Durchs Fegefeuer zum Paradies.

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Nochmals, ich bitte Dich, laß’ heute das Theater und bleibe daheim. Ich bin nicht wohl und die ganze Woche schon sind wir nicht zu Ruhe gekommen. Laß uns einmal den heutigen Abend in der eigenen Häuslichkeit verbringen.«

Kurt Fernau’s Stimme bringt die Bitte ruhigen Tones hervor, obgleich ein leises Zittern derselben auch die nur mühsam unterdrückte Erregung verräth.

»Du bist immer derselbe Griesgram und mußt mir alles verderben. Seit Tagen hab ich mich auf diese neue Operette gefreut und nun auf einmal, nur Deiner Grille zu lieb, soll ich daheim wie im Gefängniß bleiben. Ich will aber nicht.« [21]»Nun, wenn Dir unser Heim wie ein Gefängniß vorkommt, gut, so geh’, ich halte Dich nicht.«

Die junge, nicht geradezu auffallend, aber doch ein wenig kokett gekleidete Frau streift ein zorniger Blick des ungeduldig auf- und niederschreitenden Gatten, der, eben beim Kamin angelangt, seine nur halb gerauchte Zigarre in die glimmenden Kohlen schleudert, daß die Funken emporsprühen.

»Ja, spiele nur den Beleidigten. Diesmal behalte ich meinen Kopf!« ruft dagegen die kleine Frau, indem sie sich vom Spiegel, vor dem sie sich eben einen Bund frischer Schneeglöckchen in die Haare gesteckt hat, lebhaft abwendet und, mit dem kleinen Stiefelchen aufstampfend, eine stolze Haltung annimmt. »Wozu soll ich bei Dir bleiben? Um Deine spitzen Vorwürfe anzuhören? Ja sieh’ mich nur immer an mit Deinen großen Augen. Es ist umsonst. Ich lasse mich nicht mehr tyrannisiren! … Wenn Dir meine Freude am Leben zuwider ist, so hättest Du das bedenken sollen, ehe Du mich zur Frau nahmst.«

Der Mann seufzt und sucht jetzt mit halb wehmüthigem Blick das Auge seiner Frau. »Emmy, Du frevelst…« – »Nein, Du frevelst an mir. Ich bin noch jung; ich habe ein Recht darauf, [22]das Leben zu genießen und will es. Mama sagt es auch. Ich will mir die Lust nicht verderben lassen durch Dein sauertöpfisch Gebahren. Ich bin es müde…, ja! – recht müde! … Und damit basta. Das Billet ist da; ich hab es angenommen, und daß ich’s benutze, bin ich schon der Tante schuldig! Adieu! …«

Wenige Wochen noch und das junge Paar hätte die Erinnerung an die Hochzeit zum dritten Male festlich begehen können. Aber die Stimmung ihrer Seelen dachte nicht an solche Feier der Herzen. Der Zauber, welcher die Liebenden damals berauscht und in Bann gehalten, als sie sich die Hand zum Bunde für’s Leben gegeben, war allzu früh für ihr Glück gewichen und Emmy und Kurt waren zwar noch ein junges Paar, aber halfen bereits die Menge der unglückliche Ehen vermehren. Und doch war er, wenn auch beträchtlich älter und gesetzter als die lebhafte Lebensgefährtin, ein liebenswürdiger, stattlicher Mann, wohl im Stande jedes Weib, das ihn liebte, zu beglücken. Und auch das überschäumende Temperament und der leichte Sinn des Wiener Kindes, das er an seine Seite gefesselt, war nur die Außenseite eines Innern, dem gefährlicher Leichtsinn fremd war und starke, innige Liebesempfindung eigenthümlich. Auch hatte sie beide aufrichtige [23]Neigung zusammengeführt und der Glaube, für einander bestimmt zu sein; nicht Spekulation. Und dennoch schienen die Gluten, die einst so hell emporgeflammt, erloschen. Die Sonne des Liebesfrühlings war jäh untergegangen und kalter Frost hatte die einst so glühende Wärme der Herzen vernichtet.

Kurt Fernau, ein talentvoller Musiker, war vor fünf Jahren nach Wien gekommen, wo er an einem der großen Concertinstitute der Donaustadt lohnende Anstellung gefunden. Er war Norddeutscher von Geburt und auch nach Bildung und Wesen. Wie aber das Fremdartige auf die meisten Naturen einen ganz besonderen Reiz ausübt, so hatte auch der Zauber des Wiener Lebens ihn überkommen wie eine holdselige, süß berauschende Offenbarung. Das bestrickende Lied der schönen, berückenden Sirene an der Donau bethörte auch ihn. Auch ihm wurde das Leben hier zu einem melodischen Reigen glänzend bunter Feste und die im Walzertakte das Leben genießenden Wiener fanden in ihm einen gar wackeren Kameraden. Doch auch ihm blieb die Abspannung, die den Fremden in Vindobona’s Rosengarten so leicht befällt, ähnlich der Wirkung allzu würziger Blumendüfte, nicht erspart. Der leichte Sinn der Bewohner erschien ihm bald haltlos und selbst das wechselreiche [24]Bacchanal ihrer Freuden schal und ermüdend. Die Gegenwart befriedigte ihn nicht mehr und er begann sich zu sehnen, zu sehnen nach ruhigem, dauerndem Glück. »Laß fahren dahin das allzu Flüchtige« – im schnell verfliegenden Rausch der Sinne hatte er diese Wahrheit erkannt und nun suchte er das Glück in Dauer, die Liebe in Ruh’. Doch in dem neuen Ideal wogte noch auf und nieder die Freude an der heiteren Auffassung des Lebens, die sonnige Heiterkeit, die seiner Seele bei seiner Herkunft nach Wien so wohl gethan. Nicht ganz wollte er sie missen, nur ruhig genießen, für sich, ohne Aufregung.

In dieser Stimmung hatte er Emmy kennen gelernt. Sie zählte damals noch nicht ganz neunzehn Jahre. In dem Feuerglanz ihrer dunklen Augen, in der sanften Glut ihres noch in der Knospe befindlichen Wesens glaubte er gefunden zu haben, was er suchte, eine Vermittlerin des Glücks, das sein Herz ersehnte. Sie war das Kind eines Beamten in der Provinz und lebte seit nahezu zwei Jahren unter der Obhut ihrer Tante in Wien, einer gutmüthigen alten Damen, die ihre helle Freude hatte an dem Goldkind, das ihr von den Eltern übergeben worden war, damit es in der Kaiserstadt seine hübsche musikalische Begabung ausbilde. Auf einem Ball, der zu [25]Ehren einer musikalischen Berühmtheit gehalten wurde, in dessen hellaufwirbelnder Luft Fernau der ganze Zwiespalt seines Innern klar ins Bewußtsein trat, war er ihr zuerst begegnet. Ihm war als habe ihm die Muse seines Lebens eine Erlöserin gesendet. Die Wonne darob gab seiner Werbung jene Bestimmtheit und Kraft, denen der Erfolg selten versagt bleibt und wie im flüchtigen Begegnen der Augen sich die Seelen gefunden, so genügte ein bald sich darbietender Augenblick zum Bunde derselben für ewig. Hindernisse standen den Liebenden nicht im Wege und bald war auch der Bund vor dem Altare besiegelt.

Die volle Flut des Glücks nahm das gemeinsam bestiegene Lebensschiff der jungen Eheleute zunächst auf seine fröhlich aufschäumenden Wellen. Wohl trat bald die Verschiedenheit der beiden Naturen an tausend Punkten hervor, aber die Wahrnehmung erhöhte nur den Reiz des Lebens, erweiterte den Kreis der gemeinsamen Freuden. Die Macht der Wahlverwandtschaft entgegengesetzter Elemente schien sich wieder einmal siegreich bewähren zu wollen. Das gieng – bis nach dem ersten Rausch der Flitterwochen, nach der an Eindrücken wie an innerem Glück überreichen Hochzeitsreise und den geselligen Zerstreuungen, welche die Heimgekehrten begrüßten, bei Fernau das Bedürfniß [26]nach stillem Familienglück täglich stärker sich geltend machte und die naive Genußsucht der jungen Gattin mit allerhand Bedenken kreuzte. Was die Liebe anfangs immer wieder heilte, zerstörte jedoch der Einfluß der Tante, die, eine echte Wienerin, ihren Liebling in nichts verkürzt sehen wollte. Ihr hatte das ruhige Wesen Fernau’s von vornherein nicht so recht gefallen. Als sie aber wahrnahm, wie an dem Mann ihres lieben Miezerl täglich mehr hervortrat, daß er von Grund seines Wesens ein rechter Stubenhocker und Häferlgucker, hatte sie es für Pflicht gehalten, einen geheimen Krieg gegen ihn zu eröffnen, der zum Zweck hatte, dem überhäuslichen Schwiegersohne seine Pflicht ins Gedächtniß zu rufen, für das Vergnügen seines jungen Weibes zu sorgen. Wie so oft im Leben säte ihre falsch geleitete Liebe nur Unheil. Was im Grunde nur Einflüsterung der Tante war, nahm Fernau als Offenbarung des innersten Wesens seiner kleinen Frau; der Wahn befiel ihn, er habe sich völlig in ihr getäuscht, und damit der Glaube, strenges Auftreten könne allein vom gesunden Kern ihres Wesens noch retten, was zu retten sei.

Doch auch diese Pädagogik konnte sich keines erquicklichen Resultates erfreuen. Emmy fühlte sich von ihrem Gatten falsch verstanden und ungerecht [27]behandelt und hin und wieder mit Recht. Denn sie durfte oft für Laune und Hypochondrie halten, was thatsächlich auf seiner Seite nur ein verfehlter Versuch war, den noch wenig häuslichen Sinn seiner jungen Lebensgefährtin der eigenen Sinnesart anzupassen. Er umgekehrt nahm dieses und jenes durchaus berechtigte Aufflackern einer natürlichen, die Schranken des Sittlichen achtenden Lebenslust für bedenkliche Zeichen eines unausrottbaren Flattersinns, eines schmählichen Mangels an Liebe.

Mit besonders einschneidender Schärfe war der Zwiespalt zwischen den beiden Gatten aber erst in den letzten Wochen hervorgetreten. Der Besuch von Emmy’s Mutter hatte statt der erwünschten Gemüthlichkeit eine Reihe aufgeregter Tage gebracht, deren Festlichkeit aus Zerstreuungen und Vergnügungen bestand, an denen Fernau nur die Unbequemlichkeit verspürte. Und der Einfluß der Tante brachte es schon am ersten Tage dahin, daß für Fernau das viel bezweifelte Märchen von der bösen Schwiegermutter zur unerquicklichen Wirklichkeit wurde. Auch die Mutter der Frau versuchte nun an ihm herum zu doktern. Oft gab ein Wort das andere, aber im Geräusch der gastlichen Zusammenkünfte bei Verwandten und Freunden konnte die Verstimmung nicht zu [28]einem vollen Ausbruch kommen. Nun war – endlich, so meinte Kurt – der Besuch wieder von dannen gereist. Der geplagte Ehemann athmete auf, und er holte tief Athem, um seinen Zorn in wenig Worten auf das Haupt der Gattin zu entladen. Natürlich blieben auch unzarte Bemerkungen auf die Mutter Emmy’s nicht aus, die diese beleidigen mußten und welche sie nicht unerwidert ließ. Schon einmal hatte er eine Berufung auf die Meinung der Mutter brüsk mit der Bemerkung erwidert, er hindere sie nicht, bei dieser sich Trost zu suchen.

So stand es am heutigen Tage. Die katholische Bevölkerung feierte Mariä Empfängniß; in dem Modetheater der Saison, dem glänzend ausgestatteten Ringtheater, war eine neue Operette, ein hinterlassenes Werk Offenbach’s, angesetzt und die Tante hatte ihrem Liebling ein Billet zu verschaffen gewußt. Emmy hatte unterlassen, rechtzeitig ihrem Manne von ihrem Vorhaben etwas zu sagen, und so traf er sie am Nachmittag bei seiner Nachhausekunft vor dem Spiegel in voller Toilette, wie wir Eingangs sahen, beschäftigt, die letzte Hand an dieselbe zu legen.

Auf das verletzend genug hervorgestoßene »Adieu!« der Frau wußte sich Kurt nicht mehr zu halten. Mit hastigem Schritt vertrat er ihr [29]den Weg und mit der Linken die Klinke der Thüre ergreifend, faßte er mit der Rechten die ausgestreckte Hand der Frau…: »Hier bleibst Du…«, raunte er ihr mit von Erregung verschleierter Stimme zu. »In der That – Du hast Recht: es ist genug! Und eh’ Du gehst, sei das entscheidende Wort gesprochen. Dein ganzes Benehmen sagt mir’s: Wir passen nicht zu einander. Der Augenblick ist zu ernst, als daß ich nur Dir die Schuld daran zuschieben möchte. Aber das Eine höre: Geh’ ins Ringtheater – nur zu, ergötze Dich an der bunten Komödie – Du kannst’s ja! Geh’ wohin Du willst und amüsir’ Dich von Herzen. Aber dann geh’ auch Zu Deiner verehrten Frau Tante, betrachte deren Häuslichkeit als die Deine. Dort wirst Du ja glücklich sein… Und nun sage auch ich: Adieu! – Leb’ wohl.« Seine Stimme war während dieser Worte fester, seine Sprache abwägend geworden. Jetzt ließ er die Hand seiner Frau los, sah sie noch einmal forschend an, als wolle er ihr das Innere ergründen, und gieng dann gemessenen Schrittes aus dem Zimmer in sein Privatbureau. Emmy aber, die einen Augenblick verdutzt drein gesehen, schüttelte ihr Köpfchen, wie um unwillkommene Sorgen abzuschütteln, versuchte eine Strophe aus Strauß’ »Fledermaus« zu trällern, die freilich [30]auf den Lippen erstarb, schloß diese dann mit dem Ausdruck des Trotzes, sah nach der Uhr und verließ ohne weiteres Zögern Wohnung und Haus…

Das Haupt auf die Hände gestützt, saß Kurt vor seinem Clavier. Seine Züge waren gespannt und starr, doch im Auge schimmerte ein feuchter Tropfen. Er hatte erwartet, Emmy würde Reue bekommen, aber er hatte vergeblich geharrt. Jetzt mußte die Vorstellung von »Hofmann’s Erzählungen« bereits begonnen haben. Da schreckt ihn aus seinem düsteren Grübeln dumpfer Lärm auf. Auf den weißen Tasten vor ihm spiegelt sich eine helle Röthe… Die Dezembersonne war doch längst untergegangen, er blickt auf und eilt ans Fenster. Der Himmel ist blutigroth. Eine Feuersbrunst… sie muß mitten in der Stadt sein… Unbestimmte Ahnung treibt ihn hinunter. Seine Straße ist leer, die nächste auch. Endlich stößt er auf einen Dienstmann. »Wo brennt’s?« ruft er diesem zu. »’s ist kaum glaublich Herr,« giebt der zurück, »sie sag’n, das ganze Ringtheater ständ’ in Flammen.« – »Wie Mann! Besinnt Euch! Welches Theater,« schreit Fernau entsetzt. – »Das Ringtheater ! Freilich. Das wird a böse G’schichtn geben.« [31]Wie von tausend Dämonen verfolgt, die ihm markverzehrende Worte ins Ohr zischeln, eilt nun Fernau die Straßen hinunter. Er trifft einen Fiaker: »Schnell zum Ringtheater!« – Der Wagen saust dahin, als wüßte der Kutscher, was der Arme da drinnen dort sucht. Doch bald stockt die Fahrt. Dichtes Menschengewühl hält den Wagen auf. Leichenblaß entsteigt ihm Fernau, und wie trunken strauchelt er, denn dort vor sich sieht er das Funkenmeer stieben, den flammendurchglühten Rauch schwelen und lohen, dort vom Theater, das seine Frau, seine kleine, unbedachtsame, sorglose, und doch so liebe, einst so zärtlich geliebte Frau vor wenigen Minuten betreten.

»Sind die Besucher gerettet?« stammelt er und fürchtet sich fast, die Frage an einen der Umstehenden zu richten. »Soll wohl sein! hört’s eben einen Schutzmann behaupten.« – »Unsinn, Unsinn,« sagt dagegen ein hoher, vierschrötiger Herr daneben. »Nichts ist gerettet, und drinnen waren genug als das Feuer ausbrach. War ja da als die Geschichte begann!«

Fernau steht einen Moment wie vom Donner gerührt. Dann rafft er sich empor und kennt nur ein Ziel: das Theater selbst. Er braucht Riesenkräfte. Die Menge umstaut das Theater. Endlich ist er am Ziel. Er hat den Ring erreicht, [32]welchen die Schutzmannschaft um den Platz vor dem Theater bildet. Nun durchbricht er auch den. »Halt mein Herr!« herrscht ihn einer der Wächter an. »Mein Gott, lassen Sie mich! Meine Frau ist drinnen im Theater!« – »Sie irren, Alles, was drinnen war, ist gerettet! Beruhigen Sie sich. Zurück, treten Sie zurück!« Fernau weicht der Macht. Aber er eilt einer anderen, schwächer mit Schutzleuten besetzten Stelle zu und sucht Eingang zu gewinnen. Doch nur mit demselben Erfolg. Dabei prasselt’s, zischt’s und lärmt es von anfahrenden Spritzen, von plätschernden Wasserstrahlen, von aufgeregt hervorgebrachten Kommandoworten, dazwischen tönen Wehelaute aus dem Publikum, ängstliches Hilfeverlangen, wüthende Anklagen. Alle diese Eindrücke stürmen mit betäubender Wirkung auf den Aermsten ein, der für einen Moment gebrochen dasteht, während sein Auge in die grelle Glut starrt, welche den Platz gräßlich erhellt.

Da stürzt ein Herr, rauchgeschwärzt, aus einem der Thore, in seinem Antlitz den Ausdruck des höchsten Schreckens. Zufällig nimmt er den Weg auf jene Gruppe, zu der Fernau gehört. »Sind noch Menschen drinnen«, ruft der Erste ihm bebend entgegen. »Freilich… Oben… Rettet!« stößt der Entkommene hervor. Die [33]Nachricht verbreitet sich schnell, und gellend wie Wuthgeheul wird der Ruf nach Rettung wiederholt, während die Beamten bei ihren falschen Trostsprüchlein kaum zu beharren vermögen.

Jetzt entsteht plötzlich Stille, sie dauert einige Sekunden und dann erschüttert ein lauter Aufschrei die Luft. Ist’s Staunen, ist’s Drohung oder Klagelaut? Es ist die schreckliche Gewißheit, daß der unselige Brand wirklich auch Menschenleben in Gefahr gebracht hat. Der erste Todte war, entsetzlich verstümmelt und entstellt, herausgetragen worden. Vierzehn weitere Opfer folgen. Man trägt die Leichen nach dem Polizeigebäude. Alles drängt diesem Kondukte zu. Fernau jedoch steht still. Er will und kann nicht an das Gräßlichste glauben, seine Frau nicht suchen unter den Sterbenden. Sein Auge sieht an der reich dekorirten Front des brennenden Prachtgebäudes empor, es sucht die Fenster ab, ob sich an ihnen keine Spur von Geflüchteten zeige. Aber er sieht nur die Gestalten der Pompiers, die von außen auf den Simsen hinkriechen, um die Mündungen der Spritzenschläuche dem Feuerherd so nahe wie möglich zu bringen. Die Glut dort muß grenzenlos sein. Doch siehe – plötzlich erscheint eine ängstliche Gestalt auf dem Balkon und wieder und wieder eine. Aufs neue entsteht eine drückende Pause [34]schweigender Spannung. Und mit einem Klange, der fast Freude verwandt ist, ertönt der Ruf nach Leitern, Sprungtüchern, Tauen. Aber er verhallt ohne Wirkung. Von Rettungsapparaten ist noch nichts zur Stelle. Der Balkon füllt sich mehr und mehr. Der Hilferuf der vom Feuer Bedrängten dringt gellend von oben hernieder. Beim Feuerschein kann Fernau die einzelnen Gestalten erkennen. Angst entstellt Aller Züge Denn immer näher dringt zu ihnen das Krachen und Knistern von der Flammen schonungslosem Zerstörungswerk hinter ihnen. Wer weiß, wie lange dieser Standort noch ein Schutz ist…?

Fernau späht sich seine Augen aus – sucht und sucht. Da fährt er mit der Hand über die Stirn und benutzt sie als Schirm, um die Schärfe des Blicks zu erhöhen. Ist’s ein Traum? Kann es Wirklichkeit sein? Darf er das Wunder glauben? Ist die zarte Frauengestalt, die ihn hilfeflehend zu sich zu winken scheint, ist es – ja sie ist’s, seine Emmy!

Nun wird jede Sekunde zu einer Ewigkeit voll jubelnder Hoffnung, voll verzweifelnder Ungeduld. Die Augen suchen sich, haften in einander. Denn die Gluten des feindseligen, zerstörbaren Elements haben längst den Frost, der beider Herzen erstarrt hatte, geschmolzen, und neue Glut [35]voll zehrender, sorgender, quälender Sehnsucht fluthet auf und nieder in den Seelen der Gatten. Fernau hat kein Auge mehr für das, was um ihn her vorgeht. Er bemerkt nur mechanisch, daß einzelne der Männer, die auf das Sprungtuch nicht mehr warten wollen, direkt herunter springen, in die Menge, die ihrer mit offenen Armen harrt. Auch er streckt die Arme aus, voll Sehnsucht und bereit, sanft zu betten, wer dort von oben zu ihm den Sprung wage. Aber vergeblich, die junge Frau ist zu schwach für den Versuch. Wohl möchte auch sie. Da erleuchtet freudige Gewißheit den Blick. Die Zeit des Wartens ist vorüber. Die Sprungtücher sind angelangt, werden ausgebreitet. Erst werden sie von einigen Männern erprobt. Sie halten fest und tragen treu das kostbare Gut, das sich ihnen anvertraut. Und nun, ja, es ist Emmy, welche eben zwei freundliche Männer auf die Ballustrade heben. Es ist sein Lieb, was jetzt herniederspringt und das nun weinend und bebend sich in seine Arme schmiegt, stammelnd: »Da hast Du mich! Dein kleines Weib. Ganz und für immer.«

Dann schloß eine Ohnmacht ihre Lippen.

Ein grauenvoller Tag des Schreckens für Wien, für die Welt erreichte mit diesem 8.Dezember des Jahres 1881 sein Ende. Da ist kein Mensch, [36]der die Kunde von all den Schrecknissen, von den schweren, unerträglichen Prüfungen, die durch jenen gräßlichen Theaterbrand über Tausende verhängt wurden, nicht mit Trauer und Herzeleid gelesen hätte. Wohl kein Auge blieb trocken in dem sonst so lustigen Wien angesichts der furchtbaren Heimsuchung. Aber in den Thränen zweier Augenpaare mischt sich doch ein seliges Lächeln, wenn ihre Besitzer an die furchtbare Schreckensnacht denken und in inniger Umarmung tauschen sie trauliche Worte.

»Uns brachte sie doch Glück, die fürchterliche Nacht. Denn sie führte uns zum mildwarmen Lande des echten Liebesglücks – durch Frost und Gluten.«…

»Durch’s Fegefeuer zum Paradiese!«

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TextGrid Repository (2012). Proelß, Johannes. Prosa und Lyrik. Katastrophen. Durchs Fegefeuer zum Paradies. Durchs Fegefeuer zum Paradies. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-7D32-1