Max Havelaar
oder
Die Kaffee-Versteigerungen der Niederländischen Handels-Gesellschaft
(Max Havelaar of de koffijveilingen der Nederlandsche Handelsmaatschappij)

Erstes Kapitel

[13] Erstes Kapitel.

Wir lernen Herrn Batavus Droogstoppel kennen, sowie seine Ansichten über Poesie im allgemeinen und Romanschreiben im besonderen.


Ich bin Makler in Kaffee, und wohne auf der Lauriergracht Nummer 37. Es ist eigentlich nicht mein Fall, Romane zu schreiben oder dergleichen, und es hat auch ziemlich lange gedauert, bis ich mich entschloß, ein paar Ries Papier extra zu bestellen und das Werk anzufangen, das ihr, liebe Leser, soeben zur Hand genommen habt, und das ihr lesen müßt, ob ihr Makler in Kaffee seid, oder ob ihr irgend etwas anderes seid. Nicht allein, daß ich niemals etwas geschrieben habe, was nach einem Roman aussah – nein, ich bin sogar nicht einmal ein Freund davon, solches Zeug zu lesen, denn ich bin ein Geschäftsmann. Seit Jahren frage ich mich, wozu so etwas gut sein kann, und ich stehe verwundert über die Unverschämtheit, mit der die Dichter und Romanerzähler euch allerlei weißmachen dürfen, was niemals geschehen ist, und was überhaupt niemals vorkommen kann. Wenn ich in meinem Fach – ich bin Makler in Kaffee und wohne auf der Lauriergracht Nummer 37 – einem [13] Prinzipal – ein Prinzipal ist jemand, der Kaffee verkauft – eine Deklaration machte, in der nur ein kleiner Teil der Unwahrheiten vorkäme, die in Gedichten und Romanen die Hauptsache sind, er würde zur Stunde sicher Büsselinck & Waterman nehmen. Das sind auch Makler in Kaffee, doch ihre Adresse braucht ihr nicht zu wissen. Ich passe deshalb wohl auf, daß ich keine Romane schreibe oder andere falsche Angaben mache.

Ich habe auch die Erfahrung gemacht, daß Menschen, die sich mit so etwas einlassen, meistenteils schlecht wegkommen. Ich bin dreiundvierzig Jahre alt, seit zwanzig Jahren besuche ich die Börse, und ich kann daher wohl vortreten, wenn man jemand ruft, der Erfahrung hat. Ich habe schon etwas von Häusern fallen sehen! Und meistens, wenn ich der Sache nachging, kam es mir vor, daß der Grund in der verkehrten Richtung lag, die die meisten in ihrer Jugend empfingen.

Ich sage: Wahrheit und gesunder Menschenverstand, und dabei bleib ich. Für die heilige Schrift mache ich natürlich eine Ausnahme. Der Unsinn beginnt schon mit van Alphen, und gleich bei der ersten Zeile über die »lieben Kleinen«. Was Teufel kann den alten Herrn veranlassen, sich für einen Anbeter meiner Schwester Trude auszugeben, die schlimme Augen hatte? Oder meines Bruders Gerrit, der immer die Finger in der Nase hatte? – und doch sagte er: »daß er die Verschen sang, durch Lieb' dazu gedrungen.« Ich dachte mir oft als Kind: »Mann, ich möchte dich gern einmal treffen, und wenn du mir dann die Marmeln abschlägst, um die ich dich bitten will, oder meinen Namen in Zuckergebäck – ich heiße Batavus – dann halte ich dich für einen Lügner.« Aber ich habe van Alphen niemals gesehen. [14] Er war, glaube ich, schon tot, als er uns erzählte, daß mein Vater mein bester Freund wäre, – ich hielt Paulchen Winser mehr dafür, der in unserer Nähe wohnte, in der Batavierstraat; – und daß mein kleiner Hund so dankbar wäre, – wir hielten keine Hunde, weil sie so unreinlich sind.

Alles Schwindel. So geht nun die Erziehung weiter. Das neue Schwesterchen ist von der Gemüsefrau gekommen in einem großen Kohlkopf. Alle Holländer sind tapfer und edelmütig. Die Römer konnten froh sein, daß die Bataver sie leben ließen. Der Bey von Tunis bekam Bauchkneifen, als er das Flattern der niederländischen Flagge hörte. Der Herzog von Alba war ein Untier. Die Ebbe, ich glaube 1672, dauerte etwas länger als sonst, bloß um Niederland zu beschirmen. Lügen. Niederland ist Niederland geblieben, weil unsere Vorfahren sich um ihre Geschäfte kümmerten, und weil sie den rechten Glauben hatten; das ist die Sache.

Und dann kommen wieder andere Lügen. Ein Mädchen ist ein Engel. Nun, wer das zuerst entdeckte, hat niemals Schwestern gehabt. Liebe ist eine Seligkeit; man flüchtet mit dem einen oder anderen Gegenstand bis ans Ende der Welt. Die Welt hat keine Enden, und die Liebe ist auch Dummheit. Kein Mensch kann sagen, daß ich mit meiner Frau nicht gut lebe – sie ist eine Tochter von Last & Co., Makler in Kaffee – kein Mensch kann etwas über unsere Ehe sagen; ich bin Mitglied von Artis, und sie hat ein Umschlagetuch für zweiundneunzig Gulden, aber von so einer verdrehten Liebe, die durchaus am Ende der Welt wohnen will, ist zwischen uns nie die Rede gewesen. Nach unserer Hochzeit haben wir einen Ausflug nach dem Haag gemacht – sie hat da Flanell [15] gekauft – ich trage noch Unterjacken davon – und weiter hat uns die Liebe nicht in der Welt herumgejagt. Also alles Unsinn und Schwindel.

Und sollte meine Ehe nun weniger glücklich sein als die der Menschen, die sich vor Liebe die Schwindsucht an den Hals holten oder die Haare aus dem Kopfe? Oder denkt ihr, daß mein Haus weniger gut geregelt ist, als es wäre, wenn ich vor siebzehn Jahren meinem Mädchen in Versen gesagt hätte, daß ich sie heiraten wollte? Unsinn. Ich hätte es ebenso gut gekonnt wie jeder andere, denn Versemachen ist ein Handwerk, das sicher leichter ist als Elfenbeindrechseln. Wie wären sonst die Pfefferkuchen mit Versen so billig? Und frage einer nach dem Preise eines Satzes Billardbälle!

Gegen Verse an sich habe ich nichts. Will einer die Worte in Reihe und Glied setzen, meinetwegen; aber er soll nichts sagen, was nicht die Wahrheit ist. »Die Luft geht rauh, vier Uhr ist's genau« – das laß ich gelten, wenn es wirklich rauh und vier Uhr genau ist. Aber wenn es nun dreiviertel drei ist, dann kann ich, der seine Worte nicht in Reih und Glied setzt, sagen: »Die Luft geht rauh, und es ist dreiviertel drei.« Der Versemacher dagegen ist durch die Rauheit der ersten Zeile an eine volle Stunde gebunden; es muß genau vier, fünf, zwei, ein Uhr sein, oder die Luft darf nicht rauh sein. Da macht er sich nun ans Pfuschen: entweder muß das Wetter geändert werden oder die Zeit. Eins von beiden ist dann gelogen.

Und nicht bloß die Verse verführen die Jugend zur Unwahrheit. Gele einmal ins Theater und höre zu, was da für Lügen an den Mann gebracht werden. Der Held des Stücks wird aus dem Wasser geholt von einem, der gerade im Begriff steht, Bankerott zu machen. Darauf giebt er ihm sein halbes Vermögen; das kann nicht wahr sein. Wie unlängst auf der Prinzengracht mein Hut ins Wasser flog, hab ich dem Mann, der ihn mir wiederbrachte, ein Dübbeltje gegeben, und er war zufrieden. Ich weiß wohl, daß ich ihm etwas mehr hätte geben müssen, wenn er mich selber herausgeholt [16] hätte, aber mein halbes Vermögen ganz gewiß nicht; – denn das ist klar, daß man auf die Weise bloß zweimal ins Wasser fallen dürfte, um bettelarm zu sein. Was aber das Schlimmste bei solchen Theaterstücken ist: das Publikum gewöhnt sich so an die Unwahrheiten, daß es sie schön findet und Beifall klatscht. Ich hätte wohl Lust, einmal so ein ganzes Parterre ins Wasser zu werfen, um zu sehen, ob der Beifall ernst gemeint war. Ich, der ich die Wahrheit liebe, warne hiermit jedermann, daß ich für das Auffischen meiner Person keinen so hohen Finderlohn bezahlen will. Wer nicht mit weniger zufrieden ist, lasse mich liegen. Höchstens Sonntags würde ich etwas mehr bewilligen, weil ich dann meine goldene Uhrkette trage und einen besseren Rock.

Ja, das Theater verdirbt viele, mehr noch als die Romane. Es ist so anschaulich. Mit ein bißchen Flittergold und einer Umrahmung von ausgeschlagenem Papier macht sich das alles so verführerisch. Für Kinder und Leute, die nicht im Geschäft sind, meine ich. Selbst wenn sie Armut darstellen will, ist die Vorstellung immer lügenhaft. Ein Mädchen, deren Vater bankerott machte, arbeitet, um die Familie zu ernähren; gut. Da sitzt sie nun, zu nähen, zu stricken oder zu sticken. Aber nun zähle einmal einer die Stiche, die sie während der ganzen Handlung macht. Sie schwatzt, sie seufzt, sie läuft ans Fenster, aber arbeiten thut sie nicht. Die Familie, die von der Arbeit leben kann, braucht wenig. So ein Mädchen ist natürlich die Heldin. Sie hat einige Verführer die Treppe hinuntergeworfen; sie ruft fortwährend: »O meine Mutter! o meine Mutter!« und stellt also die Tugend vor. Was ist das für eine Tugend, die zu einem Paar wollener Strümpfe ein Jahr braucht? Giebt das nicht falsche Ideen von Tugend und »Arbeit um das liebe Leben«? Alles Unsinn und Schwindel.

Dann kommt ihr erster Verehrer, der früher Schreiber war am Kopierbuch – jetzt aber steinreich – mit einem Male zurück, und der heiratet sie. Auch wieder Schwindel. Wer Geld hat, heiratet kein Mädchen aus einem bankerotten Hause. Und wenn ihr meint, daß das auf dem Theater hingehen könnte, als Ausnahme, so bleibt doch mein Tadel bestehen, daß man den Sinn für die Wahrheit beim Volke verdirbt, welches die Ausnahme für die Regel nimmt, und daß man die öffentliche Sittlichkeit untergräbt, wenn man das Volk gewöhnt, auf der Bühne etwas zu applaudieren, was im Leben durch jeden verständigen Makler oder Kaufmann für [17] eine lächerliche Verrücktheit gehalten wird. Als ich mich verheiratete, waren wir auf dem Kontor von meinem Schwiegervater – Last & Co. – dreizehn, und es ging etwas vor.

Und noch mehr Lügen auf dem Theater! Wenn der Held mit seinem steifen Kömödienschritt abgeht, um das Vaterland zu retten, wie kommt es, daß dann die doppelte Hinterthür sich immer von selber öffnet?

Und dann – woher weiß eine Person, die in Versen redet, was die andere antworten hat, um ihr den Reim bequem zu machen? Wenn der Feldherr zu der Prinzessin sagt: »Prinzeß, es ist zu spät, verschlossen sind die Thüren!« wie kann er da vorher wissen, daß sie sagen will: »Wohlan denn, unverzagt! laßt uns die Schwerter rühren!« Wenn sie nun einmal, da die Thür zu ist, antwortet, sie werde dann warten, bis wieder aufgemacht wird, oder sie würde ein ander Mal wiederkommen, wo bleibt da Maß und Reim? Ist es also nicht purer Unsinn, wenn der Feldherr die Prinzessin fragend ansieht, um zu wissen, was sie nach Thoresschluß thun will? Noch eins: wenn sie nun gerade Lust hätte, zu Bette zu gehen, anstatt irgend etwas zu rühren? Alles Unsinn!

Und dann die belohnte Tugend? O, o! – ich bin seit siebzehn Jahren Makler n Kaffee – Lauriergracht Nummer 37, – und ich habe also etwas erlebt – das aber kränkt mich immer fürchterlich, wenn ich die gute liebe Wahrheit so verdrehen sehe. Belohnte Tugend – ist das nicht, um aus der Tugend einen Handelsartikel zu machen? Es ist nicht so in der Welt, – und es ist gut, daß es nicht so ist, denn wo bliebe das Verdienst, wenn die Tugend belohnt würde! Wozu also immer die infamen Lügen vorgeschoben?

Da ist zum Beispiel Lukas, der Packknecht, der schon bei dem Vater von Last & Co. gearbeitet hat, – die Firma war damals Last & Meyer, aber die Meyers sind heraus – das war doch wohl ein tugendhafter Mann. Keine Kaffeebohne ging da verloren, er ging gewissenhaft zur Kirche, und trinken that er auch nicht; als mein Schwiegervater zu Driebergen war, bewahrte er das Haus und die Kasse und alles. Einmal hatte er an der Bank siebzehn Gulden zu viel[18] erhalten, und er brachte sie zurück. Er ist nun alt und gichtig und kann nicht mehr dienen. Nun hat er nichts; denn es ist viel Umsatz bei uns, und wir brauchen junge Leute. Nun also, ich halte diesen Lukas für sehr tugendhaft, und wird er nun belohnt? Kommt da ein Prinz, der ihm Diamanten schenkt, oder eine Fee, die ihm Butterbrote schmiert? Wahrhaftig nicht, er ist arm, er bleibt arm, und das muß auch so sein. Ich kann ihm nicht helfen – denn wir brauchen junge Leute, weil viel Umsatz bei uns ist – aber könnte ich auch, wo bleibt da sein Verdienst, wenn er nun auf seine alten Tage ein sorgenloses Leben führen könnte? Dann sollten wohl alle Packknechte tugendhaft werden, und jeder einzelne, – was doch der Zweck nicht sein kann, weil dann für die Braven nachher keine besondere Belohnung übrig bliebe. Aber auf der Bühne verdrehen sie das; – alles Schwindel.

Ich bin auch tugendhaft, aber verlange ich dafür eine Belohnung? Wenn meine Geschäfte gut gehen – und das thun sie – wenn meine Frau und die Kinder gesund sind, sodaß ich keine Schererei habe mit Doktor und Apotheker, – wenn ich jahraus, jahrein ein Sümmchen zurücklegen kann für die alten Tage; – wenn Fritz frisch aufwächst, um später an meine Stelle zu treten, wenn ich nach Driebergen gehe, – dann bin ich zufrieden. Aber das ist alles die natürliche Folge der Umstände, und weil ich auf das Geschäft acht gebe; – für meine Tugend verlange ich nichts.

Und daß ich doch tugendhaft bin, sieht man klar aus meiner Liebe zur Wahrheit; – das ist, nach meiner Festigkeit im Glauben, meine Hauptneigung; und ich wünsche, daß ihr davon überzeugt wäret, Leser, denn es ist die Entschuldigung für das Schreiben dieses Buches.

Eine zweite Neigung, die bei mir ebenso hoch wie die Wahrheitsliebe angeschrieben steht, ist der Herzenszug für mein Fach – ich bin Makler in Kaffee, Lauriergracht Nr. 37. Nun also, Leser, meiner unantastbaren Liebe zur Wahrheit und meinem geschäftlichen Eifer habt ihr es zu danken, daß diese Blätter geschrieben sind. Ich will euch erzählen, wie das gekommen ist. Da ich nun für den Augenblick von euch Abschied nehmen muß – ich muß nach der Börse – so lade ich euch nachher auf ein zweites Kapitel. Auf Wiedersehen also.

Und, na, hier, steckt es ein – es ist eine kleine Mühe – es kann zu paß kommen – sieh da, da ist es – meine Geschäftskarte[19] – die Compagnie bin ich, seit die Meyers heraus sind – der alte Last ist mein Schwiegervater.

Zweites Kapitel

Zweites Kapitel.

Herr Batavus Droogstoppel thut einen großen Schachzug gegen die Konkurrenz. Er trifft einen alten Bekannten, der sich gern in Sachen mischte, die ihn nichts angingen z.B. das Abenteuer mit dem Griechen.


Es war flau auf der Börse, die Frühjahrsversteigerung muß es wieder gutmachen. Denkt nicht, daß bei uns kein Umsatz ist – bei Büsselinck & Waterman ist es noch flauer. Es ist eine sonderbare Welt; man erlebt schon was, wenn man so an zwanzig Jahre die Börse besucht. Denkt euch, daß sie danach getrachtet haben – Büsselinck & Waterman, meine ich – mirLudwig Stern abzunehmen. Da ich nicht weiß, ob ihr an der Börse Bescheid wißt, will ich euch sagen, daß Stern ein erstes Haus in Kaffee ist, inHamburg, welches stets durch Last & Co. bedient worden ist. Ganz zufällig kam ich dahinter – ich meine hinter die Pfuscherei von Büsselinck & Waterman. Sie würden ein Viertel Prozent von der Courtage fallen lassen – Schleicher sind sie, weiter nichts – und nun seht, was ich gethan habe, im diesen Schlag abzuwehren. Ein anderer an meiner Stelle hätte vielleicht an Ludwig Stern geschrieben, daß er auch etwas ablassen wolle, und daß er auf Berücksichtigung hoffe wegen der langjährigen Dienste von Last & Co. (ich habe ausgerechnet, daß die Firma, seit rund fünfzig Jahren, vier Tonnen an Stern [20] verdient hat: die Beziehung datiert von der Kontinentalsperre her, als wir die Kolonialwaren von Helgoland einschmuggelten) und solche Dinge mehr. Nein, schleichen thue ich nicht. Ich bin nach »Polen« gegangen, ließ mir Feder und Papier geben, und schrieb:


»Daß die große Ausbreitung, die unsere Geschäfte in der letzten Zeit genommen haben, besonders durch die vielen geehrten Aufträge aus Norddeutschland« (es ist die reine Wahrheit), »eine Vermehrung des Personals nötig machte;« (es ist die Wahrheit, – gestern noch war der Buchhalter nach elf auf dem Kontor, um seine Brille zu suchen); »daß vor allem sich das Bedürfnis geltend mache nach anständigen, wohlerzogenen jungen Leuten für die Korrespondenz im Deut schen. Daß zwar viele deutsche junge Männer in Amsterdam vorhanden wären, die auch die gewünschten Fähigkeiten besäßen, daß aber ein Haus, das auf sich hält« (es ist die reine Wahrheit), »bei dem zunehmenden Leichtsinn und der Leichtlebigkeit der Jugend, bei dem täglichen Anwachsen der Zahl der Glücksjäger, und mit Rücksicht auf die Notwendigkeit eines soliden Lebenswandels, um Hand in Hand zu gehen mit der Solidität in der Ausführung erteilter Aufträge« (es ist wahrhaftig alles die lautere Wahrheit), »daß solch ein Haus – ich meine Last & Co., Makler in Kaffee, Lauriergracht Nr. 37 – nicht umsichtig genug sein könne beim Engagieren von Personen ...«


Das ist alles die reine Wahrheit, Leser. Weißt du wohl, daß der junge Deutsche, der auf der Börse bei Pfeiler 17 stand, mit der Tochter von Büsselinck & Waterman davongelaufen ist? Unsere Marie wird im September auch bereits dreizehn.


»Daß ich die Ehre gehabt hätte, von Herrn Saffeler« – Saffeler reist für Stern – »zu vernehmen, daß der geschätzte Chef der Firma Stern einen Sohn habe, den Herrn Ernst Stern, der zur Vervollständigung seiner kaufmännischen Kenntnisse einige Zeit in einem holländischen Hause arbeiten möchte.«

»Daß ich mit Rücksicht auf« – (hier wiederholte ich die Sittenlosigkeit und erzählte die Geschichte von Büsselinck & [21] Watermans Tochter; es kann nicht schaden, wenn man das weiß;) »daß ich mit Rücksicht darauf nichts lieber sehen würde, als Herrn Ernst Stern mit der deutschen Korrespondenz unseres Hauses betraut zu sehen.«


Aus Zartgefühl vermied ich alle Anspielung auf Gehalt oder Salair, ich fügte aber bei:


»Daß, falls Herr Ernst Stern mit dem Aufenthalt in unserem Hause – Lauriergracht Nr. 37 – vorlieb nehmen wollte, meine Frau sich bereit erklärte, wie eine Mutter für ihn zu sorgen, und daß seine Wäsche im Hause besorgt werden würde.« (Das ist die reine Wahrheit, denn Marie stopft und strickt ganz nett. Und zum Schlusse:) »Daß bei uns dem Herrn gedient wird.«


Das kann er in seine Tasche stecken, denn die Sterns sind lutherisch.

Und den Brief schickte ich ab. Ihr begreift, daß der alte Stern nicht gut zu Büsselinck & Waterman übergehen kann, wenn der junge bei uns auf dem Kontor ist. Ich bin sehr neugierig auf die Antwort.

Um nun wieder auf mein Buch zurückzukommen. Vor einiger Zeit komme ich des Abends durch die Kalverstraat, und ich blieb vor dem Laden eines Krämers stehen, der sich gerade beschäftigte mit dem Sortieren einer Partie »Java, ordinär, schön, gelb, Sorte Cheribon, etwasgebrochen und Kehricht dabei,« was mich sehr interessierte, denn ich merke auf alles. Da fiel mir auf einmal ein Herr ins Auge, der in der Nähe vor einem Buchladen stand und mir bekannt vorkam. Er schien mich auch zu erkennen, denn unsere Blicke begegneten sich fortwährend. Ich muß bekennen, daß ich zu sehr vertieft war in die Betrachtung des Kehrichts, um sofort zu merken, was ich später sah, daß er nämlich ziemlich ärmlich in den Kleidern stak, sonst hätte ich die Sache laufen gelassen; aber mit einem Male schoß mir der Gedanke durch den Kopf, es könnte ein Reisender eines deutschen Hauses sein, das einen soliden Makler sucht. Er hatte wohl auch etwas von einem Deutschen an sich, und von einem Reisenden auch; er war sehr blond, hatte blaue Augen, und [22] in Haltung und Kleidung etwas, was den Fremden verriet. Anstatt eines gehörigen Winterüberziehers hing ihm eine Art von Shawl über die Schulter, als ob er so von der Reise käme. Ich meinte einen Kunden zu sehen und gab ihm eine Geschäftskarte, Last & Co., Makler in Kaffee,Lauriergracht Nr. 37. Er hielt sie an die Gasflamme und sagte:

»Ich danke Ihnen, aber ich habe mich geirrt; ich dachte das Vergnügen zu haben, einen alten Schulkameraden vor mir zu sehen, indessen ... Last, das ist der Name nicht ...«

»Pardon,« sagte ich, denn ich bin stets höflich, »ich bin Mijnheer Droogstoppel, Batavus Droogstoppel ... Last & Co. ist die Firma, Makler in Kaffee, Lauriergr ...«

»Gut, Droogstoppel, kennst du mich nicht mehr? Sieh mich einmal gut an.«

Je mehr ich ihn ansah, je mehr erinnerte ich mich, ihn öfter gesehen zu haben; aber merkwürdig, sein Gesicht hatte auf mich die Wirkung, als ob ich fremde Parfümerien röche. Lach nicht darüber, Leser, du sollst später sehen, wie das kam. Ich bin sicher, daß er keinen Tropfen Räucherwerk bei sich trug, und doch roch ich etwas Angenehmes, etwas Starkes, etwas, das mich erinnerte an ... da hatte ich's!

»Sind Sie es,« rief ich, »der mich von dem Griechen befreit hat?«

»Natürlich,« sagte er, »und wie geht es Ihnen?«

Ich erzählte ihm, daß wir insgesamt dreizehn auf dem Kontor wären, und daß viel zu thun wäre. Und dann fragte ich ihn, wie es ihm ginge, was mich später reute, denn er schien nicht in guten Verhältnissen zu sein, und ich liebe arme Menschen nicht, weil da gewöhnlich eigene Schuld mit unterläuft, denn der Herr würde nicht jemand verlassen, der ihm treu gedient hätte. Hätte ich einfach gesagt, »wir sind insgesamt dreizehn« und »guten Abend weiterhin,« dann wäre ich ihn los gewesen, aber durch das Fragen und Antworten [23] wurde es je länger je schwerer (Fritz sagt: je länger, desto schwerer, aber das thu ich nicht), je schwerer also, von ihm los zu kommen. Anderseits muß ich auch wieder bekennen, daß ihr dann dieses Buch nicht hättet zu lesen bekommen, denn es ist eine Folge von dieser Begegnung! ... Man muß immer das Gute hervorheben, und wer das nicht thut, das sind unzufriedene Menschen, die ich nicht leiden kann.

Ja, ja, er war es, der mich aus den Händen des Griechen gerettet hatte! Denkt nun nicht, daß ich jemals durch Seeräuber bin gefangen genommen worden, oder daß ich in der Levante Krieg geführt habe. Ich habe euch bereits gesagt, daß ich nach der Hochzeit mit meiner Frau nach dem Haag gefahren bin; da haben wir das Moritz-Haus gesehen und in der Veenestraat Flanell gekauft. Das ist der einzige Ausflug, den meine Geschäfte mir überhaupt gestattet haben, weil bei uns so viel zu thun ist. Nein, in Amsterdam selbst hatte er um meinetwillen einem Griechen die Nase blutig geschlagen, denn er gab sich immer mit Dingen ab, die ihn nichts angingen.

Es war im Jahre drei- oder vierundvierzig, glaube ich, und im September, es war Kirmeß in Amsterdam. Da meine alten Leute vor hatten, aus mir einen Geistlichen zu machen, lernte ich Latein. Später habe ich mich öfter gefragt, warum man eigentlich Lateinisch verstehen muß, um auf Holländisch »Gott ist gut« zu sagen. Genug ich war auf der Lateinschule – jetzt sagen sie Gymnasium – und da war Kirmeß, – in Amsterdam, meine ich. Auf dem Westermarkt standen Buden, [24] und wenn du ein Amsterdamer bist, Leser, und ungefähr von meinem Alter, so wirst du dich erinnern, daß eine darunter war, die sich auszeichnete durch die schwarzen Augen und die langen Flechten eines Mädchens, die als Griechin angezogen war; auch ihr Vater war ein Grieche, oder wenigstens sah er wie ein Grieche aus. Sie verkauften allerlei Räucherkram.

Ich war gerade alt genug, um das Mädchen hübsch zu finden, ohne indessen den Mut zu haben, sie anzusprechen. Das würde mir auch wenig genützt haben, denn Mädchen von achtzehn Jahren betrachten einen sechzehnjährigen Jungen noch als ein Kind, und darin haben sie ganz recht. Trotzdem kamen wir Quartaner jeden Abend auf den Westermarkt, um das Mädchen zu sehen.

Nun war er, der da jetzt vor mir stand mit seinem Shawl, eines Tages dabei, obschon er ein paar Jahre jünger war als wir anderen und darum noch ein bißchen zu kindisch, um nach der Griechin zu gucken. Aber er war der Erste in unserer Klasse – denn gescheit war er, das muß ich zugeben – und spielen, balgen und boxen mochte er gern; daher war er bei uns. Wie wir nun, wir waren im ganzen zehn Mann, hübsch weit von der Bude ab zusammenstanden und nach der Griechin schielten und beratschlagten, wie wir es anlegen sollten, um ihre Bekanntschaft zu ma chen, wurde also beschlossen, Geld zusammenzuthun, um irgend etwas zu kaufen. Aber nun war guter Rat teuer, wer die große Ehre haben sollte, das Mädchen anzureden. Jeder wollte, aber keiner getraute sich. Es wurde gelost, und das Los fiel auf mich. Nun bekenne ich, daß ich nicht gern Gefahren trotze; ich bin Familienvater, und halte jeden, der Gefahren sucht, für einen Narren, wie es auch in der Schrift steht. Es ist mir wirklich angenehm zu erklären, daß ich in meinen Ideen über Gefahr und dergleichen mir gleich geblieben bin, da ich jetzt noch darüber dieselbe Meinung hege, wie jenen Abend, als ich da vor der Bude des Griechen stand, mit den zwölf Stübern, die wir zusammengelegt hatten, in der Hand. Aber aus falscher Scham getraute ich mich nicht zu sagen, daß ich mich nicht getraute, und außerdem, ich mußte wohl vorwärts, denn meine Kameraden drängten mich, und da stand ich nun vor der Bude.

[25] Das Mädchen sah ich nicht, ich sah überhaupt nichts, Alles war mir grün und gelb vor den Augen ... ich stammelte einen Aoristus Primus von ich weiß nicht welchem Zeitwort ...

»Plaît-il?« sagte sie. Ich faßte etwas Mut, und machte weiter:

»Meenin aeide thea,« und »Ägypten wär' ein Geschenk des Nils« ...

Ich bin überzeugt, daß ich mit dem Bekanntschaft machen schon noch vorwärts gekommen wäre, wenn nicht in diesem Augenblick einer meiner Kameraden aus kindischer Bosheit mir einen solchen Stoß in den Rücken gegeben hätte, daß ich recht unsanft gegen den Kasten flog, der in halber Manneshöhe die Vorderseite der Bude abschloß. Ich fühlte einen Griff in meinem Nacken ... einen zweiten Griff etwas tiefer ... ich schwebte einen Augenblick in der Luft ... und ehe ich noch recht begriff, wie die Sachen standen, befand ich mich in der Bude des Griechen, der in verständlichem Französisch sagte, »ich wäre ein Gamin, ein Straßenlümmel, und er würde die Polizei rufen.« Nun war ich zwar in der Nähe des Mädchens, aber gefallen konnte mir das nicht. Ich heulte und bat um Gnade, denn ich hatte schreckliche Angst. Aber es nutzte nichts; der Grieche hielt mich am Arm und schüttelte mich; ich sah mich nach meinen Kameraden um ... wir hatten den Morgen gerade mit Scävola zu thun gehabt, der seine Hand ins Feuer steckte ... und in ihren lateinischen Sätzen hatten sie das so schön gefunden ... jawohl! Keiner war stehen geblieben, um fürmich eine Hand ins Feuer zu stecken ...

So dachte ich. Aber da flog mit einem Male mein Shawlmann durch die Hinterthür in die Bude; er war nicht groß oder stark, und kaum so etwa dreizehn Jahre alt, aber er [26] war ein flinker und tapferer Bursche. Noch sehe ich seine Augen blitzen – sonst blickten sie matt – er gab dem Griechen einen Faustschlag, und ich war gerettet. Später habe ich gehört, daß der Grieche ihn tüchtig verhauen hat; – aber weil ich den festen Grundsatz habe, mich nicht um Dinge zu kümmern, die mich nichts angehen, bin ich schleunigst davongelaufen und habe es also nicht gesehen.

So kam es, daß seine Züge mich so an Räucherwerk erinnerten, und so kann man in Amsterdam mit einem Griechen Streit bekommen.

Wenn bei späteren Jahrmärkten der Mann mit seiner Bude wieder auf dem Westermarkt stand, suchte ich mein Vergnügen immer wo anders.

Da ich ein Freund von philosophischen Betrachtungen bin, so muß ich dir, Leser, doch eben noch sagen, wie wunderbar die Dinge auf dieser Welt doch miteinander verknüpft sind. Wären die Augen des Mädchens weniger schwarz und ihre Zöpfe kürzer gewesen, oder wenn mich keiner gegen den Ladentisch gestoßen hätte, würdest du dieses Buch nicht lesen. Sei also dankbar, daß das so gekommen ist. Glaube mir, alles in der Welt ist gut, wie es ist, und die unzufriedenen Menschen, die fortwährend klagen, sind meine Freunde nicht. Da ist z.B. Büsselinck & Waterman ...; aber ich muß fortfahren, denn mein Buch soll noch vor der Frühjahrsversteigerung fertig sein.

Gerade heraus gesagt – denn ich halte auf Wahrheit – war mir das Wiedersehen mit diesem Menschen nicht angenehm. Ich merkte sofort, daß es keine solide Beziehung war. Er sah sehr blaß aus, und als ich ihn fragte, wie spät es wäre, wußte er es nicht. Das sind Dinge, auf die ein Mensch achtet, der so an zwanzig Jahre die Börse besucht hat, der so viel erlebt hat ... ich habe schon etwas an Häusern sehen fallen.

Ich dachte, er würde rechts gehen, und mußte daher nach links; aber sieh da, er ging auch links, und ich konnte es also nicht vermeiden, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Aber ich dachte stets daran, daß er nicht wußte, wie spät es war, und bemerkte obendrein, daß seine Jacke bis ans Kinn fest zugeknöpft war, was ein sehr schlechtes Zeichen ist, sodaß ich den Ton unserer Unterhaltung kühl bleiben ließ. Er erzählte mir, daß er in Indien gewesen war, daß er verheiratet war, daß er Kinder hatte. Ich hatte nichts dagegen, fand aber auch nichts Merkwürdiges dabei. Beim Kapelsteeg –[27] ich gehe sonst nie durch den Steg, weil es sich für einen anständigen Mann nicht paßt, wie ich finde – aber diesmal wollte ich beim Kapelsteeg rechts abbiegen. Ich wartete, bis wir an dem Gäßchen beinahe vorbei waren, um ihm recht deutlich zu machen, daß sein Weg geradeaus führte, und dann sagte ich sehr höflich – denn höflich bin ich immer, man kann ja gar nicht wissen, wie man später jemand nötig haben kann – :

»Es war mir sehr angenehm, Sie wiederzusehen, Mijnheer ... und ... und, ich empfehle mich, ich muß hier hinein.«

Da sah er mich ganz sonderbar an und seufzte, und faßte mit einem Male einen Knopf meiner Jacke ...

»Lieber Droogstoppel,« sagte er, »ich muß Sie um etwas bitten.«

Mir ging ein Schauder durch die Glieder. Er wußte nicht, wie spät es war, und wollte mich um etwas bitten! Natürlich antwortete ich, daß ich keine Zeit hätte und nach der Börse müßte, obwohl es Abend war: – aber wenn man so zwanzig Jahre die Börse besucht hat ... und jemand will einen um etwas bitten, ohne zu wissen, wie spät es ist ...

Ich machte meinen Knopf los, grüßte sehr höflich – denn höflich bin ich immer – und ging in den Kapelsteeg hinein, was ich sonst nie thue, weil es nicht anständig ist; und Anstand geht mir über alles. Ich hoffe, daß es keiner gesehen hat ...

Drittes Kapitel

Drittes Kapitel.

Der verrückte Brief des Shawlmanns und der Theeabend bei Rosemeyers, die in Zucker machen.


Als ich tags darauf von der Börse nach Hause kam, sagte Fritz, es wäre jemand dagewesen, der mich sprechen wollte. Nach der Beschreibung war es der Shawlmann. Wie er mich nur gefunden hatte? Ach ja, die Geschäftskarte! Ich dachte schon daran, meine Kinder von der Schule zu nehmen; denn es ist unangenehm, wenn einem noch zwanzig, dreißig Jahre später ein Schulkamerad nachläuft, der einen Shawl trägt statt eines Überziehers, und der nicht weiß, wie spät es ist. Auch habe ich Fritz verboten, nach dem Westermarkt zu gehen, wenn Jahrmarkt ist.

Tags darauf kam ein Brief mit einem großen Paket. Ich will euch den Brief lesen lassen:


[28] »Lieber Droogstoppel!«

Ich finde, er hätte wohl »Hochgeehrter Herr Droogstoppel« sagen können, denn ich bin Makler.


»Ich bin gestern bei Ihnen gewesen mit der Absicht, ein Anliegen vorzutragen. Ich glaube, daß Sie in guten Verhältnissen leben ...«


Das ist wahr, wir sind im ganzen dreizehn auf dem Kontor –


»und ich wünschte, mich Ihres Kredits zu bedienen, um eine Angelegenheit zustande zu bringen, die für mich von großer Wichtigkeit ist.«


Hört sich das nicht an, als handelte es sich um einen Auftrag für die Frühjahrsversteigerung?


»Infolge von allerlei Umständen bin ich augenblicklich einigermaßen in Geldverlegenheit ...«

Einigermaßen! Er hatte kein Hemde auf dem Leibe. Das nennt er: einigermaßen!


»ich kann meiner lieben Frau nicht alles geben, was zur Annehmlichkeit des Lebens nötig ist, und auch die Erziehung meiner Kinder ist, aus pekuniären Gesichtspunkten, nicht so wie ich wünschte.«


Annehmlichkeit des Lebens? Erziehung der Kinder? Meint er, daß er für seine Frau eine Loge in der Oper mieten will, und seine Kinder in eine Anstalt nach Genf schicken? Es war Herbst und ziemlich kalt, – er wohnte auf einem Bodengelaß ohne Feuer. Als ich diesen Brief empfing, wußte ich das nicht, aber später bin ich bei ihm gewesen, und noch jetzt bin ich ärgerlich über den tollen Ton seines Geschreibsels. Zum Kuckuck! wer arm ist, kann sagen, daß er arm ist; Arme muß es geben, das ist notwendig in der menschlichen Gesellschaft; wenn er nur kein Almosen verlangt und niemand zur Last fällt, habe ich durchaus nichts dagegen, daß er arm ist; aber die Ziererei dabei paßt mir nicht. Hört weiter:


»Da nun auf mir die Pflicht ruht, für die Bedürfnisse der Meinen zu sorgen, habe ich beschlossen, ein Talent auszunutzen, das, wie ich glaube, mir gegeben ist. Ich bin Dichter ...«


Puh! Du weißt, Leser, wie ich und alle vernünftigen Menschen darüber denken.


»und Schriftsteller. Seit meiner Kindheit drückte ich meine Gefühle in Versen aus, und auch später schrieb ich täglich [29] nieder, was in meiner Seele vorging. Ich glaube, daß darunter einige Arbeiten sind, die Wert haben, und ich suche dafür einen Verleger. Aber das ist nun gerade die Schwierigkeit. Das Publikum kennt mich nicht, und die Verleger beurteilen die Werke mehr nach dem Namen und Ruf des Verfassers als nach dem Inhalt.«


Gerade wie wir den Kaffee nach dem Renommee der Sorten und Marken.


»Wenn ich nun auch annehme, daß mein Werk nicht ohne Wert sein würde, so würde das doch erst nach dem Erscheinen zu Tage treten, und die Buchhändler verlangen die Druckkosten u.s.w. im voraus ...«


Finde ich sehr vernünftig.


»was mir augenblicklich nicht gelegen kommt. Da ich indes überzeugt bin, daß meine Arbeit die Kosten decken würde, und ruhig mein Wort darauf verpfänden kann, bin ich, ermutigt durch unsere Begegnung von vorgestern ...«


Das nennt der ermutigen!


»zu dem Beschluß gekommen, an Sie die Bitte zu richten, ob Sie sich bei einem Buchhändler für die Kosten einer ersten Ausgabe verbürgen würden, und wäre es auch bloß ein kleines Bändchen. Ich überlasse die Auswahl für diesen ersten Versuch ganz Ihnen. In dem beifolgenden Paket finden Sie viele Manuskripte; Sie werden daraus ersehen, daß ich viel gedacht, gearbeitet und erlebt habe ...«


Ich habe nie gehört, daß er ein Geschäft hatte.


»und wenn die Gabe der Darstellung mir nicht ganz und gar versagt ist, soll es gewiß nicht an dem Mangel an Eindrücken liegen, wenn ich nicht Erfolg hätte.

In Erwartung einer freundlichen Antwort bin ich

Ihr alter Schulfreund ...«


Sein Name stand darunter, doch ich will ihn verschweigen, weil ich nicht gern jemand ins Gerede bringe.

Lieber Leser, du begreifst, was für ein Gesicht ich gemacht habe, als man mich so plötzlich zum Makler in Versen erheben wollte. Ich glaubte fest, wenn Shawlmann, – ich will ihn nur weiter so nennen – mich bei Tage gesehen hätte, so wäre er mir mit so etwas nicht gekommen; denn Ehrbarkeit und Würde lassen sich nicht verbergen; aber es war Abend, und ich nehme es ihm deshalb nicht so übel.

Selbstverständlich wollte ich von dem Unsinn nichts wissen. [30] Ich hätte das Paket durch Fritz zurückgeschickt, aber ich wußte seine Wohnung nicht, und er ließ nichts von sich hören. Ich dachte schon, er wäre krank oder gestorben.

Vorige Woche war Gesellschaft bei Rosemeyers – die in Zucker machen. Fritz war das erste Mal mitgegangen. Er ist sechzehn Jahre, und ich bin dafür, daß ein junger Mensch in die Welt kommt, sonst läuft er auf den Westenmarkt oder dergleichen. Die Mädchen hatten Klavier gespielt und gesungen, und beim Nachtisch neckten sie sich mit etwas, das wohl im Vorderzimmer vorgekommen war – während wir hinten beim Whist saßen – etwas, an dem auch Fritz beteiligt war.

»Ja, ja, Luise,« rief Betsy Rosemeyer, »geweint hast du! Papa, Fritz hat Luise zum Weinen gebracht.«

Meine Frau sagte, daß Fritz dann nicht mehr mitgenommen werden sollte; sie dachte, er hätte Luise gekniffen, oder sonst etwas, was sich nicht schickt, und ich wollte gerade auch schon ein Wort dazu geben, als Luise rief:

»Nein, nein! Fritz ist ganz nett gewesen, ich wollte, er thäte es noch einmal.«

»Was denn?«

Er hatte sie nicht gekniffen, er hatte deklamiert, da habt ihr's.

Natürlich hat die Hausfrau es gern, wenn beim Nachtisch eine »Unterhaltung« stattfindet; – das macht sich nett. Mewrouw Rosemeyer – die Rosemeyers lassen sich »Mewrouw« nennen, weil sie in Zucker machen und einen Anteil an einem Schiff haben – Mewrouw Rosemeyer meinte, was Luise zum Weinen gebracht hätte, würde auch uns unterhalten, und verlangte von Fritz, der so rot aussah wie ein Puter, ein Dacapo. Ich hatte keine Ahnung, was er da aufgetragen haben konnte, ich kannte seine Liste aufs Haar. Das war: die »goldene Hochzeit«, die »Bücher des alten Testaments« in Reimen, und ein Stück aus der »Hochzeit des Kamacho«, das [31] die Jungen immer so nett finden, weil da etwas von einer Beschummelei vorkommt. Was darunter eigentlich Thränen entlocken konnte, war mir ein Rätsel; zwar, so ein Mädchen weint ja bald einmal.

»Los, Fritz! ach ja, Fritz! komm, Fritz!« – und Fritz begann.

Ich bin kein Freund davon, des Lesers Neugier in Spannung zu versetzen, und will deshalb gleich sagen, daß sie zu Hause das Paket von Shawlmann aufgemacht hatten, und daraus hatten nun Fritz und Marie eine Naseweisheit und Sentimentalität geschöpft, die mir später viel Wirtschaft ins Haus gebracht haben. Ich will aber auch gleich beifügen, Leser, daß dies Buch auch aus jenem Pakete stammt, und ich werde mich nachher deshalb gebührend verantworten; denn ich halte darauf, daß man mich als einen Mann betrachte, der die Wahrheit liebt und der in seinem Geschäft tüchtig ist. (Last & Co., Makler in Kaffee, Lauriergracht Nr. 37.)

Nun trug Fritz ein Ding vor, das aus lauter Unsinn zusammenhing; nein, es hing überhaupt nicht zusammen. Ein junger Mensch schrieb an seine Mutter, daß er verliebt gewesen war, daß sein Mädchen einen anderen genommen hatte – woran sie meines Erachtens ganz recht that, – daß er aber bei alledem stets seine Mutter liebte. Sind diese drei Sätze deutlich oder nicht? Findet ihr da viele Umstände nötig, um das zu sagen? Nun also, ich habe ein Brötchen mit Käse gegessen, darauf zwei Birnen geschält, und ich war kaum zur Hälfte mit der Bewältigung der zweiten fertig, bevor Fritz seine Geschichte beendet hatte. Aber Luise heulte wieder, und die Damen sagten, es wäre sehr schön. Nun erzählte Fritz, der vermutlich meinte, er hätte ein großes Stück vollführt, daß er es in dem Paket des Mannes, der einen Shawl trug, gefunden hätte; und ich erklärte den Herren, wie das in mein Haus gekommen war; bloß von der Griechin sagte ich nichts, weil Fritz dabei war, und ich sagte auch nichts von dem Kapelsteeg. Jeder fand, daß ich ganz recht gethan hatte, mich von dem Menschen zurückzuhalten. Ihr werdet nachher sehen, daß auch andere Dinge soliderer Natur in dem Paket waren, und davon kommt eins und das andere in dies Buch, weil dieKaffeeversteigerungen [32] der Handelsgesellschaft damit in Beziehung stehen; denn ich lebe für mein Fach.

Später fragte mich der Verleger, ob ich nicht das, was Fritz deklamiert hatte, hier beifügen wollte. Ich will es thun, damit man wisse, daß ich mich mit diesen Dingen nicht aufhalte. Alles Lügen und Unsinn. Ich will nur noch bemerken, daß die Geschichte »18. 3. Padang« geschrieben ist, und daß das eine geringere Sorte ist – der Kaffee, meine ich.


Mutter, ferne von dem Land Steh ich, dem ich einst entsprossen, Wo meine ersten Thränen flossen, Wo mich führte deine Hand, Wo der Mutter Treu' des Knaben Seele ihre Sorgen weihte Und mir liebreich stand zur Seite Stets mit Hand und Herz und Gaben; – Ach! das Schicksal riß die Bande Grausam ab ... so ist der Schein ... Ich steh' hier am fremden Strande Mit mir selbst, und Gott ... allein ... Aber, Mutter! ob mir trübe Sei im Herzen oder licht, Mutter, zweifle an der Liebe, An des Lieblings Herzen nicht!

Wenig Jahre sind entflogen, Seit ich von der Heimat Küste In die fremde Welt gezogen Und mein Blick die Zukunft grüßte; Alles Schöne mir zur Beute Heischte ich mit keckem Ruf, Stolz verschmäht' mein Sinn das Heute, Der mir Paradiese schuf! Durch der Hindernisse Mitten, Die sich boten meinen Schritten, Bahnt' mein Herz mit kühner That Selig träumend sich den Pfad ...

[33] Doch die Zeit, die so geschwind Seit der Trennung hingezogen, Wie der Schatten, den der Wind Vorwärts treibt, im Nu verflogen: Ach, sie ließ im Vorwärtsgehen Tiefe, tiefe Spuren stehen! Freud' und Schmerz hab ich erlitten, Viel gedacht und viel gestritten, Hab' gejauchzt und hab' gebebt, Hab' nach Lebensheil gestrebt, Hab' verloren und gefunden, Und der ich vor kurzer Frist War ein Kind noch, hab' in Stunden Oftmals Jahre durchgelebt ...

Aber, Mutter! glaube immer, Bei dem Himmel, der mich sieht, Glaub' es, Mutter, deinem Kinde: Nein, dein Kind vergaß dich nimmer!

Ich liebt' ein Mädchen. Durch die Liebe Schien die Welt mir schön allein, Sie sollt' mir die Krone sein Meines Kampfs im Weltgetriebe. Thränen netzten mir die Wangen, Wenn ich für den Schatz ihm dankte, Den von des Allmächtigen Huld Ich als Gnade hatt' empfangen. Liebe, Liebe war mein Beten, Wenn im stillen Kämmerlein Meine Seel' zu Gott getreten, Dankt' ich ihm für sie allein!

Liebe bracht' mir Kümmernis, Unrast quälte mir das Herz, Nicht zu tragen war der Schmerz, Der mein weich Gemüt zerriß! Angst und Leid hat mich getroffen, Wo aufs Höchste ging mein Hoffen, – Nach dem Glücke war mein Streben, Gift und Weh ward mir gegeben.

Mein Genuß war leidend Schweigen. Standhaft Hoffen war mein Stern, [34] Unglück ließ den Preis mir steigen. Trug das Leid, für sie, so gern! Aus des Schicksals harten Schlägen Schuf ich eine Freude mir: Alles trug ich ihretwegen, Trennt' das Los mich nicht von ihr.

Und das Bild, das meinem Lieben Als ein unschätzbares Gut Treu bewahrt im Herzen ruht' – Ach, es ist nicht mein geblieben. Und harrt auch die Liebe aus, Bis der letzte Hauch im Leben Wir im bessern Vaterland Endlich sie wird wiedergeben – – Ich hatt' begonnen sie zu lieben!

Was ist Lieb', die einst begann, Gegen jene ew'ge Liebe, Die dem Kinde mit dem Leben Wird zugleich ins Herz gegeben, Wenn es noch nicht stammeln kann? Da es an der Mutter Brust, Kaum dem Mutterschoß entsprossen, Lernt die erste Nahrung saugen, Schauend in der Mutter Augen!

Nein, kein Band, das fester binde, Fester Herzen hält umschlossen, Als das Band, das Gott geschlossen Zwischen Mutterherz und Kinde!

Und ein Herz, das hingegeben So sich hat dem schönen Ziel, Fand es auch in seinem Streben Blumen keine, Dornen viel: Könnt' ein solches Herz indessen Eines Mutterherzens Treue, Könnte es die Frau vergessen, Die die ersten Kinderschreie Sorgenvoll hat angehört, Die mich liebend hat umfangen, Thränen küsste von den Wangen, Mich mit ihrem Blut genährt?

[35] Mutter, Mutter, glaub' es nimmer, – Bei dem Himmel, der mich sieht, Glaub' es Mutter deinem Kinde: Nein, dein Kind vergaß dich nimmer!

Was uns Schönes mag das Leben In der süßen Heimat geben, Alles, alles liegt mir weit – Und der Jugend helle Freuden, Meine Pfade sie vermeiden, Einsam Herz kennt keine Freud'. Steil und dornig sind die Wege, Die ich schreite still einher, Und das Unglück drückt mich schwer. An den Busen der Natur Sucht mein Haupt die milde Pflege: Ob mein Herz wohl mag gefunden, Mögen meine Thränen zeigen, Wie so manche trüben Stunden Mir das Haupt darnieder beugen ...

Sank der Mut mir, oftmals habe In Gedanken ich geklagt: Vater, schenke mir im Grabe, Was das Leben mir versagt! Vater, woll' mir dort bescheren, Drückt der Tod die Augen zu, Wolle dorten mir bescheren, Was ich hier nicht kannte: Ruh'!

Aber wenn ich beten wollte, Stieg die Bitte nicht zum Herrn, Beugt' ich meine Knie nieder, Und ich sprach: Noch nicht, o Herr! Erst gieb mir die Mutter wieder!

Viertes Kapitel

[36] Viertes Kapitel.

Herr Batavus Droogstoppel findet in dem Paket des Shawlmanns allerlei, was für den Kaffeehandel von Belang ist. Er entschließt sich, »sein Buch« zu schreiben, und schließt zu diesem Zwecke mit Stern einen Vertrag. Sein Besuch bei einer unzufriedenen Familie.


Bevor ich fortfahre, muß ich euch mitteilen, daß der junge Stern angekommen ist, ein ganz netter Bursche. Er scheint flott und geschickt; aber ich glaube, er »schwärmt«. Marie ist dreizehn Jahre. Was er mitbringt, ist ganz hübsch. Jetzt ist er am Kopierbuch, um sich im holländischen Stil zu üben. Ich bin begierig, ob nun bald Aufträge von Ludwig Stern kommen werden. Marie soll für ihn ein Paar Pantoffeln sticken – für den jungen Stern, natürlich. Büsselinck & Waterman haben vorbei geangelt – ein anständiger Makler geht nicht auf Schleichwegen, das sage ich.

Den Tag nach der Gesellschaft bei Rosemeyers, die in Zucker machen, rief ich Fritz und ließ mir das Paket von Shawlmann bringen. Du mußt wissen, Leser, daß ich sehr streng auf Religion und Sitte halte. Nun also, den vorigen Abend, wie ich gerade meine erste Birne geschält hatte, las ich im Gesicht von einem der Mädchen, daß da irgend etwas in dem Vers vorkam, was nicht solide war. Ich hatte nicht so genau hingehört; aber ich sah, wie Betsy ihr Brötchen verkrümelte, und das war mir genug. Du wirst sehen, Leser, daß du es mit jemand zu thun hast, der in die Welt paßt. Ich ließ mir also von Fritz das »hübsche Stück« von gestern abend vorlegen und fand auch schnell die Zeile, die Betsys Brot verkrümelt hatte. Es wird da gesprochen von einem Kinde, das an der Mutterbrust liegt – das kann noch durchgehen – aber: »Kaum dem Mutterschoß entsprossen« – sieh, das fand ich nicht gut – darüber zu sprechen, meine ich, und meine Frau auch nicht. Marie ist dreizehn Jahre. Von »Kohlköpfen« und dergleichen wird in unseren Hause nicht gesprochen, aber so das Ding beim Namen nennen, ist auch nicht nötig, weil ich auf Sittlichkeit halte. Ich nahm Fritz, der das Stück nun einmal »auswendig weiß«, wie Stern das nennt, das Versprechen ab, daß er es nicht wieder aufsagen sollte – wenigstens nicht, ehe er Mitglied der »Doktrina« sein würde, weil nämlich da keine jungen Mädchen hinkommen – und dann steckte ich ihn in mein Pult, den Vers meine ich. Aber ich mußte wissen, ob da nicht noch mehr [37] Anstößiges in dem Paket war, und machte mich deshalb ans Lesen und Blättern. Alles konnte ich nicht lesen, denn ich fand Sprachen darin, die ich nicht verstand, und da fiel mein Auge auf ein Heft: »Bericht über die Kaffeekultur in der ResidentschaftMenado.«

Mein Herz schlug lauter, denn ich bin Makler in Kaffee (Lauriergracht Nr. 37), und Menado ist eine gute Sorte. Also dieser Shawlmann, der unsittliche Verse machte, hatte in Kaffee gearbeitet! Ich sah nun das Paket mit ganz anderen Augen an. Ich fand Stücke darin, die ich zwar nicht alle verstand, aber die wirklich Kenntnis von Geschäften verrieten. Da waren Tabellen, Deklarationen, Berechnungen und Ziffern, in denen gar kein Reim vorkam, und alles war mit solcher Sorgfalt und Genauigkeit bearbeitet, daß ich, offen gestanden – denn ich liebe die Wahrheit – auf den Gedanken kam, daß Shawlmann, wenn der dritte Buchhalter einmal abginge – was vorkommen kann, denn er wird alt und wackelig – recht gut dessen Platz würde einnehmen können. Es versteht sich, daß ich dann erst noch über seine Ehrlichkeit, seine Religion und seine Anständigkeit Erkundigungen einziehen müßte, denn ich nehme keinen auf mein Kontor, ehe ich darin sicher bin, das ist mein festes Prinzip. Ihr habt das aus meinem Briefe an Ludwig Stern gesehen.

Ich wollte mir vor Fritz nichts merken lassen, daß ich anfing, dem Inhalt des Pakets Beachtung zu schenken, und schickte ihn deshalb weg. Mir wurde in der That schwindelig, wie ich so ein Heft nach dem anderen in die Hand nahm und die Titel las. Es ist wahr, es waren viel Verse darunter, aber auch viel Nützliches, und ich erstaunte über die Verschiedenartigkeit der behandelten Materien. Ich gebe zu – denn ich liebe die Wahrheit – daß ich, der allzeit Kaffee gehandelt hat, nicht in der Lage bin, den Wert von allem zu beurteilen; aber auch ohne Kritik war die Liste der Aufschriften schon kurios genug. Da ich euch die Geschichte von dem Griechen erzählt habe, wißt ihr, daß ich in meiner Jugend ein bißchen latinisiert worden bin, und wie sehr ich mich auch in der Korrespondenz aller Citate enthalte – was auf einem Maklerkontor auch nicht passen würde – so [38] dachte ich doch, wie ich das alles sah: »De omnibus aliquid, de toto nihil,« oder »Multa non multum.«

Aber das war eigentlich mehr eine kleine Bosheit oder der Trieb, die Gelahrtheit, die da vor mir lag, auf lateinisch anzusprechen, als daß ich es so meinte. Denn, wo ich das eine oder andere Stück etwas länger ansah, mußte ich zugeben, daß der Schreiber mir auf der Höhe seiner Sache zu stehen schien und in seiner Beweisführung sogar sehr solide zu Werke ging.

Ich fand da folgende Abhandlungen und Aufsätze:

Ueber das Sanskrit, als Mutter der germanischen Sprachzweige.

Ueber die Strafen auf Kindesmord.

Ueber den Ursprung des Adels.

Ueber den Unterschied zwischen den Begriffen »Unendliche Zeit« und »Ewigkeit.«

Ueber die Wahrscheinlichkeits-Rechnung.

Ueber das Buch Hiob. (Es war noch etwas über Hiob da, aber das waren Verse.)

Ueber die Proteine in der atmosphärischen Luft.

Ueber die russische Politik.

Ueber die Vokale.

Ueber Zellengefängnisse.

Ueber alte Vorstellungen vom »horror vacui.«

Ueber die wünschenswerte Abschaffung von Strafen für Laster.

Ueber die Ursachen des Aufstands der Niederlande gegen Spanien, welche nicht in dem Streben nach religiöser oder politischer Freiheit lagen.

Ueber das »Perpetuum mobile,« die Quadratur des Kreises und die Wurzel wurzelloser Zahlen.

Ueber die Schwere des Lichts.

Ueber den Rückgang der Civilisation seit der Entstehung des Christentums.

[39] Ueber isländische Mythologie.

Ueber Rousseus »Emil.«

Ueber die Zivilklage in Handelssachen.

Ueber den Sirius als Mittelpunkt eines Sonnensystems.

Ueber eingeführte Rechte als unzweckmäßig, unpassend, ungerechtfertigt und unsittlich. (Davon habe ich nie etwas gehört.)

Ueber Verse als älteste Sprache. (Glaube ich nicht.)

Ueber weiße Ameisen.

Ueber das Widernatürliche von Schuleinrichtungen.

Ueber die Prostitution in der Ehe. (Ein schandbares Stück.)

Ueber das scheinbare Uebergewicht der westlichen Bildung.

Ueber Kataster, Registratur und Stempel.

Ueber Kinderbücher, Fabeln und Sprüche. (Will ich einmal lesen, denn er dringt darin auf Wahrheit.)

Ueber den Zwischenhandel. (Gefällt mir weniger; ich glaube, er will die Makler abschaffen, aber ich habe es mir doch beiseite gelegt, weil eins oder das andere drin vorkommt, das ich in meinem Buche benutzen kann.)

Ueber Erbfolgerecht.

Ueber Keuschheit als Erfindung. (Das begreife ich nicht.)

Ueber Vervielfältigung. (Der Titel ist sehr einfach, es steht aber viel drin, woran ich früher nie gedacht habe.)

Ueber eine gewisse Art von Witz bei den Franzosen, als Folge der Armut ihrer Sprache. (Das lasse ich gelten. Witz und Armut ... er kann es wissen.)

Ueber den Zusammenhang der Romane von August Lafontaine mit der Schwindsucht. (Das will ich einmal lesen, weil von diesem Lafontaine Bücher auf dem Boden liegen; aber er sagt, daß der Einfluß sich erst im zweiten Gliede zeigt – mein Großvater las nicht.)

Ueber die Macht der Engländer außerhalb Europas.

Ueber das Gottesgericht im Mittelalter und heute.

Ueber das Rechnen bei den Römern.

Ueber Poesiearmut bei Komponisten.

Ueber Pietisterei, Biologie und Tischrücken.

Ueber ansteckende Krankheiten.

Ueber den maurischen Baustil.

Ueber die Kraft der Vorurteile, sichtbar an Krankheiten, die durch Zug verursacht sind. (Habe ich nicht gesagt, es ist eine kuriose Liste?)

Ueber die deutsche Einheit.

[40] Ueber die Länge auf See. (Ich denke, auf See wird alles ebenso lang sein wie zu Lande.)

Ueber die Pflichten einer Regierung in betreff öffentlicher Lustbarkeiten.

Ueber die Übereinstimmung des Schottischen und des Friesischen.

Ueber Prosodie.

Ueber die Schönheit der Frauen von Nimes und Arles, mit einem Hinblick auf das Kolonisationsprinzip der Phönizier.

Ueber Landbaukontrakte auf Java.

Ueber das Saugvermögen einer neuen Art von Pumpe.

Ueber die Legitimität von Dynastien.

Ueber Volkslitteratur und javanische Rhapsoden.

Ueber die neue Art, die Segel einzubinden.

Ueber die Durchschlagskraft der Handgranaten. (Der Aufsatz stammt von 1847, also vor Orsini.)

Ueber den Begriff der Ehre.

Ueber die Apokryphen.

Ueber die Gesetze Solons, Lykurgs, Zoroasters und Confucius'.

Ueber die elterliche Gewalt.

Ueber Shakespeare als Geschichtsschreiber.

Ueber die Sklaverei in Europa. (Was er damit meint, verstehe ich nicht.)

Ueber Schrauben-Wassermühlen.

Ueber das fürstliche Recht der Gnade.

Ueber die chemischen Bestandteile des Ceylonschen Zimts.

Ueber die Disciplin auf Kauffahrerschiffen.

Ueber die Opiumpacht auf Java.

Ueber die Bestimmungen betreffend den Handel mit Giften.

Ueber den Durchstich der Landenge von Suez und seine Folgen.

Ueber die Bezahlung von Landrenten in Naturalien.

Ueber die Kaffeekultur zu Menado. (Das habe ich schon genannt.)

Ueber den Zerfall des römischen Reiches.

Ueber die »Gemütlichkeit« der Deutschen.

[41] Ueber die skandinavische Edda.

Ueber die Pflicht Frankreichs, sich im indischen Archipel ein Gegengewicht gegen England zu schaffen. (Dies war französisch, ich weiß nicht warum.)

Ueber Essigfabrikation.

Ueber die Verehrung Schillers und Goethes im deutschen Mittelstand.

Ueber das Recht auf Glück.

Ueber das Recht der Empörung gegen Unterdrückung. (Dies war javanisch, ich habe diesen Titel erst später erfahren.)

Ueber Verantwortlichkeit der Minister.

Ueber einige Punkte im Kriminalprozeß.

Ueber das Recht eines Volkes zu verlangen, daß die Steuern zu seinem Nutzen verwendet werden. (Wieder javanisch.)

Ueber das doppelte A und das griechische Eta.

Ueber den unpersönlichen Gott im Menschenherzen.

Ueber den Stil.

Ueber eine Konstitution für das Reich »Insulinde.« (Habe von diesem Reiche nie gehört.)

Ueber den Mangel von Ephelkystik in unseren Sprachregeln.

Ueber Pedanterei. (Scheint mit viel Sachkenntnis geschrieben.)

Ueber die Verpflichtung Europas gegen die Portugiesen.

Ueber Holzgeläute.

Ueber Brennbarkeit des Wassers. (Wahrscheinlich meint er gebranntes Wasser.)

Ueber den Milchsee. (Ich habe nie davon gehört; scheint irgend etwas in der Nähe von Banda zu sein.)

Ueber Seher und Propheten.

Ueber Elektrizität als Bewegungskraft, ohne weiches Eisen.

Ueber Ebbe und Flut der Civilisation.

Ueber epidemische Verderbnis in Staatshaushaltungen.

Ueber bevorrechtete Handelsgesellschaften. (Hierin kommt einiges vor, was ich für mein Buch brauche.)

Ueber Etymologie als Hilfsquelle bei ethnologischen Arbeiten.

Ueber die Vogelnestklippen an der Südküste Javas.

[42] Ueber die Stelle, wo der Tag beginnt. (Verstehe ich nicht.)

Ueber persönliche Begriffe als Maßstab der Verantwortlichkeit in der sittlichen Welt.

Ueber Galanterie.

Ueber den Versbau der Hebräer.

Ueber das »Jahrhundert der Erfindungen« des Marquis von Worcester.

Ueber die nicht-essende Bevölkerung der Insel Rotti bei Timor. (Es muß da ein billig Leben sein.)

Ueber Menschenfresserei der Batta und Kopfabschneider der Alfuru.

Ueber das Mißtrauen gegen die öffentliche Sittlichkeit. (Er will, glaube ich, die Schlosser abschaffen; ich bin dagegen.)

Ueber »das Recht« und »die Rechte.«

Ueber Béranger als Philosophen. (Das verstehe ich wieder nicht.)

Ueber die Abneigung der Malayen gegen die Javanen.

Ueber den Unwert des Unterrichts auf den sogenannten Hochschulen.

Ueber den lieblosen Geist unserer Vorfahren, sichtbar aus ihren Begriffen von Gott.

Ueber den Zusammenhang der Sinne. (Stimmt; als ich ihn sah, roch ich Rosenöl.)

Ueber die Wurzel des Kaffeebaums. (Habe ich mir für mein Buch beiseite gelegt.)

Ueber Empfindung und Empfindelei.

Ueber die Verwechselung von Mythologie und Religion.

Ueber die Palmensäfte in den Molukken.

Ueber die Zukunft des niederländischen Handels. (Das ist eigentlich das Stück, das mich bewogen hat, mein Buch zu schreiben: er sagt, daß nicht immer solche große Kaffeeauktionen würden abgehalten werden, und ich lebe für mein Fach.)

Ueber Genesis. (Ein infames Stück.)

Ueber die Geheimbünde der Chinesen.

Ueber das Zeichnen als natürliche Schrift.

Ueber Wahrheit in der Poesie. (Sehr richtig!)

Ueber die Unbeliebtheit der Reisschälmühlen auf Java.

Ueber den Zusammenhang zwischen Poesie und Mathematik.

Ueber die Wayangs der Chinesen.

[43] Ueber den Preis des Javakaffees. (Hab' ich zur Seite gelegt.)

Ueber ein europäisches Münzsystem.

Ueber Bewässerung von gemeinsamen Feldern.

Ueber den Einfluß der Rassenvermischung auf den Geist.

Ueber Gleichgewicht im Handel. (Er spricht darin von Wechsel-Agio; ich habe es für mein Buch zurückgelegt.)

Ueber die Beständigkeit asiatischer Sitten. (Er sagt, daß Jesus einen Turban trug.)

Ueber die Malthussche Theorie von der Bevölkerungziffer und den Mitteln zur Ernährung.

Ueber die Urbevölkerung von Amerika.

Ueber die Hafenbehörden zu Batavia, Samarang und Surabaja.

Ueber die Architektur als Ausdruck von Ideen.

Ueber das Verhältnis der europäischen Beamten zu den javanischen Fürsten. (Hiervon kommt einiges in mein Buch.)

Ueber die Kellerwohnungen in Amsterdam.

Ueber die Macht des Irrtums.

Ueber die Thatlosigkeit eines höheren Wesens bei vollkommenen Naturgesetzen.

Ueber das Salzmonopol auf Java.

Ueber die Würmer in der Sagopalme.

Ueber Sprüche, Prediger, Hohes Lied und die Pantuns der Javanen.

Ueber das »Jus primi occupantis.«

Ueber die Armut der Malerei.

Ueber die Unsittlichkeit des Angelns. (Hat man so etwas schon gehört?)

Ueber die Missethaten der Europäer außerhalb Europas.

Ueber die Waffen der schwächeren Tiere.

Ueber das »Jus talionis.«


* * *


Und das war noch nicht alles. Ich fand, von den Versen abgesehen – Verse waren in allen Sprachen da – eine Anzahl Hefte, bei denen die Aufschrift fehlte; – Romanzen auf malayisch, Kriegsgesänge auf javanisch, und was nicht alles! Auch fand ich Briefe, viele davon in Sprachen, die ich nicht [44] verstand. Einige waren an ihn gerichtet, einige von ihm geschrieben, oder besser gesagt: es waren nur Abschriften; doch schien er damit eine Absicht zu haben, denn alles war durch andere Personen als »gleichlautend mit der Urschrift« beglaubigt. Dann fand ich noch Auszüge aus Tagebüchern, Bemerkungen und lose Gedanken, einige wirklich sehr lose!

Ich hatte, wie ich schon sagte, einige Stücke zur Seite gelegt, weil sie mir schienen in mein Fach zu schlagen, und für mein Fach lebe ich; – aber ich muß gestehen, daß ich um den Rest verlegen war. Ihm das Paket zurücksenden konnte ich nicht, denn ich wußte nicht, wo er wohnte. Es war nun einmal geöffnet; ich konnte es nicht leugnen, daß ich es eingesehen hatte, und das würde ich auch nicht gethan haben, weil ich die Wahrheit liebe und erfolglos versucht hatte, es wieder so zuzumachen, wie es gewesen war. Dazu konnte ich mir nicht verhehlen, daß einige Stücke, die über Kaffee handelten, mir Interesse abnötigten, und daß ich gern davon Gebrauch gemacht hätte. Ich las täglich hier und da einige Seiten und kam, je länger, je mehr, zu der Ueberzeugung, daß man Makler in Kaffee sein muß, um zu solcher Kenntnis zu kom men, was in der Welt vorgeht. Ich bin überzeugt, daß die Rosemeyers, die in Zucker machen, so etwas noch nie zu Gesicht bekommen haben.

Nun fürchtete ich, daß der Shawlmann eines Tages wieder vor mir stehen würde, und daß er mir wieder etwas zu sagen hätte. Ich ärgerte mich jetzt, daß ich jenen Abend den Kapelsteeg gegangen war, und ich sah ein, man soll nie den anständigen Weg verlassen. Natürlich hätte er mich um Geld gebeten und von seinem Paket gesprochen. Ich hätte ihm dann vielleicht etwas gegeben, und wenn er mir dann tags darauf den Packen Schreiberei zugeschickt hätte, wäre es mein gesetzliches Eigentum gewesen. Ich hätte dann die Spreu vom Weizen sondern können; ich hätte die Nummern, die ich für mein Buch gebrauchen konnte, herausgesucht, und den Rest verbrannt oder in den Papierkorb geworfen, was ich nun jetzt nicht thun konnte. Denn wenn er wiederkam, hatte ich es ihm zu liefern, und wenn er nun sah, daß ich für ein paar Schriften von ihm Interesse hatte, konnte er nun leicht zu viel dafür fordern. Denn nichts giebt dem Verkäufer mehr Übergewicht als die Entdeckung, daß der Käufer die Ware wünscht oder braucht. So eine Situation wird denn auch durch einen Kaufmann, der sein Fach versteht, nach Möglichkeit vermieden.

[45] Eine andere Idee, ich sprach schon davon, die beweisen möge, wie empfänglich das Besuchen der Börse jemand lassen kann für Eindrücke der Menschenliebe, war diese: Bastiaans, das ist der dritte Buchhalter, der so alt und klapperig wurde, war in der letzten Zeit von den dreißig Tagen sicher keine fünfundzwanzig dagewesen, und wenn er aufs Kontor kommt, macht er seine Arbeit oft genug recht schlecht. Als ehrlicher Mann bin ich der Firma gegenüber – Last & Co., seit die Meyers heraus sind – verpflichtet, dafür zu sorgen, daß jeder seine Arbeit thut. Denn ich mag nicht aus falschverstandenem Mitleid oder Überempfindsamkeit das Geld der Firma wegwerfen. Das ist mein Prinzip. Ich gebe lieber diesem Bastiaans aus meiner eigenen Tasche einen Dreigulden, als daß ich fortfahre, ihm die siebenhundert Gulden jährlich zu bezahlen, die er nicht mehr verdient. Ich habe ausgerechnet, daß dieser Mann, seit vierunddreißig Jahren – sowohl von Last & Co. als früher von Last & Meyer, aber die Meyers sind heraus – ein Einkommen von beinahe fünfzehntausend Gulden gezogen hat, und das ist für einen Bürgersmann ein nettes Sümmchen; es giebt wenig in diesem Stande, die das besitzen. Er hat also kein Recht zu klagen. Ich bin auf die Berechnung gekommen durch das Stück von Shawlmann über die Multiplikation.

Dieser Shawlmann schreibt eine gute Hand, dachte ich, er sah armselig aus, er wußte nicht, wie spät es ist – wie wäre es, dachte ich, wenn ich ihm Bastiaans' Stelle gäbe? Ich würde ihm in dem Falle sagen, daß er zu mir »Mijnheer« sagen müßte: das würde er wohl einsehen; ein Buchhalter kann doch seinen Chef nicht mit Namen anreden, und ihm wäre vielleicht fürs Leben geholfen. Er könnte mit vier- oder fünfhundert Gulden anfangen; Bastiaans hat auch lange gearbeitet, bis er zu siebenhundert aufstieg – und ich hätte eine gute That gethan. Ja, mit dreihundert Gulden hätte er wohl anfangen können; denn da er nie im Geschäft gewesen ist, könnte er die ersten Jahre als Lehrzeit ansehen, was ja auch billig ist, denn er kann sich nicht mit Leuten vergleichen, die schon viel gearbeitet haben. Ich bin sicher, er würde mit zweihundert Gulden zufrieden sein ...

Aber ich war nicht beruhigt über seine Lebensführung ... [46] er hatte einen Shawl um; und schließlich wußte ich auch nicht, wo er wohnte.

Ein paar Tage darauf waren der junge Stern und Fritz zusammen auf einer Bücherauktion im »Wappen von Bern« gewesen. Ich hatte Fritz verboten, etwas zu kaufen; aber Stern, der reichlich Taschengeld hat, kam mit einigen Fetzen nach Haus, das ist seine Sache. Aber sieh da, Fritz erzählte, daß er Shawlmann gesehen hätte, der bei dem Bücherverkauf angestellt schien. Er hatte die Bücher aus den Kisten genommen und sie auf der langen Tafel zu dem Auktionator hingeschoben. Fritz sagte, er sah sehr bleich aus, und ein Herr, der die Aufsicht zu führen schien, hatte ihn gescholten, weil er ein paar Jahrgänge der »Aglaja« hatte fallen lassen. Ich finde das auch sehr ungeschickt, denn es ist eine allerliebste Sammlung von Damen-Handarbeiten; Marie hält es zusammen mit den Rosemeyers, die in Zucker machen; sie häkelt daraus, aus der »Aglaja« meine ich. Aber bei dem Schelten hatte Fritz gehört, daß er fünfzehn Stüber täglich verdiente. »Denken Sie, daß ich Lust habe, fünfzehn Stüber täglich an Sie wegzuwerfen?« hatte der Herr gesagt. Ich rechnete aus, daß fünfzehn Stüber täglich – Sonn- und Festtage werden wohl nicht zählen, sonst hätte er ein Monats- oder Jahresgehalt genannt – zweihundertfünfundzwanzig Gulden aufs Jahr machen. Ich bin schnell in meinen Beschlüssen – wer so lange im Geschäft ist, weiß sofort, was er zu thun hat – und am folgenden Morgen fragte ich beiGaafzuiger an – das ist der Buchhändler, der den Verkauf abgehalten hatte; ich fragte nach dem Mann, der die »Aglaja« hatte fallen lassen.

»Der hat seine Entlassung,« sagte Gaafzuiger, »er war träge, schwerfällig und kränklich.«

Ich kaufte eine Schachtel Mundoblaten und beschloß sofort, es mit Bastiaans noch etwas anzusehen; ich konnte mich nicht dazu entschließen, einen alten Mann so auf die Straße zu setzen. Streng, aber, wo es sein kann, sanft – ist immer mein Prinzip gewesen. Ich versäume indessen nie, mich nach etwas zu erkundigen, was in den Geschäften zu paß kommen kann, und fragte deshalb Gaafzuiger, wo der Shawlmann wohnte. Er gab mir die Adresse, und ich schrieb sie auf.

[47] Ich dachte fortwährend an mein Buch, aber da ich die Wahrheit liebe, muß ich geradeweg sagen, daß ich nicht wußte, wie ich damit zustande kommen sollte. Ein Ding stand fest: die Baustoffe, die ich in Shawlmanns Paket gefunden hatte, waren für Makler in Kaffee von Interesse. Die Frage war indessen, wie ich handeln mußte, um die Baustoffe ordentlich zu schichten und zusammenzubringen. Jeder Makler weiß, wie wesentlich eine gute Sortierung der Haufen ist.

Aber schreiben, abgesehen von der Korrespondenz mit den Prinzipalen, liegt nicht in meiner Thätigkeit, und doch fühlte ich, daß ich schreiben mußte, weil vielleicht die Zukunft der Branche davon abhängt.

Die Aufklärungen, die ich in Shawlmanns Bündel fand, sind nicht von der Art, daß sie Last & Co. für sich allein behalten könnten; wenn das so wäre, begreift jeder, sollte ich wohl nicht ein Buch drucken lassen, das Büsselinck & Waterman auch zu lesen bekommen; denn wer einem Konkurrenten vorwärts hilft, ist ein Narr, das ist ein festes Prinzip von mir. Nein, ich sah ein, daß da eine Gefahr droht, die den ganzen Kaffeemarkt verderben kann; eine Gefahr, die nur durch die vereinten Kräfte aller Makler abgewehrt werden kann. Und es ist sogar möglich, daß diese Kräfte dazu noch gar nicht ausreichen, und daß auch die Zuckerraffinadeure (Fritz sagt Raffineure, aber ich schreibe »nadeure«, das thun die Rosemeyers auch, und die machen in Zucker, – ich weiß wohl, daß man sagt: »ein raffinierter Schurke«, und nicht »ein raffinadierter«, aber das kommt davon, daß man sich bei Schurken, wenn man schon mit ihnen zu thun hat, so wenig wie möglich aufhält) – daß also auch die Raffinadeure und die Indigohändler dabei nötig sein werden.

Wie ich so beim Schreiben nachdenke, kommt es mir so an, daß sogar die Schiffsreedereien einigermaßen davon betroffen werden, und die Kauffahrteiflotte ... gewiß, das ist wahr. Und die Segelmacher auch, und der Finanzminister, und die Armenverwaltung, und die anderen Minister, und die Pastetenbäcker, und die Kurzwarenhändler, und die Frauen, und die Schiffsbaumeister, und die Großhändler, und die im Kleinen verkaufen, und die Hausbewahrer, und die Gärtner.

Und – sonderbar, wie einem so beim Schreiben die Gedanken kommen – mein Buch geht auch die Müller an, und [48] die Geistlichen, und die, die Hollowaypillen verkaufen, und die Schnapsbrenner, und die Ziegelbrenner, und die von der Staatsschuld leben, und die Pumpenmacher, und die Seiler, und die Weber, und die Schlächter, und die Schreiber auf einem Maklerkontor, und die Teilhaber der Niederländischen Handelsgesellschaft, und eigentlich, genau genommen, alle anderen auch ...

Und den König auch ... ja, den König erst recht!

Mein Buch muß in die Welt. Daran ist nichts zu ändern – mögen dann Büsselinck & Waterman es auch zu lesen bekommen ... Mißgunst ist meine Sache nicht; aber Pfuscher und Schleicher sind sie, das sage ich. Ich habe es noch heute dem jungen Stern gesagt, als ich ihn in »Artis« einführte; er kann's seinem Vater schreiben.

So saß ich vor ein paar Tagen wieder da und brütete über meinem Buche, und sieh, Fritz hat mich auf den Weg gebracht. Ich habe es ihm selbst nicht gesagt, denn man muß keinen merken lassen, daß man Verpflichtungen gegen ihn hat, das ist ein Prinzip von mir, aber wahr ist es. Er sagte, daß Stern so ein heller Bursche wäre, daß er so schnelle Fortschritte im Holländischen mache, und daß er deutsche Verse von Shawlmann ins Holländische übersetzt habe. Ihr seht, es war verkehrte Welt in meinem Hause: der Holländer hatte deutsch geschrieben, und der Deutsche übersetzt es ins Holländische; hätte sich jeder bei seiner Sprache gehalten, wäre Arbeit gespart worden. Aber, dachte ich, wenn ich nun mein Buch durch diesen Stern schreiben ließe! – wenn ich etwas hinzuzufügen habe, schreibe ich selber von Zeit zu Zeit ein Kapitel. Fritz kann auch helfen; er hat eine Liste von Wörtern, die mit zwei e geschrieben werden, und Marie kann es ins Reine schreiben. Da hat der Leser gleich eine [49] Gewähr gegen alle Unsittlichkeit, denn das versteht sich doch, daß ein anständiger Makler seiner Tochter nichts in die Hände geben wird, was nicht mit Sitte und Anstand zusammenstimmt.

Ich habe dann mit den beiden Jungen über meinen Plan gesprochen, und sie fanden ihn gut. Nur schien Stern, der, wie alle Deutschen, einen Stich ins Litterarische an sich hat, in der Art und Weise der Ausführung eine Stimme zu verlangen. Das gefiel mir nun nicht, aber weil die Frühjahrsversteigerung noch bevorsteht und ich von Ludwig Stern noch keine Aufträge habe, wollte ich im nicht zu stark widersprechen. Er sagte: »wenn die Brust ihm glühe für das Wahre und Schöne, solle keine Macht der Welt ihn hindern,die Töne anzuschlagen, die mit solch einem Gefühl übereinstimmten, und er wolle lieber schweigen, als seine Worte umklammert zu sehen von den entehrenden Fesseln der Alltäglichkeit.« Ich fand das ganz verrückt von Stern, aber mein Fach geht mir über alles, und der Alte ist ein gutes Haus.


Wir setzten also fest:

1. daß er alle Woche ein paar Kapitel für mein Buch liefern sollte;

2. daß ich in seinem Geschreibe nichts ändern sollte;

3. daß Fritz die Sprachfehler verbessern sollte;

4. daß ich das Recht haben sollte, von Zeit zu Zeit ein Kapitel zu schreiben, um dem Buche einen soliden Charakter zu geben;

5. daß der Titel sein sollte: Die Kaffeever steigerungen der Niederländi schen Handelsgesellschaft;

6. daß Marie eine saubere Abschrift machen sollte vor der Drucklegung; daß man aber mit ihr Geduld haben sollte, wenn die Wäsche käme;

7. daß die fertiggearbeiteten Kapitel alle Woche in der Gesellschaft vorgelesen werden sollten;

8. daß alle Unsittlichkeit vermieden werden sollte;

9. daß mein Name nicht auf dem Titel stehen sollte, weil ich Makler bin;

10. daß Stern eine deutsche, eine französi sche und eine englische Übersetzung sollte herausgeben dürfen, weil man, wie er behauptet, sich im Auslande auf solche Werke besser verstände als bei uns;

11. daß ich (darauf drang Stern sehr stark) Shawlmann ein Ries Papier, ein Groß Federn und eine Kruke Tinte schicken sollte.


[50] Ich ließ mir alles gefallen, denn es war Eile nötig Stern hatte den folgenden Tag sein erstes Kapitel fertig, – und so kommt es, lieber Leser, daß ein Makler in Kaffee (Lauriergracht Nr. 37) ein Buch schreibt, das wie ein Roman aussieht.

Kaum aber hatte Stern seine Arbeiten angefangen, da stieß er auch schon auf Schwierigkeiten. Außer der Schwierigkeit, aus so vielen Baustoffen das Nötige auszusuchen und zu ordnen, kamen fortgesetzt in den Manuskripten Wörter und Ausdrücke vor, die er nicht verstand, und die auch mir fremd waren. Meist war es javanisch oder malayisch; auch waren hie und da Abkürzungen angebracht, die schwer zu entziffern waren. Ich sah ein, daß wir Shawlmann brauchten, und da ich es nicht gut finde, wenn ein junger Mensch verkehrte Beziehungen anknüpft, wollte ich weder Stern noch Fritz hinschicken. Ich nahm etwas Zuckerzeug mit, was vom letzten Gesellschaftsabend übrig geblieben war, denn ich denke immer an alles, und suchte ihn auf. Blendend war seine Behausung nicht; aber die Gleichheit aller Menschen, was auch ihre Wohnung angeht, ist ein Hirngespinst. Er hat das selbst gesagt in seiner Abhandlung über das Recht auf Glück. Übrigens, ich liebe Menschen nicht, die immer unzufrieden sind.

Es war in einem Hinterzimmer in der Lange-leidschen Querstraße. Im unteren Stock wohnte ein Trödler, der allerlei Dinge verkaufte, Tassen, Schüsseln, Möbel, alte Bücher, Glassachen, Bilder von van Speijk und dergleichen. Ich hatte Furcht, etwas zu zerbrechen, denn in solchem Falle fordern die Menschen immer mehr Geld für das Zeug, als es wert ist. Ein kleines Mädchen saß auf der Schwelle und kleidete ihre Puppe an. Ich fragte, ob Herr Shawlmann da wohne; sie lief davon, und die Mutter kam hervor.

»Ja, der wohnt hier, M'neer. Gehn Se man die Treppe ruf nach's erste Portal, un denn die Treppe nach's zweete Portal, un denn noch 'ne Treppe, denn sin Se da. Mijntje, geh, sag', es ist 'n Herr da. Wer soll se sagen, daß da is?«

Ich sagte, daß ich Mijnheer Droogstoppel wäre, Makler in Kaffee, von der Lauriergracht, aber ich wollte mich schon [51] selbst anmelden. Ich kletterte so hoch, als sie gesagt hatte, und hörte auf dem dritten Flur eine Kinderstimme singen: »Bald kommt der Vater, der süße Papa.« Ich klopfte, und die Thür wurde geöffnet durch eine Frau oder Dame – ich wußte selbst nicht recht, was ich aus ihr machen sollte. Sie sah sehr bleich aus, und ihre Züge trugen Spuren von Übermüdung: ich mußte an meine Frau denken, wenn sie die Wäsche hinter sich hat. Sie hatte ein weißes langes Hemd oder Jacke ohne Schoß an, die ihr bis an die Knie reichte und vorn mit einer schwarzen Nadel festgemacht war. Anstatt eines anständigen Rocks oder Kleides trug sie darunter ein Stück dunkler geblümter Leinwand, das einigemal um den Leib gewickelt schien und ihre Hüften und Knie ziemlich eng umschloß. Da war keine Spur von Falten, Weite oder Umfang, wie sich das bei einer Frau doch gehört. Ich war froh, daß ich Fritz nicht geschickt hatte; denn ihre Kleidung kam mir sehr ungeziemend vor, und ihre Fremdartigkeit wurde noch erhöht durch die Ungezwungenheit, mit der sie sich bewegte, als fühlte sie sich so ganz in Ordnung. Sie schien durchaus nicht zu wissen, daß sie anders aussah als andere Frauen; – auch hatte ich das Gefühl, als wäre sie durch mein Kommen gar nicht in Verlegenheit gesetzt; sie versteckte nichts unter dem Tisch, schob nicht mit den Stühlen, kurz, sie that nichts, was doch die Sitte ist, wenn ein Fremder von einem würdigen Aussehen kommt.

Sie hatte das Haar wie eine Chinesin nach hinten gekämmt und dort in einer Art von Schleife oder Knoten zusammengebunden. Später habe ich erfahren, daß ihre Kleidung eine Art von »indischer Tracht« war, die sie da zu Lande Sarong und Kabai nennen, aber ich fand es sehr häßlich.

»Sind Sie Jüffrouw Shawlmann?« fragte ich.

»Wen habe ich die Ehre zu sprechen?« sagte sie, und zwar mit einem Ton, als ob ich wohl auch etwas von »Ehre« in meine Frage hätte bringen können.

Nun, ich bin kein Freund von Komplimenten. Mit einem Prinzipal ist das etwas anderes, und ich bin schon zu lange beim Geschäft, um meine Welt nicht zu kennen, aber da viel Umstände zu machen im dritten Stockwerk, fand ich nicht nötig. Ich sagte also kurzweg, »daß ich Mijnheer Droogstoppel [52] wäre, Makler in Kaffee, Lauriergracht Nr. 37, und daß ich ihren Mann sprechen wollte.«

Sie wies auf einen Mattenstuhl und nahm ein kleines Mädchen, das auf dem Fußboden spielte, zu sich auf den Schoß. Der kleine Junge, den ich hatte singen hören, sah mich an und beguckte mich von Kopf zu Fuß. Der schien auch nicht verlegen. Es war ein Knäbchen von etwa sechs Jahren, auch ziemlich auffallend gekleidet; sein weites Höschen reichte mit knapper Not bis zur Hälfte des Schenkels, und von da waren die Beinchen nackt bis an die Knöchel. Sehr indecent, finde ich.

»Kommst du, um Papa zu sprechen?« fragte er mich plötzlich, und ich merkte sofort, daß die Erziehung des Bürschchens zu wünschen übrig ließ, sonst hätte er »Kommen Sie« gesagt. Aber weil ich mit meiner Haltung etwas verlegen war, und gern etwas sagen wollte, antwortete ich:

»Ja, Kerlchen, ich komme, um deinen Papa zu sprechen; was meinst du? wird er bald kommen?«

»Das weiß ich nicht. Er ist ausgegangen, um Geld zu suchen und mir einen Tuschkasten zu kaufen.«

»Still, mein Junge,« sagte die Frau, »spiel mit deinen Bildern oder mit der chinesischen Spieldose.«

»Du weißt doch, daß der Herr gestern alles mitgenommen hat.«

Auch seine Mutter nannte er »du,« und es war ein Herr dagewesen, der alles mitgenommen hatte, ein fröhlicher Besuch! Die Frau schien auch nicht aufgeräumt, sie wischte sich verstohlen über die Augen, als sie das kleine Mädchen zu ihrem Brüderchen brachte.

»Da,« sagte sie, »spiel ein bißchen mit Nonnie.«

Ein komischer Name. Und das that er denn.

»Nun, Jüffrouw,« fragte ich, »erwarten Sie Ihren Mann bald?«

»Ich kann nichts Bestimmtes sagen,« antwortete sie.

Da ließ mit einem Male der kleine Junge, der mit seinem Schwesterchen »Kahnfahren« gespielt hatte, diese im Stich und fragte mich:

»Mijnheer, warum sagst du zu Mama Jüffrouw?«

[53] »Wie soll ich denn sagen, Kerlchen?« fragte ich.

»Nun – so wie andere Menschen sagen – Jüffrouw ist die Frau unten, die Schüsseln verkauft.«

Nun bin ich Makler in Kaffee, Last & Co., Lauriergracht Nr. 37. Wir sind im ganzen dreizehn auf dem Kontor, und wenn ihr Stern, der kein Gehalt bezieht, mitrechnet, sind es gar vierzehn. Nun also, meine Frau ist »Jüffrouw,« und sollte ich nun zu diesem Weibe »Mewrouw« sagen? Das ging doch nicht. Jeder muß in seinem Stand bleiben ... und was noch mehr ist, gestern hatten ihr die Gerichtsvollzieher den ganzen Kram abgeholt ... ich fand »Jüffrouw« daher ganz am Platze, und ich blieb dabei.

Ich fragte, warum Shawlmann sich bei mir nicht gemeldet hätte, um sein Paket zu holen? Sie schien davon zu wissen, und sagte, »sie wären auf der Reise gewesen, in Brüssel, und dort habe er für die ›Indépendance‹ gearbeitet, aber er habe nicht da bleiben gekonnt, weil seine Artikel die Ursache waren, daß das Blatt so oft an der französischen Grenze zurückgewiesen wurde; seit einigen Tagen wären sie wieder in Amsterdam, weil Shawlmann hier eine Beschäftigung bekommen sollte ...«

»Das war gewiß bei Gaafzuiger?« fragte ich.

»Ja, das war es; aber das ist mißglückt,« sagte sie.

Ich wußte davon mehr als sie. Er hatte die Aglaja fallen lassen, und er war außerdem träge, schwerfällig und kränklich ... deshalb war er weggejagt.

»Und,« fuhr sie fort, »er würde sicher dieser Tage zu mir kommen, vielleicht wäre er schon zu mir unterwegs, um sich die Antwort auf sein Anliegen zu holen.«

Ich sagte, Shawlmann möge nur kommen; aber er solle nicht klingeln, weil das für das Mädchen lästig ist; wenn er wartete, sagte ich, würde sich die Thür wohl einmal öffnen, wenn jemand heraus müßte.

Und dann ging ich hin und nahm mein Zuckerbrot wieder mit; denn kurz gesprochen, es gefiel mir da nicht. Ich fühlte mich nicht gemütlich. Ein Makler ist doch kein Arbeitsmann, und ich denke, daß ich anständig aussehe; ich hatte meine Jacke mit Pelzwerk an, und doch saß sie so gleichgültig da und schwatzte so ruhig mit ihren Kindern, als ob sie allein wäre. Auch schien sie geweint zu haben, und unzufriedene[54] Menschen kann ich nicht vertragen. Dann war es kalt und unfreundlich, natürlich, weil die ganze Wirtschaft weggeholt war, und ich bin für freundliches Aussehen in der Wohnung.

Unterwegs beschloß ich, es mit Bastiaans noch etwas anzusehen, denn ich mag nicht gern jemand auf die Straße setzen.

Jetzt folgt die erste Woche von Stern. Es versteht sich von selber, daß viel drin vorkommt, was mir nicht gefällt; aber ich muß mich an Artikel zwei halten, und die Rosemeyers haben es gut gefunden, – aber ich glaube, daß sie nach Stern angeln, weil er in Hamburg einen Onkel hat, der in Zucker macht.

Shawlmann war in der That dagewesen; er hatte Stern gesprochen und diesem einige Worte und Dinge ausgelegt, die er nicht verstand – die Stern nicht verstand, meine ich. Ich lade nun die Leser ein, sich durch die folgenden Kapitel durchzubeißen; dann verspreche ich später wieder etwas soliderer Natur vonmir, Batavus Droogstoppel, Makler in Kaffee (Firma Last & Co., Lauriergracht Nr. 37).

Fünftes Kapitel

Fünftes Kapitel.

Stern beginnt seine Erzählung. Von Türmen, vom Adel, von Residenten, Adsistent-Residenten, Regenten und Regierten auf Java.


Eines Morgens um zehn Uhr herrschte auf dem großen Weg, der den Bezirk Pandeglang mitLebak verbindet, eine ungewöhnliche Bewegung.

»Großer Weg« ist ein bißchen viel gesagt für den breiten Fußpfad, den man aus Höflichkeit und in Ermangelung eines besseren den »Weg« nannte; aber wenn man mit einem vierspännigen Wagen von Serang, dem Hauptorte [55] von Bantam, wegfuhr, mit der Absicht, sich nach Rangkas-Betung, dem neuen Hauptort des Lebakschen, zu begeben, konnte man einigermaßen darauf rechnen, nach einiger Zeit dort anzukommen. Es war also ein Weg. Man blieb zwar fortwährend in dem Sumpfboden stecken, der in den Bantamschen Tiefländereien schwer, lehmig und kleberig ist, man sah sich zwar öfters genötigt, die Bewohner der in der Nähe gelegenen Dörfer zu Hilfe zu rufen – auch waren sie oftmals nicht in der Nähe, denn die Dörfer sind in der Gegend nicht sehr zahlreich – aber wenn man es dann geschafft hatte, so zwanzig Landbewohner aus der Umgegend zusammen zu bringen, dauerte es gewöhnlich nicht mehr lange, bis man Pferde und Wagen wieder auf festen Grund gebracht hatte. Der Kutscher klatschte mit der Peitsche, die Läufer – in Europa würde man sie, glaube ich, Palefreniers nennen, oder besser gesagt, in Europa giebt es nichts, was sich mit diesen Läufern vergleichen ließe – diese unvergleichlichen Läufer also, mit ihren kurzen dicken Peitschen, sprangen wieder an der Seite des Viergespanns einher, kreischten wieder unbeschreibliche Töne und schlugen den Pferden zur Ermutigung unter den Bauch. So ratterte man denn einige Zeit weiter, bis der ärgerliche Augenblick wieder da war, daß man bis über die Achsen in den Modder versank. Dann begann das Hilferufen aufs neue – man wartete, bis die Hilfe kam, man jockelte weiter.

Oftmals, wenn ich diesen Weg entlang ging, war mir, als müßte ich da einen Wagen mit Reisenden aus dem vorigen Jahrhundert finden, der in den Sumpf gesunken und vergessen worden war. Aber das ist mir doch niemals passiert. Ich nehme daher an, daß alle, die diesen Weg jemals gefahren sind, endlich dahin gelangt sein müssen, wohin sie wollten.

Man würde sich sehr täuschen, wenn man sich von dem ganzen großen Weg auf Java nach dem Maßstabe dieses Weges ins Lebaksche eine Vorstellung machen würde. Die eigentliche Heerstraße mit ihren vielen Seitenzweigen, die der Marschall Daendels mit großer Aufopferung von Menschen [56] herstellen ließ, ist in der That ein prächtiges Stück Arbeit, und man staunt über die Geisteskraft dieses Mannes, der, ungeachtet aller Schwierigkeiten, die seine Neider und Widersacher im Mutterlande ihm in den Weg legten, dem Unwillen der Bevölkerung und dem Mißvergnügen der Stammeshäupter zu trotzen wagte, um etwas zustande zu bringen, was heute noch die Bewunderung jedes Besuchers hervorruft und verdient.

Keine Pferdepost in Europa, auch nicht in England, Rußland oder Ungarn, kann mit der auf Java in Vergleich gestellt werden. Über hohe Bergrücken, an Abgründen, die dich grausen machen, fliegt der schwerbepackte Reisewagen in einem Galopp dahin. Der Kutscher sitzt auf dem Bock wie angenagelt, Stunden, ja ganze Tage hintereinander, und schwingt die schwere Peitsche mit eisernem Arm. Er weiß genau zu berechnen, wie stark er die scheuenden Pferde halten muß, um nach fliegender Thalfahrt, von einem Bergesabhang herab, dort an jener Ecke ...

»Mein Gott, der Weg ist ... wir stürzen in den Abgrund,« schreit der unerfahrene Reisende, »da ist kein Weg ... da ist die Tiefe!«

Ja, so scheint es. Der Weg biegt sich, und gerade, wie ein Galoppsprung mehr das Vorspann den festen Grund und Boten soll verlieren lassen, wenden sich die Pferde und schleudern den Wagen um die Kante herum. Sie fliegen die Höhe hinauf, die du einen Augenblick zuvor nicht gesehen hast, ... und der Abgrund liegt hinter dir.

Es kommt vor, daß der Wagen allein auf den Rädern der Innenseite des Bogens ruht, den du beschreibst: die Centrifugalkraft hat die äußeren Räder vom Grunde emporgehoben. Es gehört Kaltblütigkeit dazu, die Augen nicht zu schließen, – und wer zum erstenmal auf Java reist, schreibt gewöhnlich an seine Familie, daß er in Lebensgefahr geschwebt hat: aber wer daheim davon hört, lacht darüber.

Leser, ich beabsichtige nicht, vor allem nicht zu Anfang meiner Erzählung, dich lange mit Beschreibungen von Orten, Landschaften und Gebäuden aufzuhalten. Ich würde fürchten müssen, dich durch etwas abzuschrecken, was nach Langeweile schmeckt: und erst später, wenn ich merke, daß du für mich gewonnen bist, wenn ich in Blick und Haltung sehe, das Los der Heldin, die irgendwo aus dem vierten Stockwerk springt, hat deine Teilnahme, – dann lasse ich sie, mit stolzer Verachtung aller Gesetze der Schwerkraft, zwischen Himmel und [57] Erde schweben, bis ich meinem Herzen Luft gemacht habe durch genaue Schilderung der Schönheiten der Landschaft oder des Gebäudes, das da eigens hingestellt zu sein scheint, um zu einer vielseitenlangen Abschweifung über mittelalterliche Baukunst Anlaß zu geben. Alle diese Burgen gleichen einander. Unabänderlich sind sie von verschiedenartiger Bauordnung; das Hauptgebäude datiert stets um einige Generationen früher als die Seitenflügel, die unter diesem oder jenem späteren König angeklebt sind. Die Türme sind in verfallenem Zustand ...

Leser, es giebt keine Türme. Ein Turm ist eine Phantasie, ein Traum, ein Ideal. Es giebt »halbe Türme,« und »Türmchen.«

Die Schwärmerei, die da meinte, Türme auf die Gebäude setzen zu müssen, die zur Ehre dieses oder jenes Heiligen errichtet wurden, dauerte nicht lange genug, um sie zu vollenden, und die Spitze, die die Gläubigen gen Himmel weisen soll, ruht gewöhnlich, ein paar Stockwerk zu tief, auf der massiven Basis, was an den »Mann ohne Schenkel« auf der Kirmeß erinnert. Nur Türmchen, kleine Nadelchen auf den Dorfkirchen, sind fertig geworden.

Es ist für die westliche Kultur nicht schmeichelhaft, daß die Phantasie, ein großes Werk zustande zu bringen, selten standhalten konnte, um das Werk vollendet zu sehen. Ich spreche nicht von Unternehmungen, deren Fertigstellung nötig war, um die Kosten zu decken. Wer genau wissen will, was ich meine, sehe sich den Dom zu Köln an. Er gebe sich Rechenschaft von der großartigsten Idee in der Seele des Baumeisters, – von dem Glauben im Herzen des Volkes, das ihn instandsetzte, das Werk anzufangen und fortzusetzen, – von der Gewalt der Gedanken, die solch einen Koloß nötig hatten, um als sichtbarer Ausdruck des unsichtbaren religiösen Gefühls zu dienen, – und er vergleiche diese Schwärmerei mit der Richtung, die einige Jahrhunderte später den Augenblick gebar, da man das Werk unterbrach.

Eine tiefe Kluft liegt zwischen Erwin von Steinbach und unseren Baumeistern. Ich weiß, daß man seit Jahren bemüht ist, den Spalt auszufüllen; – auch zu Köln baut man wieder an dem Dom. Aber wird man den abgerissenen Draht weiter führen können? Wird man in unseren Tagen [58] wieder finden, was damals die Stärke von Kirchenvogt und Bauherrn ausmachte? Ich glaube nicht. Geld kann man geben; dafür ist Stein und Kalk feil; man kann den Künstler bezahlen, der einen Plan entwirft, den Steinmetzen, der den Stein legt ... aber nicht für Geld feil ist das wunderliche und doch ehrwürdige Gefühl, das in einem Bauentwurf ein Gedicht sah: ein Gedicht von Granit, das laut zum Volke sprach, ein Gedicht von Marmor, das dastand als ein unbeweglich, dauernd, ewig Gebet.


* * *


Auf der Grenze also zwischen Lebak und Pan deglang war an jenem Morgen eine ungewöhnliche Bewegung. Hunderte von gesattelten Pferden bedeckten den Weg, und mindestens tausend Menschen, was für diesen Fleck viel war, liefen in betriebsamer Erwartung hin und her. Da sah man die Dorfhäupter und die Distriktsoberhäupter aus dem Lebakschen alle mit ihrem Gefolge, und nach dem schönen Araber-Bastard zu urteilen, der in seinem reichen Geschirr auf der silbernen Trense nagte, war auch ein Haupt von höherem Range anwesend. So war es wirklich. DerRegent von Lebak, Radhen Adhipatti Karta Natta Negara, hatte mit großem Gefolge Rangkas-Betung verlassen, um trotz seines hohen Alters die zwölf oder vierzehn Palen zurückzulegen, die seinen Wohnort von dem Nachbargebiet Pandeglang trennten.

Es wurde ein neuer Adsistent-Resident erwartet; und das Herkommen, das in Indien mehr denn irgendwo Gesetzeskraft hat, verlangt, daß der Beamte, der mit der Verwaltung eines Bezirkes beauftragt ist, bei seiner Ankunft festlich eingeholt wird. Auch derKontroleur, ein Mann von mittleren Jahren, der seit einigen Monaten, seit dem Tode des vorigen Adsistent-Residenten, die Verwaltung als Stellvertreter wahrgenommen hatte, war anwesend.

Sobald die Ankunft des neuen Adsistent-Residenten bekannt wurde, hatte man in aller Eile eine »Pendoppo« aufgerichtet, ein Tisch und einige Stühle waren da hingebracht, einige Erfrischungen bereitgestellt, und in der Pendoppo erwartete der Regent mit dem Kontroleur die Ankunft des neuen Vorgesetzten.

[59] Nächst einem Hut mit breitem Rand, einem Regenschirm oder einem hohlen Baum, ist eine »Pendoppo« sicher der einfachste Ausdruck des Gedankens »Dach.« Denkt euch vier oder sechs Bambusstangen in den Erdboden geschlagen, die an ihrem oberen Ende durch andere Bambusstangen miteinander verbunden sind, worauf eine Decke aus den langen Blättern der Wasserpalme, dort »Atap« genannt, befestigt ist, und ihr werdet euch sothane, »Pendoppo« vorstellen können Es ist, wie ihr seht, so einfach wie möglich, und es soll auch lediglich als kurzer Aufenthalt für die europäischen und inländischen Beamten dienen, die da ihr neues Oberhaupt an der Grenze bewillkommnen wollen.

Ich habe nicht ganz richtig den Adsistent-Residenten das Oberhaupt auch des Regenten genannt. Eine Abschweifung über den Mechanismus der Verwaltung in diesen Landstrichen ist unentbehrlich.

Das sogenannte »Niederländisch Indien« – ich finde die Bezeichnung sprachlich nicht richtig, aber sie ist offiziell angenommen – ist, was die Beziehungen des Mutterlandes zu der Bevölkerung betrifft, zu trennen in zwei sehr verschiedene Hauptteile. Ein Teil besteht aus Stämmen, deren Fürsten oder Häuptlinge die Oberherrschaft von Niederland als Suzerän anerkannt haben; doch ist noch immer die eigentliche Regierung in größerem oder geringerem Maße in den Händen der eingeborenen Häupter selbst geblieben. Ein anderer Teil, zu dem Java gehört, mit einer sehr kleinen vielleicht bloß scheinbaren Ausnahme, ist ganz und geradezu Niederland unterworfen. Von Tribut oder Schatzung oder Bundesgenossenschaft ist hier keine Rede. Der Javane ist niederländischer Unterthan. Der König von Niederland ist sein König. Die Nachkommen seiner einstmaligen Fürsten und Herren sind niederländische Beamte; sie werden angestellt, versetzt und befördert, abgesetzt durch den General-Gouverneur, der im Namen des Königs regiert. Der Missethäter wird verurteilt und bestraft nach einem Gesetz, das von 'sGravenhage ausgegangen ist. Die Steuer, die der Javane aufbringt, fließt in die Schatzkammer Niederlands.

Von diesem Teil der niederländischen Besitzungen, das [60] demnach einen wirklichen Teil des Königreichs ausmacht, soll in diesen Blättern hauptsächlich die Rede sein.

Dem General-Gouverneur steht ein »Rat« zur Seite, welcher indessen keine beschließende Stimme hat. Zu Batavia sind die verschiedenen Regierungszweige in Departements verteilt, an deren Spitze Direktoren stehen, welche das Bindeglied zwischen der Oberleitung des General-Gouverneurs und den Residenten in den Provinzen bilden. Bei Behandlung von Dingen politischer Natur indessen wenden sich diese Beamten direkt an den General-Gouverneur.

Die Bezeichnung »Resident« kommt noch von der Zeit her, da Niederland bloß mittelbar Herr der Bevölkerung war, als Lehnsherr, und sich an den Höfen der noch regierenden Fürsten durch Residenten vertreten ließ. Die Fürsten sind nicht mehr; die Residenten sind die Verwalter der Landschaften geworden; sie sind distriktweise Gouverneure, Präfekten. Ihr Wirkungskreis ist verändert, aber der Name ist geblieben.

Es sind die Residenten, die eigentlich die niederländische Macht gegenüber der javanischen Bevölkerung vertreten. Das Volk kennt weder den General-Gouverneur noch den Rat von Indien, noch die Direktoren zu Batavia; das Volk kennt bloß den Residenten und die Beamten, die es unter ihm regieren.

Eine derartige Residentschaft, – es giebt ihrer, die beinahe eine Million Seelen umfassen, – zerfällt in drei, vier oder fünf Bezirke (»Afdeelingen«) oder Regentschaften, an deren Spitze Adsistent-Residenten stehen. Unter diesen wieder wird die Regierung durch Kontroleure, Aufseher und eine Zahl von anderen Beamten ausgeübt, die für das Eintreiben der Steuern, die Aufsicht über den Ackerbau, das Errichten von Gebäuden, für die Regelung der Wasserverhältnisse, die Polizei und das Rechtswesen erforderlich sind.

In jedem Bezirke steht ein inländisches Haupt von hohem Range, mit dem Titel eines Regenten, dem Adsistent-Residenten zur Seite. Ein solcher Regent, obwohl seine [61] Stellung zur Regierung und sein Wirkungskreis durchaus die eines besoldeten Beamten sind, gehört stets zu dem hohen Adel des Landes, und oft zu der Fürstenfamilie, die früher in dieser Landschaft oder in der Nachbarschaft unabhängig regiert hat. Sehr politisch benutzt man also ihren uralten feudalen Einfluß, der in Asien überall von großem Gewicht ist und bei den meisten Stämmen als religiöse Einrichtung betrachtet wird; insofern durch das Berufen dieser Häupter zu Beamten eine Art von Hierarchie geschaffen wird, an deren Spitze die niederländische Macht steht, die durch den General-Gouverneur ausgeübt wird.

Es ist nichts Neues unter der Sonne. Wurden nicht die Reichs-, Mark-, Gau-, Grenz- und Burggrafen des Deutschen Reiches gleichfalls durch den Kaiser angestellt und meistens aus den Baronen, den Edelingen gewählt? Ohne auf den Ursprung des Adels, der ganz in der Natur liegt, abzuschweifen, möchte ich doch der Betrachtung Raum geben, wie hier und auch dort im fernen Indien dieselben Ursachen dieselben Folgen hatten. Ein Land muß auf weite Entfernung regiert werden, und dazu sind Beamte notwendig, die die Centralregierung vertreten. Unter dem System militärischer Willkür wählten die Römer dazu die Präfekten, gewöhnlich die Befehlshaber der Legionen, die das betreffende Land unterworfen hatten. Solche Landstriche blieben denn auch »Provinzen,« d.h. erobertes Land. Als aber später die Centralmacht des Deutschen Reiches das Bedürfnis hatte, hie und da ferngesessenes Volk auf andere Weise an sich zu binden als durch materielles Übergewicht allein, sobald ein entfernter Landstrich als zum Reich gehörig betrachtet wurde, infolge Gleichheit der Abstammung, Sprache und Sitte, stellte sich die Notwendigkeit heraus, mit der Leitung der Geschäfte jemand zu betrauen, der in diesem Lande nicht allein zu Hause war, sondern auch durch seinen Stand über seine Mitbürger in diesen Strecken herausragte, auf daß der Gehorsam den kaiserlichen Befehlen gegenüber leicht werde durch die damit Hand in Hand gehende Neigung der Unterwerfung unter den, der mit der Ausführung der Befehle beauftragt war. Gleichzeitig wurden so die Ausgaben für ein stehendes Heer zu Lasten der Staatskasse oder, wie es meist geschah, [62] den Gegen den, die durch ein solches Heer bewacht werden mußten, ganz oder teilweise entbehrlich.

So wurden die ersten Grafen aus den Edlen des Landes genommen, und, genau genommen, ist daher »Graf« kein adeliger Titel, sondern einfach die Bezeichnung einer mit einem gewissen Amt betrauten Persönlichkeit. Ich glaube denn auch, daß im Mittelalter die Ansicht galt, der deutsch Kaiser habe das Recht, »Grafen« (Landschaftsverwalter) und »Herzöge« (Heerführer) zu ernennen; andererseits behaupteten die Barone, was ihre Geburt betraf, dem Kaiser gleichgestellt zu sein und allein von Gott abzuhängen, unbeschadet ihrer Pflicht, dem Kaiser zu dienen, sofern dieser mit ihrer Zustimmung und aus ihrer Mitte gewählt war. Ein Graf bekleidete das Amt, zu dem ihn der Kaiser berufen hatte; ein Baron betrachtete sich als Baron »von Gottes Gnaden«. Die Grafen vertraten den Kaiser und führten dementsprechend sein Banner; ein Baron brachte Kriegsvolk auf unter seiner Fahne als Bannerherr.

Der Umstand nun, daß Grafen und Herzöge gewöhnlich aus den Baronen gewählt werden, hatte zur Folge, daß sie das Gewicht ihres Amtes in die Wagschale legten neben dem Einfluß, den sie von Geburtswegen beanspruchten, und daraus scheint später, besonders als man sich an die Erblichkeit dieser Ämter gewöhnt hatte, der Vorrang entstanden zu sein, den diese Titel vor dem Baronstitel erhielten. Noch heutzutage könnte es vorkommen, daß eine freiherrliche Familie – ohne kaiserliches oder königliches Patent, d.h. eine Familie, die ihren Adel ableitet vom Ursprung des Landes, die stets von Adel war,weil sie von Adel war – autochthon – eine Erhebung in den Grafenstand ablehnte. Man hat Beispiel davon.

Die Personen, die mit der Verwaltung einer solchen Grafschaft betraut waren, suchten es natürlich beim Kaiser zu erreichen, daß ihre Söhne oder, falls sie keine hatten, andere Blutsverwandte ihnen im Amte folgten. Das geschah denn auch gewöhnlich, obwohl ich nicht glaube, daß jemals das Recht auf die Erbfolge organisch anerkannt worden ist, wenigstens was die Beamten in den Niederlanden angeht, z.B. die Grafen von Holland, Seeland, Flandern, Hennegau – die Herzöge von Brabant, Gelderland u.s.w. Es war anfangs eine Gunst, später eine Gewohnheit, zum Schluß eine Notwendigkeit; aber niemals wurde die Erblichkeit Gesetz.

Ziemlich ebenso, was die Wahl von Personen anlangt, [63] da hier von Gleichheit des Wirkungskreises keine Rede sein kann, steht an der Spitze eines Bezirks in Java ein inländischer Beamter, der seinen vom Gouvernement erteilten Rang mit seinem »autochthonen« Einfluß verbindet, um dem europäischen Beamten, der die niederländische Macht vergegenwärtigt, die Regierung leichter zu machen. Auch hier ist die Erblichkeit, ohne durch Gesetz festgestellt zu sein, zu einer Gewohnheit geworden. Schon bei Lebzeiten des Regenten ist diese Sache meistens geregelt, und es gilt als eine Belohnung für Diensteifer und Treue, wenn man ihm die Zusicherung giebt, daß sein Sohn sein Nachfolger sein wird. Es müssen schon sehr gewichtige Gründe bestehen, wenn man einmal von dieser Regel abweicht, und wo dies etwa vorkommen sollte, wählt man dann doch gewöhnlich den Nachfolger aus den Gliedern derselben Familie.

Das Verhältnis zwischen europäischen Beamten und solchen hochgestellten javanischen Großen ist von sehr delikater Art. Der Adsistent-Resident eines Bezirks ist die verantwortliche Person; er hat seine Instruktion und wird als das Haupt des Bezirkes betrachtet. Das hindert indes nicht, daß derRegent, durch lokales Ansehen, durch Geburt, durch Einfluß auf die Bevölkerung, durch Vermögen und Einkünfte und dementsprechende Lebensweise, sich weit über jenen erhebt. Ferner ist der Regent, der das »javanische Element« eines Landstrichs vertritt und im Namen der hunderttausend oder mehr Seelen spricht, die seine Regentschaft bevölkern, auch in den Augen des Gouverneurs eine viel wichtigere Person als der einfache europäische Beamte, um dessen Unzufriedenheit man sich nicht zu kümmern braucht, da man an seine Stelle tausend andere bekommen kann; während die Mißtimmung des Regenten den Keim zu Unruhen oder Aufständen in sich tragen kann.

Aus alledem ergibt sich der auffallende Umstand, daß eigentlich der Geringere der Vorgesetzte des Größeren ist. Der Adsistent-Resident befiehlt dem Regenten, ihm Bericht zu erstatten; er befiehlt ihm, Volk zur Arbeit an Brücken und Wegen zu senden; er befielt ihm, Steuern einzutreiben; er beruft ihn, im Rate Platz zu nehmen, wo der Adsistent-Resident den Vorsitz führt; er rügt ihn, wenn er sich einer Pflichtversäumnis schuldig gemacht hat. Dieses sehr eigenartige Verhältnis wird nur durch äußerst höfliche Formen ermöglicht, die weder Herzlichkeit noch, wenn es sein muß, Strenge auszuschließen brauchen; und ich glaube, der Ton, [64] der in dieser Beziehung herrschen soll, wird ziemlich richtig in der offiziellen Vorschrift angegeben: »Der europäische Funktionär habe den inländischen Beamten, der ihm zur Seite steht als seinen jüngeren Bruder zu behandeln.«

Aber er vergesse nicht, daß der jüngere Bruder bei den Eltern sehr beliebt – oder auch gefürchtet – ist, und daß bei etwaigen Zwistigkeiten sein höheres Alter sofort in Anschlag gebracht wird, um es ihm übel zu nehmen, daß er seinen jüngeren Bru der nicht mit mehr Nachgiebigkeit behandelt hat.

Die angeborene Höflichkeit der javanischen Großen – selbst der niedere Javane ist unendlich höflicher als sein europäischer Standesgenosse – macht übrigens diese scheinbar schwierige Beziehung erträglicher, als sie es sonst wäre.

Der Europäer sei wohlerzogen, rücksichtsvoll, und zeige sich mit freundlicher Würde, und er kann gewiß sein, daß der Regent seinerseits ihm das Amt leicht machen wird. Die unvermeidlichen Befehle, in ersuchender Form geäußert, werden prompt befolgt. Der Unterschied in Stand, Geburt, Reichtum wird durch den Regenten selbst verwischt, der den Europäer, als Vertreter des Königs der Niederlande, zu sich emporhebt, und schließlich ist ein Verhältnis, das bei oberflächlicher Betrachtung lediglich zu Zwistigkeiten führen sollte, sehr oft die Quelle eines angenehmen Verkehrs.

Ich sagte, daß solche Regenten auch durch ihren Reichtum einen Vorrang vor den europäischen Beamten haben; und das ist natürlich. Der Europäer, der berufen wird, um eine Provinz zu verwalten, die an Größe vielen deutschen Herzogtümern gleichkommt, ist gewöhnlich jemand von mehr als mittlerem Lebensalter, verheiratet und Vater: er bekleidet ein Amtum das Brot. Sein Einkommen ist gerade genügend, und manchmal nicht einmal genügend, um den Seinen das Nötige zu schaffen. Der Regent ist »Trommongong«, »Adhipatti«, ja sogar »Pangerang«, javanischer Prinz. Die Frage für ihn ist nicht, daß er lebe – er muß so leben, wie es das Volk von seiner Aristokratie gewohnt ist. Wo der Europäer ein Haus bewohnt, ist sein Sitz oftmals ein »Kratoon« mit vielen Häusern und Dörfern darin. Wo der Europäer eine Frau hat mit drei, vier Kindern, unterhält er eine ganze Zahl von Frauen mit allem, was dazu gehört. Wenn der Europäer ausfährt, begleitet von einigen Beamten, so viel gerade nötig sind, um ihn bei seiner Inspektionsreise Erklärungen zu geben, – wird der Regent umschwärmt von [65] den Hunderten, die zu dem Gefolge gehören, das in den Augen des Volkes einmal zu seinem hohen Range gehört. Der Europäer lebt bürgerlich; der Regent lebt – und man setzt das von ihm voraus – als ein Fürst.

Aber das muß alles bezahlt werden. Die niederländische Regierung, die sich auf dem Einfluß der Regenten aufgebaut hat, weiß das; und nichts ist natürlicher, als daß dies ihre Einkünfte zu einer Höhe emporgeführt hat, die dem »Nicht-Indier« übertrieben vorkommen würde, die aber in der That zu der Bestreitung der Ausgaben, die mit der Lebensweise eines solchen inländischen Hauptes verbunden sind, selten ausreicht. Es ist nichts Auffallendes, wenn Regenten mit einem jährlichen Einkommen von zwei-, auch dreimalhunderttausend Gulden – in Geldverlegenheit sind. Viel trägt dazu die wahrhaft fürstliche Gleichgültigkeit bei, mit der sie ihr Einkommen verschleudern, ihre Nachlässigkeit bei der Aufsicht auf ihre Untergebenen, ihre beinahe krankhafte Kauflust, und vor allem der Mißbrauch, der oft durch Europäer mit diesen Eigenschaften getrieben wird.

Die Einkünfte der javanischen Häupter würde man vier Teilen zusammenfassen können. Zuerst das bestimmte Monatsgeld, dann eine feste Summe als Schadloshaltung für abgekaufte Rechte, die in die niederländische Verwaltung übergegangen sind; drittens eine Belohnung im Verhältnis zur Menge der in ihrer Regentschaft erzeugten Waren, als Kaffee, Zucker, Indigo, Zimmet u.s.w.; und endlich die willkürliche Bestimmung über die Arbeit und das Eigentum ihrer Unterthanen.

Die beiden letzten Einnahmequellen erfordern einige Erklärungen. Der Javane ist von Natur Landbauer; der Grund und Boden, auf dem er geboren ist, der viel verspricht für wenig Arbeit, lockt ihn dazu, und vor allem widmet er sich mit Herz und Seele der Bebauung seiner Reisfelder, worin er denn auch sehr geschickt ist. Er wächst auf inmitten seiner Sawahs und Gagahs und Tipars; er begleitet seinen Vater bereits in sehr jungen Jahren aufs Feld, wo er ihm mit Pflug und Spaten behilflich ist, und an Dämmen und [66] Wasserleitungen zur Bewässerung der Äcker. Er zählt seine Jahre nach Ernten, er rechnet die Jahreszeit nach der Farbe seiner im Felde stehenden Halme; er fühlt sich zu Hause bei den Gesellen, die mit ihm Padi schneiden; er sucht seine Frau unter den Mädchen der Dessah, die abends unter frohem Gesang den Reis stampfen, um ihn zu enthülsen; der Besitz von ein Paar Büffeln, die seinen Pflug ziehen sollen, ist das Ideal, das ihn anlacht; – der Reisbau ist für den Javanen, was in den Rheingegenden und in Südfrankreich die Weinlese ist.

Doch da kamen Fremde aus dem Westen, die sich zu Herren des Landes machten. Sie wünschten von der Güte des Bodens Vorteil zu ziehen und verlangten von dem Eingeborenen, er solle einen Teil seiner Arbeit und seiner Zeit der Erzeugung anderer Dinge widmen, die auf den Märkten Europas mehr Gewinn abwerfen würden. Um den kleinen Mann dazu zu bewegen, brauchte man nicht mehr als eine sehr einfache Politik. Er gehorcht seinen Häuptern; man hatte also lediglich die Häupter zu gewinnen, indem man ihnen einen Teil des Gewinnes zusagte – und es glückte vollkommen.

Wenn man die erstaunliche Menge javanischer Erzeugnisse sieht, die in Niederland auf den Markt kommen, kann man sich von der Zweckmäßigkeit dieser Politik überzeugen, findet man sie schon nicht edel. Denn wenn jemand fragt, ob der Landbauer selbst eine verhältnismäßige Entlohnung davon hat, so muß ich das verneinen. Die Regierung zwingt ihn, aufseinem Grund und Boden zu pflanzen, was ihr behagt; sie bestraft ihn, wenn er das so Gewonnene verkauft, an wen es auch sei, außer an sie selbst; undsie selbst bestimmt den Preis, den sie ihm dafür zahlt. Die Transportkosten nach Europa, durch Vermittlung einer bevorrechteten Handelskörperschaft, sind hoch, die Ermunterungsgelder an die Häupter beschweren obendrein den Einkaufspreis – und da doch schließlich der ganze Handel Gewinn abwerfenmuß, kann dieser Gewinn nicht anders erzielt werden als dadurch, daß man dem Javanen gerade so viel auszahlt, daß er nicht geradezu verhungert, was ja die produzierende Kraft der Bevölkerung vermindern würde.

Auch an die europäischen Beamten wird eine Belohnung im Verhältnis zur Produktion gezahlt.

[67] Wohl wird also der arme Javane durch doppelte Gewalt vorwärts gepeitscht; wohl wird er von seinen Reisfeldern fortgezogen; wohl ist Hungersnot die Folge dieser Maßregeln; aber fröhlich flattern zu Batavia, zu Samarang, zu Surabaja, zu Passaruan, zu Besuki, zu Probolingo, zu Patjitan, zu Tijlatjap die Flaggen an Bord der Schiffe, die beladen werden mit den Ernten, die Niederland reich machen.

Hungersnot ...? Auf dem reichen, fruchtbaren Java Hungersnot? Ja, Leser, vor wenigen Jahren sind ganze Distrikte ausgestorben vor Hunger: Mütter boten ihre Kinder zur Speise feil, Mütter haben ihre Kinder verzehrt ...

Aber dann hat sich das Mutterland mit der Sache befaßt. In den Sälen der Volksvertretung ist man damit unzufrieden gewesen, und der damalige Landvogt hat befehlen müssen, daß man die Ausbreitung der sogenannten »Europäischen Markt-Produkte« nicht wieder bis zu einer Hungersnot fortsetzen solle ...

Ich bin bitter geworden. Was würdet ihr von jemand denken, der solche Dinge ohne Bitterkeit niederschreiben könnte?

Ich habe noch von der letzten und vornehmsten Art der Einkünfte inländischer Häupter zu sprechen: von ihrer willkürlichen Bestimmung über Person und Eigentum ihrer Unterthanen.

Nach den in ganz Asien herrschenden Begriffen gehört der Unterthan mit allem, was er besitzt, dem Fürsten. Die Nachkommen oder Verwandten der früheren Fürsten machen gern Gebrauch von der Unkenntnis der Bevölkerung, die nicht recht begreift, daß ihr Tommongong, Adhipatti oder Pangerang jetzt einbesoldeter Beamter ist, der seine eigenen und ihre Rechte für eine feste Rente verkauft hat, und daß daher die filzig bezahlte Arbeit in der Kaffee-oder Zucker-Plantage an die Stelle der Lasten getreten ist, die sie früher für ihre Herren aufbrachten. Nichts ist daher gebräuchlicher, als daß Hunderte von Familien aus weiter Entfernung herbeigerufen [68] werden, um ohne Bezahlung Felder zu bearbeiten, die dem Regenten gehören: nichts ist gebräuchlicher als die unbezahlte Lieferung von Lebensmitteln für die Hofhaltung des Regenten, und wenn der Regent ein gnädiges Auge wirft auf das Pferd, den Büffel, die Tochter, die Frau des kleinen Mannes, würde man es ungehörig finden, wenn dieser sich weigerte, den begehrten Gegenstand bedingungslos abzutreten.

Es giebt Regenten, die von solcher willkürlichen Bestimmung einen mäßigen Gebrauch machen und nicht mehr von dem kleinen Mann sondern als durchaus nötig ist, um ihren Rang aufrechtzuerhalten Andere gehen etwas weiter, und gänzlich fehlt die Gesetzlosigkeit nirgends. Es ist auch schwer, ja unmöglich, solchen Mißbrauch gänzlich auszuroden, denn er liegt in der Natur des Volkes begründet, das darunter leidet. Der Javane ist sanft, vor allem, wo es ihm darum zu thun ist, seinem Regenten, dem Abkömmling derer, dem seine Väter unterthan waren, einen Beweis von Ergebenheit zu geben: ja er würde glauben, der Ehrerbietung, die er seinem angestammten Herrn schuldig ist, zu wenig zu thun, wenn er dessen »Kratoon« ohne Geschenke beträte. Diese Geschenke sind oft von so geringem Werte, daß das Abweisen etwas Erniedrigendes in sich schließen würde, und diese Gewohnheit ist eher mit der Hingebung eines Kindes zu vergleichen, das seine Liebe zum Vater im Anbieten einer kleinen Gabe äußern möchte, denn als Tribut an tyrannische Willkür aufzufassen.

Aber so macht das Bestehen einer liebenswürdigen Sitte das Abschaffen eines Mißbrauchs sehr schwierig.

Wenn der »Aloon-aloon« vor dem Wohnsitz des Regenten verwildert daläge, so würde sich die Nachbarschaft darüber schämen, und es wäre viel Gewalt nötig, um sie zu verhindern, den Platz von Unkraut zu säubern und in einen Stand zu bringen, der dem Range des Regenten angemessen ist. Bezahlung dafür zu geben, würde man als eine allgemeine Beleidigung empfinden. Aber in der Nähe dieses Aloon-aloon oder sonstwo liegen Sawahs, die warten auf den Pflug oder auf eine Wasserleitung, die oftmals meilenweit das befruchtende Naß herbeischaffen soll: – die Sawahs gehören dem Regenten. Er ruft, um seine Sawahs zu bewirtschaften, die Insassen ganzer Dörfer auf, deren eigene Sawahs die Arbeit ebenso sehr brauchen ... Sieh da den Mißbrauch.

[69] Der Regierung ist das bekannt, und wer die Staatsblätter liest, die die Gesetze, Weisungen und Instruktionen für die Beamten enthalten, dem geht das Herz auf bei all der Menschenliebe und Rechtschaffenheit, die bei der Ausarbeitung dieser Vorschriften den Vorsitz geführt haben. Überall wird dem Europäer, der mit der Gewalt im Binnenlande bekleidet ist, als eine seiner treuesten Pflichten ans Herz gebunden, die Eingeborenen gegen ihre eigene Unterwürfigkeit und die Habsucht ihrer Häupter zu schützen, und als wäre es noch nicht genug, diese Pflicht allgemein vorzuschreiben, wird noch den Adsistent-Residenten, beim Antritt der Verwaltung eines Bezirks, ein besonderer Eid abgenommen, daß sie die väterliche Sorge für die Bevölkerung als eine erste Pflicht betrachten werden.

Eine schöne Aufgabe. Gerechtigkeit üben; den Geringen beschirmen gegen den Mächtigen, den Schwachen schützen gegen die Übermacht des Starken, das Lamm des Armen aus den Ställen des königlichen Räubers zurückfordern – ja, es ist, um das Herz glühen zu machen vor Freude, bei dem Gedanken, daß man zu etwas Schönem berufen ist! – Und wer im javanischen Binnenlande mit seiner Stellung oder Belohnung unzufrieden ist, der erhebe seine Augen zu der erhabenen Pflicht, die auf ihm ruht, auf das herrliche Bewußtsein, das die Erfüllung solcher Pflicht mit sich bringt, und er wird keine andere Belohnung begehren.

Aber leicht ist die Pflicht nicht. Zuerst hätte man genau zu unterscheiden: wo hat die Sitte aufgehört, um dem Mißbrauch Platz zu machen? – und, wo der Mißbrauch besteht, wo in der That Raub oder Willkür herrscht, da sind oftmals die Schlachtopfer selbst mitschuldig, sei es aus zu weit getriebener Unterwürfigkeit, sei es aus Furcht, sei es aus Mißtrauen gegen den Willen oder die Kraft desjenigen, der sie beschirmen soll. Jeder weiß, daß der europäische Beamte jeden Augenblick in ein anderes Amt berufen werden kann, und daß der Regent, der mächtige Regent, dableibt. Ferner giebt es so viele Arten, um sich das Eigentum eines armen einfältigen Menschen anzueignen. Wenn ein Mantri ihm sagt, daß der Regent sein Pferd begehrt, mit der Folge, daß das begehrte Tier bereits einen Platz in den Stallungen des Regenten erhalten hat, so beweist das noch nicht, daß dieser nicht die Absicht hatte, dafür einen hohen Preis zu zahlen – in einiger Zeit. Wenn Hunderte auf den Feldern eines solchen Großen arbeiten, [70] ohne dafür bezahlt zu werden, folgt daraus keineswegs, daß er das zu seinem Vorteil geschehen ließ. Konnte nicht seine Meinung sein, ihnen die Ernte zu überlassen, aus der gutherzigen Berechnung, daß sein Grund und Boden besser gelegen wäre, fruchtbarer als der ihrige, und deshalb ihre Arbeit besser lohnen würde?

Außerdem, woher bekommt der europäische Beamte die Zeugen, die den Mut haben, eine Aussage gegen ihren Herrn, den Regenten, abzugeben? Und, wagte er eine Anklage, ohne sie beweisen zu können, wo bleibt da das Verhältnis des älteren Bruders, der ja in einem solchen Falle seinen jüngeren Bruder grundlos in seiner Ehre gekränkt hätte? Wo bleibt die Gunst der Regierung, die ihm Brot giebt für seinen Dienst, die ihm aber das Brot aufkündigt, die ihn als ungeschickt entläßt, wenn er eine so hochgestellte Persönlichkeit wie einen Adhipatti oder Pangerang leichtfertig verdächtigt oder angeklagt hat?

Nein, nein, leicht ist diese Pflicht nicht! Das ergiebt sich schon daraus, daß jeder überzeugt ist, daß jedes inländische Haupt die Grenze der erlaubten Verfügung über Arbeit und Eigentum überschreitet, daß alle Adsistent-Residenten den Eid leisten, Wandel zu schaffen, und daß doch sehr selten ein Regent des Mißbrauchs der Gewalt oder der Willkür angeklagt wird.

Es scheint also eine unüberwindliche Schwierigkeit zu bestehen, um dem Eid Folge zu geben: »die Eingeborenen zu beschirmen gegen Aussaugung und Erpressung.«

Sechstes Kapitel

Sechstes Kapitel.

Stern fährt fort. Wen man an der Lebakschen Grenze erwartete. Die Ankunft des Reisewagens. Der Herr Resident. Max Havelaar.


Der Kontroleur Verbrügge war ein guter Mensch. Wenn man ihn so dasitzen sah in seinem blauen Tuchfrack, gestickten Eichen- und Orangezweigen auf Kragen und Ärmelaufschlägen, war es schwer, in ihm den Typus, der unter den Holländern in Indien vorherrscht, zu verkennen – die, nebenbei gesagt, sich von den Holländern in Holland sehr unterscheiden. Träg, so lange nichts zu thun war; ohne die Aufräumwut, die in Europa für Fleiß gilt, [71] aber fleißig, wo Geschäftigkeit am Platze war; – einfach, aber herzlich zu denen, die zu seiner Umgebung gehörten; – mitteilsam, hilfreich und gastfrei; – von guten Umgangsformen, ohne Steifheit; – für große Eindrücke zugänglich, – ehrlich und bieder, ohne jedoch Lust zu fühlen, ein Märtyrer dieser Eigenschaften zu werden, – kurz, ein Mann, der, wie man sagt, überall am rechten Platze gewesen wäre, ohne daß man indessen gerade auf den Gedanken gekommen wäre, das Jahrhundert nach ihm zu benennen, was er auch gar nicht verlangte.

Er saß inmitten der Pendoppo an dem Tisch, der mit einem weißen Tuch bedeckt und mit Speisen beladen war. Etwas ungeduldig fragte er von Zeit zu Zeit mit den Worten der Schwester von Frau Blaubart, den »Mandoor«-Aufseher, d.h. das Oberhaupt der Polizei-und Bureaudiener der Adsistent-Residentschaft, ob noch nichts im Anzuge wäre? Dann stand er auf einmal auf, versuchte vergebens seine Sporen auf dem gestampften Lehmboden der Pendoppo klirren zu lassen, zündete zum zwanzigstenmal seine Cigarre an und setzte sich wieder hin. Er sprach wenig.

Und doch hätte er sprechen können; denn er war nicht allein. Ich meine hiermit nicht, daß er von zwanzig oder dreißig Javanen begleitet war, Bedienten, Mantris und Aufsehern, die am Boden hingekauert in der Pendoppo und draußen saßen, auch nicht von den vielen, die fortwährend aus und ein liefen, auch nicht von der großen Zahl von verschiedenen Rangstufen, die draußen die Pferde hielten oder auf ihnen herumritten; – der Regent von Lebak, Radhen Adhipatti Karta Natta Negara, saß ihm gegenüber.

Warten ist immer langweilig. Eine Viertelstunde dauert eine Stunde, eine Stunde einen halben Tag, und so geht es weiter. Verbrügge hätte wohl etwas gesprächiger sein können. Der Regent von Lebak war ein gebildeter alter Mann, der über vieles mit Verstand und Urteil zu sprechen wußte. Man brauchte ihn nur anzusehen, um überzeugt zu sein, daß die Mehrzahl der Europäer, die mit ihm in Berührung kamen, mehr von ihm lernen konnten als er von ihnen. Seine lebendigen dunklen Augen widersprachen durch ihr Feuer der Müdigkeit seiner Züge und der weißen Farbe seiner Haare. Was er sagte, war gewöhnlich lange überlegt, was übrigens bei dem gebildeten Orientalen die Regel ist. Wenn man mit ihm sprach, fühlte man, daß man seine Worte wie Briefe anzuhören hatte, deren Original er in seinem [72] Archiv hatte, um nötigenfalls darauf zurückzukommen. Das mag für den, der den Umgang mit javanischen Großen nicht kennt, unangenehm scheinen; es ist indessen sehr leicht, in Gesprächen alle Gegenstände, die Anstoß geben könnten, zu vermeiden, denn sie würden ihrerseits dem Lauf der Unterhaltung niemals auf brüske Weise eine andere Richtung geben. Nach orientalischen Begriffen würde sich das mit dem guten Ton nicht vertragen. Wer also Ursache hat, einen bestimmten Punkt zu vermeiden, braucht bloß über gleichgültige Dinge zu sprechen, und er kann sicher sein, daß ein javanischer Großer ihn nie durch eine unerwünschte Wendung im Gespräch auf ein Gebiet führen wird, das er lieber nicht beträte.

Über die Art des Umganges mit diesen Großen bestehen übrigens verschiedene Ansichten. Mir scheint, als ob einfache Aufrichtigkeit, ohne Streben nach diplomatischer Vorsicht, den Vorzug verdient.

Wie das auch sei – Verbrügge begann jetzt mit einer Bemerkung über das Wetter und den Regen.

»Ja, Herr Kontroleur, es ist der Westmonsun.«

Das wußte Verbrügge selber auch; es war im Januar. Aber was er über den Regen gesagt hatte, wußte der Regent auch. Darauf folgte wieder einiges Schweigen. Der Regent winkte mit einer kaum sichtbaren Kopfbewegung einem der Bedienten, die an dem Eingang der Pendoppo niedergehockt saßen. Ein kleiner Bursche, allerliebst gekleidet, in blausamtenem Wams und weißen Hosen, mit einem goldenen Gürtel, der seinen kostbaren Sarong um die Lenden festhielt, und auf dem Kopfe den gefälligen »Kain kapala,« unter dem seine schwarzen Augen so träge heraussahen, kroch bis an die Füße des Regenten heran, setzte die goldene Dose nieder, die den Siri, den Kalk, den Pinang, den Gambir und den Tabak enthielt, machte den »Slamat,« indem er die aneinander [73] gedrückten Hände zu der niedergebeugten Stirn erhob, und reichte darauf die kostbare Dose seinem Herrn hin.

»Der Weg wird schwierig sein, nach so viel Regen,« sagte der Regent, als ob er das lange Warten erklärlich machen wollte, während er ein Betelblatt mit Kalk bestrich.

»Im Pandeglangschen sind die Wege nicht so schlecht,« antwortete Verbrügge, der, vorausgesetzt, daß er nichts Unangenehmes berühren wollte, die Antwort wohl etwas zu schnell gab; denn sonst hätte er bedenken müssen, daß ein Regent von Lebak nicht gern die Wege von Pandeglang loben hört, und wären sie wirklich besser als im Lebakschen.

Der Adhipatti beging den Fehler einer zu schnellen Antwort nicht. Der kleine »Maas« war schon wieder hockend zurückgekrochen, nach dem Eingang der Pendoppo, wo er unter seinen Kameraden Platz nahm, der Regent hatte schon seine Lippen und seine wenigen Zähne mit dem Siri-Speichel rot gefärbt, ehe er sagte:

»Ja, es ist viel Volk in Pandeglang.«

Wer den Regenten und den Kontroleur kannte, und wem die Zustände in Lebak kein Geheimnis waren, hätte deutlich gemerkt, daß das Gespräch bereits ein Streit geworden war. Die Anspielung auf den besseren Zustand der Wege in dem Nachbardistrikt schien die Folge zu sein von vergeblichen Anstrengungen, auch im Lebakschen solche besseren Wege anzulegen. Aber darin hatte der Regent recht, daß Pandeglang besser bevölkert war, besonders im Verhältnis zu der ungleich kleineren Oberfläche, und daß daher dort die Arbeit an den großen Wegen durch vereinte Kraft leichter zustande kam als im Lebakschen, einem Distrikt, der auf Hunderte von »Palen« Grundfläche bloß siebzigtausend Einwohner zählte.

»Das ist wahr,« sagte Verbrügge, »wir haben wenig Volk hier, jedoch ...«

Der Adhipatti sah ihn an, als erwartete er einen Angriff. Er wußte, daß nach dem »jedoch« etwas folgen konnte, was für ihn, der seit dreißig Jahren Regent von Lebak war, unliebsam zu hören war. Verbrügge wollte abbrechen und fragte wieder den Aufpasser, ob er nichts kommen sähe?

»Von der Pandeglangschen Seite noch nichts, Herr Kontroleur; aber da drüben auf der anderen Seite reitet jemand ... es ist der Kommandant.«

[74] »Gewiß Dongso!« sagte Verbrügge, hinausblickend, »er ist in der Gegend auf Jagd, er ist heute früh ausgegangen ... He! Düclari, ... Düclari ...!«

»Er hört Sie, Mijnheer, er kommt her. Sein Bursche reitet hinter ihm mit einem ›Kidang‹ hinter sich auf dem Pferde.«

»Halte das Pferd des Herrn Kommandanten!« gebot Verbrügge einem der Verdienten draußen. »Guten Morgen, Düclari, sind Sie naß geworden? Was haben Sie geschossen? Treten Sie ein!«

Ein kräftiger Mann von dreißig Jahren in militärischer Haltung, wenn auch von Uniform keine Spur war, trat in die Pendoppo. Es war der Leutnant Düclari, Kommandant der kleinen Garnison von Rangkas-Betung. Verbrügge und er waren befreundet, und ihre Intimität war noch größer, da Düclari seit einiger Zeit zu Verbrügge gezogen war, bis das neue Fort fertig sein würde. Er drückte diesem die Hand, grüßte den Regenten höflich, und setzte sich mit der Frage: »Was giebt's denn hier?«

»Wollen Sie Thee, Düclari?«

»Nein, mir ist warm genug. Habt ihr Sodawasser? Das ist frisch ...«

»Das lasse ich Ihnen nicht geben. Wenn man warm ist, halte ich Sodawasser für sehr gefährlich ... man wird steif und gichtig davon. Seht die Kulis, die schwere Lasten über die Berge tragen, die halten sich frisch und geschmeidig durch das Trinken von heißem Wasser oder ›Koppi dahun‹ ... aber Ingwerthee ist noch besser ...«

»Was ...? Koppi dahun? Thee von Kaffeeblättern? Das habe ich noch nie gesehen.«

»Weil Sie nicht auf Sumatra gedient haben; da ist das gebräuchlich.«

»Dann lassen Sie mir Thee geben ... aber nicht von Kaffeeblättern, auch nicht von Ingwer ... ja, Sie sind ja auf Sumatra gewesen ... und der neue Adsistent-Resident auch, nicht wahr?«

Dies Gespräch wurde auf holländisch geführt, was der Regent nicht verstand. Mochte nun Düclari fühlen, daß etwas Unhöfliches darin lag, ihn dadurch von der Unterhaltung auszuschließen, oder mochte er eine andere Absicht damit haben, plötzlich fuhr er, sich an den Regenten wendend, auf malayisch fort:

[75] »Weiß Mijnheer der Adhipatti, daß der Herr Kontroleur den neuen Adsistent-Residenten kennt?«

»Nein, das habe ich nicht gesagt, ich kenne ihn nicht,« rief Verbrügge, auch malayisch; »ich habe ihn nie gesehen, er hat einige Jahre vor mir auf Sumatra gedient. Ich habe nur gesagt, daß ich da viel über ihn habe sprechen hören.«

»Nun, das kommt auf dasselbe hinaus. Man muß nicht gerade jemand sehen, um ihn zu kennen ... wie denken der Herr Adhipatti darüber?«

Der Adhipatti hatte gerade nötig, einen Diener zu rufen. Es verstrich daher einige Zeit, bis er sagen konnte, »er wäre mit dem Kommandanten einer Meinung, aber oftmals wäre es doch nötig jemand zu sehen, ehe man ihn beurteilen könne.«

»Im allgemeinen ist das vielleicht wahr,« fuhr nun Düclari auf holländisch fort, sei es, daß die Sprache ihm geläufiger war und er für die Höflichkeit genug gethan zu haben glaubte, sei es, daß er von Verbrügge allein verstanden werden wollte – »das könnte im allgemeinen wahr sein; aber was Havelaar betrifft, braucht man die persönliche Bekanntschaft nicht ... er ist ein Narr.«

»Das habe ich nicht gesagt, Düclari.«

»Nein, Sie haben das nicht gesagt, aber ich sage es, nach allem was Sie mir von ihm erzählt haben. Ich nenne einen Menschen, der ins Wasser springt, um einen Hund vor den Haifischen zu retten, einen Narren.«

»Ja, verständig ist es nicht ... aber ...«

»Und, wissen Sie, das Verschen gegen den General van Damme ... das paßte sich nicht.«

»Es war witzig ...«

»Ja, aber ein junger Mensch soll nicht witzig sein gegen einen General.«

»Sie müssen bedenken, daß er noch sehr jung war ... es ist vierzehn Jahre her ... er war nur zweiundzwanzig Jahre alt.«

»Und dann der Puter, den er stahl ...?«

»Das that er, um den General zu ärgern.«

»Richtig. Ein junger Mensch soll keinen General ärgern, der überdies, als Civilgouverneur, sein Chef war ... Das andere Verschen finde ich nett ... aber das ewige Duellieren ...«

»Er that es gewöhnlich für einen anderen; er nahm stets Partei für den Schwächeren.«

[76] »Schön, laßt jeden für sich selbst duellieren, wenn man es durchaus thun will. Was mich betrifft, so glaube ich, ein Duell ist selten nötig; wo es nötig ist, würde ich es annehmen, aber daraus ein tägliches Geschäft zu machen ... dafür danke ich. Hoffentlich hat er sich darin geändert.«

»Sicher, daran ist kein Zweifel. Er ist ja so viel älter und verheiratet, und Adsistent-Resident. Überdies, ich habe immer gehört, daß sein Herz gut wäre, und daß er ein warmes Gefühl für Recht und Billigkeit hat.«

»Das wird ihm in Lebak zu paß kommen. Da ist mir gerade etwas aufgestoßen ... Ob der Regent uns versteht?«

»Ich glaube nicht, indes ... zeigen Sie mir etwas aus Ihrer Jagdtasche, dann denkt er, wir sprechen darüber.«

Düclari nahm seine Jagdtasche, holte ein paar Buschtauben heraus, und indem er diese betastete, als spräche er über die Jagd, teilte er Verbrügge mit, daß ihm soeben im Felde ein Javane nachgelaufen wäre, der ihn gefragt habe, ob er nicht etwas zur Erleichterung des Druckes thun könne, unter dem die Bevölkerung seufze?

»Und,« fuhr er fort, »das ist sehr stark, Verbrügge! Nicht daß ich mich über die Sache selbst wundere; ich bin lange genug im Lebakschen, um zu wissen, wie es hier steht, aber daß der geringe Javane, gewöhnlich so vorsichtig und zurückhaltend, wo es sich um seine Großen handelt, eine solche Frage an jemand stellt, der damit gar nichts zu thun hat, – das befremdet mich!«

»Und was haben Sie geantwortet, Düclari?«

»Nun, daß es mich nichts anginge. Er solle zu Ihnen gehen oder zu dem neuen Adsistent-Residenten, wenn dieser in Rangkas-Betung angekommen wäre, und da seine Klage vorbringen.«

»Da kommen sie!« rief mit einem Male der Aufpasser Dongso, »ich sehe einen Mantri, der seinen Tudung schwenkt.«

Alle standen auf. Düclari wollte nicht durch seine Anwesenheit in der Pendoppo den Schein erwecken, als wäre er auch zur Bewillkommnung des Adsistent-Residenten an der Grenze, der zwar ein Höhergestellter, aber doch nicht sein [77] Chef und dazu ein Narr war; er stieg zu Pferde und ritt seinen Burschen hinter sich, davon.

Der Adhipatti und Verbrügge stellten sich an den Eingang der Pedappo und sahen dem von vier Pferden gezogenen Reisewagen entgegen, der endlich, reichlich mit Schmutz bedeckt, vor dem Bambusgebäude stillhielt.

Es sollte wohl schwer sein zu raten, was da so alles in dem Wagen steckte, ehe Dongso, mit Hilfe der Läufer und einer Zahl von Dienern aus dem Gefolge des Regenten, alle die Riemen und Knoten gelöst hatte, die das Gefährt mit einem ledernen Futteral eingeschlossen hielten, was etwa an die Sorgfalt erinnerte, mit der man in früheren Jahren, als die zoologischen Gärten noch reisende Menagerien waren, Löwen und Tiger in die Stadt brachte. Löwen und Tiger waren ja in dem Wagen nicht; man hatte das alles bloß so dicht geschlossen, weil der Westmonsun wehte und man sich vor dem Regen schützen wollte. Nun ist das Aussteigen aus einem Reisewagen, in dem man lange über den Weg gerasselt ist, nicht so einfach, wie jemand, der gar nicht oder wenig gereist ist, sich denken könnte. Etwa wie die armen Saurier aus der Vorwelt, die durch langes Warten schließlich ein integrierender Bestandteil des Thons wurden, in den sie anfänglich nicht mit der Absicht gekommen waren, um darin zu bleiben, so findet auch bei Reisenden, die eng zusammengequetscht, in gezwungener Haltung, zu lange in einem Reisewagen gesessen haben, etwas statt, was ich vorschlage »Assimilation« zu nennen. Man weiß schließlich nicht mehr recht, wo das Lederkissen des Wagens aufhört und das liebe Ich anfängt; ja, ich kann mir sogar vorstellen, daß man in so einem Wagen Zahnschmerzen oder Krämpfe haben kann, die man für Staub in der Decke ansieht, und umgekehrt.

Es giebt wenig Situationen in der materiellen Welt, die dem denkenden Menschen keinen Anlaß geben sollten, um Betrachtungen auf geistigem Gebiete anzustellen. Und so habe ich mich oft gefragt, ob nicht viele Irrungen, die bei uns Gesetzeskraft haben, viele »Schiefheiten,« die wir für »Recht« halten, sich davon herleiten, daß man zu lange mit einer und derselben Gesellschaft in einem und demselben Reisewagen gesessen hat? Das Bein, das du nach links strecken musst, zwischen die Hutschachtel und das Körbchen mit Kirschen, – das Knie, das du gegen die Wagenthür gedrückt hältst, damit die Dame gegenüber nicht denken soll, daß du etwa eine Absicht auf ihre Krinoline oder ihre Tugend hast, – der mit [78] Hühneraugen gesegnete Fuß, der sich so in acht nahm vor den Hacken des Geschäftsreisenden nebenan, – der Hals, den du so lange links drehen mußtest, weil es auf der rechten Seite träufelt, – sieh, das werden zuletzt alles Hälse und Knie und Füße, die etwas Verdrehtes an sich haben. Ich halte es für gut, von Zeit zu Zeit mit Wagen, Sitzplatz und Reisegesellschaft ein bißchen zu wechseln. Man kann dann seinen Hals einmal anders strecken, man bewegt manchmal sein Knie, und vielleicht sitzt auch einmal ein Mädchen mit Tanzschuhen neben dir, oder ein Knäblein, dessen Beinchen nicht bis herunter reichen. Man hat dann auch mehr Aussicht, wieder geradeaus zu sehen und gerade zu laufen, wenn man wieder festen Grund unter die Füße bekommt.

Ob auch in dem Wagen, der vor der Pendoppo stillhielt, sich etwas gegen die »Auflösung des Zusammenhangs« sträubte, weiß ich nicht; aber sicher ist, daß es lange dauerte, ehe etwas zum Vorschein kam. Es schien ein Wetteifer in Höflichkeit stattzufinden; man hörte sagen: »Bitte sehr, Mewrouw!« und »Resident!« Wie das auch sei, schließlich stieg ein Herr aus, der in Haltung und Aussehen etwas hatte, was an die Saurier erinnerte, von denen ich gesprochen habe.

Da wir ihn noch öfter sehen werden, will ich nur sogleich sagen, daß seine Unbeweglichkeit nicht ausschließlich der Assimilation mit dem Reisewagen zugeschrieben werden darf, sondern daß er, auch wenn kein Gefährt auf viele Meilen in der Runde vorhanden war, eine Ruhe, eine Langsamkeit und eine Vorsicht zur Schau trug, die manchen Saurier neidisch machen könnte, und die in den Augen vieler ein Kennzeichen von Würde, Genügsamkeit und Weisheit ist. Er war, wie viele Europäer in Indien, sehr bleich, was indessen in jenen Gegenden durchaus nicht als Zeichen von geschwächter Gesundheit gilt, und hatte feine Züge, die wohl von geistiger Entwicklung zeugten. Aber es war etwas Kaltes in seinem Blick, etwas, was an eine Logarithmentafel erinnerte, und obwohl sein Aussehen gewiß nicht unbehaglich oder abstoßend war, konnte man sich doch nicht enthalten zu denken, daß seine recht große magere Nase sich auf diesem Gesicht langweilen mußte, weil da so wenig vorfiel.

Höflich bot er einer Dame die Hand, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein, und nachdem diese von einem Herrn, der noch im Wagen saß, ein Kind entgegengenommen hatte, ein kleines blondes Knäblein von drei Jahren etwa, traten sie in die Pendoppo ein. Darauf folgte der Herr selbst, und [79] wer auf Java heimisch war, dem mußte es aufgefallen sein, daß er am Wagenschlag wartete, um einer alten javanischen »Babu« das Aussteigen zu erleichtern. Drei Bediente hatten sich selbst aus dem wachsledernen Kasten losgelöst, der hinter dem Wagen festgemacht war, wie etwa eine junge Auster auf der alten.

Der Herr, der zuerst ausgestiegen war, hatte dem Regenten und dem Kontroleur Verbrügge die Hand geboten, die sie sehr ehrerbietig annahmen; und man merkte an ihrer Haltung, daß sie sich bewußt waren, in der Nähe einer wichtigen Person zu weilen. Es war der Resident von Bantam, dem großen Landstrich, von dem Lebak bloß ein Teil, eine Regentschaft oder offiziell gesagt: eine Adsistent-Residentschaft ist.

Ich habe beim Lesen erdichteter Geschichten mich öfters über den geringen Respekt geärgert, den viele Schriftsteller vor dem Geschmack des Publikums haben, und besonders war das der Fall, wenn es ihnen darum zu thun war, etwas zustande zu bringen, was komisch oder burlesk sein sollte. Man führt eine Person ein, die die Sprache nicht versteht, oder sie wenigstens falsch ausspricht; man läßt einen Franzosen sagen: »Ka kauw na de krote krak« oder »Krietje kooit keen kare kroente wek.« In Ermangelung eines Franzmanns nimmt man einen Stotterer, oder man »schafft« eine Person, die das Steckenpferd reitet, ein paar Worte fortwährend zu wiederholen. Ich habe ein dummes Stück Erfolg haben sehen, weil darin jemand vorkam, der fortwährend sagte: »Mein Name ist Meyer.« Ich finde diese Manier, witzig zu sein, etwas billig, und um die Wahrheit zu sagen, bin ich böse, wenn man so etwas drollig findet.

[80] Aber nun habe ich euch selber so etwas zu bieten. Ich muß von Zeit zu Zeit jemand auf die Bildfläche bringen – ich werde es so wenig als möglich thun – der in der That eine Art zu sprechen hatte, die mir, fürchte ich, verdacht werden könnte als ein verunglückter Versuch, euch zum Lachen zu bringen. Und darum muß ich euch versichern, daß es nicht meine Schuld ist, wenn der höchst würdige Resident von Bantam, von dem hier die Rede ist, etwas so Eigenartiges in seiner Sprechweise hatte, daß es mir schwer fällt es wiederzugeben, ohne den Schein auf mich zu laden, als suche ich den Effekt des Witzes in einem »Kunstgriff.« Er sprach nämlich in einem Tone, als ob hinter jedem Wort ein Punkt stände, oder gar ein langer Gedankenstrich. Ich kann den Zwischenraum zwischen seinen Worten nicht besser schildern als mit der Stille, die in der Kirche auf das »Amen« nach einem langen Gebet folgt, welche, wie jeder weiß, ein Signal ist, daß man nun Zeit hat zu husten oder die Nase zu schnauben. Was er sagte, war gewöhnlich sehr überlegt, und wenn er sich hätte zwingen können, die unzeitigen Ruhepunkte wegzulassen, so würden seine Interpunktionen, vom rhetorischen Standpunkte wenigstens, meistens ein gesundes Ansehen gehabt haben; aber all das Abbröckeln, das Stolpern und Stottern machte das Anhören ungemütlich. Man stolperte denn auch selbst oft darüber; denn gewöhnlich, wenn man begonnen hatte zu antworten, in der Meinung, daß sein Satz aus war und daß er die Ergänzung des Fehlenden dem Scharfsinn des Zuhörers überließ, kamen die noch fehlenden Worte wie die Nachzügler einer geschlagenen Truppe hinterher, und man fühlte, daß man ihm in die Rede gefallen war, was immer unangenehm ist. Das Publikum zu Serang, sofern es sich nicht in den Dienst der Regierung stellte, weil das etwas Würdevolles giebt, nannte sein Gespräch »schleimig«; ich finde das Wort nicht sehr schön, aber ich muß zugeben, daß es die Haupteigenschaft an der Beredsamkeit des Residenten recht gut bezeichnete.

Ich habe von Max Havelaar und seiner Frau – denn das waren die beiden Personen, die mit ihrem Kinde und der Babu aus dem Wagen gekommen waren – noch nichts gesagt, und es wäre auch vielleicht genügend, die Beschreibung ihres Äußeren und ihres Charakters dem Gang [81] der Ereignisse und eurer Phantasie zu überlassen; doch da ich nun einmal beim Beschreiben bin, will ich sagen, daß Mewrouw Havelaar nicht schön war, daß sie aber in Blick und Sprache etwas sehr Anmutiges hatte, und daß sie durch die leichte Ungezwungenheit ihres Benehmens das unverkennbare Zeichen gab, daß sie in der Welt gelebt hatte und in den höheren Klassen der Gesellschaft zu Hause war. Sie hatte nicht das Steife und Unbehagliche der bürgerlichen Mode, sich und anderen das Leben mit allerlei »Gêne« schwer zu machen, um für »distinguiert« zu gelten, und machte sich auch nichts aus Äußerlichkeiten, die für viele andere Frauen Wert haben. Auch in ihrer Kleidung war sie ein Vorbild von Einfachheit. Ein weißes »Badju« von Musselin mit blauer »Cordelière« – ich glaube, in Europa würde man solch ein Kleidungsstück Frisiermantel nennen – war ihr Reisekleid. Um den Hals trug sie ein dünnes seidenes Bändchen, an dem zwei kleine Medaillons hingen, die ihr indessen nicht zu sehen bekamt, denn sie verschwanden in den Falten vor ihrer Brust: das Haar »à la chinoise« mit einem Kränzchen »Melatti« in dem »Kondek« – siehe da, das war ihre Toilette.

Ich sagte, daß sie nicht schön war, und doch möchte ich nicht gern, daß ihr sie für das Gegenteil hieltet. Ich hoffe, ihr werdet sie schön finden, sobald ich Gelegenheit haben werde, sie euch vorzuführen, glühend vor Entrüstung über das, was sie »Mißachtung des Genies« nannte, wenn ihr Max im Spiel war, oder wenn sie ein Gedanke beseelte, der mit dem Wohlergehen ihres Kindes zusammenhing. Es ist schon zu oft ausgesprochen, daß das Antlitz der Spiegel der Seele ist, um noch der Porträtähnlichkeit eines unbewegten Gesichtes Wert beizulegen, das nichts zu spiegeln hat, weil keine Seele darin wiederscheint. Nun also, sie hatte eine schöne Seele, und der mußte blind sein, der nicht auch ihr Gesicht für schön hielt, wenn die Seele darin zu lesen war.

Havelaar war ein Mann von fünfunddreißig Jahren. Er war schlank und lebhaft in seinen Bewegungen; außer seiner besonders kurzen und beweglichen Oberlippe und seinen großen hellblauen Augen, die, wenn er in ruhiger Stimmung war, etwas Träumerisches hatten, aber Feuer sprühten, wenn eine große Idee ihn beherrschte, war in seinem Aussehen nichts Besonderes. Seine blonden Haare hingen glatt an den Schläfen, und ich begreife wohl, daß man beim ersten Ansehen [82] nicht auf den Gedanken kam, jemand vor sich zu haben, der, was Haupt und Herz anging, zu den Seltenheiten gehörte. Er war ein Gefäß voller Widersprüche: scharf wie ein Messer und sanft wie ein Mädchen, fühlte er immer die Wunde, die seine bitteren Worte geschlagen hatten, zuerst, und er litt mehr darunter als der Verwundete. Er war schnell von Begriffen, faßte sofort das Höchste, das Verwickelteste, hatte dafür alle Mühe, alles Studium, alle Anspannung übrig – und manchmal begriff er die einfachste Sache nicht, die ihm ein Kind hätte erklären können. Voller Liebe zur Wahrheit und zum Recht, vernachlässigte er manchmal seine nächstliegenden Pflichten, um das Unrecht wieder gut zu machen, das höher oder ferner oder tiefer lag, und das durch die wahrscheinlich größere Anspannung ihn mehr lockte. Er war ritterlich und mutig, aber er verschwendete, ein zweiter Don Quixote, seine Tapferkeit oft eine Windmühle. Er glühte vor unersättlicher Ehrsucht, die ihm alle gewöhnlichen Unterscheidungen im gesellschaftlichen Leben als nichtig erscheinen ließ, und sah doch sein größtes Glück in einem stillen, häuslichen, vergessenen Leben. Er war ein Dichter im höchsten Sinne des Wortes, bei einem Funken träumte er sich Sonnensysteme, bevölkerte sie mit Geschöpfen seiner Hand, fühlte sich als Herr einer Welt, die er ins Leben gerufen hatte, und konnte doch augenblicklich, ohne die geringste Träumerei, eine Unterhaltung führen über den Preis von Reis, über die Regeln der Sprache und die ökonomischen Vorteile einer ägyptischen Hühnerbrüterei. Keine Wissenschaft war ihm ganz fremd: er »ahnte,« was er nicht wußte, und besaß in hohem Maße die Gabe, das wenige, was er wußte – jeder weiß wenig, und er, obwohl er mehr wußte als man cher andere, machte davon keine Ausnahme – das wenige auf eine Weise anzuwenden, die das Maß seiner Kenntnisse vervielfältigte. Er war präcis, ordnungsliebend und über die Maßen geduldig, aber gerade, weil Genauigkeit, Ordnung und Geduld ihm schwer fielen, da sein Geist etwas Unruhiges hatte, – langsam und umsichtig im Beurteilen von Geschäften, wenn es auch denen, die ihn so schnell seine Resultate äußern hörten, nicht so vorkam. Seine Eindrücke waren so lebendig, daß man sie kaum für nachhaltig ansehen sollte, und doch [83] bewies er oft, daß sie nachhaltig waren. Alles, was groß und erhaben war, lockte ihn, und zu gleicher Zeit war er einfältig und naiv wie ein Kind. Er war ehrlich, vor allem, wo die Ehrlichkeit ins Gutmütige überging, und konnte Hunderte, die er schuldig war, unbezahlt lassen, weil er Tausende verschenkt hatte. Er war witzig und unterhaltend, wo er fühlte, daß sein Witz Verständnis fand; aber sonst starr und zurückgezogen; herzlich für seine Freunde, und er machte alles, was litt, zu seinen Freunden; für Liebe und Anhänglichkeit empfänglich; seinem gegebenen Worte treu; schwach in Kleinigkeiten, aber standhaft bis zur Störrigkeit, wo es ihm der Mühe wert schien, Charakter zu zeigen; herablassend und wohlwollend für die, die sein geistiges Übergewicht anerkannten; aber unangenehm, wenn man sich dem widersetzen wollte; offenherzig aus Trotz, und bei Stürmen hinterhältig, wo er fürchtete, daß man seine Aufrichtigkeit als Unverstand ansehen könnte; ebenso zugänglich für sinnlichen wie für geistigen Genuß; blöde und schlecht beredt, wo er meinte nicht verstanden zu werden, aber von großer Beredsamkeit, wenn er fühlte, daß seine Worte auf willigen Boden fielen; träge, wenn er nicht durch einen Reiz angespornt wurde, der aus seiner eigenen Seele kam, aber eifrig, feurig, wo dies der Fall war; ferner freundlich, vornehm in seinen Manieren und untadelhaft in seinem Auftreten – so etwa war Havelaar.

Ich sage: etwa; denn wenn alle Begriffsbestimmungen schwierig sind, so gilt dies erst recht von der Beschreibung einer Person, die von der alltäglichen Grundform sehr abweicht. Deswegen wird es wohl auch kommen, daß Romandichter ihre Helden gewöhnlich zu Teufeln oder Engeln machen. Schwarz und weiß lassen sich bequem schildern, aber schwerer ist das richtige Wiedergeben einer bunten Mischung, die dazwischen liegt, wenn man an die Wahrheit gebunden ist und deshalb weder zu dunkel noch zu licht färben will.

Ich fühle, daß die Skizze, die ich von Havelaar zu geben versucht habe, höchst unvollkommen ist. Die Materialien, die mir vorliegen, sind von so verschiedener Art, daß sie mich durch das Ubermaß an Reichtum in meinem Urteil behindern, und ich werde des halb zur Ergänzung wieder darauf zurückkommen, wenn es die Ereignisse, die ich euch mitzuteilen wünsche, so mit sich bringen. Das eine ist sicher, es war ein ungewöhnlicher Mensch, und es lohnte der Mühe, ihn zu studieren. Ich bemerke schon jetzt, daß ich versäumt habe, als einen seiner hauptsächlichsten Züge anzuführen, daß er die [84] heitere und ernste Seite der Dinge mit derselben Schnelligkeit und zu gleicher Zeit erfaßte; seine Sprechweise bekam daher, ohne daß er es selbst wußte, eine Art von Humor, die seine Zuhörer oft in Zweifel brachte, ob sie von dem tiefen Gefühl, das in seinen Worten herrschte, getroffen sein sollten, oder ob sie lachen sollten über den Scherz, der mit einmal den Ernst davon abbrach.

Bemerkenswert war, daß sein Auftreten und selbst seine Empfindungen so wenig Spuren seines vergangenen Lebens trugen. Das Rühmen mit Erfahrung ist ein lächerlicher Gemeinplatz geworden. Es giebt Leute, die fünfzig oder sechzig Jahre lang mit dem Strömchen, in dem sie zu schwimmen meinten, mitgetrieben sind, und die von all der Zeit weiter nichts erzählen könnten, als daß sie von der A-Gracht nach der B-Straße verzogen sind, und nichts ist gewöhnlicher als das Pochen auf »Erfahrung« gerade bei denen, die ihre grauen Haare so idyllisch bekommen. Andere wieder begründen ihren Anspruch auf »Erfahrung« mit wirklich erlebten Schicksalen, ohne daß sich indes aus irgend etwas ergiebt, daß sie durch diese Schicksale in ihrem Seelenleben ergriffen worden sind. Ich kann mir denken, daß das Erleben oder selbst die Beteiligung an wichtigen Ereignissen wenig oder gar keinen Einfluß auf die Seele mancher Leute ausübt. Wer daran zweifelt, der frage sich, ob man allen Bewohnern Frankreichs »Erfahrung« zuerkennen soll, die im Jahre 1815 etwa vierzig oder fünfzig Jahre alt waren? Und das waren doch alles Leute, die das große Drama, die Umwälzung von 1789, nicht nur hatten aufführen sehen, sondern die selbst eine mehr oder minder wichtige Rolle darin gespielt hatten.

Und umgekehrt, wie viele erfahren eine Reihe von Anregungen, ohne daß die äußeren Umstände dazu Anlaß zu geben schienen! Man denke an die Robinson-Romane, an Silvio Pellicos »Gefängnisse,« an das allerliebste Buch »Picciola« von Saintine; man denke an den Kampf in der Brust einer alten Jungfer, die ihr ganzes Leben eine Liebe hegte, ohne je durch ein einziges Wort zu verraten, was in ihr vorging, an die Empfindungen des Menschenfreundes, der, ohne äußerlich mit dem Gang der Ereignisse beschäftigt zu sein, mit feurigem Interesse über das Wohlsein von Mitbürger und Mitmensch nachgrübelt, wie er neue Geschehnisse hofft und fürchtet, wie er jede Veränderung verfolgt, wie er sich aufreibt für eine schöne Idee, und vor Entrüstung glüht, wenn er sie verdrängen und zertreten sieht, durch eine Gegnerschaft, [85] die für den Augenblick wenigstens stärker ist als schöne Ideen! Man denke an einen Philosophen, der aus seiner Zelle das Volk zu lehren sucht, was Wahrheit ist, wenn er bemerken muß, daß seine Stimme durch frömmelnde Heuchelei gewinnsüchtiger Quacksalber überschrien wird! Man stelle sich Sokrates vor, – nicht als er den Giftbecher leerte; denn ich meine hier die Erfahrung im Gemüt und nicht die, die aus äußeren Umständen geboren wird – wie bitter betrübt mußte seine Seele sein, als er, der das Gute und Wahre suchte, sich den »Verderber der Jugend und Verächter der Götter« nennen hörte?

Oder besser noch: man denke an Christus, als er so traurig auf Jerusalem blickte und klagte, »daß es nicht gewollt habe!«

Solch ein Schmerzensschrei – vor dem Giftbecher und dem Kreuz – fließt nicht aus einem unverletzten Herzen. Dort muß gelitten sein ... dort sitzt die Erfahrung.

Die Redensart ist mir entschlüpft ... sie mag nun auch stehen bleiben. Havelaar hatte viel »erfahren.« Wollt ihr etwas, was gegen den Umzug von der A-Gracht aufkommen kann? Er hatte mehr als einmal Schiffbruch gelitten, er hatte Brand, Aufruhr, Meuchelmord, Krieg, Duelle, Luxus, Armut, Hunger, Cholera, Liebe und Liebschaften in seinem Tagebuche zu stehen. Er hatte Frankreich, Deutschland, Belgien, Italien, die Schweiz, England, Spanien, Portugal, Rußland, Ägypten, Arabien, Indien, China und Amerika besucht.

Was also die Lebensumstände angeht, so konnte er viel erfahren haben. Und daß er wirklich viel erfahren hatte, daß er nicht durch das Leben gegangen war, ohne die Eindrücke aufzufangen, die es ihm so reichlich bot, dafür sind Zeugen die Beweglichkeit seines Geistes und die Empfänglichkeit seines Gemüts.

Das nun erregte die Verwunderung aller, die wußten oder vermuten konnten, wie viel er erlebt und erlitten hatte, daß davon auf seinem Gesicht so wenig zu lesen war. Wohl war auf seinen Zügen etwas von Müdigkeit, doch dies deutete eher auf frühreife Jugend als auf nahendes Alter; und nahendes Alter hätte es doch sein müssen, denn in Indien ist der Mann von fünfunddreißig Jahren nicht mehr jung.

Auch seine Empfindungen, sagte ich, waren jung geblieben. Er konnte mit einem Kinde spielen wie ein Kind, und mehrmals klagte er, daß der kleine Max noch zu jung war, um [86] Drachen steigen zu lassen, während er, der »große Max«, das so liebte. Mit Jungen sprang er »Häschen,« und er zeichnete gern ein Muster für die Mädchen zum Sticken; selber nahm er ihnen manchmal die Nadel aus der Hand und machte sich mit dieser Arbeit zu thun, obschon er immer sagte, daß sie wohl etwas Besseres thun könnten als das »mechanische Stichezählen.« Unter jungen Leuten von achtzehn Jahren war er ein junger Student, sang er sein »Patriam canimus« oder »Gaudeamus igitur« – ja, ich bin nicht ganz sicher, daß er nicht vor noch ganz kurzer Zeit, als er in Amsterdam auf Urlaub war, ein Aushängeschild abgerissen hat, das ihm nicht gefiel, weil ein Mohr darauf zu sehen war, gefesselt zu den Füßen eines Europäers mit einer langen Pfeife im Munde, und worunter natürlich zu lesen stand: »Der rauchende junge Kaufmann.«

Die Babu, die er aus dem Wagen gehoben hatten, sah aus wie alle Babus in Indien, wenn sie alt sind. Wenn ihr diese Art von Dienerinnen kennt, brauche ich euch nicht zu sagen, wie sie aussah, und wenn ihr sie nicht kennt, kann ich es euch nicht sagen. Das allein unterschied sie von anderen Kindermädchen in Indien, daß sie sehr wenig zu thun hatte. Denn Mewrouw Havelaar war ein Muster von Sorgfalt für ihr Kind, und was für oder mit dem kleinen Max zu thun war, that sie selber, zum großen Erstaunen vieler anderer Damen, die es nicht für gut fanden, sich zur »Sklavin der Kinder« zu machen.

Siebentes Kapitel

Siebentes Kapitel.

Stern fährt fort. Der neue Chef wird in sein Amt eingeführt und beginnt sich häuslich einzurichten.


Der Resident von Bantam stellte den Regenten und den Kontroleur dem neuen Adsistent-Residenten vor. Havelaar begrüßte beide Beamten sehr höflich; den Kontroleur – es ist immer etwas Peinliches bei der Begrüßung eines neuen Vorgesetzten – ermutigte er sofort durch einige Worte, als wollte er eine Art von Vertraulichkeit einführen, die den Verkehr erleichtern sollte. Mit dem Regenten war seine Begrüßung, wie es sich gehörte einer Person gegenüber, [87] die »den goldenen Payong führt,« die aber gleichzeitig »sein jüngerer Bruder sein« sollte. Mit würdiger Liebenswürdigkeit machte er ihm Vorwürfe über seinen großen Diensteifer, der ihn in solchem Wetter an die Grenzen seines Bezirks geführt hatte – wozu allerdings, genau genommen, nach den Regeln der Etikette der Regent nicht verpflichtet war.

»Wirklich, Herr Adhipatti, ich bin Ihnen böse, daß Sie sich um meinetwillen die Mühe gemacht haben ... ich dachte Sie erst in Rangkas-Betung zu treffen.«

»Ich wünschte den Herrn Adsistent-Residenten so früh wie möglich zu sehen,« sagte der Adhipatti, »um Freundschaft zu schließen.«

»Gewiß, gewiß, ich fühle mich sehr geehrt; aber ich sehe nicht gern jemand Ihres Ranges und Ihres Alters sich allzuviel anstrengen ... und zu Pferde?«

»Ja, Herr Adsistent-Resident! wo der Dienst ruft, bin ich noch immer stark und rüstig.«

»Das ist zu viel verlangt ... nicht wahr, Resident?«

»Der Herr Adhipatti. Ist. Sehr.«

»Gütig, aber es giebt eine Grenze ...«

»Eifrig,« schleppte der Resident hinterher.

»Wohl, aber es ist eine Grenze,« mußte Havelaar noch einmal sagen, wie um das Vorige zurückzuschlucken, – »wenn Sie es gut finden, Resident, machen wir im Wagen Platz. Die Babu kann hier bleiben, wir schicken ihr dann von Rangkas-Betung eine Tandu. Meine Frau nimmt Max auf den Schoß ... nicht wahr, Tine! ... und es ist noch Platz genug.«

»Es. Ist. Mir.«

»Verbrügge, wir nehmen Sie auch mit, ich sehe nicht ein ...«

»Recht,« sagte der Resident.

»Ich sehe nicht ein, warum Sie ohne Not zu Pferde durch den Modder klappern sollen. Es ist Platz für uns alle, wir können dann sofort Bekanntschaft machen, ... nicht wahr, Tine, wir werden uns schon einrichten ... hier, Max ... sehen Sie, Verbrügge, ist das nicht ein nettes Kerlchen ... das ist mein Kleiner ... das ist Max!«

Der Resident hatte mit dem Adhipatti Platz genommen. [88] Havelaar rief Verbrügge, um ihn zu fragen, wem der Schimmel mit der roten Schabracke gehörte, und als Verbrügge nach dem Eingang der Pendoppo trat, um zu sehen, welches Pferd er meinte, legte er diesem die Hand auf die Schulter und fragte:

»Ist der Regent immer so diensteifrig?«

»Es ist für seine Jahre ein starker Mann, Mijnheer Havelaar, und Sie begreifen, daß er gern einen guten Eindruck auf Sie machen wollte.«

»Ja, das verstehe ich. Ich habe viel Gutes von ihm gehört ... er ist gebildet?«

»O ja ...«

»Und hat er eine große Familie?«

Verbrügge sah Havelaar an, als begriffe er diesen Sprung nicht. Das war denn auch für einen, der ihn nicht kannte, oftmals nicht leicht. Die Regsamkeit seines Geistes ließ ihn in Gesprächen manchmal einige Glieder der Schlußfolgerung überschlagen, und wie bequem sich auch der Übergang in seinen Gedanken abspielte, so war es doch jemand, der minder rege oder an seine Regsamkeit nicht gewöhnt war, nicht übel zu nehmen, wenn er ihn bei solch einer Gelegenheit anstarrte mit der unausgesprochenen Frage auf den Lippen: Bist du närrisch oder was ist los?

So etwas lag auch in Verbrügges Zügen, und Havelaar mußte die Frage wiederholen, ehe er antwortete:

»Ja, er hat eine sehr ausgebreitete Familie.«

»Und sind Medjets im Bezirk im Bau?« fuhr Havelaar fort, wieder in einem Tone, der, im Gegensatz zu den Worten selbst, anzudeuten schien, daß ein Zusammenhang bestehe zwischen den Moscheen und der großen Familie des Regenten.

Verbrügge antwortete, es würde wirklich viel an Moscheen gearbeitet.

»Ja, ja, ich wußte es wohl,« rief Havelaar. »Und sagen Sie mir, ist viel Rückstand bei der Bezahlung der Landrenten?«

»Ja, das könnte wohl besser sein ...«

»Richtig, besonders im Distrikt Parang-Kudjang,« sagte Havelaar, als fände er es bequemer, selbst zu antworten.

[89] »Wie hoch ist der diesjährige Voranschlag?« fuhr er fort, und als Verbrügge etwas zögerte, als ob er sich auf die Antwort besinnen müsse, kam ihm Havelaar zuvor, der in einem Atem fortfuhr:

»Gut, gut, ich weiß schon ... sechsundachtzigtausend und einige Hundert ... fünfzehntausend mehr als im vorigen Jahre ... aber doch bloß sechstausend mehr als im Jahre 185 .... Wir sind seit den dreißiger Jahren bloß achttausend gestiegen ... und auch die Bevölkerung ist sehr dünn ... ja, Malthus! ... in zwölf Jahren sind wir bloß elf Prozent gestiegen, und das ist noch die Frage, denn die Volkszählungen waren früher sehr ungenau ... und jetzt noch! ... Im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts haben wir sogar eine Abnahme ... auch der Viehbestand kommt nicht vorwärts ... ein schlechtes Zeichen ... was Kuckuck springt das Pferd so? ich glaube, es wird wild ... komm hierher, Max!«

Verbrügge hatte den Eindruck, er würde dem neuen Adsistent-Residenten wenig zu lehren haben, und von einem Übergewicht durch »lokale Anciennität« würde keine Rede sein, was der gute Junge übrigens auch nicht erwartet hatte.

»Aber es ist natürlich,« fuhr Havelaar fort, während er Max auf den Arm nahm, »im Tjikandschen und Bolangschen sind sie sehr froh darüber ... und die Aufständischen in den Lampongs auch. Ich rechne sehr auf Ihre Mitwirkung, Mijnheer Verbrügge. Der Regent ist ein Mann von Jahren ... sein Schwiegersohn ist noch immer Distriktshaupt? Alles zusammengenommen halte ich ihn für eine Person, die Nachsicht verdient ... den Regenten meine ich ... ich bin sehr froh, daß hier alles so arm ist ... ich hoffe, lange hier zu bleiben.«

Hierauf reichte er Verbrügge die Hand. Und als dieser nun mit ihm nach dem Tische zurückkehrte, an dem der Resident, der Adhipatti und Mewrouw Havelaar saßen, fühlte er bereits besser als fünf Minuten vorher, daß »dieser Havelaar doch nicht so närrisch war,« wie der Kommandant meinte. Verbrügge war durchaus nicht ohne Verstand, und er, der den Bezirk Lebak kannte, wie eben ein Mann einen so großen Landstrich kennen kann, in dem nichts gedruckt wird, fing an einzusehen, daß doch ein Zusammenhang war zwischen den scheinbar nicht zusammenhängenden Fragen Havelaars, und ferner, daß der neue Adsistent-Resident, obwohl er den Bezirk noch nicht betreten hatte, doch etwas davon wußte, was darin vorging. Allerdings begriff er die [90] Freude nicht über die Armut in Lebak, aber er dachte, den Ausdruck vielleicht nicht richtig gehört zu haben. Später freilich, als Havelaar ihm dasselbe öfter offenbarte, sah er ein, wie viel Großes und Edles in dieser Freude war.

Havelaar und Verbrügge nahmen an der Tafel Platz, und während man den Thee nahm, wartete man unter gleichgültigen Gesprächen, bis Dongso kam, dem Residenten zu melden, daß frische Pferde angespannt wären. Man packte sich so gut wie möglich in den Wagen und fuhr los.

Das Sprechen fiel infolge des Rüttelns und Stoßens schwer. Max wurde mit Bananen beruhigt; seine Mutter hatte ihn auf dem Schoße und wollte durchaus nicht zugeben, daß sie müde wäre, als Havelaar ihr den schweren Jungen abnehmen wollte. In einem Augenblick gezwungener Ruhe in einem Modderloch fragte Verbrügge den Residenten, ob er schon überMewrouw Slotering gesprochen habe?

»Der Herr Havelaar. Hat. Gesagt.«

»Natürlich, Verbrügge, warum nicht? Die Dame kann bei uns bleiben. Ich möchte nicht ...«

»Daß. Es. Gut. Wäre,« schleifte der Resident mühsam hinterdrein.

»Ich möchte nicht gern einer Dame in diesen Umständen mein Haus versagen ... so etwas spricht von selbst ... nicht wahr, Tine?«

Auch Tine meine, es spräche von selbst.

»Sie haben in Rangkas-Betung zwei Häuser, und es ist Platz im Überfluß für zwei Familien,« sagte Verbrügge.

»Aber auch wenn das nicht so ...«

»Ich. Konnte. Es. Ihr.«

»Gewiß, Resident,« rief Mewrouw Havelaar; »es ist kein Zweifel daran.«

»Nicht. Versprechen. Denn. Es. Ist.«

»Und wenn sie ihrer zehn wären, wenn sie nur bei uns vorlieb nehmen wollen.«

»Eine. Große. Last. Und. Sie. Ist.«

»Aber das Reisen in dieser Lage ist unmöglich, Resident.«

Ein heftiger Stoß des Wagens, der herausgehoben wurde, setzte hinter die Erklärung, daß das Reisen für Mewrouw Slotering unmöglich wäre, ein Ausrufungszeichen. Jeder hatte das übliche »Heh« gerufen, das auf solchen Ruck folgt; Max hatte im Schoße seiner Mutter die Banane wiedergefunden, die er durch den Stoß verloren hatte, und schon [91] war man ein gutes Stückchen näher an dem nächsten Modderloch, ehe der Resident sich entschließen konnte, seinen Satz zu beendigen, indem er beifügte:

»Eine. Inländische. Frau.«

»O, das ist ganz dasselbe,« versuchte Mewrouw Havelaar sich verständlich zu machen. Der Resident nickte, als fände er es gut, daß die Sache also erledigt wäre, und da das Sprechen so beschwerlich war, brach man das Gespräch ab.

Die Frau Slotering war die Witwe von Havelaars Vorgänger, der vor zwei Monaten gestorben war. Verbrügge, der darauf vertretungsweise mit dem Amt des Adsistent-Residenten betraut worden war, hätte das Recht gehabt, während dieser Zeit die geräumige Wohnung zu beziehen, die zu Rangkas-Betung, wie in jedem Bezirke, von Landes wegen für das Haupt der Verwaltung hergerichtet ist. Er hatte es indes nicht gethan, teils aus Furcht, bald wieder umziehen zu müssen, teils um der Dame mit ihren Kindern die Benutzung zu überlassen. Es wäre sonst Raum genug gewesen; denn außer der ziemlich großen Adsistent-Residentswohnung stand daneben auf demselben Grundstück noch ein anderes Haus, das früher dazu gedient hatte, und wenn auch in baufälligem Zustande, doch noch zum Bewohnen geeignet war.

Mewrouw Slotering hatte den Residenten gebeten, bei dem Nachfolger ihres Gatten ihr Fürsprecher zu sein um die Vergünstigung, dieses alte Haus bis zu ihrer Niederkunft zu bewohnen, die sie in einigen Monaten erwartete. Dies war die Bitte, die Havelaar und seine Frau so bereitwillig zugestanden, denn gastfrei waren sie im höchsten Maße.

Der Resident hatte gesagt, daß Mewrouw Slotering eine »inländische Frau« war. Das erheischt für nicht-indische Leser einige Erklärung; denn man könnte leicht auf die unrichtige Vermutung kommen, daß es sich um eine eigentliche Javanerin handle.

Die europäische Gesellschaft in Indien ist scharf geschieden in zwei verschiedene Teile: die eigentlichen Europäer, und diejenigen, die, obwohl gesetzlich in demselben Rechtsverhältnis stehend, nicht in Europa geboren sind und mehr oder weniger inländisch Blut in den Adern haben. Zur Ehre der Humanitätsbegriffe in Indien beeile ich mich hinzuzufügen, daß, wie scharf die Linie auch ist, die man im gesellschaftlichen Verkehr zwischen den zwei Arten von Menschen zieht, die dem Eingeborenen gegenüber gemeinsam den Namen »Europäer« [92] tragen, diese Scheidung keineswegs den barbarischen Charakter besitzt, der in Amerika bei der Sonderung der Stände vorherrscht. Ich verkenne nicht, daß immer noch viel Ungerechtes und Verletzendes in dem Verhältnis vorhanden ist, und daß mir das Wort »Liplap« oft in den Ohren klang als ein Beweis, wie weit der Nicht-Liplap, der Weiße, oft noch von wahrer Bildung entfernt ist. Es ist wahr, daß der Liplap nur ausnahmsweise in Gesellschaften zugelassen wird, daß er gewöhnlich, um mich eines sehr gewöhnlichen Ausdrucks zu bedienen, nicht für voll angesehen wird, aber selten wird man solche Absonderung oder Geringschätzung als Princip hinstellen oder verteidigen hören. Es steht jedem frei, seinen Verkehr zu wählen, und man kann es dem eigentlichen Europäer nicht übel deuten, wenn er den Umgang mit Leuten seiner Art vorzieht, gegenüber dem Verkehr mit Personen, die – ihre größere oder geringere Würdigkeit außer acht gelassen – seine Eindrücke und Ideen nicht teilen, oder – und das ist am Ende die Hauptsache – deren Vorurteile eineandere Richtung genommen haben als die seinen.

Ein »Liplap« – wollte ich den Ausdruck benutzen, der für gebildeter gilt, müßte ich sagen: »ein sogenanntes inländisches Kind«; ich bitte aber um Erlaubnis, mich an den aus Allitteration geborenen Sprachgebrauch zu halten, ohne daß ich etwas Beleidigendes mit dem Ausdruck beabsichtige, und was bedeutet das Wort denn auch? – ein Liplap hat viel Gutes, und der Europäer hat viel Gutes. Beide haben viel Schlechtes; darin gleichen sie also einander. Aber das Gute und Schlechte, das beiden anhängt, geht zu sehr auseinander, als daß ihr Verkehr miteinander im allgemeinen zu gegenseitiger Befriedigung ausschlagen könnte. Außerdem, und daran hat die Regierung viel Schuld, ist der Liplap oft schlecht unterrichtet. Die Frage ist nun nicht, wie der Europäer sein würde, wenn er so von Jugend auf in seiner Entwicklung gehindert worden wäre. Aber es ist sicher, daß die geringe wissenschaftliche Bildung des Liplap im allgemeinen seiner Gleichstellung mit dem Europäer im Wege steht, auch da, wo er als Individuum, in Bildung, Wissenschaft oder Kunst den Vorrang vor einer bestimmten europäischen Person verdienen würde.

Auch hierin liegt wieder nichts Neues. Es lag in der Politik Wilhelms des Eroberers, den geringsten Normannen über den gebildetsten Sachsen zu erheben; und jeder Normanne berief sich auf das Übergewicht der Normannen im allgemeinen, [93] um seine Person zur Geltung zu bringen, auch da, wo er, ohne den Einfluß seiner Stammesgenossen als der siegenden Partei, der geringste gewesen wäre.

Auf solcher Basis wurde von vornherein in allen Verkehr eine Gezwungenheit gebracht, die nur durch philosophische, weitherzige Einsicht der Regierung wieder beseitigt werden könnte.

Daß der Europäer, der dabei im Vorteil ist, sich gern in dies künstliche Übergewicht findet, spricht für sich selbst, aber manchmal ist es komisch, jemand, der seine Bildung und seine Ausdrucksweise in der Rotterdamschen Sandstraße auflas, den Liplap auslachen zu hören, weil dieser »ein Glas Wasser« oder »Gouvernement« männlich und »Sohn« oder »Mond« sächlich verwendet.

Ein Liplap kann gebildet, gut erzogen, ja gelehrt sein – es giebt deren – sobald der Europäer, der sich krank stellte, um von dem Schiff zurückzubleiben, auf dem er Teller wusch, dessen Höflichkeit basiert auf »Uwee« und »Verexküsiert«, der an der Spitze der Handelsunternehmung stand, die am Indigo im Jahre 1800 »enorm« verdient hat – so viel, nein, lange bevor er den »Toko« besaß, in dem er Schinken und Jagdflinten verkaufte – sobald dieser Europäer merkte, daß der gebildetste Liplap Schwierigkeiten hat, das g und h auseinanderzuhalten, lachte er über die Dummheit des Mannes, der nicht weiß, daß ein Unterschied ist zwischen einem »Heck« und einem »Geck«.

Aber um darüber nicht zu lachen, hätte man auch wissen müssen, daß im Arabischen und Malayischen das »cha« und das »ha« durch ein und dasselbe Zeichen ausgedrückt wird, daß »Hieronymus« über Geronimo in Jerôme übergeht, daß wir aus »Huano« Guano machen, daß ein »Want« ein Handschuh ist, daß »Kous« von Hose abstammt, daß wir aus »Guild- Heaume« im Holländischen Huillem und Willem machen. Das [94] ist zu viel verlangt von einem, der sein Vermögen im Indigo machte.

Und solch ein Europäer kann doch nicht umgehen mit solch einem Liplap! Ich begreife, wie Willem von Guillaume kommt, und muß bekennen, daß ich, besonders auf den Molukken, viele Liplapen kennen gelernt habe, die mich durch den Umfang ihrer Kenntnisse in Staunen setzten, und die mich auf den Gedanken brachten, daß wir Europäer, denen so viel Hilfsmittel zur Verfügung stehen, oftmals, und nicht allein vergleichsweise, weit zurück sind gegen die armen Parias, die von der Wiege an mit einer künstlichen, absichtlichen Zurücksetzung und mit den Vorurteilen gegen ihre Farbe zu kämpfen hatten.

Aber Mewrouw Slotering war ein für allemal vor Fehlern im Holländischen sicher, denn sie sprach malayisch. Wir werden sie später zu Gesicht bekommen, wenn wir mit Havelaar, Tine und dem kleinen Max in der Vorgalerie der Adsistent-Residentswohnung zu Rangkas-Betung Thee trinken, wo ja unsere Reisegesellschaft, nach vielem Rasseln und Stoßen, endlich wohlbehalten ankam.

Der Resident, der nur mitgekommen war, um den neuen Adsistent-Residenten in sein Amt einzusetzen, gab den Wunsch zu erkennen, noch denselben Tag nach Serang zurückzukehren, »Weil. Er.«

Havelaar erklärte sich zu aller Eile bereit.

»Es. So. Eilig. Habe.«

Und es wurde verabredet, daß man dazu in einer halben Stunde zusammenkommen wolle in der großen Vorgalerie der Wohnung des Regenten. Verbrügge, der darauf vorbereitet war, hatte schon vor vielen Tagen den Distriktshäuptern, dem Patteh, dem Kliwon, dem Djaksa, dem Steuerkollekteur, einigen Mantris, und ferner allen inländischen Beamten, die dieser Feierlichkeit beiwohnen mußten, den Auftrag gegeben, sich auf dem Hauptplatze zu versammeln.

Der Adhipatti nahm Abschied und ritt nach seinem Hause. Mewrouw Havelaar besah ihre neue Wohnung und war damit sehr zufrieden, vor allem, weil der Garten so groß war: das schien ihr sehr gut für Max, der viel in die Luft sollte. Der Resident und Havelaar hatten sich jeder in ein Zimmer begeben, um sich umzukleiden, denn bei der Feierlichkeit, die [95] bevorstand, war das offiziell vorgeschriebene Kostüm ein Erfordernis. Rund um das Haus standen Hunderte von Menschen, die entweder zu Pferde den Wagen des Residenten begleitet hatten, oder zu dem Gefolge der versammelten Häupter gehörten. Die Polizei- und Bureau-Aufseher liefen eifrig hin und her; kurz, alles deutete darauf, daß die Eintönigkeit auf dem vergessenen Fleckchen Erde für einen Augenblick durch einiges Leben unterbrochen wurde.

Jetzt fuhr der hübsche Wagen des Adhipatti auf dem Vorplatz vor. Der Resident und Havelaar, blitzend von Gold und Silber, aber etwas über ihre Degen stolpernd, stiegen ein und begaben sich nach der Wohnung des Regenten, wo sie mit der Musik von Gongs, Gamelangs und allerlei Schnarr-Instrumenten empfangen wurden. Auch Verbrügge, der sein beschmutztes Gewand abgelegt hatte, war bereits angelangt. Die niederen Häupter saßen in einem großen Kreis, nach orientalischer Weise auf Matten am Fußboden, und am Ende der langen Galerie stand ein Tisch, an dem der Resident, der Adhipatti, der Adsistent-Resident, der Kontroleur und ein paar Häupter Platz nahmen.

Der Resident erhob sich und las den Beschluß des General-Gouverneurs vor, worin der Herr Max Havelaar zum Adsistent-Residenten des Bezirks Bantan-Kidul oder Süd-Bantam, von den InländernLebak genannt, angestellt wurde. Er nahm darauf das Staatsblatt, auf dem der für die Einführung in Ämter allgemein vorgeschriebene Eid stand, »daß man, um zu dem betreffenden Amte zu gelangen, niemand etwas versprochen oder gegeben habe, noch auch versprechen [96] oder geben werde, daß man treu und zu Diensten sein werde Seiner Majestät dem König der Niederlande, sowie gehorsam Seiner Majestät Stellvertreter in den Indischen Landen, daß man die Gesetze und Bestimmungen, die gegeben seien oder noch gegeben würden, genau befolgen und für ihre Befolgung durch die Untergebenen sorgen werde,wie es einem guten ... (in diesem Falle:Adsistent-Residenten) zukommt.«

Hierauf folgte natürlich das sakramentale »So wahr mir helfe Gott der Allmächtige.«

Havelaar sprach den vorgelesenen Eid nach. Als in diesen Eid inbegriffen hätte eigentlich das Gelöbnis angesehen werden müssen, daß man die inländische Bevölkerung gegen Aussaugung und Unterdrückung beschirmen werde; denn wenn man schwur, daß man die bestehenden Gesetze und Bestimmungen befolgen werde, brauchte man schlechthin auf die zahlreichen diesbezüglichen Vorschriften hinzublicken, um einzusehen, daß eigentlich ein besonderer Eid für diesen Punkt nicht nötig wäre. Es scheint indessen, daß der Gesetzgeber gemeint hat, Überfluß am Guten könne nichts schaden; man fordert also von dem Adsistent-Residenten noch einen besonderen Eid, in dem diese Pflicht noch einmal ausdrücklich ausgesprochen wird, und Havelaar rief daher Gott den Allmächtigen nochmals zum Zeugen an, daß er »die inländische Bevölkerung beschirmen werde gegen Unterdrückung, Mißhandlung und Erpressung.«

Für einen feinen Beobachter wäre es der Mühe wert gewesen, den Unterschied in Ton und Haltung bei dem Residenten und bei Havelaar bei dieser Gelegenheit zu beobachten. Beide hatten einer solchen Feierlichkeit schon öfter beigewohnt; der Unterschied, den ich meine, lag also nicht darin, daß der eine oder der andere von dem Neuen und Ungewohnten mehr oder minder berührt wäre, sondern er wurde ganz allein durch das Verschiedenartige der Charaktere beider Personen hervorgerufen. Der Resident sprach allerdings etwas schneller als gewöhnlich, da er den Beschluß und die Eide lediglich vorzulesen brauchte, was ihn der Mühe überhob, nach dem Schluß seiner Sätze zu suchen; aber es geschah doch alles mit einer Würde und einem Ernst, die dem oberflächlichen Zuschauer eine sehr hohe Vorstellung von dem Gewicht, das er der Sache beilegte, einflößen mußte. Havelaar dagegen hatte etwas in Gesicht, Stimme und Haltung, als ob er sagen wollte: »Das versteht sich alles [97] von selber, auch ohne Gott den Allmächtigen würde ich das thun« – und wer ein Menschenkenner ist, würde sich wohl auf seine Zwanglosigkeit mehr verlassen haben als auf die Würde des Residenten.

Ist es nicht in der That komisch, anzunehmen, daß der Mann, der berufen ist Recht zu sprechen, dem das Wohl und Wehe von Tausenden in die Hand gegeben ist, sich durch ein paar ausgesprochene Laute gebunden erachten sollte, wenn er nicht, auch ohne diese Laute, sich durch sein eigenes Herz dazu gedrungen fühlte?

Wir glauben von Havelaar, daß er die Armen und Unterdrückten, wo er sie antreffen mochte, auch geschützt hätte, wenn er bei Gott dem Allmächtigen das Gegenteil gelobt hätte.

Darauf folgte eine Ansprache des Residenten an die Häupter, in der er den Adsistent-Residenten als Oberhaupt des Bezirks vorstellte, sie aufforderte, ihm zu gehorsamen, ihren Verpflichtungen gewissenhaft nachzukommen, und dergleichen Gemeinplätze mehr. Die Häupter wurden darauf einzeln mit Namen vorgestellt, Havelaar reichte jedem die Hand, und die »Installation« war beendigt.

Man nahm im Hause des Adhipatti das Mittagsmahl ein, zu dem auch der Kommandant Düclari geladen war. Gleich nach Beendigung der Mahlzeit stieg der Resident, der gern noch diesen Abend in Serang sein wollte, »Weil. Er. So. Viel. Zu. Thun. Hatte,« in seinen Reisewagen, und so kehrte Rangkas-Betung wieder zu der Ruhe zurück, die man von einer javanischen Binnenstation, von wenig Europäern bewohnt und dazu auch nicht am großen Wege gelegen, erwarten konnte. Die Bekanntschaft zwischen Düclari und Havelaar war bald auf einen gemütlichen Fuß gebracht, der Adhipatti schien von seinem neuen »älteren Bruder« recht eingenommen, und Verbrügge er zählte später, daß auch der Resident, dem er ein Stück Weges auf seiner Rückfahrt nach Serang das Geleit gegeben hatte, sich über die Familie Havelaar sehr günstig ausgelassen hatte. Sie hatten auf ihrer Reise nach Lebak einige Tage in seinem Hause verweilt; und der Resident hatte noch hinzugefügt, es wäre wohl zu erwarten, daß Havelaar, der bei der Regierung gut angeschrieben wäre, höchstwahrscheinlich bald zu einem höheren Amte befördert oder wenigstens in einen »vorteilhafteren« Bezirk versetzt werden würde.

Max und »seine Tine« waren erst unlängst von einer Reise nach Europa zurückgekehrt und fühlten sich dessen, was [98] ich einmal sehr bezeichnend »das Kofferleben« nennen hörte, müde. Sie waren deshalb glücklich, nach vielem Umhertreiben endlich wieder einen Fleck zu bewohnen, auf dem sie zu Hause waren. Vor ihrer Reise nach Europa war Havelaar Adsistent-Resident von Amboina gewesen. Er hatte da mit vielen Unannehmlichkeiten zu kämpfen gehabt, weil die Bevölkerung dieser Insel sich in unruhigem und aufrührerischem Zustande befand, und zwar infolge zahlreicher falscher Maßregeln, die in der letzten Zeit ergriffen worden waren. Er hatte diesen Geist mit viel Energie zu unterdrücken gewußt. Aber aus Verdruß über die geringe Hilfe, die man ihm darin von oben her gewährte, und aus Aerger über die schlechte Verwaltung, die seit Jahren die herrlichen Landstriche der Molukken entvölkert und ruiniert – man suche darüber nachzulesen, was bereits im Jahre 1825 der Baron van der Capellen geschrieben hat: man kann die Publikation dieses Menschenfreundes finden in dem Indischen Staatsblatt dieses Jahres, und es ist seit der Zeit nicht besser geworden – aus Ärger über das alles war er krank geworden, und das hatte ihn bewogen nach Europa zu reisen. Genau genommen, hätte er bei der Wiedereinstellung Anspruch auf eine bessere Wahl gehabt, als den armen BezirkLebak; denn sein Wirkungskreis auf Amboina war von größerer Bedeutung gewesen, und er hatte da, ohne einen Residenten über sich, ganz auf eigenen Füßen gestanden. Außerdem war, schon bevor er nach Amboina kam, die Rede davon gewesen, ihn zum Residenten zu befördern, und es befremdete daher viele, daß ihm jetzt ein Bezirk übertragen wurde, der an Kultur-Emolumenten so wenig aufbrachte, weil viele den Wert eines Amtes nach den damit verbundenen Einkünften abmessen. Er selbst indes beklagte sich darüber nicht. Seine Ehrsucht war nicht von der Art, daß er um höheren Rang oder Gehalt betteln sollte.

Und das letztere wäre ihm doch gut zu statten gekommen. Denn auf seinen Reisen in Europa hatte er das wenige ausgegeben, was er in früheren Jahren erspart hatte, ja er hatte dort sogar Schulden machen müssen, und er war also, in einem Wort, arm. Aber er hatte sein Amt nie als Geldquelle [99] betrachtet, und bei seiner Berufung nach Lebak nahm er sich mit Zufriedenheit vor, das Rückständige durch Sparsamkeit einzuholen; in welchem Bestreben seine Frau, die in Geschmack und Bedürfnissen so einfach war, ihn gern unterstützen wollte.

Aber Sparsamkeit fiel Havelaar schwer. Er für sich selbst konnte sich auf das durchaus Notwendige beschränken, ja er konnte diesseits der Grenze davon bleiben, aber wo andere Hilfe brauchten, war ihm das Geben, das Helfen, ein wahrer Herzenszug. Er selbst sah diese Schwäche ein und stellte sich mit all dem gesunden Verstande, der ihm gegeben war, vor, wieunrecht er that, jemand zu unterstützen, wo er selbst mehr Anrecht auf seine eigene Hilfe gehabt hätte. Er fühlte dies Unrecht noch lebhafter, wenn er »seine Tine« und Max, die er beide so lieb hatte, unter den Folgen seiner Freigebigkeit leiden sah. Er verwies sich seine Gutherzigkeit als Schwäche, als Eitelkeit, als Sucht, für einen verkleideten Prinzen zu gelten; er gelobte sich Besserung, und doch, wenn dieser oder jener sich ihm als Opfer des Mißgeschicks hinzustellen wußte, vergaß er wieder alles, um zu helfen. Und er hatte doch bittere Erfahrungen gemacht mit den Folgen dieser zu weit getriebenen Tugend. Acht Tage vor der Geburt seines kleinen Max hatte er nicht so viel, um das eiserne Bettchen zu kaufen, in dem der Liebling ruhen sollte, und kurze Zeit vorher hatte er die wenigen Schmucksachen seiner Frau geopfert, um einem beizustehen, dem es gewiß besser ging als ihm selber.

Aber das lag ja nun, da sie in Lebak angekommen waren, weit hinter ihnen. Mit fröhlicher Ruhe hatten sie von dem Hause Besitz ergriffen, in dem sie nun doch einige Zeit zu bleiben hofften. Mit einem eigenartigen Genuß hatten sie zu Batavia die Möbel bestellt, die alles so »komfortabel« und, gemütlich machen sollten; sie zeigten sich die Stellen, wo sie das Frühstück einnehmen, wo der kleine Max spielen würde wo die Bibliothek stehen sollte, wo er ihr des Abends vorlesen würde, was er am Tage geschrieben hatte – denn er hatte stets den Trieb, seine Gedanken zu Papier zu bringen ... und »es wird einmal gedruckt werden,« meinte sie, »dann würde man schon sehen, wer ihr Max war.«

Aber er hatte niemals etwas unter die Presse gehen lassen, was seinen Kopf beschäftigte, weil eine gewisse Scheu, die mit einem schamhaften Gefühl verwandt war, ihn daran hinderte. Er selbst wußte diese Scheu nicht besser zu beschreiben, [100] als indem er denen, die ihn zur Veröffentlichung anspornten, antwortete: »Würdet ihr eure Tochter ohne Hemd auf die Straße laufen lassen?«

Das war wieder eine von den »Grillen,« die seine Umgebung zu dem Ausspruch veranlaßte, daß »Havelaar doch ein sonderbarer Mensch wäre,« und ich will nicht das Gegenteil sagen. Aber wenn man sich die Mühe nähme, seine ungewöhnliche Sprechweise zu »übersetzen,« so hätte man in der sonderbaren Frage über die Toilette eines Mädchens vielleicht die Unterlage zu einer Abhandlung über die »Keuschheit des Geistes« gefunden, die scheu ist vor den Blicken des gefühllosen Passanten und sich in eine Hülle jungfräulicher Scham zurückzieht.

Ja, sie würden glücklich sein zu Rangkas-Betung, Havelaar und seine Tine! Die einzige Sorge, die sie drückte, waren die Schulden, die sie in Europa zurückgelassen hatten, vermehrt durch die noch unbezahlten Kosten der Reise nach Indien zurück und durch die Ausgaben für die Ausstattung ihrer neuen Wohnung. Aber sie würden ja von der Hälfte, von dem dritten Teil der Einkünfte leben ... vielleicht würde er bald Resident werden ... und dann würde das alles in wenigen Jahren geregelt werden ...

»Wenn es mir auch nicht lieb wäre, Tine, Lebak zu verlassen; denn es ist hier viel zu thun. Du mußt recht sparsam sein, meine Beste, dann können wir vielleicht auch ohne Beförderung alles abstoßen ... und dann hoffe ich recht lange hier zu bleiben.«

Eine Aufforderung zur Sparsamkeit brauchte er nun eigentlich an sie nicht zu richten. Sie hatte keine Schuld daran, daß die Sparsamkeit nötig geworden war; doch hatte sie sich mit ihrem Max so identifiziert, daß sie diese Aufforderung durchaus nicht als einen Verweis auffaßte, was sie auch nicht sein sollte. Havelaar wußte sehr gut, daß er allein durch seine zu weit getriebene Freigebigkeit gefehlt hatte, und daßihr Fehler – wenn überhaupt auf ihrer Seite ein Fehler vorhanden war – höchstens darin liegen konnte, daß sie aus Liebe zu ihrem Max alles, was er that, gutgeheißen hatte.

Ja, sie hatte es gut gefunden, als er die beiden armen Frauen aus der Nieuwstraat, die nie in ihrem Leben Amsterdam verlassen hatten und niemals »ausgewesen« waren, auf dem Haarlemer Jahrmarkt herumführte, unter dem spaßigen Vorgeben, daß der König ihn beauftragt hatte, »alte Frauchen zu [101] amüsieren, die sich so gut geführt hätten.« Sie fand es gut, daß er die Waisenkinder aus allen Stiften Amsterdams zu Kuchen und Mandelmilch einlud und sie mit Spielsachen beschenkte. Sie verstand es vollkommen, daß er das Fahrgeld für die arme Sängerfamilie bezahlte, die in ihr Land zurück wollten, aber nicht gern ihre Habe da lassen wollten, die Harfe und die Geige und den Baß, die sie zu ihrem ärmlichen Geschäft so nötig brauchten. Sie konnte nicht schelten, als er das Mädchen zu ihr brachte, das ihn am Abend auf der Straße angesprochen hatte, daß er ihr zu essen gab und sie beherbergte, und daß er das »Gehe hin und sündige nicht weiter!« nicht eher aussprach, als bis er ihr das Nichtsündigen möglich gemacht hatte. Sie fand es sehr schön von ihrem Max, daß er das Klavier auf den Treppenflur des Familienvaters zurückbringen ließ, den er hatte sagen hören, wie leid es ihm thue, daß die Mädchen nach dem Bankerott von ihrer Musik ganz abkämen. Sie begriff es sehr wohl, daß ihr Max die Sklavenfamilie zu Menado freikaufte, die so bitter weinte, als sie auf den Tisch des Auktionators steigen sollte. Sie fand es ganz natürlich, daß Max den Menschen, deren Pferde durch die Offiziere der »Bayonnaise« zu Tode geritten waren, wieder Pferde schenkte. Sie hatte nichts dagegen, daß er zu Menado und zu Amboina alle Schiffbrüchigen von den amerikanischen Walfischfängern zu sich rief und sich nachher zu sehr als »Grandseigneur« fühlte, um, wie ein Hotelwirt, der amerikanischen Regierung eine Rechnung zu schicken. Sie verstand vollkommen, wie es kam, daß die Offiziere von jedem angekommenen Kriegsschiff großenteils bei Max logierten, und daß sein Haus ihr beliebtes Absteigequartier war.

War er nicht ihr Max? War es nicht zu klein, zu nichtig, zu ungereimt, ihn, der so fürstlich dachte, an die Regeln der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit binden zu wollen, die für die anderen gelten? Und außerdem, mochte auch augenblicklich ein Mißverhältnis zwischen Einnahme und Ausgabe da sein, war Max, »ihr Max,« nicht bestimmt für eine glänzende Laufbahn? Mußte er nicht bald in Verhältnisse kommen, die ihm ermöglichen würden, seinen großherzigen Neigungen, ohne Überschreitung seines Einkommens, freien Lauf zu lassen? Mußte »ihr Max« nicht General-Gouverneur [102] werden? oder ein König? War es nicht eigentlich befremdend, daß er nicht schon längst König war?

Wenn überhaupt ein Fehler bei ihr gefunden werden konnte, so war ihre Eingenommenheit für Havelaar die Veranlassung davon, und wenn irgendwo, so müßte hier das Wort gelten, daß »man viel vergeben solle, wer viel geliebt hat.«

Jedoch, man hatte ihr wirklich nichts zu vergeben. Ohne die übertriebenen Vorstellungen zu teilen, die sie von ihrem Max hegte, konnte man in der That annehmen, daß er eine gute Laufbahn vor sich habe, und wenn diese begründete Aussicht sich verwirklicht hätte, wären in die That die unangenehmen Folgen seiner offenen Hand bald geschwunden. Aber noch ein anderer Grund entschuldigte seine und ihre scheinbare Sorglosigkeit.

Sie hatte jung beide Eltern verloren und war bei ihrer Familie aufgewachsen. Als sie heiratete, teilte man ihr mit, daß sie ein kleines Vermögen besäße, das dann auch ausgezahlt wurde. Aber Havelaar entdeckte aus einzelnen Briefen aus früherer Zeit, und aus einigen losen Blättern, die sie in einer von ihrer Mutter herstammenden Kassette bewahrte, daß ihre Familie sowohl von Vater- wie von Mutterseite sehr reich gewesen war, ohne daß indes klar wurde, wo, wie und wann der Reichtum verloren gegangen war. Sie selbst, die nie für Geldsachen Interesse gehabt hatte, wußte wenig oder nichts zu antworten, als Havelaar einige Mitteilungen über die früheren Besitztümer der Ihrigen verlangte. Ihr Großvater, der Baron von Wijnbergen, war mit Willem dem Fünften nach England übergesiedelt und im Heere des Herzogs von York Rittmeister gewesen. Er schien mit den übergesiedelten Mitgliedern der statthalterlichen Familie ein vergnügtes Leben geführt zu haben, was denn auch von vielen als die Ursache des Vermögensverfalls angesehen wurde. Später bei Waterloo fiel er bei einer Attacke unter den Husaren Boreels. Rührend war es in den Briefen ihres Vaters zu lesen – er war damals ein Jüngling von achtzehn Jahren, der als Leutnant bei derselben Attacke einen Säbelhieb über den Kopf bekam, an dessen Folgen er später, nach acht Jahren, in geistiger Umnachtung sterben sollte – Briefen an seine Mutter, in [103] denen er klagte, wie er erfolglos auf dem Schlachtfelde nach der Leiche seines Vaters gesucht hatte.

Von ihrer Mutter Seite her erinnerte sie sich, daß ihr Großvater auf sehr ansehnlichem Fuße gelebt hatte, und aus einigen Papieren ergab sich, daß er im Besitz der Postereien in der Schweiz gewesen war, wie ja auch jetzt noch in einem großen Teile Deutschlands und Italiens dieser Erwerbszweig eine Apanage der Fürsten von Thurn und Taxis ausmacht. Das ergab ein großes Vermögen, aber auch davon war, aus ganz unbekannten Ursachen, wenig oder nichts auf das zweite Geschlecht gekommen.

Havelaar erfuhr das wenige, was überhaupt darüber zu erfahren war, erst nach seiner Verheiratung; und bei seinen Nachforschungen erweckte es seine Verwunderung, daß die Kassette, von der ich sprach, und die sie mit Inhalt aus Pietät bewahrt hatte, ohne zu wissen, daß da vielleicht pekuniär wichtige Papiere darin steckten – auf unerklärliche Weise verloren gegangen war. Wie uneigennützig er auch war, so entstand doch infolge dieses und zahlreicher anderer Umstände bei ihm die Meinung, daß hierunter sich ein Familienroman verbarg, und man darf es ihm nicht übel deuten, daß er, der für seine Weise zu leben so viel brauchte, mit Freude gesehen hätte, daß der Roman ein gutes Ende nähme. Wie es nun auch sei mit dem Bestehen dieses Romans, ob da eine Beraubung stattgefunden hatte oder nicht, sicher ist, daß dadurch in Havelaars Kopfe eine Art von »Millionentraum« geboren wurde.

Eigenartig ist nun wieder, daß er, der so scharf und genau das Recht anderer aufgespürt und verteidigt hätte, und hätte es noch so tief unter staubigen Akten und dichtgewobenen Chikanen versteckt gelegen, – daß er hier, wo es sich um sein eigenes Interesse handelte, den Augenblick träge verbummelte, als er die Sache hätte anfassen müssen. Es schien ihn eine Art Scham zu befallen, weil es seinem eigenen Vorteil galt, und ich glaube gewiß, wenn »seine Tine« mit einem anderen vermählt gewesen wäre, der sich an ihn gewendet hätte mit der Bitte, das Spinngewebe zu zerstören, in dem ihr großväterliches Vermögen hängen geblieben war, es wäre ihm gewiß gelungen, die »interessante Waise« in den Besitz einzusetzen, der ihr gehörte. Aber nun war die interessante [104] Waiseseine Frau, ihr Vermögen war seins: da fand er etwas Krämerhaftes, etwas Erniedrigendes darin, in ihrem Namen zu fragen: »Seid ihr mir nicht noch etwas schuldig?«

Und doch konnte er den Millionentraum nicht von sich weisen, und wäre es auch nur, um eine Entschuldigung zur Hand zu haben bei seinen öfters vorkommenden Selbstvorwürfen, daß er zu viel Geld ausgab.

Erst kurz vor der Rückkehr nach Java, als er schon viel gelitten hatte unter dem Druck des Geldmangels, als er das stolze Haupt schon unter das kaudinische Joch manches Gläubigers hatte beugen müssen, hatte er seine Trägheit und seine Scheu überwinden können, um mit den Millionen, die er seiner Ansicht nach gut hatte, ernst zu machen. Man antwortete ihm mit einer alten Rechnungsaufstellung, gegen die bekanntlich nichts zu machen ist.

Aber sie würden in Lebak sparsam sein. Warum auch nicht? In solchem uncivilisierten Lande laufen keine Mädchen des Abends auf der Straße herum, die ein wenig Ehre für ein wenig Brot zu verkaufen haben; es treiben sich da sogar keine Leute von problematischer Existenz umher. Da kommt es auch nicht so vor, daß eine Familie durch Schicksalstücke plötzlich zu Grunde geht ... und derartig waren ja gewöhnlich die Klippen, an denen Havelaars gute Vorsätze scheiterten. Die Zahl der Europäer war so gering, sie kam gar nicht in Betracht, und der Javane zu Lebak war zu arm, um – bei welchem Schicksalswechsel auch – durch noch größere Armut interesseweckend zu werden. Das berechnete Tine alles nicht so: dazu hätte sie sich richtiger, als ihre Liebe zu Max gestattete, Rechenschaft geben müssen über die Ursachen ihrer minder günstigen Verhältnisse. Aber es lag etwas in ihrer neuen Umgebung, was Ruhe atmete, eine Abwesenheit aller Ursachen mit mehr oder minder romantischer Färbung, die früher Havelaar öfters veranlaßt hatten zu sagen: »Nicht wahr, Tine, das ist doch ein Fall, dem ich mich nicht entziehen kann?« worauf sie dann stets geantwortet hatte: »Nein, Max, dem kannst du dich nicht entziehen.«

Wir werden sehen, wie das einfache, scheinbar unbewegte Lebak Havelaar mehr kostete als alle früheren Extravaganzen seines Herzens zusammen.

Aber das wußten sie nicht! Sie sahen der Zukunft mit Vertrauen entgegen und fühlten sich glücklich in ihrer Liebe und dem Besitz ihres Kindes ...

[105] »Was? schon Rosen im Garten?« rief Tine, »und sieh da auch Rampeh und Tjempaka, und so viel Melatti, und sieh einmal die schönen Lilien ...«

Und Kinder, wie sie waren, freuten sie sich ihres neuen Hauses, und als am Abend Düclari und Verbrügge nach einem Besuch bei Havelaar nach ihrer gemeinsamen Wohnung zurückkehrten, sprachen sie viel über die kindliche Fröhlichkeit der neu angekommenen Familie.

Havelaar begab sich nach seinem Kontor, und er blieb da die Nacht über, bis zum folgenden Morgen.

Achtes Kapitel

Achtes Kapitel.

Stern fährt fort. Havelaars Ansprache an die Häupter des Landes und seine Unterredung mit Verbrügge.


Havelaar hatte den Kontroleur ersucht, die zu Rangkas-Betung anwesenden Häupter aufzufordern, bis zum folgenden Tage zu verweilen, um der Sebah (Ratsversammlung), die er abhalten wollte, beizuwohnen. Solch eine Versammlung fand gewöhnlich einmal im Monat statt. Aber sei es, daß er einigen Häuptern, die sehr fern von dem Hauptorte wohnten, das unnötige Hin- und Herreisen ersparen wollte, sei es, daß er sofort und ohne den festgesetzten Tag abzuwarten auf feierliche Weise zu ihnen zu sprechen wünschte, er hatte den ersten Sebah-Tag auf den folgenden Morgen festgesetzt.

Links vor seiner Wohnung, doch auf demselben Grundstück und dem Hause gegenüber, das Mewrouw Slotering bewohnte, stand ein Gebäude, das in einem Teile die Bureaus der Adsistent-Residentschaft enthielt, zu denen auch die Landeskasse gehörte, dessen anderer Teil aber bestand in einer ziemlich geräumigen offenen Galerie, die eine sehr gute Gelegenheit zu solch einer Sitzung darbot. Dort waren denn auch die Häupter den folgenden Morgen frühzeitig versammelt. Havelaar trat ein, grüßte und nahm Platz. Er empfing die geschriebenen Berichte über Landbau, Polizei und Justiz und legte sie zur Seite zu späterer Nachprüfung.

Jeder erwartete nun eine Ansprache, wie sie der Resident [106] hatte tags zuvor gehalten, und es ist auch ganz und gar nicht sicher, daß Havelaar beabsichtigte, den Häuptern irgend etwas anderes zu sagen. Aber man mußte ihn bei solchen Gelegenheiten gehört und gesehen haben, um zu verstehen, wie er bei solchen Ansprachen aus sich herausging und durch seine eigenartige Sprechweise den bekanntesten Dingen eine neue Färbung verlieh; wie sich dann seine Haltung aufrichtete, wie sein Blick Feuer schoß, wie seine Stimme vom Schmeichelnd-Sanften zum Ätzend-Scharfen überging, wie die Bilder von seinen Lippen flossen, als streue er etwas Kostbares um sich, was ihn doch nichts kostete, und wie, wenn er schloß, jeder ihn mit offenem Munde anstarrte, als wollten sie fragen: »Mein Gott! wer bist du?«

Er selbst, der bei solchen Gelegenheiten sprach wie ein Apostel, ein Seher, wußte später nicht mehr genau, wie er gesprochen hatte, und seine Beredsamkeit hatte denn auch mehr die Eigenschaft, zu treffen und Bewunderung zu erregen, als durch die Bündigkeit seiner Gründe zu überzeugen. Er hätte die Kriegslust der Athener, nachdem der Krieg gegen Philipp beschlossen war, zur Unsinnigkeit anfeuern können; aber er würde sich weniger dazu geeignet haben, sie durch Gründe zum Kriege zu bewegen. Seine Ansprache an die Lebakschen Häupter war natürlich malayisch und entlehnte dieser Sprache noch eine Eigenartigkeit mehr, da die Einfachheit der orientalischen Sprachen vielen Ausdrücken eine Kraft verleiht, die in den westlichen Sprachen durch größere Künstelei verloren gegangen ist; während anderseits auch das Süßfließende des Malayischen schwer in einer anderen Sprache wiederzugeben ist, – man bedenke ferner, daß der größte Teil seiner Zuhörer aus einfachen, doch keinesfalls dummen Menschen bestand, und schließlich, daß es Orientalen waren, deren Eindrücke von den unseren sehr verschieden sind.

Havelaar mußte etwa so gesprochen haben:

»Mynherr Radhen Adhipatti, Regent von Bantan-Kidul, und Ihr, Rhaden Demang, die ihr Häupter seid der Distrikte dieses Bezirks, und Ihr Radhen Djaksa, die Ihr die Justiz zu Eurem Amte habt, und auch Ihr, Rhaden Kliwon, die Ihr die Aufsicht führt über den Hauptort, und Ihr, Radhen,Mantris und alle die Häupter, die ihr seid in dem Bezirk Bantan-Kidul, ich grüße euch.

Und ich sage euch, daß ich Freude fühle in meinem Herzen, wenn ich euch da alle versammelt sehe, den Worten meines Mundes lauschend.

[107] Ich weiß, daß einige unter euch sind, die sich auszeichnen durch Kenntnis und wackeren Sinn. Ich hoffe meine Kenntnis durch die eure zu vermehren, denn sie ist nicht so groß, als ich wünschte. Und ich liebe wackeren Sinn, aber oft merke ich, daß in meinem Gemüt Fehler sind, die die guten Triebe überschatten und ihnen das Wachstum benehmen, wie ihr ja wißt, daß der große Baum den kleinen verdrängt und tötet. Darum will ich auf diejenigen unter euch achten, die hervorragen in Tugend, um zu trachten, besser zu werden, als ich bin.

Ich grüße euch alle sehr.

Als der General-Gouverneur mich beauftragte, zu euch zu gehen, um Adsistent-Resident dieses Bezirks zu sein, war mein Herz erfreut. Ihr wißt, daß ich niemals Bantan-Kidul betreten habe. Ich ließ mir deshalb Schriften geben, die über euren Bezirk handeln, und ich habe gesehen, daß viel Gutes ist in Bantan-Kidul. Euere Leute haben Reisfelder in den Thälern und es sind Reisfelder auf den Bergen. Und ihr wünscht in Frieden zu leben, und ihr begehrt nicht in Landstrichen zu wohnen, die durch andere bewohnt werden. Ja, ich weiß, es ist viel Gutes in Bantan-Kidul.

Aber nicht darum war mein Herz erfreut; denn auch in anderen Landstrichen würde ich viel Gutes gefunden haben.

Aber ich erfuhr, daß euer Volk arm ist, und darüber war ich froh im Innersten meiner Seele.

Denn ich weiß, daß Allah die Armen liebt, und daß er Reichtum dem giebt, den er prüfen will; aber dem Armen sendet er, wer sein Wort spricht, daß sie sich aufrichten in ihrem Elend.

Giebt er nicht Regen, wenn der Halm verdorrt, und einen Tautropfen in den Blumenkelch, der dürstet?

Und ist es nicht schön, ausgesendet zu werden, um die Müden zu suchen, die zurückblieben nach der Arbeit und niedersanken längs des Weges, da ihre Knie nicht mehr stark genug waren, um nach dem Lohnplatze zu gehen? Sollte ich nicht erfreut sein, meine Hand dem reichen zu dürfen, der in die Grube fiel, und einen Stab zu reichen dem, der die Berge besteigt? Sollte mein Herz nicht aufspringen, als es sich gewählt sah unter vielen, um aus Klagen ein Gebet zu machen, eine Danksagung aus Weinen?

Ja, ich bin sehr froh, daß ich nach Bantan-Kidul gerufen bin.

Ich habe gesagt zu der Frau, die meine Sorgen teilt und [108] mein Glück vergrößert: Freue dich, denn ich sehe, daß Allah Segen giebt auf das Haupt unseresKindes! Er hat mich gesendet an einen Ort, wo noch nicht alle Arbeit gethan ist, und er schätzte mich würdig, dort zu sein, vor der Zeit der Ernte. Denn nicht im Schneiden der Padi liegt die Freude, die Freude liegt im Schneiden der Padi, die man gepflanzt hat. Und die Seele der Menschen wächst nicht von dem Lohn, sondern von der Arbeit, die den Lohn verdient. Und ich sagte zu ihr: Allah hat uns ein Kind gegeben, das einmal sagen soll: wißt ihr, daß ich sein Sohn bin? Und dann werden Leute leben in diesem Lande, die ihn grüßen mit Liebe, und die Hand auf sein Haupt legen und sagen: Setz dich nieder zu unserem Mahle, und bewohne unser Haus, und nimm teil an dem, was wir haben, denn ich habe deinen Vater gekannt.

Denn, Häupter von Lebak, es ist viel zu arbeiten in eurem Landstrich.

Sagt mir, ist nicht der Landmann arm? Reift nicht eure Padi oft, um die zu nähren, die nicht gepflanzt haben? Sind nicht viele Mißstände in eurem Lande?

Ist nicht Scham in euren Seelen, wenn der Bewohner von Bandung, das da im Osten liegt, euer Land besucht und fragt: wo sind die Dörfer, und wo die Landbauer, und warum höre ich den Gamelang nicht, der Freude spricht mit ehernem Munde, noch das Gestampf der Padi durch eure Töchter?

Ist es euch nicht bitter, von hier nach der Südküste zu reisen und Berge zu sehen, die kein Wasser tragen auf ihren Seiten, oder die Ebenen, auf denen nie ein Büffel den Pflug zog?

Ja, ja, ich sage euch, daß meine Seele darüber betrübt ist; und darum gerade sind wir Allah dankbar, daß er uns Kraft gegeben hat, hier zu arbeiten.

Denn wir haben in diesem Lande Acker fürviele, obschon der Bewohner wenig sind. Und es ist nicht der Regen, der fehlt; denn die Spitzen der Berge saugen die Wolken des Himmels zur Erde. Und nicht überall sind Felsen, die Raum weigern der Wurzel; denn auf vielen Stellen ist der Boden weich und fruchtbar und verlangt nach dem Getreidekorn, das er euch im gebogenen Halm wiedergeben will. Und es ist kein Krieg im Lande, der die Padi zertritt, wenn sie noch [109] grün ist, noch Krankheit, die den Patjol nutzenlos macht. Auch sind die Sonnenstrahlen nicht heißer als nötig, um das Getreide zu reifen, das ihr und eure Kinder essen müßt, noch auch Banjers, die euch sagen lassen: zeige mir den Platz, da ich gesät habe.

Wo Allah Wasserströme sendet, die die Äcker wegschwemmen, wo er den Grund hart macht wie dürren Stein, wo er seine Sonne glühen läßt zum Versengen, wo er mit Krankheit schlägt, die die Hände schwach machen, und mit Dürre, die die Ähren tötet – da, Häupter von Lebak, beugen wir das Haupt und sprechen: er will es so!

Aber nicht ist es so in Bantan-Kidul.

Ich bin hierher gesandt, euer Freund zu sein, euer älterer Bruder. Würdet ihr euren jüngeren Bruder nicht warnen, wenn ihr einen Tiger sähet auf seinem Wege?

Häupter von Lebak, wir haben oft Fehler begangen, und unser Land ist arm, weil wir so viele Fehler begingen.

Denn in Tjikandi und Bolang und im Krawangschen und in der Umgegend von Batavia lebenviele Leute, die geboren sind in unserem Lande, und die unser Land verlassen haben.

Warum suchen sie die Arbeit fern von dem Platz, da sie ihre Eltern begruben? Warum flohen sie die Dessah, wo sie die Beschneidung empfingen? Warum suchen sie die Kühle des Baumes, der dorten wächst, lieber als den Schatten unserer Büsche?

Und selbst drüben im Nordwesten über der See, da sind viele, die unsere Kinder mußten sein, aber die Lebak verlassen haben, um in fremden Strecken herumzuirren, mit Kris und Klewang und Schießgewehr. Und sie kommen dort elend um, denn es ist die Macht der Regierung, die die Aufständischen niederschlägt.

Ich frage euch, Häupter von Lebak! warum sind so viele, die weggingen, um nicht begraben zu werden, wo sie geboren sind? Warum fragt der Baum: wo ist der Mann, den ich spielen sah als Kind an meinem Fuße?«

Havelaar hielt hier einen Augenblick inne.

Um einigermaßen den Eindruck zu verstehen, den seine [110] Worte machten, hätte man ihn hören und sehen müssen. Als er von seinem Kinde sprach, war in seiner Stimme etwas Sanftes, etwas unbegreiflich Rührendes, was dich veranlaßte zu fragen: wo ist der Kleine? ich möchte das Kind küssen, dessen Vater so spricht! Aber als er kurz darauf, mit wenig Rhetorik, überging zu den Fragen: warum Lebak arm wäre, warum so viele Einwohner auswanderten, da war in seiner Rede etwas, das an den Ton erinnert, den ein Bohrer macht, wenn er mit Gewalt in hartes Holz geschraubt wird. Und er sprach dabei nicht laut, noch betonte er besonders einzelne Worte, ja es war sogar etwas Eintöniges in seiner Stimme, aber sei es Absicht oder Natur, gerade durch die Eintönigkeit verstärkte er den Eindruck seiner Worte auf Gemüter, die so besonders für solche Rede empfänglich waren.

Seine Bilder, stets aus dem Leben genommen, das ihn umgab, waren für ihn wirklich Hilfsmittel, um recht verständlich zu machen, was er sagen wollte, und nicht, wie es oft vorkommt, überflüssige Anhängsel, die die Sätze der Redner beschweren, ohne irgend eine Verdeutlichung zu dem Begriff der Sache, die man zu erklären meint, beizutragen. Wir sind jetzt an die Ungereimtheit des Ausdrucks »stark wie ein Löwe« gewöhnt; aber wer das Bild in Europa zuerst gebrauchte, zeigte damit, daß er seinen Vergleich nicht aus der Poesie der Seele geholt hatte, die Bilder giebt anstatt der Begründung und nicht anders sprechen kann, sondern daß er einfach aus einem anderen Buch – vielleicht aus der Bibel, – worin ein Löwe vorkam, abgeschrieben hatte. Denn keiner seiner Zuhörer hatte die Stärke des Löwen kennen gelernt, und es wäre deshalb eher nötig gewesen, ihnen diese Stärke dadurch verständlich zu machen, daß man den Löwen mit etwas anderem, wovon die Kraft ihnen bekannt war, in Vergleich stellt.

Man sieht, daß Havelaar wirklich ein Dichter war, daß er, wenn er von den Reisfeldern sprach, die auf den Bergen waren, die Augen durch die offene Seite des Saales dahin richtete und die Felder in der That sah; man fühlt, wenn er den Baum ließ fragen, wo der Mann war, der als Kind an seinem Fuße gespielt hatte, daß dieser Baum dastand und in der Vorstellung von Havelaars Zuhörern in Wirklichkeit fragend um sich blickte nach den verschwundenen Bewohnern von Lebak. Er ersann nichts; er hörte den Baum sprechen und glaubte lediglich nachzusprechen, was er in seiner dichterischen Auffassung so deutlich gehört hatte.

Es könnte vielleicht jemand bemerken, daß das Ursprüngliche [111] in Havelaars Sprechweise nicht so zweifelsohne ist, da sein Stil an die Propheten des Alten Testaments erinnert. Da muß ich erinnern, daß ich bereits gesagt habe, wie er in Augenblicken der Begeisterung wirklich etwas von einem Seher hatte, und daß er, durch Eindrücke genährt, die das Leben in Wäldern und auf Bergen ihm mitgeteilt hatte, und durch die poesieatmende Atmosphäre des Ostens, wahrscheinlich nicht anders gesprochen hätte, wenn er die herrlichen Poesien des Alten Testaments niemals gekannt hätte.

Finden wir doch in den Versen, die aus seiner Jugend stammen, Zeilen wie diese, die auf dem Salak geschrieben waren – einem der Riesen, wenn auch nicht dem größten unter den Bergen der Preange--Regentschaften, – worin wieder der Anfang die Sanftmut seiner Gefühle zeichnet, um plötzlich überzugehen in das Nachsprechen des Donners, den er unter sich hört:


. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

's ist süßer, seinen Schöpfer hier zu loben,

Gebet klingt schön längs Berg- und Hügelreih',

Die Seele schwinget leichter sich nach oben,

Man fühlt, daß seinem Gott man näher sei.


Hier schuf er zu Altären sich und Chören,

Was keines Menschen Fuß betrat bisher;

Hier kannst du ihn in Sturmesbrausen hören,

Und rollend ruft sein Donner: Ich der Herr!

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .


Fühlt man da nicht, daß er die letzten Zeilen nicht so hätte schreiben können, wenn er nicht wirklich gehört hätte, wie Gottes Donner ihm in krachendem Schauer gegen die Bergwände die Worte vorgesprochen hätte?

Aber er liebte Verse nicht, »es wäre eine häßliche Schnürbrust,« sagte er, und wenn er wirklich einmal dazu gebracht werden konnte, etwas vorzulesen, was er »verbrochen« hatte, so amüsierte er sich damit, sein eigen Werk zu verderben; entweder trug er es in einem Tone vor, der es ins Komische verzerrte, oder er brach, mit Vorliebe bei einer tiefernsten Stelle, ab und warf einen Witz dazwischen, der die Zuhörer[112] peinlich befremdete, der aber bei ihm nichts anderes war als eine Satire auf das Mißverhältnis zwischen dem Schnürleibchen und seiner Seele, die sich darin so beengt fühlte.

Wenige unter den Häuptern nahmen etwas von den dargereichten Erfrischungen. Havelaar hatte nämlich durch einen Wink dafür gesorgt, daß der bei solchen Gelegenheiten unvermeidliche Thee mit Manissan (Konfekt) herumgereicht wurde. Er schien absichtlich einen Ruhepunkt eintreten zu lassen nach den letzten Sätzen seiner Ansprache, und er hatte wohl seine Grunde dafür. »Wie?« mußten die Häupter denken, »er weiß es schon, daß so viele unseren Bezirk verlassen haben, mit Bitterkeit im Herzen? Er weiß schon, wie viele Familien nach Nachbarbezirken auswanderten, um der Armut, die hier herrscht, zu entfliehen? Und sogar das ist ihm bekannt, daß so viele Bantamer unter den Banden sind, die in den Lampongs die Fahne des Aufruhrs gegen die niederländische Regierung entrollt haben? Was will er, was bezweckt er, wem gelten seine Fragen?«

Und es waren welche unter ihnen, die RadhenWira Kusuma, das Distriktshaupt von Parang-Kudjang, ansahen. Aber die meisten schlugen die Augen zur Erde nieder.

»Komm mal her, Max,« rief Havelaar, der sein Kind draußen spielen sah, und der Adhipatti nahm den Kleinen auf den Schoß. Aber der war zu wild, um lange dazubleiben. Er sprang davon und lief in dem großen Kreise herum, amüsierte die Häupter durch sein Schwatzen und spielte mit ihren Dolchscheiden. Als er an den Djaksa kam, der sich in seiner Kleidung von den anderen unterschied und dadurch das Kind anzog, wies dieser auf etwas am Kopfe des kleinen Max, und machte eine Bemerkung zu dem Kliwon, der ihm zunächst saß, und der ihm zuzustimmen schien.

»Gehe nun, Max,« sagte Havelaar, »Papa hat den Herren noch etwas zu sagen,« und der Kleine lief davon, nachdem er mit Kußhändchen gegrüßt hatte.

»Häupter von Lebak! Wir alle stehen im Dienst des Königs von Niederland. Aber er, der rechtschaffen ist und will, daß wir unsere Pflicht thun, ist fern von hier. Dreißigmal tausend mal tausend Seelen, ja mehr als so viel, müssen seinen Befehlen gehorchen, aber er kann nicht bei allen sein, die von seinem Willen abhängen.

[113] Der große Herr zu Buitenzorg ist rechtschaffen und will, daß jeder seine Pflicht thue. Aber auch er, so mächtig er auch ist und gebietend über alles, was Gewalt hat in den Städten, und über die Ältesten in den Dörfern, und gebietend über die Macht des Heeres und über die Schiffe, die auf der See sind, auch er kann nicht sehen, wo Unrecht geschieht, denn das Unrecht bleibt ferne von ihm.

Und der Resident zu Serang, der Herr ist über den Landstrich Bantam, den zweimalhunderttausend Menschen bewohnen, will, daß Recht geschehe in seinem Gebiet, und daß Rechtschaffenheit herrsche in den Landschaften, die ihm unterthan sind. Doch wo Unrecht ist, da ist er fern, und der Übelthäter verbirgt sich vor seinem Antlitz, weil er die Strafe fürchtet.

Und der Herr Adhipatti, der Regent ist von Süd-Bantam, will, daß jeder lebe, der nach dem Guten trachtet, und daß keine Schande sei über dem Landstrich, der seine Regentschaft ist.

Und ich, der gestern den allmächtigen Gott zum Zeugen nahm, daß ich rechtschaffen sein werde und langmütig, daß ich recht thun werde sonder Furcht und sonder Haß, daß ich ein ›guter Adsistent-Resident‹ sein werde – auch ich wünsche zu thun, wasmeine Pflicht ist.

Häupter von Lebak! Das wünschen wir alle.

Aber wenn einige unter uns wären, die ihre Pflicht verwahrlosten für Gewinn, die das Recht verkauften für Geld, die den Büffel des Armen nähmen, und die Früchte, die dem Hungrigen gehören, – wer soll sie strafen?

Wenn einer von euch es wüßte, er würde eshindern, und der Regent würde es nicht dulden, daß so etwas geschehe in seiner Regentschaft, und auch ich werde dagegen hintreten, wo ich kann; aber wenn weder ihr noch der Adhipatti noch ich es wüßte ...?

Häupter von Lebak! wer soll dann Recht üben in Bantan-Kidul?

Hört auf mich, ich werde euch sagen, wie dann wird Recht gesprochen werden.

Es kommt eine Zeit, da unsere Frauen und Kinder weinen werden, indem sie unser Totengewand bereiten, und die Vorübergehenden [114] sprechen werden: da ist ein Mensch gestorben. Dann wird, wer in den Dörfern ankommt, Nachricht bringen von dem Tode des Mannes, der gestorben ist, und wer ihn beherbergt, wird fragen: wer war der Mann, der gestorben ist?

Er war gut und rechtschaffen. Er sprach recht und verstieß den Klageführenden nicht von seiner Thür. Er hörte geduldig an, wer zu ihm kam, und gab zurück, was genommen war. Und wer den Pflug nicht treiben konnte durch den Erdboden, weil ihm der Büffel aus dem Stall geholt war, dem half er suchen nach dem Büffel. Und wo die Tochter war geraubt aus dem Hause der Mutter, da suchte er den Dieb und brachte die Tochter wieder. Und wo gearbeitet war, hielt er den Lohn nicht zurück, und er nahm die Früchte nicht denen, die den Baum gepflanzt hatten. Und er kleidete sich nicht mit dem Kleide, das andere decken sollte, und nährte sich nicht mit Speise, die dem Armen gehört.

Dann wird man sagen in den Dörfern: Allah ist groß, Allah hat ihn zu sich genommen, sein Wille geschehe; es ist ein guter Mensch gestorben.

Aber ein andermal wird der Vorübergehende stillstehen vor dem Hause und fragen: Was ist das, daß der Gamlang schweigt und der Gesang der Mädchen? Und wiederum wird man sagen: Es ist ein Mann gestorben.

Und wer herumreist in den Dörfern, wird des Abends bei seinem Gastfreunde sitzen, um ihn die Söhne und Töchter des Hauses und die Kinder derer, die das Dorf bewohnen, und er wird sprechen:

Da starb ein Mann, der gelobte rechtschaffen zu sein, und er verkaufte das Recht dem, der ihm Geld gab. Er düngte seinen Acker mit dem Schweiß des Arbeiters, den er von dem Acker der Arbeit abgerufen hatte. Er hielt dem Arbeiter seinen Lohn zurück und nährte sich mit der Speise des Armen. Er ist reich geworden von der Armut der anderen. Er hatte viel Gold und Silber und edle Steine in Menge, aber der Landbauer, der in der Nachbarschaft wohnte, wußte den Hunger seines Kindes nicht zu stillen. Er lächelte wie ein glücklicher Mensch; aber es war ein Geknirsch zwischen den Zähnen des Klägers, der Recht suchte. Es war Zufriedenheit auf seinem Gesicht; aber es war keine Nahrung in den Brüsten der Mütter, die säugten.

Dann werden die Bewohner der Dörfer sagen: Allah ist groß! ... wir fluchen niemand!

[115] Häupter von Lebak! Einst sterben wir alle!

Was wird gesagt werden in den Dörfern, wo wir Macht hatten, und was von den Vorübergehenden, die das Begräbnis anschauen?

Und was werden wir antworten, wenn nach unserem Tode eine Stimme spricht zu unserer Seele und sie fragt: Warum ist Weinen in den Feldern, und warum verbergen sich die Jünglinge? Wer nahm die Ernte aus den Scheuern und aus den Ställen den Büffel, der das Feld pflügen sollte? Was hast du gethan mit deinem Bruder, den ich dir gab zu bewachen? Warum ist der Arme traurig und flucht der Fruchtbarkeit seiner Frau?«

Hier hielt Havelaar wieder inne, und nach einigem Schweigen fuhr er fort, im einfachsten Tone der Welt, und als hätte durchaus nichts stattgefunden, was Eindruck machen müßte:

»Ich wünschte gern in guten Beziehungen zu euch zu leben, und ich bitte euch darum, mich als Freund zu betrachten. Wer gefehlt haben mag, kann ein mildes Urteil von meiner Seite erwarten, denn da ich selbst so manchmal fehle, werde ich nicht streng sein, wenigstens nicht in gewöhnlichen Dienstversehen oder Nachlässigkeiten. Höchstens wo die Nachlässigkeit zur Gewohnheit geworden ist, werde ich einschreiten. Von Übelständen größerer Art ... von Erpressung und Unterdrückung, spreche ich nicht ... so etwas wird nicht vorkommen; nicht wahr, Adhipatti?«

»O nein, Herr Adsistent-Resident, so etwas wird in Lebak nicht vorkommen.«

»Nun denn, meine Herren Häupter von Bantan-Kidul! laßt uns erfreut sein, daß unser Bezirk so arm ist. Wir haben Schönes zu wirken. Wenn Allah uns am Leben erhält, werden wir sorgen, daß Wohlfahrt komme. Der Boden ist fruchtbar, das Volk willig. Wenn jeder im Genuß der Früchte seiner Anstrengung gelassen wird, leidet es keinen Zweifel, daß binnen wenig Zeit die Bevölkerung zunehmen wird, so an Seelenzahl wie in Besitzungen und Kultur; denn das geht überall Hand in Hand. Ich bitte euch nochmals, mich als einen Freund anzusehen, der euch helfen wird, wo er kann, besonders wo Unrecht abgestellt werden soll. Und hiermit empfehle ich mich sehr eurer Mitwirkung.

Ich werde die empfangenen Berichte über Landbau, Viehzählung, Polizei und Justiz euch mit meinen Weisungen zurückgehen lassen.

[116] Häupter von Bantan-Kidul! ich habe gesprochen. Ihr könnt zurückkehren, jeder nach seiner Wohnung. Ich grüße euch alle sehr.«

Er verbeugte sich, bot dem alten Regenten den Arm und geleitete ihn über das Grundstück nach seiner Wohnung, wo Tine ihn in der Vorgalerie erwartete.


* * *


»Kommen Sie, Verbrügge, gehen Sie noch nicht nach Hause! Kommen Sie auf ein Glas Madeira! Und, ja, das muß ich wissen, Radhen Djaksa! hören Sie!«

Havelaar rief das, als alle Häupter sich nach vielen Verbeugungen bereit machten, in ihre Wohnungen zurückzukehren. Auch Verbrügge stand schon auf dem Punkte, das Gehöft zu verlassen, kehrte aber jetzt mit dem Djaksa um.

»Tine, ich will Madeira trinken, Verbrügge auch. Djaksa! lassen Sie doch hören, was haben Sie zu dem Kliwon über Max gesagt?«

»Mintak ampong, Herr Adsistent-Resident, ich betrachtete sein Haupt, weil Sie gesprochen hatten.«

»Was hat denn sein Kopf damit zu thun? Ich weiß selbst nicht mehr, was ich gesagt habe.«

»Mijnheer, ich sagte zu dem Kliwon ...«

Tine trat herzu; es wurde über den kleinen Max gesprochen.

»Ich sagte zu dem Kliwon, daß der Sinjo ein Königskind wäre.«

Das that Tine wohl, sie fand das auch!

Und der Adhipatti betrachtete das Haupt des Kleinen, und wahrlich! auch er sah den User-useran, der nach dem Aberglauben der Javanen eine Krone tragen soll.

Da die Etikette nicht erlaubte, dem Djaksa in Gegenwart des Regenten einen Platz anzuweisen, nahm er seinen Abschied, und man war einige Zeit zusammen, ohne etwas auf den »Dienst« Bezügliches zu berühren. Nur der Regent fragte plötzlich, ob die Gelder, die der Steuer-Kollekteur zu gut hatte, nicht ausgezahlt werden könnten?

[117] »O nein,« sagte Verbrügge, »der Herr Adhipatti weiß, daß das nicht geschehen darf, bevor seine Verantwortung abgelaufen ist.«

Havelaar spielte mit Max, aber das hinderte ihn nicht, auf dem Antlitz des Regenten zu lesen, daß Verbrügges Antwort ihm nicht zusagte.

»Kommen Sie, Verbrügge, wir wollen nicht schwerfällig sein,« sagte er und ließ einen Schreiber aus dem Kontor rufen. »Wir werden das schon jetzt ausbezahlen, seine Rechnung wird schon genehmigt werden.«

Als der Adhipatti sich entfernt hatte, sagte Verbrügge, der von den amtlichen Vorschriften viel hielt:

»Aber Herr Havelaar, das darf nicht sein! Die Abrechnung des Unterkollekteurs ist zu Serang zur Nachprüfung ... wenn nun irgend etwas nicht stimmt?«

»Dann nehme ich es auf mich,« sagte Havelaar.

Verbrügge begriff indes nicht, woher die große Nachsicht gegen den Steuerkollekteur stammte.

Der Schreiber kam bald mit einigen Papieren zurück, Havelaar unterschrieb und sagte dann, man möge sich mit der Auszahlung beeilen.

»Verbrügge! ich werde Ihnen sagen, warum ich das thue. Der Regent hat keinen Deut im Hause, sein Schreiber hat es mir gesagt. Er selbst hat das Geld nötig, und der Kollekteur will es ihm vorschießen. Ich übertrete lieber auf eigene Verantwortung eine Form, als daß ich einen Mann von seinen Jahren und seinem Rang in Verlegenheit lassen soll. Außerdem, Verbrügge, es wird in Lebak viel Mißbrauch der Gewalt getrieben, Sie müßten es wissen. Wissen Sie es?«

Verbrügge schwieg.

»Ich weiß es!« fuhr Havelaar fort, »ich weiß es! Ist nicht der Herr Slotering im November gestorben? Nun, am Tage nach seinem Tode hat der Regent Volk herbeiholen lassen, um seine Sawahs ohne Bezahlung zu bearbeiten. Sie hätten das wissen müssen, wissen Sie es?«

Verbrügge wußte es nicht.

»Sie hätten es wissen müssen. Ich weiß es,« ging Havelaar weiter. »Da liegen die Monatsberichte aus den Distrikten« – er zeigte auf das Paket Schriften, die er in der Versammlung erhalten hatte – »sehen Sie, ich habe nichts geöffnet; darin sind unter anderem auch die Ausstellungen über Arbeiter, die nach dem Hauptorte zum Herrendienst gestellt sind ... nun, sind die Aufstellungen richtig?«

[118] »Ich habe sie noch nicht gesehen ...«

»Ich auch nicht; und doch frage ich Sie, ob sie richtig sind? Waren die Berichte über den Monat vorher richtig?«

Verbrügge schwieg.

»Auch die Aufstellungen, die ich heute erhielt, sind falsch,« fuhr Havelaar fort. »Der Regent ist arm: die Regenten von Bantam und Tjikand sind Glieder des Geschlechts, dessen Haupt er ist. Er ist Adhipatti und der Regent von Tjikand ist nur Tommongong, und doch lassen seine Einkünfte, weil sich Lebak nicht so für den Kaffeebau eignet und ihm daher keine Emolumente abwirft, nicht zu, daß er an Glanz und Prunk wetteifere mit einem einfachen Demang im Preangerschen, der den Zaum halten müßte, wenn seine Neffen zu Pferde steigen. Ist das wahr?«

»Ja, das ist so.«

»Er hat nichts als sein Traktament, und darauf ruht noch ein Abzug zur Abbezahlung eines Vorschusses, den die Regierung ihm gegeben hat, als er ... wissen Sie?«

»Ja, ich weiß es.«

»Als er eine neue Moschee bauen wollte, wozu er viel Geld brauchte. Dazu kommt, daß viele Glieder seiner Familie ... wissen Sie?«

»Ja, das weiß ich.«

»Viele Glieder seiner Familie – die eigentlich nicht in Lebak zu Hause ist und darum auch beim Volke nicht angesehen ist – scharen sich um ihn wie eine Bummlerbande und pressen ihm Geld ab ... ist's wahr?«

»Ja,« sagte Verbrügge.

»Und wenn seine Kasse leer ist, was oft vorkommt, nehmen sie in seinem Namen dem Volke ab, was ihnen gefällt ... ist's so?«

»Ja, so ist es.«

»Ich bin also gut unterrichtet, doch davon später. Der Regent wird alt, er ist seit einigen Jahren von dem Triebe beherrscht, sich durch Geschenke an die Geistlichen verdienstlich zu machen. Er giebt viel Geld zu den Reisekosten der Mekkapilger, die ihm allerlei Lumpen von Reliquien, Talismanen und Djimats mitbringen. Ist es nicht so?«

»Ja, das ist wahr.«

»Durch dies alles ist er so arm. Der Demang von Parang-Kudjang ist sein Schwiegersohn. Wo der Regent selbst, aus Scham, seines Ranges wegen, nichts nehmen durfte, da ist es der Demang – aber er nicht allein – der dem Adhipatti [119] den Hof macht, indem er der armen Bevölkerung Geld und Gut abpreßt, und die Leute von ihren eigenen Reisfeldern wegholt, um sie auf die Sawahs des Regenten zu treiben. Und dieser ... ich will ja glauben, daß er gern anders möchte, aber die Not zwingt ihn, von solchen Mitteln Gebrauch zu machen. Ist das nicht alles wahr, Verbrügge?«

»Ja, es ist wahr,« sagte Verbrügge, der, je länger je mehr, einzusehen begann, daß Havelaars Blick scharf war.

»Ich wußte,« fuhr dieser fort, »daß er kein Geld im Hause hatte. Sie haben heute früh gehört, daß ich den Vorsatz habe, meine Pflicht zu thun. Unrecht dulde ich nicht, bei Gott, ich dulde es nicht!«

Und er sprang auf, und es war in seinem Ton etwas ganz anderes als gestern bei dem offiziellen Eid.

»Aber,« fuhr er fort, »ich will meine Pflicht mit Milde thun. Ich will nicht zu genau wissen, was geschehen ist. Doch was von heute ab geschieht, gehört zu meiner Verantwortung; dafür will ich Sorge tragen. Ich hoffe lange hier zu bleiben. Wissen Sie wohl, Verbrügge, daß unser Beruf herrlich schön ist? Aber wissen Sie auch, daß ich alles, was ich Ihnen eben sagte, eigentlich von Ihnen hätte hören müssen? Ich kenne Sie ebenso gut, wie ich weiß, wer da Garem-glap (Seesalz) macht an der Südküste: Sie sind ein braver Mensch, das weiß ich; aber warum haben Sie mir nicht gesagt, daß hier so viel nicht in Ordnung ist? Sie sind zwei Monate lang stellvertretender Adsistent-Resident gewesen, und außerdem schon lange hier als Kontroleur, Sie mußten das also wissen.«

»Mijnheer Havelaar, ich habe nie unter jemand gedient, der gewesen wäre wie Sie. Sie haben etwas sehr Besonderes, nehmen Sie mir es nicht übel.«

»Durchaus nicht; ich weiß wohl, daß ich nicht bin wie alle Menschen ... aber was thut das zur Sache?«

»Das thut's, daß Sie einem Begriffe und Ideen mitteilen, die früher nicht bestanden.«

»Nein! die eingeschlummert waren durch den verfluchten offiziellen Schlendrian, der seinen Stil sucht in ›Ich habe die Ehre‹ und seinen Hochgenuß in der ›höchsten Zufriedenheit der Regierung.‹ Nein, Verbrügge, verleumden Sie sich nicht selber! Sie haben von mir nichts zu lernen ... heute früh zum Beispiel in der Sebah, habe ich Ihnen da etwas Neues erzählt?«

[120] »Nein, Neues nicht ... aber Sie sprachen anders als die anderen.«

»Ja, das macht, weil meine Erziehung vernachlässigt ist. Ich spreche zu sehr gerade heraus. Aber Sie sollten mir sagen, warum Sie sich bei all dem Verkehrten in Lebak so beruhigt haben?«

»Ich habe nie so den Eindruck einer Initiative gehabt ... und dann, das war ja alles immer so in diesen Gegenden.«

»Ja, ja, das weiß ich wohl ... jeder kann nicht Prophet sein oder Apostel ... das Holz würde zu teuer zum Kreuzigen. Aber Sie wollen mir doch helfen, alles zurecht zu bringen? Sie wollen doch wohl IhrePflicht thun?«

»Gewiß, vor allem bei Ihnen. Aber nicht jeder würde das so streng fordern oder abschätzen, und dann – man kommt so leicht in die Lage des Mannes, der gegen Windmühlen kämpft.«

»Nein, das sagen die, die das Unrecht lieben, weil sie davon leben, daß kein Unrecht wäre, um einen Vorwand zu haben, Euch als einen Don Quixote hinzustellen und zu gleicher Zeit ihre Windmühlen im Gange zu erhalten. Indessen, Verbrügge! Sie hätten nicht auf mich zu warten brauchen, um Ihre Pflicht zu thun. Der Herr Slotering war ein geschickter und ehrlicher Mann; er wußte, was vorging, er mißbilligte es und trat dagegen auf. Sehen Sie hier!«

Havelaar nahm aus einer Brieftasche zwei Blatt Papier, und indem er sie Verbrügge zeigte, fragte er:

»Wessen Hand ist das?«

»Das ist die Handschrift des Herrn Slotering ...«

»Richtig. Das sind Notizen, augenscheinlich Dinge betreffend, die er mit dem Residenten besprechen wollte. Da steht, sehen Sie:


1. Über den Reisbau.
2. Über die Wohnungen der Dorf häupter.
3. Über das Einziehen der Land renten u.s.w.

Dahinter stehen zwei Ausrufungszeichen; was meinte Herr Slotering damit?«

»Das kann ich nicht wissen,« sagte Verbrügge.

»Aber ich. Das bedeutet, daß viel mehr Landrenten aufgebracht werden, als in die Landeskasse fließen. Aber ich werde Ihnen etwas zeigen, was wir beide verstehen, weil es in Buchstaben geschrieben ist und nicht in Zeichen. Sehen Sie:


[121] 12. Über den Mißbrauch, der durch den Regenten und niedere Häupter mit der Bevölkerung getrieben wird. (Über das Halten verschiedener Wohnungen zu Kosten der Bevölkerung u.s.w.)


Ist das deutlich? Sie sehen, daß der Herr Slotering wohl jemand war, der die Initiative ergreifen konnte, Sie hätten sich daher wohl an ihn anschließen können. Hören Sie:


15. Daß viele Personen von den Familien und dem Gefolge auf den Auszahlungs listen stehen, die in der That an der Kultur keinen Anteil haben; sodaß ihnen die Vorteile davon zufallen, zum Schaden der wirklichen Teilhaber. Auch werden sie in den unrechtmäßigen Besitz der Sawah-Felder gestellt, während diese allein denen zukommen, die an der Kultur Anteil haben.


... Hier habe ich noch eine Notiz, und zwar mit Bleistift. Sehen Sie, auch da steht etwas sehr Deutliches:


Die Verminderung des Volkes zu Parang-Kudjang ist allein dem weitgehenden Mißbrauch zuzuschreiben, der mit der Bevölkerung getrieben wird.


... Was sagen Sie dazu? Sehen Sie wohl, daß ich nicht so excentrisch bin, als es aussieht, wenn ich mit dem Recht Ernst mache, und daß das auch andere thaten.«

»Es ist wahr,« sagte Verbrügge, »der Herr Slotering hat mit dem Residenten oft über das alles gesprochen.«

»Und was folgte darauf?«

»Dann wurde der Regent gerufen ... er wurde abouchiert.« ...

»Schön! Und dann?«

»Der Regent leugnete gewöhnlich alles. Dann mußten Zeugen kommen. Niemand wagte zu zeugen gegen den Regenten ... Mijnheer Havelaar, diese Sachen sind so schwierig!«

Der Leser wird, noch ehe er mein Buch ausgelesen hat, ebenso gut wie Verbrügge wissen, warum diese Sachen so besonders schwierig sind.

»Der Herr Slotering hatte viel Ärger damit,« fuhr der Kontroleur fort, »er schrieb scharfe Briefe an die Häupter ...«

»Ich habe sie heute nacht gelesen,« sagte Havelaar.

»Und ich habe ihn oftmals sagen gehört, wenn es nicht anders würde und der Resident nicht durchgriffe, so würde [122] er sich geradeswegs an den General-Gouverneur wenden. Dies hat er den Häuptern auch selbst gesagt auf der letzten Sebah, die er geleitet hat.«

»Da würde er sehr falsch gehandelt haben; denn der Resident war sein Chef, den er auf keinen Fall übergehen durfte, und warum sollte er auch? Es ist doch nicht anzunehmen, daß der Resident von Bantam Unrecht und Willkür gutheißen sollte?«

»Gutheißen, nein ... aber man klagt nicht gern ein Haupt an.«

»Ich klage keinen gern an, wer es auch sei; aber wo es sein muß, ein Haupt so gut wie einen anderen. Indes, von Anklagen ist ja hier, gottlob, keine Rede. Morgen werde ich den Regenten besuchen. Ich will ihm die falsche und gesetzwidrige Ausnutzung der Macht vor Augen stellen, vor allem, wo es sich handelt um den Besitz armer Leute. Aber bis das alles zurecht kommt, will ich ihm in seinen mißlichen Umständen helfen, so viel ich kann. Sie begreifen nun, warum ich das Geld dem Kollekteur sofort habe auszahlen lassen. Auch beabsichtige ich die Regierung zu ersuchen, ihm seinen Vorschuß gänzlich zu schenken. Und Sie, Verbrügge, ersuche ich, streng Ihre Pflicht zu thun, so lange es geht, mit Milde, aber wenn es sein muß, ohne Furcht. Sagen Sie fortan frei heraus, wie es steht ... komme, was kann: werfen Sie die Halbheit von sich ... und jetzt, bleiben Sie bei uns zu Tisch; wir haben holländischen Blumenkohl, Konserve ... aber alles ist sehr einfach; denn ich muß sehr sparsam sein ... komm, Max!«

Und mit Max rittlings auf der Schulter, traten sie in die Innengalerie, wo Tine sie am gedeckten Tisch erwartete, der, wie Havelaar gesagt hatte, wohl sehr einfach war. Düclari, der Verbrügge fragen kam, ob er denn nicht vor dem Mittagsessen zu Hause zu sein dächte, wurde mit zu Tisch geladen, – und wenn ihr gern etwas Abwechselung in meiner Erzählung haben wollt, müßt ihr das folgende Kapitel lesen, in dem ich euch mitteile, was so alles bei diesem Mahl gesprochen wurde.

Neuntes Kapitel

[123] Neuntes Kapitel.

Stern fährt fort, wird aber durch Luise Rosemeyer unterbrochen. Droogstoppels Sorgen, und Hochwürden Wawelaars Ansichten über die Bekehrung der Heiden. Droogstoppels große Idee über Lebak.


Ich gab zwar an, mit Bestimmtheit zu wissen, Leser, wie lange ich nun eine Heldin sollte in der Luft schweben lassen, bevor du, bei der Beschreibung eines Schlosses, mein Buch mutlos aus der Hand legen würdest, ohne abzuwarten, bis das Menschenkind auf die Erde gelangte. Wenn ich in meiner Erzählung solch einen Luftsprung brauchte, würde ich vorsichtshalber immer ein erstes Stockwerk als Abreise-Station wählen, und dazu ein Schloß, von dem wenig zu sagen wäre. Sei übrigens vorläufig beruhigt: Havelaars Haus hatte kein oberes Stockwerk, und die Heldin meines Buches, – die liebe, treue, anspruchslose Tine, eine Heldin! – ist nie aus dem Fenster gesprungen.

Als ich im vorigen Kapitel mit einer Anweisung auf etwas Abwechselung im folgenden schloß, war das eigentlich mehr ein oratorischer Kunstgriff, und um einen Schluß zu machen, der gut abschnitt, als daß ich in der That meinte, das folgende Stück solle nur »zur Abwechselung« Wert haben. Ein Schriftsteller ist eitel wie ... ein Mann. Sprich schlecht von seiner Mutter, oder von der Farbe seiner Haare, sag', daß er einen Amsterdamer Accent hat, was kein Amsterdamer zugiebt, – vielleicht verzeiht er dir diese Dinge: aber rühre niemals an die Außenseite des kleinsten Teilchens einer Nebensache, die in der Nähe seiner Schreiberei lag ... denn das vergiebt er dir nicht. Wenn du also mein Buch nicht schön findest und du triffst mich irgendwo, dann thue, als ob wir uns nicht kennten.

Nein, selbst solch ein Kapitel »zur Abwechselung« kommt mir durch das Vergrößerungsglas meiner Schriftsteller-Eitelkeit als höchst wichtig und unentbehrlich vor, und wenn du es überschlägst und später nicht nach Wunsch von meinem Buche entzückt bist, werde ich nicht verfehlen, dir dieses Überschlagen als Ursache vorzuhalten, daß du mein Buch nicht richtig beurteilen kannst, weil du nämlich gerade das »Wesentliche« nicht gelesen hast. So würde ich – denn ich bin Mann und Schriftsteller – jedes Kapitel für wesentlich halten, das du in unverzeihlichem Leser-Leichtsinn überschlagen hättest.

[124] Ich stelle mir vor, daß deine Frau fragt: »Ist etwas an dem Buch dran?« Und du sagst zum Beispiel – schrecklich zu hören für mich! – mit dem Wortreichtum, der verheirateten Männern eigen ist: »Hm ... so ... ich weiß noch nicht.«

Nun, du Barbar, lies weiter! das Wichtige steht gerade vor der Thür. Und mit bebender Lippe starre ich dich an, und mit der Dicke der umgeschlagenen Blätter ... und ich suche auf deinem Gesicht den Wiederschein des Kapitels, »das so hübsch ist« ... »Nein,« sage ich, »er ist noch nicht da ... nachher wirst du aufspringen ... vor Rührung irgend etwas umarmen ... deine Frau vielleicht ...«

Aber du liest weiter; das »hübsche Kapitel« muß vorbei sein, dünkt mich ... du bist nicht im mindesten aufgesprungen, und du hast nichts umarmt ...

Und immer dünner wird das Bündel Blätter unter deinem rechten Daumen, und immer kleiner wird meine Hoffnung auf die Umarmung: – ja, wahrhaftig, ich hatte sogar auf eine Thräne gerechnet!

Und du hast den Roman ausgelesen, bis »sie sich kriegen,« und du sagst gähnend – das ist ein anderer Ausdruck der Beredsamkeit im Ehestande: »So ... so ... es ist ein Buch, das ... ach! man schreibt gegenwärtig so viel!«

Aber weißt du denn nicht, Untier, Tiger, Europäer, Leser! weißt du denn nicht, daß du da eine Stunde damit hingebracht hast, auf meinen Geist zu beißen, wie auf einen Zahnstocher, mit Knabbern und Nagen auf Fleisch und Bein von deinem Geschlecht? Menschenfresser! Darin stak meine Seele, die du wiedergekäut hast wie schon einmal gegessenes Gras ... das war mein Herz, das du heruntergeschluckt hast wie ein Naschwerk ... denn in dem Buche hatte ich Herz und Seele niedergelegt: es fielen so viele Thränen auf die Schrift, und mein Blut wich aus den Adern, je mehr ich weiter schrieb, und das gab ich dir alles, und das kaufst du für wenige Stüber ... und du sagst »Hm!«

Der Leser begreift, daß ich hier nicht von meinem Buche spreche.

Ich will bloß, um mit Abraham Blankaart zu reden ...

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Wer ist das, Abraham Blankaart?« fragte Luise Rosemeyer, und Fritz erzählte es ihr, was mich sehr freute. [125] Denn das gab mir Gelegenheit, einmal aufzustehen, und, für diesen Abend wenigstens, der Vorlesung ein Ende zu machen. Du weißt, daß ich Makler in Kaffee bin (Lauriergracht Nr. 37), und daß ich für mein Fach alles übrig habe: du wirst dir daher vorstellen können, wie wenig ich mit dem Werk Sterns zufrieden war. Ich hatte auf Kaffee gehofft und er gab uns ... ja, der Himmel weiß, was.

Mit seiner Ausarbeitung hat er uns schon drei Theeabende unterhalten, und was das Schlimmste ist, die Rosemeyers finden es hübsch. Als ich eine Bemerkung machte, berief er sich auf Luise. »Ihre Zustimmung,« sagte er, »wiegt mir schwerer als aller Kaffee der Welt, und dann, wenn das Herz mir glüht ...« u.s.w. (Sieh die Tirade auf Seite so und so, oder sieh lieber nicht.) Da stehe ich nun und weiß nicht, was thun! Das Paket von Shawlmann ist ein wahres trojanisches Pferd; auch Fritz wird dadurch verdorben. Er hat, wie ich merke, Stern geholfen, denn dieser Abraham Blankaart ist zu holländisch für einen Deutschen. Beide sind sie so pedantisch, daß ich wahrhaftig mit der Sache verlegen bin. Das Schlimmste ist, daß ich mit Gaafzuiger ein Übereinkommen getroffen habe, um ein Buch herauszugeben, das über die Kaffeeauktionen handeln muß. Ganz Niederland wartet darauf, und nun geht Stern einen ganz anderen Weg. Gestern sagte er: »Seien Sie getrost, alle Wege führen nach Rom, warten Sie nur erst den Schluß der Einleitung ab« ... (ist das alles noch Einleitung?) »ich verspreche Ihnen, zum Schlusse kommt die Sache auf Kaffee, Kaffee, und nichts als Kaffee. Denken Sie an Horaz,« fuhr er fort, »hat er nicht bereits gesagt: Omne tulit punctum qui miscuit ... Kaffee mit etwas anderem? Handeln Sie nicht selber ebenso, wenn Sie Zucker und Milch in die Tasse thun?«

Da muß ich nun schweigen, nicht weil er recht hätte, sondern weil ich der Firma Last & Co. gegenüber verpflichtet bin dafür zu sorgen, daß der alte Stern nicht in die Hände von Büsselinck und Waterman falle, die ihn schlecht bedienen würden, weil sie Pfuscher sind.

Dir, Leser, schütte ich mein Herz aus; und damit du, nach dem Lesen von Sterns Geschreibe – hast du es wirklich [126] gelesen? – deinen Zorn nicht über ein unschuldig Haupt ausgießest – denn wer wird einen Makler nehmen, der ihn Menschenfresser schimpft? – verlasse ich mich darauf, daß du von meiner Unschuld überzeugt bist. Ich kann doch nun diesen Stern nicht aus der Firma meines Buches herausdrängen, nun die Sachen einmal so weit sind, daß Luise Rosemeyer, wenn sie aus der Kirche kommt (die Jungen scheinen ihr aufzulauern), fragt, ob er diesen Abend ein bißchen früh kommen werde, um doch recht viel von Max und Tine vorzulesen.

Weil du aber doch das Buch gekauft oder geliehen hast, im Vertrauen auf den würdigen Titel, der etwas Solides verspricht, erkenne ich deine Ansprüche auf etwas Gutes für dein Geld an, und darum schreibe ich nun selbst wieder ein paar Kapitel. Du bist nicht auf dem Gesellschaftsabend bei den Rosemeyers, Leser, und darum besser dran als ich, der das alles mit anhören muß. Dir steht es frei, die Kapitel, die nach deutscher Überschwänglichkeit riechen, zu überschlagen, und dich allein zu befassen mit dem, was von mir geschrieben ist, der ich ein würdiger Mann bin und Makler in Kaffee.

Mit Befremden habe ich aus Sterns Geschreibe vernommen, und aus Shawlmanns Paket hat er mir nachgewiesen, daß es wahr wäre, daß in dem Bezirk Lebak kein Kaffee gepflanzt wird. Das ist ein großer Fehler, und ich werde meine Mühe für reichlich belohnt erachten, wenn die Regierung durch mein Buch auf diesen Fehler aufmerksam gemacht wird. Aus Shawlmanns Papieren soll sich ergeben, daß der Boden für den Anbau von Kaffee nicht geeignet ist; doch ist das durchaus keine Entschuldigung, und ich behaupte, daß man sich einer unverzeihlichen Pflichtversäumnis gegen Niederland im allgemeinen und die Kaffeemakler im besonderen schuldig macht, ja sogar um die Javanen selbst, wenn man nicht entweder den Boden verändert (der Javane hat doch nichts weiter zu thun), oder, wenn sie meinen, das nicht zu können, die Menschen, die da wohnen, nach anderen Gebieten sendet, wo der Boden für Kaffee gut ist.

Ich sage nie etwas, was ich nicht gut überlegt habe, und ich wage zu behaupten, daß ich hier mit Sachkenntnis spreche, da ich über diese Angelegenheit reiflich nachgedacht habe, seit ich die Predigt von Pastor Wawelaar in der Betstunde zur Bekehrung der Heiden hörte.

[127] Das war Mittwoch abend. Du mußt wissen, daß ich meine Vaterpflicht gewissenhaft erfülle, und daß die sittliche Aufführung meiner Kinder mir sehr am Herzen liegt. Da nun Fritz seit einiger Zeit in Ton und Manieren etwas angenommen hat, was mir nicht gefällt (es kommt alles aus dem verwünschten Paket), habe ich ihn mir einmal vorgenommen und habe gesagt:

»Fritz, ich bin mit dir nicht zufrieden. Ich habe dir stets das Gute vorgehalten, und du weichst ab von dem guten Wege; du bist pedantisch und schwerfällig und machst Verse und hast Betsy Rosemeyer einen Kuß gegeben. Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang. Du mußt die Rosemeyers nicht küssen und nicht so pedantisch sein. Sittenlosigkeit führt zum Verderben: lies in der Schrift und betrachte diesen Shawlmann. Er hat die Wege des Herrn verlassen, jetzt ist er arm und wohnt in einem kleinen Kämmerchen. Siehst du, das sind die Folgen von Unsittlichkeit und schlechtem Betragen: er hat schlechte Artikel in die Indépendance geschrieben und die Aglaja fallen lassen; so geht es, wenn man weise ist in seinen eigenen Augen: er weiß nun nicht einmal, wie spät es ist, und sein Junge hat nur eine halbe Hose an. Bedenke, daß dein Leib ein Tempel Gottes ist, und daß dein Vater immer hart hat arbeiten müssen, um zu leben (es ist die Wahrheit). Schlage die Augen nach oben, und bemühe dich, zu einem anständigen Makler aufzuwachsen, wenn ich nach Driebergen gehe. Und hab acht auf die Menschen, die nicht auf guten Rat hören wollen, die Religion und Sittlichkeit mit Füßen treten, und spiegele dich an diesen Menschen. Und stell dich nicht mit Stern gleich, dessen Vater so reich ist, und der deshalb immer Geld genug haben wird, wenn er auch kein Makler werden will. Denke daran, daß das Schlechte stets bestraft wird: sieh wieder diesen Shawlmann an, der keinen Winterüberzieher hat und aussieht wie ein Komödienspieler. Paß in der Kirche hübsch auf, und drehe dich nicht so hin und her auf deiner Bank, als ob es dich langweilte; und laure nicht auf Mädchen, wenn es aus ist, denn das stört die Erbauung. Bringe auch Marie nicht zum Lachen, wenn ich beim Frühstück aus der Schrift lese; das paßt sich in einem anständigen Hause nicht. Auch hast du auf Bastiaans Schreibunterlage Figuren gemalt, als er wieder nicht da war, weil er öfters die Gicht hat, – das hält die Menschen auf dem Kontor von der Arbeit ab, und es steht in Gottes Wort, daß solche Dummheiten zum Verderben [128] führen. Der Shawlmann that auch solche Dinge, als er jung war: er hat als Kind auf dem Westermarkt einen Griechen geschlagen, jetzt ist er träge, schwerfällig und kränklich. Mach also nicht immer mit Stern solche Faxen: sein Vater ist reich – thue, als sähest du es nicht, wenn er dem Buchhalter Gesichter schneidet, und wenn er außerhalb des Kontors Verse vor hat, dann sage es ihm so gelegentlich, er solle lieber an seinen Vater schreiben, daß er es hier bei uns so gut hat, und daß Marie ihm Pantoffeln gestickt hat. Frag ihn so nebenbei, ob er meint, daß sein Vater zu Büsselinck & Waterman gehen werde, und sag ihm, daß das Pfuscher sind. Siehst du, so bringst du ihn auf den guten Weg, das ist man seinem Nächsten schuldig, und all das Versemachen ist Unsinn. Sei doch artig und gehorsam, Fritz, und zupfe das Mädchen nicht am Rock, wenn sie Thee aufs Kontor bringt, und mach mir nichts zu Schanden, denn dann fällt sie, und Paulus sagt, daß ein Sohn seinem Vater niemals Verdruß machen muß. Ich gehe schon zwanzig Jahre zur Börse, und ich kann sagen, daß ich geachtet bin an meinem Pfeiler. Höre deshalb meine Ermahnungen, Fritz, und hole deinen Hut und ziehe deine Jacke an, und gehe mit zur Betstunde, das wird dir gutthun.«

So habe ich gesprochen, und ich bin überzeugt, daß ich Eindruck auf ihn gemacht habe, besonders da Pastor Wawelaar zum Text genommen hatte: »Die Liebe Gottes, ersichtlich aus seinem Zorn gegen die Ungläubigen« (Samuels Fluch gegen Saul: 1. Sam. 15, 33).

Ich dachte beim Anhören seiner Rede fortwährend, wie himmelweit doch der Unterschied ist zwischen menschlicher und göttlicher Weisheit. Ich sagte bereits, daß in dem Paket von Shawlmann, unter vielem Plunder, auch etwas war, was sich durch Brauchbarkeit und Begründung auszeichnete. Aber wie wenig hat doch so etwas zu bedeuten, wenn man es mit einer Rede wie Pastor Wawelaars vergleicht. Und nicht aus eigener Kraft; denn ich kenne Wawelaar und halte ihn für einen ziemlich mittelmäßigen Menschen, – nein, durch die Kraft, [129] die von oben kommt. Der Unterschied trat um so deutlicher zu Tage, als er viele Punkte berührte, die auch Shawlmann behandelt hatte; denn ihr habt gesehen, daß in dem Paket viel über Javanen und andere Heiden vorkam. (Fritz sagt, daß die Javanen keine Heiden seien; aber ich nenne jeden, der einen falschen Glauben hat, einen Heiden.)

Sowohl, weil ich aus Wawelaars Beweisführung meine Meinung geschöpft habe über die Unmöglichkeit, die Kaffeekultur in Lebak einzuführen, worauf ich noch zurückkomme, – als auch, weil ich es als ehrlicher Mann nicht dulden kann, daß der Leser für sein Geld gar nichts empfange, will ich hier einige Bruchstücke aus der Predigt, die besonders treffend waren, mitteilen.

Er hatte kurz Gottes Liebe aus den angeführten Textworten bewiesen, und war dann sehr schnell zu dem Punkte übergegangen, auf den es hier hauptsächlich ankam, nämlich die Bekehrung von Javanen, Malayers und wie all das Volk da heißen mag.

»So, meine Geliebten! war der Beruf von Israel« (er meinte das Ausrotten der Bewohner von Kanaan) »und so ist der Beruf von Niederland! Nein, es soll nicht gesagt werden, daß das Licht, das uns erleuchtet, unter den Scheffel gesetzt worden ist, nicht, daß wir geizig seien im Mitteilen des Brotes des ewigen Lebens. Wendet die Augen auf die Eilande des Indischen Oceans, bewohnt von Millionen und Abermillionen Kindern des verstoßenen Sohnes – und des zu Recht verstoßenen Sohnes des edlen gottgefälligen Noah. Dort kriechen sie herum in den ekelhaften Schlangenhöhlen heidnischer Unkenntnis, dort beugen sie das schwarze kraushaarige Haupt unter das Joch gewinnsüchtiger Priester. Dort beten sie zu Gott unter Anrufung eines falschen Propheten, der ein Greuel ist vor den Augen des Herrn; und, Geliebte! es giebt ihrer, die, als wäre es noch nicht genug, einem falschen Propheten zu gehorchen, es giebt sogar solche, die einen anderen Gott, was sage ich! die Götzen anbeten, Götzen von Holz oder Stein, die sie selbst gemacht haben nach ihrem Bilde, schwarz, abscheulich, mit platten Nasen, wie die Teufel! Ja, Geliebte, beinahe hindern mich die Thränen, hier fortzufahren, noch tiefer ist die Verworfenheit von Hams Geschlecht. Es giebt unter ihnen welche, die gar keinen Gott kennen, unter welchem Namen auch immer, die es für genügend halten, die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft zu befolgen, die ein Erntelied, in dem sie ihre Freude über den Erfolg [130] ihrer Arbeit ausdrücken, als genügenden Dank für das höhere Wesen betrachten, das diese Ernte reifen ließ. Es sind da Verirrte, meine Geliebte! die da meinen, es sei genug, Weib und Kind lieb zu haben, und dem Nächsten nicht zu nehmen, was ihnen nicht gehört, um des Abends ruhig das Haupt zur Ruhe legen zu können! Schaudert euch nicht bei diesem Gemälde, krampft sich nicht euer Herz zusammen, wenn ihr denkt, was das Schicksal aller dieser Thoren sein wird, wenn die Posaune schallen wird, die die Toten aufrufen soll zur Trennung der Rechtschaffenen von den Sündern? Hört ihr nicht – ja, ihr hört es, denn aus den vorgelesenen Textworten habt ihr gesehen, daß euer Gott ist ein mächtiger Gott und ein Gott der gerechten Rache – ja, ihr hört das Krachen der Knochen und das Prasseln der Flammen in dem ewigen Gehenna, da ist Heulen und Zähneklappen: – dort, da brennen sie und vergehen nicht, denn ewig ist die Strafe – dort leckt die Flamme mit nimmersatter Zunge an den heulenden Opfern des Unglaubens – da stirbt der Wurm nicht, der ihre Herzen durch und durch zernagt, ohne sie zu vernichten, daß immer noch ein Herz überbleibe zu zernagen in der Brust des Gottesleugners. Sieh, wie man die schwarze Haut abzieht von dem ungetauften Kinde, das, kaum geboren, von der Mutter Brust fortgeschleudert wurde in den Pfuhl der ewigen Verdammnis ...«

Hier fiel eine Jüffrouw in Ohnmacht.

»Aber, Geliebte!« fuhr Pastor Wawelaar fort, »Gott ist ein Gott der Liebe. Er will nicht, daß der Sünder verloren gehe, sondern daß er selig werde mit der Gnade in Christus, durch den Glauben! Und darum ist Niederland auserkoren, von den Unseligen zu retten, was zu retten ist. Dazu hat er in seiner unerforschlichen Weisheit einem Lande, klein von Umfang, aber groß und stark durch die Kenntnis Gottes, Macht gegeben über die Bewohner dieser Lande, damit sie, durch das heilige, nie genug gepriesene Evangelium, gerettet werden aus den Strafen der Hölle. Die Schiffe Niederlands befahren die großen Wasser und sie bringen Kultur, Religion, Christentum zu den verirrten Javanen. Nein, unser glückliches Niederland begehrt nicht für sich allein die Seligkeit; wir wollen sie auch den unglücklichen Geschöpfen der fernen Küsten mitteilen, die da gebunden liegen in den Fesseln von Unglauben, Aberglauben und Sittenlosigkeit, – und die Betrachtung der Pflichten, die demzufolge auf uns ruhen, soll den siebenten Teil meiner Rede ausmachen.«

[131] Nämlich, was voraufging, war der sechste. Unter den Pflichten, die wir in Bezug auf die armen Heiden zu erfüllen haben, wurden genannt:


1. das Geben reichlicher Beiträge in Geld an die Missionsvereinigung;

2. das Unterstützen der Bibelgesellschaften, um diese instandzusetzen, Bibeln auf Java auszuteilen;

3. das Errichten von Übungsschulen zu Harderwijk für das koloniale Werbedepot;

4. das Schreiben von Predigten und religiösen Gesängen, geeignet, durch Soldaten oder Matrosen den Javanen vorgelesen oder vorgesungen zu werden;

5. das Aufrichten einer Vereinigung von einflußreichen Männern, deren Aufgabe sein solle, unseren verehrten König zu bitten:

a. nur solche Gouverneure, Offiziere und Beamte zu ernennen, die man als fest im wahren Glauben ansehen könne;

b. den Javanen zu erlauben, die Kasernen, sowie die auf den Reeden liegenden Kriegsschiffe und Kauffahrer zu besuchen, um durch den Verkehr mit niederländischen Soldaten und Matrosen zu dem Gottesreich geleitet zu werden;

c. zu verbieten, daß Bibeln oder religiöse Traktate in Wirtshäusern als Bezahlung angenommen werden;

d. in die Bestimmungen über die Opiumpacht auf Java die Vorschrift aufzunehmen, daß in jeder Opiumkneipe eine Zahl Bibeln vorhanden sein müsse, im Verhältnis mit der vermutlichen Zahl der Besucher einer solchen Einrichtung; und daß der Pächter sich verpflichten müsse, keinen Opium zu verkaufen, ohne daß der Käufer ein religiöses Traktätchen dazu nähme;

e. zu befehlen, daß der Javane durch Arbeit zu Gott geführt werde;

6. das Geben reichlicher Beiträge in Geld an die Missionsvereinigung.


Ich weiß wohl, daß ich diesen letzten Punkt schon unter Nummer Eins aufgeführt habe; aber er wiederholte es, und solche Überzähligkeit kommt mir im Feuer der Rede sehr erklärlich vor.

Aber, Leser, hast du wohl aufgepaßt auf Nummer 5e? Ja, das war etwas, was mich so sehr an die Kaffeeversteigerungen und an die angebliche Unfruchtbarkeit des Lebakschen [132] Bodens erinnerte; es wird dir nun nicht mehr auffallend vorkommen, wenn ich dir versichere, daß dieser Punkt seit Mittwoch abend nicht aus meinen Gedanken gekommen ist. Pastor Wawelaar hat die Berichte der Missionare vorgelesen; kein Mensch kann also seine gründliche Sachkenntnis bezweifeln. Nun, wenn er, mit den Berichten vor sich und mit dem Auge auf Gott, behauptet, daß viel Arbeit günstig wirken werde, um die javanischen Seelen für das Gottesreich zu erobern, dann kann ich wohl sagen, ohne so ganz die Wahrheit zu verfehlen, daß zu Lebak sehr gut Kaffee gepflanzt werden kann, und noch mehr: daß vielleicht das höhere Wesen diesen Boden bloß deswegen so ungeeignet zur Kaffeekultur gemacht hat, um durch die Arbeit, die nötig ist, um einen anderen Grund dahin zu verlegen, die Bevölkerung dieser Strecke für die Seligkeit zugänglich zu machen.

Ich hoffe doch, daß mein Buch dem Könige zu Gesicht kommen wird, und daß bald durch größere Versteigerungen ersichtlich werden möge, wie eng die Kenntnis Gottes in Verbindung steht mit dem wohlverstandenen Interesse der ganzen Bürgerschaft. Sieh einmal, wie der einfache niedrige Wawelaar, ohne Weisheit nach menschlichen Begriffen (der Mann hat nie den Fuß auf die Börse gesetzt), aber erleuchtet durch das Evangelium, das eine Lampe ist auf seinem Pfad, mir, Makler in Kaffee, da plötzlich einen Wink gegeben hat, der nicht allein für ganz Niederland wichtig ist, sondern der auch mich instandsetzen kann, vielleicht, wenn Fritz gut aufpaßt (er hat sehr stillt gesessen), fünf Jahre früher nach Driebergen zu gehen. Ja, Arbeit, Arbeit, das ist meine Parole – Arbeit für den Javanen, das ist mein Prinzip, und Prinzipien sind mir heilig.

Ist nicht das Evangelium das höchste Gut? Geht etwas über die Seligkeit? Ist es nicht also unsere Pflicht, diese Menschen selig zu machen? Und wenn als Hilfsmittel dazu die Arbeit nötig ist – ich selbst habe zwanzig Jahre die Börse besucht – dürfen wir dann dem Javanen die Arbeit verweigern, wo doch seine Seele ihrer bedarf, um später nicht zu brennen? Selbstsucht würde es sein, schändliche Selbstsucht, wenn wir nicht alle Mittel anwendeten, um die armen verirrten Menschen vor der schrecklichen Zukunft zu behüten, die Pastor Wawelaar so beredsam geschildert hat. Eine Jüffrouw ist in Ohnmacht gefallen, als er von dem schwarzen Kinde sprach; vielleicht hatte sie einen Jungen, der etwas dunkel aussah, Frauen sind so.

[133] Und sollte ich nicht auf Arbeit dringen, der selbst vom Morgen bis zum Abend an die Geschäfte denkt? Ist nicht selbst dieses Buch, das Stern mir so sauer macht, ein Beweis, wie gut ich es meine mit der Wohlfahrt des Landes, und wie ich dafür alles übrig habe?

Und wenn ich so schwer arbeiten muß, ich, der ich getauft bin (in der Amstelkirche), soll man dann von dem Javanen nicht fordern dürfen, daß er die Hände ausstreckt, er, der seine Seligkeit noch verdienen soll?

Wenn diese Vereinigung (von Nummer 5e meine ich) zustande kommt, schließe ich mich ihr an, und ich werde auch die Rosemeyers zu gewinnen suchen, denn die Zuckerraffinadeure haben auch Interesse daran, wenn ich auch nicht glaube, daß sie in ihren Begriffen sehr sauber sind, die Rosemeyers meine ich, denn sie haben ein katholisches Dienstmädchen.

Wie es auch sei, ich werde meine Pflicht thun. Das habe ich mir selbst gelobt, als ich mit Fritz von der Betstunde nach Hause ging. In meinem Hause soll dem Herrn gedient werden, dafür werde ich sorgen, und mit um so mehr Eifer, da ich je länger je mehr einsehe, wie weise alles geregelt ist, wie liebreich die Wege sind, durch die wir an Gottes Hand geleitet werden, wie er uns behüten will für das ewige und für das zeitliche Leben, denn dieser Grund und Boden zu Lebak kann sehr gut geeignet gemacht werden zur Kaffeepflanzung.

Zehntes Kapitel

Zehntes Kapitel.

Droogstoppel sucht den jungen Stern auf den Pfad der Tugend zurückzuführen.


Wenn ich auch, wo es sich um Prinzipien handelt, niemand fürchte, habe ich doch begriffen, daß ich mit Stern einen anderen Weg einschlagen muß als mit Fritz. Und da zu erwarten steht, daß mein Name (die Firma ist Last & Co.; aber ich heiße Droogstoppel, Batavus Droogstoppel mit einem Buche in Berührung kommen wird, in dem Dinge stehen, die mit der Ehrerbietung, wie sie jeder anständige Makler vor sich selbst haben muß, nicht zusammenstimmen, so achte ich für meine Pflicht, mitzuteilen, wie ich diesen Stern auf den richtigen Weg zurückzuführen versucht habe.

[134] Ich habe ihm nicht von dem Herrn gesprochen, weil er lutherisch ist, aber ich habe auf sein Gemüt und seine Ehre gewirkt. Sieh hier, wie ich das angelegt habe, und merk dabei auf, wie weit man es in der Menschenkenntnis bringen kann. Ich hatte ihn hören sagen: »Auf Ehrenwort«, und fragte, was er damit sagen wolle?

»Nun,« sagte er, »daß ich meine Ehre verpfände für die Wahrheit dessen, was ich sage.«

»Das ist sehr viel,« erwiderte ich. »Sind Sie denn so überzeugt, die Wahrheit zu sprechen?«

»Ja,« erklärte er, »die Wahrheit sage ich immer. Wenn die Brust mir glüht ...« Der Leser weiß den Rest.

»Das ist wirklich sehr schön,« sagte ich, und ich that so, als ob ich es glaubte.

Aber das war gerade die Feinheit des Strickes, mit dem ich ihn fangen wollte, um, ohne Gefahr, den alten Stern in die Hände von Büsselinck und Waterman fallen zu sehen, doch das junge Kerlchen einmal recht zum Bewußtsein seiner Stellung zu bringen und ihn fühlen zu lassen, wie groß der Abstand ist zwischen einem, der eben erst anfängt, wenn auch sein Vater große Geschäfte macht, und einem Makler, der zwanzig Jahre die Börse besucht hat. Es war mir nämlich bekannt, daß er allerlei Zeug von Versen aus dem Kopfe wußte (er sagte »auswendig«), und da Verse immer Lügen sind, so war ich sicher, ihn sehr bald auf Unwahrheiten zu ertappen. Es dauerte denn auch nicht lange. Ich saß im Seitenzimmer, und er war in der »Suite,« denn wir haben eine Suite; Marie strickte, und er wollte ihr etwas erzählen. Ich hörte aufmerksam zu, und als es aus war, fragte ich ihn, ob er das Buch hätte, wo das Ding drin stand, das er soeben hergedröhnt hatte. Er sagte Ja und brachte es mir; es war ein Band der Werke von einem gewissen Heine. Am folgenden Morgen gab ich ihm, Stern meine ich, die nachfolgenden


Betrachtungen

über die Wahrheitsliebe jemandes, der das folgende

Machwerk von Heine einem jungen Mädchen vorträgt,

das in der Suite sitzt und strickt.


»Auf Flügeln des Gesanges,

Herzliebchen, trag ich dich fort.«


Herzliebchen ...? Marie, Ihr Herzliebchen? Wissen die alten Leute davon? Und Luise Rosemeyer? Ist es brav, so [135] etwas einem Kinde zu sagen, das durch dergleichen sehr leicht seiner Mutter gegenüber ungehorsam werden könnte, weil sie sich in den Kopf setzen könnte, sie sei mündig, weil man sie »Herzliebchen« nennt? Was bedeutet das »Forttragen auf Ihren Flügeln?« Sie haben keine Flügel, und Ihr Gesang auch nicht. Probieren Sie es einmal über die Lauriergracht, die nicht einmal sehr breit ist. Aber wenn Sie wirklich Flügel hätten, dürfen Sie dann so etwas einem Mädchen vortragen, das noch nicht eingesegnet ist? Und wäre sie auch, angenommen, was bedeutet dies Angebot von »zusammen wegfliegen?« Pfui!


»Fort nach den Fluren des Ganges,

Da weiß ich den schönsten Ort.«


Dann gehen Sie doch allein hin und mieten Sie sich eine Stube, aber nehmen Sie nicht ein Mädchen mit, das seiner Mutter in der Hauswirtschaft helfen muß. Aber Sie meinen das ja auch gar nicht. Erstens haben Sie den Ganges nie gesehen und wissen also gar nicht, ob da gut leben ist. Soll ich Ihnen sagen, wie die Sachen stehen? Es sind alles Lügen, die Sie darum erzählen, weil Sie sich mit dem Geverse zum Sklaven von Versmaß und Reim machen. Hätte die erste Zeile geendet auf Lug oder Trug, so hätten Sie Marie gefragt, ob sie mitginge nach Broek und so weiter. Sie sehen also, daß Ihre angebliche Reiselinie nicht ernst gemeint war, und daß alles auf einen Klingklang von Worten ohne Sinn und Verstand hinausläuft. Wie wäre es nun, wenn Marie wirklich Lust bekäme, die Reise zu machen? Ich spreche noch nicht einmal von der unbequemen Manier, die Sie vorschlagen; doch sie ist, Gott sei Dank, zu verständig, um nach einem Lande zu verlangen, von dem Sie sagen:


»Dort liegt ein rotblühender Garten

Im stillen Mondenschein,

Die Lotosblumen erwarten

Ihr trautes Schwesterlein.

Die Beilchen kichern und kosen

Und schaun nach den Sternen empor,

Heimlich erzählen die Rosen

Sich duftende Märchen ins Ohr.«


[136] Was wollen Sie in dem Garten mit Marie im Mondschein thun? Ist das sittlich, ist das brav, ist das anständig, Stern? Wollen Sie, daß ich mich schämen muß, wie Büsselinck und Waterman, mit denen kein anständiges Haus etwas zu thun haben will, weil ihre Tochter davongelaufen ist, und weil sie Pfuscher sind? Was sollte ich antworten, wenn man mich auf der Börse fragte, warum meine Tochter so lange in jenem Garten geblieben ist? Denn das begreifen Sie doch, daß kein Mensch mir glauben würde, wenn ich sagte, daß sie da die Lotosblumen besuchen mußte, die, wie Sie sagen, schon lange auf sie gewartet haben. Ebenso würde jeder verständige Mensch mich auslachen, wenn ich närrisch genug wäre, um zu sagen: Marie ist da in dem roten Garten (warum rot und nicht gelb oder lila?), um auf das Kichern und Kosen der Veilchen zu horchen, oder auf die Märchen, die die Rosen sich heimlich ins Ohr flüstern? Und könnte so etwas wahr sein, was hätte Marie davon, wenn es doch so heimlich geschieht, daß sie nichts davon versteht? Aber es sind Lügen, fauler Schwindel, und häßlich ist es auch; denn nehmen Sie einmal einen Bleistift und zeichnen Sie sich eine Rose mit einem Ohr, und sehen Sie, wie das aussieht. Und was bedeutet das, daß die Märchen duftend sind? Soll ich Ihnen das einmal auf gut holländisch sagen? Das will sagen, daß ein Lüftchen an dem Märchen ist ... so ist es!


»Es hüpfen herbei und lauschen

Die frommen klugen Gazell'n,

Und in der Ferne rauschen

Des heiligen Stromes Well'n ...

Dort wollen wir niedersinken

Unter dem Palmenbaum,

Und Liebe und Ruhe trinken

Und träumen seligen Traum.«


Können Sie nicht in den zoologischen Garten gehen, wenn Sie durchaus wilde Tiere sehen wollen? Müssen es gerade die Gazellen am Ganges sein, die doch in der Wildnis nicht so gut zu betrachten sind, wie in einer netten Umzäunung von geteertem Eisen? Warum sind diese Tiere fromm und klug? Das letztere lasse ich gelten, sie machen wenigstens nicht solche thöriche Verse – aber fromm? Was heißt das? Heißt das nicht einen Mißbrauch treiben mit einem heiligen Wort, das nur gebraucht werden darf von Menschen, die den [137] wahren Glauben haben? Und dann der heilige Strom? Wollen Sie Marie Dinge erzählen, die sie zu einer Heidin machen können? Wollen Sie ihren Glauben erschüttern, daß es kein heiliges Wasser giebt als das Wasser der Taufe, und keinen heiligen Fluß als den Jordan? Ist das nicht ein Untergraben von Sittlichkeit, Tugend, Religion, Christentum und Anstand?

Denken Sie einmal über das alles nach, Stern! Ihr Vater ist ein achtungswürdiges Haus, und ich bin sicher, er findet es gut, daß ich so auf Ihr Gemüt wirke, und er wird gern Geschäfte machen mit einem, der Tugend und Religion aufrecht erhält. Ja, Prinzipien sind mir heilig, und ich scheue mich nicht, gerade heraus zu sagen, was ich meine. Machen Sie also kein Geheimnis von dem, was ich sage, schreiben Sie es ruhig Ihrem Vater, daß Sie hier in einer soliden Familie sind, daß ich Sie auf das Gute hinweise, und fragen Sie sich selber, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie zu Büsselinck und Waterman gekommen wären? Da hätten Sie auch solche Verse aufgesagt, und da hätte man nicht auf Ihr Gemüt gewirkt, weil es Pfuscher sind. Schreiben Sie das getrost Ihrem Vater, denn wo Prinzipien im Spiele sind, fürchte ich niemand. Da wären die Mädchen auch mit Ihnen mitgegangen nach dem Ganges, und dann lägen Sie nun da unter jenem Baum im Grase, während Sie nun, weilich Sie warne, bei uns bleiben können, in einem anständigen Hause. Schreiben Sie das alles Ihrem Vater, und sagen Sie ihm, daß Sie so dankbar sind, daß Sie zu uns gekommen sind, und daß ich so gut für Sie sorge, und daß die Tochter von Büsselinck und Waterman weggelaufen ist, und grüßen Sie ihn sehr von mir, und schreiben Sie, daß ich noch 1/16 Prozent Courtage unter deren Gebot ablassen werde, weil ich die Schleicher nicht leiden kann, die einem Konkurrenten das Brot vom Munde stehlen durch günstige Offerten.

Und thun Sie mir den Gefallen, in Ihren Vorlesungen bei Rosemeyers etwas Tüchtigeres zu bringen. Ich habe in Shawlmanns Paket Aufstellungen über die Kaffee-Erzeugung der letzten zwanzig Jahre gesehen: lesen Sie einmal so etwas vor. Und Sie müssen auch die Mädchen und uns alle nicht so als Kannibalen hinstellen, die etwas von Ihnen aufgefressen haben. Das ist nicht anständig, mein Sohn; glauben Sie doch jemand, der weiß, was in der Welt los ist. Ich habe Ihren Vater schon vor seiner Geburt bedient (die Firma, meine ich, Last & Co., früher war es Last & Meyer); Sie [138] begreifen also, daß ich es gut mit Ihnen meine. Und spornen Sie Fritz an, daß er besser aufpaßt, und lehren Sie ihn keine Verse machen, und wenn er Gesichter schneidet gegen den Buchhalter, und dergleichen mehr, thun Sie, als ob Sie es nicht sähen. Geben Sie ihm ein Vorbild, weil Sie so viel älter sind, und bringen Sie ihm Ernst und Würde bei, weil er Makler werden soll.

Ich bin Ihr väterlicher Freund

Batavus Droogstoppel

(Firma Last & Co., Makler in Kaffee,

Lauriergracht Nr. 37).

Elftes Kapitel

Elftes Kapitel.

Stern fährt fort. Tischgespräche. Die Frauen von Südfrankreich. Maria Stuart und der japanische Steinhauer.


Ich will bloß, um mit Abraham Blaukaart zu reden, erklären, daß ich dieses Kapitel als »wesentlich« betrachte, weil es, wie ich meine, Havelaar besser kennen lehrt, und er scheint doch der Held der Geschichte zu sein.

»Tine, was ist das für Ketimon? Liebes Mädchen, thue niemals Pflanzensäure an Früchte. Gurken mit Salz, Ananas mit Salz, Pompelmusen mit Salz, alles, was aus der Erde kommt, mit Salz. Essig zu Fisch und Fleisch ... bei Liebig steht etwas darüber ...«

»Bester Max,« sagte Tine lachend, »wie lange sind wir schon hier? Dies Ketimon ist von Mewrouw Slotering.«

Und Havelaar hatte Mühe, sich zu erinnern, daß er eben erst gestern angekommen war, und daß Tine mit dem besten Willen in Küche und Hausordnung noch nichts hatte regeln können. Er war schon lange zu Rangkas-Betung! Hatte er nicht die ganze Nacht damit zugebracht, im Archiv zu lesen, und war nicht bereits viel, was mit Lebak in Beziehung stand; durch seine Seele gegangen? Und da sollte er augenblicklich wissen, daß er erst seit gestern da war? Tine wußte das wohl; sie verstand ihn immer.

»Ach ja, es ist wahr,« sagte er. »Aber deswegen mußt du doch etwas von Liebig lesen. Verbrügge, haben Sie viel von Liebig gelesen?«

[139] »Wer ist das?« fragte Verbrügge.

»Das ist einer, der viel über das Einlegen von Gurken geschrieben hat; auch hat er entdeckt, wie man Gras in Wolle verwandelt, verstehen Sie?«

»Nein,« sagten Verbrügge und Düclari gleichzeitig.

»Nun, die Sache selbst ist doch längst bekannt. Schicken Sie ein Schaf auf die Wiese und Sie sollen sehen. Aber er hat der Art und Weise nachgespürt, wie das geschieht, andere sagen wieder, daß er wenig davon weiß. Man ist nun hinterher, nach Mitteln zu suchen, um das Schaf in der Reihe auszulassen ... o die Gelehrten! Molière wußte es wohl ... ich halte viel von Molière. Wenn ihr wollt, halten wir abends Lesestunde. Tine ist auch dabei, wenn Max zu Bette ist.«

Düclari und Verbrügge wollten das gern. Havelaar sagte, er hätte nicht zu viel Bücher, aber darunter wären doch Schiller, Goethe, Heine, Lamartine, Thiers Say, Malthus, Scialoja, Smith, Shakespeare, Byron, Vondel ...

Verbrügge sagte, er läse kein Englisch.

»Was?! Sie sind doch über dreißig alt. Was haben Sie denn die ganze Zeit gethan? Das muß doch für Sie auf Padang sehr langweilig gewesen sein, denn da wird viel englisch gesprochen. Haben Sie Miß Matta-api gekannt?«

»Nein, ich kenne den Namen nicht.«

»Es war auch ihr Name nicht; wir sagten bloß so, weil ihre Augen so glänzten. Sie wird wohl nun verheiratet sein; es ist schon lange her. Niemals habe ich so etwas gesehen ... ja doch, zu Arles ... da müssen Sie einmal hingehen. Das ist das Schönste, was ich auf meinen Reisen gefunden habe. Es giebt nichts, dünkt mich, was einem die Schönheit als Abstraktum, als sichtbares Bild des Wahren, des stofflos Reinen vorstellt, wie eine schöne Frau ... glauben Sie mir, reisen Sie einmal nach Arles und Nîmes ...«

Düclari, Verbrügge und, ich muß bekennen, auch Tine konnten ein lautes Lachen nicht unterdrücken bei dem Gedanken, so auf einmal aus der Westecke Javas nach Arles oder Nîmes in Südfrankreich überzusiedeln. Havelaar, der wahrscheinlich gerade auf dem Turme stand, der durch die [140] Sarazenen auf dem Rande der Arena zu Arles gebaut ist, hatte sich erst zu besinnen, ehe er die Ursache dieses Lachens verstand, und dann fuhr er fort:

»Nun ja, ich meine, wenn Sie da einmal in die Gegend kommen. So etwas habe ich nie gesehen. Ich war gewöhnt, an allem, was so sehr verhimmelt wird, meine Abzüge vorzunehmen. Zum Beispiel! Sehen Sie sich einmal die Wasserfälle an, von denen so viel gesprochen wird – ich habe wenig oder nichts gefühlt zu Tondano, zu Maros, zu Schaffhausen und am Niagara. Man muß in das Buch sehen, um dabei erst das Rechte seiner Bewunderung herauszufinden über ›so viel Fuß Abhang‹ und ›so viel Kubiksuß‹ Wasser in der Minute, und wenn die Zahlen hoch sind, sagt man ›Eh!‹ Ich will nie wieder Wasserfälle sehen, wenigstens nicht, wenn ich deswegen einen Umweg machen müßte. Sie sagen mir nichts. Gebäude sprechen schon etwas lauter zu mir, besonders wenn sie Blätter in der Geschichte sind. Aber das Gefühl ist ganz anders, man ruft die Vergangenheit zurück, man läßt die Schatten der Toten vorbeiziehen, darunter sehr abscheuliche, und wie interessant das auch sein möge, man findet darin nicht immer das Genügen für sein Schönheitsgefühl, wenigstens nicht rein. Und ohne die Geschichte herbeizurufen, ist ja wohl viel Schönes an manchen Gebäuden, aber das Schöne wird wieder durch allerlei Führer – von Papier oder von Fleisch und Bein – verdorben, die einem den Eindruck ruinieren durch ihr eintöniges ›die Kapelle ist im Jahre 1423 von dem Bischof von Münster erbaut; die Säulen sind 63 Fuß hoch und ruhen auf‹ ... ich weiß nicht was. Das ist langweilig und ärgerlich; man fühlt, daß man gerade 63 Fuß Bewunderung zur Hand haben muß, um nicht für einen Vandalen oder einen Geschäftsreisenden zu gelten. Nun könnte man sagen: behalte doch deinen Führer in der Tasche, wenn er gedruckt ist, oder laß ihn draußen stehen oder schweigen im anderen Falle – aber abgesehen davon, daß man wirklich zu einigermaßen richtigen Urteilen oft eine Erklärung braucht, würde man doch, könnte man diese auch missen, vergeblich in manchem Bauwerk etwas suchen, was länger als einen sehr kurzen Augenblick unserer Neigung zum Schönen entspricht, weil es sich nicht bewegt. Das gilt, glaube ich, auch von Bildhauerwerk und Malerei. Natur ist Bewegung. Wachstum, [141] Hunger, Denken, Fühlen ist Bewegung ... Stillstand ist der Tod. Ohne Bewegung ist kein Schmerz, kein Genuß, kein Gefühl. Versuchen Sie es einmal, dazusitzen, ohne sich zu rühren, Sie werden sehen, wie bald Sie auf jenen anderen und sogar auf Ihre eigene Phantasie einen spukartigen Eindruck machen. Bei ›lebenden Bildern‹ verlangt man bald nach einer folgenden Nummer, wie eindruckmachend der Anblick auch zu Anfang war. Da nun unser Schönheitsgefühl nicht befriedigt ist mit einem Blick auf etwas Schönes, sondern nach einer Reihe aufeinander folgender Blicke auf die Bewegung des Schönen verlangt, so fühlen wir etwas Unbefriedigtes bei der Betrachtung dieser Art von Kunstwerken, und deshalb behaupte ich, daß eine schöne Frau, weil sie keine Portraitschönheit ist, die still steht, unserem Ideal des Göttlichen am nächsten kommt.

Wie groß dieses Bedürfnis nach Bewegung ist, das ich meine, können Sie sich ungefähr aus dem unangenehmen Gefühl klar machen, das eine Tänzerin, und wäre sie die Elßler oder Taglioni, Ihnen verursacht, wenn sie nach einem Tanz auf dem linken Fuße dasteht und das Publikum angrinst.«

»Das gilt hier nicht,« sagte Verbrügge, »denn das ist absolut häßlich.«

»Das finde ich auch; aber sie giebt es doch als schön, und als Steigerung des vorigen, in dem wirklich viel Schönes gewesen sein kann. Sie giebt es als ›Pointe‹ des Epigramms, als das ›aux armes‹ der Marseillaise, die sie mit ihren Füßen sang, oder als das Rauschen der Trauerweiden auf dem Grabe der eben betanzten Liebe. Und daß auch die Zuschauer, die gewöhnlich, wie wir alle mehr oder minder, ihren Geschmack auf Gewohnheit und Nachahmung gründen, diesen Augenblick als den packendsten betrachten, ergiebt sich daraus, daß man gerade dann in Beifall ausbricht, als wollte man rufen: All das Vorige war schön, aber jetzt kann ich es nicht mehr aushalten vor Bewunderung. Sie sagten, daß diese ›Posen‹ absolut häßlich wären; ich sage das auch. Aber woher kommt das? Es kommt daher, weil die Bewegung aufhörte und damit die Geschichte, die die Tänzerin erzählte. Glauben Sie mir, Stillstand ist Tod.«

»Aber,« warf Düclari ein, »Sie haben doch auch als Ausdruck für das Schöne die Wasserfälle verworfen ... die bewegen sich doch ...«

»Ja, aber ohne Geschichte! Sie bewegen sich, aber kommen nicht von der Stelle. Sie bewegen sich wie ein Wiegepferd, [142] aber noch ohne das Hin- und Herschaukeln. Sie geben Töne, aber sie sprechen nicht ... sie rufen: rru ... rru ... rrul! ... Rufen Sie einmal sechstausend Jahre oder länger: rru, rru ... und sehen Sie dann einmal nach, wie wenige Sie als einen unterhaltenden Menschen ansehen werden.«

»Ich will die Probe darauf lieber nicht machen,« sagte Düclari, »aber ich bin doch noch nicht mit Ihnen einig, daß die Bewegung so durchaus nötig ist. Ich verzichte nun auf die Wasserfälle; aber ein schönes Gemälde kann doch, meine ich, viel ausdrücken.«

»Gewiß, aber nur für einen Augenblick. Ich werde Ihnen meine Ansicht durch ein Beispiel zu erklären suchen. Es ist heute der 18. Februar ...«

»Nicht doch,« sagte Verbrügge, »wir haben noch Januar ...«

»Nein, nein, es ist heute der 18. Februar 1587, und Sie sitzen gefangen im Schlosse Fotheringhay.«

»Ich?« meinte Düclari, der meinte, nicht recht gehört zu haben.

»Ja, Sie. Sie langweilen sich und suchen Unterhaltung. Da in jener Mauer ist eine Öffnung, aber sie ist zu hoch, um durchzusehen, und das wollen Sie doch. Sie schieben Ihren Tisch heran und setzen darauf einen Schemel mit drei Beinen, von denen das eine ein bißchen schwach ist. Sie haben auf der Kirmes einen Akrobaten gesehen, der sieben Stühle aufeinander setzte und sich daraufstellte, den Kopf nach unten. Eigenliebe und Langeweile drängen Sie, dasselbe zu thun. Sie klettern auf Ihren Schemel, schon etwas wackelig, und Sie erreichen Ihr Ziel. Sie werfen einen Blick durch die Öffnung ... O Gott! ... Sie fallen ... Und wissen Sie, warum Sie gefallen sind?«

»Ich denke, weil das dritte Stuhlbein brach,« sagte Verbrügge würdevoll.

»Ja, das Stuhlbein brach – aber nicht darum sind Sie gefallen; das Stuhlbein ist gebrochen, weil Sie gefallen sind. Vor jeder anderen Öffnung hätten Sie ein Jahr lang auf diesem Stuhle ausgehalten, und jetzt mußten Sie fallen, und wenn dreizehn Beine unter dem Stuhle gewesen wären, ja selbst wenn Sie auf dem Fußboden gestanden hätten ...«

»Ich mache mir ein Vergnügen daraus,« sagte Düclari; »ich sehe, daß Sie es sich in den Kopf gesetzt haben, mich, koste, was es wolle, fallen zu lassen. Da liege ich nun, so lang ich bin, aber ich weiß wahrhaftig nicht, warum?«

[143] »Nun, das ist doch sehr einfach ... Sie sahen da eine Frau, schwarz gekleidet, die vor einem Block auf den Knien lag, und sie beugte den Kopf hernieder, und weiß wie Silber war der Hals, der sich von dem schwarzen Sammet abhob ... und da stand ein Mann mit einem großen Schwert, und er hielt es hoch, und sein Blick starrte auf diesen weißen Hals ... und er suchte den Bogen, der sein Schwert beschreiben mußte, um dort ... dort zwischen den Wirbeln, mit Genauigkeit und mit Kraft hindurchgetrieben zu werden ... Und dann fielen Sie, Düclari, Sie fielen, weil Sie das sahen, und darum riefen Sie: O Gott! nicht weil bloß drei Beine am Schemel waren ... Und lange nachdem sie aus Fotheringhay erlöst waren, auf Fürsprache Ihres Neffen, oder weil es den Menschen langweilig wurde, Sie da wie einen Kanarienvogel festzuhalten – lange danach, ja, bis heute träumen Sie wachend von dieser Frau, und im Schlafe selbst erschrecken Sie und fallen mit schwerem Stoß auf Ihre Lagerstätte, weil Sie den Arm des Henkers fassen wollen ... Ist es nicht so?«

»Ich will es wohl glauben, aber bestimmt kann ich es nicht sagen, weil ich niemals zu Fotheringhay durch ein Loch in der Mauer gesehen habe.«

»Gut, gut, ich auch nicht. Aber nun nehme ich ein Gemälde, das die Enthauptung Maria Stuarts vorstellt. Nehmen Sie an, daß die Auffassung vollkommen ist. Da hängt es, in vergoldetem Rahmen, an einer roten Schnur, wenn Sie wollen ... ich weiß, was Sie sagen wollen, gut! Nein – Sie sehen den Rahmen nicht ... Sie vergessen sogar, daß Sie am Eingang in den Bildersaal Ihren Spazierstock abgegeben haben ... Sie vergessen Ihren Namen, Ihr Kind, die neue Polizeimütze, um nicht ein Bild zu sehen, sondern wirklich darauf Maria Stuart zu schauen, gerade wie zu Fotheringhay. Der Henker steht gerade so, wie er wirklich gestanden haben mag, ja, ich will so weit gehen, daß Sie den Arm ausstrecken, um den Schlag abzuwehren, so weit, daß Sie rufen: Laß die Frau leben, vielleicht bessert sie sich ... Sie sehen, ich gebe Ihnen alles vor, was die Ausführung des Bildes angeht ...«

»Ja, aber was weiter? Ist dann der Eindruck nicht der [144] nämliche, als wenn ich dasselbe in Wirklichkeit in Fotheringhay sähe?«

»Nein, durchaus nicht, und vielleicht deswegen nicht, weil Sie nicht auf einen Stuhl mit drei Beinen gestiegen sind. Sie nehmen einen Stuhl – mit vier Füßen diesmal vielleicht einen Sessel – Sie setzen sich vor dem Bilde nieder um gut und lange zu genießen (wir ›genießen‹ nun einmal bei etwas Grausigem), und was glauben Sie nun, was der Eindruck ist, den es macht?«

»Nun, Schreck, Angst, Mitleid, Rührung ... ebenso als ob ich durch die Öffnung in der Mauer sähe. Sie haben angenommen, daß die Malerei vollkommen ist, ich muß also davon ganz denselben Eindruck haben als von der Wirklichkeit.«

»Nein, binnen zwei Minuten fühlen Sie Schmerzen im rechten Arm aus Sympathie mit dem Henker, der so lange das schwere Stück Stahl unbeweglich in die Höhe hält ...«

»Sympathie mit dem Henker?«

»Ja, Mitgefühl, Mitleid ... und ebenso mit der Frau, die da so lange in unbequemer Haltung, und wahrscheinlich auch in ungemütlicher Stimmung, vor dem Block liegt. Sie haben immer noch Mitleid mit ihr; aber diesmal nicht, weil sie enthauptet wird, sondern weil man sie so lange warten läßt, bis sie enthauptet wird. Und wenn Sie noch irgend etwas sagen oder rufen möchten, würde es schließlich – vorausgesetzt, daß Sie sich überhaupt in die Sache einmischen wollen – nichts anderes sein können als: Schlag doch endlich zu, Mann, sie wartet ja darauf! Und wenn Sie später das Bild wiedersehen und nochmals wiedersehen, ist selbst der erste Eindruck schon der: Ist es noch nicht vorbei? steht er und liegt sie noch immer da?«

»Aber was ist denn für Bewegung in der Schönheit der Frauen von Arles?« fragte Verbrügge.

»O das ist etwas anderes. Sie spielen Geschichte aus in ihren Zügen. Karthago blüht und baut Schiffe auf ihrer Stirn ... hören Sie Hannibals Eid gegen Rom ... da flechten sie Sehnen für die Bogen ... da brennt die Stadt ...«

»Max, Max, ich glaube, du hast dein Herz in Arles gelassen,« sagte Tine.

»Ja, für einen Augenblick ... aber ich habe es schon wieder, du sollst es sehen. Stellt euch vor, ich sage nicht: da habe ich eine Frau gesehen, die so oder so schön war; [145] nein, alle waren sie schön, und es war daher eine Unmöglichkeit, sich zu verlieben, weil jede folgende immer wieder die vorhergehende in der Bewunderung verdrängte; und ich dachte wirklich an Caligula oder Tiberius – von wem erzählt man die Fabel? – der wünschte, daß das ganze Menschengeschlecht nur einen Kopf hätte ... so kam auch unwillkürlich mir der Wunsch, daß die Frauen von Arles ...«

»Nur einen Kopf zusammen hätten?«

»Ja ...«

»Um ihn abzuschlagen?«

»O nein ... um ihn auf die Stirn zu küssen, wollte ich sagen, aber das ist es nicht, um ihn anzuschwärmen, um davon zu träumen, und um ... gut zu sein!«

Düclari und Verbrügge fanden sicherlich diesen Schluß wieder sehr sonderbar. Aber Max merkte das nicht und fuhr fort:

»Denn so edel waren die Züge, daß man etwas wie Scham fühlte, nur ein Mensch zu sein, und nicht ein Funken, ein Strahl ... nein, das wäre noch Stoff ... ein Gedanke! Aber ... dann saß da so ein Bruder oder ein Vater bei diesen Frauen ... und Gott steh mir bei, ich habe gar eine gesehen, die sich die Nase schneuzte!«

»Ich wußte wohl, daß du wieder einen schwarzen Strich darüber zeichnen würdest,« sagte Tine.

»Kann ich dafür? Ich hätte sie lieber tot umfallen gesehen; – darf solch ein Mädchen sich profanieren?«

»Aber Mijnheer Havelaar,« fragte Verbrügge, »wenn sie nun erkältet ist?«

»Sie darf nicht erkältet sein mit so einer Nase!«

Als ob der Böse seine Hand im Spiele hatte, auf einmal mußte Tine niesen ... und bevor sie daran dachte, hatte sie sich geschneuzt!

»Bester Max! Du wirst mir doch darum nicht böse werden!« sagte sie mit verhaltenem Lachen.

Er antwortete nicht, und wie närrisch es scheine oder sei, ja, er war böse darum. Und was auch merkwürdig klingen mag, Tine freute sich, daß er böse war und von ihr verlangte, daß sie mehr sei als die Phokäischen Frauen zu Arles, wenn sie auch gerade keinen Grund hatte, auf ihre Nase stolz zu sein.

Wenn Düclari noch meinte, daß Havelaar »närrisch« war, hätte man es ihm nicht übel deuten können, wenn er, bei Beobachtung der kurzen Verstörtheit, die auf Havelaars [146] Gesicht bei dem Naseschneuzen bemerkbar war, in dieser Meinung bestärkt worden wäre. Aber dieser war zurückgekehrt von Karthago, und mit der Schnelligkeit, mit der er lesen konnte, wenn er nicht gerade mit seinem Geist zu weit von Hause fort war, las er auf den Gesichtern seiner Gäste, daß sie zwei Thesen aufstellten:

Erstens, wer nicht will, daß seine Frau sich die Nase schneuzt, ist ein Narr.

Zweitens, wer glaubte, daß eine in schönen Linien gezeichnete Nase nicht geschneuzt werden darf, thut falsch, diesen Glauben auch auf Mewrouw Havelaars Nase zu übertragen, deren Nase ein bißchen »Kartoffel« ist.

Die erste Behauptung ließ Havelaar auf sich beruhen, aber die zweite!

»O,« rief er, als ob er antworten müßte, obschon seine Gäste zu höflich gewesen waren, um diese Gedanken auszusprechen, »das will ich dir erklären, Tine ...«

»Bester Max!« sagte sie bittend.

Das wollte sagen: Erzähle doch diesen Herren nicht, warum ich in deinen Augen über Erkältung erhaben sein muß ...

Havelaar schien zu verstehen, was Tine meinte, denn er antwortete:

»Gut, Kind. Aber wissen Sie, meine Herren, daß man sich oft irrt im Beurteilen der Rechte der Men schen auf materielle Unvollkommenheit?«

Ich glaube bestimmt, daß die Gäste von diesen Rechten noch nie etwas gehört hatten.

»Ich habe auf Sumatra ein Mädchen gekannt,« fuhr er fort, »die Tochter von einem Datu ... nun, ich meine, daß sie auf diese Unvollkommenheit kein Recht hatte, und doch habe ich sie bei einem Schiffbruch ins Wasser fallen sehen ... wie jeden anderen. Ich, ein Mensch, habe ihr helfen müssen, um ans Land zu kommen.«

»Aber hätte sie denn fliegen sollen wie eine Möwe?«

»Gewiß ... oder, nein ... sie hätte keinen Körper haben dürfen. Soll ich Ihnen erzählen, wie ich ihre Bekanntschaft machte? Es war im Jahre 42, ich war Kontroleur von Natal. Sie sind ja wohl dagewesen, Verbrügge?«

[147] »Ja.«

»Nun, dann wissen Sie, daß im Natalschen Pfefferkultur ist. Die Pfefferpflanzungen liegen zu Taloh-Baleh, nördlich von Natal, an der Küste. Ich sollte sie inspizieren, und da ich von Pfeffer nichts verstand, nahm ich in der Praauw (Praku) einen Datu mit, der mehr davon wußte. Sein Töchterchen, damals ein Kind von dreizehn Jahren, kam mit. Wir segelten die Küste entlang und langweilten uns ...«

»Und dann habt ihr Schiffbruch gelitten?«

»Nein, es war schönes Wetter ... der Schiffbruch fiel erst viel später vor; sonst würde ich mich wohl nicht gelangweilt haben. So segelten wir die Küste entlang und es war stickendheiß. Solch eine Praauw bietet wenig Gelegenheit zur Zerstreuung, dazu war ich gerade in sehr verdrießlicher Stimmung, wozu viele Ursachen beigetragen hatten. Ich hatte erstens eine unglückliche Liebe – das war damals mein täglich Brot – ferner befand ich mich auf einer Station zwischen zwei Anfällen von Ehrsucht. Ich hatte mich zum König gemacht und war entthront worden, ich war auf einen Turm gestiegen und zur Erde niedergestürzt ... ich will jetzt überschlagen, wie es kam. Genug, ich saß da in der Praauw mit saurem Gesicht und schlechter Laune, ich war, was die Deutschen, ›ungenießbar‹ nennen. Ich fand, daß es nicht angebracht war, mich Pfeffergärten inspizieren zu lassen, und daß ich schon lange hätte als Gouverneur eines Sonnensystems angestellt sein sollen. Dabei kam es mir vor wie moralischer Mord, einen Geist wie den meinen in eine Praauw zu setzen mit diesem dummen Datu und seinem Kinde.

Ich muß Ihnen sagen, daß ich sonst die malayischen Großen gut leiden konnte und gut mit ihnen fertig wurde. Sie haben vieles, was sie in meinen Augen über die javanischen Großen stellt. Ich weiß wohl, Verbrügge, daß Sie da nicht einstimmen; es sind wenige, die mir darin recht geben ... aber lassen wir das.

Hätte ich diese Fahrt einen anderen Tag gethan – mit weniger Raupen im Kopfe – so wäre ich wahrscheinlich bald mit diesem Datu ins Gespräch gekommen, und ich hätte vielleicht gefunden, daß er das Gespräch wohl wert war. Vielleicht hätte ich dann auch das Mädchen zum Sprechen gebracht, [148] und das hätte mich unterhalten können; denn ein Kind hat meistens etwas Ursprüngliches – obschon ich auch selbst noch zu sehr Kind war, um auf Ursprünglichkeit viel zu geben. Jetzt ist das anders. Jetzt sehe ich in jedem dreizehnjährigen Mädchen ein Manuskript, in dem noch wenig oder nichts gestrichen ist. Man überrascht den Verfasser im Negligé, und das ist oft nett.

Das Kind reihte Perlen auf eine Schnur und schien ihre ganze Aufmerksamkeit dazu nötig zu haben. Drei rote, eine schwarze ... drei rote, eine schwarze ... es war hübsch.

Sie hieß Si Upi Keteh. Das bedeutet auf Sumatra so viel wie ›kleines Fräulein‹ ... ja, Verbrügge, Sie wissen das wohl, aber Düclari hat immer auf Java gedient. Sie hieß Si Upi Keteh, aber in meinen Gedanken nannte ich sie ›Stümpert,‹ weil ich meiner Schätzung nach so himmelhoch über ihr stand.

Es wurde Mittag ... beinahe Abend. Die Perlen waren aufgereiht. Das Land schob langsam bei uns vorbei, kleiner und kleiner wurde der Ophir hinter uns. Links im Westen über der weiten weiten See, die keine Grenze hat bis Madagaskar und Afrika dahinter, sank die Sonne und ließ ihre Strahlen in immer stumpferem Winkel über die Wogen hüpfen, und sie suchte Kühlung in der See. Wie ist doch das Ding gleich?«

»Was für ein Ding ... die Sonne?«

»Nein ... ich machte in diesen Tagen Verse ...


Ihr fragt, warum der Ocean,

Der Natals Flur bespült,

Niemalen sanft und friedlich ruht,

Warum die ungestüme Flut

Nur kocht und stürmt und wühlt?


Ihr fragt, und eure Frage hört'

Der arme Fischerknab',

Und mit dem dunklen Aug' er winkt

Gen Westen, wo die Sonne sinkt

Am Horizont hinab.


Es starrt des dunklen Auges Blick

Fern in den West hinein.

[149]

Und zeigt euch in der Runde dort

Nur Wasser, Wasser immerfort

Und See, und See allein.


Darum hier peitscht der Ocean

Grausam den Ufersand,

Nur See ist, wo dein Blick auch sucht,

Nur Wasser, endlos Wasser wogt

Bis Madagaskars Rand.


Und manches Opfer ward gebracht

Dem mitleidlosen Meer,

Und mancher Schrei ward dort erstickt,

Und mancher kämpfte und erblickt'

Sein Weib und Kind nicht mehr.


Und manche Hand zum letztenmal

Erhob sich aus dem Meer,

Und tastete und griff umher,

Ob niergend Stütze, Hilfe wär',

Eh' sie versank ins Meer ...


... Den Rest weiß ich nicht mehr ...«

»Sie werden ihn wieder bekommen können, wenn Sie an Krijgsman schreiben, der bei Ihnen in Natal Schreiber war; er hat es,« sagte Verbrügge.

»Wie soll der dazu kommen?« fragte Max.

»Vielleicht aus Ihrem Papierkorb ... Aber sicher ist, daß er es hat. Folgt da nicht die Legende von der ersten Sünde, die das Eiland versinken ließ, das früher die Reede von Natal beschützte ... die Geschichte von Djiwa mit den zwei Brüdern?«

»Ja, das ist richtig. Diese Legende ... war keine Legende. Es war eine Parabel, die ich machte, und die über ein oder zwei Jahrhunderte eine Legende werden wird ... wenn Krijgsman das Ding öfters deklamiert. So begannen alle Mythologien. Djiwa ist die Seele, wie Sie wissen ...«

»Max, wo bleibt das kleine Fräulein mit den Perlen?« fragte Tine.

»Die Perlen waren aufgezogen. Es war sechs Uhr, und da unter der Linie – Natal liegt wenige Minuten nördlich; als ich über Land nach Ayer-Bangi ging, stieg ich zu Pferd über die Linie hin, nahe genug, es war, um darüber zu fallen – da war sechs Uhr das Zeichen zu Abendgedanken. Nun finde ich, daß der Mensch des Abends immer besser ist [150] oder wenigstens weniger untugendhaft als des Morgens, und das ist natürlich. Des Morgens hält man sich zusammen, man sei Gerichtsvollzieher oder Kontroleur oder ... nein, es ist genug. Ein Gerichtsvollzieher nimmt sich zusammen, um den Tag über gut seine Pflicht zu thun ... Gott, welch eine Pflicht! Wie muß das ›zusammengehaltene‹ Herz wohl aussehen! Ein Kontroleur – ich sage das nicht für Sie, Verbrügge! – ein Kontroleur reibt sich die Augen aus, und sieht er einer Begegnung mit einem Adsistent-Residenten entgegen, der einmal sein Übergewicht zeigen will wegen der paar Dienstjahre mehr; oder er muß diesen Tag Felder vermessen und steht im Zweifel zwischen seiner Ehrlichkeit – Sie wissen das nicht, Düclari, weil Sie Militär sind, aber es giebt wirklich ehrliche Kontroleure – dann steht er in Zweifel zwischen seiner Ehrlichkeit und der Furcht, daß Radhen Demang soundso von ihm den Schimmel zurückverlangen wird, der so gut zählt; – oder auch, er muß diesen Tag kurz und bündig ja oder nein antworten auf Erlaß Nummer so und so viel. Kurz, des Morgens beim Erwachen fällt einem die Welt aufs Herz, und das ist schwer für ein Herz, sei es auch noch so stark.

Aber des Abends hat man eine Pause. Es sind zehn Stunden zwischen jetzt und dem Augenblick, da man seinen Rock wiedersieht. Zehn Stunden; sechsunddreißigtausend Sekunden, um Mensch zu sein! Da freut sich jeder darüber. Das ist der Augenblick, in dem ich zu sterben hoffe ... um drüben ohne Amtsmiene anzukommen. Das ist der Augenblick, in dem die Frau etwas in Eurem Gesicht wiederfindet, was sie für Euch einnahm, als sie Euch das Taschentuch behalten ließ mit einem E in der Ecke ...«

»Und als sie noch nicht erkältet sein konnte,« sagte Tine.

»Ach, störe mich nicht. Ich will nur sagen, daß man des Abends gemütlicher ist.«

Als also die Sonne unterging, wurde ich ein besserer Mensch, und als erstes Zeichen der Besserung konnte gelten, daß ich zu dem kleinen Fräulein sagte:

»Es wird nun bald etwas kühler werden.«

»Ja, Mijnheer,« antwortete sie.

Aber ich beugte meine Erhabenheit noch tiefer zu dem »Stümpert« herunter und fing mit ihr ein Gespräch an. Mein Verdienst war um so größer, da sie wenig antwortete. [151] Ich hatte recht in allem, was ich sagte, und das ist auch langweilig, wenn man auch verwöhnt ist.

»Würdest du gern wieder nach Taloh-Baleh mitgehen?« fragte ich.

»Wie Mijnheer befiehlt.«

»Nein, ich frage dich, ob du solch eine Fahrt angenehm findest?«

»Wie mein Vater wünscht,« antwortete sie.

War das nicht, um toll zu werden? Nun, ich wurde nicht toll. Die Sonne war hinunter, und ich fühlte mich gemütlich genug, um noch nicht durch so viel Dummheit abgeschreckt zu werden; oder lieber, ich glaube, daß ich an dem Hören meiner Stimme Geschmack bekam – denn es giebt wenige unter uns, die sich nicht gern reden hören; – und nach meiner Stummheit des gestrigen Tages meinte ich etwas Besseres zu verdienen als das maulfaule Antworten von Si Upi Keteh.

Ich werde ihr etwas erzählen, dachte ich, dann höre ich es selbst mit an, und ich habe es nicht nötig, daß sie mir antwortet. Nun wißt ihr, daß, wie beim Löschen einer Schiffsladung das zuletzt eingenommene ›Kranjang‹ Zucker zuerst wieder zum Vorschein kommt, auch wir gewöhnlich den Gedanken oder die Geschichte zuerst wieder hervorholen, die zuletzt ein geladen worden ist. In der Zeitschrift von Niederländisch-Indien hatte ich kurz zuvor eine Geschichte von Jeronimus gelesen: ›Der japanische Steinhauer.‹ Der Jeronimus hat hübsche Sachen geschrieben. Haben Sie seine ›Auktion im Sterbehause‹ gelesen? und seine ›Gräber?‹ Und vor allem den ›Pedatti‹ (Büffelwagen)? Ich werde sie Ihnen geben.

Ich hatte also kurz zuvor den ›japanischen Steinhauer‹ gelesen. Nun erinnere ich mich auf einmal, wie ich soeben in das Liedchen geraten bin, in dem ich das ›dunkle Auge‹ jenes Fischerknaben, bis zu schiefen Ausdrücken, ›in die Runde‹ irren lasse – in einer Richtung! Ganz verrückt. Das war eine Vermischung von Ideen. Meine Verstörtheit dieses Tages stand in Beziehung mit der Gefährlichkeit der Natalschen Reede ... Sie wissen, Verbrügge, daß kein Kriegsschiff dort landen kann, besonders im Juli ... ja, Düclari, der Westmonsun ist da im Juli am stärksten; ganz anders als hier. Nun, die Gefährlichkeit dieser Reede hängt sich wieder fest an meine gekränkte Ehrsucht, und die Ehrsucht hängt wieder zusammen mit dem Liedchen von Djiwa. Ich war wiederholt bei dem Residenten vorstellig geworden, dort zu [152] Natal eine Seewehr zu bauen, oder wenigstens einen künstlichen Hafen in der Flußmündung, um den Handel in dem Bezirk Natal, der die Battahländer mit der See verbindet, zu fördern. Anderthalb Millionen Menschen im Binnenlande wissen keinen Weg mit ihren Produkten, weil die Natalsche Reede sich in einem so schlechten Zustande befindet. Die Vorstellungen wurden indessen von dem Residenten nicht gutgeheißen, oder er meinte möglicherweise, daß die Regierung sie nicht gutheißen würde, und Sie wissen, daß die Residenten niemals einen Vorschlag machen, wenn sie nicht im voraus berechnen können, daß er der Regierung angenehm sein wird. Einen Hafen in Natal zu schaffen, war gegen das Prinzip der Abschließung, und anstatt Schiffe dorthin zu locken, war es sogar verboten, Raaschiffe auf die Reede zuzulassen, es sei im Falle ›höherer Gewalt.‹ Wenn nun doch ein Schiff kam, – es waren meistens amerikanische Walfischfänger oder Franzosen, die in den kleinen unabhängigen Reichen an der Nordspitze Sumatras Pfeffer geladen hatten – ließ ich immer den Kapitän einen Brief an mich schreiben, in dem er die Erlaubnis nachsuchte, Trinkwasser einzunehmen. Der Ärger über das Fehlschlagen meiner Absichten, etwas zu Natals Gunsten zustande zu bringen, oder lieber die gekränkte Eitelkeit, noch so wenig zu bedeuten, daß ich nicht einmal einen Hafen machen lassen konnte, wo ich wollte, und das alles in Verbindung mit meiner Kandidatur für die Regierung eines Sonnensystems – das war es, was mich diesen Tag so übellaunig gemacht hatte. Als ich durch den Untergang der Sonne etwas besser wurde, denn Unzufriedenheit ist eine Krankheit, brachte gerade diese Krankheit mir den ›japanischen Steinhauer‹ in die Erinnerung, und vielleicht dachte ich darum allein die Geschichte noch einmal durch, um mir selber weiszumachen, ich thäte es aus Wohlwollen für das Kind, und dabei heimlich den letzten Tropfen des Tränkchens einzunehmen, das ich nötig hatte. Aber sie, das Kind, heilte mich – wenigstens für einen Tag oder etwas länger – besser als meine Geschichte.

[153] Upi! Es war ein Mann, der Steine hieb aus dem Fels. Seine Arbeit war sehr schwer, und er arbeitete viel; aber sein Lohn war gering, und zufrieden war er nicht.

Er seufzte, weil seine Arbeit schwer war, und er rief: ›O, daß ich reich wäre, um zu ruhen auf einer Baleh-baleh mit Klambu von roter Seide!‹

Und es kam ein Engel aus dem Himmel, der sagte: ›Dir sei, wie du gesagt hast.‹

Und er war reich. Und er ruhte auf einer Baleh-baleh, und die Klambu war aus roter Seide.

Und der König des Landes zog vorbei mit Reitern vor seinem Wagen; und auch hinter dem Wagen waren Reiter, und man hielt den goldenen Pajong über das Haupt des Königs.

Und als der reiche Mann das hörte, verdroß es ihn, daß über seinem Haupte kein goldener Pajong gehalten wurde, und zufrieden war er nicht.

Er seufzte und rief: ›Ich möchte König sein!‹

Und es kam ein Engel vom Himmel, der sagte: ›Dir sei, wie du gesagt hast.‹

Und er war König. Und vor seinem Wagen ritten viele Reiter, und es waren auch Reiter hinter seinem Wagen, und über seinem Haupte hielt man den goldenen Pajong.

Und die Sonne schien mit heißen Strahlen und verbrannte das Erdreich, sodaß das Gras dürre ward.

Und der König klagte, daß die Sonne ihm ins Antlitz sengte und Macht über ihn hatte, und zufrieden war er nicht.

Er seufzte und rief: ›Ich möchte die Sonne sein!‹

Und es kam ein Engel vom Himmel, der sprach: ›Dir sei, wie du gesagt hast.‹

Und er war die Sonne. Und er sandte seine Strahlen nach oben und nach unten, nach der rechten Seite und nach der linken, und überall.

Und er versengte das Gras auf der Erde, und das Antlitz der Fürsten, die auf Erden waren.

Und eine Wolke stellte sich zwischen die Erde und ihn, und die Strahlen der Sonne prallten davon zurück.

[154] Und er ward zornig, daß seiner Macht widerstanden wurde, und er klagte, daß die Wolke mächtig war über ihn, und zufrieden war er nicht.

Er wollte die Wolke sein, die so mächtig war.

Und es kam ein Engel vom Himmel, der sprach: ›Dir sei, wie du gesagt hast.‹

Und er wurde zu einer Wolke und stellte sich zwischen Sonne und Erde, und fing die Strahlen auf, sodaß das Gras grün wurde.

Und die Wolke regnete in großen Tropfen auf das Erdreich, und ließ die Flüsse schwellen, und die Banjirs führten die Herden weg.

Und sie verwüstete durch viel Wasser das Feld.

Und sie fiel nieder auf einen Fels, der nicht wich. Und sie rauschte in großen Strömen, aber der Fels wich nicht.

Und sie ward zornig, weil der Fels nicht weichen wollte und weil die Stärke ihrer Ströme eitel war. Und zufrieden war sie nicht.

Sie rief: ›Dem Felsen ist Macht gegeben über mich, ich wünschte der Fels zu sein!‹

Und es kam ein Engel vom Himmel, der sprach: ›Dir sei, wie du gesagt hast!‹

Und sie wurde Fels und bewegte sich nicht, wenn die Sonne schien, und nicht, wenn es regnete.

Und da kam ein Mann mit der Hacke, mit spitzem Meißel und mit schwerem Hammer, der Steine schlug aus dem Fels.

Und der Fels sagte: ›Was ist das, daß der Mann Macht hat über mich und Steine schlägt aus meinem Schoß?‹ Und zufrieden war er nicht.

Er rief: ›Ich bin schwächer als dieser, ich möchte der Mann sein!‹

Und es kam ein Engel vom Himmel, der sprach: ›Dir sei, wie du gesagt hast.‹

Und er war Steinhauer und hieb Steine aus dem Fels, mit schwerer Arbeit, und er arbeitete sehr schwer, für geringen Lohn, und er war zufrieden. –

»Sehr hübsch,« sagte Düclari. »Aber nun sind Sie uns noch den Beweis schuldig, daß die kleine Upi hätte imponderabel sein sollen.«

»Nein, ich habe Ihnen den Beweis nicht versprochen. Ich [155] habe Ihnen nur erzählen wollen wie ich ihre Bekanntschaft machte. Als mein Märchen aus war, fragte ich: Und du Upi, was würdest du wünschen, wenn ein Engel aus dem Himmel dich fragen würde?«

»Mijnheer! ich werde ihn bitten, mich mitzunehmen nach dem Himmel.«

»Ist das nicht schön?« fragte Tine ihre Gäste, die es vielleicht sehr sonderbar fanden.

Havelaar stand auf und wischte etwas von seiner Stirn weg.

Zwölftes Kapitel

Zwölftes Kapitel.

Stern fährt fort. Was Havelaar auf Sumatra erlebt hatte.


»Lieber Max,« sagte Tine, »unser Nachtisch ist so knapp ... würdest du nicht ... du weißt, Madame Geoffrin ...?«

»Noch etwas erzählen, anstatt einer Mehlspeise? Ach was, ich bin heiser. Die Reihe ist an Verbrügge.«

»Ja, Mijnheer Verbrügge! lösen Sie Max einmal ab,« bat Mewrouw Havelaar.

Verbrügge dachte etwas nach und begann:

»Es war einmal ein Mann, der einen Kalekutenhahn stahl.«

»O Bösewicht,« rief Havelaar, »das haben Sie von Padang! Und wie geht es weiter?«

»Es ist aus. Wissen Sie den Schluß?«

»Natürlich. Ich habe ihn aufgegessen, zusammen mit ... jemand. Wissen Sie, warum ich in Padang suspendiert war?«

»Es hieß, es sei ein Fehlbetrag in Ihrer Kasse zu Natal gewesen,« sagte Verbrügge.

»Nicht ganz unrecht, aber wahr ist es auch nicht. Ich war zu Natal infolge vieler Ursachen in meiner Rechnungslegung sehr nachlässig gewesen, und es waren da in der That viele Anstände. Aber das fiel in jenen Tagen so oft vor. Die Zustände im Norden Sumatras waren damals, kurz nach der Einnahme von Baros, Tampanuli und Siboga so verwirrt, alles war so unruhig, daß man es einem jungen [156] Menschen, der lieber zu Pferde saß, als Gelder zählte und Kassenbücher führte, nicht krumm nehmen konnte, wenn nicht alles so in Ordnung und geregelt zuging, wie man es von einem Amsterdamer Buchhalter, der weiter nichts zu thun hat, fordern könnte. Die Battahländer waren in Aufruhr, und Sie wissen, Verbrügge, wie immer alles, was in den Battahs passiert, auf das Natalsche zurückwirkt. Ich schlief des Nachts in meinen Kleidern, um immer schnell zur Hand zu sein, was auch oft nötig war. Dazu hat die Gefahr – einige Zeit vor meiner Ankunft war ein Komplott entdeckt worden, um meinen Vorgänger zu ermorden und einen Aufstand zu machen – die Gefahr hat etwas Anziehendes, besonders wenn man nur zweiundzwanzig Jahre alt ist, und dieses Anziehende macht einen dann noch weniger zu Bureauarbeit oder steifer Genauigkeit geeignet, wie sie zu guter Behandlung von Geldsachen nötig wäre. Schließlich hatte ich allerlei Narrheiten im Kopfe ...«

»Nicht nötig,« rief Mewrouw Havelaar einem Diener zu.

»Was ist nicht nötig?«

»Ich hatte gesagt, sie sollten noch etwas in der Küche fertig machen ... eine Omelette oder dergleichen ...«

»Ah! ... und das ist nun nicht nötig, weil ich von meinen Narrheiten beginne ... das ist unartig, Tine. Mir ist es recht, aber die Herren haben auch eine Stimme. Verbrügge, was wählen Sie? Ihren Teil von der Omelette oder die Geschichte?«

»Eine schwierige Sachlage für einen höflichen Menschen,« sagte Verbrügge.

»Ich würde auch lieber nicht wählen,« fügte Düclari bei, »denn es handelt sich hier um eine Aussprache zwischen Mann und Frau, und zwischen Baum und Borke soll man nicht den Finger legen.«

»Ich will Ihnen helfen, meine Herren, die Omelette ist ...«

»Mewrouw,« sagte der sehr höfliche Düclari, »die Omelette wird doch sicher so viel wert sein ...«

»Wie die Geschichte? Gewiß, wenn sie etwas wert ist. Aber es ist eine Schwierigkeit ...«

»Ich wette, es ist noch kein Zucker im Hause,« rief Verbrügge; »lassen Sie doch bei mir holen, was Sie brauchen.«

»Zucker ist da ... von Mewrouw Slotering. Nein, das ist es nicht. Wenn die Omelette im übrigen gut wäre, sollte das keine Schwierigkeit sein ...«

»Wie denn, Mewrouw, ist sie ins Feuer gefallen?«

[157] »Ich wollte, es wäre wahr. Nein, sie kann nicht ins Feuer fallen; sie ist ...«

»Aber Tine,« rief Havelaar, »was ist sie denn?«

»Sie ist imponderabel, Max! wie deine Frauen von Arles ... sein sollten. Ich habe keine Omelette ... ich habe nichts mehr.«

»Dann in Himmels Namen die Geschichte,« sagte Düclari mit komischer Verzweiflung.

»Aber Kaffee haben wir,« rief Tine.

»Gut! trinken wir Kaffee in der Vorgalerie, und rufen wir Mewrouw Slotering und die Mädchen dazu,« sagte Havelaar, worauf die kleine Gesellschaft nach draußen zog.

»Ich glaube, sie wird danken, Max! Du weißt, daß sie es vorzieht, nicht mit uns zu essen, und ich kann ihr darin nicht unrecht geben.«

»Sie wird gehört haben, daß ich Geschichten erzähle, und das wird sie abgeschreckt haben,« meinte Havelaar.

»Ach nein, das würde sie nicht kränken, sie versteht ja kein Holländisch. Nein, sie hat mir gesagt, daß sie ihre eigene Hauswirtschaft zu führen wünscht, und das verstand ich sehr gut; du weißt doch, wie du meinen Namen erklärt hast: E.H.v.W.?«

»Eigen Herd, viel wert.«

»Darum. Sie hat ganz recht. Außerdem scheint sie etwas menschenscheu. Stelle dir vor, daß sie alle Fremden, die das Grundstück betreten, durch Aufpasser wegjagen läßt ...«

»Ich bitte um die Geschichte oder die Omelette,« sagte Düclari.

»Ich auch,« rief Verbrügge. »Ausflüchte werden nicht angenommen. Wir haben Anspruch auf eine vollständige Mahlzeit, und darum bitte ich um die Geschichte von dem Kalekutenhahn.«

»Die habe ich Ihnen schon gegeben,« sagte Havelaar, »ich habe ihn dem General van Damme gestohlen und mit jemand aufgegessen.«

»Bevor jemand in den Himmel fuhr,« sagte Tine schalkhaft.

»Nein, das heißt Rätsel aufgeben,« rief Düclari, »wir müssen wissen, warum Sie den Hahn gestohlen haben.«

»Nun, weil ich Hunger hatte, und das war die Schuld des Generals van Damme, der mich suspendiert hatte.«

[158] »Wenn ich nicht mehr erfahre, bringe ich das nächste Mal selbst eine Omelette mit,« klagte Verbrügge.

»Glauben Sie mir, es steckt weiter nichts dahinter als dies. Er hatte viele Hühner, und ich hatte nichts. Man trieb die Tiere an meiner Thür vorbei; ich nahm eins und sagte dem Mann, der sich einbildete, darauf aufzupassen: Sage dem General, daß ich, Max Havelaar, diesen Hahn nehme, weil ich essen will.«

»Und das Epigramm?«

»Hat Verbrügge Ihnen davon erzählt?«

»Ja.«

»Das hatte mit dem Hahn nichts zu thun. Das war, weil er so viele Beamte suspendierte; es waren aufPadang sicher sieben oder acht, die er mit mehr oder weniger Recht suspendiert hatte. Viele unter ihnen verdienten es weniger als ich. Der Adsistent-Resident von Padang selbst war suspendiert, und aus einem Grunde, der, wie ich glaube, ein ganz anderer war als der in dem Beschluß angegebene. Ich will es Ihnen erzählen, obwohl ich nicht versichern kann, daß ich alles genau weiß, und allein erfuhr, was man auf Padang für wahr hielt, und was auch wahr gewesen sein kann, besonders in Anbetracht der sonstigen Eigenschaften des Generals.

Er hatte seine Frau geheiratet, um eine Wette um einen Anker Wein zu gewinnen. Er ging daher öfters des Abends aus und lief überall umher. Der Aufseher Valkenaar soll einmal in einem Gäßchen in der Nähe des Mädchen-Waisenhauses sein Inkognito so streng respektiert haben, daß er ihm eine Tracht Prügel verabfolgte wie einem gewöhnlichen Strolch. Nicht weit davon wohnte eine Engländerin. Es lief ein Gerücht, daß die Miß einem Kinde das Leben gegeben hatte, das dann verschwunden war. Gerade war der Adsistent-Resident dabei, sich damit zu befassen, und er scheint dies Vorhaben eines Abends bei einer Whistpartie dem General gegenüber geäußert zu haben. Am nächsten Tage empfängt er den Auftrag, sich in einen bestimmten Bezirk zu begeben, deren amtsführender Kontroleur wegen wahrer oder vorgegebener Unehrlichkeit suspendiert worden war, dort die Sachen zu untersuchen und darüber Bericht zu erstatten. Der Adsistent-Resident war zwar darüber verwundert, daß ihm etwas aufgetragen wurde, was seinem Bezirk überhaupt nichts anging; doch da er, streng genommen, den Auftrag als eine ehrenvolle Auszeichnung ansehen konnte, und weil er [159] mit dem General auf einem sehr freundschaftlichen Fuße stand, sodaß keine Ursache war, an einen Fallstrick zu denken, beruhigte er sich bei der Sendung und begab sich nach ..., ich weiß nicht wohin, um zu thun, was ihm befohlen war. Nach einiger Zeit kehrte er zurück und erstattete einen Bericht, der für jenen Kontroleur nicht ungünstig lautete. Doch, inzwischen, war in Padang durch das Publikum, das heißt durch ›niemand und jedermann‹ entdeckt worden, daß der Kontroleur allein darum suspendiert worden war, um einen Anlaß zu haben, den Adsistent-Residenten vom Platze zu entfernen, um die beabsichtigte Untersuchung nach dem Verschwinden des Kindes zu verhindern oder zu verschieben, bis die Sache schwerer aufzuklären sein würde. Ich wiederhole nun, ich weiß nicht, ob das wahr war, doch nach der Bekanntschaft, die ich später selber mit dem General van Damme machte, kommt es mir glaublich vor, und auch auf Padang war niemand, der ihn, was den Stand seiner Moral betraf, zu so etwas fähig hielt. Die meisten gestanden ihm bloß eine Eigenschaft zu, die der Unerschrockenheit in Gefahr, und wenn ich, der ihn in Gefahren gesehen hat, mich der Ansicht anschließen könnte, daß er trotz allem wenigstens ein tapferer Mann gewesen wäre, würde dies allein mich bestimmen, Ihnen diese Geschichte nicht zu erzählen. Es ist wahr, er hatte auf Sumatra ›viel säbeln‹ lassen, doch man muß das aus der Nähe gesehen haben, um etwas von der Tapferkeit abzuhandeln, und, wie seltsam es scheine, ich glaube, daß er seinen kriegerischen Ruhm größtenteils der Neigung zu Gegenüberstellungen, die uns mehr oder minder beseelt, zu verdanken hatte. Man sagt gern, Peter oder Paul ist dies, dies oder dies, aber das ist er, das muß man ihm lassen, und nie können Sie gewisser sein, laut gelobt zu werden, als wenn Sie einen großen in die Augen fallenden Fehler haben. Sie, Verbrügge, sind alle Tage betrunken ...«

»Ich?« fragte Verbrügge, der ein Muster von Mäßigkeit war.

»Ja, ich mache Sie betrunken, alle Tage. Sie vergessen sich so weit, daß Düclari in der Vorgalerie über Sie stolpert. Das wird er unangenehm empfinden, aber sich augenblicks erinnern, etwas Gutes an Ihnen gesehen zu haben, was ihm doch früher nicht so auffiel. Und wenn ich dann komme, und finde Sie so ... horizontal, dann wird er mir die Hand auf den Arm legen und ausrufen: Ach, glauben Sie, er ist sonst ein prächtiger, braver, famoser Kerl!«

[160] »Das sage ich von Verbrügge auch, wenn er vertikal ist,« entgegnete Düclari.

»Nicht mit dem Feuer und der Überzeugung. Erinnern Sie sich, wie oft hört man sagen: O, wenn der Mann sich um seine Sachen kümmern wollte, das wäre einer! aber, aber ... und dann kommt die Sache, daß er sich nämlich nicht um seine Sachen kümmert und ›also keiner‹ ist! Und ich glaube, ich weiß den Grund davon. Und auch von den Toten hört man immer gute Eigenschaften, die man früher niemals an ihnen bemerkte. Das ist, weil sie keinem im Wege stehen. Alle Menschen sind mehr oder weniger Konkurrenten, wir würden einander gern ganz unterkriegen. Das zu sagen verbietet aber der gute Ton und sogar das eigene Interesse, denn sehr bald würde uns niemand trauen, und sagten wir auch die Wahrheit. Es muß also ein Umweg gesucht werden, und sehen Sie, so wird es gemacht. Wenn Sie, Düclari, sagen: der Leutnant Slobkous ist ein guter Soldat, wahrhaftig, er ist ein guter Soldat, ich kann es nicht genug sagen, was für in tüchtiger Soldat der Leutnant Slobkous ist ... aber von Theorie versteht er nicht viel ... haben Sie nie so gesprochen, Düclari?«

»Ich habe nie einen Leutnant Slobkous gekannt oder gesehen.«

»Gut, schaffen Sie einen und sagen Sie es dann.«

»Schön, ich schaffe ihn und sage es.«

»Wissen Sie, was Sie nun gesagt haben? Sie haben gesagt, das Sie, Düclari, in der Theorie groß sind. Ich bin kein Haar besser. Glauben Sie mir, wir thun unrecht, so böse auf jemand zu sein, der schlecht ist, denn die Guten unter uns sind dem Schlechten so nahe. Lassen Sie einmal die Vollkommenheit Null heißen, und hundert Grad sollen schlecht heißen, wie verkehrt wäre es da, wenn wir, die wir zwischen achtundneunzig und neunundneunzig schwanken, Hallo rufen wollten über einen, der hundertundeins steht. Und ich glaube sogar, daß viele den hundertsten Grad nicht erreichen, weil es ihnen an guten Eigenschaften fehlt, etwa an dem Mute, das, was sie sind, ganz zu sein.«

»Auf wie viel Grad stehe ich, Max?«

»Ich habe eine Lupe nötig für die Minuten und Sekunden, Tine.«

»Ich erhebe Einspruch,« rief Verbrügge – »nein, Mewrouw, nicht gegen Ihren Stand nahe bei Null, – nein, es sind Beamte suspendiert, ein Kind wird gesucht, ein General ist angeklagt ... ich verlange die Geschichte!«

[161] »Tine, sorge doch dafür, daß das nächste Mal etwas im Hause ist. Verbrügge, Sie bekommen das Stück nicht, bevor ich nicht noch ein bißchen auf meinem Steckenpferd herumgeritten bin. Ich sagte: jeder Mensch sieht in seinem Mitmenschen eine Art von Konkurrenten. Man mag nicht immer lästern, was auffalend wäre, darum erheben wir gern eine gute Eigenschaft über das Maß, um eine schlechte, an deren Bekanntwerden uns eigentlich allein gelegen ist, auffalend zu machen, ohne den Schein der Parteilichkeit auf uns zu laden. Wenn jemand sich bei uns beklagt, daß ich gesagt habe: seine Tochter ist sehr schön, aber er ist ein Spitzbube – dann sage ich: wie können Sie darüber so böse werden, ich habe gesagt, daß Ihre Tochter ein nettes Mädchen ist. Sehen Sie, das gewinnt doppelt. Wir sind beide Krämer, ich nehme ihm seine Kunden ab, die bei einem Spitzbuben keine Rosinen kaufen wollen, und gleichzeitig sagt man von mir, daß ich ein guter Mensch bin, weil ich die Tochter eines Konkurrenten lobe.«

»Nein, so arg ist es nicht,« sagte Düclari, »das ist etwas stark.«

»Kommt Ihnen nur so vor, weil ich den Vergleich etwas kurz und grob gemacht habe. Sie müssen sich das ›Er ist ein Spitzbube‹ etwas umschrieben vorstellen. Aber, wenn wir in der That erkennen müssen, daß jemand im Besitz einer Eigenschaff ist, die auf Achtung und Ehrerbietung Anspruch hat, dann macht es uns Vergnügen, neben dieser Eigenschaft etwas zu entdecken, das uns dieses Tributs ganz oder teilweise überhebt. Vor solch einem Dichter, sagen wir, sollte man den Hut abnehmen, aber ... er schlägt seine Frau! Sehen Sie, da benutzen wir gern die blauen Flecke der Frau als Beweggrund, den Hut auf dem Kopfe zu behalten; und und am Ende macht es uns Spaß, daß er das arme Wurm schlägt, was doch sonst recht häßlich ist. Wenn wir erkennen müssen, daß jemand Eigenschaften besitzt, die ihn der Ehre eines Piedestals würdig machen, wenn wir seinen Anspruch darauf nicht länger leugnen können, ohne für unkundig, gefühllos, neidisch zu gelten, dann sagen wir: Gut, setzt ihn hinauf! – aber schon, während wir ihn hinaufheben, wenn er selbst noch meint, daß wir in Begeisterung sind über seine Vortrefflichkeit, haben wir schon den Strick zur Schlinge gelegt, um ihn bei der ersten besten Gelegenheit wieder herunter zu holen. Je mehr Abwechselung unter den Inhabern des Piedestals, desto mehr Aussicht für jeden, auch einmal an die Reihe zu kommen, und das ist so [162] wahr, daß wir aus Gewohnheit und zur Übung, wie der Jäger auf Krähen schießt, die er nachher doch liegen läßt, auch die Standbilder gern herunterreißen, deren Unterbau wir nie werden besteigen können. Wenn Kappelman sein Sauerkraut mit Dünnbier genießt, sagt er gern: Alexander war nicht groß, er war unmäßig – ohne daß für Kappelman die geringste Aussicht besteht, mit Alexander auf dem Gebiete der Welteroberung zu konkurrieren.

Wie dies auch sei, ich glaube bestimmt, daß viele niemals auf die Idee gekommen wären, den General van Damm für so tapfer zu halten, wenn seine Tapferkeit nicht hätte als Vorspann dienen können für das stets hinterher kommende ›aber ... seine Sitten!‹ und ich glaube auch, daß seine Sittenlosigkeit von vielen, die selber in dieser Beziehung nicht so unantastbar waren, nicht so hoch aufgenommen worden wäre, wenn man sie nicht gebraucht hätte, um den Ruhm seiner Tapferkeit dagegen abzuwägen, der viele nicht schlafen ließ.

Eine Eigenschaft besaß er in hohem Maße: Willenskraft. Was er sich vornahm, mußte geschehen, und geschah auch gewöhnlich. Aber – Sie sehen, daß ich wieder sofort einen Gegensatz zur Hand habe – in der Wahl der Mittel war er denn auch etwas ... frei, und wie Palm, ich meine, zu unrecht, von Napoleon sagte: ›moralische Hindernisse gab es für ihn nicht‹ – und dann ist es sicher leichter, seinen Zweck zu erreichen, als wenn man sich an so etwas gebunden erachtet.

Der Adsistent-Resident von Padang also hatte einen Bericht geliefert, der für den suspendierten Kontroleur günstig lautete, und diese Suspension bekam daher eine Färbung von Unrecht. Das Gerede zu Padang dauerte fort. Man sprach fortwährend von dem verschwundenen Kinde. Der Adsistent-Resident sah sich wieder veranlaßt, der Sache nachzugehen. Aber bevor er irgend etwas ans Licht bringen konnte, empfing er einen Beschluß, durch den er wegen ›Pflichtverletzung‹ von dem Gouverneur der Westküste Sumatras suspendiert wurde. Er hatte, hieß es, aus Freundschaft oder Mitleid die Sache jenes Kontroleurs gegen besseres Wissen in ein falsches Licht gebracht.

Ich habe die Akten, die diese Sache betreffen, nicht gesehen; aber ich weiß, daß der Adsistent-Resident nicht im [163] geringsten mit jenem Kontroleur in Beziehungen stand, was schon daraus hervorgeht, daß man gerade ihn gewählt hatte, um die Sache zu untersuchen. Ich weiß ferner, daß er ein achtenswerter Mann war, und daß auch die Regierung ihn dafür hielt. Das ergiebt sich aus der Aufhebung der Amtsentsetzung, nachdem die Sache untersucht war, an anderer Stelle als auf Sumatras Westküste. Auch der Kontroleur hat später seine vollständige Genugthuung erhalten. Diese Suspensionen waren es, die mir das Spottgedicht eingaben, das ich auf den Frühstückstisch des Generals legen ließ, durch jemand, der früher bei mir und damals bei ihm in Dienst stand.


Das wandelnde Suspens-Dekret,

Das suspendierend uns regiert,

Jan Suspensal, der Gouverneur,

Der Werwolf unserer Tage,

Er hätte sein Gewissen schon

Mit Freuden lange suspendiert,

Wär' nicht vor langer Zeit bereits

Der Zapfenstreich geschlagen.«


»Ich finde, das gehörte sich nicht,« sagte Düclari.

»Ich auch; ... aber ich mußte doch etwas thun. Stellen Sie sich vor, daß ich kein Geld hatte, nichts empfing, daß ich von Tag zu Tag fürchtete, vor Hunger umzukommen, welches Schicksal mir nahe genug gekommen ist. Ich hatte keine Beziehungen auf Padang, oder doch sehr wenige, und außerdem, ich hatte dem General gesagt, daß er dafür verantwortlich wäre, wenn ich im Elend umkäme, und daß ich von niemand Hilfe annehmen würde. In den Binnenlanden gab es Leute, die mich einluden, zu ihnen zu kommen, als sie hörten, wie es mir ging, aber der General verbot, mir dahin einen Paß zu geben. Nach Java übersiedeln mochte ich auch nicht. Überall sonst hätte ich mich retten können, und vielleicht auch dort, wenn man nicht so sehr in Angst vor dem mächtigen General gelebt hätte. Es schien sein Plan zu sein, mich verhungern zu lassen. Das hat neun Monate gedauert.«

»Und wie haben Sie sich so lange am Leben gehalten? Hatte der General viele Hühner?«

»Nein, das that ich nur einmal ... ich machte Verse, ich schrieb Komödien ... und so weiter.«

[164] »Und dafür gab es Reis auf Padang?«

»Nein, den habe ich dafür auch nicht verlangt ... ich sage lieber nicht, wie ich gelebt habe.«

Tine drückte ihm die Hand, sie wußte es.

»Ich habe ein paar Zeilen gelesen, die Sie in diesen Tagen auf die Rückseite einer Quittung geschrieben haben sollen,« sagte Verbrügge.

»Ich weiß, was Sie meinen, diese Zeilen schildern Ihnen meine Lage. Damals bestand eine Zeitschrift ›Der Kopist‹, deren Abonnent ich war. Da sie unter dem Schutze der Regierung stand – der Redacteur war ein Beamter des allgemeinen Sekretariats – kamen die Abonnementsgelder in die Landeskasse. Man legte mir eine Quittung über zwanzig Gulden vor. Da dies Geld in den Bureaus des Gouverneurs verrechnet werden mußte, und die Quittung, wenn sie unbezahlt blieb, durch diese Bureaus gehen mußte, um nach Batavia zurückgeschickt zu werden, benutzte ich die Gelegenheit, um auf der Rückseite gegen mein Elend zu protestieren:


Die zwanzig Gulden, welch ein Schatz!

Kopist, wir müssen scheiden.

Es thut mir wirklich herzlich leid,

Doch hab' ich viel zu leiden.

Vor Hunger sterb' ich und vor Frost,

Vor Kummer und vor Schulden,

Zwei Monat' lang ich leben könnt',

Hätt' ich die zwanzig Gulden!

Ich könnte besser kleiden mich

Und besser wohnen, nähren: –

Das Unrecht, doch die Armut nicht

Bringt mich vor Scham zu Zähren ...


Als ich aber später der Redaktion des ›Kopisten‹ meine zwanzig Gulden zahlen wollte, war ich nichts schuldig. Es scheint, daß der General selber das Geld für mich bezahlt hatte, um nicht gezwungen zu sein, die illustrierte Quittung nach Batavia zu schicken.«

»Aber ... was that er nach dem Wegnehmen des Hahns? Es war doch Diebstahl ... und nach dem Epigramm?«

»Er bestrafte mich schrecklich. Wenn er mich vor Gericht gestellt hätte wegen Unehrerbietigkeit gegen den Gouverneur [165] von Sumatras Westküste, was man in diesen Zeiten mit ein wenig gutem Willen hätte auslegen können als ›Untergrabung des niederländischen Ansehens und Aufreizung zur Empörung,‹ oder wegen ›Straßenraubs,‹ so hätte er sich als einen gutherzigen Menschen gezeigt. Aber nein, er strafte mich besser! Dem Mann, der die Hühner hütete, ließ er auftragen, von da ab einen anderen Weg zu nehmen, und mein Spottgedicht, das ist noch schlimmer ... er sagtenichts, und er that nichts. Sehen Sie, das war grausam! Er gönnte mir nicht das geringste Märtyrer- Ansehen ... ich wurde nicht durch Verfolgung interessant gemacht und ich durfte nicht unglücklich werden durch weitgehenden Witz ... es war, um einem für immer die Spottverse und die Kalekuten zu verekeln, So wenig Anerkennung erstickt die Flamme des Genies bis auf den letzten Funken, diesen einbegriffen! Ich habe es auch nie wieder gethan.«

Dreizehntes Kapitel

Dreizehntes Kapitel.

Stern fährt fort. Weitere Erlebnisse Havelaars auf Sumatra. Frau Sloterings scheues Wesen. Eine Abschweifung.


»Und kann man nun erfahren, warum Sie eigentlich suspendiert waren?« fragte Düclari.

»O ja; denn da ich alles, was ich hierüber zu sagen habe, als die Wahrheit geben kann, und sogar als noch nachweisbar, werden Sie daraus sehen, daß ich nicht leichtfertig handelte, als ich, in meiner Erzählung über das vermißte Kind, das Gerede von Padang nicht gänzlich verwarf, da man sie sehr glaubhaft finden wird, sobald man diesen General aus den Dingen, die mich betreffen, kennen lernt.

In meinen Kassen-Rechnungen zu Natal waren Ungenauigkeiten und Versäumnisse. Sie wissen, daß jede Ungenauigkeit auf Verlust hinausläuft, niemals hat man durch Nachlässigkeit Überschuß. Man behauptete, daß es sich um Tausende handelte. Aber es ist zu beachten, daß man mich, so lange ich zuNatal war, nie darauf aufmerksam gemacht hatte. Ganz unerwartet empfing ich eine Versetzung nach dem Padangschen Oberlande. Sie wissen, Verbrügge, daß auf Sumatra eine Stellung in dem Oberlande von Padang vorteilhafter und angenehmer ist als in der nördlichen Residentschaft. [166] Da ich kurz zuvor den Gouverneur bei mir gesehen hatte – Sie sollen später erfahren, warum und wie – und da während seiner Anwesenheit in dem Bezirk und selbst in meinem Hause Dinge vorgefallen waren, in deren Behandlung ich meinte mich sehr geschickt benommen zu haben, nahm ich diese Versetzung als eine Auszeichnung auf und zog von Natal nach Padang. Ich machte die Reise auf einem französischen Schiff, dem ›Baobab‹ von Marseille, das zu Atjin Pfeffer eingeladen hatte und natürlich zu Natal ›an Trinkwasser Mangel hatte.‹ Sobald ich zu Padang ankam, mit der Absicht, nach den Binnenlanden weiter zu gehen, wollte ich pflichtgemäß dem Gouverneur meinen Besuch abstatten. Er ließ mir jedoch sagen, daß er mich nicht empfangen könne, und gleichzeitig, daß ich meine Abreise nach meinem neuen Standort verschieben solle, bis Befehl dazu käme. Sie begreifen, daß ich darüber sehr verwundert war, um so mehr, als er mich zu Natal in einer Stimmung verlassen hatte, die mich zu dem Glauben brachte, bei ihm gut angeschrieben zu sein. Ich hatte wenig Bekanntschaften zu Padang; aber von den wenigen hörte ich, oder besser, ich merkte es ihnen an, daß der Gouverneur sehr ungnädig gegen mich gesonnen war. Ich sagte, daß ich es merkte, denn auf einem Außenposten, wie Padang einer war, kann das Wohlwollen vieler dienen als Gradmesser der Gnade, die man in den Augen des Gouverneurs gefunden hat. Ich fühlte, daß ein Sturm bevorstand, ohne zu wissen, aus welcher Ecke der Wind kommen würde. Da ich Geld brauchte, fragte ich bei diesem und jenem darum an, und war in der That erstaunt, als man mir überall eine ablehnende Antwort gab. Auf Padang, wie auch sonst in Indien, war die Stimmung in dieser Beziehung sonst im allgemeinen recht gut. Man hätte in einem anderen Falle mit Vergnügen einem Kontroleur, der auf der Reise war und gegen seine Erwartung irgendwo aufgehalten wurde, einige hundert Gulden vorgeschossen. Mir aber verweigerte man jede Hilfe. Ich drang bei einigen darauf, mir doch den Grund des Mißtrauens anzugeben, und allmählich erfuhr ich denn, daß man in meinen geldlichen Maßnahmen zu Natal Fehler und Versäumnisse entdeckt hatte, die mich in den Verdacht ungetreuer Verwaltung gebracht hatten. Daß Fehler in meiner Handhabung waren, befremdete mich nicht; das Gegenteil hätte mich in Erstaunen gesetzt. Aber es wunderte mich, daß der Gouverneur, der persönlich Zeuge gewesen war, wie ich beständig fern von meinem Bureau mit der Unzufriedenheit [167] der Bevölkerung und mit den Versuchen zu einem Aufstand zu kämpfen gehabt hatte, daß er, der mich selbst wegen dessen, was er ›Beherztheit‹ – ›Kordatheit‹ – nannte, belobt hatte, dem den Namen Untreue oder Unehrlichkeit geben konnte; denn er wußte doch besser als jeder andere, daß von durchaus nichts anderem die Rede sein konnte als von höherer Gewalt!

Und leugnete man selbst die höhere Gewalt, und wollte man mich verantwortlich machen für Fehler, die in Augenblicken vorgekommen waren, da ich, oft in Lebensgefahr, fern von der Kasse und was damit zusammenhing, die Verwaltung anderen anvertrauten mußte, wollte man sogar verlangen, daß ich, das eine thuend, das andere nicht unterlassen sollte: so konnte ich doch höchstens einer Nachlässigkeit schuldig sein, die mit ›Untreue‹ nichts zu thun hatte. Es waren außerdem, in diesen Tagen vor allem, Beispiele, daß die Regierung die schwierige Lage vieler Beamten einsah, und es schien daher auch ›im Prinzip‹ angenommen, bei solchen Gelegenheiten etwas durch die Finger zu sehen. Man begnügte sich, von den betroffenen Beamten die Erstattung des Fehlenden einzufordern, und es mußten bereits sehr klare Beweise vorliegen, ehe man das Wort ›Untreue‹ aussprach. Das war so allgemeine Ansicht, daß ich zu Natal dem Gouverneur selbst gesagt hatte, ich fürchte, nach der Nachprüfung meiner Rechnungen in den Bureaus zu Padang, viel bezahlen zu müssen, worauf er mir mit Achselzucken antwortete: ›Ach ... die Geldsachen ...‹ als fühle er selbst, daß das Wichtigere dem Geringeren vorangehen müsse.

Nun erkenne ich gewiß an, daß Geldsachen wichtig sind. Aber wie wichtig sie auch seien, waren sie doch in diesem Falle anderen Zweigen von Sorge und Geschäften untergeordnet. Wenn etwa durch Nachlässigkeit einige Tausend in meiner Verwaltung zu kurz gekommen waren, so nenne ich das selbst an sich keine Kleinigkeit; aber wenn diese Tausende fehlten infolge meiner glücklichen Anstrengungen, dem Aufstand zuvorkommen, die den Landstrich von Mandheling in Feuer und Flamme setzen sollte und die Atjinesen zurückkehren lassen nach den Plätzen, aus denen wir sie eben erst mit großen Opfern an Geld und Volk vertrieben hatten, dann fällt die Wichtigkeit von so etwas doch etwas geringer aus, und es wird sogar einigermaßen unbillig, die Zurückbezahlung von jemand zu fordern, der unendlich größere Interessen gerettet hatte.

[168] Und doch wäre ich mit einer solchen Zurückforderung einverstanden gewesen; denn durch das Unterlassen der Forderung würde man der Unehrlichkeit eine weite Thür öffnen.

Nach Tagen Wartens, Sie begreifen, in welcher Stimmung, erhielt ich von dem Sekretär des Gouverneurs einen Brief, in dem man mir zur Kenntnis gab, daß ich im Verdacht der Untreue stände, mit dem Auftrage, mich auf eine Zahl von Ausstellungen, die man an meiner Gebarung gemacht hatte, zu verantworten. Einige davon konnte ich sofort erklären, für andere brauchte ich die Akten, und vor allem war es für mich wichtig, den Sachen zu Natal selbst nachzuforschen. Ich hätte bei Schreibern und Angestellten die Ursachen der Fehler untersuchen können, und höchst wahrscheinlich wäre es mir dann geglückt, alles zur Klarheit zu bringen. Das Versäumnis einer Buchung zum Beispiel von Geldern, die nach Mandheling gesandt worden waren – Sie wissen, Verbrügge, daß die Truppen des Binnenlandes aus der Natalschen Kasse besoldet wurden – oder dergleichen, was mir vermutlich sofort klar geworden wäre, wenn ich es am Platze selbst hätte untersuchen können, hatten vielleicht den Anlaß zu den verdrießlichen Fehlern gegeben. Aber der General schlug mir das Gesuch, mich nach Natal zurückgehen zu lassen, ab. Diese Weigerung schadete mir mehr als die befremdliche Weise, wie man die Beschuldigung der Untreue gegen mich angebracht hatte. Warum war ich denn von Natal unerwartet versetzt worden, und noch dazu mit dem Schein des Wohlwollens, wenn ich im Verdacht der Untreue stand? Warum teilte man mir diese entehrende Vermutung erst mit, da ich von dem Platze fort war, wo ich Gelegenheit gehabt hätte, mir zu verantworten? Und warum wurde die Sache gegen mich sofort in das ungünstigste Licht gestellt, im Gegensatz zu Brauch und Billigkeit?

Bevor ich noch alle die Anstände beantwortet hatte, so gut ich es ohne Archiv und mündliche Erklärungen konnte, hörte ich, daß der General deshalb so ungehalten gegen mich sei, weil ich ihn zu Natal so ›kontrariiert‹ hatte, woran ich denn auch, hieß es, ›sehr falsch gehandelt‹ habe.

Da ging mir ein Licht auf. Ja, ich hatte ihn ›kontrariiert‹; aber in dem naiven Glauben, daß er mich darum achten würde. Ich hatte ihn kontrariiert, aber bei seiner Abreise hatte nichts mich vermuten lassen, daß er darüber ärgerlich wäre. Dumm genug hatte ich die günstige Versetzung nach Padang angenommen, als einen Beweis, daß er mein ›Kontrariieren‹ [169] schön gefunden hatte. Sie werden sehen, wie wenig ich ihn kannte.

Aber als ich hörte, daß das die Ursache der Schärfe wäre, mit der man meine Kassengebarung beurteilte, war ich mit mir selbst zufrieden. Ich beantworte die Ausstellungen Punkt für Punkt, so gut ich konnte, und endigte meinen Brief – ich besitze die Abschrift noch – mit de Worten:


›Ich habe die auf meine Verwaltung gefallenen Ausstellungen, so gut es ohne Archiv und Nachforschung am Orte möglich war, beantwortet. Ich ersuche Euer Hochedelgestrengen, von allen wohl wollenden Rücksichten gegen mich abzusehen. Ich bin jung und unbedeutend, im Vergleich mit der Macht der herrschenden Begriffe, gegen die meine Grundsätze mich zwingen aufzutreten, aber ich bleibe nichtsdestoweniger stolz auf meine moralische Unabhängigkeit, stolz auf meine Ehre.‹


Tags darauf war ich suspendiert wegen untreuer Verwaltung. Der Justiz-Offizier wurde beauftragt, ›Amt und Pflicht‹ in Bezug auf mich zu beachten.

Und so stand ich nun da in Padang, kaum dreiundzwanzig Jahre alt, und blickte in die Zukunft, die mir Erlösung bringen sollte. Man riet mir, mich auf meine jungen Jahre zu berufen – ich war noch nicht mündig, als die angegebenen Versehen stattfanden – aber das wollte ich nicht. Ich hatte doch schon zu viel gedacht und gelitten, und ich wage zu sagen, auch schon zuviel gearbeitet, als daß ich mich hinter meine Jugend verstecken sollte. Sie sehen aus dem Schluß des Briefes, den ich eben anführte, daß ich nicht als ein Kind behandelt sein wollte, ich, der ich zu Natal dem Gouverneur gegenüber meine Pflicht als Mann gethan hatte, und zugleich konnte man aus diesem Briefe sehen, wie grundlos die Beschuldigung war, die man gegen mich vorbrachte; denn wer schuldig ist, schreibt anders.

Man setzte mich nicht gefangen, und das hätte doch geschehen müssen, wenn es mit der Beschuldigung ernst gewesen wäre. Vielleicht war diese scheinbare Versäumnis nicht ohne Grund. Dem Gefangenen ist man immerhin Unterhalt und Speise schuldig. Da ich Padang nicht verlassen konnte, war [170] ich in Wirklichkeit doch ein Gefangener, aber ein Gefangener ohne Dach und ohne Brot! Ich hatte, allerdings erfolglos, mehrmals an den General geschrieben, daß er meine Abreise von Padang nicht hindern möge, denn selbst wäre ich schuldig, dürfte doch keine Missethat durch Hungerleiden bestraft werden.

Nachdem der Rechtsrat, der mit er Sache zu thun hatte, den Ausweg gefunden hatte, sich unzuständig zu erklären, da eine Verfolgung wegen dienstlicher Vergehen nur auf Ermächtigung durch die Regierung zu Batavia stattfinden darf, hielt mich der General, wie ich sagte, neun Monate zu Padang. Er empfing schließlich von hoher Hand den Befehl, mich nach Batavia ziehen zu lassen.

Als ich ein paar Jahre später Geld hatte – beste Tine, du hattest es mir gegeben – bezahlte ich einige tausend Gulden, um die Natalschen Kassenrechnungen von 1842 und 43 glatt zu machen. Damals sagte jemand, der dafür angesehen werden kann, die Regierung von Niederländisch-Indien vorzustellen: ›Das hätte ich nicht gethan, ich hätte einen Wechsel auf die Ewigkeit ausgestellt.‹

So geht's in der Welt!«


* * *


Gerade wollte Havelaar einen Anfang mit der Geschichte machen, die seine Gäste von ihm erwarteten, und die erklären sollte, wie und warum er den Gouverneur zu Natal »kontrariiert« hatte, alsMewrouw Slotering sich auf der Vorgalerie ihrer Wohnung blicken ließ und dem Polizei-Aufseher winkte, der nahe bei Havelaars Hause auf einer Bank saß. Dieser begab sich zu ihr und rief darauf einemManne, der eben das Grundstück betreten hatte, etwas zu. Der Mann hatte sich wohl nach der Küche begeben wollen, die hinter dem Hause lag. Unsere Gesellschaft hätte wahrscheinlich nicht darauf geachtet, wenn nicht am Mittag bei Tische Mewrouw Havelaar gesagt hätte, daß Mewrouw Slotering so scheu wäre und eine Art von Aufsicht zu üben schien über jeden, der das Grundstück betrat. Man sah den Man, der durch den Aufpasser gerufen war, zu ihr herangehen, und es schien, daß sie ihn ins Verhör nahm, was nicht zu seinem Vorteil ablief. Denn er wandte seine Schritte und lief zurück nach draußen.

»Das ist ärgerlich,« sagte Tine, »das war vielleicht einer, der Hühner zu verkaufen hatte oder Gemüse; ich habe noch nichts im Hause.«

[171] »Laß nur jemand danach ausschicken,« antwortete Havelaar. »Du weißt, daß inländische Damen gern Autorität üben. Ihr Mann war früher die erste Person hier, und wie wenig ein Adsisten-Resident auch eigentlich bedeutet, in seinem Bezirk ist er ein kleiner König. Sie ist noch nicht an die Entthronung gewöhnt. Wir wollen der armen Frau das Vergnügen nicht nehmen; thue, als ob du nichts merktest.«

Das fiel nun Tine nicht schwer; sie machte sich nichts aus Autorität.

Eine Abschweifung ist hier nötig, und ich will sogar abschweifen über Abschweifung. Es ist für einen Schriftsteller nicht leicht, gerade zwischen den Klippen des Zuviel und Zuwenig hindurchzusegeln, und die Schwierigkeit wird um so größer, wenn man Zustände beschreibt, die den Leser auf unbekannten Boden versetzen müssen. Es ist eine zu nahe Beziehung zwischen Ort und Ereignis, als daß man die Beschreibung der Örtlichkeiten ganz sollte entbehren können, und das Vermeiden der zwei Klippen, die ich meine, wird doppelt schwierig für einen, der Indien zum Schauplatz seiner Erzählung gewählt hat. Denn wo der Schriftsteller, der europäische Zustände behandelt, viele Dinge als bekannt voraussetzen kann, muß der, der sein Stück in Indien spielen läßt, sich fortwährend fragen, ob der nicht-indische Leser diesen oder jenen Umstand auch richtig auffassen wird. Wenn der europäische Leser sich vorstellt, daß Mewrouw Slotering bei den Havelaars »logiert,« so wie das in Europa stattfinden würde, so muß es ihm unbegreiflich vorkommen, daß sie nicht bei der Gesellschaft ist, die den Kaffee in der Vorgalerie einnahm. Ich habe zwar bereits gesagt, daß sie ein besonderes Haus bewohnte, aber zum rechten Verständnis davon, und auch von späteren Ereignissen, ist es in der That nötig, daß ich von Havelaars Haus und Grundstück eine Beschreibung gebe.

Der Vorwurf, den man dem großen Meister, der den »Waverley« schuf, öfters macht, daß er oft die Geduld seiner Leser mißbraucht, indem er viele Seiten der Beschreibung der Örtlichkeiten widmet, kommt mir grundlos vor; und ich glaube, daß man sich, um einen solchen Vorwurf richtig beurteilen zu können, einfach die Frage vorlegen solle: war diese Beschreibung nötig, um den richtigen Eindruck zu bekommen, den der Schriftsteller beabsichtigte? Wenn ja, so deute man es ihm nicht als Fehler, daß er von euch die [172] Mühe verlangt, zu lesen, was er sich die Mühe gab zu schreiben; – wenn nein, so werfe man das Buch weg, denn der Schriftsteller, der gewissenlos genug ist, um ohne Not Topographie an Stelle von Gedanken zu geben, wird wohl auch selten der Mühe wert sein, ihn zu lesen, auch wo seine Platzbeschreibung endlich ein Ende nimmt. Aber auch das Urteil des Lesers über das Notwendige oder Überflüssige einer Abschweifung ist oftmals falsch, weil er vor der Katastrophe nicht wissen kann, was zur richtigen Entwicklung der Zustände erforderlich ist oder nicht; und wenn er nach der Katastrophe das Buch noch einmal vornimmt – von Büchern, die man nur einmal liest, spreche ich nicht – und auch dann noch meint, daß diese oder jene Abschweifung wohl hätte unterbleiben können, ohne daß der Eindruck des Ganzen etwas verloren hätte, so bleibt doch noch die Frage, ob er von dem Ganzen wirklich diesen Eindruck gehabt hätte, wenn der Schriftsteller ihn nicht auf mehr oder minder künstliche Weise dazu gebracht hätte, vielleicht gerade durch die Abschweifungen, die ihm überflüssig vorkommen.

Meint ihr, daß Amy Robsarts Tod euch so packen würde, wenn ihr ein Fremdling wäret in den Hallen von Kenilworth? Und glaubt ihr, daß kein Zusammenhang besteht – Zusammenhang durch Kontrast – zwischen der reichen Kleidung, in der der nichtswürdige Leicester sich ihr zeigte, und der Schwärze seiner Seele? Fühlt ihr nicht, daß Leicester – jeder weiß es, der ihn aus anderen Quellen als aus diesem Roman allein kennt – daß er unendlich schlechter war, als er in »Kenilworth« gezeichnet wird? Aber der große Romanschreiber, der lieber durch kunstreiche Anordnung der Farben fesselte als durch Grobheit der Farbe, achtete es seiner unwürdig, den Pinsel in all den Schlamm und all das Blut zu tauchen, das an dem unwürdigen Günstling der Elisabeth klebte. Er wollte nur einen Fleck in dem Sumpfe zeigen; aber er verstand es, solche Flecken ins Auge fallen zu lassen durch das, was er in seinen unsterblichen Werken ihnen zur Seite stellte. Wer nun das Danebengestellte als überflüssig verwerfen will, verliert ganz aus dem Auge, daß man dann, um Effekt zustande zu bringen, zu der Schule übergehen müßte, die seit 1830 so lange in Frankreich geblüht hat, wenn [173] ich auch sagen muß, zur Ehre des Landes, daß die Schriftsteller, die hier gegen den guten Geschmack am meisten sündigten, gerade im Auslande, und nicht in Frankreich selbst, am höchsten geschätzt wurden. Diese Schule – ich glaube, daß sie ausgeblüht hat – fand es bequem, mit vollen Händen in Tümpel von Blut zu greifen und dann große Kleckse auf die Malerei zu werfen, daß man sie weithin sehen sollte. Die sind denn auch leichter zu schildern, die dicken Striche von Rot und Schwarz, als die feinen Linien auszupinseln, die im Kelch einer Lilie stehen. Darum wählte diese Schule denn auch meist Könige zu Helden ihrer Erzählungen, am liebsten aus der Zeit, da die Völker noch unmündig waren. Die Betrübnis des Königs übersetzt man auf dem Papier in Volksgeheul; sein Zorn bietet dem Dichter Gelegenheit, Tausende auf dem Schlachtfelde zu töten; seine Fehler geben Anlaß, Hungersnot und Pestilenz zu schildern – das giebt Arbeit für grobe Pinsel. Bist du nicht gerührt durch die Leiche des Mannes, der da liegt, in meiner Erzählung ist noch Platz für einen anderen, der noch zuckt und stöhnt; hast du nicht geweint mit der Mutter, die erfolglos nach ihrem Kinde suchte, ich zeige dir eine andere Mutter, die ihr Kind vierteilen sieht; bleibst du gefüllos bei dem Martertode dieses Mannes, gut, ich verhundertfache dein Gefühl, indem ich noch neunundneunzig hinterher martern lasse; bist du verstockt genug, um nicht zu schaudern, wenn du den Soldaten siehst, der in der belagerten Festung aus Hunger seinen linken Arm verzehrt ... Epikuräer! ich verspreche dir zu kommandieren: Rechts und links, formiert den Kreis, jeder esse den linken Arm von seinem rechten Nebenmanne auf, vorwärts – marsch! Ja, so geht die Kunsthäßlichkeit über in Albernheit ... was ich im Vorbeigehen beweisen wollte.

Und doch würde man gerade dahin verfallen, wenn man zu eilig einen Schriftsteller verurteilte, der euch auf seine Katastrophe vorbereiten möchte, ohne zu den schreienden Farben seine Zuflucht zu nehmen.

Aber die Gefahr der anderen Klippe ist noch größer. Ihr verachtet die Regungen der groben Litteratur, die mit so plumpen Waffen auf euer Gefühl meint einstürmen zu müssen. Aber wenn der Schriftsteller in das andere Extrem verfällt, wenn er sündigt durch zuviel Abschweifung von der Hauptsache, durch zu viel Pinselei, dann ist euer Zorn noch stärker. Und mit Recht, denn ihr habt euch gelangweilt, und das ist das Schlimmste.

[174] Wenn wir zusammen wandern und du weichst immer vom Wege ab und rufst mich in das Gebüsch, nur um die Wanderung zu verlängern, finde ich das unangenehm und nehme mir vor, lieber allein zu gehen. Wenn du mir aber da eine Pflanze zu zeigen weißt, die ich noch nicht kannte, oder an der etwas zu sehen ist, was früher meiner Betrachtung entging; wenn du mir von Zeit zu Zeit eine Blume zeigst, die ich gern pflücke und im Knopfloche mitnehme, dann verzeihe ich dir das Abweichen vom Wege, ja ich bin sogar dankbar dafür.

Und auch ohne Blume oder Pflanze, wenn du mich zur Seite rufst, um mir durch die Bäume hin den Pfad zu zeigen, den wir später betreten werden, der aber jetzt noch fern in der Tiefe vor uns liegt und als kaum sichtbares Streifchen sich da unten durch das Gelände schlingert, auch dann nehme ich dir die Abschweifung nicht übel. Denn wenn wir endlich so weit gekommen sind, werde ich wissen, wie unser Weg sich durch das Gebirge hin und her gewunden hat, wie es kommt, daß wir die Sonne, die eben noch dort stand, jetzt links haben, warum der Hügel nun hinter uns liegt, dessen Gipfel wir vor kurzem vor uns sahen ... dann hast du mir durch die Abweichung das Verständnis meiner Wanderung erleichtert, und Verstehen ist Genuß.

Ich habe dich, lieber Leser, oftmals in meiner Geschichte auf dem großen Wege gelassen, wenn es mich auch Mühe kostete, dich nicht in das Gebüsch mitzunehmen. Ich fürchtete, daß die Wanderung dich verdrießen könnte, da ich nicht wußte, ob du an den Blumen oder Pflanzen, die ich dir zeigen wollte, Geschmack finden würdest. Weil ich aber glaube, daß es dir später Vergnügen machen wird, den Pfad gesehen zu haben, den wir nachher betreten werden, möchte ich dir etwas von Havelaars Haus erzählen.

Es wäre falsch, sich von einem Hause in Indien eine Vorstellung nach europäischen Begriffen zu machen, und sich etwa eine Steinmasse von aufeinander gestapelten Zimmern und Kämmerchen zu denken, mit der Straße davor, und rechts und links Nachbarn, deren Penaten sich an die deinigen anlehnen, und ein Gärtchen mit drei Besenbäumchen dahinter. Mit wenigen Ausnahmen haben die Häuser in Indien keine Etagen. Das kommt dem Europäer sonderbar vor, denn es ist eine Spezialität der Kultur, alles sonderbar zu finden, was natürlich ist. Die indischen Häuser sind ganz anders als unsere, aber nicht sie sind sonderbar, unsere Häuser sind [175] sonderbar. Der Mann, der sich zuerst den Luxus gestatten konnte, nicht mit seinen Kühen in einem Raume zu schlafen, hat die zweite Stube des Hauses nicht auf, sondern neben die erste gesetzt, denn das Bauen zu ebener Erde ist einfacher und bietet auch mehr Bequemlichkeiten beim Bewohnen. Unsere hohen Häuser haben ihren Ursprung im Raummangel. Wir suchen in der Luft, was am Boden fehlt, und so ist eigentlich jedes Dienstmädchen, das des Abends das Fenster ihrer Dachkammer, in der sie schläft, zumacht, ein Protest gegen die Übervölkerung – wenn sie auch an ganz etwas anderes denkt, was ich gern glauben will.



In Ländern also, wo die Kultur und die Übervölkerung noch nicht, durch Zusammenpressung unten, die Menschen nach oben emporgedrückt haben, sind die Häuser ohne Stockwerke, und das Haus Havelaars gehörte nicht zu den wenigen Ausnahmen. Wenn man hineintrat – doch nein, ich will zeigen, daß ich von allem Anspruch auf malerische Schilderung Abstand nehme. Man nehme also: ein langgezogenes Viereck, das man in einundzwanzig Fächer einteile, drei Teile breit, sieben lang. Man numeriere die Fächer, indem man links oben beginne, nach rechts, eins, zwei, drei, sodaß vier unter eins kommt, und so bis zu Ende.

Die ersten Nummern zusammen bilden die Vorgalerie, die an drei Seiten offen ist, und deren Dach vorn auf Säulen ruht. Von da tritt man durch zwei Doppelthüren in die innere Galerie, die durch die drei folgenden Fächer gebildet wird. Die Fächer 7, 9, 10, 12, 13, 15, 16 und 18 sind Zimmer, von denen die meisten durch Thüren mit dem nächsten in Verbindung stehen. Die drei letzten Nummern (19, 20, 21) bilden die offene Hintergalerie, und was ich auslasse, ist eine Art geschlossener Korridor. Ich bin recht stolz auf die Beschreibung.

Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, um den indischen Begriff eines Grundstücks wiederzugeben. Ein [176] Grundstück bezeichnet dort weder Garten, noch Park, noch Feld, noch Wald, sondern entweder etwas davon, oder alles zusammen, oder nichts von allem. Es ist der Grund und Boden, der zu dem Hause gehört, soweit er nicht von dem Hause bedeckt ist. Es giebt da wenige oder gar keine Häuser ohne so ein Grundstück. Einige umfassen Busch und Garten und Wiese und erinnern an einen Park, andere sind Blumengärten, anderswo wieder ist das Ganze eine einzige große Graswiese, und endlich giebt es solche, die sehr einfach darstellt werden durch einen gepflasterten Hof, was vielleicht für das Auge weniger angenehm ist, aber die Reinlichkeit in den Häusern befördert, da durch Gras und Bäume viele Insekten herangezogen werden.

Havelaars Grundstück war sehr groß, ja, wie sonderbar es klinge, an einer Seite konnte man es unendlich nennen, denn es grenzte an eine Schlucht, die bis an die Ufer des Tjudjung, des Flusses, der Rangkas-Betung in einer seiner vielen Windungen umschließt, reichte. Es war schwer zu bestimmen, wo das Grundstück der Wohnung des Adsistent-Residenten aufhörte, und wo das Gemeindeland anfing, infolge der Veränderungen des Tjudjung, der einmal seine Ufer auf Gesichtsweite zurückzog und dann wieder die ganze Schlucht bis dicht an Havelaars Haus anfüllte, und so fortwährend die Grenze veränderte.

Diese Schlucht war denn auch Mewrouw Slotering stets ein Dorn im Auge gewesen, und das war sehr begreiflich. Der Pflanzenwuchs, schon so wie so in Indien sehr reichlich, war dort auf dem zurückgelassenen Schlamm des Flusses besonders üppig, und hatte das Hin- und Herströmen des Wassers sogar mit einer Kraft stattgefunden, die das Buschwerk entwurzelte und mitriß, so brauchte es doch sehr wenig Zeit, um den Boden wieder mit all dem Gestrüpp zu bedecken, das das Reinhalten des Grundstücks, auch nahe beim Hause, sehr erschwerte. Und das war kein geringer Ärger, selbst wenn man keine Hausfrau war. Denn ohne von den allerlei Insekten zu sprechen, die gewöhnlich des Abends in solchen Mengen um die Lampe schwirrten, daß Lesen und Schreiben unmöglich wurde, eine Unannehmlichkeit, die sich an vielen Stellen Indiens findet, hielten sich in dem Buschwerk auch eine Anzahl Schlangen und anderes Getier, das sich nicht auf die Schlucht beschränkte, sondern öfters auch im Garten und hinter dem Hause oder im Grase auf dem Vorplatz gefunden wurde.

[177] Diesen Platz hatte man rechts vor sich, wenn man in der Außengalerie, den Rücken dem Hause zugekehrt, stand. Links davon lag das Gebäude mit den Bureaus, der Kasse und dem Versammlungssaal, in dem Havelaar diesen Morgen zu den Häuptern gesprochen hatte, und dahinter erstreckte sich die Schlucht, die man übersah bis an den Tjudjung. Gerade gegenüber von den Bureaus war die alte Adsistent-Residenten-Wohnung, die jetzt einstweilen durch Mewrouw Slotering bewohnt wurde. Und da der Zugang von dem großen Wege auf das Grundstück durch zwei Wege erfolgen konnte, die an beiden Seiten des Grasplatzes dahin liefen, folgt hieraus von selbst, daß jeder, der das Grundstück betrat, um sich nach der hinter dem Hauptgebäude gelegenen Küche oder den Ställen zu begeben, entweder an den Bureaus oder an der Wohnung von Mewrouw Slotering vorbei mußte. Zur Seite des Hauptgebäudes und dahinter lag der ziemlich große Garten, der die Freude Tines durch die vielen Blumen, die sie da fand, erweckt hatte, und vor allem, weil da der kleine Max so oft spielen konnte.

Havelaar hatte sich bei Mewrouw Slotering entschuldigen lassen, daß er ihr noch keinen Besuch abgestattet hatte. Er wollte am folgenden Tage hinüber gehen. Aber Tine war schon dagewesen und hatte Bekanntschaft geschlossen. Ich habe schon gesagt, daß die Dame ein sogenanntes »inländisches Kind« war, die keine andere Sprache als malayisch sprach. Sie hatte den Wunsch geäußert, ihre eigene Haushaltung für sich weiter zu führen, womit Tine gern einverstanden war. Und zwar kam diese Zustimmung nicht aus Ungastlichkeit, sondern vornehmlich aus der Furcht heraus, daß sie, die eben erst zu Lebak angekommen war, Mewrouw Slotering nicht so gut würde aufnehmen können, wie es durch die besonderen Umstände wünschenswert wurde. Die Dame, die kein Holländisch verstand, wäre zwar nicht mit Max' Erzählungen »gekränkt« worden, wie Tine sagte, aber sie begriff, daß es mehr brauchte, als die Familie Slotering bloß nicht zu »kränken.« Und die schmale Küche mit der beabsichtigten Sparsamkeit brachte es mit sich, daß sie wirklich die Absichten der Mewrouw Slotering sehr verständig fand. Ob nun übrigens, wenn die Umstände andere gewesen wären, der Umgang mit jemand, der nur eine Sprache sprach, in der nichts gedruckt ist, was den Geist bildet, zu gegenseitigem Wohlgefallen geführt hätte, steht zu bezweifeln. Tine hätte ihr so gut wie möglich Gesellschaft geleistet und viel mit ihr über [178] Kochen und Backen gesprochen; aber so etwas bleibt doch stets eine Aufopferung, und man fand es daher besser, daß die Sache durch Mewrouw Sloterings freiwillige Absonderung auf eine Weise geordnet war, die jedem seine vollkommene Freiheit ließ. Sonderbar indes war es, daß die Dame sich nicht allein geweigert hatte, an den gemeinschaftlichen Mahlzeiten teilzunehmen, sondern daß sie selbst von dem Anerbieten keinen Gebrauch machte, ihre Speisen in der Küche von Havelaars Haus bereiten zu lassen, und diese Bescheidenheit, sagte Tine, ginge zu weit, denn die Küche wäre groß genug.

Vierzehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel.

Stern fährt fort. Schluß der Erlebnisse auf Sumatra. Havelaars Haus und Grundstück zu Rangkas-Betung. Beiträge zur javanischen Kolonialgeschichte.


»Sie wissen,« begann Havelaar, »daß die niederländischen Besitzungen auf der Westküste von Sumatra an die unabhängigen Reiche in der Nordecke grenzen, von denen Atjin das ansehnlichste ist. Man sagt, daß ein geheimer Artikel in dem Vertrage von 1824 uns gegen die Engländer die Verpflichtung auferlegt, den Singkel-Fluß nicht zu überschreiten. Der General van Damme, der mit einem Napoleonischen Anstrich sein Gouvernement gern so weit wie möglich ausbreitete, stieß daher in dieser Richtung auf einen unüberwindlichen Widerstand. Ich muß wohl an das Bestehen des Geheimartikels glauben, weil es mich sonst befremden würde, daß die Radjas von Trumon und Analabu, deren Provinzen infolge des Pfefferhandels, der dort getrieben wird, nicht ohne Wert sind, nicht längst unter die niederländische Oberhoheit gebracht sind. Sie wissen, wie leicht man einen Vorwand findet, um mit solchen Ländchen Krieg anzufangen und sich zum Herrn davon zu machen. Eine Landschaft zu stehlen, ist immer leichter als eine Mühle zu stehlen. Ich glaube von dem General van Damme, daß er selbst eine Mühle weggenommen hätte, wenn er Lust dazu gehabt hätte, und begreife deshalb nicht, daß er die Landschaften [179] im Norden verschont haben sollte, wenn es da nicht festere Gründe gegeben hätte als Recht und Billigkeit.

Wie dem auch sei, er richtete seine Erobererblicke nicht nord-, sondern ostwärts. Die LandstricheMandheling und Ankola – das war der Name der Adsistent-Residentschaft, die aus den eben erst zur Ruhe gebrachten Battahländern gebildet war, – waren noch nicht von Atjinschem Einfluß gereinigt; – denn wo der Fanatismus einmal Wurzel faßt, da ist er schwer auszurotten – zwar die Atjinesen waren nicht mehr da, aber das war dem Gouverneur nicht genug. Er breitete seine Macht bis an die Ostküste aus, und es wurden niederländische Beamte und niederländische Besatzungen nach Bila und Pertibie geschickt, welche Posten indessen, wie Sie wissen, später wieder geräumt sind.

Als nun auf Sumatra ein Regierungskommissar ankam, der diese Ausbreitung zwecklos fand und sie darum mißbilligte, vor allem auch, weil sie sich mit den Sparsamkeits-Grundsätzen, auf die vom Mutterlande aus so gehalten wurde, nicht vertrugen, behauptete der General van Damme, daß die Ausbreitung keinen den Staatshaushalt beschwerenden Einfluß ausübte; denn die neuen Garnisonen beständen aus Truppen, für die die Gelder schon bewilligt wären, sodaß er einen großen Landstrich unter niederländische Verwaltung gebracht hätte, ohne daß damit pekuniäre Ausgaben verbunden gewesen wären. Und was weiter das teilweise Entblößen anderer Plätze, besonders im Mandhelingschen beträfe, so meinte er genügend auf die Treue Jang di Pertuans rechnen zu können, welcher das vornehmste der Häupter in den Battahlanden war, und es wäre keine Gefahr.

Mit Widerstreben gab der Regierungskommissar nach, und wohl auf die wiederholten Versicherungen des Generals hin, daß er sich persönlich für Jang di Pertuans Treue verbürge.

Nun war der Kontroleur, der vor mir den Bezirk Natal verwaltete, der Schwiegersohn des Adsistent-Residenten in den Battahländern, welch letzterer mit Jang di Pertuan nicht im Einklang stand. Später habe ich viel von allerlei Klagen gehört, die gegen diesen Adsistent-Residenten vorgebracht wurden, aber man muß vorsichtig sein, ehe man diese Beschuldigungen glaubt, weil sie aus dem Munde Jang di Pertuans kamen, und zwar zu einem Zeitpunkte, da dieser ganz anderer Dinge angeklagt war, was ihn vielleicht veranlaßte, seine Verteidigung in den Fehlern seines Anklägers zu suchen. [180] Wie dies sei, der Machthaber von Natal ergriff die Partei seines Schwiegervaters gegen Jang di Pertuan, und dies um so mehr als dieser Kontroleur mit einem gewissen Sutan Salim, einem Natalschen Haupte, sehr befreundet war, welcher auch als ein Gegner des Battahfürsten auftrat. Es bestand eine Fehde zwischen den Familien der beiden Häupter, Heiratsanträge waren zurückgewiesen worden, Eifersucht wegen des Einflusses war im Spiele, und Trotz von seiten Jang di Pertuans, der von höherer Geburt war, und andere Ursachen trugen das Ihre bei, um Natal und Mandheling gegeneinander in böser Stimmung zu erhalten.

Auf einmal verbreitete sich das Gerücht, daß in Mandheling ein Komplott entdeckt war, an dem Jang di Pertuan beteiligt sein sollte, und das den Zweck hatte, die heilige Fahne des Aufstandes zu entrollen, und alle Europäer zu ermorden. Die erste Entdeckung hatte in Natal stattgefunden, was natürlich ist; denn man wird in benachbarten Provinzen stets besser über den Stand der Dinge unterrichtet als am Platze selber, weil viele, die sich zu Hause von der Offenbarung einer ihnen bekannten Thatsachen durch Furcht vor einem betroffenen Haupte zurückhalten lassen, die Vorsicht, einigermaßen außer acht lassen, wenn sie sich auf einem Gebiete befinden, wo dieses Haupt keinen Einfluß hat.

Das ist auch der Grund, Verbrügge, daß ich kein Fremdling in den Verhältnissen Lebaks bin. Ich wußte schon ziemlich viel von dem, was hier vorgeht, ehe ich daran dachte, jemals hierher zu kommen. Ich war im Jahre 1845 im Krawangschen und bin viel in Preanger herumgereist, wo ich bereits 1846 viele Lebaksche Flüchtlinge antraf. Auch bin ich bekannt mit vielen Besitzern von Privatländereien im Buitenzorgschen und in der Umgegend von Batavia, und ich weiß, wie von altersher die Grundbesitzer über den schlechten Zustand dieses Bezirks erfreut sind, weil das ihre Ländereien bevölkert ...

Auf solche Weise wird auch zu Natal die Verschwörung bekannt geworden sein, die – wenn sie bestanden hat, was ich nicht weiß – Jang di Pertuan als einen Verräter kennzeichnet. Nach Zeugenaussagen, die durch den Kontroleur von Natal aufgenommen wurden, sollte er mit seinem Bruder Sutan Adam viele Häupter in einem heiligen Busch versammelt haben, und dort sollten sie geschworen haben, nicht zu ruhen, bis die Macht der Christenhunde in Mandheling vernichtet wäre. Es spricht von selbst, daß er dazu eine Eingebung [181] des Himmels empfangen hatte; Sie wissen, daß so etwas bei derartigen Gelegenheiten nie ausbleibt.

Ob nun der Plan bei Jang di Pertuan bestanden hat, kann ich nicht versichern. Ich habe die Erklärungen der Zeugen gelesen; aber Sie werden sehen, warum man denen nicht so ohne Vorbehalt Glauben schenken kann. Sicher ist, daß er, was seine Islam-Schwärmerei angeht, wohl zu so etwas imstande gewesen sein kann. Er war, mit der ganzen Battahschen Bevölkerung erst kurz zuvor durch die Paderies zu dem wahren Glauben bekehrt worden, und Neubekehrte sind gewöhnlich fanatisch.

Die Folge der wahren oder vermeinten Entdeckung war, daß Jang di Pertuan gefangen genommen wurde. Man führte ihn nach Natal, wo der Kontroleur ihn in das Fort setzen ließ, und von wo er mit der ersten Schiffsgelegenheit zu dem Gouverneur von Sumatras Westküste nach Padang übergeführt wurde. Man überreichte diesem alle Akten, in denen die so gravierenden Zeugnisse aufgezeichnet waren, und welche die Strenge der getroffenen Maßregeln rechtfertigten. Jang di Pertuan war also von Mandheling als ein Gefangener abgereist, zu Natal war er ein Gefangener, an Bord des Kriegsschiffes, das ihn überführte, war er natürlich auch ein Gefangener; er erwartete daher – unschuldig oder nicht, thut nichts zur Sache, da er in rechtlicher Form des Hochverrats beschuldigt war – auch zu Padang als Gefangener anzukommen, und er muß gewiß recht verwundert gewesen sein, bei der Landung zu vernehmen, daß er nicht allein frei wäre, sondern daß der General, dessen Wagen ihn erwartete, als er das Ufer betrat, es sich zur Ehre rechnen würde, ihn in seinem Hause zu empfangen und zu beherbergen. Sicher ist nie ein des Hochverrats Angeklagter angenehmer überrascht worden. Kurz darauf wurde der Adsistent-Resident von Mandheling in seinem Amte suspendiert, wegen allerlei Versehen, die ich hier nicht kritisieren will. Jang di Pertuan aber, nachdem er einige Zeit im Hause des Generals verweilt hatte und von diesem mit der größten Auszeichnung behandelt worden war, kehrte über Natal zurück nach Mandheling, nicht mit dem Selbstgefühl eines für unschuldig Erklärten, sondern mit dem Stolze jemandes, der so hoch steht, daß er keine Unschuldserklärung braucht. Immerhin, untersucht war die Sache nicht, und angenommen, daß man die gegen ihn vorgebrachten Anklagen für falsch hielt, so hätte schon diese Vermutung eine Untersuchung verlangt, um die[182] falschen Zeugen zu strafen, und den, der zu solcher Falschheit verführt haben könnte. Es schien als ob der General Ursache hatte, dieser Untersuchung nicht Raum zu geben. Die gegen Jang di Pertuan eingebrachte Anklage wurde als, ›nicht eingelaufen‹ betrachtet, und ich halte für sicher, daß die darauf bezüglichen Akten niemals der Regierung zu Batavia zu Gesicht gekommen sind.

Kurz nach der Rückkehr Jang di Pertuans kam ich zu Natal an, um die Verwaltung dieses Bezirks zu übernehmen. Mein Vorgänger berichtete mir natürlich, was kurz zuvor im Mandhelingschen vorgefallen war, und gab mir die nötigen Erklärungen über die politischen Beziehungen dieses Landstrichs zu meinem Bezirk. Es war ihm nicht übel zu deuten, daß er sich über die seiner Ansicht nach unrechte Behandlung, die seinem Schwiegervater zu teil wurde, sehr beklagte, sowie über den unbegreiflichen Schutz, den Jang di Pertuan beim General zu genießen schien. Weder er noch ich wußten in diesem Augenblick, daß die Verschickung Jang di Pertuans nach Batavia ein Faustschlag ins Gesicht des Generals gewesen wäre, und daß dieser gute Gründe hatte, was es auch kosten möge, dieses Haupt vor einer Hochverratsanklage zu bewahren. Das war für den General desto wichtiger, als inzwischen der vorher erwähnte Regierungskommissar General-Gouverneur geworden war, und dieser ihn höchst wahrscheinlich aus seinem Gouvernement abgerufen hätte, aus Ärger über das unbegründete Vertrauen auf jang di Pertuan und die daraus folgende Hartnäckigkeit, mit der der General sich gegen die Räumung der Ostküste gewehrt hatte.

›Doch,‹ sagte mein Vorgänger, ›was auch den General bewegen möge, alle die Beschuldigungen gegen meinen Schwiegervater anzunehmen und die viel schwereren Anklagen gegen Jang di Pertuan nicht einmal der Untersuchung wert zu achten, ... die Sache ist nicht aus! Und wenn man zu Padang, wie ich vermute, die abgegebenen Zeugnisse vernichtet hat, so ist hier etwas anderes, was nicht vernichtet werden kann!

Und er zeigte mir ein Urteil des ›Rappatrates‹ zu Natal, dessen Vorsitzender er war, eine Verurteilung eines gewissen Si Pamaga, zur Strafe der Auspeitschung, Brandmarkung und, ich glaube, zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit, wegen Mordversuchs gegen den Tuanku von Natal.

›Lesen Sie den Verhandlungsbericht dieser Gerichtssitzung,‹ sagte mein Vorgänger, ›und urteilen Sie dann, ob mein [183] Schwiegervater zu Batavia belobt werden wird, wenn er da Jang di Pertuan des Hochverrats anklagt!‹

Ich las die Akten. Nach Erklärungen von Zeugen und dem Bekenntnis des Angeklagten war dieser, Si Pamaga, erkauft, um zu Natal den Tuanku, dessen Vorgesetzten Sutan Salim, und den ausführenden Kontroleur zu ermorden. Er hatte sich, um den Plan auszuführen, nach der Wohnung des Tuanku begeben, und da mit den Bedienten, die auf der Treppe saßen, ein Gespräch über ein Sewah angeknüpft, mit der Absicht, seine Anwesenheit so lange hinzuziehen, bis er des Tuanka ansichtig werden würde, der sich denn auch bald umgeben von einigen Verwandten und Bedienten, sehen ließ. Pamaga war mit seinem Sewah auf den Tuanku zugegangen, hatte aber, aus unbekannten Ursachen, seine mordlustige Absicht nicht ausführen können. Der Tuanku war vor Schreck aus dem Fenster gesprungen, und Pamaga ergriff die Flucht. Er versteckte sich im Busch und wurde einige Tage später von der Natalschen Polizei aufgegriffen.

Der Angeklagte wurde befragt; was ihn zu dem Mordanschlag gegen Sutan Salim und den Kontroleur von Natal veranlaßt habe, – und er antwortete, er sei dazu von Sutan Adam, im Namen von dessen Bruder Jang di Pertuan, gekauft worden.

›Ist das deutlich oder nicht?‹ fragte mein Vorgänger. ›Das Urteil ist nun von dem Residenten bestätigt und, was die Auspeitschung und die Brandmarkung betrifft, ausgeführt worden. Si Pamaga befindet sich jetzt auf dem Wege nach Padang, um von da als Kettengänger nach Java geschickt zu werden. Gleichzeitig mit ihm kommen die Prozeßakten der Sache nach Batavia, und dann kann man da sehen, wer der Mann ist, auf dessen Anklage mein Schwiegervater suspendiert ist. Das Urteil kann der General nicht vernichten, wenn er auch wollte.‹

Ich übernahm die Verwaltung des Bezirks Natal, und mein Vorgänger ging ab. Nach einiger Zeit wurde mir gemeldet, daß der General mit einem Kriegsdampfer nach dem Norden komme und auch Natal besuchen werde. Er stieg mit viel Gefolge in meinem Hause ab, und verlangte die ursprünglichen Prozeßakten ›des armen Mannes, den man so gräßlich mißhandelt hatte.‹

›Jene selber hatten die Auspeitschung und Brandmarkung verdient,‹ fügte er hinzu.

Ich begriff nicht davon. Denn die Ursachen des Streits [184] über Jang di Pertuan waren mir damals unbekannt, und ich konnte deshalb nicht auf den Gedanken kommen, weder daß mein Vorgänger mit Wissen und Willen einen Unschuldigen zu so schwerer Strafe verurteilt haben könnte, noch daß der General einen Bösewicht gegen ein rechtmäßiges Urteil in Schutz nehmen sollte. Ich empfing den Auftrag, Sutan Salim und den Tuanku gefangen zu nehmen. Da der junge Tuanku bei der Bevölkerung sehr beliebt war und wir nur wenig Besatzung im Fort hatten, bat ich um die Erlaubnis, ihn auf freiem Fuße zu lassen, was mir auch gestattet wurde. Für Sutan Salim dagegen, den Feind Jang di Pertuans, gab es keine Gnade. Die Bevölkerung war in großer Aufregung. Die Nataler vermuteten, daß der General sich zu einem Werkzeuge des Mandhelingschen Hasses erniedrigte, und es lag in diesen Verhältnissen, daß ich von Zeit zu Zeit etwas thun konnte, was er ›beherzt‹ fand, besonders da er die wenigen Truppen, die man im Fort entbehren konnte, und die Abteilung Seesoldaten, die er von Bord mitgebracht hatte, nicht mir mitgab, wenn ich nach den Flecken ritt, wo man sich zusammenrottete. Ich habe bei dieser Gelegenheit gesehen, daß der General van Damme sehr gut für seine eigene Sicherheit sorgte, und darum unterschreibe ich seinen Tapferkeitsruhm nicht.

Er berief einen Rat eigens für diesen Fall. Mitglieder waren: ein paar Adjutanten, andere Offiziere, der Justiz-Offizier, wir sagten damals noch ›Fiskal,‹ den er von Padang mitgebracht hatte, und ich. Dieser Rat sollte eine Untersuchung über die Art und Weise anstellen, wie unter meinem Vorgänger der Prozeß gegen Si Pamaga geführt worden war. Ich mußte eine Zahl Zeugen aufrufen lassen, deren Aussagen dazu nötig waren. Der General, der natürlich den Vorsitz führte, verhörte, und der Fiskal führte das Protokoll. Da dieser aber wenig Malayisch verstand, und das Malayische, das im Norden von Sumatra gesprochen wird, überhaupt nicht, war es oftmals nötig, ihm die Aussagen der Zeugen zu übersetzen, was meistens der General selbst that. Aus den Sitzungen dieses Rats sind Akten herausgekommen, die auf das deutlichste bewiesen: daß Si Pamaga nie den Plan gehegt hatte, irgend jemand, wer es auch sei, zu ermorden, daß er niemals Sutan Adam noch Jang di Pertuan gesehen oder gekannt hatte, daß er nicht auf den Tuanku von Natal zugesprungen und daß dieser nicht aus dem Fenster geflüchtet war, und so fort. Ferner: daß das Urteil gegen den unglücklichen [185] Si Pamaga zustande gekommen war unter dem Druck des Vorsitzenden, meines Vorgängers, und des Mitglieds jenes Rats Sutan Salim, welche Personen die angebliche Missethat Si Pamagas erdichtet hatten, um dem suspendierten Adsistent-Residenten von Mandheling eine Waffe zu seiner Verteidigung in die Hand zu geben, und um ihrem Hasse gegen Jang di Pertuan Luft zu machen.

Die Art und Weise nun, wie der General verhörte, erinnerte an die Whistpartie, ich weiß nicht welches Kaisers von Marokko, der seinem Partner zuflüsterte: Spiel Herzen, oder ich schneide dir den Hals ab! Auch die Übersetzungen, die er dem Fiskal in die Feder diktierte, ließen viel zu wünschen übrig.

Ob mein Vorgänger und Sutan Salim einen Druck auf den Rat ausgeübt haben, um Si Pamaga schuldig zu erklären, ist mir unbekannt. Aber das weiß ich, daß der General van Damme einen Druck auf die Zeugenaussagen, die seine Unschuld beweisen sollten, ausgeübt hat. Ohne noch die Tragweite davon zu kennen, habe ich mich dagegen gewehrt, und ich mußte so weit gehen, meine Unterschrift unter einige Protokolle zu verweigern; darin hatte ich den General so ›kontrariiert.‹

Sie begreifen nun auch, worauf die Worte sich bezogen, mit denen ich die Beantwortung der Ausstellungen, die man an meinen Rechnungen gemacht hatte, schloß, und in denen ich bat, mit allen ›wohlwollenden Rücksichten‹ verschont zu bleiben.« –

»Es war sehr stark von jemand in Ihren Jahren,« sagte Düclari.

»Ich fand es natürlich, aber sicher ist, daß der General van Damme so etwas nicht gewohnt war. Ich habe denn auch unter den Folgen der Sache viel gelitten. O nein, Verbrügge, ich sehe, was Sie sagen wollen, bereut habe ich es nie. Ich muß sogar hinzufügen, daß ich mich nicht auf den Protest gegen die Zeugenverhöre des Generals und auf die Verweigerung meiner Unterschrift beschränkt haben würde, hätte ich damals vermuten können, was ich erst später erfuhr, daß das alles aus einer vorher festgestellten Verabredung hervorging, um meinen Vorgänger zu belasten. Ich dachte, daß der General, überzeugt von Si Pamagas Unschuld, sich von dem achtenswerten Bestreben fortreißen ließ, ein unschuldiges Opfer vor den Folgen eines Rechtsirrtums zu schützen, so weit das nach der Auspeitschung und der Brandmarkung [186] noch möglich war. Diese Ansicht brachte es mit sich, daß ich mich zwar gegen die Fälschungen auflehnte, aber ich war darüber nicht entrüstet, wie ich es gewesen wäre, wenn ich gewußt hätte, daß es sich hier keinesfalls darum handelte, einen Unschuldigen zu retten, sondern daß die Fälschung den Zweck hatte, auf Kosten der Ehre und des Wohlergehens meines Vorgängers die Beweise zu vernichten, die dem General im Wege waren.«

»Und wie ging es mit Ihrem Vorgänger?« fragte Verbrügge.

»Zu seinem Glücke war er bereits nach Java abgereist, bevor der General nach Padang zurückkehrte. Er scheint sich bei der Regierung zu Batavia mit Erfolg verteidigt zu haben, wenigstens ist er im Dienst geblieben. Der Resident von Ayer-Bangi, der das Urteil bestätigt hatte, wurde ...«

»Suspendiert?«

»Selbstverständlich. Sie sehen, daß ich nicht so unrecht hatte, in meinem Spottgedicht zu sagen, daß er ›uns suspendierend regierte.‹«

»Und was ist aus den suspendierten Beamten geworden?«

»O, deren waren noch viel mehr. Alle sind, die einen früher, die anderen später, wieder in ihre Ämter eingesetzt worden. Einzelne haben später sehr hohe Posten bekleidet.«

»Und Sutan Salim?«

»Der General führte ihn gefangen mit nach Padang, und von da wurde er als Verbannter nach Java geschickt. Er ist jetzt noch in Tjandjur in den Preange--Regentschaften. Im Jahre 1846 befand ich mich da und habe ihn besucht. Weißt du noch, was ich in Tjandjur wollte, Tine?«

»Nein, Max, das habe ich ganz vergessen.«

»Wer kann auch alles behalten! ... ich habe mich da verheiratet, meine Herren!«

»Aber,« fragte Düclari, »da Sie nun doch einmal beim Erzählen sind, ist es wahr, daß Sie sich zu Padang so oft duelliert haben?«

»Ja, sehr oft. Dazu war viel Anlaß. Ich habe bereits gesagt, daß die Gunst des Gouverneurs auf solchem Außenposten der Maßstab ist, nach dem viele ihre Liebenswürdigkeit messen. Die meisten waren zu mir sehr unliebenswürdig, und das ging oft bis zur Grobheit. Ich für mein Teil war empfindlich. Ein nicht beantworteter Gruß, eine spöttische Redensart auf die ›Thorheit eines Menschen, der es mit dem [187] General aufnehmen wollte‹, eine Anspielung auf meine Armut, auf mein Hungerleiden, auf die ›schlechte Nahrung, die in der sittlichen Abhängigkeit zu liegen schien‹ – das alles, begreifen Sie, erbitterte mich. Viele, besonders unter den Offizieren, wußten, daß der General es nicht ungern sah, wenn duelliert wurde, und besonders mit jemand, der so in Ungnade war wie ich. Vielleicht reizte man meine Empfindlichkeit mit Vorbedacht ... Auch schlug ich mich wohl einmal für einen anderen, den ich für beleidigt hielt ... wie gesagt, das Duell war an der Tagesordnung, und manchmal hatte ich zwei an einem Morgen ... es ist viel Anziehendes im Duell, besonders mit dem Säbel, oder ›auf Säbel,‹ wie man sagt, ich weiß nicht, weshalb. Sie begreifen indessen, daß ich jetzt so etwas nicht mehr thun würde, auch wenn dazu ebenso viel Anlaß wäre wie damals. Komm einmal her, Max! ... nein, fang das Tierchen nicht, komm her. Höre, du mußt nie Schmetterlinge fangen. Das Tierchen ist erst lange Zeit als Raupe auf einem Baum herumgekrochen, das ist kein frohes Leben. Nun hat es eben erst Flügelchen bekommen und will ein wenig herumfliegen, um sich in der Luft zu erfreuen, und es sucht Nahrung in den Blumen und thut niemand ein Leid: sieh, ist es nicht viel hübscher, es herumflattern zu sehen?«

So kam das Gespräch von den Duellen auf die Schmetterlinge, auf das Erbarmen des Gerechten mit seinem Vieh, auf die Tierplagen, auf das Grammontsche Gesetz, auf die Nationalversammlung zu Paris, die das Gesetz angenommen hatte, auf die Republik, und was nicht alles!

Endlich stand Havelaar auf. Er entschuldigte sich bei seinen Gästen, daß er Geschäfte habe. Als der Kontroleur ihn am nächsten Morgen auf dem Kontor aufsuchte, wußte er nicht, daß der neue Adsistent-Resident am vorigen Tage, nach den Gesprächen in der Vorgalerie, nach Parang-Kudjang ausgeritten und erst am Morgen früh von da zurückgekommen war.


* * *


Ich bitte den Leser, zu glauben, daß Havelaar zu gebildet war, um, besonders an seinem Tische, so viel zu sprechen, wie ich in den letzten Kapiteln angegeben habe, und wodurch ich auf ihn den Schein lade, als ob er sich zum Meister des Gesprächs gemacht habe, mit Hintansetzung der Pflichten des Gastgebers, seinen Gästen Gelegenheit zu bieten, »aus sich [188] herauszukommen.« Ich habe aus den vielen Baustoffen, die vor mir liegen, ein paar Hände voll herausgeholt, und ich hätte die Tischgespräche mit weniger Mühe noch fortsetzen können, als mir das Abbrechen gemacht hat. Ich hoffe, daß das Mitgeteilte genügen wird, um einigermaßen die Beschreibung zu rechtfertigen, die ich von Havelaars Naturell und Eigenschaften gegeben habe, und daß der Leser nicht ganz ohne Interesse die Schicksale verfolgen wird, die ihn und die Seinen zu Rangkas-Betung erwarteten.

Die kleine Familie lebte still vor sich hin. Havelaar war oft tagsüber fort und brachte halbe Nächte auf seinem Bureau zu. Das Verhältnis zwischen ihm und dem Kommandanten der Garnison war das allerangenehmste, und auch im häuslichen Verkehr mit dem Kontroleur war keine Spur von dem Rangunterschiede zu entdecken, der sonst in Indien den Verkehr steif und langweilig macht. Havelaars Neigung, überall, wo er konnte, hilfreich einzuspringen, kam auch oftmals dem Regenten zu statten, der infolgedessen von seinem älteren Bruder sehr eingenommen war. Und schließlich trug die Liebenswürdigkeit von Mewrouw Havelaar viel bei, um den Verkehr der wenigen Europäer und der inländischen Häupter angenehm zu gestalten. Die dienstliche Korrespondenz mit dem Residenten in Serang trug Zeichen von gegenseitigem Wohlwollen; die Befehle des Residenten wurden mit Höflichkeit gegeben und mit Promptheit ausgeführt.

Tines Hauswirtschaft war bald in Ordnung. Nach längerem Warten waren die Möbel aus Batavia eingetroffen, es waren »Ketimons« in Salz gelegt, und wenn Max bei Tische etwas erzählte, geschah das nicht aus Mangel an Eiern für die Omelette, wenn auch die Lebensweise der kleinen Familie stets deutlich bewies, daß die beabsichtigte Sparsamkeit sehr befolgt wurde.

Mewrouw Slotering verließ selten ihr Haus und nahm nur einige Male bei der Familie Havelaar in der Vorgalerie den Thee. Sie sprach wenig und blieb dabei, ein wachsames Auge auf jedermann zu haben, der sich ihrer oder Havelaars Wohnung näherte; man hatte sich an diese ihre »Monomanie« inzwischen gewöhnt und achtete nicht mehr darauf.

Alles schien Ruhe und Frieden zu atmen; denn für Max und Tine war es beispielsweise eine Kleinigkeit, sich in Entbehrungen zu schicken, die unvermeidlich sind, wenn man auf einem nicht am großen Wege gelegenen Binnenplatz wohnt. [189] Da auf diesem Platz kein Brot gebacken wurde, aß man kein Brot. Man hätte es aus Serang besorgen können; aber die Transportkosten waren zu hoch. Man wußte so gut wie andere, daß es viele Mittel gab, um ohne Bezahlung Brot nach Rangkas-Betung zu bekommen, aber unbezahlte Arbeit, das indische Krebsgeschwür, war ihm ein Greuel. So gab es auch viel zu Lebak, was wohl zu haben war, für nichts, durch Gewalt, aber nicht für billigen Preis zu kaufen, und in solchem Falle schickten sich Havelaar und seine Frau gern in die Entbehrung. Sie hatten ja schon ganz andere Entbehrungen erlebt. Hatte nicht die arme Frau Monate auf einem arabischen Schiffe zugebracht, ohne eine andere Lagerstätte als das Deck, ohne anderen Schutz gegen Sonnenhitze und Sturm als ein Tischchen, zwischen dessen Beinen sie sich festklammern mußte? Hatte sie sich auf dem Schiffe nicht mit einer dürftigen Portion Reis und fauligem Wasser begnügen müssen? Und war sie nicht in den vielen anderen Fällen immer zufrieden gewesen, wenn sie nur mit ihrem Max zusammen sein konnte?

Ein Umstand aber machte ihr Verdruß in Lebak: der kleine Max konnte nicht im Garten spielen, weil dort so viele Schlangen waren. Als sie dies bemerkte und sich bei Havelaar beklagte, setzte dieser einen Preis aus für die Bedienten auf jede Schlange, die sie fangen würden; aber schon am ersten Tage mußte er so viel an Prämien bezahlen, daß er seine Preisaussetzung für die Zukunft zurückziehen mußte; denn auch unter gewöhnlichen Umständen, und ohne die ihm so notwendige Sparsamkeit hätte die Bezahlung bald seine Mittel überschritten. Es wurde festgestellt, daß der kleine Max fortan das Haus nicht mehr verlassen sollte, und daß er, um frische Luft zu schöpfen, sich mit dem Spielen in der Vorgalerie begnügen müsse. Trotz dieser Fürsorge war Tine noch sehr ängstlich, und besonders des Abends, da man weiß, daß Schlangen öfters in die Häuser kriechen, und der Wärme wegen sich in den Schlafzimmern verbergen.

Schlangen und dergleichen Tierzeug findet man allerdings in Indien überall; aber an größeren Orten, wo die Bevölkerung dichter bei einander wohnt, kommen sie natürlich seltener vor als in den noch mehr wilden Gebieten, wie zu Rangkas-Betung. Wenn indessen Havelaar sich hätte entschließen können, sein Grundstück bis an den Rand der Schlucht von Unkraut reinigen zu lassen, so würden zwar die Schlangen sich von Zeit zu Zeit doch wieder im Garten [190] gezeigt haben, aber gewiß nicht so zahlreich wie jetzt. Diese Tiere ziehen von Natur Dunkelheit und Verstecke dem Licht offener Plätze vor, sodaß, wenn Havelaars Grundstück rein gehalten worden wäre, die Schlangen höchstens einmal, wenn sie sich verirrten, das Gestrüpp in der Schlucht verlassen haben würden. Aber das Grundstück Havelaars war nicht sauber, und ich werde den Grund davon mitteilen, da er einen Blick auf die Mißbräuche gestattet, die beinahe überall in den niederländisch-indischen Besitzungen herrschen.

Die Wohnungen der Beamten in den Binnenlanden stehen auf Grund und Boden, der den Gemeinden gehört, insofern man überhaupt in einem Lande, wo die Regierung sich alles zueignet, von Gemeinde Eigentum sprechen kann. Genug, daß die Grundstücke nicht dem amtlichen Bewohner gehören. Dieser würde, wenn das der Fall wäre, sich wohl in acht nehmen, ein Grundstück zu kaufen oder zu mieten, dessen Unterhaltung über seine Kraft ginge.

Wenn nun das Grundstück der angewiesenen Wohnung zu groß ist, um ordentlich instandgehalten zu werden, würde es, infolge des üppigen Pflanzenwuchses, in kurzer Zeit sich in eine Wildnis verwandeln. Und doch sieht man selten oder nie solch ein Grundstück in schlechtem Zustande; ja, der Reisende steht oft erstaunt über den prächtigen Park, der eine Adsistent-Residentenwohnung umgiebt. Kein Beamter in den Binnenlanden hat Einkommen genug, um sich die Arbeit gegen gehörige Bezahlung machen zu lassen, und da nun doch ein würdiges Aussehen für eine Wohnung des hohen Beamten nötig ist, damit das Volk, das so an Äußerlichkeiten hängt, nicht etwa darin einen Grund für geringere Achtung finde, entsteht die Frage, wie dies Ziel erreicht wird. Auf den meisten Plätzen haben die Beamten die Verfügung über einige Kettengänger, das heißt, anderswo verurteilte Missethäter; solche waren indessen aus politischen Gründen in Bantam nicht vorhanden. Aber auch auf Plätzen, wo man solche Verurteilte hat, ist deren Anzahl, wenn man die Arbeit schätzt, selten im Einklang mit der Tätigkeit, die nötig wäre, um ein großes Grundstück in Ordnung zu halten. Es müssen also andere Mittel gefunden werden, und die Aufrufung von Arbeitern zur Verrichtung von »Herrendienst« liegt nahe. Der Regent oder Demang, der solche Aufforderung empfängt, beeilt sich, ihr zu willfahren, denn er weiß sehr gut, daß es für den Beamten, der selber von seiner Gewalt Mißbrauch macht, später schwer fallen wird, ein inländisch Haupt zu [191] bestrafen, wenn diese dasselbe thun, und so wird das Vergehen des einen zum Freibrief für die anderen.

Ich halte indessen dafür, daß ein solches Vergehen in manchen Fällen nicht allzu streng beurteilt werden darf, und vor allem nicht nach europäischen Begriffen. Das Volk selber würde es sonderbar finden, vielleicht aus Gewohnheit, wenn er immer und in allen Fällen sich streng an die Bestimmungen hielt, die die Zahl der für sein Grundstück bestimmten Herrendienstpflichtigen vorschreiben; denn es können Umstände eintreten, die in diesen Bestimmungen nicht vorgesehen waren.

Aber wenn erst einmal die Grenze des strikt Gesetzmäßigen überschritten ist, wird es schwer, den Punkt festzulegen, auf dem solches Überschreiten in verbrecherische Willkür übergehen würde, und vor allem ist große Vorsicht am Platze, wo man weiß, daß die Häupter bloß auf ein schlechtes Vorbild warten, um dann in vergrößertem Maßstabe nachzufolgen. Es giebt eine Erzählung von einem Könige, der nicht wollte, daß man die Bezahlung eines Körnchens Salz versäume, das er bei seiner einfachen Mahlzeit verzehrt hatte, als er das Land an der Spitze seines Heeres durchzog, – denn, sagte er, das wäre der Anfang eines Unrechts, das schließlich sein Reich vernichten würde. Mag dieser König nun Timurleng, Nureddin oder Djengis-Khan geheißen haben, sicher ist die Fabel, oder wenn es keine Fabel ist, der Vorfall selbst asiatischen Ursprungs. Und wie man beim Betrachten von Deichen an die Möglichkeit von Hochwasser denken darf, muß man annehmen, daß wohl Neigung zusolchen Mißbräuchen besteht in dem Lande, wosolche Lektionen gegeben werden.

Die Leute, über die Havelaar gesetzmäßig verfügen durfte, konnten nur ein sehr kleines Teilchen des Grundstücks, in der unmittelbaren Nähe des Hauses, von Unkraut und Gebüsch freihalten. Das übrige war binnen wenigen Wochen eine Wildnis. Havelaar schrieb an den Residenten um Mittel, hier Abhilfe zu schaffen, sei es durch eine Gehaltszulage, sei es durch Vorstellung an die Regierung, Kettengänger in der Residentschaft Bantam arbeiten zu lassen, wie es auch anderswo geschah. Er empfing darauf eine abschlägige Antwort, mit der Bemerkung, daß er ja das Recht habe, die Personen, die von ihm von Polizei wegen zu »Arbeit am öffentlichen Wege« verurteilt wären, auf seinem Grundstück arbeiten zu lassen. Das wußte Havelaar wohl. Aber er hatte niemals, weder zu Rangkas-Betung, noch zu Amboina, noch zu Menado, noch zu Natal von diesem Rechte Gebrauch [192] machen wollen. Es widerstand ihm, seinen Garten instandhalten zu lassen, zur Strafe für kleine Vergehungen, und mehrfach hatte er sich gefragt, wie die Regierung Bestimmungen konnte bestehen lassen, die den Beamten in Versuchung bringen konnten, kleine verzeihliche Fehler zu bestrafen nicht im Verhältnis zu dem Fehler selber, sondern im Hinblick auf den Zustand oder die Größe seines Gartens. Der Gedanke allein, daß der Bestrafte, selbst der, der zu Recht verurteilt wurde, meinen könnte, es sei Eigennutz bei dem Urteil im Spiele, veranlaßte ihn, wenn er strafen mußte, stets der sonst nicht sehr empfehlenswerten Einsperrung den Vorzug zu geben.

Und daher kam es, daß der kleine Max nicht im Garten spielen durfte, und daß auch Tine von den Blumen nicht so viel Vergnügen hatte, als sie sich am Tage ihrer Ankunft zu Rangkas-Betung vorstellte.

Es spricht von selbst, daß diese und ähnliche kleine Verdrießlichkeiten keinen Einfluß ausübten auf die Stimmung einer Familie, die so viel Anlage besaß, um sich ein glückliches Familienleben zu schaffen, und es war daher auch nicht diesen Kleinigkeiten zuzuschreiben, daß Havelaar manchmal mit bewölkter Stirn heimkam, wenn er fortgewesen war, oder wenn er diesen oder jenen, der ihn zu sprechen verlangte, angehört hatte. Wir haben aus seiner Ansprache an die Häupter gehört, daß er seine Pflicht thun wollte, daß er das Unrecht abstellen wollte, und ich hoffe, daß der Leser aus den Gesprächen, die ich mitteilte, ihn als einen Mann kennen gelernt hat, der wohl imstande war, etwas herauszufinden und zur Klarheit zu bringen, was für andere verborgen war oder im Dunkel lag. Es war wohl anzunehmen, daß nicht viel von dem, was in Lebak vorging, seiner Aufmerksamkeit entging. Auch sehen wir, daß er viele Jahre früher schon ein Auge auf den Bezirk gehabt hatte, sodaß er schon am ersten Tage, als Verbrügge mit ihm in der Pendoppo zusammentraf, wo unsere Geschichte anfängt, zeigen konnte, daß er in seinem neuen Wirkungskreis kein Fremder sei. Er hatte durch Nachforschung am Platze selbst vieles von dem bestätigt gefunden, was er früher vermutete, und vor allem aus dem Archiv war ihm klar geworden, daß dieser Landstrich wirklich in höchst traurigem Zustande war.

Aus den Briefen und Aufzeichnungen seines Vorgängers sah er, daß dieser dieselben Beobachtungen gemacht hatte. Die Briefe an die Häupter enthielten Verweis auf Verweis, [193] Drohung auf Drohung, und man begriff schließlich sehr gut, daß dieser Beamte zuletzt gesagt haben konnte, er werde sich an die Regierung wenden, wenn diesem Stand der Dinge nicht ein Ende gemacht würde.

Als Verbrügge das Havelaar mitteilte, hatte dieser geantwortet, daß sein Vorgänger dann sehr verkehrt gehandelt haben würde, da der Adsistent-Resident von Lebak in keinem Falle den Residenten von Bantam übergehen durfte, und er hatte hinzugefügt, daß dies auch durch nichts gerechtfertigt sein könnte, da man doch nicht annehmen könne, daß dieser hohe Beamte für Erpressung und Unterdrückung Partei ergreifen könnte.

Solch Parteiergreifen war auch nicht anzunehmen, in dem Sinne nicht, wie Havelaar es meinte, nämlich als ob dem Residenten Vorteil oder Gewinn von diesen Vergehen zufiele. Indessen gab es wohl einen Grund, der ihn bewog, nur sehr ungern auf die Klagen von Havelaars Vorgänger Recht zu üben. Wir haben gesehen, wie dieser mehrfach mit dem Residenten über die herrschenden Mißbräuche gesprochen hatte, und wie ihm das wenig genutzt hatte. Es ist deshalb nicht ohne Belang, zu untersuchen, warum dieser, der, als Haupt der ganzen Residentschaft, ebenso sehr wie der Adsistent-Resident, ja noch mehr als dieser, dafür zu sorgen verpflichtet war, daß Recht geschähe, lieber den Gang des Rechts fortgesetzt hemmte.

Schon zu Serang, als Havelaar in seinem Hause weilte, hatte dieser über die Lebakschen Mißbräuche gesprochen; er hatte darauf zur Antwort bekommen: »daß das in größerem oder geringerem Maße überall so wäre.« Das konnte Havelaar nicht bestreiten; wer hätte je ein Land gesehen, wo nichts Verkehrtes geschähe? Aber er fand, daß das kein Grund wäre, um Mißbräuche, wo man sie vorfand, bestehen zu lassen, – vor allem nicht, wenn man dazu da ist, sie zu bekämpfen; und nach allem, was er überhaupt von Lebak wußte, konnte da gar keine Rede sein von »größerem oder geringerem«, sondern lediglich von einem sehr großen Maße ... aber darauf hatte der Resident unter anderem die Antwort, »daß es im Bezirk Tjeringin, der auch zu Bantam gehörte, noch schlimmer sei!«

Wenn man nun annimmt, wie man es annehmen kann, daß ein Resident von Erpressung und von willkürlicher Verfügung über die Bevölkerung keinen eigentlichen Vorteil hat, so drängt sich die Frage auf, was denn viele bewegt, im [194] Gegensatz zu Eid und Pflicht, solche Mißbräuche zu dulden, ohne die Regierung davon zu benachrichtigen? Und wer darüber nachdenkt, muß es wohl sehr auffalend finden, daß man so kaltblütig das Vorhandensein dieser Mißbräuche anerkennt, als handle es sich um Dinge, die außer Bereich oder Befugnis liegen. Ich werde mich bemühen, die Ursachen davon zu entwickeln.

Das Überbringen schlechter Nachrichten ist schon im allgemeinen etwas Unangenehmes, und es scheint, als ob von dem üblen Eindruck, den sie machen, immer etwas an dem kleben bleibt, den das Los traf, sie zu überbringen. Wenn das allein schon für einige ein Grund sein könnte, um gegen besseres Wissen das Bestehen von etwas Ungünstigem zu leugnen, wie viel mehr wird das der Fall sein, wenn man Gefahr läuft, nicht nur sich die Ungnade auf den Hals zu laden, die das Schicksal aller Überbringer schlechter Nachrichten ist, sondern auch als die Ursache davon betrachtet zu werden.

Die Regierung von Niederländisch-Indien schreibt gern an ihren Meister in der Heimat, daß alles nach Wunsch geht. Die Residenten melden es gern an die Regierung. Die Adsistent-Residenten, die von ihren Kontroleuren beinahe nichts als günstige Berichte empfangen, senden ihrerseits wieder keine unangenehmen Nachrichten an die Residenten. So wird, in der offiziellen und schriftlichen Behandlung der Dinge, ein künstlicher Optimismus geschaffen, im Gegensatz nicht allein zur Wahrheit, sondern auch mit der eigenen Meinung der Optimisten selber, sobald sie dieselbe Sache mündlich behandeln, – ja im Gegensatz sogar mit ihren schriftlichen Berichten. Ich könnte viele Beispiele anführen von Berichten, die den günstigen Zustand einer Residentschaft bis in den Himmel erheben, und zu gleicher Zeit, wenn man die Ziffern ansieht, sich selbst Lügen strafen. Diese Beispiele könnten, wenn die Sache nicht so ernst wäre – der schließlichen Folgen halber – Anlaß zu Heiterkeit geben, und man steht verwundert über die Naivetät, mit der in solchen Fällen die größten Unwahrheiten aufrecht erhalten werden; wenn auch der Schreiber selbst, wenige Sätze vorher, die Waffen liefert, um die unwahren Angaben zu widerlegen. Ich will mich auf ein einziges Beispiel beschränken, das ich durch sehr viele vermehren könnte. Unter den Stücken, die vor mir liegen, finde ich den Jahresbericht einer Residentschaft. Der Resident rühmt den Handel, der da herrscht, und behauptet, daß überall [195] die größte Wohlfahrt und Betriebsamkeit zu finden sei. Und ein klein wenig weiter, wo er über die geringen Mittel spricht, die ihm gegen die Schmuggler zu Gebote stehen, will er sofort den unangenehmen Eindruck beseitigen, der bei der Regierung entstehen würde, wenn sie erführe, daß viele Abgaben hinterzogen werden. »Nein,« sagte er, »deswegen keine Sorge! In meiner Residentschaft wird wenig oder nichts eingeschmuggelt, denn – es ist hier so wenig Umsatz, daß keiner hier seine Kapitalien in den Handel stecken würde.«

Ich habe solch einen Bericht gelesen, der anfing mit den Worten: »Im abgelaufenen Jahre ist die Ruhe ruhig geblieben ...« Solche Redensarten zeugen wohl von einer sehr ruhigen Beruhigung in betreff der Nachsicht der Regierung für die Leute, die ihr unangenehme Nachrichten erspart, oder wie der Ausdruck lautet: sie »nicht bemüht« mit verdrießlichen Berichten!

Wo die Bevölkerung nicht zunimmt, liegt das an der Unrichtigkeit der früheren Volkszählungen. Wo die Steuern nicht steigen, will man durch niedrigen Anschlag den Landbau ermutigen, der sich gerade jetzt entwickeln soll, um später – am liebsten, wenn der Berichtschreiber selber nicht mehr da ist – erstaunliche Früchte zu tragen. Wo Unruhen stattgefunden haben, die nicht verborgen bleiben konnten, da war das das Werk von ein paar Übelgesinnten, die für die Zukunft nicht mehr zu fürchten sind, da ja allgemeine Zufriedenheit herrscht. Wo Mangel oder Hungersnot die Bevölkerung decimiert hat, war das eine Folge von Mißwachs, von Dürre, von Regen oder so etwas, aber nie von Mißregierung.

Die Nota von Havelaars Vorgänger, worin dieser »die Auswanderung des Volkes aus dem Distrikt von Parang-Kudjang dem weitgehenden Mißbrauch zuschreibt,« liegt vor mir. Diese Nota warinoffiziell und enthielt Punkte, über die dieser Beamte mit dem Residenten von Bantam sprechen wollte. Aber vergebens suchte Havelaar im Archiv nach einem Beweise, daß sein Vorgänger dieselbe Sache in einem öffentlichen Dienstschreiben ritterlich beim wahren Namen genannt habe.

Kurz, die offiziellen Berichte der Beamten an das Gouvernement, und daher auch die darauf gegründeten Rapporte an die Regierung im Mutterlande, sind zum größten und wichtigsten Teil unwahr.

Ich weiß, daß das eine schwere Beschuldigung ist, aber ich halte sie aufrecht und fühle mich in der Lage, sie zu [196] beweisen. Wer über dieses ungeschminkte Äußere meiner Meinung bestürzt sein sollte, der bedenke, wie viele Millionen an Geld und wie viele Menschenleben England erspart geblieben wären, wenn man dort zeitig die Augen der Nation für den wahren Stand der Dinge in Britisch-Indien geöffnet hätte. Man bedenke, wie große Dankbarkeit man dem Manne schuldig gewesen wäre, der den Mut gehabt hätte, den Hiobsboten zu machen, bevor es zu spät wurde, das Falsche auf unblutige Weise wieder gut zu machen.

Ich sagte, meine Beschuldigung beweisen zu können. Ich werde, wo es nötig ist, zeigen, daß oftmals Hungersnot in Landschaften herrschte, die als Beispiele von Wohlfahrt angeführt wurden, und wo man die Bevölkerung als ruhig und zufrieden pries, behaupte ich, stand sie vielfach auf dem Punkte, in Wut auszubrechen. Es ist meine Absicht nicht, die Beweise in diesem Buche zu liefern: ich glaube aber, daß man dies Buch nicht aus der Hand legen wird, ohne zu glauben, daß diese Beweise bestehen.

Für den Augenblick beschränke ich mich auf ein einziges Beispiel, um den lächerlichen Optimismus, von dem ich sprach, zu zeigen; ein Beispiel, das von jedem, sei er mit indischen Dingen sehr oder gar nicht vertraut, verstanden werden muß.

Jeder Resident giebt monatlich eine Aufstellung über den Reis, der in seine Landschaft eingeführt oder von dort nach außerhalb verschickt worden ist. Bei diesen Aufstellungen ist der Verkehr in zwei Teilen aufgeführt, je nachdem er sich auf Java selbst beschränkt oder sich weiter erstreckt. Wenn man sich nun die Mengen Reis ansieht, die, nach diesen Aufstellungen, aus Residentschaften auf Java nach Residentschaften auf Java übergeführt sind, wird man finden, daß das viel Tausende Pikols mehr beträgt als den Reis, der, nach denselben Aufstellungen, in Residentschaften auf Java aus Residentschaften auf Java eingeführt ist.

Ich übergehe mit Stillschweigen, was man von der Kontrolle der Regierung denken soll, die solche Aufstellungen annimmt und veröffentlicht, will aber den Leser auf die Folgen dieser Fälschungen aufmerksam machen.

Die prozentweise Belohnung, welche europäische und inländische Beamte für die Produkte erhalten, die in Europa verkauft werden müssen, hatte den Reisbau so in den Hintergrund gestellt, daß in einigen Strecken eine Hungersnot geherrscht hat, die nicht vor den Angen der Nation weggegaukelt werden konnte. Ich habe schon gesagt, daß dann Vorschriften [197] gegeben wurden, die Dinge nicht wieder so weit kommen zu lassen. Zu den vielen Ausflüssen dieser Vorschriften gehörten auch die von mir angeführten Ausstellungen über die Reis-Einfuhr und -Ausfuhr, damit die Regierung stets ein Auge haben könne auf die Ebbe und Flut dieses Lebensmittels. Ausfuhr aus einer Residentschaft beweist Wohlstand, Einfuhr Mangel.

Wenn man nun diese Aufstellungen untersucht und vergleicht, so ergiebt sich daraus, daß der Reis überall so im Ueberfluß vorhanden ist, daß alle Residentschaften zusammen mehr Reis ausführen, als in allen Residentschaften zusammen eingeführt wird. Ich wiederhole, daß es sich hier nicht um Ausfuhr über See handelt, welche besonders aufgeführt wird. Das Ergebnis ist also die ungereimte Behauptung, daß auf Java mehr Reis ist als Reis ist .... Das ist doch Wohlstand!

Ich sagte vorhin, daß die Sucht, niemals andere als gute Berichte an die Regierung zu schicken, ins Lächerliche fallen könnte, wenn nicht die Folgen von alledem so traurig wären. Welche Verbesserung des vielen Fehlerhaften ist dann zu hoffen, wenn von vornherein die Absicht besteht, alles in den Berichten zu verdrehen? Was ist von einem Volke zu erwarten, das, von Natur sanft und geduldig, seit Jahren, Jahren über Unterdrückung klagt, wenn es einen Residenten nach dem anderen mit Urlaub oder mit Pension abtreten sieht oder zu einem anderen Amte übergehen, ohne daß zur Erleichterung der Lasten, unter denen gebückt es daher geht, irgend etwas geschehe? Muß nicht die gebogene Feder endlich zurückschnellen? Muß nicht die so lange unterdrückte Unzufriedenheit – unterdrückt, damit man darin fortfahren könne, sie zu leugnen – endlich in Wut, in Verzweiflung, in Raserei übergehen? Liegt nicht eine Jacquerie am Ende dieses Weges?

Und wo werden dann die Beamten sein, die seit Jahren aufeinander folgten, ohne je auf den Gedanken zu kommen, daß es doch etwas Höheres giebt als »die Zufriedenheit des General-Gouverneurs,« etwas Höheres als »die Gunst der Regierung?« Wo werden sie stecken, die faulen Berichtschreiber, die mit ihren Lügen die Augen der Regierung verblendeten? Werden sie, die früher keinen Mut hatten, um auf dem Papier ein beherzt Wörtlein zu sprechen, dann zu den Waffen greifen, um die niederländischen Besitzungen für Niederland zu retten? Werden sie Niederland die Schätze [198] zurückgeben, die es braucht, um den Aufruhr zu dämpfen, dem Umsturz zuvorzukommen? Werden sie endlich den Tausenden, die da fielen durch ihre Schuld, das Leben zurückgeben?

Und die Beamten, die Kontroleure und die Residenten sind nicht die Schuldigsten. Es ist die Regierung selber, die, mit unbegreiflicher Blindheit geschlagen, das Einsenden günstiger Berichte ermutigt, herausfordert und belohnt, und besonders ist das der Fall, wo es sich um die Bedrückung des Volkes durch inländische Häupter handelt.

Viele schreiben diese Rücksicht auf die Häupter der unedlen Berechnung zu, daß diese sich mit Glanz und Pracht umgeben müssen, um den Einfluß auf das Volk zu behalten, den die Regierung braucht, und daß sie zu diesem Zwecke eine viel größere Besoldung als jetzt empfangen müßten, wenn man ihnen nicht gestattete, das Fehlende durch unrechtmäßige Verfügung über Besitz und Arbeit des Volkes zu ergänzen. Jedenfalls entschließt sich die Regierung nur ungern, Bestimmungen zu erlassen, die den Javanen gegen Erpressung und Raub schützen. Meistens weiß man in unkontrollierbaren und oft aus der Luft gegriffenen »politischen Gründen« eine Ursache zu finden, um diesen oder jenen Regenten oder Häuptling zu schonen, – und es ist überall in Indien eine ausgemachte Sache, daß die Regierung lieber zehn Residenten wegjagt als einen Regenten. Auch die angeblichen politischen Gründe – wenn sie überhaupt auf irgend etwas beruhen – stützen sich gewöhnlich auf falsche Angaben, denn jeder Resident hat Interesse daran, den Einfluß seiner Regenten auf das Volk recht ins Licht zu setzen, um sich dahinter zu verstecken, wenn später einmal von zu großer Nachsicht gegen die Häupter die Rede sein sollte.

Ich übergehe nun die abscheuliche Heuchelei der menschenfreundlich lautenden Bestimmungen und der Eide, die den Javanen – auf dem Papier – vor Willkür schützen sollen, und ich bitte den Leser, sich zu erinnern, wie Havelaar beim Nachsprechen des Eides etwas Mißachtung zu erkennen gab, – um jetzt nur noch auf das Schwierige der Stellung des Mannes hinzuweisen, der sich ganz anders als durch eine ausgesprochene Formel an seine Pflicht gebunden erachtete.

Und für ihn war die Schwierigkeit sogar noch größer, als sie für viele andere gewesen wäre. Er war von sanfter Gemütsart, ganz im Gegensatz in seinem Verstande, den die Leser wohl als recht scharf kennen gelernt haben. Er hatte also nicht allein mit der Furcht vor Menschen zu kämpfen, [199] oder mit der Sorge um seine Laufbahn oder Beförderung, auch nicht mit seinen Pflichten als Ehemann und Familienvater: er hatte einen Feind in seinem eigenen Herzen zu überwinden. Er konnte nicht Leid sehen, ohne zu leiden, und es würde mich zu weit führen, wenn ich die Beispiele anführen sollte, wie er immer, auch wenn er gekränkt oder beleidigt war, die Partei eines Gegners gegen sich selbst verteidigte. Er erzählte Düclari und Verbrügge, wie er in seiner Jugend im Duell mit dem Säbel etwas Verführerisches gefunden hatte; aber er erzählte ihnen nicht, daß er gewöhnlich in Thränen ausbrach, wenn er seinen Gegner verwundet hatte, und daß er seinen gewesenen Feind pflegte wie eine barmherzige Schwester, bis er genesen war. Ich hätte erzählen können, wie er zu Natal den Kettengänger, der auf ihn geschossen hatte, zu sich nahm, dem Manne freundlich zusprach, ihm zu essen gab und die Freiheit obendrein, weil er zu entdecken meinte, daß die Verbitterung dieses Verurteilten eine Folge eines anderswo gefällten zu strengen Urteils war. Die Sanftheit seines Gemüts wurde gewöhnlich bestritten oder lächerlich gefunden. Bestritten von denen, die sein Herz mit seinem Geist verglichen. Lächerlich gefunden von denen, die nicht begreifen konnten, wie ein vernünftiger Mensch sich Mühe gab, eine Fliege aus dem Spinngewebe zu retten. Verkannt wieder durch alle, – außer Tine – die ihn dann auf die »dummen Tiere« schimpfen hörten, und auf die »dumme Natur,« die solche Tiere schuf.

Noch einen Weg gab es, um ihn von dem Piedestal herunterzuholen, auf das seine Umgebung, mochte sie ihn lieben oder nicht, ihn stellen mußte. »Ja, ja, er ist geistreich, aber es ist Flüchtigkeit in seinem Geist ... er ist verständig, aber er benutzt seinen Verstand nicht gut ... ja, er ist gutherzig, aber ... er kokettiert damit!«

Für seinen Geist, seinen Verstand will ich nicht Partei ergreifen ... aber sein Herz? Arme Fliegen, die er rettete, wenn er ganz allein war, wollt ihr dies Herz gegen den Vorwurf der Koketterie in Schutz nehmen?

Aber ihr seid davongeflogen und habt euch nicht um Havelaar bekümmert – ihr konntet nicht wissen, daß er einmal euer Zeugnis brauchen könnte.

War es Koketterie von Havelaar, als er zu Natal einem Hund – Sappho hieß das Tier – in die Flußmündung nachsprang, weil er fürchtete, daß das noch junge Tier vielleicht nicht so gut schwimmen könnte, um den dort sehr [200] häufigen Haifischen zu entgehen? Ich finde solch Kokettieren mit Gutherzigkeit schwerer glaublich als die Gutherzigkeit selber.

Ich rufe euch, die ihr Havelaar gekannt habt – wenn ihr nicht vor Winterkälte oder Tod steif daliegt, wie die geretteten Fliegen, oder vertrocknet durch die Hitze, da drüben unter der Linie! – gebt Zeugnis von seinem Herzen, alle, die ihr ihn gekannt habt! Jetzt gerade rufe ich euch an mit Vertrauen, weil ihr nicht mehr nötig habt, nach der Stelle zu suchen, wo der Strick eingehakt werden muß, um ihn, von welch niedriger Höhe auch, herunterzureißen.

Inzwischen, möge es auch bunt erscheinen, will ich hier einigen Zeilen von seiner Hand Raum geben, die solche Zeugnisse vielleicht überflüssig machen.

Max war einmal weit, weit fort von Weib und Kind. Er hatte sie in Indien zurücklassen müssen und befand sich in Deutschland. Mit der schnellen Auffassung, die ich ihm zuerkenne, für die ich aber nicht eintreten will, wenn man sie antasten will, eignete er sich die Sprache des Landes an, in dem er einige Monate gelebt hatte. Hier sind die Zeilen, die zugleich die Innigkeit des Bandes zeigen, das ihn mit den Seinigen verband.


»Mein Kind, da schlägt die neunte Stunde, hör!

Der Nachtwind säuselt und die Luft wird kühl,

Zu kühl für dich vielleicht, dein Stirnchen glüht:

Du hast den ganzen Tag so wild gespielt,

Du bist wohl müde, komm, dein Tikar harret.« –

– »Ach, Mutter, laß mich noch ein'n Augenblick;

Es ist so sanft zu ruhen hier – und dort,

Da drin auf meiner Matte schlaf' ich gleich,

Und weiß nicht einmal, was ich träumte, – hier

Kann ich doch gleich dir sagen, was ich träumte,

Und fragen, was mein Traum bedeutet – – hör',

Was war das?« –

– »'s war ein Klapper, der da fiel.« –

– »Thut das dem Klapper weh?« –

– »Ich glaube nicht,

[201]

Man sagt, die Frucht, der Stein hat kein Gefühl.« –

– »Doch eine Blume, fühlt die auch nicht?« –

– »Nein,

Man sagt, sie fühlt nicht.« –

– »Warum denn, Mutter,

Als gestern ich die Pukul-ampat brach,

Hast du gesagt: es thut der Blume weh!« –

– »Mein Kind, die Pukul-ampat war so schön,

Du zogst die zarten Blättchen roh entzwei,

Das that mir für die arme Blume leid.

Wenn gleich die Blume selbst es nicht gefühlt,

Ich fühlt' es für die Blume, weil sie schön war.« –

– »Doch, Mutter, bist du auch schön?« –

– »Nein, mein Kind,

Ich glaube nicht.« –

– »Allein, du hast Gefühl?« –

– »Ja, Menschen haben's, doch nicht alle gleich.« –

– »Und kann dir etwas weh thun? Thut dir's weh,

Wenn dir im Schoß so schwer mein Köpfchen ruht?« –

– »Nein, das thut mir nicht so!« –

– »Und, Mutter, ich,

Hab' ich Gefühl?« –

– »Gewiß, erinnere dich,

Wie du gestrauchelt einst, – an einem Stein

Dein Händchen hast verwundet und geweint.

Auch weintest du, als Sudin dir erzählte,

Daß auf den Hügeln dort ein Schäflein tief

In eine Schlucht hinunterfiel und starb;

Da hast du lang geweint, – das war Gefühl.« –

– »Doch, Mutter, ist Gefühl denn Schmerz?« –

– »Ja, oft,

Doch immer nicht, – bisweilen nicht! Du weißt,

Wenn's Schwesterlein dir in die Haare greift

Und krähend dir's Gesichtchen nahe drückt,

Dann lachst du freudig, das ist auch Gefühl.« –

– »Und dann, mein Schwesterlein – es weint so oft –

Ist das vor Schmerz? – hat sie denn auch Gefühl?« –

– »Vielleicht, mein Kind, wir wissen's aber nicht,

Weil sie, so klein, es noch nicht sagen kann.« –

– »Doch, Mutter – – – höre, was war das?« –

– »Ein Hirsch,

Der sich verspätet im Gebüsch und jetzt

Mit Eile heimwärts kehrt und Ruhe sucht

[202]

Bei andern Hirschen, die ihm lieb sind.« –

– »Mutter,

Hat solch ein Hirsch ein Schwesterlein wie ich?

Und eine Mutter auch?« –

– »Ich weiß nicht, Kind.« –

– »Das würde traurig sein, wenn' nicht so wäre!

Doch, Mutter, sieh, was schimmert dort im Strauch,

Sieh, wie es hüpft und tanzt – ist das ein Funken?« –

– »s' ist eine Feuerfliege.« –

– »Darf ich's fangen?« –

– »Du darfst es, doch das Flüglein ist so zart,

Du wirst gewiß ihm weh thun, und sobald

Du's mit den Fingern allzu roh berührt,

Ist's Tierchen krank, und stirbt und glänzt nicht mehr.« –

– »Das würde schade sein – ich fang' es nicht – –

Sieh, da verschwand es, – – nein, es kommt hierher, – –

Ich fang' es doch nicht – – wieder fliegt es fort,

Und freut sich, daß ich' nicht gefangen habe, – –

Da fliegt es – hoch – da oben – was ist das,

Sind das auch Feuerflieglein dort?« –

– »Das sind

Die Sterne.« –

– »Eins und zwei und zehn und tausend –

Wie viel denn sind wohl da?« –

– »Ich weiß es nicht;

Der Sterne Zahl hat niemand noch gezählt!« –

– »Sag, Mutter, zählt auch Er die Sterne nicht?«

– »Nein, liebes Kind, auch Er nicht.« –

– »Ist das weit,

– Dort oben, wo die Sterne sind?« –

– »Sehr weit.« –

– »Doch haben diese Sterne auch Gefühl?

Und würden sie, wenn ich sie mit der Hand

Berührte, gleich ertranken und den Glanz

Verlieren, wie das Flieglein? – – Sieh, noch schwebt es –

Sag, würd' es auch den Sternen weh thun?« –

– »Nein,

Weh thut's den Sternen nicht – doch ist's zu weit

Für deine kleine Hand, du reichst so hoch nicht.« –

– »Kann Er die Sterne fangen mit der Hand?« –

– »Auch Er nicht, das kann niemand.« –

– »Das ist schade,

Ich gäb' so gern dir einen – – – wenn ich groß bin

[203]

Dann will ich so dich lieben, daß ich's kann.« –

Das Kind schlief ein und träumte von Gefühl,

Von Sternen, die es faßte mit der Hand. – – –

Die Mutter schlief noch lange nicht!

Doch träumte

Auch sie und dacht' an den, der fern war – – –


Ja, auf die Gefahr, etwas bunt zu erscheinen, habe ich diese Zeilen hier eingefügt. Ich möchte keine Gelegenheit versäumen, den Mann zu zeigen, der in meiner Geschichte die Hauptrolle spielt, damit der Leser ihm Teilnahme schenke, wenn sich später dunkle Wolken über seinem Haupte zusammen ziehen.

Fünfzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel.

Stern fährt fort. Havelaars Brief an Verbrügge. Was ihn hinderte, gegen den Regenten vorzugehen.


Havelaars Vorgänger, der das Gute wollte, aber zugleich einige Furcht vor der hohen Ungnade der Regierung hatte – der Mann hatte viel Kinder und kein Vermögen – hatte also lieber mit dem Residenten über das, was er weitgehende Mißbräuche nannte, gesprochen, anstatt es gerade heraus in einem offiziellen Berichte darzulegen. Er wußte, daß ein Resident nicht gern einen schriftlichen Bericht empfängt, der dann in seinem Archiv liegen bleibt und später ein Beweis sein kann, daß er rechtzeitig auf diese oder jene Verkehrtheit aufmerksam gemacht worden ist, während eine mündliche Mitteilung ihm, ohne Gefahr, die Wahl läßt; ob er einer Klage Folge geben will oder nicht. Solche mündliche Besprechungen hatten gewöhnlich eine Unterhaltung mit dem Regenten zur Folge, der natürlich alles leugnete und Beweise verlangte. Dann wurden die Leute aufgerufen, die die Frechheit hatten, sich zu beklagen, und, indem sie sich dem Adhipatti zu Füßen warfen, baten sie flehentlich um Verzeihung. »Nein, der Büffel war ihnen nicht geraubt worden, sie glaubten sicher, daß dafür ein doppelter Preis bezahlt werden würde.« »Nein, sie waren nicht von ihren Feldern weggeholt worden, um in den Sawahs des Regenten ohne Lohn zu arbeiten, sie wußten sehr gut, daß der Adhipatti sie später reichlich bezahlt haben würde.« »Sie hatten ihre Klage in [204] einem Augenblick frevelhafter Widersetzlichkeit eingebracht, sie wären wahnsinnig gewesen und fühlten, daß man sie für ihre grenzenlose Unehrerbietigkeit strafen müsse ...«

Dann wußte der Resident ganz gut, was er über die Zurückziehung der Klage zu denken hatte, aber diese Zurückziehung gab ihm nichtsdestoweniger eine schöne Gelegenheit, den Regenten in Amt und Ehre zu halten, und ihm selber war die unangenehme Pflicht erspart, die Regierung mit ungünstigen Berichten zu »bemühen.« Der ruchlose Ankläger wurde mit Stockschlägen bestraft, der Regent hatte triumphiert, und der Resident kehrte nach dem Hauptorte zurück mit dem angenehmen Bewußtsein, diese Sache wieder einmal recht gut »geschoben« zu haben.

Aber was sollte nun der Adsistent-Resident thun, wenn tags darauf sich wieder andere Kläger bei ihm meldeten? Oder, und das geschah oft, wenn dieselben Kläger wiederkehrten und die Zurückziehung zurückzogen? Sollte er dieselbe Sache wieder in sein Notizbuch schreiben, um darüber noch einmal mit dem Residenten zu sprechen, um wieder dieselbe Komödie sich abspielen zu sehen, um schließlich für einen Beamten zu gelten, der fortwährend dumme und bösartige Beschuldigungen vorbrachte, die fortwährend als grundlos abgewiesen werden mußten? Und was sollte aus den so notwendigen freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem vornehmsten inländischen Haupte und dem ersten europäischen Beamten werden, wenn dieser fortgesetzt falschen Anklagen gegen dieses Haupt Gehör zu geben schien? Und was sollte vor allem aus den armen Klägern werden, wenn sie in ihr Dorf, unter die Macht des Distrikts- oder Dorfoberhaupts, zurückgekehrt waren, das sie als Vollstrecker der Willkür des Regenten angeklagt hatte?

Was aus diesen Klägern wurde? Wer flüchten konnte, flüchtete. Darum gab es so viele Bantamer in den Nachbarprovinzen. Darum waren so viele Leute aus Lebak unter den Aufständischen in den Lampongschen Distrikten. Darum hatte Havelaar in seiner Ansprache an die Häupter gefragt: »Wie kommt es, daß so viel Häuser leer stehen in den Dörfern? Und warum ziehen viele den Schatten der Büsche anderswo der Waldeskühle von Bantan-Kidul vor?«

Nicht jeder aber konnte flüchten. Der Mann, dessen Leiche des Morgens den Fluß hinabstieg, nachdem er am Abend vorher, im geheimen, ängstlich den Adsistent-Residenten um Gehör gebeten hatte,der hatte keine Sorge mehr um [205] die Flucht. Vielleicht war es als Humanität zu achten, ihn durch sofortigen Tod seiner weiteren Lebenszeit zu entziehen. Ihm blieb die Mißhandlung erspart, die ihn bei der Rückkehr in sein Dorf erwartete, und die Stockschläge, die die Strafe waren für alle, die einen Augenblick meinen konnten, kein Tier, kein unbeseeltes Stück Holz oder Stein zu sein, die Strafe derer, die in einem Augenblick des Wahnsinns geglaubt hatten, es wäre Recht im Lande und der Adsistent-Resident hätte Willen und Macht, das Recht zu handhaben.

War es nicht in der That besser, diesen Mann zu hindern, am folgenden Tage zum Adsistent-Residenten wieder zu kommen wie dieser ihm am Abend sagen ließ? War es nicht besser, seine Klage in dem gelben Wasser des Tjudjung zu ersticken, der ihn sachte nach seiner Mündung hinabtragen würde, er, der es gewohnt war, der Überbringer solcher brüderlichen Grüße und Geschenke von den Haifischen des Binnenlandes an die Haie der See zu sein?

Und Havelaar wußte das alles! Fühlt der Leser, was in seinem Gemüt vorging, als er dachte, daß er berufen sei, Recht zu üben, und daß er dafür einer höheren Macht, als die der Regierung ist, verantwortlich war, die wohl das Recht in ihren Gesetzen vorschrieb, aber seine Anwendung nicht immer gern sah? Fühlt man, wie er durch Zweifel gequält wurde, nicht was er zu thun habe, sondern wie er es thun sollte?

Er hatte mit Sanftmut angefangen. Er hatte zu dem Adhipatti als »älterer Bruder« gesprochen, und wer etwa dächte, daß ich, für den helden meiner Geschichte voreingenommen, seine Redeweise über das Maß erheben möchte, der höre, wie einst nach solcher Unterhaltung der Regent seinen Patteh zu ihm schickte, um ihm für das Wohlwollen in seinen Worten zu danken, und wie dieser Patteh noch lange danach, als er mit dem Kontroleur Verbrügge sprach, nachdem Havelar schon aufgehört hatte, Adsistent-Resident von Lebak zu sein, als man also von ihm nichts mehr zu hoffen oder zu fürchten hatte, – wie dieser Patteh bei der Erinnerung an diese Worte gerührt war und ausrief: »Noch niemals hat ein einziger Herr gesprochen wie er!«

Ja, er wollte retten, ordnen, nicht verderben.

Er hatte Mitleid mit dem Regenten. Er, der wußte, wie Geldmangel drücken kann, vor allem wo er zur Erniedrigung und Schmach führt, suchte nach Entschuldigungsgründen. Der Regent war alt und das Haupt eines Geschlechtes, das in [206] benachbarten Provinzen auf großem Fuße lebte, dort, wo viel Kaffee geerntet wurde und viele Bezüge abfielen. War es nicht drückend für ihn, in seiner Lebensweise seinen jüngeren Verwandten gegenüber zurückstehen zu müssen? Dazu war er ein religiöser Schwärmer und meinte, mit zunehmendem Alter das Heil seiner Seele durch bezahlte Wallfahrten nach Mekka und durch Almosen an Gebete singende Faulenzer erkaufen zu können. Die Beamten, die Havelaar in Lebak vorangegangen waren, hatten nicht immer ein gutes Beispiel gegeben und schließlich, die zahlreiche Lebaksche Familie des Regenten die ganz auf seine Kosten lebte, erschwerte ihm das Zurückkehren zum guten Wege sehr.

So suchte Havelaar nach Gründen, um alle Strenge beiseite zu lassen, und noch einmal zu versuchen, was mit Milde ausgerichtet werden könnte.

Und er ging noch weiter. Mit einem Edelmut, der an die Fehler erinnerte, die ihn so arm machten, schoß er dem Regenten immer wieder auf eigene Verantwortung Geld vor, damit ihn die Not nicht zu stark zum Mißbrauch drängte, und er vergaß sich selbst wie gewöhnlich so sehr, daß er sich erbot, sich und die Seinen auf das Nötigste einzuschränken, um dem Regenten mit dem Wenigen, was er von seinen Einkünften noch absparen konnte, zu Hilfe zu kommen.

Falls es noch nötig sein sollte, um die Milde zu beweisen, mit der Havelaar seine schwere Pflicht erfüllte, könnte der Beweis geliefert werden in einer mündlichen Botschaft, die er dem Kontroleur auftrug, als dieser auf einige Tage einmal nach Serang mußte. »Sagen Sie dem Residenten, wenn er von den Mißbräuchen höre, die hier herrschen, möge er nicht glauben, daß ich dagegen gleichgültig bin. Ich mag jetzt nicht offiziell davon Meldung machen, weil ich den Regenten, mit dem ich Mitleid habe, vor zu großer Strenge zu bewahren wünsche; ich will es erst versuchen, ihn mit Milde zu seiner Pflicht zu bringen.«

Havelaar war oft ganze Tage hintereinander fort. Wenn er zu Hause war, fand man ihn meist in dem Zimmer, das wir auf unserem Plan durch das siebente Fach bezeichnet finden. Dort schrieb er gewöhnlich und empfing die Personen, die um Gehör bitten ließen. Er hatte diese Stelle gewählt, weil er da in der Nähe seiner Tine war, die sich gewöhnlich im Zimmer nebenan aufhielt. Denn so innig waren sie verbunden, daß Max, auch wenn er mit Arbeiten beschäftigt war, die Aufmerksamkeit und Anstrengung erforderten, immer [207] das Bedürfnis hatte, sie zu sehen oder zu hören. Es war oftmals komisch, wenn er plötzlich ein Wort an sie richtete, das in seinen Gedanken über den Gegenstand, der ihn beschäftigte, gerade aufstieg, und wie schnell sie, ohne zu wissen, um was es sich handelte, den Sinn seiner Meinung zu erfassen wußte, die er ihr dann auch gewöhnlich nicht weiter erläuterte, als spräche es von selbst, daß sie wüßte, was er meinte. Oftmals auch, wenn er mit seiner eigenen Arbeit oder mit irgend einem soeben erhaltenen verdrießlichen Bericht unzufrieden war, sprang er auf und sagte etwas Unfreundliches zu ihr, die doch an seiner Unzufriedenheit keine Schuld trug. Aber das hörte sie gern, weil es ein Beweis mehr war, wie Max sie mit sich selbst verwechselte. Und nie war die Rede von Reue über solche scheinbare Härte oder von Vergebung auf der anderen Seite. Das würde ihnen so vorgekommen sein, als hätte jemand sich selbst um Verzeihung gebeten, weil er im Ärger sich an seinen eigenen Kopf geschlagen hatte.

Sie kannte ihn denn auch so gut, daß sie ganz genau wußte, wann sie da sein mußte, um ihm einen Augenblick Erholung zu verschaffen, – daß sie ebenso genau wußte, wenn er ihren Rat brauchte, und nicht minder, wenn sie ihn allein lassen mußte.

In diesem Zimmer saß Havelaar eines Morgens, als der Kontroleur eintrat mit einem soeben empfangenen Briefe in der Hand.

»Das ist eine schwere Sache,« sagte er beim Eintritt, »sehr schwierig!«

Wenn ich nun sage, daß der Brief einfach den Auftrag enthielt, Havelaar anzugeben, woher die Veränderung in dem Preise von Holz und Arbeitslohn kam, wird der Leser meinen, daß der Kontroleur Verbrügge recht bald etwas schwierig fand. Ich beeile mich daher, beizufügen, daß viele andere eine ebenso große Schwierigkeit in der Beantwortung dieser einfachen Frage gefunden hätten.

Vor einigen Jahren war in Rangkas-Betung ein Gefängnis gebaut worden. Nun ist allgemein bekannt, daß die Beamten in den Binnenländern Javas die Kunst verstehen, Gebäude aufzurichten, die Tausende wert sind, ohne mehr als ebenso viele Hunderte auszugeben. Man bekommt dadurch den Ruf von Geschicklichkeit und Eifer für des Landes Dienst. Der Unterschied zwischen den verwendeten Geldern und dem Wert dessen, was man dafür bekommen hat, wird durch [208] unbezahlte Lieferung oder unbezahlte Arbeit ausgeglichen. Seit einigen Jahren giebt es Vorschriften, die das verbieten. Ob man sie beachtet, ist hier nicht die Frage, ebensowenig, ob die Regierung selbst will, daß man sie mit einer Genauigkeit befolgt, die das Budget des Baudepartements belasten würde. Es wird wohl damit auch so sein wie mit allen anderen Vorschriften, die auf dem Papier sich so human ausnehmen.

Nun mußten zu Rangkas-Betung viele Baulichkeiten errichtet werden, und die Ingenieure, die zum Entwerfen der Pläne aufgefordert waren, hatten natürlich Angaben über die ortsüblichen Preise der Arbeitslöhne und der Materialien eingefordert. Havelaar hatte den Kontroleur mit einer gewissenhaften Untersuchung beauftragt und ihm anbefohlen, die Preise der Wahrheit gemäß, ohne Rücksicht auf das, was früher geschah, abzugeben, und Verbrügge hatte den Auftrag ausgeführt. Indessen kamen nun die Preise mit denen von einigen Jahren früher nicht überein. Es wurde nach dem Grunde dieses Unterschieds gefragt, und das fand Verbrügge so schwierig. Havelaar, der sehr wohl wußte, was hinter der scheinbar einfachen Sache steckte, antwortete, er werde ihm seine Gedanken über diesen schwierigen Fall schriftlich zugehen lassen, und ich finde unter den vor mir liegenden Schriftstücken eine Abschrift des Briefes, der die Folge von dieser Ankündigung gewesen zu sein scheint.

Sollte der Leser sich beklagen, daß ich ihn mit einer Korrespondenz über Holzarbeiten aufhalte, womit er scheinbar nichts zu schaffen hat, so muß ich ihn schon bitten, nicht außer acht zu lassen, daß es sich hier eigentlich um etwas ganz anderes handelt, nämlich um den Zustand des amtlichen indischen Staatshaushalts, und daß der Brief, den ich mitteile, nicht allein einen Lichtstrahl auf den künstlichen Optimismus wirft, von dem ich sprach, sondern gleichzeitig die Schwierigkeiten schildert, mit denen jemand wie Havelaar, der geradeaus und ohne Umsehen seinen Weg gehen wollte. zu kämpfen hatte.


Nr. 114.

Rangkas-Betung, 15. März 1856.


An den Kontroleur von Lebak.


Als ich den Brief des Direktors der öffentlichen Arbeiten, vom 16. Februar d.J., Nr. 271/354, an Sie weitergab, habe ich Sie ersucht, die Anfragen nach Rücksprache mit dem [209] Regenten zu beantworten, und dabei zu beachten, was ich in meinem Missive von 5. d. Mts., Nr. 97, schrieb.

Dieses Missive enthielt einige allgemeine Winke, was als billig und angemessen zu betrachten wäre, bei der Festsetzung der Preise der Materialien, durch die Bevölkerung zu liefern, an und zu Lasten der Regierung.

In Ihrem Missive vom. 8. d.M., Nr. 6, haben Sie dem entsprochen, und wie ich glaube, nach bestem Wissen, sodaß ich, im Vertrauen auf Ihre und des Regenten örtliche Kenntnis, die Aufstellungen, wie von Ihnen erhalten, dem Residenten überreicht habe.

Darauf folgte ein Missive von diesem Vorgesetzten, vom 11. d.M., Nr. 326, in dem Aufklärung verlangt wurde, betreffend die Ursache des Unterschieds zwischen den durch mich aufgeführten Preisen und denen, die in 1854 und 55, den beiden vorigen Jahren, bei Erbauung einer Gefangenen- Anstalt, eingestellt waren.

Ich stellte natürlich diesen Brief Ihnen zu Händen, und beauftragte Sie mündlich, nunmehr Ihre Angaben zu justifizieren, was Ihnen um so leichter fallen mußte, als Sie sich auf die Vorschriften, gegeben in meinem Schreiben vom 5. d.M., und von uns mehrfach mündlich besprochen, berufen durften.

Bis hierher ist alles einfach und ordnungsmäßig.

Aber gestern kamen Sie auf mein Bureau, mit dem zurückgeschickten Brief des Residenten in der Hand, und begann über die Schwierigkeit der Erledigung des darin Vorkommenden zu sprechen. Ich beobachte bei Ihnen wiederum eine gewisse Scheu, einige Dinge beim wahren Namen zu nennen; etwas, auf was ich Sie schon mehrfach aufmerksam machte, unter anderem kürzlich in Gegenwart des Residenten, – etwas, was ich zur Abkürzung Halbheit nenne, und wogegen ich Sie schon oft freundlichst vermahnte.

Halbheit führt zu nichts. Halb gut ist nicht gut. Halb wahr ist unwahr.

Für volles Gehalt, für vollen Rang, nach einem deutlichen vollständigen Eide thue man seine volle Pflicht.

Ist etwas Mut nötig, um sie auszuführen: man besitze diesen Mut.

Ich für mich würde nicht den Mut haben, dieses Muts zu ermangeln. Denn, abgesehen von der Unzufriedenheit mit sich selbst, die eine Folge von Pflichtversäumnis und Lauheit ist, bringt das Suchen nach bequemen Umwegen, die Sucht [210] überall und immer Unannehmlichkeiten zu entgehen, der Wunsch »sich zu drücken,« mehr Sorgen und in Wirklichkeit mehr Gefahr mit sich, als man auf dem geraden Wege treffen wird.

Während des Verlaufs einer sehr wichtigen Angelegenheit, die jetzt bei dem Gouvernement in Erwägung ist, und mit der Sie eigentlich von Amts wegen befaßt sein müßten, habe ich Sie stillschweigend gewissermaßen neutral gehalten und nur im Scherz von Zeit zu Zeit darauf angespielt.

Als, zum Beispiel, unlängst Ihr Bericht über die Ursachen von Mangel und Hungersnot unter der Bevölkerung bei mir eingelaufen war, und ich darauf schrieb: »Das könnte wohl alles die Wahrheit sein, aber es ist nicht die ganze Wahrheit, nicht die vornehmste Wahrheit; die Hauptsache steckt tiefer,« – stimmten Sie vollständig bei, und ich machte keinen Gebrauch von meinem Recht, zu fordern, daß Sie nun auch die Hauptwahrheit nennen sollten.

Ich hatte zu dieser Nachsicht viele Gründe, und unter anderen diesen, daß ich es unbillig fand, von Ihnen auf einmal etwas zu verlangen, was viele andere an Ihrer Stelle ebenso wenig leisten würden: Sie zu zwingen, auf einmal einer Routine von Zurückhaltung und Menschenfurcht lebewohl zu sagen, die nicht Ihre Schuld ist, sondern der Leitung, die Ihnen zu teil wurde. Ich wollte endlich Ihnen erst ein Beispiel geben, wie viel einfacher und leichter es ist, seine Pflicht ganz zu thun, als halb.

Jetzt jedoch, da ich die Ehre habe, Sie wieder so viele Tage länger unter meinen Befehlen zu sehen, und nachdem ich Ihnen wiederholentlich Gelegenheit geboten habe, Prinzipien kennen zu lernen, die – es sei denn, ich irre – zuletzt siegen sollen, wünschte ich, daß Sie die annähmen, daß Sie sich die nicht fehlende, aber in den Winkel geratene Kraft zu eigen machten, die nötig scheint, um stets nach bestem Gewissen geradeheraus zu sagen, was zu sagen ist, und daß Sie daher diese unmännliche Scheu, dreist mit einer Sache herauszukommen, ganz und vollständig fahren ließen.

Ich erwarte daher von Ihnen eine einfache aber vollständige Angabe dessen, was Ihnen die Ursache des Preisunterschiedes von heute und 1854/55 zu sein scheint.

Ich hoffe ernsthaft, daß Sie von keinem einzigen Satze dieses Briefes annehmen werden, er sei bestimmt, um Sie zu kränken. Ich hoffe, daß Sie mich genügend kennen gelernt haben, um zu wissen, daß ich nicht mehr und nicht weniger [211] sage, als ich meine, und obendrein gebe ich Ihnen zum Überfluß die Versicherung, daß meine Bemerkungen eigentlich weniger Sie betreffen als die Schule, in der Sie zum indischen Beamten herangebildet sind.

Dieser »mildernde Umstand« müßte indessen in Fortfall kommen, wenn Sie, länger mit mir im Verkehr, und im Dienste des Gouvernements unter meiner Leitung, fortführen, den Schlendrian mitzumachen, gegen den ich kämpfe.

Sie haben wohl gemerkt, daß ich das »Euer Wohledelgestrengen« weggelassen habe; es war mir langweilig. Thun Sie es auch, und lassen Sie uns unsere »Wohledelheit« und, wo es nötig ist, unsere »Strenge« wo anders und in anderer Weise zeigen, als in der albernen, sinnstörenden Titulatur.

Der Adsistent-Resident von Lebak.

(gez.) Max Havelaar.


Die Antwort auf diesen Brief warf die Schuld auf einige von Havelaars Vorgängern, und bewies, daß er nicht so unrecht hatte, wenn er die schlechten Beispiele früherer Zeiten mit unter die Gründe aufnahm, die für die Schonung des Regenten sprachen.

Ich bin bei der Mitteilung dieses Briefes der Zeit vorausgeeilt, um schon jetzt ins Auge fallen zu lassen, wie wenig Hilfe Havelaar von dem Kontroleur zu erwarten hatte, wenn ganz andere, wichtigere Dinge beim rechten Namen genannt werden müßten. Man kann sich das vorstellen, wenn man sieht, wie er, der ohne Zweifel ein braver Mensch war, so ermutigt wer den mußte, wo es sich doch bloß um die Preise von Holz, Steinen, Kalk und Arbeitslohn drehte. Und man sieht, wie Havelaar nicht allein mit der Macht der Personen zu kämpfen hatte, die von den Mißbräuchen Vorteile genossen, sondern zugleich mit der Furchtsamkeit derer, die, wenn sie auch diese Mißbräuche ebenso sehr verabscheuten wie er, sich doch nicht berufen oder geeignet fühlten, mit Mut dagegen aufzutreten.

Vielleicht wird man, wenn man diesen Brief liest, auch ein wenig von der Verachtung gegen die sklavische Unterwürfigkeit des Javanen zurückkommen, der, in Gegenwart seines angestammten Hauptes, die eingebrachte, noch so begründete Anklage feige zurücknimmt. Wenn man bedenkt, daß selbst für den europäischen Beamten, der doch der Rache etwas weniger preisgegeben war, so viel Grund zur Furcht war, was erwartete dann den armen Landbewohner, der in einem [212] Dorfe, weitab vom Hauptorte, ganz und gar der Macht seiner angeklagten Unterdrücker verfallen war? Ist es ein Wunder, daß diese armen Burschen, in Angst wegen der Folgen ihrer Kühnheit, diese Folgen durch demütige Unterwerfung zu vermeiden oder zu mildern suchten?

Und es war nicht allein der Kontroleur Verbrügge, der seine Pflicht that mit einer Scheu, die an Pflichtvergessenheit grenzen konnte. Auch der Djaksa, das inländische Haupt, das beim Rate des Landes das Amt eines öffentlichen Anklägers versieht, trat am liebsten des Abends, ungesehen und ohne Begleitung, in Havelaars Haus. Er, der auf Diebstahl passen sollte, dem aufgetragen war, den schleichenden Dieb zu fangen, schlich, als wäre er selbst der Dieb, der gefaßt zu werden fürchtete, mit leisem Tritt von der hinteren Seite in das Haus, nachdem er sich erst vergewissert hatte, daß kein Besuch da war, der ihn später, als der Pflichterfüllung schuldig, hätte verraten können.

War es ein Wunder, daß Havelaars Seele betrübt war, und daß Tine öfter als sonst in sein Zimmer treten mußte, um ihn aufzumuntern, wenn sie ihn da sitzen sah, den Kopf in die Hand gestützt?

Und die größte Sorge lag für ihn nicht einmal in der Furchtsamkeit derer, die ihm zur Seite standen, oder in der mitschuldigen Feigheit derer, die seine Hilfe angerufen hatten. Nein, ganz allein hätte er im Notfalle Recht geschaffen, ohne oder mit Hilfe von anderen, ja gegen alle, selbst gegen die, die das Recht nötig hatten. Denn er wußte, wie er Einfluß hatte auf das Volk, und wie er – wenn einmal die armen Unterdrückten, aufgefordert, laut vor Gericht zu wiederholen, was sie ihm abends und nacht in der Einsamkeit zugeflüstert hatten – er wußte, wie er die Macht hatte, dann auf ihr Gemüt zu wirken, und wie die Kraft seiner Worte stärker sein würde als die Angst vor Distriktshaupt und Regent. Die Furcht, daß seine Schützlinge von ihrer eigenen Sache abfallen könnten, hinderte ihn daher nicht. Aber es kostete ihn zu viel, diesen alten Adhipatti anzuklagen: das war der Grund seines Zwiespalts – denn auf der anderen Seite mochte er nicht zugeben, daß die ganze Bevölkerung, abgesehen von ihrem guten Recht, ebenso sehr Anspruch auf Mitleid hatte.

Furcht vor eigenem Leid hatte keinen Teil an seinem Zweifel. Denn wußte er auch, wie ungern im allgemeinen die Regierung einen Regenten anklagen sieht, und wie viel [213] leichter es fällt, den europäischen Beamten brotlos zu machen, als ein inländisches Haupt zu bestrafen, hatte er doch einen besonderen Grund, um zu glauben, daß gerade in diesem Augenblick bei der Beurteilung einer solchen Sache andere Grundsätze als gewöhnlich herrschen würden. Allerdings würde er auch ohne diese Meinung ebenso gut seine Pflicht gethan haben: um so lieber sogar, als er die Gefahr für sich und die Seinen größer geachtet hätte denn je. Wir sagten schon, wie Schwierigkeiten ihn reizten, wie er nach Aufopferung dürstete. Aber er meinte, daß das Verführerische eines Opfers hier nicht vorhanden war, und fürchtete, wenn er am Ende zu ernstlichem Kampf gegen das Unrecht vorgehen müsse, das ritterliche Bewußtsein entbehren zu müssen, daß er den Streit als der Schwächere angefangen habe.

Ja, das fürchtete er. Er glaubte, daß an der Spitze der Regierung ein General-Gouverneur stünde, der sein Bundesgenosse sein würde, und es war eine Eigentümlichkeit mehr in seinem Charakter, daß diese Meinung ihn länger, als es sonst der Fall gewesen wäre, von strengen Maßregeln zurückhielt; es war nicht sein Fall, das Unrecht in einem Augenblick anzugreifen, da er das Recht für stärker hielt als gewöhnlich.

Ich sagte schon einmal bei dem Versuche seiner Charakteristik, daß er naiv war, bei all seiner Schärfe.

Ich will versuchen zu erklären, wie Havelaar zu der Ansicht gekommen war.


* * *


Sehr wenig europäische Leser können sich eine richtige Vorstellung machen, wie hoch ein General-Gouverneur stehen muß, um nicht unter dem Niveau seiner Untergebenen zu bleiben, und es soll deshalb auch kein strenges Urteil sein, wenn ich die Ansicht anfüge, daß sehr wenige vielleicht kein einziger, einer so hohen Anforderung hat entsprechen können. Um nicht die Eigenschaften von Kopf und Herz, die dazu erforderlich sind, anzuführen, wende man den Blick lediglich auf die schwindelnde Höhe, auf die so plötzlich der Mann gestellt wird, der – gestern noch ein einfacher Bürger – heute Macht hat über Millionen Unterthanen. Er, der vor kurzer Zeit noch unter seiner Umgebung verschwand, ohne sich [214] irgendwie in Rang oder Macht auszuzeichnen, fühlt sich mit einmal, meist unerwartet, über eine Menge emporgehoben, die unendlich größer ist als der kleine Kreis, der ihn früher doch dem Auge ziemlich verbarg. Und ich glaube, daß ich nicht zu unrecht die Höhe schwindelnd nannte; sie erinnert wirklich an den Schwindel jemandes, der unerwartet einen Abgrund vor sich sieht, oder an die Blindheit, die uns trifft, wenn wir mit Plötzlichkeit aus tiefer Finsternis in scharfes Licht gebracht werden. Gegen solche Übergänge sind die Nerven von Auge und Hirn nicht gewappnet, wären sie auch übrigens von außergewöhnlicher Stärke.

Bringt also die Ernennung zum General-Gouverneur oftmals die Ursachen des Verderbs auch desjenigen mit sich, der in Verstand oder Gemüt hervorragend begabt war: was ist da von Personen zu erwarten, die schon vor der Ernennung an vielen Schwächen litten? Und nehmen wir an, daß der König wirklich immer gut unterrichtet sei, bevor er seinen hohen Namen unter die Akte setzt, in der er sagt: er sei überzeugt von der »guten Treue, dem Eifer und der Tauglichkeit« des erwähnten Statthalters; und nehmen wir an, daß der neue Vicekönig wirklich eifrig treu und tauglich ist, dann bleibt doch die Frage, ob der Eifer oder vor allem die Tauglichkeit bei ihm in einem genügend hohen, über die Mittelmäßigkeit erhabenen Maße vorhanden ist, um den Erfordernissen seiner Berufung zu genügen.

Denn die Frage kann nicht die sein, ob der Mann, der zu 's Gravenhage das Kabinett des Königs verläßt, auf den Augenblick die Tauglichkeit besitzt, die für sein neues Amt nötig sein wird: – das ist unmöglich. Mit der Kundgebung des Vertrauens auf seine Tauglichkeit kann nur die Meinung vertreten sein, daß er in einem ganz neuen Wirkungskreis, in einem gegebenen Augenblick, sozusagen durch Eingebung, wissen wird, was er in 's Gravenhage nicht gelernt haben kann, – mit anderen Worten: daß er ein Genie ist, das auf einmal kennen und können muß, was es bisher weder kannte noch konnte. Solche Genies sind selten, selbst unter Personen, die bei Königen in Gunst stehen.

Da ich von Genies sprach, merkt man wohl, daß ich davon absehen will, was von manchem Landvogt zu sagen wäre. Auch würde es nicht passen, in mein Buch Seiten einzufügen, die den ernsten Zweck dem Verdacht der Skandalsucht preisgeben würden. Ich übergehe daher die Besonderheiten, die sich auf bestimmte Personen beziehen würden. Aber als allgemeine [215] Krankheitsgeschichte des Zustandes der Gene ral-Gouverneure glaube ich angeben zu können:

Erstes Stadium. Schwindel. Weihrauchtrunkenheit. Eigenwahn. Maßloses Selbstvertrauen. Mißachtung anderer, besonders »Altgedienter.«

Zweites Stadium. Ermattung. Furcht. Mutlosigkeit. Neigung zu Schlaf und Ruhe. Übermäßiges Vertrauen auf den Rat von Indien. Heimweh nach einem holländischen Landsitz.

Zwischen den beiden Stadien, und vielleicht als Ursache des Übergangs, liegen dysenterische Leibesbeschwerden.

Ich denke, daß viele in Indien mir für diese Diagnose dankbar sein werden. Sie ist nützlich zu verwenden. Denn man kann ziemlich sicher annehmen, daß der Kranke, der in der ersten Periode, während der Überspannung, an einer Mücke ersticken würde, später, nach der Bauchkrankheit, ohne Beschwer Kamele vertragen kann. Oder, um deutlicher zu sprechen, daß ein Beamter, der »Geschenke annimmt, ohne den Zweck, sich zu bereichern,« sagen wir ein Büschel Bananen im Werte von ein paar Groschen, – in der ersten Periode der Krankheit mit Schmach und Schande davongejagt wird; daß aber der Schlaue, der Geduld hat, zu warten, bis der letzte Zeitabschnitt kommt, sehr gemütlich und ohne Furcht vor Strafe sich des Gartens bemächtigen kann, wo die Bananen wachsen, mitsamt den Gärten, die daneben liegen, und den Häusern, die in der Umgebung stehen, und was in den Häusern ist, und noch das eine oder andere dazu ... nach Belieben.

Jeder benutze diese pathologisch-philosophische Anmerkung zu seinem Vorteil, halte aber das Rezept geheim, um der großen Konkurrenz zuvorzukommen ...

Verflucht, daß Entrüstung und Traurigkeit sich so oft in das Lumpengewand der Satire kleiden müssen! Verflucht, daß eine Thräne, um verstanden zu werden, mit einem Grinsen vereint erscheinen muß! Oder ist es die Schuld meiner Unerfahrenheit, daß ich keine Worte finde, um die Tiefe der Wunde zu bezeichnen, die an unserem Staatskörper schwärt, ohne daß ich meinen Stil bei Figaro oder Polichinell suchen müßte?

Stil – ja! Da liegen Schriftstücke vor mir, in denen Stil ist; Stil, der anzeigte, daß ein Mensch in der Nähe war; ein Mensch, dem die Hand zu reichen der Mühe wert war! Und was hat der Stil dem armen Havelaar genützt? Er [216] erklärte seine Thränen nicht mit einem Grinsen, er suchte nicht zu packen durch Buntheit der Farbe oder durch die Faxen des Jahrmarkt-Ausrufers ... was hat es ihm genützt?

Könnte ich schreiben wie er, würde ich anders schreiben als er!

Stil? ... Habt ihr gehört, wie er zu den javanischen Häuptern sprach? ... Was hat es ihm genützt? ...

Könnte ich sprechen wie er, ich würde anders sprechen als er!

Weg mit der gemütlichen Sprache, weg mit der Milde, Offenherzigkeit, Deutlichkeit, Einfalt, Gefühl! Weg mit allem, was erinnert an Horatius' »Justum et tenacem« ... Trompeten her und scharfen Beckenschlag, und Gezisch von Feuerpfeilen, und Gekreisch falscher Saiten, und hie und da ein wahres Wort, das mit durchschlüpfe wie verbotene Ware, unter Bedeckung von so viel Getrommel und so viel Gepfeife!

Stil! ... Er hatte Stil! Er hatte zu viel Seele, um seine Gedanken in »Ich habe die Ehre« und »die Edelgestrengen« und »ehrerbietig zur Erwägung geben,« die die hohe Lust der kleinen Welt ausmachten, in der er sich bewegte, zu ertränken! Wenn er schrieb, durchfuhr euch etwas beim Lesen, das euch klar machte, wie Wolken trieben bei dem Sturm, und daß ihr nicht das Geknatter eines blechernen Theaterdonners hörtet. Wenn er mit seinen Ideen Feuer schlug, fühlte man die Hitze des Feuers, ob man nun ein geborener Commis war oder General-Gouverneur oder Schreiber eines ekelhaften Berichts über die »ruhige Ruhe.« Und was hat es ihm genützt?

Wenn ich also gehört werden will – und vor allem verstanden – muß ich anders schreiben als er. Aberwie?

Sieh, Leser! Ich suche nach Antwort auf das Wie? Und darum hat mein Buch ein so buntes Ansehen. Es ist eine Musterkarte: trefft eure Wahl, und ich will euch dann Gelb oder Blau oder Rot geben nach eurem Wunsch.

Havelaar hatte die Gouverneurs-Krankheit bereits bei so vielen Leidenden beobachtet – und oft in »niederem Stoffe,« denn es giebt auch dergleichen Residents-Kontroleure – auch [217] Supernumerars-Krankheiten giebt es, die zu der ersten sich verhalten wie die Masern zu den Pocken, und endlich hatte er selbst auch an der Krankheit gelitten; – schon oft hatte er das alles beobachtet, sodaß er die Erscheinungen sehr gut kannte.

Er hatte den gegenwärtigen General-Gouverneur, am Anfang seiner Amtsführung, minder schwindlig gefunden als die meisten anderen, und er schloß daraus, daß auch der weitere Verlauf der Krankheit eine andere Richtung nehmen würde.

Darum fürchtete er der Stärkere zu sein, wenn er zum Schluß würde auftreten müssen als Verteidiger des guten Rechts der Einwohner von Lebak.

Sechzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel.

Stern fährt fort. Die Leute von Lebak fassen Vertrauen zu ihrem Tuwan. Indische Autoritäten ... Droogstoppel meldet sich wieder.


Havelaar empfing einen Brief des Regenten von Tjikand, in dem dieser ihm mitteilte, daß er seinem Oheim, dem Adhipatti von Lebak, einen Besuch abzustatten wünschte. Diese Nachricht war ihm sehr unlieb. Er wußte, daß die Großen aus den Preange--Regentschaften gewöhnt waren, viel Luxus um sich zu verbreiten, und daß daher der Tjikandsche Tommongong nicht ohne ein Gefolge von Hunderten kommen werde, die alle mit ihren Pferden beherbergt und verpflegt werden mußten. Gern hätte er den Besuch abgelehnt; aber er sann vergebens auf Mittel, die dazu helfen konnten, ohne den Regenten von Rangkas-Betung zu verletzen; denn dieser war sehr stolz und hätte sich tiefbeleidigt gefühlt, wenn man seine Armut als Grund, ihn nicht zu besuchen, angegeben hätte. Und wenn man diesen Besuch nicht verhindern konnte, wäre es ein unvermeidlicher Anlaß geworden, um den Druck, der auf dem Volke lastete, noch zu erschweren.

Es ist zu bezweifeln, ob Havelaars Ansprache einen bleibenden Eindruck auf die Häupter gemacht hatte. Bei vielen war das sicher nicht der Fall, und er hatte wohl auch nicht darauf gerechnet. Und ebenso gewiß ist, daß sich das Gerücht in den Dörfern verbreitet hatte, daß der »Tuwan,« [218] der zu Rangkas-Betung die Macht hatte, Recht üben wollte. Hatten also seine Worte auch nicht die Kraft gehabt, von Missethat zurückzuhalten, so hatten sie doch den Opfern davon Mut gemacht, sich zu beklagen, wenn auch noch ängstlich und im geheimen.

Sie krochen des Abends durch die Schlucht, und wenn Tine in ihrem Zimmer saß, wurde sie oft durch plötzliches Geräusch aufgeschreckt, und sie erblickte vor dem offenen Fenster dunkle Gestalten, die mit scheuem Tritt herumliefen. Bald erschrak sie nicht mehr; denn sie wußte, was es bedeutete, wenn diese Gestalten so spukhaft um das Haus irrten und bei ihrem Max Schutz suchten. Dann winkte sie ihm, und er stand auf, um die Kläger hereinzurufen. Die meisten kamen aus dem Distrikt Parang-Kudjang, wo der Schwiegersohn des Regenten Oberhaupt war, und wenn dieses Haupt auch nicht unterließ, seinen Teil an dem Raub zu nehmen, war es doch kein Geheimnis, daß er meist im Namen und zum Vorteil des Regenten raubte. Es war rührend, wie die armen Burschen auf Havelaars Ritterlichkeit vertrauten, daß er sie nicht am Tage darauf rufen würde, um öffentlich zu wiederholen, was sie auf seinem Zimmer gesagt hatten. Das aber wäre für alle Mißhandlung gewesen und für viele der Tod. Havelaar zeichnete auf, was sie sagten, und dann befahl er den Klägern, in ihr Dorf zurückzukehren. Er versprach, daß Gerechtigkeit geübt werden sollte, wenn sie sich nicht empörten oder flohen, was viele beabsichtigt hatten. Meistens war er kurz darauf an dem Platze, wo das Unrecht geschah, ja, oft war er schon dagewesen und hatte, gewöhnlich des Nachts, die Sache untersucht, bevor noch der Kläger an seinen Wohnort zurückgekehrt war. So besuchte er den ausgedehnten Bezirk, Dörfer, die zwanzig Stunden von Rangkas-Betung entfernt lagen, ohne daß der Regent oder selbst der Kontroleur Verbrügge wußten, daß er vom Hauptorte abwesend war. Seine Absicht war dabei, von den Klägern die Gefahr der Rache abzuwenden, und zugleich dem Regenten die Scham zu ersparen, denn unter Havelaar wäre die öffentliche Untersuchung nicht mit Zurücknahme der Klagen abgelaufen. So hoffte er immer noch, daß die Häupter von dem gefährlichen Wege, den sie schon so lange wandelten, zurückkehren würden, und er würde in diesem Falle sich mit der Schadloshaltung der armen Beraubten begnügt haben.

Aber oftmals, wenn er mit dem Regenten gesprochen hatte, sah er, daß das Versprechen der Besserung eitel war, [219] und er war über das Fehlschlagen seiner Absichten bitter enttäuscht.

Wir wollen ihn nun einige Zeit seiner Trauer und seiner mühseligen Arbeit überlassen, um dem Leser die Geschichte des Javanen Saïdjah im Dorfe Badur zu erzählen. Ich nehme den Namen des Dorfes und dieses Javanen aus Havelaars Aufzeichnungen. Es wird von Erpressung und Raub die Rede sein, und wenn man meine Erzählung als eine Erdichtung ansehen sollte, so gebe ich die Versicherung, daß ich imstande bin, die Namen von zweiunddreißig Leuten im Distrikt Parang-Kudjang anzugeben, denen in einem einzigen Monat sechsunddreißig Büffel für den Regenten abgenommen worden sind. Oder richtiger, ich kann die Namen von zweiunddreißig Leuten aus diesem Distrikt nennen, die in einem einzigen Monat gewagt haben, sich zu beklagen, und deren Klage durch Havelaar untersucht und als begründet befunden worden ist.

Es sind fünf solcher Distrikte in dem Bezirk Lebak.

Wenn man nun vorzieht, anzunehmen, daß die Zahl der geraubten Büffel in den Strichen, die nicht die Ehre hatten, von des Adhipatti Schwiegersohn verwaltet zu werden, weniger groß war, so will ich das wohl zugeben, wenn es auch fraglich bleibt, ob nicht die Frechheit der übrigen Häupter auf einem ebenso festen Grunde ruhte, wie der der hohen Verwandtschaft ist. Das Distriktshaupt von Tjilang-Kahan, an der Südküste, konnte, in Ermangelung eines gefürchteten Schwiegervaters, sich auf die Schwierigkeit der Anklage durch die armen Leute verlassen, die vierzig bis sechzig Palen zurückzulegen hatten, bevor sie sich des Abends in der Schlucht bei Havelaars Hause versteckten. Und wenn man dann an die große Zahl derer denkt, die sich auf den Weg machten, um jenes Haus niemals zu erreichen, oder an die vielen, die nicht einmal das Dorf verließen, abgeschreckt durch eigene Erfahrung oder durch das Schicksal anderer Kläger, dann, glaube ich, wäre es ein Irrtum, zu denken, daß die Multiplikation mit fünf, der man die Zahl der gestohlenen Büffel eines Distrikts zu Grunde legt, einen zu hohen Maßstab für die Statistik der Rinderzahl liefern sollte, die monatlich in den fünf Distrikten für den Haushalt des Regenten von Lebak geraubt wurde.

Und es waren nicht Büffel allein, und selbst Büffelraub [220] war nicht das Hauptsächlichste. Es ist – in Indien besonders, wo noch der »Herrendienst« zu Recht besteht – ein geringeres Maß Frechheit nötig, um Leute gesetzwidrig zu unbezahlter Arbeit aufzurufen, als man braucht, um Eigentum wegzunehmen. Es ist leichter, dem Volke weiszumachen, daß die Regierung seine Arbeit braucht, ohne sie bezahlen zu wollen, als daß sie seine Büffel für nichts verlangen sollte. Und wagte der furchtsame Javane auch dem sogenannten Herrendienst nachzuspüren, ob er im Einklang stehe mit den Vorschriften, so würde er damit nicht zu Rande kommen, da der eine nicht vom anderen weiß und er daher nicht berechnen kann, ob die erlaubte Zahl der Personen nicht zehnfach, ja fünfzigfach überschritten wird. Wo also das gefährlichere, leichter zu entdeckende Verbrechen mit solcher Dreistigkeit ausgeführt wurde, was soll man sich da von den Mißbräuchen denken, die in der Anwendung leichter sind und weniger Gefahr der Entdeckung in sich schließen?

Ich sagte, ich wollte zu der Geschichte des Javanen Saïdjah übergehen, Zunächst bin ich aber zu einer jener Abschweifungen genötigt, die so schwer vermieden werden können, wenn es sich um fremdartige Verhältnisse handelt. Ich werde dabei zugleich Anlaß nehmen, die Gründe zu berühren, die das Urteil nicht-indischer Personen über indische Dinge so besonders erschweren.

Ich habe wiederholt von Javanen gesprochen, und so natürlich das auch dem europäischen Leser scheinen möge, wird die Bezeichnung doch in den Ohren derer, die auf Java bekannt sind, wie ein Fehler geklungen haben. Die westlichen Residentschaften Bantam, Batavia, Preanger, Krawang und ein Teil von Cheribon – zusammen Sundalande genannt – gelten als nicht zum eigentlichen Java gehörig. Und, von den über See gekommenen Fremdlingen in diesen Gebieten gar nicht zu sprechen, ist in der That die ursprüngliche Bevölkerung eine ganz andere als in Mittel-Java oder in der sogenannten Ostecke. Sprache, Volkstum, Sitten, Kleidung sind so ganz anders als mehr ostwärts, daß sich der Sundanese wirklich von dem eigentlichen Javanen mehr unterscheidet als ein Engländer von einem Holländer. Solche Unterschiede geben oft Anlaß zur Uneinigkeit im Urteil über viele indische Dinge. Wenn man sich nun klar macht, daß Java allein schon in zwei ungleichartige Teile so scharf abgeteilt ist, ohne auf die vielen Unterabteilungen Gewicht zu legen, kann man sich vorstellen, wie groß der Unterschied [221] zwischen den Volksstämmen ist, die weiter voneinander wohnen und durch die See getrennt sind. Wer Niederländisch-Indien allein von Java her kennt, kann sich von dem Malayen, dem Amboinesen, dem Battah, dem Alfur, dem Timoresen, dem Dajak oder dem Makassar ebensowenig eine richtige Vorstellung machen, als wenn er nie aus Europa herausgekommen wäre. Es ist denn auch für jemand, der Gelegenheit hatte, den Unterschied dieser Völker kennen zu lernen, oft spaßhaft, die Gespräche anzuhören, und ebenso betrübend, die Ausführungen zu lesen, die von Leuten herrühren, die ihre Kenntnisse indischer Dinge zu Batavia oder zu Buitenzorg aufgelesen haben. Mehrfach habe ich mich über den Mut verwundert, mit dem ein früherer General-Gouverneur zum Beispiel, auf Grund seiner örtlichen Kenntnis und Erfahrung, in der Kammer der Volksvertretung seinen Worten Gewicht zu verleihen sucht. Ich stelle die Wissenschaft gewiß hoch, die durch tiefes Bücherstudium erlangt ist, und oft habe ich gestaunt über die Ausdehnung der Kenntnisse von indischen Dingen, die einige zeigten, ohne jemals indischen Boden betreten zu haben, und sobald ein gewesener General-Gouverneur zeigt, daß er sich solche Kenntnisse auf diese Weise erworben habe, so hat man vor ihm die Achtung zu fühlen, die der rechtmäßige Lohn vieljähriger, peinlicher, fruchtbarer Arbeit ist. Größer noch soll die Ehrerbietung vor ihm sein als vor dem Gelehrten, der weniger Schwierigkeiten zu überwinden hatte, weil dieser auf weiten Abstand ohne eigene Anschauung weniger Gefahr lief in Irrtümer zu verfallen, die die Folgen einer dürftigen Anschauung sind, wie sie dem gewesenen General-Gouverneur zu teil wurde.

Ich sagte, ich bin über den Mut verwundert gewesen, den einige bei der Behandlung indischer Dinge zur Schau tragen. Sie wissen doch, daß ihre Worte auch von anderen gehört werden, als von Leuten, die meinen können, ein paar in Buitenzorg zugebrachte Jahre reichten aus, um Indien zu kennen. Sie wissen, daß ihre Worte auch von Leuten in Indien selbst gelesen werden, die Zeugen ihrer Ungeschicklichkeit waren, und die, ebenso sehr wie ich, erstaunt sind über die Dreistigkeit, mit der jemand, der vor kurzem noch seine [222] Untauglichkeit unter dem hohen, ihm vom König verliehenen Range zu verstecken suchte, nun mit einmal so spricht, als ob er wirklich etwas davon verstände.

Oft hört man denn auch Klagen über unbefugtes Dreinreden, und oft wird diese oder jene Richtung in der Volksvertretung bekämpft durch Ableugnung der Befugtheit dessen, der diese Richtung vertritt. Es wäre vielleicht nicht ohne Interesse, eine ordentliche Untersuchung nach den Eigenschaften anzustellen, die einen befugt machen, um über Befugtheit zu urteilen. Meistens wird eine wichtige Frage nicht an der Sache, um die es sich handelt, geprüft, sondern an dem Wert, den man der Meinung, die darüber das Wort führt, zuerkennt, und da das meistens die Person ist, die für eine »Autorität« gilt, mit Vorliebe einer, »der in Indien ein so gewichtiges Amt bekleidet hat,« so ergiebt sich, daß das Resultat einer Abstimmung meist die Farbe der Irrtümer trägt, die an »den gewichtigen Ämtern« zu kleben scheinen. Wenn dies schon denn so ist, wenn der Einfluß solcher Autorität lediglich durch ein Mitglied der Volksvertretung ausgeübt wird, wie groß wird dann die Prädestination zu verkehrten Urteilen, wenn solcher Einfluß gepaart geht mit dem Vertrauen des Königs, der diese Autorität an die Spitze seines Kolonialministeriums setzte.

Es in ein eigenartiges Schauspiel – das vielleicht zurückgeht auf eine Art von Trägheit, die die Mühe des Selbsturteilens scheut – wie leicht man Personen, die sich den Schein größerer Kenntnis zu geben wissen, Glauben schenkt, sobald nur diese Kenntnis aus einer fernen Quelle geschöpft ist. Die Ursache liegt vielleicht darin, daß die Eigenliebe durch das Anerkennen eines solchen Übergewichts weniger verletzt wird, als es der Fall wäre, wenn man von denselben Hilfsmitteln hätte Gebrauch machen können, woraus etwas wie Wetteifer entstehen würde. Es fällt dem Volksvertreter leicht, seine Ansicht aufzugeben, sobald sie von jemand, der ein richtigeres Urteil fällen könnte, bestritten wird, vorausgesetzt, daß die größere Richtigkeit nicht persönlichem Übergewicht zugeschrieben wird – denn dann würde die Anerkennung schwerer fallen – sondern lediglich besonderen Umständen, die dem Gegner zu gute kommen.

Und ohne von denen zu sprechen, die »hohe Ämter in Indien bekleideten,« ist es in der That merkwürdig, wie man oftmals der Ansicht von Leuten Wert beimißt, die absolut nichts zur Rechtfertigung dieses Anspruchs aufzuweisen [223] haben als die »Erinnerung an einen so vielfältigen Aufenthalt in jenen Ländern.« Das ist um so komischer, da die, die einem solchen Beweisgrund Gewicht beilegen, doch nicht so bereitwillig alles annehmen würden, was man ihnen sagen könnte über den Haushalt des niederländischen Staates, mit der Versicherung, daß der Sprecher vierzig oder fünfzig Jahre in Niederland gewohnt habe. Es giebt Leute, die mehr als dreißig Jahre in Niederländisch-Indien zubrachten, ohne je mit der Bevölkerung oder mit inländischen Großen in Berührung zu kommen. Es ist betrübend, daß der Rat von Indien meistens oder großenteils aus solchen Leuten zusammengesetzt ist, ja daß man selbst Mittel gefunden hat, den König zu bestimmen, einen, der zu dieser Art von Autoritäten gehörte, zum General-Gouverneur zu ernennen.

Als ich sagte, daß die bei einem neuernannten General-Gouverneur vorausgesetzte Tüchtigkeit die Ansicht einschließe, daß man ihn für ein Genie halte, war meine Absicht damit durchaus nicht, die Ernennung von Genies zu empfehlen. Außer der Schwierigkeit jedoch, die in dem fortwährenden Unbesetztlassen eines so wichtigen Postens liegen würde, spricht noch ein anderer Grund dagegen. Ein Genie würde nicht unter dem Kolonialministerium arbeiten können, und wäre deshalb als General-Gouverneur unbrauchbar – wie es Genies gewöhnlich sind.

Es wäre wohl zu wünschen, daß die von mir in Form einer Krankheitsgeschichte gegebenen Hauptfehler die Aufmerksamkeit derjenigen auf sich zögen, die zur Wahl eines neuen Landvogts berufen sind. In den Vordergrund stelle ich natürlich, daß alle die Personen, die für diesen Posten in Vorschlag gebracht werden, rechtschaffen seien und im Besitz eines Fassungsvermögens, das sie einigermaßen instand setzt, zu lernen, was sie wissen müssen; dann aber halte ich es für eine Hauptsache, daß man von ihnen erwarten könnte, sie würden die anmaßende Besserwisserei zu Anfang und vor allem die apathische Schläfrigkeit der letzten Regierungsjaher vermeiden.

Ich sagte schon, wie sich Havelaar in seiner schweren Pflichterfüllung auf die Hilfe des General-Gouverneurs stützen zu können glaubte, und ich fügte hinzu, daß diese Ansicht »naiv« war. Dieser General-Gouverneur erwartete seinen Nachfolger ... die Ruhe in Niederland stand nahe bevor!

Wir werden sehen, was diese Neigung zum Schlaf für [224] den Lebakschen Bezirk, für Havelaar und für den Javanen Saïdjah mit sich gebracht, zu dessen eintöniger Geschichte – einer unter vielen – ich nun übergehe.

Ja, eintönig soll sie werden! Eintönig wie die Geschichte von der mühseligen Anstrengung der Ameise, die ihren Beitrag zu dem Wintervorrat den Erdklumpen – den Berg – hinaufschleppen muß, der auf dem Wege zu der Vorratskammer liegt. Immer wieder fällt sie mit ihrer Fracht zurück, um immer wieder zu versuchen, ob sie endlich auf dem Steinchen da oben – dem Felsen, der den Berg krönt – festen Fuß fassen werde. Aber zwischen ihr und dieser Spitze ist ein Abgrund – eine Tiefe, die tausend Ameisen nicht ausfüllen würden, – die überwunden werden muß. Darum muß sie, die kaum die Kraft hat, ihre Last auf ebenem Boden fortzuschleppen – eine Last, die vielmal schwerer ist als ihr eigener Körper – sich emporheben und sich auf einem schwankenden Fleck aufrecht erhalten. Sie muß das Gleichgewicht bewahren, wenn sie sich aufrichtet mit ihrer Fracht zwischen den Vorderfüßen, sie muß sie umklammern in schiefer Richtung nach oben, um sie auf dem an der Felswand hervorstehenden Punkt niederzusetzen: sie wankt, sie schwankt, erschrickt, ermattet, versucht sich an dem halb entwurzelten Baumstamme zu halten, der mit seiner Krone nach der Tiefe zeigt – einem Grashalm: – sie verfehlt den Stützpunkt, den sie sucht, der Baum schnellt zurück – der Grashalm weicht unter ihrem Tritt ... und die Ameise stürzt mit ihrer Last in die Tiefe. Dann ist sie einen Augenblick still, eine Sekunde, die in dem Leben einer Ameise lang ist. Ist sie von dem Schmerze des Sturzes betäubt? oder giebt sie sich der Trauer hin, daß so viel Anstrengung vergebens war? Aber sie verliert den Mut nicht. Wieder erfaßt sie ihre Last und wieder schleppt sie sie nach oben, um nachher noch einmal, und noch einmal, niederzusinken in die Tiefe.

So eintönig ist meine Erzählung. Aber ich werde nicht von Ameisen sprechen, deren Freude und Leid unserer Wahrnehmung, wegen der Grobheit unserer Sinne, entgeht. Ich will von Menschen erzählen, die die gleichen Gefühle haben wie wir. Es ist wahr, wer Rührung scheut oder Mitleid ablehnt, wird sagen, daß diese Menschen gelb oder braun sind – viele nennen sie schwarz; und für diese ist dann der Farbenunterschied Grund genug, um das Auge von dem Elend abzuwenden oder doch, wenn sie darauf hinsehen, darauf hinabzusehen ohne Mitgefühl.

[225] Meine Erzählung richtet sich daher nur an die, die imstande sind, den schweren Glauben zu erfassen, daß Herzen schlagen unter der dunklen Oberhaut, und daß, wer mit weißer Haut gesegnet ist und mit der damit zusammenhängenden Kultur, mit Edelsinn, Handels- znd Gotteskenntnis und Tugend, diese weißen Eigenschaften auf andere Weise anwenden könnte als die, die in Hautfarbe und Seelenvollkommenheit weniger bevoruzgt sind, bis jetzt von dieser Seite erlebt haben.

Meine Hoffnung auf Mitgefühl geht indes nicht so weit, daß ich bei der Beschreibung, wie man den letzten Büffel aus dem »Kendang« holt, bei hellem lichten Tage, ohne Scham, unter dem Schutze der niederländischen Macht, wenn ich erzähle, wie der Eigentümer und seine weinenden Kinder hinter dem geraubten Rinde her laufen, wie sie auf der Treppe des Räubers niedersitzen, sprachlos und wesenlos und in Schmerz versunken, wie man ihn wegjagt mit Hohn und Spott, unter Bedrohung mit Stockschlägen und Blockgefängnis – sieh, ich verlange nicht, noch erwarte ich, daß ihr davon in gleicher Weise ergriffen sein solltet, als ob ich das Los eines Bauern schilderte, dem man seine Kuh nähme. Ich verlange keine Thräne bei den Thränen, die über die dunklen Gesichter fließen, noch auch edlen Zorn, wenn ich von der Verzweiflung der Beraubten spreche. Ich erwarte auch nicht, daß ihr aufspringen sollt und mit meinem Buche in der Hand zum Könige gehen, und sagen: »Sieh, o König, das geschieht in deinem Reiche, in deinem schönen Reiche Insulinde!«

Nein, das erwarte ich alles nicht. Zu viel Leid in eurer nächsten Nähe erschüttert euer Gefühl, um so viel Gefühl übrig zu haben für fernen Kummer. War es nicht gestern matt auf der Börse? Droht nicht etwas, was eine Baisse im Kaffeemarkt bringen könnte?


* * *


»Schreiben Sie doch bloß solche sinnlose Dinge nicht an Ihren Papa, Stern!« habe ich gesagt, und vielleicht etwas dringend, denn ich kann nun einmal Unwahrheit nicht leiden das ist immer ein festes Prinzip von mir gewesen. Ich hahe diesen Abend sofort an den alten Stern geschrieben, daß er sich beeilen solle, und sich in acht nehmen vor falschen Berichten.

[226] Der Leser kann mir nachfühlen, was ich beim Anhören dieser letzten Kapitel wieder ausgestanden habe. Jetzt habe ich im Kinderzimmer ein »Einsiedler-Spielchen« gefunden, und das nehme ich von jetzt ab mit auf den Theeabend. Hatte ich nicht recht, daß der Shawlmann alle mit seinem Paket verrückt gemacht hat? Sollte man in all dem Geschreibsel von Stern – und Fritz ist auch dabei, das ist sicher – junge Leute erkennen, die in einem würdigen Hause erzogen werden? Was sind das für dumme Ausfälle gegen eine Krankheit, die sich in Sehnsucht nach einem Landsitz äußert? Ist das auf mich gemünzt? Soll ich nicht nach Driebergen gehen, wenn Fritz Makler ist? Und wer spricht in Gesellschaft von Frauen und Mädchen von Bauchweh? Es ist ein festes Prinzip von mir, stets ruhig und ernst zu bleiben, denn ich halte das für nützlich für die Geschäfte, aber ich muß bekennen, daß es mir oft Mühe kostete, wenn ich alle die Narrheit, die Stern vorliest, anhören muß. Was will er denn? Was soll das Ende sein? Wann kommt er zu etwas Vernünftigem? Was geht es mich an, ob dieser Havelaar seinen Garten sauber hält, und ob die Menschen von vorn oder von hinten zu ihm kommen? Bei Büsselinck & Waterman muß man durch einen engen Gang, neben einem Öllager, wo es immer schmutzig ist. Und dann das Geschwätz über die Büffel. Was brauchen sie Büffel zu haben, die Schwarzen? ... Ich habe nie einen Büffel gehabt und bin doch zufrieden; es giebt Menschen, die klagen immer. Und was das Schimpfen auf gezwungene Arbeit angeht, da sieht man wohl, daß er die Predigt von Pastor Wawelaar nicht gehört hat. Sonst wüßte er wohl, wie nützlich das Arbeiten für die Ausbreitung des Reiches Gottes ist. Freilich, er ist lutherisch.

Ja, gewiß, wenn ich das gewußt hätte, wie er das Buch schreiben würde, das so wichtig werden muß für alle Makler in Kaffee ... und andere – ich hätte es lieber selbst gethan. Aber er hat eine Stütze bei den Rosemeyers, die in Zucker machen, und das hebt ihn so. Ich habe geradeweg gesagt, denn ich bin aufrichtig in diesen Dingen, daß wir die Geschichte von dem Saïdjah wohl entbehren könnten. Aber da begann mit einem Mal Luise Rosemeyer gegen mich aufzustehen. Wahrscheinlich hat Stern ihr gesagt, daß da etwas von Liebe drin vorkommen wird, und auf so etwas sind die jungen Mädchen rein toll. Das hatte mich indes nicht abgeschreckt, aber die Rosemeyers haben mir gesagt, daß sie gern mit Sterns Vater Bekanntschaft anknüpfen möchten. [227] Das ist natürlich, um durch den Vater an den Oheim zu kommen, der in Zucker macht. Wenn ich nun zu stark die Partei des gesunden Menschenverstandes gegen den jungen Stern ergriffe, könnte es so aussehen, als ob ich ihn von ihnen entfernen wollte, und das ist durchaus nicht der Fall; denn sie machen ja in Zucker.

Ich begreife überhaupt Stern nicht mit seinem Geschreibsel. Unzufriedene Menschen giebt es überall, und schickt es sich nun für ihn, der so viel Gutes in Holland genießt – diese Woche erst hat ihm meine Frau Kamillenthee gekocht – auf die Regierung zu schimpfen? Will er damit die allgemeine Unzufriedenheit schüren? Will er General-Gouverneur werden? Verrückt genug ist er dazu – es zu wollen, meine ich. Ich fragte ihn vorgestern, und sagte dabei, daß sein Holländisch noch so mangelhaft wäre. »O, das macht nichts,« antwortete er, »es scheint selten ein General-Gouverneur hingeschickt zu werden, der die Landessprache versteht.« Was soll ich mit so einem Naseweis anfangen? Er hat nicht den geringsten Respekt vor meiner Erfahrung! Als ich ihm diese Woche sagte, daß ich schon siebzehn Jahre Makler wäre und schon zwanzig Jahre die Börse besuche, führte er Büsselinck & Waterman an, die schon achtzehn Jahre Makler sind, und, sagte er, »dann haben die also noch ein Jahr Erfahrung mehr.« So hatte er mich gefangen, denn ich muß zugeben, weil ich die Wahrheit liebe, daß Büsselinck & Waterman wenig vom Geschäft verstehen, und daß es Pfuscher sind.

Marie ist auch in dem Wirrwarr drin. Stellen Sie sich vor, daß sie diese Woche – sie war dran, beim Frühstück vorzulesen, und wir waren bei der Geschichte von Lot – auf einmal innehielt und nicht weiter lesen wollte. Meine Frau, die ebenso sehr wie ich auf Religion hält, versuchte sie mit Milde zum Gehorsam zurückzuführen, weil es doch für ein sittig Mädchen sich nicht paßt, so störrisch zu sein. Alles vergebens. Da mußte ich sie nun als Vater mit großer Strenge zurechtweisen, weil sie durch ihre Hartnäckigkeit die Erbauung beim Frühstück störte, was stets auf den ganzen Tag nachteilig wirkt. Aber es war nichts zu machen, und sie ging sogar so weit, daß sie sagte, sie wolle sich lieber totschlagen lassen als weiter lesen. Ich habe sie darauf mit drei Tagen Stubenarrest bei Kaffee und Brot gestraft, und denke, [228] das wird ihr gut thun. Um aber die Strafe zu moralischer Besserung auszunutzen, habe ich ihr aufgetragen, das Kapitel das sie nicht lesen wollte, zehnmal abzuschreiben, und ich bin hauptsächlich deswegen mit solcher Strenge vorgegangen, weil ich gemerkt habe, daß sie in der letzten Zeit – ob es von Stern kommt, weiß ich nicht – Begriffe angenommen hat, die mir für die Moral gefährlich scheinen, und darauf halten meine Frau und ich sehr. Ich habe sie unter anderem ein französisches Liedchen singen hören – von Béranger, glaube ich – in dem er ein altes armes Bettelweib beklagt, das in ihrer Jugend auf dem Theater sang, und gestern beim Frühstück war sie ohne Korsett – Marie meine ich – was doch nicht anständig ist.

Auch muß ich bekennen, daß Fritz wenig Gescheites von der Betstunde heimgebracht hat. Ich hatte mich ordentlich gefreut, weil er in der Kirche so still saß. Er rührte sich nicht und verwendete kein Auge von der Kanzel; aber später hörte ich, daß Betsy Rosemeyer vorn in dem umfriedeten Raum gesessen hatte. Ich habe nichts darüber gesagt, denn man muß mit jungen Leuten nicht allzu streng sein, und die Rosemeyers sind ein anständiges Haus. Sie haben ihrer ältesten Tochter, die mit Brüggemann, in Drogen und Parfümerien, verheiratet ist, etwas ganz Hübsches mitgegeben, und darum glaube ich, daß so etwas Fritz vom Westermarkt fernhält, und das ist mir angenehm, denn ich bin für Moral.

Aber das hindert nicht, daß es mich sehr verdrießt, wenn ich sehen muß, wie Fritz sein Herz verhärtet, wie Pharao, der weniger schuldig war, denn er hatte keinen Vater, der ihm fortwährend den rechten Weg zeigte, von dem alten Pharao steht in der Schrift nichts. Pastor Wawelaar klagte über seine Anmaßlichkeit – Fritzens, meine ich – in der Religionsstunde, und er scheint – auch wieder aus dem Paket von Shawlmann – eine Naseweisheit aufgeschnappt zu haben, die den gemütlichen Wawelaar ganz toll macht. Es ist rührend, wie der würdige Mann, der manchmal bei uns Kaffee trinkt, bei Fritz auf das Gefühl zu wirken versucht, und wie der schlimme Junge immer wieder neue Fragen bereit hat, die die Widerhaarigkeit seines Gemüts zeigen. Alles kommt aus dem verfluchten Paket von Shawlmann. Mit Thränen des Gefühls auf den Wangen trachtet der eifrige Diener des Evangeliums ihn zu bewegen, abzusehen von der Weisheit nach den Menschen, um eingeführt zu werden in die Geheimnisse der Weisheit Gottes. Mit Milde und Sanftmut redet [229] er ihm zu, doch nicht zu verwerfen das Brot des ewigen Lebens, und so zu fallen in die Klauen des Satans, der mit seinen Engeln das Feuer bewohnt, das ihm bereitet ist bis in Ewigkeit. »O!« sagte er gestern – Wawelaar, meine ich – »o junger Freund! öffne doch die Augen und die Ohren, und höre und siehe, was der Herr dir zu hören giebt und zu sehen durch meinen Mund. Blicke hin auf die Zeugnisse der Heiligen, die gestorben sind für den wahren Glauben. Siehe Stephanus, wie er niedersinkt unter den Steinwürfen, die ihn zerschmettern, wie noch sein Blick gegen Himmel strebt und wie seine Zunge noch lobsinget ...«

»Ich hätte lieber wieder geschmissen,« sagte Fritz darauf. Leser, was soll ich mit dem Jungen anfangen?

Einen Augenblick später begann Wawelaar wieder; denn er ist ein eifriger Knecht und läßt nicht ab von der Arbeit. »O!« sagte er, »junger Freund, öffne doch ...« (Anrede wie oben.) »Kannst du gefühllos bleiben, wenn du daran denkst, was aus dir werden soll, wenn du einmal gerechnet wirst zu den Böcken der Linken ...?«

Da brach der Taugenichts in lautes Lachen aus ... Fritz meine ich – und Marie lachte auch. Sogar auf dem Gesicht meiner Frau vermeinte ich etwas zu merken, was nach einem Lächeln aussah. Da aber bin ich Wawelaar zu Hilfe gekommen, ich habe Fritz mit einer Buße aus seiner Sparbüchse gestraft, zahlbar an die Missionsgesellschaft.

Das alles aber greift mich sehr an. Und man sollte, bei solchen Sorgen, sich unterhalten können, wenn man Geschichtchen über Büffel und Javanen hört? Was gehen mich die Geschäfte der Menschen in der Ferne an, wenn ich fürchten muß, daß Fritz durch seinen Unglauben meine eigenen Geschäfte verderben wird, und daß er nie ein ordentlicher Makler werden wird? Denn Wawelaar hat selbst gesagt, daß Gott alles so regiert, daß Rechtssinn zum Reichtum führt. »Sehen Sie,« sagte er, »ist nicht viel Reichtum in Niederland? Das kommt durch den Glauben. Ist nicht in Frankreich fortwährend Mord und Totschlag? Das ist, weil sie da katholisch sind. Sind nicht die Javanen arm? Es sind Heiden. Je länger die Holländer mit den Javanen umgehen, desto mehr Reichtum soll hierher kommen, und desto mehr Armut dorthin.«

Ich stehe erstaunt über Wawelaars Einsicht in die Geschäfte. Denn das ist die Wahrheit, daß ich, der fest in der [230] Religion ist, meine Geschäfte sehe vorwärts gehen von Jahr zu Jahr, und Büsselinck & Waterman, die sich weder um Gott noch seine Gebote kümmern, werden Pfuscher bleiben ihr lebelang. Auch die Rosemeyers, die in Zucker machen und ein katholisches Dienstmädchen haben, mußten neulich wieder 27 Prozent annehmen aus der Konkursmasse eines Juden, der pleite war. Je mehr ich nachdenke, desto weiter komme ich in der Erkenntnis von Gottes unerforschten Wegen. Kürzlich ist es herausgekommen, daß wieder dreißig Millionen reichlich gewonnen sind bei dem Verkauf von Produkten, die die Heiden geliefert haben, und dabei ist nicht mitgerechnet, was ich noch darauf verdient habe, und die anderen, die von diesen Geschäften leben. Ist das nun nicht, als ob der Herr sagte: »Siehst du, dreißig Millionen zur Belohnung für euren Glauben!« Ist das nicht der Finger Gottes, der den Bösen arbeiten läßt, um den Rechtschaffenen zu erhalten? Ist das nicht ein Wink, um weiter zu gehen auf dem guten Wege, und da drüben viel wegbringen zu lassen, und hier festzustehen im wahren Glauben? Heißt es nicht »bete und arbeite«, damit wir beten sollen, und die Arbeit verrichten lassen durch das Volk, das kein Vaterunser kennt?

O, wie hat Wawelaar recht, wenn er Gottes Joch sanft nennt! Wie leicht wird die Last jedem gemacht, der glaubt! Ich bin eben in den Vierzigen, und wenn ich wollte, könnte ich ausscheiden und nach Driebergen gehen, und nun sieh, wie es mit den anderen geht, die den Herrn verließen. Gestern habe ich Shawlmann mit seiner Frau und seinem Jungchen gesehen: sie sahen aus wie Gespenster. Er ist blaß wie der Tod, seine Augen stehen heraus, und seine Wangen sind hohl. Seine Haltung ist gebogen, und dabei ist er jünger als ich. Auch sie war sehr armselig angezogen, und sie schien wieder sehr geweint zu haben. Ich habe ja gleich gemerkt, daß sie von Natur unzufrieden ist: ich brauche jemand bloß einmal zu sehen, um ihn zu beurteilen, das kommt von der Erfahrung. Sie hatte ein dünnes Mäntelchen von schwarzer Seide, und es war doch recht kalt. Von Krinoline keine Spur, ihr leichtes Röckchen hing schlaff um die Knie, und am Rande war es ausgefranst. Er hatte selbst seinen Shawl nicht mehr um, er sah aus, als ob es Sommer wäre. Aber er scheint noch eine Sorte von Dünkel zu besitzen, denn er gab der armen Frau etwas, die auf der Schleuse saß (Fritz sagt: Brücke, aber was von Stein ist, ohne Aufzug, nenne ich Schleuse), und wer selber so wenig hat thut Sünde, wenn [231] er noch an andere etwas verschenkt. Überhaupt, ich gebe nie auf der Straße, das ist ein Prinzip von mir, denn ich sage stets, wenn ich so arme Leute sehe: wer weiß, ob es nicht ihre eigene Schuld ist, und ich mag sie nicht fördern in ihrer Verkehrtheit. Sonntags gebe ich zweimal: einmal für die Armen, einmal für die Kirche. So gehört sich's. Ich weiß nicht, ob Shawlmann mich gesehen hat, aber ich ging schnell vorbei und sah nach oben und dachte an Gottes Gerechtigkeit, die ihn doch nicht so laufen ließe, ohne Winterjacke, wenn er besser aufgepaßt hätte, und nicht faul, schwerfällig und kränklich wäre.

Was nun mein Buch betrifft, so muß ich wirklich den Leser um Entschuldigung bitten wegen der unverzeihlichen Art und Weise, wie Stern unseren Kontrakt mißbraucht. Ich muß bekennen, mir graut schon vor dem nächsten Gesellschaftsabend und der Liebesgeschichte von diesem Saïdjah. Der Leser weiß schon, welche gesunden Begriffe ich über Liebe habe; man denke nur an mein Urteil über die Landpartie nach dem Ganges. Daß junge Mädchen so etwas nett finden, verstehe ich, aber daß Männer von Jahren solche Dummheiten ohne Ekel anhören, ist mir unerklärlich. Ich bin sicher, daß ich am nächsten Gesellschaftsabend den »Triolett« von meinem Einsiedlerspiel finde.

Ich will versuchen, von diesem Saïdjah nichts zu hören, und ich hoffe, daß er sich bald verheiraten wird, wenn er der Held der Liebesgeschichte ist. Es ist wenigstens noch brav von Stern, daß er gleich gewarnt hat, weil es eine eintönige Geschichte ist. Wenn er nachher wieder etwas anderes anfängt, will ich wieder zuhören. Aber diese Angriffe auf die Regierung ärgern mich beinahe ebenso sehr wie die Liebesgeschichte. Man sieht aus allem, daß Stern jung ist und keine Erfahrung hat. Um die Geschäfte gut zu beurteilen, muß man alles aus der Nähe sehen. Als ich heiratete, bin ich selbst im Haag gewesen und habe das Mauritshuis besucht mit meiner Frau. Ich bin mit allen Ständen der Gesellschaft in Berührung gekommen, denn ich habe den Finanzminister vorbeifahren gesehen, und wir haben zusammen Flanell gekauft in der Veenestraat – ich und meine Frau, meine ich – und nirgends habe ich das geringste Zeichen gespürt von Unzufriedenheit mit der Regierung. Die Jüffrouw in dem Laden sah zufrieden und wohlsituiert aus, und als dann achtzehnhundertsoundso einige uns weismachen wollten, daß im Haag nicht alles so wäre, wie es[232] sollte, habe ich auf dem Theeabend das Meine über die Unzufriedenheit gesagt, und sie gaben mir recht; denn jeder wußte, ich sprach aus Erfahrung. Auch auf der Rückreise mit der Post hat der Postillon »Freut euch des Lebens« geblasen, und das hätte er wohl nicht gethan, wenn da so viel Verkehrtes wäre. So habe ich auf alles aufgepaßt, und wußte also, was ich zu denken hatte über das Murren im Jahre achtzehnhundertsoundso.

Und gegenüber wohnt eine Jüffrouw, deren Neffe einen Toko im Osten hat, wie sie da einen Laden nennen. Wenn da alles so schlecht ginge, wie Stern sagt, wüßte sie doch wohl auch etwas davon, und sie muß doch sehr zufrieden sein mit den Geschäften, denn ich höre sie nie klagen. Im Gegenteil, sie sagt, daß ihr Neffe auf einem Landsitz wohnt und daß er Mitglied des Kirchenrats ist, und daß er ihr eine Cigarrenkiste mit Pfauenfedern geschickt hat, die er selbst aus Bambus gemacht hat. Das zeigt doch alles deutlich, wie grundlos das Geklage über schlechte Regierung ist. Auch sieht man, daß für jemand, der aufpassen will, in dem Lande noch etwas zu verdienen ist, und daß der Shawlmann auch da schon faul, schwerfällig und kränklich gewesen ist, sonst wäre er wohl nicht so arm heimgekommen und müßte nicht ohne Winterjacke herumlaufen. Und der Neffe von der Jüffrouw ist der einzige nicht, der drüben sein Glück gemacht hat. In »Polen« sehe ich so viele, die dagewesen sind, und die ganz hübsch in Kleidern stecken. Aber das versteht sich, aufpassen muß man auf die Geschäfte da so gut wie hier. Auf Java werden die gebratenen Tauben keinem in den Mund fliegen ... es muß gearbeitet werden, und wer das nicht will, der ist arm und bleibt arm, das spricht von selbst.

Siebzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel.

Stern fährt fort. Saïdjah und Adinda.


Saïdjahs Vater hatte einen Büffel, mit dem er sein Feld bearbeitete. Als ihm dieser Büffel durch das Distriktshaupt von Parang-Kudjang abgenommen wurde, war er sehr betrübt und sprach viele Tage lang kein Wort. Denn die Zeit des Pflügens war nahe, und es war zu fürchten, wenn man die Sawah nicht zeitig bearbeitete, würde auch die Zeit des Säens vorübergehen, und endlich würde keine [233] Padi zu schneiden sein, um in dem Lombong des Hauses geborgen zu werden.

Ich muß hierbei für Leser, die wohl Java, aber nicht Bantam kennen, bemerken, daß in dieser Residentschaft persönliches Grundeigentum besteht, was anderswo nicht der Fall ist.

Saïdjahs Vater war nun sehr bekümmert. Er fürchtete, daß seine Frau Reis nötig haben würde, und auch Saïdjah, der noch ein Kind war, und seine Brüderchen und Schwesterchen.

Auch würde das Distriktshaupt ihn beim Adsistent-Residenten verklagen, wenn er mit der Bezahlung seiner Landrenten im Rückstande bleiben würde, und darauf stand gesetzliche Strafe.

Da nahm Saïdjahs Vater einen Kris, der ein Pusaka von seinem Vater war. Der Kris war nicht sehr schön, aber es waren silberne Bänder um die Scheide und auch die Spitze der Scheide hatte ein Plättchen Silber. Er verkaufte diesen Dolch an einen Chinesen, der am Hauptorte wohnte, und kam mit vierundzwanzig Gulden nach Hause, für welches Geld er einen anderen Büffel kaufte.

Saïdjah, der damals etwa sieben Jahre alt war, hatte bald mit diesem neuen Büffel Freundschaft geschlossen. Ich sage nicht ohne Absicht: Freundschaft; denn es ist rührend zu sehen, wie der javanische Karbo dem kleinen Jungen, der ihn hütet und versorgt, anhängt. Von dieser Anhänglichkeit werde ich bald ein Beispiel geben, das nicht erdichtet ist. Das große, starke Tier beugt den schweren Kopf rechts oder links oder nach unten, nach dem Fingerdruck des Kindes, das er kennt, das er versteht, mit dem er aufgewachsen ist.

Solche Freundschaft hatte denn auch der kleine Saïdjah bald dem neuen Gast eingeflößt, und Saïdjah ermutigende Kinderstimme schien dem kraftvollen Nacken des starken Tieres noch mehr Kraft zu geben, wenn es den schweren Lehmgrund pflügte und seinen Weg in tiefen, scharfen Furchen zeichnete. Der Büffel kehrte willig um, wenn er am Ende des Feldes angelangt war, und ließ keine Daumbreite Erdbodens aus, wenn er die neue Furche zurückpflügte, die stets dicht neben der alten lag, als wäre die Sawah ein von einem Riesen geharkter Garten.

Daneben lagen die Sawahs von Adindas Vater, dem [234] Vater des Kindes, das Saïdjah einstmals heiraten sollte. Und wenn Adindas Brüderchen an der dazwischenliegenden Grenze ankamen, gerade wenn auch Saïdjah mit seinem Pfluge da war, dann riefen sie einander fröhlich zu, und rühmten um die Wette die Kraft und die Bravheit ihrer Büffel. Aber ich glaube, Saïdjahs war der beste, vielleicht weil dieser ihm besser zuzureden wußte als die anderen, und Büffel sind für gute Worte sehr empfänglich.

Saïdjah war neun Jahre alt geworden und Adinda bereits sechs, als dieser Büffel Saïdjahs Vater durch das Distriktshaupt von Parang-Kudjang abgenommen wurde.

Saïdjahs, der sehr arm war, verkaufte nun einem Chinesen zwei silberne Klambuhaken – Pusaka von den Eltern seiner Frau – für achtzehn Gulden, und für das Geld kaufte er einen neuen Büffel.

Aber Saïdjah war sehr betrübt. Denn er wußte von Adindas Brüderchen, daß der vorige Büffel nach dem Hauptorte getrieben worden war, und er hatte seinen Vater gefragt, ob dieser das Tier da nicht gesehen habe, als er dort war, um die Klambuhaken zu verkaufen. Auf diese Frage hatte Saïdjahs Vater nicht antworten wollen. Darum fürchtete er, daß sein Büffel geschlachtet war, wie die übrigen Büffel, die das Distriktshaupt der Bevölkerung abnahm.

Und Saïdjah weinte viel, wenn er an diesen armen Büffel dachte, mit dem er zwei Jahre so zusammen gelebt hatte, und er konnte lange Zeit nichts essen, denn seine Kehle war zu eng, wenn er schluckte.

Man bedenke, daß Saïdjah ein Kind war.

Der neue Büffel lernte Saïdjah kennen und nahm in dessen Zuneigung sehr bald den Platz seines Vorgängers ein – viel zu schnell eigentlich; denn, ach! die Wachs-Eindrücke unseres Herzens werden so leicht glattgestrichen, um für spätere Schrift Platz zu machen ...

Der neue Büffel war nun nicht so stark wie der vorige, und das alte Joch zu groß für seinen Nacken, aber das arme Tier war willig wie sein Vorgänger, der geschlachtet war, und wenn Saïdjah auch an der Grenze zu Adindas Brüderchen nicht mehr die Kraft seines Büffels rühmen konnte, so behauptete er wenigstens, daß kein anderer den seinen an gutem Willen übertraf. Und wenn die Furche nicht so schnurgerade lief wie früher, und wenn Erdklumpen undurchschnitten [235] liegen geblieben waren, so half er gern mit seinem Patjol nach, so viel er konnte. Außerdem hatte kein Büffel einen User-useran wie der seine. Der Penghulu selbst hatte gesagt, daß Ontong war in den Linien der Haarwirbel auf den Schulterblättern.

Einmal rief Saïdjah im Felde vergebens seinem Büffel zu, schnell zu machen. Das Tier stand wie angenagelt. Saïdjah, ärgerlich über so große und noch dazu so ungewöhnliche Widerspenstigkeit, konnte sich nicht enthalten, ein Schimpfwort auszustoßen. Er sagte: A.S. Jeder, der in Indien gewesen ist, wird mich verstehen, und wer mich nicht versteht, gewinnt nur, wenn ich ihm die Erklärung eines groben Ausdrucks erspare.

Saïdjah dachte sich auch nichts Böses dabei. Er sagte das bloß, weil er es oft von anderen gehört hatte, wenn sie mit ihren Büffeln unzufrieden waren. Aber er hätte es nicht zu sagen brauchen, denn es half nichts, sein Büffel that keinen Schritt vorwärts. Er schüttelte den Kopf, als wollte er das Joch abwerfen, man sah den Atem aus seinen Nasenlöchern; er blies, zitterte, es war Angst in seinem blauen Auge, und die Oberlippe war hochgezogen, sodaß das Zahnfleisch bloß lag ...

»Flieh, flieh,« riefen Adindas Brüderchen, »Saïdjah, fliehe, da ist ein Tiger!«

Und alle nahmen ihren Büffeln die Joche ab und schwangen sich auf die breiten Rücken, und stürmten davon durch Sawahs, über Galangans, durch Sumpf und Gestrüpp und Buschwerk und Allang-allang, an Feldern und Wegen vorbei; und als sie keuchend und schwitzend in dem Dorfe Badur einritten, war Saïdjah nicht unter ihnen.

Denn als dieser seinem Büffel, wie die anderen, das Joch abgenommen hatte, um wie sie zu flüchten, hatte ein unerwarteter Sprung ihm das Gleichgewicht genommen und ihn zur Erde geworfen. Der Tiger war sehr nahe ...

Saïdjahs Büffel schoß in seinem Laufe einige Sprünge an dem Fleck vorbei, wo sein kleiner Herr den Tod erwartete. Aber nicht mit Willen war das Tier weiter gestürmt als Saïdjah, denn kaum hatte er die Kraft überwunden, die auf alle Stoffe nachwirkt, wenn auch die Ursache [236] aufgehört hat – da kehrte es auch schon zurück, stellte auf seine dicken Füße seinen dicken Leib wie ein Dach über das Kind, und kehrte seine gehörnte Stirn dem Tiger zu. Dieser sprang ... aber er sprang zum letztenmal. Der Büffel fing ihn auf seinen Hörnern auf und verlor nur etwas Fleisch, das der Tiger ihm vom Halse riß. Der Tiger lag mit aufgerissenem Bauche da, und Saïdjah war gerettet. Es war wirklich Ontong gewesen in den User-Useran dieses Büffels!

Als dieser Büffel Saïdjahs Vater abgenommen und geschlachtet wurde ...

Ich habe gesagt, Leser, daß meine Erzählung eintönig ist.

Als dieser Büffel geschlachtet war, zählte Saïdjah schon zwölf Jahre, und Adinda webte schon Sarongs und batikte sie mit zierlicher Kapalas. Sie hatte schon Gedanken in den Lauf ihres Farbschiffchens zu legen, und sie zeichnete Traurigkeit auf ihr Gewebe, denn sie hatte Saïdjah traurig gesehen.

Und auch Saïdjahs Vater war traurig; seine Mutter aber am meisten. Sie hatte ja die Wunde am Halse des treuen Tieres gepflegt, das ihr Kind unversehrt heim gebracht hatte, als sie auf die Nachricht von Adindas Brüderchen schon geglaubt [237] hatte, der Tiger habe es weggeschleppt. Sie hatte die Wunde so oft betrachtet, mit dem Gedanken, wie tief die Klaue, die so tief in das dicke Fell des Büffels eindrang, in den weichen Leib des Kindes geschlagen hätte; und jedesmal, wenn sie frische Kräuter auf die Wunde legte, streichelte sie den Büffel und sprach ihm freundliche Worte zu, daß das gute treue Tier doch wohl wissen mußte, wie dankbar eine Mutter ist. Sie hoffte später, daß der Büffel sie verstanden habe, denn dann hätte er wohl auch ihr Weinen verstanden, als er weggeführt wurde, um geschlachtet zu werden, und er hätte dann gewußt, daß es nicht Saïdjahs Mutter war, die ihn schlachten ließ.

Einige Zeit später floh Saïdjahs Vater aus dem Lande; denn er hatte große Furcht vor der Strafe, wenn er seine Landrente nicht bezahlte, und er hatte keine Pusaka mehr, um einen neuen Büffel zu kaufen. Seine Vorfahren hatten stets in Parang-Kudjang ge wohnt und ihm deshalb wenig hinterlassen. Auch die Eltern seiner Frau wohnten immer in demselben Distrikt. Nach dem Verlust des letzten Büffels hielt er sich wohl noch einige Jahre, indem er mit gemieteten Pflugtieren arbeitete; aber das ist eine sehr undankbare Arbeit und noch dazu kummervoll für jemand, der eigene Büffel gehabt hat. Saïdjahs Mutter starb vor Gram, und damals war es, daß sein Vater in einem verzweifelten Augenblick aus Bantam fortmachte, um im Buitenzorgschen Arbeit zu suchen. Aber er wurde mit Stockschlägen gestraft, weil er das Lebaksche ohne Paß verlassen hatte, und von der Polizei nach Badur zurückgebracht. Hier wurde er eingesperrt, weil man ihn für irrsinnig hielt, was ich wohl glauben will, und weil man fürchtete, daß er in einem Augenblick von Mataglap Amok machen könnte oder sonst eine Unsinnigkeit begehen würde. Er war jedoch nicht lange gefangen, denn er starb bald darauf.

Was aus den Brüderchen und Schwesterchen Saïdjahs geworden ist, weiß ich nicht. Das Häuschen, das sie zu Badur bewohnten, stand einige Zeit leer und fiel dann bald zusammen. Es war ja nur von Bambus gebaut und mit [238] Atap gedeckt. Ein wenig Schutt und Schmutz deckte den Fleck, wo viel gelitten worden war. Es giebt viel solche Flecken in Lebak.

Saïdjah war schon fünfzehn Jahre, als sein Vater nach Buitenzorg flüchtete. Er hatte ihn dahin nicht begleitet, er hatte größere Pläne. Man hatte ihm gesagt, daß in Batavia viele Herren wären, die in Bendis führen, und daß es für ihn leicht sein würde, eine Stelle als Bendijunge zu finden, wozu man gern jemand nimmt, der noch jung und noch nicht ausgewachsen ist, um nicht durch zu große Schwere hinten auf dem zweiräderigen Wagen das Gleichgewicht zu stören. In solchem Dienst, hatte man ihm gesagt, wäre viel zu verdienen; vielleicht würde er auf die Art in drei Jahren genug Geld sparen können, um zwei Büffel zu kaufen. Diese Aussicht lockte ihn. Mit selbstbewußtem Schritt, wie einer, der Großes im Sinne hat, trat er nach der Abreise seines Vaters bei Adinda ein, und teilte ihr seinen Plan mit.

»Denke dir,« sagte er, »wenn ich wiederkomme, werden wir alt genug sein, um zu heiraten, und wir werden zwei Büffel haben.«

»Sehr gut, Saïdjah. Ich will gern mit dir Hochzeit machen, wenn du wiederkommst. Ich will spinnen und Sarongs und Slendangs weben und batikken, und die ganze Zeit sehr fleißig sein.«

»O, ich glaube dir, Adinda, aber ... wenn du denn schon verheiratet bist?«

»Saïdjah, du weißt wohl, ich werde niemand heiraten. Mein Vater hat mich deinem Vater versprochen.«

»Und du selber?«

»Ich werde dich heiraten, sei gewiß.«

»Wenn ich wiederkomme, werde ich in der Ferne rufen.«

»Wer wird es hören, wenn wir im Dorfe Reis stampfen?«

»Ja, ... aber, Adinda ... o ja, so ist es besser ... erwarte mich bei dem Djatibusch, unter dem Ketapan, wo du mir die Melatti gegeben hast.«

»Aber, Saïdjah, wie kann ich wissen, wann ich hingehen muß, um bei dem Ketapan zu warten?«

[239] Saïdjah dachte nach und sagte:

»Zähle die Monde. Ich werde dreimal zwölf Monde ausbleiben ... Dieser Mond rechnet nicht mit. Sieh, Adinda, mache bei jedem neuen Mond eine Kerbe in deinen Reisblock. Wenn du dreimal zwölf Kerben geschnitten hast, komme ich den Tag, der dann folgt, unter dem Ketapan an ... willst du da sein?«

»Ja, Saïdjah, ich werde unter dem Ketapan sein bei dem Djatibusch, wenn du zurückkommst.«

Da riß Saïdjah einen Fetzen von seinem blauen Kopftuch, das schon sehr zerrissen war, und gab Adinda das Stückchen Leinwand, als ein Pfand, und dann verließ er Badur.

Er lief viele Tage. Er ging an Rangkas-Betung vorbei, das damals noch nicht der Hauptort von Lebak war, und Warong-Gunung, wo damals der Adsistent-Resident wohnte, und am folgenden Tage sah er Pandeglang, das daliegt wie in einem Garten. Wieder einen Tag später kam er inSerang an und stand erstaunt über die Pracht eines so großen Ortes mit vielen Häusern, von Stein gebaut und gedeckt mit roten Ziegeln. Saïdjah hatte so etwas nie gesehen. Er blieb einen Tag da, weil er müde war, aber des Nachts in der Kühle ging er weiter und kam nach Tangerang, noch ehe die Sonne so hoch stand, daß der Schatten auf seine Lippen fiel, obwohl er den großen Tudung trug, den sein Vater für ihn gelassen hatte.

Zu Tangerang badete er in dem Fluß nahe bei der Überfahrt, und er ruhte aus in dem Hause eines Bekannten seines Vaters, der ihm zeigte, wie man Strohhüte flicht, genau wie die, die aus Manila kommen. Er blieb einen Tag da, um das zu lernen, denn er meinte, damit vielleicht etwas verdienen zu können, wenn er in Batavia kein Glück hätte. Am folgenden Tage gegen Abend, da es kühl wurde, dankte er seinem Gastgeber sehr und ging weiter. Sobald es ganz dunkel war, daß niemand es sah, holte er das Blatt hervor, in dem er die Melatti aufbewahrte, die ihm Adinda [240] gegeben hatte unter dem Ketapanbaum; denn er war traurig geworden, daß er sie so lange Zeit nicht sehen sollte. Den ersten Tag, und auch den zweiten hatte er weniger stark gefühlt, wie allein er war. Seine Gedanken hingen sich alle an die große Idee, Geld zu verdienen, um zwei Büffel zu kaufen; sein Vater hatte immer bloß einen gehabt. Und seine Gedanken waren zu sehr auf das Wiedersehen mit Adinda gerichtet, um der Trauer über die Trennung Raum zu geben. Er hatte den Abschied in hochgespannter Hoffnung genommen und ihn in seinen Gedanken fest verknüpft mit dem Wiedersehen unter dem Ketapan. Eine so große Rolle spielte die Aussicht auf das Wiedersehen in seinem Herzen, daß er beim Verlassen Badurs, als er an diesem Baum vorbeiging, eine gewisse Freude fühlte, als wären sie schon vorbei, die sechsunddreißig Monate, die ihn von jenem Augenblick trennten. Es kam ihm so vor, als hätte er bloß umzukehren, als ob er schon von der Reise zurückkäme, und er würde dann Adinda erblicken, wie sie seiner wartete unter diesem Baum.

Je mehr er sich jedoch von Badur entfernte, desto mehr achtete er auf die Länge eines einzigen Tages, und desto mehr begann er die sechsunddreißig Monate, die vor ihm lagen, lang zu finden. Es war etwas in seiner Seele, was ihn weniger schnell ausschreiten ließ, – er fühlte Trauer in seinen Knien, und war es auch keine Mutlosigkeit, die ihn befiel, so war es doch Wehmut, und die ist nicht weit ab von Mutlosigkeit. Er dachte schon daran umzukehren, aber was sollte Adinda denken von so wenig Mut?

Also lief er weiter, ging es auch weniger schnell als am ersten Tage. Er hatte die Melatti in der Hand, und er drückte sie oftmals an die Brust. Er war seit drei Tagen viel älter geworden, und er wunderte sich, wie er früher so ruhig gelebt hatte, da doch Adinda ihm so nahe war und er sie sehen konnte, so oft er wollte. Denn jetzt würde er nicht ruhig sein, wenn er erwarten könnte, daß sie bald vor ihm stehen sollte. Und darüber wunderte er sich auch, daß er nach dem Abschied nicht noch einmal umgekehrt war, um sie noch einmal zu sehen. Und selbst das fiel ihm ein, wie sie sich kurz vorher wegen der Schnur gestritten hatten, die sie spann für den Lalayang ihrer Brüderchen, und die gerissen war, weil in [241] dem Gespinst ein Fehler war; dadurch war eine Wette gegen die Kinder von Tjipurut verloren gegangen. »Wie konnte ich bloß,« dachte er, »deswegen Adinda böse werden? Wenn nun wirklich ein Fehler in ihrem Gespinst war und wenn dadurch die Wette zwischen Badur und Tjipurut verloren ging, und nicht durch die Glasscherbe, die der kleine Djamin aus seinem Versteck hinter dem Pagger warf, hätte ich selbst dann so hart gegen sie sein sollen und sie mit ungehörigen Namen nennen dürfen? Was soll werden, wenn ich in Batavia sterbe, ohne sie um Vergebung gebeten zu haben für so große Grobheit? Wird es nicht sein, als ob ich ein schlechter Mensch wäre, der mit Schimpfworten um sich wirft gegen ein Mädchen? Und wenn man hört, daß ich in einem fremden Lande gestorben bin, wird nicht jeder zu Badur sagen: es ist ganz gut, daß Saïdjah gestorben ist; denn er hat gegen Adinda einen großen Mund gehabt.«

So nahmen seine Gedanken einen Gang, der sich sehr von der vorigen großen Erwartung unterschied, und unwillkürlich äußerten sie sich erst in halben Worten, in sich hinein gesprochen, bald aber in einem Selbstgespräch, und zuletzt in dem wehmütigen Sang, dessen Übersetzung ich hier folgen lasse. Meine Absicht war erst, etwas Maß und Reim in die Übersetzung zu bringen, aber ich fand es doch besser, wie Havelaar auch, das »Schnürleibchen« beiseite zu lassen.


Ich weiß nicht, wo ich sterben werde.

Ich sah die große See an der Seeküste,

als ich da war mit meinem Vater,

Salz zu machen –

Wenn ich sterbe auf der See

und sie werfen meine Leiche in das tiefe Wasser,

werden Haie kommen –

Sie werden um meine Leiche schwimmen und fragen:

Wer soll von uns die Leiche verschlingen,

die da sinkt im Wasser? –

Ich werde es nicht hören.


Ich weiß nicht, wo ich sterben werde.

Ich sah das Haus Pa-ansu's brennen,

er selbst setzte es in Brand,

er war von Sinnen –

[242]

Wenn ich sterbe in einem Brande,

werden glühende Scheite fallen

auf meine Leiche –

Und draußen wird ein großes Rufen sein

von Menschen, die Wasser werfen,

das Feuer zu töten –

Ich werde es nicht hören.


Ich weiß nicht, wo ich sterben werde.

Ich sah den kleinen Si-unah fallen von der Kokospalme,

er pflückte eine Nuß des Baumes

für seine Mutter –

Wenn ich von einer Kokospalme falle,

lieg' ich tot an ihrem Fuß, im Gesträuch,

wie Si-unah, –

Meine Mutter wird nicht weinen, sie ist tot;

andere werden mit harter Stimme rufen:

sieh, da liegt Saïdjah! –

Ich werde es nicht hören.


Ich weiß nicht, wo ich sterben werde.

Ich sah die Leiche Pa-lisus,

er starb von hohem Alter,

sein Haar war weiß –

Wenn ich vom Alter sterbe, mit weißem Haar,

werden die Klageweiber stehen

um meine Leiche –

Sie werden klagen wie die Klageweiber

an Pa-lisus Leiche, auch die Enkel

werden weinen, sehr laut: –

Ich werde es nicht hören.


Ich weiß nicht, wo ich sterben werde.

Ich sah viele, die zu Badur starben;

sie legten sie in weiße Kleider

und senkten sie in den Grund –

Wenn ich zu Badur sterbe, und sie begraben mich

draußen vorm Dorfe, oftwärts am Hügel,

wo das Gras hoch ist –

Dann wird Adinda kommen, und ihres Kleides Saum

wird leise, leise streifen

Das Gras entlang ... –

Ich werde es hören.


[243] Saïdjah kam zu Batavia an. Er bat einen Herrn, ihn in Dienst zu nehmen, was dieser Herr gern that, weil er Saïdjah nicht verstand. Man hat zu Batavia gern Diener, die noch kein Malayisch sprechen und daher noch nicht so verdorben sind wie die anderen, die länger mit Europäern in Berührung kamen. Saïdjah lernte schnell malayisch, aber er paßte auch brav auf, denn er dachte immer an die zwei Büffel, die er kaufen wollte, und an Adinda. Er wurde groß und stark, weil er alle Tage aß, was es zu Badur nicht gab. Er war beliebt im Stall, und hätte er die Tochter des Kutschers zur Ehe verlangt, er wäre gewiß nicht abgewiesen worden. Sein Herr sogar hatte ihn so gern, daß er bald zum Hausbediensteten erhoben wurde. Man erhöhte seinen Lohn und gab ihm noch fortwährend Geschenke, weil man mit seinem Dienst so zufrieden war. Mewrouw hatte den Roman von Sue gelesen, der so viel Aufsehen machte: sie dachte stets an den Prinzen Djalma, wenn sie Saïdjah sah, und auch die jungen Damen verstanden besser als früher, wie der javanische Maler Radhen Saleh so viel Anklang in Paris gefunden hatte.

Man fand aber Saïdjah undankbar, als er, nach beinahe drei Jahren Dienst, um seine Entlassung und um ein Zeugnis bat, daß er sich immer gut betragen habe. Indes man konnte es ihm nicht verweigern, und Saïdjah ging mit frohem Herzen auf die Reise.

Er ging an Pising vorbei, wo lange vorher Havelaar gewohnt hatte. Aber das wußte Saïdjah nicht; ... und hätte er es auch gewußt, er hatte etwas anderes im Herzen, was ihn beschäftigte ... Er zählte die Schätze, die er heimbrachte. In einer Bambusrolle hatte er seinen Paß und sein Dienstzeugnis. In einem Schächtelchen, das an einem ledernen Riemen hing, schien fortwährend etwas Schweres gegen seine Schulter zu schlagen, aber er fühlte es gern ... ich glaub's wohl – darin waren dreißig spanische Dollars, genug, um drei Büffel zu kaufen! Was würde Adinda sagen! Und das war noch nicht alles. Auf seinem Rücken sah man die silberbeschlagene Scheide zu dem Kris, den er im Gürtel trug. Der Griff war gewiß aus feingeschnittenem Kamuning, denn er hatte ihn sorgfältig in eine seidene Hülle gewickelt. Und er hatte noch mehr Schätze! Im Saum des Kahin um seine Lenden, da bewahrte er einen Gürtel von [244] silbernen Gliedern, mit goldenem Ikat-pending. Es ist wahr, der Gürtel war kurz, aber sie war ja so schlank – Adinda!

Und an einem Schnürchen am Halse, unter seinem Badju, trug er ein seidenes Beutelchen, darin steckten ein paar vertrocknete Melatti-Blumen.

War es ein Wunder, daß er sich zu Tangerang nicht länger aufhielt, als er mußte, um den Freund seines Vaters zu besuchen, der so schöne Strohhüte flocht? War es ein Wunder, daß er den Mädchen, die ihn »wohin? woher?« fragten, wie es der Gruß in der Gegend ist, wenig sagte? War es ein Wunder, daß erSerang nicht mehr so schön fand, er, der Batavia gesehen hatte? Daß er sich nicht mehr, wie vor drei Jahren, im Pagger verkroch, als er den Residenten fahren sah, er, der den viel größeren Herrn gesehen hatte, der zu Buitenzorg wohnt und der Großvater ist des Susuhunan von Solo? War es ein Wunder, daß er wenig auf die Reden derer hörte, die ein Stück Weges mit ihm gingen und Neues aus Bantan-Kidul erzählten: wie der Kaffeebau ganz aufgegeben sei, nach so viel unbelohnter Mühe – wie das Distriktshaupt von Parang-Kudjang wegen Straßenraubs zu vierzehn Tagen Arrest im Hause seines Schwiegervaters verurteilt worden war – wie der Sitz der Verwaltung nach Rangkas-Betung verlegt worden war – und daß ein neuer Adsistent-Resident da wäre, weil der vorige ein paar Monaten gestorben war – wie dieser neue Beamte in der erstenSebah-Versammlung gesprochen hatte, und wie seit einiger Zeit keiner mehr wegen Klagen bestraft worden war – wie man im Volke hoffte, daß all das gestohlene Gut wiedergegeben oder bezahlt werden würde?

Nein, er hatte schönere Bilder vor dem Auge seiner Seele. Er suchte den Ketapanbaum in den Wolken, als er noch zu fern war, um ihn bei Badur zu suchen. Er griff in die Luft, die ihn umgab, als wollte er die Gestalt umfassen, die ihn unter diesem Baum erwarten sollte. Er malte sich Adindas Antlitz, ihr Haupt, ihre Schulter: er sah den schweren Kondeh, so glänzend schwarz, gefangen im eigenen Strick, herabhängend auf ihren Hals: er sah ihr großes Auge blitzen im dunklen Wetterschein, er sah die Nasenflügel, die [245] sie als Kind so stolz hochzog, wenn er sie – war es möglich? – ärgerte, den Mundwinkel, in dem sie ein Lächeln bewahrte; er sah ihre Brust, die nun wohl schwellen würde unter der Kabai; er sah, wie der Sarong, den sie selbst webte, ihre Hüften eng umschloß, und dem Schenkel folgend in gebogener Linie, vom Knie in herrlicher Falte auf den kleinen Fuß niederfiel.

Nein, er hörte wenig von dem, was man ihm erzählte. Er hörte ganz andere Laute. Er hörte, wie Adinda sagen würde: »Sei willkommen, Saïdjah! Ich habe an dich gedacht beim Spinnen und beim Weben, beim Stampfen des Reis in dem Block, der dreimal zwölf Kerbe trägt von meiner Hand. Hier bin ich unter dem Ketapan, den ersten Tag des neuen Monats. Sei willkommen, Saïdjah! Ich will deine Frau sein.«

Das war die Musik, die in seinen Ohren klang, und die ihn hinderte, auf all das Neue zu hören, das man ihm auf seinem Wege berichtete.

Endlich sah er den Ketapan. Oder lieber er sah einen großen dunklen Fleck, der viele Sterne verdeckte vor seinem Auge. Das mußte der Djatibusch sein bei dem Baum, wo er Adinda wiedersehen sollte, am folgenden Morgen, nach Sonnenaufgang. Er suchte im Dunkel und betastete viele Stämme. Bald fand er eine ihm bekannte Unebenheit an der Südseite eines Baumes, und er legte den Finger in einen Spalt, den Si-Panteh mit seinem Parang geschlagen hatte, um den Pontianak zu beschwören, der an dem Zahnweh seiner Mutter schuld hatte, kurz vor der Geburt von Pantehs Brüderchen. Das war der Ketapan, den er suchte.

Ja, das war der Fleck, wo er zum erstenmal Adinda anders angesehen hatte als seine übrigen Kameraden, weil sie sich da zum erstenmal geweigert hatte, an einem Spiele teilzunehmen, das sie doch noch kurz zuvor mit allen Kindern, Knaben und Mädchen, mitgespielt hatte. Dort hatte sie ihm die Melatti gegeben.

Er setzte sich nieder am Fuße des Baumes und sah empor zu den Sternen, und als er einen fallen sah, nahm er es als einen Gruß zu seiner Heimkehr nach Badur. Und er dachte daran, ob Adinda jetzt wohl schliefe, und ob sie wohl die Monate gut in den Reisblock eingeschnitten hatte. Es würde [246] ihn schmerzen, wenn sie einen ausgelassen hätte, als ob es nicht genug wäre ... sechsunddreißig! Und ob sie schöne Sarongs und Slendangs gebatikkt hätte? Und auch das fragte er sich, wer wohl nun in seines Vaters Hause wohnte? Und seine Jugend stieg vor ihm auf und seine Mutter, und wie der Büffel ihn vor dem Tiger gerettet hatte, und er dachte, was wohl aus Adinda geworden wäre, wenn der Büffel nicht so treu gewesen wäre.

Er achtete sorgsam auf das Sinken der Sterne im Osten, und bei jedem Sterne, der am Horizont erlosch, rechnete er aus, wie viel jetzt die Sonne wieder näher wäre an ihrem Aufgang, und wie viel näher er selbst am Wiedersehen mit Adinda.

Denn gewiß würde sie kommen mit dem ersten Strahl, ja in der Dämmerung schon würde sie da sein ... ach! warum war sie nicht schon am vorigen Tage gekommen?

Es betrübte ihn, daß sie dem schönen Augenblick nicht vorausgeeilt war, der nun drei Jahre mit unbeschreiblichem Glanze seine Seele erleuchtet hatte. Und er war unbillig in seiner selbstsüchtigen Liebe; es schien ihm, als ob Adinda hätte da sein müssen, auf ihn wartend, der sich nun beklagte – vor der Zeit schon – daß er auf sie warten mußte.

Und er klagte zu unrecht, denn noch war die Sonne nicht aufgegangen ... noch hatte des Tages Auge keinen Blick geworfen auf die Ebene. Wohl verblichen die Sterne da oben, und sie schämten sich, daß so bald ein Ende kam ihrer Herrschaft, wohl flogen seltsame Farben über die Gipfel der Berge, die um so dunkler schienen, je schärfer sie sich vom lichteren Hintergrund abhoben, wohl flog hie und da etwas durch die Wolken, etwas Glühendes – Pfeile von Gold und Feuer, die hin und her geschossen wurden, am Horizont entlang; – aber sie verschwanden wieder und schienen hinter dem unbegreiflichen Vorhang niederzufallen, der den Tag von den Augen Saïdjahs fern hielt.

Und jetzt wurde es lichter und lichter um ihn her ... – er sah schon die Landschaft, und schon konnte er den Umriß des Klappahaines unterscheiden, in dem Badur verborgen liegt – dort schlief Adinda.

Nein, sie schlief nicht mehr. Wie hätte sie schlafen können? [247] Wußte sie nicht, daß Saïdjah ihrer warten würde? Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen; gewiß hatte die Dorfwache an ihre Thür geklopft, um zu fragen, warum die Pelitah in ihrem Häuschen noch brannte, und mit anmutigem Lachen hatte sie gesagt, daß ein Gelübde sie wach hielt, den Slendang fertig zu weben, an dem sie arbeitete, und der am ersten Tage des neuen Monats fertig sein müßte.

Oder sie hatte die Nacht im Dunkeln zugebracht, auf dem Reisblock sitzend, und mit eifrigem Finger zählend, ob es auch wirklich sechsunddreißig tiefe Linien waren, hintereinander eingekerbt. Und sie hatte sich mit dem Schreck ergötzt, wenn sie sich etwa verzählte oder einer fehlte, um noch einmal und noch einmal und immer wieder die herrliche Gewißheit zu genießen, daß wirklich dreimal zwölf Monate vergangen waren, seit Saïdjah Abschied nahm.

Auch sie würde wohl jetzt, nun es sich so aufhellte, ihre Augen anstrengen, mit erfolgloser Mühe, die Blicke über den Horizont zu senden, um der Sonne zu begegnen, der trägen Sonne, die zauderte ... zauderte ...

Da kam ein Strich bläulichen Rotes, der sich an den Wolken festheftete, und die Ränder wurden hell und glühend, und es begann zu blitzen, und wieder schossen Feuerpfeile durch die Luft, aber sie fielen diesmal nicht nieder. Sie hefteten sich fest an den dunklen Grund, und teilten ihre Glut mit in größeren und größeren Kreisen, und begegneten einander, kreuzend, schwankend, zitternd, irrend, und vereinigten sich zu Feuerbüscheln und wetterleuchteten in goldenem Glanze auf dem azurnen Grunde – es war Rot und Blau und Silber und Purpur und Gelb und Gold in allem – o Gott! das war die Morgenröte, das war das Wiedersehen mit Adinda!

Saïdjah hatte nicht beten gelernt, und es wäre auch schade gewesen, es ihn zu lehren; denn heiligeres Gebet und feurigerer Dank, als in seinem stummen Entzücken lag, war nicht in menschliche Sprache zu fassen.

Er wollte nicht nach Badur gehen. Das Wiedersehen mit Adinda selbst kam ihm nicht so schön vor wie die Gewißheit, daß er sie bald wiedersehenwerde. Er setzte sich an den Fuß des Ketapan und ließ seine Augen über den Landstrich gleiten. Die Natur lachte ihm zu und schien ihn willkommen zu heißen, wie eine Mutter ihr heimgekehrtes Kind, und gerade, wie diese ihre Freude schildert durch Erinnerung an den vorübergegangenen [248] Schmerz, durch das Zeigen der Andenken, die sie während der Abwesenheit bewahrte, so ließ auch Saïdjah seine Gedanken schweifen und betrachtete die Stellen, die Zeugen seines kurzen Lebens gewesen waren. Aber wie auch seine Blicke und seine Gedanken in die Runde irrten, immer wieder fiel sein Blick zurück auf den Pfad, der von Badur nach dem Ketapan führt. Alles, was seine Sinne wahrnahmen, hieß Adinda ... Er sah den Abgrund links, wo die Erde so gelb ist, wo einmal ein junger Büffel in die Tiefe sank; dort hatten die Dörfler sich versammelt, um das Tier zu retten – denn es ist keine Kleinigkeit, einen jungen Büffel zu verlieren! – sie hatten sich heruntergelassen an starken Rottan-Seilen, und Adindas Vater war der Mutigste gewesen, – o, wie sie in die Hände klatschte, Adinda!

Und da drüben an der anderen Seite, wo das Kokoswäldchen über den Hütten des Dorfes weht, da war Si-unah vom Baum gefallen und gestorben. Wie weinte seine Mutter! »Weil Si-unah noch so klein war,« jammerte sie ... als ob sie weniger betrübt gewesen wäre, wenn Si-unah größer gewesen wäre. Aber klein war er, das ist wahr, er war ja kleiner und schwächer als Adinda ...

Niemand war auf dem Wege, der von Badur nach dem Baume führte. Sie wird später kommen, es ist noch sehr früh.

Saïdjah sah einen Badjing, der mit hurtiger Lustigkeit an dem Stamme eines Klappabaumes hin und her sprang. Das reizende Tierchen – der Ärger freilich des Eigentümers des Baumes, aber doch reizend in Gestalt und Bewegung – sprang unermüdlich auf und nieder. Saïdjah betrachtete es und zwang sich, dabei zu bleiben, weil das seinen Gedanken Ruhe gab von der schweren Arbeit, die sie seit Sonnenaufgang verrichteten – die Ruhe nach dem ermüdenden Warten. Bald äußerten sich seine Gefühle in Worten, und er sang, was in seiner Seele umging. Ich möchte euch das Lied lieber im Malayischen vorlesen, dem Italienisch des Ostens.


Sieh, wie der Badjing seine Nahrung sucht

Am Klappabaum. Auf und ab und links und rechts

Springt und fällt er, kreist er, springt er wieder,

Er hat nicht Flügel und ist flink wie ein Vogel.


[249]

Viel Glück, mein Badjing, ich wünsche dir Heil!

Du wirst die Nahrung finden, die du suchst;

Ich aber sitze allein am Djatibusch

Und warte auf die Nahrung meines Herzens.


Schon lang ist meines Badjing Bäuchlein voll,

Lang schon ist er in seinem Nestchen wieder,

Aber meine Seele ist noch immer

Und mein Herz bitter betrübt ... Adinda!


Noch niemand war auf dem Pfade zu sehen, der von Badur führt nach dem Ketapan ...

Saïdjahs Auge fiel auf einen Schmetterling, der lustig umherschwirrte, denn es begann warm zu werden ...


Sieh, wie der Schmetterling da flattert,

Wie eine bunte Blume glitzern seine Flügel,

Sein Herz sehnt sich nach der Kenari-Blüte,

Er sucht seine duftende Geliebte.


Viel Glück, mein Falter, ich wünsche dir Heil!

Du wirst finden, was du suchest;

Ich aber sitz' allein am Djatibusch

Und warte auf das, was mein Herz liebt.


Lange schon hat der Falter geküßt

Die Kenari-Blüte, die er liebt,

Aber meine Seele ist noch immer

Und mein Herz bitter betrübt ... Adinda!


Und noch war niemand auf dem Pfade, der von Badur führte nach dem Ketapan.
Die Sonne stieg. Es war Hitze in der Luft.

Sieh, wie die Sonne strahlet in der Höhe,

Hoch über dem Waringi-Hügel,

Ihr ist zu heiß, sie möchte niedersteigen,

Im Meer zu schlafen, wie in des Gatten Armen.


Viel Glück, o Sonne, ich wünsche dir Heil!

Du wirst finden, was du suchest,

Aber ich sitz' allein am Djatibusch

Und warte auf Ruhe für mein Herz.


[250]

Lange schon wird die Sonne versunken sein

Und ruhen im Meere, wenn alles finster;

Und noch immer wird meine Seele

Und mein Herz betrübt sein ... Adinda!


Und niemand kam des Weges, der von Badur nach dem Ketapan führte.

Wenn nicht länger Falter werden flattern,

Wenn die Sterne nicht mehr werden blinken,

Wenn die Melatti nicht mehr duften wird,

Wenn nicht betrübte Herzen sein mehr werden,

Noch wilde Tiere in dem Walde,

Wenn die Sonne rückwärts laufen wird

Und der Mond wird Ost und West vergessen,

Wenn dann noch nicht Adinda kommen ist,

Dann wird ein Engel mit hellen Flügeln

Herniedersteigen und suchen, was zurückblieb:

Dann wird mein Leichnam liegen am Ketapan.

Meine Seele ist bitter betrübt ... Adinda!


Und niemand kam des Weges, der von Badur führte nach dem Ketapan.

Dann wird der Engel meinen Leichnam sehen,

Er wird den Brüdern mit dem Finger weisen:

Seht, da ist einsam ein Mensch gestorben,

Sein starrer Mund küßt die Melatti-Blume;

Kommt, laßt uns ihn in unsern Himmel tragen!

Der auf Adinda wartet', bis er tot war,

Der soll nicht hier verlassen liegen bleiben,

Des Herz die Kraft hatte, so zu lieben!


Dann wird mein starrer Mund sich nochmals öffnen,

Adinda rufen, die mein Herz lieb hat,

Noch einmal will ich die Melatti küssen,

Die sie mir gab ... Adinda! ... Adinda!


Und niemand war auf dem Wege, der von Badur führte nach dem Ketapan.

O! sie war gewiß in Schlaf gesunken gegen die Morgenstunde, ermüdet von dem Wachen die ganze Nacht, von dem Wachen vieler Nächte; sie hatte nicht geschlafen seit Wochen – so war es!

[251] Sollte er aufstehen und nach Badur gehen? Nein, das wäre gewesen, als zweifle er an ihrem Kommen.

Wenn er den Mann riefe, der da seinen Büffel aufs Feld trieb? Der Mann war zu weit, und Saïdjah wollte auch nicht von Adinda sprechen, nicht nach Adinda fragen ... er wollte sie wiedersehen, sie allein, sie zuerst. O gewiß, gewiß, sie wird bald kommen.

Er wird warten, warten ...

Wenn sie aber krank ist? ... oder tot!

Wie ein angeschossener Hirsch flog Saïdjah den Pfad hin, der von dem Ketapan nach dem Dorfe führt, wo Adinda wohnte. Er sah nichts und hörte nichts, und er hätte doch etwas hören können, denn es standen Menschen auf dem Wege beim Eingang ins Dorf, die riefen: »Saïdjah, Saïdjah!«

Aber ... war es seine Eile, seine Hast, die ihn hinderte, Adindas Haus zu finden? Er war schon hindurchgestürmt bis zum Ende des Weges, wo das Dorf aufhört, und wie wahnsinnig kehrte er um und schlug sich vor den Kopf, weil er an ihrem Hause hatte vorbeirennen können, ohne es zu sehen. Und wieder stand er vorn am Eingang und – mein Gott, war es ein Traum? – wieder hatte er Adindas Haus nicht gefunden. Noch einmal stürzte er zurück, und noch einmal blieb er stehen, griff mit beiden Händen sein Haupt, um den Wahnsinn wegzupressen, der es umfing, und rief: »Trunken, trunken, ich bin trunken!«

Und die Frauen von Badur kamen aus ihren Häusern und sahen mit Mitleid den armen Saïdjah dastehen, denn sie erkannten ihn wieder und verstanden, daß er Adindas Haus suchte, und wußten, daß es kein Haus Adindas gab im Dorfe Badur.

Denn als das Distriktshaupt von Parang-Kudjang die Büffel von Adindas Vater weggenommen hatte ...

Ich habe dir schon gesagt, Leser, daß die Geschichte eintönig ist ...

Da war Adindas Mutter vor Gram gestorben, und ihr jüngstes Schwesterchen war gestorben, weil es keine Mutter hatte, die es säugte. Und Adindas Vater, der fürchtete sich vor der Strafe, wenn er seine Landrente nicht bezahlte ...

Ich weiß es wohl, ich weiß es wohl, daß meine Geschichte eintönig ist ...

Er war aus dem Lande geflohen. Er hatte Adinda mitgenommen mit ihren Brüdern. Er hatte aber gehört, wie [252] Saïdjahs Vater zu Buitenzorg mit Stockschlägen bestraft worden war, weil er Badur verlassen hatte ohne Paß. Und darum war Adindas Vater nicht nach Buitenzog gegangen, auch nicht nach Krawang oder nach dem Preanger oder nach Batavia.

Er war nach Tjilang-Kahan gegangen, dem Distrikt von Lebak, der an die See grenzt. Da hatte er sich in den Wäldern versteckt und auf die Ankunft von Pa-etno und Pa-lontah und Si-uniah und Pa-ansiu gewartet und Abdul-Isma und auf noch einige, denen das Distriktshaupt von Parang-Kudjang ihre Büffel geraubt hatte, und die sich alle vor der Strafe fürchteten, wenn sie ihre Landrenten nicht bezahlen könnten.

Da hatten sie sich bei Nacht einer Fischer-Praauw bemächtigt und waren in See gestochen. Sie hatte westwärts gesteuert und hielten das Land rechts von sich bis Java-Pünt, von da hatten sie nach Norden gewendet, bis sie Pana-itam vor sich sahen, das die europäischen Schiffer Prinzen-Eiland nennen. Sie hatten das Eiland an der Ostseite umsegelt und hatten dann auf die Kaiserbai zugehalten, wobei sie sich nach dem hohen Pik in den Lampongs richteten.

So ging wenigstens der Weg, den man sich in Lebak ins Ohr flüsterte, wenn über Büffelraub und unbezahlte Landrenten gesprochen wurde.

Aber Saïdjah verstand nicht gut, was man ihm sagte, er begriff nicht einmal recht den Bericht vom Tode seines Vaters. Es war ein Getöse in seinen Ohren, als hätte man mit einem Gong in seinem Haupt geschlagen: er fühlte, wie das Blut in Stößen durch die Adern seiner Schläfen floß, die zu platzen drohten unter dem Drucke solcher Stöße. Er sprach nicht und starrte nur mit wirrem Blick um sich, ohne zu sehen, was um und bei ihm war, und schließlich brach er in ein gräßliche Lachen aus.

Eine alte Frau nahm ihn mit sich in ihr Häuschen und verpflegte den armen Narren.

Bald lachte er nicht mehr so gräßlich, aber er sprach auch nichts. Nur nachts wurden die Hausgenossen durch seine Stimme aufgeschreckt, wenn er tonlos sang: »Ich weiß nicht, wo ich sterben werde,« und einige Bewohner Badurs legten [253] Geld zusammen, um den Boyajas des Tjudjung ein Opfer zu bringen für Saïdjahs Genesung, den man für irrsinnig hielt. Aber irrsinnig war er nicht.

Eines Nachts, als der Mond heller schien, erhob er sich von der Baleh-Baleh und verließ sacht das Haus und suchte die Stelle, da Adinda gewohnt hatte. Das war nicht leicht, denn es waren so viele Häuser eingestürzt, aber er schien den Platz zu erkennen an der Weite des Winkels, den manche Richtlinien bildeten, wie der Seemann sich nach Feuertürmen und hervorragenden Bergeshöhen richtet.

Ja, da mußte es sein ... dort hatte Adinda gewohnt!

Strauchelnd über halbverfaulten Bambus und Stücke des herabgefallenen Daches, bahnte er sich einen Weg nach dem Heiligtum, das er suchte. Und wahrlich, da stand noch ein Stückchen von der Wand, an der Adindas Baleh-baleh gestanden hatte, und der kleine Bambusnagel stak noch drin, an den sie ihr Kleid hängte, wenn sie sich zur Ruhe legte ...

Aber die Baleh-baleh war eingestürzt wie das Haus und beinahe zu Staub vergangen. Er nahm eine Handvoll davon und drückte es an seine geöffneten Lippen und atmete sehr tief ...

Am nächsten Tage fragte er die alte Frau, die ihn gepflegt hatte, wo der Reisblock wäre, der auf dem Grundstück von Adindas Haus stand. Die Frau freute sich, daß sie ihn wieder sprechen hörte, und lief im Dorfe umher, um den Block zu suchen. Als sie den neuen Besitzer Saïdjah anzeigen konnte, folgte dieser ihr schweigend, und er zählte an dem Reisblock zweiunddreißig Einschnitte ... Da gab er der alten Frau so viele spanische Dollars, als nötig waren, um einen Büffel zu kaufen, und verließ Badur. Zu Tjilang-Kahan kaufte er eine Fischer-Praauw und kam damit nach einigen Tagen Segelns an die Lampongs, wo die Aufständischen kämpften mit der niederländischen Macht. Er schloß sich einer Bande von Bantamern an, nicht so sehr, um zu kämpfen, als um Adinda zu suchen, denn er war sanft von Gemüt und mehr der Trauer zugänglich als der Bitterkeit.

Eines Tages, als die Aufständischen wieder einmal geschlagen waren, irrte er in einem Dorfe umher, das eben erst durch das niederländische Heer erobert worden war und [254] daher in Brand stand. Saïdjah wußte, daß der Haufen, den man da vernichtet hatte, größtenteils aus Bantamern bestanden hatte. Er irrte wie ein Spuk durch die Häuser, die noch nicht ganz verbrannt waren, und fand die Leiche von Adindas Vater, mit einem Bajonettisch in der Brust. Neben ihm erblickte Saïdjah die drei ermordeten Brüder Adindas, Jünglinge, Kinder noch, und ein wenig weiter lag die Leiche Adindas, nackt, scheußlich mißhandelt ...

Ein schmales Stückchen blaue Leinwand war in die Brustwunde eingedrungen, die ein Ende gemacht zu haben schien langer Gegenwehr ...

Da stürzte sich Saïdjah einigen Soldaten entgegen, die mit gefälltem Gewehr die letzten noch lebenden Aufständischen in das Feuer der brennenden Häuser trieben; er umfaßte die breiten Säbel-Bajonette, drückte sie mit Gewalt vorwärts und drängte noch mit einer letzten Anstrengung die Soldaten zurück, als die Säbelgriffe schon gegen seine Brust stießen.

Und wenig Zeit darauf war wieder groß Gejubel zu Batavia, über den neuen Sieg, der wieder zu den Lorbeeren des niederländisch-indischen Heeres so viele neue Lorbeeren hinzugefügt hatte. Und der Landvogt schrieb, daß die Ruhe in den Lampongs wiederhergestellt war, und der König von Niederland, erleuchtet durch seine Staatsdiener, belohnte wieder so viel Heldenmut mit vielen Ritterkreuzen.

Und wahrscheinlich stiegen da Dankgebete gen Himmel, aus den Herzen der Frauen, in der Sonntagskirche oder Betstunde, als man hörte, daß der »Herr der Heerscharen« wieder unter dem Banner Niederlands mitgestritten hatte ...

Aber Gott, an den sich so viel Weh drängt, sah das Opfer dieses Tages nicht an ...

Ich habe den Schluß von Saïdjahs Geschichte kürzer gefaßt, als ich es hätte thun können, wenn ich eine Lust daran gehabt hätte, Gräßliches zu schildern. Der Leser wird gemerkt haben, wie ich bei der Beschreibung des Wartens unter dem Ketapan verweilte, als schreckte ich zurück vor der traurigen Entwicklung, und wie ich mit Abscheu darüber hinweggeglitten bin.

Das war aber meine Absicht nicht, als ich über Saïdjah zu sprechen begann. Ich fürchtete, stärkere Farben nötig zu haben, um bei der Schilderung so gräßlicher Zustände das [255] Rechte zu treffen. Als ich aber weiter kam, fühlte ich, daß es eine Beleidigung des Lesers sein würde, zu glauben, daß ich mehr Blut in meine Schilderung bringen müßte –

Ich hätte es thun können, denn ich habe Schriftstücke vor mir liegen ... aber nein ...

Lieber ein Geständnis.

Ja! ein Geständnis: ich weiß nicht, ob Saïdjah Adinda lieb hatte, nicht, ob er nach Batavia ging, nicht, ob er in den Lampongs gestorben ist unter niederländischen Bajonetten. Ich weiß nicht, ob sein Vater starb infolge der Stockschläge, die er erhielt, weil er Badur ohne Paß verlassen hatte. Ich weiß nicht, ob Adinda die Monate zählte an Kerben an ihrem Reisblock.

Das alles weiß ich nicht.

Aber ich weiß mehr als das alles. Ich weiß, und ich kann es beweisen, daß es viele Saïdjahs gegeben hat und viele Adindas, und daß, was in der einzelnen Geschichte Erdichtung ist, Wahrheit wird im allgemeinen.

Ich sagte schon, daß ich den Namen von Leuten angeben kann, die, ebenso wie die Eltern von Saïdjah und Adinda durch Unterdrückung aus dem Lande getrieben worden sind. Es ist nicht meine Absicht, in diesem Buche Mitteilungen zu geben, wie sie vor einen Gerichtshof gehören würden, der seinen Spruch fällen sollte über die Art und Weise, wie die niederländische Macht in Indien ausgeübt wird. Solche Mitteilungen würden nur für den Beweiskraft haben, der die Geduld hätte, sie zu lesen, und das kann man nicht von einem Publikum erwarten, das in seiner Lektüre Zerstreuung sucht. Deshalb habe ich, an Stelle dürrer Namen von Personen und Ortschaften, mit dem Datum dabei, und an Stelle einer Abschrift derListe von Diebstählen und Erpressungen, die vor mir liegt, versucht, eine Skizze zu geben von Dingen, die sich im Herzen der armen Leute abspielen können, die man dessen beraubt, was zu ihren Lebensunterhalt dient. Und ich habe das sogar mehr vermuten lassen, da ich fürchtete, mich zu sehr zu irren, wenn ich Umrisse von Empfindungen zeichnete, die ich aus Erfahrung nicht kenne.

Aber zur Hauptsache!

O, daß ich gerufen würde, zu beweisen, was ich schrieb! O, daß man sagte: Du hast deinen Saïdjah bloß erdichtet, er sang jenes Lied niemals, es wohnte keine Adinda in Badur! O, daß das gesagt würde, aber gesagt mit dem Willen, recht zu thun, sobald ich bewiesen hätte, daß ich kein Verleumder bin!

[256] Ist eine Lüge, das Gleichnis von dem barmherzigen Samariter, weil vielleicht niemals ein ausgeplünderter Reisender in ein samaritisches Haus aufgenommen worden ist? Ist es eine Lüge, das Gleichnis von dem Säemann, der da ausging zu säen seinen Samen, weil man weiß, daß kein Landbauer seine Saat auf einen Fels werfen wird? Oder um zu einer größeren Ähnlichkeit mit meinem Buche herunterzugehen, kann man die Wahrheit leugnen, die die Hauptsache von »Onkel Toms Hütte« ausmacht, obwohl es niemals eine Evangeline gegeben hat? Wird man zu der Verfasserin dieser unsterblichen Anklageschrift – unsterblich nicht durch Kunst oder Talent, sondern durch Ziel und Wirkung – wird man zu ihr sagen: »Du hast gelogen, die Sklaven werden nicht mißhandelt, es ist Unwahrheit in deinem Buche, es ist ein Roman!« Mußte sie nicht, statt eine Aufzählung von dürren Thatsachen zu geben, eine Geschichte darbieten, welche die Thatsachen einkleidete, um diese in die Herzen hineinzuführen? Würde man ihr Buch gelesen haben, wenn sie ihm die Form eines Aktenstücks gegeben hätte? Ist es ihre, ist es meine Schuld, daß die Wahrheit, um Eingang zu finden, so oft das Kleid der Lüge borgen muß?

Und wenn einige behaupten wollen, ich hätte Saïdjah zu sehr idealisiert, so muß ich fragen, wie sie das wissen können! Denn es geben sich nur sehr wenige Europäer die Mühe, sich zur Beobachtung der Gefühle jener Kaffe- und Zuckermaschinen herabzulassen, die man »Inländer« nennt.

Indessen wäre diese Ausstellung auch wirklich begründet, – wer das als Beweis gegen das hauptsächliche Ziel meines Buches anführt, schenkt mir einen großen Triumph.

Denn dieser Einwurf lautet mit anderen Worten nicht anders als so: »Das Böse, das du bekämpfst, besteht nicht, oder nicht in so hohem Maße, weil der Inländer nicht so ist wie dein Saïdjah; es ist bei der Mißhandlung der Javanen kein so großes Unrecht, als es wäre, wenn du deinen Saïdjah richtig gezeichnet hättest. Der Sundanese singt solche Lieder nicht, er liebt nicht so, er fühlt nicht so, also ...«

O nein, Herr Kolonialminister! O nein, Herr General-Gouverneur im Ruhestande! nicht das habt ihr zu beweisen. Ihr habt zu beweisen, daß die Bevölkerung nicht mißhandelt wird, ganz gleichgültig, ob da sentimentale Saïdjahs unter der Bevölkerung sind oder nicht! Oder wollt ihr den Mut haben, zu behaupten, man dürfe Büffel von Leuten stehlen, [257] die nicht lieben, die keine traurigen Liederchen singen, dienicht sentimental sind?

Sollte ich auf litterarischem Gebiet angegriffen werden, würde ich die Richtigkeit der Zeichnung Saïdjahs verteidigen. Aber auf politischem Boden gebe ich sofort alle Einwendungen die Richtigkeit zu, um zu verhindern, daß die große Frage auf ein falsches Gebiet hinübergespielt werde.

Es ist mir ganz gleichgültig, ob man mich für einen ungeschickten Schriftsteller hält oder nicht – aber man soll zugeben, daß die Mißhandlung des Inländers »weitgehend« ist, so lautete ja das Wort auf dem Notizblatte von Havelaars Vorgänger, das dieser dem Kontroleur Verbrügge zeigt: – das Blatt liegt vor mir!

Aber ich habe andere Beweise, und das ist ein Glück. Denn auch der Vorgänger Havelaars konnte sich geirrt haben.

O Himmel, wenn er sich geirrt hätte, so ist er für diesen Irrtum sehr hart gestraft worden.

Achtzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel.

Stern fährt fort. Frau Slotering spricht, und Havelaar schreitet zur That. – Droogstoppels großer Triumph.


Es war Nachmittag. Havelaar trat aus seinem Zimmer und fand seine Tine in der Vorgalerie, wo sie ihn mit dem Thee erwartete. Mewrouw Slotering kam aus ihrem Hause und schien sich zu Havelaars begeben zu wollen; aber plötzlich wendete sie sich nach dem Zaune zu und wies dort, mit recht heftigen Bewegungen, einen Mann zurück, der eben eingetreten war. Sie blieb stehen, bis sie sich vergewissert hatte, daß er wieder draußen war, und wendete sich darauf, an dem Grasplatze entlang, nach Havelaars Haus zurück.

»Ich muß doch endlich einmal wissen, was das bedeutet,« sagte Havelaar, und als die erste Begrüßung vorbei war, fragte er im scherzhaften Tone, damit sie nicht denken sollte, daß er ihr die Macht, die früher die ihre war, nicht gönnte:

»Sagen Sie mir doch, Mewrouw, warum Sie die Menschen, die das Grundstück betreten, zurücksenden? Wenn der Mann soeben nun jemand war, der Hühner oder dergleichen zu verkaufen hatte, was für die Küche nötig ist?«

Auf Frau Sloterings Gesicht zeigte sich ein schmerzhafter Zug, der Havelaar nicht entging.

[258] »Ach,« sagte sie, »es giebt so viel schlechtes Volk!«

»Gewiß, überall! Aber wenn Sie es den Menschen so schwer machen, werden die Guten auch wegbleiben. Bitte, Mewrouw, sagen Sie mir doch, warum Sie so strenge Aufsicht üben über das Grundstück?«

Havelaar sah sie an und versuchte vergebens die Antwort in ihrem feuchten Auge zu lesen. Er drang etwas stärker auf Erklärung, die Witwe brach in Thränen aus und sagte endlich, daß ihr Mann vergiftet worden sei im Hause des Distriktshauptes von Parang-Kudjang!

»Er wollte Gerechtigkeit üben, Mijnheer Havelaar,« fuhr die arme Frau fort, »er wollte ein Ende machen der Unterdrückung, unter der das Volk seufzt. Er mahnte und drohte den Häuptern, in Versammlungen und schriftlich ... Sie werden im Archiv seine Briefe gefunden haben ...«

Das war in der That so: Havelaar hatte die Briefe gelesen, deren Abschriften vor mir liegen.

»Er sprach fortwährend mit dem Residenten,« fuhr die Frau fort, »aber immer vergebens. Denn da allgemein bekannt war, daß die Erpressungen zum Nutzen und unter dem Schutz des Regenten erfolgten, welchen der Resident nicht anklagen mochte, so führten alle diese Unterredungen zu nichts als zu Mißhandlung der Kläger. Darum hatte mein armer Mann gesagt, wenn bis Ende dieses Jahres keine Besserung eintrete, würde er sich geradeswegs an den General-Gouverneur wenden. Das war im November. Er ging kurz darauf auf eine Inspektionsreise, nahm das Mittagsmahl im Hause des Demang von Parang-Kudjang ein und wurde kurz darauf in erbarmungswürdigem Zustande nach Hause gebracht. Er rief, auf seinen Magen zeigend: ›Feuer! Feuer!‹ und wenige Stunden später war er tot – er, der immer ein Muster von guter Gesundheit gewesen war!«

»Haben Sie den Arzt aus Serang rufen lassen?« fragte Havelaar.

»Ja, aber er hat meinen Mann nur kurz behandelt, weil dieser bald nach seiner Ankunft gestorben ist. Ich wagte es nicht, dem Doktor meine Vermutung mitzuteilen, weil ich voraussah, daß ich diesen Ort nicht so bald würde verlassen haben, und mich der Rache nicht aussetzen wollte. Ich habe gehört, daßSie, ebenso wie mein Gatte, gegen die Mißbräuche, die hier herrschen, auftreten, und darum habe ich keinen ruhigen Augenblick. Ich wollte dies alles vor Ihnen verbergen, um Sie und Mewrouw nicht ängstlich zu machen, [259] und beschränkte mich deshalb auf die Bewachung des Grundstücks, damit keine Fremden zu der Küche Zutritt fänden.«

Jetzt wurde Tine klar, warum Mewrouw Slotering ihren eigenen Haushalt hatte weiterführen wollen, und warum sie nicht einmal die Küche benutzt habe, die doch so sehr groß war.

Havelaar ließ den Kontroleur rufen.

Während der Zwischenzeit richtete er an den Arzt zu Serang ein Ersuchen um Mitteilung der Erscheinungen bei Sloterings Tod. Die Antwort, die er am folgenden Tage auf diese Frage bekam, war nicht im Sinne der Vermutung der Witwe. Nach Ansicht des Arztes war Slotering an einem »Absceß in der Leber« gestorben. Es leuchtet mir nicht ein, ob ein solches Leiden sich so auf einmal zeigen und innerhalb weniger Stunden zu Tode führen kann. Ich glaube hier auf Mewrouw Sloterings Erklärung Gewicht legen zu müssen, daß ihr Gatte früher immer gesund gewesen ist. Wenn man aber einer solchen Erklärung keinen Wert zuerkennen will, weil der Begriff Gesundheit sehr subjektiv ist, besonders in den Augen von Laien, so bleibt die gewichtige Frage, ob jemand, der heute an einem »Absceß in der Leber« stirbt, sich gestern noch zu Pferde setzen konnte, mit der Absicht, eine gebirgige Gegend zu inspizieren, die in einigen Richtungen zwanzig Stunden breit ist?

Der Arzt, der Slotering behandelte, kann ein geschickter Mediziner gewesen sein, und sich trotzdem in der Beurteilung der Krankheit geirrt haben. Auf den Verdacht einer Missethat war er ja auch ganz unvorbereitet.

Ich kann also nicht beweisen, daß Havelaars Vorgänger vergiftet worden ist, denn man hat Havelaar nicht die Zeit gelassen, dieser Sache zur Klarheit zu bringen. Aber das kann ich beweisen, daß seine Umgebung ihn für vergiftet hielt, und daß man diesen Verdacht an sein Bestreben, das Unrecht abzustellen, anknüpfte.

Der Kontroleur Verbrügge trat in Havelaars Zimmer.

Dieser fragte kurzweg: »Woran ist der Herr Slotering gestorben?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ist er vergiftet worden?«

»Ich weiß nicht ... aber ...«

»Deutlich, Verbrügge!«

»Aber er trat gegen die Mißbräuche auf ... wie Sie.. und er wäre sicher vergiftet worden, wenn er länger hier geblieben wäre.«

[260] »Schreiben Sie das auf!«

Verbrügge hatte das Gesagte aufgeschrieben ... es liegt vor mir.

»Noch eins. Ist es wahr, oder ist es nicht wahr, daß in Lebak Erpressung herrscht?«

Verbrügge antwortete nicht.

»Antwort, Verbrügge!«

»Ich wage es nicht.«

»Schreiben Sie auf, daß Sie es nicht wagen!«

Verbrügge hat es aufgeschrieben ... es liegt vor mir.

»Gut! Noch eins ... Sie sagten, Sie wagten nicht auf diese letzte Frage zu antworten. Sie sagten mir unlängst, als einmal von Vergiftung die Rede war, Sie wären die einzige Stütze Ihrer Schwestern zu Batavia ... ist das die Ursache Ihrer Furcht, von dem, was ich Halbheit nannte?«

»Ja!«

»Schreiben Sie das auf!«

Verbrügge schrieb es auf: die Erklärung liegt vor mir.

»Es ist gut,« sagte Havelaar, »ich weiß genug.«

Und Verbrügge war entlassen.

Havelaar trat hinaus und spielte mit dem kleinen Max, den er mit besonderer Innigkeit küßte. Als Mewrouw Slotering sich empfohlen hatte, schickte er das Kind weg und rief Tine in sein Zimmer.

»Liebe Tine! ich habe eine Bitte an dich: ich wünschte, daß du mit Max nach Batavia gingst. Ich klage heute noch den Regenten an!«

Und sie fiel ihm um den Hals und war zum erstenmal ungehorsam und rief schluchzend:

»Nein, Max, nein, Max, das thue ich nicht ... das thue ich nicht ... wir essen und trinken zusammen.«

Er schrieb den Brief, von dem ich hier eine Abschrift gebe und sandte ihn ab.

Nachdem ich die Umstände, unter denen dieser Brief geschrieben wurde, einigermaßen geschildert habe, brauche ich wohl nicht auf die beherzte Pflichterfüllung hinzuweisen, die aus diesem Aktenstück herausstrahlt, ebensowenig wie auch auf die Sanftmut, die Havelaar bewog, den Regenten gegen alle schwere Strafe in Schutz zu nehmen. Weniger überflüssig wird es aber sein, bei alledem auf seine Vorsicht hinzuweisen, die ihn veranlaßte, kein Wort über die eben gemachte Entdeckung zu äußern, um nicht das Sichere seiner Anklage durch Unsicherheit über eine zwar wichtige, aber noch unbewiesene [261] Beschuldigung zu schwächen. Seine Absicht war, die Leiche seines Vorgängers ausgraben und wissenschaftlich untersuchen zu lassen, sobald der Regent entfernt und dessen Anhang unschädlich gemacht wäre. Wie ich indessen schon sagte, man hat ihm nicht die Zeit dazu gelassen.

In den Abschriften offizieller Stücke – Abschriften, die im übrigen mit den Originalen buchstäblich übereinstimmen – glaube ich die alberne Titulatur durch einfache Fürwörter ersetzen zu können. Ich erwarte von dem guten Geschmack meiner Leser, daß sie an dieser Änderung Gefallen finden.


Nr. 88. Geheim.

Eilt!

Rangkas-Betung, 24. Februar 1856.


An den Residenten von Bantam.


Seit ich vor einem Monat meinen Posten hier antrat, habe ich mich hauptsächlich mit der Untersuchung der Art und Weise beschäftigt, wie die inländischen Häupter sich mit ihren Verpflichtungen gegen das Volk, betreffend die »Herrendienste«, Pundutan und dergleichen, abfinden.

Sehr bald entdeckte ich, daß der Regent auf eigene Autorität und zu seinem Nutzen, Menschen aufbot, weit über die Zahl der ihm gesetzlich zukommenden Anzahl »Pantjens« oder »Kemits«.

Ich schwankte zwischen der Möglichkeit, sofort offiziell zu rapportieren, und der Hoffnung, diesen inländischen hohen Beamten durch Milde oder später auch durch Drohungen davon abzubringen, um am Ende das doppelte Ziel zu erreichen, nämlich die Mißbräuche abzustellen und gleichzeitig den alten Diener des Gouvernements nicht sofort allzu streng zu behandeln, besonders in Anbetracht der schlechten Beispiele, die wohl oft gegeben sind, und im Zusammenhang mit dem Umstande, daß er den Besuch zweier Verwandten (der Regenten von Bandong und von Tjikand, besonders des letzteren, der wohl schon mit großem Gefolge unterwegs ist) erwartet, und ihm so mehr als sonst die Versuchung nahe tritt – und in Rücksicht auf seine beschränkten Geldmittel, gewissermaßen in der Notlage – durch ungesetzliche Mittel für die notwendigen Vorbereitungen zum Empfange zu sorgen.

Das alles veranlaßte mich zur Milde betreffs der Dinge, die schon geschehen waren, aber keineswegs zur Nachgiebigkeit für die Zukunft.

Ich drang darauf, mit den Ungesetzlichkeiten sofort aufzuhören.

[262] Von dem vorläufigen Versuche, den Regenten durch Milde zu seiner Pflicht zu bringen, habe ich Ihnen unter der Hand berichtet.

Es hat sich aber herausgestellt, daß er mit brutaler Unverschämtheit alles in den Wind schlägt, und ich fühle mich kraft meines Amtseides verpflichtet, Ihnen mitzuteilen:

daß ich den Regenten von Lebak, Radhen Adhipatti Karta Natta Negora, anklage des Mißbrauchs seiner Macht, durch ungesetzliches Verfügen über die Arbeit seiner Untergebenen, und daß ich ihn im Verdacht der Erpressung habe, ausgeübt durch Einfordern von Lieferungen in natura, ohne oder gegen willkürliche ungenügende Bezahlung;

daß ich ferner den Demang von Parang-Kudjang (seinen Schwiegersohn) im Verdacht habe, an den genannten Gesetzesübertretungen mitschuldig zu sein.

Um beide Sachen gehörig untersuchen zu können, nehme ich mir die Freiheit, Ihnen vorzuschlagen, mich zu beauftragen:

1. den vorgenannten Regenten von Lebak mit größter Eile nach Serang zu senden, und Sorge zu tragen, daß er weder vor seiner Abreise, noch während der Reise in Gelegenheiten komme, durch Bestechung oder auf andere Weise auf die Zeugnisse, die ich einfordern werde, Einfluß zu üben;

2. den Demang von Parang-Kudjang vorläufig in Arrest zu nehmen;

3. die gleiche Maßregel auf solche Personen niederen Ranges anzuwenden, die als Familien angehörige des Regenten in der Lage sein können, auf die Klarheit der anzustellenden Untersuchung Einfluß zu üben;

4. die Untersuchung sofort einzuleiten und von dem Ergebnis ausführlichen Bericht zu erstatten.

Ich nehme mir ferner die Freiheit, in Erwägung zu geben, die Reise des Regenten von Tjikand zu »kontramandieren«.

Zum Schluß habe ich die Ehre (allerdings zum Überfluß für Sie, der den Bezirk Lebak besser kennt als mir möglich ist), die Versicherung zu geben, daß vom politischen Gesichtspunkte die streng rechtmäßige Behandlung dieser Sache nicht das mindeste Bedenken hat, und daß ich eher eine Gefahr darin sehen würde, wenn sie nicht zur Klarheit gebracht würde; denn ich bin dahin berichtet, daß der kleine Mann, der, wie ein Zeuge mir sagte, »pussing« ist von der Unterdrückung, schon lange nach Rettung ausschaut.

[263] Ich habe die Kraft zu der schweren Pflicht, die ich vollbringe, indem ich diesen Brief schreibe, zum Teil aus der Hoffnung geschöpft, daß es mir vergönnt sein werde, seiner Zeit einen anderen zur Schonung des alten Regenten einzureichen, mit dessen Lage, wie sehr sie auch durch eigene Schuld verursacht ist, ich doch tiefes Mitleid empfinde.

Der Adsistent-Resident von Lebak.

(gez.) Max Havelaar.


Am folgenden Tage antwortete der Resident von Bantam? – nein, der Herr Slijmering privatim!

Diese Antwort ist ein kostbarer Beitrag, um die Art und Weise kennen zu lernen, wie in Niederländisch-Indien die Regierung ausgeübt wird. Der Herr Slijmering beklagte sich, daß »Havelaar ihm von der Sache, die im Briefe Nr. 88 vorkam, nicht vorher mündlich Kenntnis gegeben hatte« – natürlich weil dann mehr Möglichkeit gewesen wäre zur Vertuschung – und dann: daß »Havelaar ihn in seinen vielen dringenden Geschäften störte!«

Der Mann war gewiß beschäftigt mit einem Jahresbericht über »ruhige Ruhe« ... ich habe diesen Brief vor mir und traue meinen Augen nicht. Ich lese wieder den Brief des Adsistent-Residenten von Lebak ... ich lege Havelaar und Slijmering nebeneinander ...


* * *


Dieser Shawlmann ist ein gemeiner Landstreicher. Du mußt wissen, Leser, daß Bastiaans wieder oftmals nicht aufs Kontor kommt, weil er die Gicht hat. Da ich mir ein Gewissen mache aus dem Wegwerfen der Gelder der Firma (Last & Co.), denn in Prinzipiensachen bin ich unbeugsam, kam ich vorgestern auf den Gedanken, daß Shawlmann doch eine gute Hand schreibt, und da er so armselig aussieht, und für wenig Geld zu haben sein könnte, begriff ich, der Firma gegenüber verpflichtet zu sein, auf die billigste Weise auf Bastiaans' Ersatz zu denken. Ich ging daher nach der Langeleidschen Querstraße. Die Frau aus dem Laden war vorne; doch schien sie mich nicht wiederzukennen, obwohl ich ihr unlängst gesagt hatte, daß ich Mijnheer Droogstoppel wäre, Makler in Kaffee, von der Lauriergracht. Es ist immer eine Sorte von Beleidigung in dem Nichtwiedererkennen; aber da [264] es jetzt weniger kalt ist und ich das vorige Mal meine Jacke mit Pelz an hatte, schrieb ich es dem zu, und zog mir es nicht an, die Beleidigung meine ich. Ich sagte also noch einmal, daß ich Mijnheer Droogstoppel von der Lauriergracht wäre, Makler in Kaffee, und bat sie nachzusehen, ob die Shawlmanns zu Hause wären, da ich nicht wieder wie das letzte Mal mit seiner Frau zu thun haben wollte, die immer unzufrieden ist. Aber die Portierfrau weigerte sich hinaufzugehen. »Sie könne nicht den ganzen Tag Treppen klettern für das Bettelvolk,« sagte sie, »ich könnte ja selber nachsehen.« Und dann folgte wieder eine Beschreibung von Treppen und Fluren, die ich absolut nicht nötig hatte; denn ich erkenne immer gleich jede Örtlichkeit wieder, wo ich einmal gewesen bin, weil ich auf alles so acht gebe. Das habe ich mir in den Geschäften angewöhnt. Ich stieg also die Treppe hinauf und klopfte an die bekannte Thur, die sich öffnete. Ich trat ein, und da ich niemand im Zimmer fand, sah ich mich um. Viel zu sehen war ja nicht. Es hing ein halbes Höschen mit gesticktem Streifen über einem Stuhl; was brauchen solche Menschen gestickte Höschen zu tragen? In einer Ecke stand ein nicht sehr schwerer Reisekoffer, den ich in Gedanken am Griff faßte, und auf dem Ofenrand lagen einige Bücher, die ich mir ansah. Eine sonderbare Gesellschaft! Ein paar Bände vom Byron, Horaz, Bastiat, Béranger und – rate einmal! – eine Bibel, eine komplette Bibel, mit den Apokryphen drin. Das hatte ich von Shawlmann nicht erwartet. Und es schien auch, als ob drin gelesen wurde, denn ich fand viele Aufzeichnungen auf losen Papierstücken, die auf die Schrift Bezug hatten, alle von derselben Hand wie die Stücke in dem verwünschten Paket. Besonders das Buch Hiob schien er eifrig studiert zu haben, denn da gingen die Blätter auseinander. Ich denke, daß er die Hand des Herrn zu spüren anfängt, und darum durch Lektüre in den heiligen Büchern sich mit Gott aussöhnen will, und ich habe nichts dagegen. Aber wie ich nun noch so warte, fiel mein Auge auch auf ein Damen-Handarbeitskästchen, das auf dem Tische stand. Ohne Arg besah ich das, es waren ein paar halbfertige Kinderstrümpfchen eine Zahl von verrückten Versen und ein Brief an Shawlmanns Frau, wie sich aus der Aufschrift ergab. Der Brief war geöffnet und sah aus, wie in der Eile zusammengeknittert. Nun ist mein festes Prinzip, nie etwas zu lesen, was nicht an mich gerichtet ist, weil ich das nicht anständig finde. Ich thue es denn auch nie, wenn ich kein Interesse daran habe,[265] – aber nun bekam ich eine Eingebung, daß es meine Pflicht wäre, diesen Brief einmal einzusehen, weil der Inhalt mir vielleicht Aufklärungen geben könnte in betreff der menschen-freundlichen Absicht, die mich zu Shawlmann führte. Ich dachte daran, wie doch der Herr allezeit den Seinen nahe ist, da er mich hier unerwartet in die Lage brachte, mehr von diesem Mann zu erfahren, und mich also vor der Gefahr behütete, einer unmoralischen Person eine Wohltat zu erweisen. Ich achte gewissenhaft auf solche Winke des Herrn, das hat mir oft Geschäften viel genützt. Zu meiner großen Verwunderung sah ich, daß die Frau Shawlmanns von vornehmer Familie war, wenigstens war der Brief unterzeichnet von einem Blutsverwandten, dessen Namen in Niederland angesehen ist, und ich war in der That entzückt über den schönen Inhalt des Schreibens. Es schien jemand zu sein, der eifrig für den Herrn arbeitet, denn er schrieb, »daß Shawlmanns Frau sich von einem solchen Elenden, der sie Not leiden ließe, der sein Brot nicht verdienen könnte, der außerdem ein Schurke wäre, weil er Schulden hätte, solle scheiden lassen. Daß der Schreiber des Briefes mit ihrem Lose Mitleid habe, wenn sie sich das Los auch durch eigene Schuld auf den Hals geladen habe, weil sie den Herrn verlassen habe und Shawlmann anhing; – daß sie zum Herrn zurückkehren solle, und daß dann die Familie ihr die Hand bieten werde, um ihr Näharbeit zu verschaffen; – aber vor allem müsse sie sich von diesem Shawlmann trennen, der für die Familie eine Schande wäre.«

Kurz, in der Kirche selber war nicht mehr Erbauung zu holen, als in diesem Briefe stand.

Ich wußte genug und war dankbar, daß ich auf so wunderbare Weise gewarnt war. Ohne diese Warnung wäre ich sicher ein Opfer meines guten Herzens geworden. Ich beschloß deshalb wieder, Bastiaans noch zu behalten, bis ich einen geeigneten Ersatz fände, denn ich setze nicht gern jemand auf die Straße.

Der Leser wird gewiß neugierig sein, wie ich es auf dem letzten Theeabend gemacht habe, und ob ich den »Triolet« gefunden habe. Ich bin gar nicht dagewesen, ... es sind wunderliche Dinge vorgefallen; ich bin mit meiner Frau und Marie in Driebergen gewesen. Mein Schwiegervater, der alte Last, der Sohn von dem ersten Last (als die Meyers noch drin waren, aber die sind lange heraus) hatte schon oft gesagt, daß er meine Frau und Marie einmal sehen wollte. [266] Nun war es ziemlich gutes Wetter, und meine Furcht vor der Liebesgeschichte mit der Stern gedroht hatte, brachte mir auf einmal diese Einladung in die Erinnerung. Ich sprach darüber mit unserem Buchhalter, der ein Mann von Erfahrung ist, und der mir nach reiflicher Überlegung den Rat gab, die Sache noch einmal zu beschlafen. Das nahm ich mir auch sofort vor, denn ich bin schnell in der Ausführung meiner Beschlüsse. Am folgenden Tage schon sah ich ein, wie gut der Rat gewesen war, denn die Nacht hatte mich auf den Gedanken gebracht, daß ich nicht besser thun könnte, als den Beschluß auf Freitag zu verschieben. Kurz und gut, nach reiflicher Überlegung – es war viel dafür und viel dagegen – sind wir gegangen, Sonnabend mittag, und Montag früh sind wir zurückgekehrt. Ich würde das nicht alles so erzählen, wenn es nicht im engsten Zusammenhange stände mit meinem Buch.

Fürs erste lege ich Gewicht darauf, daß der Leser wissen soll, warum ich nicht gegen die Dummheiten protestierte, die Stern letzten Sonntag sicher wieder ausgekramt hat – was ist das wieder für eine Geschichte von einem, der etwas hören soll, wenn er tot ist? Marie sprach davon, sie hat es von den Rosemeyers, die in Zucker machen, – zweitens aber weil ich aufs neue in meiner sicheren Überzeugung bestärkt worden bin, daß alle die Geschichten über Elend und Unruhe im Osten offenbare Lügen sind. Da sieht man, wie das Reisen einen instandsetzt, die Sachen gut zu ergründen.

Sonnabend abend nämlich hatte mein Schwiegervater eine Einladung angenommen bei einem Herrn, der früher im Osten Resident war und nun auf einem großen Landsitz wohnt. Da sind wir gewesen, und wahrhaftig, ich kann den angenehmen Empfang nicht genug rühmen. Er hatte seinen Wagen gesandt, um uns abzuholen, und der Kutscher hatte eine rote Weste an. Nun war es wohl noch ein bißchen kalt, um den Landsitz zu besehen, der im Sommer prachtvoll sein muß. Aber in dem Haus verlangte man gar nichts mehr. Da war alles, was Unterhaltung giebt, in Hülle und Fülle: ein Billardsaal, ein Bibliothekssaal, eine überdeckte eiserne Glasgalerie als Gewächshaus, und der Kakadu saß auf einem silbernen Griff. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Da sah man, wie gute Führung stets belohnt wird. Der Mann hatte auf seine Sachen acht gegeben, das sah man, denn er hatte wohl drei Orden. Er besaß einen herrlichen Landsitz, hatte außerdem ein Haus in Amsterdam, beim Souper war alles getrüffelt, [267] und auch die Dienerschaft bei Tische hatte rote Westen an, gerade wie der Kutscher.

Da ich mich viel für die indischen Dinge interessiere, um des Kaffe willen, brachte ich das Gespräch darauf, und ich sah sehr bald, woran ich mich zu halten hatte. Dieser Resident hat mir gesagt, daß er es da im Osten immer gut gehabt hat, und daß also von den Geschichten über die Unzufriedenheit in der Bevölkerung kein Wort wahr ist. Ich sprach dann auch von Shawlmann. Er kannte ihn, und zwar von einer sehr ungünstigen Seite. Er sagte, man hätte sehr recht gethan, ihn wegzujagen, denn dieser Shawlmann wäre eine sehr unzufriedene Person, der auf alles seine Bemerkungen machte, und daß außerdem in seiner eigenen Führung viel zu mißbilligen wäre. Er holte sich öfters Mädchen heran und brächte die nach Hause zu seiner Frau, und er bezahlte seine Schulden nicht, was doch sehr unanständig ist. Da ich nun aus dem Briefe, den ich gelesen hatte, so genau wußte, wie begründet diese Beschuldigung war, so freute es mich zu sehen, daß ich die Sachen so gut beurteilt hatte, und war mit mir selbst sehr zufrieden. Ich bin auch dafür bekannt an meinem Pfeiler – daß ich immer so ein richtiges Urteil habe, meine ich.

Der Resident und seine Frau waren liebe, edle Menschen. Sie erzählten uns viel von ihrer Lebensweise im Osten, es muß da doch sehr angenehmen sein. Sie sagten, daß ihr Landsitz bei Driebergen nicht halb so groß wäre, wie der, den sie in den Binnenlanden von Java gehabt hätten, und daß da wohl hundert Menschen nötig waren, um alles instandzuhalten. Aber, und das ist ein Beweis, wie beliebt sie waren, das thaten diese Menschen da ganz umsonst, und allein aus Ergebenheit. Auch erzählte sie, daß bei ihrer Abreise der Verkauf ihrer Möbel ihnen wohl zehnmal mehr eingebracht hätte, als sie wert waren, denn die inländischen Häupter kauften alle so gern etwas zum Andenken an den Residenten. Ich erzählte da später Stern, der behauptete aber, daß dies aus Zwang geschehe, und er wollte das aus Shawlmanns Paket beweisen; aber ich habe ihm gesagt, daß Shawlmann ein Verleumder ist, daß er sich Mädchen gekapert hat, wie der junge Deutsche bei Büsselinck & Waterman, und daß ich seinem Urteil durchaus keinen Wert beilege, weil ich jetzt von einem Residenten selbst gehört hatte, wie die Sachen standen, und daher von Shawlmann nichts mehr lernen könnte.

Da waren auch noch mehr Menschen aus dem Osten, [268] unter anderen ein Herr, der sehr reich war, und der viel Geld verdiente an Thee, den die Javanen für ihn für wenig Geld machen, den aber die Regierung von ihm für hohen Preis kauft, um die Javanen zur Arbeitsamkeit zu ermutigen. Auch dieser Herr war böse auf alle die unzufriedenen Menschen, die immer gegen die Regierung sprechen und schreiben. Er konnte die Verwaltung der Kolonien nicht genug loben; er sagte, er wäre überzeugt, daß bei dem Thee, den man von ihm kaufte, viel verloren würde, und es sei deshalb ein wahrer Edelmut, fortwährend für einen Artikel, der eigentlich wenig Wert habe, einen so hohen Preis zu zahlen; ihm selber schmecke er auch nicht, und er tränke immer chinesischen Thee. Auch sagte er: daß der General-Gouverneur, der die sogenannten Theekontrakte verlängert hatte, trotz der Berechnung, daß dem Lande viel dabei verloren ginge, so ein tüchtiger braver Mann sei, und vor allem ein so treuer Freund für alle, die ihn früher gekannt hatten; denn dieser General-Gouverneur hatte sich durchhaus nicht an das Gerede gestoßen, über den Verlust am Thee, und ihm, als von der Zurückziehung der Kontrakte die Rede war, einen sehr großen Dienst gethan. »Ja,« fuhr er fort, »das Herz blutet mir, wenn ich solche edlen Menschen verleumden höre; wenn er nicht gewesen wäre, müßte ich jetzt mit Frau und Kindern zu Fuß gehen! Dann ließ er uns seinen eleganten Wagen vorfahren, und der sah so fein aus, und die Pferde steckten so gut im Fleisch, daß ich wohl begreifen kann, wie man für solch einen General-Gouverneur vor Dankbarkeit glüht. Es thut einem in der Seele wohl, das Auge auf so wackere Gefühle zu lenken, besonders wenn man sie vergleicht mit dem verwünschten Murren und Klagen von Leuten wie dieser Shawlmann.

Den Tag darauf gab uns der Resident den Besuch zurück, und auch der Herr, für den die Javanen Thee machen. Beide fragten zugleich, mit welchem Zuge wir in Amsterdam anzukommen gedächten. Wir wußten nicht, was das bedeutete; aber später wurde es uns klar, denn als wir am Montag früh da ankamen, standen auf dem Bahnhofe zwei Diener, einer mit einer roten Weste und einer mit einer gelben Weste, die uns beide sagten, sie hätten telegraphisch Befehl bekommen, uns mit dem Wagen abzuholen. Meine Frau war ganz weg, und ich dachte daran, was wohl Büsselinck & Waterman sagen würden, wenn sie das sähen, ... daß zwei Wage für uns da waren, meine ich. Aber es war nicht leicht, eine Wahl [269] zu treffen, denn ich konnte mich nicht entschließen, eine der beiden Parteien zu kränken, wenn ich eine so liebenswürdige Aufmersamkeit ablehnte. Guter Rat war teuer; aber ich habe mich aus dem höchst schwierigen Zustande wieder herausgerettet. Ich habe meine Frau und Marie in den roten Wagen gesetzt, die rote Weste, meine ich – und ich habe mich ins gelbe gesetzt, in den Wagen, meine ich.

Wie die Pferde liefen! Auf der Weesperstraat, wo es immer so schmutzig ist, flog der Schmutz häuserhoch, und als ob es so sein sollte: da lief wieder der strolchige Shawlmman, in gebogener Haltung, den Kopf gesenkt, und ich sah, wie er mit dem Armel seiner kahlen Jacke sein bleiches Gesicht von den Spritzflecken zu reinigen suchte.«

Neunzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel.

Stern fährt fort. Ein wichtiger Briefwechsel. Konferenz. Besorgnisse.


In dem privaten Breifchen, das der Herr Slijmering an Havelaar schickte, teilte er diesem mit, daß er, trotz seiner Last von Geschäften, am folgenden Tage nachRangkas-Betung kommen würde, um zu überlegen, was gethan werden solle. Havelaar wußte, was solche Überlegung zu bedeuten hatte – sein Vorgänger hatte ja so oft mit dem Residenten von Bantam »abouchiert!« – er schrieb den folgenden Brief, den er dem Residenten entgegensandte, damit ihn dieser gelesen hätte, bevor er zu Lebak ankäme. Kommentar zu diesem Briefe ist überflüssig.


Nr. 91. Geheim.

Eilt!

Rangkas-Betung, 25. Febr. 1856,


11 Uhr abends.


Gestern mittag 12 Uhr hatte ich die Ehre, an Sie meinen Eilbrief Nr. 88 abzusenden, enthaltend:

daß ich nach langer Überlegung und nachdem ich vergeblich versucht habe, ihn durch Milde von seiner Pflichtverletzung zurückzuführen, mich kraft meines Amtseides verpflichtet fühle, den Regenten von Lebak des Mißbrauchs seiner Amtsgewalt anklage und daß ich ihn wegen Erpressung im Verdacht habe.

Ich war so frei, Ihnen in diesem Briefe vorzuschlagen, dies inländische Haupt nach Serang zu bescheiden, um nach [270] seiner Abreise, und nach Neutralisation des verderblichen Einflusses seiner ausgedehnten Familie, eine Untersuchung anzustellen nach der Begründetheit meiner Anklage und meines Verdachts.

Lange, oder besser gesagt, viel habe ich nachgedacht, bevor ich diesen Entschluß faßte.

Es ist Ihnen durch meine Mitteilung bekannt, daß ich versucht habe, den alten Regenten durch Ermahnungen und Drohungen vor Unglück und Schande zu bewahren, und mich selbst aufs tiefste bekümmere, davon die – wenn auch bloß die unmittelbar voraufgehende – Ursache zu sein.

Aber ich sah auf der anderen Seite die seit Jahren ausgesogene, tief gedrückte Bevölkerung, ich dachte an die Notwendigkeit eines Beispiels – denn viele andere Bedrückungen werde ich zu berichten haben, wenn nicht diese Sache wenigstens durch ihre Rückwirkung dem ein Ende macht – und, ich wiederhole, nach reiflicher Überlegung habe ich gethan, was ich für Pflicht hielt.

In diesem Augenblick empfange ich Ihren freundlichen und geschätzten Privatbrief mit der Mitteilung, daß Sie morgen hierher kommen werden, und zugleich einen Wink, daß ich diese Sache lieber vorher privatim hätte behandeln sollen.

Morgen werde ich also die Ehre haben, Sie zu sehen, und gerade darum nehme ich mir die Freiheit, Ihnen dieses Schreiben entgegen zu senden, um vor der Begegnung das Folgende festzustellen.

Alles, was ich betreffs der Handlungen des Regenten untersuchte, war tief geheim. Er selbst allein und der Patteh wußten es, denn ich selbst hatte ihn loyal gewarnt. Selbst der Kontroleur weiß erst zum Teil den Erfolg meiner Untersuchungen.

Diese Geheimhaltung hat einen doppelten Zweck. Zunächst, als ich noch hoffte, den Regenten von seinem Wege abzubringen, war es, um ihn im Falle des Erfolges nicht bloßzustellen. Der Patteh hat sich in seinem Namen (es war am 12. dieses) ausdrücklich für die Diskretion bedankt. Später indessen, als ich an dem guten Erfolge meiner Absichten zu verzweifeln anfing, oder besser, als das Maß meiner Entrüstung überlief, infolge eines erst erfahrenen Falles – als längeres Schweigen Mit schuld gewesen wäre, da mußte ich die Geheimhaltung beibehalten in meinem Interesse, denn auch gegen mich und die Meinen habe ich Pflichten zu erfüllen.

[271] Jedenfalls würde ich nach dem Briefe von gestern unwürdig sein, dem Gouvernement zu dienen, wenn das darin stehende eitel, grundlos, aus der Luft gegriffen wäre. Und sollte oder soll es mir möglich sein zu beweisen, daß ich gethan habe, »was sich für einen guten Adsistent-Residenten zu thun gehört« – zu beweisen, daß ich nicht unter dem Amte stehe, das mir gegeben ist – zu beweisen, daß ich nicht leichtsinnig oder leichtfertig siebzehn schwere Dienstjahre aufs Spiel setze, und was mehr sagt, das Interesse von Weib und Kind – wird es mir möglich sein, das alles zu beweisen, wenn nicht ein tiefes Geheimnis meine Nachspürungen verbirgt und den Schuldigen hindert, sich »zu decken?«

Bei dem geringsten Verdachte sendet der Regent einen Eilboten an seinen Neffen, der unterwegs ist, der Interesse daran hat, ihn zu halten; er verlangt, koste es, was es wolle, Geld, teilt es mit vollen Händen an alle die aus, denen er in der letzten Zeit »schuldig« geworden ist, und die Folge würde, ich hoffe nicht sagen zu müssen: wird sein, daß ich ein leichtfertiges Urteil gefällt habe und kurz gesagt, ein unbrauchbarer Beamter bin, um mich nicht schlimmer auszudrücken.

Um mich gegen diese Möglichkeit zu schützen, dient dies Schreiben. Ich habe die größte Hochachtung vor Ihnen, aber ich kenne den Geist, den man »den Geist der ostindischen Beamten« nennen könnte, und ich besitze diesen Geist nicht.

Ihr Wink, daß die Sache besser vorher privatim behandelt wäre, läßt mich vor einem »Abouchement« fürchten. Was ich in meinem Schreiben von gestern gesagt habe, ist wahr, aber vielleicht würde es unwahr scheinen, wenn die Sache auf eine Weise behandelt werden sollte, die meine Anklage und meinen Verdacht bekannt gäbe, ehe der Regent entfernt ist.

Ich mag Ihnen nicht zu verbergen, daß selbst Ihre unerwartete Ankunft, in Verbindung mit dem gestern an Sie gesendeten Eilbrief, mich fürchten läßt, daß der Schuldige, der sich früher meinen Mahnungen nicht fügen wollte, nun vor der Zeit aufmerksam werden und versuchen wird, sich, so weit möglich, von der Schuld frei zu machen.

Ich habe die Ehre, mich noch einmal auf mein Schreiben von gestern zu beziehen, nehme mir aber die Freiheit, dabei zu bemerken, daß dies Schreiben auch den Vorschlag enthielt, vor der Untersuchung den Regenten zu entfernen, und seine Verwandtschaft vorläufig unschädlich zu machen, und gleichzeitig, [272] daß ich nicht glaube weiter für meinte Behauptungen verantwortlich zu sein, als Sie belieben werden mit meinem Vorschlage, betreffend die Behandlung der Untersuchung, – das heißt: unparteiisch, öffentlich und vor allem frei, – einverstanden zu sein.

Die Freiheit kann aber nicht eher eintreten, ehe nicht der Regent entfernt ist, und hierin liegt, nach meinen bescheidenen Ansichten, nichts Gefährliches. Denn es kann ihm auf alle Fälle gesagt werden, daß ich ihn beschuldige und verdächtige, daß ich Gefahr laufe und nicht er, falls er unschuldig ist; – denn ich selbst bin der Ansicht, daß ich aus dem Dienst entlassen zu werden verdiene, wenn sich zeigen sollte, daß ich leichtfertig oder auch nur voreilig gehandelt habe.

Voreilig – nach Jahren, Jahren Mißbrauchs!

Voreilig – als ob ein ehrlicher Mann schlafen könnte und leben und genießen, so lange die, für deren Wohlsein zu wachen er berufen ist, sie, die im höchsten Grade seine Nächsten sind, ausgeraubt und ausgesogen werden!

Es ist wahr, ich bin kurze Zeit hier. Aber ich hoffe, daß die Frage einmal sein wird, was man gethan hat, ob man das Gute gethan hat, nicht, ob man es in kurzer Zeit gethan hat. Für mich ist jede Zeit lang, die durch Unterdrückung und Erpressung gekennzeichnet ist, und schwer wiegt mir die Sekunde, die durch meine Nachlässigkeit, meine Pflichtversäumnis, durch meinen Bequemlichkeitsgeist im Elend verbracht sein könnte.

Ich bereue die Tage, die ich habe verstreichen lassen, bevor ich offiziell rapportierte, und ich bitte um Entschuldigung wegen dieser Versäumnis.

Ich nehme mir die Freiheit, Sie zu bitten, mir Gelegenheit zu geben, daß ich mein Schreiben von gestern rechtfertigen und mich vor dem Mißglücken meiner Bestrebungen schützen kann, um den Bezirk Lebak von den Würmern zu befreien, die seit Menschengedenken an seiner Wohlfahrt zehren.

Aus diesem Grunde nehme ich mir heraus, Sie aufs neue zu ersuchen, meine Handlungen in dieser Sache (bestehend in Untersuchung, Rapport und Vorstellung) gutzuheißen, den Regenten von Lebak ohne voraufgegangene direkte oder indirekte Warnung von hier zu entfernen, und weiterhin eine Untersuchung einzuleiten über das, was ich mitteilte in meinem Schreiben Nr. 88 von gestern.

Der Adsistent-Resident von Lebak.

(gez.) Max Havelaar.


[273] Diese Bitte, den Schuldigen nicht in Schutz zu nehmen, empfing der Resident unterwegs. Eine Stunde nach seiner Ankunft in Rangkas-Betung stattete er dem Regenten einen Besuch ab und richtete an ihn die folgenden zwei Fragen: »Ob er etwas gegen den Adsistent-Residenten vorzubringen habe?« und »ob er, der Adhipatti, Geld brauche?«

Auf die erste Frage antwortete der Regent: »Nichts, das muß ich beschwören!« Auf die zweite Frage antwortete er bejahend, worauf ihm der Resident ein paar Kassenscheine gab ...

Man begreift, daß Havelaar davon nichts wußte. Wir werden später erfahren, wie ihm diese schändliche Handlungsweise bekannt wurde.

Als der Resident Slijmering bei Havelaar abstieg, war er bleicher als sonst, und seine Worte standen noch weiter auseinander als jemals. Es war ja auch keine Kleinigkeit für jemand, der sich so im Beruhigen und in jährlichen Ruheberichten auszeichnete, so auf einmal Briefe zu empfangen, in denen keine Spur war von Optimismus oder künstlicher Schiebung der Sache, noch auch Furcht vor der Unzufriedenheit der Regierung. Der Resident Bantam war erschrocken, und wenn man das unedle Bild der Richtigkeit zuliebe gestatten will, möchte ich ihn mit dem Straßenjungen vergleichen, der sich über das Unrecht gegen alles Herkommen beklagt, wenn er seine Prügel bekommt, ohne erst gescholten zu sein.

Er begann mit einer Frage an den Kontroleur, warum dieser nicht Havelaar von seiner Anklage zurückzuhalten versucht habe? Der arme Verbrügge, dem die ganze Anklage unbekannt war, bezeugte das, fand aber wenig Glauben. Der Herr Slijmering konnte es nämlich nicht verstehen, wie man ganz allein, auf eigene Verantwortung und ohne lange Erwägungen und Rücksprache zu so unerhörter Pflichterfüllung übergehen konnte. Da indes Verbrügge seine Unbekanntschaft mit Havelaars Briefe aufrecht erhielt, mußte der Resident nachgeben und begann damit, die Briefe vorzulesen.

[274] Was Verbrügge bei dem Zuhören litt, ist nicht zu beschreiben. Er war ein ehrlicher Mann und würde nicht gelogen haben, wenn sich Havelaar auf ihn berufen hätte, um die Wahrheit des Inhalts zu beweisen. Aber auch ohne die Ehrlichkeit – er hatte es in vielen schriftlichen Berichten nicht vermeiden können, die Wahrheit zu sagen, auch wo diese manchmal gefährlich war. Wie sollte das werden, wenn Havelaar davon Gebrauch machte?

Nach der Vorlesung der Briefe bezeugte der Resident, daß es ihm angenehm sein würde, wenn Havelaar die Stücke zurücknähme, um sie als nicht geschrieben zu betrachten, – was Havelaar höflich, aber bestimmt ablehnte.

Nach diesem vergeblichen Versuch sagte der Resident, daß ihm dann nichts übrig bleibe, als eine Untersuchung anzustellen, ob diese Klagen begründet seien, und daß er daher Havelaar ersuchen müßte, die Zeugen aufzurufen, die seine Beschuldigung beweisen könnten.

Arme Leute, die ihr euch an den Dornsträuchen der Schlucht blutig geschunden hattet, wie hätten eure Herzen geklopft, wenn ihr diese Forderung hättet hören können!

Armer Verbrügge! Er als erster Zeuge, als Hauptzeuge, Zeuge kraft Amtes und Eides, Zeuge, der bereits gezeugt hatte auf dem Papier, das da lag auf dem Tische unter Havelaars Hand ...

Havelaar entgegnete:

»Resident, ich bin Adsistent-Resident von Lebak, ich habe gelobt, das Volk gegen Erpressung und Gewaltthätigkeit zu schützen – ich klage den Regenten an und seinen Schwiegersohn zu Parang-Kudjang – ich werde meine Anklage beweisen, sobald mir dazu die Gelegenheit gegeben wird, um die ich in meinem Briefe vorstellig wurde; – ich bin schuldig der Verleumdung, wenn die Anklage falsch ist!«

Wie frei Verbrügge atmete!

Und wie fremdartig der Resident Havelaars Worte fand.

Die Beratung dauerte lange. Mit Höflichkeit – denn höflich und wohlerzogen war der Herr Slijmering – drang er darauf, Havelaar möge von so verkehrtem Beginnen Abstand nehmen; aber mit ebenso großer Höflichkeit blieb dieser fest. Der Schluß war, daß der Resident nachgeben mußte und als Drohung aussprach, was für Havelaar ein Triumph war, daß er sich dann genötigt sehe, die bewußten Briefe der Regierung zur Kenntnis zu bringen.

Die Sitzung wurde aufgehoben. Der Resident besuchte [275] den Adhipatti, um diesem die Fragen vorzulegen, von denen ich sprach, und nahm dann das Mittagsmahl an dem kargen Tisch der Havelaars ein, worauf er nach Serang zurückkehrte ... weil ... er ... so ... besonders ... viel ... zu ... thun ... hatte ...

Am folgenden Tage empfing Havelaar einen Brief von dem Residenten von Bantam, dessen Inhalt sich aus der Antwort ergiebt, die ich hier abschreibe:


Nr. 93. Geheim.

Rangkas-Betung, 28. Februar 1856.


Ich habe die Ehre gehabt, Ihren Eilbrief vom 26. dieses La. O., geheim, zu empfangen enthaltend hauptsächlich Mitteilung,

daß Sie Gründe haben, den Vorstellungen nicht beizutreten, gemacht in meinen Amtsbriefen vom 24. und 25. dieses, Nr. 88 und 91;

daß Sie vorher vertrauliche Mitteilung gewünscht hätten;

daß Sie meine Maßnahmen, wie in den beiden Briefen beschrieben, nicht billigen;

und zum Schlusse einige Befehle.

Ich habe jetzt die Ehre, wie ja schon in der Konferenz vorgestern geschah, nochmals und zum Überfluß zu versichern:

daß ich vollkommen ehrerbietig Ihr Recht anerkenne, wo es die Wahl gilt, meinen Vorstel lungen beizutreten oder nicht;

daß die empfangenen Befehle gewissenhaft erfüllt werden sollen, und wenn es sein muß, mit Selbstverleugnung, als ob Sie selbst bei allem, was ich thue oder sage, gegenwärtig wären, oder besser, bei allem, was ich nicht thue oder nicht sage.

Ich weiß, daß Sie sich auf meine Loyalität in dieser Hinsicht verlassen.

Aber ich nehme mir die Freiheit, feierlichst gegen jeden Schein von Mißbilligung zu protestieren, betreffend eine einzige Handlung, ein einzig Wort, einen Satz, durch mich in dieser Sache gethan, gesprochen oder geschrieben.

Ich habe die Überzeugung, meine Pflicht gethan zu haben: – in Ziel und Art der Ausführung ganz meine Pflicht – nichts als meine Pflicht ohne die geringste Abweichung.

Ich hatte lange überlegt, bevor ich handelte (das heißt: bevor ich untersuchte, rapportierte und vorstellig wurde), und [276] wenn ich darin den geringsten Fehler begangen haben sollte – aus Übereilung fehlte ich nicht.

Unter gleichen Umständen würde ich aufs neue – nur etwas schneller noch – ganz, buchstäblich ganz dasselbe thun und lassen.

Und wäre es selbst, daß eine höhere Gewalt als die Ihre etwas mißbilligte, was ich that – (es müßte denn gerade das Eigenartige meines Stils sein, der einen Teil von mir selbst ausmacht, ein Gebrechen, für das ich so wenig verantwortlich bin wie ein Stotterer für das seine) – wäre es so ... doch nein, das kann nicht sein, aber wäre es so ... ich habe meine Pflicht gethan.

Wohl thut es mir, wenn auch ohne Befremden, leid, daß Sie anders darüber urteilen; und was meine Person angeht, würde ich mich schon bei dem beruhigen, was mir eine Verkennung zu sein scheint – aber es ist ein Prinzip im Spiel, und ich habe Gewissensbedenken, die verlangen, daß es ausgemacht werde, welche Meinung richtig ist, die Ihre oder die meine.

Anders dienen, als ich zu Lebak diente, kann ich nicht. Wünscht also das Gouvernement, daß anders gedient werde, dann muß ich als ehrlicher Mann um meinen Abschied einkommen; – dann muß ich mit sechsunddreißig Jahren aufs neue versuchen, mir eine Laufbahn zu eröffnen; – dann muß ich, nach siebzehn Jahren schwerer, schwerer Dienstzeit, nachdem ich meine beste Lebenskraft dem zum Opfer gebracht habe, was ich für meine Pflicht hielt, aufs neue bei der menschlichen Gesellschaft anfragen, ob sie mir Brot geben will für Weib und Kind, Brot im Tausch für meine Gedanken, Brot vielleicht im Tausch für Arbeit mit Schubkarre und Spaten, wenn die Kraft meiner Arme höher eingeschätzt wird als die Kraft meiner Seele.

Aber ich kann und will nicht glauben, daß Ihre Ansicht durch Seine Excellenz den General-Gouverneur geteilt wird, und ich bin daher verpflichtet, bevor ich zu dem bitteren Äußersten übergehe, das ich im vorigen Absatz niederschrieb, Sie ehrerbietig zu ersuchen: beim Gouvernement vorstellig zu werden:

den Residenten von Bantam anzuweisen, die Handlungen des Adsistent-Residenten von Lebak noch gutzuheißen, die sich beziehen auf dessen Dienstschreiben vom 24. und 25. dieses, Nr. 88 und 91; – oder aber:

genannten Adsistent-Residenten zur Verantwortung zu ziehen [277] auf die von dem Residenten von Bantam zu formulierenden Punkte der Mißbilligung.

Ich habe die Ehre, Ihnen zum Schlusse die dankbare Versicherung zu geben, daß, wenn etwas mich von meinen lang durchdachten und ernst, aber feurig befolgten Prinzipien in diesem Falle hätte abbringen können, es sicherlich die vornehme, einnehmende Weise gewesen wäre, in der Sie diese Prinzipien auf der vorgestrigen Konferenz bekämpft haben.

Der Adsistent-Resident von Lebak.

(gez.) Max Havelaar.


Auch ohne sich darüber auszusprechen, ob der Verdacht der Witwe Slotering über die Ursache, die ihre Kinder zu Waisen machte, begründet war oder nicht, und wenn man allein annimmt, was beweisbar ist, daß in Lebak ein naher Zusammenhang bestand zwischen Pflichterfüllung und Gift – bestand dieser Zusammenhang selbst bloß in der öffentlichen Meinung – muß man doch einsehen, daß Max und Tine kummervolle Tage nach dem Besuche des Residenten verlebten. Ich glaube nicht, die Angst einer Mutter schildern zu sollen, die bei jeder Speise, die sie ihrem Kinde reicht, sich immer wieder zu fragen hat, ob sie nicht vielleicht ihren Liebling ermordet?

Und es war ein »erbetenes« Kind, der kleine Max, der sieben Jahre nach der Verheiratung ausgeblieben war, als wüßte der Schalk, daß es kein Vorteil war, als Sohn solcher Eltern auf die Welt zu kommen.

Neunundzwanzig Tage lang hatte Havelaar zu warten, bevor der General-Gouverneur ihm mitteilte ... aber wir sind noch nicht so weit.

Kurz nach den vergeblichen Anstrengungen, um Havelaar zu der Zurücknahme seiner Briefe oder zum Verrat an den armen Leuten zu bewegen, die auf seine Großmut vertraut hatten, trat Verbrügge bei ihm ein. Der brave Mann war totenbleich und hatte Mühe zu sprechen.

»Ich bin beim Regenten gewesen,« sagte er, »das ist infam ... aber verraten Sie mich nicht!«

»Was? Was soll ich nicht verraten?«

»Geben Sie mir Ihr Wort, keinen Gebrauch davon zu machen, was ich Ihnen sage?«

»Wieder Halbheit!« sagte Havelaar, »aber gut! ich gebe mein Wort!«

[278] Und da erzählte Verbrügge, was der Leser schon weiß, daß der Resident den Adhipatti gefragt hatte, ob er etwas gegen den Adsistent-Residenten vorbringen könne, und daß er ihm zugleich unerwartet Geld angeboten und gegeben hatte. Verbrügge wußte das vom Regenten selber, der ihn fragte, welche Gründe der Resident wohl dazu gehabt haben könnte.

Havelaar war wütend, aber er hatte sein Wort gegeben.

Den folgenden Tag kam Verbrügge wieder und sagte, Düclari habe ihm vorgestellt, wie unedel es wäre, Havelaar, der mit solchen Gegnern zu streiten habe, so ganz allein zu lassen, und deshalb kam Verbrügge, ihn seines gegebenen Wortes zu entheben.

»Gut,« sagte Havelaar, »schreiben Sie es auf.«

Verbrügge schrieb es auf. Auch diese Erklärungliegt vor mir.

Der Leser hat schon lange begriffen, warum ich so billig Abstand nahm von allem Anspruch auf die Echtheit der Geschichte Saïdjahs.

Es war sehr bezeichnend, wie der furchtsame Verbrügge – vor dem Zureden Düclaris – auf Havelaars Wort zu bauen wagte, in einer Sache, die so zum Wortbruch reizte!

Und noch etwas. Es sind Jahre vergangen seit den Ereignissen, die ich erzähle. Havelaar hat in dieser Zeit viel gelitten, er hat seine Familie leiden gesehen – die Schriftstücke, die vor mir liegen, zeugen davon, und es scheint, daß er gewartet hat ... ich gebe die folgende Aufzeichnung von seiner Hand:

»Ich habe in der Zeitung gelesen, daß der Herr Slijmering zum Ritter vom niederländischen Löwen ernannt ist. Er scheint jetzt Resident von Pl...... zu sein. Ich werde also auf die Lebakschen Sachen zurückkommen können, ohne Gefahr für Verbrügge.«

Zwanzigstes Kapitel

[279] Zwanzigstes Kapitel.

Stern fährt fort. Rangkas-Betung und Batavia. Havelaars Schicksal erfüllt sich.–Sterns und Droogstoppels plötzliches Ende. Multatuli.


Es war Abend. Tine saß in der Vorgalerie und las. Havelaar zeichnete eine Stickereivorlage. Der kleine Max spielte mit einem Bilderspiel, das zusammengelegt werden mußte, und war eifrig hinterher, weil er den »roten Rock der Frau« nicht finden konnte.

»Wird es nun gut sein, Tine?« fragte Havelaar. »Sieh, ich habe nun diesen Palmenzweig etwas größer gemacht, es ist gerade Hogarths Schönheitslinie.«

»Ja, Max, aber die Knopflöcher stehen zu dicht aneinander.«

»So? Und wie ist's mit dem anderen Streifen? Max, zeig mir mal dein Höschen ... hast du den Streifen dran? ... Ach, ich weiß noch, wo du den gestickt hast, Tine!«

»Ich nicht! Wo denn?«

»Es war im Haag, als Max krank war, und wir uns so ängstigten, weil der Arzt sagte, daß er ein so ungewöhnlich geformtes Köpfchen hätte, und daß viele Sorgfalt nötig wäre, um Andrang nach dem Gehirn zu vermeiden ... da sticktest du an diesem Streifen.«

Tine stand auf und küßte den Kleinen.

»Ich habe ihren Bauch!« rief dieser vergnügt, und die rote Frau war vollständig.

»Wer hört da einen Tontong schlagen?« fragte die Mutter.

»Ich,« sagte Mäxchen.

»Und was bedeutet das?«

»Zu Bett! Aber ich habe noch nicht gegessen.«

»Erst essen, das versteht sich.«

Und sie erhob sich und gab ihm sein einfaches Mahl, das sie aus einem gut verschlossenen Schrank in ihrer Stube geholt zu haben schien, denn man hörte das Knacken vieler Schlösser.

»Was giebst du ihm da?« fragte Havelaar.

[280] »O, sei ruhig! Es ist Biskuit aus einer Blechdose von Batavia, und auch der Zucker ist stets hinter Verschluß gewesen.«

Havelaars Gedanken kehrten an den Punkt zurück, von dem sie ausgegangen waren.

»Weißt du wohl,« sagte er, »daß wir die Rechnung dieses Doktors noch nicht bezahlt haben? ... O, das ist sehr schlimm!«

»Lieber Max, wir leben hier so sparsam, bald werden wir alles erledigen können: außerdem, du wirst ja bald Resident werden, und dann ist alles in kurzer Zeit geregelt.«

»Das ist gerade eine Sache, die mir Kummer macht,« sagte Havelaar. »Ich würde ungern Lebak verlassen ... ich werde dir das erklären. Glaubst du nicht, daß wir unseren Max nach der Krankheit noch lieber hatten? Nun, so scheint es mir auch, daß ich das arme Lebak lieb haben werde nach der Genesung von dem Krebsgeschwür, das an ihm frißt seit so viel Jahren. Der Gedanke an Beförderung erschreckt mich, und doch, auf der anderen Seite, wenn ich wieder bedenke, daß wir Schulden haben ...«

»Alles wird gut werden, Max! Und wenn du von hier fort bist, dann kannst du später Lebak helfen, wenn du General-Gouverneur bist.«

Dann kamen wilde Striche in Havelaars Stickereizeichnung. Es lag Zorn in den Blumen, die Knopflöcher waren eckig, scharf, sie bissen einander ...

Tine verstand, daß sie etwas gesagt hatte, was ihm nicht gefiel.

»Lieber Max!« begann sie freundlich.

»Verflucht! ... Willst du sie so lange hungern lassen? Kannst du von Sand leben?«

»Lieber Max!«

Aber er sprang auf. Es wurde diesen Abend nicht mehr gezeichnet. Er ging in der Binnengalerie auf und nieder, und endlich sprach er, in einem Tone, der für jeden Fremden rauh und hart geklungen hätte, der aber von Tine ganz anders aufgefaßt wurde:

»Verflucht die Lauheit, die schändliche Lauheit! Da sitze ich nun seit einem Monat und warte auf Recht, und inzwischen leidet das arme Volk schrecklich. Der Regent scheint darauf zu rechnen, daß sich keiner an ihn heranwagt ... sieh ...«

[281] Er ging in sein Zimmer und kam mit einem Briefe in der Hand zurück, einem Briefe, der jetzt vor mir liegt, Leser! ...

»Sieh, in diesem Briefe wagt er mir Vorschläge zu machen über die Art der Arbeit, die er durch die ungesetzlich herbeigeholten Menschen will verrichten lassen. Ist das nicht die Frechheit zu weit getrieben? Und weißt du, wer das ist? Das sind Frauen mit kleinen Kindern mit Säuglingen, schwangere Weiber, die von Parang-Kudjang an den Hauptort getrieben sind, um für ihn zu arbeiten – Männer giebt's nicht mehr! Und sie selber haben nichts zu essen und sie schlafen auf der Landstraße und essen Sand! Kannst du Sand essen? Sollen sie Sand essen, bis ich General-Gouverneur bin? Verflucht!«

Tine wußte sehr gut, auf wen Max eigentlich böse war, wenn er so sprach zu ihr, die er so lieb hatte.

»Und,« fuhr Havelaar fort, »das geht alles unter meiner Verantwortung. Wenn in diesem Augenblick von diesen armen Wesen einige draußen herumirren und das Licht unserer Lampen sehen, werden sie sagen: Da wohnt der Elende, der uns beschirmen wollte! Da sitzt er ruhig bei Weib und Kind und zeichnet Stickereivorlagen: und wir liegen hier wie die Buschhunde auf dem Wege, um mit unseren Kindern zu verhungern! Ja, ich höre es wohl, ich höre es wohl, das Rachegeschrei über meinem Kopfe! ... Hierher, Max!«

Und er küßte sein Kind mit einer Wildheit, die es erschreckte.

»Mein Kind, wenn man dir sagen wird, daß ich ein Elender bin, der keinen Mut hatte, um recht zu thun, und daß so viele Mütter durch meine Schuld gestorben sind; wenn man dir sagen wird, daß die Schuld des Vaters den Segen von deinem Haupte wegstahl ... o Max, o Max, bezeuge du dann, was ich leide!«

Er brach in Thränen aus, die Tine ihm fortküßte. Sie brachte darauf den kleinen Max in sein Bettchen, eine Strohmatte.

Als sie zurückkam, fand sie Havelaar im Gespräch mit Verbrügge und Düclari, die soeben hereingekommen waren. Das Gespräch drehte sich um die erwartete Entschließung der Regierung.

»Ich begreife sehr wohl, daß der Resident in einer schwierigen Lage ist,« sagte Düclari. »Er kann dem Gouvernement nicht anraten, Ihren Vorstellungen Folge zu geben; denn [282] dann würde zu viel an den Tag kommen. Ich bin schon lange im Bantamschen, und weiß etwas davon, mehr noch als Sie selber, Mijnheer Havelaar! Ich war schon als Unterleutnant in diesen Strichen, und da bekommt man Dinge zu hören, die der Inländer so nicht den Beamten zu sagen wagt. Aber wenn nun, nach öffentlicher Untersuchung, das alles herauskommt, wird der General-Gouverneur den Residenten zur Verantwortung ziehen und ihn fragen, woher es kommt, daß er in zwei Jahren nicht entdeckt hat, was Ihnen sofort aufgefallen ist? Er muß also versuchen, die Geschichte zu verhindern.«

»Ich habe das wohl verstanden,« entgegnete Havelaar, »und aufmerksam gemacht infolge der Versuche, den Adhipatti zu bewegen, gegen mich auszusagen, – wahrscheinlich will er die Frage verschieben, und vielleicht mich, ich weiß nicht welches Vergehens beschuldigen – habe ich mich gedeckt, indem ich Abschriften meiner Briefe direkt an die Regierung schickte. In einem dieser Briefe steht auch die Bitte, zur Verantwortung gezogen zu werden, wenn etwa angegeben werden sollte, daß ich mich in etwas vergangen hätte. Wenn also der Resident von Bantam mich angreift, kann darauf in gewohnter Billigkeit kein Beschluß gefaßt werden, ohne daß man mich zuerst gehört hat, das ist man ja einem Verbrecher schuldig – und da ich nichts verbrochen habe –«

»Da kommt die Post an!« rief Verbrügge.

Ja, es war die Post! Die Post, die den folgenden Brief mitbrachte, von dem General-Gouverneur von Niederländisch-Indien, »an den gewesenen Adsistent-Residenten von Lebak, Havelaar.«


»Kabinett

Nr. 54.

Buitenzorg, den 23. März 1856.


Die Art und Weise, in der durch Sie zu Werke gegangen ist, bei der Entdeckung oder Vermutung von schlechten Praktiken der Häupter im Bezirk Lebak, und die dabei Ihrem Chef, dem Residenten von Bantam, gegenüber eingenommene Haltung haben in hohem Maße meine Unzufriedenheit hervorgerufen.

In Ihren Handlungen werden ebensosehr maßvolle Überlegung, Einsicht und Vorsicht vermißt, die doch so unumgänglich nötig sind bei einem Beamten, der mit Ausübung der Regierung in den Binnenlanden bekleidet ist, wie auch Subordination Ihrem unmittelbaren Vorgesetzten gegenüber.

[283] Schon wenige Tage nach Antritt Ihres Amtes haben Sie es gut finden können, ohne vorherige Ratserholung bei dem Residenten, das Haupt der inländischen Verwaltung zu Lebak zum Objekt belastender Untersuchungen zu machen.

In diesen Untersuchungen haben Sie Anlaß gefunden, ohne Ihre Beschuldigungen gegen jenes Haupt irgendwie durch Fakta, geschweige durch Beweise zu erhärten, schließlich Vorstellungen zu erheben, die das Ziel hatten, einen inländischen Beamten von der Bedeutung des Regenten von Lebak, einen sechzigjährigen, aber noch eifrigen Diener des Landes, mit ansehnlichen nachbarlichen Regentengeschlechtern verwandt und verschwägert, über den stets günstige Berichte eingebracht waren, einer ihn moralisch total vernichtenden Behandlung zu unterwerfen.

Zudem haben Sie, als der Resident sich nicht geneigt zeigte, Ihren Vorstellungen sofort Folge zu geben, sich geweigert, das billige Verlangen Ihres Vorgesetzten zu erfüllen, ihm volle Auskunft zu geben, was Ihnen über die Handlungen der inländischen Verwaltung zu Lebak bekannt war.

Solche Handlungen verdienen alle Mißbilligung und lassen leicht an Ungeeignetheit glauben, ein Amt in der binnenländischen Verwaltung zu bekleiden.

Ich habe mich verpflichtet gesehen, Sie von der ferneren Wahrnehmung des Amtes eines Adsistent- Residenten von Lebak zu entheben.

Aus Anerkennung der früheren über Sie erhaltenen günstigen Berichte indessen habe ich in dem Vorgefallenen keinen Grund finden wollen, Ihnen die Aussicht auf eine Wiederanstellung bei der binnenländischen Verwaltung zu benehmen. Ich habe Sie deshalb vorläufig beauftragt mit der Wahrnehmung des Amtes eines Adsident-Residenten von Ngawi.

Von Ihrem ferneren Verhalten in dieser Stellung wird es abhängen, ob Sie bei der binnenländischen Verwaltung angestellt bleiben können.«


Und darunter stand der Name des Mannes, auf dessen Eifer, Geschick und gute Treue der König sagte sich verlassen zu können, als er seine Ernennung zum General-Gouverneur von Niederländisch-Indien unterzeichnete.

»Wir gehen von hier fort, beste Tine!« sagte Havelaar, und reichte diesen Kabinettsbrief Verbrügge hinüber, der ihn mit Düclari zusammen las.

Verbrügge hatte Thränen in den Augen, aber sagte nichts. [284] Düclari, ein sehr geblideter Mensch, brach in einen wilden Fluch aus:

»Gott verdamm mich! Ich habe hier Gauner und Diebe in der Verwaltung gesehen ... sie sind in Ehren abgegangen, und Ihnen schreibt man solch einen Brief!«

»Es ist nichts,« sagte Havelaar, »der General-Gouverneur ist ein ehrlicher Mann ... er muß betrogen sein ... wenn er sich auch hätte vor dem Betrug hüten ... mich erst hätte hören sollen. Aber ich werde zu ihm gehen und ihm erklären, wie hier die Dinge stehen ... er wird Gerechtigkeit üben, des bin ich gewiß.«

»Aber wenn Sie nach Ngawi gehen?«

»Jawohl, ich weiß. Zu Ngawi ist der Regent mit dem Djokjokartschen Hof verwandt. Ich kenne Ngawi. Ich war zwei Jahre lang zu Bagelen. Ich würde zu Ngawi dasselbe thun müssen, was ich hier gethan habe. Es hat keinen Zweck, hin und her zu reisen. Überhaupt ist es für mich unmöglich, Dienst auf Probe zu thun, als ob ich mich schlecht geführt hätte: – und endlich, ich sehe ein, daß ich, um all diesem Betrug ein Ende zu machen, kein Beamter zu sein brauche. Als Beamter stehen zwischen mir und der Regierung zu viele Personen, die ein Interesse daran haben, das Elend des Volkes zu leugnen. Es sind noch mehr Gründe, die mich abhalten, nach Ngawi zu gehen. Die Stelle war gar nicht vakant, sie ist erst für mich frei gemacht worden, sehen Sie!«

Und er zeigte im »Javaschen Courant,« der eben mit der Post angekommen war, daß in der That durch denselben Beschluß der Regierung, der ihm die Verwaltung von Ngawi übertragen hatte, der Adsistent-Resident dieses Platzes in einen anderen Bezirk versetzt worden war, der gerade vakant war.

»Wissen Sie, warum ich gerade nach Ngawi soll und nicht nach dem vakanten Bezirk? Der Resident von Madiun, wozu Ngawi gehört, ist der Schwager des früheren Residenten von Bantam. Ich habe gesagt, daß hier immer eine so schändliche Wirtschaft geherrscht hat, daß der Regent früher so schlechte Beispiele gesehen hat ...«

»Ah!« riefen Verbrügge und Düclari zu gleicher Zeit. Sie verstanden, warum Havelaar gerade nach Ngawi versetzt [285] wurde, um auf Probe zu dienen, ob er sich etwa bessern werde.

»Und aus noch einem anderen Grunde kann ich nicht dahin gehen,« sagte er. »Der jetzige General-Gouverneur wird bald abgehen – seinen Nachfolger kenne ich nicht und weiß nicht, was von ihm zu erwarten steht. Wenn ich also noch rechtzeitig etwas für das arme Volk thun will, muß ich den jetzigen Gouverneur sprechen, bevor er abgeht, und das wäre unmöglich, wenn ich jetzt nach Ngawi ginge ...Tine!«

»Lieber Max?«

»Du hast Mut, nicht wahr?«

»Max, du weißt, daß ich Mut habe, wenn ich bei dir bin.«

»Also!«

Er erhob sich und schrieb folgenden Brief, nach meiner Ansicht ein Muster von Beredsamkeit.


Rangkas-Betung, den 29. März 1856.


An den General-Gouverneur

von Niederländisch-Indien.


Ich hatte die Ehre, Euer Excellenz Kabinettsmissive vom 23. dieses Nr. 54 zu erhalten.

Ich sehe mich genötigt, antwortlich dessen, Eure Excellenz zu ersuchen, mir einen ehrenvollen Abschied aus des Landes Dienst zu gewähren.

(gez.) Max Havelaar.


Zur Genehmigung des verlangten Abschieds war in Buitenzorg nicht so lange Zeit nötig, wie man gebraucht hatte, um schlüssig zu werden, wie man Havelaars Anklage abwenden könnte. Das hatte doch einen ganzen Monat gedauert, und die erbetene Entlassung kam binnen wenigen Tagen in Lebak an.

»Gott sei Dank!« rief Tine. »Jetzt kannst du endlich du selbst sein!«

Havelaar empfing keinen Auftrag, die Verwaltung des Bezirks einstweilen an Verbrügge zu übertragen. Er wartete deshalb auf seinen Nachfolger. Dieser blieb lange aus, weil er aus einem ganz anderen Winkel von Java kommen mußte. Nach beinahe drei Wochen Wartens schrieb der gewesene Adsistent-Resident von Lebak, der indes immer noch als solcher amtiert hatte, den folgenden Brief an den Kontroleur Verbrügge:


[286] Nr. 153.

Rangkas-Betung, den 15. April 1856.


An den Kontroleur von Lebak.


Es ist Ihnen bewußt, daß ich durch Gouvernementsbeschluß vom 4. dieses, Nr. 4, auf mein Ersuchen ehrenvoll meines Amtes enthoben bin.

Es wäre vielleicht mein Recht gewesen, nach Empfang dieses Bescheides mein Amt als Adsistent-Resident niederzulegen, da es als eine Anomalie erscheint, eine Funktion zu erfüllen, ohne Beamter zu sein.

Ich empfing indessen keine Anweisung, mein Amt zu übergeben, und teils in Rücksicht auf die Verpflichtung, meinen Posten nicht zu verlassen, ohne richtig abgelöst zu sein, teils aus Gründen von untergeordneter Bedeutung erwartete ich die Ankunft meines Nachfolgers, da ich der Meinung war, daß dieser Beamte baldigst, wenigstens noch diesen Monat eintreffen werde.

Jetzt erfahre ich von Ihnen, daß mein Nachfolger noch nicht so bald erwartet werden kann. Sie haben, meine ich, die Nachricht zu Serang gehört, und ferner, daß es den Residenten wundert, daß ich in der sehr eigenartigen Lage, in der ich bin, noch nicht darum ersucht habe, die Verwaltung an Sie übertragen zu dürfen.

Nichts konnte mir angenehmer sein als dieser Bericht. Denn ich brauche Ihnen nicht zu versichern, daß ich, der erklärt hat, nicht anders dienen zu können, als ich hier diente, ich, der ich für diese Art und Weise gestraft worden bin mit einem Verweis, mit einer ruinierenden und entehrenden Strafversetzung, und mit der Zumutung, die armen Leute zu verraten, die auf meine Ehrlichkeit vertrauten, also mit der Wahl zwischen Ehrlosigkeit und Hunger – daß ich nach allem diesem mit Mühe und Sorge jeden vorkommenden Fall an meinem Pflichtgefühl zu prüfen hatte; und daß die einfachste Sache mir schwer fiel, da ich zwischen meinem Gewissen und den Prinzipien des Gouvernements stehe, dem ich immer noch Treue schulde, so lange ich nicht meines Amtes enthoben bin.

Diese Schwierigkeit zeigte sich vor allem, wenn ich Klägern Antwort zu geben hatte.

Einmal hatte ich doch versprochen, keinem der Rache seiner Häupter auszuliefern, – auf der anderen Seite hatte ich, unvorsichtig genug, mein Wort als Bürge gegeben für die Rechtschaffenheit des Gouverneurs.

[287] Das arme Volk konnte nicht wissen, daß dieses Versprechen und diese Bürgschaft desavouiert war, und daß ich arm und ohnmächtig allein stand mit meinem Streben nach Recht und Menschlichkeit.

Und sie fuhren mit ihren Klagen fort.

Es war schrecklich, nach dem Empfang der Kabinettsmissive vom 23. März, dazusitzen als vermeintliche Zuflucht, als machtloser Beschützer.

Es war herzzerreißend, die Klagen über Mißhandlung, Aussaugung, Armut, Hunger anzuhören, während ich selbst mit Weib und Kind dem Hunger und der Armut entgegengehe.

Und auch das Gouvernement mochte ich nicht verraten. Ich konnte zu den armen Leuten nicht sagen: geht und leidet, denn die Regierung will, daß ihr ausgepreßt werdet!

Ich mußte meine Ohnmacht bekennen, da sie zusammenkam mit der Schande und der Gewissenlosigkeit der Räte des General-Gouverneurs.

Sehen Sie hier, was ich antwortete:

»Jetzt kann ich euch nicht helfen, aber ich werde nach Batavia gehen, ich werde mit dem großen Herrn sprechen über euer Elend. Er ist rechtschaffen und wird euch beistehen. Geht einstweilen ruhig heim, empört euch nicht, flieht noch nicht, wartet geduldig ab: ich denke ... ich hoffe, es soll noch Recht geschehen!«

So meinte ich, beschämt über die Verletzung meiner Hilfsversprechungen, meine Gedanken in Einklang zu bringen mit meiner Pflicht gegen die Regierung, die mir noch diesen Monat bezahlt, und ich wäre dann nach dem Eintreffen meines Nachfolgers fortgegangen, wenn nicht ein besonderer Vorfall mich heute nötigte, mit diesem doppelsinnigen Verhalten ein Ende zu machen.

Sieben Leute hatten geklagt. Ich gab ihnen obenstehende Antwort. Sie kehrten in ihr Dorf zurück. Unterwegs trifft sie das Dorfhaupt. Er soll ihnen verboten haben, ihren Kampong wieder zu verlassen, und nahm ihnen, wie man mir berichtet, die Kleider ab, um sie zu zwingen, zu Hause zu bleiben. Einer von ihnen ist entwischt, kommt wieder zu mir und erklärt, sich nicht nach dem Dorfe zurück zu wagen!

Was ich nun diesem Manne antworten soll, weiß ich nicht!

Ich kann ihn nicht beschützen; ich darf ihm meine Ohnmacht nicht gestehen; ich will das angeklagte Dorfhaupt nicht [288] verfolgen, da solches den Schein auf mich werfen würde, als wäre das alles zu Gunsten meiner Sache von mir angestiftet – ich weiß nicht mehr, was zu thun ist ...

Ich beauftrage Sie, unter späterer Bestätigung des Residenten von Bantam, mit der Verwaltung des Bezirks Lebak.

Der Adsistent-Resident von Lebak.

(gez.) Max Havelaar.


Darauf verzog Havelaar mit Weib und Kind von Rangkas-Betung. Er lehnte alles Geleit ab. Düclari und Verbrügge waren tief gerührt bei dem Abschied. Auch Max war ergriffen, besonders als er am ersten Wechselplatz eine zalreiche Menge fand, die aus Rangkas-Betung fortgeschlichen war, um ihn da zum letztenmal zu begrüßen.

Zu Serang stieg die Familie bei Herrn Slijmering ab, der sie mit der gewohnten indischen Gastfreiheit empfing.

Am Abend kam viel Besuch zum Residenten. Man sagte, gekommen zu sein, um Havelaar zu begrüßen, und Max empfing manchen vielsagenden Händedruck ...

Aber er mußte nach Batavia, um den Gouverneur zu sprechen.

Dort angekommen, ließ er um Gehör bitten. Das wurde ihm abgeschlagen, weil Seine Excellenz ein Geschwür am Fuße hatten.

Havelaar wartete, bis das Geschwür geheilt war. Dann ließ er zum zweitenmal bitten, gehört zu werden.

Seine Excellenz »hatten so viel zu thun, daß sie selbst dem Generaldirektor der Finanzen eine Audienz hatten abschlagen müssen, und konnten daher Havelaar nicht empfangen«.

Havelaar wartete, bis Seine Excellenz sich durch die viele Arbeit hindurchgewühlt haben würden. Inzwischen fühlte er etwas wie Neid auf die Leute, die Seiner Excellenz für die Arbeit unterstellt waren; denn er arbeitete gern und schnell, und schmolz solche »viele Arbeit« unter seiner Hand bald dahin. Davon konnte natürlich keine Rede sein. Havelaars Arbeit war schwerer als Arbeit ... er wartete!

Er wartete. Endlich ließ er wieder im Gehör bitten. Man gab ihm die Antwort, daß Seine Excellenz ihn nicht empfangen könne, weil er daran verhindert war durch die »vielen Geschäfte,« die seine Abreise mit sich brachte.

Max empfahl sich der Gnade Seiner Excellenz um eine halbe Stunde Gehör, sobald eine kleine freie Zeit zwischen zwei »Arbeitsüberhäufungen« sein würde.

[289] Endlich hörte er, daß Seine Excellenz am folgenden Tage abreisen würde! Das war ein Donnerschlag für ihn. Noch immer hielt er krampfhaft an dem Glauben fest, daß der abtretende Landvogt ein ehrlicher Mann war, den man betrogen hatte. Eine Viertelstunde wäre genug gewesen, um die Rechtfertigkeit seiner Sache zu beweisen, und diese Viertelstunde schien man ihm nicht geben zu wollen.

Ich finde unter Havelaars Papieren das Konzept eines Briefes, den er an den abziehenden General-Gouverneur geschrieben zu haben scheint, am letzten Abend vor dessen Rückkehr ins Mutterland. Am Rande steht mit Bleistift vermerkt »nicht genau,« woraus ich vermute, daß er beim Abschreiben noch einige Sätze verändert hat. Ich merke das an, um nicht, aus dem Mangel buchstäblicher Übereinstimmung in diesem Stück, Verdacht entstehen zu lassen an der Echtheit der übrigen offiziellen Stücke, die ich mitteilte, und die alle durch eine fremde Hand »als gleichlautend mit dem Original« bezeichnet sind. Vielleicht hat der, der diesen Brief empfing, Lust, den richtigen Text zu veröffentlichen; dann wird man durch Vergleichung ersehen können, inwieweit Havelaar von seinem Konzept abgewichen ist.


Batavia, 23. Mai 1856.


Excellenz! Mein von Amts wegen geschehenes Ersuchen vom 28. Februar, in betreff der Lebakschen Angelegenheiten gehört zu werden, ist ohne Folge geblieben.

Ebenso haben Eure Excellenz nicht beliebt, meine Bitte zu erfüllen, als ich wiederholt um eine Audienz ersuchte.

Eure Excellenz haben also einen Beamten, der bei dem Gouvernement in günstiger Weise bekannt war – Eurer Excellenz eigene Worte – jemand, der dem Lande siebzehn Jahre lang in diesen Gegenden diente, einen Mann, der nicht allein keines Verbrechens schuldig ist, der vielmehr mit sonst nicht bekannter Selbstverleugnung das Gute im Auge hatte – der für Ehre und Pflicht alles opferte – einen solchen Mann haben Eure Excellenz unter den Missethäter gestellt, denn den hört man wenigstens.

Daß man Eurer Excellenz über mich falsch berichtet hat, begreife ich – aber daß Eure Excellenz nicht die Gelegenheit ergriffen haben, um dem zu entgehen, begreife ich nicht.

Morgen reisen Eure Excellenz von hier ab und ich kann Sie nicht abziehen lassen, ohne noch einmal gesagt zu haben, [290] daß ich meine Pflicht gethan habe – ganz und gar meine Pflicht, mit Einsicht, mit maßvoller Überlegung, mit Menschenliebe, mit Milde und mit Mut.

Die Gründe, auf denen die Mißbilligung in Eurer Excellenz Kabinettsmissive vom 23. März beruht, sind von Anfang bis zu Ende erdichtet und erlogen.

Ich kann das beweisen, und das wäre längst geschehen, wenn Eure Excellenz mir eine halbe Stunde hätten Gehör schenken wollen, wenn Eure Excellenz eine halbe Stunde Zeit hätten finden können, um Recht zu thun.

Das haben Sie nicht gethan. Eine anständige Familie ist dadurch an den Bettelstab gebracht.

Indessen darüber klage ich nicht.

Aber Eure Excellenz haben das System des Raubes und Mordes, des Amts- und Machtmißbrauchs sanktioniert, unter dem der arme Javane gebückt geht. Und darüber klage ich.

Das schreit zum Himmel!

Es klebt Blut an den übrig behaltenen Pfennigen von dem dafür erhaltenen indischen Gehalt, Excellenz.

Noch einmal bitte ich um einen Augenblick Gehör, sei es diese Nacht, sei es morgen früh! Und wiederum bitte ich nicht für mich, sondern für die Sache, die ich vertrete, die Sache der Rechtlichkeit und Menschlichkeit, die gleichzeitig auch die Sache wohlverstandener Politik ist.

Wenn Eure Excellenz es mit Ihrem Gewissen vereinbaren können, von hier abzureisen, ohne mich zu hören, – mein Gewissen wird ruhig sein in der Überzeugung, alles, was möglich war, gethan zu haben, um den trauervollen, blutigen Ereignissen zuvorzukommen, die bald die Folge sein werden der eigenwilligen Unkenntnis, in der die Regierung gelassen wird, im Hinblick auf das, was im Volke vorgeht.

(gez.) Max Havelaar.


Havelaar wartete diesen Abend. Er wartete die ganze Nacht. Er hatte gehofft, daß vielleicht der Ärger über den Ton seines Briefes bewirken würde, was er vergebens mit Milde und Geduld zu erreichen gesucht hatte.

Seine Hoffnung war eitel. Der General-Gouverneur zog ab, ohne Havelaar gehört zu haben – es war wieder eine Excellenz zur Ruhe gegangen in das Mutterland!

Havelaar irrte arm und verlassen umher. Er suchte ...


* * *


[291] Genug, mein guter Stern! Ich, Multatuli, nehm die Feder auf. Du bist nicht berufen, Havelaars Lebensgeschichte zu schreiben. Ich habe dich ins Leben gerufen, ich ließ dich von Hamburg kommen, ich brachte dir leidliches Holländisch bei, in sehr kurzer Zeit; ich ließ dich Luise Rosemeyer küssen, die in Zucker macht – es ist genug, Stern, du kannst gehen!


* * *


Dieser Shawlmann und seine Frau ...

Halt, du elendes Produkt von schmutziger Geldsucht und gotteslästerlicher Heuchelei! Ich habe dich geschaffen – du bist zu einem Ungeheuer ausgewachsen unter meiner Feder – mich ekelt vor meinem eigenen Geschöpfe – ersticke in Kaffee und verschwinde!


* * *


Ja, ich, Multatuli, »der ich viel getragen habe,« ich nehme jetzt die Feder in die Hand! Ich verlange keine Nachsicht für die Form meines Buches ... diese Form schien mir geeignet, mein Ziel zu erreichen.

Dies Ziel ist doppelt.

Zum ersten wollte ich etwas schaffen, was als heilige Pusaka wird bewahrt werden können von dem »kleinen Max« und seinem Schwesterchen, wenn ihre Eltern werden umgekommen sein vor Elend.

Ich wollte diesen Kindern einen Adelsbrief geben von meiner Hand.

Und zum zweiten: ich will gelesen werden!

Ja, ich will gelesen werden! Ich will gelesen werden von Politikern, deren Pflicht ist, auf die Zeichen der Zeit zu achten, – von Litteraten, die doch wohl auch einmal das Buch zur Hand nehmen müssen, von dem man so viel Schlechtes spricht; – von Händlern, die Interesse haben an den Kaffeeversteigerungen; – von Kammerjungfern, die mich für wenige Cent aus der Leihbibliothek entnehmen, – von General-Gouverneuren im Ruhestande und von Ministern im Amte, – von den Lakaien dieser Excellenzen, – von Bittpredigern, die »nach altem Brauche« sagen werden, daß ich den allmächtigen Gott angreife, wo ich doch nur gegen den Gott ausstehe, den sie sich machten nach ihrem Vorbild, – durch die Mitglieder der Volksvertretung, die wissen [292] müssen, was da vorgeht in dem großen Reiche über See, das gehört zu dem Reiche Niederland ...

Ja, ich werde gelesen werden!

Wenn das Ziel erreicht ist, werde ich zufrieden sein. Denn es war mir nicht darum zu thun, gut zu schreiben – ich wollte schreiben, sodaß es gehört wird; – wie einer, der »Halt den Dieb!« ruft, sich wenig um den Stil seiner improvisierten Anrede an das Publikum kümmert, so ist es auch mir ganz gleichgültig, wie man die Art und Weise beurteilen wird, auf die ich mein »Halt den Dieb!« hinausgeschrien habe.

»Das Buch ist bunt zusammengewürfelt – es fehlt an Disposition – Effekthascherei – der Stil ist schlecht – der Schreiber ist ein Anfänger – kein Talent – keine Methode –«

Schön! schön! alles sehr schön – aber der Javane wird mißhandelt!

Denn eine Widerlegung der Tendenz meines Werkes ist unmöglich!

Je lauter übrigens der Tadel, die Mißbilligung meines Buches, je lieber soll es mir sein, desto größer wird ja die Aussicht, gehört zu werden – und das will ich.

Doch ihr, die ich störe in eurer »Überlastung« und in eurer »Ruhe,« Minister und General-Gouverneure! rechnet nicht so stark auf die Ungeübtheit meiner Feder. Sie kann sich vielleicht noch üben, und mit einiger Anstrengung kann sie es vielleicht zu einer Fertigkeit bringen, die dem Volk selbst die Wahrheit glaubhaft machen könnte. Dann werde ich vielleicht das Volk um einen Sitz in der Volksvertretung bitten, und wäre es auch nur, um die Zeugnisse der Rechtschaffenheit zu beleuchten, die die indischen Spezialitäten und Autoritäten sich gegenseitig austeilen, vielleicht um sich schließlich den sonderbaren Gedanken einzuimpfen, daß sie selber auf diese Qualität Wert legen; – um zu protestieren gegen die endlosen Feldzüge und Heldenthaten gegen arme elende Geschöpfe, die man vorher durch Mißhandlung zum Aufstand zwang; – um zu protestieren gegen die schandbare Feigheit der Cirkulare, die die Ehre der Nation beflecken, indem sie die öffentliche Liebesthätigkeit aufrufen für die Opfer des chronischen Seeraubs!

Freilich, die Aufständischen waren arme verhungerte Gerippe und die Seeräuber sind wehrhafte Männer ...

[293] Und wenn man mir den Sitz verweigerte – wenn man mir fortgesetzt nicht glaubte? ...

Dann werde ich mein Buch übersetzen in die wenigen Sprachen, die ich kenne – und in die vielen, die ich noch lernen kann, und ich werde von Europa verlangen, was ich in Niederland vergeblich gesucht habe.

Und in allen Hauptstädten werden Lieder gesungen werden mit Refrains wie der:

»Es liegt ein Raubstaat an der See, zwischen Ostfriesland und der Schelde!«

Und wenn das auch nicht hülfe? ...

Dann werde ich mein Buch übersetzen in das Malayische, Javanische, Sundasche, Alfursche, Bugineesche, Battahsche ...

Und ich werde Klewang-wetzende Kriegslieder in die Gemüter der Märtyrer werfen, denen ich Hilfe zugesagt habe, ich, Multatuli.

Rettung und Hilfe, auf rechtmäßigem Wege, wenn es sein kann, – auf dem gesetzlichen Wege der Gewalt, wenn es sein muß.

Und das würde dann sehr nachteilig wirken auf dieKaffeeversteigerungen der Niederländischen Handelsgesellschaft!

Denn ich bin kein fliegenrettender Dichter, kein sanfter Träumer, wie der getretene Havelaar, der seine Pflicht that mit Löwenmut, und Hunger litt mit der Geduld eines Murmeltiers im Winter.

Dies Buch ist eine Einleitung ...

Ich werde zunehmen an Kraft und Waffen, je nachdem es nötig sein wird.

Gebe Gott, daß es nicht nötig sei! ...


* * *


Nein! es wird nicht nötig sein! Denn vor Dir lege ich mein Buch nieder, Willem der Dritte, König, Großherzog, Prinz – mehr als Prinz, Großherzog und [294] König: Kaiser des prächtigen ReichesInsulinde, das sich, wie ein Gürtel von Smaragd, um den Äquator schlingt! ...

Dich frage ich mit Vertrauen, ob es Dein kaiserlicher Wille ist:


Daß die Havelaar beschmutzt werden durch den Schlamm der Slijmeringe und Droogstoppel; –


und daß da drüben Deine mehr als dreißig Millionen Unterthanen mißhandelt und ausgesogen wer den in Deinem Namen? ...

[295]

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Multatuli. Roman. Max Havelaar oder die Kaffee-Versteigerungen. Max Havelaar oder die Kaffee-Versteigerungen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-5C78-F