Oskar Panizza
Christus in psicho-patologischer Beleuchtung

[207] Welcher Leute Kind er gewesen, scheint schwer zu ermitteln. Die Mutter war jedenfalls eine ganz einfache Frau, der das exaltirte Wesen ihres Sohnes, wie das sich gemeiniglich findet, höchst zuwider war, und die Alles tat, ihn einem sog. bürgerlichen Lebensberuf zuzuweisen.

Vom Vater wißen wir gar nichts. Und auch die lächerlichen und obszönen Legenden, wie sie sich, besonders in romanischen Ländern, an den Saint Joseph anknüpften, müßen hier, weil nichts zur Sache bringend, übergangen werden. In die gleiche Rubrik gehören natürlich auch die teils razionalistischen, teils spirituellem Bedürfnis entsprungenen Annahme, ein römischer Kriegsknecht, oder der »heilige Geist«, sei sein Vater gewesen. Den heiligen Geist hatte er im Leib, aber in ganz anderer Weise, als die Drei-Einigkeits-Konstruktöre im 4ten und 5ten Jahrh. meinten, die sich den heiligen Geist als eine Person, als Taube, oder wie später der Steinmez an der Würzburger Marienkirche, der ihn sich als Klistier-Sprize dachte.

Der psichjatrische Terminus, unter dem sich Christus uns darbietet, ist die paranoia 1; die »primäre Verrüktheit«, oder, wie es Magnan nent, dégénération héréditaire. Langsam steigt das Krankheitsbild an. Früh zeigen sich exzentrische, nervöse, originäre Züge und Perversitäten. Eine starke Innerlichkeit läßt die eigene Persönlichkeit als über die Maasen wichtig, die Welt als voller Beziehungen auf das eigene Ich, erscheinen. Bald kommen Halluzinazionen, doch mehr innerlicher Art, als sog. »innere Stimmen«, die das längst gehegte und gepflegte innere Stimmungsbild auch äußerlich manifestiren; so die unumgänglich notwendige [207] äußerliche Gewißheit von der Realität der inzwischen übermäßig angewachsenen Persönlichkeit und ihrer Anexa in der Außenwelt feststellend. Inhaltlich füllen sich diese »Stimmen«, die bald als Tesen und Sentenzen sich an das Publikum wenden werden, mit dem jeweiligen povren Bildungsgehalt, den die Zeit an die Hand gibt. Je weniger solche Leute, solche Schenies, wie Richard Wagner einmal treffend bemerkt, an Schulweisheit aufgenommen haben, je beßer ist es, um so prachtvoller entwikelt sich der patologische Keim, der bestimt ist, ganze Völkermaßen zu vergiften und geistig umzugestalten. Gegenüber der Originärität der Anlage ist ja das bischen ortodoxes Wesen oder transzendentales Hoffen, welches ein Volk gerade zu solcher Zeit bewegt, so unendlich unwichtig. Es ist wie bei der Seidenraupe, die ihren Faden am nächsten Weißdorn oder tiefer liegenden Gestrüpp anheftet, um das eigene glizernde Gespinst zu beginnen. Dieses Gespinst ist die Hauptsache, das Gestrüpp nebensächlich.

Es ist sonach ziemlich unwichtig, daß Jesus gerade an den Meßiasglauben seiner Zeit anknüpfte und sich mit den alten, vertrakten Puppen eines unsäglich harten und egoistisch gestalteten, judaischen Glaubenssistems herumschlagen mußte. Mit der Sicherheit des Ingeniums und dem unfehlbaren Instinkt des Paranoïkers substituirte er sich selbst als der Kommende, als der Meßias, ahnungslos der Graßheit dieser Anmaasung für ein in seinen ortodoxen Anschauungen hart und steril gewordenes Volk wie die damaligen Juden. Und was er für alte Götterbilder damals zerschlug und von den Postamenten stürzte, kam ja noch viel weniger in Betracht.

[208] Denn seine neuen Versinnbildlichungen und Figuren waren ja unendlich viel schöner und zivilisirter. Und »sein Vater im Himmel« unterschied sich von dem alten, cholerischen, jüdischen »Jehova«, wie ein Tedeum von der bluttriefenden Stätte eines Menschenopfers.

Wir haben hier eines jener psichischen Ur-Fänomene vor uns, wie sie zwar nicht selten sind, aber doch selten in so befruchtender Weise in die Geistesgeschichte von Völkern eingreifen und deren Gemütslage bestimmen. Dieses Identifiziren der eignen, heftigen und nicht zu bewältigenden Gefühle mit »Gott«, oder irgend einem hochklingenden Simbol – hier, wenn den Evangelien zu glauben, »der liebe Vater im Himmel« – ist das Urbild eines geistigen Prozeßes, die psichische Zwangslage eines nach Gründe suchenden, innerlich heftig bewegten Menschen, der Saz des zureichenden Grundes nach Innen gekehrt und antropomorfisirt, wie wir ihn heute fast mit experimenteller Sicherheit erweisen können. Wir finden das Fänomen bei allen Religionsstiftern, bei Muhamed, bei Buddha, bei Swedenborg, bei Fox, – wir finden es bei Allen, die plözlich in überzeugender Weise ganze Völkerschaaren an ihre Befehle geheftet: beim heil. Franziskus, bei der Jungfrau von Orleans, bei Louise Lateau; wir finden es in den Kreuzzügen, bei den sektirerischen, kommunistischen Auswanderern nach Amerika im vorigen Jahrhundert, – wir finden es bei den kezerischen Begharden im 14. und 15. Jhrh., und bei der ganzen Gruppe, die die religiösen Umwälzungen im 16. Jhrh. hervorgebracht haben, bei Nikolaus Storch, bei Thomas Münzer, bei Hans Böhm, bei Luther, bei den Wiedertäufern [209] u.a. – und wir finden es schließlich bei den visionären Epileptikern in den Irrenanstalten, deren »Himmels-Erscheinungen« und »Offenbarungen« an Kraft und Schönheit in Nichts den gleichen psichischen Leistungen der christlichen Heiligen und Büßer in den Klöstern nachstehen. Daß also Christus sich auf »seinen lieben Vater im Himmel« beruft, ist bei aller prächtigen, künstlerischen und poetischen Wirkung nur ein klinischer Spezialfall in der Weltgeschichte für ein psichologisch feststehendes und gesezmäßig eintretendes Ereignis in unserer Psiche. –

Wie er aber dann das Resultat seines jünglinghaften Empfindens und Denkens, die Frucht Jahre-langer Isolirtheit und melancholischer Anwandlungen, die Stimmung einer ganz reinen, von sinlichen Regungen freien, fast homosexual gearteten, dabei glücklich und heiterveranlagten Seele in seinen lehrhaften Gesängen und Preisungen einer menschenumfaßenden, selbstlosen Nächstenliebe aushauchte und ausströmte, das war von einer Innigkeit, Süßigkeit und von einer Neuheit, daß man glaubte, die Nachtigall schlagen zu hören; hier lag der Punkt in seiner Psiche, wo er nicht zu überwältigen war; hier war die Note angegeben, mit der er prädestinirter Sieger war; jedem Feind gegenüber; hieße er Staat oder kirchliche Ortodoxie; denn Selbstlosigkeit einer Sache ist die unbedingteste Garantie für den Sieg der Sache selbst; und der Versuch, den Träger der Sache noch zum Märtirer zu machen, beschleunigt und und verstärkt nur noch den Sieg. Hier zeigt sich aber auch die gänzliche Unabhängigkeit und Intaktheit des Gefühlslebens von allen logischen Fehlern und funkzionellen Verkehrtheiten[210] des Verstandes, eines Verstandes, der längst bei Jesus, wie sein schroffes Sich-Gegenüberstellen gegen die Staatsraison zeigt, dem Bereiche deßen, was wir heute empirisch »Geisteskrankheit« nennen, verfallen war: die Primordialität des Gefühlslebens vor dem Verstandesleben. Und ähnlich, wie wir oft bei sog. moral insanity das Anwachsen des Verstandes zu einer glänzenden Höhe beobachten können, sehen wir hier bei ausgesprochener Eingeengtheit des Verstandes die Brunnen und Schleußen eines überwältigenden Gefühlslebens sich öffnen.

Nur ein einzigesmal hat sich später in der Weltgeschichte die Anstekung der Maßen von dem Gefühlsinhalt eines Einzelnen nocheinmal in dieser Weise gezeigt: bei Franz von Aßisi; freilich in Form einer Wiederholung, und in flacherer Weise, und ohne die verstärkende Hülfe des Märtirertums. Doch der Kampf stand noch bevor.

Nachdem er Jahrelang in der Einsamkeit verhart und dort – wie Luther, wie Mahomed, wie Savonarola – wie alle diese paranoïschen Geister, von einer fabelhaften geistigen Selbstsucht geplagten jungen Menschen – mit dem Teufel gerungen und alle Versuchungen abgeschlagen, und das Sistem des Selbst-Wahns gegen alle Feinde der Logik und der raison sieghaft ausgebaut, und den Prozeß der süßen Selbst-Vergottung glücklich zu Ende gebracht, tritt er hinaus, gegen alle Lapalien alltäglicher Zänkerei und Schelsucht gewapnet und im Besitz einer schneidig-satirischen Dialektir-Kunst, und fängt an, sich seinen Mitmenschen aufzuoktroiren. Hier tritt er harmlos in den Tempel ein und mischt sich unter die Oponenten. Dort harangirt er, als ein echter Agitator, wie ein zweiter Laßalle, wie ein [211] zweiter Richard Wagner, die Menge, die diesem süßen, blutleeren Jüngling nicht widerstehen kann. Ueberall, wo gerade Gelegenheit ist, beim Fischfang, auf der Hochzeit, bei Leichenbegängnißen, an der Zöllner-Schranke, während der Sabat-Ruhe greift er ein, knüpft an die kleinen Tages-Ereigniße an und wirft, wie Sokrates, den Harmlos-Dahin-wandelnden seine scharfen Antitesen in den Weg. Auch die tricks damaliger Wundertäter – die unvermeidliche Zugabe, um sich das air eines Uebermenschen, eines Geistesgewaltigen, eines Zauberers zu geben – hat er sich alle zu eigen gemacht und beherscht sie mit großer Bravur und Eleganz. Gar aber, wenn er eine glükliche corona junger Landmädchen, erschöpfter Arbeitsfrauen, gutmütiger Prostituirten und naiver Taglöhner um sich versammelt hat, und darf sie die ganze zauberische Wirkung seiner innersten Herzensregungen mit einem »Selig sind die Friedfertigen! Selig sind die Armen! Selig sind die reines Herzens sind!« spüren laßen, und nimt von diesen geplagten Proletarier-Naturen die Angst und den Schimpf ihres Daseins, und öffnet ihnen den Himmel, der eigens für sie, mit Ausschluß der Reichen, bereitet ist – dann hat er sie Alle. Welcher Unterschied muß zwischen diesen rührenden Lauten eines Galiläischen Naturgefühls und dem harten, silbenmeßenden Gezänk ortodoxer Tempelgelehrten für diese Zuhörer bestanden haben! Wie mußten sie sich beglükt, von diesem äterischen jungen Menschen entzükt und begeistert fühlen! Haufenweise liefen sie ihm nach, wie später dem Pfeifer von Niklashausen am Ende des 15. Jhrh., wo immer er die süße Flöte seines Herzens ertönen ließ, schwuren hoch und heilig [212] auf ihn, glaubten ihm alles, was er verlangte, seine Davidische Abkunft wie seine Gottes-Sohn-schaft und sein zukünftiges kommunistisches Himmel-Reich, welches er auf Erden eröffnen werde – auf ein bischen Mehr oder Weniger kam es da nicht mehr an – und bald konte er die Provinz und das organisirte Landvolk gegen die prozige, schwelgende Hauptstadt im Sturm heranführen.

Dort war man allerdings aufmerksam geworden. Dies schien eine gefährliche Nummer. Aehnliche Geschichten kamen ja alle Tage vor. Bei der allgemeinen Unzufriedenheit, den wirklich niederträchtigen politischen Verhältnißen und der stumpfen Gleichgültigkeit gegen Alles, auch das Tollste, bei einem geknechteten, geistig unterdrükten Volk, kam es alle Augenblik vor, daß ein Verwegener oder Exaltirter den Straßenpöbel an sich zog, ihn hinausführte auf das steinige, sterile flache Land, dort harangirte und durch Hunger schwächte, um dann die solchermaasen zur Aufnahme jeder Sugestion Bereiten und Halb-Wahnwizig-Gewordenen im Sturm gegen die Stadt zu führen. Wiederholt war es geglükt, und das Proletarjat hatte sich dann in den Besiz des Stadtregiments gesezt. Meist aber avertirten die ortodoxen Teokraten, die hier ein politisches Scheinregiment führten, den römischen Landpfleger und baten um den »weltlichen Arm«. Römische Reiterei ward dann hinausgeschikt und die Entkräfteten und schlecht Bewafneten einfach zusammengehauen.

Daß es sich hier bei Jesus vom Standpunkt der Staatsräson – und welchen anderen solte es denn geben? – um einen Aufrührer ganz ähnlicher Art handelte, das war außer allem Zweifel. Aber die [213] große Menge, um die es sich hier handelte, die zahlreichen Agitazionsreisen, die er gemacht hatte, das Aufflakern der Empörung auf allen Seiten, in verschiedenen Provinzen, die lange Vorbereitungszeit – zwei Jahre –, die die Bewegung genommen hatte, gab der Regierung doch zu denken.

Man probirte zuerst, ihn von der schwachen Seite zu nehmen und ihn sanft zu entwafnen, indem man sein – Gott wie ärmliches und offenbar verrüktes! – Lehrsistem widerlegte; und schikte ihm Farisäer auf den Weg. Aber siehe da, die waren dem Jungen nicht gewachsen. Sein Lehrsistem und seine Dialektir-Kunst, das waren seine starke Seite, nicht seiner schwachen Seite. Und wie gab er ihnen hinaus! Ein echter Paranoïker, der, troz der in seiner Psiche wuchernden grandiosen und graßen Wahnideen, seinen Intellekt zu einer scharfen, ja glänzenden Verteidigungswaffe umgeschmiedet hatte. Belzebub? Wie hat er ihnen den Vorwurf des Teufelsbündnißes hinausbezahlt und seine rührendreine Seele diesen geistigen Schmuzfinken entgegengehalten!

Was solte man nun tun? Irrenhäuser gab es nicht. Die »kranke« Psiche wurde zudem teologisch konstruirt. Psichjater gab es noch weniger. Aber Staatsanwälte gab's. Die gibt es immer. So griff man denn zum Gotteslästerungsparagrafen. Das ist ja in solchen Fällen immer das Einfachste. Das Gouvernement sucht sich einen Paragrafen heraus, unter dem man den unangenehmen Menschen definitiv losbekomt. Ist zufällig die Totesstrafe nicht eingeführt, dann wendet man juristisch die Sache so, daß wenigstens 15 Jahre Zuchthaus herauskommen. Inzwischen wird er geisteskrank oder die [214] Disziplin bringt ihn um. So oder so! Auf dem Gericht ist man ja seiner Sache sicher. – Hier lag die Sache noch günstiger, weil auf Gotteslästerung – und hier war er zu überführen – die Totesstrafe stand. Dann war auch diese Bewegung niedergeschlagen, und der bürokratische Aparat hatte wie in so vielen früheren Fällen zur vollständigen Zufriedenheit funkzionirt.

Aber der Wahnsinn machte in dem Kopfe unseres heldenmäßigen Jünglings reißendere Fortschritte, als die Herrn sich in Jerusalem träumen ließen. Als er sah, daß die psichische Anstekung seines Gottes-Reiches auf Erden zu langsam vorwärts schreite und sich vertrötle, daß er aber die Volksmaße noch hinter sich habe, wagte er den coup und führte, wie Masaniello, seine Anhänger zum Sturm. – Die Evangelisten haben in ihrer Jahrhunderte-langen Verzukerungs-Arbeit diese Tat zu einem süßen Frühlings-Einzug mit Palmwedeln und weißgekleideten Mädchen gewandelt; als ob eine politische Herrschaft und eine römische Besazungstruppe mit Palmwedeln fortgeweht werden könne! – Im ersten Ansturm warf er Alles nieder. Und faktisch bestand für einige Tage, für einige Wochen, seine Teokratie, wie später die Savonarola's in Florenz, zu Recht. – Daß er das prästirte, mit seinem kranken Hirn, muß die Bewunderung jedes Kenners, jedes Psichjaters hervorrufen. – Aber wie ist denn bei diesen halb intelligenten, halb impulsiven Naturen Alles oft wunderbar gemischt! Man denke doch an Knipperdollinck und seine Leute, die ein halb politisch-, halb religiös-erotisch-fantastisches Reich s. Z. in Münster mit der größten Ehrlichkeit und zugleich mit der durchtriebensten [215] Schlauheit über Jahresfrist hinaus führten und prästirten! Oder an jenen Zwickauer Tuchmacher Nikolaus Storch, der mit Halluzinazionen beladen Jahrelang in Mitteldeutschland umherzog und überall die Geister auffegte! Es gibt eben Zeiten, da sind Halluzinanten nicht mit Gold aufzuwiegen, und sie, ihre weichen mit wunderbarer Gestaltungskraft begabten Naturen, die einzige Möglichkeit, die in ihres Herzens Härte und Schädels Dike vollständig steril gewordenen Maßen mit neuem Geist zu erfüllen. Juristen möchten in solchen Fällen, wenn dieselben vor ihr Forum kommen, immer unterscheiden, was noch dem »freien Willen«, der Zurechnungsfähigkeit mit den normalen Hemmungen, und was der unwiderstehlichen Impulsivität – was sie »Krankheit« nennen – zukomt. Als ob man das scheiden könne! Einem Psichologen graut es vor solchem Verfahren. Was sind Halluzinazionen? Es sind autochtone Aeußerungen der menschlichen Psiche, die uns mit den verborgensten Tiefen der menschlichen Seele bekant machen, der lezten Instanz, die wir als bewußte Wesen besizen. Sind sie religiös gefärbt, dann sind sie unbesiegbar. Weil sie auf gleiche Tiefen und Urgründe bei den zuhörenden Maßen stoßen. Werden sie aufgenommen, dann sind sie »die Wahrheit«. Wie M. Jacobi schon richtig sagte: »Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.« – Die Halluzinazionen und Visionen Mahomed's bilden die reale Grundlage für das islamitische Glaubenssistem. – Solche Leute nach der Regulatur juristischer Nominalismen behandeln wollen, heißt einen Riesen mit dem Lineal meßen, heißt ein Kunstwerk nach dem Materjal abschäzen, aus [216] dem es hergestellt ist, heißt etwa: dem Vorspiel zu »Lohengrin« mit einem fisikalischen Lehrbuch über Akustik zu Leibe gehen wollen. – Verfaßer erinnert sich noch lebhaft einer prächtigen Figur in der Münchener Kreis-Irrenanstalt, eines armen Feilenhauers B., deßen Schulranzen, wie begreiflich, mit den poversten Bildungsmitteln ausgestattet war. Er war, abgesehen von seinen paar Wahnideen, nach der intellektuellen Seite vollständig intakt. Seine räsonirende Kraft war frisch und klar. Nach der Gefühlsseite, nach der sensoriellen Seite, nach der Seite der Eingebungen und Ahnungen hatte er sich vollständig zur Christus-ähnlichen Figur mit jenen wunderbaren Allüren der Milde und der bestrikenden Sanftmut herangebildet. Jahre lang war er Landauf Landab gezogen, um sein ungeheures Gefühl seiner meskinen Umgebung, seiner eigenen Armut anzupaßen. Und endlich ging's nicht mehr. Und jetzt stand er dort mit brennendem Blik, mit der ganzen Glut seiner Seele den Arzt umklammernd, bereit, Alles für die Heiligkeit seines Inneren zu opfern, eines Inneren, welches er mit ein paar Jugenderinnerungen, mit einigen Schulkentnißen vollständig in der rührendsten Einfalt durch einige heiligmäßige Sentenzen zu gestalten im Stande war. – Das ist das Menschenmaterjal, aus dem Religionsstifter geschnizt werden. Religionen sind relative Geisteswerte und -Wahrheiten, die einen günstigen Boden zum Fortwuchern finden. Es gibt keine absolute Wahrheiten. Es gibt nur das relative Maas von Selbst-Offenbarung im Menschen, und die Anstekung durch die Maßen. Dieser junge Mann in Zeiten der Not, der Trübsal, der Angst, der allgemeinen [217] Misere hinausgelaßen, unterwirft sich mit seiner keuschen Geste, mit einer der allgemeinen Trübsal angepaßten, überirdischen Sentenz, Dorf auf Dorf und Fleken auf Fleken. Dieser Feilenhauer hatte eine feinere Figur gemacht als der hämische Tuchmacher Nikolaus Storch im 16ten Jhrh., der sich Landstrich um Landstrich unterwarf, und sogar einen Mann wie Melanchthon tief erschütterte. –

Aber in Jerusalem stand die Reakzion bevor, und die Behörden hatten nach der ersten Ueberraschung sich rasch ralliirt. Wie hier Verstärkung der Energie, so war auf der andern Seite, bei Jesus, Erschlaffung nach einer furchtbaren geistigen Leistung eingetreten. Und wenn eine Sache nicht vorwärts geht, dann geht sie immer zurük. Was konte der unvergleichliche Jüngling, der mit dem Frühlingssturm seines Gefühles Alles vor sich her niedergeworfen und begeistert hatte, in dieser weitausgedehnten Stadt an Staatseinrichtungen schaffen, an praktischer Teokratie leisten? Mit was wolte er den troknen bürokratischen Aparat, der hier das tägliche Leben in Ordnung hielt, und der doch nicht in seinen Händen war, ersezen, er, der nur Seligpreisungen hauchen, oder, im günstigsten Fall, harangiren und fanatisiren konte. Bei der französischen Komune handelte es sich um Leute, die an Ort und Stelle gelebt hatten, den Gang der Geschäfte kanten und ihn, tant bien que mal, wenigstens aufrecht erhalten konten. Aber hier handelte es sich um Fischer–wie in Portici bei Masaniello-, um Fischer, um Handwerker, um einen Haufen zusammengelaufenen, gutmütigen, aber gänzlich unfähigen Volks. In solchen Fällen ist die Niederschlagung des Putsches immer mit Sicherheit zu [218] erwarten. Und hier speziell handelte es sich zunächst nur darum, den Anstifter der ganzen Bewegung, den actor rerum, den fanatischen und kranken Kopf in seine Hände zu bekommen. Das Uebrige wolte nicht viel heißen. Auch hatte die Bewegung, wie es scheint, sehr bald darauf verzichtet, das Innere Jerusalems als sein Eigentum zu betrachten, und sich in die Umgebung geflüchtet. Die Verhaftung Jesu gelang anscheinend ohne Schwierigkeit. Eine Patrouille wurde, sobald man seinen Aufenthaltsort erfahren, hinausgeschikt und nahm ihn in Empfang. Im Nu war, als die Realität der Tatsachen hereinbrach, der ganze Haufe der Anhänger zerstoben.

Nun wäre die Sache einfach gegangen und bei der Unkomplizirtheit des Falles – die einfache Ueberführung des geständigen Gotteslästerers – die Angelegenheit in wenigen Tagen erledigt gewesen, wenn nicht endlose Kompetenzschwierigkeiten zwischen dem Synedrium, der jüdischen Religionsbehörde, und der römischen Exekuzion bestanden hätten, und, wie das immer so geht, eine Menge kleinlicher Intereßen sich bei dieser Gelegenheit auf fremde Kosten zu regeln unternommen hätten. Die römische Behörde mit ihrer alten kolonisatorischen Schulung und ihrem großartigen Blik für Parität vermied es ängstlich, sich in die religiösen Streitigkeiten dieser Duodez-Völkchen zu mischen, auch wenn ihr der örtliche Kult – der nicht einmal eine Ausbeute nach der sinlichen Seite für Rom erlaubte – weniger widerwärtig gewesen wäre. Und die jüdische Kult-Behörde andererseits hielt streng auf die Selbständigkeit und die Unverlezlichkeit ihrer Anordnungen im Hinblik auf die Pastorisirung [219] des Volkes, die einzige Freiheit, die ihr geblieben war. Zwischen diesen beiden Gewalten war also die Möglichkeit einer Kolision, eines Kompetenzstreits, sozusagen ausgeschloßen. Und nur in einem Punkt verbat sich die römische Exekutive ernstlich jede Inanspruchnahme des weltlichen Arms: im Fällen von Totesurteilen und deren Vollziehung wegen angeblicher religiöser Vergehen. Einem Staat, wie dem römischen, dem längst die eigene Landes-Religion augurenhafter Mumpiz geworden war, und der aus dem großen Reservoir seiner asiatischen Provinzen Alles das zusammengetragen hatte, was an erotisch gefärbten Kulten und religiösem Sinneskizel sich für Rom exportfähig erwiesen hatte, mußte es abstrus und unanständig vorkommen, Jemanden wegen religiöser Meinungen hinzurichten. Nun war Jesus nach dem jüdischen Gesez zweifellos überführter Gotteslästerer. Und auf Gotteslästerung stand nach dem jüdischen Gesez Totesstrafe. Wie aber diese Totesstrafe vollziehen, da der weltliche Arm religiöse Hinrichtungen auszuführen sich weigerte? Jezt entstand die große Frage: unter welchem Paragrafen bringen wir den Menschen unter? Ein Gelaufe und Gefrage nach einem Paragrafen. Ein Paragraf, ein Paragraf! Irgend ein Paragraf, der die Anwendung der Totesstrafe gestattet. Glücklicherweise hatte Jesus in einem unbewachten Moment auch Etwas von einem »König« gesprochen, »König der Juden«. Dies schien politischen Beigeschmak zu haben. – »Bist du der König der Juden?« fragt ihn Pilatus. – »Du sagst es!«– Nun schien's gewonnen. Und nun entstand jenes widerwärtige Gezeter und Gelaufe von Behörden und Gerichtsdienern, jenes verlogene [220] Plädiren gekaufter Advokaten, jenes Augenzwinkern und Akten-Umregistriren, jenes Aussuchen von Strafkammern, jene scheußliche Wühlarbeit von agents provocateurs, die die Maße zu einem »Kreuzige!« aufstachelten, und Taggeldsüchtiger Kronzeugen, die zu jeder Wortverdrehung bereit waren, jenes Telegrafiren nach neuen Zeugen und Instanzengeschiebe, bei dem dem Staatsanwalt der Kopf brumt – denn wenn er den Prozeß verliert (es ist ein politischer Prozeß und die Verurteilung von der Behörde befohlen), dann ist es mit dem Avancement vorbei. Jeder Tag bringt eine neue Konstellazion, jede Stunde einen Paragrafenwechsel. Der »Meßias«-Paragraf, und der »Gottes-Sohn«-Paragraf, und der Paragraf, unter den fält, daß er gesagt habe: »er wolle den Tempel in drei Tagen abbrechen«, sind alle fallen gelaßen worden. Es geht mit dem »Gotteslästerungs«-Paragraf nicht. Jezt komt der »Majestätsbeleidigungs«-Paragraf. »König der Juden.« So geht's, wenn's geht.........

Und es ging. Zwar Pilatus, ein ruhiger, trokner Beamter, dem dieses ekelhafte Gezeter bis in der Seele zuwider war, merkte genau, wo man hinaus wolle. Er erkante sofort, daß das Alles juristischer Schwindel und Humbug war, dieses Hinüber-Spielen auf's Politische, erbärmlicher Paragrafen-Wechsel und Rechtsbiegung. »Was hat er denn Uebels getan? Ich finde keine Ursach an diesem Menschen!«– Aber die Maße war doch zu drohend. Die Agenten des Synedriums hatten furchtbar gearbeitet. Jezt fing die Sache wirklich an, politisch zu werden. Und dann: das Bischen Jesus. Noch dazu aus Galiläa. Ein Provinzler. Ein Handwerker.

[221] Ein Proletarier. Und offenbar krank. Das war das Leben dieses Mannes nicht wert, daß auch noch ein politischer Aufruhr entstehe. – Am Ende die Aufforderung zu einem Immediat-Bericht nach Rom? – Eine krumme Miene des Kaisers? – o Gott!......

Und so starb Jesus. Starb den Tot durch Henkershand. Ein Paranoïker. Aber ein Geistesheld, der mit der ganzen zähen, nie wankenden Kraft des paranoïschen Wahns seine Ideen bis zum lezten Blutstropfen verteidigt; indem er als Märtirer fält, die Maßen mit dem Inhalte seines Wahns anstekt, und so der »Geisteskrankheit« eine fast 2000jährige Dauer von »Wahrheit« verschaft.

Er starb wie Sokrates, wie Savonarola, wie Hus, wie Servet, wie Sand, wie die Perowskaja, wie Angiolillo, in dem als psichisches Fänomen einzigen und unvergleichlichen Bewußtsein, nur durch den Tot einer idealistischen Idee zum Siege zu verhelfen.

Die Evangelienschreiber haben den Prozeß der Legendisirung an diesem wunderbaren Anarchisten bis zur Uebersüßung und Rührseligkeit vollzogen. Und das Meiste an diesem herlichen Charakterbild ist verschwommen und unsicher. Aber Eines scheint sicher zu sein: Das allmäliche und ruhige Aufwachsen und Keimen des eigentümlichen Ideengehalts bei ihm, das echt paranoïsche, primär durch die Vererbung gegebene und dann mit konsequenter Sicherheit bis zur Felsenhärte fortschreitende Anwachsen jener Ideen, jenes Wahns, jenes geistigen Fixums, das sich die Welt unterwerfen wird, – und dann das nunquam retrorsum! das Niemals zurük! auf dem einmal eingeschlagenen Pfade [222] geistiger Entwiklung, das Aushalten bis zum lezten Moment:..... »Du sagst es!« –

Und dies muß ihm selbst der Ateïst, der Psichologe laßen. Daß er in Jerusalem vor dieser erbärmlichen Sorte von Advokaten, Winkelschreibern, Polizisten, Staatsbeamten, Doktoren, Geheim-Spizeln und Bürokraten, von denen jeder auf einen Wink des Kaisers für eine Gunstbezeugung, einen Orden, eine Gehaltserhöhung Alles, aber auch Alles getan hätte, nicht zurükhufte, keine Konzeßion machte, nie um Gnade bat, sondern als einzige Verteidigung diesen Kasuisten das blanke Ehrenschild seiner reinen Absicht und seiner rührenden Herzens-Güte entgegenhielt, das wird ihm zum unauslöschlichen Ruhmestitel gereichen, wenn längst der lezte Leipziger Ortodoxen-Schädel im Grabe vermodert sein wird.


Verlag der Zürcher Diskußionen.

Fußnote

Note:

1 Wäre es uns möglich, Christus mit rein-psichjatrischen Augen zu beobachten, und könnten wir von der jammervollen Verzukerungs- und Versüßungs-Arbeit absehen, die die Evangelisten in Anwendung des damals üblichen griechischen Biografen-Stils – etwa von der Gattung des Apollonius von Tyana – über ihn gebracht haben, wir würden ihn wahrscheinlich als »Mattoïden« erkennen, mit welch' nicht ganz glücklichem Ausdruck Lombroso jene Unterabteilung der Paranoïa (Verrücktheit) bezeichnet hat, aus der uns Menschen mit intakter, ja geschärfter Logik und Intellekt, ebenso intaktem Sensorium, tiefem, oft eigenartig entwickeltem Gemütsleben, daneben nun aber mit einer geradezu koloßal entwickelten Persönlichkeits-Empfindung entgegentreten, also Leute, wie wir sie heute etwa in Guttzeit, in Pudor, besonders aber in dem bekanten Maler Diefenbach wiedererkennen, und denen, da sie die Grenze von normaler Nüchternheit und gänzlichem Irrsinn innehalten, also sozusagen das denkbar größte Maas geistiger Originalität und genialer Umbiegung des Lebens in Freiheit vorführen, meist ein tiefgehender Einfluß auf ihre Zeitgenossen gesichert bleibt.

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TextGrid Repository (2012). Panizza, Oskar. Schriften. Christus in psicho-pathologischer Beleuchtung. Christus in psicho-pathologischer Beleuchtung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-66FB-D