachte Italien dazu, nach Afrika zu ziehen und noch dazu nach Massaua, das zwar ein Hafen am Roten Meer, aber einer der heißesten und unfruchtbarsten Orte der Erde ist. Daß englische schlaue Politik dabei im Spiele war, merkte man hier nicht, man jubelte über diese erste große Tat der jungen Großmacht; eine Freundin schrieb mir, sie habe Tränen der Rührung vergossen, als sie die Soldaten habe einschiffen sehen, um von dem Land, das Italien durch keinen Rechtsspruch zugehörte, Besitz zu nehmen, wie es nun seitdem, allem Menschen- und Völkerrecht zuwider, immer häufiger von den großen europäischen Staaten geschieht. Ich erlaubte mir damals schon nicht in den allgemeinen Jubel mit einzustimmen. Ich sah um mich her in dem Land, [388] das ich liebe, kaum erst die Anfänge einer vernunftgemäßen Organisation, einer Ordnung der Dinge, die zu Wohlfahrt im Innern führen und die Grundlage einer neuen edlen Kultur werden könnte, und ich befürchtete gleich, daß diese Anmaßung, Kultur in die Ferne bringen zu wollen, während man selbst noch so kulturbedürftig war, schlimme Frucht bringen würde, was sich denn leider auch unter dem zweiten Ministerium Crispis, durch dessen noch viel größere Anmaßung, auf die allertraurigste Art für Italien bewährt hat. – Seltsamere Kontraste aber, als sie in jener Zeit, besonders in den achtziger Jahren, Italien darbot, hat kaum je ein modernes Land in der Geschichte gezeigt. Während der als Einheit noch so junge Staat im Innern noch völlig ungeordnet, seine kaum gebildete Militärmacht aussandte, um auf einem andern Kontinent Länder in Besitz zu nehmen, auf die er keinen Anspruch hatte, begab sich inmitten dieses jungen Staats, so recht in seinem Zentrum, in der kaum errungenen Hauptstadt selbst, ein Ereignis, das durch seinen Glanz das Recht ehrwürdiger Traditionen gegenüber der Anmaßung junger Eitelkeit ins hellste Licht zu stellen befähigt schien. Es war der 30. Dezember 1887, der Vorabend der Messa d'oro, mit der der Papst am 1. Januar in der Peterskirche die Feste seines Jubiläums einweihen wollte. Rom wimmelte von Fremden, freilich zumeist geistlichen Standes, die sich zu der hehren Feier eingefunden hatten; die Gasthöfe waren überfüllt, die ärmeren Pilger wurden in Klöstern und Hospizen einlogiert. Der Zudrang, um Billette zu erhalten, war ungeheuer, denn nur mittels solcher konnte man in das Gotteshaus gelangen. Zu Tausenden kamen die Gesuche darum täglich in den Vatikan. Um diesen und um die Peterskirche war ein Leben und ein Treiben, wie seit siebzehn Jahren nichts Ähnliches vorgekommen war. Ich hatte gerade eine Veranlassung, jemand aus der hohen Geistlichkeit im Vatikan aufzusuchen und konnte mich mit eigenen Augen davon überzeugen. Es kam mir vor wie ein Märchen, wo in einem verzauberten Schloß plötzlich [389] der Entzauberer eintritt, und alles zu frischem, regem Leben erwacht. Scharen von Geistlichen aller Länder in den verschiedensten Trachten eilten geschäftig Trepp auf, Trepp ab. Die »Uscieri« in ihren malerischen Kostümen schienen wie in ferner Vergangenheit eingeschlafen, mit einem Ruck die Traumbefangenheit abzuschütteln und ihre Rolle mit Vehemenz wieder aufzunehmen, um den andrängenden Scharen zu wehren, die sich an den Türen einfanden, um zu den Audienzen zugelassen zu werden. Damen aller Art, Pilgerinnen, mehr alte als junge und mehr häßliche als hübsche, eilten dazwischen umher; hohe Prälaten mit ihrem Gefolge belebten noch das bunte Bild. In den Straßen, die nach St. Peter führen, war kaum durchzukommen, die Wagen in ununterbrochener Reihe sich folgend, mußten Schritt fahren. Die ganze Basilika war schon seit Tagen dem Publikum verschlossen, um die Vorkehrungen im Innern zu treffen. Doch fehlte es bei all dem erwartungsvollen Leben auch schon nicht an Verstimmungen und Klagen aller Art, und das römische Volk fing an zu murren, daß man ihm den Eingang zu seinem Gotteshause wehren wolle, in das es sonst so gut frei eintreten konnte, wie die Reichen und Begünstigten. Es waren daher von seiten des Kriegsministeriums mehrere Kompagnien Soldaten beordert, die auf dem Petersplatz Kordon bilden sollten, um bei etwaigen Unordnungen einzuschreiten. Schon dieses ein seltsames Schauspiel: das Fest des entthronten Herrschers beschützt von den Soldaten des Usurpators!

Vor 1870 würde eine solche Festlichkeit, ein solches Zusammenströmen der Gläubigen aus allen Weltteilen, mit Geschenken beladen, um sie dem Oberhaupt der Kirche huldigend darzubringen, nichts Außerordentliches gehabt haben. Aber nun war es anders geworden, und der Beobachter konnte nicht umhin, seltsamen Gedankengängen Raum zu geben. Hätte diese Feier einzig der ehrfurchtgebietenden Persönlichkeit eines Greises gegolten, den das Geschick an die Spitze einer universellen, geistigen Gemeinschaft erhoben hatte, [390] so wäre die Sache immerhin noch ungewöhnlich, aber doch bei weitem einfacher und ohne die seltsamen Kontraste gewesen, die jetzt dabei zutage traten. Während drüben im Quirinal der König des noch so jungen Königreichs Italien die Neujahrswünsche von seiten seiner Staatsbeamten und der bei ihm beglaubigten Gesandten entgegennahm, feierte der, den er seiner irdischen Macht entsetzte, ein Fest, dessen universelle Bedeutung nicht zu verkennen war. Diese aus allen Ländern herbeigeeilten Verehrer und Bekenner einer Kirche, deren Oberhaupt alles galt, diese kostbaren Gaben, deren Menge die kolossalen Räume, die dafür bereitet waren, kaum faßten, diese Extragesandten aller gekrönten Häupter, ob katholisch oder nicht, die auch mit vollen Händen kamen, waren das nicht alles Zeichen, daß wir es hier noch immer mit einer Weltmacht zu tun hatten, gegen die das verlorene »potere temporale« nur ein verschwindend kleines Gewicht behält?

Vielleicht war dieser Gedanke Papst Leo XIII. auch aufgestiegen, als er von seinem Königssitz im Vatikan auf das Gedränge niederschaute, das den so lange verödeten Petersplatz belebte. Und wohl ihm, wenn er versucht hätte, diesem Gedanken volle Wirklichkeit zu geben, wenn er freudig der irdischen Krone entsagt hätte, um sich allein die geistige Krone aufzusetzen, deren Glanz heller strahlen würde, als die Diamanten der Tiara. Dann würde die Versöhnung mit dem König drüben im Quirinal, der jetzt der einzige ist, der ihm nicht huldigen kann, eine Möglichkeit, und der peinliche Konflikt, in dem die italienischen Patrioten, die noch an der Kirche hängen, sich befinden, wäre gelöst. Würde das die Folge dieses Festes sein, wer würde es nicht als den Anfang einer neuen vernunftgemäßeren Zeit begrüßen, wer würde Leo XIII. nicht als einen der größten Päpste ehren, die je gelebt?

Aber leider sah das Ganze mehr aus wie ein Fehdehandschuh, den man dem abtrünnigen Italien hingeworfen hatte. Es war zu viel Ostentation dabei, um es als ein bloßes [391] Familienfest der katholischen Christenheit zu betrachten. Und gerade in dem Augenblick, welch schmerzlicher Kontrast für die Italiener! Während hier in der Hauptstadt dies glänzende Fest des vertriebenen Herrschers gefeiert wurde, mußten drüben im heißen Afrika die jungen Söhne des neu gewonnenen Vaterlands für einen großen politischen Fehler, im Kampfe mit wilden Horden, ihr Leben einsetzen, und während sich im Vatikan Millionen anhäuften, mußte das finanziell so schlecht bestellte Land Millionen hergeben, um einen mörderischen Krieg, der wenig Ehre und noch weniger Nutzen verspricht und nur von der beschränkten Eitelkeit und maßlos ehrgeizigen Herrschsucht einiger einzelnen in Szene gesetzt worden ist, durchzuführen. Diese Betrachtungen drängten sich dem Beobachter auf, wenn er auf das bewegte Leben dieser Tage niedersah, und wer Italien liebt, konnte sich der Wehmut nicht erwehren, die seine zweifelhaften, so schlecht geleiteten Geschicke hervorrufen.

Gedachtes [3]

Gedachtes

Es gibt Naturen, die am Fortschritt der Gesellschaft arbeiten können, indem sie alle Vorurteile schonen, die Sachen nur halb beim Namen nennen und ein wenig nachgeben, um ein weniges zu erlangen. Diese übrigens ganz ehrlichen Naturen tun ihre Arbeit und sie hat ihren Nutzen. Aber es gibt andere, die von der unwiderstehlichen Logik der Überzeugung vorwärts getrieben, sich bestimmt aussprechen müssen; gelingt es ihnen auch nicht, ihr Ideal zu verwirklichen, so erringen sie doch für dieses die Sympathie energischer Charaktere, und zum wenigsten sind sie selbst ein lebender Protest gegen die versteinerten Formen, die den lebendigen Geist nicht mehr enthalten.


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Jedes reine, tiefe Gefühl hat in sich eine solche Unschuld, daß der Gedanke nicht kommt, man könne es verkennen. In [392] der wahren Liebe der Frau vereinigt sich alle Zärtlichkeit der Mutter, Schwester, Freundin, und wenn die Frau ihren heiligen Schmerz um die nun erloschene Neigung, die ihr einst gewidmet war, stolz in die Tiefe ihres Herzens verschließt, so bleiben die Mutter, Schwester, Freundin, um dem, dessen Andenken noch immer teuer ist, helfend und tröstend beizustehen, wenn das Schicksal Schweres über ihn verhängt.


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Dem charaktervollen Menschen ist es ein Bedürfnis, ein Ziel fest ins Auge zu fassen und es mit Konzentration aller seiner Kräfte zu verfolgen. Dann erst entfaltet sich ihm der ganze Reichtum seiner Befähigung, auch alles andere zu verstehen und in alle Gebiete des Lebens denkend hinüber zu blicken. Er hat dann, wie Archimedes, den einen Punkt gefunden, von dem aus er die Welt aus ihren Angeln hebt. Dem Genius zeichnet die eigene Natur das Ziel in Flammenzügen vor; ihm ist die Mühe des Suchens erspart und nur die Hindernisse, die Welt und Verhältnisse ihm in den Weg legen, machen ihm das Verfolgen seines Ziels oft zur Qual; zwingen sie ihn, diesem Ziel zu entsagen, drängen sie ihn gewaltsam aus seiner Bahn, so ist es Tod und Vernichtung für ihn. Die von der Natur minder reich Begnadeten müssen suchen, bis sie den wahren Punkt finden, von dem aus ihr Wesen sich in Einheit und Mannigfaltigkeit zugleich entfalten und die Blüte seiner selbst erreichen kann. Von diesem Punkt verdrängt zu werden, ist ein unaussprechliches Leiden, ja ein verzehrender Schmerz. Manche gehen daran unter, und die Starken, die ihn überleben, tragen doch den Schmerz der Wunde mit sich durch das Leben.


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Ein geistvoller Freund meinte, die Weisheit der Könige sei Warten. Ich denke, sie müßte vielmehr Voraussehen und Voraussorgen sein. Immer Präventivmaßregeln in der Erziehung wie in der Politik. Sind die Repressivmaßregeln [393] erst nötig, dann ist es schon zu spät, der rechte Augenblick ist versäumt.


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Wenn der Wille im Sinne Schopenhauers als ungestümer Drang zum Dasein und nimmer zu befriedigendes Streben nach Genuß, durch das Läuterungsfeuer der Erkenntnis durchgegangen und nun, sich selbst beherrschend, erlöster Wille geworden ist, der, aus Mitleid entsagend, die höchsten Seelenfreuden opfern und über dem Schmerz, mit vollem Bewußtsein von dessen Bedeutung und dem Unersetzlichen, was verloren geht, – stehen kann – dann ist der Widerspruch zwischen der christlichen und der naturalistischen Anschauung von der Freiheit oder der Gebundenheit des Willens gelöst, denn dann hat sich der gebundene Wille zur Freiheit der Selbstbestimmung erhoben, dann ist der Mensch wirklich frei.


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Eine sehr katholische Dame schrieb einem uns gemeinsamen Freund, es habe sie gefreut, mich kennen zu lernen, obgleich uns Welten trennten. Immer die Beschränktheit des orthodoxen Standpunkts, einerlei, ob religiös oder politisch. Welten trennen nur zwei Gegensätze: das Gute und das Böse, und nicht einmal die ganz, denn auch im Guten ist zuweilen noch ein Teilchen Böses und fast in allem Bösen noch ein Teilchen Gutes.


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Es wurde heute abend darüber gestritten, ob man sich vor der Güte beugen solle. Die meisten der Anwesenden sagten nein, sie verwechselten offenbar Güte mit Gutmütigkeit. Vor der Güte aber, die nicht bloß eine Naturgabe und mit Schwäche verwandt, sondern das Ergebnis höchster Bildung, das letzte Wort des individuellen Kulturkampfes ist – vor der Güte muß man sich beugen. Sie ist das selbst errungene Adelsdiplom der Seele, ihr allein steht das Recht zu, im sittlichen Leben zu richten, denn ihre [394] Milde wird nie Schwäche, ihre Strenge nie Ungerechtigkeit sein.


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Ich liebe die Einsamkeit über alles, auch die zu zweien, ja selbst noch zu dreien, wenn es die Rechten sind; aber die zu hunderten ist schrecklich melancholisch; dann fühlt man sich trostlos allein, ausgenommen in den Momenten, wo die Hunderte von einem gemeinsamen, großen, begeisternden Gefühl entflammt werden. Doch wie selten sind die!


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Ich glaube, daß eine liebevolle Anhänglichkeit der Dienstboten, durch Wohlwollen von seiten des Herrn erzeugt, nicht nur möglich, auch sehr wünschenswert ist. Daraus entspringt das humanste Betragen von beiden Seiten und der willigste Gehorsam der Dienenden. In dem Verhältnis zu den Dienstboten hat sich in neuerer Zeit so viel verändert; die patriarchalischen sowie die sklavischen Zustände sind vorbei. Der Diener will jetzt als Persönlichkeit respektiert sein. Es versteht sich, daß er es durch sein Betragen verdienen muß, wird er es aber nicht, so ist meist die Korruption des Charakters die Folge, die niedrigere Natur rächt sich für erlittene Demütigungen durch Betrug, geheimen Haß gegen den Herrn oder Spott über ihn.


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Wenn die völlige reine Resignation, die Verneinung des Willens zum Leben (im wahren Sinne Schopenhauers) erreicht schien und es erwacht dann doch noch einmal eine neue Liebe mit aller Sehnsucht, allem innigen Verlangen, dann wird der Schmerz der notwendigen Entsagung wie ein Zucken der bereits frei gewesenen Seele, die noch einmal in die Unruhe des Willens zurück muß. Aber es ist schon ein beinah verklärter Schmerz, denn hinter ihm leuchtet bereits die Gewißheit des Sieges und die Krone des Überwinders.


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Welch ein wunderbares Erleben! Gequält war ich vom Schmerz der Trennung, vom Gedanken, die Stunden des [395] Zusammenlebens nicht voll genossen, nicht genügend ausgefüllt zu haben, der Gegenseitigkeit der reinen Zuneigung nicht völlig sicher zu sein – endlich setzte ich mich zur Arbeit und – siehe da! – schöpferische Gedanken strömten mir in Fülle zu, und ich war erlöst, der Schmerz war verschwunden, alles Fehlen und Versäumen war ausgelöscht; es blieb nur ein innigstes Gedenken, ohne Reue, ohne Sehnsucht und das trostvolle Bewußtsein, daß auch dies edle Gefühl ein ewiger Besitz sei. Über dem allem aber schwebte beseligend das Wiederfinden mit mir selbst, das höchste wahre Glück, Schöpfer zu sein, das schon die Einkehr in das Universelle ist.


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Die alltäglichen Menschen fragen immer: »wozu führt das?« Als wenn eine vornehme Seele sich immer mit dem Krämergedanken der endlichen Zahlung abgeben könnte! Im edelsten Sinne glücklich gewesen zu sein, wenn auch nur wenige Stunden, ist besser als ein ordinäres Rechenexempel mit dem Leben abschließen, um gut versorgt zu sein, und der Schmerz, den man nachher leiden muß, ist erhabener und fördernder, als alle zum äußeren Ziel gelangte Philisterhaftigkeit.


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Freundschaft kritisiert nicht in der Stunde des Leidens, sagt nicht nüchtern verständig »wenn du es so oder so gemacht hättest«, sondern öffnet einfach die Arme und spricht: »Ich frage nicht, ich urteile nicht, hier ist ein Herz, daran ruh aus.« Ja, wenn man immer im voraus wüßte, wie man handeln müßte, dann gäb es keinen Irrtum. Die Freundschaft rät und warnt vorher; nachher liebt sie, das nur ist die echte; die falsche macht es umgekehrt.


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Das sittliche Leben des Staats hat aufgehört, wenn sich das Individuum nicht mehr frei entwickeln und seine Meinung zur Geltung bringen darf. Ein Staat, dessen sittliches Leben untergegangen ist, muß notwendig selbst untergehn. Dieselbe sittliche Forderung gilt, wie im Staat, so auch in [396] der Familie. Das Individuum muß in ihr seine volle sittliche Freiheit haben dürfen, sonst ist auch die Famile nur ein zufälliger, äußerer Verband, nicht vom Bewußtsein anerkannt und in seiner Autorität bestätigt. Man kann sich einem solchen Staate, einer solchen Familie unterwerfen, gut! dann hat man gewählt, oder man fühlt und erkennt, daß das Recht der individuellen Freiheit erkämpft werden muß, und dann wird man Revolutionär. Zwischen beiden steht der Indifferentismus, der das eine und das andere Extrem von sich abweist, und indem er das Vorhandene ohne weiteres gehen läßt, sich einbildet, er allein habe das Stetige, Unveränderliche. Stetiges, Unveränderliches aber gibt es nicht. Das einzig Ewige ist die unausgesetzte Entwicklung und Veränderung des einfachen Atoms zu immer neu zusammengesetzten, reicheren Kombinationen in der Natur bis zur Ausbildung ihres höchsten Organismus, der zum Geist befähigt ist und sich zu ihm entwickelt. Aber auch hier beginnt dieses ewige Vorwärts von neuem. Vorwärts drängt der schaffende Gedanke und beginnt den Kampf, wo immer man ihm Ketten anlegen und ihn aufhalten will. So zieht sich ein roter Faden der Entwicklung durch die Zeiten. In den Massen bewegt sich der schaffende Geist nur erst als unklares Gefühl, aber die Individuen, die den Prozeß des Denkens für die Masse durchmachen müssen, geben ihr das Resultat, und in ihm erkennt sie ihr unklares Gefühl und wird sich dessen bewußt. So werden zuletzt auch die Massen Träger des Gedankens und erlangen dann erst ihr menschliches Vorrecht und ihre Würde.


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Freiheit und Notwendigkeit lassen sich in Beziehung auf die Individuen ungefähr so bestimmen: als Individuum ist es der Notwendigkeit unterworfen, als Erscheinung dem Satz vom Grunde, als Ding an sich ist es im Reich der Freiheit.


[397] * * *


Auf der Insel Capri schrieb ich einst (im Jahre 1864, wo ich daselbst mit den zwei Töchtern Herzens weilte): hier hat man ein Vorgefühl davon, was das Leben sein könnte, wenn der Mensch entweder ewig unschuldig und unbewußt, wie die Natur, geblieben wäre, oder wenn sein Bewußtsein nicht die schreienden Widersprüche des Lebens und die dunkle Sphinx der Zukunft begegnen müßte, vor deren ungelöstem Rätsel er peinvoll still steht. Glücklich diejenigen zum wenigsten, durch deren Herz jenes Vorgefühl zuweilen zieht, in den Illusionen der Jugend gleich einem wonnigen Morgentraum, im späteren Leben, gleich einer wehmütigen Melodie aus einer fernen metaphysischen Welt. Laßt uns unser Leben betrachten! versöhntes Leid ist ein Schatzgräber, der verborgene Tiefen öffnet, in denen edle Metalle ruhen. Die Leichtlebigen, oberflächlich Glücklichen, finden diese Tiefen nicht und deshalb erfahren sie nie die blitzartigen, plötzlichen Erleuchtungen, die uns auf Augenblicke ein fernes gesegnetes Ufer zeigen, nach dem wir uns ewig als Pilgrime fühlen. Für uns haben Formen und Farben, Töne und Melodien noch einen anderen Sinn als bloße Augen- und Ohrenweide; uns sind sie die Befriedigung der Sehnsucht nach dem Ideal, die uns in einer verkrüppelten schönheitslosen Welt zur Qual wird, die aber in schönen Bildern, wie die Natur sie hier bietet, ihren Widerschein findet. Was eine Rose dem Sterbenden sein würde, die ihm die entschwundenen Frühlinge seines Lebens zurückrief, das ist diese Natur der Seele, wenn die irdische Jugend entflohen ist. Wenn unsere Seele ein Ton wäre in dieser herrlichen Harmonie von Licht, Luft, Farbe und Form, dann würde das Rätsel gelöst sein; wir wären dann nur der Mittelsatz in einer einzigen großen Symphonie des Daseins, das in den drei großen Abteilungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sein endloses Gedicht, seine Divina Commedia durch alle Ewigkeit feiern würde. Aber da liegt die Frage. Es ist der Natur nicht gelungen, den Menschen dieser schönen Erde wert zu bilden; daher kommt die Qual der Bessern, [398] die dunklen Fragen, »die brechenden Wellen und die komischen Gebärden«. Ja, das ist es, die Menschen sind nicht gut genug. Wenn ihre häßlichen Leidenschaften nicht wieder jeden idealen Aufschwung einer Epoche entstellten, so müßte die Vergangenheit nicht gleich einem Gespenst, wie so oft, vor uns stehen, sondern wie ein teures Grab, von dem wir Weisheit und Tugend lernen würden, bis wir uns selbst der Vergangenheit zugesellten mit der tröstenden Gewißheit, einen reichen Vorrat von Edelmut und Größe der Nachwelt gelassen zu haben. Aber unsere ganze Zivilisation begünstigt noch zu sehr die Bestie in der Menschheit, die Entwicklung der wilden Instinkte, anstatt den Menschen schon früh zu Maß, Resignation und Verständnis der wahren Schönheit anzuleiten.

Doch die Natur brauchte auch unermeßliche Epochen, um die Erde zu einem Paradiese, teilweise wenigstens, zu gestalten; vielleicht gelingt es ihr in ferner Zeit, die Bedingungen hervorzubringen für die Möglichkeit einer idealen Existenz künftiger Geschlechter, wenn wir längst mit den Ruinen unserer Zeit ruhen. Unser Trost wird es sein, daß wir nicht als ein bloßes Fossil in dem großen Laboratorium der Natur gebraucht wurden, sondern daß jene Kraft in uns tätig war, die nach den Höhen strebt, die Schönheit begreift und liebt.


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Beim Tod des Kaisers Friedrich war wieder einmal das Walten des Weltdämons offenbar; erst die Möglichkeit einer menschlichen Vollkommenheit auf dem Thron, wie ein verlockendes Spiegelbild, das die schönsten Hoffnungen weckt und dann im Hohn des tragischesten Endes versinkt, damit man inne werde, daß Ideale nur gleich Meteoren vorüberziehen, um uns die Tantalusqual der fruchtlosen Arbeit der Weltverbesserung desto besser fühlen zu lassen.


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Einer der angenehmsten Zustände im Leben, voll Stimmung, Grazie und Poesie, ist der einer wechselseitigen, zarten, unausgesprochenen aber erratenen Neigung, ohne heftiges [399] Verlangen, ohne allen Anspruch, nur ein freundliches Wogen von Herz zu Herz, Blicke von Wohlwollen leuchtend, zarte Aufmerksamkeiten, inniges Mitempfinden und Freude an dem Wesen des andern. Selbst das Leid der Trennung hat dann etwas wehmütig Schönes, ein sanftes Ausklingen, ein reueloses Vermissen, wie die Stimmung, die uns nach einem schönen Sonnenuntergang bleibt.


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Eine Dame meinte, man müsse doch nicht bloß mythische Typen ewiger Gestalten zum Gegenstand der Kunst machen, sondern auch wirkliche Menschen. Mir fällt bei derartigen Behauptungen immer die Disputa von Raffael ein, unten die Disputierenden, um den Wortlaut Streitenden, wissenschaftlich Wirklichen, die nicht sehen, wie oben das große Mysterium Wirklichkeit geworden ist, wie erst die vom Schein Erlösten die Wirklichen geworden sind. »Das Unzulängliche hier wird's Ereignis.«


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Wie seltsam ist es, daß das Auseinanderkommen mit Menschen, die uns im Umgang ganz angenehm waren, weiter kein tiefes Bedauern zurückläßt. Die Welle trägt sie fort, als wären sie nie dagewesen, während dagegen ein Bruch mit solchen, mit denen der ewige Kern unseres Wesens, das, was wir eigentlich sind und hoffentlich bleiben werden, berührt wurde, den Schauder des Vergänglichen über uns bringt und den Schmerz, für den es keine Versöhnung gibt. Im Alter, wo diese Tiefe der Seelengemeinschaft fast abgeschlossen ist wie ein Tempelheiligtum, in dessen inneren Kultus kein profanes Auge mehr dringt, wo wir nach außen nur das ruhige Wohlwollen haben, das gerne gibt und dankbar empfängt, ohne daß es den Frieden jenes Heiligtums stört, erschließt sich da noch einmal die Tempelpforte, so erklingen solche ewige, erhabene Harmonien, daß jeder weltliche Mißton zur tiefsten Pein wird. In der geheimen Gewißheit jenes ewigen Zusammenhanges scheint das ganze äußere Leben leicht und dem ähnlich, das wir mit [400] anderen führen. Drängt sich aber ein Mißton hinein, so bildet sich eine schmerzliche Schranke, die mit den Gleichgültigen nicht vorkommt.


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Bei Gelegenheit der Unterhaltung mit einer Spiritistin fragte ich, ob das Unsterblichkeit sein könne für einen denkenden Geist, in einer gespenstischen Form, als ein Schatten ohne Inhalt, ohne Wesen, ein zielloses Dasein zu führen? Die Vorstellung von übermenschlichen Existenzen, die in untätiger Seligkeit feiern, wäre es eine wünschenswerte Fortsetzung des strebenden, kämpfenden Menschendaseins, das, wenngleich dem Gesetz alles Zeitlichen in seiner einzelnen Erscheinung verfallen, dennoch rufen kann: »Tod, wo ist dein Stachel?« Denn wir wissen es ja, daß es keinen Tod gibt, daß jedes Atom des zerfallenden Körpers der Stoffwelt wieder ein Keim neuer Gestalten, neuer Schöpfungen wird und daß ebenso jedes bedeutende Wort hoher Geister, jeder Gedanke, der eine neue Saite im Menschenleben tönen macht, jede reine, fruchtbringende Tat, unverloren sind in der Ewigkeit des Daseins; daß in einer unendlichen Kette neue Gedanken, neue heilige Empfindungen, neue Taten sich daran reihen und, während das einzelne der Erscheinung stirbt, das unsterbliche Ganze bilden, den Geist der Welt, der über denen steht, denen er als Blüte entstieg. So steht der Mensch der neuen Zeit dem Tod gegenüber. Der Notwendigkeit, dem Schicksal der Erscheinung unterwerfen wir uns, indem wir die schweren Bedingungen, die uns diese Ergebung auferlegt, anerkennen. Das ist der Schmerz, den wir als die wirklich Entsagenden auf uns nehmen mit der Gewißheit, dennoch nicht umsonst gelebt zu haben. Zu wissen, daß der Geist über uns hinwegschreitet zu vollendeteren Schöpfungen, zu reineren Siegen, haben wir einen anderen Anspruch an Seligkeit als diese Gewißheit?


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Ist es denn so schwer zu begreifen, daß die Freiheit das stärkste Gesetz ist? Die Kinder dazu erziehen, die Völker gewöhnen, [401] dies zu begreifen, damit wäre eigentlich die ganze Aufgabe der Kultur erfüllt. Die Familie und der Staat würden dadurch ihre wahre beglückende Form finden, während die gewalttätige Autorität ewig die Empörung an ihrer Tür findet.


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Die Natur, ehe sie in den Dualismus von Begierde und Erkennen eintritt, ist unschuldig und objektiv schön. Die Pflanzen- und Steinwelt kennt keine Begierde, hat auch keine Erkenntnis, ist deshalb ohne Schuld und ohne Erlösung, deren sie nicht bedarf; sie ist im Zustand des Paradieses, braucht das erkennende Subjekt nicht, ruht in ihrer eigenen Vollkommenheit, gehorcht einfach den Naturgesetzen, unbekümmert, ob sie von einem Subjekt erkannt und genossen wird. Sie ist daher an sich schön wie das Ding an sich, das sich in ihr, ungeteilt in Wille und Vorstellung, ausspricht. Mit dem Tier tritt der Dualismus zwischen Begierde und Erkennen ein. Mit ihm entsteht das Subjekt, das Individuum, das für sich empfindet, leidet und erkennt. Nur ist im Tier die Begierde, also der Wille auf seiner niedrigsten Stufe, als bloßer Trieb zum Leben, das Überwiegende. Das Erkennen ist noch gebunden, daher kann weder von Schuld noch von Erlösung die Rede sein; das Subjekt geht noch ganz in der Gattung auf und trennt sich erst in den höheren Tieren merklich von ihr. Es ist dann ein unseliger, grausamer Zustand, und die wehmütigen Augen kluger Hunde sagen es deutlich genug. Erst im Menschen gelangt das Subjekt zu seinem vollkommenen Ausdruck. Er hat die Fähigkeit, das Erkennen über die Begierde siegen zu machen, sein ist die Schuld und sein die Erlösung. Daher scheint er sich selbst Mittelpunkt des Daseins. Weil sich in ihm, wie in einem Brennpunkt, alle Strahlenbrechungen des Dings an sich, die gebundenen und entbundenen Formen der Erscheinung, vereinigen, kann er glauben, daß er als erkennendes Subjekt erst die Welt zu dem mache, was [402] sie ist, für ihn wird sie erst Welt, indem er sie erkennt. Der Wille erkennt sich überhaupt erst, indem er sich selbst Vorstellung wird, sich in Subjekt und Objekt scheidet, dann erst tritt auch der Begriff von Schuld und Erlösung im höheren ethischen Sinne ein.

Gemein wird die Welt mit dem Eintritt des Dualismus von Begierde und Verlangen auf der einen, und Erkenntnis und Kraft der Entsagung auf der anderen Seite. Daher ist das Tier noch nicht gemein, es kann nur wollen, nicht erkennen, sich beherrschen und entsagen, sein Wollen ist daher unschuldig. Die Lust ist das Höchste, wozu der bloße Wille zum Leben sich aufschwingt. Weil er aber ein höheres ethisches Vermögen, wenn auch unbewußt, in sich hat, befriedigt sie ihn nicht; der Grund liegt darin, daß sie sich nur in vergänglicher Erscheinung befriedigt, daher kommt aus ihr nur Reiz zu neuer Lust, bis sie endlich übersättigt an ihrer eigenen Vergänglichkeit scheitert und im Ekel endet. Ihr gegenüber tritt auf der höheren Stufe der Entwicklung die schöpferische Lust ein und zeigt sich als höchste, immer steigende Lust am Unvergänglichen, als Genuß, der in Wonne endet, anstatt im Ekel. Das Ganze ist klar: dort ist es der Wille als sinnliche Erscheinung, der sinnliche Befriedigung sucht, vergängliche Zeugung. Hier ist es der sich erlösende Wille mit der Erkenntnis vermählt, der Unvergängliches erzeugt, daher befreiend, befriedigt.


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Daß die Welt einer neuen Religion bedarf, ist kein Zweifel. Die alten Religionen haben sich ausgelebt; das weltliche Machtbedürfnis, das potere temporale auf allen Gebieten, hat das Übergewicht erhalten über den Geist, der zu »höheren Sphären erhebt«, und anstatt die Menschheit in Frieden und Liebe zu einen, führt die Verschiedenheit der Bekenntnisse sie zu Haß und Streit und zum Rassenkrieg. Die neue Religion sollte die Religion der menschlichen Würde sein. Der Mensch müßte Freude daran haben, sich zu einem sittlichen [403] Wesen auszubilden, aus sich selbst ein schönes, harmonisch entwickeltes Kunstwerk zu machen. Je höher seine sittlichen Bestrebungen sich steigern, je schwerer werden freilich die Kämpfe sein, die die unüberwundenen Leidenschaften und die Mächte des Bösen heraufbeschwören, aber je standhafter wird auch die Seele um Lösung der sittlichen Probleme ringen, um die Herstellung der inneren Einheit, die aus den Tiefen des Kampfes aufersteht zu neuem Streben, die in den tödlichen Schmerzen neue Kraft zum Leben gewinnt. Diese Siegesmomente sind es dann, wo sich der niedere irdische Raum zum Tempel wölbt, wo das Götterbild, das jedes sittliche Wesen im Herzen trägt, auf sein Piedestal steigt, in der tiefen Verschwiegenheit der eigenen Seele und mit Götterruhe auf das besänftigte Meer der Gefühle sieht. Das sind die Augenblicke des wahren Gebets, d.h. der Erkenntnis jener Kraft, die in uns ruht und die allein uns zum Menschen macht. Es ist dies wie die Trauer und das schmerzliche Ringen des Künstlers, so lange er noch dunkel nach seinem Ideale sucht, der aber, wenn er es gefunden hat, wenn er es strahlen sieht in reiner, von allem Zweifel befreiter Schönheit, die heilige Seligkeit der Erfüllung empfindet. Es ist der Gottmensch, der geboren wird in der Stunde, wo das irdische Geschöpf sich durch seine Wahl zum sittlichen Adel seines Daseins erlöst hat.

Fürchtet euch nicht vor dieser Religion! Sie erst wird die Erde zu einem Wohnplatz wahrer Menschen machen; sie ist die einzige, dauernde Lösung aller Konflikte, denn der Kampf der Leidenschaften wird nicht ausbleiben, aber seine Lösung wird die richtige werden in den Naturen, denen sittliche Vollendung Religion geworden ist. In der heißen Schlacht der Schmerzen erlösen sie sich selbst, unter bitteren Qualen gekreuzigt, auferstehen sie in neuer Jugend und Unverletztheit der Seele, und der Schmerz wird zur Kraft und zeugt edlere Taten, reinere Liebe, hellere Gedanken als zuvor. Willst du diese Religion der ewigen Selbsterlösung nicht verstehen, Welt?

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Eine schöne Überraschung

Ich bedurfte bei Abfassung meines Romans »Phädra« einer Schilderung Korfus, das ich leider nicht selbst gesehen habe, und erinnerte mich dabei, vor mehreren Jahren Beschreibungen der Ionischen Inseln in der Augsburger Allgemeinen Zeitung gelesen zu haben, die mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatten, so daß ich danach zu suchen anfing, bis ich sie endlich zu einem Band vereinigt mit dem Titel »Odysseische Landschaften« vom Freiherrn Alexander von Warsberg wiederfand. Es erschien mir dies Buch als ein wahres Muster der Reiseliteratur und erfüllte mich mit Sympathie für den Autor, dessen Seele mir aus diesen Blättern sprach und dessen hohe klassische Bildung neben dem Reiz poetischer Naturanschauung zugleich ernste Belehrung gewährte. Doch lag mir der Gedanke fern, daß ich jemals zu dieser Persönlichkeit eine Beziehung haben könne, da ich nach eingezogener Erkundigung erfuhr, daß er weit ab in einer Mitte lebe, die fern von allen mir befreundeten oder erreichbaren Kreisen war. Um so größer war mein Erstaunen, als ich einige Zeit nach dem Erscheinen dieses Romans einen Brief mit dem Poststempel »Korfu« und der Unterschrift »Alexander v. Warsberg« erhielt, der also lautete:

»Ich bin ein schlechter Romanleser, und nun gar deutsche Romane nehme ich kaum je zur Hand. Da ich vor drei Wochen in Wien war, forderte mich aber mein Buchhändler auf, doch einen Blick in die drei Bände der Phädra zu werfen, weil er meinte, so wie ich ihm seit langen Zeiten bekannt geworden bin, würde ich darin eine Menge Ideen finden, die er seit Jahren von mir gepredigt höre. Auf der See, zwischen Triest und Korfu schwimmend« (Herr v. Warsberg war zu der Zeit österreichischer Konsul in Korfu), »habe ich denn das Buch auch wirklich in einem Zuge verschlungen. Sie haben für alle Lebensfragen den edelsten Idealismus zur Grundlage, um darauf Ihre Antwort aufzubauen, und der wahrer ist als der heute so vorlaute [405] Realismus, weil doch nur die Oberfläche der Dinge körperlich erscheint, in ihnen, in einem jeden aber andere uns ungreifbare Kräfte wirksam sind. Ich sende Ihre drei Bände eben einem gleichgesinnten auch menschenfreundlichen Freund, Graf Rudolf Hoyos, damit er sie mit meinen Anstrichen und Randglossen lese und dann einer Freundin weitergebe. Ihr Buch ist ein wirklich merkwürdiges, und erstaunlich ist mir die Persönlichkeit, die dahinter steht.«

Es folgten dann noch Erkundigungen, ob ich mit einem Herrn meines Namens verwandt sei, der im österreichischen Staatsdienst Staatssekretär im Ministerium gewesen sei und in dessen Hände er seinen Amtseid bei seinem Eintritt in das Ministerium abgelegt habe und anderes. In meiner Antwort konnte ich ihm nun sagen, daß dies mein Bruder gewesen sei und konnte ihm einige Anknüpfungspunkte an mein persönliches Leben geben, nachdem er durch das Buch einen ihm sympathischen Eindruck von meiner Geistesrichtung erhalten hatte. Dieser Antwort folgte bald ein zweiter Brief von ihm, und es entspann sich eine eifrige Korrespondenz, die sich durch zwei Jahre fortsetzte und uns ohne persönliche Bekanntschaft einander sehr nahe brachte. Seine amtliche Stellung in Korfu sagte ihm zum Teil seiner angegriffenen Gesundheit wegen zu, aber ich konnte mir nach dem Eindruck der Odysseischen Landschaften wohl denken, daß diese klassische Stätte ihm auch eine wahre Seelenheimat sein mußte. Doch schrieb er mir in einem der nächsten Briefe: »So schön und sonnig ich in der Stadt wohne, das Meer nur fünfzig Schritt vor und unter mir, mit den jenseitigen, schneebedeckten Steilgebirgen von Epirus in weitester Ausdehnung sichtbar, so kann und mag ich doch hier nichts Poetisches, Duftiges anrühren. Eine Unterbrechung jagt die andere, und indem ich schreibe, muß ich fortwährend in amtlichen Dingen Bescheid geben. So bin ich ein Wollüstling der Einsamkeit geworden. Gute Gesellschaft finde ich beinah nur noch in Büchern. Bei jeder anderen Berührung stört mich die Mangelhaftigkeit der Form, des Ausdrucks. Beim [406] Bauer noch am wenigsten, denn für das, was er zu sagen hat, stimmt das Kleid seiner Rede. Die sogenannten Gebildeten aber heutzutage kommen mir gerade so vor wie die Sänger, denen der Wortschwall der modernen Schule die Stimme ruiniert hat. Man muß zu Goethes Zeit besser gesprochen haben, so wie man schöner schrieb.« Er erzählte dann, daß er sich die »Memoiren einer Idealistin« gleich nach der Lesung der Phädra habe kommen lassen, sie aber der ewigen amtlichen Störungen wegen noch nicht gelesen habe und sie für seinen nächsten Landaufenthalt aufbewahre, »denn«, fuhr er fort, »soviel habe ich daraus schon genippt, um zu merken, daß es ein unter Oliven und Zypressen mit dem Fernblick auf das Meer und dem Klange der Brandung im Ohr zu lesendes Buch ist, und da ich das mindeste, was der Leser dem Autor schuldet, darin erkenne, daß er ihm ähnliche Stimmungen entgegenbringe, wie sie ihm der Verfasser geben will und sie bei seiner Arbeit empfand, so übe ich auch immer die Gerechtigkeit, meine Lektüre den Situationen und Örtlichkeiten möglichst anzupassen, ebenso meine eigenen Arbeiten, die ich auch danach einrichte, gleichstimmig zu inspirieren. Sie werden mir dienen, wie ich ihnen. Die Jahreszeit ist schon so entwickelt, daß ich annehmen darf, es wird bald geschehen können, daß ich mein Landhaus bei Gasturi beziehe, wo ich zufälligerweise – bis auf den Luxus, den Sie hineingedichtet haben – wohne, als sei ich Ihr Originalheld der Phädra. Ein Freund, dem ich Ihren Roman mitgeteilt hatte, war, als ich ihn in die Villa führte, auch von dem Zufall betroffen, wie Sie, gleich wahren Dichtern, was Sie mit visionärem Auge zu schauen begehrten, auch wirklich gesehen haben.«

Nach kurzer Zeit kam wieder ein Brief, aus seinem Landhaus datiert, wo er schrieb: »Ich stehe schon mitten in dem Roman einer Idealistin, oder eigentlich ich bin schon ein gut Stück über die Hälfte hinaus, denn ich beendigte heute nacht den zweiten Band. Ich habe mich nicht verschrieben, indem ich eben ›Roman‹ statt Memoiren sagte. So in diesem Eindruck [407] lese ich das Buch in einer Spannung, die mich oft stundenlang, obgleich ich zu anderen Dingen übergehen müßte, nicht davonkommen läßt. Liegt das am Erlebten oder an der Art, wie dieses erzählt wird? Vielleicht an beiden und noch mehr aber an der Art, wie das Erlebte erlebt ward und weil alle Gedanken des Buchs den Eindruck machen von Gelegenheitsgedanken im Goetheschen Sinn. Nie hat man den Eindruck, daß etwas aus einem anderen Grund gesagt worden ist, als weil es die eigene augenblickliche Erfahrung, und zwar ohne viel Nachdenken, ohne Reflexion, so aufsprießen ließ, nicht anders als die Feldblumen sprießen, niemals so, wie in Gewächshäusern gezüchtet wird. Das ist überhaupt ein Vorteil der Frau, wenn sie gescheit ist und schriftstellert, daß alles an ihr origineller, unmittelbarer, eigentümlicher erscheint. Sie hat auch vielmehr le courage de son opinion, der in Wahrheit den Männern beinah gänzlich fehlt. So war die George Sand, so ist die Ouida in ihren besten Sachen, so finde ich nun Sie. Philosophisch freilich erscheinen Sie darum nicht. Auch mit Ihrer Politik wären keine Staaten zu regieren. Besser begegnen wir uns auf dem sozialen Gebiet. Was Sie dort bemerken, sah, bedauere und tadele auch ich. Die Differenz besteht dort nur zwischen uns betreffs der Heilmittel: Ich sehe diese, bezüglich der Menschheit, vielleicht zynischer an als irgendeiner. Alle Irrtümer in der Behandlung dieser Fragen beruhen darauf, daß sich der Mensch im einzelnen und noch mehr die Menschheit als solche im ganzen einen sehr überschätzten Wert beilegen. Wir sind nur knapp etwas höher im Organismus des Ganzen zu achten, als das Tier und die Pflanze. Man sehe nur, wieviel in der Welt ganz ohne unser Zutun und selbst ganz ohne unser Verständnis, nicht weniger als über dem Tier und der Pflanze hinaus, geschieht, ja, wie wir ganz wie diese Elemente des kosmischen Werdens nicht einmal uns selbst beherrschen können, nichts, recht eigentlich gar nichts von uns abwenden können. Es ist nicht möglich, den Menschen als den Abschluß des Daseienden zu fassen. Es müssen [408] Kräfte über uns sein, deren Einfluß wir empfinden, ohne deren Wirken zu sehen, wie wir in jedem Augenblick Tausende von Wesen vernichten, die von uns keine andere Vorstellung haben können, als wir vom sogenannten Fatum. Ich kann darum für alle sozialen und politischen Fragen keine andere Heilmethode anerkennen, als diejenige, die imstande ist, für den Augenblick rein praktisch zu wirken, und konnte daher, trotz meinen dichterischen Anschauungen, noch jedesmal mit jeder Tagesfrage des öffentlichen Lebens fertig werden. Mit sehr starkem Willen begabt, würde ich mich nie fürchten, als ausübender Staatsmann den Stier bei den Hörnern zu fassen. Daher haben für mich in der Geschichte auch sehr viele energische Staatsmänner recht gehabt, z.B. alle die Tyrannen der italienischen Renaissance. Ich respektiere sie, denn sie haben etwas geleistet. Und nur darauf kommt es an. Deswegen sind wir hier. Das ist unsere eigene und der Menschheit Veredelung im allgemeinen. Mehr ist der Mensch nicht wert. Tier und Pflanze fallen demselben Zweckbegriff zum Opfer. Freiheit freilich gibt es dabei keine, gab es auch nie, nur im Zustand der ersten Wildheit. Bildung, Erziehung, Zivilisation und wie die vergoldenden Worte alle heißen, sind Bindung, Einschränkung. Sehen Sie die ganze Weltgeschichte an; das mag traurig sein, aber es ist so, so wie es auch immer schon so war.

Zu all dem haben Sie mich angeregt. Ich denke nun viele Tage so fort auf meinen Spaziergängen, nachdem ich, unter Olivenbäumen liegend, Sie gelesen. Man könnte aus Ihrem Buch einen Auszug der herrlichsten Gedanken »Sinnsprüche« machen. Ein Liebling von mir ist im 18. Kapitel des 1. Bandes, die Bemerkung über die moralische Heilkraft des Meers. Herrlich, was Sie im nächsten Kapitel sagen, daß in jeder weiblichen Liebe ein Zug Mutterliebe mit enthalten sei. Das habe ich geahnt, Sie haben es erfunden. Die ganze Seite des 2. Bandes, da Sie bei Broadstairs am Meere saßen, der Mond aufging und Sie divinatorisch die erste Form der Liebe in der Materie gewahrten und errieten, [409] habe ich an- und unterstrichen. Das sind Dithyramben eines Dichters, wie nur Dante einer gewesen. Dann Ihre Erziehungstheorie, daß es gelte, die Originalität der Naturen zu erhalten, habe ich ebenso angestrichen. Ich gehe noch weiter: als moralischen Mörder möchte ich den Lehrer verantwortlich erklären und unter einen Strafkodex stellen, der diese Originalität umzubringen wußte. Denn damit schädigt man die Produktionsfähigkeit für das allgemeine Beste. Das ist ein größeres Übel für die Menschheit, als manchmal einen umzubringen, der ihr im ganzen nichts Gutes getan hat. Ferner S. 143, wo Sie wiederum in der Meereseinsamkeit das Mysterium des Lebens fanden, habe ich auch so hundertmal zu meinem Glück und Wohlergehen erfahren.

Ihr Stil ist ganz absonderlich. Sie scheinen sich gehen zu lassen, und doch liest man sich dabei in einen fortwährenden Claude Lorrain hinein. Das mag der Idealismus sein, den Sie selbst bekennen als die Grundlage Ihres Wesens und der den Gemälden jenes Meisters auch als allgewaltig innewohnt. So sehr habe ich immer den Eindruck, Claude zu sehen, wenn ich Sie lese, daß ich, ein Gläubiger der Seelenwanderung, ganz ernstlich frage: ist da nicht jener Keim wieder aufgegangen?«

Wenn mir schon diese Briefe, sowohl was Lob als Tadel betraf, höchst wertvoll und erfreulich waren, so wurden sie es noch mehr durch die darin ausgesprochenen allgemeinen Ansichten, mit denen ich nicht immer übereinstimmte, die mir aber nach und nach das Bild der Persönlichkeit des unbekannten Freundes vervollständigten und zu einer großen anziehenden Bedeutung erhoben. Am Ende des ersten Jahres unserer Korrespondenz erhielt ich wieder einen Brief aus Korfu, nachdem er im Sommer auf dem Festland in Österreich gewesen war und von da einen Besuch in Weimar gemacht hatte, das er noch nicht kannte, »natürlich um Goethes willen«, schrieb er, »ich lese jetzt seine Werke mit ganz anderem Verständnis, seitdem ich deren Hintergrund, [410] die Umgebung, habe kennen lernen. Für die Wahlverwandtschaften z.B. ist diese Kenntnis des Schauplatzes, der Gärten, die darin offenbar Muster gewesen sind, ganz unentbehrlich. Es fällt mir dabei auf, wie man einen Schriftsteller, je vollendeter er schrieb, mit den zugenommenen Jahren noch ganz anders erkennt, wie man ihn doch im frischen, regen Jünglingsalter erfaßt zu haben glaubte. Ich meinte stets den ganzen Goethe umfaßt zu haben, und sehe jetzt, da ich z.B. seinen Winckelmann wieder lese, daß ich noch nichts davon erfaßt habe, daß er ein Übermensch ist im Vergleich zu der Vorstellung, die ich von damals her hatte. Das Durchgeistigte des Stils, wie jedes Wort nicht bloß ein gedachtes, vielmehr ein durchaus gefühltes ist und er sich wohl auch nur dadurch leiten ließ, sowohl im künstlerischen, wie im verständigen Sinn, das bemerke ich erst jetzt ganz in meinen alten Tagen. Ich glaube, daß es nichts Stilbildenderes gibt, als Goethesche Prosa zu buchstabieren.« Dann fuhr er fort: »Ich lebe jetzt ganz einsam, die Abende meist allein zu Haus, bis 2, 3 Uhr nachts lesend, mit Vorliebe alte Bücher. Ich begreife so viele meiner Freunde nicht, die sich die Zimmer voll mit reizendem alten Gerümpel stellen, dazu aber französische Schandromane lesen, die nur schlecht wiederholen, was die schmutzige Gegenwart uns schon unausweichlich gegenüberstellt. Das eine oder andere ist unwahr und affektiert: diese antike Sammelwut oder das Lesen dieser Modernen. Ich will durch meine Bücher, wie durch meine Zimmer, in eine andere poetische, märchenhafte Welt versetzt werden. So schwelgte ich z.B. diese Nacht in Washington Irvings tales of a traveller, besonders in den goldenen Träumen des Wolferl Webber. Sie haben auch Ihr ganzes Leben so goldig geträumt, und ich preise Sie darum glücklich. Sie hätten uns allen nicht den Wert, wenn Sie statt dessen nach heutigem Pariser Muster, recht wohl berechnet, praktisch das Leben und Ihre Werke mit der Elle zugemessen, mit der Schere beschnitten hätten.«

So erschien mir immer der gleiche Idealismus in ihm, [411] immer die Höhe der ästhetischen Anforderungen an die Kunst und an das Leben und die Überzeugung, daß in beiden das Schöne, Gute, Natürliche der wahre Realismus ist, wie er dies in einem seiner Bücher sehr schön ausdrückt. Indem er von der entzückenden Schönheit der jonischen Ufer von Kleinasien und der Herrlichkeit des Meeres bei Knidos redet, sagt er: »Die Venus könnte jeden Augenblick daraus wieder auferstehen, ohne unnatürlicher zu erscheinen als die Delphine, die aufspringend und sich überschlagend ihr Leben genießen. So durchaus aus der Natur geboren, wie jedes Denken und Empfinden der Alten, war auch der antike Götterglaube, daher Homer sagen durfte: »denn leicht zu erkennen sind Götter«. Die Welt ist nie natürlicher gewesen als damals, echt realistisch, im guten, edlen – ich möchte sagen, um nicht mißverstanden zu werden, weil heute dieses Wort so korrumpiert wird – im idealen Sinn.«

Von seinen äußeren Verhältnissen erfuhr ich nun nach und nach so viel, daß er aus einem sehr alten lothringischen Geschlecht stamme. Einer seiner Ahnen hatte sogar den kurfürstlichen Stuhl von Trier inne gehabt, und durch mehrere Jahrhunderte werden die Warsberg in Urkunden als freie Reichsritter des rheinfränkischen Gaues oder als Mitglieder des Deutschherrn- und Johanniter-Ordens genannt. Ihr Stammbaum war untadelig, und sie waren in den stolzesten Kapiteln stiftsfähig, trugen auch Lehen von Trier und empfingen dort am Hofe Ämter und Würden aus der Hand des Kurfürsten. Auch ein Alexander von Warsberg, der von 1767 bis 1814 lebte, war der letzte Kämmerer des Erzstifts, sah den Untergang des Reichs und das Ende der Selbstherrlichkeit des eigenen, sowie vieler anderer, deutscher Geschlechter. Hätte man dem Atavismus nachspüren wollen, so hätten sich in meines Freundes Charakter wohl nicht undeutliche Spuren von jenen Vorfahren finden lassen, zunächst das stolze Unabhängigkeitsgefühl reichstreuer kleiner Dynasten (daher seine Anhänglichkeit an Österreich, als der geschichtlich berufenen ersten Macht [412] Deutschlands und seine Abneigung gegen Preußen), sein Widerwillen gegen den Protestantismus und seine Vorliebe für antike Kunst, deren Überreste in Trier so bedeutend sind.

Der Vater Alexanders hatte von seinen Vorfahren ein ansehnliches Vermögen ererbt, und seine drei Söhne konnten sich in der ersten Jugend als Erben eines reichen Besitzes ansehen. Unglückliche Spekulationen machten diesem ein Ende, und als die Familie nach Graz übersiedelte, wo Alexander sein erstes Universitätsjahr verbrachte, wurde ihm die herbe Enttäuschung zuteil, sich in einer völlig veränderten Lebenslage zu finden. Er ertrug dies Mißgeschick mit dem heiteren Sinn der Jugend und ging dann zur Fortsetzung seiner Studien nach München, wo ihm in Kunst, Wissenschaft und Literatur die Quellen reicher Bildung und durch den Umgang mit hervorragenden Menschen die förderndsten Einflüsse zuteil wurden. So hatte er unter anderem viel im Hause des Grafen Pocci, des geistreichen Romantikers, verkehrt, wo bedeutende Menschen aus- und eingingen und ihn mit Auszeichnung behandelten. Hier hatte er öfter die königlichen Prinzen, damals noch Knaben, gesehen, die mit den Söhnen des Hauses zu spielen kamen. Er widersprach auf das entschiedenste dem Gerücht, daß die Erziehung sehr viele Schuld gehabt habe an den nachherigen traurigen Geisteszuständen des edlen, hoch- und idealbegabten Königs Ludwig II. und seines Bruders und berief sich dabei auf die vorzüglichen Männer, die daran beteiligt gewesen waren und die er in jener Zeit kennen gelernt hatte.

Wie träumerisch innerlich sein Gemütsleben damals gewesen sein muß, erhellt aus einem kleinen Vorfall, den er mir später, nach persönlicher Bekanntschaft, einmal erzählte. Seine Mutter war mit ihm nach München gezogen, als er sich dahin zur Universität begab, kehrte aber nach einiger Zeit in den Wohnort der Familie, Graz, zurück. Alexander war danach eines Abends im Theater und ganz verloren in die poesieerfüllte Gedankenwelt, die dort in ihm angeregt war, schritt er, ohne sich dessen bewußt zu sein, der Straße zu, [413] wo die Mutter gewohnt hatte, um wie gewöhnlich den Teeabend bei ihr zuzubringen, trat in das Haus ein, erstieg die Treppe, zog die Klingel und wurde seines Irrtums erst inne, als eine ihm fremde Magd die Tür öffnete und fragte, was er wünsche.

Das Verhältnis zu seiner Mutter muß ein besonders inniges gewesen sein. Sie liebte diesen Sohn über alles, und sein feines, sinniges Wesen, sowie seine ungewöhnlichen Geistesgaben und sein Eifer bei ernsten Studien waren die Freude seiner Eltern. Nur wegen seiner von klein auf zarten Gesundheit hatte die Mutter schwere Sorgen, wozu beitrug, daß das wissensdurstige Gemüt des Knaben ihn nur zu oft forttrieb von den Spielen und dem leeren Zeitvertreib anderer Kinder, in einen stillen Winkel, wo er Stunden hindurch, mit Lesen und ernsten Arbeiten beschäftigt, allein blieb.

In jener Studienzeit in München ging ihm dann in ungewöhnlicher Weise sein Lebensprogramm auf. Eines Tages sah er in der neuen Pinakothek ein Gemälde von Peter Heß, das einen Trupp griechischer Landleute darstellt, die am Strand des Meeres dahinziehen. »Da, wie es zuweilen zu gehen pflegt,« sagte er, »daß dem Menschen durch irgendein zufälliges Ereignis seine eigentliche Bestimmung und sein Schicksal in einer Art von Hellsehen, wie in einer plötzlichen Beleuchtung, klar werden, fühlte ich, indem ich dies Bild betrachtete, daß ich das auch einmal erleben müsse, und all mein Wünschen und Wollen richtete sich darauf, Griechenland und den Orient zu sehen.« Und als er es erreicht hatte und in seinem ersten Buch »Ein Sommer im Orient« jenes prophetisch erleuchteten Moments gedachte, schrieb er: »Es ist nicht das erstemal, daß mir scheinbar Unmögliches, das ich übermütig begehrt hatte, gewährt worden ist; dem Wunsche, wenn er nur fest und unablässig bleibt, wird selten die Erfüllung fehlen. Eine eigentümliche Kraft, etwas wie ein elektrisches Fluidum ist in ihm wirksam, das instinktiv unsere ganze Tätigkeit nach dem einen Ziele richtet. Wird dieses dann, so wie heute« (als er nun wirklich im [414] Orient war) »erreicht, dann scheint es mir Pflicht eines schuldigen Danks, der glücklichen Stunde und der Veranlassung zu gedenken, die zuerst die Sehnsucht und das Verlangen geboren hat.«

Nach beendigter Universitätszeit und glänzend bestandenem Examen trat er in den Staatsdienst, als Praktikant bei der Grazer Statthalterei. Aber die engen, wenig anregenden Verhältnisse der Provinzialstadt übten einen niederdrückenden Einfluß auf das Gemüt des jungen Mannes aus, und vergebens suchte die liebende Mutter einen Ausweg für ihn aus dieser Lage und einen Schauplatz, wo seine reiche Begabung sich frei nach allen Seiten hin entwickeln könnte. Das Geschick kam ihm endlich zu Hilfe durch die Bekanntschaft mit der Familie des Freiherrn von Prokesch-Osten, der als österreichischer Botschafter in Konstantinopel weilte, dessen Familie aber in Graz zurückgeblieben war. Frau von Prokesch, eine in jeder Beziehung ausgezeichnete Frau, empfing den jungen Warsberg in ihrem gastlichen Hause, erkannte seine edle, reiche Natur, betrachtete ihn bald wie einen Sohn und führte ihn mit sich nach Konstantinopel, als sie ging, ihren Mann zu besuchen. Hier entspann sich nun das innige Freundschaftsband zwischen Prokesch und dem jüngeren Mann, das von seiten des letzteren zu einem wahren, das Grab überdauernden Kultus der Verehrung und Liebe wurde. Die Spuren des gewaltigen Einflusses, den der ältere auf den jüngeren Freund ausübte, finden sich überall in dessen Schriften, in den Äußerungen über Politik, Geschichte, Gesellschaft und Kunst. Was er von Prokesch sagte, läßt sich auch auf ihn anwenden: »Es ist merkwürdig, wie realistisch er, der Poet, den man so oft auch einen Phantasten nannte, in den politischen Dingen sich stets in der Gegenwart hielt. Er mahnt auch dadurch an die Menschen der antiken Zeit. Entfernte und nebelhafte Möglichkeiten hatten keinen Reiz für ihn. Namentlich sein Charakterbild als Staatsmann ist dadurch markiert. Das kam daher, weil er, durchaus moralisch, als Politiker stets nur an die Interessen [415] dachte, die er zu vertreten hatte, an die des Volkswohls und nicht an das Mehr oder Weniger von Belohnung für seine Eitelkeit.«

Ebenso Poet wie Prokesch, Idealist in Poesie und Kunst, lagen Warsberg auch alle politischen Träume fern, oder vielleicht entfernte er sie prinzipiell aus seinem Denken, weil er weder demokratisch noch konstitutionell gesinnt war, sondern autokratisch-monarchisch. So sagte er mir einmal, indem er von seiner politischen Tätigkeit in Griechenland sprach und von einer Periode des vorherrschend demokratischen Elements daselbst, er habe dem Könige von Griechenland gesagt: »Die Politik der Könige ist warten.« Das habe sich in dem Fall auch bewahrheitet, da kurze Zeit darauf das demokratische Ministerium gestürzt worden sei. Ich war nicht seiner Meinung und meinte vielmehr, die Politik der Könige sei, voraussehen und vorbeugen. Auf dem politischen Gebiet waren wir aber überhaupt selten derselben Ansicht. So hatte ihn z.B. das Jahr 1866 in »leidenschaftliche Verzweiflung« gebracht und es konnte ihn selbst nicht trösten, als Prokesch ihm aus Konstantinopel, nach dem Ende des preußisch-österreichischen Kriegs, schrieb: »Daß wir aus dem deutschen Bunde sind, ist die einzige Lichtseite in unserem Unglück; denken Sie recht nach, und Sie werden es auch finden. Außerhalb können wir in Deutschland gelten, innerhalb desselben, Preußen oder Minoritäten mit engen Gesichtspunkten gegen uns, nichts. Möge der Kultus der goldenen Kälber, der bloßen Formen und des Scheins aufhören und dafür Intelligenz walten, dann kann Österreich, gerade weil es nicht im Bund ist, etwas werden. Geschieht dieser Umschwung nicht, dann freilich wird es in keiner Lage etwas sein.«

Wie aber nicht allein durch persönliche Einflüsse, sondern durch die ersten größeren Reisen ostwärts in die Länder seiner Träume, die er nun wirklich besuchen konnte, sich ihm der Blick weitete und die Weltbildung sich vorbereitete, die seine späteren Reisen vervollständigen halfen, und wie sich [416] alle Schätze von Poesie und Naturgefühl, deren Keime in seiner Seele lagen, zu voller Blüte entwickelten, zeigt uns schon seine erste größere literarische Arbeit, die seine erste Reise nach Konstantinopel im Jahre 1864 beschreibt. Wenn uns in den »Odysseischen und Homerischen Landschaften« der gereifte Mann entgegentritt, in dessen Gemüt das Leben schon manchen tiefen Schatten geworfen und dessen Begeisterung selbst eine Beimischung wehmütiger Resignation hat, so weht uns aus diesem reizenden Buch eine Jugendlichkeit der Auffassung und des Empfindens an, die wahrhaft bezaubert, da sie schon mit jener künstlerischen Lebhaftigkeit der Darstellung verbunden ist, die uns glauben macht, daß wir mit ihm sehen. Er war damals 28 Jahre alt, aber es sprüht aus diesem Buch noch die volle Frische einer Jünglingsseele, neben einer staunenswerten Belesenheit in den alten Schriftstellern, aus denen ihm an Ort und Stelle die geistvollste Begründung historischer Tatsachen gegenüber der hochmütigen Verweisung solcher ins Fabelreich von seiten deutscher Katheder-Professoren hervorging. So sagt er u.a. in diesem Buch:

»Kein Blick auf eine andere Stätte der Welt hat mich mehr bewegt, als der auf dieses Feld von Troja. Es ist nicht Gefallen an der Landschaft, denn die Luft ist kalt und farblos; es ist auch nicht jenes unbedachte Entzücken, das sich in Selbstvergessenheit verliert, denn mir bleiben hundert betrachtungsvolle Gedanken, es ist vielmehr etwas wie Staunen und Grauen, daß die Fabeln wahr gewesen und daß Meer und Land die Schicksale der Helden überdauert haben. Welche Taten spielten auf diesem Boden! So ungeheuer und herrlich, daß die spätere Anwesenheit eines Xerxes, Alexander und Cäsar, die hier alle der älteren Erinnerung gehuldigt, hier gebetet und geopfert haben, vergessen werden kann. Es war schon die orientalische Frage, die auf diesem Flecke Erde Europa und Asien zum erstenmal einander gegenüber stellte, und die dann jene späteren Eroberer fortgesetzt haben.«

Schon bei dieser ersten Reise entwickelte sich die begeisterte [417] Liebe zum Orient, die Warsberg wie auch Prokesch nie mehr losließ und beide dem Okzident und der westlichen Zivilisation etwas entfremdete. Mehr als einmal drückte Warsberg den geheimen Grimm gegen den Okzident in scharfen Worten aus, wenn ihn die Zauber des Orients mit ihrer Magie umgaben und ihm den Kontrast zwischen dem Mutterland aller Kultur und der modernen Zivilisation besonders anschaulich machten. So sagt er z.B. einmal auf seiner lykischen Reise im Theater von Kanthos: »Das Großartigste unserer Gebirge ist hier dem Schönsten des Südens vermählt. Leicht begreift man, auf so alten ansehnlichen Ruinen stehend und aus ihnen solche Prachtbilder schauend, daß der Mensch hier einmal sich wohlbefinden, sich festsetzen, reich und übermächtig werden konnte. Aber was man nicht begreift, ist, daß die Menschheit solche Glücksgüter heute verschwendet, unbebaut und unbewohnt läßt, lieber in Hungerländern modert, ein Tier auf dürrer Heide, das immer spekuliert.«

Durch die Anschauung der Realität in Natur und Kunst, durch das Betreten der geschichtlichen Stätten früherer Kultur fielen dem wohlvorbereiteten Geist des jungen Mannes helle Streiflichter auf sein eingesammeltes, theoretisches Wissen, und am lebendigen Born der Erkenntnis trinkend, mochte er es wohl bedauern, drei Jugendjahre hindurch das leere Stroh der Katheder-Philosophen zu Häckerling verarbeitet zu haben, wie er sich einmal ausdrückte. Seine ganze Entwicklung führte ihn zu antiken Anschauungen in Philosophie und Kunst, so daß ich ihm schrieb, er komme mir vor wie ein antiker Grieche und er sei gewiß in einem früheren Leben schon einmal dort gewesen. Darauf antwortete er mir: »Es hat mich gefreut, daß Sie mich nach Griechenland gehörig befinden. Ich habe dasselbe Gefühl, daß da eigentlich meine Heimat ist. Und oft erscheint mir die Gegenwart nur wie ein Erinnern, ein Wiedererkennen des schon Gekannten.« Dann schrieb er ein andermal, sich entschuldigend, daß er lange nicht geschrieben: »Ich bin vor [418] allem ein Pflichtmensch und auch darin ein antiker Grieche, daß ich zuerst die vom Staate übernommenen Pflichten zu erfüllen für nötig finde.« Seine oft wiederholten Besuche bei dem ausgezeichneten Freunde in Konstantinopel trugen viel dazu bei, die geistige Reife Warsbergs zu zeitigen. Die Liebe, die er dem älteren Mann entgegenbrachte, wurde von diesem auf das herzlichste erwidert, so daß er sogar nach dem Tod seines zweiten Sohnes, der im deutsch-dänischen Kriege fiel, nur von Warsberg begleitet, von Pera aus auf die einsame Insel Prinkipo im Golf von Nikomedien ging, um dort in dem gemeinsamen Lesen Schopenhauers Trost zu suchen. »Und morgens«, sagte Warsberg, »ließen wir uns nach dem benachbarten, noch stilleren Eilande Chalkis überschiffen und dort in einer ganz abgelegenen stillen Bucht, wo man sich Tausende von Meilen Europa und seiner Zivilisation entfernt glauben kann, unter einer Pinie auf dem reinsten Seesande gelagert, den Blick auf den asiatischen Olymp gerichtet, las er mir Seite um Seite des halb indisch-asiatischen Philosophenwerkes vor. So in solcher Weise und vor ähnlichen Landschaften haben Pythagoras und Plato ihre Schüler gelehrt. Gewiß wäre es für Schopenhauer eine seiner größten Freuden gewesen, wenn er gewußt hätte, daß einstmalen, durch solche Hörsäle des herrlichsten Erdenwinkels, auch sein Wort weiterklinge.«

Wer wollte Warsberg nicht um solcher Stunden Genuß glücklich preisen? Wer würde nicht sagen, daß trotz bitterer Erfahrungen und langer körperlicher Leiden sein Leben dennoch das eines Auserwählten gewesen ist, dem das seltenste Glück der Erde, das einer so edlen Freundschaft mit einem gereiften, hochbegabten Mann, schon in der Jugend zuteil ward, der in dieser Genossenschaft die schönsten, durch Natur und Geschichte ausgezeichneten Stätten besuchen durfte, dem es vergönnt war, den Orient, die heilige Wiege unseres Geschlechts, mit seinen Dichteraugen anzuschauen und unter dem Zauber jener Eindrücke mit dem Weltgeist zu verkehren. Was ihm dieser Orient war, wie er im edelsten Sinn religiös auf [419] seine Seele wirkte, bezeugt folgender Ausspruch: »So oft sich die Menschheit dort schon erfrischt, neue Religionen und Ideen geholt hat, leichter noch wird es dem einzelnen auf jenem geschichts- und gottesgeheiligten Boden, seine Seele wieder zu gebären im Geist der Wahrheit und des Glaubens.«

Zwei Jahre ungefähr hatte die Korrespondenz gedauert, die uns ohne persönliche Bekanntschaft einander schon so nahe gebracht hatte, als ich plötzlich die freudigüberraschende Nachricht bekam, daß Warsberg auf einige Zeit nach Rom komme, um sich einer Kur zu unterziehen, die ein italienischer Arzt gegen chronisch gewordenen argen Husten und gegen Atemnot als unfehlbar gefunden zu haben glaubte. Dieses Leiden war Warsberg nach einer Lungenentzündung, die ihn in Paris befallen gehabt hatte, nachgeblieben und war ein Hauptgrund, weshalb er die Stellung als österreichischer Konsul nachgesucht hatte, weil er von dem milden Klima des herrlichen Phäakenlandes Heilung hoffte. Da ihm diese aber auch dort nicht geworden, wollte er nun diese ihm auf das wärmste empfohlene Kur gebrauchen. Mit welcher Freude ich dieser Begegnung entgegensah, kann man sich denken, aber doch auch mit einer Art von Spannung, die nicht ganz ohne Besorgnis war, denn wie groß auch die Sympathie sein mag, die zwei Geister zueinander zieht, so liegt doch auch ein gewisser Zauber in der Erscheinung, der dazu gehört, um sich persönlich ganz zu genügen. Ich wäre sehr enttäuscht gewesen, hätte sich mir dieser geistig so bedeutende Mann in einer äußerlich vulgären Gestalt gezeigt, denn leider ist es ja nicht immer möglich, daß die Seele sich auch ihren Körper schafft. Sehr froh war ich daher, als sich am bestimmten Tag und zur bestimmten Stunde die Tür öffnete und, so wie ich es mir gedacht hatte, ein hoher, schlanker, blonder Mann mit dem Ausdruf: »Endlich!« bei mir eintrat, dessen ganze Erscheinung das Gepräge wahrhaft adeligen Wesens und edler Kultur trug. Schnell verschwand daher die erste Befangenheit dieses schon so vertraut gewesenen Fremdseins, und nach einer Stunde heiteren [420] Gesprächs waren wir alte Freunde, die sich längst gekannt.

Es kamen nun Stunden freundlichen Zusammenseins, entweder am Tag bei mir, wenn es ihm erlaubt war, auszugehen, oder, da er am Abend nicht ausgehen durfte, bei ihm im Hotel, wo er mit zwei ausgezeichneten Freunden wohnte. Bei diesen kleinen geselligen Abenden verhielt sich Warsberg meist schweigend, da ihm viel Sprechen bei seiner Atemnot peinlich war, aber er folgte teilnehmend den Gesprächen und gab ihnen hier und da durch ein geistreiches Wort neuen Impuls und Schwung. Nie habe ich so gefühlt, wie bei ihm, was die bloße Gegenwart eines geistvollen und gütigen Menschen für eine anregende, magnetisch geistzeugende Kraft hat. Es ist dieselbe Wirkung wie die, die eine schöne, harmonische Naturumgebung auf uns ausübt, alles Verstimmende, Beleidigende, womit die Welt uns anfällt, verschwindet, wir fühlen uns unter dem Einfluß jener ewigen Sonne, die nur Blüten höchsten Wertes zeitigt und mit ihrem verklärenden Licht die Widersprüche des Lebens versöhnt.

Leider blieb die von dieser Kur gehoffte Wirkung völlig aus; nach zwei Monaten zuweilen sogar vermehrter Leiden schloß er mit ihr ab und bereitete sich, in Venedig seine Stellung als General-Konsul anzutreten. Er war dazu ernannt worden, nachdem er eine Reise der Kaiserin von Österreich im Orient geleitet hatte, wozu freilich niemand besser als er geeignet war, der den Orient so genau kannte und während sei nes Konsulats in Korfu fast kein Jahr hatte vergehen lassen, ohne das Mittelmeer in ein oder anderer Richtung zu durchstreifen, immer mit dem Homer als Begleiter, wobei er die Überzeugung erhielt, daß dieser die Orte, die er beschreibt, auch selber gesehen habe, eine Überzeugung, die er mit schlagenden Gründen den Behauptungen pedantischer Professoren entgegenhielt.

Es gibt so viele angenehme Begegnungen im Leben, die uns auf das freundlichste berühren und uns manche Stunde [421] angeregt verbringen lassen. Aber wenn sie scheiden, schließt sich die Welle wieder über ihnen, das Leben nimmt seinen gewohnten Fortgang, als wären sie nie dagewesen, und es bleibt nur zuweilen eine vorübergehende Erinnerung, die nichts in den Tiefen unseres Daseins verändert. Dagegen gibt es Erscheinungen, die, wenn sie in unser Leben treten, uns das Gefühl geben, als sei uns etwas lang Entbehrtes endlich zuteil geworden, eine Ergänzung unserer selbst, mit der für den, der »ewig strebend sich bemüht«, sich neue Sphären der Vervollkommnung öffnen und sich das Geheimnis wahrhaft edler, menschlicher Beziehungen erfüllt: miteinander und durcheinander zu wachsen an ethischem Wert und den Inhalt des Lebens immer bedeutungsvoller zu gestalten. Solch eine Erscheinung war Warsberg, und das Scheiden einer solchen läßt eine tiefe Lücke, die nichts auszufüllen vermag. Die nun noch häufiger werdende Korrespondenz war ein halber Ersatz, sie wurde nun persönlicher als vorher und bezog sich vielfach auf seine neue Einrichtung in Venedig, wo er schon immer eine Wohnung gehabt hatte, weil er diese Stadt über alles liebte und sagte, daß sie ihm nie ein Leid getan; für seine neuen Verhältnisse als General-Konsul, die ein Geschäftslokal erforderten, war jene frühere zu klein, und er mietete den ganzen Palazzo Modena, der den in Venedig seltenen Vorzug eines großen, schönen Gartens hatte, wo im Schatten alter Bäume Marmorbilder standen, und dessen große Säle mit trefflichen Deckenmalereien geschmückt waren.

Da ich in dem folgenden Sommer meine gewöhnliche Sommerreise nach Versailles zu Olga durch Deutschland nehmen wollte, um in München die Ausstellung zu sehen und dann meine letzte überlebende Schwester in Ems zu besuchen und geschrieben hatte, daß ich deshalb über den Brenner reise, so erhielt ich eine dringende Einladung von Warsberg, nicht so nahe an Venedig vorüber zu fahren, ohne ihm einen Besuch zu machen und ein paar Wochen bei ihm zu verweilen. Nach einigem Bedenken nahm ich an, da ich mich freute, [422] ihn wiederzusehen, und fuhr Ende Mai über die lange Eisenbahnbrücke der Lagunen, der herrlichen Stadt entgegen, die ich seit vielen Jahren nicht gesehen hatte. Am Bahnhof empfing mich der gute Freund und führte mich in seiner Gondel zu dem herrlichen Palazzo Pisani am Canal grande, wo seine bisherige venetianische Wohnung im dritten Stock war, vor dem sich eine breite Terrasse hinzieht, von der man die herrlichste Aussicht auf die stolzen, architektonisch so zauberischen Paläste hat, die sich in der weiten Wasserfläche spiegeln. Er führte mich gleich in den schönen mit edlem Kunstsinn geschmückten Räumen umher, und ich empfand alsbald die Gewißheit, daß sich hier Stunden reinsten Genusses verbringen lassen müßten. Ich fand auch Warsberg etwas wohler und heiterer als in Rom, und es ließ sich alles so freundlich und glücklich an, daß ich dem Schicksal im Herzen dankte, das mir am Lebensabend noch eine so seltene Freundschaft unter so schönen Bedingungen geschenkt hatte.

Am Abend geleitete er mich in ein ihm befreundetes Haus, wo er öfter seine Abende zuzubringen pflegte, und hier, wo ich ihn zuerst in einem größeren Kreis sah, fiel es mir auf, wie sehr er unter all den anderen Männern das Interesse auf sich zog, obgleich er, nach gewöhnlichen Begriffen, weniger schön und äußerlich bevorzugt war, als manche der Anwesenden. Es war bei ihm, wie es bei sehr bedeutenden Menschen zu sein pflegt: es geht eine Wirkung von ihnen aus, ein magnetisches, geistiges Fluidum, das, ohne daß sie es wollen und suchen, die verwandten Seelen anzieht. Aus all dem gewöhnlichen Geplauder der Salon-Konversation heraus sehnte man sich nach einem Wort des bleichen, kranken Mannes, und wenn er sprach, hörte man nur auf ihn und hätte immer weiter hören mögen, besonders wenn er vom Orient erzählte. Nach einem solcher Abende in seine Wohnung zurückgekehrt, verweilten wir noch lange in lauer Mainacht auf der herrlichen Terrasse im angeregten Gespräch. Unten auf den ruhigen Wassern des Canal grande glitten noch einzelne Gondeln dahin, nur durch ihr kleines Laternchen [423] verraten, das wie ein feuriges Auge heraufblickte, gleichsam lauernd, ob kein Verräter das zu geheimnisvoller Tat eilende Fahrzeug erspähe. Oben am Himmel glänzten Myriaden Sterne; die phantasievollen Paläste, die den Kanal einfassen, lagen in nächtliches Dunkel gehüllt. Plötzlich erhob sich vom jenseitigen Ufer eine herrliche Tenorstimme und sang eine reizende italienische Kantilene voll süßer, wehmütiger Lieblichkeit in die Zaubernacht hinaus. Warsberg schilderte mir in bewegten Worten seine Vorliebe für Venedig, und ich stimmte voll Begeisterung ein und sagte endlich, wie ich der allgemeinen Annahme nicht beipflichten könne, daß der Süden den Menschen mit zu starken Fesseln an das Leben bände, und wie es mir gerade eine seiner schönsten Wirkungen schiene, daß er die Seele so zur Harmonie stimme, Natur und Geist so in Einklang setze, daß der Tod wieder zum idealen Genius mit der umgekehrten Fackel werde und man ohne Widerstreben bereit sei, sich in die unsägliche Harmonie des Daseins aufzulösen, während der Norden mit seinem dunkeln Drang nach dem unerreichbaren Ideal, in der ewigen Zerrissenheit zwischen Wunsch und Erfüllung den Tod als den bittern Trank empfinde, der die Unbefriedigtheit des Lebens endet. Warsberg schwieg eine Weile, dann sagte er: »Sie haben recht.« Kam ihm in dem Augenblick die Ahnung, daß gerade in Jahresfrist der milde Genius auch ihm, dem Griechen, die Fackel löschen werde? Ich weiß es nicht, aber wäre sie mir gekommen, die unsägliche Schönheit dieser Zaubernacht hätte sich mir in bitteren Schmerz verkehrt, denn was ich gesagt hatte, galt nur den Sterbenden, nicht den Überlebenden.

Doch sollte diese schöne, ernste Stunde noch heiter enden. Eben als wir die Terrasse verlassen wollten und uns gute Nacht wünschten, um ein jeder in seine Zimmer zurückzugehen, erschien ein mir bisher noch unbekannter Bewohner des Hauses, nämlich eine große Katze, die, wie ich nun erfuhr, mit von Korfu herübergekommen war. Sie sprang auch mit der vollen Keckheit eines sich zu Hause fühlenden, [424] verwöhnten und kapriziösen Kindes umher, und ehe wir es uns versahen, hatte sie eine kleine Vase von ihrem Postament heruntergeworfen, deren Scherben nun den Boden bedeckten. Warsberg wurde nicht nur nicht böse, wie ich ihn später, ungeschickten Dienstboten gegenüber, habe werden sehen, sondern er nahm die Katze auf den Arm, liebkoste sie und gab ihr hundert Namen mit so zärtlich liebevollem Ton, wie ich ihn noch nie hatte sprechen hören. Ich beobachtete ihn still und freute mich, ihn einmal so ganz unmittelbar als Gefühlsmenschen zu sehen, in einem Augenblick, wo kein Überwiegen des Intellekts und keine konventionelle Form den reinen Ausdruck des Gemüts störte.

Mehrere Monate nachher schrieb er mir einmal bei einer besonderen Veranlassung, daß er es gern habe, nicht ganz gekannt zu sein, daß er in der Welt eine Maske trage und daß selbst in seinen intimeren Beziehungen niemand den Grund seines Wesens kenne. Es komme ihm vor wie eine Demütigung, sogleich erkannt zu sein, selbst seiner Mutter habe er dieses Vorrecht nie gewährt. Er schloß mit den Worten: »Ich will gefürchtet, nicht geliebt sein, und so über Euch allen schweben, wie ein antiker Tyrann. Frei steht es Euch dann, mich hinterrücks umzubringen.«

Ich mußte herzlich über dies doch halb im Scherz gesagte Paradoxon lachen und schrieb ihm in meiner Antwort von dem Eindruck, den mir jene Nachtszene mit der Katze gemacht und wie ich dabei einen tiefen Einblick in die große Liebesfähigkeit seines Herzens getan hätte. Er schrieb mir darauf wieder: »Die Katzen liebe ich wirklich sehr, aber wissen Sie, warum? Weil sie griechisch-klassisch anmutig, d.h. graziös sind. So sind es die Bildwerke des Phidias, die Grabsteine von Athen, die antiken kleinen Terrakotten und die Vasengemälde. Von lebenden Wesen sah ich so nur die Fanny Elsler und hörte die Louise Neumann. Die rührte mich auch im Lustspiel bis zu Tränen.«

Er konnte nicht so bald von dieser komischen Grille des Unerkanntseinwollens abkommen und schrieb mir noch mehrere [425] Male Erklärungen darüber. Ich antwortete ihm endlich: »Ihrer Tyrannei unterwirft man sich gern, nur hüten Sie sich, die Katzen zu liebkosen, wenn Sie unerkannt bleiben wollen. Es gibt solche Augenblicke, die Verräter sind, und warum wollten Sie diese Augenblicke verdammen, in denen die Augen der Sterblichen plötzlich hellsehend werden und den in die Menschengestalt exilierten Gott erkennen? Solche Augenblicke wie der unter der Pinie auf Ithaka, wo Sie wahrnahmen, daß Sie Zeus die Hand gereicht.« 4

Ich wohnte noch dem Umzug in den Palazzo Modena bei, dessen Einrichtung Warsberg selbst leitete. Es war keine kleine Aufgabe, den dreistöckigen Palast mit den großen Sälen, den vielen Zimmern, die noch dazu in vernachlässigtem Zustand waren, so künstlerisch und edel vornehm einzurichten, wie es sein ästhetischer Sinn verlangte. Diese Beschäftigung nahm, neben seinen amtlichen Arbeiten, denen er mit seinem strengen Pflichtgefühl vor allem oblag, seinen Tag in Anspruch, und erst gegen Abend gönnte er sich Ruhe und Erholung in einer Gondelfahrt, wobei ich ihn begleitete. Oft war er so müde und abgespannt, daß ich schweigend neben ihm saß und ihn dem Halbschlaf überließ, der ihn befiel. Aber wenn er sich wohler fühlte und in der Stimmung für heitere oder ernste Gespräche war, dann gehörten diese Gondelfahrten zu den schönsten Stunden meines Aufenthalts dort. Denn es gibt wohl kaum etwas Poesievolleres, als mit geist-und gefühlvollen Menschen in einer Gondel über die Lagunen hinzugleiten, den ewig neuen Reiz der Lichteffekte auf den Wassern, den herrlichen Palästen, den oft so malerischen engeren Kanälen mit ihren Brücken, und die träumerische Anmut der Inseln, die sich wie eine Fata Morgana aus den Wassern erheben, kurz, das ganze originelle Leben dieser einzigen Stadt – zu genießen.

Ich mußte endlich scheiden und meine Reise nach Norden [426] fortsetzen, mußte dem guten Freund aber versprechen, auf der Rückreise wieder bei ihm einzukehren. Ich schrieb ihm dann ganz entrüstet über den Norden, wo mich trüber, grauer Himmel und feuchte, kalte Luft empfangen hatten, so daß ich wieder auf das lebhafteste den Sehnsuchtsdrang begriff, der von jeher die Völker und die einzelnen aus den nordischen Nebeln nach der sonnenverklärten Schönheit des Südens gelockt hat. Warsberg erwiderte: »Ich freue mich, daß Sie wie ich nordensmüde sind. Ich möchte nicht einmal mehr nach Wien reisen müssen.« Leider wurde ihm aber die für ihn so notwendige Ruhe in seinem neuen, schönen Heim nicht zuteil. Er mußte nach Österreich und schrieb mir von da ganz bekümmert, daß er im Oktober abermals eine Orientreise der Kaiserin geleiten müsse und er habe sich so gefreut, nun gerade diesen, in Ober-Italien so schönen Monat, in seinem mit der größten Mühe eingerichteten Hause in Venedig zubringen zu können. Mich bekümmerte diese Nachricht auch sehr, denn ich wußte, wie diese neue Anstrengung ihm schaden würde und wie nur ein geregeltes Leben in der schönen Ruhe seines Heims sein gefährdetes Dasein noch auf viele Jahre hinaus erhalten könnte. Leider konnte er sich nicht entschließen, seine so wohl begründeten Besorgnisse der Kaiserin mitzuteilen, sie würde sonst gewiß eingesehen haben, daß sie mit dieser Reise das Verhängnis heraufbeschwor, das ihr einen wahrhaft ergebenen Anhänger und so vielen einen teuren Freund raubte. Aber die Menschen achten zu wenig auf die warnenden Stimmen, die sich in entscheidenden Augenblicken in der eigenen Brust erheben und keine zu mißachtenden Orakel sind. Man ist immer nur zu sehr geneigt, zu denken, diesmal werde das Schicksal noch so vorübergehen, werde uns noch verschonen, oder der günstige Augenblick werde wiederkommen, und das Glück werde sich uns neigen, damit wir es erfassen könnten. Erst wenn das Unwiderrufliche eingetreten ist, beseufzen wir zu spät unsere Versäumnis.

Während der Reise erhielt ich nur einmal eine kurze Mitteilung [427] aus Korfu, aber von anderer Seite aus Venedig die eines Briefes an den ihm treu ergebenen ersten Sekretär des General-Konsulats, worin er seine baldige Ankunft verkündete und schrieb: »Ich bin mit meiner Kraft zu Ende. Sie haben keine Vorstellung von den Anstrengungen dieser Reise. Alles lag auf mir, niemand sonst ordnete etwas an. Ich will sehr langsam durch Italien zurückreisen, um im Alleinsein mich auszuruhen.«

Die Rasttage, die er sich gönnte, schienen ihm auch gut getan zu haben, denn er schrieb mir von Rom aus, wohin ich noch nicht zurückgekehrt war, nur ganz kurz: »Ich fühle mich doch so weit ganz gut, daß ich hoffe, noch etwas erleben zu können. Denken Sie, wenn es eine Episode aus dem dritten Teil Ihrer Phädra wäre? Diese Hieroglyphen sind aber nur für Sie.« Natürlich erregten diese Worte meine Neugier auf das höchste und ich konnte bei dem Bemühen, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, nur auf eine Heirat schließen. In meiner Antwort fragte ich daher scherzend, ob es eine schöne Phäakentochter oder wer sonst sei. Darauf erhielt ich einen in komischester Entrüstung geschriebenen Brief über die fürchterliche Vermutung und dann die Versicherung, daß es etwas ganz anderes sei. Zugleich aber bat er dringend, da meine Rückreise nach Rom bevorstand, den Weg wieder über Venedig zu nehmen und eine Zeitlang sein Gast zu sein. Andere Freunde sollten auch kommen, und er fügte hinzu: »Wenn solch ein Kreis beisammen ist, mein ich, müßte es doch Symposien geben, an die alle Teilnehmer noch lange mit Freuden zurückdenken würden.«

Diese schöne Aussicht lockte mich denn auch wirklich, Ende November von Mailand aus nach Venedig abzuzweigen, und ich wurde wieder daselbst auf das herzlichste empfangen. Es hatten sich schon einige andere Gäste eingefunden. Warsbergs Bruder, der geistvolle Pole, Herr von Klaczko, den ich schon aus seinen früheren ausgezeichneten Artikeln in der[428] »Revue des Deux Mondes«, die ich noch mit A. Herzen zusammen gelesen hatte, kannte, und Graf Lanckoronski, der viel jüngere Freund Warsbergs, den ich schon in dem Winter in Rom in des letzteren Gesellschaft hatte kennen und schätzen lernen, der aber leider nur wenige Tage blieb, da er im Begriff war, eine große Reise nach Indien anzutreten. Auch Warsberg mußte seine Gäste auf einige Tage verlassen, da ihm die ehrenvolle Einladung zugekommen war, in Miramar mit dem österreichischen Kaiserpaar das Fest der 44jährigen Regierung des Kaisers zu begehen, das dort in aller Stille nur im engsten Hofzirkel gefeiert wurde. Er kam sehr heiter von dort zurück, erging sich im Lobe des kaiserlichen Paares und erklärte mir nun auch die Bedeutung jener Hieroglyphen, deren Deutung meinerseits ihn so entrüstet hatte, die aber nun kein Geheimnis mehr zu sein brauchten. Es war ihm nämlich der Auftrag geworden, der Kaiserin auf Korfu eine Villa zu bauen auf einem der schönsten Punkte der Insel. »So haben Sie mir doch wirklich mein Prognostikon in dem dritten Teil der Phädra gestellt,« sagte er und erwähnte dann noch einmal die »schauderhafte« Vermutung, zu der mich seine rätselhafte Andeutung geführt hatte. So herzlich ich immer über diese seine Entrüstung lachen mußte, so konnte ich mich doch nicht über den Auftrag freuen, denn ich sah voraus, daß bei dem Eifer, mit dem er ihn erfaßte, und der Anziehungskraft, die er auf seine künstlerische Phantasie übte, er seine schwachen Kräfte überbieten würde. Ich sagte ihm, ich wollte, ich hätte ihm ein anderes Prognostikon gestellt, und ganz war auch er nicht frei von dem Gefühl, daß es verhängnisvoll für ihn werden könne, aber es reizte ihn zu mächtig, seinem künstlerischen Verstehen und seinem Schönheitssinn in einer großartigen Schöpfung ein Denkmal zu setzen. In seiner Natur lag es, sich nach großen Aufgaben zu sehnen, denn es wohnten zwei Seelen auch in seiner Brust, und neben dem in einsamen Gedankenreichen sich glücklich fühlenden Weisen war auch der ehrgeizige Mann, der gern in das große Getriebe des Staatenlebens mit eingegriffen und seinen[429] starken Willen wie seine Einsicht geltend gemacht hätte. Auch jetzt in Venedig war er gesonnen, das Konsulat aus der untergeordneten Stellung, in der sein Vorgänger es gelassen, zu politischer Bedeutung zu erheben und die noch immer etwas gereizte Stimmung dort durch liebenswürdiges Entgegenkommen zu versöhnen. Was ihn aber dazu trieb, sein Haus gleich in glänzender Weise der Geselligkeit zu öffnen, war nicht bloß der Wunsch, als Staatsdiener hier nützlich zu sein, sondern auch das Vergnügen, das er selbst daran hatte, seine schönen Gemächer im Lichterglanz strahlen zu lassen, an seiner reich besetzten Tafel ausgezeichnete Gäste (so unter anderen Sir Henry Layard, den ehemaligen Gesandten in Konstantinopel, jetzt in Venedig lebend, den Dichter Browning und viele andere) zu speisen und eine elegante Menge durch die prächtigen Säle wandeln zu sehen. An einem der ersten dieser geselligen Abende, wo die ganze vornehme venetianische Gesellschaft versammelt war, sah ich da auch Don Carlos, den spanischen Thronprätendenten, der in Venedig lebt und den Warsberg, trotzdem er ihm nicht sympathisch war, seiner Beziehung zu Österreich wegen bitten mußte. Er stellte mir diesen vor, zum Glück gleichzeitig einer sehr gewandten Weltdame, die bei mir stand und alsbald die Unterhaltung zu meiner Erleichterung übernahm, denn ich hätte absolut nicht gewußt, was ich mit diesem, seinem Schillerschen Namensvetter so unähnlichen, gar keine Sympathie erweckenden Manne, hätte sprechen sollen. Warsberg selbst verhielt sich bei solchen Festen meist still, weil seine körperlichen Leiden ihm jeden Genuß erschwerten und es für ihn Anstrengungen waren, die er meist mit schlaflosen Nächten und völliger Erschöpfung zahlte, aber Freude machte es ihm doch; es war das Künstlerische dabei, der schöne Glanz und die Fülle des Lebens, was ihn anzog, als Maler wäre er vielleicht ein Paul Veronese geworden. Und doch war er auch wieder ein tief verständnisvoller Bewunderer der griechischen Kunst und ihrer erhabenen, seelenvollen Einfachheit, und es war meine größte Freude, wenn das Gespräch [430] sich darauf wandte, denn da hatte er so viel neue und geistvolle Dinge zu sagen, daß es ein wahrer Genuß war, ihm zuzuhören. Eines Abends zitierte er uns ein Wort Thorwaldsens, das Herr von Prokesch ihm mitgeteilt hatte, daß die griechische Skulptur so besonders reich im Genre gewesen sei, daß sie das vor anderen auszeichne und ihren hohen Reiz bilde. Er bemerkte dabei, daß er eine Abhandlung über das Genre in der griechischen Kunst geschrieben habe, die zum Druck fertig sei, und setzte hinzu: »Die Akademiker freilich werden dazu den Kopf schütteln.« Nachher führte er mich zu einer Zeichnung, die er in Athen nach einem Grabmal hatte machen lassen, und sagte: »Sehen Sie, das ist griechische Kunst.« Es ergriff mich wieder wie schon früher bei ähnlichem, wahrhaft Griechischem, z.B. bei dem Relief von Orpheus und Eurydike in der Villa Albani in Rom tiefe Rührung über die vollkommen einfache Natürlichkeit des Ausdrucks, die dem starren Marmor Geist und Gemüt einhaucht und die Handlung, selbst der Götter und Heroen, zu einem schlicht menschlichen Vorgang macht. Für Warsberg war es mit der antiken Kunst wie mit der Natur, von der er einmal sagt: »Es ist unwahr, die Natur nur formell, nicht auch eine Seele in ihr zu sehen. Sie atmet und spricht wie alles Irdische.« Die Schönheit einer orientalischen Landschaft, eines antiken Reliefs, eines Menschen jener begnadeten Rassen verrieten ihm die Seele der antiken Menschheit, erklärten ihm Homer und die alten Tragiker. Die Schönheit eines jungen Burschen, der ihm zum Führer diente, rief ihm die Verse des Euripides in den Bacchantinnen, die den Dionysos schildern, ins Gedächtnis, und als er denselben Typus bei einer Terrakottastatue und auf einer Münze wiederfand, schrieb er: »So werden diese Verse ganz natürlich, wie jene schönen Münzenbilder begreiflich. Die einen wie die andern sind nur Nachahmungen der Natur, nicht wie unsere Schulen es glauben und die Kunstakademien es lehren, ideale Schöpfungen, gleichsam ausgebildet, wie Faust seinen Homunkulus erschaffen will. Darum [431] sind sie so lebendig und berühren uns so anmutig, während die nach antiken Mustern ausgeführten Kunstwerke uns kalt lassen und steif und leblos scheinen. Daher freuen uns auch solche Begegnungen in den antiken Ländern mit dem klassisch gebliebenen Leben so sehr, weil sie uns die ganze ursprüngliche Realität, das echt Humane der alten Kunstwerke und Dichtungen dartun. Das ist der doppelte Vorteil der Reisen auf dem klassischen Boden, daß sie uns zugleich die Wahrheit der Kunstwerke erschließen; durch die Kunstwerke aber auch den ganzen schönen Inhalt der Landschaften zu erkennen und nachzufühlen geben. Klassisch schön – das müssen wir uns diesen gewonnenen Überzeugungen gegenüber eingestehen – werden unsere eigenen Kunstschöpfungen und Dichtungen erst wieder sein, wenn wir wieder einmal in solchen schönen Landen und mit Menschen wie dieser Antoniades (so hieß jener Bursch) alltäglich leben werden. Goethe hat sein Siegel auf diese Frage gedrückt: »Natur und Kunst nicht mehr zu trennen.«

Auf seinen Wunsch verschob ich meine Abreise bis nach den Weihnachts- und Neujahrsfesttagen. Den Weihnachtsabend verbrachten wir bei Freunden von ihm in gemütlicher Weise. Warsberg war besonders ernst und gedankenvoll an dem Abend, und als wir um Mitternacht noch alle beim Tee zusammensaßen und plötzlich die große Glocke von San Marco langsam und feierlich durch die Nacht schallte und die Gläubigen zu der Christmesse einlud, da sagte er leise wie für sich hin: »So hat sie auch einst dem Marino Falieri ertönt.« Daß ihm nun gerade wieder die schwermütige Erinnerung an das tragische Ende dieses Dogen an dem heiteren Festabend kam, war sicher ein Beweis, daß Todesahnungen, mehr als seine Umgebungen es glaubten, oft durch seine Seele zogen, und vielleicht dachte er in dem Augenblick, daß diese Glocke ihm nicht wieder zum Feste läuten werde.

So ging nun das Jahr 88 zu Ende, dem ich die persönliche Bekanntschaft dieses seltenen Menschen verdankte, dessen Freundschaft mir wie eine Blume am Grabesrand erblüht [432] war, die, wie ich mit Recht hoffen durfte, auch über meinem Grabe noch fortblühen werde. Am 2. Januar schied ich von Venedig, um in mein römisches Heim zurückzukehren. Das Scheiden wurde mir diesmal nicht so schwer, da baldiges Wiedersehen in Aussicht stand, weil er in Kürze nach Korfu wollte, um die ersten Anordnungen zum Bau der kaiserlichen Villa zu treffen und auf dem Wege kurze Rast in Rom zu halten gedachte. Anfang Februar erschien er schon unangemeldet und verbrachte einen gemütlichen Abend bei mir. Den Tag darauf waren wir beide zu Donna Laura Minghetti, die ihm auch eine werte Freundin war, zum Diner eingeladen. Lange hatte ich ihn nicht so gemütlich, liebenswürdig, so geistvoll ergiebig gesehen, wie an diesem Abend in unserem harmonischen Trio. Das Gespräch wendete sich von heiter-anmutigen Dingen, von künstlerischen Gegenständen zu den ernstesten Lebensfragen. Er erwähnte dabei eines mystischen Philosophen, den er über alles schätzte, und als er den Namen Du Prel nannte, erinnerte ich mich einer Stelle aus einem seiner Briefe vor unserer persönlichen Bekanntschaft, in der er sagte: »Es sollte sich heutzutage mehr um eine Philosophie des Menschen, um eine Kenntnis seiner selbst, als um Menschheit, Natur und Welt im allgemeinen handeln. Erkenne dich selbst, damit, so alt der Rat ist, geben sich nur die wenigsten ab, und mir scheint, da wäre ebensoviel als in den Gestirnen, in Wasser, Erde und Feuer zu entdecken. Ein Philosoph, Baron du Prel, wandelt auf diesen Wegen. Sie streifen daran, sind sich der Aufgabe aber noch nicht ganz bewußt.« Von diesem Philosophen sprach er nun an dem Abend und sagte, daß dieser behaupte, unser Selbstbewußtsein erschöpfe durchaus nicht den ganzen Inhalt unseres Wesens, das noch einen transzendentalen Teil enthalte, nicht dualistisch vom ersteren getrennt, sondern monistisch mit ihm verbunden, wie eine zweite Seele, deren Fähigkeiten weit über das Tagesbewußtsein hinausgingen. Du Prel stütze sich dabei auf Kant und hebe die Wichtigkeit hervor, diese zweite Seele zu erkennen [433] und ihre durchaus individuelle, allen pantheistischen Ideen von Fortdauer entgegengesetzte Existenz zu beweisen, die, wenn aus ihren Schranken befreit, das Unvergängliche sein müsse.

Ich stimmte dieser Ansicht insofern bei, als es mir schien, daß diese zweite Seele in uns entbinden, ungefähr dasselbe meine, wie das, was ich mir längst so ausgedrückt hatte: den Gott in uns erlösen. Daß diese Aufgabe allein dem Leben Wert verleihe, damit war ich völlig einverstanden, und daß das einmal Geist Gewordene in irgendeiner Weise ewig sei, glaubte und glaube ich auch. Warsberg sprach lange über diese Ansichten; nie war er mir liebenswürdiger erschienen, als an jenem Abend, es lag eine sanfte Verklärung über seinem Wesen, er war wie ein Scheidender, der weiß, daß er den Freunden nur sichtbar entschwindet, daß er aber in ihrer Liebe seiner Unsterblichkeit sicher ist.

Die Nachrichten, die ich aus Korfu erhielt, bestätigten die Sorge, mit der ich ihn diese Aufgabe übernehmen und die Reise hatte machen sehen. Eine Erkältung hatte ihm zu dem chronischen Katarrh noch eine Bronchitis mit Fieber gegeben, dabei war er unausgesetzt tätig, die bezaubernde Schöpfung, die er plante, vorzubereiten, kehrte nur halb geheilt nach Neapel zurück, war dort auch unausgesetzt beschäftigt und erschien endlich wieder zu kurzer Rast in Rom. Sein Aussehen war aber so verändert, daß es die bangste Besorgnis einflößte und ich nur noch eine Hoffnung hatte, daß er sich jetzt in der vollständigen Ruhe seines venetianischen Heims werde pflegen und wieder erholen können. Aber auch das sollte nicht sein. Kaum war er dort angelangt, so rief ihn ein Telegramm der Kaiserin nach Wien, und trotz des vom Arzt beglaubigten Protestes mußte er in der noch schlechten Jahreszeit in das nordische Klima reisen. Natürlich wurde er todkrank in Wien, ich bekam fortwährend durch die Freunde Nachrichten, leider immer der schlimmsten Art, aber Anfang Mai schickten ihn die Ärzte, die wohl am Ende ihrer Weisheit waren, wie sie dann zu tun pflegen, nach [434] Venedig zurück. Ich wäre gern gleich hingeeilt, um ihn zu pflegen, aber ein Freund und eine verwandte Dame waren mitgekommen, und das hielt mich zurück. Doch erhielt ich beinah täglich Nachricht durch den ihm innigst ergebenen De Rosa, ersten Sekretär des Konsulats, einen vortrefflichen Mann, in den auch Warsberg das größte Vertrauen setzte. Auf einen Brief, den Warsberg ihm an mich diktiert hatte, worin er sagte, daß sein Leben hart gewesen sei, antwortete ich ihm: »Seien Sie hohen Mutes, lieber Freund! Ja, Ihr Leben ist hart gewesen, aber es ist auch schön gewesen, wie wenig Leben, denn Sie haben an dem Born der ewigen Schönheit getrunken, und wenn ich in Ihren Büchern lese von den Stunden, wo Sie im Orient einsam in den heiligsten Entzückungen mit dem Weltgeist verkehrten, dann finde ich Sie beneidenswert. Die Stunden der irdischen Qual sind hart und ich gäbe alles darum, könnte ich Sie davon befreien, aber Sie haben sich schon die Ewigkeit erschlossen, und die Spur von Ihren Erdentagen kann nicht mehr untergehen.«

Endlich kamen dann aber Briefe und Telegramme, die mich dringend aufforderten, zu kommen, und so machte ich so schnell ich konnte meine Vorkehrungen für den Sommer, da ich dann jedenfalls von Venedig aus wieder zu Olga wollte, und fuhr nach Venedig in schmerzlicher Spannung, ob ich den Freund noch am Leben finden würde. Am Bahnhof empfingen mich sein Bruder und der treue Rosa und sagten mir, daß er noch lebe, daß ich mich aber auf das Schlimmste gefaßt machen müsse. Er hatte sich gefreut, als man ihm sagte, daß ich komme, und hatte befohlen, mich gleich zu ihm zu führen. Ich fand ihn im Lehnstuhl sitzend, die geschwollenen Füße auf Kissen ausgestreckt, das Antlitz noch bleicher als früher, nur die Augen leuchteten von Geistesklarheit, und auf seinen Zügen lag der Frieden der Überwinder. Es waren mehrere Bekannte im Zimmer, durch die geöffneten Fenster strömte liebliche Mailuft, und die Wipfel der herrlichen alten Bäume seines Gartens schauten grüßend herein. Als man mich mit ihm allein ließ, sagte er: [435] »Erlösung, Erlösung! Anderes können Sie mir nicht wünschen.« Ich mußte ihm recht geben, wenn auch mit tiefem Schmerz; aber es hätte mir seiner und meiner unwürdig geschienen in diesen feierlichen Stunden, angesichts des großen Lebensabschlusses, der unaufhaltsam heranschritt, eine eitle Hoffnung auszusprechen. Den Nachmittag verbrachten wir in lauter guten, sanften Gesprächen, bis ich zum Abendbrot in die unteren Räume, wo die übrigen Hausbewohner versammelt waren, gerufen wurde. Warsberg sollte sich zur Ruhe begeben, und ich sagte ihm daher gute Nacht, immer noch leise hoffend, daß bei der völligen Geistesklarheit, in der ich ihn sah, die Katastrophe noch hinausgeschoben sein könne. Auch war die Art, wie er mir gute Nacht sagte, so freundlich, fast heiter, aus seinen Augen leuchtete so siegend seine Seele, daß ich wenigstens sicher auf ein morgen hoffte. Wir waren aber noch nicht lange unten beim Essen versammelt, als man uns wieder hinaufrief, vor allen den Arzt, der mit da war, weil der Kranke, indem er sich in sein Schlafzimmer hatte begeben wollen, zusammengebrochen war. Ich eilte mit den andern hinauf, denn es wäre mir unmöglich gewesen, mich zur Ruhe zu begeben, solange er noch da und das Unwiderrufliche noch nicht eingetreten war. Wir fanden ihn aber schon ruhig und bewußt in seinem Schlafzimmer im Lehnstuhl sitzend. Die Fenster waren offen, und die Mainacht strahlte mit tausend Sternen über dem von ihm so geliebten Garten, in stiller Feier das große Mysterium erwartend. Ich verriet ihm meine Gegenwart nicht, weil ich dachte, es würde ihn beunruhigen, mich da zu wissen, da er mich nach der Reise ruhebedürftig wähnte. In solchen Augenblicken aber bewährt sich die Macht des Geistes über den Körper, man lebt nur mit der Seele, das Gesetz der Schwere ist aufgehoben, und wenn uns etwas von der Fortdauer unseres geistigen Seins, unabhängig von der irdischen Hülle, überzeugen kann, so ist es eben in diesen Momenten. Ich setzte mich zu Häupten seines Lagers, so daß er mich nicht sehen konnte, die Hausgenossen alle, der Arzt und die barmherzige[436] Schwester, die die letzten Nächte bei ihm gewacht hatten, waren anwesend. Er sprach Verschiedenes mit klarer, fester Stimme, verordnete, wie man die Nonne, deren Sorgfalt er lobte, belohnen solle, verlangte nach Tee, seinem Lieblingsgetränk, und sagte endlich mit dem Tone innigster Überzeugung: »Ich bin doch glücklich gewesen, es haben mich doch viele lieb gehabt.« Wer konnte bei dieser Geistesklarheit, bei diesem immer noch beinah kräftigen Sprechen und an alles Denken, an ein ganz nahes Ende glauben? Es war so feierlich, so versöhnt, so erhaben dieses Sterben, wie das eines antiken Weisen. So müssen Sokrates und Seneca gestorben sein, und es hätte mich nicht überrascht, wenn dieser letzte Grieche auch die Opferschale erhoben und Jupiter, dem Befreier ein Dankopfer dargebracht hätte.

Als die Glocke draußen Mitternacht verkündete, atmete ich fast auf in der Hoffnung, es könne uns noch ein anderer Tag geschenkt werden, und dann könne mein römischer Arzt kommen, den Warsberg sehr liebte und dem ich telegraphiert hatte, und dann könne am Ende noch Rettung werden. Ein sanfter Schlummer hatte sich auf ihn niedergesenkt. Ich war indes an das offene Fenster getreten und schaute in die Sternennacht hinaus; Zeit und Raum waren mir verschwunden, und die Brücke wölbte sich, die in die Ewigkeit, in das von der Erscheinung Losgebundene hinüberleitet. Schon schwebte auch der schöne, ernste Genius heran, um den holden Zwillingsbruder Schlaf abzulösen. Um zwei Uhr öffnete der Sterbende die Augen weit, sah wie überrascht auf seine Umgebung, dann kam ohne Anstrengung ein kurzer Blutsturz, und der treue Bruder, der ihn im Arm hielt und eine Hand auf sein Herz gelegt hatte, sagte nur: es ist vorbei, und drückte ihm die müden Augen zu.

Ich hatte an den vielen Sterbebetten, an denen ich schon gestanden, nie so stark wie hier das beinah zweifellose Gefühl, daß sich da wirklich das Geistige aus den engen Schranken der Erscheinung befreit habe und in seine wahre Heimat [437] zurückgekehrt sei, die zweite Seele, an die er mit Du Prel glaubte und die siegend über den »Erdengeist« aufstieg in die Freiheit. In edler, verklärter Ruhe lag die verlassene Hülle da, diejenige eines Helden, der ihn ausgekämpft hat, den heißen Kampf des Daseins, immer mit den Waffen des edelsten Idealismus, der stets durch die Schwächen, die allem Irdischen ankleben, versöhnend hindurchbrach. So ruhte sein Sterbliches, von Blüten aller Art umgeben, noch zwei Tage in dem von ihm geschaffenen, künstlerisch prächtigen Heim. Erst als man ihn hinaustrug auf die Gondel, die ihn zur Bahn bringen sollte, um ihn nach Graz zu führen, wo er in der Gruft bei seinen Eltern zu ruhen gewünscht hatte, trat das volle Gefühl des Verlustes und der Öde, die auf diese wie ein Traum verwehte Poesie des Palastes Modena folgen würde, in voller Stärke ein.

Aller Orten erhoben sich Stimmen, seinem Andenken den Tribut ehrender Sympathie zu zollen, ganz besonders war dies der Fall aus der Heimat seines Herzens, aus Griechenland. Die Welt hat heutzutage nicht mehr Zeit, den Geschiedenen jenen schönen Kultus zu weihen, wie die antike Welt es tat und von dem Warsberg so ahnungsvoll schön schrieb: »Kann dieser Totenkultus nicht ein instinktives Verstehen, das Ahnen einer Wahrheit sein, die noch verschlossen und vielfach bezweifelt, doch die Grundlage unseres ganzen Wesens ausmacht? Solch ein Hügel, eine Säule, ein einfacher Stein, eine Inschrift, wahren dem Menschen über Jahrtausende hinaus das Andenken bei den Nachkommenden, in ihrer Erinnerung lebt er wieder auf, lebt geläutert fort. Immer reiner, immer makelloser werden seine Züge, alle Schlacken fallen ab, so daß zuletzt nur noch ein ideales Bild von ihm bleibt. Warum aber soll diese Unsterblichkeit, die ihm auf Erden wird, nicht auch in einer anderen Welt möglich sein? Warum für den geistigeren Teil unseres Wesens, für die Seele, nicht das gelten, was unserem irdischen Andenken zuteil wird? Warum soll nicht vielleicht gerade dieses immer sich vervollkommnende Bild der Erinnerung, der gleichzeitige [438] Abdruck des inzwischen erlösten und verklärten Geistes sein?«

So wird auch er, geläutert von allen irdischen Mängeln, als ein ideales Bild in den Herzen derer, die ihn kannten, fortleben. In ihm starb ein Mensch, der durch seine innere Idealität berufen war, die höchste Aufgabe zu erfüllen, die die Zukunft sowohl dem Individuum, wie der Menschheit, vorbehält, nämlich das Leben selbst zum Kunstwerk im vollendeten ethischen und ästhetischen Sinn zu gestalten. Daß es ihm nicht vergönnt war, diese Aufgabe ganz zu erfüllen, das war die Mißgunst des Schicksals, das es Sterblichen nur so selten vergönnt, eine ganz vollendete Existenz zu erreichen.

Gedachtes [4]

Gedachtes

Heute wurde über die Tätigkeit von Paul Desjardin gesprochen, und sie wurde verkleinernd kritisiert. Freilich kann er keine neue Religion gründen und ist vielleicht etwas klerikal, aber es ist immer etwas, wenn ein Mensch gut ist, Gutes tut, und seinen Mitmenschen ein hilfreiches Wohlwollen zeigt. Das erwärmt die Herzen und treibt vielleicht mehr als eines, auch gut zu sein. Das Beispiel ist eine große Macht in der Erziehung und dem menschlichen Verkehr. Taten Christus und Buddha im Grunde etwas anderes als das Beispiel einer erhabenen Persönlichkeit geben? Nur die Schwachen und die Ehrgeizigen haben daraus dogmatische Kirchen gemacht. Wer von denen hat es verstanden, warum Christus sagen konnte, daß er Gottes Sohn sei? Sie haben das materialisiert, so wie sie die einfache Größe seiner Lehren materialisiert haben. Gut zu sein, ist so natürlich, so einfach: das ganze soziale Problem bestände darin, die Verhältnisse zu schaffen, die den Menschen erlaubten, gut zu sein. Ja, das ganze Problem des irdischen Lebens wäre gelöst, wenn es einem jeden möglich würde, aus sich selbst alles zu machen, was seiner Natur nach möglich ist; damit [439] wäre alles erreicht, was die Unvollkommenheiten des Daseins auf dem Erdball zu erreichen erlauben.

Was aber die großen Offenbarungen betrifft, die aus den Quellen eines ewigen Lichts zu kommen scheinen, die werden stets nur das Ergebnis der größten Seelen, der reinsten Genien sein. Ja, Beethoven offenbarte eine neue Religion; ich fühle mich immer innerlich auf den Knien, in seiner verklärten Welt, wenn ich ihn höre. Aber das ist zu erhaben für die Masse!


* * *


Das irdische Ich ist auch das Du, die universelle Einheit im Göttlichen, Erhabenen, daher ist auch das Mitleid das wahrhaft Ethische. Das Dichter-Ich ist das auch in anderer Form, d.h. die Welt der Ichs, die der Dichter in sich trägt. Das Ich Nietzsches ist die Verneinung aller Ethik, denn es ist das Ich in seiner impotenten Vereinzelung, der Egoist, sei er auch noch so begabt.


* * *


Herr von Wolzogen sagt bei Gelegenheit einer Besprechung vom Buche des Grafen Gobineau: »Jede Gesellschaftsbildung trägt in ihrem Bildungsferment schon den Todeskeim in sich, etwa wie jede Zeugung nach tief religiöser Auffassung den Samen jener ewigen Schuld des Lebens in sich trägt, auf der nach Schopenhauer die Todesstrafe steht.« Ja, aber die Zeugung muß da sein, damit die Erlösung sein könne. Das ist der Sinn des christlichen Mythus. Christus mußte geboren werden, um Erlöser werden und als solcher sterben zu können.


* * *


Nichts ist so reizend, als das erste Erwachen des forschenden Geistes, sein Erstaunen über die Rätsel des Lebens und der Welt und die ersten Fragen, die er sich stellt. Ich empfand es eben mit inniger Freude, als ich, allein mit Olgas zwei jüngsten Kindern, in Versailles bei meinem jährlichen Sommeraufenthalt ein langes Gespräch mit ihnen hatte. Da müßte die Erziehung ihre höchste Aufgabe sehen [440] und bei solchen Fragen in sokratischer Weise zu eignen Antworten anregen, anstatt mit fertigen Sentenzen den suchenden Intellekt zu ersticken.


* * *


Ich antwortete einem Positivisten, der leugnete, daß die Keime zu geistiger und moralischer Entwicklunga priori in der menschlichen Natur lägen, und behauptete, sie seien nur Folge der Gemeinschaft und Gewöhnung: Gut, geben wir zu, daß das Sittengesetz erst aus der Gemeinschaft entstanden sei und sich dem Kausalgesetz folgend mit der Geschichte entwickelte; für unser Verhalten ist das genügend, denn da gilt der kategorische Imperativ; sobald das Individuum sich einer Gemeinschaft anschließt, übernimmt es die Pflicht, ihren Gesetzen gemäß zu leben. Dazu braucht von keinem metaphysischen Grund die Rede zu sein: der Grund der Verpflichtung ist die Gemeinschaft, und der Begriff der Verpflichtung entwickelt sich weiter im Individuum mit der Entwicklung der Gemeinschaft. Darauf beruht das Gesetz, beruht alles staatliche und gesellschaftliche Leben. Aber der Keim zum Begriff der Sitte muß a priori da sein, ebenso wie der Keim zum Denken da sein muß. Aus nichts kann nichts entstehen. Die Möglichkeit zu geistiger und moralischer Entwicklung ist mit dem Organismus Mensch gegeben. Auf den untersten Stufen entwickelt sich der Keim nur erst in gröbster Weise, er wächst zu dem geistigen Wesen der Menschheit heran, und statt von Gott auszugehen, erhebt er sich zum Göttlichen, d.h. zum Idealen. Doch schon in den höheren Tieren kann man durch Gewöhnung und Erziehung eine gewisse an das Geistige streifende Entwicklung bewirken, zu der der Keim aber da sein muß, sonst könnte es mit aller Mühe nicht dazu kommen. So erzählte mir eine Bekannte, die eine Vorliebe für Katzen hatte, daß, sobald sie eine Katze allein bei sich hatte und sich mit ihrer Erziehung beschäftigte, es durchaus möglich war, einen gewissen Grad von Verständnis und Kultur zu entwickeln. Überließ sie sie aber der Gemeinschaft mit anderen Katzen, so blieb der Keim[441] eben unentwickelt, und die blinden Triebe herrschten vor. Man sprach bei dieser Gelegenheit von Caspar Hauser; eingeschlossen und allein blieb er ein stumpfes, tierähnliches Wesen, aber herausgezogen in die Gemeinschaft entwickelte sich alsbald die ihm innewohnende Möglichkeit. Das konnte ihm doch nicht plötzlich eingeblasen sein. Und die Gewöhnung selbst, woher kommt sie? Sie ist doch nur der sich immerfort entwickelnde und erweiternde Begriff des Unterschieds von Gut und Böse, zu dem der Urgrund da sein muß in den weitesten Urfernen des Daseins, wenn man will, aber doch da sein muß, gerade wie die Wurzel da sein muß, damit die Pflanze komme und wachse. Und das Genie – kann es durch Gewöhnung erzeugt werden?


* * *


Meine Antwort an einen Zweifler, der mir schrieb, es sei eigentlich unnütz, zu schaffen, da doch alles dem Nichts verfalle: Nein, teilen Sie die Werke in zwei Hälften; die eine Hälfte, die nur von der Welt der flüchtigen Erscheinung handelt, verfällt dem Nichts wie alles, was nur Erscheinung bleibt, auch die Men schen. Die andere Hälfte aber, in der der Funke ewiger Schönheit glüht, verfällt nicht dem Nichts; sie hat sich eingereiht in den Akkord der großen Symphonie, die im Grunde der Dinge tönt, die die wahren Künstlerseelen von fern in ihren Träumen ahnen und die sie hören werden, wenn die Form zerbrochen ist und sie es erreicht haben, nicht mehr wiedergeboren werden zu müssen. Die Inder haben das alles schon gewußt.


* * *


In der Ironie befreit sich das Individuum von seiner Entrüstung über die Unnatur der Welt, im Humor erhebt sich das Individuum über sich selbst. Beide sind sittliche Äußerungen; jene hat es nur mit der Lüge und den Kontrasten von Schein und Wesen, dieser mit der Versöhnung von Schmerz und erhabener Heiterkeit zu tun. Daher ist in jener Bitterkeit, in diesem verzeihende Güte.


[442] * * *


Im Juni 1890, als ich im Begriff war, Italien für den Sommer zu verlassen, war ich noch einmal in der Villa Mattei, wo ich wonnevolle Stunden der Einsamkeit im Frühling zu genießen pflegte, da ich durch die Güte des Besitzers immer freien Zutritt darin hatte. Es kostete mir jedes Jahr einen großen Entschluß, Italien zu verlassen, dessen zaubervolle Schönheit mich dann erst ganz in ihrer Vollendung umfing, wie ich denn auch der Ansicht bin, daß die meisten Reisenden Italien nur halb kennen, weil sie fortgehen, wenn der Höhepunkt der Schönheit anfängt. An jenem Morgen nun umfing mich wieder die Macht, von der Hafis sagt:


»Denn daß der Schönheit Alkoran
Allmächtig sei, das ist kein Wahn«

und umflutet von dem reinen Licht und still beglückt von dem Einssein mit dieser seligen Natur, schrieb ich folgende Verse in mein Tagebuch:


»Teures Lichtland, deinen Frieden
Senkst in meine Seele du;
Wenn ich fern von dir geschieden,
Seh ich träumend deine Helle,
Trägt mich der Erinnrung Welle
Deiner heil'gen Ruhe zu.
Mit der unnennbaren Milde,
Wie sie Phidias erfand
Für die göttlichen Gebilde,
Ruhst du in der Schönheit Wonne
Unbekümmert gleich der Sonne,
Ob dein Segen auch erkannt.
Stille wird des Geistes Sehnen,
Ruhe ich an deiner Brust;
Nein, Vollendung ist kein Wähnen,
[443]
Was wir im Symbol hier sehen,
Wird einst Wirklichkeit erstehen,
Voll erkannt und voll gewußt.

* * *


In eben dieser Villa Mattei schrieb ich am Charfreitag: Wie fern ist Christus! Nie habe ich es so gefühlt! Eine rührende Gestalt der Legende und der Kunst, aber als Wirklichkeit fern und sein Opfertod nur als Symbol noch nahe! Heiliger Frieden der Natur heute, wie viel bedeutsamer und schöner, als das Gewühl in den Kirchen.

Ich habe auch einst am Fuß des Kreuzes das Gefühl der Gemeinschaft, die weltüberwindende Kraft der Entsagung und der aufopfernden Liebe gesucht, und das Bild des erhabenen Märtyrers am Kreuz ist mir teuer und tief bewunderungsvoll geblieben. Aber den historisch gewordenen Kirchen mit ihren Dogmen kann ich nicht mehr beipflichten, so wenig wie man jetzt noch den Dionysos-Kultus mitfeiern könnte, trotzdem der Dionysos-Mythus gewiß einer der schönsten ist und noch immer das vollkommenste Bild für unsere Einsicht in das Wesen der Welt gibt. Zu dem Gekreuzigten der Kirchen, dem Gottessohn, gehört der dogmatische Vater, gehört die Hierarchie der Kirche, Staat, Gesellschaft. Der einfache Sohn des Zimmermanns von Nazareth, der Schüler der Essäer, die indische Weisheit in den semitischen Monotheismus hinüberbrachten, wollte nichts weniger als eine bloß mystische Gleichstellung der Menschen; er bekämpfte den jüdischen Hochmut mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter; er demütigte die Überhebung der Pharisäer und Schriftgelehrten bei unzähligen Gelegenheiten, er sagte dem reichen Jüngling, der nur Geisterschaum schlürfen wollte, ohne wirklich zu entsagen: »Gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, dann folge mir nach.« Als er sah, daß der Kelch nicht an ihm vorübergehen konnte, daß es gestorben sein mußte um seiner Überzeugung willen, da starb er, indem er seinen Schülern sein Beispiel zur stärkenden Erinnerung hinterließ. [444] Um seine Gestalt schuf die gläubige verehrende Liebe, die dichtende Phantasie und das Bedürfnis, die Idee zu inkarnieren, den Mythus und das Symbol. In den ersten Liebesmahlen und dem Glaubensmut des ersten Märtyrers kamen Mythus und Symbol zum ergreifenden Ausdruck. Dann aber baute die egoistische weltliche Berechnung des Priestertums die Kirche mit ihren irdischen Tendenzen darauf auf und machte Mythus und Symbol zur Lüge. Anstatt die Menschen in der Annahme zu bestärken, daß Einer ein für allemal die Erlösung der Menschheit vollzogen habe, sollte man es immer aufs neue und immer eindringlicher lehren, daß jeder sich selbst erlösen muß von Sünde und böser Neigung, jeder aus sich selbst das Höchste machen muß, dessen seine Natur fähig ist, und auch den andern, den Schwachen, mit Güte und Beispiel helfen, es zu tun. Das war die Religion, die Jesus meinte, mit der nicht bloß ein einziges Volk, mit der die Menschheit sich durchdringen und sich zu ihrem idealen Ausdruck erheben sollte. So steht seine Gestalt in ihrer Vollendung vor uns und fordert uns zur Nachahmung auf. Er hat es ausgesprochen, das große eine Wort, das alles in sich schließt: Nicht im Tempel, nicht auf dem Berge, im Geist und in der Wahrheit beten, leben und sterben. Christliche Welt, betest und lebst du so?


* * *

Wie wenig Menschen sind Schatzgräber!

* * *

In dem trefflichen Buche Oldenbergs über Buddha findet sich folgende Stelle über das Nirwana: »Das Denken, will Sâriputta sagen, ist hier an einem unergründlich tiefen Geheimnis angelangt. Nach seiner Enthüllung soll es nicht verlangen; der Mönch, der nach seiner Seelen Seligkeit strebt, hat anderes, dem er nachforschen mag.« Wer aber eine Zukunft scharf und klar verneinte, würde anders reden. Vor dem Denken, das ein ewiges Sein als ein begreifliches, zu bejahendes, anzunehmen zögert, flüchten sich das Verlangen und die Hoffnung eines Seins, das höher[445] ist als Vernunft und Begreifen, hinter den Schleier des Mysteriums.


* * *


In der Republik Venedig verurteilte man selten auf Grund von Anklagen über Vergehen gegen die Religion. Einmal erschien ein der Ketzerei Angeklagter vor dem Rat der Zehn; er war beschuldigt worden, daß er ketzerische Ansichten über die Dreieinigkeit hege. Er gestand, daß er sehr wohl den Gott-Vater und den Gott-Sohn begreife, daß er aber den heiligen Geist nicht verstehen könne. »Geh nach Hause,« sagten ihm die Richter. »Du verstehst doch wenigstens zweie, wir verstehen keinen einzigen.«

Hätten alle Richter diese edle Aufrichtigkeit, wie viel besser würden viele Urteile ausfallen.


* * *


Eine Atheistin, die im höchsten Sinn eine ausübende barmherzige Schwester ist, und ein ohne Christentum unter furchtbaren Leiden heroisch, schön und versöhnt Sterbender – was könnten selbst die Orthodoxen mehr verlangen? Ich kenne beide.


* * *


Edle Naturen machen eine Stunde des Irrtums wieder gut, voll, rein, ganz, wenn es sein muß, selbst mit dem Leben. Edle Naturen verzeihen aber auch ganz, voll, rein, ohne Hinterhalt.


* * *


Die nationalen Einheiten sind jetzt der Traum und das Motto der Staatsmänner und Volksbeglücker. Aber ist diese Einheit an sich solch ein Glück? Macht sie nicht den Egoismus in der Politik noch viel schärfer, als er es außerdem schon ist?


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Dagegen ist die Einheit des Charakters mit sich selbst das letzte Ziel alles Strebens.

[446] * * *

Ich ging eben im Frühling spazieren und fühlte das Regen des Genius in mir und daß allein der Umgang mit ihm beseligt. Die Schönheit empfinden ist das Lächeln des Genius im Traum. Denken ist sein Erwachen. Nie flieht der Genius vor der Erkenntnis; im Gegenteil, ihn dürstet nach der Wahrheit, weil er durch sie erst die Poesie der Dinge, das innere Gesetz ihrer Bewegung, ihren Rhythmus, verstehen lernt, was im letzten Grunde eins ist mit ihm selbst, nämlich: universelles Leben, das in jeder Erscheinung sich auf sich selbst besinnt. So war der Dämon des Sokrates. Die Rechten haben es von jeher gewußt. Es hat ein jeder seinen Dämon, nur verstehen ihn die meisten nicht. Das Dämonische ist die zwingende Unruhe im Geist, wenn ein bisher noch Unbewußtes ins Leben treten will. Vor diesem Zwang erschrecken aber die meisten, verstecken sich oder laufen davon.


* * *


In dem Liebesverhältnis zweier Weltkinder stellte sich gegenseitiges Mißtrauen ein, und da sie beide leidenschaftlich waren, verwandelte sich dies Mißtrauen bald in Haß.


* * *


In der sogenannten vornehmen Gesellschaft gibt es Zuschauer, Beobachter, Mitspielende oder besser: Schauspieler.


* * *

O menschliche Schwäche! Die gute Meinung der Welt zu erkaufen durch Geld, Namen, Rang oder Ruhm!
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O Stille! Gesegnete! Du, die du allein würdige Stimmungen erzeugst!

* * *

Die Deutschen haben es an sich, über alles und jedes in Italien, besonders in Neapel, zu schimpfen, alles schlecht zu finden, den Schmutz haarsträubend, den Lärm unerträglich, die Hotels gräßlich, die Cafés widerwärtig, die Menschen gemein und dumm. – O dagegen bei uns zu Haus! Die herrliche Heimat! Und doch – kommen sie alle Jahre wieder!

[447] Mit der Liebe für die Reinlichkeit soll man sich ebensowenig brüsten, wie mit der Liebe für die Tugend. Beide gehören zu einem ordentlichen Menschen, man übt sie, ohne viel davon zu reden. Wer aber in Italien nur immer über den Mangel an Reinlichkeit klagt, anstatt sich über die Schönheit, die alles überstrahlt, zu freuen, der verdient Italien nicht. Ist es denn schöner in den ewig mit Wasser übergossenen, nüchternen, deutschen Stuben als z.B. in Zimmern in Neapel, die allerdings den Staub oft etwas zu lange aufbewahren, aber daneben eine Loggia oder eine Terrasse haben, von wo man die Wunder der Sonnenuntergänge über einem der herrlichsten Meere der Erde sieht? Ach menschliche Kleinlichkeit! Denn es gibt auch eine kleinliche Reinlichkeit und eine kleinliche Tugend.


* * *


Man erzählte abends bei mir in Rom von einer Besteigung des Vesuvs und von dem Grauen, das man empfände, in den feurigen Schlund hinabzuschauen. Es fiel mir darüber ein, ob wohl die christliche Idee der Hölle nicht dadurch entstanden sei? Der Hades war doch etwas ganz anderes, etwas psychologisch Feineres; wieviel seelischer war diese Qual des vergeblichen Tuns und Schaffens, als die brutale Strafe in den Flammen.


* * *


Das immerwährende Unterliegen im Abgrund der Leidenschaft in den Romanen von Gabriele d'Annunzio ist gar nicht interessant. Nur der Sieg des höheren Wollens über die Leidenschaft ist interessant. Ich verabscheue diese ewige Vivisektion der Wollust und der ungesunden Triebe, die den Mann zum Schwächling und die Frau nur zu einem Instrument der Korruption macht.


* * *

Das größte Leiden ist die Abwesenheit des Ideals.

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Ein Ausspruch von Rabelais, als von diesem herkommend, fiel mir auf: »Die Natur hat im Menschen Verlangen, Durst [448] und Wunsch zu wissen und zu lernen hervorgebracht, und zwar nicht bloß die gegenwärtigen Dinge, sondern besonders die zukünftigen, weil deren Kenntnis höher und bewundernswerter ist. Weil wir nun in diesem vergänglichen Leben nicht zur Vollendung des Wissens kommen können und die Natur nichts ohne Grund gemacht, oder ein trügerisches oder verderbtes Verlangen gegeben hat, so folgt daraus, daß ein anderes Leben nach diesem sein muß, wo jener Durst gestillt wird.«

So kommen auch die skeptischen Menschen, ohne daß sie selbst wissen, wie sehr sie sich widersprechen, immer auf ein geistiges, vernunftgemäß ordnendes Prinzip zurück, mögen sie es nun Natur oder Gott nennen.


* * *


Nachdem ich den Roman von Paul Bourget, »La terre promise«, der mir mißfiel, wie die meisten Werke dieses Autors, gelesen hatte: das Heiligende, Idealisierende in der Ehe ist das schöpferische Element, das bei der rohen unbewußten Natur bloß sinnlich und brutal und ohne die erlösende Seite bleibt. Was für entwickelte geistige Naturen den tierischen Akt verklärt, ist das Bewußtsein, Schöpfer zu sein, innerhalb der Materie ein Geistwerdendes zu schaffen, gerade wie es dem Genius auf der höchsten Stufe des schöpferischen Prinzips Seligkeit ist, das im Geist Empfangene zu gebären.


* * *


Der französische Kritiker Brunetière sagt in einem Artikel über Bourget, das Hervorragende in dessen Romanen sei l'étude de la vie. Ja, die gehört freilich überhaupt zum Roman, aber sie muß sich durch dessen Personen ausdrücken und nicht durch psychologische Analysen und Abhandlungen.


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Wir sprachen am Abend in Versailles (wo ich alljährlich von 1884 an bis 94 den Sommer bei Olga zubrachte) über die Heuchelei. Ich faßte im Scherz mein Urteil in einem [449] Syllogismus zusammen: die Heuchelei ist ein abscheuliches Laster, die moderne Gesellschaft bringt die Heuchelei auf allen Gebieten hervor, also ist es eine lasterhafte Gesellschaft. – M. dagegen meinte, die Heuchelei in der modernen Welt sei eher ein Beweis ihrer Moralität, da man, aus Achtung vor der Tugend, das Laster nicht öffentlich zu bekennen wage.


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Ich freute mich, als ich die letzten Worte Renans hörte, den ich einst so gut gekannt und sehr geschätzt habe, denn sie beweisen, daß seine Heiterkeit, die man ihm so oft als Ironie und Oberflächlichkeit vorgeworfen hat, echt war und sich auf ein festes Bewußtsein gründete. Am letzten Tage seines Lebens sagte er: »Man muß den Gesetzen der Natur folgen; der Tod ist nichts, ein Übergang, die Erde und der Himmel bleiben.« Auf sein Grab verordnete er zu schreiben: »Ich habe die Wahrheit gesucht.«

Papst Leo XIII., als er hörte, daß Renan keinen Priester gerufen habe, sagte: »Ich bin darüber zufrieden, es wäre eine Heuchelei gewesen. Gott vergibt den Menschen, die redlichen Willen haben, so wird er auch Renan vergeben.« Das ist auch schön, das Oberhaupt der Kirche, das einen abtrünnigen Priester so edel-menschlich beurteilt! Sie können sich im Paradies als Freunde begegnen.


* * *


Der sichere Trost unseres Erdendaseins ist doch der, daß wir durch Wort und Tat unsterblich sind in der Reihe der Geschlechter, denn wenn auch die Geschichte uns nicht mit Namen nennt, so wuchert der Samen des Guten, das wir getan, doch unzerstörbar fort von Seele zu Seele und gehört mit in die große Kette, deren Anfang und Ende in der Ewigkeit liegen. So erklärt sich wenigstens das warum, wenn auch das woher und wohin Fragezeichen bleiben. Eine sehr hübsche Hypothese ist die eines unlängst verstorbenen liebenswürdigen alten Franzosen, Monsieur Surell, der das Rätsel der Existenz folgendermaßen zu lösen meinte, [450] indem er die Möglichkeit hinstellte, daß alles geistig von uns ausgeht, an irgendeinem Punkt des Weltalls wieder zusammentreffe und unsere geistige Individualität herstelle. Dies widerspricht weder der Vernunft noch selbst der Experimentalwissenschaft, denn geistige Erzeugnisse unseres Wesens sind sicher größere Realitäten, als die zufälligen Kombinationen der Atome, die unsere leibliche Existenz ausmachen.


* * *

Am 16. Juni 1890 in der Villa Mattei, nach einem schmerzlichen Erleben:
Ziehet, eilende Wolken, den schwärzlichen Schleier
Über die strahlende Welt!
Alles ist eitel, schwindender Schein nur,
Auch die Sonne ist Täuschung sowie das Glück,
Die Rosen vergingen, die Träume vergingen,
Freunde vergingen und endlich – vergehest auch du!

* * *

Alle Religionen sind aus dem der Menschheit innewohnenden Bedürfnis hervorgegangen, etwas Höheres, Mächtigeres, Vollendeteres als sich selbst zu suchen. Dieses Bedürfnis ist der Adelstitel des Menschen und unterscheidet ihn vom Tier. Ob es sich in minder oder mehr vollkommener Weise offenbare, immer ist es zu achten und gelangte es auch nur zur Anbetung eines Fetisch. Aber sobald dies Bedürfnis absolute Formen annimmt und sich für die ein für allemal gegebene Wahrheit ausgibt, zur dogmatischen Kirche wird, versteinert sich der Geist, der ewiges Streben ist, und wird bloß äußere Form, die den lebendigmachenden Odem nicht mehr enthält. Der beste Beweis dafür ist, daß die bestehenden Kirchen sich untereinander anfeinden, weil jede allein die Wahrheit zu besitzen glaubt.

Wir, die wir die Geschichte dieses Bedürfnisses nach Idealität vor Augen haben, wie es sich in den verschiedenen dogmatisch-positiven, konstituierten Kirchen verloren hat, wir können nicht mehr zurückkehren in eine beschränkte Form, die [451] dem Gedanken, der nach immer reinerer Wahrheit dürstet, verwehrt, seinen freien Flug zu nehmen. Die Philosophie hat uns dazu geführt, Gott nicht mehr außer uns zu suchen, sondern ihn in uns, in allem, was da ist, zu erkennen und es als unsere Aufgabe zu betrachten, ihn in uns und um uns lebendig zu machen.


* * *


Das Leben ist nichts anderes als ein großes Schlachtfeld, und die einzige Tugend besteht darin, trotz aller Wunden bis zuletzt zu kämpfen und als Sieger, mit den Waffen in der Hand, zu sterben.


* * *


Wie rasch sind doch die Übergänge im Menschen von Niedergeschlagenheit, Trauer, Resignation, zu Hoffnung, Mut und Freude oder umgekehrt. Was ist dies feine Uhrwerk, das so entgegengesetzte Bewegungen im Gemüte hervorbringt? O ihr Physiologen und Männer der »matière grise«, könnt ihr es erklären? Keine Spur!


* * *


Der einzige Schmerz, der unversöhnbar ist, ist der Schmerz des Egoismus. Die selbstlose Tugend hat Frieden auch in der tiefsten Trauer. Sie ist das wirkliche Selbst mit der rechten Würde ohne Anmaßung. Der Egoismus ist das schlechte Selbst, das ewig Verwundbare. (Ich unterscheide hier scharf Egoismus von Individualismus.)


* * *


N. hatte die wahre Natur der gefallenen Engel; sie glaubte allem durch den hochmütigen Stolz Trotz bieten zu können, anstatt alles Widerstrebende durch die Liebe zu besiegen.


* * *


Ich las eben von der sonderbaren Hinneigung Napoleons I. zum Aberglauben, wie ihn sein Verkehr mit der Lenormand beweist. Aber dunkle, ehrgeizige Gemüter werden immer abergläubisch sein. Weil das Ideal ihre Seele nicht erleuchtet, suchen sie Hilfe in dunklen Gewalten, daher [452] stammen wohl die Teufelslegenden, die Hexenprozesse, noch heutzutage im Süden die Zauberweiber und endlich der Spiritismus besonders in der modernen höheren Gesellschaft, wo er weiter nichts ist, als die Rache des Geistes an der Frivolität.


* * *


Schaffen muß man in der Einsamkeit, da wo der laute Lärm des Tages nicht stört, aber der Charakter erprobt sich doch erst ganz im Zusammenleben, in der Art, andere zu behandeln, auf sie zu wirken und sie zu ertragen. Freilich, ein großes Leiden einsam heroisch tragen, ist auch ein Prüfstein des Charakters, doch ein noch schwererer ist's, dem einsamen Umgang mit dem Gott in uns aus erbarmender Liebe zu entsagen, und zwar nicht im Zorn und Ärger, sondern mit dem milden Lächeln derer, die es wissen, daß sie ein Heiligtum in sich tragen, in dem sie glücklicher wären, als in dem Samariterdienst des Herzens. Ja, am Kreuz besiegte der Nazarener die Welt!


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Die Definition des Genies ist es, daß dieses Individuum, dieser Mikrokosmos zugleich den ganzen Kosmos in sich trägt, alle Tradition, das Unendliche, und dabei die Fähigkeit hat, die ganze Welt, die in ihm ist, auszusprechen und zu gestalten. Es ist ein Beweis dafür, daß die universelle Einheit sich nur zuweilen eine individuelle Form wählt, um sich durch diese kund zu geben.


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Man hat so viel Arbeit, um etwas zu sein, daß keine Zeit bleibt, noch etwas zu scheinen. Es ist auch verlorene Mühe, man ist eben, was man ist, wem es nicht gefällt, mag's bleiben lassen.


* * *


Ich war einmal wieder einige Wochen in Deutschland und fuhr dann frühmorgens am Rhein hinunter, wie alljährlich Olga in Frankreich zu besuchen.

[453] Wieviel tausend Erinnerungen stiegen da herauf an Jugendtage und Jugendträume, an die frühe Liebe zu dem alten, stolzen, heiligen, deutschen Strom! Und es überkam mich ein unendliches Mitleid mit dem armen Vaterland. Ich verstand nun, was ihm fehlt: der heitere Himmel und die Grazie!


* * *


Das Schöpferische, das Tun, die Tat, war da vor dem Wort, wie beim Genius der Tatmoment, die Geburt im Geist, dem Wort und der Gestaltung vorangeht.


* * *


Auch beim größten Dichter ist das Wort, das er wählt, die Art seines Ausdrucks, sein Stil, ein Teil seines Wertes.


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Äschylos rühmte von sich, daß in keinem seiner vierundachtzig Dramen die Liebe vorkomme. Käme man in der modernen Welt nur auch einmal so weit.


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Die Reue ist keine Kraft, sagte ein Freund. Ja, sie ist doch eine, wenn es die wahre Reue ist, sagte ich, denn sie ist der Anfang des Wiedergutmachens.


* * *


»Getrost, das Unvergängliche, das ist das ewige Gesetz, wonach die Ros' und Lilie blüht.« Nun, und ist es nicht ein großer Trost, nach diesem ewigen Gesetz zur Geistesblüte berufen gewesen zu sein?


* * *


Es gibt nur zwei Arten, das Leben nach großen Schmerzen würdig zu führen: entweder mit der großen Resignation, die sich immer höher hebt über das Erlebte und heilig wird oder mutvoll tätig sein und das Leben besiegen durch die Tat.


* * *


Das Schicksal war insofern stets gütig gegen mich, als es mir nach all den schmerzlichen, teils durch Entfernung, teils durch den Tod herbeigeführten Trennungen aus der Mitte der zahlreichen, mehr oder minder gleichgültigen Besucher [454] meines kleinen, einsiedlerischen Heims in Rom immer wieder einzelne Gestalten herbeiführte, mit denen das geheimnisvolle Etwas, das Geister zusammenbindet, jener Ton aus der großen Weltensymphonie, die immer nur wenige hören und verstehen, sich einfand und alsbald zu einem näheren Seelenbunde den Grund legte. Es ist merkwürdig, wie auf solchem Grund allein wahrhaft ideale und dauernde Beziehungen sich entfalten und entwickeln können, gleich edlen Pflanzen, die das rechte Erdreich gefunden haben, und nun, immer neue Blüten treibend, höher und höher wachsen. Nach Warsbergs Tod dachte ich, die Lücke würde jetzt unausgefüllt bleiben und das Pantheon des Herzens, in dem die Nischen alle mit geliebten Bildern besetzt sind, würde geschlossen sein. Von Venedig war ich, wie jeden Sommer seit zehn Jahren, zu Olga nach Versailles gegangen, wo ich, in dieser Familie der freien Wahl, stets Monate herzlichsten Zusammenlebens genoß. Ich hatte mich aber, auch außerhalb dieser Häuslichkeit, immer des freundlichsten Begegnens von seiten der Franzosen, mit denen ich in Berührung kam, zu rühmen und kann in Wahrheit sagen, daß nie ein beleidigendes Wort gegen Deutschland in meiner Gegenwart laut wurde. Mit großer Anerkennung aber bemerkte ich auch die vorteilhafte Wirkung der empfangenen harten Lehre vom Jahre 70 in der französischen Jugend, die ich zu beobachten häufig Gelegenheit hatte, da Olgas Gatte, Gabriel Monod, der geliebte und verehrte Lehrer der Jünglinge an zwei der höheren Institute in Paris war, der école des hautes études und derécole normale. Die Mitteilungen Monods bestätigten mir auch meine eigenen Bemerkungen über den Lerneifer und die auffallend ernste Richtung all der jungen Leute, die seiner Obhut anvertraut waren, was zum Teil in der Trefflichkeit des Lehrers seinen Grund haben mochte, aber sicher auch die Folge ernster Betrachtung der Ereignisse war. Es schien dies wieder ein Beleg zu der Lehre, die die Geschichte schon so häufig geliefert hat, daß sehr oft, nach schweren Niederlagen im Kriege, die Besiegten [455] moralisch die Sieger bleiben, indem sie in sich gehen, die Ursachen ihres Unterliegens zu ergründen und entdeckte Mängel mit Ernst zu verbessern suchen. War es doch in Deutschland auch so nach den Kriegen mit Napoleon, und wohl den Völkern, denen das Unglück eine Schule der Weisheit wird.

Unter den Schülern Monods, die ich in seinem Hause kennen lernte, war einer, den er mir besonders empfahl, da dieser auf zwei Jahre nach Rom in das dortige archäologisch-historische Institut (das Frankreich gleich Deutschland und Österreich dort hat) nach vollendetem vorzüglichen Examen in der école normale kommen sollte. Er besaß unter anderen bedeutenden Vorzügen auch eine seltene Begabung für Musik, und ich versprach mir dadurch eine lang entbehrte Freude, nämlich öfter bei mir in der Ruhe meines Heims Musik zu hören. Musik war von frühester Jugend auf für mich ein Lebensbedürfnis gewesen. In meinem elterlichen Hause gehörte Musik zu den unentbehrlichsten Freuden des Daseins. Mehrere meiner älteren Geschwister waren musikalisch, und es hatte sich ein sogenanntes Kränzchen gebildet, an dem sie teilnahmen und dessen Vereinigungen in unserem Hause stattfanden. Die obere Leitung wurde von dem damals sehr berühmten Komponisten Louis Spohr, der Kapellmeister in Kassel war, geführt, und musikalisch bedeutende Persönlichkeiten, wie unter anderem der Liederkomponist Curschmann, nahmen daran teil. So hörte ich schon als Kind im Hause selbst bedeutende musikalische Aufführungen; außerdem sah meine Mutter, eine geistvolle, mit hohem Kunstsinn begabte, durchaus freisinnige Frau, gern und oft die ersten Künstler des damals vortrefflich besetzten Theaters in Kassel bei sich, wo besonders an der Oper Sterne erster Größe glänzten, die mit den herrlichsten Leistungen ihrer Kunst den geselligen Verkehr belebten und schmückten. Später, als ich selbst Klavier spielte, wurde mir die Musik immer mehr Seelenbedürfnis, obgleich ich in der Ausübung weit hinter meiner jüngeren Schwester zurückblieb; [456] mich zog dagegen der Gesang mächtig an, die Möglichkeit, da ich eine gute Stimme besaß, noch viel unmittelbarer und persönlicher dem musikalischen Empfinden, das in der Seele wogte, Ausdruck zu geben. Dazu wollte ich, wie immer, nicht an der Oberfläche stehen bleiben, sondern auch die Gesetze kennen lernen, die die Welt der Töne beherrschen. Es hatte mich gleich wunderbar erstaunt, zu sehen, wie diese unkörperliche, man könnte fast sagen metaphysische Kunst den strengsten mathematischen Regeln unterworfen und wie das scheinbar Freieste von einem inneren Gesetz gebunden ist, was freilich auch das Vorrecht der Entwicklung hat, wie alles Geistige, aber innerhalb dieser stets die organische Notwendigkeit seiner Erscheinung verfolgen muß. In der kleinen Residenz Detmold, wo meine älteste Schwester verheiratet war und meine Mutter sich mit meiner jüngeren Schwester und mir endlich niedergelassen hatte, weil das Wanderleben, das mein Vater mit seinem Jugendfreund, dem alten Kurfürsten von Hessen nach dessen Thronentsagung führte, uns auf die Länge doch unbehaglich wurde, fand sich reichlich Gelegenheit, gerade nach dieser Seite hin zu lernen. Ein tüchtiger Musiker, Schüler Spohrs, der das wirklich ausgezeichnete Orchester dirigierte, gab meiner Schwester und mir Unterricht im Generalbaß, und so sehr wurde ich von diesem Studium angezogen, daß ich alsbald anfing, kleine Arbeiten für Orchester zu schreiben, was mir die Achtung und Freundschaft seiner Mitglieder zuzog. Dies brachte uns die herrlichsten Folgen, denn nicht nur erfreute uns das Quartett, das sich aus den besten Künstlern gebildet hatte, häufig des Abends bei uns mit Leistungen der schönsten Meisterwerke, sondern es kam auch nicht selten vor, daß wir mitten in der Nacht durch die Klänge eines Mozartischen oder Beethovenschen Quartetts aus dem Schlaf geweckt wurden, indem die wackern Musiker auf der Straße unter unseren Fenstern sich niedergelassen hatten, um unsere Seelen in nächtlicher Stille mit dem zu erfreuen, was, wie sie wußten, uns das Höchste war.

[457] Wenn mein späteres Leben in großen Zentren mir auch öfter die Möglichkeit gab, größeren und oft sehr vorzüglichen Aufführungen beizuwohnen, so war der intimere Genuß, wie ich ihn in der Kindheit schon im elterlichen Hause und nachher in der Jugend in unserem Heim in Detmold gehabt hatte, nun fast ganz vorbei. Mein Leben hatte so ernste Aufgaben bekommen, daß sie alle meine Kräfte in Anspruch nahmen, und ich hatte gar nicht immer ein Instrument zu meiner Verfügung, wie in der Hochschule zu Hamburg, wie während meiner Lehrtätigkeit in England, und dazu kam, daß meine immer schwachen Augen, durch andere Arbeit schon zu sehr angestrengt, das Notenlesen nicht mehr vertragen konnten, so daß mein einsames Musizieren sich fast nur auf Gesang beschränkte. Aber in meiner Seele wogten unablässig Harmonien und Gesänge, und ich erinnere mich keiner Epoche meines Lebens, wo ich nicht innerlich immer Musik gehört hätte, auch bei den heterogensten äußeren Beschäftigungen. In Rom empfand ich es als einen der größten Mängel, daß man so wenig gute, wahrhaft vollendete musikalische Aufführungen zu hören bekam. Zuweilen ereignete es sich ausnahmsweise, daß ein glücklicher Zufall es herbeiführte, in Privatkreisen Vorzügliches zu hören, so, wie schon früher erwähnt, in den Wintern, die Liszt noch bleibend hier zubrachte, und in den musikalischen Vereinigungen bei einer jungen russischen Fürstin, wo er seine eigenen symphonischen Dichtungen mit jener zauberischen Vergeistigung vortrug, die das Spiel des alten Mannes noch weit über das des gefeierten Virtuosen in seiner Glanzperiode hob.

Aber solchen Ausnahmezeiten folgten wieder Perioden äußerster Dürre in musikalischen Beziehungen, wo ich eben nur auf die Tonwelt, die in meiner Erinnerung lebte, angewiesen war. Um so angenehmer wurde ich überrascht, in dem obenerwähnten jungen Franzosen, der nun nach Rom kam, einen Musiker ersten Ranges von tief ernstem Verständnis und geläutertem Geschmack zu finden, der mir gleich in liebenswürdiger Weise sein herrliches Talent zur Verfügung [458] stellte. Stundenlang hörte ich jetzt wieder Mozart, Bach, Beethoven und Wagner bei mir ertönen und genoß in andächtiger Stille ganz allein den Verkehr mit jenen großen Seelen, die mir in ihrer metaphysischen Sprache göttliche Offenbarungen verkündeten und mir Stunden reinster Wonne bereiteten.

Aber nicht nur in musikalischer Hinsicht erwuchs mir aus der näheren Bekanntschaft mit diesem Jüngling hohe Freude. Es gibt gewiß gerade im vorgerückten Alter keine edlere Befriedigung, als in jungen Seelen denselben Drang der Idealität, dasselbe Streben nach den höchsten Zielen, dieselbe Verachtung alles Gemeinen und Trivialen, denselben Mut im Kampfe für die Freiheit der Individualität zu finden, wie dies alles die eigene Seele von früh auf erfüllt hat und noch am Lebensabend, wo schon so viele Illusionen zerflossen sind, soviel um uns Dagewesenes und uns Liebes verschwunden ist, als das tiefste, ewige Element des Daseins in uns waltet. Wie ganz verschwindet dabei auch das Vorurteil der wesentlichen Unterschiede der Nationalität. Der innerste Grund der menschlichen Natur ist sicher nicht abhängig von Rasse, oder Erdteil, oder Abstammung, sondern davon, wie Klima, Tradition, Verhältnisse, Erziehung die eine oder andere Seite der Fähigkeiten in der Menschenseele stärker entwickeln und nach und nach durch Vererbung zu einem anscheinend besonderen Typus heranbilden. In diesem jungen Franzosen fand ich dieselbe Idealität, dieselbe Hoheit des Strebens, dasselbe innerste Verständnis für jede Äußerung geistiger Größe, wie ich sie bei den auserwählten Seelen anderer Nationen gefunden hatte. Er war ein inniger Bewunderer Tolstois, er liebte, wie schon gesagt, Mozart, Bach, Beethoven über alles, war begeistert für Wagner, entwickelte sich hier im Studium, besonders im Anschauen der Meisterwerke der Renaissance und unter den Einflüssen der herrlichen südlichen Natur wie eine Blüte, die ihren rechten Boden gefunden hat. Dies gab mir wieder einen Beleg für das oben Gesagte, das längst [459] meine Überzeugung gewesen war, daß nämlich die Verschiedenheiten der Nationalitäten oder der Rassen auf etwas ganz anderem beruhen, als auf einer ursprünglichen Verschiedenheit der Menschenseele.

Zwei Jahre des edelsten geistigen Verkehrs wurden mir durch die Anwesenheit dieses Jünglings zuteil, der mir auch das wieder bestätigte, daß für das wahre Seelenleben es kein Alter gibt, daß demnach die Seele etwas sein muß, was am ewigen Quell der Jugend teil hat und in voller Frische fortlebt, auch wenn die irdische Hülle altert und dem Lose des Vergänglichen anheimfällt. Wie schon erwähnt, war es nicht nur die musikalische Begabung des jungen Freundes, die mir die so lang entbehrte Wohltat brachte, aus dem fast immer verschlossen gewesenen Piano die Geister all der hohen Meister der Tonkunst heraufzubeschwören. Auch auf allen anderen Gebieten des geistigen Lebens fand ich ihn einheimisch und zu voller Entwicklung strebend, so wie ich dagegen, in der beständigen Anregung, die Jugend des Gedankens und die volle Intensität des Interesses für alles Schöne und Poesivolle in mir wiederempfand. Auf diesem letzteren Gebiet, dem der Poesie nämlich, endeckte ich denn allmählich auch die schöpferische Begabung des Genannten, und zwar in überraschender Weise durch eine dramatische Dichtung, die mir alsbald die Hoffnung eingab auf eine Erneuerung der besonders in Frankreich so tief gesunkenen dramatischen Kunst. Diese hatte ja leider, zufolge des der menschlichen Natur innewohnenden Nachahmungstriebs, auch in andern Ländern eine gar trübselige Richtung genommen. Von jeher hatte mich die Idee des historischen Dramas lebhaft beschäftigt. Ich hatte mich immer gefragt, ob man geschichtliche Personen auf die Bühne bringen dürfe, da es unmöglich ist, sie genau so hinzustellen, wie sie gewesen sind, und man also in Gefahr ist, sie tun oder sagen zu lassen, was ihnen absolut nicht homogen gewesen wäre. Indem ich nun in Gedanken die edelsten Gestalten des deutschen historischen Dramas durchging, wie Götz, Egmont, Don Carlos, Wallenstein [460] und andere, fand ich, daß sie gewiß keine naturgetreuen Porträts wären, aber so wie wir wünschen könnten, daß sie gewesen seien. Vielleicht liegt darin das Entscheidende; die Poesie hat das Wesentliche dieser Gestalten ergriffen und in ihm das ausgedrückt, was die Mitte und die Zeit, in der sie lebten, charakterisiert, so z.B. in dem herrlichen Gegensatz der Naturen von Egmont und Oranien, der in dem ersten die liebenswürdige, vertrauensvolle Offenheit des Flamländers, und in dem zweiten die ruhige, kalte Besonnenheit und Vorsicht des Holländers kennzeichnet. So schafft man gleich Typen, charakteristisch für die Umgebung und dennoch dramatisch persönlich und wirkungsvoll tätig. Jedenfalls ist es das erste Erfordernis des historischen Dramas, daß die Zeit, in der es spielen soll, vollkommen empfunden und ausgedrückt ist, so daß man die Luft von damals zu atmen scheint und die Gestalten sich in der ihnen gemäßen Mitte bewegen. Dies unentbehrliche Erfordernis des historischen Dramas fand ich nun im höchsten Grad vorhanden in einer Schöpfung meines jungen Freundes, die ihm hier unter dem unmittelbaren Eindruck der Kunstepoche der Renaissance, in deren Studium er sich durch das Anschauen ihres Nachlasses versenkt hatte, entstanden war. So durchdrungen war er vom Geiste jener Zeit, den er in den Gestalten auf der Leinwand erkannt hatte, daß sie in seiner Phantasie ins Leben zurückgekehrt waren und nun lebendig handelnd dastanden, wie sie es zu ihrer Zeit getan haben würden. Nichts kann interessanter sein, als der Entwicklung eines schöpferischen Geistes zu folgen, der ungehindert von außen dem inneren Machtgebot folgt, sich zur Klarheit der Anschauung und Ausführung durchringt und, indem er die in ihm sich bildende Welt zur Erscheinung bringt, zugleich den höchsten und unabänderlichsten Gesetzen künstlerischen Schaffens genugzutun bemüht ist.

Das zweite Jahr des Aufenthalts des jungen Mannes in dem französischen archäologischen Institut ging nun zu Ende, und er mußte in die Heimat zurück, seine bürgerlichen Pflichten [461] zu erfüllen und sich eine Stellung zu gründen. Ich konnte nur wünschen, daß es eine solche sei, die ihm erlauben würde, seine vorwiegend künstlerische Begabung ungehindert zu entfalten. Als Abschiedsgruß jener hohen Freuden, die mir sein musikalisches Talent bereitet, schrieb ich ihm folgende Zeilen:


»Armer wurde die Welt und immer ärmer und ärmer,
Öde und Einsamkeit wurde es rings um mich her.
Wenn die Frühlinge wieder aufs neue erschienen,
Frische Blüten der Flur brachten mit lächelndem Gruß,
Schied mir ein Freund, ein Bruder, die liebe Verwandte
In die dunkele Fern', aus der keiner zurückkehrt.
Immer stiller wurde das Herz in ruh'ger Entsagung,
Harrend des Rufs, der mir, jenen zu folgen, ertön.
Da erklangen mit eins Harmonien wie Grüße von oben,
Führten die Seele mir in ihre Heimat zurück.
Geister, Begnadete ihr, die einst schon ich liebend verehrte,
Wieder spracht ihr zu mir des Trostes erhabenes Wort,
Hobt den Schmerz auf Flügeln in jene seligen Fernen,
Wo er, versöhnt und befreit, göttlichem Glück sich vereint,
Und ich lauschte und lauschte, in Andacht versunken,
Auf den Knien liegend im Geist, ewiger Offenbarungen Klang.
Deine Hand war's, mein Freund, die jene Klänge entlockte
Und mit herzlichem Dank mich dir in Freundschaft verband;
Scheid' ich, folgt nun dein Bild vereint mit jenen Großen,
Von Harmonien umtönt, in die Ferne mir nach.«

Gedachtes aus jener Zeit

Mein junger Freund spielte mir aus der Missa solemnis von Beethoven vor. Es durchdrang mein tiefstes Innere wie ein ätherischer Lebensstrom. Ja, das ist Religion, Gefühl des Ewigen, siegreich über dem Abgrund der Welt, Ahnung himmlischer Vollendung. Beethoven, welch eine Seele!


[462] * * *


Wir fuhren von Tivoli heim nach Rom, und ich war versunken in den Anblick des herrlichsten Abendhimmels: eine goldene Wolke über dem höchsten Gipfel der Sabiner-Berge, als wäre dies der Olymp, auf dem sich die Götter in goldenem Duft den Blicken der Sterblichen verbergen. Eine wahrhaft klassische Wolke! O, in der Natur ist auch Musik!


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Rolland sagte eines Abends, die Sphäre der Pflicht und die des Ideals seien durchaus verschieden und getrennt. Ich sagte, nein, das müsse nicht sein. Je mehr man leuchtende Punkte idealer Momente im Leben ansammelt, je mehr Licht fällt auch auf die oft dunkle Sphäre der Pflicht und erleuchtet sie, so wie es den Sternen geschieht, die kein eigenes Licht haben, sondern es von ihren Sonnen empfangen.


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Es gehört ein tiefes und universelles Gefühl dazu, um einen Stil zu schaffen, so, wie es das religiöse Gefühl der Zeit der Renaissance in Musik und Malerei und im Altertum in der Skulptur getan hat. Daher konnten viele begabte und von jenem Gefühl durchdrungene Menschen tiefsinnige und bewunderungswürdige Dinge schaffen, auch ohne Genies zu sein. Das große Genie schafft keinen Stil; es ist es selbst, individuell, isoliert; es übt wohl einen Einfluß, doch einen mehr äußerlichen, es läßt nicht zur selben Zeit, an verschiedenen Orten, durch ganz getrennte Persönlichkeiten herrliche Sachen entstehen, die sich gleichen, weil sie aus demselben Gefühl entstanden sind, ohne Tradition oder Nachahmung zu sein. So war z.B. die aus dem Madonnenkultus entstandene Kunst, die die ganze Renaissancezeit beherrschte.


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Wir sprachen über das Leiden, Rolland und ich, über dessen Bedeutung in der christlichen Anschauung, und es kam mir der Gedanke, daß es vielleicht ein völliges Mißverständnis sei, daß Christus das Leiden durch seinen Tod habe sanktionieren wollen. Sein Tod war die freiwillige Tat des Menschen, [463] der seine Überzeugung besiegelt, damit man an ihn glaubt. Sein Leben aber war freudige Tat, Lehre, Ermahnung, Wohltun, Barmherzigkeit.


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Der Egoismus des Schmerzes ist verständlicher als der des Glücks. Schmerz ist stolz und schließt sich ab gegen die Welt, die ihn nicht kennt und versteht. Glück macht demütig ob des inneren Reichtums im Vergleich mit anderen und freigebig aus dem Wunsch, daß auch andere glücklich sein mögen. Der Schmerz ist ein einsamer mitten im Gedränge, das nichts von ihm weiß. Glück, auch wenn es sich in Einöden flüchtete, fühlt sich in Wohlwollen verbunden mit der ganzen Welt.


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Wir waren zusammen im Theater, um Sarah Bernhardt als Kleopatra zu sehen. Da gefällt sie mir, denn da schafft sie beinah einen Stil. Das Kunstwerk soll uns die Wirklichkeit wiedergeben, aber in erhöhter Weise, wo sie typisch wird und uns in das Reich ästhetischer Form- und Inhaltvollendung erhebt. Als moderne Frau brauchte sie nur sich selbst zu spielen, eine ephemere, individuelle Erscheinung; als Kleopatra wurde sie ein Typus künstlerischer Schöne, etwas Ewiges.


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Ich besuchte den Grafen Schack, der, schon ganz erblindet, seine letzte Lebenszeit in traurigem Zustand hier in Rom zubrachte. Wir sprachen über Schiller und von unserer beider Verehrung für ihn. Er sagte, er schätze die »Räuber« und »Kabale und Liebe« noch höher als die anderen Dramen. Sie wirkten auf der Bühne so hinreißend, daß man die ungeheuren Unwahrscheinlichkeiten, die sie enthielten, darüber vergesse. Ich sagte, ja, das sei der Triumph des Genius und der wahren Kunst, uns das Unwahrscheinliche annehmbar zu machen durch die höhere Realität der Hauptsache.


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In der Zeit war Ibsen ein Hauptgegenstand der Unterhaltung [464] in der römischen Gesellschaft. Ich hatte ihn bei seinem Aufenthalt in Rom kennen gelernt; er kam mich zu besuchen. Es war gerade die »Nora«, das »Puppenheim«, erschienen und es herrschte eine ungeheure Aufregung in der damals sehr zahlreichen skandinavischen Kolonie in Rom, und auch in der römischen Gesellschaft wurde für und wider gestritten. Ibsen lächelte über das Entsetzen, das besonders die weiblichen Gemüter bei der Entdeckung, die Nora über das Wesen der Ehe macht, ergriffen hatte und meinte, die Stücke, die Nora folgen und das Messer an die Wunden der Gesellschaft legen sollten, würden noch anders erschreckend wirken. Inzwischen waren nun auch viele andere, noch weit kühnere und schärfere Kritik übende Dramen gefolgt, und es war gerade die Zeit der »Gespenster«, als ich eines Abends in Gesellschaft mit einem jungen Mann über diese ins Gespräch geriet. Zu meinem Erstaunen versicherte mir dieser, er ziehe die »Gespenster« dem Ödipus des Sophokles vor; im modernen Drama müßten die physiologischen Gesetze an die Stelle des antiken Fatums treten. Ich erwiderte ihm, daß erstens die Unabänderlichkeit des Gesetzes der Erblichkeit noch nicht festgestellt sei, und daß ferner die Frage bleibe, ob es nicht einen moralischen Widerstand gegen dieses gäbe. Dann auch war bei den Griechen das Fatum eine Macht der Gottheit, war also dort einer künstlerischen Behandlung fähig, im höchsten Grad ethisch, denn Ödipus bleibt trotz seiner Schuld ein edler, des tiefsten Mitleids werter Mensch, während der Mensch in den Gespenstern sich willenlos dem bösen geerbten Blut überläßt und schmutzigen Trieben folgt wie der Vater, also nicht heroisch ist, sondern das Opfer eines blinden Verhängnisses. Und dann fehlt das versöhnende Element, das bei den großen Tragikern, wie z.B. im Ödipus auf Colonos, immer wieder über den Schmerz und den Abgrund der Leidenschaften erhebt. Hier in den Gespenstern sind fast alle Personen gemein, schlecht, und nur der Pastor ist gut, aber borniert. Die einzige interessante und sympathische Figur, die Frau, [465] irrt aber ihr ganzes Leben hindurch, so daß man es dumm nennen könnte; sie lügt, um die äußere Ehre eines verächtlichen Menschen zu retten, und entfernt ihr Kind, anstatt über ihm zu wachen und den bösen Keim zu ersticken, was viel ethischer gewesen wäre. Darin gleicht sie dem antiken Orakel, das immer durch Mißverstand das Übel herbeiführt, das vermieden werden soll.


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Ibsen ist ein Vivisektor der menschlichen Natur wie wenige, aber er kommt mit seinen neueren Dramen an die Grenze, wo die Poesie des Tragischen aufhört und das pathologische Spital beginnt. So hoch seine dichterischen Anfänge wie »Brand« und andere, stehen, so bewunderungswürdig seine künstlerische Mache ist und soviel einzelne Schönheiten all die sozialen Stücke, wie ich sie nennen möchte, enthalten, so ist es doch zu bedauern, daß er diesen Weg so ausschließlich befolgt hat, besonders auch deshalb, weil er da durch das Haupt einer Schule geworden ist, die, ohne seine Begabung, die Theater mit den ermüdendsten Mittelmäßigkeiten von Produkten überschwemmt.


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Der Fatalismus im Sinn einer blinden Kraft, die den Menschen ohne seine Schuld in das Verderben stürzt, ist für uns nicht mehr annehmbar. Der wahre Fatalismus besteht in dem Konflikt der äußeren Umstände mit dem Grund der menschlichen Natur, in der er zuweilen erst die Leidenschaften, die darin schliefen, weckt und die Handlung hervorruft, die unsere Schuld und unser Schicksal wird. Das ist das tragische Element, und die dramatische Kunst hat sich dessen zu bemächtigen.


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Das geistige Erzeugen, wenn es aus innerstem Bedürfnis hervorgeht, ist das Merkmal, daß die Natur es bedarf, sich zu objektivieren, wie auf der niederen Stufe es auch beim leiblichen Erzeugen der Fall ist. In der Objektivierung des Subjekts, sei es durch geistige oder leibliche Kinder, vollzieht [466] sich jenes Geheimnis des Daseins, das im Grund des Weltwillens seinen Ursprung haben muß. Auch er muß als das Ursubjekt sich ewig objektiv werden in der Welt der Erscheinung, dadurch allein ist er, wird zur universellen Individualität, zur Einheit, die wir in der Vielheit ahnen.


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Allein der Geist und der Gedanke gehören der Ewigkeit. Alles was das Herz und Gefühl trifft, verwundet, denn es mahnt an die Vergänglichkeit. Die Liebe in der Erscheinung ist nicht ewig; nur die Erkenntnis; in ihr ist eine höhere Liebe, die das Vergängliche, den Sinnengenuß, abgestreift hat. Vielleicht könnte es heißen: im Anfang war der Geist.


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Halte stille nur, mein Herz,
Trag mit Fassung deinen Schmerz;
Eine kleine Weile noch
Dauert wohl das Erdenjoch,
Dann erlischt der bunte Schein;
Wird's dann stille um mich sein?
Oder werden Melodien
Auch noch durch die Seele ziehn?
Wird vom allgewalt'gen Drang,
Der nach Idealen rang,
Wenn die Erdenfessel weicht,
Wohl sein ew'ges Ziel erreicht?
Wird die Treue dann bestehn?
Reine Liebe nie vergehn?
Wird der höchsten Schönheit Glück
Sich enthüll'n dem geist'gen Blick!
– – – – – – – – – – – – – – – – – –
Ach, und wär's auch so, mein Herz,
Lindert's dieser Stunde Schmerz?

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Ganz gut konnte Pythagoras sagen, er habe schon zweihundert Jahre gelebt. Sind wir nicht immer dagewesen und konnte ein tiefer Schauender, ein in das innerste Wesen der [467] Dinge Versenkter, sich nicht wirklich erinnern? Ist es darum so schrecklich, zu sterben, da wir, wenn wir ewig da waren, auch ewig sein werden? Es ist ja nur ein Wechsel des Kleids, und sollte es nicht möglich sein, an einen Punkt zu gelangen, wo man das Kleid nicht mehr zu wechseln braucht, wo man dem Wandel der Erscheinung, mithin der Beschränkung, entrückt, ewig bewußt lebt?


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Die alte italienische Musik hat für Liebe und Religion den gleichen Charakter. Alle Liebesgesänge gleichen Gebeten, das macht sie so innig und seelisch.


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Das ist so merkwürdig in der Musik, daß in der seelischesten aller Künste das Mathematische, unabänderlich Gesetzmäßige herrscht. Wie staunenswert ist das bei Bach, wo in der streng gebundenen Form die göttliche Freiheit der überströmenden Schöpferkraft waltet. Die Rezitative in der Johannis-Passion, die ich mit Rolland gerade durchnahm, sind die großartigste erschütternde Tragik des Denkers, der dann wieder im Gesang selige Poesie entkeimt.


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Kann man die Philosophie der Musik schreiben? Ihrer konkreten Formen: ja; aber ihr eigentliches Wesen ist so metaphysisch, daß es in keine Theorie paßt.


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Am Abend spielte mir Rolland die großen Variationen von Beethoven vor. Wie man da in dessen Seele liest! Er, der nur noch im Innern, in unausgesetzten Harmonien lebte, Welt und Formel gehen ihn nichts mehr an.


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Bach ist der ideale Ausdruck der Reformation in ihrem reinsten Sinn. In der gebundenen Form: die Freiheit des Gedankens, die Innigkeit des Gefühls, die Erhabenheit des Schmerzes, die größte Idealität, aber immer der tief religiöse Mensch innerhalb der Grenzen des traditionellen Glaubens. Deshalb beruhigt er so, trotzdem er alle Tiefen des Schmerzes [468] und selbst der Leidenschaft kennt, weil sein Ideal ein festes ist und er weiß, wo er Frieden findet. Beethoven hingegen ist der suchende, ringende Titan, dem das Ideal nur, wie ein fernes Lichtbild, in Ahnungen sich neigt, dann aber auch überirdisch schön, jeden Zweifel lösend und das Dunkel mit himmlischem Licht erhellend.


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Und so wieder ein Abend, wo der musikalische Freund mir wundervoll spielte. Welch ein edler Zustand, wo der Wille schweigt und nur das reine Erkennen die Seele füllt.


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Musik ist wirklich die Versöhnerin zwischen der mangelhaften realen Welt und der Ahnung einer vollkommeneren, die der Seele in ihren besten Augenblicken vorschwebt und sie über die gemeine Wirklichkeit erhebt. Alle großen Erzieher der Menschheit haben Musik gebraucht; es ist das nur bei Christus eine seltsame Lücke, in den Evangelien überhaupt. Wie erhaben schön war aber die Idee des Pythagoras über den Rhythmus des Weltalls!


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Die unbefriedigte irdische Leidenschaft ist das harte Gesetz, durch das die Götter die Gabe des Genius bezahlen lassen. Wer das himmlische Feuer vom Olympos raubt, wird an den Fels des Leidens gefesselt, aber er sieht den Himmel offen inmitten der irdischen Qual. Wer hat dies mehr erfahren als Beethoven? Er hatte die wahre Religion, war auf dem Sinai gewesen, wo Gott sich offenbart in Tönen, die aus dem Urgrund des Seins kommen und die Erlösung vom Leiden bringen, indem sie uns aus dem Endlichen in das Unendliche erheben. Sein Adagio aus der Sonate in B-dur (op. 106) ist, nach dem Abgrund des Leidens, die erhabene Vergebung an das Leben für all das ihm zugefügte bittere Leid.


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An einem Morgen spielte Rolland bei Frau Minghetti auf deren Bitte aus Parsifal. Mir verschwand dabei die [469] mich umgebende Gesellschaft vollständig, ich lebte nur in den Tönen und fühlte es mehr denn je, daß die Weltseele Musik ist. Wagner hat sie gehört, geahnt, im Parsifal war er schon hellsehend. Ja, das kann nur aus transzendentalen Seelen kommen.


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Wagner war das gewaltige Schlußwort einer großen produktiven Epoche in der Musik, wie Michelangelo es in der bildenden Kunst war. Nach diesem kam Bernini, wie jetzt all die Epigonen, die nach Wagner kommen. Die Ähnlichkeit ist sehr groß; es ist eine Art krampfhaftes Ringen in dem Leben dieser zwei kolossalen Künstler. Die reine Linie der Schönheit war erschöpft in Raffael, Mozart, Bach, Beethoven. Jene zwei Großen sahen noch etwas Größeres und versuchten es mit irdischen Mitteln auszusprechen und zu erreichen. Das jüngste Gericht, die Propheten und Sibyllen in der Kapelle Sixtina und die Götter Walhalls und Parsifal sagen dasselbe; sie suchen den Idealmensch (nicht Übermensch im Sinne Nietzsches).


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Nach jenen zwei Jahren, in denen durch die Anwesenheit Rollands in Rom die Musik wieder so ganz die Oberhand in meinem Seelenleben gewonnen hatte, ging ich bei Beginn des Sommers zunächst wieder nach Mezzaratte bei Bologna, dem anmutigen Landsitz von Donna Laura Minghetti, auf dem sie, auch nach dem Tode ihres Gatten, alljährlich einige Zeit zubrachte. Von der liebenswürdigen Gastfreundschaft, die dort geübt wurde, habe ich schon früher gesprochen und gewiß, wer sie einmal erfahren hat, wird mit mir übereinstimmen, daß man sich keine lieblichere Sommerfrische denken kann, in edelster Freiheit, nur gebunden durch die Grazie und den Geist der Wirtin, zu der die reizende Umgebung paßt wie ein schöner Rahmen zu einem schönen Bild. Von da aus ging ich für einige Tage nach Venedig, wo ich seit Warsbergs Tod nicht mehr gewesen war, um dort mit Rolland zusammenzutreffen, der inzwischen Umbrien durchwandert [470] hatte, und dann mit ihm zusammen nach Bayreuth zu gehen, wo ich endlich einmal wieder hinwollte, den Parsifal noch einmal zu hören, ehe es bei dem vorrückenden Alter zu spät würde. Rolland aber, der noch nie dort gewesen war, wollte mit diesem erhabenen Eindruck die durch die Jahre in Italien so reiche Jünglingszeit beschließen und diesen gleichsam als Weihe, auf der Schwelle des Mannesalters, mit seiner voraussichtlichen Arbeit und seinen wohl nicht ausbleibenden Kämpfen und Täuschungen, empfangen.

Ich hatte mir eine Wohnung für die ganze Dauer der Festspiele nehmen lassen, da ich außer dem Kunstgenuß auch mal wieder mit den teuren, so lange nicht gesehenen Freunden eine längere Zusammenkunft haben wollte. Rolland hatte für die wenigen Tage seines Aufenthalts ein Zimmer in der Nähe gefunden. Am Morgen des ersten Tages, noch ehe ich irgend jemand gesehen hatte, ging ich mit ihm durch den Schloßgarten zu der Hintertür des Wagnerschen Gartens, durch die man, ohne den vorderen Teil zu berühren, zu dem von hohen Bäumen beschatteten Platz gelangt, wo der Meister ruht, in dem Grabe, das er sich selbst, als er das Haus erbaute, ausmauern ließ. Rolland entblößte ehrfurchtsvoll sein Haupt, als ob er in eine Kirche träte, und ich stand tiefbewegten Herzens an dem Stein, der unter diesen grünen Schatten liegt. Neun Jahre waren verflossen, seit ich den, der hier ruht, zuletzt gesehen hatte in der Glorie jener ersten Aufführungen des Parsifal, bei denen er noch so kräftig jugendlich erschien, daß auch die bängste Sorge nicht denken konnte, es werde ihn noch nicht nach Jahresfrist diese Ruhestätte aufnehmen. Schon einmal in diesen Blättern habe ich erwähnt, welche Gedanken mich dort bewegten. Diesmal galt meine Ergriffenheit fast noch mehr der Erinnerung an den geschiedenen Freund, als an den großen Meister, der langen Jahre, wo ich ihn gekannt, und der teils traurigen, teils glücklichen Episoden seines Lebens, denen ich, innigst teilnehmend, beigewohnt hatte. Unter den ersteren war es vorzüglich jene Zeit der Aufführung des Tannhäuser [471] in Paris, an die ich nun auch, durch seine Aufführung in Bayreuth, auf das lebhafteste gemahnt wurde. Denn es war eben in diesem Jahre nicht allein Parsifal, sondern auch Tristan und Isolde und endlich Tannhäuser, die ihre Neugeburt feierten, wie man es mit Recht nennen kann, da sie wohl nun erst in einer, ihren wahren Intentionen entsprechenden Weise dem Publikum vorgeführt wurden. Mit der Fülle der Erinnerungen zugleich fesselte mich diesmal ganz besonders der Tannhäuser, dieses herrliche Werk, dessen tiefe poetische und musikalische Bedeutung mir, nach der langen Pause, erst recht aufging. Die Gestalt des wunderbaren Sängers ist gewiß eine der tragischsten Gestalten der Poesie, und wie konnte sie höher idealisiert werden, als durch die Musik, in der die zwei Gestalten, die sich um diese Seele streiten, so wundervoll charakterisiert sind. Es fiel mir dabei auch auf, wie merkwürdig geistvoll hier die Legende den Gedanken ihrer Zeit aufgefaßt und damit ein allezeit Gültiges ausgesprochen hat: die furchtbare Härte und Mitleidlosigkeit der konstituierten Kirche (wofür ja auch Dante sie in ihren Vertretern dem Inferno übergibt) gegenüber der allein erlösenden, wahrhaftigen, reinen Liebe.

Durch die Güte meiner Freunde für alle Aufführungen in ihrer Loge eingeladen, hörte ich doch einmal Parsifal zusammen mit Rolland, der dann nach Frankreich zurückgehen mußte, um in die große Gewerbtätigkeit der Maschine, die die Geschichte der Menschheit ausarbeitet, als schaffendes Glied einzutreten. Es war mir furchtbar leid um ihn, den Hochbegabten, daß er sich nicht frei »zu höheren Sphären« heben und ganz in der Entfaltung künstlerischer Triebe vom Jüngling zum Mann reifen konnte; aber ich wußte auch, daß er dennoch am »sausenden Webstuhl der Zeit« mithelfen werde, »der Gottheit lebendiges Kleid zu wirken«. Die Tränen, die beim Schluß der Aufführung des Parsifal in seinen Augen standen, verbürgten mir aufs neue diese Annahme, und so sah ich ihn scheiden mit innigem Dank für die poesieerfüllte Zeit, die mir seine Talente bereitet hatten, und [472] mit dem Segen, den das Alter der Jugend mitgibt in das Leben, wohl wissend, welche Schmerzen und Enttäuschungen den Idealisten in der nüchternen Welt erwarten, aber auch wo die Region ist, in der seine Seele ihre wahre Heimat hat und ewige Befriedigung findet.

Ich blieb die ganze Zeit der Aufführungen in Bayreuth und wohnte allen bei. Einen ganz besonderen Zauber übte dabei auf mich – was seltsam klingt – eine Tänzerin; auf mich, der das Ballett, wie es gegenwärtig ist, den größten Widerwillen einflößt. Es war dies die Signora Zucchi aus Mailand, eine Italienerin, schon nicht mehr ganz jung, die aber mit dem schnellen Verständnis ihres Volkes für alles Künstlerische alsbald begriffen hatte, wie Frau Wagner die Erscheinung der drei Grazien im Venusberg dargestellt haben wollte. Nicht in der absurden Weise, wie man es damals in Paris getan, in kurzen rosa Florkleidern, sich ganz nach Art der gewöhnlichen Ballettänzerinnen bewegend, sondern in langen, weißen, griechischen Gewändern, nur anmutsvoll leicht schreitend, oder in klassischen Stellungen ruhend und durch Pantomimen ausdrückend, was ihres Amtes war. Die Zucchi löste die Aufgabe in geradezu bezaubernder Weise und zeigte sich dabei als eine Mimin ersten Ranges, auch später, als sie im Wagnerschen Hause, uns ganz allein, eine improvisierte Vorstellung gab, in spanischem Kostüm zunächst den Bolero reizvoll tanzte und dann ein vollständiges kleines Drama aufführte. Wie sehr brachte mich das wieder auf Gedanken zurück, die mich öfter beschäftigt hatten und zu denen noch kurz vorher eine geistvolle Freundin aus ihrer Erfahrung mit ihren Kindern mir die liebendswürdigsten Belege gab, nämlich auf die Einwirkung des Tanzes bei der Erziehung. So wie der Tanz gewiß eine der ersten Äußerungen tief innerlicher, feierlicher, religiöser Gefühle gewesen ist, so ist er auch dem Kinde natürlich und sollte von verständigen Erziehern angewendet werden, um das Verständnis des Rhythmus, die Anmut der Bewegungen, das feierliche taktvolle Schreiten, als Ausdruck der Ehrfurcht in der Nähe von etwas Erhabenem, [473] zu entwickeln. Es versteht sich, daß dabei nicht vom modernen Tanz die Rede sein kann, sondern allein von sinnvollem Bewegen bei gegebenen Rhythmen, von heiterem, anmutigem Hüpfen und Springen, als Ausdruck der Freude, ja auch von Vorbereitung zu edler Gemeinsamkeit, im schön geordneten, sich langsam und feierlich bewegenden Reigen. Was mich aber mehr als alles fesselte, das war das Bild der künstlerischen Entwicklung Wagners, wie sie sich gerade in den drei hier zusammengestellten Meisterwerken so vollständig verfolgen ließ. In Tannhäuser spielen doch die alten Traditionen noch hie und da hinüber, aber daneben steigt schon wie eine leuchtende Morgenröte, das neu erkannte künstlerische Prinzip glorreich empor; die Einheit des Dichters und Musikers wird als Notwendigkeit offenbar, und das charakterisierende Eingreifen der Musik in die schon als selbständig dastehende dramatische Handlung erscheint als der höchste Ausdruck des vollendeten Kunstwerks. Wie das dem Genius kühn entstiegene, vollständig Neue, zur Gewißheit geworden, nun in unbeschränkter Allgewalt herrscht, wie konnte es besser gezeigt werden, als durch die Aufeinanderfolge von Tannhäuser und Tristan, der vielleicht mehr noch als alles andere, auch musikalisch, den zum unumstößlichen Sieg gelangten neuen Standpunkt zeigt, der dann im Parsifal, schon gleichsam sich selbst übertreffend, in einer reinen Verklärung endet.

Nach den vier Wochen dieses höchsten Kunstgenusses erfreute ich mich noch einige Tage des intimen Zusammenseins mit den so lange nicht gesehenen teuren Freunden und setzte dann meinen Wanderstab wieder weiter nach Westen, zunächst nach Ems, wo die einzig übrige der Geschwister, die alte Schwester, die letzten Lebenstage verbrachte; ein Liebesopfer meinerseits, da ich wenig mehr für dies erlöschende Leben tun konnte und die Zeit zum Besuche herrlicher, von mir noch ungekannter Orte hätte benutzen können, an denen mir Freude und Belehrung geworden wäre. Von Ems fuhr ich am Rhein hinunter, den ich immer mit Wehmut und Liebe wiedersah, [474] auf dessen Wellen holde Erinnerungen aus ferner Jugendzeit und teure, längst entschwundene Gestalten zu schwimmen schienen und der mir die tief im Herzen wohnende, nie erlöschte Liebe zum Vaterland, zumwahren Deutschtum, stets lebendig zum Bewußtsein brachte. Ja das Land, das einen Schiller und Goethe, einen Beethoven und Wagner und eine Schar edler bedeutender Geister, die jener würdig, wenn auch ihnen nicht gleich waren, hervorgebracht hat, mußte mir ewig teuer bleiben, obgleich für meine Überzeugungen viele tiefe Schatten über seiner Gegenwart lagern und obgleich die Ferne, durch Natur und Menschen, andere teure, unauflösliche Bande um mein Leben geschlungen hat. In Versailles dann, in Olgas Häuslichkeit, verbrachte ich wieder Sommer und Herbst, aber es war diesmal keine frohe Zeit wie sonst, es kam vieles zusammen, um sie zu trüben, vor allem die Erkrankung vom ältesten Sohne Olgas an der Diphtheritis, die es nötig machte, alle übrigen Familienmitglieder aus dem Hause zu entfernen, so daß nur Olga – deren aufopfernde Mutterliebe sich nie verleugnete und die alle Pflege selbst übernahm – und ich zurückblieben. Da kam mir noch einmal, durch zu viel Schmerzliches, das sich zusammengefunden hatte, einer jener Momente, wo alles Weh des Daseins uns überfällt, wo alles sich auflöst in hoffnungslosem Leid, wo alle Sterne ihr Licht verlieren und nur eine große dunkle Öde um uns übrig bleibt, und ich verschloß schnell meine Türe, damit niemand mich sähe, und weinte noch einmal jene Tränen, die ein sonst mutiges und gefaßtes Herz nicht oft weint, die aber, wenn sie kommen, aus jenen Urtiefen der Seele quellen, die kein Trost erreicht und kein Name nennt.

Aber auch das ging vorüber, und im Spätherbst kehrte ich wie gewöhnlich nach Rom zurück. Und abermals sandte mir das Schicksal eine jener Begegnungen, die eine schöne Spur im Leben zurücklassen und mit denen sich rasch in kurzen Stunden mehr Inhalt zusammendrängt, als mit dem gewöhnlichen Verkehr in Jahren. Es war dies wieder ein [475] anderer Typus als der vorhin besprochene, ein Aristokrat der edelsten Art, ein Deutsch-Russe aus Livland. Diese Provinz hatte mir schon mehr als eine Persönlichkeit zugeführt, die mir durch ihre Bedeutendheit, durch ihren Geist und ihr Gemüt innigst wert geworden war; besonders waren dies zwei Frauen, beide in Italien verheiratet, von denen die eine leider zu früh dem Gatten, den Kindern und den Freunden durch den Tod entrissen wurde, während die andere, ein Wesen seltenster Art, von einer ungewöhnlichen Bildung, durch Jahre der Trennung hindurch und dann in endlich erreichter Nähe mir in treuer, gegenseitiger Freundschaft verbunden geblieben ist. Die erste war: Baronin Cecil von Pilar, verheiratete Mariano, die zweite ist Augusta von Stein, verheiratete Rebecchini. Das das, was ich von diesen ausgezeichneten Frauen und von vielen anderen ihrer Landsleute, namentlich über die oben Genannte der Ostseeprovinzen hörte, gab mir eine äußerst günstige Idee von den Zuständen dort, so wie sie vor noch nicht zu ferner Zeit gewesen waren. Die herrliche Selbständigkeit der adeligen Herren auf ihrem eigenen Grund und Boden, die Möglichkeit, durch großen Besitz nach unten hin wohltätig und veredelnd zu wirken, sich durch feinste Bildung das Leben reich und fördernd zu gestalten, unter sich, von Besitztum zu Besitztum, im angenehmen, doch nicht beengenden Verkehr eine Art Oligarchie in beneidenswerter Freiheit bildend, so stellte ich mir das dortige Leben vor. Leider werden jetzt durch das autokratische Regiment, dem diese schönen Provinzen seit lange untertan sind, viele der genannten Vorzüge zerstört und der Despotismus arbeitet daran, das nationale und religiöse Element immer mehr zu bedrücken und zu vernichten. In jenem jungen Mann, Baron v. W..., aber fand ich die Persönlichkeit, wie sie, unter den vorhin genannten Verhältnissen, sich zu edler Form und zu tiefem inneren Gehalt entwickeln mußte und eine Bestätigung des vorteilhaften Bildes, das ich mir von der eigentümlichen Verfassung jener Provinzen gemacht hatte. In dem Winter, den er in Rom [476] zubrachte, hatte ich Gelegenheit, ihn oft zu sehen und in langen Gesprächen die Fülle seiner Kenntnisse, die kein trockenes, pedantisches Wissen, sondern starke Stützen eines sehr eigentümlichen, tief seelischen Gedankenlebens waren, zu bewundern und mich an der feinen, vollkommen edlen und ideal angelegten, im besten Sinne vornehmen Natur zu erfreuen. Hier auch wieder konnte ich nur mit froher Hoffnung in die Zukunft sehen, die von so großer Begabung und so ernsten Studien die schönen Früchte ernten wird. Größere Freude und sicherer Trost kann dem Alter nicht werden, als die Gewißheit, daß in jungen Seelen die heilige Liebe des Ideals in reinen Flammen brennt und daß die Schöpferkraft da ist, Werke zu erzeugen, die der Welt wieder Funken jenes himmlischen Feuers bringen, das die Prometheuse aller Zeiten den Göttern haben rauben müssen, um die starre Form der Menschengestalt mit geistigem Inhalt zu beleben. Alle diese einzelnen Trefflichen erschienen mir wie mir gesandte Boten der Verheißung, daß die Welt nicht untergehen wird im Materialismus, im blöden Streben nach dem Vergänglichen, sondern daß die Begnadeten, die Gottgesandten, immer wieder erscheinen werden, um weiter zu bauen an dem kristallnen Dom der ewigen Gedanken, der sich über den vergänglichen irdischen Gütern wie ein reiner Bau aus Sonnenstrahlen erhebt, um Licht zu senden, wenn es hier unten Nacht werden will.

Nur noch einen Sommer machte ich die gewohnte Nordfahrt, schon bei mir bestimmt fühlend, daß es die letzte sein würde, da mich die weiten Reisen zu sehr ermüdeten, zu viel von der letzten Kraft verzehrten und ich auch geistig das Bedürfnis der Konzentration auf Örtlichkeit und Klima empfand, gleichsam wie einen Wink, daß die Gedanken sich nicht mehr in die Weite und Breite zerstreuen, sondern immer mehr nach innen und nach oben tätig sein sollten. Doch hatte ich den folgenden Winter die unsägliche Freude, die älteste Tochter Olgas bei mir zu haben, ein eben zur Jungfrau erblühtes geist- und gemütvolles, liebliches Wesen, das [477] die Einsamkeit meines kleinen Heims wieder mit dem holden Reiz der Jugend schmückte und als eine seltene Gunst des Schicksals mir in der zweiten Generation die Zeit zurückrief, wo die Mutter in ihrer Jugendschöne und Seelenanmut neben mir vom Kind zur Jungfrau reifte und damals den Hauptinhalt meines Lebens, Denkens und Tuns bildete. Im Frühjahr kam sie auch, um die Tochter abzuholen, und blieb mehrere Wochen als Ersatz für den Sommer, den ich nun nicht mehr bei ihnen verbringen konnte.

In diesem Sommer, den ich also in Italien, wie von nun an bis an das Ende, bleiben wollte, folgte ich zuerst wieder der freundschaftlichen Einladung von Frau Minghetti auf ihr schönes Mezzaratte. Wie früher verstrich die Zeit da auf das angenehmste, in heiterer schöner Natur und liebenswürdigster Gastfreundschaft, und wahrlich, auf solchen schönen Landsitzen der reichen Italiener brauchte man gar nicht vor dem Sommer wegzulaufen, denn in den heißen Tagesstunden hat man Frische in kühlen, luftigen, vor der Sonnenglut verschlossenen Räumen, und wer könnte wohl den Zauber der Morgen- und Abendstunden im italienischen Klima beschreiben?

Nach einiger Zeit jedoch schied ich, um einmal wieder am Meer zu sein, das von jeher für mich mehr Anziehung gehabt hat als die Berge, deren den Horizont begrenzendes, starres Wesen mir nach einiger Zeit immer bedrückend wird, wobei mir stets Fausts Worte einfallen: »Gebirgesmasse bleibt mir edel stumm.« Ich ging nach Rimini, dem Bologna zunächstliegenden Seeort am adriatischen Meer, dessen Küste für den Sommer der Westküste, weil kühler, vorzuziehen ist. Es ist dies jetzt ein sehr besuchter Badeort, mit einem meilenweit ausgedehnten Strand vom feinsten Sand, herrlich zum Baden, so ungefährlich, daß man selbst Kinder ruhig allein im Wasser herumlaufen lassen kann. Der moderne Luxus hat hier bereits auch schon Fuß gefaßt, für Annehmlichkeiten und Vergnügungen aller Art gesorgt, und während sich das Meer von der alten Stadt schon beträchtlich[478] weit zurückgezogen hat, an dem neuen Strand eine Stadt sehr zierlicher, zum Teil sehr hübscher Villen entstehen lassen, von denen manche zur Aufnahme von Fremden eingerichtet sind. Vom Meere aus gesehen, bildet diese Villenreihe einen anmutigen Vorgrund zu der im Hintergrund in den malerischesten Formen sich hinziehenden Bergkette, als deren Mittelpunkt die dreigipflige Höhe, auf der die Republik von S. Marino liegt, emporragt. Ich fand passende Wohnung, dicht am Meer, in einem der Häuser, die die Stadt daselbst zur Aufnahme von Fremden hat herstellen lassen. Dort verbrachte ich die Morgen auf einer prächtigen Terrasse, umflutet von herrlicher Meerluft, mit Lesen und Schreiben. Der banalen Vergnügungen nachjagenden Badegesellschaft ging ich aus dem Wege, und wenn ich am Nachmittag mich hinausbegab auf die große Plattform, die man alljährlich weit hinaus ins Meer aufbaut, so unterhielt ich mich, wenn überhaupt mit Menschen, am liebsten mit den Schiffer- und Fischerleuten, die da mit ihren Barken und Booten hielten, oder ich ließ mich hinausfahren aufs Meer, was schon einst in England meine Lust gewesen war, und ließ mir von den wackeren Seeleuten ihre Lebensschicksale erzählen. Da war besonders einer, auch in den Traditionen seines Rimini erfahren, denn seine Barke hieß Francesca, der fuhr mich oft hinaus und erzählte mir von den Fahrten um die Welt, die er als Jüngling auf einem großen Schiff gemacht, und wie er dann, schon als gereifter Mann, wegen einer Krankheit, die ihn zum Seedienst auf den Staatsschiffen untauglich machte, in die Heimat zurückgekehrt sei, um sich nach der Fremdenzeit mit Fischfang, so gut es gehen wollte, zu ernähren. Nun sei es ihm aber einsam und traurig gewesen, da seine Angehörigen inzwischen gestorben waren, und doch habe er es nicht gewagt, sich um ein Mädchen zu bewerben, da er nicht mehr jung und dazu arm gewesen sei. Bekannte von ihm hätten ihm aber gesagt, sie hätten ein armes Mädchen, eine ganz verlassene Waise, in Dienst genommen, die sei so schön und gut, so bescheiden und sittsam, daß, wenn [479] er die zum Weibe haben könnte, so würde er glücklich werden. Nun sah er sie, fand alles wahr, was zu ihrem Lobe gesagt war, und fragte sie, ob sie sich entschließen könne, ihn zu heiraten. Sie, ebenso bescheiden wie er, hatte nicht geglaubt, daß ein Mann sie in ihrer Armut und Niedrigkeit werde heiraten wollen, und dankbar und gerührt gab sie ihr Jawort. Er war auch noch ein schöner Mann mit seinem dunkel gefärbten Antlitz, aus dem zwei leuchtende Augen, feurig und doch mild und gütig, unter den dichten Brauen hervorsahen und mit dem schwarzen, lockigen Haar, das sich unter dem breitkrämpigen Hut nur halb barg und das kaum erst einzelne, helle Fäden durchzogen. Als er draußen auf still gekräuselter See bloß das Segel zu dirigieren hatte, das seine »Francesca« weiterführte, blieb ihm Zeit, mir diese seine einfache und doch so liebliche Herzensgeschichte zu erzählen, und als wir wieder an der Plattform ausstiegen, sagte er: »Nun muß ich Ihnen doch meine Kinder zeigen.« Er winkte zwei kleine Mädchen herbei, die auf der Plattform, wo auch Buden waren, an einem Bänkchen standen und Muscheln, die der Vater im Meer gefangen hatte, verkauften. Es waren zwei allerliebste Geschöpfe, die Älteste mit dem über ihre Jahre gehenden Verständnis dessen, was die Armut bedeutet, d.h. Arbeit und Entbehrung aller Lebensfreude, im Ausdruck, wie er sich öfter bei gutgearteten Kindern des Volkes findet und unaussprechlich rührend anzusehen ist, die zweite, erst fünf Jahre alt, ein blühendes, sorglos heiteres Wesen, das auf des Vaters Aufforderung gleich ohne Scheu in voller Natürlichkeit mehrere Gedichte, von passender Gestikulation begleitet, korrekt und ohne zu stocken hersagte. Sie hatte sie in dem Kindergarten zu Rimini, der von wohltätigen Frauen gegründet ist, gelernt. Nun mußte ich aber versprechen, auch die Mutter kennen lernen zu wollen, die als ordnende Hausfrau immer daheimblieb. Am folgenden Tage also ging ich in das Schifferquartier am Hafen, wo die Familie wohnte, von den Kindern geleitet und im Hause von der Mutter erwartet. In [480] ihr fand ich nun wieder eines jener holdseligen Wesen, wie sie das italienische Volk, da wo es noch nicht verdorben ist durch Fremdenverkehr und anderes, so häufig zeigt; diese Augen der Madonnen Raffaels, in deren unergründlichen Tiefen Jungfräulichkeit, Seelenreinheit und ernste, beinah feierliche Hoheit liegen, dieses Schlanke, Mädchenhafte, das auch die Mutter noch beibehält, und die liebliche Unbewußtheit der eigenen Anmut. In dem kleinen, ärmlichen, aber sauber gehaltenen Raum, in dem diese Familie wohnte, mußte ich nun alles besehen, was er von Eigentum enthielt, besonders die Schreibbücher der Kinder, die das Glück hatten, unentgeltlichen Unterricht, den die Mutter nie gehabt hatte, in Kommunalschulen und Kindergarten zu genießen, und den einzigen Schmuck, den man besaß, eine Anzahl schöner Muscheln, die der Vater heimgebracht hatte. Eine der schönsten wurde mir alsbald zum Geschenk dargereicht, mit dem edlen Gleichheitsgefühl des italienischen Volkes, das auch in seiner Armut, durch die Spenden der freigebigen Natur immer noch dem Fremden eine Gabe anzubieten hat, ehe ihm noch etwas gegeben ist. Man muß eben das Volk nicht nach den Orten beurteilen, die Fremde gewöhnlich nur sehen; man muß zu ihnen gehen an die Stätten, wo noch das ursprüngliche Naturell, unverdorben von fremden Einflüssen und dem Getriebe des materiellen und kommerziellen Verkehrs, herrscht, um zu wissen, was dieses Volk ist.

Gerade hier in Rimini und besonders an der Bevölkerung des Hafens lernte ich es aufs neue kennen und lieben. Ihr Charakter ist im allgemeinen liebenswürdig, friedlich, eher bedächtig als übereilt im Handeln, aber beharrlich und mutig, wie sie das im Kriege und auf dem Meer bewiesen hat und noch beweist. Sie ist genügsam und strebt nicht nach großem Gewinn, daher man dort weder sehr große Reichtümer noch sehr großes Elend findet. Wie gesagt, ganz besonders ausgeprägt findet sich dieser Charakter bei dem Schiffervolk des Hafens, das längs demselben ein eigenes Quartier bewohnt, gleichsam einen kleinen Staat für sich [481] bildet und einen Verein zu gegenseitiger Unterstützung organisiert hat, der die Mittel gewährt, um niemand verhungern zu lassen. Ich verkehrte viel dort mit diesen Leuten, und einer der Schiffer sagte mir: »Wir sind arm, aber wir arbeiten, sind zufrieden, und jeden, der arbeiten will, nehmen wir auf wie einen Bruder und helfen ihm. Doch die Faulen, die Müßiggänger, die weisen wir unerbittlich streng von uns aus.« Kann man eine bessere, vollständigere Moral finden für ein Gemeinwesen, als sie in diesen wenigen Worten enthalten ist?

Der Hafen ist durch das sich immer mehr zurückziehende Meer beinah wie ein langer Kanal geworden und bedürfte bedeutender Ausbesserungen, um wieder Beförderer der Interessen und der Wohlfahrt des Landes zu werden, wie er es unter den kulturfreundlichen Malatesta war, woran aber das jetzige italienische Gouvernement gar nicht denkt. – Doch ist der Handel, der von hier ausgeht, noch immer nicht unbeträchtlich. Die großen Barken, die da vor Anker liegen, führen Ladungen von Backsteinen, die in Massen bei Rimini verfertigt werden, Holz, Fischen und anderes hinüber nach Dalmatien, Fiume, Triest usw. – Dabei lebt das Volk einfach und genügsam, meist nur von Polenta, die die Ärmsten sogar mit Seewasser kochen, um das Salz zu sparen. Aber am Hafen sind es Fische und Seetiere, die die Hauptnahrung ausmachen. Es ist ein malerischer Anblick, die kräftigen, sonnengebräunten, oft sehr schönen Männer gegen Abend in den Barken um die dampfende Schüssel sitzen zu sehen, in der die Seetiere in der eigenen Brühe kochen und in die ein jeder mit seinem Löffel fährt, um sich seinen Anteil an Speise zu holen. So mag der vielgewanderte Odysseus mit den Gefährten beim »lecker bereiteten Mahle« gesessen haben, als er nach beendetem Kampf auf geräumigem Ruderschiff auszog, um die geliebte Heimat, das meerumflossene Ithaka, wiederzusehen, im fröhlichen Vorgefühl nicht ahnend, welche schwere Prüfungen ihm noch bevorstanden.

Es war aber nicht das moderne Rimini, das mich am [482] meisten anzog; es war das alte, jetzt zu einem kleinen Provinzialstädtchen herabgesunkene, das für viele Wochen mein lebhaftestes Interesse in Anspruch nahm. Denn Rimini hat seine Geschichte, wie so viele der italienischen Städte, und zwar eine der bedeutendsten. Es hat auch noch Trümmer aus alter Zeit, einen prächtigen Triumphbogen aus der des Kaisers Augustus und eine schöne Brücke, die über einen Arm des zweigeteilten Rubikon führt, der hier aber jetzt den Namen Marechia hat, während dem anderen Arm der berühmte Name blieb, der ja noch immer zu der Bezeichnung einer kühn gewagten Tat, im Gedenken an Julius Cäsars Überschreiten der ihm gesteckten Grenze, dient.

Seine eigentliche Bedeutung aber hatte Rimini erst, als es, wie so viele andere italienische Städte, der Herrschaft eines Geschlechts unterworfen wurde, die es mächtig im Krieg und hervorragend im Kulturleben machte. Angezogen durch die berühmten Episoden und Namen, sowie durch die Betrachtung der prachtvollen, leider nicht vollendeten Kirche, die Sigismondo Malatesta baute und die, wenn vollendet, eines der herrlichsten Monumente Italiens sein würde, beschloß ich, mich näher mit der Geschichte der Malatesta zu beschäftigen. Der Direktor der vorzüglichen Bibliothek der Stadt, dessen Vater einer der besten Historiographen Riminis gewesen ist, empfing mich auf das zuvorkommendste, und ich fuhr nun jeden Morgen mit dem Tram durch die schönen Alleen, die vom Meere nach der Stadt führen, in diese und begab mich für mehrere Stunden in den alten Palazzo, in dessen geräumigem Erdgeschoß sich die Bibliothek befindet. Hier lernte ich eine neue Freude für den wissensdurstigen Geist kennen, die nämlich: an den Quellen der Geschichte selbst schöpfen zu können, zu vergleichen, zu urteilen und vielleicht etwas zu entdecken, was den andern entgangen ist, jedenfalls sich unmittelbar in den Geist der Zeit, die man studieren will, zu versenken und sie nicht erst durch das Medium eines anderen Geistes zu sehen.

Ich verfolgte jetzt die Geschichte dieses merkwürdigen Geschlechts [483] der Malatesta, die eine ununterbrochene Reihe hervorragender Gestalten durch mehrere Jahrhunderte hindurch aufzuweisen haben. Schon im Jahre 1150 wurde ein Giovanni in Rimini Bürger. Sein Sohn war ein wilder, grausamer Mensch und erhielt daher den Beinamen: Malatesta (böser Kopf), der dann zum Familiennamen des Geschlechts wurde, wie es damals häufig geschah, daß die Beinamen, die die Soldaten ihren Führern gaben, nachher der Familie verblieben. In der malerischen Kette der Berge von Carpegna sieht man noch auf steiler Felsspitze das alte Kastell Verrochio, das einer der ersten festen Sitze der Malatesta war. Ein Malatesta von Verrochio war das Haupt der Guelfen, die damals in den fortwährenden Kämpfen in der Romagna die Oberhand hatten, und er wurde der eigentliche Gründer der Herrschaft des Geschlechts in Rimini, das dann unter seinen Nachkommen zu einer Kulturstätte wurde, die man mit Recht ein kleines Athen nennen könnte. Eben dieser Malatesta, heftiger Feind der Ghibellinen, wurde der Hundertjährige genannt, denn er lebte von 1212 bis 1313. Die Päpste beschützten ihn, aber Dante hat ihn arg behandelt, sowie auch seine Söhne. Der älteste, Giovanni, von seinem körperlichen Gebrechen Sciancato (der Hüftenlahme) und schließlich Lanzelotto genannt, war schon als Jüngling im Kriegshandwerk berühmt, aber er war eine harte Natur und reizbar durch seine körperlichen Gebrechen. Ihm war es zwar bestimmt, »unsterblich im Gesang zu leben«, aber in trauriger Gestalt und der Gehaßte aller Generationen zu sein, während seine Opfer durch liebendes Mitleid verklärt wurden. Er hatte im Dienste eines de Polenta von Ravenna, zur Zeit Podestà von Pesaro, einen Sieg errungen und als Siegespreis war ihm die Tochter Polentas, Francesca, versprochen. Sein Bruder, Paolo il bello, so genannt wegen seiner Schönheit und Liebenswürdigkeit, wurde nach Pesaro gesandt, die Braut für den Bruder zu freien, so erzählt Boccaccio. Als er dort ankam, zeigte eine Frau ihn der Francesca vom Fenster aus und sagte: »Das [484] ist der, der dein Mann werden soll.« Boccaccio meint, daß das gute Weib es wirklich geglaubt habe. Was war natürlicher, als daß Francesca den Schönen, Liebenswürdigen gleich mit Neigung empfing und daß er für die reizende Jungfrau in Liebe entbrannte? Aber seinem Wort getreu führte er die Braut nach Rimini, wo große Feste sie erwarteten, doch auch die bitterste Enttäuschung, als sie den ihr bestimmten Gatten erblickte. Als sie dann mit Paolo das Geschick der Liebe las, die der ihrigen so ähnlich war, da konnten sie freilich nicht weiter lesen, denn das Buch wurde ihnen, was der Liebestrank für Tristan und Isolde war, die Offenbarung ihres schmerzlich süßen Geheimnisses. Aber der verratene Gatte war kein großmütiger König Marke, er gab ihnen den Tod und meinte, damit den schuldigen Bund zu lösen. Doch die Poesie wollte es anders und weihte sie in unzertrennbarem Verein der Ewigkeit ihrer Liebe.

Wie es jetzt so vielfach geschieht mit Begebenheiten und Gestalten, die in unsere nüchterne Gegenwart nicht mehr passen, daß man sie in das Reich der Fabel verweist, so hat man es auch mit Paolo und Francesca machen wollen, ja, man hat sogar behauptet, daß Dante die Episode durchaus erfunden habe. Dem widerspricht aber zunächst die Erzählung Boccaccios und dann der Umstand, daß Dante, ein Zeitgenosse und teilweise Mithandelnder der Kämpfe und Ereignisse jener Epoche, im Hause eines Polenta, Neffen der Francesca, sein letztes Asyl fand und da bis zu seinem Tode gastlich gepflegt wurde, was doch wohl nicht geschehen wäre, hätte er von so nahen Verwandten Falsches berichtet. Wäre es aber auch bloße Phantasie des Dichters, so hat der Fall, durchaus in den Sitten der Zeit, die dichterische Wahrheit, die der Realität gleichkommt, und Paolo und Francesca werden unsterblich leben, so lange es Herzen gibt, die für Liebe und Poesie Empfindung haben.

Ein Enkel des Hundertjährigen, Galeotto, regierte in Rimini bis 1385. Seine älteste Tochter, Madonna Gentile, an den Herrn von Faenza verheiratet, war eine tapfere, [485] kriegsmutige Frau, mit den besonderen Gaben ihres Geschlechts ausgestattet. In einem Krieg zwischen Mailand und Florenz nahm sie, in Abwesenheit ihres Gemahls, für ersteres Partei. Ihre Brüder kämpften für Florenz und forderten sie auf, mit ihnen zu sein, aber sie sagte, es täte ihr zwar leid, gegen die Brüder zu kämpfen, aber Faenza sei für die Visconti von Mailand und sie habe »die Seelen in ersterem in Obhut«. Sie stieg bewaffnet zu Pferd und zog mit einer Schar bewaffneter Frauen ins Feld. Der Chronist der Zeit vergleicht sie mit Penthesilea und erzählt, daß sie, ihren Amazonen voran, auf die Feinde losgestürmt sei, die ihr »mit wenig Ehre« weichen mußten.

Ihr ältester Bruder Carlo, mit dem die neue Zeit beginnt (von 1364 bis gegen Mitte des 15. Jahrhunderts), war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten in der Reihe der Malatesta. Damals kamen eben die durch die Türken aus der Heimat vertriebenen Griechen nach Italien herüber und brachten das milde Licht ihrer Kultur den bisher nur durch Kampf und Zwietracht genährten Gemütern reich begabter Menschen. Carlo war ein tapferer Condottiere, aber auch ein gebildeter, jedem Kulturwerk geneigter Mann. Er gab Rimini eine gut geordnete Verwaltung, seine Untertanen waren stolz auf ihn, und als er zuerst in Rimini einzog, bereiteten sie ihm einen festlichen Empfang. Eine Prozession von 9000 weißgekleideten Männern und von 8000 Frauen, an deren Spitze Elisabeth Gonzaga, Carlos Frau, folgten ihm zur Kirche. Nachher stieg er auf eine Estrade und ermahnte das Volk, tätig zu sein in guten Werken; gewiß eine schönere Aufforderung in einer kriegerisch doch so bewegten Epoche, als Kriegsheere zu loben und als die Spitze der Kultur hinzustellen, wie es leider in unserer Zeit so häufig geschieht.

Dabei liebte er die Kunst, ließ in seiner Wohnung Fresken malen, bei denen der damals noch sehr junge Ghiberti tätig war. Carlo, seine Begabung ahnend, wollte ihn behalten, aber der Konkurs für die Türen zum Baptisterium [486] in Florenz zog ihn dahin zurück. Doch schreibt er in seinen Kommentaren, daß um 1400 in Rimini schon ein kleiner Hof war, wo Künstler hochgeschätzt wurden. Mit den Humanisten war Carlo in Verkehr; eine der ersten italienischen Akademien entstand unter seinem Einfluß, und er war bei alledem ein frommer, heiliger Mann, so daß Papst Martin V. ihm seine Nichte, nach dem Tod der Gonzaga, zur Frau gab. Er und sein Bruder Pandolfo waren mit die ersten Fürsten in Italien, die Künstler und Gelehrte sich gleichstellten, während man sie im Vatikan, bei öffentlichen Gelegenheiten, noch mit den Dienstboten zusammentat.

Carlo war kinderlos, aber Pandolfo hinterließ drei illegitime Söhne, die Carlo, der ihn überlebte, zu sich nahm und mit väterlicher Liebe erzog, auch vom Papst Martin V. ihre Legitimation erwirkte. Nach Carlos Tod folgte ihm der älteste der drei, Galeotto, eine seltsame Ausnahme in dem sonst so kriegerischen Geschlecht, denn er war solch ein fanatischer Asket und kasteite sich so stark, daß er mit zwanzig Jahren starb. Ihm folgte sein Bruder Sigismund Pandolfo, die hervorragendste Erscheinung in der Reihe der bedeutenden Menschen dieses Hauses, in dem sich alle seine hohen, großen, edlen Triebe, mit den wilden, grausamen, leidenschaftlichen vereinigten und eine Persönlichkeit bildeten, die zu gewaltig war für den engen Rahmen ihrer irdischen Macht. Er ging an dem Übermaß des Ehrgeizes und der gigantischen Tatenlust zugrunde, aber nicht, ohne Spuren seiner großen geistigen Bedeutung zu hinterlassen, die der Nachwelt ein milderes Urteil über ihn gestatten, als der Haß seiner Feinde es seinen Zeitgenossen aufzudrängen gesucht hat. Die Gestalt dieses ungewöhnlichen Menschen interessierte mich so, daß ich mit Eifer in den Quellen forschte, um mir mein eigenes Urteil über ihn zu bilden. Ja, er erinnert an die Helden Plutarchs, und während er, mit dem Schwert in der einen Hand, sich den Kühnsten aller Zeiten gleichstellte, schuf er mit der anderen Hand Werke des Friedens und edelster Kultur. Man muß ihn aber nicht aus dem Bilde seiner Zeit [487] herausnehmen, ihn nicht mit dem Maßstab moderner Moralität messen wollen, sondern bedenken, daß, während die übrige Welt noch vom Dunkel des Mittelalters bedeckt war, an seinem Hof bereits das Licht der Wissenschaft und Kunst strahlte. Erst dreizehn Jahre alt, erfocht er für seinen Bruder Galeotto einen glänzenden Sieg und zwei Jahre später einen anderen, der seinen Ruhm, der größte Condottiere der Zeit zu sein, begründete. Seine Hochzeit mit Ginevra d'Este wurde mit glänzenden Festen gefeiert; der Kaiser Sigismund, von Rom kommend, weilte in Rimini und wurde festlich bewirtet; Rimini war ruhig und glücklich; kurz, Malatestas Regierung fing schön und glänzend an.

Sigismunds Gemahlin, Ginevra, starb, erst 22 Jahre alt, ohne Kinder zu hinterlassen. Aber schon bei ihren Lebzeiten wurde sein Herz von einer jener großen Leidenschaften ergriffen, die, in einer so gewaltigen Natur, jedes Einspruchs von Sitte und Gesetz zum Trotz, ihr Recht behaupten, und die, ungeachtet mancher momentanen Untreue, sein Leben bis an das Ende beherrschte.

Isotta degli Atti war es, die diese Liebe hervorrief. Sie war aus adeligem Geschlecht und vor allen Frauen Riminis ausgezeichnet durch hohe Bildung in Musik, Poesie, Kunst und Wissenschaft. Daß sie schön gewesen sei, sagen uns die von ihr erhaltenen Bildnisse nicht; aber sie muß einen Zauber besessen haben, der mehr fesselte als Schönheit, und es spricht für Sigismund, daß dieser Zauber edelster, geistiger Art ihn, der, wie in allem so auch in seiner sinnlichen Natur übermächtig war, durch das ganze Leben festhielt. Auch seine Feinde konnten nichts gegen sie sagen, und selbst Pius II., Sigismunds ärgster Feind, schrieb: »Er liebte Isotta über alles, und sie war es wert.« Sigismund war ein häufiger Besucher im Palast der Atti und besang Isotta schon, als er erst zwanzig Jahre alt war, doch bezeugen diese Gedichte, daß sie ihm damals noch nicht zu eigen war. Aber auch nachdem sie seine Geliebte geworden war, hielt er sie über alles hoch, nannte sie »die Ehre Italiens«, ließ ihr Bild, auf[488] einem Medaillon, von den ersten Künstlern Italiens verfertigen und von den berühmtesten Poeten Gedichte auf sie machen, die er in einer Sammlung mit dem Titel »Isottoei« vereinigte. Warum er sie nach Ginevras Tode (1440) nicht heiratete, ist unbekannt; wahrscheinlich war es aus politischen Rücksichten, die ihn auch zu einer zweiten Ehe mit Polixena Sforza bewogen. Wie hoch er aber immer Isotta auch öffentlich stellte, beweist unter anderem, daß er ihren Bruder in seinem Schloß mit großer Festlichkeit zum Ritter schlug und mit Geschenken überhäufte. Charakteristisch für die Ansichten der Zeit ist es, daß ein benachbarter Fürst, Guido von Urbino, in zahlreicher Versammlung und in Gegenwart der legitimen Frau des Hausherrn dem neuen Ritter, Bruder von des letzteren Geliebten, die goldenen Sporen umschnallte und dies, ohne Anstoß zu geben, tun durfte. Isottas Vater, der anfangs der Tochter harte Vorwürfe gemacht hatte, war längst versöhnt, und als auch Polixena starb, wurde Isotta endlich Sigismunds legitime Frau (1456). Sie war eine vortreffliche Gattin und Mutter, milderte und versöhnte bei den Fehlern, zu denen ihn sein Ehrgeiz verleitete, hielt ihn aufrecht im Unglück, verkaufte ihr Geschmeide, als er in Not war, opferte alles für ihre Kinder, und, als sie später die Regentschaft führte, stand sie in bestem Einvernehmen mit den anderen Fürsten Italiens, die sie hoch schätzten und nach Sigismunds Tod beschützten.

Sigismund hatte zwei Todfeinde; der eine war Papst Pius II. (Aneas Sylvius Piccolomini), der ihn haßte, weil er sich untreu im Dienst von Siena benommen hatte, und der zweite war Federigo von Montefeltro, der in fortwährendem Zwist mit ihm war, wegen streitiger Besitztümer, die sie abwechselnd eroberten und sich wieder entrissen. Umsonst versuchten andere italienische Fürsten, sie zu versöhnen, der Streit dauerte zwanzig Jahre lang und endete erst mit Malatestas Ruin. Im Jahr 1460 berief Pius II. einen Kongreß nach Mantua, um einen Kreuzzug zu organisieren, lud auch Sigismund dazu ein und verordnete deshalb einen [489] Waffenstillstand mit dessen Feinden, die ihn in Rimini hart bedrängten, wogegen er aber einen Vertrag annehmen mußte, der ihn mehrerer Besitzungen beraubte. Sigismund, selten Verträge haltend, brach auch diesen alsbald und suchte die genommenen Besitzungen wiederzuerobern. Darüber erzürnte sich der Papst aufs neue, exkommunizierte ihn und verlangte vom heiligen Kollegium seine Verurteilung, nachdem er alle seine angeblichen Missetaten aufgezählt hatte. Er beschuldigte ihn, seine zwei Frauen getötet, eine edle Deutsche, deren Schönheit ihn reizte und die ihm widerstand, umgebracht zu haben; erklärte ihn für einen Heiden, der nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaube, wie es die von Malatesta gewählten Skulpturen in der von ihm neugebauten Kirche S. Francesco bewiesen, wo er »nicht einmal Gott verherrlicht habe«. Endlich erklärte er ihn für einen Verräter und Feind Gottes und der Menschen, der die Anjous und die Türken nach Italien gerufen habe und der verdiene, verbrannt zu werden. Das Urteil wurde bestätigt, und der Papst ließ nun von einem Künstler eine Gestalt verfertigen, dem Malatesta so ähnlich, daß man ihn zu sehen glaubte, und ließ ihr einen Zettel umhängen mit der Inschrift: »Ich bin Sigismund, Sohn Pandolfos, Fürst der Verräter, Feind Gottes und der Menschen, durch das heilige Kollegium zu den Flammen verdammt.« Dann wurde diese Gestalt feierlich auf den Stufen von St. Peter verbrannt.

Von dieser Verurteilung gingen ohne weiteres die Gerüchte aus, nach denen die Geschichte Sigismund beurteilt hat. Mich aber ließ das Interesse an dieser großartigen Gestalt nicht dabei stehen bleiben, und es ergaben sich mir, wie ein freudiges Licht, aus weiteren Forschungen folgende Schlüsse, die ich dem Andenken Sigismunds und Isottas zu rechtfertigender Entgegnung gegen ihre Feinde weihe. Zunächst fand ich, daß die Beschuldigungen zuerst von den zwei erbittertsten Feinden Malatestas ausgesprochen wurden, vom Papst und von Montefeltro, die beide das größte Interesse daran hatten, ihn hassenswert hinzustellen; dann, daß die [490] Väter der zwei Frauen, ein Este und ein Sforza, ihn nie beschuldigt haben, an deren Tode schuld zu sein; ferner, daß in dem wilden Kriegsleben jener Zeit gewiß vieles geschah, was außer ihm auch andere Kriegsführer sich zu Schulden kommen ließen, ohne deshalb von der Kirche verdammt zu werden, und endlich: wenn, was wohl nicht zu bezweifeln ist, seine leidenschaftliche, in jeder, auch in sinnlicher Beziehung übermächtige Natur ihn öfter zu Gewalttaten hinriß, so muß man doch in die andere Wagschale das werfen, was er außer jener wilden Seite seines Wesens war: ein Mann von der höchsten geistigen und künstlerischen Begabung, der das Schöne an sich, frei von dogmatischer Beschränktheit, liebte, wie es die herrlichen Skulpturen seines Tempels beweisen, aus denen feindliche Böswilligkeit ihm einen Vorwurf machte, während sie doch nur die edle künstlerische Freiheit seines Geistes zeigen, ein Mann schließlich, der Künstler und Gelehrte auf das großmütigste ehrte und belohnte und, was am meisten für ihn spricht, dem eine Frau wie Isotta in treuester Liebe verbunden blieb.

Nach der Komödie der Verbrennung des Bilds in Rom griff der Papst zu dem Mittel niedrigster Verfolgung, indem er die Untertanen Sigismunds durch Bedrohung mit kirchlichen Strafen gegen ihn aufhetzte und im Verein mit den anderen Feinden ihn so bedrängte, daß sich Sigismund zuletzt genötigt sah, im Jahr 1463 nach Rom zu gehen und sich zu demütigen, worauf ihm die Kirche all seinen Besitz, außer Rimini, abnahm und so, wie fast immer bei ihren politischen Verhandlungen, ein gutes Geschäft machte. Aber Sigismunds stolze Seele und unglaubliche Energie waren auch durch die widrigsten Schicksale nicht zu beugen. Er begab sich in den Dienst Venedigs, das Krieg gegen die Türken führte, und befehligte dessen Truppen in Morea, tat Wunder der Tapferkeit, wurde aber von der mißtrauischen Regierung Venedigs nicht so unterstützt, wie es hätte sein sollen. Dort überfiel ihn eine schwere Krankheit, so daß man ihn in Italien schon tot sagte, aber 1466 kehrte er [491] genesen zurück und wurde nun vom Papst Paul II., dem Nachfolger Pius II., der inzwischen gestorben war, nach Rom, wo man ihn im Bilde verbrannt hatte, eingeladen, und dort wurde ihm, dem Kämpfer gegen die Ungläubigen, ein festlicher Empfang zuteil. So wechselten damals die Ansichten der infalliblen Männer auf dem päpstlichen Stuhl!

Aber Sigismunds Schicksal eilte dem tragischen Ende aller Heldennaturen zu. Papst Paul handelte treulos gegen ihn, wollte Rimini durchaus für die Kirche in Besitz nehmen und bot ihm dafür Foligno und Spoleto. Da flammte noch einmal der wilde Zorn in Sigismunds Seele auf; sein Rimini, wo er sich sein Heim und künstlerisch Herrliches geschaffen, konnte er nicht hergeben. Er eilte abermals nach Rom mit dem Vorsatz, den Papst zu töten. Sein Zorn und sein Schmerz waren so heftig, daß er weder Speise zu sich nehmen, noch schlafen konnte, so daß sein treuer, vertrautester Diener ihn flehentlich bat, ihm seinen Kummer zu gestehen und all seinen treuergebenen Dienern nicht den Schmerz zu bereiten, ihn in solchem Zustand zu sehen. Dies ist wieder einer von den Zügen, deren der Chronist so viele erzählt, die beweisen, daß Sigismund warm von seinen Untergebenen geliebt wurde, also ein gütiger Herr war.

Der Papst, vielleicht vom Bewußtsein seiner Treulosigkeit gewarnt, empfing Sigismund, umringt von Kardinälen und Gefolge. Sigismund hatte gehofft, ihn allein zu finden und mit dem unter dem Gewand verborgenen Dolch zu töten. Vor der unerwarteten Versammlung brach endlich sein stolzer Wille, und in dem erschütternden Gefühl, daß es mit seiner Macht zu Ende sei, fiel er anstatt zu morden dem Papst zu Füßen und bat, ihm sein Rimini, an dem sein Herz hing, zu lassen. Dafür verordnete ihm der Papst, Führer der päpstlichen Truppen zu sein. Aber das war eine zu kleinliche Aufgabe für seine hochfliegende Seele, so ärmlich konnte er nicht enden. Er kehrte nach Rimini zurück, versorgte seine Kinder mit angekauften Gütern, bat vor allem sein begonnenes herrliches Werk, die Kirche von S. Francesco, zu vollenden, [492] beschäftigte sich noch liebevoll damit, das Schicksal Isottas und seines geliebten Sohnes Sallustio zu sichern, und starb im Oktober 1468, erst 51 Jahre alt.

Isotta aber und Sallustio fielen dem Neid und der Grausamkeit von Isottas Stiefsohn Roberto zum Opfer; er ließ sie ermorden, und die Kirche strafte ihn nicht dafür. Sigismunds Schöpfung in S. Francesco blieb unvollendet; aber was davon erhalten ist, spricht wieder für ihn in vielfacher Weise. Zuerst zeigt eine Inschrift in griechischer Sprache, wie ihm der Gedanke zu dem Bau gekommen; sie lautet: »Sigismund Pandolfo Malatesta von Pandolfo, in vielen und großen Gefahren in den italischen Kriegen bewahrt und siegreich, errichtete, freigebig spendend, dem unsterblichen Gott und der Stadt einen Tempel, wie er es mitten in jenen Kämpfen gelobt hatte, und hinterließ ein ruhmvolles und heiliges Andenken.«

Allerdings hatte darin Pius II. recht, daß Sigismund in den Skulpturen, die den Tempel schmücken, nicht gerade Gott verherrlicht habe, vielmehr scheint es, daß er der großen, echten Liebe seines Lebens, der für Isotta, geweiht war. Denn nicht nur, daß er ihr und sich bei Lebzeiten prächtige Grabmäler in diesem errichten ließ, es finden sich auch überall an den Friesen, den Architraven und Balustraden die beiden Initialen S und I schön verschlungen eingegraben, gleichsam als hätte er die Ewigkeit dieser Liebe, allen vergänglichen, irdischen Verirrungen in eine höhere geistige Welt entrückt, bezeugen wollen.

Das tiefe, beinah leidenschaftliche Interesse, das mich an das Studium der Geschichte dieses an ausgezeichneten Gestalten so reichen Geschlechts fesselte, und die Freude, die ich empfand, die hervorragendste unter ihnen, die Sigismunds, mir in das rechte Licht zu stellen, verschönte mir die Zeit, die ich in Rimini verbrachte, so daß ich die moderne Badewelt um mich her kaum noch sah und neben jenen nur noch am Meer, stärkender Luft und schönen Ausflügen mich ergötzte. Die Abende, bis zu später Stunde auf der großen Plattform, [493] rings vom Meer umrauscht, waren besonders köstlich und reich an Eindrücken, die in eine Gedankenwelt führten. So sah ich z.B. eines Abends, was ich noch nie gesehen hatte, den Mond aus dem Meer aufsteigen. Die Sonne im Meer auf-und untergehen hatte ich schon öfter gesehen, auch schon den Mond in das Meer versinken, aber ihn aufsteigen aus ihm noch nie. Es war ein entzückend schönes Schauspiel, das mir wieder die tiefe Poesie der griechischen Seelen verdeutlichte, die jeden Naturvorgang mit Ideen in Verbindung brachten und daraus eine belebte Welt ideeller Wesen schufen. Wie sich die mild leuchtende Scheibe langsam aus der dunklen Flut emporhob und, höher steigend, einen Lichtäther verbreitete, über dem sich der dunkle Nachthimmel wie ein Tempel wölbte, da konnte man wohl eine zarte jungfräuliche Göttin ahnen, die, in keuscher Sitte durch die Nacht wandelnd, nur einmal, von der Schönheit des schlafenden Schäfers Endymion allmächtig gerührt, sich herniederneigte, um den schönen Schläfer leise mit einem Kuß zu grüßen. Jetzt haben Sprache und Wissenschaft den Mond degradiert, ihn zum männlichen, kalten, halb erstarrten Körper gemacht – ist der Gewinn an Wissen den Verlust an Poesie wert?

Eines Ausflugs in die liebliche Umgegend Riminis muß ich noch gedenken, an einen Ort, der in die Gegenwart wie ein Stück Vergangenheit hineinragt und doch ein sehr bemerkenswertes Stück Leben enthält.

In der äußerst malerischen Linie der Bergkette, die das Panorama von Rimini, vom Meer aus gesehen, abschließt, erhebt sich über die anderen Höhen eine dreigipfelige Felsmasse, die der »Titan« genannt wird. Sie trägt, frei und stolz wie ein Adlernest, die kleine merkwürdige Republik San Marino. Auf den drei Felsspitzen sieht man schon von weitem Türme und Mauern, hinter denen sich die Stadt verbirgt. Eine gute Straße führt zwischen schönen Villen, Kirchen, Dörfern und mit Wein bepflanzten Hügeln in etwa drei Stunden zu Wagen hinauf. Am Fuß der oberen Felsmasse, die wie auf einem Sockel auf der unteren Bergeshöhe [494] liegt, befindet sich der Borgo, die Vorstadt, die einen Gasthof, ein Bankgebäude, eine Piazza mit Kaufläden und mehrere vielbesuchte Messen im Jahr hat. Von da geht es hinauf auf die äußerste Höhe der kalkigen Tuffsteinmasse zu der alten Stadt. Sie ist von festen Mauern und Türmen umgeben, die Anfang des 16. Jahrhunderts von einem berühmten Architekten, Belluzi aus San Marino, gebaut wurden.

Gleich beim Eintritt in diese fällt es angenehm auf, Inschriften auf einer Menge von Gebäuden zu sehen, die sie als wohltätigen Zwecken geweiht bezeichnen. An einer Kirche findet sich die Inschrift: »Divo quirino dicatum 1549«, die sich auf eine Begebenheit in der Geschichte von S. Marino bezieht: ein Fabiano da Monte San Savino brach in der Nacht des 4. Juni 1543 von seinem Schlosse mit 500 Mann Fußvolk und etwas Reiterei auf, um die Stadt zu überfallen und sich ihrer zu bemächtigen. Gegen Morgen gewahrten die Sanmarinesen den Verrat, rüsteten sich schnell und schlugen die Angreifer mit großer Tapferkeit zurück. Zum Andenken an diese heldenmütige Bewahrung ihrer Freiheit feiert man noch heutzutage am 4. Juni, dem Tage des heiligen Quirinus, ein Fest. Dann an einem kleinen, unansehnlichen Haus ist eine Tafel angebracht, worauf geschrieben steht: »In diesem Haus, am 31. Juli 1849, verweigerte Joseph Garibaldi, umringt von den österreichischen Truppen, den Akt der Übergabe und bewahrte sich für bessere Zeiten auf.«

Das Haus gehört einem schon hochbejahrten Mann, Simoncini mit Namen, der im Erdgeschoß ein kleines Café hält. Die freie Erde von San Marino war schon oft eine Zufluchtsstätte für politisch Verfolgte unter den päpstlichen und österreichischen despotischen Regierungen geworden, und der arme »Popolano Simoncini«, wie er sich selbst nennt, hatte schon mehr wie einem wackeren Mann geholfen, der Verfolgung zu entgehen; aber die teuerste Erinnerung seines Lebens war es, daß er Garibaldi hatte retten und beherbergen können. Am 28. Juli 1849, nach dem Fall der römischen Republik durch die Waffen der Schwester-Republik in [495] Frankreich, kam Ugo Bassi: der edle Mönch, der zum Freiheitskämpfer geworden war, auf der Flucht von Rom mit drei Begleitern nach S. Marino. Zum Tode erschöpft, suchte er vergebens, in den beschwerlichen auf- und absteigenden Straßen der Stadt nach einem Unterkommen und trat endlich in das Café des Simoncini ein, mit der Bitte, ihn die Nacht da auf einem Stuhl verbringen zu lassen. Der brave Volksmann aber, sehend, wie erschöpft er war, sagte: »Nein, in meinem Bett sollt Ihr schlafen! Ihr habt es nötig; ich will mich schon mit Euren Leuten hier einrichten.« Bassi fiel dem guten Mann um den Hals und rief voll Freude: »Du bist ein wahrer Republikaner.«

Die Wanderer wurden nun mit Abendbrot und gutem Marinowein erquickt, dann traten sie an das Fenster, von wo man einen weiten Blick auf die, an das Gebiet der Republik grenzenden Berge hat, auf deren Gipfeln in dieser Nacht überall Feuer flammten und die Gegenwart der österreichischen Truppen anzeigten. Als Ugo Bassi dies sah, fuhr er erschrocken zusammen und rief: »Um Gotteswillen, der General ist zwischen zwei Feuern eingeschlossen – er ist verloren!« Darauf wendete er sich zu Simoncini und sagte: »Wir müssen ihn retten!« und beschwor diesen, einen zuverlässigen Boten aufzufinden, der sogleich einen Brief zu Garibaldi tragen könne, der auf dem Berge Tassona mit den Seinen lagere. Der brave Popolano lief alsbald in die Nacht hinaus, während Bassi den Brief schrieb, und kam mit einem mutigen Arbeiter zurück, der auf beschwerlichen Bergpfaden, immer in Gefahr, gefangen genommen zu werden, glücklich mit dem Brief zu Garibaldi gelangte. Dieser änderte alsbald seinen Rückzugsplan und kam, von dem wackeren Boten geführt, am 31. Juli in S. Marino im Hause Simoncinis an, begleitet von seinem Generalstab, einem kleinen Haufen seiner Krieger, die mit ihm von Rom entkommen waren, und seiner heldenmütigen Frau, Anita, die schon in Amerika, wie auch jetzt in Italien, alle Beschwerden und Gefahren seiner Unternehmungen geteilt hatte. Aber sie war krank und zum [496] Tod erschöpft. Simoncinis Frau und Tochter nahmen sich der Armen liebevoll an und pflegten sie, so gut es ihre beschränkten Verhältnisse erlaubten.

Darauf entspannen sich Unterhandlungen zwischen der Regierung der Republik und den österreichischen Befehlshabern, die die Ergebung der Flüchtlinge auf Gnade und Ungnade verlangten. Garibaldi schlug dies natürlich ab und sagte in einem kurzen Brief: »Ein guter Republikaner kapituliert niemals.« Dann löste er den Rest seiner Legion auf, indem er meinte, daß es für die einzelnen leichter sei zu entkommen und daß nur die bleiben sollten, die ihm freiwillig folgen wollten. Anita warf sich der Frau Simoncinis in die Arme und rief unter Tränen: »Frau, ich habe keine Mittel, dir zu lohnen, aber ich werde nie die Güte vergessen, die du mir bewiesen hast.«

Von sicherem Führer auf gefahrvollen und beschwerlichen Pfaden an das Meer geleitet, schifften sich die Flüchtlinge ein, um nach Ravenna zu gelangen, aber noch vorher, an ödem Gestade, mußten sie aussteigen, weil die Heldenfrau ihren Leiden erlag. Der verzweifelte Gatte und der letzte bei ihm gebliebene seiner Gefährten betteten sie selbst zur Ruhe in die Erde.

Wie sehr das Andenken an den herrlichen Volkshelden, der hier Zuflucht und Rettung fand, den Sanmarinesen teuer ist, beweist außer der Gedenktafel an Simoncinis Haus ein kleines Monument mit der Büste Garibaldis, von einem Gärtchen umgeben, das liebend gepflegt wird. So ehrt diese letzte der italienischen Gemeinden des 13. und 14. Jahrhunderts das Andenken der Freien und scheint noch in die Zeit zu gehören, wo sie, friedlich und glücklich, unter dem glorreichen, mittelalterlichen Wahlspruch libertas perpetua lebte, bevor sie den klassischen Namen Republik annahm. Ein schönes, neues Regierungsgebäude, im Stil des Bargello zu Florenz, hat die Republik sich jetzt auf einem freien Platz gebaut, von wo der Blick weit hinaus schweift [497] über die trefflich mit Wein bebaute Ebene, das Meer und die Höhen der Berge von Carpegna, wo die ersten Burgen der Montefeltro und der Malatesta waren und wo ihre Feindschaft sich entspann. Eine Menge poetischer und historischer Erinnerungen schweben um dies reiche Panorama und erhöhen den Reiz der immer jungen, blühenden Natur, die ewig neu wird über den Gräbern der Jahrhunderte.

Die Regierung der kleinen Republik ist so originell, einfach, praktisch und auf sittliche Motive gegründet, daß ich mir nicht versagen kann, die Hauptsachen davon hier anzuführen, denn sie scheint mir in vieler Hinsicht Vorzüge vor den Regierungen unserer modernen Staaten zu haben. An der Spitze der Regierung stehen zwei Kapitäne, zwei Oberhäupter, die zweimal im Jahr neu, auf sechs Monate, gewählt werden; also keine Erblichkeit wie in den Dynastien und keine konventionelle, an das Herrschertum streifende Machtstellung der Präsidenten moderner Republiken. Im März und im September versammelt sich der Rat, der aus sechzig Mitgliedern besteht, die unter den ehrlichsten und gebildetsten Bürgern aller Klassen ausgesucht und vom Volk auf Lebenszeit ernannt sind. Diesem Rat ist die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten anvertraut. Am bestimmten Tage werden in feierlicher Versammlung in der Hauptkirche die Namen von zweien der sechs Räte, die die meisten Stimmen haben, aus der Urne gezogen und zu Regenten für das nächste halbe Jahr ernannt. Es ist dies eine herrliche Garantie für das öffentliche Wohl, da nur anerkannt gute, gebildete, fähige Menschen im Rate sitzen. Den Tag darauf ist dann die ganze Stadt im Festkleid. In Prozession ziehen die alten und neuen Regenten, in schönem, altspanischem Kostüm von schwarzem Samt, um den Hals das Großkreuz des Ordens von San Marino, gefolgt von der Nobelgarde, von allen Zivil- und Militärbehörden, die Musik der Bürgergarde voran, zur Kirche, und nach der Messe und dem Tedeum ziehen sie in den Ratssaal zurück; dort leisten die neuen Regenten in lateinischer Sprache den Eid; die alten Kapitäne [498] steigen vom Thron, grüßen die neuen mit einer Verbeugung, als Zeichen des zu beginnenden Gehorsams, und ziehen sich zurück. Die neuen Regenten empfangen die Schlüssel und Siegel der Stadt und beginnen ihr Amt.

Was ich über den Volkscharakter der kleinen Republik gehört habe, machte mir das Eiland alter, ehrwürdiger Institutionen noch sympathischer und achtungswerter. Das Volk ist ehrlich, aufrichtig, gastfreundlich, freut sich, wenn Fremde kommen, die teure Heimat zu sehen, liebt den Frieden über alles, duldet aber nicht, daß man an seine alte Freiheit rührt, und scheut weder Schwierigkeiten noch Gefahren, um dies zu hindern. Zufrieden auf der Felsenhöhe, wo sie geboren sind, wünschen die Sanmarinesen gar nicht größeren, reicheren Besitz. Napoleon I., als er Herr in Italien war, bot ihnen beträchtliche Vergrößerung ihres Gebiets an. Die damaligen Regenten antworteten ihm: »Klein sind wir und klein wollen wir bleiben.« Sie wußten es, daß mit dem größeren Besitz all die Feinde wahrer Größe, die in Tugend und Einfachheit besteht, daß Ehrgeiz, Neid, Habsucht einziehen und sie ihrer Freiheit verlustig machen würden.

Die bürgerliche Gleichheit ist das teuerste Vorrecht der Sanmarinesen, ihre Sitten bewahren ihnen die Freiheit, und ihre Armut schützt sie vor fremden bösen Einflüssen. Um den bisher unangefochtenen Charakter der Republik zu kennzeichnen, erzählt Marino Fattovi, der über sie geschrieben hat, folgendes: »Im Jahr 1868 ersuchten nordische Spekulanten die Regierung um die Erlaubnis, auf dem Gebiet der Republik ein Spielhaus errichten zu dürfen und versprachen dafür Geld, Eisenbahn, Wohltätigkeitsanstalten und anderes, kurz, Reichtum für Gegenwart und Zukunft. Das Volk, zufrieden in seiner Armut, eingedenk der verlockenden Anerbietungen Napoleons, überzeugt, daß es einer freien Regierung, die nur wert ist, zu bestehen, wenn sie sich auf Tugend stützt, sehr übel anstände, sich zum Instrument des Verderbens, der Verirrungen und Sittenlosigkeit der Jugend zu machen, ließ sich nicht durch die glänzenden Versprechungen [499] verführen und verwarf das unmoralische Anerbieten mit Stolz und Verachtung.

Sei gesegnet, kleines Adlernest wahrhafter Republikaner, und wenn unten die Welt in trüben, unredlichen Verirrungen und daraus entstehendem Elend krankt, so richte du den Adlerblick zur Sonne der Freiheit und bleibe arm, aber tugendhaft und zufrieden!

Indisches Märchen

Diesem in jeder Beziehung höchst befriedigenden Aufenthalt in Rimini entsprang auch eine kleine Dichtung, die ich hier einschalte, da sie mir, einer besonderen persönlichen Beziehung wegen, wert ist. Ich hatte mich im Frühjahr in Rom viel mit indischen Studien beschäftigt, und diese mir sehr sympathische Gedankenwelt umgab mich auch da am Meer noch häufig. So kam es unter anderem in einer Nacht, wo ich das prächtige und phantastische Schauspiel eines Gewitters, das sich über dem Meer entlud, von meinem Fenster aus hatte, daß mir die folgende kleine Erzählung so aus der Feder floß, und da sie recht eigentlich zu den Erlebnissen in Rimini gehört, so möge sie hier ihren Platz finden:

Über die blaue, spiegelglatte Flut des Sees Valmiriki, der sich wie ein uferloses Meer am Horizont silbern flimmernd mit dem Himmel verschmolz, glitt ein kleines Boot, dessen Segel von einem leichten Morgenwind gebläht wurde und das Schiffchen weiterführte. In dem Boote saßen zwei Personen: eine ältere Frau, in weiße Schleier gehüllt, die ihr ernstes Antlitz, von tiefen Leidensfurchen durchzogen, kaum sehen ließen, und ein Jüngling, dessen edle Züge blondes Haar umflatterte. Sie fuhren auf das Ufer zu, an dem ein Wald mächtiger Palmen winkte, die durch Schlinggewächse so eng verbunden waren, daß beinahe völliges Dunkel unter ihnen herrschte. »Dort ist unser Ziel,« sagte die Frau, »in dem Schatten jenes Palmenhains liegt der Tempel, in dem [500] der Urweise, erfüllt von dem göttlichen Licht des Brahm, thront und den Verlangenden den Weg zeigt, den sie zu wandeln haben, um das Ziel ihres Strebens zu erreichen. Du bist ein Verlangender; o, daß er dir hülfe, die rechte Bahn zu finden, auf der du, immer höher steigend, immer mehr in Brahm versenkt, nicht wiedergeboren zu werden brauchst, um von neuem den Kreis des Irrtums, der Lieblosigkeit, des Hasses und der Enttäuschungen aller Art durchzumachen. Glaube mir, der Erfahrenen, die kurzen Augenblicke des Erdenglücks wiegen die unzähligen Leiden und Häßlichkeiten der Erscheinung nicht auf. Du bist ein Erwählter des ewigen Lichts, dem das heilige Feuer in die Seele gelegt ward, damit es in reinen Flammen das Irdische verzehre. Wenn ich dich von deinem Gott ergriffen sehe, wenn du der Harfe Töne entlockst, die aus dem Wohnsitz der Ewigen zu stammen scheinen, dann denk' ich oft: was tut es, wenn er schon bald entrückt wird in das Reich reiner Geister? Eine Blüte, zu schön, um auf irdischem Boden hinzusterben, strahlt er dort in unverwelklicher Schöne in Gemeinschaft der Erlesenen, die, vor ihm geschieden, in der Seligkeit des Nirwana vereint sind.«

Ein Lächeln flog über das Antlitz des Jünglings und er sagte: »Dein Wunsch ist seltsam! Gönnst du mir das Leben im fröhlichen Glanz der Erdensonne nicht?«

»Für mich wäre es Schmerz, dich vor mir scheiden zu sehen, wie schon so viele der Edlen; aber noch höher achte ich das Glück, einmal den Sieg eines Genius über alles irdische Wollen, das immer mit dem Staub verwandt ist, zu sehen,« erwiderte die Frau.

Inzwischen aber war der Kahn am Ufer bei dem Palmenhain angekommen. Der Jüngling band ihn an einen Baumstamm und folgte seiner Gefährtin in das Walddunkel. Sie wandelten wie auf einem Teppich, über weichem Moosboden, auf dem Blumen in Fülle blühten, während sich über ihnen Kränze von blütenbedeckten Schlingpflanzen, würzige Düfte spendend, hinzogen und oben auf den schlanken Palmenzweigen [501] Vögel ihr buntes, schillerndes Gefieder in stillem Selbstgenügen wiegten. Beide Wanderer schritten schweigend vorwärts, ergriffen von dem feierlichen, inneren Beben, mit dem man dem Erhabenen entgegengeht.

»Wir sind am Ziel,« sagte endlich die Frau. Der Jüngling erhob den Blick, den er bisher, ganz in sein inneres Schauen verloren, zu Boden gesenkt hatte, und sah nun, hell aus dem Dunkel der Bäume hervorglänzend, einen Tempel aus weißem Marmor, von hehrer Form und Größe, gleich der Wohnung eines Gottes anzusehen. Hohe Stufen führten zu der Eingangspforte; als sie diese erstiegen hatten, klopfte die Frau dreimal mit dem an der Tür befindlichen goldenen Hammer an. Das Tor öffnete sich, und ein Mann in langem, weißem Gewand trat heraus und fragte nach ihrem Begehr.

»Führe uns zu dem Urweisen,« erwiderte die Frau. »Ich bringe ihm einen Verlangenden und bitte, daß er uns jetzt vorläßt, denn wir kommen von drüben über dem See und möchten nicht heimkehren, ohne seinen Rat empfangen zu haben.«

»Du bist erwartet, Ehrwürdige,« versetzte der Mann und verneigte sich vor ihr, »der Urweise, dessen Blick das Zukünftige sieht, wußte dein Kommen und befahl mir, dich zu ihm zu geleiten.«

Sie traten ein, und hinter ihnen schloß sich die Pforte von selbst. Der Mann schritt ihnen voraus durch lange Gänge, von Marmorsäulen getragen, zwischen denen Götterbilder standen, die auf die Vorübergehenden bald ernst, bald freundlich niederblickten. Zugleich vernahmen diese eine leise, sanfte Musik, wie von Äolsharfen. Endlich standen sie vor einer großen Tür, von herrlicher Arbeit in Marmor umrahmt und mit einem Vorhang von schwerem Goldstoff verschlossen. Der Führer sagte: »Tretet ein!«

Der Raum, der sich vor ihnen öffnete, war von einem blauen Duft erfüllt, so daß es schien, als schwebe man im Äther; bezaubernder Wohlgeruch durchdrang alle Nerven mit [502] Wonne. Nachdem das Auge sich in dem blauen Luftmeer zurechtgefunden hatte, erblickten die Eingetretenen auf einem Thron aus Elfenbein einen Greis, von dessen Antlitz ein milder Glanz wie von einer Abendsonne ausstrahlte. Ein langer, weißer Bart hing auf sein faltiges Gewand herab, in seinen Händen hielt er eine Schriftrolle mit Aussprüchen der Upanischad. Die Frau nahte sich ihm voll Ehrfurcht und beugte sich, um seine Hand zu küssen; er aber wehrte ihr und sprach: »Nicht so, meine Schwester; du bist der Geprüften eine. Bei denen, die überwunden haben, gibt es Rang und irdische Unterschiede nicht mehr; sie sind gleich, Brüder und Schwestern, denn in ihnen leuchtet das Licht des Ewigen über allem Erdendunkel. Aber wen bringst du mir? Einen Verlangenden?«

»Ja, einen, den es dürstet, am Quell der Wahrheit zu trinken, dem Schaffenskraft in die Seele gelegt wurde, damit er ein verklärtes Spiegelbild der Welt in seiner Phantasie erstehen lasse. Auch ist er ein Meister der Töne, und seine Hand entlockt den Saiten Klänge, in denen man die Ursache alles höchsten Seins zu hören meint, jene tiefe Liebeshymne, die durch das Weltall tönt und die Gestirne in ihre Bahnen zieht. Lehre ihn, frei von den Lockungen der Sansâra die jugendliche Bahn zu wandeln, bis er aufsteigt in das Reich des reinen Geistes.«

Der Greis heftete die milden Augen auf den Jüngling, und sein Blick schien durch die irdische Hülle bis tief in den Grund der Seele zu blicken. Was er da sah, mochte ihm gefallen, denn ein sanftes Lächeln überflog sein Antlitz, und er sprach: »Was ist dein Verlangen, Freund?«

»Ich verlange danach, den Weg zu kennen, der zur Erkenntnis der Wahrheit führt. Die Welt verwirrt mich, die Lehren der Männer draußen zeigen mir nur künstliche Gerüste eines großen Weltenbaues, ich aber möchte wissen, welches der Gedanke ist, der diesen Bau schuf und in ihm wohnt; denn mich befriedigt nicht die Form allein, ich will das kennen, was die Form im Innern bewegt.«

[503] »Dein Verlangen ist gerecht, o Jüngling,« versetzte der Greis. »Alle Form ist nur Hülle des Wesens, vergänglicher Einschluß des Unvergänglichen.«

»Aber das Unvergängliche, was ist es?« fragte der Jüngling.

»Das Unvergängliche ist Brahm, die große Weltenseele, die Ureinheit, die in allem webt, von der alles Sichtbare nur eine vorübergehende Ausstrahlung ist. Du, nach dem Reinen, nach der Wahrheit Verlangen der, mach' dein Herz zum Bogen, deinen Verstand zum Pfeil und Brahm zum Ziel, und richte den Bogen nach dem Ziel, so daß dein Verstand gleich dem Pfeil in das Ziel eindringt: so wirst du Form des unvergänglichen Wesens werden.«

»Welches aber ist der Weg, den ich gehen muß, um an das Ziel zu gelangen?« frug der Jüngling abermals. »So wie wir, um hier zu dir zu gelangen, den Weg hätten gehen können, der durch glänzende Städte und blumengeschmückte Auen führt, statt dessen aber durch einsame Wälder und über den blauen, schweigenden See kamen, so führen sicher auch mehrere Wege zu dem Ziel, das du mir nennst, das ich aber noch nicht begreife, nur ahne und glaube, weil du es mir sagst. Genügt es, daran zu glauben, ohne es zu kennen? Werde ich Brahm durch den bloßen Glauben an ihn?«

»Nein, nicht durch den Glauben, sondern durch die Erkenntnis wird der Mensch erlöst,« versetzte der Greis feierlich. »Zwei sind der Wege, zwischen denen du wählen kannst: der eine ist der Weg der reinen Erkenntnis, des inneren Schauens, auf dem die Seele schon mehr und mehr aus der sichtbaren Form heraustritt und sich in Brahm versenkt. Diejenigen, die die Sinne mit festem Zügel an sich ziehen, sehen ihn mit dem Lichte des Geistes, sein Licht wird auch in ihnen leuchtend. Sie können ihn mit dem Auge nicht sehen, mit der Sprache nicht erklären, aber sie können sich mit dem reinen Erkennen ihm nahen.«

»Und der andere Weg, welcher ist es?« forschte der Jüngling weiter.

[504] »Der andere Weg ist der Weg der Sansâra, der Welt der lockenden Erscheinung, der Hoffnung, das Ziel auch im reizvollen Wechsel des sichtbaren Lebens zu erreichen. Auch auf ihm ist Brahm zu finden, denn er ist überall und in uns selbst, aber der Weg ist länger, wechselvoller und vielen Täuschungen ausgesetzt. Es sind Abgründe neben diesem Weg; man muß sich hüten, nicht zu fallen; zuweilen wird es auch dunkel in der Seele, und das Licht, das innen leuchtet und nichts anderes ist als Brahm, scheint erloschen; aber dem Mutigen, der sein Ziel im Herzen behält, kann die Welt schließlich nichts anhaben. Er wahre seine äußeren und inneren Sinne und habe in jeder Sache, an jedem Ort und zu jeder Zeit Brahman vor Augen und in Gedanken, so wird er dennoch ein glückliches Leben führen und der Qual entgehen, wiedergeboren werden zu müssen, sei es als Mensch oder als Tier. Jetzt aber geh hinaus in den Hain und halte Rat mit dir selbst, und hast du entschieden, so komm und verkünde mir deine Wahl; denn jeder muß den Weg gehen, wie es ihm in die Seele geschrieben ist.«

Der Jüngling verneigte sich ehrfurchtsvoll und eilte hinaus in den Palmenhain, stürmisch bewegt von den Worten des Greises und von den wogenden Empfindungen und Wünschen, die sein Herz erfüllten. Alles in ihm war edel und rein; sah er aufwärts, so war es ihm, als schwebe ein Genius mit weißen Flügeln über ihm und winke ihm hinauf zu immer ätherischeren Höhen; sah er aber abwärts in sich, so glühte es wie im Innern eines Vulkans, und ein unruhvolles Sehnen, dem er keinen Namen zu geben wußte, verursachte ihm zugleich Pein und Ahnung von unbekannten Wonnen. Ohne zu innerer Klarheit kommen zu können, warf er sich endlich unter einen Magnoliabaum auf den Moosteppich nieder, wo die Zweige der Gebüsche, mit süß duftenden Blüten beladen, sich schattend über sein Haupt senkten. Ein unendliches Gefühl von Wollust des Daseins kam über ihn, und eine sanfte Müdigkeit schloß seine Augenlider. So lag er eine Zeitlang im Halbschlummer, in dem [505] gaukelnde Traumbilder ihn umschwebten. Aber plötzlich erwachte er von einem leichten Geräusch neben sich, und als er aufschaute, sah er ein Antlitz von wunderbarer Schönheit über sich gebeugt und zwei dunkle Augen, feurig leuchtend, auf ihn niederblicken. Es war ein junges Mädchen, das neben ihm stand; ein Schleier von durchsichtigem Silbergewebe, unter dem schwarze Locken sich in Fülle hervordrängten, bedeckte ihr Haupt und verhüllte zum Teil die schlanke, jugendliche Gestalt, die in weiße Seide reich gekleidet war. An einer roten, seidenen Schnur hielt sie eine junge Gazelle, deren sanfte Augen den unerwarteten Fremdling mit Erstaunen betrachteten.

Als das Mädchen nun dem Blick des Jünglings begegnete, überzog ein leichtes Rot ihre Wangen und sie wollte rasch entfliehen. Aber der Jüngling hatte sich aufgerichtet und rief flehend: »O verschwinde nicht, holdes Bild! Sag' mir, ob du ein Traum bist, den Brahman mir sendet, oder die wonnigste Wirklichkeit? Nie sah ich deinesgleichen!«

»Du scheinst mir edel, Fremdling, und gern will ich dir Rede stehen,« erwiderte das Mädchen und ihre Stimme klang ihm wie Harfenton. »Mein Vater ist der Oberste der Brahminen; seine Wohnung liegt unfern von hier, und dieser Teil des Waldes, der an den Tempelhain stößt, ist sein Eigentum. Da wandle ich ohne Furcht allein umher und spiele mit meinen Tieren oder pflege meine Blumen. Nun sage mir aber auch du, wer du bist und wie du hierher kamst, wo ich noch nie einem Fremdling begegnete. Deshalb erschrak ich, als ich dich hier so unvermutet antraf.«

»Ja, dann aber setze dich zu mir und laß uns miteinander reden, als kennten wir uns schon lange. Mir ist es auch plötzlich, als hätte ich dich immer gekannt und als hätte dich nur ein Nebel meinen Blicken verborgen, der nun gewichen ist.«

Sie sah ihn lächelnd an und ihr Blick machte ihn mit einem Freudenschauer erbeben. Dann sagte sie: »Ich traue dir,« und setzte sich an seine Seite. Der Jüngling erzählte [506] nun, wer er sei, wie er hierher gekommen und wie ihm der Urweise Zeit gegeben habe, sich zu prüfen und seine Wahl zu treffen. »Vielleicht,« so schloß er seinen Bericht, »hat mich der weise Mann nur hierher gesandt, um dir zu begegnen und so meine Wahl zu bestimmen, denn nun weiß ich, daß es nur eine Wahl gibt.«

»Und was wird deine Wahl sein?« frug sie, indem ihre Glutaugen ihn verlangend ansahen und ihre rosigen Lippen ihm entgegenlächelten.

»Bei dir sein, ewig mit dir vereint oder sterben!« rief er in leidenschaftlichem Entzücken erglühend, dann aber plötzlich erbleichend, fuhr er fort: »Du aber bist vielleicht schon einem reichen Fürstensohn verlobt? Ich bin arm und habe bis jetzt nichts als mich selbst.«

»Und wenn mir das nun gerade lieber ist als alle Schätze Indiens,« sagte sie schmeichelnd, »sieh, mein Vater hat mich schon mehrere Male mit den ersten Fürstensöhnen des Landes vermählen wollen, aber ich sagte immer: ›Nein, der Rechte ist noch nicht gekommen; Brahm wird ihn mir zur rechten Stunde senden.‹ Als ich nun vorhin mit meinem lieben Tierchen in den Wald kam, da zog mich das sanfte Geschöpf immer nach dieser Seite, wohin ich sonst selten gehe; ich dachte, vielleicht haben die Ewigen ihm ein Zeichen gegeben, daß mir da etwas Außerordentliches begegnen soll, und folgte ihm. Als ich dann aus dem Gebüsch trat und dich hier sah, da wußte ich, daß mir der Rechte gesandt sei! ...«

Stunden waren vergangen, da riß sich plötzlich voll Schreck das Mädchen aus seinen Armen, die sie umschlungen hielten, und rief: »Weh' mir! Wenn sie mich hier finden mit dem Fremdling, ich müßte vor Scham vergehen! Aber von dir scheiden ist bitterer als der Tod!«

»Das kann auch nimmer sein!« rief er voll Leidenschaft und drückte sie von neuem an sein Herz; »uns hat die Gottheit zusammengeführt und nichts kann uns mehr trennen. Auch ich muß jetzt fort und dem Urweisen meine Wahl verkünden. Aber dann komme ich, dich von dem Vater zum [507] Weib zu begehren. Zwar bin ich noch arm und nicht angesehen vor den Menschen, aber ich fühle Kräfte in mir, Großes, Würdiges zu vollbringen.«

»O, ich bin reich genug für uns beide, und es wird mein Glück sein, mit dir zu teilen!«

Nun umschlang sie ihn wieder, nahm mit einem langen, heißen Kuß von ihm Abschied und verschwand mit ihrer Gazelle im Dickicht des Waldes, während er den Weg zurück zum Tempel suchte.

Er fand seine Führerin und den Urweisen versenkt in Gespräche über das wahre Wesen der Dinge.

»Wir waren in dem Upanischad, in der Innenwelt,« sagte der Urweise, »dort, wo die Sonne nicht scheint, noch der Mond, auch jene Blitze nicht, die dort am Gewitterhimmel zucken, wo aber alles Licht ist, das von Brahman ausströmt, und wir waren glücklich, daß auch wir Brahman sind, denn das ist unsere Krone und unser Stolz: sobald diese Erkenntnis der Seele in uns lebendig geworden ist, sind wir frei von den Gesetzen, die die Form der Sansâra sind, und leben im reinen Äther des Geistes. Du aber, o Jüngling, sprich nun, laß uns wissen, was sich in deiner Seele bewegt hat. Hat sich dein Verlangen dafür entschieden, mit uns am unverfälschten Quell der Erkenntnis zu trinken und so den Irrungen der Erscheinungswelt zu entgehen, oder wählst du den dunkleren Pfad, der mit seinen von tausend Sonnen strahlenden Momenten des Glücks, doch nur ein Spiegel deines Innern ist und sich oft trübt und verdunkelt, wenn die Lichtgestalten, die du im Glanze deiner Seele sahst, dir plötzlich ihr wahres Wesen enthüllen und eher Dämonen gleichen als verklärten Wesen. Sprich ohne Scheu, denn du bist frei, zu wählen.«

»So vernimm, Ehrwürdiger,« versetzte der Jüngling nicht ohne einiges Bangen, »ich zeige dir mein Herz in Wahrheit. Mir ist in diesen Stunden das Geheimnis offenbar worden, das das andere, das dunklere Verlangen war, das neben jenem nach dem Lichte des Brahm, unruhvoll in meiner [508] Seele wogte, ich weiß nun, wo es gestillt wird. So habe ich gewählt und beschlossen, das Leben der Menschen durchzumachen mit all seinen Freuden und Leiden und dafür zu kämpfen, daß Brahm lebendig werde in den Seelen der Menschen.«

»Ich wußte es, wie du entscheiden würdest,« sagte der Greis lächelnd, »es war zu früh, dich den Entsagenden zugesellen zu wollen. Noch flutet der heiße Lebensstrom des Werdens in dir und will sein Recht. Aber du bist in der Stunde der Geburt von Brahman gesegnet, denn wem er das köstlichste Geschenk, den Genius, in die Seele legte, der kann nie unterliegen in der Welt der Sansâra, und wenn er seine Aufgabe hier erfüllt hat, empfängt ihn die Geisterwelt zu höherer Vollendung. Geh nun hin und vergiß nicht, daß Erkenntnis die Quelle der Glückseligkeit und daß die vollkommene Glückseligkeit die ist, zu sich selbst zu gelangen, denn in uns ist Brahm, und also gelangen wir zu ihm.«

Der Jüngling neigte sich ehrfurchtsvoll vor dem Greise und wendete sich zu seiner Gefährtin. Sie hatte ihr Antlitz mit dem Schleier verhüllt und weinte.

»Du weinst, wenn dein Freund das höchste Glück gefunden hat?« sprach er vorwurfsvoll.

»Wer kann wissen, ob es das höchste Glück ist, was dir jetzt, durch den Schleier der Maya hindurch gesehen, so erscheint,« erwiderte die Frau. »Alles, was wir durch jenen glänzenden Schleier sehen, kann trügen, denn es ist an die Bedingungen des Erdenlebens, an Leidenschaft und Wechsel gebunden. Das wirklich höchste Glück aber, das einzig Wandellose ist, Schöpfer sein. Brahman selbst hat keine andere Seligkeit als diese. Wem er sich nun, wie dir, inniger vereint und einen heller leuchtenden Teil seiner selbst, das, was man auf Erden Genius nennt, mitgegeben hat, der hat die Möglichkeit, dieses höchsten Glücks teilhaft zu werden. Ich hielt dich für einen Auserwählten und dachte, dies Glück würde dich so erfüllen, daß das Verlangen nach einem andern nicht mehr in dir erwache. Und diesem höchsten Glück verstehend[509] zuzusehen, darüber zu wachen, daß es dir ungestört bleibe, das war die letzte Erdenfreude, die mir zu blühen schien. Auch mir hatten die Ewigen Schöpferkraft in die Seele gelegt, und es bleibt mein größter Lebensschmerz, daß ich, durch Erdenschicksale gehindert, mich nicht ganz in die Seligkeit des Schaffens habe verlieren können. In dir hoffte ich die Vollendung des eigenen, Stückwerk gebliebenen Schöpfungsdranges zu sehen – nun ist's vorbei! Du hast das Leben der Sansâra gewählt, andere Sterne werden dir leuchten, andere Einflüsse auf dich wirken ... Du wirst immer edel sein, immer schaffen, aber es wird nicht das erhabene Glück des lichtumstrahlten Kämpfers sein, der, über alle Dämonen siegend, aufsteigt in das Lichtland des Brahman. Jetzt ist dein Pfad breit und eben, du brauchst nicht zu kämpfen. Leb wohl! Wir scheiden nun auf immer. Ich gehe, meine einsame Bahn zu vollenden.«

Am Abend des Tages fuhr der Nachen zurück über den mondbeglänzten See, es saß nur eine Frau darin; ihr Auge blickte auf die silbern glitzernden, leichten Wellen, die die Oberfläche des Sees kräuselten, und stille Tränen fielen darein, das letzte Opfer der Seele, die Brahman in sich erkannt, an die Welt der Maya ...

Im Hause des Brahminen aber erschallte der Hochzeitsreigen.

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Nur ungern trennte ich mich von dem herrlichen Meeraufenthalt, der mir physisch, geistig und gemütlich wohlgetan hatte. Mir die Gestalt Sigismund Malatestas in ein milderes, sicher gerechteres Licht gesetzt zu haben, als das ist, in dem die meisten Historiker ihn sehen und das Bädeker leider in seinem Fremdenführer den Reisenden als das unfehlbare zeigt, war mir eine Genugtuung, denn jene Heldengestalten der Renaissancezeit wollen von einem anderen Standpunkt aus beurteilt sein, als unsere modernen Heerführer. Gemütvoll erquickend aber war mir der Umgang mit dem Volk [510] gewesen, das ein besseres Los verdiente, als ihm seine Regierungen bis jetzt bereitet haben. Das Volk dort in der Romagna sowohl wie in der Lombardei ist sehr klug, viel mehr republikanisch als monarchisch und urteilt oft mit einer geistreichen Ironie über die Verfügungen der oberen Behörden. Die sehr abscheulichen Vorgänge an der Banca romana – die wie ein Echo auf die französischen Panama-Ereignisse folgten, nur noch gemeiner und häßlicher, da es sich rein nur um Gewinn und Wucher handelte, während dort, wenigstens im Anfang, eine große Idee zugrunde lag – fielen gerade in jene Zeit. Der Prozeß, der den Vorstehern der Bank gemacht wurde, die jahrelang in der sogenannten »guten Gesellschaft« geglänzt hatten, war im Gange, und man erwartete mit Recht ein strenges Urteil. Auch mir fiel das Zeitungsblatt vor Unwillen und Erstaunen aus der Hand, indem ich das Verdikt am Ende des Prozesses las, das sämtliche Angeklagten freisprach; als ich dann später einem meiner guten Freunde aus dem Schiffervolk des Hafens begegnete und ihn fragte, was er dazu sage, erwiderte er mir mit dem feinen, ironischen Lächeln, das den dunkelgebräunten Gesichtern des meist schönen Menschenschlages dort so gut steht: »Ich habe nichts anderes erwartet; wenn einer von uns ein Brot stiehlt für sein hungriges Kind, so steckt man ihn ins Gefängnis; die vornehmen Diebe spricht man frei.« Wie sehr der Mensch recht hatte, sollten die folgen den Jahre noch eindringlicher beweisen. Diejenigen, die an der Spitze der Staatsverwaltungen stehen, unterschätzen den gesunden Verstand und die Urteilsfähigkeit des Volkes viel zu sehr, und wenn endlich der Augenblick kommt, wo das lang unterdrückte Gefühl des Unrechts, das am Volk begangen wird, hervorbricht und zu Gewalttaten treibt, so behauptet man, es sei nur das Werk einzelner Aufwiegler und Egoisten, die für sich selbst im Trüben fischen wollen und schreitet ein mit dem Mittel der Despotie, mit Waffengewalt, anstatt liebevoll vorsorgend den Bedürfnissen menschlicher Existenzen entgegenzukommen und vor allem anstatt [511] strenge Gerechtigkeit in gleichem Maß zu üben gegen hoch und niedrig, gegen reich und arm.

Es ist seltsam, wie wenig die Menschen aus der Geschichte lernen; wie der Egoismus und die Verlockungen der Macht immer wieder zu dem Irrtum führen, als könne der nur auf das Vergängliche gestützte Erfolg dauern und die ewigen Ideen der Gerechtigkeit, Güte und Wahrheit in Schranken halten, um den selbstsüchtigen Zwecken einzelner Ehrgeiziger und Despoten zu dienen. Und doch ist dem nicht so! Die Geschichte hat hundertmal das Gegenteil bewiesen; Ideen sind mächtiger als menschliches Wollen; schlagt sie in Ketten, die Ketten fallen ab, wenn der Genius in den Kerker tritt und sie zur Freiheit führt, wie der Engel den Petrus auf dem herrlichen Fresko Raffaels im Vatikan. Aber freilich ist es traurig, wie lange die Verirrung einzelner das Schicksal von Tausenden beherrschen und dem Abgrund des Elends nahe führen kann. Italien erlebte es in jenen Jahren und leidet noch an den Folgen der unseligen Katastrophen, die Ehrgeiz und Unfähigkeit einzelner über es verhängten. Ob die Sucht der Kolonialpolitik, die sich Europas bemächtigt hat in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, eine segensreiche, kulturfördernde sei, bleibe noch eine unbeantwortete Frage; jedenfalls war es für Italien viel zu früh, sich diesem Zuge der europäischen Großmächte anzuschließen, und es bleibt als eine Schuld in der Geschichte des Ministeriums Depretis-Mancini zu verzeichnen, ihr Land auf jenen Weg geführt zu haben, wenngleich die schlimmsten Folgen dieses Schrittes einem späteren Ministerium zuzuschreiben sind. Italien war ein junger Staat, kaum als eine Einheit geboren, und ungeheure Aufgaben lagen vor ihm im Innern, die mit Einsicht und Beharrlichkeit ergriffen, es zu Wohlstand, Ordnung und sittlicher Entwicklung hätten führen können; dann, innerlich erstarkt, einig und frei geworden, hätte es daran denken können, in dem Kreis der Großmächte eine achtunggebietende Stellung einzunehmen. Cavour, der einsichtsvolle Staatsmann, der ihm leider zu [512] früh entrissen wurde, begriff die Bedeutung einer solchen Tendenz vollkommen und lehnte den Vorschlag Napoleons III. ab, der das nördliche Afrika zwischen den lateinischen Rassen zu verteilen, Spanien Marokko und Italien Tunis zuzuteilen, träumte. Cavour fürchtete den Eifer der Italiener, das Vaterland fest zu gründen, durch eine Richtung nach außen abzuschwächen und erwiderte: »Italien sei nicht reich genug, um sich ein tunesisches Algier zu erlauben.«

Dieser weisen Zurückhaltung vergessend, kam es dann später doch dahin, daß Italien in Afrika festen Fuß faßte. Eine Bekannte, die die ersten italienischen Truppen sich nach Afrika hatte einschiffen sehen, schrieb mir, sie habe Tränen freudiger Rührung geweint, die Söhne des neugewonnenen Vaterlands hinausziehen zu sehen, um Kulturaufgaben unter den Barbaren zu erfüllen. Ich antwortete ihr, ich wünsche von Herzen, daß diese Aufgaben nicht kulturfeindlich für das eigene Land werden möchten, und ich glaube, daß jene Armen, die waffentragend zu wilden Völkern zögen, segenbringender zu nützlicher Feldarbeit daheim verwendet sein würden. Leider gab mir die Folge mehr als recht.

Mit unendlicher Liebe an dies schöne Land gebunden, an die apollinischen Zauber seiner Natur, die das tiefe Bedürfnis der Seele nach Schönheit, in mir von Kindheit auf mächtig, wenigstens nach einer Seite hin befriedigen, konnte ich nicht umhin, auch mit dem wärmsten Interesse die Schicksale dieses Landes beobachtend zu verfolgen, und sah mit Trauer, wie weit sich die heutige Politik von den Idealen jener trefflichen Männer, die ich im Exil gekannt hatte, entfernte. Vorgänge wie jene schon erwähnten der Banca romana, wie die Veruntreuung von Geldern, die auch von auswärts her für die schrecklichen Unglücksfälle der Erdbeben, Überschwemmungen usw. einliefen und den schwer Betroffenen kaum halb zuteil wurden, Veruntreuungen an öffentlichen Kassen und anderes zeigten einen Abgrund moralischen Elends, der etwas Erschreckendes hatte. Dazu in den höchsten Kreisen der Verwaltung der ungebändigte Ehrgeiz einzelner, teils von [513] unfähigen, teils von unredlichen Werkzeugen Umgebener, das waren die Zustände, in denen Italien sich befand, die wie dunkle Gewitterwolken an seinem hellen Himmel standen und sich immer drohender zusammenzogen, bis dann die schreckliche Katastrophe in Afrika kam, die Trauer und Verzweiflung über das Land verbreitete. Freilich fiel nach der Schlacht von Adua das Ministerium Crispi, dem mit Recht die Hauptschuld an den begangenen Irrtümern und deren Folgen zugeschrieben wurde, aber das Unglück war nicht gut zu machen. Die kräftigen, jugendlichen Leben, die auf dem Schlachtfeld von Adua vernichtet lagen, die Tränen, die in Italien um sie flossen, die Millionen, die unnütz dort vergeudet waren, während in der Heimat Hunger und Armut herrschten, die furchtbaren Einblicke, die man in die skandalöse Immoralität der den Häuptern der Regierung zunächststehenden Personen tat, in das Gewebe schmutziger Intriguen, Bestechungen und Lügen, was in den Kreisen einheimisch war, die dem Volke hätten als Vorbild dienen sollen – das alles wird als ein ewiges Verdammungsurteil auf dem Ministerium Francesco Crispis in der Geschichte lasten bleiben und das Urteil Mazzinis über den Mann rechtfertigen. Die einzelnen Tatsachen dieser traurigen Zeit sind zu bekannt, um sie zu wiederholen; aber wer sie miterlebte, wie ich, der konnte nicht umhin, sich traurig zu fragen, was für ein dunkles Rätsel sich hinter diesen Erscheinungen der Weltgeschichte berge, wenn nach einem großen, begeisterten Aufleuchten edelster Gesinnung, hohen Strebens, freudigsten Opfermutes dann plötzlich eine Zeit, nicht des Stillstandes und Ausruhens – das wäre erklärlich –, sondern tiefer Korruption folgen kann, in der alle häßlichen Elemente der menschlichen Natur wie aufgewühlt erscheinen und aus ihren dunklen Höhlen heraufsteigen an das Licht, um sich der Frucht des vom Idealismus errungenen Siegs zu bemächtigen und sie mit dem Gift des verderblichsten Egoismus zu durchdringen. Das italienische Volk fühlte sehr wohl, was ihm für Unheil zugefügt war, aber es ist ein unglaublich [514] geduldiges Volk, läßt viel über sich ergehen und begnügt sich lange mit seiner Armut, ehe es zur Empörung schreitet. Die Minorität der redlichen Männer der gebildeten Klassen aber, die tieftraurig, einsichtsvoll den Ereignissen gegenübersteht, leidet, ohne sich gegen das vorhandene Übel handelnd aufzulehnen. Es ist das eine Schwäche der italienischen Natur, die in sonderbarem Kontrast steht mit der feurigen Raschheit im Blut, die ohne Überlegung das Messer in die Brust des Nebenmenschen stößt.

Es würde mich weit über die Grenzen des mir in diesen Blättern vorgesteckten Ziels hinausführen, wollte ich suchen, die Ursachen offen darzulegen, die den heutigen Zuständen zugrunde liegen, obwohl sie mir ziemlich klar sind; ich fasse sie nur in eins zusammen, nämlich in die vollständige Abwesenheit jedes Ideals. Es gibt wohl kaum ein Volk in Europa, das weniger wahrhaft religiös wäre, als das italienische; es ist teils skeptisch, teils indifferent und in den untersten Ständen aus Gewohnheit kindisch und abergläubisch. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts war es das politische Ideal, die Befreiung vom Fremdjoch, was die Seelen mit Begeisterung und Tatkraft füllte; nun es verwirklicht war, stellte sich eine Leere ein, in der alles Unkraut, dessen Keime sich unter den schlechten Regierungen, die so lange das Verhängnis Italiens gewesen waren, gebildet hatten, emporwuchs und die Oberhand gewann, während, wie gesagt, die redlich Wollenden sich entmutigt zurückzogen.

Der hohe Vorzug dieses wunderbaren Landes aber ist es, daß, während die menschlichen Verhältnisse so viel zu wünschen übrig lassen, die gütige Natur hier so verschwenderisch mit ihren Gaben ist, daß die Seele sich ihr trostreich in die Arme legt und in ihrer Schönheit ausruht, in der Zuversicht, daß auch diesem liebenswürdigen, begabten Volk der Tag der Auferstehung kommen wird.

Da mein Alter mir nun nicht mehr weite Reisen erlaubte, so kam es dahin, daß Olga im Sommer mit den Ihren über die Alpen kam und daß wir uns in Nord-Italien an einem [515] der vielen gesegneten Orte dort zu längerem Aufenthalt zusammenfanden, mehr wie je in Liebe vereint. In Rom aber war mir inzwischen wieder eine teure, liebe Beziehung nahe gekommen, die schon in früheren Jahren während einiger Winter mein Leben freundlich erhellt hatte und zu einem festen Herzensbund geworden war. Es war dies die Beziehung zu der Tochter von Donna Laura Minghetti, die jetzt, als die Gemahlin des deutschen Botschafters, Bernhard von Bülow, in Rom festen Wohnsitz nahm. Die Liebe, die mich an dies von der Natur mit allem edlen Liebreiz geschmückte Wesen band, gab meinem Leben in Rom wieder die Befriedigung einer persönlichen Zuneigung, die auch von der anderen Seite, trotz der großen Altersverschiedenheit, auf das lieblichste erwidert wurde. Es öffnete sich durch die Gegenwart des ausgezeichneten, noch so jungen Paares in dem schönen Palast der deutschen Botschaft in Rom ein lang entbehrtes, deutsches Heim, so wie es vor Zeiten durch Humboldt, Niebuhr, auch noch Bunsen, da gewesen sein mag, das in Bernhard von Bülow den durch edle klassische Kultur gebildeten Repräsentanten, in seiner Gattin die holde Erscheinung der Vereinigung südlicher Natur mit deutscher Bildung fand. Wohl mag die Mitte, die jene Vertreter deutscher Bildung in Rom gefunden hatten, die Herstellung eines bedeutenden geistigen Zentrums erleichtert haben, besonders auch dadurch, daß die römische Gesellschaft damals nicht die vielen schroffen Gegensätze enthielt, die sich heutzutage in ihr finden. Für die aber, die Bülows gemütlich näherstanden, war es das Aufblühen einer schönen Hoffnung, für längere Zeit ein Asyl zu haben, wo Geist und Herz gleich befriedigt wurden und wo, insbesondere durch die große musikalische Begabung der Frau von Bülow und ihren der Musik geweihten Kultus zu erwarten stand, daß sich endlich wieder ein würdiges musikalisches Leben entwickeln lassen würde, da in dieser Beziehung ein schmerzlich fühlbarer Unterschied zwischen der Zeit, wo ich zuerst in Rom war, vor etwa dreißig Jahren, und der Jetztzeit stattfand. Damals herrschte[516] Liszt noch in voller Manneskraft im römischen Leben; ich hörte seine »Beatitudine«, von ihm selbst dirigiert, im großen Saal des Kapitols in vollendeter Weise aufführen; ihn umgaben einige ausgezeichnete Schüler, die auch in das Privatleben ein wertvolles, musikalisches Streben einführten. Man hatte noch nicht die furchtbare Qual zu erdulden, beinahe aus jedem Haus ein geist- und sinnloses Geklimper ertönen zu hören; überhaupt ein dunkler Fleck in unserer modernen Kultur, der geradezu einen moralisch verderblichen Einfluß hat, denn was können so gemeine Rhythmen, so widerwärtig ordinäre Weisen, millionenmal hintereinander wiederholt, einer Seele sagen? Jede nützliche Handarbeit wäre da vorzuziehen und ersparte dem Nachbar, dem die Musik die heiligste der Künste ist, die unsägliche Pein, sich bei seiner geistigen Arbeit oder bei seiner stillen Erholung durch ein solches aufdringliches, gemeines Umherfahren auf dem Instrument gestört zu sehen.

Es waren im Palast Caffarelli, dem Sitz der deutschen Botschaft, gerade mehrere ausgezeichnete musikalische Talente, und so fing wenigstens im engeren Kreis dort schon ein genußreiches Musizieren an. Dazu kam nun im Frühjahr die mich innig erfreuende Nachricht, daß Siegfried Wagner, der eben seine erste Kunstreise gemacht hatte, auch nach Rom kommen wollte, um daselbst ein Konzert zu dirigieren. Es war eine doppelte Freude, die mir dadurch zuteil wurde; zunächst den Sohn des großen Meisters und Freundes, den ich von Kindheit auf gekannt hatte, nun als erwachsenen, schon selbständig sich betätigenden Menschen wiederzusehen und dann, unter seiner Leitung einmal wieder eine wahrhaft künstlerische größere Aufführung zu hören. Beides vollzog sich in schönster, befriedigendster Weise; nicht nur, daß ich in dem Jüngling, neben entschiedener Ähnlichkeit mit dem Vater, eine vollständig eigene Persönlichkeit fand, sondern es erschien mir auch in dem Dirigenten ein durchaus individuelles, ganz bewußtes Erfassen und Ausführen und erfüllte [517] mich mit froher Hoffnung für die Zukunft dieses mir so werten jungen Freundes, dem die große, herrliche Aufgabe zuteil geworden, das Werk des Vaters weiterzuführen und zugleich die Befähigung, als eine selbständige Individualität die eigenste Schaffenskraft in ungehinderter Weise zu entfalten.

Der Sommer führte mich dann wieder zu froher Vereinigung mit Olga und den Ihren an den südlichen Abhang der Alpen, an den Lago Maggiore und an den höher gelegenen, unbeschreiblich reizenden Orta-See, über dessen grüne, malerische Uferberge die eisglänzenden Spitzen der Kette des Monte Rosa herübersehen. Den Reichtum der malerischen Schönheiten dieses von der Natur so verschwenderisch bedachten Landes auszukennen, würde viele Jahre erfordern und es ist nicht zu verwundern, daß hier eine Kunstblüte entstand, wie sie, außer Griechenland, kein anderes Volk erlebt hat. Und ebenso wie mit der Natur wird man auch nie fertig, all die schaffenden Kräfte kennen zu lernen, die jener Natur wohl zum großen Teil ihre Anregungen verdankten. So sah ich in jenen Gegenden einen Maler zuerst und einen zweiten vollkommener als vorher, die sich beide dort in vielen der kleinen Orte verewigt haben; der erste war Gaudenzio Ferrari und der zweite Bernardo Luini. Gaudenzio Ferrari hat nicht die Anmut und tiefe Seelenschönheit des Luini, aber er ist ein Maler von unbestrittener Großartigkeit der Erfindung, voll Farbenglanz und feiner Charakterisierung und muß sehr produktiv gewesen sein. Luini erreicht zuweilen fast seinen großen Meister an Holdseligkeit, und seine Fresken in Saronno und Lugano ehren ihn als Zeichner und Kolorist.

So einen sich stets in diesem Wunderland Natur und Kunst, um Geist und Gemüt alles zu geben, dessen sie bedürfen. Aber freilich, nur die Natur ist ewig jung im Blühen, die Kunst hat ihre Epochen und dann stirbt sie ab, gleich dem Erdreich, das, erschöpft vom Geben, keine Frucht mehr bringt.

[518] Nicht immer aber waren die Tage nur heiter; auch in diesen späten Jahren nicht, wie sie es auch in früheren Jahren häufig nicht gewesen waren. Es starben viele der Angehörigen und Bekannten um mich her, gleich wie beim Baum im Herbst, wenn der Wind ein Blatt nach dem anderen herunterweht. Die alte Schwester, die ich alljährlich, wenn ich nach Frankreich ging, vorher in Deutschland besucht hatte, war auch gestorben, und von meiner unmittelbaren Familie war keiner mehr übrig; die Mitglieder der jüngeren Generation waren mir zum Teil ganz unbekannt und lebten, in alle Weltgegenden zerstreut, fern von mir, so daß sich kein Band der Zusammengehörigkeit hatte knüpfen können und daß Fremde mir durch Geist und Gemüt näher verbunden waren, als die Blutsverwandten. Dies betätigte wir wieder die Freundschaft des edlen Paares, das Deutschlands Interessen in Rom vertrat, bei einer traurigen Gelegenheit auf die rührendste Weise. Ich nahm nicht mehr, schon seit Jahren, teil an größerer Geselligkeit, aber zu den kleineren Vereinigungen bei Bülows ging ich gern, weil da immer durch die ungezwungene Freundlichkeit der Hausherren von vornherein sich eine wohltuende Atmosphäre bildete. So bereitete ich mich auch an einem Abend vor, dorthin zu gehen, wo Joachim, der in Rom angekommen war, dort spielen sollte. Meine alte Dienerin, die dreiundzwanzig Jahre mit mir verbracht hatte und mir, trotz den bei alten Dienern unvermeidlichen Launen und Verstimmungen, durch ihre Ergebenheit und Treue dennoch wert war, sollte mit mir gehen, da sie mit dem Dienstpersonal dort befreundet war. Ich war mit Ankleiden fertig, der Wagen stand vor der Tür; ich rief ihr, um zu gehen, erhielt keine Antwort und ging daher in ihr Zimmer, um ihr zu sagen, sie solle kommen. Welches war aber mein Schreck, als ich sie bewußtlos auf dem Boden liegend fand. Natürlich war von Ausgehen keine Rede mehr. Der herbeigerufene Arzt ließ mir keinen Zweifel über den Ernst des Falles und bestand darauf, die Kranke alsbald in das Hospital zu bringen. Am folgenden Morgen kam er, [519] mir ihren Tod zu verkünden. Außer der Erschütterung, die ein so brutales Auflösen eines lange bestandenen Verhältnisses notwendig mit sich brachte, entstand für mich eine wirklich augenblicklich bedrängte Lage, da meine ganze kleine Häuslichkeit auf das Dasein dieses einen Wesens gebaut gewesen war und es unmöglich war, alsbald einen genügenden Ersatz zu finden. Gute, hilfreiche Bekannte kamen rasch herbei, zu allem erbötig, doch durchgreifende Hilfe kam erst, als eine Botin der Frau von Bülow erschien, die mir die Aufforderung der beiden Gatten brachte, alsbald zu kommen und bei ihnen eine Zeitlang zu verweilen, bis der traurige Eindruck sich in etwas verwischt und ich Zeit gehabt hätte, mein häusliches Leben neu zu organisieren. Die Aufforderung war in so herzlicher Weise abgefaßt, wurde alsbald durch so kräftige Hilfeleistung beglaubigt, daß ich nicht zögern konnte, sie anzunehmen. Gleich dem Schauplatz des traurigen Vorfalls entrückt zu werden in eine schöne, liebenswürdige, teilnahmvolle Mitte war eine unvergleichliche Wohltat. Ihre tröstende Wirkung blieb nicht aus, und da mein Gewissen mir das Zeugnis gab, die Verstorbene immer nur mit der Rücksicht behandelt zu haben, wie sie meinen Anschauungen nach den zum Dienen Verurteilten gebührt, so lange dies Verhältnis nicht in eine neue edlere Phase getreten ist, so konnte ich mich nur freuen, daß der Armen die Qual langsamer Krankheit und allmählichen Sterbens erspart geblieben war.

Meine liebevolle Freundin mußte leider nach einigen Tagen Rom verlassen, um ihren alljährlichen Badeaufenthalt zu nehmen; ich blieb dann noch mehrere Wochen mit Herrn von Bülow allein, in schönster Freiheit in den weitläufigen Räumen des Palastes, aber in den Stunden des Zusammenseins mit wahrer Freude den Einblick in die große klassische Kultur des noch so jungen Staatsmannes genießend. Unsere Anschauungen stimmten nicht auf allen Gebieten überein, aber ich hatte die tiefe moralische Genugtuung, mich mit hoher Achtung vor den festen, auf edelsten [520] Grundlagen ruhenden Überzeugungen des bedeutenden Mannes beugen zu können, dessen Wohlwollen und Güte gegen mich sich nie, trotz unserer verschiedenen Ansichten, verleugnete. Es ist eine der schönsten Empfindungen, sich in rein menschlicher Achtung und Freundschaft auch mit solchen zu begegnen, die in irdischen Dingen anders denken wie wir. Der Parteistandpunkt ist immer ein einseitiger. Warum soll ich mich feindlich von dem monarchisch Gesinnten abwenden, wenn er sonst gut und edel ist, weil ich vielleicht Republikaner oder Sozialist bin? Alle diese, vom Verstand geschaffenen Unterscheidungen gehören doch auch dem Vergänglichen an; über ihnen steht die reine menschliche Würde, die Treue gegen sich selbst und das für wahr Erkannte, die auch im anderen diese Treue gegen das ihm Wahre ehrt, und endlich die Güte des Herzens, die in heiligem Mitleid über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg hilft und tröstet. Je höher der Mensch entwickelt ist, je vollkommener wird diese Toleranz werden, denn je tiefer versteht man das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden und sich am einfach menschlich Schönen, ohne Partei-Voreingenommenheit zu freuen. Nur wenn es gilt, in Waffen aufzustehen, um unsere Wahrheit zu verteidigen gegen feindliche Angriffe oder gehässige Unterdrückung, dann gibt es kein Entweder-Oder, dann gilt es Kampf, ernsten, entschiedenen Kampf.

Nach mehreren, in heiterer Harmonie verbrachten Wochen verließ ich Rom, um mich in Nord-Italien mit Olga und den Ihren zu vereinen und zwar in den herrlichen Cadorischen Alpen, in Pieve di Cadore, das mir von früher her eine so liebe Erinnerung war. Leider fand ich auch da nun schon den Fluch des Touristentums verhängt, mehrere Hotels eröffnet und die naive Einfachheit des Lebens von ehedem verändert. Vollkommen fand ich diese aber wieder an einem noch höher gelegenen Ort in der Dolomitenkette, an dem See Alleghe, der, durch einen Bergsturz gebildet, mehrere Dörfer begraben hat, deren Trümmer man zuweilen unter [521] den Wassern der stillen Oberfläche sehen kann. Nach einigen Wochen in Pieve zogen wir da hinauf und fanden mit Entzücken bestätigt, was man uns von diesem Ort gesagt hatte. Wie ein seliger, weltentrückter Traum liegt der ziemlich große, stille See zwischen Höhen, die mit herrlichen Tannenwäldern bedeckt sind, da. Nur selten kräuselt der Wind die ruhige Oberfläche, in der sich die Ufer spiegeln. An dem einen Ende liegt ein kleines Dorf, an dem anderen ein sehr primitives, aber rein und gut gehaltenes Wirtshaus; über den grünen Vorbergen aber steigen in wahrer Majestät die herrlichen Dolomitfelsen auf, die, wie eine Reihe Riesenorgeln, den Göttern oben auf ihren Wolkensitzen ein wunderbares Konzert zu geben scheinen. Am Abend erglühen sie dann in zauberischer Pracht der Farben und von den Strahlen der untergehenden Sonne versilbert und vergoldet. Wie verschwenderisch die Natur ist! Da läßt sie in der Einsamkeit solcher Alpenhöhen Paradiese entstehen, gemacht, um tiefen Denkern, um Poeten und Künstlern die höchsten Anregungen zu geben, und fragt nicht danach, ob man diese reizenden Erdenflecke entdeckt und ihrem Zauber herrliche Geistesblüten entlockt oder nicht. Es ist, als wohnte der allgewaltige Schönheitstrieb in ihr, der ihr keine Ruhe läßt, bis sie, ganz künstlerisch verfahrend, überall das Bild hervorbringt, das sich charakteristisch in den Rahmen, den Klima und Boden bedingen, einpaßt. Nachher sagt sie ruhig und kalt: »Mensch, benutze es nun und lerne daran die Erde mit Schönheit zu schmücken.« Und der Mensch? Hat er die heilige Flamme der wahren Schönheit, die der Ausdruck der Idee, die Form des Ideals ist? Ist es ihm darum zu tun, zu veredeln, zu bessern, zu idealisieren und auch den materiellen Genuß durch schönes Maß mit ästhetischer Weihe zu adeln? Ach, wie wenige sind es noch, wie nur ganz einzelne! Und werden es jemals viele sein?

Aus diesen zauberischen Alpenhöhen stiegen wir herunter zu der Königin des Meeres, der reizenden Lagunenstadt, die meine Freunde noch nicht kannten. Mir erwacht dort immer [522] die wehmütige Erinnerung an den geschiedenen Freund, in dessen künstlerischem Heim ich einst so schöne Tage verlebt hatte. Der prächtige Palast war jetzt ein Nonnenkloster und der Ex-Herzog von Modena, der ihn verkauft hat, ist so rücksichtsvoll für die zarten Gefühle der klösterlichen Damen gewesen, die Statuen der heidnischen Götter, die hier unter den dunklen Laubgewölben standen, hinwegnehmen zu lassen. So ist wieder etwas Schönes, Dagewesenes unwiederbringlich vernichtet. Ach und wie vieles außerdem in dieser einst von Schönheit strahlenden Stadt! Die zauberischen Paläste, in denen vornehme Männer mit gerechtem Stolz auf die Größe ihrer wunderbaren Heimat und schöne, geistvolle Frauen voll Anmut und Würde wohnten, sind jetzt zum großen Teil Gasthöfe oder Niederlassungen der Spezialitäten venetianischen Kunstgewerbes. Das Haus, in dem Tizian einst glanzvolle Feste gab und die Größen des Geistes, der Kunst und des fürstlichen Ranges empfing, ist nebst seinem herrlichen Garten spurlos verschwunden. Die Insel Murano, deren Gärten sonst der Versammlungsort von Gelehrten, Künstlern und ausgezeichneten Frauen waren, ist arm und öde; die Gärten sind nicht mehr da; nur die armen Spitzen-Arbeiterinnen und die Arbeiter in den Glasfabriken führen hier ihr ärmliches Leben weiter. Und doch – welch ein Zauber von Poesie webt noch immer seine goldenen Schleier über diese Stadt! Das kommt von dem Unvergänglichen, allem irdischen Wechsel Entzogenen; hier wurde gelebt, für große Zwecke gehandelt, schönheitstrunken Idealen gehuldigt, weltliche Macht durch geistige Größe geadelt. Und wenn schließlich auch dies unterging, so bleibt die Erinnerung, die um alles wahrhaft gelebte Große, Ideale ihren Glorienschein bildet und es der Nachwelt aufbewahrt, indem sie die Flecken, die jede Gegenwart hat, auslöscht und nur das übrig läßt, was ewig ist: die Verwirklichung der Idee.

Nach vielen frohen Wochen der Vereinigung kam dann wieder der immer schmerzliche Augenblick der Trennung, die nun, mit jedem vorrückenden Jahr, die Frage deutlicher [523] zurückläßt: werden wir uns wiedersehen? Denn nach dem natürlichen Lauf der Dinge mußte ich, so rüstig ich auch noch für mein Alter war, dennoch auf den Lebensabschluß in kürzerer oder längerer Frist gefaßt sein.

Ich kehrte nach Rom zurück und zwar vorerst noch einmal in das schöne Asyl, das mir die Freundschaft der lieben Bülow geöffnet hatte, um dort nur noch so lange zu verweilen, bis meine eigene Häuslichkeit wieder instand gesetzt sein würde. Meine teuren Gastfreunde waren noch nicht von ihrer Sommerreise heimgekehrt, aber brieflich hatte die holde Freundin alles für mich aufs sorglichste bereitet. So kam mein Geburtstag heran, mein achtzigster Geburtstag! Still und bewegt begrüßte ich den Tag. Es ist keine Kleinigkeit, auf achtzig Jahre des Erdenlebens zurücksehen zu können und eines so bewegten Lebens und sich sagen zu dürfen, daß trotz allem Irren, allem Unerfüllten und Unerreichten doch ein roter Faden durch das ganze Leben ging, der gleichsam den Grundton der Natur anzeigt und, nie verleugnet, immer bewußter, immer fester gezogen, bis an das Ende reichen wird. Ich war darauf gefaßt, den Tag allein zu verbringen, war ruhig und heiter, indem ich all der Liebe und all des Guten gedachte, die mir zuteil geworden sind und auch die Leiden und schweren Prüfungen, von denen ich nicht verschont geblieben bin, segnete, weil sie dazu gedient haben, das Eine, Feste, Unveräußerliche in der Seele zu bewähren und im guten Kampf das Heroische zu entwickeln, das in jeder Menschenbrust schläft und nur geweckt und geübt werden muß, um uns als Sieger aus der oft so heißen Schlacht des Lebens hervorgehen zu lassen.

Je mehr ich darauf gefaßt war, den Tag still und einsam, im Überblick über das Vergangene und in ruhiger Erwartung des etwa noch Kommenden zu verbringen, je lieblicher wurde ich überrascht, als plötzlich von vielen Seiten gute Bekannte aus der Stadt herrliche Blumengrüße sandten und die Post mir Haufen von Briefen brachte, auch von solchen, von denen ich 20–30 Jahre lang nichts gehört hatte und die mir[524] nun ein ununterbrochenes liebendes Andenken bewiesen; ja als endlich sogar gedruckte Blätter einliefen, in denen längere Artikel, bei Veranlassung dieses Tages, meiner und meines Lebenslaufs gedachten. Gerührt sagte ich mir: So hast du also nicht umsonst gelebt, nicht nur, daß du dir selbst Treue gehalten hast, sondern du bist auch andern etwas gewesen, und Besseres kann der Mensch ja nicht verlangen, als mit diesem Doppelzeugnis auf der Schwelle der Ewigkeit stehen und warten, bis sich ihm die Pforte öffnet, aus der es keine Wiederkehr gibt.

So verging mir der Tag ohne Prunk, aber reich geschmückt durch die köstlichsten Edelsteine, durch Liebe, Dankbarkeit, Verehrung, unbegrenztes Vertrauen. Und siehe da! der Abend brachte noch eine andere Überraschung! Der mir so werte Baron von W..., der im Begriff war, eine Reise in den Orient anzutreten, war an dem Tag angekommen und erschien gleich, mich zu begrüßen. Harmonischer konnte der Tag nicht enden, denn aus der Seele dieses jungen Mannes tönten mir alle die Klänge von »Apollos goldnen Saiten«, wie es in einem seiner Gedichte heißt, entgegen, die in meinem Leben stets die Grundharmonie gebildet haben und noch, wie in der begeisterten Jugend, so im achtzigsten Lebensjahr, in voller Frische erklingen, wenn der verwandte Ton sie ruft.

So, nun ist es wohl Zeit, dies Büchlein zu schließen; was nun noch kommt, ist Überschuß, den das Schicksal mir verschwenderisch in den Schoß wirft, wobei es mir doch zuweilen sehr ernste Mahnungen zuruft, daß die Stunde bald kommen könne. Möge sie mir friedlich nahen, sie findet mich bereit.

Mein Lebewohl an die Welt

Sollte der bewußte, der freie Mensch nicht auch den letzten Abschluß des Daseins mit voller Geistesklarheit, umringt von den Erinnerungen des vergangenen Lebens, vollziehen, ehe die letzte Stunde da ist, die vielleicht den klaren Blick [525] umhüllt und das Vergangene schon halb in die Nacht des Vergessens taucht? Ist man der Welt nicht auch eine Art Rechenschaft schuldig über das auf ihr verbrachte Dasein, ob man das Pfund, das man empfing, gut verwaltet hat und treu gewesen ist bis an den Tod? Und sollte der Scheidende ihr nicht ein letztes Wort der Liebe zu sagen haben, ein herzliches Abschiedswort? Und darf endlich der, der nun weiß, was das Leben ist, ihr nicht auch ein Wort der Ermahnung zurufen, der ernsten Aufforderung, das Leben als eine hohe, heilige Kulturaufgabe zu betrachten und mit aller Kraft an ihr zu arbeiten?

Ich glaube: ja, der Mensch sollte es.

Die Kirche hat ihn gelehrt, daß die große Abrechnung für das Leben erst lange, lange nachher, im fernen Jenseits, erfolgt, und wie manches Gewissen tröstet sich damit und versäumt es, den kurzen Erdentraum zu etwas anderem als zu flüchtigem Genuß zu benutzen und die Ewigkeit schon hier in die Zeit zu bannen. Wieviel ernster würden viele das Leben nehmen, wenn sie von früh auf wüßten, daß sie hier verantwortlich sind für das, was sie aus dem Leben machten und daß es traurig sein muß, gesenkten Hauptes und mit schwer beladenem Bewußtsein an der Schwelle des Ausgangs zu stehen, durch den man nie zurückkommt.

So empfange denn mein Lebewohl, Welt! Ich danke dir für das Dasein, das mir die Möglichkeit gab, ein erkennendes, empfindendes Wesen zu werden! Ich hätte wohl mehr tun, mehr werden sollen, aber man ist doch nicht alles aus sich allein, man ist zum Teil auch das Produkt äußerer Umstände und Einflüsse, und du hast mir in der Jugend manches versagt, was du von Hilfsmitteln der heutigen Jugend verschwenderisch zuerteilst. Worauf es jedoch hauptsächlich ankommt, das ist doch ein reines, hohes Wollen und das unablässige Bemühen, es zur Tat werden zu lassen, nicht wahr? Danach richte mich denn und erteile mir heiteren Ablaß für alles Irren und Fehlen, denn du hast es mir auch nicht immer leicht gemacht, [526] und in schweren Prüfungsstunden hast du mich umsonst nach Hilfe rufen lassen, bis ich mich ermannte und mir selber half.

Ich habe dich geliebt, schöne Erde, und mit Wonne das Geheimnis ewiger Schönheit im Anschauen deiner herrlichen Gebilde geahnt. Ich danke dir für alle Stunden reiner Freude, für deine Sonnenuntergänge, für deine Sternenhimmel, für deine Frühlinge, deine lieben Blumen, deine Wälder, deine Berge, deine Meere. Genossen habe ich die Freude an dir mit vollen Zügen, und wenn es noch schönere Erden gibt, so warst du mir hohe Vorbereitung auf das Höhere.

Lebt wohl, ihr Menschen, geliebte, meinem Herzen nahe Freunde und unbekannte, mir freundlich Gesinnte in der großen Menge. Habt Dank für alle Liebe, für alle Güte und Treue, alles von meinem Herzen warm erwidert. Um uns schlingt sich ein unzerreißbares Band der Gemeinschaft, der wahren, unsichtbaren Kirche der Freien, die in stetem Wandel höher und höher steigen, bis dahin, wo sie den Schleier vom Angesicht der Wahrheit lüften und das göttliche Geheimnis der Existenz in voller Klarheit erkennen können.

Leb wohl auch, Menschheit, und nimm ein ernstes Wort als Abschiedsgruß hin, von einer, die bald geht und keine irdischen Rücksichten mehr kennt. Nahezu ein Jahrhundert ist vor meinem Blick vorübergegangen; es waren Augenblicke höchster Idealität darin: sie wurden aber leider immer nur zu rasch von der traurigsten Realität verdunkelt und jetzt, am Ende des Jahrhunderts, kann man wohl fragen: wo ist der Fortschritt? Ringsum folgt sich Krieg auf Krieg und noch immer muß die Gewalt der Waffen entscheiden, wenn es sich um Fragen der Gerechtigkeit und Humanität handelt. Die Wissenschaft hilft fortwährend neue, unfehlbare Mordwerkzeuge zu erfinden, und sie werden höher bezahlt, als die Werke hoher Kunst und Kultur. Sie erforscht die Mittel, die Gesundheit zu stärken und zu erhalten, aber statt dessen ist die heutige Jugend weichlicher und nervenschwacher, als in früheren Generationen. Der materielle Reichtum vermehrt sich aus hundert neuen Quellen, aber Armut und Elend [527] wachsen in gleichem Maße und sehen uns aus hohlen Augen verkümmerter Gesichter vorwurfsvoll an. Und die höchsten Interessen des Daseins: Veredlung der Sitten, wirkliche Bildung, Erhebung des Gemüts durch die Werke hoher Kunst, Übung der ausgedehntesten Vorschriften der Humanität und Handhabung strenger Gerechtigkeit, ist das alles die erste, heiligste Aufgabe derer, die an der Spitze des Völkerlebens stehen? O Menschheit, schlag an deine Brust und bekenne dich schuldig. Noch immer tanzest du ums goldene Kalb; noch immer greifst du zur Gewalt, anstatt zum Recht; noch immer ziehst du die bösen Leidenschaften groß, die zu Raub und Mord führen und zur Strafe durch Gefängnis und Galgen; noch immer trennst du die Völker durch Intriguen, Eifersucht, Egoismus und verkehrte Mittel der Staatskunst, anstatt sie durch Redlichkeit und Größe der Gesinnung zu hohen, gemeinsamen Aufgaben wahrer Kultur zu vereinen, und was es für empörende Folgen haben kann, wenn es in den zivilisierten Staaten erlaubt ist, daß einer im anderen spioniere, davon gibt uns heute, am Ende des 19. Jahrhunderts, das sich seiner Aufklärung rühmt, Frankreich das traurige Beispiel.

Ein neues Jahrhundert bricht an. Laß es ein Jahrhundert des Friedens und der Tugend werden. Bedenke deine Verantwortung vor der Zukunft und den kommenden Geschlechtern. Richte deinen Blick von dem »allzu Flüchtigen« auf das allein des Strebens Werte und baue an dem Tempel, in dem einst das Urbild aller Vollendung stehen und, segnend die Hände über die Welt breitend, sagen wird: »Und es ward Licht.«

Mit diesem Wunsche, mit dieser Bitte, mit diesem Segen sage ich auch dir, Menschheit, mein Lebewohl.

Noch ein Lebewohl

Als ich einst auf meiner zauberischen Insel Ischia den vorstehenden Abschied an die Welt schrieb, glaubte ich mein [528] Scheiden von dieser sehr nahe. Nun hat es sich doch noch ein paar Jahre verzögert, obwohl der Abschluß mehr als einmal ganz nahe stand, und ich habe noch mit Freude beobachten können, wie wenigstens die eine der wichtigsten Kulturfragen, die Erkenntnis der Notwendigkeit des Weltfriedens immer mehr sich ausbreitet und festen Boden gewinnt. Es ist dies noch durchaus nicht vom hohen idealen Standpunkt aus, aber doch als Tatsache wichtig, und das ist schon viel in einer Welt, wo die praktischen Interessen stets den Vorrang haben. Daß die Staatsklugheit um die Erhaltung der eignen Existenz, daß die Furcht vor dem Bevorstehenden, das in seiner Verwirklichung auch Throne und gesellschaftliche Formen umstürzen könnte, viel zur Verbreitung dieser Idee des Friedens beiträgt – wer wollte es leugnen? Wir Idealisten haben uns längst daran gewöhnt, wie traurig es auch ist, zu sehen, daß die großen Weltgedanken so oft nur mit Hilfe kleinlicher Mittel ins Leben treten können. Aber immerhin, wenn sie nur zur Verwirklichung kommen, so ist schon ein Schritt vorwärts getan, da wir uns überzeugen müssen, daß das Ewige, wenn es in die Erscheinungswelt tritt, dem Lose des Vergänglichen anheimfällt, unvollkommen bleibt und die Mängel des Vergänglichen teilt. So sahen wir im Laufe dieser wenigen Jahre ein kleines Heldenvolk, wie seit den Perserkriegen nichts ähnliches dagewesen war, unterliegen, nicht höherer Kultur, edleren Zielen, sondern einzig der rohen Übermacht eines durch Gewinnsucht und Streben nach Weltmacht von seiner früheren kulturellen Stellung herabgesunkenen europäischen Staats. So sehen wir noch einen schönen Strich Europas, in unsäglicher Verwirrung, mit Blut und Mord befleckt, ein Spielball herrschsüchtiger und fanatischer Leidenschaften und in einem fruchtlosen Ringen nach Unabhängigkeit und Freiheit. Aber wer tiefer blickt, sieht im Grunde der unvollkommenen, verwirrten Erscheinung eine große Zukunftsidee sich bewegen und die wirkenden Kräfte vorwärts treiben, und schon die Gewißheit, daß das ewig Eine, Schaffende, hinter der allen [529] irdischen Mängeln unterworfenen Erscheinung steht und sie ins Leben treibt, ist ein unendlicher Trost.

Die Gedanken, den Spuren dieses ewig schaffenden, in allem Erscheinenden wirkenden Prinzips nachzugehen, beschäftigten mich vorzugsweise in dem verflossenen Sommer, den ich in großer Einsamkeit verbrachte. Meine schwer leidende Gesundheit verhinderte mich, wie in den vorhergehenden Jahren, meinen Sommeraufenthalt etwas ferner von Rom zu nehmen. So erwählte ich den nur anderthalb Stunden Eisenbahn von Rom entfernten kleinen Seeort Nettuno, der zwar nahe bei dem anderen römischen Seebadeort Anzio gelegen und mit diesem durch einen Spaziergang verbunden, doch noch nicht wie dieser angesteckt ist von der modernen Sucht eleganten Badelebens. Dort, in einer Villa, unmittelbar über dem Meer, auf einer großen Loggia, die, auf drei Seiten vor Wind und Sonne geschützt, nur dem herrlichsten Seebild und der unvergleichlich wohltätigen Seeluft entgegen, offen war, verbrachte ich drei Monate in schweren körperlichen Leiden, in tiefster Einsamkeit, des Trostes von Schreiben und Lesen beraubt, aber in einer Fülle des Gedankenlebens, die mich beinah schadlos hielt für die übrige Entbehrung.

Es ist ein besonders schöner, malerischer Punkt der italienischen Küste, den man gerade von da übersieht. In einem weit geöffneten Halbkreis zieht sich das Ufer hin und endet an der einen Spitze von den dunklen Bäumen einer Villa Borghese gekrönt, mit dem recht belebten Hafen von Anzio, der mit seinen vielen Masten nicht unpassend in diesem Seebild ist. Auf der anderen Seite bildet ein prächtiges, gut erhaltenes mittelalterliches Castello, das den kleinen Ort Nettuno beschützte, den höchst malerischen Vordergrund. Weiterhin zieht sich das grüne Ufer bis zu der letzten Spitze, die von dem herrlichen Kap der Circe, das in Form, nur noch sphinxähnlicher, Capri gleicht, beendet wird. Bei hellem Wetter sieht man dann in bläulichem Duft die Kette der Monti Ausoni, ein in den schönsten Linien geformter Nebenzweig [530] der Apenninen, der sich zum Meere hinzieht. Vorn aber, halbweg vom Kap Circe und nah dem Ufer, liegt, immer hell von der Sonne beschienen, der alte Turm von Astura, wo einst Konradin, der letzte Sprößling eines der edelsten Geschlechter, die je Throne bestiegen, feindlicher Übermacht unterlag, zum Unheil für Sizilien und das südliche Italien. Denn unter der tyrannischen Herrschaft Karls von Anjou erstarb die Geistesblüte der Regierung Friedrich II., des Bedeutendsten der Hohenstaufen und einer der bedeutendsten Menschen aller Zeiten, und das schöne Inselland fiel nun einer langen Reihe wechselvoller, meist trauriger Geschicke anheim. So spricht auch hier wieder, in dem kleinen weltverlornen Ort, wie überall in Italien, die Weltgeschichte in die vereinsamte Gegenwart hinein und erhöht, mit unzähligen Gedankenreihen, den Zauber der ewig jungen, wunderbaren Natur, die lächelnd auch über die Trümmer großartiger Ereignisse ihre versöhnende Anmut breitet, zum Trost, »daß das Unvergängliche, das ist das ewige Gesetz, danach die Ros' und Lilie blüht«. Über diesen halbkreisförmigen Rahmen des Uferrandes hinaus aber öffnet sich unbegrenzt das weite Meer, und die Horizontlinie von Himmel und Wasser wird nur von Zeit zu Zeit durch ein vorübergehendes großes Schiff unterbrochen. Vorn aber, zwischen den Häfen von Anzio und Nettuno, fahren reizende weiße Barken mit glänzend weißen Segeln, friedlich und lautlos wie weiße Schwäne, hin und her über die blaue, sanft spielende Flut. In den Nachmittagsstunden aber feiert das Meer seine Geburtsstunde; dann tauchen auf der meerüberschwemmten Sandfläche des Ufers noch zwischen den zerbröckelten Felsüberresten, die sie durchschneiden, Hunderte von menschlichen Gestalten auf, meist ohne Badekostüme, denn hier ist nicht, wie in Anzio, eine große elegante Badeanstalt, sondern das wohltätige, stärkende Element gehört allen frei, und das arme Volk von Nettuno versäumt nicht, die Wohltat zu benutzen. Man sieht Frauen mit wenig Monate alten Kindern auf dem Arm, die Kleinen in das stärkende Naß [531] tauchend, was diese, gleich als ob sie, die dem Natürlichen noch so Nahen, instinktiv die Wohltat der Natur empfänden, ohne Widerstand und Geschrei, geschehen lassen. Kleine Geschöpfe von zwei bis drei Jahren springen allein, mit Jubelgeschrei, in das vertraute Element und sind nur mit Mühe wieder davon zu trennen, als ob es ihre eigentliche Heimat wäre. Dieser, die Sommermonate hindurch täglich fortgesetzten Naturheilmethode nach sollte man denken, es müsse hier eine gesunde, kräftige Bevölkerung entstehen, aber ach! unfern vom Meer, landeinwärts, wo hauptsächlich Wein gezogen wird, beginnt, durch die unverzeihliche Schlaffheit der vergangenen Regierungen und die noch strafbarere, egoistische Untätigkeit der Munizipien ungestört, das furchtbare Ungetüm der Malaria sein Zerstörungswerk. Die im Wasser Erstarkten schleichen nun, vom Fieber verzehrt, als verkrüppelte, gespensterartige Skelette, zu der nimmer endenden Fronarbeit für das tägliche Brot. Doch das ist ein schreckliches Kapitel, das eine besondere Bearbeitung erheischt und außerhalb meiner jetzigen Betrachtung liegt.

Ich kehre daher auf meine Loggia zurück, wo ich, mehr und mehr dem bunten Weltgetriebe entfremdet, gleichsam eine große Pforte sich für immer schließen sah, hinter der die lange Vergangenheit mit all ihren Erscheinungen, guten, schönen, sowie trüben und schmerzlichen, versöhnt und in einen großen, verständnisvollen Akkord aufgelöst, zurückblieb. Es begann beinah ein neues Leben, das ich nur das kosmische nennen kann. Im steten Anblick der großen, ruhig wirkenden Elemente, die das kosmische Leben bedingen, schwand mir mehr und mehr das Interesse an den Tätigkeiten der Erscheinungswelt. Auch was man im täglichen Leben groß und bedeutend nennt, erhielt mir eine andere, geringere Bedeutung gegen über dem erhabenen Schauspiel der Urkräfte, die, nach einem ewigen, inneren Gesetz verfahrend, die Organisation des Weltalls ordnen und bestimmen. Diesem ewigen Gesetz, so weit wie möglich, nachzudenken in seinen Wirkungen, wurde meine ausschließliche Beschäftigung. Wir hatten [532] hier einen wundervollen Sommer, drei Monate unausgesetzt mild-schönsten Wetters (während aus dem Norden die entsetzlichsten Klagen kamen) und man konnte mit Ruhe und freudigem Erstaunen die Leben zeugende und erhaltende Arbeit der Sonne, des Lichts, der Wärme, immer dem inneren, darin wirkenden ewigen Gesetz gemäß, fern von jeder scheinbaren Willkür, beobachten und daraus Folgerungen ziehen. Ebenso kam mir, in den zauberhaft schönen Mondnächten, wo die leuchtende Scheibe auf der sanft wallenden Flut eine breite Straße versilberte, der Gedanke wieder, den ich schon vor langen Jahren in England an der Meeresküste gehabt hatte, als ob das Entgegenschwellen der Horizontlinie des Meeres dem Mond zu, das mir ganz sichtbar schien, die erste Form der Liebe in dem elementaren Leben sein müsse, als ob demnach Empfindung schon in den scheinbar unempfindlichen Urstoffen vorhanden sei. Jetzt wurde mir das noch deutlicher, indem ich auch hier wieder das ewig eine, in allem wirkende Urprinzip erkannte, dessen Spur ich nachging und das mich mit immer höherer Ahnung erfüllte. Ich sollte auch noch ein gewaltigeres Schauspiel von den Vorgängen des kosmischen Lebens haben. Bei Annäherung des Herbstes, der sich meist hier im Süden mit einem plötzlichen, gewaltsamen Erscheinen meldet, kam das bisher so sanft bewegte Meer plötzlich in heftigste Aufregung. Die schöne Bläue des Himmels verschwand, Wolkenmassen bedeckten ihn mit früher Nacht; jede Spur von Festland war verloren; der Erdball war noch nicht geboren; es war das Chaos in seiner erhaben furchtbarsten Gestalt. Immer finsterer wurde die Nacht; unten heulte das Wasser; in dem wogenden Wolkenmeer darüber zuckten Blitze, weithin die kämpfenden Elemente beleuchtend; wie glänzende Sonnen standen oft elektrische Entladungen sekundenlang still und schossen feurige Boten durch die ringenden Massen. Ich war auf meiner Loggia wie dahin gezaubert, um dem Werdeprozeß des Daseins zuzusehen. Es war mir in jedem Augenblick, als müsse ich den Ruf hören: »Eswerde!« Aber [533] nicht mehr den willkürlichen Schöpfungsruf eines Einzelwillens, sondern die Stimme des Urprinzips, das mit unveränderlicher Bestimmtheit in allem zugegen ist; unserem beschränkten Fassungsvermögen nur in seinen Wirkungen erkennbar, vor dessen Größe unsere Seele sich aber in tiefster Andacht anbetend niederwirft und selig aufjauchzt, da sie sich sagen darf: es wirkt auch in mir!

Wer diesem Werdeprozeß des kosmischen Lebens nachdenkt, der kann nicht anders als einsehen, daß die bis jetzt uns kund gewordene, höchste Spitze des Ewigen in der Erscheinung der denkende Geist ist, und daß wir daher mit Recht schließen dürfen, daß dieses eine, in allem Wirksame auch hier nur sich selbst offenbart und also Geist ist, in uns freilich nur als ein vereinzelter Strahl leuchtend und daher in seiner ganzen Majestät nur unserer Ahnung erkennbar. Es war natürlich, daß dies allgewaltige Erkennen bei kindlichen Völkern nur in beschränkten Formen auftreten konnte und daß der eben erst erwachende Geist das Übersinnliche nach seinem Bilde gestaltete, nicht umgekehrt. Aber wie es dem Geist, der sich nicht ganz befreit, geht, daß er das Vergängliche, das die wechselnden Erscheinungen des Werdenden sind, für das Unvergängliche nimmt, so kam es, daß Vorstellungen, die nur die jedesmalige Stufe des Erkennens bezeichneten, für ewig gültige Wahrheiten genommen und in mehr oder minder beschränkten Dogmen festgestellt wurden. Dieser Kampf des sich befreienden Geistes mit der Trägheit und mit der Furcht des Verstandes vor den möglichen Konsequenzen ging so weit, das Übersinnliche bis zum vollständigen Materialismus auszubilden, um sich wenigstens der Welt des Greifbaren zu versichern, da die des Ungreifbaren immer mehr in Nebeln verschwand. Dagegen hat sich nun zum Glück der Idealismus, der aus der höchsten Quelle ausströmt, siegend wieder erhoben, und wer, wie ich in diesem Sommer in Nettuno, den seltsamen Vorzug gehabt hat, den Vorgängen des kosmischen Lebens in einer beinah wie systematisch geordneten Folge beizuwohnen, dem muß es deutlich werden, daß das Ewige, [534] Ureine, dem unausgesetzten Drang des Werdens gehorchend, in tausendfältiger Gestalt zutage tritt, 5 und zwar immer in höheren Formen, bis es die Spitze erreicht, die, wie schon gesagt, der denkende Geist ist. Da dieser aber, den Gesetzen der Erscheinungswelt unterworfen, nur individualisiert, nur als einzelner Strahl des ewigen Lichts zutage tritt, so bleibt auch das Erkennen seiner selbst ein unvollkommenes und entwickelt sich erst langsam in Ahnungen und der Wahrheit nahekommenden Dichtungen und dann in der Arbeit bevorzugter Organismen, die mit den immer noch beschränkten Mitteln des Erkennens ein herrliches Zeugnis dafür ablegen, wessen Ursprungs sie sind.

Und all diese Errungenschaften des denkenden Geistes, was sind sie anders als die dringende Mahnung an die Welt der Erscheinung, das in ihr wirkende, ewige Urprinzip mehr und mehr zu erkennen und mehr und mehr zu einer die Vollendung ahnen lassenden Wirklichkeit zu gestalten? Dies also ist mein zweites Lebewohl an die Welt: laß das Göttliche, das Ewige, immer vollendeter in dir zur Erscheinung werden; denn außer dem ist das Dasein nichts wert. Wem es genügt, sich an das Vergängliche zu halten und es für das Unvergängliche zu nehmen, der wird auch dem Lose des Vergänglichen anheimfallen. Aber du, Welt des forschenden Geistes, die in sich selbst den ewigen Ursprung erkennt, wachse, wachse, von innen heraus, den idealen Zielen entgegen, dann sei mein letzter Abschiedsruf an dich: Heil dir, o Welt!

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Mit der tröstenden Gewißheit, eine unumstößliche, ewige Wahrheit aus der Beobachtung kosmischer Vorgänge und der Intuition des forschenden Geistes gewonnen zu haben, verließ ich Nettuno und kehrte nach Rom zurück. Daß das Ewige, Ureine überall, in allen Äußerungen des erscheinenden [535] Daseins wirksam sei, war mir zur vollständigen Gewißheit geworden, aber es in seiner Größe und Herrlichkeit zu erkennen, ist dem einzelnen Strahl, der in uns lebt, versagt. Beschränkte Religionsformen haben immer nur versucht, in irdischer Form, individualisiert, das Unfaßbare, Ureine zu begreifen, deshalb sind sie auch immer wieder zerfallen oder haben, wenn festgehalten, keinen veredelnden Einfluß mehr gehabt. Unsere Beschränkung anerkennen und uns in tiefster Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen, dem göttlichen Geheimnis beugen, das ist das einzige, was uns zu tun bleibt. Und in dieser andachtsvollen, erhobenen Stimmung traf mich, wie eine Versicherung, daß ich recht geahnt, ein Artikel aus der »Review of Reviews«, einer vortrefflichen englischen Veröffentlichung, über einen jetzt in England hochgeschätzten Gelehrten, einen Indier, Dr. Jagadis Chunder Bose, der seine Studien in England gemacht hatte und nach den glänzendsten Erfolgen Professor der Naturwissenschaften an der Universität zu Kalkutta geworden ist. Seine außerordentlichen Entdeckungen führten ihn oft für längere Zeit nach England zurück, wo seine Schriften gedruckt wurden und wo die wissenschaftliche Welt mit dem äußersten Interesse seinen Vorträgen folgte. Seine neueste Entdeckung nun, an deren Veröffentlichung er eben in England tätig ist, gilt der wunderbaren, ihm zur Gewißheit gewordenen Beobachtung, daß auch die bisher tot geglaubten Metalle Empfindung haben, daß sie dem Druck antworten, daß mithin auch in ihnen die große allwaltende Macht, die alles Lebendige durchdringt, wirksam ist. Die Beweisführung für diese nicht nur wissenschaftlich, sondern auch philosophisch so hochwichtige Entdeckung hier zu wiederholen, liegt außerhalb meiner Aufgabe. Ich kann nur von dem reinen Glück sprechen, das ich empfand, als ich von der Vorlesung las, die Dr. Bose eben in der königlichen Akademie der Wissenschaften gehalten hatte und die er mit folgenden Worten schloß:

»Es war dann, als ich das stumme Zeugnis dieser freiwilligen Erwiderungen« (die Erwiderung des Drucks, also [536] der Empfindung im Metall) »entdeckte und in ihnen einen Teil der alles Seiende durchdringenden Einheit erkannte – – – – – – – es war dann, daß ich zum erstenmal ein wenig von der Botschaft verstand, die meine Vorfahren vor dreißig Jahrhunderten an den Ufern des Ganges verkündeten:

Nur die, die in all den wechselnden Erscheinungen des Universums nur das ewig Eine wirksam sehen, nur die kennen die ewige Wahrheit, außer ihnen ist keine, außer ihnen ist keine!«

So war mir das Ergebnis meines Denkens in dem kosmischen Leben, das mich umflutete, durch dasselbe Ergebnis wissenschaftlicher Forschung bestätigt: die Einheit eines, in aller Erscheinung sich offenbarenden, schaffenden Prinzips, das außerhalb unserer Fassungskraft liegt, vor dessen Gewißheit aber nach und nach alle die selbstgeschaffenen Götter und Götzen der suchenden Menschheit in den Staub sinken, während wir es in Andacht fühlen, es lebt auch in uns und unsere Aufgabe ist es, es immer siegender in uns zu enthüllen.

Dies denn ist mein zweiter Abschied von dir, o Welt, möge er mir ein gutes Andenken bei dir sichern!


Rom, Januar 1903.

[537]

Fußnoten

1 Leider nun auch durch Neubauten verdorben. Anm. d. Verf.

2 Damals noch der einzige, heutzutage nicht mehr, leider!

3 Leider ist jetzt, nach sechzehn Jahren, der Touristenschwarm dort auch schon eingekehrt.

4 Reizende kleine von Warsberg erfundene Erzählung, seinem »Ithaka« eingeflochten.

5 In einer früheren Veröffentlichung hatte ich dies die »ewige Werdelust des Seins« genannt, das der, leider zu früh verstorbene Heinrich von Stein ein, einen ganzen Begriff erschöpfendes Wort nannte.


Notes
Erstdruck: Berlin (Schuster & Loeffler) 1898.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Meysenbug, Malwida Freiin von. Der Lebensabend einer Idealistin. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3751-F