Zwischen Himmel und Wasser.

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Wenn der große Strom im ebenen Land seine Dämme durchbricht und seine massig drängenden Fluten weithin stürmen läßt über das Land, erscheint dem Zuschauer es kaum faßbar, daß die Ursachen des furchtbaren Unglücks wesentlich in jenen stillen, nur von schmalen Quellbächen durchrauschten Thälern droben im waldigen Hochgebirg zu suchen sind, an deren grünen Ufern wir so gern uns einwiegen lassen in Träume vom ewigen Frieden, den die Natur uns gewährt. Aber auch im Reich der reinen Natur walten Dämonen, die von Frieden nichts wissen wollen. Die Elementargeister des Alls sind vielmehr dort oben noch mächtiger und [71]gewaltsamer als unten in der Ebene, in welcher die Kultur kühn und mit der Ueberlegenheit des Geistes den Kampf mit ihnen aufnimmt. Furchtbar wirkt und wüthet das wild gewordenen Element das Wassers auch in diesem Kampfe; es zerstört die Anlagen des Landmanns und Winzers, es bedroht mit Vernichtung Heim, Habe und Leben der friedlichen Bewohner der Ufergebiete in den Städten und auf dem Lande. Aber die Kultur der städtereichen Gegenden bietet den Betroffenen doch wenigstens Mittel zur rechtzeitigen Vorsicht und Flucht, gewährt ihnen schnelle Hilfe und Unterstützung. Der Telegraph kündet ihnen schon viele Stunden vorher an, daß ein Steigen des Flusses im Gange, die Zeitung bringt ihnen einen Ueberblick vom Fortschritt der Hochflut, die moderne Technik stellt sich ein mit ihren Hilfs- und Rettungsmitteln und die allgemeinere Bildung ermöglicht deren raschere Verwendung. Da oben aber in den Bergen, wenn ein plötzlicher Temperaturumschlag, ein Gletscherrutsch oder sonst ein elementares Ereigniß im Nu den Gebirgsfluß anschwellen läßt, daß er die wenigen Zeugen einer selbst bis hierher gedrungenen Kultur, die Brücken und Stege, in seiner, mit rasender Wucht von der Höhe ins Thal herabstürzender Flut mit sich fortreißt, die wenigen Stätten menschlicher [72]Ansiedelung unvorhergesehen, wie durch Zauberschlag, dem Untergange nahe bringt, trifft die Hochflut selten nur auf Widerstand. Hier waltet sie rücksichtslos und unbekämpfbar mit der rasenden Laune eines Despoten, dessen Befehle sofort erfüllt werden, dem Niemand zu trotzen wagt. Und der bigotte Geist der Bewohner vieler solcher Thäler würde solchen Trotz nicht nur für vergeblich, sondern auch für freventlich halte. Sie nehmen die Heimsuchung hin wie ein Fatum. Ihr Gedanke an Rettung treibt sie nur zu Handlungen des Aberglaubens, ihre Hoffnung klammert sich an das Wunder. Ich habe einmal in den Bergen eine Nacht ausgestanden, in welcher diese starrgläubige Wundersucht mir sicher das Leben gekostet hätte, wenn nicht das siegreiche Eingreifen der höheren Einsicht, welche die Bildung und Kultur verleiht, mich noch rechtzeitig gerettet hätte.

Es waren wirklich schöne Sommertage, durchwärmt von strahlenden Sonnenschein, durchhaucht von erfrischender Waldesluft, in deren Glanz die Katastrophe wolkenbruchartig hereinbrach, welche durch die Ereignisse der Gegenwart in meinem Gedächtniß aufs neue Leben gewonnen hat. Ein mir innig befreundeter Maler, junges fröhliches Künstlerblut, hatte mit mir von München aus die [73]herrlichen Waldthale und kühlen Seegestade des bayerischen Hochlands durchstreift und mich schließlich beredet, mit ihm »ins Tirol« einen Abstecher zu machen, weil ihm viel daran lag, dort einige der so malerischen, jetzt auch hier immer seltener werdenden altbäuerischen Kostüme mit den in sie hineingehörenden Menschenkindern nach der Natur aufzunehmen. Was er suchte, hatte er bald in dem Hauptort jenes bekannten tirolischen Gebirgsthales gefunden, dessen Töchter allüberall in der Welt bekannt sind als Meisterinnen auf Guitarre und Zither und fröhliche wanderlustige Pflegerinnen des Tiroler Nationalgesangs. Hier fand er nicht nur die erwünschten Kostüme, sondern dazu auch ein in rosiger Jugend blühendes Kind dieses Thales, dessen Stimme beim Singen ebenso hell und herzig erklang wie beim Lachen, ein Modell, wie es sich nur ein Malerherz in meines Freundes Lage wünschen konnte.

Es war recht – schade. Für mich nämlich. Denn mein schönheitsdurstiger Reisekamerad hatte sich bald in den Kopf gesetzt, von diesem Prachtmädel nicht nur eine Skizze für seine Mappe zu erbeuten, sondern ein sorgfältig ausgeführtes Portrait mit heim zu nehmen, und mir blieb nichts übrig, als meine Ausflüge in die romantische Umgebung allein zu unternehmen, während [74]der glückliche Maler sich’s im Haus der Jungfer Resi wohl sein ließ. Es war seinem gemüthlichen Wesen schnell gelungen, das Vertrauen der Mutter und selbst des gestrengen Vaters zu gewinnen und damit auch die Erlaubniß, die Rosa zu konterfeien. Die alten guten Leute schmeichelte es, daß der kunstgewandte Stadtherr so viel Wesens von der Schönheit des Mädchens machte, denn Rosa war der Stolz der ganzen Familie und sie hatten Recht. Ich mußte es selbst gestehen, nachdem ich den Freund einige Mal hinüber in das Haus der ansehnlichen Bauern begleitet, sie war das schönste und feinste Mädchen im ganzen Thal. Aber freilich, das gab meinem jungen »Defregger« noch kein Recht, erstens, mich gänzlich im Stich zu lassen und zweitens gar, sich bis über die Ohren in diese Rosa zu verlieben. Mochte ihm die Welt auch darum rosenfarben erscheinen, meine Stimmung war über dem störenden Intermezzo keineswegs rosig und wäre nicht gerade noch zur rechten Zeit im Gasthof zur »Post« angenehme Gesellschaft eingetroffen, so wäre ich wahrscheinlich sehr bald aufgebrochen und hätte die Rückreise alleine angetreten. Die neuen Ankömmlinge waren ein Ingenieur und seine junge Frau, Landsleute, welche die Vaterstadt mit mir theilten. Die gegenseitigen Beziehungen [75]waren nahe genug, um unsere Begrüßung zu einer herzlichen zu machen. Beide befanden sich auf einer Hochzeitsreise, waren bereits in Venedig gewesen und hatten sich über Meran und den Brenner der Heimat wieder genähert. Hier in den Bergen wollte sich Freund Arnold noch ein wenig »aussteigen«, wie er sagte, denn er war ein passionirter Tourist, während die junge Frau sich in dem kühlen Thale von den heißen Tagen im Süden vor der Heimreise noch in aller Ruhe etwas erholen wollte.

Arnolds waren bereits zwei Tage da. Ich hatte den Tag vorher mit beiden eine größere Partie gemacht und ermüdet davon, gab ich den Plan auf, schon wieder am nächsten Morgen den Ingenieur auf einer beschwerlichen Bergfahrt zu begleiten. Dieser selbst jedoch ließ sich nicht davon abbringen, er empfahl, Abschied nehmend, sein Frauchen meiner besonderen Obhut und ich betrachtete es denn auch als meine Ritterpflicht, für die Unterhaltung der liebenswürdigen Schutzbefohlenen zu sorgen. Die erste Bethätigung derselben war, daß ich meinen Freund Fritz Werner, den Maler, beredete, heute einmal nicht hinüber ins Dorf zu gehen, sondern endlich der schönen Landsmännin und Hausgenossin die gebührende Aufmerksamkeit und Theilnahme hier im Gasthofe [76]zu bezeigen. Dieser letztere lag nämlich am linken Ufer der Ziller, während der Ort selbst am anderen Ufer sich ausbreitete. Die Verbindung vermittelte eine hochgewölbte Brücke, die zwar aus Holz, aber stattlich gebaut und fest gefügt war. Dieselbe war gleich rechts von der »Post« gelegen, von deren Eingang eine große steinerne Treppe zur steinigen Straße und weiter hin zum Flußufer führte, an welchem das klare Gewässer schäumend vorbeischoß. Am Morgen hatten wir noch alle Drei Arnold hinüber begleitet, dessen heutiges Ziel sich auf dem rechten Ufer der Ziller befand. Abends wollte er wieder zurückkommen und die junge Frau hatte sich während des Mittagessens, das wir auf dem herrliche Aussicht gewährenden Balkon des Gasthofes einnahmen, als gar schön ausgemalt, in unserer Begleitung ein gehöriges Stück dem Manne auf der Landstraße drüben entgegen zu gehen. Das Wetter schien diesen Plan nicht durchkreuzen zu wollen, denn der Himmel blieb klar und wolkenfrei, obgleich wir während der Mahlzeit deutlich und wiederholt ein Geräusch vernommen hatten, das genau wie ein entfernter Donner klang. Nachdem wir den Kaffee eingenommen, wobei Werners Skizzenbuch uns reichen Stoff zu heiterer Unterhaltung darbot, zogen wir uns auf unsere [77]Zimmer zurück. Als ich zwei Stunden später aus meiner Lektüre aufschaute und wieder ans Fenster trat, hielt ich es anfangs für einen Irrthum meiner Sinne, daß mir unten das Wasser bedeutend gewachsen und im Laufe beschleunigt erschien. Doch ich hatte recht gesehen. Und mit einer rapiden Schnelligkeit wuchs und wuchs die Flut, daß Abends 8 Uhr das Wasser bereits seine höchste Höhe in diesem Jahrhundert erreicht hatte. An eine Gefahr in dem auf festem steinernen Unterbau sich erhebenden Hotel glaubte zwar noch niemand. Aber schon gab es für mich zu trösten. Die Gattin Arnolds, deren Phantasie den geliebten Mann in tausend Gefahren sah, und die zunächst über die Brücke, durch welche die Fluten dröhnend schossen, ihm entgegeneilen wollte, war außer sich. Das letztere verhinderten ich und der Wirth, der den Zugang absperren ließ. Die Angst der zurückbleibenden Frau war um so trostloser. Und da die Situation noch durchaus nicht die Tragweite der Katastrophe überblicken ließ, war guter Trost theuer. Das wilde Getöse der aus Bergeshöhen herniederrasenden Ziller, in welcher entwurzelte alte Bäume, mächtige Holzklötze, Erdschollen, ja todte Viehkörper trieben, das anhaltende Steigen der Hochflut strafte jede leichtere Auffassung der Sachlage [78]Lügen. Das Bett der Ziller war in unserer nächsten Nähe zwar tief und weit, aber weiter oben standen seine felsigen Ufer dichter beisammen, und das zwischen ihnen eingedrängte Wasser entfaltete nun in dem weiten Raum seine Kraft um so ungestümer. Auch das Dorf am jenseitigen Ufer war im Ganzen hoch und sicher gelegen, dennoch drängte sich auch hier die Flut bereits in einzelne Gehöfte und Straßen. Wie mochte es weiter oben im Gebirge erst aussehen. An eine Flucht aus dem Hotel hatte anfangs niemand gedacht. Auch hatte der Posthalter und Wirth die Sicherheit seines Hauses verbürgen zu können geglaubt. Jetzt lag dasselbe bereits auf einer Insel, ganz von Wasser umgeben. Denn im Rücken des Hauses erhob sich eine Berglehne und zwischen jener und der steinigen Erderhöhung, auf welcher die »Post« sich erhob, hatte sich das anstürmende Wasser Bahn gebrochen, einen neuen Arm bildend.

Es war Abends 9 Uhr. Auf dem Treppenabsatz des Hotels standen Leute mit Fackeln und am jenseitigen Ufer sahen wir Windlichter zwischen den einzelnen Höfen hin- und herhuschen, hier und da auch Pechpfannen glühende Lohe entsenden. Da hörten wir auf dem Altan plötzlich einen kräftigen Juchzerruf aus der Dunkelheit des jenseitigen [79]Ufers herüberschallen. »Mein Mann! … Dem Himmel sei Dank: ja, da ist er,« jauchzte Frau Arnold, die an meiner Seite lehnte und gleich mir bis dahin wortlos dem gewaltigen Schauspiele zugeschaut hatte. Ihr Ohr hatte sich nicht geirrt. Eine männliche Gestalt stand dem Erdhügel zur Linken der Brücke und winkte heftig mit einem weißen Taschentuche uns zu, die ihm das Licht der Fackel erkennbar machte. An seine Herüberkunft war nicht zu denken, an eine Verständigung ebensowenig. Seinen Gesten war nur der Wunsch zu entnehmen, daß seine Frau sich auf ihr Zimmer zurückziehen und zu schlafen versuchen solle. Er selber wandte sich dann, indem er watend die Straße wieder gewann, dem Dorfe zu.

Als ich Arnolds Frau bis zu ihrem Zimmer geleitet hatte und aus dem Corridor auf den Vorplatz des ersten Stockes gelangte, fand ich das ganze Haus in größter Aufregung. Auf meine Frage, was es gäbe, wiesen die bleichen, verstörten Gesichter mehrerer Logirgäste nach unten, wo eben der Postmeister und sein Hausknecht allerhand Kisten und Kasten über den Hausflur nach der Treppe trugen. In dem Hausflur stand das Wasser bereits schuhhoch. In demselben Moment gab es einen furchtbaren Stoß. Ich [80]eilte auf den Altan und prallte zunächst zurück vor dem Höllenlärm des entfesselten Elements, das mit fürchterlicher reißender Geschwindigkeit aus der Dunkelheit der Berge auf die Brücke zustürmte, deren hoher dunkler Bau vom weißen Wogengischt umsprüht war, dessen Schauer im Mondlicht erglänzten. Ganze Dächer, Heustadel, Brückentrümmer und Stege kamen auf der Flut heran, wurden gegen die Brücke geschleudert und dann auch gegen unser Hotel, wenn die schweren Holzstücke in den Wasserarm geriethen, welchen die Hochflut um den Unterbau unseres Hauses herum geleitet hatte. Ein dahersausender Baumstamm war soeben auf diese Weise gegen denselben geschleudert worden, daß das ganze Gebäude in allen seinen Fugen erzitterte, und hatte sich dann quer über das Wasser gelegt. Es war ein unheimlicher Anblick. Ich sah ein, daß die Brücke zum gräßlichen Todfeind des Hauses geworden war, dem sie sonst lange Jahre hindurch ein freundnachbarlicher Kamerad gewesen. Wenn sie nicht selber stürzte und dadurch all dem Getrümmer und Gerümpel, das mit der Flut heranstürmte, eine freie Bahn schuf, war das Haus – diese Ueberzeugung überkam mich mit schaudernder Bestimmtheit – in wenigen Stunden verloren. Das Haus und seine Insassen! Denn an [81]eine Rettung auf die Berglehne war schon längst nicht mehr zu denken. Eben hatte der Posthalter, als ich ins Innere der Hotels wieder zurückkehrte, einen letzten Versuch gemacht. Er und seine Knechte hatten jetzt genug zu thun, mit Stangen und Beilen ein Feststauen der Baumstämme und Erdstücke, welche an das Haus getrieben wurden, zu verhindern. Ich ließ ihn rufen und theilte ihm meine Ansicht über die Brücke mit, traf aber mit meinem Ansinnen, dieselbe unsererseits zu zerstören, auf den härtesten Widerstand. Die Frauen seiner Haushaltung, die dabei standen, betend und weinend, erhoben vollends ein Gezeter, als hätte ich die ärgste Gotteslästerung ausgestoßen… »Was, die Bruck’n! Unsere Bruck’n mit der heiligen Jungfrau woll’ns niederreißen. Das wäre der Rest. – Jesus, Maria und Joseph!«

Jetzt erst besann ich mich, daß in der Mitte der Brücke allerdings ein stattliches Muttergottesbild stand, noch vorhin hatte ich im Mondenschein das vergoldete Scepter glänzen sehen. »Nein Herr«, sagte schließlich nach bedachtsamem Zögern der gutmüthige, aber auch resolute Posthalter, »daraus kann wirklich nichts werden! Sehen Sie – und er führte mich durch die nebengelegene offene Stube an ein Fenster – »sehen Sie dort [82]das heilige Gnadenbild funkeln? Schaun’s, ich hab’ in den entsetzlichen Stunden, die wir heute Abend erlebt haben, als mich Angst und die Hoffnungslosigkeit niederdrücken wollten, schon mehr als einmal an diesem Anblick mir Trost geholt. Grüßt es nicht gnadenreich und verheißend herüber, als ob es sagen wollte: Gebt die Hoffnung nicht auf, ich wache über Euch! Nein, daran rührt hier kein Mensch. Die heilige Jungfrau bittet für uns und der Himmel wird ein Einsehen haben.«

Er gieng und ließ mich allein. Mir aber erschien plötzlich die dunkle Brücke mit ihrem einsamen Heiligenbild wie ein gespenstiger Spuk, den ein feindlicher Dämon zwischen uns und die Rettung geschleudert. Der Tod zeigte mir sein hohles Auge, wohin ich blickte; aus der Wasserflut rauschte mir sein Gruß entgegen; von dem Himmel, aus dessen Gewölk das einfältige Gemüt der Landleute ein Wunder erwartete, klang mir kein Trost. Nur die Zerstörung der Brücke konnte ihn ja gewähren, die trotzig aus der Hochflut emporragte und zäh allen Angriffen des Wassers widerstand. So flatterte meine Hoffnung heimatlos zwischen Himmel und Wasser…

Als ich vom Fenster wieder zurück ins Haus trat und um Fritz Werner zu suchen, meinen [83]Weg ins sogenannte »Herrenzimmer« nahm, fand ich die dort anwesende Gesellschaft ohne allen Halt. Drei junge Studiosen, die beim Beginn der Hochflut noch lustig Skat gespielt hatten, traten bleich und verstört auf mich zu und äußerten sich wie Menschen, welche bereits alle Hoffnungen aufgegeben haben. Sie hatten bis vor kurzem den Hausleuten wacker geholfen, das Haus gegen den Anprall der von der Flut herangetriebenen Trümmer durch Gegenstände aller Art, die man vor das Haus staute, zu schützen. Sogar einen Wagen hatte man aus der durch das Wasser von uns getrennten Remise mit Hülfe von Stricken, die man glücklich um ihn geworfen, vor das Haus gezogen, aber er war nur zu schnell ein Opfer des gewaltigen Andrangs geworden. Ein Glück, daß die »Post« ein festes, ganz und gar aus Stein aufgeführtes Gebäude war, von guter Struktur und tief angelegtem Grundbau. Aber selbst ein solches konnte auf die Dauer einem derartigen Anprall nicht Trotz bieten. Ich theilte den Unglücksgenossen meine Hoffnung mit, daß, wenn die Brücke falle, vor welcher sich die Baumstämme und Erdschollen aufstauten, so daß die Flut aufgehalten und auf uns zugedrängt werde, wir auch erlöst sein würden; aber sie hatten bereits so sehr der Verzweiflung Raum gegeben, daß sie meinem [84]Trost nur wenig Werth beizumessen vermochten. Von dem Aberglauben, welcher der Madonna auf der Brücke Wunderkraft zutrauen wollte, hatten auch sie schon gehört. Sie wiesen dabei auf einen Mönch, der eben das Zimmer betrat, und ohne uns anzusehen, mit gefalteten Händen, leise Gebete murmelnd, dasselbe durchschritt. Noch fassungsloser fand ich die Damen unserer Gesellschaft, welche im Korridor die Frauen des Hauses jammernd und klagend umstanden, ohne daß deren Erzählungen von den Wunderthaten ihrer Brückenheiligen ihnen Trost hätte spenden können.

Am gefaßtesten fand ich die junge Frau Arnold, welche, seit sie ihren Mann in Sicherheit wußte, wie umgewandelt war und mich bat, mich auf den Balkon begleiten zu dürfen. Durch das Brausen und Tosen hörten wir dort vom Dorfe herüber die Sturmglocke läuten. Auf den Dächern der Bauernhäuser gegenüber sahen wir die geängstigten Bewohner mit Laternen, im Dämmerlicht des Mondes dem Schauspiel zuschauen. Als wir so mit Hilfe eines Feldstechers nach den einzelnen Gehöften späheten, ob denn Arnold nirgends zu entdecken sei, hörte ich dicht neben mir einen Seufzer und dann die leise gesprochenen Worte: – »Sie ist es!«… [85]Es war Werner. Er hatte starr und unverwandt hinübergesehen gleich uns, aber nur auf ein einziges Haus den Blick gerichtet, das Haus, in welchem er seine Resi wußte, von der ihn die Flut von Minute zu Minute weiter trennte. Man konnte das Gehöft von hier aus deutlich überblicken. Wir kannten es wohl. Auch Frau Arnold; denn ich hatte es beiden Gatten am Tage vorher gezeigt. Und kaum hatte die bebende Frau ihren Blick auf den stattlichen Zimmerhof gelenkt – Resi’s Vater war ein Zimmermann – als auch ihr ein freudiger Ausruf entfuhr. Zwischen einer Schaar heftig miteinander diskutirender Männer stand dort nicht nur unseres Malers Herzensschatz Resi, sondern auch Arnold, der offenbar sehr heftig in die Bauern hineinsprach. Mich überkam bei diesem Anblick die tröstliche Ahnung, daß dort zwischen jenen Männern über unser Geschick entschieden würde; daß aber das heitere Liebesverhältniß, welches Werner mit seinem herzigen Modell angeknüpft, und das ich so oft schon verwünscht hatte, bei der Lösung des tragischen Konfliktes zum rettenden Faktor wurde, konnte ich freilich nicht ahnen.

Arnold hatte gleich bei seiner verspäteten Ankunft vor der Brücke mit dem Auge des Fachmanns erkannt, daß deren Existenz für das Haus, [86]in welchem er sein holdes Weib in tausend Aengsten sah, bei der ganzen Katastrophe die Hauptgefahr sei. Die Brücke möglichst schnell zu zerstören, was es auch koste, war sofort sein Entschluß, der ihn antrieb, im Dorfe die nöthigen Schritte zu thun, um seinen Zweck zu erreichen. Doch vergeblich wandte er sich an den Schulzen. Der Gemeinde gehöre diese Brücke nur zur Hälfte und an fremdem Gute dürfe er sich nicht vergreifen. Auch würden ihn die Bauern steinigen, wenn er einem so unheiligen Vorhaben seine Unterstützung leihe. Der Pfarrer kam ihm noch ganz anders. Der wies dem »dreisten Gotteslästerer« sofort die Thür. In den Straßen, wo Arnold verschiedene Gruppen von Männern traf, die er für seine Sache zu gewinnen suchte, indem er ihnen Geld bot, fand er denselben Widerstand. Die heilige Madonna auf der Brücke werde sich selbst und auch das bedrohte Haus in der Umgebung zu schützen wissen, war überall der gleiche Bescheid. Voller Verzweiflung war Arnold schon im Begriff, wieder ans Ufer zu eilen und zu sehen, was wenigstens er allein zur Rettung des Hauses da drüben, das sein Liebstes umschloß, unternehmen könne, als er sich auf die Wohnung des Zimmermanns besann, von dem er durch mich gehört hatte, daß er sich Wernern, also einem fremden [87]Maler gegenüber, als ein zugänglicher, menschenfreundlicher Charakter bewährt hatte. Er war ins Haus getreten, hatte aber hier niemanden gefunden als eine Magd, die, an ihrem Rosenkranze Gebete abzählend, ihn auf seine Fragen mit stummem Nicken nach dem Hofe verwies.

Dort traf er den Meister und seine Gesellen mit allerhand Schutzmaßregeln beschäftigt. Gerade als er sich ihm zuwenden wollte, kam eilenden Schrittes, mit Körben beladen, Jungfer Resi auf den Hof und blieb zögernd und verlegen stehen, als sie den städtisch gekleideten Herrn bemerkte.

»Wie geht es drüben in der Post, Herr?« fragte sie plötzlich leise, indem sie ganz auf ihn zutrat.

»Noch wohl leidlich. Aber es ist die höchste Gefahr!« erwiderte er. »Habe wohl die Ehre, Fräulein Resi…, die Freund Werner so glücklich ist, malen zu dürfen?«

»O lassen’s das Geschwätz, lieber Herr. Also ein Freund sind Sie von dem Herrn Werner? Und Sie glauben, es ist Gefahr…?«

»Die größte, wenn niemand hilft!« Und nun setzte er dem Mädchen und dem herzutretenden Meister, den er höflich begrüßte, mit bebendem Eifer [88]auseinander, warum allein die Beseitigung der Brücke die Bewohner der Post vor dem sicheren Verderben retten könne. »Meine Frau ist drüben – drei Wochen sind wir erst verheirathet! Bester Herr, helfen Sie mir retten! Herr Maler Werner ist in Todesgefahr und mit ihm mehr als zwanzig andere Menschen! Kommt, überlegt’s Euch nicht lange, helft mir die Brücke zerstören!«

Inzwischen waren auch mehrere der Gesellen herzugetreten.

»Ja, Vater, helft dem Herren!« unterbrach jetzt Resi, welcher die Thränen über die Wangen liefen, die Stille, die den Worten Arnolds gefolgt war.

»Sei still, Kind! Hier haben wir Männer zu reden. Um den Herrn Werner thut’s mir leid, wie um die anderen. Aber Unglück ist Unglück. Weinst um den Maler, Kind? Freilich der wird uns jetzt fortgeschwemmt, so oder so. Ein freundlicher Herr. Würde gern etwas zu seiner Rettung thun. Aber…« Er hielt inne und schob die Mütze hinters Ohr. »Wenn’s nun mit der Brücke doch nicht recht ausgeht. Auf mich fällt die Verantwortung.«

»Bester Herr! Wer wird so fragen, wenn es gilt zwanzig und mehr Menschenleben zu retten.«

»Ihr kennt unsere Gegend nicht, Herr!« [89]Das mischte sich der Obergesell, ein hochgewachsener trotziger Bursche, ins Gespräch. Derselbe hatte mit Spannung den Verlauf desselben verfolgt und als Resi’s Thränen ihre Neigung für den fremden Maler verriethen, war ein zorniger Blick aus seinen dunklen Augen auf das Mädchen geschossen. Als aber ihr Vater die Meinung aussprach, daß mit der Brücke auch der Maler auf und davon gehen werde, hatte er schlau gelächelt. »Meister,« rief er jetzt, »laßt’s mich mit dem Herrn auf eigene Gefahr wagen. Ihr habt mir’s schon öfters verwiesen, daß ich gegen den Maler drüben aufsässig sei – der Resi wegen –, gelt, ich will’s heut beweisen, daß ich gerne sein Leben rette, wenn er nur dann diesem Hause auch ferne bleibt. Das Stadtvolk taugt nichts bei uns. Fällt die Brücke, so ist’s doch hier sicher mit der Malerei aus. Also, mit Verlaub, Meister!«

Der alte Zimmermann nickte und wandte sich nachdenklich dem Hause zu. Der Obergesell aber rief einige Knechte herbei und führte sie und den Ingenieur nach einem vom Wasser bereits bespülten Fischerschuppen, der zum Zimmerplatz gehörte und welchem sie nun lange Ruderstangen mit Eisenspitzen, mehrere Leitern und allerlei anderes Geräthe für ihr gefährliches Unternehmen [90]entnahmen. Dann verlöschten die Lichter und die Gestalten verschwanden in der Dunkelheit…

Was drüben auf dem Zimmerhof verhandelt worden war, wußten wir auf unserem Standort freilich nicht. Aber der Anblick ihres Mannes, der Gedanke, daß er, der vielbewährte Ingenieur, der schon manchen Brückenbau geleitet und in der Bekämpfung der Wassergewalt seinen Beruf sah, für uns handle, hatte auf Frau Arnold befreiend und Hoffnung erweckend gewirkt. Ich ahnte sein Vorhaben, fand aber in Werner einen Zweifler, der wegen der Theilnahme des Zimmergesellen Ignaz, den er in der Gunst Resi’s verdrängt hatte, sich beunruhigt fühlte. Er hatte sich von seiner Seite keiner Gutthat zu versehen.

Plötzlich schnitt ein furchtbarer Krach von der Brücke her unsere Vermuthungen ab. Ein zweiter, ein dritter folgte und die jenseitige Hälfte der Brücke schob sich erst langsam, dann mit schnellem Ruck in die Flut – eine schwarze, unförmige Masse sauste an uns vorbei den Strom hinunter. Bald sahen wir, wie sich das gefährliche Treibzeug mit dem Hauptzug der Strömung durch die weite klaffende Lücke auf der rechten Seite des Flusses eine bequemere Bahn suchte, als es bei uns finden konnte. Unser Haus war von der Hauptgefahr befreit und durch die stehengebliebene [91]Hälfte nicht mehr gefährdet, sondern geschützt. Wir athmeten erlöst auf und auch die übrigen Bewohner und Gäste der »Post«, welchen zu uns auf den Altan herausgeeilt waren, zeigten sich von freudiger Zuversicht erfüllt, fühlten sich mit uns gerettet. Am meisten aber jubelten die Einheimischen, triumphirend wiesen sie auf die Höhe des Mittelpfeilers der Brücke, der erhalten geblieben war und von welchem herab das Muttergottesbild mit segnend erhobenem Scepter niedergrüßte.

Wir freilich wußten es besser. Und als wir dann von einer erhöhten Stelle des jenseitigen Ufers drei Männer mächtige Fackelbrände freudig schwenken sahen, raunten wir leise in die Finsterniß hinaus: – Heil Euch! Unseren Rettern!


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Erst mehrere Tage später konnten wir unsere Flucht aus dem Haus, in welchem wir nur – nicht durch ein Wunder – sondern durch einen Triumph der geistigen Bildung über frommen Irrwahn, durch eine That treuer Gatten- und edler Menschenliebe, dem Tode entgangen waren, bewerkstelligen. Ueberall unterwegs trafen wir auf die Spuren des grauenvollen Vernichtungswerkes der Hochflut. Im Wirthshaus zu Jenbach, [92]in dem wir Einkehr gehalten, ergriff ich ein kleines Kreisblatt und, darin lesend, fand ich plötzlich eine Notiz von etwa folgendem Wortlaut; »Durch die Gnade und die besondere Fürsorge der Mutter Gottes auf der großen Brücke zu N., welche letztere von der Hochflut nur theilweise zerstört ward, während das heilige Gnadenbild herrlich erhalten blieb, ist das neben derselben stehende Gasthaus zur ›Post‹ vor dem bereits mit Sicherheit erwarteten Untergang bewahrt worden.« Ich las die Stelle vor.

»So entstehen Legenden,« sagte der Ingenieur, »Und doch hätte der Sieg dieses Glaubens an die Wunderkraft des gepriesenen Heiligenbildes uns allen sicher das Leben gekostet, wenn…«

»Wenn Du nicht für uns gedacht und gehandelt hättest, mein Lieber,« unterbrach ihn zärtlich die Frau.

»Nein, nicht so… Wenn sich nicht eine höhere Art der Religion durch mich offenbart hätte, die uns antreibt, den Geist und die Kräfte, die uns verliehen sind, als Werkzeuge des Göttlichen in der Natur dem wilden Wüthen ihrer Elemente zum Besten der Mitwelt entgegenzusetzen.«

Werner sah dabei traurig und wie abwesend vor sich hin. Und Arnold, dies bemerkend, fuhr [93]fort: »Ei, ei! Freund Werner fängt Grillen. Aufgeschaut, Träumer! Ist durch die Hochflut auch Deine Liebe zur schönen Resi zu Wasser geworden, sie wird Dir trotzdem im Gedächtniß haften als ein schöner Sommernachtstraum, rein und klar wie der Himmel. Malerlieb’ im Gebirg thut sonst nicht gut, die Deine hat diesmal uns und vielen wackeren Mitmenschen das Leben gerettet. Ist das kein Ersatz für den Verlust Deiner Resi, die, gesteh’s nur, doch dem ehrlichen Ignaz von der Natur weit eher zubestimmt war, als Dir, Du unruhiger Zugvogel!«

Werner aber schüttelte freundlich lächelnd das lockige Haupt. »Du magst Recht haben! Jetzt aber ergreift mit mir die Gläser und trinkt vom feurigen Veltliner aufs Wohl unserer Retter! Freund Arnold lebe! Und ein Hoch den wackeren Männern, die ihm beim schwierigen Rettungswerk halfen, als wir in jener entsetzlichen Nacht in Todesgefahr schwebten – zwischen Himmel und Wasser!«

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TextGrid Repository (2012). Proelß, Johannes. Prosa und Lyrik. Katastrophen. Zwischen Himmel und Wasser. Zwischen Himmel und Wasser. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-7D3A-2