Johann Gottlob Benjamin Pfeil
Lucie Woodvil
Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Handlungen

Personen

[191] Personen des Stücks.

    • Willhelm Southwell, Ritter, Vater von Karl Southwell.

    • Karl Southwell, Liebhaber der Lucie Woodvil.

    • Lucie Woodvil.

    • Amalie, Freundin der Lucie.

    • Robert, Amaliens Vater und Freund des Sir Willhelms.

    • Betty, Bediente der Lucie Woodvil.

    • Jakob, Bedienter von Karl Southwell.

    • Einige Bediente.

1. Akt

1. Auftritt
Der erste Auftritt
Sir Willhelm und Sir Robert.

WILLHELM.

Nein, Robert, tadle diese Betrübnis nicht. Und wenn sie noch größer sein könnte, was für ein armseliges Opfer wäre sie immer noch für die Verbrechen, mit welchen ich in meinen jüngeren Jahren Gott und die Welt beleidiget habe?

ROBERT.

Dieser Eifer, mit welchem dein Herz wieder zu der Tugend zurückgekehret ist, hat dich bereits mit Gott und dem tugendhaften Teile der Welt wegen dieser Beleidigungen ausgesöhnet. Deine guten Handlungen haben nunmehr deine bösen ungeschehen gemachet.

WILLHELM.

Was sind diese guten Handlungen? Können sie einem elenden Greise das traurige Andenken rauben, daß er in seiner Jugend ein Bösewicht war? Wer weiß, von wie vielen künftigen Lastern ich noch die elende Ursache bin? Wer weiß, wieviel Personen ich, auch ohne daß ich sie kenne, bereits zu Verbrechern gemachet habe oder noch machen werde? Kann ich bei allen diesen Vorstellungen eine Freude zu empfinden fähig sein?

ROBERT.

Sieh auf angenehmere Szenen deines Lebens: Auf die Unglücklichen, denen du in deinen weisern Jahren die Zähre des Elends abgetrocknet hast: Auf deinen Sohn, welcher der Welt einen vernünftigen Mann verspricht: Auf Lucien –

WILLHELM.
Nenne mir diesen Namen nicht. Er ist ein Dolch in meiner Seele.
ROBERT.
Wie? der Name derjenigen, die alle deine Liebe besitzt? die dir ebensoviel Liebe wieder zurückgibt?
WILLHELM.

Sprich vielmehr, die mich hassen, die mich verabscheuen müßte, wenn ich mich nicht bemühete, das Laster, mit welchem ich sie beleidiget habe, vor der ganzen Welt und ihren eigenen Augen, außer vor den deinigen, zu verbergen.

ROBERT.
Und selbst dies, daß du es verbirgst, kann dich beruhigen.
WILLHELM.

Mich beruhigen? Kennst du mein Herz nicht? Wieviel Freuden, unaussprechliche Freuden, raubt mir die Verbergung dieses Geheimnisses auf der einen Seite! und mit wieviel neuen Martern quält sie mich von der andern! Kein Augenblick, seitdem ich sie aus der Aufsicht der unglücklichen[192] Frau Norris in mein Haus genommen habe, ist verschwunden, da ich nicht, so oft ich sie sehe, erzittere. Welche Stiche fühlt mein Herz, wenn sie mit allen ihren einnehmenden Liebkosungen mir für die Proben der Liebe und Freundlichkeit schmeichelt, die sie meiner Güte und Menschenliebe zuschreibt, und die sie – ach Freund! wem? – dem Laster zu danken hat. Alle Lobsprüche, mit denen mich die Unwissenheit meiner Freunde und Bekannten erhebet, verwandeln sich in meiner Seele in ebensoviel Spöttereien. Sie sind mir ein neuer Beweis von der Blindheit und Torheit, mit der die Welt nur gar zu oft Leute erhebet, die sie nicht kennet, mit der sie Handlungen als Tugenden preist, die bei allem ihrem äußerlichen Glanze Laster sind. Warum erheben sie doch meine Menschenliebe, mit welcher ich mich eines unglücklichen Mädchens annehme, das von ihren Eltern weggesetzet, dem Verderben und dem Mitleid andrer war überlassen worden? Wüßten sie, daß alle diese Gütigkeiten nicht das Werk der Menschenliebe, sondern das Werk der Pflicht sind, und zwar einer Pflicht, die aus dem niedrigsten Laster entspringt, sie würden mich ebendeswegen verachten, warum sie mich loben. Ich vergieße heimlich Tränen über ihren lärmenden Beifall, wenn sie vielleicht glauben, daß ich darüber entzückt bin. Freund, Freund, welcher Unterschied zwischen einem Manne, den die Welt lobet und dem sein Herz saget, daß er dies Lob verdienet, und dem, der es fühlt, daß sie ihn nur bloß deswegen lobet, weil sie seine Schande nicht weiß.

ROBERT.

Dein allzu zärtliches Herz überläßt sich einem Kummer, den es entbehren könnte. Erinnre dich an Luciens Tugend. Sie allein könnte dir die Empfindung aller deiner Schmerzen rauben, wenn sie auch alle gegründet wären.

WILLHELM.

Was ist menschliche Tugend, Robert! Wir, die wir oft nicht wissen, daß unsre eigne bereits in Gefahr ist, zu scheitern, können wir wissen, wie lange fremde noch blühen wird? Ich will Lucien nicht durch diese Rede beleidigen. Bisher habe ich ihr Herz noch jederzeit edel gefunden. Aber, Freund! was für eine quälende Entdeckung für mich habe ich gemachet! Ihr Auge verrät seit einiger Zeit einen heimlichen Gram. Konnte mir, der ich sie mehr als mich selbst liebe, dieser Gram unbemerket bleiben? Selbst dieser ihr so natürliche Stolz, dieser einzige Fehler, den ich an ihr zu verbessern suche, scheint bisweilen gänzlich aus ihren Mienen verbannet zu sein. Sie hat gewisse Ahndungen in mir rege gemachet, die meine ganze Seele erschüttern. Ich, der ich die Liebe aus der unglücklichen Erfahrung kenne, weiß [193] alle die verborgenen Krümmen, durch welche sie sich in das Herz einschleicht und zuerst wieder ausbricht. Gott! ich zittere für die Tugend der Lucie, wenn sie liebet. Wen könnte sie sonst lieben, als meinen Sohn?

ROBERT.
Deinen Sohn, Willhelm, wie erschreckest du mich?
WILLHELM.

Was können diese öftern Seufzer in seiner Gegenwart, diese Augen, die oft schmachtend auf die seinigen geheftet sind, dieser Ton der Zärtlichkeit, der die gemeinsten Reden an ihn begleitet, diese Schamröte, mit der sie ihn anblickt, und die ihr ein heimlicher Zeuge ihrer Verbrechen wird; was können diese weiter zu bedeuten haben?

ROBERT.
Wie beantwortet sie Sir Karl?
WILLHELM.

Mit Kaltsinnigkeit. Dies ist noch der einzige Trost, den mein Herz dabei empfindet. Aber ach! wie kurz kann er vielleicht dauern. Wie leicht kann Karl wankend werden, zumal wenn Amaliens Sprödigkeit noch länger währet. Dieser heutige Tag soll mich lehren, ob ich noch unglücklicher werden kann, als ich schon bin. Ich will ihr die unter uns verabredete Verbindung meines Sohnes mit deiner Amalie entdecken. Die Miene, mit der sie diese Nachricht aufnehmen wird, soll mir ihre ganze Seele aufklären. Ich habe ihr gesaget, daß ich sie hier erwarte, und ich wundere mich, daß sie nicht schon hier ist. Gott! schütze Luciens Tugend wider ihr eigenes Herz und laß mich dereinst, wenn ich sterbe, sie noch tugendhaft in meine Arme schließen! Sie kömmt, Robert. Ach! sie wischt eine Träne, eine vielleicht strafbare Träne von ihren Wangen. Laß mich allein mit ihr, lieber Freund.

ROBERT.
Der Himmel segne deine und Luciens Tugend und lasse deinen Argwohn vergeblich sein!Geht ab.
2. Auftritt
Der zweite Auftritt
Willhelm Southwell. Lucie Woodvil.

WILLHELM.

War es nicht eine Träne, meine Lucie, die ich Sie diesen Augenblick von Ihren Wangen abtrocknen sah? Verbergen Sie das Geheimnis dieser Träne vor Ihrem Southwell nicht.

LUCIE.

Sie irren sich, Sir Willhelm, und war es ja eine, so war es eine Träne der Freude, die mich Ihre Sorgfalt und Ihre Zärtlichkeit, womit Sie Ihre arme verlassene Lucie überhäufen, zu vergießen nötigte.

WILLHELM.

Täuschen Sie mein Herz nicht. Es weiß die Tränen der Freude und des Grams voneinander zu unterscheiden. Wieviel Qual hat [194] mich nicht schon dieser Gram, den ich seit einiger Zeit in Ihrem Gesichte lese, gekostet! Können Sie empfinden, was das Herz Ihres Southwells, der Sie noch mehr als ein Vater seine Tochter lieben würde, wenn es möglich wäre, bei Ihren Leiden fühlen muß? Können Sie es empfinden, Lucie? Ohnmöglich können Sie es. Sie würden sonst Ihren Schmerz in seinen freundschaftlichen Busen ausschütten. Sie würden ihn in Ihre ganze Seele hineinschauen lassen. Er würde Sie sodann trösten und vielleicht die Freude genüßen, Sie durch die Hilfe Ihrer Tugend und seines Trostes weniger traurig zu sehen. Warum rauben Sie doch Ihrem besten Freunde das elende Vergnügen, mit Ihnen wenigstens klagen zu dürfen?

LUCIE.

Sie töten mein Herz durch Ihre Gütigkeit. Verschwenden Sie solche nicht länger. Sie verschwenden sie an einer Unwürdigen.

WILLHELM.
An einer Unwürdigen, da meine Lucie tugendhaft ist?
LUCIE
beiseite.

Elende Tugend! Zu Southwell. Ihre Zärtlichkeit für mich läßt Ihnen vielleicht meinen Gram heftiger mutmaßen, als er wirklich ist. Ich verberge mein Herz nicht länger vor Ihnen, da Sie es befehlen, und da ich es nur ohnedies, sich zu verbergen, gezwungen habe, damit ich Sie nicht beleidigen möchte. Vergeben Sie also meiner Schwachheit, wenn Sie aus meinem Geständnisse lernen, daß ich die wenigsten Proben Ihrer Liebe verdiene. Sie haben mit mir, die ich, von meinen Eltern verlassen, dem Elende und der Dürftigkeit ohne Sie zum Opfer geworden sein würde, Mitleiden gehabt. Sie haben mir Gütigkeiten erwiesen, ehe noch meine Lippen fähig gewesen, Ihnen dafür zu danken. Sie haben mich bei der Frau Norris in allem demjenigen, was das Leben eines Frauenzimmers nützlich und angenehm machen kann, erziehen lassen. Ich empfinde, seitdem ich in Ihrem Hause bin, jeden Augenblick einen neuen Beweis Ihrer Zärtlichkeit, und demungeachtet bin ich eine Undankbare gegen Sie. Eine Undankbare, die, da sie jede Minute ihres Lebens der Freude und dem Danke für Sie aufopfern sollte, sie sehr oft dem Grame und der Traurigkeit widmet. Aber ich weiß, Ihr gütiges Herz verzeihet mir, wenn es den Quell dieser Traurigkeit wissen wird. Was kann er anders sein, wenn Sie mir verzeihen sollen, als das Verlangen, meine Eltern zu kennen. Sie haben mir zwar oft gesaget, daß Sie dieselben nicht wissen; haben Sie wenigstens nicht einige Mutmaßungen, wer sie waren? So grausam sie auch mit mir umgegangen sind, so bin ich doch ihr Kind und bin ihnen meine Liebe schuldig. Ach, vielleicht zwang sie die Not, grausam gegen mich zu sein! Vielleicht zerfloß ihr [195] blutendes Herz in dem Gefühle ihrer Schmerzen, da sie mich dem Elende und dem Mangel überlassen mußten. Urteilen Sie, was ich entbehre, da ich mich nicht zu ihren Füßen werfen und um ihren Segen bitten kann; da ich nicht diesen vielleicht allzu harten Vater durch meine Tränen erweichen kann, einen Blick voll Vaterliebe und Erbarmung auf mich zu werfen; da ich nicht diese zärtliche Mutter, die vielleicht ebensosehr nach mir seufzet als ich nach ihr, an meine Brust drücken und an die ihrige voll kindlicher Entzückung hinsinken kann. Doch vielleicht seufze ich nach ihnen, da sie nicht mehr sind, und ich ihr Angesicht nie sehen werde. Sie weinen, menschenfreundlicher Sir Willhelm. Sie kennen die Natur. Sie sind selbst Sohn gewesen, der aber die Freude hatte, seine Eltern umarmen zu können. Sie sind Vater, und Sie wissen also, was Ihr Sohn empfinden muß, wenn Sie ihn an Ihr väterliches Herz drücken. Was kann ich Unglückliche wohl fühlen, wenn ich seine Liebkosungen sehe, ohne ebendiese Liebkosungen meinem Vater erweisen zu dürfen? Ich weiß, Sie sind mein andrer Vater. Aber vergeben Sie, die Natur hat auch ihre Rechte. Nennen Sie mir meine Eltern, gütiger Southwell, dies ist das einzige Mittel, meinen Gram zu befriedigen. Sie schweigen und vergießen Tränen? Können Sie mir diese einzige Bitte abschlagen? Verdiene ich vielleicht nicht, diese Eltern zu wissen? Oder waren ihre Laster die Ursache, aus der sie mir den Schmerz ersparen wollen, mich ihre Tochter zu nennen?

WILLHELM.

Lucie, Lucie, was für einen Sturm haben Sie auf meine Seele getan! Mein Herz hat bei jedem Ihrer Worte blutige Tränen geweinet. Warum quälen Sie mich, Ihnen eine Sache zu entdecken, die ich Ihnen nicht entdecken kann. Ich habe Ihnen oft gesaget, daß sie mir selbst fremd sind, daß ich Sie weggesetzet auf einem meiner Güter gefunden habe, aber daß ich vermute, daß Sie von gutem Stande sind. Umarmen Sie mich, meine Lucie; sehen Sie mich unterdessen als Ihren Vater an. Wollen Sie nicht meine Tochter sein? Sagen Sie mir, wie ich noch zärtlicher gegen Sie sein kann, als ich schon bin, und selbst mein Leben soll Ihre Wünsche befriedigen.

LUCIE.

Zu viel, zu viel Gütigkeit! Hätten diese unbarmherzigen Eltern doch nur den geringsten Teil derselben empfunden. Sie waren notwendig aus einem schlechten niedrigen Stande, den der Mangel einer edeln Seele und das Laster fähig gemachet haben, so grausam gegen mich zu sein. Doch vergeben Sie mir, ich erröte über diesen Gedanken, er war unedel.

[196]
WILLHELM.

Ich lobe Ihre Tugend, mit der Sie Ihre eigne Schwachheiten verdammen. War dieser Gedanke nicht das Werk eines kleinen Stolzes? Lassen Sie mich, so wie in der Zärtlichkeit für Sie, also auch in der Wachsamkeit für Ihre Tugend Vater sein. Erlauben Sie dieser Wachsamkeit eine Vermahnung. Stolz und Liebe, die zween gefährlichsten Feinde Ihres Geschlechts erfodern ein beständig wachsames Herz von Ihnen. Auch dann oft, wenn sich die strengste weibliche Tugend schmeichelt, sie besiegt zu haben, herrschen sie schon über dieselbe. Der Stand Ihrer Eltern sei, wer er sei: Ihr Herz allein kann Sie entweder über diesen Stand emporheben oder unter denselben erniedrigen.

LUCIE.
Meine Verwegenheit hat Sie beleidiget!
WILLHELM.

Sie können mich nie beleidigen, wenn Sie sich auf eine so edle Art selbst tadeln. Aber war dies Ihr ganzer Gram, den Sie mir zu entdecken hatten?

LUCIE.
Er war es. Sie seufzet.
WILLHELM.
Sie seufzen, Lucie?
LUCIE.
Verzeihen Sie diesen Seufzer der Natur, die ihn nicht unterdrücken kann.
WILLHELM.

Es schmerzt mich, daß ich Sie traurig sehe. Ich, der ich so gern die halbe Last Ihrer Schmerzen auf mich nehme, würde Ihnen ebenso gern die Hälfte meiner Freuden mitteilen. Aber ich würde Sie beleidigen, wenn ich in der Gegenwart einer Traurigen fröhlich sein könnte.

LUCIE.

Wie? könnte Lucie fähig sein, bei all ihrem Grame ein Glück nicht zu empfinden, das ihren gütigen Southwell fröhlich machen kann?

WILLHELM.

So hören Sie denn die größte Freude, die ein Vater zu empfinden fähig ist. Ich hoffe, meinen Sohn bald durch eine tugendhafte Gemahlin glücklich zu sehen. – Was fehlt Ihnen? Sie werden blaß. Gott! wie erschrecken Sie mich.

LUCIE.

Fürchten Sie nichts. Es ist eine von den kleinen Folgen meines vielleicht unnötigen Grams – Nun ist sie vorbei – Ihren Sohn glücklich zu sehen, sageten Sie? Welche Freude für Sie! Welche Freude muß es nicht also auch für mich sein! Ja, wie glücklich wird er sein, wenn er in den Armen seiner Gemahlin ihr sagen wird, daß er sie liebet, und wenn er höret, daß er geliebt wird. Aber nur Ihre elende Lucie wird immerfort unglücklich [197] sein, wird jederzeit unter der Last ihrer Schmerzen den Verlust – ihrer Eltern beseufzen müssen. Aber weiß es Ihr Sohn schon, daß er glücklich sein soll? Nennen Sie mir doch –

3. Auftritt
Der dritte Auftritt
Die Vorigen und Betty.

BETTY
zum Sir Willhelm.

Ihr Freund, Herr Betterton, hat vor einer Stunde das Unglück gehabt, einen gefährlichen Fall mit dem Pferde zu tun. Er verlangt Sie noch diesen Augenblick vor seinem Ende zu sprechen.

WILLHELM.

Der unglückliche Freund! Schenken Sie ihm eine Zähre, Lucie! Er liebte Sie ehemals, ob er gleich das Unglück hatte, nicht wiedergeliebt zu werden. Sie vergießen sie wirklich? Wie rühmlich ist sie Ihnen! Ich will hin zu meinem armen Freunde gehen; heitern Sie unterdessen Ihr Gesicht auf, aus welchem mich noch immer dieser quälende Gram schrecket. Werde ich Sie ruhiger bei meiner Zurückkunft umfangen können?

LUCIE.
Ich hoffe es.
WILLHELM
beiseite, indem er weggeht.
Unseliger Southwell, dein Unglück ist in seinem ganzen Umfange gewiß.
4. Auftritt
Der vierte Auftritt
Lucie. Betty.

LUCIE.

Unterstütze mich, Betty. Alle meine Kräfte sind erschöpft – O Tugend! Tugend, wie schrecklich rächst du dich an mir, die ich dich beleidiget habe!

BETTY.

Wenn werden Sie doch, mitten in diesen glücklichen Zeiten der Liebe und des Vergnügens, die unnötigen Seufzer vergessen, die ich so oft von Ihnen höre.

LUCIE.

Elende Betty! Dein Anblick allein ist mir schon Abscheu genug. Vermehre ihn nicht noch durch deine Reden. Bist du es nicht, die ich noch eher verfluchen muß, als ich mich selbst verfluche: ich, die ich sonst alle Menschen glücklich zu sehen wünschte? Haben nicht deine Verführungen die verdammten Schmeicheleien des Bösewichts (welcher Name für den, den ich liebe!), haben sie nicht Karl Southwell unterstützt, daß ich ihm meine Ehre, das einzige, was mein war, aufgeopfert habe? Doch nein, Betty, nicht du, [198] nicht Southwell, mein eignes unseliges Herz ist es, das mich unglücklich gemachet hat.

BETTY.

Sie dauern mich, Fräulein. Wie glücklich würden Sie sein, wenn Sie einige elende Grundsätze, die Ihnen eine abgeschmackte Auferziehung eingepräget hat, ausrotten könnten! Was für lächerliche Begriffe verstehen Sie unter der Aufopferung Ihrer Ehre! Leute von Stande würden über Ihre Klagen lachen. Sie lieben Karln mit eben der Zärtlichkeit, mit der er Sie wiederliebet. Er will dasjenige, was Sie Ihre Schande nennen und was ich, wenn ich Lucie wäre, meine Glückseligkeit nennen würde, in kurzer Zeit durch eine Vermählung mit Ihnen in den Augen des Pöbels ehrwürdig machen. Können Sie mehr fodern?

LUCIE.

Du weißt mein Unglück nur halb. Karl Southwell ist mir geraubt, auf ewig geraubt, mir, die ich bereits von ihm schwanger bin. Ich habe diese schröckliche Zeitung diesen Augenblick aus dem Munde seines Vaters. Er hat eine Gemahlin für ihn bestimmt. Gott! was wird Lucie werden! Die Welt wird meine Schande erfahren. Sie wird mich verachten, nicht weil ich lasterhaft bin, sondern weil ich mein Laster habe bekanntwerden lassen. Karl wird vielleicht in den Armen seiner neuen Gemahlin über mich spotten. Werde ich mein Gesicht gegen seinen Vater aufheben können? Ich werde zwar Mitleiden in seinem Auge lesen, aber ein verächtliches Mitleiden. Er wird mich verlassen. Kann ich es ausstehen? Mich verachtet, mich verspottet und von Vater und Sohne nicht länger geliebt zu sehen?

BETTY.

Mit was für fürchterlichen Geschöpfen der Einbildung kämpfen Sie! Gesetzt, der alte Southwell will seinem Sohne eine Gemahlin geben, wird dieser eine andere als Sie annehmen? Kann der Vater diesem Sohne etwas abschlagen? Sie wissen, wie zärtlich Karl Sie liebet.

LUCIE.

Ich fürchte, Karls Zärtlichkeit nimmt bereits nach demjenigen Grade ab, nach welchem die meinige zunimmt. Wie schwach ist eine Liebe, welche nicht von der Hochachtung unterstützet wird! Und welche Liebe kann von der Hochachtung unterstützet werden, welche nicht auf die Tugend gegründet ist?

BETTY.
Mit Ihrer ewigen Tugend! Werden Sie denn nie Ihre Sittensprüche vergessen?
LUCIE.

Ach Betty! daß doch meine Seele so lasterhaft wäre als die deinige! Schrecklicher Wunsch! Aber meine Ruhe erzwingt ihn. Ich will, ich muß es sein, ebenso lasterhaft als du und noch lasterhafter, wenn es möglich [199] ist. Frisch, Lucie! schreite kühn von einem Laster zu dem andern fort. Dämpfe die Martern des geringern Lasters in der Ausübung des größern. Dies ist der einzige Weg, dich zu beruhigen. Es wird dir gelingen, immer lasterhafter zu werden. Bin ich nicht schon aus einer Sklavin meiner Leidenschaften eine Heuchlerin geworden? War ich es nicht erst nur vor wenigen Augenblicken gegen den alten Southwell selbst, da ich die Schmach und den Stolz, die mich quälen, unter der heiligsten Pflicht der Natur versteckte? Sah er nicht meine Träne der Verzweiflung für eine Träne der Menschenliebe an? Verberge ich nicht noch geschickt genug meine eigne Häßlichkeit vor den Augen meiner bessern Freunde als ich, unter der Larve einer verstellten Tugend, die nicht mehr mein ist; einer Tugend, die ehedessen meine Tage heiter wie die Tage des Frühlings machete, und die jetzund für mich Nacht, Schrecken und Abscheu ist? Glückliche Zeiten! da Tugend und Unschuld meine Gespielinnen waren, da ich noch auf mein Herz stolz sein konnte, in welche schreckliche Finsternis seid ihr dahingeflohen! – Nichts mehr, törichtes Herz! Kein Klagen! Lucie kann sich von keiner Seele verachtet sehen, auch von sich selbst nicht! Stirb, Reue! Ich vergesse, daß ich glücklich, daß ich tugendhaft gewesen bin. – Betty! da kömmt der Mörder meiner Glückseligkeit, den ich doch für alle seine Grausamkeiten noch lieben muß. Wird er auch so zärtlich gegen mich sein als mein Unglück verdient?

BETTY.

Verbergen Sie diese Miene voll Verzweiflung, wenn Sie keinen Dolch in das Herz eines zärtlichen Geliebten stoßen wollen.

5. Auftritt
Der fünfte Auftritt
Die Vorigen und Karl Southwell.

KARL
beiseite, indem er eine Bewegung machet, als ob er zurückgehen wollte.
Welch feindseliges Schicksal läßt mich Lucien finden!
LUCIE.
Wie? Karl, sehen Sie Ihre Lucie nicht?
KARL.
Ich befürchtete, Lucien in der feierlichen Ernsthaftigkeit, in der ich sie erblickete, zu stören.
LUCIE.

Sie könnten mich stören? Welche Antwort für einen zärtlichen Liebhaber? Verdienet sie diejenige, die Sie mehr als ihre eigene Seele, ja wahrhaftig mehr als ihre eigene Seele liebt.

KARL.

Diese unzeitigen Klagen, die ich seit einiger Zeit höre, wie sehr haben sie nicht schon mein Herz gekränkt!

[200]
LUCIE.
Wohl nicht so sehr als Ihr Kaltsinn das meinige.
KARL.
Kaltsinn! Lucie –
LUCIE.

Ich beschwöre Sie um unsrer Liebe – oder wenn ich so muß, um Ihres und meines Stolzes willen, machen Sie meine Ahndungen eitel. Beschleunigen Sie den Tag, der Ihnen vor der Welt das Recht gibt, mich die Ihrige zu nennen: ein Recht, welches Ihnen leider mein allzu leichtgläubiges Herz bereits erteilet hat. Der Sturm, der sich über mein Haupt aufzieht, muß Ihnen bekannt sein. Der Mund Ihres Vater hat Ihnen das Äußerste, das ich fürchten kann, ohnfehlbar noch eher als mir selbst entdecket.

KARL.

Was will meine Lucie? Kann sie noch stärkere Proben von meiner Zärtlichkeit verlangen? Empfing ich sie nicht ebenso überzeugend von der Ihrigen? Kann Lucie heftiger als ich nach dem Tage seufzen, der mein Herz von dem Zwange entfesseln wird, meine Liebe gegen sie vor den Augen der tadelsüchtigen Welt zu unterdrücken? Wie oft verfluche ich die Hindernisse, die sich meinen Wünschen widersetzen. Ich sehe, Sie wissen den unglücklichen Vorschlag, den mir mein Vater von einer Verbindung getan hat. Lesen Sie die Qual, die ich dabei empfinde, aus meinem Gesichte, mein Herz kann sie nicht ausdrücken. Gönnen Sie mir Zeit, diesen Sturm austoben zu lassen. Meine Bitten werden das Herz des gütigsten Vaters rühren. Er wird erlauben, daß ich mein Herz seiner und meiner Lucie schenken darf. Wie glücklich werden wir dann sein, wenn es möglich ist, daß wir noch glücklicher werden können! Aber Sie wissen, einige wenige Tage sind nicht zureichend, dieses auszuführen.

LUCIE.

Jeder Verzug eines Tages ist eine Vergrößerung meiner Gefahr. Sie wissen – zwingen Sie mich nicht, zu erröten. Ich verabscheue mich, so oft ich daran gedenke. Und wie? wenn Ihr Vater nicht in unsre Verbindung willigen sollte? Ein Mädchen von einer unbekannten Geburt, alles desjenigen beraubt, was in den Augen der Welt Hochachtung verdienet; und darf und kann ich es sagen? nur ehedessen durch einen geringen Anteil der Tugend vielleicht nicht ganz eine verächtliche Kreatur. Welche fürchterliche Umstände für mich! Was würden Sie tun, wenn nichts Ihren Vater von der mich bedrohenden Verbindung abziehen kann?

KARL.
Es wird etwas sein, das ihn abziehen kann.
LUCIE.
Antworten Sie mir auf das, was ich frage.
KARL.
Sie fragen wegen einer Sache, die nicht geschehen wird.
LUCIE.
Keine Ausflüchte! Anworten Sie mir.
[201]
KARL.
Ach! Lucie.
LUCIE.
Reden Sie, was würden Sie tun?
KARL.
Elend sein, wenn Sie allein mich nicht glücklich machen wollten.
LUCIE.
Ich verstehe Sie nicht. Würde ich Sie sodann glücklich machen können?
KARL.

Sie würden es können. Setzen Sie das Grausamste, das mir begegnen könnte. Setzen Sie, daß ich unter der Tyrannei eines Vaters unterliegen, daß ich die Liebkosungen einer andern Gemahlin erdulden und verfluchen müßte, wollten Sie wohl Ihren Southwell, der zugleich Ihrentwegen leiden würde, ungetröstet seufzen lassen? Wollten Sie ihm nicht erlauben, daß er bisweilen aus seinen täglichen Qualen in Ihre beglückenden Arme eilen dürfte? Eine vertrauliche Einsamkeit würde uns vor dem scharfsichtigsten Auge der Welt verbergen. Hier würden wir einander mehr als eine ganze Welt selbst sein, und Karl Southwell würde sich nur in den einzigen wenigen Minuten glücklich sehen, wenn seine Lucie einen ganzen Strom von Freuden über seine Seele ausgießen würde.

LUCIE.

Ich verstehe Sie, Karl. Warum reden Sie dunkel? Sie verlangen, ich soll die Rechte Ihrer Gemahlin gegen die Ehre, Ihre Mätresse zu sein, vertauschen. Zur Betty. Betty! ich bin verloren. Zum Southwell. Verlassen Sie mich, Barbar! Ich verabscheue Sie.

BETTY
heimlich zum Southwell.

Ihr Vertrauen zu Luciens Zärtlichkeit hat Sie zu einem Fehler verleitet, den Sie so leicht nicht werden verbessern können. Laut. Schämen Sie sich, Sir Karl, konnten Sie, ohne zu erröten, Lucien einen dergleichen Vortrag tun?

KARL.

Ich bekenne meine Verbrechen, Lucie. Aber warum zwangen Sie mich von einer Sache zu reden, die niemals geschehen wird?

LUCIE.

Keine Entschuldigung! Ich lasse Ihnen Gerechtigkeit widerfahren. Meine niederträchtige Wegwerfung für Sie gibt Ihnen das Recht, mich zu verachten. Aber Lucie ist stolz, so wenig sie es zu sein Ursache hat. Soll sie sich in Ihrer Gegenwart selbst verachtet sehen? Und von wem? Von dem, der das unselige Werkzeug war, welches allein Lucien dieser Verachtung schuldig machen konnte. Elender! quälen Sie mich nicht länger durch Ihren Anblick. Wollen Sie mir diese einzige, diese letzte Bitte noch abschlagen?

KARL.
Ich kann nicht –
LUCIE.

So bleiben Sie denn hier, bleiben Sie hier. Strafen Sie mich durch diese Blicke voll Verachtung und Hohn für die Zärtlichkeiten, die ich [202] an einen Unwürdigen verschwendete, für die Leichtgläubigkeit, mit der ich die Ihrigen empfing. Strafen Sie mich für das schrecklichste Verbrechen, strafen Sie mich für die Tugend, die ich Ihnen aufopferte. Grausamer Southwell! warum erblickete ich doch nicht deine schwarze Seele einige Monate eher in aller ihrer Abscheulichkeit? Lucie würde sodann noch von der äußersten Höhe ihres Stolzes mit ihrer ehemaligen Größe auf eine so verächtliche Kreatur herabsehen können.

KARL.
Beleidigungen sind nicht –
LUCIE.

Höre noch meine Verwünschungen, ehe du mich unterbrichst. Spotte in den Armen deiner neuen Gemahlin über die elende Lucie. Sie erlaubet dir's, denn sie verdienet es. Ich wünsche sogar, liebe diese Gemahlin, liebe sie mit eben der zärtlichen Heftigkeit, mit der dich ehemals eine Unglückliche (du kennst sie, Barbar) lieben konnte. Sieh sodann, mich zu rächen, mich auf das schrecklichste zu rächen, ebendiese Gemahlin, für welche deine ganze Seele Zärtlichkeit sei, untreu. Lies in ihren Augen ebenden Kaltsinn, ebendie Verachtung, die ich in den deinigen lese. Sieh dieselbe sich in die Arme deines besten Freundes werfen, und mit ihm höre sie sodann über deine Liebe spotten und über deine Verzweiflung selbst frohlocken. Verzweifle unter den Martern einer unvergoltnen und verachteten Liebe, und Lucie wird sich sodann über dich freuen.

KARL.

Erinnern Sie sich, Lucie, eine erzürnte Liebe gebiert leicht Haß, und Ihre Schmähungen werden mich gegen den Willen meines Vaters Gehorsam lehren.

LUCIE.
Dürfen sie dir diesen Gehorsam erst lehren, Undankbarer? Sind nicht –
KARL.

Bemühen Sie sich nicht, auf neue Beschimpfungen zu denken. Ich habe nicht Zeit, sie anzuhören. Ich muß zu meinem Vater gehen, der schon lange meine Einwilligung zu seinem Vorschlage erwartet. Rechnen Sie die Gleichgültigkeit, mit der ich Sie Ihrem Schicksale überlasse, Ihrer eigenen Heftigkeit zu. Geht ab.

LUCIE.

Geh! Bösewicht, und die Rache des Himmels und meine Flüche werden dich auf jedem deiner Wege zu begleiten wissen!

BETTY.

Wahrhaftig, Fräulein, Sie sind zu heftig. Erwägen Sie Ihren Zustand! Erwägen Sie, was Sie sind, wenn Sie Sir Karl verläßt.

LUCIE.

Erinnere mich nicht an das, was ich bin. Soll ich mich vor demjenigen bücken, um seine Gnade flehen, der mich verachtet und doch am [203] wenigsten Recht darzu hat? Und doch kann ich mich fragen, ob ich es tun soll, ich, die ich nichts weiter als dieses zu tun übrig habe? Betty! mein Stolz, meine Tugend, meine Vernunft selbst, alles ist dahin.

6. Auftritt
Der sechste Auftritt
Die Vorigen und Amalie.

AMALIE.

Was für Unruhe haben Sie mir gemachet! meine liebe Lucie. Mit wieviel Angst habe ich Sie seit der Zeit gesuchet, da Sie sich so voll Schmerz aus meinen Armen losrissen. Aber mit was für vermehrterer Qual in Ihrem Gesichte finde ich Sie wieder. Wie lange, meine teure Freundin, soll doch mein Herz noch über Ihre Betrübnis seufzen müssen!

LUCIE.

Warum lieben Sie mich doch, Amalie? Ihre Liebe vermehret meine Martern. Verachten, hassen Sie mich; diejenige, die sonst ohne Ihre Freundschaft, ohne Ihre Liebe nicht zu leben wünschet, bittet Sie darum. Sie haben die Schwäche meines Herzens entdecket. Kann ich aus der Tiefe, worein ich gesunken bin, zu der Höhe hinauf sehen, auf der ich Sie erblicke? Mein Stolz durfte es sonst wagen, sich mit Ihnen zu vergleichen. Kann er ohne Qual empfinden, daß Sie nunmehr über diese Vergleichung erhaben sind? Daß diese Liebe vielleicht nicht mehr Freundschaft, sondern Mitleiden, ein erniedrigendes Mitleiden ist? Wie will meine Seele diesen Gedanken ausstehen! Treten Sie zu meinen Feinden. Verachten Sie mich mit ihnen. Meine Seele wird eine Art von Erleichterung fühlen, wenn sie von niemand mehr geliebet wird, der besser als sie ist.

AMALIE.

Lucie, Ihre plötzliche, Ihre ausschweifende Hitze! Oh, daß Sie dieselbe bändigen könnten! Was für eine liebenswürdige Freundin würden Sie für Ihre Amalie, was für eine zärtliche Gemahlin für Ihren Karl –

LUCIE.

Nichts von Karln! Er ist ein Betrüger, ein Bösewicht! Ich hasse ihn, ich hasse mich selbst! Meine Kräfte reichen nicht zu, Ihnen mein Unglück zu erzählen. Karl ist undankbar. Er verläßt mich und ist bereit, eine neue Gemahlin von der Hand seines Vaters anzunehmen.

AMALIE.

Vielleicht hat Ihre Zärtlichkeit Ihnen mehr Gegenstände zur Verzweiflung vorgestellet, als Sie wirklich gesehen haben?

LUCIE.

Ihre Vielleicht sind vergeblich. Der Bösewicht und der Mund seines Vaters, beide haben mir mein Unglück bekräftiget. Den neuen Gegenstand seiner Liebe allein weiß ich nicht. Nennen Sie mir ihn, wenn Sie ihn [204] wissen. Diese letzte Gewogenheit bitte ich von Ihnen. Ich will mich zu den Füßen seiner neuen Geliebten werfen. Lucie zu den Füßen ihrer Nebenbuhlerin. Ich will sie um Rache wider den Bösewicht anflehen. Wenn sie gerecht ist, wird sie mir dieselbe versagen können?

AMALIE
beiseite.

Unglückliche Freundin! du siehst sie hier vor dich. Zu Lucien. Vergessen Sie alle Rache wider Karln –

LUCIE.

Ich verstehe Sie. Ihre Erinnerung ist gerecht. Ich vergesse meine Rache wider ihn. An mir, an diesem eignen Herzen muß ich mich rächen. Habe ich mich nicht selbst allen diesen falschen Blicken der Zärtlichkeit, diesen betrüglichen Tränen, diesen von meiner redlichen Liebe erborgten Klagen, selbst diesen tückischen Eidschwüren eines Verführers aufgeopfert? Kannte ich sein Geschlecht nicht, dies Geschlecht, das nur uns unglücklich zu machen geschaffen zu sein scheint? Wußte ich nicht, daß es alle seine Reizungen nur alsdenn glänzen läßt, wenn es das unsrige zu betrügen suchet? Mußte ich Törin seine Triumphe über unsre Tränen vermehren helfen? Wäre Karl der beste unter dem männlichen Geschlechte, was konnte er weniger sein als ein Betrüger?

AMALIE.

Ihre Hitze verführet Sie, meine Freundin, Sie beleidigen sowohl das männliche Geschlecht überhaupt als Ihren Liebhaber insonderheit. Ich hoffe noch immer sein Herz zärtlich zu sehen, ebenso zärtlich, als ich das Ihrige mitten unter den Vorwürfen, womit Sie ihn belegen, erblicke.

LUCIE.

Kränken Sie mich nicht durch Ihre Entdeckung. Es ist genug, daß ich die Gewißheit derselben empfinde. Weibliches Herz! warum kann ich doch deine Schwachheiten nicht verbergen. Sie haben in sein Innerstes hineingeschaut. Sie erblicken nur allzu gewiß in demselben das Bild – wessen? meines ärgsten Feindes – von mir geliebt. Elende Schwachheit! warum erlaubest du mir nicht, ihn auszurotten? Warum zwingst du mich, zu wünschen, ihn zärtlich zu sehen? Warum nennest du meine gerechten Vorwürfe Beleidigungen? Doch ich habe ihn verloren. Meine Schmähungen haben den noch übrigen Funken seiner Liebe völlig ersticket. Er verachtet mich! Ich liebe ihn! und von seiner Verachtung gequält, muß ich verzweifeln!

AMALIE.

Sie erfüllen meine Seele mit Schauer und Schrecken. Lernen [205] Sie doch dies allzu hitzige Herz bändigen. Sie sollen Karln ebenso zärtlich als sonst wieder umarmen. Ich verspreche es Ihnen. Sein Vater wird seine Einwilligung in Ihre Verbindung geben, und Ihre Amalie wird die Freude haben, ihn wieder in Ihre Arme zu führen.

LUCIE.

Ja, führen Sie ihn her. Die von allen verlassene Lucie mag vor ihm niederknien. Was ist ihr Stolz, darf sie noch welchen haben? Sie mag ihn mit ihren Tränen, mit ihrer Demütigung, mit ihrer Verzweiflung selbst bestürmen. Sie mag ihn an alle die zärtlichen, aber auch, ach! auch allzu teuer erkauften Minuten erinnern, die ihr sonst an seiner Brust zu verschwinden pflegten. Wird er ein Barbar sein und sich verhärten können? »Karl«, will ich gegen ihn seufzen, »erbarmen Sie sich über Ihre verstoßne, über Ihre unwürdige Lucie. Erbarmen Sie sich nicht aus Liebe, wenn Sie nicht können, nein, nur aus Mitleiden, selbst aus Stolz, daß Sie mich gedemütiget haben. Verachten Sie mich in Ihrem Herzen und nicht äußerlich. Nur einen verstellten Blick voll Zärtlichkeit! und er wird mehr sein, als ich verdiene!« Ach, Amalie, welche schreckliche Minute der Erniedrigung wird dieses für mich sein!

AMALIE.

Verschonen Sie doch Ihre Einbildung mit allen den fürchterlichen Einfällen! Die weibliche Zärtlichkeit für die Ehre muß niemals, auch selbst bei unsern Fehlern, dem männlichen Geschlechte preisgegeben werden. Karl soll Sie auf das demütigste und zärtlichste um Verzeihung bitten. Trauen Sie meinen Versprechungen. Sie werden ihm denn erlauben, daß er eben der glückliche und bald vollkommen mit Ihnen zu vereinigende Liebhaber sein darf, der er zuvor war. Suchen Sie sich indessen in Ihrem Kabinette wieder zu beruhigen. Ich befürchte, es möchte Sie jemand hier in dieser Zerstreuung überfallen.

LUCIE.

Schmeicheln Sie mir nicht mit zuviel Hoffnung. Sollte es möglich sein, daß ich noch glück lich werden könnte? Und Ihnen würde ich sodann diese Glückseligkeit zu danken haben? Warum kann ich doch nicht ebenso hochachtungswürdig als Sie sein? Komm, Betty, laß uns versuchen, ob ich meine Schmerzen in der schmeichelhaften Vorstellung der Hoffnung auf einen Augenblick vergessen kann. Was für ein elendes Geschöpfe bin ich!

BETTY.
Betty würde sie längst vergessen haben, wenn sie Lucie wäre.
7. Auftritt
[206] Der siebente Auftritt
Amalie allein.

AMALIE.

Kannst du endlich einmal deine Tränen unbemerkt fließen lassen, o Herz? Die unglückliche Lucie! Meine ganze Seele zerfließt in Mitleiden gegen sie! Ihr Herz war edel. Stolz, Hitze der Leidenschaften, Nachsicht gegen diese Hitze beförderten ihren Fall – Tadelsüchtiges Herz! würdest du nicht gefallen sein, wenn du Lucie gewesen wärest? Karl ist wirklich undankbar gegen sie. Aber wer hat ihn undankbar gemachet? Warst du es nicht, obgleich wider deinen Willen, Amalie? Er liebet mich. Seine Seufzer, sein und mein Vater bitten, und darf ich es sagen? mein eigen Herz dringt mich, ihn wiederzulieben. Boshaftes Herz! welcher niedriger Gedanke für dich. Sieh auf die Tränen der armen Lucie und lerne deine Pflicht, lerne Karln vergessen. Gedenke, wie kostbar sie ihn sich erkauft hat, würdest du ihr ihn rauben können? Nein! wahrhaftig, er selbst ist deiner unwürdig. Verzeihe mir diesen Stolz, meine Freundin. Weiß mein Vater und Karls Vater, wie hoch er der armen Lucie zu stehen kömmt? Wäre es möglich, daß sie es wissen dürften, sie würden mich nicht länger nötigen, Karls Hand anzunehmen. Doch dies Geheimnis muß vor ihnen, so lange es sein kann, verborgen bleiben. Ich glaube, daß ich Gewalt über Karls Herz habe. Ich will sie nutzen, ihn zu Lucien zurückzuführen. Die unglückselige Seele! bat sie nicht selbst ihre Nebenbuhlerin darum? Ich weiß, Karl liebt sie, nur die Hoffnung zu mir machet ihn wankend. Ich muß sie gänzlich aus seinem Herzen ausrotten. Der elende Mensch! was für eine Genugtuung ist alle seine Zärtlichkeit gegen die Schande, welche er Lucien aufgelegt hat? Gott! schütze die Tugend deiner Amalie (deiner kann ich vielleicht noch sagen), daß sie niemals nach einer so elenden Genugtuung seufzen darf!

2. Akt

1. Auftritt
Der erste Auftritt
Karl Southwell. Jakob.

KARL.
Was sagst du, Jakob? daß ich Lucien verlieren würde?
JAKOB.

Daß Sie solche vielleicht bereits verloren haben, daß Herr Betterton sich erbietet, ihr sein ganzes wichtiges Vermögen zu hinterlassen, [207] wofern sie ihm nur noch vor seinem Ende die Freude schenken will, sie seine Gemahlin zu nennen und niemals wieder eine andere Vermählung einzugehen. Daß Ihr Herr Vater seine äußerste Mühe anwendet, sie zu bewegen –

KARL.
Und daß Lucie? –
JAKOB.
Als ein Frauenzimmer alle diese überredende Reizungen nicht überwinden wird.
KARL.

Liebe! elende Liebe! Mit was für grausamen Freuden quälst du deine Vasallen. Tyranne! Was hat nicht schon mein törichtes Herz unter deinen Martern gelitten? Habe ich nicht bisweilen in einem meiner vernünftigen Augenblicke deine Fesseln verfluchet, in welchen ich soviel meiner schönsten Tage töricht und geduldig genug dahineilen sehe?

JAKOB.

Diesen Zorn, diese Vorwürfe gegen die Liebe hätte ich nicht so leicht von Ihnen vermutet, und noch weniger zu einer Zeit (Herr, verzeihen Sie einem redlichen Diener), da Sie den höchsten Grad in der Geschicklichkeit, zu lieben, zugleich zärtlich zu scheinen und doch untreu zu sein, so vollkommen erreichet haben.

KARL.

Mißbrauche meine Freiheit nicht, die ich dir zugestehe. Mein Herz leidet mehr bei dieser verstellten Zärtlichkeit, als du glaubst, und ich, Elender, liebe vielleicht Lucien noch heftiger, als ich selbst weiß. Ich, der ich vor wenigen Minuten nur Kaltsinn empfand, der ich ihr selbst mit Gleichgültigkeit begegnen konnte, empfinde mehr als nur Furcht des Stolzes, von ihr zuerst verlassen zu werden, jetzt, da mir ihr Verlust wirklich nahe sein kann. Doch weg! Zärtlichkeit! Sprichst du nicht für diese Lucie, die mich vor weniger Zeit mit Verachtung und Schmähungen überhäufte? Allein ich Undankbarer, verdiente ich nicht diese und noch ärgre? Ach Lucie! mein Herz kann dir unmöglich mehr als den andern Platz einräumen! Du selbst hast dir den ersten geraubet, da du mir die Hochachtung gegen dich geraubet hast. Was ist Lucie gegen Amalien? Ihre Schönheit ist vorzüglicher. Aber ihre Seele? Wird sie nicht so oft von diesem Stolze, von dieser Hitze und von diesem Zorne, der nicht selten in Mut ausartet, sich selbst unähnlich gemachet? Und ist Amaliens ihre nicht jederzeit sich selbst gleich, jederzeit liebenswürdig? Aber welche gerechte Vorwürfe wird mir Luciens Herz machen, und wird sie das meinige fühllos ertragen können? Sie wird verzweifeln, und mein geruhiges Auge sollte ihre Verzweiflung ansehen können? Jakob, ich entdecke dir mein beunruhigtes Herz, wie es von dem Sturme einer geteilten [208] Liebe hin und her getrieben wird. Setze dich in die Martern deines Herrn und sage mir, was du tun würdest, wenn du Karl Southwell wärest, dich zu beruhigen.

JAKOB.

Ich würde einen doppelten Weg vor mir sehen. Ich würde entweder alle Empfindung der Dankbarkeit gegen eine Person, die mich liebet, aus meinem Herzen ausrotten. Ich würde Luciens gute Eigenschaften vergessen und mir ihre bösen allein beständig vorstellen. An mir würde ich lauter Vollkommenheiten erblicken, und dann würde ich glauben, daß Lucie meiner unwürdig sei. Zu ihren Klagen würde ich sodann lachen und über ihre Verzweiflung spotten können. Oder ich würde den andern Weg wählen. Ich würde die Heftigkeit, mit der mich Lucie liebet, erblicken. Ich würde Dankbarkeit fühlen. Ich würde mich zu den Füßen des Vaters hinwerfen, der jederzeit eine Vermählung meiner eignen Wahl überlassen hat. Von ihm würde ich mir Lucien zum Geschenk ausbitten. Ich würde sodann Luciens Stolz, ihre Hitze ebenso zu verbessern suchen, wie ich meine Wankelmut und einige andre kleine Fehler verbessern würde. Mit Lucien würde ich sodann glücklich leben und meinen treuen Jakob von der Furcht und den Sorgen befreien, in welchen er jetzund leben muß, da sein Eifer meiner Liebe gegen Lucien so treu dienet und hundert Gefährlichkeiten würde ausstehen müssen, wenn mein Vater seine unzeitige Dienstgeflissenheit entdecken würde.

KARL.

Nichtswürdiger Bube, mit deinem Geschwätze! Soll ich zu den Füßen eines Mädchens niederfallen, welches mich mit einer Härte verworfen hat, die man der Sprödigkeit der reinsten Tugend kaum nachsehen würde?

JAKOB.
Warum verlangten Sie meinen Rat? Habe ich nur ein einzigesmal Ihren Beifall damit verdienen können?
KARL.

Nein, Lucie! mein männliches Herz zerbricht deine stolzen Fesseln. Wer weiß, gibt sie nicht diesen Augenblick ihre falsche Hand einem schon längst durch mich vergeblich um sie winselnden Betterton? Zu deinen Füßen, liebenswürdige Amalie, soll meine Liebe ihre Opfer niederlegen! Durch dich soll sie sich an Lucien rächen. Dein und mein Vater und mehr als sie beide mein Herz wünschen diese Verbindung. Kann ich noch einen Augenblick zweifeln, zween der besten Väter und der vertrautesten Freunde glücklich zu machen?

JAKOB.

Ich bewundre die Größe Ihrer kindlichen Pflicht. Ich wünsche sie Ihrentwegen Amalien in ebendem Grade. Denken Sie, wenn Sie Amalien fehlen sollte! Lucien hätte sie verlassen.

[209]
KARL.

Schweig! Bin ich nicht Karl Southwell? Ist sie nicht ein Frauenzimmer? Welches Frauenzimmer ist jemals gegen mich und ihre Neigungen unüberwindlich gewesen?

JAKOB
beiseite.
Rühmliche Tapferkeit, der Überwinder der Tugend der weiblichen Welt zu sein!
KARL.
Was sagest du?
JAKOB.

Ich bewunderte die Größe Ihres Ruhms. Ich verglich Sie mit Alexandern. So hieß der, glaube ich, der die Ehre hatte, über eine ganze seufzende Welt zu triumphieren.

KARL.

Schweig! mit deinen Possen und geh zur Betty. Suche zu erfahren, ob Lucie dem Betterton ihre Hand geben will.

JAKOB.

Was kann Ihrer Gleichgültigkeit gegen Lucien diese Nachricht nützen? Ein andrer als Ihr Jakob würde den Liebhaber daraus schließen.

KARL.
Tor! es ist nicht Liebe, es ist Neubegierde.
JAKOB.
Und Ihre Neubegierde erlaubet also, daß ich Ihnen eine bejahende Antwort zurückbringen darf?
KARL.

Geh und ermüde meine Geduld nicht. Jakob geht ab. Sei elend, Lucie! Seufze über mich, verfluche mich! Karl sieht deine Zähren, höret deine Flüche, als ein Sieger die Zähren und Flüche seines überwundnen Sklaven. Habe ich noch weiter etwas von dir zu wünschen? Amalie kömmt. – Himmel! Amalien!

2. Auftritt
Der zweite Auftritt
Amalie. Karl Southwell.

AMALIE.

Sei elend, Lucie! Seufze über mich, verfluche mich! Karl sieht deine Zähren, höret deine Flüche, als ein Sieger die Zähren und Flüche seines überwundnen Sklaven. Habe ich noch weiter etwas von dir zu wünschen? – Ich danke Ihnen für diese Reden, Karl, ob ich sie gleich Ihrentwegen verabscheuen muß. Sie ersparen mir vielleicht die Qual, Sie dereinst sagen zu hören: Sei elend, Amalie! Seufze über mich, verfluche mich. Karl sieht deine Zähren, höret deine Flüche, als ein Sieger die Zähren und Flüche seines überwundnen Sklaven. Habe ich weiter etwas von dir zu hoffen?

KARL.

Allzustrenge Amalie, verzeihen Sie diese übereilten Ausdrücke einer von Lucien beleidigten Liebe. Sie wissen es nicht, sie hat mich mit den härtesten Schmähungen verworfen. Betterton hat –

AMALIE.

Ja, ich weiß es: Sie hat Ihnen den Schmerz gezeigt, mit [210] welchem eine unglückliche Tugend die Verachtung des Urhebers ihres Unglücks empfinden muß. Der Herr Betterton, ein würdigerer Liebhaber als Sie, hat ihr unter gewissen Bedingungen Reichtümer angeboten, welche ihr Herz beruhigen würden, wenn Reichtümer eine beleidigte Tugend unbeleidiget machen könnten. Aber ich weiß auch, daß sie diesen würdigen Herrn Betterton mit allen seinen Reichtümern ausgeschlagen hat. Fragen Sie nicht nach der Ursache. Ich weiß, daß Sie in Ihrem Zimmer, von einem gerechten Hasse und einer gekränkten Liebe bestürmt, auf das Bildnis eines Barbaren ihre Tränen fließen läßt; daß ihre Vernunft und ihr Herz durch einen Undankbaren erschüttert sind; daß sie bald um Rache wider ihn, bald um seine Zärtlichkeit seufzt; daß sie ihn bald einen Bösewicht, bald ihren lieben Karl Southwell nennt.

KARL.

Quälen Sie mein Herz nicht mit diesen kläglichen Bildern. Was können sie alle von mir erzwingen als das Äußerste, Hochachtung und Mitleiden für Lucien. Klagen Sie nicht mein Herz an. Klagen Sie sich selbst an. Ich liebete Lucien. Ich sah Amalien. Konnte ich die Liebenswürdigste ihres Geschlechtes sehen, ohne Lucien zu vergessen?

AMALIE.

Ihre Frechheit und die Nachsicht, die Sie bei einigen meines Geschlechts gegen diese Frechheit gefunden haben, hat schon oft Ihre Stirn eisern genug gemachet, ohne Schamröte mir, einer Freundin von Lucien, die ich Ihre eignen und Luciens Verfassungen weiß, von Liebe vorzureden. Aber glauben Sie, ich habe Ihnen nur eine doppelte Wahl vorzuschlagen. Wählen Sie meinen Abscheu, wählen Sie meine Freundschaft. Sie wissen die einzige Bedingung, unter welcher ich Ihnen die letztere überlassen kann.

KARL.

Wollen Sie die Freude zwener hoffenden Väter vergeblich sein lassen? Wollen Sie den zärtlichsten, aber auch den elendesten Liebhaber zu Ihren Füßen verzweifeln sehen? Göttliches Geschöpf! Sie, lauter Güte, lauter Sanftmut, lauter Verlangen, alle Menschen glücklich zu machen, warum wollen Sie, daß ich allein unglücklich sein soll? Ahmen Sie die Gottheit, deren Bild Sie in allen übrigen Stücken sind, auch gegen mich nach. Schenken Sie mir ein Herz voll Verzeihung, Gütigkeit, und lassen Sie mich noch hinzusetzen, voll Liebe. Lehren Sie mich Ihre Tugend, Ihre vollkommene Tugend nachahmen, und ich werde Sie sodann als die Schöpferin meiner Glückseligkeit anbeten müssen.

AMALIE.

Niedriger Schmeichler! meine Seele ist über Ihr kriechendes Lob erhaben. Es ist Schande für mich. Was für ein Gemisch von Verstellung,[211] Heuchelei und Unsinn waschen Sie mir da vor! Können Sie die Gottheit, diese Ihre schreckliche Feindin, in Ihren entweihenden Mund nehmen, ohne vor ihr zu zittern?

KARL.
Grausame –
AMALIE.

Nur ein einziges Wort noch, dann verlassen Sie mich; ich erwarte meinen Vater hier. Fahren Sie in Ihrer Untreue fort, Meineidiger, und zittern Sie vor der Rache, die Luciens und meine eigenen Seufzer, die ersten, die ich wider die Glückseligkeit eines Menschen ausstoße, von der Gerechtigkeit des Himmels über Ihr Haupt rufen werden. Lassen Sie Lucien Gerechtigkeit widerfahren, und ich bin Ihre Freundin und werde als diese den Himmel anflehen, Ihre Vergehungen zu vergessen und Sie zu segnen.

KARL.
Erbarmen –
AMALIE.
Nichts mehr. Mein Vater kömmt. Ich verlange Gehorsam.

Karl geht ab.
3. Auftritt
Der dritte Auftritt
Robert. Amalie.

AMALIE
indem sie ihrem Vater entgegengeht.
Segnen Sie, gütigster unter den Vätern, segnen Sie Ihre glückliche Amalie.
ROBERT.

Gott segne dich, mein Kind, meine beste Tochter. Der Wunsch und die Sorge für deine Glückseligkeit haben mich diese Unterredung mit dir wünschen lassen. Kann nach denjenigen Pflichten, die ich meinem Schöpfer schuldig bin, ein einiger Gedanke meine Seele mehr einnehmen als das Glück meiner Amalie?

AMALIE.

Wie gütig, wie liebreich sind Sie! Wodurch verdienet es Ihre unwürdige Tochter, daß Sie es sind. Aber üben Sie nicht diese göttlichen Tugenden gegen alle Menschen aus? Hat nicht oft der segnende Beifall derer, die Sie glücklich gemachet haben, die glückliche Tochter des Sir Roberts stolz gemachet? Darf sie also noch fragen, wodurch sie diese väterliche Zärtlichkeit Ihres Herzens verdienet?

ROBERT.

Umarme mich, einzige wahre Freude meines Alters, und laß meine ganze Seele in deiner Umarmung den glücklichen Vater empfinden. Du weißt, die Vorschläge, die ich dir wegen einer Verbindung mit Sir Karln, dem Sohn meines besten Freundes, getan habe. Ich habe deinem Herzen die freie Wahl gelassen. Wenn Vernunft und Tugend das Herz [212] eines Frauenzimmers lenken, so muß seine Wahl jederzeit edel sein. Und ich bin stolz auf meine Tochter, daß ich von ihr keine andre Wahl vermuten kann.

AMALIE.

Häufen Sie nicht meine Verbindlichkeiten durch mein Lob. Ihre Last ist ohnedies schwerer, als sie mein Herz tragen kann. Was für eine elende Kreatur müßte ich sein, wenn ich dem Beispiele des besten Vaters nicht nachzuahmen suchen wollte. Aber ach! diese Vermählung –

ROBERT.

Ist sie nicht dem Wunsche meiner Amalie gemäß? Ich habe nie geglaubt, daß ein Vater der Tyrann über das Herz seines Kindes sein dürfte. Sollte ich es über das Herz einer tugendhaften Tochter sein? Zwar leune ich nicht, die Freude meines Freundes, die Bitten seines Sohnes und meine eigene Hoffnung deiner Glückseligkeit würden mich haben wünschen lassen, wenn es dein Herz zugleich mit mir gewünschet hätte.

AMALIE.

Warum wollten Sie mich aus Ihrem Angesichte, aus Ihren Umarmungen verbannen? Würde ich jemals ohne diese glücklich sein können?

ROBERT.
Ich hoffe, daß du es dermaleinst noch lange ohne sie sein wirst. Aber warum haßt meine Amalie Karln?
AMALIE.

Ich hasse ihn nicht, ich kann keinen einzigen Menschen hassen. Wäre ich wert, die Tochter desjenigen Mannes zu sein, der alle Menschen liebet, wenn ich so gottlos sein und dies tun könnte?

ROBERT.

Ich höre die Sprache der Tugend, meine Tochter. Aber gleichwohl glaubete ich, zu einer andern Zeit mehr Gefälligkeit für Karln in Amaliens Blicken zu lesen als heute.

AMALIE.
Ach, Sir!
ROBERT.

Ein Seufzer! Verrät er nicht ein Geheimnis? Meine Tochter pflegte sonst alle ihre Geheimnisse in meine väterliche Brust zu verschließen.

AMALIE
vor sich.

Warum seufzt' ich Törin doch? Soll ich Luciens und Karls Schande, soll ich meine eigne Schwachheit verraten? Soll ich gegen den gütigsten Vater das erstemal zurückhaltend sein?

ROBERT.

Meine Amalie errötet. Ich freue mich, es ist eine Errötung der Tugend. Das Laster würde dasjenige, was es sich zu sagen scheute, unter der Frechheit einer unerrötenden Stirne verstecken.

AMALIE.

Verzeihen Sie, gütigster Vater, daß ich nur einen Augenblick gezögert habe, offenherzig zu sein. Lesen Sie in meiner Seele. Lesen Sie meine eigene Schwachheit darinne. Karl wußte die Kunst, sich seit der Zeit, da wir uns auf den Gütern seines Vaters befinden, meinem Herzen nicht [213] gleichgültig zu machen. Ich hörte Ihre und seines Vaters Wünsche. Diese Wünsche erregten die meinigen. Ich schäme mich nicht, sie zu bekennen; sie waren rein, und meine Tugend hat also niemals über dieselben erröten dürfen. Aber meine Liebe fand Hindernisse, unüberwindliche Hindernisse. Es ward meine Pflicht, Karln zu vergessen. Dies Herz, das so oft wider seine Pflichten murret, unterließ es auch hier nicht. Ich erinnerte mich, daß ich die Tochter eines Mannes war, der niemals sein Herz über seine Pflichten triumphieren ließ, und ich überwand es. Erlauben Sie mir, daß ich dies Opfer der Menschenliebe, der Freundschaft, der Gerechtigkeit selbst bringen darf. Karls Herz kann nimmermehr mein sein.

ROBERT.

Was für Dunkelheit, meine Tochter! Welche Pflicht, welche Person war dies Opfer von dir zu fordern berechtiget?

AMALIE.

Ich weiß, Sie können nicht Zorn, nein, nur Mitleiden gegen eine unglückliche Schwachheit empfinden; Lucie, die arme Lucie –

ROBERT.
Lucie!
AMALIE.

Sein Sie gütig gegen sie. Erinnern Sie sich, daß sie ein weibliches, ein leicht zu rührendes Herz hat. Sie hat ältere Rechte auf Karln. Sie liebete ihn, eh ich ihn sah. Sie liebet ihn so stark, als ihn ein zärtliches Herz lieben kann. Soll ich sie, meine Freundin, unglücklich machen? Nimmermehr! Sie soll, sie muß Karls Herz erhalten, glücklich zu sein.

ROBERT.
Und liebet sie Karl?
AMALIE
vor sich.

Was soll ich sagen? Der Bösewicht! Die Menschenliebe verbietet mir, seine Verbrechen zu gestehen. Zu Robert. Ich denke, er wird, er muß sie lieben. Kann er gegen so viele Liebe unempfindlich sein?

ROBERT.
Aber itzt?
AMALIE.

Ist er ungerührt gegen den Wert ihres Herzens. Aber er wird es nicht länger sein können, wenn er nichts weiter von mir zu hoffen hat.

ROBERT.

Er liebet sie also nicht? Dies gibt meiner Seele einen Trost wieder. Folge deiner Neigung, meine Tochter, und liebe Karln. Lucie hat kein Recht auf sein Herz. Beleidigte nicht ihre Schwachheit die Bescheidenheit ihres Geschlechts, ja die Tugend selbst? Karl wird dein sein, und Vernunft und Tugend werden Lucien die Herrschaft über ihr Herz lehren.

AMALIE.

Wie? mein Vater! Lucie sollte Tränen vergießen, und Amalie, ihre Freundin, sollte die Ursache dieser Tränen sein? Southwells Liebe ist Qual für mich, wenn ich Lucien soll meinentwegen leiden sehen? Können Sie, der Sie nie die Zähre eines Unglücklichen sahen, ohne diese Zähre [214] in Segen für eine Wohltat zu verwandeln, gegen Lucien allein es vergessen? Nimmermehr. Das Herz des Sir Roberts muß gegen jedermann Mitleiden empfinden.

ROBERT.

Lucie seufzt vergeblich nach etwas, das sie niemals erlangen kann. Der alte Southwell wird nie seine Einwilligung zu dieser Verbindung geben.

AMALIE.

Sie sind sein Freund, und was für Gewalt hat ein redlicher Freund über das Herz seines ebenso redlichen Freundes. Bitten Sie für Lucien. Tun Sie es um Ihrer Tochter willen. Sie werden es tun. Haben Sie dieser Tochter jemals eine billige Bitte abgeschlagen? Vor sich. O daß ich ihm die ganze Größe von dem Unglücke der armen Lucie entdecken dürfte!

ROBERT.

Ich suche meinen Freund, Luciens Ruhe und Amaliens Glückseligkeit zu befördern. Geh zu deiner Freundin und bekämpfe ihre Leidenschaft durch die Lehren, die dir deine Tugend eingeben wird.

AMALIE.
Luciens Leidenschaft verlangt keinen Kampf, sie verlangt Mitleiden. Sie geht ab.
ROBERT.
Edelmütige Freundschaft! Was für ein Glück ist es für Roberten, Vater zu sein.
4. Auftritt
Der vierte Auftritt
Robert. Willhelm. Southwell.

ROBERT
indem er seinem Freunde begegnet.

Welches glückliche Schicksal führt dich deinem suchenden Freunde entgegen? Immer noch betrübt? Vergiß deiner Betrübnis und sei glücklich, mein Freund!

WILLHELM.
Ich glücklich? Verdien' ich es zu sein? Werde ich es jemals sein können, solange Lucie –
ROBERT.

Hoffe! ein glücklicher Strahl wird diese Wolke über deinem Haupte zerteilen. Laß uns durch Vernunft, Liebe und Tugend die Seele der Lucie heilen. Dein Sohn ist für meine Amalie allein zärtlich, und freue dich mit mir, Willhelm, Amalie liebet ihn.

WILLHELM.

Amalie liebet ihn? und Karl gegen sie allein zärtlich? Freude komm' dann noch einmal zurück in mein seufzendes Herz! O Robert, berauscht deine freundschaftliche Seele mich nicht vielleicht mit einem falschen Vergnügen?

ROBERT.

Traue deinem Freunde. Das sich verstellende Herz meiner Amalie selbst hat es mir entdecket. Allein ihre ganze Seele ist Freundschaft und[215] Mitleiden. Luciens Brust muß erst beruhiget werden, ehe Amalie die Hand deines Sohnes annehmen wird.

WILLHELM.

Welche schwere Bedingung! Die Stärke von Luciens Leidenschaft machet mir Qual. Hat sie nicht alle Gütigkeit des großmütigen Bettertons ausgeschlagen?

ROBERT.

Entehre das Herz eines Mannes nicht durch eine verzagte Kleinmütigkeit. Freund! ist es der Mühe wert, ein Mensch und ohne Hoffnung zu sein?

WILLHELM.

Segne diese Hoffnung, o Gott! Vergib dem Herzen der Lucie, so oft es strafbar war. Laß diese Strafe auf mein schuldiges Haupt fallen. Ich allein verdiene sie!

ROBERT.

Laß unsere Freude durch keine Seufzer entweihet werden! O Freund, welch entzückende Szene würde es sein, unsere Kinder zu sehen, wie sie sich, glücklich durch ihre Zärtlichkeit, umarmen! Wie sie von uns, ihren durch sie ebenso glücklichen Vätern, umarmt und an die schon mattschlagende Brust gedrücket werden! Sieh deinen Sohn, Willhelm?

5. Auftritt
Der fünfte Auftritt
Die Vorigen. Karl Southwell.

WILLHELM.

Freue dich, mein Sohn, du wirst die Belohnung der Tugend erhalten, wenn du diese Belohnung verdienst. Du wirst Amalien besitzen. Danke dem besten Vater und Freund für seine Einwilligung. Hoffe noch mehr. Amalie ist nicht unempfindlich gegen dich.

KARL
vor sich.

Amalie nicht unempfindlich gegen mich? Welcher plötzliche Streich für Lucien! Zu einer Zeit, da Mitleid und Amalie fast mein Herz wankend gemachet hatten; zu einer Zeit, da ich bereits im Begriff war, meine Leidenschaft gegen Lucien meinem Vater zu entdecken.

WILLHELM.
Was soll diese Erstaunung, Karl?
KARL.

Verzeihen Sie dieselbe dem Grade meiner Freude. Kann sie sich anders ausdrücken? Wer hat je eine größere empfunden? Sir Robert! So werde ich dann den gütigsten Mann als meinen Vater umarmen dürfen? Wird jede noch übrige Minute meines Lebens genug sein, Amalien und diese Gütigkeit zu verdienen? Aber mitten in seiner Glückseligkeit seufzt das stets zweifelnde Herz. Ist nicht meine Hoffnung ein Traum! War nicht nur noch vor wenig Minuten Amaliens Auge nichts als Verachtung gegen mich?

[216]
ROBERT.

Wie geteilt ist zärtliche Liebe jederzeit zwischen Furcht und Hoffnung! Hoffen Sie ohne Furcht. Kindliche Pflicht hat dasjenige nicht vor mir verborgen gehalten, was weibliche Sittsamkeit für Sie zu einem Geheimnisse gemachet hatte.

KARL.

Und was raubet mir noch meine Verzögerung diese kostbare Minuten, die meiner Dankbarkeit gefühlvoller bei Amalien verschwinden würden?

WILLHELM.

Geduld, mein Sohn! Diese Hitze, diese Gefährtin der Jugend, kann bei dieser Gelegenheit allein vielleicht löblich sein. Luciens Seufzer verlangen zuvor Ruhe für Luciens Herz.

KARL
vor sich.
Himmel, ich bin verloren, wenn er alles weiß.
WILLHELM.
Luciens Gram kann dir nicht fremder sein, als er mir ist.
KARL.
Ach, mein Vater!
WILLHELM.
Ihre Schönheit und ihr Herz verdienten das deinige.
KARL.
Ich kann – ich kann nur Mitleiden –
WILLHELM.
Der Grad ihres Unglücks fordert mehr als Mitleiden. Er fordert Liebe!
KARL.
Vergebung, mein Vater!
ROBERT.

Ach! warum, Willhelm, beunruhigst du sein zärtliches Herz durch deine Umschweife. Nein! Southwell. Sie verstehen Ihren Vater falsch. Hören Sie mich. Ihr Vater weiß, daß Lucie Sie liebet, er weiß, daß Sie Lucien nicht wieder lieben, daß Ihr ganzes Herz meiner Amalie ist. Ihre ganze Aufführung verdienet seinen Beifall. Aber das verwundete Herz der armen Lucie muß noch vor der Verbindung mit meiner Tochter geheilet werden. Es ist nichts als freundschaftliche Liebe, die er für Lucien verlangt, und der Sohn des Sir Willhelm Southwell muß sie keinem einzigen Unglücklichen, geschweige denn einer Lucie versagen.

KARL.

Und nie, nie wird er ihr diese Freundschaft versagen. Kann er mehr für sie tun? Aber wie lange wird ihre flüchtige Leidenschaft dauern können? Dürfte ich einen Vorschlag tun, Lucien zu beruhigen?

WILLHELM.
Rede, mein Sohn, rede. Luciens und deine Glückseligkeit sind die einzigen Wünsche meines Alters.
KARL.

Lassen Sie mich Lucien zu unserm gemeinschaftlichen Freunde Atkins und seiner Schwester begleiten. Er ist fähig, das Herz eines Frauenzimmers zu rühren. Ich will sie daselbst allein lassen. Die Entfernung und Atkins werden mein Bild aus ihrem Herzen auslöschen, und wir alle werden glücklich sein können.

[217]
ROBERT.
Sein Rat ist gut, Willhelm, laß uns ihm folgen.
WILLHELM.

Aber kann ich Lucien von mir lassen? Doch fodert es nicht ihre eigene Glückseligkeit? Was würde ich ihr nicht aufopfern, wenn ich sie erkaufen könnte? Selbst die meinige, wenn eine wäre, die ich mein nennen dürfte.

6. Auftritt
Der sechste Auftritt
Die Vorigen und Jakob.

JAKOB.
Der Bediente des Herrn Betterton verlangt Sie zu sprechen.
WILLHELM.

Ohnfehlbar seinen sterbenden Lippen den letzten Kuß der freundschaftlichen Liebe aufzudrücken. Traurige Pflicht! Wenn werde ich so glücklich sein und sie von dir fordern dürfen, o Robert! Dann erst, wenn ich durch Leiden der Tugend dieses Glückes würdig geworden bin.

ROBERT.

Laß uns die Tage der Zukunft der Vorsehung überlassen und die gegenwärtigen freudig und tugendhaft genießen. Ich begleite dich zu dem Lager deines Freundes, einige Minuten meines Lebens der nützlichsten Kunst in deiner Gesellschaft zu widmen, der Kunst, Sterben zu lernen.

7. Auftritt
Der siebente Auftritt
Karl Southwell. Jakob.

KARL.

Laß sie ihre Kunst zu sterben lernen, Jakob. Karl, der glückliche Karl versteht die bessere Kunst, zu leben, glückselig zu leben.

JAKOB.

O Herr! daß Sie doch die erstere nicht gar über der letztern vergessen möchten! Wissen Sie wohl, wieviel Augenblicke Sie noch die erstere werden entbehren können?

KARL.

Tor! mit deinem Geschwätze! Darfst du dich wohl unterstehen, bei der Freude deines Herrn, des glückseligsten Menschen von der Welt, zu seufzen?

JAKOB.

Haben Sie sich mit dem Himmel und Lucien versöhnt und sind so glücklich geworden, als Sie sein können?

KARL.

Schweig, Narr! der Überfluß meiner Freude allein verzeiht deiner Unverschämtheit. Wisse, Amalie liebet mich. Nur noch eine kleine Zeit, so wird sie auf ihren Gemahl, auf ihren Karl Southwell stolz sein. Sagete ich nicht, daß ich Sieger sein würde? Jakob! Ja, was kann weiblicher Stolz und weibliche Tugend wider mich? Besaß nicht Lucie beides? Himmel! Sieh die Größe meiner Freude und beneide mich!

[218]
JAKOB.

Rufen Sie nicht den Himmel, Ihre Freude zu sehen, damit er sich nicht dabei an Ihre Verbrechen erinnern möge.

KARL.

Predige, alter Sirach, predige. Ich kann mich heute über meinen ärgsten Feind nicht erzürnen. Aber der ehrliche Sir Robert! Jakob, er verdienet meine ganze Dankbarkeit. Er riß mich aus einer Unruhe voll Verzweiflung. Bald hätte mein Vater durch meine Unvorsichtigkeit meine ganze Liebe mit Lucien erfahren. Aber es ging alles gut, ehrlicher Jakob. Ich will dir es zu einer andern Zeit erzählen, wenn ich ruhiger bin. Jetzt bin ich lauter Freude. Aber du so gleichgültig, so närrisch traurig?

JAKOB.

Verschonen Sie mich mit Ihrer Freude: Ich bin nicht von einem so feinen Gefühle wie Sie. Aber Amalie, die tugendhafte Amalie konnte die Pflicht gegen Lucien vergessen? Warum vergaß sie ihren Stolz gegen Sir Karln?

KARL.

Mußte sie ihn nicht vergessen? Saget nicht selbst die stolze Miene ihres Geschlechts jederzeit dem unsrigen: Ihre Dienerin ersuchet Sie, ja nicht so stolz, so grausam gegen sie zu sein, als sie sich gegen ihn zu sein stellt. Aber mein einfältiges Herz hätte sich bald durch ihre verstellte Sprödigkeit betrügen lassen. Würde sie nicht auch jedweden außer mich völlig betrogen haben? So ernsthaft, eifrig für ihre Freundin! Unerforschliche Tiefe der weiblichen Verstellung; wer kann dich ergründen? Komm! Jakob, laß uns die Anordnungen zu unserer Reise zu meinem Freund Atkins machen. Er soll Lucien ihre Ruhe wiedergeben. Schilt meine Gerechtigkeit, wenn du kannst.

8. Auftritt
Der achte Auftritt
Die Vorigen. Betty kömmt.

BETTY.
Verzeihen Sie, Amalie kömmt, Sie zu sprechen.
KARL.

Amalie! mich zu sprechen? himmlische Gütigkeit! Zurück, Jakob. Entweihe die Einsamkeit der Liebe nicht durch deine Gegenwart.

JAKOB.
Ich danke Ihnen für Ihren Befehl, Herr! Er ist eine Wohltat für mich. Geht ab.
9. Auftritt
Der neunte Auftritt
Karl Southwell. Betty. Lucie kömmt.

KARL
zur Betty, indem er Lucien erblicket.
Nichtswürdige Kreatur! Er will weggehen. Lucie hält ihn zurück.
[219]
LUCIE.

Verziehen Sie, Southwell. Verziehen Sie aus Ehrgeiz. Ich weiß, Sie besitzen ihn. Sie sollen Ihren Triumph über Lucien sehen.

KARL.
Herz! elendes Herz! verdammt sei deine Unruhe!
LUCIE.

Verzeihen Sie mir noch, als die letzte Probe Ihrer – wie soll ich es nennen? – Ihrer Herablassung, verzeihen Sie mir diese List, noch ein einziges Mal mit Ihnen zu sprechen. Ich wußte, daß ich es unter keinem andern als Amaliens Namen erlangen würde. Ich komme nicht, Ihnen Vorwürfe, nein! ich komme, Ihre Freude vollkommen zu machen. Sie sollen mich demütig, Lucien zum ersten Male demütig sehen. Sie sollen Sie klagen, sie seufzen hören, damit Sie die Wollust empfinden können, über ihre Seufzer zu frohlocken.

KARL.
Meine verdammte Leichtgläubigkeit!
LUCIE.

Ich war glücklich, ehe ich Sie liebete. Ich liebete Sie, und ich fürchtete nie, daß ich durch Ihre Liebe unglücklich werden könnte. Durch diese Liebe unglücklich zu werden, die meine ganze Glückseligkeit war? Ich beleidigte die Tugend, ich sah die Schande, ihre Rächerin, herannahen. Ich drückte Sie an meine Brust, und ich vergaß Tugend, ich vergaß Schande, ich vergaß alles, wovor ich zu zittern Ursache hatte. Glückselige Minuten! Da unsere Seelen in dem gemeinschaftlichen Gefühle ihrer Zärtlichkeit zerflossen, da Sie noch meine Lucie sageten, da ich noch mein Karl Southwell sagen konnte. Warum ließen Sie mir doch diese Minuten empfinden? oder da Sie mir solche empfinden ließen, warum rauben Sie mir dieselben? Barbar! wenn habe ich Ihnen eine einzige Zärtlichkeit nicht durch eine noch größere vergolten? Wenn war mein Auge nicht auf das Ihrige geheftet, um alle Ihre Wünsche in demselben zu lesen? Und wenn las ich einen einzigen Wunsch in diesem Auge, ohne ihn zu erfüllen? Oh! daß ich sie nie erfüllt hätte, so würde ich Sie jetzund verachten können. Und doch, Undankbarer, welchen Lohn meiner Liebe geben Sie mir? Daß Sie mich zu Tränen, zu ewigen Tränen verdammen! mich? die ich Sie bei allen Ihren Grausamkeiten nicht vergessen kann. Barbarische Natur! warum gabest du mir ein zärtlicheres Herz als dasjenige, das du mich zu lieben verdammtest? –

KARL.
Ach, Lucie!
LUCIE.

Sie seufzen? Seufzen Sie nicht! Rauben Sie mir nicht noch den elenden Zrost, Sie den Grausamsten zu nennen. Ihre Seufzer würden Mitleiden verraten, und ich würde sodann weniger Recht haben, mich über Sie zu beklagen. Spotten Sie meiner, damit mein Herz noch vielleicht die elende[220] Linderung seiner Qual fühlen möge, daß Karl Southwell dieses Herzens völlig unwürdig war. Fürchten Sie keine Gerechtigkeit des Himmels, die Ihre gebrochne Eidschwüre strafen werde. Nein! Sie sei nicht! Sie sei nicht! Lucie wünschet es mit Ihnen, damit sie weder die schrecklichste Rache an demjenigen, den ihre ganze Seele liebet, erblicken, noch für ihre eigenen Verbrechen die Strafe dieses beleidigten Himmels fürchten darf.

KARL.
Es ist zuviel! Lucie! Meine Seele kann dies nicht ertragen. Lassen Sie mich weggehen.
LUCIE
die ihn zurückhält.

Eine Zähre von den Wangen Karl Southwells! Verlor er sie vielleicht um diese Lucie, die ehemals aus Zärtlichkeit mehr als eine von ihren Wangen herabschleichen fühlte? Eitle Einbildung! Nein! vielleicht weinte sie die Natur über den unschuldigen Zeugen, soll ich sagen, unserer Liebe oder unserer Verbrechen? Ja, vergessen Sie seine unglückliche Mutter, aber zeigen Sie ihr, ich beschwöre Sie bei diesem noch ungebornen Pfande, zeigen Sie ihr, wie sie es seinen Vater soll kennen lehren, ohne ihm zugleich erkennen zu lassen, daß dieser Vater ein Bösewicht war. Sagen Sie, wie ich es lehren soll, diesen Vater zu lieben, den wir beide verfluchen sollten. Sie fällt vor ihm nieder. Hören Sie meine letzte Bitte. Befreien Sie sich von einer Last noch zukünftiger Verbrechen. Ersticken Sie es in dem Blute seiner ermordeten Mutter. Es würde doch nie den Namen Vater aussprechen können, ohne Ihr Haupt mit einem neuen Verbrechen zu beschweren.

KARL
indem er sie aufhebt.
Barbarische Liebe! sind dies deine Glückseligkeiten? Geht ab.
10. Auftritt
Der zehnte Auftritt
Lucie und Betty.

LUCIE.

Ich habe das Herz des Barbaren gerührt, Betty. Aber schrecklicher Sieg! Er hat mir meinen Stolz, meinen Abgott gekostet. Lucie, wie verächtlich bist du dir selbst? Welche Erniedrigung! du hast dich vor einem elenden Karl Southwell gedemütiget, ihm eine Gerechtigkeit abzuzwingen, die er dir schuldig war? Karl! wenn wird meine Seele fähig sein, dafür Rache an dir auszuüben? Doch sie wird es dereinst sein, wenn ich Lucie bin.

BETTY.
Wissen Sie, Fräulein, wie sich Betty an Karl Southwelln rächen würde, wenn sie Lucie wäre?
[221]
LUCIE.
Sage mir diese Rache, wenn sie grausam genug ist.
BETTY.

Grausamer und süßer als alle andre Arten. Ich würde Sir Karln in den Armen eines bessern Liebhabers vergessen.

LUCIE.
Um sodann ebenso geschwind wieder von diesem vergessen zu werden?
BETTY.

Und was würde Sie hindern, ihn zuerst in den Armen des dritten zu vergessen? Fräulein, Sie kennen das wahre Geheimnis der Liebe noch nicht. Eine elende und ekle Einförmigkeit –

LUCIE.

Genug! Mein Stolz verwirft alle deine Vorschläge. Ich will mit diesem verräterischen Geschlechte nichts weiter zu tun haben, außer wenn ich es quälen kann. Selbst aus Stolz, nicht aus Liebe soll Karl mein Gemahl werden. Was geht die Liebe, diese sanfte Leidenschaft, einem Herzen an, das sich selbst durch Haß, Neid und Verzweiflung verzehret? Aus Stolz sei er mein Gemahl, mich der Schande zu entreißen, die mir droht, mich der Finsternis meiner Geburt zu entziehen und meinen Ehrgeiz zu sättigen; nicht eine Amalie über mich triumphieren zu sehen, die ich hasse, weil ich sie keiner Laster beschuldigen kann.

BETTY.

Ich versichere Sie, Fräulein, Southwell hat bei aller dieser Hitze weniger von Ihrer Rache zu befürchten, als er von Ihrer Zärtlichkeit zu hoffen hat. Lassen Sie mich Ihrentwegen wünschen, daß er die Empfindungen, die Sie in ihm rege gemachet haben, nicht vergessen möge.

LUCIE.

Grausame Betty! was für Vergnügen findest du in meiner Qual. Weg mit diesem Gedanken! Mich nach der tiefsten Erniedrigung, nachdem ich weggeworfen genug um seine Liebe gefleht habe, mich sodann noch zu achten? Und wie, wenn er es täte? Sollte er und ich noch den äußersten Grad meiner Schande überleben? Wahrlich! weder er noch ich sollten ihn überleben. Habe ich nicht bereits ein Verbrechen begangen, und bin ich nicht daher zu dem schrecklichsten fähig genug? Ja, Betty, Karl hat mich gedemütiget gesehen und um Erbarmung flehen gehöret. Meine stolze Seele mußte sich zu dieser Tiefe herablassen, wenn sie ihn nicht auf ewig verlieren wollte. Ich will noch einen Versuch auf Amalien tun. Sie ist großmütig. Die Wut wird noch aufgehoben, wenn die Demütigung nichts ausrichten sollte.

BETTY.

Ausschweifungen, Fräulein! Kommen Sie und lassen Sie uns unsern Sieg wider Karln fortsetzen. Verachten Sie ihn, wenn der Sieg mißlingt.

[222]
LUCIE.

Wohlan! dies beängstigte Herz soll noch hoffen. Wenige Minuten werden mein Schicksal entscheiden: Ob ich so glücklich, als ich es werden kann, oder ewig unglücklich sein soll. Es sei dies letztere, Schicksal, wenn du deine Freude an meiner Qual findest. Aber dir schwöre ich, o Rache, Lucie soll nicht unglücklich werden, ohne noch andere mehr neben sich unglücklich zu machen.

3. Akt

1. Auftritt
Der erste Auftritt
Amalie. Karl Southwell.

KARL.
Lehren Sie mich Amalien vergessen, und ich will Lucien lieben.
AMALIE.
Hören Sie die Tugend, und Sie werden beides tun können.
KARL.
Es ist schwer, soviel Hoffnung aufzugeben. Ihr Herr Vater selbst erweckte sie in mir.
AMALIE.

Ich habe Ihnen die Gründe gesaget, welche meinen Vater zu seinem Irrtum verleiteten. Seine Unwissenheit wegen Luciens Schicksale ließ ihm glauben, daß Luciens Liebe überwindlich, und meine Verbindung mit Ihnen möglich sei. Ich wiederhole ohne Errötung mein Geständnis gegen meinen Vater vor Ihnen selbst. Sie waren meinem Herzen nicht gleichgültig. Aber ich schwöre Ihnen, ich empfand von dem Augenblicke an, da ich Ihre und meine Pflichten kennenlernete, nichts als Freundschaft. Ich biete Ihnen heute diese Freundschaft noch einmal an. Wollen Sie diese?

KARL.
Sagen Sie mehr, sagen Sie Liebe.
AMALIE.

Nennen Sie mir dies Wort nicht mehr, wenn ich Sie nicht sogleich verlassen soll. Alle zärtliche Sorgfalt für die Ehre meiner Freundin wird mich sodann nicht abhalten, dem rechtschaffenen Manne zu entdecken, was er für einen Bösewicht zum Sohne hat. Er wird Sie sodann zwingen, dasjenige der Gerechtigkeit zu geben, was Sie doch mit einem gewissen Scheine von Tugend der Liebe leisten könnten.

KARL.
Mein Herz würde diesen Zwang nicht nötig haben, wenn nicht Amalie seine Verführerin geworden wäre.
AMALIE.

Ungerechter Southwell, wollen Sie mich zu einer Mitgenossin Ihrer Verbrechen machen? Doch es ist die Gewohnheit Ihres Geschlechts, dem unsrigen alle die Fehler, die das Ihrige selbst beging, aufzubürden. [223] Ich beschwöre Sie weder bei derjenigen Gerechtigkeit, die noch kein Verbrechen ungerochen gelassen hat, weder bei Ihrer Pflicht, noch bei dieser Tugend, die Sie vielleicht beide nicht genugsam kennen; ich beschwöre Sie bei Ihrer Glückseligkeit selbst, lieben Sie Lucien. Wie können Sie in dem Arme einer jeden andern Gemahlin eine einzige Zärtlichkeit empfinden, da Sie sich dabei an die Zärtlichkeiten der armen Lucie erinnern müssen? Wird ein einziger Ihrer Träume von den Schrecken des Bildes der Lucie frei sein? Fürchten Sie diese Ruhe, die auf eine kurze Zeit Ihre Sinne berauschen wird. Sie wird verschwinden wie ein Traum, und Schrecken werden Ihre Nächte und Verzweiflung Ihre Tage sein. Warum ist doch Ihr Auge so blöde, die Glückseligkeit nicht zu sehen, die Ihrer in Luciens Armen erwartet? Eine Gemahlin, die weiter keine Glückseligkeit als Sie verlangt, die alle Ihre Wünsche übertreffen wird, die Sie und Ihren Vater zugleich glücklich machen wird! Können Sie ein Mensch und gegen dies alles unempfindlich sein?

KARL.
Ich unempfindlich? mein Herz, Lucie leidet mehr als das deinige!
AMALIE.

Es ist ein Ruhm für Ihr Herz, daß es leidet. Ich habe niemals von dem Sohne des Sir Willhelm Southwells geglaubet, daß sein Herz unedel sein könnte. Eine gewisse Leichtsinnigkeit, Eigenliebe und Wankelmut (verzeihen Sie einer weiblichen Offenherzigkeit) wird er leicht in dem Umgange mit einer würdigen Gemahlin vergessen lernen, und sein Herz wird sodann mit dem edelsten Herzen um den Vorzug streiten können.

KARL.

Wodurch wird sich Lucie von der Last ihrer Verbindlichkeiten befreien, die sie den Bemühungen ihrer Freundin schuldig ist?

AMALIE.

Diese Bemühungen sind überflüßig belohnet, wenn Sie Lucien ihre alten Rechte wieder einräumen. Werde ich nicht sodann das Vergnügen empfinden, an Ihrer und meiner Freundin Glückseligkeit gearbeitet zu haben? Oh! kennten Sie die Wollust, diese erhabene Wollust, die ein Herz fühlt, das seine Pflichten sein Gesetz sein läßt, das durch diese Pflichten die Glückseligkeit seines Nächsten befördert sieht, Sie würden die Verzögerung verfluchen, die Ihnen diese Wollust geraubet hat.

KARL.

Führen Sie mich, erhabene Amalie. Ich will versuchen, ob mein Herz noch unverderbt genug ist, diese Wollust empfinden zu lernen.

AMALIE.

Betty von weitem. Nunmehr sind Sie mein Freund. Umarmen Sie Ihre Freundin. Alles, was Ihnen mein Herz einräumen kann, schenke ich Ihnen.

2. Auftritt
[224] Der zweite Auftritt
Die Vorigen und Betty.

BETTY
zu Amalie.

Ich habe Ihnen hier einen Brief von der Fräulein zu übergeben. Zu Karln. Wenn Sie der ärgste Barbar wären, Sir! Sie würden sie ohne Tränen nicht sehen können.

AMALIE
nachdem sie gelesen hat.

Hören Sie, was Lucie schreibt. »Nach allen den Grausamkeiten von Sir Karln, unter welchen meine Seele seufzet, fühle ich Elende noch, daß ich ihn ewig lieben werde, und weil ich ihn denn lieben muß, so trete ich alle meine Rechte an Sie ab. Würde er nicht in meinen Armen ohne Amalien ewig unglücklich sein? Und ich, ich sollte denjenigen durch mich unglücklich sehen, für den ich jederzeit, jede Minute auf eine neue Glückseligkeit sann? Nein, genießen Sie an Ihres Southwells Brust das Glück, welches vielleicht Lucie nie verdiente. Löschen Sie mein Bild aus seinem Herzen aus, damit es ihn nie quälen möge. Der Gedanke, daß ich ihn quälen sollte, würde das größte meiner Leiden sein. Ich fliehe zu einer Einsamkeit, die mich lehren soll, in Amaliens und Southwells Glückseligkeit ein Vergnügen zu finden, das ich in meinem eigenen Glücke auf mein ganzes übriges Leben vergebens suchen werde.« Gefällt Ihnen dieser Inhalt? Was soll dieser Seufzer, diese traurige Stellung? Kommen Sie fort, lassen Sie uns diesen Brief beantworten. Sie gehen ab.

BETTY.

Arme Fräulein! weniger Stolz, weniger Zärtlichkeit, weniger Zwang einer äußerlichen Tugend würden dich an einem untreuen Liebhaber und einer falschen Freundin rächen.

3. Auftritt
Der dritte Auftritt
Betty. Lucie.

LUCIE.

Gib den unglücklichen Brief zurück, Betty. Alle List ist vergeblich. Wut, Wut ist allein noch für Lucien übrig. Amalie liebt Karln. Sie hat ihm bereits ihre Hand versprochen. Ich habe es diesen Augenblick aus dem Mund ihres eigenen Vaters gehöret. Gib den Brief zurück, damit sie nicht meine Schande lesen und über mich frohlocken kann. Wo ist er? Gib ihn zurück.

BETTY.
Es ist zu spät, Fräulein, Amalie hat ihn gelesen.
LUCIE.

Meine Nebenbuhlerin einen Brief, in dem ich mich selbst unter [225] sie erniedrige? Aus dem sie die ganze Größe meines Verlustes sehen kann? Soll sie über mich frohlocken? Über Lucien? Nichtswürdige Betty, mußtest du eilen –

BETTY.
War es nicht Ihr Befehl, Fräulein?
LUCIE.

Ja, meine elende List ist Ursache; meine törichte Hoffnung, meine Nebenbuhlerin durch ihre Großmut zu überwinden. Einfältige Lucie! die Zuflucht zu der Großmut einer Nebenbuhlerin, und wenn es auch eine Amalie selbst ist, zu nehmen? Kenne ich die menschlichen Tugenden nicht? War es mir fremd, daß sie nichts mehr sind als die Decke des Lasters? Strafe mein Herz, Betty! strafe es durch die Erzählung von dem Triumphe meiner Nebenbuhlerin, als sie mein eignes Geständnis las, daß sie besser als ich sei.

BETTY.

Wie lange wollen Sie sich doch durch Ihre heroische Liebe lächerlich machen? Die Zeit, da der meineidige Ritter den Tod verdiente, der seiner Prinzessin untreu ward, ist vergangen. Erinnern Sie sich doch, daß Sie in einem weit philosophischen Zeitalter in Ansehung der Liebe leben. Mehr als zwölf liebenswürdige Herren bieten Ihnen Ihre Rache wider Karl Southwell an, und ehe ein Monat vergeht, können Sie sich von allen zwölfen gerächet sehen.

LUCIE.

Dein unsinniges Geschwätz hat mich schon mehr als einmal verdrießlich gemachet. Sage mir, mit was für Mienen Amalie den Brief empfangen hat.

BETTY.

Unglückliche Neubegierde! was wird sie Ihnen helfen, als Ihre Verzweiflung verstärken? Doch Sie wollen es. Hören Sie denn: Sie empfing Ihren Brief wie eine Person, die unsern feinen Geschmack in der Liebe besitzt. Sie las ihn, lächelte, las ihn Sir Karln vor. Er seufzte einmal, vielleicht aus einer verstellten Höflichkeit. Amalie verwies ihm seinen Seufzer, schlang den Arm um ihn und führte ihn fort. Sehen Sie, dies ist alles, was ich Ihnen sagen kann.

LUCIE.

Freue dich deines Sieges, meine Feindin, aber zittere vor Luciens Rache, die mit starken Schritten auf dich loseilet. Ich haßte dich ehemals, weil du besser als ich warst, und jetzt freue ich mich, daß ich dich hassen kann, weil du niederträchtiger als ich bist. Herrlicher Ruhm für Lucien! Es gibt noch jemand, der niederträchtiger als sie ist. Doch vielleicht spottet sie jetzt in dem Genusse der Zärtlichkeiten einer ebenso niederträchtigen Seele als die ihrige meiner Qual, und der ungerechteste Bösewicht, den der ebenso ungerechte Himmel leben läßt, lehrt sie in seinen Armen, wie sie über mich [226] frohlocken soll. Auf, Lucie! die Opfer deiner Rache sind bereit. Gib ihnen den tödlichen Streich. Sieh diese Qual, mit der ihre treulose Seele von ihnen flieht. Freue dich noch einmal über ihre Qual, verzweifle sodann und stirb.

4. Auftritt
Der vierte Auftritt
Die Vorigen. Amalie und Karl Southwell.

KARL.

Wohin, grausame Lucie? Sehen Sie dies Opfer, das Sie suchen zu Ihren Füßen. Töten Sie es und lassen Sie sich sodann sagen, daß Sie den zärtlichsten Liebhaber getötet haben.

LUCIE.

Amalie und Karl vor meinen Augen, und Lucie zu kraftlos, Rache von Ihnen zu fodern? Ja, ich war noch der notwendigste Zeuge, der Ihnen zu Ihrem Triumphe über mich mangelte.

AMALIE.

Unbillige Freundin, sehen Sie Ihren Southwell, der Verzeihung von Ihnen verlangt und ohne diese Verzeihung unglücklich sein wird.

KARL.
Und wissen Sie, daß es Amalie war, die diese Pflichten zuerst wieder in mir lebendig gemachet hat.
LUCIE.

Sie besitzen das Recht, über Lucien zu spotten; aber zittern Sie, Lucie hat Ihnen noch nicht das Recht zugestanden, sich ungerochen spotten zu lassen. Sie will weggehen.

AMALIE
die sie zurückhält.
Hören Sie doch auf, Liebe und Freundschaft zugleich zu beleidigen.
KARL.

Wohlan! versagen Sie mir Ihre Verzeihung, überlassen Sie mich der Verzweiflung, die meine Untreue verdienet, und doch soll jeder künftiger Augenblick ein Beweis meiner Zärtlichkeit für Sie sein.

LUCIE.
Ein Beweis Ihrer Zärtlichkeit für Lucien, die Sie verachten?
KARL.
Für Lucien, die ich anbete, die ich mehr als meine Seele liebe.
LUCIE.
Sie mich lieben?
KARL.

Mehr, wenn es möglich ist, als in dem ersten Augenblicke, da ich sie zu lieben anfing. Gütigste Lucie! verzeihen Sie einem verblendeten Liebhaber, der Ihr Herz nicht verdienet, weil er den Wert desselben noch nicht recht kannte. Vertilgen Sie diese unglücklichen Minuten aus Ihrem Gedächtnisse; lassen Sie uns nur an die zukünftigen gedenken, die unserm Leben ein ewiger Lenz sein werden. Ich setze Sie noch heute in alle Rechte meiner Gemahlin. Ich eile, den gütigsten Vater um Erlaubnis zu bitten. Das Glück seiner Lucie und seines Sohnes sind seine vornehmsten Gedanken. [227] Wie wird sein väterliches Herz in Freuden überfließen, wenn es hören wird, daß unsere Seelen einander zu beglücken geschaffen wurden.

LUCIE.

Törichtes Herz! Läßt du dich nicht vielleicht zu geschwind von deiner Hoffnung betrügen? So werde ich denn noch einmal ebenden zärtlichen Liebhaber an meine klopfende Brust drücken, den ich ehemals in meine Arme schließen konnte. Und Ihnen, Amalie, die ich durch die niedrigsten Ausschweifungen der Eifersucht beleidiget habe, muß ich es danken, daß ich ihn an dieses Herz drücken kann?

AMALIE.

Sie haben es niemand als bloß dem Herzen Ihres Karls selbst zu danken, das niemals so unedel sein kann, seine Pflichten ganz zu vergessen.

LUCIE.
Können Sie mir verzeihen? Nimmermehr können Sie es.
AMALIE.
Ich Ihnen verzeihen? Haben Sie mich beleidiget?
LUCIE.

Warum muß doch Lucie jederzeit kleiner als Sie sein? Jederzeit sehen Sie von Ihrer Höhe auf Ihre im Staube kriechende Freundin herab.

AMALIE.

Nichts mehr hiervon! Jede Minute, die Sie der Zärtlichkeit rauben, ist ein Verbrechen wider die Liebe.

LUCIE.

Ach! diese Zärtlichkeit, deucht sie mir nicht immer noch ein Traum? Habe ich nicht aus dem Munde des Sir Roberts selbst die Neigung seiner Tochter gegen Karln gehöret?

KARL.

Ach! Lucie, können Sie dem Munde des Sir Roberts mehr glauben als dem Munde des zärtlichsten Liebhabers und der redlichsten Freundin, die Ihre Zunge noch nie durch eine Falschheit entweihet hat?

LUCIE.

Mindern Sie Ihre Freundschaft, Amalie, wenn mein Herz nicht unter seinen gewaltsamen Bewegungen erliegen soll. Seine Kräfte werden bereits zu schwach, seine Freuden zu empfinden. Lassen Sie uns in meinem Zimmer es zu stärken suchen. So werden Sie denn wirklich meine sein, lieber Southwell?

KARL.
Ewig der Ihrige, meine Lucie. Sie gehen ab.
BETTY
vor sich.

Närrische Liebe, die nicht ebenso geschwind wieder vergessen werden kann, als sie empfunden wurde! Es waren Zeiten, da Betty weiser zu lieben wußte als Lucie. Doch Betty verliert nichts, außer wenn Lucie keinen freigebigen Liebhaber hat. Und ist nicht Karl Southwell freigebiger als alle andere?

5. Auftritt
[228] Der fünfte Auftritt
Betty. Sir Robert.

ROBERT.
War es nicht deine Fräulein, Betty, die ich mit Karln und meiner Tochter über den Saal gehen sah.
BETTY.
Sie waren es, Sir Robert.
ROBERT.

Und Lucie viel ruhiger als vor wenigen Augenblicken in Amaliens und Karls Gesellschaft? Sollte wohl Karln ein Mittel gelungen sein, Lucien zu beruhigen?

BETTY.
Ich schließe aus der ruhigen Gelassenheit meiner armen Fräulein, daß er so glücklich gewesen ist.
ROBERT.

Diese Neuigkeit ist zu wichtig, als daß sie dem Sir Willhelm unbekannt bleiben sollte. Eile, Betty, und rufe Karln hierher zu seinem Vater.Betty geht ab.

6. Auftritt
Der sechste Auftritt
Sir Robert. Sir Willhelm.

ROBERT.

Was für einen reizenden Anblick hast du versäumt, Willhelm! Wärest du wenige Minuten eher hier gewesen, du würdest der fröhlichste Zeuge deiner eigenen Glückseligkeit gewesen sein. Ich habe Lucien in Amaliens und deines Sohnes Gesellschaft gesehen. Alle drei so freundschaftlich! Die Freude in Amaliens und Karls Augen so rein, so unverstellt! Luciens Stirne nur noch durch einige kleine Wolken der Traurigkeit, die sich bald zerstreuen werden, verhüllt! Glaube mir, Willhelm, wir sind die glücklichsten Väter, die gelebet haben.

WILLHELM.

Deine Seele überläßt sich der Hoffnung allzu übereilt. Ich habe Luciens Herz gegen Karln erforschet. Ich sehe durch alle Hüllen seiner Verstellung hindurch. Es ist lauter Wut wegen seiner fehlgeschlagenen Neigung. Nein! Robert, schmeichle mir mit nichts; Willhelm ist verdammt, durch diejenigen unglücklich zu sein, die ihn glücklich machen sollten.

ROBERT.

Geziemet dieses Mißtrauen, der unzertrennliche Gewährte des gemeinen Alters, einen Mann von deiner Erfahrung? Soll ich vielleicht meinen eigenen Augen nicht glauben? Findest du Haß in den Mienen einer Person, welche sich freundschaftlich an den Armen desjenigen, den sie hassen soll, anhängt und gegen ihn lächelt?

[229]
WILLHELM.

Laß mich zweifeln; mein Glück ist zu groß, als daß ich es hoffen kann. Sollte Lucie die Herrschaft über ihre Vernunft wieder erhalten haben?

ROBERT.

Kennst du das weibliche Herz nicht? Wünschet es nicht mit ebender Hitze, mit ebender Heftigkeit, als es seine geliebteste Wünsche wieder vergißt? Glaube mir, der natürliche Hang ihres Geschlechts zu veränderten Gegenständen würde in dem Herzen der Lucie das allein möglich machen, was die Vernunft ihm noch überdies einschärfen wird.

7. Auftritt
Der siebente Auftritt
Die Vorigen und Jakob.

JAKOB.
Ihr Herr Sohn bittet um Erlaubnis, Ihnen aufzuwarten.
WILLHELM.
Wo ist er, Jakob?
JAKOB.
Bei Lucien, so glücklich und vergnügt, als er jemals gewesen ist.
WILLHELM.
Und Lucie?
JAKOB.
Sie ist vollkommen ruhig, und Amalie teilet ihre Freude mit ihrer Freundin und Ihrem Sohne.
ROBERT.
Zweifelst du noch, Willhelm?
WILLHELM.

Ach, Freund! soll es möglich sein, daß ich noch eine wirkliche Glückseligkeit hoffen dürfte? Karln und Amalien glücklich und Lucien ruhig zu wissen! Alle deine Wünsche, o Herz, sind erhört. Lieber, lieber Karl, wie hast du meiner Lucien ihre Ruhe wiedergeben können?

JAKOB.

Ich glaube, daß es seine Absicht ist, Ihnen die Bedingungen, unter welchen er ihr dieselbe wiedergegeben hat, zu entdecken.

WILLHELM.

Eile, meine ganze Seele ist Ungeduld. Sie sind alle eingestanden. Sie mögen sein, welche sie wollen. Nichts ist mir zu kostbar für Luciens Glückseligkeit. Jakob geht ab.

ROBERT.

Nun, ist meiner Erfahrung noch die Falschheit des menschlichen Glücks fremd, oder bist du ein neuer Beweis, wie oft der kurzsichtige Mensch noch dann über sein Unglück seufzt, wenn er über seine Glückseligkeit frohlocken sollte?

WILLHELM.

Nein! Robert, mein Herz fürchtet noch immer. Willhelm soll seinen Sohn, seine Lucie, beide glücklich in seine Arme schließen! Soviel[230] Glück! Verdient er dasselbe? Nein! Robert, mein Glück ist ein Schatten! Es ist Erdichtung.

ROBERT.
Du verdienest dir zur Strafe, daß es ein Schatten, eine Erdichtung sein möge.
8. Auftritt
Der achte Auftritt
Die Vorigen und Karl Southwell.

WILLHELM.
Rede, mein Sohn, ist Lucie ruhig? Ist sie es wirklich?
KARL.

Sie ist es und noch mehr, sie ist so glücklich als ihr Karl Southwell der Glücklichste auf dem ganzen Erdboden.

ROBERT.
Zweifle an deiner Glückseligkeit, Willhelm, sie ist ein Schatten, sie ist Erdichtung.
WILLHELM.

Lucie und mein Sohn glücklich! Gütiger Himmel! So sind denn deine Wohltaten die Strafen, dadurch du dich rächest? Wie wird meine Seele ihre Freude ausdauern können?

KARL.

Bester, gütigster Vater! Soviel Liebe, soviel Zärtlichkeit! Kann ich es ausdrücken, was mein Herz fühlet? Wie konnte doch Karl nur einen einzigen Augenblick unwürdig sein, Ihr Sohn zu heißen.

WILLHELM.

Nie warst du es, mein Sohn. Bloß dein Mitleiden gegen Lucien verdienet schon diesen Namen. Derjenige, der das Unglück nie sieht, ohne ihm sein Mitleid und seine Träne zu schenken, verdienet der Sohn eines jeden rechtschaffenen Mannes zu sein. Fahre fort, der Menschlichkeit durch dein Mitleid Ehre zu machen. Tue noch mehr! Liebe Lucien. Dein Vater würde sich kränken, wenn du sie nicht lieben solltest.

KARL.

Mein Vater würde sich kränken, wenn ich sie nicht lieben sollte? Gütigster Sir! Ich liebe sie. Sollte ich sie nicht bloß deswegen lieben, den besten Vater, den die Natur jemals gegeben hat, nicht zu kränken?

WILLHELM.
Vollkommen edel! Ich erkenne und umarme meinen Sohn.
KARL.
Und Sie wollen es also, daß ich sie liebe?
WILLHELM.

Wer kann es nicht wollen, ohne ein Feind der Tugend zu sein? Selbst Amalie wird deinem Herzen ihren Beifall –

KARL.

Amalie, die erhabene Amalie hat mir diesen Beifall bereits erteilet. Sir, sie allein ist es, durch die ich glücklich bin.

WILLHELM.

Ja, ich weiß, du bist glücklich, und du bist es durch Amalien. Heute noch sollen alle deine Wünsche gekrönet werden.

KARL.

Heute noch! Weniger Gütigkeit, wenn ich mein Glück überleben [231] soll. Sie wissen es also, daß ich glücklich bin? Wer hat es Ihnen entdecket? Eitler Verzug! Lassen Sie mich Lucien holen, daß ich mich mit ihr zu Ihren Füßen werfen und sie von Ihrer Hand als meine Gemahlin erhalten kann –

WILLHELM.
Wen? Lucien als deine Gemahlin?
KARL.

Wie, mein Vater, Sie erstaunen? Ja, diese Lucie, die Sie mir diesen Augenblick zu lieben befohlen haben, und die ich nach Ihnen mehr als alle Welt liebe!

WILLHELM.
Fürchtete mein Herz vergeblich, Robert?
KARL.

Mein Vater und sein Freund, beide vor Schrecken sprachlos! Und dies, weil ich Lucien liebe? Ach wie sehr betrog mich meine Einbildung. Ich sehe, Sie wissen noch nicht, wie glücklich ich bin. Erlauben Sie, gütigster Vater, daß ich Ihnen die Vergehung Ihres Sohnes gestehe, der Ihnen noch nie eine gestand, ohne dafür Verzeihung zu erhalten. Ich habe Ihnen meine Neigung für Lucien verborgen. Ich liebete sie, sobald ich sie sah, und mein Herz hatte das Glück, wieder geliebet zu werden, ohne es zu verdienen. Verzeihen Sie es der Zärtlichkeit zweier Herzen, die sich vor der Strengigkeit einer erhabenen Tugend fürchteten, ihr diese gemeinschaftliche Leidenschaft sehen zu lassen. Wie hätte Ihr unwürdiger Sohn nur den Beifall dieser Tugend bitten können, da ihn der Anblick der liebenswürdigen Amalie wankend machete. Aber nimmermehr, da ihn diese vortreffliche Amalie wieder zu seiner Pflicht zurückgeführet und alle ihre Rechte an Lucien abgetreten hat. Nunmehr, da er von der zärtlichen Lucie Verzeihung erhalten hat, nunmehr suchet er ebendiese Verzeihung und die Einwilligung dieser Verbindung zu den Füßen eines Vaters, der noch niemals die Verzweiflung seines Sohnes gewollt hat, und der ihm also diese Einwilligung nicht abschlagen kann. – Aber ach! Nicht eine Silbe von Ihnen? Dieser schweigende Gram, diese Tränen in Ihren Augen! Was verkündigen sie mir? Daß Ihr Sohn unglücklich und durch den zärtlichsten Vater selbst unglücklich sein soll? Vergessen Sie, daß ich strafbar war. Unterdrücken Sie Mitleid und Verzeihung, diese Eigenschaften, dadurch Sie so oft sich über andere Menschen erhoben haben, nicht zum erstenmal gegen Ihren Sohn. Lehren Sie mich, wie ich meinen Fehler verbessern kann, und die schwersten Pflichten sollen mir leicht sein.

WILLHELM.
Vergiß Lucien. Dies ist der einzige Weg, ihn zu verbessern.
KARL.
Gott! Lucien vergessen? Kann ich, können Sie selbst dies wollen? Unmöglich können Sie es.
[232]
WILLHELM.
Ich will, und dein Gehorsam allein wird mir meinen Sohn wiederschenken.
KARL.

Erinnern Sie sich, es ist diese Lucie, die ohne mich ewig unglücklich sein wird, und die Sie selbst nur noch vor wenig Augenblicken so sehnlich glücklich zu sehen wünscheten. Wie kann ich sie vergessen, ohne sie zu hassen? Und wenn ward ich von Ihnen gelehrt, einen einzigen Menschen zu hassen?

WILLHELM.

Liebe sie als deine Freundin und Amalien als deine Gemahlin. Kannst du deinem Vater ohne Errötung die Wankelmut gestehen, die Amaliens Seele mit Verachtung gegen dich erfüllen muß.

KARL.

Lucie und Amalie, beide haben sie mir verziehen, sollten Sie weniger gütig sein können? Mein Herz verdienet Amalien nicht. Lassen Sie es der armen Lucie. Sie werden es ihr niemals entreißen können, ohne das ihrige und das meine zugleich mit den tödlichsten Martern zu zerreißen.

WILLHELM.
Verlaß mich und hoffe nie, Lucien als deine Gemahlin zu umarmen.
KARL.

Hoffen Sie nie, daß Karl Southwell eine andere Gemahlin wird umarmen können. Unnütze Tugend, ich war glücklich, solange ich lasterhaft war; und jetzt, da ich für dich zu empfinden anfange, bin ich elend.

9. Auftritt
Der neunte Auftritt
Willhelm. Southwell. Robert.

WILLHELM.

Rühme sie mir, wenn du kannst, rühme sie mir, diese menschliche Glückseligkeit. Noch weniger als ein Schatten ist sie, und töricht ist das Herz, das sie nur einen einzigen Augenblick zu empfinden glaubt, und seine Seufzer vergessen kann. Gott! warum schufst du das Herz des Menschen zur Freude, zur Hoffnung, zur Empfindung der Glückseligkeit selbst fähig, da der Schmerz und die Traurigkeit sein einziges Erbteil sind, das er hier zu hoffen hat? Doch ich alter Bösewicht! Will ich durch meine Klagen meinem schon schwachen Rücken noch eine Last mehr an Verbrechen aufbürden? Wenn ließ die Gerechtigkeit des Himmels je einen Verbrecher ungestraft? Und will ich der einzige sein, den sie verschonen soll? Nein, räche dich, Himmel, aber räche dich an mir allein.

ROBERT.

Freund, du vergißt, daß die Prüfungen allein die Tugend groß machen können, daß sie nur alsdenn eine wahre Tugend ist, wenn sie mit ebendieser heitern, dieser gleichgültigen Miene auf ihre größten Leiden herabsteht, [233] mit der sie in ruhigern Tagen auf ihr Glück herabzusehen gewohnt war. Klagen entehren das Herz eines Sir Willhelms. Männlicher Mut und eine herzhafte Tugend sind es, die er seinem Unglücke entgegenstellen muß. Wird sodann das größte Unglück unüberwindlich gegen dich sein können?

WILLHELM.

Keinen Trost, keine Ermahnung, Freund! Nur um eine einzige mitleidige Zähre bitte ich deine Freundschaft. Ach! du mußt Willhelm selbst sein, wenn du das recht fühlen willst, was er fühlet. Bilde dir ein, Luciens und meines Sohnes Vater zu sein. Finde in ihrer Glückseligkeit den einzigen Trost und die einzige Freude eines von tausend Mühseligkeiten geplagten Lebens. Sieh trotz aller deiner Wünsche und deiner Bemühungen diese Lucie unglücklich und sei selbst die unschuldige Ursache ihres Unglücks; sieh dir endlich den letzten Trost selbst geraubet. Sieh diesen Sohn, auf dessen Tugend du stolz warst, seine Pflichten vergessen und sich einem Verbrechen überlassen, dessen Abscheulichkeit ihm noch selbst fremd ist, und sage mir sodann, wie du dich trösten willst?

ROBERT.

Dadurch, daß ich Stärke genug besitzen würde, ihn zu seiner Pflicht zu zwingen. Schärfe, Willhelm, wird die Leidenschaften einer hitzigen Jugend bald zu bändigen wissen. Noch mehr, Freund, dein Stillschweigen gegen Lucien machet dich wegen ihrer eigenen Verbrechen strafbar. Entdecke ihr das Hindernis, das diese Verbindung mit deinem Sohne unmöglich machet, und du wirst sodann nicht ein einzigesmal mehr zu seufzen nötig haben.

WILLHELM.
Wie kann ich mein eigner Ankläger werden?
ROBERT.
Ein bereutes Verbrechen höret auf, ein Verbrechen zu sein.
WILLHELM.

Leerer Trost! Kann ich gegen Lucien sagen: Sehen Sie, Lucie, dieser alte Willhelm, der ein so eifriger Freund der Tugend zu sein scheint, der ihnen diese Tugend so oft vorprediget, ist ein Bösewicht. Er hat Sie durch seine Laster unglücklich gemachet. Sie können ihn in Zukunft nie ansehen, ohne über ihn zu erröten, so wie er keinen einzigen Blick auf Sie werfen kann, ohne in seinem Herzen tausend Martern zu fühlen.

ROBERT.

Wähle zwischen zwei Übeln. Dich auf einen Augenblick zu erniedrigen oder Lucien unglücklich und zur Verbrecherin zu machen. Erlaube mir, daß mein Mund dir die Scham, in ihrer Gegenwart zu erröten, ersparen darf.

WILLHELM.

Nein, Robert, sie darf das unglückliche Geheimnis aus keinem als meinem eigenen Munde erfahren. Sie darf nicht wissen, daß noch eine [234] einzige lebende Seele mehr ihre und meine Schande weiß. Sie besitzt Stolz, und ihr Stolz würde ihr ein Recht mehr geben, mich zu verachten. Ich will versuchen, ob ich mein Herz überzeugen kann, daß man sich nie schämen dürfe, ein Laster zu gestehen, das man sich nicht geschämet hat auszuüben.

4. Akt

1. Auftritt
Der erste Auftritt
Amalie und Lucie.

LUCIE.

Ja, Amalie, Betterton ist wirklich großmütig; aber seine Großmut erniedriget zugleich Lucien. Ihr Stolz hat mehr als einmal, Sie wissen es selbst, die Qual empfunden, diejenigen großmütig gegen sich zu sehen, gegen die sie undankbar gewesen ist.

AMALIE.

Stören Sie doch die Freude Ihrer Amalie, Ihnen zuerst diese gute Nachricht gebracht zu haben, nicht durch Ihren Verdruß. Der arme Betterton! Er hat nie eine würdigere Handlung ausüben können, als daß er durch das Vermächtnis seiner Güter Ihnen noch den Besitz des einzigen Glücks gegeben hat, das Ihnen mangelte. Bedenken Sie, meine Lucie, wie vollkommen glücklich! Einen Überfluß an allen den Gütern, welche dem Pöbel nur den Schein und einem edlen Herzen den wahren Besitz einer Glückseligkeit geben! Von dem tugendhaften Sir Willhelm geliebt und von dem zärtlichen Karl angebetet! Sie allein würde Amalie beneiden, wenn sie wüßte, was Neid wäre; und doch seufzen Sie noch?

LUCIE.

Ein mit sich unzufriedenes Herz auf dem höchsten Gipfel seiner Glückseligkeit, das da fühlt, daß es dieselbe nicht seiner Würdigkeit zu danken hat, was kann es mehr tun als seufzen?

AMALIE.

Verbannen Sie doch endlich diese philosophische Melancholie. Wollen Sie Ihre neue Glückseligkeit nicht Ihrem Liebhaber entdecken? Doch er wird es bereits wissen. Sein getreuer Jakob, der es von der Person gehöret hat, die das Testament aufsetzen mußte, wird es ihm ebenso geschwind gesaget haben, als er es ihm selbst entdecket hat. Vielleicht hat er es auch bereits nebst der Einwilligung in die zärtlichste Liebe aus dem Munde seines Vaters selbst gehöret. Nur die Zärtlichkeit, seinem Sohne die Freude zu gönnen, seiner Geliebten die Großmut eines würdigen Freundes zu [235] hinterbringen, kann den alten Vater abgehalten haben, daß er es Ihnen nicht schon selbst hinterbracht hat. Aber Amalie ist weniger gütig gegen ihren Liebhaber gewesen. Sie hat ihre Lucie an ihm gerächet, indem sie ihm eine von seinen Freuden geraubet hat.

LUCIE.

Bettertons großmütiges Geschenk ist mir nicht weiter angenehm, als insoweit es mir eine Hoffnung mehr zu Sir Willhelms Einwilligung gibt. Würde er wohl einem Mädchen, der er alle und jede Notwendigkeiten des Lebens geschenket hatte, dessen ganze Glückseligkeit das Werk seiner Hände war, auch noch seinen Sohn geschenket haben? Doch ach! dies war nicht das einzige, das ich zu fürchten habe?

AMALIE.

Nichts haben Sie zu fürchten. Southwells und seines Vaters Zärtlichkeit und Liebe zeigen Ihnen lauter Hoffnung. Aber wissen Sie, meine liebe Freundin, was ich mit der Summe anfangen will, die Ihnen Betterton bei aller seiner Großmut entzogen und mir vermachet hat?

LUCIE.
Was kann Amalie weiter damit anfangen als Handlungen unternehmen, die ihre große Seele zeigen?
AMALIE.

Schmeichlerin! hören Sie zur Strafe, was ich tun will. Bei dem ersten Zeugen Ihrer Liebe muß ich Pate sein, und ihm will ich sodann dasjenige wiedergeben, was ich seiner Mutter schuldig bin.

LUCIE.

Hüten Sie sich, meine Freundin. Sein Sie weniger großmütig. Lassen Sie Lucien einen Fehler an Ihnen finden. Sie möchte sonst versuchen, ob sie Amalien hassen könnte, um sich zu rächen, daß sie nicht ebenso erhaben als sie sein kann.

AMALIE.

Nein! Lucie kann mich niemals hassen, sie würde es sonst der Fehler wegen tun, die sie alle Augenblicke an mir wahrnimmt.

LUCIE.

Lassen Sie uns diesen Wettstreit vergessen. Er muß mir jederzeit nachteilig sein. Bedauern Sie mich. Mein Herz ist jetzund nicht fähig, etwas mehr als seine Schwachheit, seine Liebe zu empfinden. Es fürchtet töricht genug, Sir Karln alle Augenblicke zu verlieren. Ich zittre vor seiner Wankelmut ebensosehr als vor der Widersetzung seines Vaters gegen unsere Verbindung. Schon drei ganze Stunden ist es, daß ich ihn an meine Brust gedrücket habe.

AMALIE.

Drei ganze Stunden! welche lange Ewigkeit für ein zärtliches Herz wie das Ihrige! Erlauben Sie mir, daß ich ihm den ersten Verweis für seine Nachlässigkeit geben darf. Warten Sie hier, ich will den mutwilligen [236] Verbrecher noch einmal herführen, Sie um Gnade zu bitten. Aber ich beschwöre Sie, Lucie, sein Sie grausam, recht grausam gegen ihn. Bedenken Sie es unterdessen, wie Sie es möglich machen wollen. Amalie geht ab.

LUCIE
allein.

Darf ich endlich frei Atem schöpfen? Bin ich von dieser beschwerlichen Freundin erlöst? Wie hasse ich, wie verabscheue ich sie! So edel, so weit erhaben über mich! Und ich so klein, so kriechend gegen sie! Ungerechter Himmel, war es nicht genug, daß du mich durch meine Leiden gestraft hast? Warum quälst du mich noch jetzt durch deine Wohltaten? Ich verfluche sie selbst in dem Augenblicke, da mein törichtes Herz nach ihnen seufzet. Stoß mich wieder in mein erstes Elend zurück. Laß mich wieder von Karl Southwelln verlassen und der Schande und der Verachtung meiner Freunde nahe sein. Damals besaß ich wenigstens noch den elenden Trost, daß ich jemanden mehr als mich anklagen konnte. Jetzt, da ich alle um mich herum tugendhaft erblicke, habe ich niemand weiter anzuklagen als mich. Betterton ist großmütig, Sir Willhelm der gütigste Vater, Karl der zärtlichste Liebhaber und Amalie die liebenswürdigste Freundin gegen mich. Und wer ist Lucie gegen sie alle? Das verächtlichste Geschöpfe, welches gelebet hat. Eine Elende voll Stolz ohne Ehre, eine Undankbare, eine Heuchlerin, die sich unter der Maske der Tugend verbergen muß, um nicht der Abscheu ihrer bessern Freunde zu werden. Barbarischer Zwang! Kann ich es ausstehen, andere neben mir tugendhaft zu sehen, ohne es selbst zu sein? Daß sie doch alle so lasterhaft wären als ich. Oder daß mein Herz noch dreimal böser wäre, als es wirklich ist, damit es durch seine Laster eine Tugend quälen möchte, die ihm alle Augenblicke Vorwürfe machet! Hoffe, Herz, man wird nicht auf einmal der große Bösewicht, aber man wird es nach und nach. Still! Es kömmt jemand. Zurück, Herz, unter die Maske deiner alten Verstellung. Niemand darf Luciens Häßlichkeit kennen, außer sie selbst. Doch nein! Es ist Betty. Das Laster errötet niemals vor seinesgleichen.

2. Auftritt
Der andere Auftritt
Lucie. Betty.

BETTY.

Hier, Fräulein, lesen Sie diesen Brief. Er ist von Sir Karln. Vielleicht können Sie noch einmal Ihre Begierde, zu seufzen, befriedigen.

LUCIE.

Wie, sind meine Wünsche schon erhört? Grausamer Himmel! [237] Ja, ich habe niemals vergeblich geflehet, wenn ich dich um mein Unglück gebeten habe. Karl ist untreu. Ich werde denn, wie ich gewünschet habe, wieder elend sein. Ich werde jemanden mehr verfluchen können als mich selbst. Aber wieviel wird es nicht meinem Herzen kosten! Nimm den unseligen Brief zurücke. Ich fühle bereits alles. Sein Inhalt kann meinem Grame nichts hinzusetzen.

BETTY.
Und ebendeswegen lesen Sie ihn, oder erlauben Sie mir, daß ich ihn lesen darf.
LUCIE.

Lies ihn dann. Deine grausame Seele würde eine Freude verlieren, wenn sie mir eine von meinen Qualen verschweigen sollte.

BETTY.

Urteilen Sie, ob Sie gerecht sind. Betty liest. »Die Rache des Himmels verfolget meine Treulosigkeit gegen Sie. Mein Vater widersetzet sich auf das heftigste unserer Vermählung. Meine Liebe triumphieret über meinen Gehorsam. Es ist alles zu einem Mittel bereit, welches uns auch wider seinen Willen glücklich machen soll. Begeben Sie sich sogleich auf dasjenige einsame Zimmer, das so oft der verschwiegne Zeuge unserer Glückseligkeit gewesen ist. Amalie weiß von allem nichts. Lassen Sie sich weder von ihr noch von jemand sonst sehen, wenn es möglich ist. Eilen Sie. Jede verzögerte Minute kann ein unwiederbringlicher Verlust sein für ihren zärtlichsten Karl Southwell.«

LUCIE.

Sind meine Ahndungen vergeblich gewesen? Sir Willhelm widersetzet sich unserer Vermählung. Was will aus mir werden? Werde ich nicht –

BETTY.

Keine Klagen! Schieben Sie dieselbe eine einzige Stunde noch auf. Hernach klagen und weinen Sie sich satt. Eilen Sie, wenn Sie nicht die grausamste Feindin von sich selbst sein wollen.

LUCIE.
Ungestüme Betty, sage mir wenigstens –
BETTY.

Nichts sage ich Ihnen. Sind Sie noch hier? Ewige Verzögerung! Mich deucht schon, als ob ich jemand kommen hörte.

LUCIE.

Herz! zu was für neuen Unruhen wirst du eilen? O mit wieviel Mühe erkaufen wir unsere Laster und die Strafen derselben; da uns oft die strengste Tugend nicht die Hälfte dieser Mühe würde gekostet haben! Geht ab.

BETTY.

Mein Fräulein muß alle ihre Seufzer mit einer Moral beschließen. Dies ist die Gewohnheit aller der kleinen Seelen, die sich noch nicht von den eingepflanzten Vorurteilen der Kindheit losgerissen haben. Aber wir großen Geister, die wir über alle diese engen Begriffe weg sind, [238] wir wissen weiser, daß alle Mühe um die Tugend unnütze verschwendet ist, außer diejenige nicht, welche dem Laster durch die äußerliche Miene der Tugend die Freiheit erwirbt, desto sicherer lasterhaft sein zu können. Doch still, ich höre jemanden. Es ist der Gang unsers alten Herrns. Einen Augenblick eher wäre er zu der allerunbequemsten Zeit in meinem Leben gekommen. Weg, Betty, mit deiner verwegenen Miene. Zurück unter das Joch der glücklichen Heuchelei, die dir schon so viele erwünschte Stunden in diesem Hause gegeben hat. Zieh dein Gesicht in seine gewöhnlichen Falten. Er ist da, seufze.

3. Auftritt
Der dritte Auftritt
Sir Willhelm Southwell. Betty.

WILLHELM.
Bist du nicht bei deiner Fräulein, Betty?
BETTY.

Ich habe sie einen Augenblick allein gelassen. Sie schlummert, einige Minuten die Ruhe zu empfinden, die sie schon so lange entbehret hat.

WILLHELM.

Laß ihren Schlummer gesegnet sein, o Gott! Zeig ihr in ihrem Traume die Tugend in aller ihrer liebenswürdigsten Vollkommenheit und lasse sie nie vergessen, was sie dieser Tugend schuldig ist. Ich hätte gerne gewünschet, mit ihr zu sprechen. Aber ihr Schlummer ist mir zu heilig, als daß ich ihn stören sollte. Ach, Betty, sie hat mir schon in wenig Stunden manchen Seufzer gekostet.

BETTY.

Die arme Fräulein! Der Himmel weiß es, wieviel heimliche Tränen ich über die Schmerzen geweinet habe, die ich sie einige Zeit daher habe ausstehen sehen. Heute nur habe ich erst die unglückliche Ursache derselben erfahren. Wie hat sich doch diese elende Leidenschaft in ihr reines und tugendhaftes Herz einschleichen können? Sah sie nicht das unsträfliche Beispiel eines Sir Willhelms vor ihren Augen.

WILLHELM.

Schilt sie nicht, Betty. Das frömmste, das erfahrenste Herz ist oft an dieser Klippe gescheitert. Wird daher unerfahrne Jugend jederzeit diese gefährliche Klippe vermeiden können?

BETTY.

Gütigster Sir! Wie sind Sie doch jederzeit, selbst bei den Fehlern Ihres Nächsten, lauter Liebe, lauter verzeihende Nachsicht. Wahrhaftig, dies heißt groß, göttlich groß sein! O daß doch Lucie nur eine einzige Freude der Tugend so vollkommen empfinden könnte, als sie das edle Herz [239] eines Sir Willhelms empfinden muß! Würde sie diese einzige Freude für alle Freuden, die ihr die ganze Welt anbieten könnte, vertauschen wollen?

WILLHELM.

Hoffe, Betty, daß sie noch einmal die Freude, tugendhaft zu sein, unverfälscht empfinden wird. Das edelste Herz kann sich verirren, aber es wird sogleich wieder auf den rechten Weg zurückekehren, sobald es seine Verirrungen merken wird. Unterstütze ihre wankende Tugend durch deine Lehren und dein Beispiel.

BETTY.

Wäre ich wert, in Ihren Diensten zu sein, wenn ich es nicht täte? Ist es nicht meine Pflicht? Hundert kleine Listen erfinde ich täglich, ihr die Reizungen der Tugend zu zeigen. Jetzt lese ich ihr etwas aus einem geistlichen, jetzt aus einem moralischen Schriftsteller vor. Bald erzähle ich ihr eine Geschichte, in der sie die Tugend in ihrer erhabensten Glückseligkeit und das Laster in seinem niedrigsten Elende erblicken kann; und jederzeit habe ich das Vergnügen, daß sie meine Bemühung mit einem Seufzer für die Tugend vergilt.

WILLHELM.

Fahre fort, gute Betty, und erwarte die Belohnung des Himmels, der noch keine löbliche Bemühung unvergolten gelassen hat. Wisse, ein irrendes Herz zur Tugend zurückgeführt zu haben, ist mehr Ruhm als eine Krone auf sein Haupt zu erwerben. Kehre jetzund zu deiner Fräulein zurück; und wenn sie erwachet, so sage ihr, daß ich sie in meinem Zimmer erwarte.

BETTY.

Aber Sir, Sie werden sie doch mit ebender Liebe, mit ebender Zärtlichkeit erwarten als sonst. Doch verdienet nicht ihr Fehler von der strengsten Tugend Verzeihung? Wie sollte ihn das gütige Herz eines Sir Willhelms nicht verzeihen können?

WILLHELM.
Dein Eifer für Lucien verdienet Lob. Geh! ich sehe meinen Freund kommen.

Betty geht ab.
4. Auftritt
Der vierte Auftritt
Willhelm Southwell und Sir Robert.

ROBERT.
Nun, Willhelm, hast du den Sieg über deine unnütze Scham und Luciens Herz davongetragen?
WILLHELM.

Noch nicht. Sie schläft, und mein Herz muß noch einige Augenblicke länger vor der Minute erzittern, da es sich selbst in Luciens Gegenwart verdammen soll.

[240]
ROBERT.
Deine Verzögerung wird dir noch weit mehr Seufzer kosten als alle das Vorhergehende.
WILLHELM.

Grausamer Freund, soll ich den Schlummer eines geängstigten Herzens stören, das ohnedies kaum mehr weiß, was Ruhe ist!

5. Auftritt
Der fünfte Auftritt
Die Vorigen und Amalie.

AMALIE.

Ach, Sir Willhelm, welche Grausamkeit! Hätte ich sie wohl in einem Herzen wie das Ihrige denken können? Der arme Karl! Die unglückliche Lucie! Wissen Sie bereits, worzu ihn Ihre Grausamkeit getrieben hat? Ich habe es diesen Augenblick erst durch seinen Bedienten erfahren. Er ist Ihre und Luciens Gegenwart geflohen, um in der Entfernung zu versuchen, ob er sein Herz gegen den besten Vater Gehorsam lehren kann. Ja, können Sie wohl wünschen, daß er Ihnen gehorsam sein möge, wenn Sie Lucien jemals aufrichtig geliebet haben? Betty hat mir gesaget, daß sie schläft. Wie schrecklich müssen ihre Träume sein, wenn sie Ahndungen ihres Unglücks empfindet! Wie soll ich ihr ihr neues Unglück entdecken, ohne sie zu töten?

WILLHELM.

Wiederholen Sie mir es noch einmal, meine liebe Amalie. Karl hat sich entfernet, seinem Herzen Gehorsam gegen seinen Vater zu lehren, sagen Sie? Ist es gewiß? Täuschen Sie mich nicht.

AMALIE.

O müßt' ich doch nicht wünschen, daß es falsch wäre! Was für einen rührenden Wettstreit zwischen einer verzweifelnden Liebe und der kindlichen Pflicht muß nicht sein Herz fühlen! Er muß sich seinem Vater aufopfern, ließ er mir sagen.

WILLHELM.

Ja, Robert, noch spricht eine schwache Stimme der Pflicht in seiner Seele; er muß sich mir aufopfern! Wieviel wird sein Herz leiden müssen!

AMALIE.

Wieviel wird er nicht leiden müssen, seufzen Sie? Wer war es, der ihm diese Leiden verursachete? Wird Lucie weniger leiden?

WILLHELM.

Wünschen Sie mit mir zur Beruhigung eines unglücklichen Vaters, daß seine Pflicht über seine Leidenschaft triumphieren möge.

AMALIE.

Nein, meine Seele hat noch nie einen ungerechten Wunsch getan! Lassen Sie mich wünschen, daß ich den würdigsten Vater sich und seinen Sohn möge glücklich machen sehen.

WILLHELM.

Sie wissen nicht, was Sie wünschen. Sie würden sonst [241] weniger ungerecht sein. Suchen Sie mit mir meinen Sohn und Ihre Freundin von dieser Krankheit zu heilen, wenn Sie Ihrer Tugend Ehre machen wollen. Ehe ich in eine Verbindung meines Sohnes mit Lucien willige, eher wünsche ich das Ärgste, was ich fürchten kann, daß sie sich beide unversöhnlich hassen mögen.

AMALIE.
Amalie soll vergessen, daß Sie diesen Wunsch aus dem Munde des Sir Willhelms gehöret hat!
ROBERT.
Genug, meine Tochter! Niemand als du hat weiter Rechte auf Karls Herz.
AMALIE.

Ich? Rechte auf sein Herz? Nein! mein Vater, ich habe Ihnen bereits gesaget, warum ich keine haben kann. Sollten Sie mir solche aufzwingen wollen? Nimmermehr! Sie haben noch nie gewünschet, Ihre Tochter unglücklich zu sehen, und sie würde es gewiß sein, selbst in dem Besitze der größten Glückseligkeit, wenn Sie dieselbe durch die Tränen ihres Nächsten, ja sogar ihrer Freundin erkaufen müßte. Sir Willhelm, Karl und Sie selbst, mein Vater, würden die niedriggesinnte Amalie verachten müssen, wenn sie sich dieser Rechte anmaßen könnte.

WILLHELM.

Daß ich doch nur noch leben möchte, meinen Sohn in den Armen einer Gemahlin nur mit halb soviel Verdiensten als die Ihrigen glücklich zu sehen.

AMALIE.

Geben Sie ihm eine Gemahlin mit noch doppelt soviel Verdiensten, als ihrem gütigen Auge an mir zu finden beliebet; geben Sie ihm Lucien. Ich würde bei einer jeden weniger edeln Seele als die Ihrige noch den Bewegungsgrund gebrauchen, daß es nicht mehr die von allen Glücksgütern völlig entblößte Lucie ist, für die ich bitte. Bettertons großmütiges Vermächtnis kann bei dem Sir Willhelm allein keinen Eindruck machen.

WILLHELM.

Lucie mit einem Herzen voll Tugend und alles des übrigen, was die Welt Glück nennet, beraubet, würde von mir einer Prinzessin vorgezogen werden, so wie ich sie ohne diese Tugend selbst mit einer Krone achten würde. Wäre dies das einzige Hindernis, wir alle, die wir hier glücklich zu sein seufzen, wären es.

AMALIE.

Ich kenne das wichtigste Hindernis, das noch übrig ist. Es ist die Geburt meiner unglücklichen Freundin. Ihre Eltern konnten so grausam sein, sie wegzusetzen. Entweder die Schande oder ein allzu niedriger Stand erlauben also die Verbindung mit Ihrer Familie nicht. Was kann in dem erstern Falle Lucie für die Verbrechen ihrer Eltern? Verdienet sie [242] unglücklich zu sein, weil diese Eltern lasterhaft waren? Ein niedriger Stand kann Sie von dieser Verbindung nicht abhalten, wenn Sie nicht selbst ein Verbrechen begehen wollen. Warum entrissen Sie dieselbe ihrer Niedrigkeit? Warum gaben Sie ihr eine Auferziehung, die ihr Herz nach einem Glücke zu seufzen anreizte, das sie sich sonst niemals zu hoffen erkühnet haben würde? Ach, sehen Sie Lucien und Ihren Sohn. Verzweiflung und Zärtlichkeit auf ihren Gesichten. Können Sie beide ohne Tränen sehen? Amalie kann es nicht. Sie soll sie in der Stille ausweinen. Sie geht ab.

6. Auftritt
Der sechste Auftritt
Sir Willhelm. Sir Robert. Sir Karl und Lucie.

WILLHELM
zu Robert.
Unterstütze mich, wenn meine Seele nicht unter ihren Leiden erliegen soll.
LUCIE
die sich zu des Sir Willhelms Füßen werfen will, der sie aber zurückhält.

Sehen Sie eine Verbrecherin zu Ihren Füßen, die unter der Furcht der grausamsten Ihrer Strafen und der Hoffnung Ihres Mitleidens zittert. Aber verdienet eine Undankbare, eine Heuchlerin einen einzigen Blick ihres Mitleidens? Ist es etwan noch die Lucie, die bloß durch den Mangel unglücklich war, wenn sie anders bei dem Überflusse ihrer Unschuld unglücklich sein konnte? Es ist eine Unwürdige, die nie von einer Tugend wie die Ihrige geliebet zu werden verdienete; die ihr Herz einer unglücklichen Leidenschaft preisgegeben hat; die sich selbst noch mehr durch das Geständnis dieser Leidenschaft erniedriget; und die ihre Verbrechen dadurch noch vermehret, daß sie den gütigsten, den tugendhaftesten Mann als den Urheber ihrer Verbrechen anklaget. Warum empfanden Sie doch einen einzigen Trieb des Mitleides und der Menschenliebe gegen mich? Warum waren Sie nicht ebenso grausam als meine barbarischen Eltern und ließen mich in dem Mangel um kommen, in dem Sie mich fanden? Ohne Ihre Liebe wäre ich glücklich gewesen, da ich jetzt durch dieselbe unglücklich geworden bin –

KARL.

Und Ihr Sohn wird ewig ohne den Besitz seiner Lucie ebenso unglücklich sein. Können Sie die Natur selbst verleugnen? Sollen, vergeben Sie, meine Seele selbst zittert vor dem Gedanken, sollen Lucie und Ihr Sohn die einzigen sein, die den Mann verfluchen müssen, den alle die übrigen Menschen segnen? Ach! mein Vater, wo ist die Wollust hin, welche Ihr Auge verriet, wenn Sie ehedessen Ihren damals noch glücklichen Sohn [243] und Ihre Lucie in Ihre Arme schlossen und den Himmel baten, sie glücklich zu machen? Können diese Bitten Ihr Ernst gewesen sein? Und sind gleichwohl einem Herzen voll Liebe andre möglich gewesen?

ROBERT
sachte zu Sir Willhelm.
Willhelm, dies ist der entscheidende Augenblick. Du weißt, was du zu tun hast.
LUCIE.

Ich lese die Bekümmernis, die ich Ihnen verursache, und den Zorn, den ich verdiene, in Ihrem Stillschweigen. Rächen Sie sich und geben Sie mich dem Elende wieder, dem Sie mich entrissen haben. Senden Sie mich zu dem unnatürlichen Vater zurück, der mich verstieß. Ich will dadurch, daß ich ihn durch meine Gegenwart quäle, an ihm die Seufzer rächen, die ich in Ihrer Person der Tugend selbst gekostet habe. Schmerz ist der Dank, den ich Ihnen für Ihre Wohltaten zurückgeben muß. Ich ward von der Natur verdammt, die Qual meiner Nebenmenschen zu sein. Es war nicht genug, daß ich es für diejenigen war, die mich gebaren. Ich mußte auch noch die Ihrige werden. Ungütige Natur, warum ward ich von dir durch ein Leben bestraft, um das ich dich nie gebeten habe?

WILLHELM.

Lucie! Lucie! Dieser Seufzer ist der erste von Ihnen, der meinen Zorn verdiente. Nur der ausschweifenden Hitze kann das zärtlich gesinnteste Herz gegen Sie denselben verzeihen. Fürchten Sie, daß der Himmel ihn vielleicht schwerer verzeihen möchte. Ach, könnte ich Sie glücklich machen! Mein Blut –

ROBERT.
Vergebliche Umschweife! Lucie, Ihre Geburt –
WILLHELM
sachte zu Sir Robert.
Willst du alles vergessen, was du der Scham und Behutsamkeit schuldig bist?
LUCIE.

Nein! Sir Robert, reden Sie fort. Sie sind weder der Scham noch der Behutsamkeit etwas schuldig. Ja, ich weiß, meine Geburt ist das unglückliche, das rechtmäßige Hindernis. Ich bin sie unfehlbar einem Verbrechen schuldig, welches eine durch ihre Leidenschaften unglückliche Person mehr in die Welt gesetzet hat. Wie konnte sich Stolz und Unsinn in Lucien so weit vergessen, daß sich dies Herz, das ewig unter einer unverdienten Schande zu seufzen bestimmt war, so vieler Hoffnung erkühnen durfte? Aber gleichwohl ist diese Geburt das einzige, was mir diese Hoffnung raubet. Sie kennen alle meine Gebrechen, meinen Stolz, meine Hitze, Sir Willhelm. Wie oft empört sich dies Herz wider seine heiligste Pflicht. Wie oft will es diesen Vater einen Bösewicht nennen, der die Ursache ist, daß ich unglücklich bin! Wie oft will es diese Mutter wegen ihres Verbrechens [244] anklagen! Verdienen diese Eltern nicht bloß die Rache des Himmels wegen der Schmerzen, die sie Ihnen durch mich gemachet haben? Doch ich weiß, Sie sind großmütig; Ihr Beispiel selbst wird mich lehren, den Himmel anzuflehen, daß er denenselben die Strafen dieser Rache, die sie verdienen, schenken möge.

ROBERT
zu Sir Willhelm.
Deine Verzögerung verdienet alle die Qual, die ich dich empfinden sehe.
WILLHELM.

Könnten Sie mein Herz sehen, Lucie! Sie würden mich mehr bedauern, als Sie Mitleiden von mir verlangen. Fodern Sie alles von mir, nur meinen Sohn nicht. Nie kann ich Ihnen meine Einwilligung zu einer Vermählung mit ihm geben. Man lasse mich allein mit Ihnen, und Sie sollen mein ganzes Herz sehen. Du aber, Karl, höre den letzten Befehl eines gütigen Vaters. Nimmermehr sollst du Lucien als deine Gemahlin umarmen dürfen.

KARL.
Und weder Sie noch der Himmel selbst sollen sie aus meinen Armen reißen.
WILLHELM
der sie mit Gewalt aus den Armen seines Sohnes herausnimmt.
Zittere, Bösewicht, daß die Rache ihren Donner bereits wider dich aufgehaben hat.
KARL.

Ungerechter Vater, wollen Sie mir meine Gemahlin rauben? Wissen Sie, daß ich dasjenige nunmehr durch die Gerechtigkeit von Ihnen erzwingen will, was ich durch Liebe vergeblich von Ihnen zu erhalten gesuchet habe. Ich bin diesen Augenblick mit ihr vermählet. List und Liebe haben alle Ihre Grausamkeiten hintergangen. Wir haben die wenigen Augenblicke genutzt, die uns Ihre Nachlässigkeit erlaubet hat. Rauben Sie mir noch Lucien, wenn Sie können? Ich bereue nichts als das unnütze Vertrauen, das ich zu Ihrer Gütigkeit gehabt habe, daß Sie der Liebe einen Fehltritt verzeihen würden. Nein! meine Lucie, hier ist kein Mitleiden zu hoffen. Kommen Sie, meine liebe Gemahlin (süßer Name!), kommen Sie, lassen Sie uns einen grausamen Vater fliehen und in der einsamen Glückseligkeit der Liebe seine Drohungen vergessen. Er will sie wegführen.

WILLHELM.

Wohin? Bösewicht! Geh allein aus meinem Gesichte, so weit dich die Rache des Himmels gehen läßt, und nimm den Ruhm mit dir, daß du der Mörder deines Vaters geworden bist. Bleiben Sie hier, Lucie, wenn Sie nicht noch alle Empfindungen der Tugend verloren haben. Mit dem Blute seines Vaters muß er Ihren Besitz erkaufen.

[245]
KARL.

Erinnern Sie sich an die Gelübde, meine Gemahlin, die Sie mir diesen Augenblick in dem Angesichte des Himmels getan haben, und folgen Sie mir.

WILLHELM.

Wünsche, daß sie der Himmel nicht gehöret haben möge. Erinnern Sie sich an die Pflichten, die Sie meinen Wohltaten schuldig sind.

LUCIE.

Ich verfluche Ihre Wohltaten, ich verfluche mich selbst. Gehen Sie, gehen Sie, Karl, daß ich nicht noch mehr Lästerungen ausstoßen muß.

KARL.

Meine verdammte Leichtgläubigkeit! Warum hoffte ich doch von Ihnen Vergebung zu erhalten? Hätte ich mich mit meiner Gemahlin gleich in Sicherheit begeben, ich würde nunmehr, ohne den Himmel zu beleidigen, über den unbilligen Zorn eines Vaters lachen können. Doch Sie sollen mir Lucien nicht länger mehr zurückehalten. Ich will sie besitzen, und wenn ich mir Ihren Besitz durch meiner Seelen Seligkeit erkaufen soll. Geht voll Mut ab.

WILLHELM.

Robert, eile ihm nach und versuche, ob noch ein Mittel übrig ist, den Verlornen aus dem Abgrunde zu retten, in den er sich stürzen will. Ich will hier indessen Lucien zu beruhigen suchen.

7. Auftritt
Der siebente Auftritt
Sir Willhelm Southwell. Lucie.

WILLHELM
vor sich.

Gott! der schreckliche Augenblick nahet heran, da ich mich selbst als ein Verbrecher wegen eines Lasters anklagen soll, das ich an Lucien strafen will. Zu Lucie. Die Umstände, in denen ich Sie und mich sehe, dringen mir ein Geheimnis ab, das ich sonst noch lange in meiner Brust würde verborgen haben.

LUCIE.
Behalten Sie es, was es auch für eines sei. Meine Seele ist jetzt nicht fähig, es anzuhören.
WILLHELM.

Sie müssen es – Mein törichtes Herz! welche Bewegungen! – Sie wissen, ich habe Sie geliebet. – Ach, Lucie, könnten Sie doch in meiner Seelen lesen, ohne daß ich reden dürfte?

LUCIE.
Ja, ich weiß, Sie haben mich geliebet, solange ich es verdienete, geliebet zu werden.
WILLHELM.
Ich bin strafbarer als Sie – Der Tod meiner Frau –
LUCIE.

Breitete die erste finstere Wolke über Ihr heiteres Gesicht aus. [246] Es war um diesen unglücklichen Zeitpunkt herum, da Sie sich einer gewissen verlassenen Kreatur erbarmeten und sie von der Frau Norris zu sich nahmen.

WILLHELM.
Sie verstehen mich nicht. Ich muß – ich muß Ihnen sagen – Diese Eltern, die Sie –
LUCIE.

Nichts von diesen Eltern, wenn ich bitten darf, Sir! Mein umhergetriebenes Herz ist in diesem schwarzen Augenblicke lauter Wut. Ich muß diese Eltern in ihm verabscheuen, so sehr ich mich selbst dafür strafe. Ich bin ihnen nichts als meine Leiden, meine Verzweiflung schuldig. Lassen Sie mich in Ihren Augen nicht noch abscheulicher werden, als ich schon bin. Müssen Sie mich nicht schon genug hassen, daß ich Ihnen Ihren Sohn geraubet habe?

WILLHELM.

Ich sollte Sie hassen? Meine ganze Seele ist Liebe für Sie. Was für ein quälender Gedanke für mich, wenn Sie meine Liebe mit Haß belohnen sollten? Würden Sie nicht Ihren Vater hassen?

LUCIE.

Nein! mein Vater, erlauben Sie mir einmal diesen Namen, ich habe einiges Recht darzu. Lucie muß Ihnen leider für Ihre Wohltaten Undank, aber keinen Haß zurückgeben. Der Vater meines Gemahls –

WILLHELM.

Vergessen Sie diesen unwürdigen Gemahl. Es wird noch ein edleres Herz sein, das Sie glücklich machen kann. – Warum sind doch meine Umarmungen, meine Küsse, selbst meine Seufzer und mein zitterndes Herz zu schwach, Ihnen zu entdecken, was ich empfinde – Ein – Unselige Betty! welcher böse Engel hat dich in dem unglücklichsten Augenblicke hergesandt?

8. Auftritt
Der achte Auftritt
Die Vorigen und Betty.

BETTY.

Ach Sir! Man hat diesen Augenblick in dem großen Garten einen Schuß gehöret, und vor wenigen Minuten hat Heinrich Ihren Sohn wütend mit einem Pistol in der Hand in den Garten gehen sehen. Sir Robert hat sich mit Zittern nach der Gegend des Schusses begeben, und er weiß nicht, ob er Sie soll bitten lassen, ihm nachzufolgen.

WILLHELM.

Unglücklicher Vater, der den Tod seines Sohnes fast als eine Glückseligkeit wünschen muß. Betty, hilf Lucien! Sir Willhelm geht ab.

BETTY.

Fräulein, Fräulein, werden Sie keine Märtyrerin der Liebe. Sir Karl lebt. Er wird den Augenblick bei Ihnen sein. Vergeben Sie mir, daß ich Sie notwendig habe erschrecken müssen.

[247]
LUCIE.
Mißgönnst du mir noch das Glück, zu sterben, ohne von dir gequält zu werden?
BETTY.

Ist dies alle die Belohnung meiner Dienste? Hören Sie doch. Sein Selbstmord war das herrlichste Werk meines eigenen Witzes. Ich hatte schon voraus im Notfall, wenn der alte Herr nicht einwilligen wollte, ein neues Mittel erfunden, auch ohne seine Einwilligung Ihr Glück zu befördern. Karl hat sein Pistol so wenig tödlich für sich losgeschossen, daß er Sie gleich selbst abholen wird. Es war das bequemste Mittel, den Sir Robert, seinen Vater und alle Bedienten vom Hause zu entfernen und Sir Karls Flucht mit Ihnen zu befördern. Sein getreuer Heinrich hält schon Pferde an einem verborgenen Orte bereit. Die hereingebrochene Dunkelheit wird Ihrer Flucht günstig sein. Sehen Sie Sir Karln, Fräulein!

9. Auftritt
Der neunte Auftritt
Die Vorigen und Sir Karl.

KARL.

Kommen Sie geschwind, liebste meiner Seelen. Glückseligster Augenblick. Er wird Sie dem zärtlichsten Gemahl in die Arme liefern.

LUCIE.

Sind Sie es wirklich? Sie, den ich nach so vielen Gefahren in meinen Armen halte? Meine Füße zittern unter den Bewegungen Ihres Herzens. Unterstützen Sie mich, lieber Southwell.

BETTY.
Weniger Liebe und mehr Mut, Fräulein. Es sind die kostbarsten Minuten Ihres Lebens.
KARL.
Und bald die glücklichsten. Sie wollen sie hinwegführen.
10. Auftritt
Der zehnte Auftritt
Die Vorigen und Willhelm.

WILLHELM
der ihnen begegnet.
Halt! Bösewicht!
KARL.

Himmel! war kein Donner mehr übrig, ihn oder mich vor dem unglücklichen Augenblicke zu zerschmettern?

WILLHELM.

Ich weiß alle deine verdammten Anschläge. Die Gnade des Himmels hat mich deinen gottlosen Heinrich finden lassen. Er hat alles gestehen müssen, und er erwartet seine Strafe. Verlaß sie, wenn mein Herz noch einen Augenblick Liebe für dich fühlen soll.

KARL.

Behalten Sie diese Liebe. Der Haß eines grausamen Vaters ist [248] Ruhm für mich. Besitze ich nicht die heiligsten Rechte? Und ich will diese Rechte wider Sie und alle Welt und Gott selbst behaupten.

WILLHELM.

Diese elenden Rechte sollen bald aufgehaben sein. Und Sie selbst, Lucie, umarmen ihn noch? Wo ist Ihre Tugend?

LUCIE.

Ich mag diese Tugend nicht, Sir. Ich wünsche lieber mit Ihrem Sohne lasterhaft als mit seinem Vater tugendhaft zu sein. Wer weiß, ungerechter Vater, ob Sie selbst mehr als das äußerliche Blendwerk dieser Tugend kennen? Würden Sie mir sonst meinen Gemahl rauben wollen? Zu Sir Karln. Nein! mein lieber Karl, unsere Seelen sollen einander lieben, und wenn uns die ganze Welt deswegen hassen sollte. Sie umarmen und küssen einander.

WILLHELM.

Gott! du siehst es, ohne sie und mich selbst zu vertilgen? Verwegene! Euer Vater wird euch Gehorsam zu lehren wissen. Jakob, Friedrich, vollzieht meine Befehle. Indem Sir Willhelm Lucien aus seines Sohnes Armen reißt und die Bedienten auf das Theater treten, werden noch folgende Worte gesprochen.

LUCIE.
Gewalt, Sir Karl! Retten Sie Ihre Gemahlin.
KARL
der auf Willhelm zuläuft.

Zittern Sie vor einer beleidigten und rasenden Liebe – Die Bedienten bemächtigen sich seiner. Elende, dürft ihr – Sie führen ihn mit Gewalt ab.

WILLHELM.

Eine geschwinde Reise auf einige Jahre zu meinem Bruder nach Amerika soll dieses Feuer schon auslöschen. Ich gehe sogleich, Anstalten hierzu zu treffen, und Sie, Lucie, sollen mir alsdann danken, daß ich Sie wider Ihren Willen glücklich gemachet habe; und du, Betty, wisse, daß ich der Heuchelei weit weniger verzeihe als jedem andern Laster. Geht ab.

LUCIE.

Hören Sie, barbarischer Southwell, vollenden Sie Ihre Grausamkeiten – Doch geh nur, meine Rache soll dich ereilen. Betty, was für Stürme von Abwechselungen hat mein Herz in wenigen Minuten ausgestanden. Schmerz, Hoffnung, Freude, Erniedrigung und Verzweiflung haben es alle seine Martern fühlen lassen. Wie ist es doch noch zu empfinden fähig! Sieh es jetzt unglücklicher als jemals.

BETTY.

Fürchten Sie nichts, es soll, es muß glücklich werden! Das Glück der Betty selbst verlanget es; Sir Willhelm hat meine Verstellung entdecket, und ich weiß, ich werde wider seinen Zorn keinen Schutz als in Ihrer vollzogenen Verbindung mit seinem Sohne finden.

LUCIE.

Keine Hoffnung! Sie ist völlig tot in meiner Seele. Ich habe [249] bereits das Herz des Barbaren von seiner empfindlichsten Seite, durch die Tränen und Bitten einer reuigen Tugend, zu rühren gesuchet. Und doch blieb es ein Fels für mich. Meiner Seele schauert vor gewissen Ahndungen. Seine Hartnäckigkeit ist unüberwindlich, wenn sie richtig sind. Die Unterredung, die ich vor deiner Ankunft mit ihm gehabt habe, hat sie in mein Herz eingepflanzet. Urteile selbst. Dieser Southwell, dem sonst seine Tugend bei allen Umständen die Miene eines gesetzten Mannes zu geben wußte, war lauter Verwirrung. Sein Gesichte glühete vor einer errötenden Scham, die ein ihm unanständiges Geheimnis zu verraten schien. Seine Reden lauter Dunkelheit, unzusammenhängend, stockend und von Seufzern unterbrochen. Er umarmte mich, seine Küsse waren voll von einem gewissen Feuer, sein Herz klopfete, und jedes seiner Glieder zitterte. Er sprach mit einer Art von Enthusiasterei von seiner Liebe gegen mich. Er versprach mir einen würdigern Liebhaber als Karln. Deine Ankunft unterbrach ihn. Wie soll meine Seele alle diese Rätsel auflösen? Sollte Torheit und Laster über sein Alter triumphieret haben. Sollte seine Liebe gegen mich mit seines Sohnes Liebe aus einerlei Quelle fließen? Sollte mich seine Hartnäckigkeit seinem Sohne bloß deswegen versagen, weil sie mich zu einem Opfer für sich selbst bestimmet hat? Aber würde er nicht sodann ein Bösewicht sein? Und seine Tugend – Doch was Tugend? Ist sie mehr als ein leerer Name, auch dann, wenn sie in ihrem größten Glanze schimmert? Bewies es nicht Lucie bei allem ihrem Stolze selbst, und sollte der elende Southwell weniger fähig sein, es zu beweisen?

BETTY.

Der alte Southwell? in Sie verliebet? Wirklich, Fräulein, ich würde lachen müssen, wenn unsere Umstände weniger gefährlich wären. Aber sie sind die gefährlichsten. Wenige Stunden können Ihnen Sir Karln auf ewig rauben.

LUCIE.

Haben sie mir ihn nicht schon geraubet? Ja, mein Unglück ist vollkommen. Nur der Tod kann mich von ihm befreien, und ich verwünsche meine Zagheit, die ihn verzögert. Bald wird mich die Schande der Verachtung der Welt preisgeben, mich, die ich sonst alle Welt außer mir zu verachten pflegte. Ach wie grausam rächet diese Schande die flüchtigen Minuten einer durch Laster erkauften Glückseligkeit an mir! Ungerechter Himmel! warum quälst du mich allein? War Betty weniger strafbar als ich?

BETTY.

Vergessen Sie Ihre alte Gewohnheit, zu seufzen, nicht. Wissen Sie wohl, daß diese Betty, die Sie anklagen, einen neuen Anschlag zu Ihrer[250] Glückseligkeit erfunden hat? Sir Karl ist noch einmal der Ihrige, wenn Sie Mut genug haben, ihn zu erwarten.

LUCIE.

Ich, Mut genug? ohnfehlbar zu einem neuen und größern Laster? Denn Betty kann zu nichts weiter Mut von mir verlangen.

BETTY.

Nennen Sie es lieber den einzigen Weg zu Ihrer Glückseligkeit. Vergessen Sie diese Blicke voll Erbitterung gegen Sir Willhelm. Suchen Sie sich durch eine verstellte Liebe und Gelassenheit noch einmal seine Zärtlichkeit zu erwerben. Sir Willhelm ist alt. Die Welt kann ihn entbehren, und er wird sich sodann Ihrer Verbindung mit seinem Sohne nicht mehr widersetzen können! Verstehen Sie mich, Fräulein?

LUCIE.

Ich verstehe dich, Ungeheuer, und ich sehe, daß der Teufel selbst in deiner Seele wohnen muß, der sich wie du freuet, den elenden Menschen von einem verfluchten Verbrechen zu einem noch verfluchtern fortzureißen. War es zu wenig Ruhm für dich, mich durch deine Künste als eine ehrlose, weggeworfene Kreatur zu sehen? Mußtest du mich noch als eine Mörderin sehen wollen?

BETTY.

Wollten Sie es nicht diesen Augenblick an sich selbst, und ich weiß nicht, an wem noch mehr sein? Leben Sie wohl! Seufzen Sie mit Ihrem guten Sir Willhelm. Lieben Sie ihn sogar, wenn es Ihnen gefällt. Betty hat alles für Sie getan, was sie hat tun können. Sie muß nunmehr für ihre eigene Sicherheit sorgen.

LUCIE.

Bleib, Betty, bleib. Vergiß meine Hitze. Ich bildete mir ein, noch die ehemals mit Recht stolze Lucie zu sein. Nein, ich bin die lasterhafte Lucie, und was ist's, ob ich es in einem Grade mehr oder weniger bin? Ich soll Karln besitzen? Und welch Laster kann für meinen Stolz zu groß sein, ihn zu erlangen? Ja, der alte Southwell soll sterben! Stirbt er als ein Bösewicht, so ist mir die Welt Dank schuldig, daß ich sie von einem Heuchler befreie. Stirbt er tugendhaft, wohl, so will ich mich durch den Tod eines Tugendhaften an dieser verhaßten Tugend und an dem Himmel selbst rächen. Aber was für neue Martern werden auf mein Herz in dem Besitze einer Glückseligkeit warten, die ich dem abscheulichsten Verbrechen schuldig bin? Törin! ruhig, glückselig wird dies Herz sein. Dann nur werde ich die Heiterkeit der größten Bösewichte, die ich jetzund so oft an ihnen beineide, besitzen, wann ich ihnen gleich geworden bin. Komm, Betty, lehre mich lasterhaft und mitten im Laster ruhig wie du sein.

5. Akt

1. Auftritt
Der erste Auftritt
Lucie und Betty.

BETTY.

Nunmehr, da alles bereit ist, da Sie in einem Augenblicke so glücklich sein können, als Sie es wünschen, fangen Sie Ihre ewigen Klagen von einer verlornen Tugend, und ich weiß nicht, von was für Grillen mehr von neuem an. Glauben Sie mir, ich bin müde, sie anzuhören.

LUCIE.

Klage nicht mich, klage die grausame Natur an, daß sie, selbst mich noch mehr zu quälen, mir ein weniger unempfindliches Herz gegeben hat. Bedenke, es ist der Southwell, der mir so oft in seinen Armen eine fast väterliche Zärtlichkeit und Liebe hat sehen lassen, der alle Tage auf eine neue Freude und Wohltat für mich sann –

BETTY.

Ja, es ist der Southwell, der Sie mit dieser väterlichen Zärtlichkeit und Liebe in seine Arme schloß, weil er seine zukünftige Gemahlin zu umarmen glaubete. Der Southwell ist es, der Ihnen vielleicht Wohltaten erwies, um den Ruhm zu besitzen, sie erwiesen zu haben; der bei alle Ihrer Freude mit einem gewissen Stolze auf Sie herabsah, daß Sie seiner Wohltaten nötig hatten; der Ihnen ebenso wie die übrige Welt mit ebensoviel Verachtung, als er Ihnen vorher Zärtlichkeit erwies, begegnen wird, wenn Sie Ihre Schande nicht länger werden verbergen können.

LUCIE.

Fahre fort, alle Wut meiner Rache rege zu machen, und ich, ich werde fähig sein, ihm nicht nur das Gift selbst zu überreichen, sondern auch mit einer geheimen Wollust alle die kleinen Martern zu bemerken, mit denen er den Tod fühlen wird. Ist er nicht die Ursache meines Unglückes, und habe ich ihn nicht schon zu lange ungestraft leben lassen?

BETTY.

Diese Stunde ist die einzige, in der Sie noch zwischen der Schande und der Glückseligkeit wählen können. Jetzt ist Ihr Liebhaber noch in England, und der Tod seines Vaters wird ihn in wenig Augenblicken wieder zu Ihnen zurückebringen. Selbst nur heute noch kann Ihnen Betty nützlich sein. Sie wissen, der alte Southwell hat mich harte genug aus seinen Diensten gejaget, weil ich Ihr Glück dem meinigen vorgezogen habe. Ich werde alle meine List nötig haben, mich noch heute in seinem Hause aufzuhalten. Lassen Sie diesen Tag vorbeistreichen, so werden Sie keine einige Seele mehr zur Gesellschafterin bei Ihren Klagen haben.

[252]
LUCIE.

Nein! das Opfer soll keinen Augenblick länger aufgeschoben werden! Du aber, o Rache, laß mich nicht mehr die ehemalige Zärtlichkeit, laß mich Stolz, laß mich Verachtung in seinem Auge lesen, damit sich mein Herz nie an sein törichtes Mitleiden erinnern möge. Wer empfindet dies Mitleiden gegen Lucien, und wer verdienet es also, daß sie es gegen ihn fühlet? Aber ich zittere, Betty, wie? wenn die Welt mein neues Verbrechen –

BETTY.
Fürchten Sie doch nichts! Ist das möglich, daß sie etwas davon erfahren kann?
LUCIE.

Sir Willhelm kömmt! Ich kann unmöglich seine Gegenwart ausstehen. Alle Standhaftigkeit meiner Rache wanket! Befestige sie noch einige Augenblicke, du bist die einzige, die es tun kann.

2. Auftritt
Der zweite Auftritt
Sir Willhelm und Sir Robert.

WILLHELM.

War das nicht Lucie? Sie flieht mich unfehlbar aus Haß. Nichts fehlte noch als dieser Haß und die Verachtung meines eignen Sohnes, mein Unglück vollkommen zu machen. Und diese letztere, Robert, habe leider deiner voreiligen Freundschaft zu danken.

ROBERT.

Gewiß! du tadelst mich unbillig. Ich habe dadurch, daß ich deinem Sohne noch vor seiner Abreise die Ursache entdecket, welche seine Verbindung mit Lucien unmöglich machet, das einzige Mittel gewählet, ihn von dem Untergange zu retten. Mit was für Wut und Haß gegen seinen Vater würde er abgereiset sein, da er nunmehr diesen Haß, diesen Abscheu gegen sich wenden muß. Ich bin nur unwillig auf dich, daß deine unzeitige Darzwischenkunft und Eilfertigkeit mir die Gelegenheit geraubet hat, ihm noch alle Umstände der Sache zu entdecken.

WILLHELM.

Aber hast du mich nicht auch zugleich durch die Entdeckung dieses Geheimnisses, das ich so sorgfältig zu verbergen gesuchet habe, in den Augen meines eigenen Sohnes verächtlich gemachet? Wie würde ich in seiner Gegenwart die Miene eines Vaters annehmen können? Ist es nicht noch die einzige Glückseligkeit für mich, daß ich ihn vielleicht sobald nicht wiedersehen werde? Konntest du dich nicht erinnern, was für ein elendes Geschöpf ein Vater ist, dessen Verbrechen seinen eigenen Kindern bewußt sind?

ROBERT.

Aber Willhelm, diese gefährliche Krankheit erfoderte ein ebenso gefährliches Gegenmittel. Folge mir und entdecke die Unmöglichkeit dieser[253] Verbindung Lucien ebenso, wie ich sie deinem Sohne entdecket habe. Kannst du so grausam sein und ihr den einen Gegenstand ihrer Liebe rauben, ohne ihr einen andern wiederzugeben, den sie noch zärtlicher lieben würde.

WILLHELM.

Schilt mich nicht grausam. Es ist die blutigste Rache gegen mich, daß ich sie seufzen lassen muß. Doch nimmermehr kann ich mich in ihrer Gegenwart selbst verdammen. Nein! Karls Abwesenheit, der Rest ihrer eigenen Tugend, meine verdoppelte Sorgfalt und mehr als alles die Hilfe des Himmels werden mir vielleicht auch ohne die Entdeckung meiner Schande das Vergnügen schenken, Lucien zu ihrer ersten Tugend wieder zurückekehren zu sehen. Hat sich nicht schon diese Wut, dieser wilde Haß aus ihrem Auge verloren? Meine Liebe soll ihre noch zurückhaltende Zärtlichkeit für mich bald wieder in ihre ehemalige offenherzige verwandeln. Ich will sie durch neue Gütigkeiten gewinnen. Mein Testament, das ich dir gegeben habe, soll der Anfang hierzu sein. Hätte ich doch Lucien mehr in demselben vermachen können als die Hälfte meines Vermögens, könnte ich ihr durch dasselbe eine unschuldige, eine unbeleidigte Tugend wiedergeben! Aber ach! wie könnte ich ihr etwas geben, das ich selbst nicht besitze! Hebe es auf, vielleicht ist der Tag bald nah, da du deinem Freunde in der Vollziehung desselben die letzte Liebe erweisen kannst.

ROBERT.

Noch spät sei er! Lebe noch, Lucien und deinen Sohn glücklich und tugendhaft zu sehen, und dann, wann du kein Glück weiter hier zu erleben hast, erwarte das vollkommenste, das dir keine Tugend verdienen kann.

WILLHELM.

Nein, Robert, diese Welt, die auch sonst für den Weisen ihre Freuden hat, hat für mich keine mehr. Damals hatte sie einige für mich, da ich auf einen Sohn stolz war, von dem ich glaubete, daß er meine Sorgfalt durch seinen Gehorsam belohnete, da ich mich von einer zärtlichen, von einer tugendhaften Lucie geliebet erblickete. Aber jetzt, da selbst mein Stolz in die Schande hinabgesunken, da mein Sohn durch seinen Ungehorsam ein Bösewicht geworden ist, da diese Lucie von einem unseligen Feuer brennt, welches ein Herz, voll von der zärtlichsten Liebe gegen sie, mit Abscheu erfüllt, jetzund ist der Tag der glücklichste für mich, welcher der letzte eines elenden Lebens sein wird. Zwar oft wünsche ich noch so lange zu leben, bis ich Karln und Lucien wieder tugendhaft sehen möchte. Aber wie, wenn sie diese erste Tugend nie wiederfinden sollten; und wie schwer findet sie das Herz, das sie einmal vergessen hat, wieder? Müßte nicht der mein Feind sein, der mir sodann die [254] geringste Verlängerung meines Lebens und meiner Schmerzen wünschen könnte? O Freund! was wäre der Elende ohne die Hoffnung, daß jeder Augenblick der letzte seiner Klagen sein kann?

3. Auftritt
Der dritte Auftritt
Die Vorigen. Ein Bedienter.

DER BEDIENTE
zu Sir Willhelm.

Die Fräulein, Sir, läßt fragen, ob es Ihnen gefällig ist, Ihren gewöhnlichen medizinischen Trank zu nehmen?

WILLHELM.

Was für Freude war mir sonst jeder Augenblick, sie zu sehen, aber jetzt zittert mein Herz, so oft ich mich ihr nahen soll. Erwarte mich hier.

ROBERT.
Nein, ich will indessen meine Amalie besuchen. Sir Willhelm geht ab.
DER BEDIENTE
zu Sir Robert.

Verzeihen Sie, ich habe noch eine Nachricht für Sie, die Sir Willhelm nicht wissen darf. Jakob, der den jungen Herrn Southwell nicht ehender verlassen sollte, bis er ihn nach Amerika an den Bruder des Sir Willhelms eingeschifft sähe, ist zurückgekommen. Der junge Herr hat in der Finsternis der Nacht Gelegenheit zu fliehen gefunden. Jakob ist voll Schrecken über die Ausschweifungen, die er in der Raserei begehen kann, zurückgeeilt. Er weiß nicht, ob er seinem Herrn diese verdrießliche Nachricht entdecken soll oder nicht.

ROBERT.

Nein! Jakob muß sich verborgen halten, mein Freund darf in seinen jetzigen Umständen nichts wissen, das seine Betrübnis vermehren würde. Wo ist Jakob? Führe mich an einen sichern Ort, wo ich ihn sprechen kann. Sie gehen ab.

4. Auftritt
Der vierte Auftritt
Lucie.

LUCIE.

Herz! gottloses Herz! Es ist geschehen. Rühme dich deines Siegs, wenn du kannst. Doch du zitterst: ist es Mitleiden, ist es Verzweiflung, ist es Rache, die schon auf mich hereinstürzet? Meine törichten Augen, die selbst meine eigene Grausamkeiten nicht mit ansehen konnten! Verstockung und Frechheit, Hölle! dies ist das einzige, was ich dich bitte. Welche lasterhafte Seele hat dir jemals vergeblich darum geflehet? Verflucht sei seine Liebe, seine Zärtlichkeit. Warum war er nicht stolz, nicht grausam in dem Augenblicke, da er den tödlichen Trank aus meiner Hand empfing? Er verfolget[255] mich, der Barbar! Er wird mich durch neue Zärtlichkeiten martern und in meiner Unruhe und Verzweiflung alle meine Schandtaten lesen.


Sir Willhelm Southwell kömmt.
WILLHELM.

Warum fliehen Sie diese Umarmungen, meine Lucie, denen Sie sonst mit so vieler Freude, Ihren Southwell zu beglücken, entgegeneilten? Sie zittern? Ist es Abscheu für den Mann, dessen ganze Seele jederzeit aus ungeduldiger Freude zitterte, seine Lucie glücklich zu sehen? Wenn haben Sie sich über einen einzigen meiner Blicke bis auf diesen unglücklichen Zeitpunkt beklagen dürfen? O könnten Sie in meiner Seele lesen, Sie würden sehen, daß meine Grausamkeit Liebe ist. Rufen Sie doch diese erhabene Tugend in Ihr Herz zurück, die sonst meine Seele mit so vielem Stolze erfüllete. Lucie, welche Zeiten! da Sie in dem Besitze derselben die ganze übrige Welt verachten konnten! Da Sie die Freude meines Herzens, die Ermunterung Ihrer Nachbarinnen und der Neid derer waren, über die Sie sich emporgehoben hatten, da man mich wegen Ihres Besitzes und Sie wegen Ihres eignen Herzens glücklich pries –

LUCIE.
Unmensch, was quälen Sie mich durch die Erinnerung an eine Tugend, die ich verloren habe?
WILLHELM.

Nein! Sie haben sie nicht verloren. Sie sind einen einzigen Schritt von ihr gewichen, und das edelste Herz ist dieser Versuchung ausgesetzet. Entschlüßen Sie sich nur, und Sie werden ebenso groß, so erhaben, so glücklich sein, als Sie es jederzeit gewesen sind. Sein Sie es. Southwell soll Sie auf seinen Knien mit seinen Tränen darum bitten, daß Sie glücklich sein wollen. Darf er Ihnen erst die Glückseligkeit eines Herzens schildern, das durch seine Tugend allein jeden seiner Augenblicke heiter machen kann?

LUCIE.

Und wenn Sie mein Herz einen tausendfachen Tod empfinden ließen, Sie würden sich doch weniger grausam an mir rächen.

WILLHELM.

Southwell hat keine Ursache, sich zu rächen, und wenn er sie auch hätte, so würde er sich eher an der ganzen übrigen Welt als an Lucien rächen können. Nur Liebe, väterliche Liebe – Welche ungewöhnliche Bewegungen! Es überfällt mich eine Schwachheit. Meine Knie wanken. Reichen Sie mir einen Stuhl. Sir Willhelm setzt sich, Lucie will voll Bewegung weggehen.

WILLHELM.

Wollen Sie mich verlassen? Wie, wenn es meine letzten [256] Augenblicke wären, wollten Sie mich noch voll Haß sterben sehen? Er schließt ihre Hand in die seinige. Welche Pein wütet in meinen Gliedern. Wollen Sie mir nicht solche durch das Versprechen, mich zu lieben, mir meine erste, meine tugendhafte Lucie wiederzuschenken, erleichtern? Gott! wie wird mir? Mein Freund Robert hat auf allen Fall meinen letzten Willen. Er bestimmet Ihnen die Hälfte meines Vermögens. Hätte ich mehr tun können –

LUCIE.

Zuviel haben Sie getan! Nehmen Sie Ihr Vermächtnis, nehmen Sie Ihre Liebe zurück. Ich will sie nicht. Sie sind das quälende Geschenk, das Sie mir machen können. Ihr Haß, Ihre Verachtung ist Trost, ist Ruhe für meine Seele.

WILLHELM.

Beruhigen Sie sich, meine liebe Tochter. Sie verdienen nichts als Mitleiden, selbst von der eifrigsten Tugend. Wie leicht fehlt ein menschliches Herz, das selbst der strengste Tyranne über seine Leidenschaften ist.

LUCIE.

Sie kennen mich nicht. Sehen Sie Ihre Mörderin! Sie hat ein Leben verkürzt, zu dessen Erhaltung sie das ihrige hätte aufopfern sollen.

WILLHELM.

Nein! dieses ermüdete Alter war schon längst reif zum Tode. Die Schmerzen, die ich über Ihre Vergehung empfand, konnten nie meiner Gesundheit schädlich sein. Sie waren mit der Hoffnung verknüpft, Ihr Herz durch den Sieg über sich selbst noch größer zu erblicken – Ihre Reue, Ihre Tränen lehren mich, daß ich recht gehofft habe. Gott! wie süß wird mir der Tod selbst sein, wenn mein sterbendes Herz noch meine Kinder tugendhaft segnen kann. Warum raube ich mir noch die vollkommenste Freude, die Freude, meine Tochter an meine Brust zu drücken? Umarme deinen Vater, meine einzige, meine wahre Tochter! – Ach, der Schmerz dringt näher an mein Herz und erlaubet mir meine letzte Freude nicht. In mein Kabinett, Lucie, wenn es möglich ist.

LUCIE
vor sich.
O Laster und Tugend, welchem von euch soll ich mehr fluchen! Sie führet ihn hinweg.
5. Auftritt
Der fünfte Auftritt
Betty, die von weitem zugehöret hat.

BETTY.

Die einfältige Lucie! Was für ein verzagtes Geschöpfe! Nicht einmal ohne Zittern die Welt von der Last eines alten Mannes befreien zu können. Meine Seele ist vor Zorn und Schrecken über das törichte Geschwätz [257] ganz außer sich. Wäre der alte Narr weniger verliebt in sie, er hätte durch ihren Unsinn unsere ganze Bosheit entdecket. Doch nun wird es dem Herzen des alten Mannes noch ein paar Stöße und Lucien noch ein paar Seufzer kosten, hernach wird alles gut sein. Und Betty wird sich an dem Sir Willhelm gerächet und von seinem Sohne durch die Vollziehung dieser Vermählung die versprochenen zweihundert Guineen verdienet haben. Wie unvollkommen ist die menschliche Freude! Muß ich schon wieder Tränen und Seufzer hervorsuchen?


Sir Robert kömmt.
BETTY.

Ach, Sir, haben Sie Ihren armen Freund schon besuchet? Wissen Sie den neuen Schmerz schon, der dieser unglücklichen Familie drohet? Warum muß doch Lucie zu beständigen Tränen verbannet sein?

ROBERT.

Was gibt es? Ist Sir Karl zurückegekommen? Oder sollte Lucie das Haus des Sir Willhelms haben verlassen können?

BETTY.

Eilen Sie, wenn Sie Ihrem sterbenden Freunde noch die letzte Pflicht Ihrer Liebe erzeigen wollen. Vielleicht hat bereits der Tod der Welt eine Tugend geraubet, die sie nicht länger zu besitzen verdienete. Sie werden ihn in dem Kabinette in den Armen der Lucie finden. Den besten Herrn, der jemals gelebet hat, so bald zu verlieren!

ROBERT.

Ist es möglich? Habe ich nicht nur vor wenigen Augenblicken ihn hier gesund verlassen? Gott! solltest du seine Tugend so bald glücklich gemachet haben. Wieviel Tränen wird mir selbst seine Glückseligkeit kosten! Geht ab.

BETTY.

Und mein Herz wird sich freuen, sie fließen zu sehen. Dieser arglistige Robert hat meiner Heuchelei manche Sorgen und Angst abgezwungen. Ha, Lucie! mit einem Gesichte, auf dem alle Furien abgeschildert sind! Bereite dich, Betty, Ströme von Flüchen und Verwünschungen zu hören.

6. Auftritt
Der sechste Auftritt
Lucie und Betty.

LUCIE.

Tyranne! gib mir die Unschuld wieder, die du mir geraubet hast, gib sie mir selbst, so wie sie von dem Laster der Wollust geschändet war, wieder. Gib mir wenigstens die Unempfindlichkeit, der herannahenden Rache frech und unerrötend zu trotzen. Schröckliche Minuten! Können die Strafen der Höllen empfindlicher sein? Ich empfinde sie voraus. Und ich allein fühle [258] sie! Und du, gegen die ich die Tugend selbst bin, fühlest sie nicht? Ist der Himmel gerecht? Nimmermehr ist er es!

BETTY.

Sind Sie fertig, Fräulein? Leben Sie wohl. Ich will Ihre Undankbarkeit gegen mich nicht noch dadurch vermehren, daß ich Sie durch meine Gegenwart zu neuen Verwünschungen aufmuntere.

LUCIE.

Ja, sei dem Teufel in allen Stücken ähnlich. Verlaß mich in dem entsetzlichsten Zustande, in den du mich selbst gestürzet hast. Kann wohl deine harte Seele eine Art von Mitleiden jemals zu empfinden fähig sein. Vollende dein unseliges Werk und lehre mich noch ein größeres Laster, wenn es möglich ist, die Martern zu bändigen, die meine Seele ängstigen. So viele Bösewichte leben und sind glücklich. Und ich allein sollte mir zur Qual lasterhaft geworden sein?

BETTY.

Warum vergessen Sie diese kindische Begriffe von Laster und Tugend nicht? Was ist Laster und Tugend. Erfindungen des Eigennutzes und des Aberglaubens. Wo ist Ihr Stolz? Wollen Sie ewig verächtlich von sich sprechen? Was haben Sie denn nun Abscheuliches getan? Einen alten Mann zur Ruhe gebracht, der vielleicht der Welt ebenso müde war als diese Welt seiner, der Sie auf das grausamste beleidigte, ohne dessen Tod Ihre Schande, die ärgste, die Ihnen widerfahren konnte, unvermeidlich war?

LUCIE.

Der mich aber auch wie ein Vater seine Tochter liebete, der in seinen letzten Augenblicken lauter Liebe und Zärtlichkeit war. Ach diese fürchterliche Szene! Nie wird sie aus meinen Gedanken kommen. O hättest du mein Herz in dem schrecklichen Augenblicke gesehen, da er mich durch alle seine Zärtlichkeiten marterte, da er sich auf meinen Arm stützte und mitten unter den unaussprechlichsten Martern, die ich ihm verursachete, in den Umarmungen seiner Tochter, seiner Mörderin, hätte er sagen sollen, eine Erleichterung seiner Qual finden wollte. Betty, hättest du mein Herz sehen können, du hättest eine Zähre verloren, und wenn es die erste in deinem ganzen Leben gewesen wäre. Stelle dir ihn in seinem Kabinett vor, wie er aus meinen zitternden Armen auf seine schon wankenden Knie sinkt, wie er mit tränendem Auge und mit einer Inbrunst voll Liebe und Zärtlichkeit betet: »Gott! segne meinen Sohn, segne meine Tochter! Waren sie strafbar, so vergib ihnen und laß ihre Verbrechen die meinigen sein.« Warum hieß er mich doch seine Tochter? Mußte er noch durch diesen Namen mein Laster und meine Schmerzen vermehren? Er verlor die Sprache, aber sein Auge ließ mich desto stärker die Sprache väterlicher Empfindungen entdecken. Bei [259] jeder Zückung, die er fühlete, warf er einen Blick auf mich, der mich um Erbarmung anzuflehen schien und mich eine ganze Hölle von Martern fühlen ließ. Robert und seine Tochter haben mich endlich von diesem für mich so abscheulichen Auftritte befreiet. Sie hielten meine Verzweiflung für die Wehmut der Zärtlichkeit. Sie nahmen mich aus seinen mich umschlingenden Armen, damit ich, wie sie sageten, in der Einsamkeit Trost und Erleichterung meiner Schmerzen suchen könnte. Trost? Erleichterung? welche Einsamkeit? welche ganze Welt? welche künftige Ewigkeit selbst – Ewigkeit, welcher Gedanke! kann sie mir geben?

BETTY.

Vergessen Sie Sir Karln nicht, Fräulein. Ich gebe Ihnen mein Wort. Er wird Ihnen diesen Trost, diese Erleichterung oder wie es Ihre Tugend zu nennen beliebet, mitzuteilen fähig sein. Erinnern Sie sich an eine gewisse Gelegenheit, da Ihre arme Betty ebensoviel Verwünschungen als jetzt ausstehen mußte, und da Sie alle Ihre Seufzer ebenso geschwind in seinen Armen vergaßen, als Sie in diesen Armen die jetzigen vergessen werden.

LUCIE.

Ja, erinnere mich an alle meine Niederträchtigkeiten. Sie sind das Werk deiner Hände. Du hast recht, auf sie stolz zu sein. Der elende Bösewicht! daß ich weder ihn noch dich, sein unseliges Werkzeug, gesehen hätte!

BETTY.
Sein Sie doch barmherziger. Der arme Karl! Er ist diese Grausamkeit nicht von Ihnen gewohnt.
LUCIE.

Spotte nicht über mich, unverschämter Teufel, daß du selbst mich elend gemachet hast. Laß mich deine Rache ganz fühlen, o Himmel! Sie wäre unvollkommen, wenn ich nicht der Spott und die Verachtung selbst derjenigen würde, die mich lasterhaft gemachet haben. Führe ihn her, ihn, dem ich Glück, Tugend und Seligkeit selbst aufgeopfert habe, und laß mich zur grausamsten Strafe für meine Verbrechen Verachtung und Haß in seinen Blicken lesen. Solltest du zulassen, daß er die Mörderin seines Vaters als seine Gemahlin umarmen dürfte? Nein! nein! dann bist du gerecht, wenn du mich strafen sollst. Höre die Rache, die über mich schreiet! Ja, ein unwiderstehliches Gefühl voll Zittern und Angst saget mir, daß du sie hörest. Karl selbst wird aus meiner Verzweiflung entdecken, wer ich bin. Selbst der Schrecken, mit dem mich das Bild seines Vaters aus den gräßlichsten Träumen an seiner Seite erwecken wird, wird es ihn lehren. Er wird meine Qual sein, wie ich die seinige sein werde. Und dann, wenn wir uns gemeinschaftlich [260] anklagen, wenn wir gemeinschaftlich verzweifeln werden, was für größere Qualen, o Ewigkeit, wirst du sodann noch für uns übrig haben können?

BETTY.

Lassen Sie Ihr Herz ausstürmen. Ich kenne es. Je stärker es brauset, je ruhiger wird es hernach. Aber erlauben Sie mir auch hernach die kleine Rache, daß ich Sie mitten unter Ihren künftigen Freuden an Ihre ehemalige Verzweiflung erinnere. Zu den Zeiten der Helden würde Ihre stürmische Tugend eine rechte bewegliche Rolle gespielet haben.

LUCIE.

So weit ist mein Stolz heruntergesetzet, daß ich dich um ein Laster, um diese Gleichgültigkeit mitten unter den gröbsten Verbrechen, die ich nicht hoffen darf, beneiden muß. Wer kömmt? Wer weiß, sind meine Verbrechen nicht schon entdecket? Verbirg mich, Betty, verbirg mich vor der Rache, die mich vielleicht schon verfolget. Fürchterliches Gewissen! Welche Angst!

BETTY.
Sehen Sie ein Wunderwerk, sehen Sie Sir Karln.
7. Auftritt
Der siebente Auftritt
Die Vorigen und Sir Karl.

KARL
in einiger Entfernung.

Ja, ich sehe Lucien wieder. Aber ach! soll ich sie mit Abscheu oder mit der ehemaligen Zärtlichkeit wiedersehen? Der verdammte Robert! Hätte er meine Brust durch einen grausamern Zweifel foltern können? Nein! seine Betrügerei ist zu klar. Meine Lucie! meine Gemahlin! endlich können sich unsere Seelen auf ewig miteinander vereinigen. Wie? Sie entreißen sich den Armen des zärtlichen Liebhabers? Mit Zittern? mit Abscheu? Himmel, ich bin verloren! Der barbarische Robert ist nicht zufrieden gewesen, mich allein zu martern. Glauben Sie doch seinem Betruge nicht. Sehen Sie seine eigennützige Absicht nicht ein?

LUCIE.

Was wollen Sie mit dem Sir Robert? Von was für Betruge reden Sie? Haben Sie noch eine Qual mehr für Lucien? Sagen Sie solche. Aus keinem Munde als dem Ihrigen kann sie mit mehrerm Rechte gehöret werden. Ich will Ihre Mühe damit belohnen, daß ich Ihre Seele einen neuen Schmerz empfinden lasse, den Sie noch nicht zu wissen scheinen. Sie würden sonst die wenigen Minuten, da Sie mich mit Ihrer Zärtlichkeit quälen, mit Flüchen über mich zugebracht haben. Ja! die Rache des Himmels [261] hat Sie zu der bequemsten Zeit zurückgeführet, einen Vater zu rächen, den ich Ihnen geraubet habe.

BETTY.

Wie können Sie den zärtlichsten Liebhaber mit Ihrem Geschwätze quälen? Kommen Sie, Sir. Verlassen Sie die Fräulein, bis sie sich gefaßt hat. Sie wissen, sie hat jederzeit viel Neigung für den Sir Willhelm gehabt.

KARL.

Liebe und Rache haben mich zurügeführet, meine Lucie an einem ungerechten Vater und an seinem boshaften Freunde zu rächen. Diese Liebe und Rache haben mich List genug gelehret, die grausamen Anschläge, die man wegen unserer Trennung gemachet hat, zu vernichten. Ich habe diesen Augenblick bei meiner Ankunft gehöret, daß der Feind unserer Glückseligkeit tot ist.

LUCIE.
Ihr Vater tot? und sein Sohn hier bei Lucien? –
KARL.

Pflicht und Betrübnis würden mich zuerst zu seinem Leichname geführet haben, wenn mich nicht seine Grausamkeit und meine Liebe gezwungen hätten, mit Ihnen zuerst die Freude unserer Wiedervereinigung zu fühlen. Aber wie hätte ich eine so schmerzliche Empfangung vermuten können? Wen beklagen Sie? War es nicht der Feind Ihrer und meiner Glückseligkeit? Gütiges Herz! Sehen Sie, der Himmel ist gerecht. Er erlaubet ihm nicht länger, sich unserer Liebe zu widersetzen.

LUCIE.

Bösewicht! wissen Sie wohl, daß Sie Lästerungen wider den Himmel reden? Sollen Sie ihn zu dem Urheber des schrecklichsten Lasters machen? Wissen Sie wohl, daß dieser Vater, den Sie Undankbarer ungerecht nennen, in seinen letzten Augenblicken mit dem Munde, mit dem er den fürchterlichen Fluch hätte auf uns legen sollen, den zärtlichsten Segen über uns aussprach? Daß diese Lucie – Verlassen Sie mich, Southwell, wenn ich eine Erleichterung meiner Martern fühlen soll, und wenn Sie nicht selbst mit mir zugleich alles Schreckliche derselben fühlen wollen.

BETTY.

Fräulein, Ihr Herz und Ihr Kopf scheinen in gleicher Unordnung zu sein. Besinnen Sie sich doch. Sir Karl, lassen Sie mich Ihnen in zwei Worten den Grund von dieser ausschweifenden Hitze entdecken. Die Fräulein hat sich den schwärmerischen Einfall in den Kopf gesetzet, daß sie durch die dem Sir Willhelm verursachten Bekümmernisse ihm das Leben verkürzet habe. Sie wissen, es hat sich noch niemand in vierundzwanzig Stunden, so alt waren ungefähr die Bekümmernisse des Sir Willhelms, zu Tode gegrämet. Sie kennen indessen Ihr ungestümes Herz. Überlassen Sie [262] es einige Stunden sich selbst. Es wird sich sodann seiner eigenen Schwachheit schämen.

KARL.
Liebenswürdige Zärtlichkeit! Ach! Betty, ich fürchte nur, Robert –
LUCIE.

Nein, Betty, deine List ist vergeblich. Warten Sie, Sir. Ich will dieses Feuer nicht länger in meinen Gliedern allein wüten lassen. Verdiente ich's allein, unglücklich zu sein? Nein, Sie sollen, Sie müssen es mit mir sein. Barbar, Sie verdienen es in einem noch höhern Grade zu sein als ich. Zittern Sie vor dem, was ich Ihnen sagen will.

BETTY
vor sich.
Betty, nun ist es Zeit. Sie geht heimlich ab.
LUCIE.

Und nun, Southwell, soll ich mich vor Ihnen und Sie mit mir zugleich selbst anklagen? Immer noch stolz mitten in der niedrigsten Gottlosigkeit, widersetzet sich mein Herz, meine Schande zu nennen! Können Sie dann nicht dieselbe in meinem Abscheu, in meiner Verzweiflung, mit der Sie mich kämpfen sehen, entdecken? Saget Ihnen Ihr eignes Herz nicht, wie gottlos ich, wie gottlos Sie selbst sind?

KARL.
Vergessen Sie doch, meine liebste Gemahlin –
LUCIE.

Nicht Gemahlin! Sprechen Sie diesen Namen nicht aus. Er ist jetzund mehr als die Hölle selbst für mich, soviel Glückseligkeit ich Törin auch sonst darinnen zu finden glaubete. Gott muß ihn mit Abscheu hören und die Strafe beschleunigen, die wir verdienen.

KARL.

Ach! meine teuerste Lucie, ich sehe, man hat mein Herz nicht allein mit dem niederträchtigsten Betruge zu verwunden gesuchet. Vereinigen Sie doch alle Umstände; und sie werden finden, daß Ihr Laster Einbildung ist.

LUCIE.

Mein Laster, Einbildung? Wissen Sie bereits, was ich bin? Wer hat es Ihnen gesaget? Meine Verbrechen, meine Schande schreien also bereits laut wider mich? Und ich Elende verzögere noch einen einzigen Augenblick ein Leben, welches der Spott, der Abscheu und der Fluch der Welt geworden ist? Welche stumme, welche leblose Zeugen sind die Ankläger meiner Schandtaten geworden?

KARL.

Beruhigen Sie sich doch, mein Herz. Meine Brust hat im Anfange ebensoviel gelitten als die Ihrige. Der Verdacht, den man in mir zu erregen suchete, war zu grausam, als daß er mich nicht hätte quälen sollen. Ich zitterte vor der Schande und dem Laster –

LUCIE.

Ruchloser! Sie wissen meine Laster, meine Schande, und Sie verdoppeln noch die Ihrigen durch Ihre Zärtlichkeiten? Was zögern Sie? Tun Sie die einzige gute Tat, die Sie in Ihrem Leben können getan haben. [263] Stoßen Sie den Dolch in diese Brust, die Sie durch Ihre verfluchte Liebe zu einer Wohnung der schwärzesten Laster und der Qual dieser Laster gemachet haben. Hören Sie die Stimme Ihres Vaters, diese Stimme, die Rache wider mich verlanget, wenn Sie meine Bitte nicht hören wollen. Nur unter dieser einzigen Bedingung verzeihe ich Ihnen die Grausamkeiten, die Sie an mir ausgeübet haben.

KARL.

Ein einziger ruhiger Augenblick würde Sie dieser ungegründeten Verzweiflung, bei welcher mein Herz für Betrübnis blutet, entreißen können. Besinnen Sie sich doch, daß es der Eigennutz und der niederträchtigste Neid sind, die unsere Liebe des abscheulichsten Lasters beschuldigen. Konnten Sie wohl beide ein einfältigeres Märchen erfinden, ihren Endzweck zu erreichen? Wenn hat mein Vater jemals eine Tochter, ja nur ein einziges Kind außer mir gehabt? Wie habe ich also jemals in Lucien meine eigene Schwester lieben können?

LUCIE.

Ihre Schwester! Ha! Lucie selbst weiß ihre Laster noch nicht alle. Fürchterliche Dunkelheit! Bald soll sie sich aufklären. Ein schwacher Strahl blitzet durch sie hindurch! Aber wie schrecklich ist er. Ich bin unfähig, das entsetzliche Wort noch einmal auszusprechen. Erklären Sie sich deutlicher, Southwell.

KARL.

Warum bin ich doch so unvorsichtig gewesen, Sie mit einem Schmerze zu beunruhigen, den Sie nicht wußten. Lassen Sie uns diesen elenden Betrug der Vergessenheit und Verachtung aufopfern, die er verdienet. Unsere Liebe –

LUCIE.
Barbar! martern Sie mich nicht durch Ungewißheit. Sagen Sie mir, wer ich bin!
KARL.

Meine Lucie, meine Gemahlin, meine einzige Freude meines Lebens sollen Sie aller Welt und dem Himmel zum Trotz selbst sein.

LUCIE.

Nichts! die Mörderin deines Vaters, deine eigene Henkerin und das größte Ungeheuer, Southwells Tochter selbst will ich sein. Wo ist Robert?

KARL.

Der Verleumder! der Bösewicht! Er soll meine Rache für die Schmerzen empfinden, die er mir und Ihnen verursachet hat. Ich fodere die ganze Welt auf, mir meine Gemahlin zu rauben. Er will sie umarmen.

LUCIE.

Laß mich! Unmensch! Meine Seele zittert, dich mit einem andern, mit einem noch schrecklichern Namen zu nennen. Doch wie? ist es nicht ein Traum? ist es nicht Einbildung? Bin ich es wirklich? Das giftigste Gewürme, [264] das jemals die Erde ernähret hat? Ja, diese Peiniger, diese Vorboten noch größerer Qualen, wenn sie möglich sind, diese Angst, diese Verzweiflung, sagen sie mir nicht, was ich bin? Hölle! sieh deinen Raub! was verziehst du?

KARL.

Verfluchter Robert! welche Marter ist ungerecht für dich, wenn es Bosheit ist? Aber wie, wenn es Wahrheit wäre? Unsinnige Furcht! sie kann, sie soll es nicht sein. Was für eine elende Erfindung!

8. Auftritt
Der achte Auftritt
Die Vorigen. Amalie.

AMALIE.

Wie? Sir Karl, Sie sind hier und haben die traurigste, aber auch die heiligste Pflicht Ihres Lebens vergessen? – Ach, Lucie, erlauben Sie mir, daß ich alle Wehmut der Zärtlichkeit in Ihnen erneuere. Selbst diese Wehmut hat für eine gefühlvolle Seele wie die Ihrige mitten in der Betrübnis ihre Annehmlichkeiten. Wie zärtlich suchete Sie nicht seine schon sterbende Blicke in der Minute, da er Sie vermißte! Wie eifrig bemühete er sich, noch einmal Ihren Namen auszusprechen! Sein schon geschlossenes Auge öffnete sich noch einmal. Es sammlete von der stärksten väterlichen Liebe und Empfindung neue Kräfte. Es warf noch den beredtesten, den beweglichsten Blick auf die Gemälde seines Sohnes und seiner Lucie, die ihm gegenüber hingen, und sodann schloß es sich auf ewig. Ich tadle die sprachlosen Schrecken nicht, in denen ich Sie erblicke. Wie rühmlich ist es für Sie und für mich! Er zeigt, daß Sie würdig waren, von dem tugendhaftesten Manne, den die Welt verloren hat, geliebet zu werden.

LUCIE.

So ist er denn tot? und Lucie lebt noch? Doch was ist ihr Leben? Ist es nicht elender als der Tod selbst? Rufen Sie mir Ihren Vater, Amalie. Mein Herz soll nicht länger unter dieser Ungewißheit schmachten.

KARL.

Rufen Sie ihn nicht, wenn Sie ihn noch einige Augenblicke vor der Rache verbergen wollen, der er gewiß nicht entfliehen soll. Lucie, wollen Sie die Bosheit gänzlich über Ihren Verstand triumphieren lassen?

AMALIE.

Unglückliche Dunkelheit! Was wollen Sie von meinem Vater, Lucie? Womit kann Sie der Freund des Ihrigen beleidiget haben, Sir Karl. Er wird gleich hier sein, sobald er die ersten Tränen über seinen Freund wird abgetrocknet haben. Er weiß Ihre Ankunft, und er hat mir gesaget, daß er mit Ihnen sprechen muß. Aber diese stumme Raserei, die ich [265] erblicke, zwingt mich zu zittern. Erklären Sie mir doch diesen fürchterlichen Traum, meine liebe Freundin. – Himmel! mein Vater! Erinnern Sie sich, Sir, es ist der Freund des Sir Willhelms.

9. Auftritt
Der neunte Auftritt
Die Vorigen und Sir Robert.

KARL.
Alter Bösewicht! –
LUCIE.

Halten Sie ein, Unsinniger! Das Maß Ihrer Verbrechen ist bereits voll! Sie haben keine weiter nötig, treten Sie näher, Sir Robert. Wiederholen Sie mir, was Sie Sir Karln vor kurzer Zeit gesaget haben. Sagen Sie mir in zwei Worten, wer ich bin; ich weiß, Sie wissen es.

ROBERT.

Ich würde es Ihnen gesaget haben, auch wenn Sie mich nicht gefraget hätten. Es ist dies die einzige Absicht, die mich der Einsamkeit und der Pflicht, meinen Freund zu beweinen, entrissen hat. Ich weiß Ihre und Sir Karls Liebe. Ich würde ebenso strafbar als Sie selbst sein, wenn ich nur noch einen Augenblick das einzige Mittel verzögerte, welches diese Liebe trennen kann. Lieben Sie denjenigen als Ihren Bruder, den Sie niemals ohne das abscheulichste Laster als Ihren Gemahl lieben können. Sie sind des Sir Willhelms leibliche Tochter, Lucie. Lucie und Amalie, beide in der äußersten Bestürzung.

KARL.
Unverschämter! Ich kenne den Eigennutz, der dich diese Sprache gelehret hat.
ROBERT.
Warten Sie nur wenige Minuten, und Sie werden sich Ihrer Vorwürfe schämen.
AMALIE.

Ach, mein Vater, nicht ein Wort mehr! lassen Sie diese schreckliche Begebenheit in der Dunkelheit, in welcher sie ist.

ROBERT.

Nein, meine Tochter, du begehrest eine strafbare Gefälligkeit von mir. Eine übertriebene Zärtlichkeit und Schamhaftigkeit hat meinem seligen Freunde das Vergnügen geraubet, Sie, Lucie, als Vater zu umarmen. Vielleicht würde er sich noch überwunden haben, wenn ihn der Tod nicht übereilet hätte. Sein Andenken ist mir zu heilig, als daß ich es bei einer jeden andern Gelegenheit als der jetzigen durch ein einziges Wort entehren sollte, welches nicht ein Lob für ihn wäre. Doch selbst diese Größe, dieser Eifer der Seelen, mit der er sich seinen Vergehungen entrissen und den Himmel durch die strengste und erhabenste Tugend versöhnet hat, ist der [266] glänzendste Ruhm für sein Herz. Ahmen Sie beide das Beispiel des würdigsten Vater nach und zeigen Sie, daß Sie ebenso rühmlich als er über Ihr Herz triumphieren können. Er war ein Beweis, daß auch das beste Herz seine Minuten hat, in welchen es schwach ist. Er lernete einige Zeit nach Ihrer Mutter, Sir Karl, die bald nach Ihrer Geburt starb, eine gewisse Jungfer Wills kennen. Sie liebeten sich, und die Ungleichheit des Standes bestritt ihre Liebe. Sie erkauften durch Übereilung allzu teuer ein eingebildetes Vergnügen, welches aufhörte, eins zu sein, sobald sie es genossen hatten. Sie, Lucie, waren die Frucht dieser unglücklichen Liebe. Ihr Vater selbst ließ Sie unter dem Scheine eines Kindes, das von seinen Eltern weggesetzet worden wäre, erziehen. Ihre Mutter heiratete bald darauf den Herrn Norris, und es fand sich nach einiger Zeit eine Gelegenheit, daß die Frau Norris Ihre Auferziehung selbst besorgen konnte. Ihr Vater konnte seine Lucie nicht länger entbehren. Er nahm Sie wieder von der Frau Norris weg, die ebensoviel gelitten hatte, als er selbst litte, da er seine größte Freude, von Ihnen als Vater umarmet zu werden, nicht genüßen konnte. Urteilen Sie von seinem Schmerze, da er sich notwendig Ihrer Vermählung widersetzen mußte. Lesen Sie hier sein eigenes Testament, in welchem er Sie nebst einem ansehnlichen Vermächtnisse für seine Tochter erkennet. Sie kennen doch die Hand Ihres Vaters, Sir Karl?

AMALIE.

Unglückliche Lucie! elender Karl! o daß mein Herz mehr für euch tun könnte als seufzen! Dieser Anblick von Schrecken und Abscheu ist zu stark für mich. Meine Seele kann ihn nicht länger ausstehen. Sie geht ab.

LUCIE.

Warten Sie, Amalie. Sie kennen mich noch nicht in meiner schrecklichsten Gestalt. Zeigen Sie mir die Schrift. Ich kenne die Hand des – Sie liest. Ja, Himmel! du hast meine Flüche gehöret. Du hast mich so lasterhaft sein lassen, als ich es zu sein verlanget habe. Selbst lasterhafter als du, Bösewicht! Erkenne hier deine Buhlerin, deine Schwester und noch mehr, die Mörderin deines und ihres eigenen Vaters! Von meiner Hand hat er Gift empfangen, diese unselige Verbindung zu beschleunigen, doch vielmehr, mich an ihm zu rächen, daß er zweien der abscheulichsten Ungeheuer das Leben gegeben hat. Möchte diese unselige Frucht der Unzucht und Schande, die sich bereits unter meinem Herzen reget, möchte sie geboren werden und leben, um ebenso der Mörder eines gottlosen Vaters zu werden, wie ich die Mörderin des unsrigen geworden bin! Doch ich will sie in ihrem Blute ersticken. Ich will durch ihren Mord noch ein Verbrechen [267] und durch dies Verbrechen noch eine Qual mehr auf dein unschuldiges Haupt häufen. Mitten unter den entsetzlichsten Foltern, die mich erwarten, will ich mich freuen, wenn ich dich ebenso wie mich gepeiniget sehe. Ich, die ich sonst jeden Augenblick auf ein neues Vergnügen für dich sann, will jede Minute auf eine Qual für dich denken. Flüche über dich sollen aus dem Munde hervorströmen, aus dem du ehemals nichts als Zärtlichkeit gehöret hast. Ja, Unmensch, trage diese Flüche deiner Schwester und deiner Frau. Fühle meine Martern, die schrecklichsten, welche die Rache hat, und verzweifle wie ich. Geht ab.

ROBERT.

Gott! wie gerecht und streng sind deine Gerichte über die Strafbaren! Armer unglücklicher Freund! Erwachen Sie aus Ihrer Betäubung, Sir. Der Himmel verlanget eine geschwinde Buße, wenn Sie ihn versöhnen wollen.

KARL.

Was Buße? ist der Himmel oder ich ungerecht? Doch welcher Donner, welcher schreckliche Donner schallt noch vor meinen Ohren? Lucie meine Schwester und schwanger von mir? Lucie die Mörderin meines und ihres Vaters? Elendes Gewebe von Unsinn und Bosheit! Warum quälen Sie mich, Lucie? Warum versammeln Sie diese Gespenster des Schreckens und der Verzweiflung um mich herum? Alles ist vor mir Nacht und Entsetzen! Törichtes Herz, was bebest du? Nichts, Lucie! Ich will keine Schwester, ich will eine Gemahlin in Ihnen besitzen. Selbst als die Mörderin meines Vaters will ich Sie lieben; war er nicht ein Barbar? Nein, Sie müssen mich – Ha! wo ist Lucie? Verräter! du hast mir sie geraubet. Du hast sie verborgen. Gib sie mir wieder, oder dein Leben soll dir nicht länger geschenket sein, mich noch mehr zu martern.

ROBERT.

In was für einem bejammernswürdigen Zustand erblicke ich Sie. Sammeln Sie alle Ihre Vernunft, ich bitte Sie um Ihrer ewigen Glückseligkeit willen, diesen harten Streich auszustehen. Vielleicht hat die göttliche Gerechtigkeit noch kläglichere Szenen des Unglücks zubereitet. Tränen und Reue sind das einzige Mittel, welches die Rache dieser Gerechtigkeit aufhalten kann. Ich ängstige mich für Lucien. Lassen Sie uns weggehen.

KARL.

Willst du mir nicht sagen, wo sie ist? Trotz aller deiner List, alter Bösewicht, will ich sie finden. Ich will sie wegen deiner närrischen Träume beruhigen. Ich will sie wieder als meine Gemahlin umarmen; und dann soll [268] keine Marter so schmerzlich sein, die ich dich nicht empfinden lassen will.Er geht wütend ab.

ROBERT.

Wohin? wollen Sie noch dem Untergange entgegeneilen? Gott! welche finstere Tage des Elends hast du mich noch erleben lassen.

10. Auftritt
Der zehnte Auftritt
Sir Robert. Amalie.

AMALIE.

Ach mein Vater! welches entsetzliche, welches blutige Trauerspiel! Werde ich wohl die Gewalt haben, es Ihnen zu wiederholen? Betty und die unglückliche Lucie, beide liegen in ihrem Blute. Oh, wie wird Ihre Amalie diesen fürchterlichen Anblick eine einzige Minute vergessen können?

ROBERT.

Gott! darf der Mensch, der kurzsichtige Mensch deine Gerechtigkeit tadeln? Wie gerecht, Amalie, wird nicht der Gott gegen die Tugend sein, der es in einem so hohen Grade gegen das Laster ist?

AMALIE.

Mit einem Gesichte, auf welchem alle ihre Wut und Verzweiflung abgeschildert war, trat sie in mein Zimmer! Ich wollte sie an meine Brust drücken und trösten. Sie stieß mich mit Grimm von sich. Sie wiederholte mir kurz ihre Verbrechen, Verbrechen, die mein Mund auszusprechen unvermögend ist. Sie eilte in ihr eigenes Zimmer, und ich folgete ihr selbst mit Zittern und Furcht vor ihr Leben. Die unglückliche Betty war in demselben. Lucie bemächtigte sich heimlich eines Messers! Sie stieß es in das Herz dieser elenden Kreatur und ebenso geschwind in das ihrige. Sie starb unter den bittersten Verwünschungen der Betty, die sie als die Urheberin ihres Unglücks anklagete, des Sir Karls, ihres eigenen Vaters und des Himmels selbst. Was für fürchterliche Folgen hat die unerlaubte Liebe des Sir Willhelms und seines Sohnes gehabt!

11. Auftritt
Der eilfte Auftritt
Die Vorigen und Jakob.

JAKOB.

Ach, Sir Robert, erbarmen Sie sich meines armen Herrns. Er ist in einem Zustande, welcher der Raserei sehr nahe ist. Er fand den toten Körper der Lucie. Er stürzte sich auf denselben. Was für Flüche strömten aus seinem Munde hervor! Ich und die andern Bedienten haben ihn mit Gewalt von demselben weggezogen. Wir haben alles vor ihm verborgen, [269] wodurch er seinem Leben schädlich sein könnte. Mehr als einmal hat er sich schon aus unsern Händen losgerissen. Kommen Sie – Gott! Hier ist er selbst! Wer kann ihn sehen, ohne zu zittern?

12. Auftritt
Der letzte Auftritt
Die Vorigen und Sir Karl.

KARL.

Wütriche! Was habe ich euch getan, daß ich noch dies Leben, diese unausstehliche Qual länger fühlen muß? Nur Gott, meinen Vater und Lucien allein habe ich beleidiget. Wer mehr als sie hat ein Recht, mich zu quälen? Und wie schrecklich quälen sie mich? Ein unauslöschliches Feuer, die Hölle selbst mit allen ihren Martern brennet in dem Innersten meiner Seelen. Ha! Sind noch neue Martern für mich übrig? Ist dies nicht der Geist meines Vaters? der Geist Luciens? Welche Rache, welche Drohungen blitzen in ihrem Auge! Verbirg mich, Erde, verbirg mich! Sei gütiger als die Menschen, die mich verfolgen. Doch verdiene ich nicht alle diese Qual? Bin ich nicht ein Bösewicht, der schrecklichste, der jemals die Erde entheiliget. Warum bricht diese Erde nicht unter meinen Füßen? Himmel! wo sind deine Blitze? Doch laß mich leben, um mit jeder Minute meine Martern und meine Verzweigung zu häufen. Ich habe diesen Vater, der mich so zärtlich liebete, diese Lucie, die mir alles aufopferte, ermordet. Rächen Sie sich, Lucie. Er kniet vor Amalien nieder. Rächen Sie sich an Ihrem Verführer, an einem Meineidigen, an Ihrem Mörder selbst. – Elende Schwester, durchstoß, durchstoß das Herz deines abscheulichen Gemahls!

AMALIE.
Ach Sir, fassen Sie sich, denken Sie nicht mehr an Lucien.
KARL.

Ja, Ungeheuer, ich will nicht mehr an dich denken. Bist du es nicht, die mich in den Abgrund hinabstürzet, der sich zu meinen Füßen öffnet? Bist du es nicht, Blutdürstige, die mir den besten, den zärtlichsten Vater geraubet hat? Was für Foltern sind mir die niederträchtigen Gefälligkeiten geworden, die du mir erwiesen hast! Eine jede derselben sei nunmehr soviel Pein für dich, als sie ehemals Glückseligkeit für mich war. Quäle sie, Hölle, quäle sie. Sie nur ist strafbar. – Welche Verwirrung, welche Finsternis umnebelt meine Vernunft! Verzeihe, göttliche Lucie, verzeihe einem Unsinnigen. Ich und du können beide unschuldig und unverdienet elend unsere Häupter emporheben. Barbarischer Vater! du allein bist es, den wir anklagen müssen. Höre die Flüche deines Sohnes und deiner[270] Tochter. Sei elend, sei ewig elend wie sie, das Leben an dir zu rächen, das du ihnen gegeben hast. Deine Verbrechen zu strafen, sind wir geboren worden. Karl ist unschuldig. Er leidet, ohne es zu verdienen. Du, Himmel! erröte, daß du ihn gezwungen hast, lasterhaft zu sein. Er geht ab.

AMALIE.
Gott! höre seine neuen Beleidigungen nicht, seine Vernunft ist nicht in seiner Gewalt.
ROBERT.

Geh, Jakob, und trage mit denen Bedienten Sorgfalt für seine Sicherheit. Komm, meine Amalie, laß uns mit einer stillen Ehrfurcht vor dieser Gerechtigkeit zittern, die auch die geringsten Verbrechen nicht ungerochen läßt. Laß uns aus Karls und Luciens unglücklichem Beispiele lernen, daß demjenigen das größte Laster nicht weiter zu abscheulich ist, der sich nicht scheut, das allergeringste auszuüben.

[271]

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Pfeil, Johann Gottlob Benjamin. Drama. Lucie Woodvil. Lucie Woodvil. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-74A1-4