Ludwig Rubiner
Dichter Voltaire

[241] Unübersehbare Arbeitsleistung eines Menschen, der von seinem sechzehnten bis zu seinem vierundachtzigsten Lebensjahr mit jeder Schrift den Rhythmus des Tageskampfes beflügelter schwingen machen lassen wollte. – Dies deutet auf das ungeheure Opfer, das Voltaire sein Leben lang mit seinem geistigen Wesen gebracht hat. Der große Schriftsteller, der seine Fähigkeit hingibt, um den vergänglichen Moment zu retten und zu vermenschlichen; der Gelehrte, der sich dem Haß der Fachkreise aussetzt, um ihre Wissenschaft durch seine Kunst allen Menschen zugänglich zu machen; dieser Geistige, der unter »Geist« kein schützendes Reservat seiner Person versteht, sondern die Verpflichtung, seine Erkenntnis den Empfindungen und der Vernunft aller verständlich zu machen: Das ist die Gestalt der höchsten Güte!

Eine neue Heiligkeit, die erst unsere Epoche wird zu verehren verstehen, liegt darin, daß eine begnadete Seele beinahe siebenzig Jahre der unglaublichsten Schöpfertätigkeit eines Menschenlebens durch alle Gebiete der Sprache hindurchtreibt, um endlich als Denker und Politiker seinem Jahrhundert die Waffen der Polemik zur geistigen Befreiung hinwerfen zu können.

Voltaire hätte den Platz als Schöpfer einer neuen Literatur, die ganz in die Zukunft weist, abgelehnt. Er bedarf der alten, verbrauchten, unwerten Produktion seiner Zeit, um sich in ihr einzugraben, tief über ihre Wurzeln hinauszukommen und überraschend zu Gründen des Menschentums vorzudringen. Voltaire bietet das hinreißende Schauspiel, wie ein politischer Polemiker zum Dichter wird.

Der Blick auf irgendeinen der begabteren Romanschriftsteller jener Epoche, die im Zeitstile schrieben, den Voltaire annahm, macht die ungeheure Höhe Voltaires deutlich. Der Roman der Zeitgenossen ist unterhaltend. Der Roman Voltaires – in derselben Sprache, im gleichen Rosalicht und [241] in ähnlichen Situationen – ist aufwühlend. Dieser Unterschied liegt auf ethischem Gebiet.

Die Romane Voltaires hat ein Rebell geschrieben. Ein Rebell, kein Revolutionär. Einer, der nie eine Gemeinschaft sah, mit der er sich zum Sturze des Gehaßten und zu einem Neubau der Zukunft hätte verbinden können; der stets auf das Vertrauen zu sich allein gewiesen wurde. Ein Rebell, der nie das Ziel seiner Rebellion verwirklicht sah, der in aller Geselligkeit mit seinem Empörertum ganz einsam blieb – so einsam, daß er von den Zeitgenossen als geistreichster, boshafter Unterhalter genommen wurde –, während er das Bewußtsein der Zukunft vorbereitete: ein Auflockerer der Gesellschaft. Inmitten der Mißverständnisse um ihn (mit denen sich die Gesellschaft instinktiv gegen den Angreifer verteidigte, der sie am gefährlichsten von innen her bedrohte) war dieser Rebell Voltaire so einsam, daß er nicht einmal entmutigt werden konnte: Er hat sogar die Resignation zur Atmosphäre und zum innern Thema seiner Erzählungen gemacht, um schnell und strömend über sie hinwegzueilen, weil er nie sein Ziel vergaß. Und dies ist die größte Kunst Voltaires, nie das Ziel seines Erzählens und Erfindens, auch bei den kühnsten Phantasiebögen, den geschnörkeltesten Abschweifungen zu verlassen. Dieses Ziel ist stets ideenhaft: Aufruhr gegen die Dummheit der Gesellschaft, Empörung gegen die Ungerechtigkeit, Kampf gegen den Zwang, die Gewalt, die Sklaverei, die Bedrückung der Autorität. Zwei Willensströme fließen in seiner Person zusammen: unaufhörliches, unruhiges Drängen dieses kleinen, dürren, trockenknochigen Leibes nach aufrüttelnder Berührung mit Menschen, und die Begierde nach Durchsetzung seines geistigen Ziels unter den Menschen. Das gibt die Gestalt des Rebellen. Und als Grundhebel zur Rebellion der Welt, als letzter Sprengstoff des Geistes, den ihm seine Zeit bietet, dient ihm eine Formel, die tatsächlich in jenen Generationen an der Zerstörung einer alten Gesellschaft und am Anwurzeln eines neuen Menschenstammes arbeitete, die Formel: Verstand. Der Verstand ist die Entdeckung eines Jahrhunderts; Voltaire ist der Kopernikus dieses neuen Weltsystems vom Denken. Ein solcher Mann würde in einem andern Jahrhundert der Rebellionsheld einer anderen geistigen Zeitentdeckung [242] geworden sein: Er hätte zur Zeit des Athens der Perserkriege sokratische Erkenntnis gelehrt; im Römertum eines Nero wäre er ein Sprecher der urchristlichen Idee gewesen, in unsern Tagen hätte er das einfache Leben und den staatlosen Antimilitarismus Tolstois verteidigt. Dabei stand er zwischen zwei Zeitaltern, und das spricht aus allen Zügen seines Lebens: Es war eine Rebellion in höchstem Luxus. Wenn er die Gesellschaft seiner Zeit auflockern will, braucht er sie. Wenn er die Autorität vernichten will, muß er von ihr anerkannt sein. Wenn er von Herrschern, die er bekämpft, und von der Gesellschaft, die er verachtet, als Gegner ihresgleichen behandelt sein will, wenn er frei sein will, muß er bewegungsfrei sein, reich sein. Wie ein Abenteurer nimmt er sein adeliges Pseudonym an; wie ein Wucherer treibt er Börsenspekulationen und scharrt ein Vermögen zusammen. Ein Mensch, der sein Leben ein Jahrzehnt vor dem großen gesellschaftlichen Umsturz seines Jahrhunderts beschloß, der die Französische Revolution als Tatsache nicht mehr erlebte und mit einem ungeheuerlichen Glauben an seine Kraft alle Umwälzung menschlicher Verhältnisse auf seine eigene Wucht und auf seine eigene Person gestellt sehen mußte!

Diese Person des Rebellen Voltaire verfügt über ein unerschöpfliches, unvergängliches und zeitloses Rebellionsmittel: eine unermeßliche, ewig neue Unbefangenheit. Der Verstand ist die zeitliche Form, mit der Voltaire sein Sprengmittel in die Spalten der Gesellschaft legt. Die Verstandesphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts gab Voltaire ein ganzes Arsenal von Argumenten gegen seine Gesellschaft; Argumente, die gerade jener Gesellschaft neu und überzeugend waren, oft überzeugend durch ihre scheinbare Neuheit: Da ist die »Tugend« als Ideal, diese »vertu«, die zwischen der »virtù«, der universellen Persönlichkeitskraft der Renaissance, und der »respectability« des englischen Puritanismus die Mitte hält. Dann die neue Überzeugung von der nur relativen Wahrheit des menschlichen Glaubens und von der absoluten Wahrheit des Denkens. Ein neuer Horizont der Welt wird entdeckt mit der Einstellung zum Menschen als einem kleinen unwichtigen Wesen gegenüber den erhabenen und ewigen Vorgängen im Kosmos – dennoch wiederum groß und wichtig genug, [243] als daß dieses geringe Wesen Mensch jene erhabenen Wege des Universums nicht durch die neuen Erkenntnisse seiner Astronomie berechnen könnte. Und zuletzt ist da der verheimlichte, halb resigniert verzweifelt zugestandene Gottesglauben des Dixhuitiême-Rationalismus, der Deismus, der einen Gott-Schöpfer annimmt, weil er, halb gefühlsmäßig, halb mechanistisch das Universum als gewaltiges Uhrwerk ansieht, das eines ersten Anstoßes bedurfte; weil er nach einem »Zweck« des Geschehens fragt – und die Antwort dieser Frage weiß, oder die Verzweiflung antworten läßt; zuletzt wieder die große, kraftvolle Naivität: Wenn man mit dieser Ungewissen Annahme Gottes die Menschen zur Freiheit bringen könne, dann sei sie richtig, wenn sie zur Unterdrückung diene, falsch! –

Auch dieses unablässige Hin und Her der Überzeugungen, die stete Skepsis, ist für Voltaire noch eine neue gewaltige Hilfe zur Rebellion. Skepsis, verstärkt von seiner mächtigen, persönlichen Vitalität, die ihn gelegentlich auch an der Realität von feierlichsten Begriffen der Verstandeslehre selbst zweifeln läßt. In Voltaire wird die Skepsis nicht zur Müdigkeit – in ihm setzt sie die Bewegung des Blutes neu um; selbst die Skepsis verwandelt sich in ihm zu neuer, rebellierender Unbefangenheit.


Eine Idee wirkt in seinen Werken, derentwillen er Hunderte von Szenerien, Begebnissen, merkwürdigen Verknotungen und sonderbaren Schicksalen erfunden hat. Jene Idee, deren unvergessener und gewaltiger Vorkämpfer Voltaire heißt: die Idee der Toleranz. Die »Toleranz« ist für das achtzehnte Jahrhundert eine geradezu neue Weltkugel des Gefühls, eine Welt, die Verständnis des Fremden, Mitgefühl mit dem Unterdrückten und weit mehr als nur Duldsamkeit einschloß; wir müßten, um in unserer Sprache von ihr zu reden, sie einen menschengütigen Internationalismus nennen. – Der Kampf gegen die Intoleranz macht jede Zeile Voltaires muskulös. Das Ziel der Toleranzidee beherrscht die Führung jedes seiner Werke. Zum Ruhme der Toleranz ist er bereit, in dem einen Roman nachzuweisen, daß die Welt ein elendes, wirres Chaos sei, aus dem man sich nur in vergessenbringende Arbeit retten könne; in einem andern Roman zu zeigen, daß die Welt, [244] wie sie ist, ganz erträglich sei, wenn man nur jeden auf seinem Platz lasse. Und dieser seltsame Standpunkt eines Kämpfers auf beiden Seiten ist nicht, wie er unter Gebrauch der wörtlich selben Begriffe es heute wäre, die Äußerung einer platten Vorteilssucht, sondern Zeichen leidenschaftlicher Güte. Weit von aller günstigen Bequemheit spürt Voltaires Leidenschaft noch in seinen Widersprüchen seine umwühlende Idee auf. Er ist unermüdlich im Erfinden ungeheuerlicher Situationen, die zeigen, mit welcher Grausamkeit Menschen einander vernichten, nur um verschiedener theoretischer Meinungen willen. Im achtzehnten Jahrhundert ist er der europäische Ankläger und Kämpfer gegen alle Ideologien des Staates, der Kirche, der Schulen, der Parteien, welche die Kriegsstacheln der Menschheit bilden. Er ist der erste herzensgroße Gegner des Krieges, den die neue Zeit hervorstieß; unendlich mutig: der redet nicht im augenzwinkernd unverbindlichen Rotwelsch des Gelehrtenfachs oder der Schreibtischaristokratie, sondern er springt auf eine Welttribüne, die er selbst sich bauen mußte, und schreit zu allen Ohren, allen Köpfen, allen Seelen. Er sieht jede Brutalität, jede Grausamkeit, jede Ausbeutung, die die Gesellschaft gegen die Wehrlosen organisiert. Er deckt sie auf mit dem Gelächter seiner fürchterlichen, verwunderten Unbefangenheit, die niemals begreifen wird, daß Glaubenskriege, Meinungskriege, Wirtschaftskriege und ihre Folge, die Sklaverei, überhaupt möglich sind; mit einem Gelächter des Unverständnisses über Ideale, denen die. Gesellschaft scheinbar folgt, um unter ihren Fahnen um so ungestörter sich zerfleischen zu können, Kirchenlehre, Vornehmheit, Besitz, Familienehre – und die er alle als schnell preisgegebene Fiktionen erweist für den Fall, daß das wirkliche Gut des Menschen bedroht ist, das Leben. Voltaires umfassendste, unmittelbarste und am persönlichsten durchlebte Idee, die Toleranz, wird zuletzt auch selbst nur ein Mittel zu seinem größten, nicht mehr in Begriffsworten ausgesprochenen, aber überall gestaltet durchgeführten Ziel: der Verteidigung des Lebens, der Rettung des Lebens, dem Preis des Lebens. Und das Leben, das einfache, wirkliche, kleine, doch so wundersame Weiterleben auf dieser Erde erscheint schließlich als der eigentliche Sinn seiner Werke, ihm selbst unermeßlich viel wertvoller [245] als sogar sein eigenes Recht- oder Unrechtbehalten; es ist das Gut, zu dessen kämpferisch mildem Verteidiger ihn das Schicksal hinanwachsen ließ.

Da ist die Tendenz Voltaires. Seine Werke sind Tendenzwerke. Er ist der erste und gütigste Tendenzdichter der neuen Zeit. Seine Tendenz, das Leben, drückt er in einer Mannigfaltigkeit aus, in einer Erfindungsfülle, in einer rapid eilenden Dichtigkeit der Spannung, wie jemand, der die Aufgabe vor sich sieht, in den Jahren eines einzigen Menschenlebens das ungeheure und phantastische Bild des Schöpfers dieses Lebens (an den er glaubt!) noch einmal im kleinen den Menschen, ihnen verständlich und ganz aus der Nähe zu zeigen. Er hat, der große Tendenzdichter, gar keine Zeit, seine Figuren und deren Leben zu individualisieren. Glück, Liebe, Unglück, Rettung – alles spielt sich in den an sich irgendwie gleichgültigen Formen des Lebens ab, in ewiger Wiederholung der Grundzüge und neu nur durch den Wechsel von Sitte und Kleidung. Alle Frauen sehen sich gleich, alle Männer sehen sich gleich, und ihre Antriebe sind sich gleich. Überflüssig wäre es, aufhaltend im Strome der Ereignisse, bei dem einen Begebnis intensiver zu verweilen als auf einem andern. Szenen, die durch elementare Ausbrüche etwa die besondere Bedeutung, die Merkwürdigkeit, die Stärke einer Beziehung darstellen könnten, fehlen in diesen großen Tendenzwerken vollständig. Die Musik fehlt. Aber eine höhere Fügung universeller Harmonie umschwebt dieses Werk: die neue Erdballpolitik der Menschlichkeit.

Das ganze Leben der Erdkugel wird von Voltaire stets als gemeinsam empfunden, immer zusammen gesehen. Nichts läge ihm ferner, als die große Gemeinsamkeit, die die Lebensformen aller auf der Erde ausmacht, zu stören, sie durch Verweilen bei Individuen zu durchstoßen. Nichts läge seinem großen Ziele ferner, als in Durchstoßung der mächtigen, ihm stets gegenwärtigen Lebensform Wirkungen zu erreichen, die wir, mit neuzeitiger Literatursprache, »tief« nennen würden. Er hat keine Tiefe. Er braucht keine Tiefe. Seine Werke sind Oberfläche. Oberfläche, gebildet von den unzähligen Spitzen einzelner Leben, die er aus der gewaltigen Lebensflut, die die Erde umströmt, uns erblicken läßt. Diese letzte Rettung des Lebens, diese [246] äußerste Oberfläche, ist die Größe und die Heiligkeit Voltaires. Nur eins reißt ihn immer wieder zum Einhalten hin, zum unmittelbaren Ausdruck seelischer Vorgänge und zum dichterisch-persönlichen Lyrismus: das Geistigste alles uns wahrnehmbaren Weltgeschehens, das Kosmische. Voltaires unmittelbares Aussprechen des Gefühls beginnt bei der Astronomie. In diesem Reich der Abstraktion und der Ewigkeit umschlingen sich die Wurzeln seiner erdverbundenen und seiner himmlischen Seele, und aus ihrer beiden Umschlingung kommt der neue, der ethische Mensch. Voltaire wird zur Gestalt des großen Menschenänderers, des universellen Politikers im hohen Menschensinne Platos. Der kosmisch fühlende Mensch ist an die ganze Welt gebunden, Mensch, der sich dieser Welt verantwortlich fühlt, der ethische Mensch. Dieser kosmisch-politische Mensch, der das innere Bild der Person Voltaires ist, wurde in der geistigen Tat seiner Arbeit, in dem schöpferischen Wirken seines öffentlichen Lebens zum Repräsentanten des stärksten Lebensgefühls seines Jahrhunderts: zum Kosmopoliten. Und hier wird der Schriftsteller weiter und größer, als es sein Individuum und seine Person ist. Der Kosmopolit ging zur ganzen Menschheit. Es gab für ihn keine Sprachgrenzen mehr, keine Ideenschranken, keine Völkerbarrieren, keine Rassenscheidungen – nur noch den Menschen. In dieser neuen und so leidenschaftlich erfühlten Erkenntnis lag seine neue Unbefangenheit. Nur einen Blick brauchte sie auf den alten Ablauf der wimmelnden Untertanen-und Sklavenwelt zu tun, um ein Erzittern hervorzurufen, den unbefangenen Blick des Rebellen. In diesem neuen Blick auf die Menschheit schimmert schon ein Horizont, der in seinem Ausschwingen mit an der Gestalt der folgenden Zeit zeichnete und dessen weitschweifender Bogen auch unsere Tage noch berührt. Voltaire, der Einsame, der Rebell, brachte der Menschheit als Tat seine Idee: Damit sie wieder Tat werde, Erhebung zu neuem Erddasein, Gemeinschaft.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Rubiner, Ludwig. Schriften. Dichter Voltaire. Dichter Voltaire. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-9EEE-A