Franziska Gräfin zu Reventlow
Moment-Aufnahmen

Leben

Die Mutter meines Freundes war Morphinistin. Sie ließ mich einmal zu sich rufen, als es sehr schlecht mit ihr stand.

Es war mitten im Sommer.

Im ganzen Hause eine stille, eingeschlossene Kühle. Alle Fensterläden und Türen ängstlich gegen die Hitze von draußen abgesperrt.

Der alte Haushund lag von Fliegen umsummt auf einer sonnenbeschienenen Treppenstufe und knurrte verschlafen.

Drinnen ging alles auf Zehenspitzen. Jedem leisen Schritt hörte man die Angst vor dem Geräusch an, das die Kranke stören könnte.

Im Salon standen die Möbel still und schlafend umher. Der Flügel war geschlossen und bestaubt, es hatte wohl lange niemand darauf gespielt. Auf dem Tisch verwelkte Blumen in mattgetönten Majolikaschalen. Die Flügeltür nach dem anstoßenden Schlafzimmer stand offen. Es schlug mir daraus etwas entgegen, das an die kalte Atmosphäre einer Leichenhalle erinnerte, oder lag das in meiner Phantasie? Vor den Fenstern da drinnen waren schwere grüne Vorhänge dicht zusammengezogen. Wie durch weite Ferne abgeschwächt drang das Straßengeräusch von unten herauf.

[279] Neben der kranken Mutter, die mit stierem, leidendem Ausdruck in den mattweißen Kissen lag, stand die Tochter mit der Morphiumspritze. Ihr Gesicht war in dem Augenblick fast ebenso fahl wie das der Mutter, aber die eine junge Hand hielt den abgezehrten Arm ruhig und fest, während die andere das Instrument mit dem verwüstenden Lebenselixier handhabte. Dann legte sie den Arm leise wieder unter die Decke zurück, und nun lag die Mutter kaum atmend da, die Augen tief eingesunken wie bei einer Leiche, die schmalen Lippen starr geöffnet.

Als ich wieder auf die Straße kam, konnte ich nicht begreifen, daß der gewohnte Lärm des Lebens wieder um meine Ohren wogte. Ich konnte nicht glauben, daß es lebende Menschen und nicht Leichen waren, die sich an mir vorbeidrängten.

Wozu das alles, wozu ein ganzes Leben? Da oben hatte ich gesehen, was das Ende sein konnte.

Und wenn ich es ihnen erzählte, ob sie dann wohl noch ebenso weiter drängen und hasten würden allen ihren Begierden und Interessen nach.

Vielleicht würden sie mich nur auslachen und sagen: das wissen wir alles schon, oder sie würden sich gar nicht die Zeit nehmen, zuzuhören.

Und ich ging zwischen ihnen umher und konnte das Gefühl nicht wieder loswerden, daß mich der Tod selbst eisig angefaßt hatte da oben in dem dunklen Krankenzimmer, wo er neben dem Bett der Kranken wartete.

Es war so sonderbar, daß um mich her heißer Sommer war. Warum lebte ich noch, warum die anderen, warum lebte denn überhaupt noch etwas!

Mir fiel ein alter Vers ein:


– Dunkle Cypressen –

Die Welt ist gar zu lustig, es wird doch alles vergessen.
[280]

Nachtarbeit

Unten an der Isar ging ich entlang, wo Tag und Nacht an den Kanalisationswerken gearbeitet wird.

Tag und Nacht.

In der Mitte der Straße eine tiefe, lang sich hinziehende Grube, unten tief die Arbeiter, die unermüdlich die Erde emporschaufeln. Man hört nur das Klirren der Spaten und das Hinabrollen der aufgeworfenen Steine.

Gegen Abend haben die Männer da unten noch bei der Arbeit gesungen, jetzt sind sie längst zu müde, aber die Arbeit geht immer weiter. Durch die scharfe Nachtluft rieselt empfindlicher Frostschnee auf alles herab, der beißt auf der Haut und dringt schneidend in die Kleidung ein.

Hier und da hängt eine Laterne mit unruhig flackerndem Licht an einem der hervorstehenden Balken.

Durch die Nacht klingt das Rauschen der Isar und das Ächzen der Dampfmaschine.

Schwarz, blank, kolossal steht sie da. Der mächtige Schlot atmet Rauchwolken aus, durch welche einzelne Funken blitzen und wie Sternschnuppen verschwinden. Hinter der Maschine steht der Heizer. Seine Gestalt ist in schwarzer Silhouette gegen die helle Wand der die Maschine umgebenden Bretterbude abgeschnitten.

Dann und wann fährt er sich mit der Hand über die müden, von Rauch und Hitze brennenden Augen. Nun reißt er die Ofentür auf, flackernder roter Feuerschein fährt über sein Gesicht. Dann rasselt die Schaufel durch die Kohlen und füllt den aufgerissenen Schlund mit neuer Nahrung.

[281] Auf einer Bank im Bretterverschlag sitzt ein zweiter Mann, den Kopf herabgesunken. Er scheint zu schlafen. Der andere steht nach vollbrachter Heizarbeit wieder unbeweglich auf seinem Platz. Nur zuweilen fährt er sich über die Augen, während die Nacht mit unerbittlicher Langsamkeit vorrückt.

Über die Brücke hört man Studenten singen mit rohen berauschten Stimmen. Liebespaare drücken sich am Quai entlang.

Und drüben auf der anderen Seite, wo die neuerbauten hohen Häuser stehen, kommen die Theaterbesucher nach Hause, in Pelzen und hellen Abendmänteln. Einige von ihnen gähnen und reiben sich die Augen. Es war doch recht anstrengend, so lange dazusitzen.

Ein junger Mann und eine Dame unterhalten sich über Sozialismus und über die letzten großen Strikes.

»Sehen Sie, Fräulein, ein interessantes Motiv.«

Der müde Mann an der Maschine fährt sich über die Augen und schüttelt sich zwischen Nachtfrost und Kohlenhitze.

Frühschoppen

Ganz München war salvatortoll. Das berauschende junge Frühlingsbier wirbelte in allen Köpfen.

Im R.R.-Atelier war Salvator-Frühschoppen.

Aus Kisten und »Hockerln« war ein langer Tisch hergerichtet und mit Mal-Kitteln und Schürzen in allen Farben bedeckt. Darauf die steinernen Maßkrüge. Rund umher die mehr oder weniger viel versprechenden Genies der Malschule.

Gerötete Gesichter, heiserer Gesang aus bierbenommenen [282] Kehlen, umgestürzte Krüge, Bierlachen auf Tisch und Fußboden.

Das Gelage dauerte bis in den Nachmittag hinein, dann ging man ins Café.

Die Straße, über die der Zug paarweise ging, lag im hellen Frühlingsnachmittagsschein.

Es war ein junger Norddeutscher darunter, der sich kaum mehr auf den Füßen halten konnte. Seine Augen irrten verschwommen über die Straße und wichen blinzelnd dem Licht aus.

An einer Straßenecke stand sein bester Freund im Gespräch mit einem anderen Herrn. Der Berauschte wollte auf ihn zu und mit ihm reden.

»Kommst du mit ins Café?«

»Nein.«

»Sieht man dich denn später noch?«

Der Angeredete sah ihm fest in die geröteten, unklaren Augen: »Heute nicht«, drehte ihm den Rücken und ging ohne ein weiteres Wort.

Der junge Mann sah ihm nach, wollte ihm nach, aber einer seiner Trinkgenossen zog ihn mit fort.

Der Blick des Freundes hatte ihm die Scham in die Seele hineingebrannt und zugleich den Trotz.

Sein Freund hatte nicht gewußt, daß er seit Wochen gehungert hatte.

[283]

Mein Fenster

Wenn ich morgens aufwache, sehe ich gerade auf mein Fenster. Es steht immer offen, ob mir der Himmel Schnee und Regen bis mitten ins Zimmer hereinwirft oder ob mir die Julisonne hereinsengt.

Gegenüber ist die Kaserne. Das Dach mit seinen vielen Giebeln liegt etwas höher wie meines. In den Giebelfenstern liegt die Morgensonne wie glühendes Kupfer. Ich liege im Bett zwischen Wachen und Schlafen und höre dem Leben da drüben mit halbgeschlossenen Augen zu. Der Tag liegt noch so frisch und unangerührt vor mir.

Vor dem Fenster steht meine Staffelei und wartet auf mich. Ja, dieser Tag soll mir wunderbar werden wie noch keiner. Es soll wirklich alles einmal Gesundheit und Leben sein.

Meine besten Tage sind, wenn es frühmorgens Militärmusik gibt. Da bin ich mit beiden Füßen zugleich aus dem Bett und am Fenster.

Wie die tapferen bunten Jungen da unten aus ihrer Kaserne herausmarschieren in ihren frischen heißen Tag hinein. Und auf der Straße treibt schon alles hin und her.

Ganz leise Morgennebel noch über den entfernteren Dächern. Und aus allen benachbarten Dachluken fahren schlafstruppige Köpfe heraus, die auch die Musik hören wollen.

Dann fange ich an zu arbeiten neben meinem Fenster, und die Luft von draußen fließt mir in Wellen um den Kopf und badet mich immer frischer, und es ist so still hier oben.

[284] Abends, wenn die Arbeit eingeschlafen ist, stehe ich lange am Fenster.

Ja, wo ist mein heller, frischer Tag hingekommen? Er ist doch wieder müde und zerstückelt worden.

– – Schwarzrote Abenddämmerung über der Stadt. Zwei stumpfe Kirchtürme, einige starre Fabrikschornsteine und langgestreckte Dächer steigen in den letzten Schein hinauf.

Die Kaserne liegt dunkel, schwarz und ohne Leben. Nur oben sind einige Fenster erleuchtet, und zuweilen streift der Schatten einer einsamen Wache dahinter vorbei.

Darüber nachtschwarzer Himmel oder Sterne, oder der Mond wirft kalte grüne Schimmer über das dunkle Schieferdach.

Unten auf der Straße grade vor mir brennt eine einsame Laterne.

Manchmal sehe ich rückwärts in mein freundlich lampenhelles Zimmer.

Ich will an nichts denken, aber wenn ich die Gedanken zur einen Tür hinauswerfe, kommen sie zur andern wieder herein.

Grade hier muß ich an manches denken. Ich bin so tiefeinsam hier oben.

Wo sind meine Genossen geblieben? Früher kamen sie jeden Abend unter mein Fenster, und unser vertrauter Signalpfiff klang zu mir herauf.

Wie ich auf den Ton wartete, und wenn ich ihn hörte, dann war ich unten, meine vier Stiegen hinunter wie der Blitz.

Und dann waren wir bis in die tiefe Nacht zusammen.

Wie wir damals jung waren und begeistert. Die ganze Kunst und das ganze Leben, das hatten wir alles, gehörte alles uns. Und wir waren gute Brüder und teilten uns in alles.

[285] Wo ist die Zeit hingekommen – und alles ist mit ihr gegangen.

Zuweilen denke ich, sie müßten wiederkommen, und ich müßte noch einmal wieder unsern Pfiff hören.

Aber es ist vorbei – und ich bin alleine.


Notes
Erstdruck in: Husumer Nachrichten, 10. Dezember 1894.
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TextGrid Repository (2012). Reventlow, Franziska Gräfin zu. Moment-Aufnahmen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-8F45-E