[137] Zärtlicher Liebesbrief einer alten Frau an einen jungen Menschen.

Mein Herr!


Ich weiß in der That nicht mit Gewißheit zu sagen, wie alt ich eigentlich bin. Nach meinem Taufscheine bin ich etliche und fünfzig Jahre. Ich kann mir aber nicht anders einbildet, als daß sich der Küster verschrieben haben muß. Denn nach meinen Kräften, nach der Begierde, die Welt zu genießen und nach dem Verlangen, Ihnen, mein Herr, zu gefallen – nach allen diesen Umständen zu urteilen, bin ich unmöglich älter als 30, höchstens 36 Jahre. Ich bin auf dem letzten Balle ungemein mit Ihnen zufrieden gewesen. Sie haben bei Ihren 20 Jahren etwas so Gesetztes und Männliches, welches alle meine Aufmerksamkeit verdient. Die andern jungen Herren flatterten um die Mädchen herum, die weder zum Lieben noch zum Tändeln alt genug, und viele zu jung sind, vernünftig mit sich reden zu lassen. Ich werde es ewig nicht vergessen, mit welcher Achtung Sie mir den ganzen Abend hindurch begegneten. Ich war die Erste, die Sie zum Tanze aufforderten, und ich glaube, mich nicht zu irren, wenn ich Sie versichere, daß ich bei aller Ihrer Bescheidenheit die lose Sprache Ihrer Augen verstanden und Ihr ganzes Herz gesehen habe, als Sie mir die Hand zum erstenmale küßten. Fast sind Sie noch ein wenig zu furchtsam. Ich will Ihrer Schüchternheit auf dem halben Wege entgegenkommen. Ich will Ihnen sagen, daß ich Sie liebe. Urteilen Sie, wie jung mein Herz sein muß, da es mit dem Ihrigen einerlei fühlt. Wie glücklich werde ich sein, wenn ich bei einer genaueren Verbindung mit Ihnen mich wegen derjenigen Jahre schadlos halten kann, in denen ich an der Seite eines abgelebten närrischen Mannes ganz trostlos seufzen müssen. Meine Eltern zwangen mich, ihn zu heiraten, weil er Vermögen hatte. Ich konnte ihn aber aller Bemühungen ungeachtet dahin nicht bringen, daß er seines Lebens überdrüssig geworden wäre. Dreißig Jahre, können Sie es wohl glauben? Dreißig Jahre lebte er noch, und nur mir zum Trotz ist er nicht eher als vor 5 Jahren gestorben. Ich bin ganz frei und besitze außer einem zärtlichen Herzen Geld genug, Sie glücklich zu machen. Wollen Sie meine Hand annehmen? Hier ist sie. Es kommt auf Sie an, wie viel Sie verlangen, sich einen Rang zu kaufen und eine anständige Equipage anzuschaffen. Mit wem ich mein Herz teile, mit dem teile ich auch mein Vermögen. Mit [138] der Zeit soll beides ganz Ihre sein. Wären Sie weniger blöde, so würde ich mehr behutsam sein, Ihnen meine Empfindungen zu entdecken. Ihre Liebe ist mir unschätzbar. Wie groß wird das Vergnügen noch alsdann sein, wenn künftig einmal (der Himmel gebe, so spät als möglich!) die Zeiten kommen, die uns bei einem herannahenden Alter nötigen, unsre Liebe in eine ernsthafte Freundschaft zu verwandeln! Ich brenne vor Verlangen, Ihre Entschließung aus Ihrem Munde zu hören. Ich werde auf den Abend zu Hause sein. Wie jugendlich schlägt mein Herz, da ich dieses schreibe! Ich zittere, aber nur vor Vergnügen zittere ich. Wie entzückend wird der Augenblick sein ... Nein, mein Herr, mehr kann ich nicht sagen. Beinahe vergesse ich, daß ich ein Frauenzimmer bin. Mit einem Worte, ich liebe Sie. Pressen Sie mir kein offenherzigeres Bekenntnis ab. Ich liebe Sie und bin ganz

die Ihrige.


* *


Die Menschen sind so sinnreich, daß sie oft ihren größten Thorheiten einen frommen Anstrich zu geben wissen. Bis auf die übereilten Ehen erstreckt sich diese Art der Andacht. Viele heiraten, ohne zu überlegen, ob sie im stande sind, den unentbehrlichen Aufwand zu bestreiten, welchen eine Wirtschaft erfordert. Sie sehen die Not voraus, in die sie sich und die Ihrigen stürzen. Sie können aber der Liebe nicht widerstehen. Und weil sie in andern Handlungen vernünftig genug sind, nichts Unbesonnenes zu unternehmen, so suchen sie sich zu bereden, daß diejenige Thorheit, zu welcher sie sich jetzt anschicken, eine Art von guten Werken sei, wo sie ihr christliches Vertrauen auf die göttliche Vorsorge an den Tag legen und den Himmel sozusagen bei seinem Versprechen festhalten wollen, damit er Anstalt mache, sie zu ernähren. Sie beten, sie beten vielleicht andächtig. Aber auch eine Thorheit, die man mit Gebet anfängt; bleibt dennoch eine Thorheit und zieht oft die unglücklichsten Folgen nach sich ... Wie leicht wird unser Herz, wenn wir jemand finden, dem wir unsere Übereilung schuld geben können. Ein leichtsinniger Thor flucht auf das Schicksal – ein frommer Thor seufzt über den Himmel: beide sind Thoren. Da diese unvorsichtigen Verbindungen nicht ungewöhnliche sind, so werden sich vielleicht Leser finden, welche sich nachstehende zwei Briefe zu nutze machen können.


License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Rabener, Gottlieb Wilhelm. Zärtlicher Liebesbrief einer alten Frau an einen jungen Menschen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-8BA2-7