Johanna Schopenhauer
Gabriele
Ein Roman in drei Theilen

[Motto]

[3] Du standest an dem Eingang in die Welt,

Die ich betrat mit klösterlichem Zagen,

Sie war von tausend Sonnen aufgehellt,

Ein guter Engel schienst du hingestellt,

Mich aus der Kindheit fabelhaften Tagen

Schnell auf des Lebens Gipfel hinzutragen,

Mein erst Empfinden war des Himmels Glück,

In dein Herz fiel mein erster Blick.

Schiller.

[3][5]

Erster Theil

Meinen

lieben und treuen Freundinnen

der verwittweten Oberkammerherrin


Karoline Freifrau

von und zu Egloffstein,

geb. Freyin von Aufseeß,
Henrietten von Pogwisch,
geb. Gräfin Henkel von Donnersmark,
Hofdame Ihro Königl. Hoheit der Frau Großherzogin
Luise zu Sachsen-Weimar-Eisenach etc. etc.
und
Karolinen Gräfin Egloffstein,
Hofdame Ihro Kaiserl. Hoheit, der Frau Großfürstin
Maria Pawlowna von Rußland, vermählten Erbgroßherzogin zu
Sachsen-Weimar-Eisenach etc. etc.

zur Erinnerung an froh und traurig,
aber immer in treuer Liebe durchlebte Tage
freundlich gewidmet
von
der Verfasserin.
[5]

Vorwort

Der freundliche Empfang, welcher den Beschreibungen meiner Reisen durch mancherlei Städte und Länder wiederfuhr, munterte mich auf, auch mit einigen Ansichten hervorzutreten, die ich auf der großen Reise durch das Leben sammlete.

Jene Reisebeschreibungen sind Abbildungen nach der Natur, mit möglichster Wahrheit wiedergegeben, wie ich sie auffaßte. Ich möchte sie Landschaftsgemälde nennen, auf denen ich mich bemühte, jeden treu kopirten Gegenstand genau an den Platz hinzustellen, wo er in der Wirklichkeit sich befindet, indem ich mich wohl hüthete, den Regeln der Gruppirung oder dem Zauber des Effekts das kleinste Opfer zu bringen. Diese Blätter hingegen bieten willkührliche Zusammensetzungen einzelner Studien nach Gegenständen, wie sie mir auf dem Lebenswege begegneten, die ich nach Gefallen trennte und vereinte, so daß oft zu einer meiner Figuren mehrere Individuen und Oertlichkeiten beitragen mußten. Obgleich diesem nach keine einzige derselben [6] ein Portrait im strengen Sinne genannt werden darf, so würde es mich doch freuen, wenn jede einzelne für ein solches gehalten würde. Denn so wäre mir gelungen, wonach jeder Historienmaler streben muß, und was unser großer Meister durch Wahrheit und Dichtung so treffend bezeichnet.

Uebrigens fühle ich mich in meinem Gewissen verpflichtet, zu bekennen, daß mir die Gabe des Gesanges vom Himmel versagt ward und daß daher die in diesem Buche enthaltnen Gedichte nicht von mir sind. Ich danke sie einem Freunde, den ich gern von der Welt nenne. Friedrich von Gert stenbergk, von dem wir schon so manches schöne Lied, so manche zarte Dichtung mit Dank und Freude empfingen, der Verfasser der »kaledonischen Erzählungen« und der »Phalänen« steuerte meine Gabriele mit diesem Schmucke aus.


Geschrieben zu Weimar am ersten Pfingstfeiertage 1819.

Johanna Schopenhauer.

[7]

[1] »Niemand liebt seine Freunde inniger als ich, mein Leben gäbe ich willig für sie hin, aber Unmöglichkeiten darf mir niemand zumuthen.« Mit diesen Worten verließ Gräfin Eugenia ziemlich erhitzt den Salon der Gräfin Rosenberg, in welchem die Hauptprobe einer für den folgenden Abend bestimmten Darstellung von Tableaus so eben gehalten ward, und rauschte mit einer leichten Verbeugung an der eintretenden Aurelia vorüber. Flammend vor Zorn, blieb die Gräfin Rosenberg auf ihrem königlichen Throne sitzen. Ein reichgestickter Baldachin erhob sich über ihrem Haupte, ein Purpurmantel umwallte in weiten Falten ihre majestätische Gestalt, in ihrem schwarzen Haare funkelte ein Diadem von Brillanten, und ihre Hand hielt das goldne Zepter. Vor ihr [1] stand ein mit reichen Teppichen und Prachtvasen geschmückter Tisch, um sie her waren mehrere Herren und Damen in altrömischer und ägyptischer Kleidung eifrig, aber fruchtlos, bemüht, sie zu beruhigen. Die Scene gieng in einer alkovenartigen, von einem großen goldnen Rahmen umfaßten Vertiefung der Zimmerwand vor, gerade der Thüre gegenüber, verborgne Lampen gossen einen magischen Strom von Licht über sie aus, im Zimmer selbst herrschte tiefe Dämmerung, doch verrieth ein leises Flüstern und Rauschen die Gegenwart mehrerer Personen.

Sprachlos vor Erstaunen über das ihr unbegreifliche, plötzlich hereingebrochne Unheil, blieb Aurelia, die Tochter der Gräfin, in der eben geöffneten Thüre stehen; hinter ihr schmiegte sich furchtsam die sechzehnjährige Gabriele, welche in diesem Moment aus der tiefsten Einsamkeit eines alten Bergschlosses angelangt war, um einige Monate im hause ihrer Tante zuzubringen. Aurelia, ihre Kusine, hatte sie mit der Versichrung empfangen, daß sie zum Glücke heute ganz unter sich wären; und nun stand sie da, einen[2] freundlichen Empfang erwartend, und wußte bei dem wunderbaren Anblick, der sich ihr darbot, nicht, ob sie wache oder träume.

»Thue mir die Liebe,« rief die Gräfin Aurelien entgegen, so wie sie ihrer ansichtig ward, »thue mir die einzige Liebe, und werde morgen krank, bleib den ganzen Tag im Bette; ich lasse früh alles absagen, mit der Feier deines Geburtstages ist es vorbei, wir haben weder Konzert, noch Ball, noch Tableaus; Eugeniens prätentiöser Eigensinn vernichtet alles. Mit ihrer winzig-kleinen Figur besteht sie darauf, an meiner Stelle die Kleopatra vorzustellen, und da ich ihr beweise, wie unmöglich dieß sey und ihr die Rolle der Dienerin, welche das Schmuckkästchen trägt, zutheile, eilt sie davon und derangirt mir den ganzen Plan.« »Könnten wir nicht die Dienerin ganz weglassen?« stammelte furchtsam ein junger Mann in römischer Tracht, welcher wahrscheinlich den Antonius vorstellte. »Unmöglich,« erwiederte Kleopatra, »wo soll ich die köstliche Perle hernehmen, wenn das Schmuckkästchen fehlt? und überdies ist die Figur unumgänglich [3] nothwendig zur Gruppirung des Ganzen. Es ist vorbei,« fuhr sie fort, indem sie sich in höchst unmuthiger Stellung auf ihrem Throne zurück warf! »Eugenia macht heute Abend und morgen früh gewiß noch funfzig Visiten, um ihren Triumph zu sichern. Keine Dame wird an die Stelle treten, welche sie verschmähte, und alle Welt ist doch schon von der Darstellung unsrer morgenden Tableaus voll. Ottokar beschleunigt seine Zurückkunft von der Reise, um sie zu sehen, er trifft morgen ein, und nun ist alles zerstört! Ich könnte vor Verdruß weinen,« setzte sie hinzu, das Gesicht in beide Hände verbergend.

Aurelia benutzte diese Pause in der heftigen Rede ihrer Mutter, um Gabrielens Ankunft zu melden. »Laß die Kusine von Aarheim an Eugeniens Stelle treten,« rieth sie, indem sie das bange Kind hinter sich hervor zog und vor den Rahmen hinstellte. »Die Kleine?« fragte die Gräfin, sich emporrichtend und Gabrielen von oben bis unten mit prüfendem Blicke betrachtend. »Nun,« fuhr sie fort, »stehen wird sie ja können; nöthigen [4] Falls stellen wir sie auf eine Erhöhung. Willkommen, liebes Kind!« Mit diesen Worten zog sie Gabrielen zu sich in den Rahmen, küßte sie auf die Stirn, gab ihr ein goldnes Kästchen in die Hand, stellte sie in die gehörige Attitüde und schob sie an den von der Gräfin Eugenia verlaßnen Platz, indem sie selbst wieder ihren Thron einnahm. Alle andere, zur Gruppe gehörende Personen reihten sich im nämlichen Moment in gebührender Ordnung um sie her.

»Es geht!« rief hocherfreut die ganze Gesellschaft im Zimmer. »Aber,« setzte lachend Aurelia hinzu, »deliziös sieht es jetzt aus, das blasse Gesicht, die rothen Augen und das schwarze Kleid mitten in all der bunten Pracht und Herrlichkeit; doch sey nur getrost, Gabriele, morgen soll es besser werden, Wind und Staub haben dir heut auf der Reise übel mitgespielt, das ist morgen vorüber und ich will dich schon kostümiren.« Die arme Gabriele, welche bei allen diesen Vorgängen noch kein Wort hatte aufbringen können, flüsterte jetzt, halb nur hörbar und in großer Beklommenheit, die Frage: was sie denn eigentlich [5] morgen thun solle? »Was du heute thust,« war die kurze Antwort, »hier einige Minuten stehen und das Kästchen halten.« »In dem tiefen Traueranzug?« wandte Gabriele zur großen Belustigung der Uebrigen ein. Kaum konnte Aurelia vor Lachen dazu kommen, ihr zu bedeuten, daß sie morgen ohnehin auf einen Tag die Trauer ablegen müßte.

Gabrieleblickte sehr ernst um sich her. »Wie?« sprach sie, »die Trauer um meine Mutter ablegen, ehe die Zeit verflossen ist, während welcher die Sitte mir erlaubt, dieses Zeichen meines Schmerzes zu tragen? Nein, gnädige Tante! Das befehlen Sie mir nicht,« setzte sie mit fester Stimme hinzu, obgleich dabei zwei große Thränen, die schon lange in ihren dunkeln Augen geschimmert hatten, über ihre jetzt hochroth erglühenden Wangen herab rollten. »Nur zwei Monate sind es, seit meine Mutter begraben ward; wie könnte ich ihr Andenken nur Eine Stunde verleugnen! Ich kann es nicht, ich werde es nicht, ich will es nicht,« sprach sie höchst entschieden, und hob dabei, dennoch wie flehend, [6] ihre kleinen zarten Händchen empor. Die Gräfin und Aurelia schwiegen eine Weile vor Erstaunen über Gabrielens plötzlichen Muth, ehe sie begonnen auf das arme Mädchen heftig einzustürmen. Gabriele mußte verstummen, ängstlich blickte sie, wie Beistand suchend, um sich her, und erschrak dennoch nicht wenig, als ihr dieser höchst unerwarteter Weise zu Theil ward.

Aus dem dunkelsten Winkel des Zimmers, dicht neben dem Rahmen, erscholl mitten durch den Streit eine männliche Stimme: »Ich vereinige meine Bitte mit der des jungen Fräuleins; mir dünkt wahrlich, sie hat nicht ganz Unrecht.« »Ottokar!« rief Aurelia; »willkommen, so viel früher als wir es erwarteten,« die Gräfin. Aller Zwiespalt ward augenblicklich beseitigt, und die ganze Gesellschaft drängte sich freudig um den unbemerkt Hereingetretenen her. Gabriele taumelte fast in freudiger Ueberraschung, sie schlug die Augen nicht auf, sie wagte keinen Blick auf ihren Fürsprecher, aber sie wußte dennoch, wer er sey.

Jedermann beeiferte sich nun um die Wette, Eugeniens unverantwortliches Benehmen mit allen [7] seinen entsetzlichen Folgen dem eben Angekommenen auf das weitläuftigste auseinanderzusetzen. Er hörte alle gelassen an und schlug dann an der Stelle der Dienerin einen Edelknaben vor, deren er am folgenden Tage wenigstens ein Dutzend zur Auswahl in aller Frühe zu stellen versprach. Dieser Ausweg war niemanden von der Gesellschaft eingefallen, und die Idee ward mit dem allgemeinsten Beifall ergriffen.

Kleopatra verließ beruhigt ihren Königssitz, den ein herabrollender seidner Vorhang verhüllte, Römer und Aegypter begaben sich in die Nebenzimmer, um als moderne Herren und Damen wiederzukehren, die Lichter im Saal wurden angezündet, der Theetisch hereingebracht, und alles ordnete sich in friedlicher Eintracht um ihn her.

Die Gesellschaft bestand größtentheils aus dem engen Ausschusse der Bekannten der Gräfin, aus sogenannten Hausfreunden, die sich an freien Abenden gewöhnlich bei ihr versammelten; das Gespräch wogte rasch und lebendig, nur Gabriele blieb stumm. Niemand achtete sonderlich auf sie, denn ihr erstes auffallendes Erscheinen war über [8] Ottokars unerwarteten Eintritt gänzlich vergessen. Desto mehr Zeit gewann sie, fürs erste Athem zu schöpfen, und dann die neue Welt, in die sie versetzt war, zu betrachten. Zum erstenmal in ihrem Leben befand sie sich unter so vielen, ihr gänzlich fremden Gestalten, und das Gefühl, daß auch sie ihnen fremd sey und es wohl lange noch bleiben würde, machte ihr Herz beklommen. Der Anblick der Gräfin versetzte sie in immer neues Erstaunen, sie erschien ihr um zwanzig Jahre jünger als sie vor wenig Tagen zum erstenmal im Schloß ihres Vaters sie gesehen hatte, dessen Schwester sie war. Dem mit allen Toilettenkünsten unbekannten Kinde kam diese Verwandlung ganz unbegreiflich vor, ja sie hätte geglaubt, daß es gar nicht die Tante sey, wäre Aurelia nicht zugegen gewesen und hätte sie nicht Mutter genannt. Aurelien betrachtete sie mit dem heißen Wunsch, sogar mit dem Entschlusse, solche zu lieben; dennoch fühlte sie innerlich, daß ihr dieß nie gelingen würde. Der scharfe Blick der großen dunkelblauen Augen, das spöttische Lächeln, welches bei jedem Anlaß [9] um die Rosenlippen der schönen Aurelia spielte, vernichtete jede Möglichkeit herzlichen Vertrauens zu ihr.

Endlich wagte es auch Gabriele, den Blick zu Ottokarn zu erheben. Sie konnte es unbemerkt; er stand hinter Aureliens Stuhl im eifrigen Gespräche mit die ser. Seine hohe schlanke Gestalt, die Anmuth seiner Bewegungen waren von Gabrielen schon früher als heute bemerkt worden. Sie erkannte ihn jetzt daran; auch die edlen Züge seines Gesichts waren ihr nicht fremd, sie erschienen ihr wie die eines längst Bekannten, obgleich sie sie noch nie deutlich erblickt hatte. Eine Fülle hellbrauner Locken kräuselte sich um seine hochgewölbte Stirn, die blauen, muthig und kühn um sich her blitzenden Augen hatten bei allem Feuer etwas unbeschreiblich mildes und freundliches, und die dünnen Lippen des festgeschloßnen Mundes gaben seinem Gesicht einen sehr ernsten, fast wehmüthigen Ausdruck, der aber beim Sprechen in ein höchst anmuthiges Lächeln verschwebte. Sein ganzes Wesen trug das Gepräge kräftiger, zum Manne herangereifter Jugendblüthe. [10] Er schien etwa achtundzwanzig bis dreißig Jahre alt.

Es that Gabrielen heimlich weh, daß er sie so gar nicht bemerkte, obgleich sie sich auch freute, ihn ungestört ansehen zu können. Da stimmte er das einseitige Gespräch zum Allgemeinen um, und sie konnte nun mit der gespanntesten Aufmerksamkeit auf jedes seiner Worte horchen. Er erzählte von seiner eben beendigten Reise, und seine lebendige Darstellung wußte auch dem Allergewöhnlichsten Leben und Interesse zu geben. Dabei entgieng es Gabrielen nicht, daß er dem Gespräch absichtlich diese Wendung gab, um nur die ewigen Spötteleien über die abwesende Eugenia zu beenden, und ihr Gefühl wußte es ihm heimlich Dank. Es lag ein eigener, aller Herzen sich bemächtigender Zauber in dem vollen, reinen Klange seiner Stimme. Gabriele horchte so lange auf diesen Ton, daß sie zuletzt nur ihn hörte, wie man einer lieblichen Musik sich hingiebt, ohne dabei die Worte des Gesanges zu beachten. Alles andere um sich her vergessend, saß sie da, als ganz unerwartet ein [11] ältlicher Mann, ihr Nachbar am Tische, sie durch eine gleichgültige Frage auf eine unangenehme Weise aus dieser süßen Selbstverlorenheit riß. Erschrocken darüber, fuhr sie zusammen, zerbrach beinah ihre Tasse und stammelte endlich hocherröthend eine Antwort, die niemand verstehen konnte. Die Augen der ganzen Gesellschaft wandten sich plötzlich ihr zu, und die Verlegenheit des armen Mädchens war entsetzlich, sie stieg bis zur qualvollsten Pein, als Aurelia nach ihrer schonungslosen Art laut ausrief: »Ich glaube die Kleine war eingeschlafen; kein Wunder, sie ist müde von der Reise!« und indem sie aufstehend ihre Hand ergriff, hinzusetzte: »Komm, Liebchen, ich bringe dich zu deiner Bonne, die wohl auch mit Schmerzen auf dich harrt, die Abschiedsknixe kannst du übrigens sparen;« und damit zog sie das tiefgekränkte Mädchen zur Thüre.

Beinahe weinend vor Schaam und Zorn über Aureliens unfreundliches Benehmen und ihre eigne Ungeschicklichkeit, langte Gabriele bei der guten Frau Dalling an, der Pflegerin ihrer Kindheit, und vermochte es kaum über sich, ihr die Begebenheiten [12] dieses Abends nur ganz im Allgemeinen kund zu thun. Alles schwamm in bunter Verworrenheit vor ihrem betäubten Sinn; nur Ottokars Gestalt, seine Stimme, seine Worte waren ihr deutlich in der Erinnerung geblieben. In ihrer jungen Brust gegen einander ankämpfend, wogten tausend nie zuvor gekannte süße und bittre Empfindungen und machten sie verstummen; Freude über Ottokars Wiederbegegnen, Schmerz, daß er sie gar nicht bemerkte, und dazu das herbe Gefühl des Alleinseyns, mitten unter fröhlichen Menschen. Noch nie war Gabriele sich selbst so unbedeutend erschienen, nie zuvor hatte sie Demüthigung vor Zeugen, Unzufriedenheit mit sich selbst wie heute empfunden, und es gelang ihr nur mit großer Anstrengung, sich zum tröstenden Selbstbewußtseyn endlich wieder empor zu ringen und den festen Entschluß zu fassen, äußere Zufälligkeiten nicht höher zu stellen als deren eigentlicher Standpunkt es fordert. Eine unaussprechliche Sehnsucht nach ihrer Mutter ergriff ihr tief verwundetes Gemüth, wie ein müdes Kind weinte sie sich endlich spät in den [13] Schlaf; aber alle die vielen neuen Gestalten des vergangnen Abends umschwirrten sie noch im ängstlichen Traume, und zwischen ihnen hindurch tönte tröstend Ottokars Stimme, mit der er die Worte sprach: »Ich bitte für das junge Fräulein, sie hat wahrlich nicht Unrecht!«


Ehe wir Gabrielen auf ihrem fernern Lebenspfade begleiten, wird es nöthig seyn, den Leser zu ihrer früheren Jugendgeschichte zurückzuführen und ihn mit ihren Eltern bekannt zu machen.

Ihr Vater, Baron Aarheim, war schon im frühen Jünglingsalter unumschränkter Gebieter seiner eignen Thaten und eines sehr bedeutenden Vermögens geworden. Er verbrachte seine Jugend theils auf Reisen, theils an Höfen auswärtiger Fürsten, und fand überall die Aufnahme, zu welcher Rang, Reichthum und eine ausgezeichnet vortheilhafte Gestalt ihn berechtigten. Durch keinen äußern Zwang zurückgehalten, stürzte er sich in den Strudel des großen Lebens, suchte rastlos alle Genüsse, gab sich ohne Maaß und Ziel allen Freuden hin, welche es bietet, bis er, [14] erschöpft und abgestumpft, im reifern Alter des ewig wiederkehrenden Einerleis überdrüssig ward und ihm entsagte, um ernstern Plänen zu folgen. Herrschsucht und Ehrgeiz traten jetzt in seinem Gemüth an die Stelle der Sucht nach ewigem Wechsel des Vergnügens; die Gunst des Fürsten, an dessen Hofe er eben lebte, zeichnete ihn vor allen andern aus und steigerte seinen Wunsch nach dem nächsten Platz neben dem Thron bis zur Leidenschaft, indem sie ihm ein Recht darauf zu geben schien. Anfänglich war es, als ob das Glück sein Streben begünstigen wollte; er erklimmte eine Stufe nach der andern, stieg immer höher und höher; aber das Gelingen machte ihn unvorsichtig, es schläferte seine Wachsamkeit ein, Feinde, die er gar nicht beachtete, arbeiteten im Verborgnen ihm entgegen; und so ward auch ihm das Schicksal, das schon so viele in seiner Lage traf, er fiel plötzlich, als er am sichersten zu stehen glaubte, und um so tiefer, je höher er gestiegen war.

Aarheims Fall zerriß die Verbindung mit der Tochter eines großen, glänzenden Hauses, [15] wenig Tage vor dem zur Vermählungsfeier bestimmten, und als er Besinnung genug gewann, um sich zu schauen, sah er sich furchtbar verlassen. Kein einziger Freund war ihm geblieben, seine Jugend früh und längst an ihm vorüber geschwunden, den größten Theil seines Vermögens hatten seine frühere Lebensweise und seine spätern großen Pläne verzehrt, seine Gesundheit war zerrüttet, er selbst erkannte in sich nur noch den Schatten von dem, was er einst gewesen war.

Sein Gemüth erstarrte in bitterm Haß, in tiefer Verachtung aller Menschen, vor allem der Frauen, und er schwur sich selbst, jeden geselligen Umgang so viel möglich Zeitlebens zu meiden. Von seinen vielen Gütern war ihm nur sein Stammgut geblieben, es lag tief im Gebirge, im Gebiet eines andern Fürsten; dorthin beschloß er vor dem Anblick der Welt zu fliehen, die ihn so unbarmherzig gemißhandelt hatte. Er raffte die Trümmern seiner übrigen Habe zusammen und eilte, sich in die tiefste Einsamkeit zu vergraben, in welcher nur demüthige Diener und zitternde Unterthanen seine Umgebung bildeten. [16] So lebte er mehrere Jahre und ward mit jedem Tage härter, schroffer und finsterer.

Der Brief eines Verwandten erinnerte ihn endlich einmal an die Außenwelt, die er so gern ganz vergessen hätte; es fiel ihm ein, daß sein noch immer sehr beträchtliches Gut Mannlehn war, und nach seinem Tode an einen entfernten Vetter fallen müsse, den er allein schon deshalb als seinen ärgsten Feind betrachtete, ohne ihn weiter zu kennen. Er war es leider gewohnt worden, von allen Menschen das Aergste zu vermuthen, und ahnete also auch bei seinem muthmaßlichen Erben das sehnlichste Verlangen nach seinem baldigen Tode, vielleicht gar Pläne, ihn zu beschleunigen; daher beschloß er plötzlich, sich noch im Spätherbst seines Lebens zu vermählen, um seinem Agnaten diese Hoffnung und Freude zu verderben.

Seine Wahl fiel auf Augusten von Rohrbach, die elternlos und arm auf einem kleinen Gute unfern Schloß Aarheim einsam traurige Tage bei einer alten Tante verlebte. Er hatte das Fräulein nie gesehen, ehe er um ihre Hand sich [17] bewarb, aber der Ruf ihrer Schönheit und der unermüdeten Geduld, mit der sie den Launen einer höchst wunderlichen Frau sich fügte, war bis in seine Einsamkeit gedrungen, und dies hinlänglich, ihn für sie zu bestimmen. An Liebe glaubte er nicht und war weit entfernt, sie zu fordern; ihm genügte Gehorsam von seiner künftigen Gattin, und diesen zweifelte er nicht unter solchen Umständen zu erlangen oder zu erzwingen.

Auguste von Rohrbach war in frühester Kindheit zur mutterlosen Waise geworden; ihr Vater hatte sie erzogen. Sein diplomatischer Beruf erlaubte ihm keinen festen Wohnsitz, sondern trieb ihn rastlos durch fast alle die glänzendsten Städte Europens; doch ließ er sich dadurch nicht hindern, seinem einzigen Kinde die möglichste Sorgfalt zu weihen. Ueberallhin mußte Auguste ihrem Vater folgen, und sobald ihr Alter es erlaubte, benutzte er alle Gelegenheiten, ihr in jeder Stadt, wo sie längere Zeit lebten, die besten Lehrer zu verschaffen, um sie in allen, ihrem Geschlechte zusagenden Wissenschaften und Künsten unterrichten zu lassen.

[18] Die freigebige Natur hatte das Kind nicht nur mit einer höchst anmuthigen Gestalt ausgestattet, sie begünstigte es auch mit seltenem Talent und schneller Fassungsgabe. Und so geschah es denn gar bald, daß Auguste der Stolz ihres Vaters ward, ein Kleinod, mit dem er gern bei jeder Gelegenheit prunkte und auf dessen seltnen Werth er große Pläne für kommende Zeiten erbaute. So wie sie älter ward, suchte er alle ihre Vorzüge ins hellste Licht zu stellen; kein Schmuck, der ihre schöne Gestalt erheben konnte, war ihm zu kostbar, überall mußte das junge Mädchen vor den erlesensten Zirkeln ihr musikalisches Talent üben, im einzelnen Tanz oder durch die zu jener Zeit als etwas ganz neues bewunderten Attitüden derLady Hamilton die Zuschauer entzücken, und auf alle Weise bestmöglichst glänzen und schimmern.

Bei dieser Erziehung wäre Auguste eine eitle Thörin geworden, wenn nicht zum Glück den Kindern auffallende Fehler ihrer Eltern oft zu schützenden Warnern auf ihrem Lebenswege würden, besonders wenn sie sich durch sie in ihrer [19] angebornen Eigenthümlichkeit behindert fühlen. Dies war eben bei Augusten der Fall. Bis zur Furchtsamkeit bescheiden, kostete es ihr, als ganz jungem Mädchen, manche heiße, bittre Thräne, wenn sie auf Befehl ihres Vaters vor großen Gesellschaften mit ihren Künsten auftreten mußte. Späterhin gewann sie freilich durch lange Gewohnheit mehr Muth, aber auch hellern Beobachtungsgeist. Das heimliche, neidische Hohnlächeln der Anwesenden und deren leise geflüsterten Anmerkungen entgingen Augustens Scharfblick nicht, obgleich ihr Vater nichts davon ahnete. Diesen blendete der rauschende Beifall, welchen alle die Herren und Damen seiner Tochter um so reichlicher zollten, je schärfer sie, von ihm unbeachtet, die Geißel der Kritik über sie schwangen. Auguste wagte es nicht, gegen ihren Vater ihre Bemerkungen laut werden zu lassen, er war zu glücklich in seiner Verblendung, als daß es sie nicht hätte schmerzen sollen, ihn daraus zu wecken; aber innerlich fühlte sie sich durch diese Falschheit seiner vorgeblichen Freunde oft schmerzlich verwundet. Sie selbst ward indessen wenigstens [20] dadurch in der anspruchlosen Bescheidenheit erhalten, zu welcher ihr ganzes Wesen sich ohnehin neigte, und ihr tiefes Erröthen bei jedem laut ausgesprochnen Lobe zeigte deutlich, wie wenig sie sich bewußt war, es zu verdienen.

Ihre reine, schöne Natur wäre dennoch vielleicht dem ewigen Entgegenarbeiten des eitlen Vaters erlegen, doch frühe Liebe erhob sich ihr zum Schutzgeist. Rein und innig loderte die stille Flamme heißer Neigung zu einem edeln jungen Manne in ihrer jungen Brust, ihr selbst fast unbekannt und nur im Schmerz der Trennung sich zuerst ihr ganz offenbarend.

Ihr Geliebter war Sekretär bei der Legation ihres Vaters und in seinem Hause, zum Theil mit Augusten erzogen. Er lebte mit ihr unter einem Dache, theilte mit ihr alle ihre Freuden, half ihr bei ihren musikalischen Uebungen, war am Tische und auf Reisen über all in ihrer Nähe. Was konnten beide mehr vom Schicksal zu erlangen wünschen? Sie waren glücklich wie Kinder, die sich des heutigen Tages freuen, ohne dabei an morgen zu denken.

[21] Augustens Vater aber dachte nicht nur an heut und morgen, sondern auch an alle, diesen folgende Tage und Jahre. Ein Zufall entdeckte ihm das Geheimniß der Liebenden, es stimmte nicht zu seinen hohen Plänen mit der einzigen, glänzend erzognen Tochter, aber er schwieg dazu, weil er das menschliche Herz genug kannte, um zu wissen, daß hier mit Einreden wenig abgeändert werden würde. Er handelte lieber, wie er es gewohnt war, sobald sein Vortheil es heischte, kalt und ruhig, besonnen und sicher. Eines Morgens erwartete Auguste vergebens ihren Freund bei ihren musikalischen Uebungen; bei Tafel vermißte sie sein Couvert; er war spurlos verschwunden, und ihre erbleichende, zitternde Lippe vermochte nicht, eine Frage nach ihm auszusprechen. Unter dem Vorwand eines geheimen Auftrags von der äußersten Wichtigkeit war er in der Nacht weit weg versendet worden, am Orte seiner Bestimmung hatte man schon dafür gesorgt, daß er in noch entferntere Länder geschickt wurde, und so war er auf ewig von Augusten geschieden, ohne eine Ahnung davon zu empfinden. [22] Die Argusaugen seines Gebieters bewachten ihn zu sorgfältig in jener verhängnißvollen Nacht, als daß er nur ein Wort des Abschieds an Augusten hätte gelangen lassen können, überdem glaubte er auch, nur auf wenige Wochen sich von ihr zu trennen. Späterhin ward es ihm ganz unmöglich gemacht, einen Brief auf sicherm Wege in ihre Hände zu bringen. Beide hatten keine Vertrauten, ihre reine jugendliche Liebe bedurfte deren nicht, sie scheute jede Berührung der Außenwelt; wie hätten sie Fremden ein Geheimniß gestehen können, das sie gegen einander selbst kaum in Worten auszusprechen versucht hatten.

Ganz auf sich zurückgeworfen, blieb nun Auguste in der glänzendsten Gesellschaft einsam, wie in einer Wüste. Kein Laut des einzigen Wesens in der Welt, zu dem sie allein zu gehören sich bewußt war, tönte zu ihr herüber, nie hörte sie mehr den geliebten Namen nennen, als wenn sie selbst in stiller Mitternacht, unter heißen, langverhaltnen Thränen, ihn den stummen Wänden ihres einsamen Zimmers zurief. [23] Ihr Vater wußte in aller Freundlichkeit so abschreckend-schroff vor ihr zu stehen, daß das bange Mädchen es kaum wagen mochte, in seiner Gegenwart nur an den Geliebten zu denken. Er sah wohl ihre stille Trauer, aber er fragte nie nach der Ursache derselben und hoffte alles von der Zeit.

Dem Anschein nach verfehlte diese auch nicht, ihre gewohnte Macht zu bewähren. Auguste fand allmälig eine wehmüthige Freude im Schmerz um das verlorne Glück, in der unaussprechlichen Sehnsucht, die jetzt einzig in ihrem Busen lebte, und auch ihr Aeußres wurde von diesem Gefühl verklärt. Sie gewöhnte sich daran, ihren Freund unter den Todten zu denken. Ihr Vater, der es bemerkte, suchte schweigend sie in diesem Glauben zu bestärken, und nun wandte sie ihren Blick einzig nach oben, der Heimath ihres Lebens und ihrer Liebe. Hier unten ging sie willig den ihr von ihrem Vater vorgezeichneten Pfad, lächelte freundlich zu allen seinen Wünschen, und suchte wenigstens ihn zu erfreuen, da für sie auf der Erde keine Freude mehr blühte.

[24] So verlebte Auguste noch drei Jahre in verschiednen Ländern und äußern Umständen, ohne eine befreundete Seele um sich zu wissen. Selbst des Mädchenglücks, eine gewöhnliche Jugendfreundin zu besitzen, hatte sie zeitlebens entbehrt. Sie war selten viel länger als ein Jahr an dem nehmlichen Orte geblieben, hatte unzähligemal alle ihre Umgebungen wechseln müssen, und nie Zeit oder Gelegenheit gefunden, irgend eine dauernde Verbindung zu knüpfen. Die letzte Stadt, in welcher sie mit ihrem Vater längere Zeit verweilte, war Stockholm. Auf einer Reise von dort aus erkrankte er plötzlich in einem kleinen schwedischen Städtchen und starb.

Nie war eine Waise verlaßner, als die jetzt zwanzigjährige Auguste am Grabe ihres Vaters. Sie harrte dort, bis der ihr in den letzten Augenblicken vom Verstorbnen bestimmte Vormund sie nach Deutschland abzuholen kam. Der Nachlaß ihres Vaters war sehr gering, eignes Vermögen hatte er nie besessen und dabei in der Welt zu glänzend Haus gehalten, um beträchtliche Summen für seine Tochter zurücklegen zu[25] können; ihr blieb kaum genug, um davon nothdürftig zu leben. Willenlos, wie sie von jeher war, folgte sie jetzt ohne Widerrede dem Rath ihres Vormunds, und ließ sich von ihm zu der einzigen Verwandtin führen, die sie ihres Wissens noch in der Welt hatte, und die allein ihrer Jugend einen anständigen Zufluchtsort bieten konnte.

Unter Entsagungen aller Art, unter steten Uebungen unbeschreiblicher Geduld, schwanden von nun an Augustens Tage auf dem einsamen Landgute ihrer Tante, einer nach dem andern, einer wie der andre. So lebte sie mehrere Jahre lang. Erinnerungen der glänzenden Vergangenheit machten ihr die düstre Gegenwart nicht noch trüber, denn sie hatte keine Freude an deren flüchtigem Schimmer gefunden; aber das verklärte Bild des verlornen Geliebten wohnte noch immer tief verborgen in ihrem Herzen, von ewigem Jugendglanz umflossen, wie das Bild eines Heiligen in einem dunkeln Grabmal, das eine nie erlöschende Lampe erleuchtet.

Uebrigens war Auguste weder fröhlich noch [26] traurig, nur freundlich und still. Die Wenigen, welche sie kannten, ahneten nicht die ganze Freudenlosigkeit ihres Daseyns, aber alle bewunderten ihre Anmuth, ihr anspruchloses Wesen, und priesen die unerschöpfliche Langmuth und engelgleiche Gelassenheit, mit denen sie den wunderlichsten, unerträglichsten Launen ihrer Tante gefällig entgegen kam.

Letztere war eine jener scheinheiligen alten Betschwestern, die unter dem Mantel der Frömmelei die abschreckendsten Eigenschaften zu verdecken suchen, und mit dem glattesten, herzlosesten Egoism die ganze Welt nur einzig zu ihrer Bequemlichkeit erschaffen glauben. In der schriftlich an sie gerichteten Bewerbung des Baron Aarheim um Augustens Hand, sah sie nur den Finger Gottes, der sie von einer ihr lästigen Hausgenossin befreien wollte, und verkündete daher schonungslos ihrer Nichte das ihr unverdienter Weise zugefallne große Glück; dabei ermangelte sie nicht, dieses einzig ihrem eifrigen Gebet für Augustens Wohlfahrt zuzuschreiben. Dieser ihr Leben war jetzt mehr als je ganz [27] nach Innen gekehrt, die Außenwelt kümmerte sie wenig, weniger noch ihr eignes Schicksal; an Glück auf der Erde zu glauben hatte sie längst verlernt, und all ihr Hoffen ging weit über dieses Prüfungsleben hinaus. Daher fügte sie sich ohne Widerstreben dem deutlich ausgesprochnen Willen der Tante, wie sie sich früher dem ihres Vaters gefügt hatte. Mit ruhiger Fassung reichte sie dem Baron die Hand, als er sie heimzuführen kam. Sie war es sich bei diesem Schritte deutlich bewußt, daß sie nur ein unerfreuliches Daseyn mit einem ähnlichen, vielleicht noch unerfreulicherem vertauschte, aber sie folgte willenlos dem Winke des Schicksals.

Fest entschlossen, durch Treue, Sorgfalt und jede Aufopferung, dem Manne, der sie gewählt hatte, alles zu werden, was sie ihm zu werden vermochte, und bei allen ihren Handlungen einzig sein Glück zu bezwecken, betrat sie die dunkle Schwelle vom Schloß Aarheim. Und doch fühlte sich Auguste unendlich glücklicher wie sie es je zu träumen gewagt hatte, als sie nach Jahresfrist Gabrielens Mutter ward. Nun hatte sie [28] ein lebendes Wesen, das sie umfassen und beglücken konnte, mit all der bis jetzt tiefverborgnen Liebe, die der Grundton ihres Daseyns war. Sie lebte nun nicht mehr ohne Plan und Zweck in dieser Welt, sie wußte jetzt, für wen sie lebte, und trug nicht mehr bloß ergeben sondern freudig alle andere Zumuthungen des ihr im übrigen noch immer nicht freundlicher gewordnen Geschicks.

Gabriele ward beim Eintritt in das Leben vom Vater nicht freundlich willkommen geheißen. Er hatte auf einen Erben seines alten Namens und seines Stammgutes gehofft, und suchte nicht den Unmuth über die getäuschte Erwartung seiner Gemahlin schonend zu verhehlen. Jahre vergingen, Gabriele blieb das einzige Kind, und der Vater blickte nie mit Liebe, oft mit verbißnem Zorn auf sie herab.

Augustens unaussprechliche Milde, ihre unermüdete, allen Wünschen des Barons zuvorkommende Sorgfalt für ihn, siegten doch endlich einigermaaßen über sein von der Welt verwahrlosetes Gemüth. Ihm war jetzt zu wohl in [29] seinem Hause geworden, als daß er die Urheberin dieses ihm bis jetzt unbekannt gebliebnen behaglichen Zustandes nicht hätte von den übrigen Menschen unterscheiden sollen. Zwar blieb er hart und kalt im Leben wie zuvor, aber er duldete Augustens stilles Walten, in seinem Schloß sowohl als auf seinem Gute, und ließ ihr schweigend die Freiheit, das Schicksal seiner Unterthanen auf manigfache Weise zu erleichtern. Allmählig ward sein Vertrauen zu ihr immer größer, so daß er ihr zuletzt die ganze Verwaltung seiner Geschäfte allein übertrug, allem menschlichen Umgang, außer mit ihr und den ihn zunächst umgebenden Dienern, völlig entsagte und sich auf den entferntesten Flügel des weitläuftigen Schlosses zurückzog, wo er sich eine von allen übrigen Bewohnern desselben ganz abgesonderte Wohnung einrichten ließ.

Eine von seinen Vorfahren vor langer Zeit gesammelte Bibliothek war in der von ihm erwählten gänzlichen Abgeschiedenheit der einzige Zeitvertreib, welcher sich dem Baron gewissermaaßen entgegendrängte. Zuerst bewog ihn [30] Langeweile, die alten Bücher zu mustern und zu ordnen, aus welchen sie bestand; bald aber zog ihn der Inhalt eines Theils derselben unwiderstehlich an. Eine sehr vollständige große Sammlung alter alchymistischer Schriften, gedruckt und im Manuskript, war ihm in die Hände gefallen; er hatte sie Anfangs nur aus bloßer Neubegier durchblättert, aber diese Blätter fingen bald an, ihn immer ernstlicher zu beschäftigen, so daß er zuletzt mit unermüdetem Eifer sie Tag und Nacht studirte und alles Uebrige dabei vergaß, bis ihm die Möglichkeit, mit der Natur in ihrem geheimsten Walten zu wetteifern, völlig erwiesen schien.

Schon lange hatte er mit einem, aus gekränktem Stolz und Mitleid gemischten bittern Gefühl auf seine Gemahlin und seine Tochter geblickt, wenn er bedachte, daß diese nach seinem Tode Schloß Aarheim verlassen müßten, und in einer, wenn auch nicht hülflosen, doch gegen jetzt sehr beschränkten Lage zurückbleiben würden. Nun, da die Möglichkeit, Gold zu machen, ihm immer deutlicher, ja zuletzt zur Gewißheit ward, [31] regte sein alter eingeschlummerter Ehrgeiz aufs neue die Flügel. Schon sah er im Geist Gabrielen zur reichsten Erbin von Europa erhoben, um deren Hand einst Fürsten werben würden. Im voraus genoß er den hohen Triumph über seine Feinde, die ihn in den Staub getreten zu haben wähnten, aus dem er jetzt zu ihrer Beschämung glorreich empor zu steigen hoffte, und er beschloß, sein ganzes übriges Leben an dieses große Ziel zu setzen, zu dessen Erreichung ihm nichts zu kostbar schien.

Er ließ dicht neben seinem Zimmer ein eignes Laboratorium erbauen, in welchem er sich unablässig mit alchymistischen Versuchen beschäftigte, wenn er nicht über den Schriften brütete, die ihm jetzt als das Höchste erschienen. Den Seinigen ward er nur bei der Mittagstafel sichtbar und saß selbst dann stumm und in Gedanken verloren, ohne auf irgend etwas zu achten, was um ihn her geschah. Niemand im Hause konnte den eigentlichen Zweck seines Strebens nur ahnen, denn er arbeitete immer bei verschloßnen Thüren, und nahm nur im äußersten [32] Nothfall einen alten Diener zur Hülfe, der gar nicht wußte, was er that, indem er seinem Herrn bei alchymistischen Prozessen Handreichung leistete. Auguste selbst durfte nie die Schwelle der Zimmer ihres Gemahls betreten. Sie glaubte mit allen übrigen Hausgenossen, daß der Baron sich mit Erfindung neuer Färbestoffe beschäftige, denn er selbst hatte auf eine geschickte Weise diese Meinung zu veranlassen gewußt. Herzlich gern gönnte sie ihm diese harmlose Beschäftigung, ohne weiter darüber zu grübeln, und war nur besorgt, jede Störung mit verdoppelter Aufmerksamkeit von ihm abzuwenden.

Auguste erfreute sich jetzt der glücklichsten Zeit ihres Lebens. Jede Stunde des Tages durfte sie ungehindert dem Liebling ihrer Seele weihen, nie störte die Außenwelt sie in dieser süßen Beschäftigung, denn kein Besuch betrat jemals das Schloß, und die alte Tante war bald nach ihrer Verheirathung gestorben.

Die kleinen Sorgen für das Hauswesen hatte Frau Dalling anfangs redlich mit ihr getheilt, zuletzt sie deren völlig enthoben. Diese [33] wackere, nicht ungebildete Frau war noch vor Gabrielens Geburt in Augustens Dienste getreten und hatte bald nicht nur Vertrauen sondern auch Achtung und Liebe ihrer Herrschaft und der übrigen Hausgenossen sich erworben. Sogar der finstre, strenge Gebieter Aller bemerkte ihre treuen Dienste nicht ohne Wohlgefallen. Frau Dalling selbst hing mit der treusten Liebe an ihrer freundlichen Herrin und dem holdseligen Kinde, und hätte im Fall der Noth ihr Leben für beide willig geopfert.

Den schwachen Lebensfunken, mit welchem Gabriele zur Welt kam, konnte nur Mutterliebe und die sorgsamste Pflege vor frühem, völligen Erlöschen bewahren; sehr langsam wuchs sie kräftiger heran und ward endlich ein zwar gesundes, aber kein blühendes Kind. Ihre ganze Erscheinung hatte etwas ätherisches. Wenn das kleine zierliche Geschöpf durch den Garten hüpfte, die vollen, goldnen Locken um den blendend weißen Hals flogen, das dunkelbraune Auge fröhlich blitzte, und ein blasses Roth das einer weißen Rosenknospe ähnliche Gesichtchen sanft überhauchte; [34] dann glich es mehr der Elfenkönigin Titania, als einem sterblichen Wesen. So blieb Gabriele bis in ihr sechzehntes Jahr, dem Ansehen nach völlig ein Kind. Die köstlichsten Blumen zögern ja immer am längsten, ehe sie die schützende Knospe durchbrechen.

Wehmüthig bange sah Auguste dem Zeitpunkt entgegen, in welchem der goldne Traum der Kindheit dem ihr vom Himmel zum Trost gesandten Engel entschweben mußte; sie suchte ihn so lange als möglich zu entfernen; aber das ohne alle Gespielen ihres Alters, einzig bei dieser Mutter aufwachsende Mädchen reifte im Innern weit früher heran als im Aeußern.

Augustens Natur war die reinste, alles opfernde Liebe. Schüchtern geworden in der ihr so unfreundlichen Welt, hatte sie sich immer tief verborgen gehalten, und nur gestrebt, alles, was sie berührte, unbemerkt zu beglücken, bis sie in Gabrielen ein Wesen fand, bei dem es Pflicht ward, sich unverschleiert zu zeigen. Nun ward die mütterliche Liebe in ihrem so lange verwaist gebliebenen Gemüth zur hell lodernden [35] Flamme der Leidenschaft. Sie zog Gabrielen mit sich in ihre schöne innerliche Welt, dort lebten Mutter und Tochter ein, allen Uebrigen verborgenes, engelgleiches Leben, in gegenseitigem Verstehen, wie diese Erde es selten birgt. Vertrauen auf Gott, Muth und Ergebung zum Schutz gegen die unvermeidlichen Stürme des Lebens wußte Auguste frühe dem jungen Herzen ihrer Tochter einzuflößen. Gabriele lernte von ihr, stilles Dulden, bei festem Anhalten an das Rechte, als der Frauen höchste Pflicht erkennen; aber in wehmüthig vertrauten Stunden lernte sie auch von der Mutter, daß nur in der Brust des Weibes stille, durch sich selbst beglückte und beglückende Liebe wohnt, die selten echte Gegenliebe findet, und ihrer auch nicht bedarf, um des Lebens höchste, schönste Blüthe zu seyn.

Fröhlich suchte Auguste nun alles wieder hervor, was sie früher im Geräusch der ihr jetzt so fernen Welt erlernt hatte, um auch äußerlich ihren Liebling damit zu schmücken. Sie brachte dadurch in ihre düstre Einsamkeit ein wunderliches [36] Feenleben voll Wechsel und Glanz, von dem, außer der vertrauten Frau Dalling niemand etwas ahnen konnte. In den ausländischen Sprachen, die der Mutter während ihres langen Aufenthalts in fremden Ländern so geläufig als die eigne geworden waren, lernte Gabriele sich mit Leichtigkeit ausdrücken. Musik und bildende Kunst blieben auch in den trübsten Tagen Augustens freundliche Tröster; jetzt übte sie sie mit Gabrielen und fühlte die reinste entzückendste Freude bei deren Fortschritten in beiden. Sie lehrte sie, die unsterblichen Lieder der Dichter durch den Wohllaut der Stimme zu beleben. Uebung jeder schönen Kunst machte aus jedem Tage ihres stillen Beisammenseyns ein Fest. Gabriele lernte sogar, von der Mutter geleitet, sich durch Blumenkränze mit gemeßnem Schritte winden, oder mit einem Shawl die reizendsten Stellungen der Antike nachbilden. Auguste sah oft mit wonneglänzendem Auge die kleine Grazie, das Tamburin schwingend, im leichten, südlichen Tanze auf und niederschweben; sie gedachte dabei der trüben Tage ihrer eignen [37] Jugend, in denen sie lächelnd, wenn gleich mit halb gebrochnem Herzen, sich auf Befehl ihres Vaters vor schimmernden Versammlungen so zeigen mußte, und pries dankbar das Geschick ihres glücklichen Kindes und seine ungetrübte Freude an der heitern Kunst.

Stunden ernstern Unterrichts wechselten mit diesen, dem Schmuck des Lebens geweihten. Auguste selbst hatte eine zu sorgfältige Erziehung genossen, als daß sie nicht ihrer Tochter eine sehr vorzügliche Lehrerin hätte werden können. Sie las mit ihr aufmerksam und nöthigen Falls erläuternd, das Beste, was in unsrer und in fremden Sprachen für den Unterricht der Jugend geschrieben ward; sie führte sie früh in die Geschichte der Völker ein, aber sie öffnete ihr auch früh das Wunderreich der Poesie; Gabrielens leicht bewegliche Fantasie versank in seinem Zauber, und das rege Mutterherz mit ihr.

So geschah es denn, daß Gabrielens liebliche Erscheinung allen Reiz kindlich unbefangener Unschuld mit Kenntnissen und Talenten [38] vereinte, welche sonst nur durch die liberalste Erziehung reicher Eltern in großen Städten erworben werden können. In ihrer tiefen Einsamkeit kam ihr keine Ahnung von dem, was sie eigentlich war; alle Mädchen ihres Alters und Standes dachte sie sich weit unterrichteter, kunstreicher, liebenswürdiger als sich selbst, denn sie hatte noch nie eines gesehen, und fremdes Lob noch nie ihr Ohr berührt. Selbst ihr Vater hatte keine Ahnung von dem, was sie wußte und war; er sah sie nur bei Tische, wo Frau und Tochter in bangem Schweigen vor ihm erstarrten, und er selbst nur den Mund öffnete, um nach Vollziehung früherer Befehle zu fragen, oder neue zu ertheilen. Gabrielen fiel übrigens der Zwang, welchen seine Gegenwart ihr und der Mutter auflegte, nicht im geringsten auf. Von Jugend an dessen gewohnt, glaubte sie, es sey in allen Familien so, könne und dürfe nicht anders seyn, und Auguste hütete sich, sie in diesem Glauben irre zu machen.

Nie hätte das Band gelöst werden sollen, das Mutter und Tochter so beglückend vereinte, [39] ihre Herzen hätten immer zusammen, in gleicher Bewegung schlagen müssen, bis von Einem Grabe beide in einer Stunde aufgenommen worden wären. Aber im Buche dort oben war es anders geschrieben. Auguste erkrankte plötzlich und starb. Wenige Tage nur hatte das verzehrende Fieber in ihrem Innern gewüthet, der Schmerz des Todes war schonend an ihr vorüber gegangen; aber die Krankheit zerstörte gleich anfangs ihr Bewußtseyn, sie entschlief ohne auch nur einigermaaßen für Gabrielens künftige Verhältnisse sorgen zu können. Das Bild dieser Tochter am Grabe dieser Mutter verdecke ein undurchdringlicher Schleier; wer könnte es unternehmen, solch einen Schmerz beschreiben zu wollen!

Baron Aarheim erstarrte vor Schrecken über das so plötzlich über ihn hereingebrochene Unheil. Geliebt hatte er Augusten nicht, denn sein versteinertes Gemüth konnte nicht lieben; ihren vollen Werth hatte er nie klar erkannt, nur dumpf empfunden; aber schmerzlich fühlte er die durch ihren Tod entstandne Unbequemlichkeit, [40] für sein Haus und sein Kind selbsteigen sorgen zu müssen. Sobald er nur einigermaaßen wieder zur Besinnung kam, war er ernstlich darauf bedacht, sich dieser Sorgen zu entledigen, um nur wieder ungestört seinen alchymistischen Arbeiten leben zu können, von denen er sich hoffnungsreicher als je, den glänzendsten Erfolg ganz nahe versprach. Zum erstenmale würdigte er seine Tochter eines ernstlichen Bemerkens; ihre jugendliche Anmuth gefiel ihm. Von der seltnen Ausbildung ihres Geistes und ihrer Talente wußte und ahnete er fortwährend nichts, sie blieben ihm verhüllt, denn früherer Gewöhnung eingedenk, wagte es das traurige, schüchterne Mädchen kaum, in seiner Ehrfurcht gebietenden Nähe zu athmen.

Des Barons eifrigstes Bestreben ging jetzt dahin, Gabrielen irgendwo unterzubringen, wo sie alles lernen sollte, was ihr seiner Meinung nach noch fehlte. Seine Schwester, die Gräfin Rosenberg, schien ihm bei reiflichem Nachsinnen die Einzige, an die er sich in dieser Angelegenheit wenden konnte. Sie war mehrere Jahre [41] jünger als er, frühe verwitwet, und lebte mit ihrer einzigen Tochter mitten im Geräusch einer drei Tagereisen vom Schloß Aarheim entfernten großen Stadt, in welcher sie eines der glänzendsten Häuser bildete. Hier sollte Gabriele für den ausgezeichneten Platz gebildet werden, auf dem sie, wie der Vater fest glaubte, in der Welt zu glänzen bestimmt war. Seit mehr als zwanzig Jahren ergriff der Freiherr zum erstenmal wieder die Feder, um seiner Schwester zu schreiben. Er machte sie mit seinem Verluste bekannt, stellte ihr die Verlegenheit vor, in der er sich wegen der Erziehung seiner einzigen Tochter befand, und wandte alles an, um sie zu einem Besuch auf seinem einsamen Schlosse zu bewegen.

Aurelien war diese Einladung höchst unwillkommen, ihre Mutter hingegen ergriff sie mit einer Art von Begeisterung, die ihr sogar den Muth gab, dem Willen ihrer Tochter für dieses Mal gerade entgegen zu handeln. Eine Wallfahrt zum Stammhause ihrer Vorfahren, welches die Gräfin noch nie besucht hatte, schien [42] ihr so romantisch, sie dachte sich die dunkeln, hohen Gemächer, die gemalten Fensterscheiben, die langen Gallerieen voll alter Bilder ihrer Ahnen so interessant, sie freute sich so sehr auf den neuen Stoff zur geselligen Unterhaltung, daß sie, ungeachtet aller Einwendungen Aureliens, die Reise so viel möglich beschleunigte, und mehrere Tage früher im Schloß Aarheim eintraf als der Baron es erwarten konnte.

Doch kaum hatte sie einige Stunden dort verlebt, so sehnte sie sich schon wieder recht herzlich in ihre gewohnten Umgebungen zurück. Alles, was sie sah, machte auf sie einen weit andern Eindruck, als sie erwartet hatte. Die todte Stille in dem großen öden Gebäude ängstigte sie, die dunkeln winkligen Gänge und Säle, die viele Ellen-dicken Mauern schienen sie erdrücken zu wollen, vor allen aber erregte ihr der Anblick ihres Bruders ein nie gefühltes unüberwindliches, Grausen. Als einen großen stattlichen Mann hatte sie ihn zum letztenmal erblickt, nach einer langen Reihe von Jahren sah sie ihn jetzt, wieder zum hinfälligen, hagern Greise gealtert, und suchte [43] vergebens in seinen von mannigfachen Leidenschaften durchwühlten Zügen, in seinen tiefliegenden, dunkel glühenden Augen nach einer Spur von dem, was er in frühern Tagen gewesen war. Seine ganze Erscheinung blieb ihr nur eine stete ernste Erinnerung an die mächtige Gewalt der Zeit, die sie so gern für immer vergessen hätte, er stand vor ihr wie ein Gespenst, das aus einem schönen Traum sie erweckt, und seine Gegenwart war ihr um so entsetzlicher, je mehr sie zu verbergen strebte, was sie dabei empfand.

Auf Aurelien, die, vier Jahre älter als Gabriele, in der höchsten Pracht völlig erblühter Schönheit strahlte, machte der Baron freilich nicht den Eindruck als auf ihre Mutter, dafür aber fühlte sie sich beim ersten Schritt in das Schloß von der gräßlichsten Langenweile ergriffen. Besonders aber war sie ärgerlich über die kleine blasse Kusine, der unschuldigen Veranlassung dieser ihr widerwärtigen Reise. Um diesem Zorn Luft zu machen, auch wohl, um sich doch auf irgend eine Weise zu amüsiren, verfolgte sie die arme Gabriele [44] mit tausend lustigen Einfällen über das, was sie altmodisch-empfindsames Wesen nannte, und spottete ganz ohne Erbarmen, wenn das arme verschüchterte Kind dadurch in Verlegenheit gerieth, und sich irgend eine kleine Unbehülflichkeit zu Schulden kommen ließ. In bessern Stunden kramte sie vor ihr alle die Künste aus, um derentwillen man sie in der Stadt unter dem Namen einer zweiten Korinna zu vergöttern pflegte. Gabrielens sprachloses Staunen dabei schien ihr ein großer Triumph, ihr ahnete nicht, daß diese nur zu begreifen suchte, wie man von solchen Künsten so viel Wesens machen könne, die sie selbst nur gewohnt war als Erholung von ernstern Beschäftigungen zu üben. Noch weniger fiel es ihr ein, daß die unbedeutende Kleine in Manchem wohl nicht ohne Erfolg mit ihr zu wetteifern fähig wäre, denn Gabriele war zu furchtsam, und auch zu bescheiden gewöhnt, um auf die entfernteste Weise etwas davon zu äußern.

Es bedurfte nicht Aureliens ungestümes Treiben, um die Gräfin zur möglichsten Abkürzung [45] eines Aufenthalts zu bewegen, der ihren Erwartungen so gar nicht entsprach, besonders da der Baron weit entfernt war, auf dessen Verlängerung zu bestehen. Die Gräfin versprach ihrem Bruder in allgemeinen Ausdrücken, Gabrielen bis zum Frühlinge zu sich zu nehmen, ihr den nämlichen Unterricht zu verschaffen, den die glänzende Aurelia gehabt hatte, und sie in die Welt einzuführen. Dieß genügte ihm. Sie selbst hatte Gabrielen kaum des Bemerkens würdig geachtet. Von ihrer sehr kleinen Gestalt, und ihrem ganzen Ansehen getäuscht, hielt sie sie für ein kaum vierzehnjähriges Kind, und dieß mußte ein jeder, der solche zum erstenmale sah, und nicht Gelegenheit hatte, ihren weit über ihre sechzehn Jahre hinaus gebildeten Geist zu erkennen.

Am dritten Tage nach ihrer Ankunft rollten beide Damen sehr fröhlich über die Zugbrücke der alten Burg der Stadt wiederum zu. Gabriele athmete erleichtert auf, indem sie ihnen nachsah, aber im nämlichen Moment traf sie wie ein Donnerschlag aus heitrer Luft die Erklärung [46] ihres Vaters, daß sie in acht Tagen den Damen folgen würde, um wenigstens bis zum Frühling bei diesen zu verweilen. Dennoch vernahm sie den Befehl, ohne eine Einwendung dagegen zu wagen, denn die Möglichkeit, mit Blicken oder Worten dem Willen ihres Vaters zu widerstreben, war ihr nie in ihre Seele gekommen.

Es that ihr sehr weh, alle liebe, gewohnte, durch die einstige Gegenwart ihrer Mutter geheiligte Umgebungen verlassen zu müssen, besonders da sie vernahm, daß Frau Dalling sie zwar begleiten aber gleich nach vollendeter Reise zurückkehren würde, um wie sonst dem Haushalt ihres Vaters vorzustehen. Der schmerz über den Tod ihrer Mutter ergriff sie mit verdoppelter Gewalt; sie fühlte, wie trostlos sie in der Stadt unter Fremden seyn würde, von denen keiner ihre Mutter gekannt hatte. Hier im Schloß war sie es nicht, wenn sie auch weinte; der Mutter Geist wehte noch über alles, was sie umgab, sie setzte gleichsam unter seinem Schutz das gewohnte Daseyn fort, und achtete sich nicht [47] durch das Grab gänzlich von ihrer Mutter geschieden. Dabei fühlte sie ein unnennbares Grauen, wenn sie sich das künftige Leben mit der Gräfin und Aurelien lebhaft dachte, ein Gefühl, das durch die Art, wie beide sich in diesen Tagen gegen sie benommen hatten, recht wohl zu entschuldigen war; aber sie hatte Kraft genug ihr innres Widerstreben während der ganzen acht Tage, die sie noch im Schloß ihres Vaters blieb, zu verbergen, und mit schweigender Ergebung allen Anstalten zu ihrer Abreise zuzusehen. Sie gedachte dabei der Lehren und des Beispiels ihrer Mutter, jeder Tag des Lebens der früh Verklärten war ja auch durch alle die unzähligen, unbemerkten Opfer bezeichnet, die das Loos so vieler Frauen sind, welche die nur nach dem Schein urtheilende Welt glücklich preist. Gabriele hatte von ihr gelernt, sie für die Bestimmung ihres ganzen Geschlechts zu halten, aber auch das Unvermeidliche mit guter Art zu ertragen.

Nur am Abend des letzten Tages im väterlichen Hause ward die Last des Schmerzes und [48] der Sorge der jungen Brust zu mächtig und zwang ihr laute Klagen ab. Zum letztenmal saß sie mit ihrer lieben Frau Dalling in dem vertrauten Zimmer, wo sie gewohnt hatte, seit sie geboren war; sie hatte an diesem Tage alle ihre lieben Plätze in Garten und Wald noch einmal einsam besucht, hatte im Zimmer, welches sonst ihre Mutter bewohnte, und am stillen Grabe, in welchem diese jetzt ruhte, zu ihr wie zu einer Heiligen gebetet; auch ihr Vater hatte ihr schon Lebewohl gesagt, und seine ihr ganz ungewohnte Freundlichkeit beim Abschied war ihr tief ins Herz gedrungen. Allen Bedienten im Schloß, unter deren Augen sie aufgewachsen war, hatte sie freundlich die Hand gereicht, sie zum letztenmal durch kleine Gaben erfreut und betrübt, und ihrer Sorgfalt die einzigen Spielgefährten ihrer Kindheit aufs dringendste empfohlen. Dieses waren schöne Blumen, ihre lieben Zöglinge, und viele freundliche zahme Thiere, welche sich jeden Morgen in buntem Gewühl um sie drängten. Jetzt ward ihr zu Muthe, als wäre sie von ihrem ganzen Jugendleben geschieden, und mit einem Strom heißer, langverhaltner [49] Thränen warf sie sich in die treuen Arme der Pflegerin ihrer Kindheit, von der sie auch in wenigen Tagen sich trennen sollte.

Frau Dalling stellte vergebens dem weinenden Mädchen vor, daß Tausende an seiner Stelle sich überglücklich fühlen würden, wenn sie das öde Schloß mit dem glänzenden Hause der Gräfin Rosenberg vertauschen sollten. Gabriele aber hatte keinen Sinn für die Freuden, die dort sie erwarten mochten. Wie die Tante und Aurelien, so dachte sie sich die Welt, in welcher sie künftig leben sollte. Aus deren Benehmen gegen sie schloß sie auf den Empfang, welcher sie in der Gesellschaft erwartete. Uebersehen oder verspottet zu werden, ist eine gar zu traurige Alternative für ein junges, an Liebe gewöhntes Wesen, und etwas anders glaubte sie nicht hoffen zu dürfen. Auch der Trost, daß der Frühling sie wieder in ihre Heimath zurückführen würde, machte keinen Eindruck auf das tiefbetrübte Kind. Die Bäume begannen eben erst, sich herbstlich zu färben, acht Monate mußten wenigstens vergehen, ehe sie wieder im Blüthenschmuck prangten. Im reifern [50] Alter reihen sich die Tage sehr schnell zu Wochen und Monden, sie werden zu Jahren, ehe wir uns dessen versehen, aber im sechzehnten Jahre dünken uns acht Monate eine so unabsehbare Zukunft, daß Gabriele sie kaum zu erleben glaubte.

Mit wahrer Freude sah Baron Aarheim am folgenden Morgen den Wagen in aller Frühe nach der Schloßbrücke fahren, in welchem die trauernde Gabriele neben ihrer Dalling saß. Er athmete dabei hoch auf, als sey er einer schweren Sorge entledigt, und verschloß sich sorgsamer und eifriger als je bei seinem Forschen nach den dunkeln Geheimnissen der Natur, fest bestimmt, durch keine andern Geschäfte sich davon abhalten zu lassen. Frau Dalling hatte im Lauf von mehr als sechzehn Jahren sich zu treu bewiesen, als daß er ihr nicht bei ihrer baldigen Rückkehr die Besorgung seiner häuslichen Angelegenheiten ohne Bedenken hätte überlassen sollen; übrigens bekümmerte ihn die Verwaltung seines Gutes jetzt sehr wenig, da er in kurzem der Besitzer unermeßlichen Reichthums zu werden gedachte.

Zum erstenmal überschritt jetzt Gabriele die [51] enge Gränze des kleinen Gebiets ihres Vaters, denn Auguste hatte auch hierin seinen deutlich ausgesprochnen Willen geehrt, und war mit ihrer Tochter gern in den Schranken geblieben, welche er ihr zu setzen für gut hielt. Als Gabriele die letzten bekannten Bäume und Hütten hinter sich gelassen hatte, kam ihr alles unheimlich und unabsehbar groß vor, was sie erblickte. Das Rasseln der Räder ihres Wagens durch die engen, schmutzigen Straßen des ersten kleinen Städtchens erschreckte und beängstigte sie; die Leute, denen sie darin begegnete, erregten ihr Grauen, denn sie grüßte sie freundlich, wie sie es gewohnt war, und sie starrten sie verwundert an, ohne ihren Gruß zu erwiedern. Endlich mochte sie gar nichts mehr sehen, schloß die Jalusieen des Wagens, wickelte sich in ihren Schleier und saß lange in schweigendem Sinnen verloren, bis Frau Dalling dem Wunsch nicht mehr widerstehen konnte, durch liebkosende Fragen ihre junge Reisegefährtin aus ihren Träumereien zu erwecken.

Sey ruhig, gute Dalling, entgegnete ihr Gabriele, ich dachte jetzt an meine Mutter, und überlegte [52] was ich thun muß, um zu seyn, wie sie es wünschen würde. Der Zeitpunkt ist sehr früh gekommen, den sie mir so oft mit schmerzlichem Vorgefühl andeutete; ich trete jetzt in die fremde Welt, und ohne sie. Aber sie soll mir nicht gestorben seyn, ich will wie unter ihren Augen mein Leben fortsetzen, denn hier in meiner Brust fühle ich zu deutlich alles, was sie mir rathen würde, und die fremden Leute sollen mich nicht darin stören. Finde ich ein Wesen, das ich lieben könnte, so will ich lieben, auch wenn man mich nicht bemerkt, und ich werde glücklich seyn, denn wer liebt, ist glücklich; alles andre was kommen kann, werde ich gefaßt zu ertragen streben, wie meine Mutter auch that; darum, liebe Dalling, gräme dich nicht um mich, auch wenn du mich in wenigen Tagen verlassen mußt; freilich thut mir noch das Herz sehr weh, aber alles soll dennoch gut werden.

Von diesem Moment an ward Gabriele augenscheinlich heiterer, Frau Dalling sah mit einiger Freude, wie das junge Kind gegen seine vorige Trostlosigkeit ankämpfte, selbst gegen das [53] Bangen vor dem ersten Eintritt in das gefürchtete Haus der Tante und in neue unbekannte Verhältnisse. Sie ist ganz wie die Mutter, dachte die gute Frau, aber doch auch ein wenig wie der Vater.


Am Abend des zweiten Tages der Reise langten unsre Wandrer ziemlich früh in dem ihnen vom Baron bestimmten Nachtquartiere an; es war das letzte unterwegs, denn sie gedachten, am folgenden Tage noch bei guter Zeit den Ort ihrer Bestimmung zu erreichen. Der Wagen hielt vor der Thüre eines großen ansehnlichen Gasthofes, mitten auf dem gewühlvollen Marktplatz der ersten bedeutenden Stadt, welche Gabriele sah. Viele Fremde füllten die Fenster des Hauses und betrachteten mit und ohne Brille neugierig die Aussteigenden. Diesen kam der auf ihre Ankunft vorbereitete sehr elegante Gastwirth höflich entgegen. Alles war Gabrielen neu und beängstigte sie nicht wenig, sie eilte durch die Schaar der zu ihrem Empfang geschäftig hin und her laufenden Aufwärter, und war herzlich froh, [54] so schnell als möglich in das für sie bereitete Zimmer flüchten zu können. Dort fühlte sie sich vor allen den vielen Augen gerettet und blickte mit Wohlgefallen aus dem Fenster auf das ihr ganz neue Schauspiel der Kutschen und geputzten Leute, die dem nahen Theater zuwogten.

Lautes Lachen dicht unter ihrem Fenster machte sie aufmerksam; sie sah eine Menge Zuschauer um einen sehr schönen Reisewagen vor der Thüre des Gasthofes versammelt, aus welchem eben zu Gabrielens Verwunderung ein altes Mütterchen in der ärmlichsten Bauerntracht, gebückt und mühsam heraus kletterte. Ein junger Mann von vornehmem Ansehen unterstützte sie mit seinem Bedienten und geleitete sie mit großer Sorgfalt in das Haus, ohne sich durch die lauten Anmerkungen der Umstehenden im mindesten dabei stören zu lassen.

Da hat uns der Herr Graf einen angenehmen Gast mitgebracht, Herr Lorenz! hörte Gabriele den Kellner zu dem eben wieder hinaustretenden Kammerdiener des Fremden sagen, die Alte sieht ja aus, als wäre ihr die Ofengabel [55] unterwegs scheu geworden und habe sie abgeworfen. Viel anders wird es auch wohl nicht seyn, erwiederte Herr Lorenz sehr verdrüßlich, wir fanden sie im Chaussee-Graben, und denken sie nur, fuhr er fort, ich mußte wegen des häßlichen Ungethüms aus dem Wagen und auf den Kutschbock neben den Jäger mich setzen. Unerhört! rief der Kellner, mit allen Zeichen des höchsten Erstaunens. Ach was unerhört! antwortete Herr Lorenz noch verdrüßlicher, mein Herr macht mir alle Tage ähnliche Streiche, und am Ende fällt der Schimpf immer auf mich, wenn wir so wie heute vor den Leuten zum Spektakel werden, denn ihm ist das einerley. Hören Sie, lieber Herr Lorenz, sprach beschwichtigend der eben hinaustretende Wirth, das verstehen Sie nur nicht recht, der Herr Graf machen den Spleen mit, das ist jetzt unter den jungen Herrn eine ganz neue Mode aus England.

Gabriele mochte nichts weiter hören, sie wandte sich vom Fenster, konnte aber das kleine Abentheuer den ganzen übrigen Abend nicht vergessen. Der Wunsch, von der wunderlichen Reisegesellschaft[56] mehr zu erfahren, überwand zuletzt die Furcht, in dem fremden Hause allein im Zimmer zu bleiben, und Frau Dalling mußte sich entschließen, ihrem Bitten nach zugeben und auf Erkundigung hinunter zu gehen. Der Name des Fremden war der Wirthin unbekannt, obgleich er schon einigemal ihr Haus besucht hatte. Uebrigens hörte Frau Dalling erzählen, daß der Fremde wirklich die arme Frau unterwegs halb ohnmächtig im Chausseegraben liegend gefunden und sie zu sich in den Wagen genommen habe, weil sie nicht weiter gehen konnte, und sich auf dem hohen Kutschersitz nicht festzuhalten vermochte. Die gute Alte war vor wenigen Wochen durch den Tod ihrer Tochter ihrer einzigen Stütze beraubt, und wollte jetzt nach Böhmen zu ihrem dort ansäßigen Sohne. Mühselig hatte sie sich viele lange Tage auf dem Wege dahin fortgeschleppt, bis sie vor Ermattung nicht weiter konnte, und ohne den Beistand des Fremden wäre ihr wahrscheinlich in der kalten Herbstnacht der Tod geworden. Jetzt war ihr geholfen, der Fremde hatte nicht nur für ihre augenblickliche Erquickung gesorgt, sondern[57] sie auch so reichlich beschenkt, daß sie den Rest des Weges fahren konnte, ohne deshalb mit ganz leeren Händen bei ihrem Sohne anzulangen.

Die halbe Nacht hindurch mußte Gabriele an den Unbekannten und seine menschenfreundliche Handlung denken, sie träumte sogar von nichts Anderem. Nicht die That selbst war es, was sie in Bewunderung versetzte, diese kam ihr gar nicht außerordentlich vor, denn oft hatte sie ihre Mutter Aehnliches üben gesehen, wohl aber, daß ein Mann solchen zarten Mitleids, solcher thätigen Theilnahme an fremden Leiden fähig sey. Dieses feinere Gefühl hatte sie bis jetzt einzig für das Eigenthum der Frauen gehalten; sie kannte keinen Mann außer ihrem Vater, dessen in Erbitterung erstarrtes Gemüth bei jedem ähnlichen Anlasse nur zu deutlich sich aussprach. Mehr oder weniger ihm ähnlich dachte sie sich fast alle Männer im wirklichen Leben, und Auguste hatte absichtlich diese Meinung unangefochten gelassen.

Kein Wunder war es demnach, daß der Unbekannte Gabrielen wie eine seltene Erscheinung aus einer andern Welt vorschwebte. Gern hätte [58] sie wenigstens die Züge seines Gesichts deutlich gesehen; obgleich sie aber am andern Morgen weit früher als Frau Dalling erwachte und vom Geräusch Abreisender sich an das Fenster locken ließ, so sah sie doch nur seine Gestalt, als er in den Wagen stieg, und hörte seine Stimme, indem er der alten Frau noch einige freundliche Abschiedsworte zurief. Etwas ungeduldiger als gewöhnlich fing Gabriele nun an, ihre eigene Abreise zu betreiben, im Wagen beschäftigte sie nur der Unbekannte, sie bildete sich tausend Möglichkeiten, ihn im Hause der Tante anzutreffen, sie dachte sich allerlei Verhältnisse, in welche sie mit ihm gerathen könnte, und sprach so lange mit ihrer Reisegefährtin von nichts Anderem, bis sie selbst über ihre kindische Einbildung lächelnd ausrief: Was denke ich weiter an ihn, er ist jetzt fern von hier und ich sehe ihn in meinem Leben nicht wieder. Aber in ihrem Herzen behauptete eine dem Wunsch sehr gleichende Ahnung das Gegentheil, und diese traf früher ein, als sie hoffen konnte, denn der Fremde war Ottokar.


[59] Ein ungeheures Lärmen im Hause erweckte Gabrielen am ersten Morgen in ihrem neuen Aufenthalt. Thüren wurden auf- und zugeschlagen, Treppen und Vorsäle dröhnten von den Tritten der hin und her laufenden Bedienten und Handwerker, es war ein Hämmern, ein Fluchen, ein Rufen und Schelten, als sey eine feindliche Armee eingerückt und das Haus dem Abendfeste zu Ehren in völligem Aufruhr.

Gabriele schmiegte sich vor dem ungewohnten Getöse wie ein schüchternes Vögelchen in eine Ecke, bis die Stunde schlug, in der sie der Tante ihren Morgenbesuch abstatten mußte. Mit Erstaunen begegnete sie auf der Treppe dem wohlbekannten Herrn Lorenz, schwer belastet mit einem Korbe voll der auserlesensten Blumen. Seine Erscheinung freute sie, als ein Beweis, daß sie nicht irrte, indem sie in Ottokarn den Unbekannten aus dem Gasthofe wieder zu finden glaubte. Aber als sie weiterhin ihn selbst durch die halb geöffnete Thüre eines Zimmers erblickte, und dadurch die Gewißheit erhielt, mit ihm in Einem Hause zu leben, ihn alle Tage zu sehen und zu [60] hören, da bemächtigte sich ihrer ein freudig-ängstliches Gefühl. Es war ein Glück für sie, daß die Gräfin, zu beschäftigt mit Anordnungen für den Abend, Gabrielens Eintritt kaum bemerkte und noch weniger ihr höchst befangnes Wesen. Kurz, aber freundlich entließ die Tante sie gleich in der ersten Minute, und gab ihr nur noch die Weisung mit auf den Weg, sich zu Aurelien zu begeben, die sie in ihrem Zimmer finden würde, umringt von Freundinnen, welche heut mit einander in Geschenken zu ihrem zwanzigsten Geburtstage wetteiferten.

Den Geburtstag hatte die arme Gabriele ganz vergessen, und ein Geschenk für die gefürchtete Kusine setzte sie in die höchste Verlegenheit. Sie eilte zurück in ihr Zimmer, ergriff ohne große Wahl eine ihrer besten Zeichnungen und betrat damit athemlos die Schwelle des zierlichen Zimmers, in welchem Aurelia in frischer, einfacher Morgentracht, schön wie der junge Tag, vor einem großen Tische stand, auf dem alles ausgebreitet lag was die Mode in unsern Tagen köstliches und elegantes zum Schmuck der Jugend erfand. [61] Eine Schaar junger Mädchen half ihr alle die Geschenke bewundern, mustern und ordnen, mitten unter ihnen stand Ottokar mit sichtbarer Freude an dem jugendlichen Wesen und Treiben. Die seltensten, schönsten Blumen aller Jahreszeiten und Zonen blüheten und dufteten an Wänden und Fenstern. Gabriele erkannte die Blüthen auf den ersten Blick für die nehmlichen, welche Lorenz vorhin an ihr vorüber trug.

Da kommt unser kleiner Eigensinn von gestern Abend, rief Aurelie, als sie Gabrielen erblickte, und trat freundlich der Verlegnen entgegen, die es kaum wagen mochte, ihr bescheidnes Geschenk neben allen jenen Herrlichkeiten zu zeigen. Das ist ja leibhaftig die Gespensterburg deines Vaters, fuhr Aurelia fort, indem sie die Zeichnung besah; so nimmt sie sich vortrefflich aus, aber behüte mich der Himmel davor, sie in der Wirklichkeit wieder zu sehen! Gemalt sind die alten Schlösser ganz allerliebst; auch auf dem Theater oder in Romanen mag ich sie wohl leiden, besonders wenn ganz erschrecklich wundersame Begebenheiten sich darin zutragen, aber sitzt man selbst in solch einem [62] alten Neste und lebt so allein fort, ohne etwas zu erleben, dann thäte man besser, vor Graun und Langeweile zu sterben. Ich wundre mich wirklich, daß ich während der zwei Tage im Schloß Aarheim noch mit dem Leben davon kam. Es ist eine betrübte Existenz; danke Gott, liebes Kind, daß du ihr entronnen und bei uns bist, du wärst dort auch so eine Art von Käuzlein in den krausen alten Thürmen geworden; Anlagen hast du dazu, sprach sie lächelnd, indem sie Gabrielen umarmte und sie dann allen ihren gegen wärtigen Freundinnen der Reihe nach vorstellte.

Die Menge der Namen rauschte an Gabrielens Ohr vorüber, ohne daß sie einen zu fassen vermochte, nur fiel es ihr auf, daß auch die Gräfin Eugenia sich unter den Glück wünschenden Freundinnen befand. Diese hier zu sehen, hätte sie nach der Scene des gestrigen Abends nicht erwartet, noch weniger in so anscheinend vertrautem Verhältniß mit Aurelien. Alle die jungen Damen waren gegen Gabrielen sehr zuvorkommend freundlich; aber diese blieb verlegen, sie haßte sich selbst in diesem Moment wegen ihrer [63] Unbehülflichkeit, die sie doch nicht abzuwerfen vermochte. Ihre Bänglichkeit stieg mit jeder Minute, denn sie sah, daß Ottokar ihre Zeichnung aufmerksam betrachtete; und als er nun vollends die geistreich kühne und dennoch vollendete Ausführung derselben lobte, und sich mit der Frage nach dem Namen des Künstlers an sie wendete, da konnte Gabriele vor gewaltigem Herzklopfen kaum ihre eigne Antwort hören, daß sie selbst unter Anleitung ihrer Mutter sie gezeichnet habe. Er sprach noch einige lobende Worte und verließ bald darauf die Gesellschaft.

Gabriele langte bei ihrer Dalling mit dem Gefühl an, als sey eine höchst wichtige Begebenheit vorgefallen, etwas ganz Unerhörtes geschehen, das sie der Einzigen kund thun müsse, die noch in der Welt Theil an ihrem Schicksal nahm; und dennoch wußte sie nichts zu sagen, was sich nicht in der Erzählung höchst gewöhnlich ausgenommen hätte. Eine nie gefühlte Unruhe trieb sie rastlos umher. Wenn sie ihres ungeschickten Benehmens gegen Aureliens Freundinnen gedachte, wenn sie sich errinnerte, wie jene von ihrem Aeußern und [64] ihrem Betragen irre geführt, sie wie ein Kind behandelt hatten, dem man freundlich thut, damit es nur nicht weine; dann verging sie fast in der fürchterlichen Qual, sich ihrer selbst zu schämen, denn sie konnte es sich nicht verhehlen, daß sie größtentheils durch eigne Schuld in diesem Lichte erschienen war. Ottokars Lob ihrer Zeichnung vermochte nicht, sie zu trösten, sie glaubte eine Spur ungläubigen Lächelns an ihm bemerkt zu haben, da sie sich selbst nannte, als er nach dem Namen des Künstlers gefragt hatte, und dieß kränkte sie noch tiefer als alles übrige. Frau Dalling selbst war in diesem Moment über die auf den folgenden Morgen bestimmte Trennung von dem Liebling ihres Herzens zu betrübt, als daß sie fähig gewesen wäre, Gabrielen Trost und Muth einzusprechen, sie verstand sogar den Kummer und das beklommne, unruhige Wesen derselben nicht, sondern schrieb alles dem Gefühl zu, von dem sie selbst niedergebeugt ward. Und so wußte die gute Frau nichts beßres zu thun, als Gabrielen recht mütterlich in ihre Arme zu schließen und herzlich mit ihr zu weinen, da diese, [65] von innerm Weh überwunden, zuletzt in heiße, bittre Thränen ausbrach.

Gabriele errang auch dießmal ihre gewohnte Fassung zuerst wieder. »Ich will nicht mehr weinen,« sprach sie, trocknete ihre Augen und richtete sich hoch auf. »Laß mich jetzt von dir Abschied nehmen, liebe Dalling,« setzte sie hinzu, »jetzt in dieser ruhigen Stunde, nicht heute Abend, wenn ich erschöpft aus der Gesellschaft komme, nicht morgen früh im Geräusch des Einpackens und der Abreise. Du gehst mit Tagesanbruch von mir, geleite dich Gott, du meine einzige Freundin in dieser Welt, grüße meine Berge, meine Bäume, meine Blumen; ich war unter ihnen sehr glücklich, aber auch hier werde ich nicht unglücklich seyn, der Gedanke an meine Mutter wird mich vor Unrecht behüten, und alles andre ist zu ertragen. Noch bin ich hier fremd, noch ist mir alles ungewohnt, und der Abstand zwischen jetzt und ehemals ist sehr groß; aber ich werde mich eingewöhnen und lernen, was mir noch fehlt, um in diesen neuen Verhältnissen mich zurecht zu finden. Mein Vater schickte mich her, [66] um mich für die Welt zu bilden; sage ihm, daß ich ihm gehorsam seyn und alles thun werde, seinen Wunsch zu erfüllen so viel ich es vermag. Und nun nimm meinen Dank für deine unaussprechliche Liebe und Treue. Sehnen werde ich mich immer nach dir, aber glaube nur, ich weiß es, ich finde auch hier ein Wesen, das ich lieben kann, und bin dann glück lich; laß dieß nochmals dir zum Troste gesagt seyn, wenn du im Schloß Aarheim sorgend meiner gedenkst.«


Bei aller ihrer mühsam errungnen Fassung sah Gabriele dennoch mit Zittern der Stunde entgegen, in welcher sie sich am Abend zur Gesellschaft begeben mußte; sie fürchtete neue Verlegenheiten, neue Demüthigungen, ohnerachtet sie sich fest vorgenommen hatte, ihre scheue Blödigkeit so viel möglich zu besiegen. Kein Zureden Aureliens und ihrer Kammerjungfern, sogar nicht das Zürnen der Tante hatten sie bewegen können, in ihrer, die tiefste Trauer bezeichnenden Kleidung etwas abzuändern. Selbst dem Bitten ihrer lieben Frau Dalling hatte sie widerstanden, die[67] durch die Wichtigkeit, welche man der Sache gab, in ihrer eignen Ansicht wankend geworden war. »So geh denn, eigensinniges Kind!« entschied endlich die Tante, des Streitens müde, »geh wie du willst und verdanke dir es selbst, wenn du ausgelacht wirst.«

Die vielen Lichter, die emsig hin und her laufenden Diener, die glänzende Versammlung in der langen Reihe prächtig dekorirter Zimmer erregten in Gabrielen jene Art Bangigkeit, welche wohl einen Jeden beim ersten Eintritt in die Welt ergreift, der auch nicht so klösterlich aufwuchs wie sie. Giebt es doch viele in der Gesellschaft, denen dieß Gefühl zeitlebens bleibt, selbst aus den höhern Ständen, die für abstoßend stolz gelten, während sie nur verlegen sind. Wenige von den Gegenwärtigen bemerkten Gabrielens Eintritt in den Saal, aber diese Wenigen staunten beim Anblick des bleichen, der Kindheit kaum entwachsenen Mädchens im langen schwarzwollnen Trauerkleide, dem tief hinunter wallenden Kreppschleier, mit der breiten, die Stirne bedeckenden Schneppe, unter der sich nur einige [68] ihrer wie Gold glänzenden reichen Locken hervordrängten. Der Tante Prophezeihung ward nicht erfüllt, niemanden fiel es ein, zu lachen, aber jedermann wich ihr mit einer Art Aengstlichkeit aus, denn diese dunkle Erscheinung mitten im festlichen Glanze hatte wirklich etwas Geisterartiges. Vergebens blickte Gabriele um sich her und suchte in dem Gewühl, ein bekanntes Gesicht heraus zu finden, sie erblickte keines; selbst die Gräfin und Aurelia waren nicht gegenwärtig, der Anzug für die Tableaus hielt sie entfernt. Eine schöne Frau mittleren Alters vertrat die Stelle der Frau vom Hause beim Empfang der Gesellschaft. Gabriele fühlte sich mächtig von ihr angezogen, sie glaubte, in ihr eine entfernte Aehnlichkeit mit ihrer Mutter zu finden und konnte kaum den Blick von ihr wenden, aber sie kannte sie nicht und wagte es daher auch nicht, sich ihr zu nähern.

So stand Gabriele lange ganz allein, sah, wie überall Gruppen von Bekannten sich bildeten, wie einzelne Paare einander aufsuchten und sich im eifrigen Gespräch von den übrigen absonderten. [69] Niemand suchte sie, niemand hatte ihr etwas freundliches zu sagen, sie war und blieb einsam mitten in der großen Versammlung und ward darüber recht innerlich betrübt. Der Gedanke, wie sie eigentlich eben so verlassen in der ganzen Welt dastehe als hier in der Gesellschaft, fiel mit lastender Schwere auf ihr nach Liebe sich sehnendes Gemüth. Schon war sie im Begriff, sich von alle den Glücklichern zurückzuziehn und in ihr einsames Zimmer zu schleichen, als sie ihre Hand ergriffen fühlte. Es war der freundliche ältliche Mann, dessen unerwartete Anrede sie am vergangnen Abende so erschreckt hatte, und der ihr jetzt den Arm bot, um sie im Gefolge der übrigen Gesellschaft in das zu den Tableaus bestimmte Zimmer zu führen.

Eine von Haydns herrlichsten Symphonieen verkündete dort das nahe Aufrauschen des die Darstellung noch verhüllenden Vorhangs. Nie zuvor hatte Gabriele den Einklang vieler Instrumente zugleich gehört, er ergriff sie mit seinem allgewaltigen Zauber, vor welchem alles Beengende von ihr abzufallen schien. Die Töne trugen [70] sie weit weg auf unsichtbaren Flügeln in ihr magisches Reich, sie sprachen mit ihr von ihrer Vergangenheit, von allem, was ehemals sie beglückt hatte, und hauchten ihr neue Freude am Leben und frischen Jugendmuth ein. Die Dämmrung in dem nur durch die Lichter der Nebenzimmer schwacherleuchteten Saal erlaubte es ihr, ungehindert sich ihrem Gefühl zu überlassen; ihr Führer war neben ihrem Sitz stehen geblieben; mit dankbarem Vertrauen blickte sie zu ihm auf und entdeckte im nehmlichen Moment dicht neben ihm Ottokars hohe Gestalt, der sie begrüßend sich gegen sie verbeugte.

Ein Gruß im gewöhnlichen Gange des Lebens ist gar wenig, aber unendlich viel für den, der vereinzelt in einer großen Gesellschaft, mit dem Gefühl der Verlassenheit dasteht; dies Zeichen des Bemerktwerdens, gerade von ihm, gab Gabrielen ein so tröstendes Selbstbewußtseyn, daß sie dadurch beruhigt, in den Stand gesetzt ward, sich des eben beginnenden Schauspiels wirklich theilnehmend zu erfreuen.

Tante Kleopatra nahm sich auf ihrem königlichen[71] Thron zum Bewundern gut aus. Mit aller ersinnlichen Grazie hielt sie die reiche Perle über den Becher, und hatte keine Ahnung von den Anmerkungen, die links und rechts unter den Zuschauern hingeflüstert wurden. Dreimal senkte sich der Vorhang, dreimal mußte er auf lautes Bitten der Anwesenden sich wieder heben, die alle behaupteten, des herrlichen Anblicks gar nicht müde werden zu können.

Am entzücktesten stellte sich die Gräfin Eugenia, ihr Beifall war der rauschendste und kannte weder Maaß noch Ziel, während sie zu gleicher Zeit tausend witzigboshafte Einfälle über die herbstliche Kleopatra und ihren das Schmuckkästchen tragenden Edelknaben den jungen Herren zuflüsterte, die dicht zusammengedrängt hinter ihrem Stuhle standen, ihr aufs kräftigste applaudiren halfen, und dabei jedes ihrer Worte mit allen Zeichen des Beifalls von ihren Lippen gierig auffingen. Sie saß so nahe bei der von ihr ganz übersehenen Gabriele, daß diese keine Sylbe von dem, was sie sprach, verlieren konnte; auch manches andre spottende Wort einiger der übrigen Anwesenden [72] traf deren Ohr und kontrastirte so sehr mit der, von allen laut ausgesprochnen Bewunderung, daß Gabriele ein innres Grausen über die Falschheit der Menschen empfand, unter denen sie leben sollte. Ihr war zu Muthe, als sey sie unter gespenstische Larven gefallen, die im nächsten Moment sich umwandeln und in eigenthümlicher, fürchterlicher Gestalt dastehen müßten. Wie nach Rettung sah sie ängstlich um sich her.

»Seyn sie ruhig, liebes Fräulein!« flüsterte eine leise Stimme ihr zu,« auch ich sehe und höre, was Sie empört, aber es ist nicht so böse, als Sie in ihrer Unschuld es glauben.« Verwundert blickte Gabriele auf und sah ihren Führer, der noch immer neben ihr stand. Seine Gegenwart erschien ihr in diesem Moment wie ein Trost vom Himmel. »Die Welt,« fuhr der freundliche Mann mit mildem Lächeln fort, indem er zu ihr sich hinabbeugte, »die Welt ist leider lange nicht so gut, als Sie in ihrer Unerfahrenheit es vielleicht noch vor acht Tagen glaubten, aber auch wahrlich lange nicht so arg, als sie jetzt Ihnen vorkommen muß. Diese kleinen Bosheiten, vor denen Sie sich in [73] diesem Augenblick mit Recht entsetzen, werden Ihnen in kurzem ziemlich harmlos scheinen, wenn Sie diese Menschen und ihr wahres Meinen erst näher kennen, denn in der That diese Einfälle haben keinen Zweck und erreichen auch keinen, wie den, für den Moment als witzig bewundert zu werden. Sie werden sich daran gewöhnen und sie endlich ganz gleichgültig betrachten.« »Nie! nie!« rief Gabriele so laut, daß sie selbst darüber erschrak, besonders da sie gewahr ward, daß der noch immer in ihrer Nähe sich befindende Ottokar dadurch aufmerksam auf ihr Gespräch gemacht ward. »Gewiß!« erwiederte ihr Führer leise und beschwichtigend, indem er zugleich auf den sich wieder hebenden Vorhang hinwies.

Mehrere Tableaus folgten dem der Kleopatra, alle wurden laut gepriesen und leise bekrittelt, bis ganz zuletzt Aurelia in wahrhaft himmlischer Glorie als Raphaels Jardiniere erschien. Die Kinder standen so anmuthig da, sie selbst war in dieser Stellung mit gesenktem Auge so hinreißend schön, daß sogar der Neid verstummen mußte. Ein einziger Athemzug der Bewunderung säuselte [74] durch die Stille des glänzenden Kreises und löste sich erst spät in lauten Beifall auf. Gabrielens für Freude glänzendes Auge traf auf Ottokarn, Dieser starrte vorgebeugt, wie in Bewunderung verloren, noch immer den Vorhang an, welcher schon lange die holde Erscheinung verhüllt hatte. Als sich Ottokar endlich wandte, traf sein Blick auf Gabrielen, er lächelte ihr in theilnehmendem Entzücken wie einer Bekannten zu, und dieser kleine Zufall durchströmte sie mit Empfindungen, die sie zu verstehen weit entfernt war.

Die Gesellschaft vertheilte sich wieder in den Nebenzimmern, um dort die Damen des Hauses nebst den übrigen bei den Tableaus beschäftigt gewesenen Personen zu erwarten und nochmals mit Bewunderung und Dank zu überschütten. Gabriele blieb mit ihrem Begleiter beinah allein in dem dämmernden Saal, und er benutzte diese Pause, um sich ihr als einen Maler zu erkennen zu geben, dessen bedeutender Name im neuern Gebiet der Kunst ihr schon rühmlichst bekannt war. Signor Ernesto hatte man ihn der Landessitte gemäß in Italien genannt, wo jeder Zuname [75] dem Taufnamen weichen muß, und diese Benennung blieb ihm auch in der Gesellschaft, seitdem er vor kurzem nach einem, viele Jahre langen Aufenthalt in Rom, wieder in sein deutsches Vaterland zurückkehrte.

»Ich war gestern bei Ihrer Ankunft zugegen, mein theures Fräulein,« sprach Ernesto weiter zu Gabrielen, »ich erkannte in Ihnen beim ersten Blick das Ebenbild Ihrer Mutter; so wie Sie jetzt vor mir stehen, so sah ich sie einst in Rom, jugendlich blühend, mit glänzendem Auge vor den hohen Wundern der unsterblichen Kunst. Mir ward das seltene Glück, ihr Begleiter auf ihren Wanderungen durch die Königin der Städte, ihr erster Lehrer in der bildenden Kunst zu seyn; ich werde auch Ihr Lehrer, Gabriele, ich habe mich schon gestern bei der Gräfin dazu erboten, sobald ich den Zweck Ihres hiesigen Aufenthaltes vernahm. Schlagen Sie es mir nicht ab, Sie brauchen einen väterlichen Freund zu Schutz und Rath, der will ich Ihnen werden, und ich kann es nur, wenn der Unterricht im Zeichnen mir Gelegenheit verschafft, Sie täglich ohne äußre [76] Störung zu sehen. Mir ist bei Ihrem Anblick,« fuhr er fort, weil Gabriele schweigend ihm zuhörte, »mir ist, als hätte ich in Ihnen eine geliebte Tochter gefunden, als wäre der schöne Frühling meines Lebens zurückgekehrt, als stünde Auguste und mit ihr Roms alte Herrlichkeit wieder vor meinem frischen jugendlichen Sinn. Und darum will ich auch väterlich um Sie sorgen, Sie leiten auf dem unbekannten, gefährlichen Pfade in der Ihnen so fremden Welt, wenn Sie mich nicht zurückweisen.«

Ernesto hätte noch lange fortsprechen können, ohne daß er von ihr unterbrochen worden wäre, sie vermochte sogar kaum, ihm zu antworten, aber ihr beredtes Auge sagte ihm alles, was in ihrem tiefbewegten Gemüthe vorging. Nicht mehr allein und verlassen, hatte sie jetzt einen Freund ihrer Mutter zur Seite, der auch ihr wie ein Bekannter aus früheren Tagen erschien. Mit Entzücken fühlte sie dieß, und alles, was sie umgab, zeigte sich ihr in einem neuen, schönern Licht, die Tante, Aurelia, die ganze Gesellschaft, zu der [77] sie jetzt, von Ernesto begleitet, wie ein fröhliches Kind an der Hand seines Vaters zurückkehrte.

Die Gräfin und Aurelia standen mitten in einem dichten Kreise von Bewunderern, die sie mit den ausschweifendsten Lobsprüchen überströmten. Nur mühsam gelang es Gabrielen, bis zu ihnen sich durchzuwinden, und ihr Staunen beim Anblick der rosig blühenden, Freude strahlenden Tante war fast noch größer als gestern. Die Gräfin benutzte die Gelegenheit, ihre Nichte vielen der eben anwesenden Damen vorzustellen, eine Ceremonie, welche noch vor einer Stunde Gabrielen sehr verlegen gemacht hätte, über die sie aber jetzt, durch Ernestos Gegenwart ermuthigt, mit großer Fassung und leidlichem Anstande hinauskam. Die Reihe traf endlich auch die Dame, welche vorhin, während der Abwesenheit der Gräfin, die Stelle derselben beim Empfange der Gesellschaft vertreten hatte, und deren Aehnlichkeit mit ihrer Mutter Gabrielen jetzt, da sie sie in der Nähe sah, mit einer unendlichen Wehmuth erfüllte. Die Gräfin Rosenberg nannte sie Frau von Willnangen, eine nahe Verwandte ihres verstorbenen [78] Gemahls. Gabriele erstarrte beinah, als sie diesen Namen hier hörte, den ihre Mutter ihr nur in Stunden des engsten Vertrauens als den Namen ihres verlornen Jugendfreundes genannt hatte. Aengstlich suchte sie wieder, in Ernestos Nähe zu gelangen, um von ihm zu erfragen, in welchem Verhältniß diese Frau mit Ferdinand von Willnangen gestanden haben mochte, den er gewiß auch gekannt hatte, aber ein Chor von Damen hielt ihn umlagert und machte es ihr unmöglich.

Ein Konzert begann jetzt, die letzte Stunde vor der Abendtafel auszufüllen, nach welcher ein Ball die Freuden des Tages beschließen sollte. Die rauschende Symphonie hatte vorhin Gabrielen auf mächtigen Wogen in eine andere Welt versetzt; jetzt versenkte ein Quartett, von Meistern meisterhaft durchgeführt, sie ganz in sich selbst, die Töne verstummten endlich, aber sie hallten noch in ihrem Innern wieder, und sie saß da, ihnen lauschend, als sie plötzlich von neuem sich erhoben und eine einzige Stimme, voller, reiner als alle, sie übertönte. Gabriele blickte auf und [79] sah Ottokar neben Aurelien am Pianoforte stehen. Beide sangen mit einander ein italienisches Duett, voll Sehnsucht und Liebe. Gabriele kannte es, sie hatte es einigemal mit ihrer Mutter gesungen, in ihrem Innern sang sie auch jetzt es mit, und ihr ganzes Wesen verschwebte im süßesten Verein mit Ottokars Tönen. Die Verzierungen und Manieren, welche nach der neueren Weise Aurelie der einfachen Melodie anhängte, schienen Gabrielen ein fast frevelhaft störendes Beginnen, obgleich sie ihre Kunst, so wie ihre sehr schöne Stimme, bewundern mußte. Ihr Leben hätte sie in der Minute freudig hingegeben, um an Aureliens Stelle so neben Ottokar zu stehen, und doch fühlte sie in der nächsten, wie unmöglich es ihr seyn würde, nur einen Ton hervorzubringen.

»Leidvoll und freudvoll« eilte Gabriele gleich nach dem Konzert hinauf in ihr stilles Zimmer, zu welchem später, wie aus weiter Ferne, die frohe Tanzmusik herüber tönte. Ihr Herz war übervoll von allen Ereignissen dieses bangen und freudigen Abends, zu voll zur Mittheilung; nur Ernestos Erscheinung blieb ihr ganz klar, und [80] diese war ein großer Trost für die um das Kind ihrer innigsten Liebe mütterlich besorgte Frau Dalling.


Mit schwerem, sorgenvollem Herzen war am folgenden Morgen Frau Dalling beim Anbruch des Tages von ihrer Gabriele geschieden, und diese suchte nun mit der neuen, ihr von der Tante zugegebenen Kammerjungfer sich einigermaaßen zu befreunden. Es war ihr unmöglich, gegen die hübsche, zierlicher als sie selbst geputzte Annette den Ton der Gebieterin anzunehmen, und Annette konnte sich auch nicht sogleich in die freundliche Art ihrer neuen Herrschaft finden, die gar nichts zu ersinnen wußte, was sie ihr hätte befehlen können. So waren beide ein Paar Stunden in ziemlicher Verlegenheit einander gegenüber geblieben, als Ernestos früher Besuch, der erste, den Gabriele je erhielt, der Noth endlich ein Ende machte.

»Ich erscheine in dieser unschicklich frühen und deshalb visitenfreien Stunde, um Sie zu zwei Freundinnen zu geleiten, die mit offnen Armen [81] und Herzen Sie erwarten,« sprach Ernesto; »Frau von Willnangen sendet mich.« »Frau von Willnangen?« unterbrach ihn Gabriele, aufs neue von dem Namen heftig aufgeregt; »höre ich recht? wirklich Willnangen? um Gotteswillen! wer ist diese Frau, die meiner Mutter so ähnlich sieht? Ist sie mit Ferdinand von Willnangen verwandt? Gewiß, Sie kannten auch diesen Ferdinand.« »Wohl kannte ich auch ihn,« erwiederte Ernesto, von trüben Erinnerungen sichtbar bewegt. »Frau von Willnangen,« fuhr er fort, »ist die Mutter seiner Tochter, eines lieben Mädchens, das wohl verdient, ihre schwesterliche Freundin zu werden.« »O Auguste! meine liebe, liebe Mutter!« rief tief erschüttert, in fast betender Stellung, Gabriele, »auch dorthin verfolgt dich unerbittlich dein Geschick! Der selige Geist deines Freundes hat dich auf deinem stillen Lebenswege nicht schützend umschwebt, wie du fromm es wähntest, er geleitete dich nicht aus der bittern Stunde deines Scheidens zur frohen Ewigkeit, die keine Trennung kennt; Ferdinand lebt, er war dir nah, und vergaß deiner, die du wie ein Heiligthum sein Andenken in treuer [82] Brust bewahrtest! So lieben Männer,« fuhr sie mit zürnendem Ernst fort; »treue Liebe wohnt nur im Herzen der Frauen und bleibt dort ihr eigner, einziger Lohn. So lehrte mich meine Mutter mit Recht; wer darf noch hoffen, sie außer sich zu finden, wenn diese Frau vergessen werden konnte!«

Mit theilnehmendem Staunen blickte Ernesto auf das schwärmende, sich seinem Gefühl ganz überlassende Mädchen. »Ich mag Ihren schönen Glauben von unsern Erwartungen jenseits nicht stören, wenn er auch nicht ganz der meinige ist,« sprach er endlich mit sehr bewegter Stimme, indem er ihre gefalteten Hände sanft ergriff. »Erlauben es die Gesetze jenes Landes, von dessen dunkeln Gränzen noch nie ein Wandrer zurückkehrte, der uns Kunde brachte, so empfing Ferdinands seliger Geist Augusten beim Scheiden aus dieser Welt, so umschwebte er sie schützend schon lange vorher auf ihrem Lebenspfad, denn seit mehreren Jahren verließ er dieses Leben, in welchem sein Geschick ihn rastlos umhertrieb und nur späte Ruhe ihm vergönnte. Ich führe Sie [83] jetzt zu seiner Witwe, die gestern hocherfreut in Ihnen die Tochter der Frau erblickte, deren Andenken, ohne daß sie jemals sie sah, ihr dennoch heilig ist, weil es der Mann, den sie liebte, stets im Herzen trug. Sie glaubt es nicht besser ehren zu können, als indem sie Gabrielen mütterliche Liebe entgegen trägt; doch wähnt sie deshalb nicht, ihr jemals Augustens Verlust ersetzen zu können. Das reine, stille Gemüth dieser seltnen Frau war stets zu demüthig, dies sogar bei Ferdinanden zu hoffen, und ohne alles neidische Streben begnügte sie sich immer damit, sein Leben durch Liebe zu erheitern, mit ihm zu trauern, wenn Wehmuth über verlornes Jugendglück in ihm erwachte und ihm die Gegenwart trübte. Kommen Sie, Gabriele,« fuhr Ernesto eifriger fort, »folgen Sie mir in das Haus der Frau von Willnangen, Sie werden einen dem Andenken Ihrer Mutter geweihten Tempel betreten. Die Blumen, die sie vor allen liebte, werden dort noch immer sorgsam gepflegt, ihr Bild ist noch immer der geehrteste Schmuck des Hauses, ich malte es heimlich in Rom für mich und konnte [84] Ferdinands ungestümen Bitten eine Kopie davon nicht versagen; Ferdinands Tochter erhielt bei ihrer Geburt den ihm so theuren Namen Auguste. Glauben Sie mir, Sie werden dort heimisch seyn wie unter verwandten Freunden; vielleicht auch dort überzeugt werden, daß treue Liebe in der stärkern Brust des Mannes oft nur um so sichrer wohnt, als in dem weicheren Herzen der Frauen,« setzte er lächelnd hinzu.

Was Ernesto von Ferdinands späterem Geschick Gabrielen noch ferner mittheilte, läßt sich in wenig Worte fassen. Auf eine ihm unerklärbare Weise von der Geliebten getrennt, währte es beinahe ein Jahr, ehe er den ganzen Umfang seines Unglücks erkannte, und tröstende Hoffnungen begleiteten ihn lange von Land zu Land. Augustens Vater leitete fortwährend mit unsichtbarer Hand sein Geschick; er hatte den Zweck erreicht, ihn auf immer von seiner Tochter zu trennen, und war übrigens nicht weniger als sonst für das zeitliche Glück seines ehemaligen Pfleglings besorgt. Er glaubte sogar, ihm gewissermaaßen [85] Ersatz schuldig zu seyn, und ebnete deshalb, so viel er es konnte, Ferdinands Weg auf der einmal angetretnen Laufbahn seines Strebens, ohne daß dieser es ahnete. Bis Konstantinopel hatte er ihn zu bringen gewußt, als der Tod ihn in Schweden übereilte. An der südlichsten Gränze von Europa erfuhr Ferdinand sehr spät aus den Zeitungen die Nachricht von dem Hinscheiden seines ehemaligen Beschützers, und die weite Entfernung, in der er sich von jenem nördlichen Lande befand, vernichtete den Erfolg jedes schriftlichen Versuches, Augusten, die dort verschwunden war, wieder aufzufinden. Er eilte selbst nach Schweden, sobald seine Verhältnisse es ihm möglich machten, aber vergebens suchte er aufs ängstlichste eine Spur von ihr. In der Residenz war Augustens vorübereilende Erscheinung längst vergessen, in dem kleinen Städtchen, in welchem ihr Vater starb, hatte niemand sie gekannt; nur wenige erinnerten sich ihrer Existenz, keiner wußte nur von ferne anzudeuten, wohin sie sich gewendet haben könne, und in der tiefen Einsamkeit, in welcher sie auf dem Landgute ihrer [86] Tante damals lebte, war und blieb sie ihm verloren.

Ferdinand führte von nun an ein trübes, unstätes Leben, ewig suchend nach dem Glück seiner Jugend und nimmer es findend, bis das Fruchtlose seines Strebens ihm endlich die Ahnung von Augustens Tod zur Gewißheit machte. Jetzt beschwichtigten allmählich wehmüthige Sehnsucht und fromme Hoffnung den wüthenden Schmerz in seinem Innern und wandelten ihn in stille Trauer. Seine äußere Lage befriedigte übrigens alles, was er sonst vom Leben noch wünschen mochte, denn er war durch Thätigkeit und Treue im Dienst seines Fürsten zu einer bedeutenden Stelle in seinem Vaterlande gelangt. Still und trübe lebte er seine Tage hin, bis er einst von ungefähr ein Fräulein Rosenberg erblickte, dessen auffallende Aehnlichkeit mit der Verlornen alle alte Wunden in seinem Innern wieder erneute.

Zuerst fühlte er sich von dieser Aehnlichkeit bald unwiderstehlich angezogen, bald schmerzlich zurückgestoßen. Sie war Auguste und war es [87] doch nicht, aber bei näherer Bekanntschaft fand er in ihr ein mildtröstendes Wesen, das einzige, dem er je die traurige Geschichte seiner Jugend vertrauen mochte. Des Fräuleins innige Theilnahme an seinem Schmerz, ihre demüthige Verehrung Augustens fesselten ihn immer mehr an ihre Nähe, sie gab ihm den einzigen Trost, der ihm noch werden konnte, und bald kam es dahin, daß kein Tag verging, ohne daß er sie zu sehen suchte.

In zarter Frauen-Brust wandelt sich die Theilnahme an den Leiden eines Freundes nur zu leicht in ein glühenderes Gefühl, und Ferdinand konnte sich endlich nicht mehr die Art des Eindrucks verhehlen, den er und seine Schmerzen auf das Herz seiner jungen Freundin gemacht hatten. Er fühlte zugleich, daß sein der Liebe erstorbnes Gemüth dennoch des Trostes inniger, vertrauensvoller Freundschaft nicht mehr entbehren konnte, nachdem es dessen gewohnt geworden war, und so bat er das Fräulein: sein durch tiefen Gram und ewige Sehnsucht getrübtes Daseyn mit ihm zu theilen, ohne sie über die Art [88] seiner Empfindungen für sie zu täuschen, indem er ihr seine Hand bot.

Der schöne Verein alles opfernder Liebe und treuer, inniger Freundschaft, währte kaum ein Jahr; Ferdinand starb, und Familienverhältnisse bestimmten seine Witwe, den Ort ihres bisherigen Aufenthalts mit der Stadt zu vertauschen, in welcher fast alle ihre Verwandten wohnten, und wo Gabriele sie fand. Frau von Willnangen lebte dort mit ihrer Tochter nicht mitten im Strudel der großen Welt, aber doch auch nicht ganz von ihr abgesondert, sie war nicht reich, aber ihre äußre Lage erlaubte ihr, sich keinen wirklichen Lebensgenuß zu versagen, und ihre anspruchlose Bildung, die milde Würde in ihrem ganzen Wesen zogen bald einen kleinen Kreis auserwählter Freunde um sie her, in dessen Mitte sie sich zu wohl befand, um sich nach rauschendern Freuden zu sehnen. Nur selten erschien sie in größern Gesellschaften und stets ungern.

Die Gräfin Rosenberg ehrte in ihr die nahe Verwandte ihres verstorbenen Gemahls, lieben konnte sie sie nicht, dazu war ihr ganzes Wesen [89] zu sehr von dem der Frau von Willnangen verschieden, und eigentlich sahen beide Damen einander nur selten. Aber da die allgemeine Achtung Frau von Willnangen vor allen Andern auszeichnete, so fühlte die Gräfin sich dadurch bewogen, bei jeder öffentlichen Gelegenheit mit der nahen Verbindung zu prunken, in welcher sie sich gegenseitig befanden. Deshalb hatte sie sie auch gebeten, bei dem Feste die Honneurs des Hauses zu machen, so lange sie selbst abwesend seyn mußte, und da es Aureliens Geburtstage zu Ehren angestellt war, so mochte ihr Frau von Willnangen diese Bitte nicht abschlagen.

Gabriele betrat mit hochbewegter Brust an Ernestos Hand das Haus, in welchem alles, besonders die Besitzerin desselben, sie auf das lebhafteste an ihre Mutter erinnerte. Der freundliche Empfang, der ihr ward, that ihrem, in den letzten Tagen so vielfältig verletzten Gemüth unendlich wohl, und jede Spur der scheuen Blödigkeit, die im Hause der Tante sie ängstlich beklemmt hatte, verschwand vor ihm. Die prunklose, aber bequem-zierliche Einrichtung der Zimmer[90] versetzte sie ganz in die frohe Zeit ihrer ersten Jugend zurück; alles deutete darin auf heitern Lebensgenuß, auf Fleiß und Kunstliebe der Bewohner, alles war so, wie sie es bei ihrer Mutter zu sehen gewohnt gewesen war. Ihr ward in diesen Umgebungen, als ob sie nach einer langen Abwesenheit wieder zu Hause angekommen wäre, und mit wahrer kindlichen Freude hörte sie die Einladung, recht oft, wenn es möglich wäre täglich, zu kommen, und jede freie Stunde bei der Frau von Willnangen und ihrer Tochter in ruhiger Gemüthlichkeit zuzubringen.

Der erste Anblick der achtzehnjährigen Auguste eignete sich durchaus nicht dazu, die Herzen mit Sturm zu erobern. Ihr Aeußeres zeichnete sich nur durch eine hohe, regelmäßig schlanke Gestalt aus, und ihr Gesicht war nichts weniger als schön, so lange sie schwieg; aber der Geist, der es belebte, sobald sie sprach, der Ausdruck, den die klaren, großen Augen dann gewannen, gaben ihr einen ganz eignen Reiz, sie fesselten die Herzen wie die Blicke, man sah Augusten eben so gern sprechen, als man sie hörte, und wurde endlich beinah [91] verleitet, sie schön zu finden. Bei dem neuen Gefühl, sich von einem jungen, ihr ähnlichen Wesen liebevoll umfangen zu sehen, ging Gabrielen in nie zuvor empfundner Freude das Herz auf; ein Vorgefühl jugendlich vertraulicher Freundschaft bemächtigte sich ihrer, und glücklicher, als sie es je seit dem Tode ihrer Mutter gewesen war, verließ sie das Haus der Frau von Willnangen mit dem festen Entschluß, sobald als möglich dahin zurückzukehren.


Gabrielens Tante war eine der Frauen, wie man in großen Städten so viele findet, die mit wahrem Heldenmuth allen ihren Neigungen geradezu entgegen handeln, sobald der eben herrschende Ton es gebeut. Funfzig Jahre früher geboren, hätte sie, schwimmend in Moschus- und Ambra-Duft, mit aller damals üblichen Ziererei einer französischen petite maitresse über Vapeurs geklagt, in Gesellschaft Gold gezupft, oder Trisett gespielt, und ihr Haus wäre eine Menagerie von Schooßhündchen und Papageyen gewesen. Die Zeiten, in denen so etwas galt, sind aber vorüber[92] gezogen, und Kunst und Wissenschaft jetzt bei uns an der Tagesordnung. So sah sich die Gräfin gezwungen, sich zur eifrigen Beschützerin derselben aufzuwerfen, wenn sie sich in dem Kreise, den sie die Welt nannte, geltend machen wollte, und die Langeweile nicht zu achten, welche sie dabei empfand.

Im Grunde waren ihr die Figuren in den Modejournälen weit lieber, als alle Raphaele und Kunstgespräche, von denen sie nichts verstand; die Donaunixe oder Rochus Pumpernickel ergötzten sie weit mehr auf der Bühne als Göthe oder Schiller, bei denen sie immerfort heimlich durch die Nase gähnen mußte; und obgleich in ihrem Kabinette alle unsre vorzüglichsten Dichter in goldigem Einbande hinter Spiegelglas strahlten, so griff sie doch ganz in der Stille nur nach Cramer, Spieß und deren Nachfolgern, wenn Migräne oder eine seltne einsame Stunde ihr ein Buch in die Hand spielten. Dennoch wußte sie durch stete Anstrengung, geleitet von einem angebornen Taktgefühl, diesen ihr eignen Geschmack so künstlich zu verbergen, daß niemand merken [93] konnte, wie sehr alles, wonach sie im Aeußern strebte, ihr im Innern zuwider war. Man konnte lange mit ihr umgehen, und dennoch darauf schwören, sie sey geistreich und unterrichtet. Sie wußte sehr gut, wenn es im Theater Zeit war den Kopf verächtlich wegzuwenden, oder auch in Extase zu gerathen, und in ihrem. Gespräch vermißte man keinen technischen Kunstausdruck, kein einziges der vielen neuen Worte, mit welchen unsre Poeten und Kunstjünger die deutsche Sprache neuerdings bereicherten; sie hatte sich alle durch den Umgang zu eigen gemacht. Es geschah wohl dann und wann, daß sie sich in der Anwendung derselben ein wenig vergriff, aber doch immer selten genug, um nicht auffallend zu werden. In zweifelhaften Fällen half sie sich mit einem Ach! oder Oh! die jedermann auslegen konnte, wie er wollte, und übrigens hütete sie sich gar sehr, über irgend ein neues Kunsterzeugniß ihre Meinung voreilig an den Tag zu legen, sondern wartete bescheiden, bis jemand aus der Gesellschaft, auf dessen Ansicht sie sich verlassen konnte, ihr zu einem sichern Urtheil verhalf.

[94] Mit aller dieser Anstrengung war es ihr wirklich gelungen, ihren Zweck zu erreichen. Das Haus der Gräfin Rosenberg galt allgemein für das angenehmste in der Stadt, dem alles zuströmte, was für geistreich und gebildet geachtet seyn wollte, oder auch es wirklich war. Es wimmelte bei ihr von fremden Künstlern, Gelehrten und schönen Geistern, und eine Addresse an die Gräfin schien den mehresten dieser Ankömmlinge nicht minder nothwendig als ein Reisepaß. Wer keine mitbrachte, den wußte sie auf andre Weise sich zuführen zu lassen, denn sie wäre untröstlich gewesen, wenn ein berühmter Mann das Weichbild der Stadt betreten hätte, ohne über ihre Schwelle zu gehen. Freilich schlich sich auch mancher bloß titulär-schöne Geist unter der Menge mit ein, denn an Auswahl war hier nicht zu denken; aber alle vereint brachten doch den Reiz einer mannigfaltigern Unterhaltung, eines geistigern Lebens in die Gesellschaft, als man in andern großen Zirkeln zu finden gewohnt ist, und selbst sehr ausgezeichnete Männer besuchten gern den Vereinigungs-Punkt, der ihnen hier geboten ward. Ueberdem [95] verstand die Gräfin die Kunst, eine sehr angenehme Wirthin zu seyn. Mit anscheinender Sorglosigkeit überließ sie es jedem, nach Gefallen seine Unterhaltung zu wählen, und trachtete nur ganz unmerklich dahin, daß es nie an Stoff dazu mangle. Den feinen Takt echter Geselligkeit hatte lange Gewohnheit ihr zur zweiten Natur gemacht, und jedermann fühlte sich in ihrem Hause frei und behaglich.

Ernesto war der tägliche Gast desselben. Früher zog ihn heiterer Hang zu Geselligkeit dahin, später die Sorge um Gabrielen. Den Gedanken, auch auf Aurelien vortheilhaft zu wirken, den ihre Schönheit zuerst in ihm erregte, gab er auf, sobald er mit gewohntem Scharfblick sie und ihre Mutter durchschaute. Sein durchaus rechtliches Benehmen, sein heller Geist, seine Kenntnisse, vor allem die ihm eigne heitre Unterhaltungsgabe und sein fröhlicher, wenn auch zuweilen etwas kaustischer Witz erwarben ihm allgemeine Achtung und Liebe. Fast immer war er der von Allen gesuchte Mittelpunkt der Gesellschaft, um so mehr, da er bei seiner Genügsamkeit und strengen Mäßigkeit [96] sich von jedermann unabhängig erhielt, und sich nie dahin bringen ließ, seiner Würde in etwas zu vergeben.

Die Gräfin fühlte den ganzen Werth seiner Gegenwart in ihrem Kreise, und strebte auf alle Weise, sich solche zu erhalten, obgleich ihr dabei zuweilen etwas unheimlich zu Muthe wurde. Ernesto war beinah der einzige Mensch, der ihr imponirte, sie fühlte sich gezwungen, ihn zu ehren und sich, sobald er es ernstlich wollte, seinem Willen in manchen Dingen zu fügen. Deshalb wagte sie es auch nicht, ihm zu widersprechen, als er sich ziemlich eigenmächtig gewissermaaßen zu Gabrielens Vormund aufwarf. Die Gräfin mußte es ihm sogar Dank wissen, daß er es unternahm, den mannigfaltigen Unterricht zu leiten, welchen Gabriele zufolge des Willens ihres Vaters in der Stadt erhalten sollte, denn er entledigte sie dadurch einer großen Last, die sie übereilt sich aufgeladen hatte, ohne die dabei vorwaltenden Schwierigkeiten und Mühn gehörig zu bedenken. Sie bat ihn, nur vor allem die ersten Wochen eifrigst zu benutzen, in denen Gabrielens tiefe [97] Trauer, welche diese nicht vor der bestimmten Zeit ablegen wollte, deren eigentliche Einführung in die Welt noch verzögerte, und überließ alles übrige recht gern seinem bessern Wissen und Wollen.


Erwünschteres konnte für Gabrielen nichts geschehen, als daß sie Ernestos Führung übergeben ward, und von ihm geleitet begann ihr Leben bei der Tante sehr bald, sich beruhigend und erfreulich für sie zu ordnen. Bei der Gräfin und Aurelien brach der Tag wenigstens drei Stunden später an als bei ihr; Toilette und Visiten raubten diesen Damen alle übrige Zeit vor der Mittagstafel, es konnte ihnen daher nicht einfallen, Gabrielens Lehrstunden und Uebungen zu unterbrechen, und diese behielt also die vollkommenste Muße für sie und für Ernesto, der jeden Morgen mehrere Stunden mit Zeichnen und im Gespräch bei ihr verweilte.

Er sowohl, als die Lehrer, welche er für sie gewählt hatte, staunten nicht wenig bei der Entdeckung, welche Fortschritte Gabriele schon früher [98] bei ihrer Mutter in alle dem gemacht hatte, was sie ihr von den ersten Anfangsgründen an lehren zu müssen geglaubt hatten, und mehrere von ihnen befanden sich wirklich mit dieser Schülerin in einiger Verlegenheit. Im gewöhnlichen Sinn des Wortes konnte Gabrielens Erziehung wirklich für mehr als vollendet gelten, aber die Gelegenheit zu fernern Fortschritten und Uebung im schon Erlernten war ihr zu willkommen, um sie nicht aufs beste zu benutzen. Uebrigens gewöhnte sie sich durch den Umgang mit ihren Lehrern immer mehr an den mit der Welt, und diese hingegen nahmen wieder recht gern den mühelos erworbenen Ruhm an, in unbegreiflich kurzer Zeit ihre Schülerin so weit gebracht zu haben.

Mit allen lebte Gabriele in der vollkommensten gegenseitigen Zufriedenheit, außer mit ihrem Singmeister, einem sehr vorzüglichen Künstler, der aber von der neuen italienischen Methode bezaubert war. Er bestand darauf, ihre ungewöhnlich reine biegsame Stimme an alle die immer wiederkehrenden Verzierungen und Manieren zu gewöhnen, mit welchen jetzt manche unsrer berühmtesten [99] Sänger und Sängerinnen auf Kosten der Melodie und des Ausdrucks ihren Gesang oft so überladen, daß der ursprüngliche Gedanke des Komponisten eigentlich ganz dabei zu Grunde geht und nur noch das Tempo und die Worte eine große Arie von der andern unterscheiden. Gabriele hingegen war von ihrer Mutter nach der ältern reinern Methode unterrichtet, sie suchte nur, den echten Sinn des Gesanges einfach, wahr und gefühlvoll so wiederzugeben, als der Meister, der ihn niederschrieb, ihn sich dachte, und wollte sich auf keine Weise zu jenen künstlichen Schnörkeleien bequemen. Dies gab Anlaß zu unzähligen ziemlich lebhaften Zwistigkeiten zwischen ihr und ihrem Lehrer, bei welchen aber Gabriele nie von ihrer Ueberzeugung abweichen wollte. Glauben Sie, sprach sie zu ihm, daß Gluck oder Mozart diese krausen Läufer, diese Vorschläge und Triller nicht hätten vorschreiben können und es auch nicht gethan haben würden, wenn sie sie für zweckmäßig hielten? Niemanden fällt es je beim Vorlesen ein, sich an Göthen oder Schillern durch den eigenmächtigen Zusatz nur eines einzigen Wortes [100] zu versündigen. Sollten die Meister der Tonkunst, die so klar ohne Worte zu uns zu sprechen wissen, daß wir sie deutlich verstehen, uns weniger heilig seyn? Vergebens bekämpfte der Musikmeister diese Meinung seiner Schülerin mit allen nur ersinnlichen Gegengründen, keiner derselben schien ihr bedeutend genug, um ihre eigne Ueberzeugung umzustoßen.

Ernesto war zufällig einmal Zeuge eines solchen Zwistes, und da der erzürnte Sänger ihn endlich zum Schiedsrichter aufrief, so erklärte dieser sich mit wenigen Einschränkungen für Gabrielen. Dies beendete wenigstens den Streit, aber der Lehrer seufzte doch jedesmal über den Eigensinn seiner sonst so gelehrigen Schülerin, wenn er gezwungen sich ihrem Willen fügen mußte.

Eigensinnig! So hatten auch die Tante und Aurelie sie mehreremale genannt, und dennoch war sie es nicht. Gabriele scheute nur das Unrecht, und war in ihrem Gemüthe bei aller ihrer Furchtsamkeit fest genug, um sich durch keine Ueberredung von dem abwenden zu lassen, was sie für das Rechte anerkannte, sobald sie aber ihren Irrthum [101] einsah, war auch niemand bereitwilliger, ihn abzulegen, und Ernestos welterfahrnem, klarem Sinne gelang es immer, sie zum Beßern zu leiten.

Eines Morgens traf sie dieser in sehr lebhaftem Gespräch mit ihrer Kammerjungfer. Er fürchtete, in einer wichtigen Toilettenangelegenheit zu stören, und wollte eben bescheiden sich zurückziehn, als er zu seiner großen Verwunderung entdeckte, daß die Rede von nichts geringerem sey, als von Alexanders des Großen Zug nach Indien.

»Um Gotteswillen, was hat die kleine, hübsche Annette mit dem großen krummhälsigen Alexander zu thun?« fragte Ernesto, so wie er mit Gabrielen allein war. Lächelnd erzählte ihm diese, wie sie das Mädchen bei allen Stunden ihres eignen Unterrichts habe im Zimmer mit seiner Handarbeit bleiben heißen, und wie es anfangs aus Langerweile, endlich mit wirklicher Theilnahme, eifrig zugehört und vieles gelernt und behalten habe. In freien Stunden machte es sich Gabriele jetzt zum angenehmen Geschäft, die oberflächlichen Bruchstücke, welche Annette, oft nur halb[102] gehört, auffaßte, in ihrem Köpfchen zu ordnen, und sie gründlicher zu unterrichten. Jugendliche Freude am Lehren des eben Erlernten mochten an diesem Unternehmen wohl vielen Theil haben, mehr aber noch der Wunsch, dem artigen Mädchen nützlich zu seyn, das mit großer Liebe an seiner jungen Gebieterin hing, und sich dabei als eine äußerst gelehrige Schülerin bewies.

»Sie glauben da etwas recht Vortreffliches zu stiften, liebe Gabriele,« sprach Ernesto zu seiner jungen Freundin, »ich aber fürchte, Sie bereiten dem armen Mädchen eine traurige Zukunft. Lassen Sie sich freundlich von mir warnen und an Annettens einstige Bestimmung errinnern. Wahrscheinlich wird sie die Frau eines Handwerkers, wenn es hoch kommt eines Krämers oder eines untergeordneten Beamten; höheres darf sie nicht erwarten, und heirathen wird sie doch wollen, denn das will jedes Mädchen. Und nun denken Sie sich Annetten mit der geistigen Bildung, die Sie ihr zu geben im Begriff stehen, ein Paar Kinder um sie her, eine große Wäsche im Hause, und auf dem Heerde das Mittagsmahl für ihren [103] Mann und vielleicht für noch ein Dutzend Gehülfen bei seinem Gewerbe!«

»Und warum sollte ich sie mir so nicht denken können?« unterbrach ihn ziemlich lebhaft Gabriele; »warum sollte diese geistige Bildung sie in der Uebung ihrer Pflicht hindern? Sagt man mir doch, es stünden oft die geistreichsten Männer in Aemtern, welche ihrem Genius gerade entgegen streben, ohne daß weder ihre Pflicht noch ihr Talent darunter leiden.«

»Sie vergessen, oder vielmehr Sie wissen noch nicht, liebe Gabriele, wie viel günstiger das Loos der Männer als das der Frauen fiel,« erwiederte Ernesto; »wie viel Freiheit Jenen außer dem Hause bleibt, und wie schneckenartig diese das ihrige immer mit sich herumtragen müssen, wenn Reichthum sie nicht von den drückendsten Banden befreit. Sie kennen den Mittelstand nicht,« fuhr er fort; »Ihr vornehmen Leute kennt ihn überhaupt alle nicht; bittre Armuth, das höchste Elend, so wie alle Extreme kann Eure Fantasie Euch allenfalls malen, Mitleid führt Euch auch wohl ein paarmal in Eurem Leben in Hütten, aus denen [104] Ihr mit einer Hand voll Eures überflüssigen Goldes alle Noth verbannt, aber das beschränkte Wesen von Menschen, welche einen sogenannten kleinen Haushalt führen müssen, bleibt Euch ewig verborgen. Ich aber kenne es, denn Künstler und Handwerker sind einander im Leben näher verwandt, als unser Hochmuth es eingestehen will. Schütteln Sie nicht so vornehm das Köpfchen, liebe Gabriele, es bleibt dennoch wahr, beide haben gleiche Hülfsmittel und oft gleiche Noth. Von dieser bezwungen, sinkt der Künstler in unsern Tagen nicht selten zum Handwerker herab, dafür aber erstanden auch in frühern Zeiten viele große Meister aus der engen Werkstatt des Handwerkers.«

»Aber gerade den Mittelstand dachte ich mir immer als den glücklichsten,« wandte Gabriele, das Gespräch wieder zurücklenkend, ein. »Mann und Frau, jeder auf seine Weise, bringen den Tag im emsigen Bemühen für das Wohl der Ihrigen zu. Die Ruhestunden führen sie Abends wieder zusammen, sie erzählen einander die Geschichte ihres wohlgelungenen Tagewerks, und [105] vergessen alle Mühe des Lebens beim gemeinschaftlichen Lesen eines Buchs, das ihren Geist aus dem Werkeltags-Staub wieder erhebt. Bei Musik, im geistreich erheiternden Gespräch, beim Zauber der Poesie, schwinden ihnen die Feierstunden, und jedes geht am folgenden Morgen frisch und fröhlich an die Arbeit und freut sich den ganzen Tag über auf den Abend.«

»Sie malen da ein Bild, das Ihrer Fantasie alle Ehre macht,« sprach lächelnd Ernesto; »leider aber ist es im wirklichen Leben ganz anders. Wenn Sie die höhere Klasse des Mittelstandes meinen, zu welcher der reiche, angesehne, große Kaufmann, der wohlhabende, auf den ersten Stellen stehende Beamte gehören, so haben sie Recht, dort ist es zuweilen so, und könnte es immer seyn. Aber zu den niedrigern Klassen, in welchen Annette einst leben wird, paßt dieses nicht. Können Sie sich wirklich einen Schneider oder Tischler denken, der das Leben führte, welches sie eben geschildert haben? und setzen sie selbst den Fall, daß Annette einen untergeordneten Beamten oder einen Landprediger heirathete. Was diese Männer auf Universitäten [106] an geistiger Bildung vielleicht gewannen, geht gewöhnlich in überhäufter Arbeit und Nahrungssorgen wieder zu Grunde, was sie von geistiger Unterhaltung brauchen, gewähren ihnen die politischen Welthändel, und Abends verlangt der abgemattete Mann nur nach einer guten Suppe, während die Frau ihrerseits auch froh ist, wenn sie die Kinder erst zur Ruhe weiß.«

»Meine arme Annette!« rief Gabriele dazwischen. »Und nun die Frau Basen, die Frau Gevattern,« fuhr Ernesto fort, »von diesen Leuten hat ein hochgebornes Fräulein, wie Sie sind, keinen Begriff. Familienbande sind im eigentlichen Bürgerstande viel fester und dabei weiter umfassend als in dem Ihrigen. Was mit einander in irgend einem Grad von Verwandtschaft steht, muß an Ehrentagen und bei Kaffeevisiten zusammen kommen, da gilt keine Ausnahme. Und nun denken Sie sich die hochgebildete Annette in einer solchen Gesellschaft. Die gelehrte Frau Meisterin, welche französisch und italienisch kann, von den Griechen und Römern zu reden weiß, und dabei vielleicht einmal den Festkuchen verbrennen ließ, [107] wie würde es ihr ergehen! wie müßte ihr selbst in diesen Umgebungen zu Muthe werden! und welche Qual wäre es für sie, den ewig unbefriedigten Hang zum Höhern, zum geistig Schönen mit sich herum zu tragen, während sie den ganzen Tag arbeiten müßte, um ihr Hauswesen zu beschicken, und bei noch unerwachsenen Kindern selbst Nachts auf keine sicher ruhige Stunde rechnen könnte. Ihr Mann mag sie noch so herzlich lieben, er mag noch so gut und brav in seiner Art seyn, er wird doch in geistiger Hinsicht immer tief unter ihr stehen, und oft gar nicht wissen, was sie meint, wenn sie von etwas anderm, als dem ganz Alltäglichen mit ihm zu sprechen versucht.«

»So sehe ich denn keine Rettung für meine arme Annette, als daß sie immer bei mir bleibt,« rief schmerzlich bewegt Gabriele. »Nichts hat je mein innigstes Mitleid mehr erregt,« fuhr sie fort, »als wenn ich las, wie Jean Paul das vernähte, verwaschne, verkochte Leben der armen Weiber schildert, die nur einmal im sonnenhellen kurzen Tage der Liebe ihr Haupt erhoben, und dann mit beraubtem Herzen auf ewig in die Tiefe [108] versinken. Ich hoffte, es könne in der Wirklichkeit anders seyn, Sie, Ernesto, lehren mich das Gegentheil, ich traue Ihrem erfahrnen, weltklugen Sinn, aber ich möchte darüber weinen, daß der größte Theil meines Geschlechts so elend seyn muß.«

»Sie gehen in Ihrem Eifer wieder zu weit, gute Gabriele,« sprach Ernesto, »gerade wie an jenem ersten Abend bei den Tableaus. Erinnern Sie sich noch, wie Sie um einiger unschuldig-boshafter Anmerkungen willen die ganze Gesellschaft für lauter maskirte Tigerkatzen ansahen? und doch haben Sie jetzt schon gefunden, daß ich Recht hatte, indem ich Sie versicherte, daß jene Leute wirklich so übel nicht sind, und daß sie, ihrer Lust am Medisiren unbeschadet, für Unglückliche nicht nur einen Dukaten in der Hand, sondern sogar eine Thräne im Auge in Bereitschaft halten, wenn man ihnen den Jammer nur recht deutlich zu machen versteht. So wie damals die Verderbniß der Welt, so denken Sie sich jetzt das Unglück, sich nicht auf Ihre Weise des Lebens freuen zu können, wieder viel zu groß. Und nehmen Sie [109] denn die Mutterfreuden, welche eine Handwerkers-Frau eben so gut empfindet als eine Gräfin, für gar nichts? für nichts das Gelingen in ihrem Hauswesen? die treuherzige, ehrliche Liebe eines guten, wenn gleich nicht geistig gebildeten Mannes? Selbst bei Ihrem Jean Paul können Sie des Trostes genug finden; gegen die eine Stelle, welche Sie anführten, will ich Ihnen zwanzig andere zeigen, wo er die Freuden dieser Frauen an schönen neuen Hauben und Kleidern, an festlichen Gastereien, an einem wohleingerichteten Hausstande eben so wahr schildert, als ihr mühseliges Alltagsleben. Rauben Sie Ihrer Annette nur nicht die Fähigkeit, an dem Glück sich genügen zu lassen, das ihrem Stande gebührt. Entbehrt sie die Freuden höherer Bildung, so entgeht sie auch vielen aus ihr entspringenden Schmerzen, und es ist noch immer nicht entschieden, wohin die Wage sich neigt.«

»Soll ich sie denn so ganz ohne allen Unterricht lassen?« fragte Gabriele. »Lehren Sie sie richtig deutsch schreiben und sprechen,« war Ernestos Antwort, »aber um des Himmelswillen [110] keine fremden Sprachen, die sie nur dazu bringen könnten, sich über ihres gleichen zu erheben. Annette wird in Deutschland leben und sterben, und sollte ein seltenes Geschick sie ins Ausland versetzen, so lehrt Noth nicht nur beten sondern auch englisch und französisch. Lassen Sie ihr artiges Stimmchen mit den Waldvögeln um die Wette singen, aber wie diese, ohne Noten und ohne Guitarre, Mann und Kinder werden sich an ihren Liedern doch ergötzen. Von Alexander dem Großen und seines gleichen braucht sie vollends keine Sylbe zu wissen, um eine thätige, freundliche Hausfrau zu werden, deshalb kann sie aber doch Sonntags manches gute Buch beim Strickstrumpf lesen, das ihren literarischen Horizont nicht übersteigt, und wenn es seyn muß bey Lafontaines rührenden Geschichten ihr bitter-süßes Thränchen weinen, obgleich ich ihr gerade diese am wenigsten anpreisen möchte.«

»Aber Annette hat doch so viel Anlagen,« wandte halb besiegt Gabriele ein.

»Sie ist auch hübsch und wohlgewachsen,« erwiederte schnell Ernesto. »Wollen Sie sie deshalb [111] in die kostbarsten, feinsten Stoffe kleiden, die eine schöne Gestalt am vortheilhaftesten bezeichnen? Liebe Gabriele!« fuhr er fort, »alle Welt schreit jetzt über den alles entnervenden äußern Luxus, in unsrer der höchsten Kraft bedürftigen Zeit, ich aber halte den geistigen Luxus für weit gefährlicher; mir graut weit mehr, wenn ich die Töchter unsrer wohlhabenden Handwerker in französische Schulen, als wenn ich ihre Mütter in gestickten Kleidern gehen sehe. Schöne Kleider lassen sich allenfalls erwerben und bezahlen, wie aber setzt man ein durch halbes Wissen verdrehtes Köpfchen wieder zurechte?«

»Und doch redeten Sie noch gestern Abend bei der Tante allem Luxus gar sehr das Wort,« wandte lächelnd Gabriele ein.

»Das that ich und werde es immer thun,« antwortete Ernesto, »aber nur bei denen, welche Zeit und Geld genug dazu haben. Alles, was wir zu besitzen streben, ohne es zu brauchen, ist Luxus, aber in unsern Tagen ist vieles Bedürfniß geworden, was noch vor dreißig Jahren Luxus war. Auch sprach ich jetzt gar nicht vom äußeren [112] Luxus, denn jedes Kind weiß, daß wir ohne ihn wieder zum eichelnessenden Naturzustande unsrer Vorfahren herabsänken. Ich spreche vom innerlichen, geistigen, den sollen und müssen die Reichen freilich treiben. Was würde sonst aus Autoren, Verlegern und aus Künstlern, wenn niemand ein Buch oder ein Kunstwerk kaufte, als wer Freude und Genuß davon hat? Sehen Sie nur ihre Tante an, die treibt den rechten geistigen Luxus, und ich kann sie darum nicht genug loben und ehren, denn sie hat Geld und Zeit im Ueberfluß. Für sich bedarf sie weder Bücher noch Kunstwerke, weder Gelehrte noch Künstler zum Umgange, im Gegentheil sie sind ihr alle recht lästig, dennoch kauft sie die erstern, bereitet den zweiten ein angenehmes Daseyn, und ahnet nicht einmal, wie viel Gutes sie damit stiftet. Aber eine Frau des arbeitenden Mittelstandes darf ihr das nicht nachthun. Wenn eine solche Bildchen malt, Guitarre spielt und Lektüre treibt, so verschwendet sie wenigstens die Zeit, welche ihrem Haushalt gehört, und oft köstlicher als Gold ist; obendrein bereitet sie sich eine traurige Existenz, [113] weil sie gegen ihren, ihr bestimmten Kreis anstrebt, von welchem sie sich doch nicht losreißen kann. Darum, liebe Gabriele, bitte ich Sie nochmals, versuchen Sie es nicht, aus einer niedlichen Wiesenblume eine Prachtpflanze zu ziehen, die in dem rauhen Klima zu Grunde gehen müßte, in welchem sie in ihrem natürlichen Zustande recht ergötzlich blüht! Lehren Sie Annetten weder französisch noch italienisch, und sagen Sie ihr kein Wort mehr von Alexander dem Großen.«

Gabriele versprach endlich, ihrem erfahrnen Freunde zu folgen, obgleich mit innerm Widerstreben, denn er hatte nur ihren Verstand aber nicht ihr Gemüth besiegt; obendrein erschwerten ihr sowohl Annettens Eitelkeit, als ihre wirkliche Lust am Lernen diesen Entschluß, aber sie blieb ihm treu, nicht nur weil sie es versprochen hatte, sondern auch weil sie einsah, daß es wirklich so besser sey.


Ottokar blieb noch immer Gabrielens Hausgenosse. Als den Sohn eines entferntlebenden, aber mit ihrem Gemahl innigst verbunden gewesenen [114] Freundes, hatte die Gräfin Rosenberg ihn dringend eingeladen, in ihrem sehr geräumigen Hause bei ihr zu wohnen, so lange er in der Stadt verweilen mußte, in welcher er seine nahe Anstellung zu einem Gesandtschaftsposten erwartete. Aus den wenigen zu seinem dortigen Aufenthalt bestimmt gewesenen Wochen wurden Monate, ohne daß weder er noch seine gastlichen Freundinnen es zu bemerken schienen. Ottokar befand sich zu wohl in ihrer Nähe, um über dieses Zögern der Entscheidung seines Schicksals in Ungeduld zu gerathen. Die Gräfin sowohl als Aurelia hatten ebenfalls ihre eignen triftigen Gründe, ihn gerne bei sich zu sehen, und so lebten alle drei in großer Zufriedenheit neben einander hin, ohne die Tage zu zählen.

In der ersten Zeit sah Gabriele Ottokarn weit seltner, als sie es im Stillen gehofft und gefürchtet hatte, denn der geselligen Abende im Hause ihrer Tante gab es jetzt sehr wenige.

In großen Städten tritt zwar nie eine gänzliche Ebbe der Vergnügungen ein, aber oft eine alles mit sich fortreißende Fluth, während welcher [115] Feste an Feste sich reihen, und die Zahl der Tage für alle kaum hinreichen will. Solch eine Fluth fiel gerade in die Zeit, wo Gabriele noch nicht öffentlich erschien. Bälle, große Soupers, auffallende theatralische Neuigkeiten zogen die Gräfin und ihre Tochter an jedem Abende aus dem Hause, ohne ihnen Zeit für ihre eignen Zirkel zu lassen, und auch Ottokar ward von dem Strome mit fortgerissen. Gabrielen entging dadurch jede Gelegenheit, ihn anders als an der Mittagstafel zu sehen, und auch an dieser vermißte sie ihn oft. Sowohl seine persönliche Liebenswürdigkeit, als seine äußern Verhältnisse zogen ihm vielfältige Einladungen in andern Häusern zu, und die Gräfin hielt ihn nie davon zurück, solche anzunehmen. Sie blieb auch in Hinsicht seiner ihrem Systeme treu: keinen ihrer Gäste in seiner Freiheit zu beschränken, denn Erfahrung hatte sie gelehrt, daß dieß der sicherste Weg sey, sie immer fester an sich zu binden.

Mit gewaltigem Herzklopfen hörte Gabriele jedesmal die Stunde schlagen, welche sie in den Speisesaal rief; ihre sonst ziemlich überwundne [116] ängstliche Blödigkeit kehrte dann mit verdoppelter Gewalt zurück, und nur heimlich wagte es ihr Blick, unter den Anwesenden nach Ottokar zu suchen. Stumm und traurig nahm sie ihren Platz ein, wenn er abwesend war; die Unterhaltung rauschte unbeachtet an ihr vorüber, und nur Aureliens lustiger Uebermuth versuchte es zuweilen, sie hinein zu verflechten. Die Uebrigen, mit Stadtgesprächen beschäftigt, schienen fast gar nicht sie zu bemerken. Ohnehin war die Gesellschaft nie zahlreich, die Gräfin liebte keine Diners, sie schimmerte lieber bei Kerzenschein, und auch Ernesto war ein seltner Gast an ihrem Tische.

Ganz anders aber gestaltete sich die Unterhaltung, wenn sie durch Ottokars Gegenwart belebt ward. Mit Entzücken sah dann Gabriele, wie alles in seiner Nähe sich veredelte, wenn sie auch dabei bald hochroth erglühte, bald blüthenweiß erblaßte, und ihr Herz sich zitternd in ihrer Brust bewegte. Es konnte ihr nicht entgehen, daß Alle strebten, sich vor ihm vom Gemeinen entfernt zu halten, und ihn offenbar als den Ersten unter [117] sich anerkannten, obgleich er mit der anspruchlosesten Bescheidenheit sich über keinen zu erheben suchte. Sein Platz an der runden Tafel zwischen der Gräfin und Aurelien war dem von Gabrielen gerade gegenüber. Ihr entging fast kein einziges seiner Worte, und wenn er im Gespräch sich gegen seine Nachbarinnen wendete, so konnte sie dem freundlichen Strahlen seiner Augen, dem anmuthigen Spiel seiner Gesichtszüge zusehen, ohne daß jemand es bemerkte. Oft wünschte sie recht sehnlich, daß er auch an sie mit freundlichen Worten sich wenden möge, und wenn er es that, so raubte süßes Erschrecken ihr den Athem zur Antwort. Ottokar konnte nicht umhin, ihre ewige Verlegenheit zu bemerken, er sah, daß sie auch mit den übrigen Anwesenden nur dann sprach, wenn sie gefragt ward, und immer in möglichst wenigen Worten. Er schrieb ihr Benehmen einzig der unüberwindlichen Furchtsamkeit zu, die er an einem so jungen, in der tiefsten Einsamkeit erzogenen Mädchen sehr natürlich fand, und begnügte sich endlich, aus Mitleid mit ihrer Angst, sie nur mit einem freundlichen Lächeln zu begrüßen, [118] ohne sie ferner durch Anreden in Verlegenheit zu setzen.

Gabriele bemerkte dieß, ohne zu wissen, ob sie sich darüber freue oder betrübe. Immer mehr verstummte sie in seinem Beiseyn und strebte nur, nichts von dem zu verlieren, was er zu den Uebrigen sprach. Ihr war dabei, als ob er dennoch nur sie damit meine, als wenn nur sie den Sinn seiner Rede vollkommen verstünde, weil nur sie so an jedem seiner Worte hing, denn die andern konnten doch manches zuweilen achtlos überhören. Jeder seiner Gedanken war wie aus ihrer tiefsten Seele herausgesprochen, bei jedem vorkommenden Gegenstande fühlte sie im voraus, wie er sich darüber äußern würde, und doch war und blieb sie die Einzige, zu der er niemals mit Worten sich wendete.

Träfe er mich nur einmal im Zimmer allein! dann müßte er doch zu mir reden, ich hätte gewiß dann auch den Muth, ihm zu antworten, und alles wäre anders! So dachte sie oft, während alles blieb wie es war.

Auch wußte sie nicht, was denn eigentlich anders[119] werden solle. Ihre Wünsche, ihre Hoffnungen schwammen formlos vor ihrem sonst so klaren Sinn, aber tief in ihrem Gemüth herrschte eine unaussprechliche Sehnsucht nach jenem seligen Moment, ohne daß ihr nur von ferne der Gedanke kam, ihn auf irgend eine Weise herbeiführen zu wollen.

Keiner von denen, welche sie kannte, schien ihr würdig, an Ottokars Seite zu stehen, selbst Ernesto nicht, in deßen hellem, scharfem Blick sie die milde Güte oft vermißte, durch welche Ottokar ihr vor Allen liebenswerth erschien, und so stieg dieser nach jedem Wiedersehen immer höher in ihrer Verehrung, und ihr Anerkennen seines seltnen Werthes ward immer demüthiger.

In ihrem einsamen Zimmer rief sie sich jedes seiner Worte, jede seiner Bewegungen zurück, aber sie vermochte es nie, vor andern seinen Namen zu nennen, selbst nicht vor der sich immer fester an sie schließenden Auguste von Willnangen. Es betrübte sie, sie schalt sich undankbar, wenn es ihr unmöglich war, das herzliche Vertrauen im gleichen Maaß zu erwiedern, mit welchem [120] diese, mädchenhaft traulich, sie auf den tiefsten Grund ihres Herzens blicken ließ. Aber sie war an das Leben mit einem Wesen gewöhnt, das ohne Worte sie verstand, und dessen jetzt ruhendes Herz sonst mit dem ihrigen in stetem Einklange schlug, wie zwei gleichgestimmte Saiten, die nur eines Hauches bedürfen, um zugleich im nämlichen Tone zu erbeben. Es blieb ihr unbegreiflich, daß nicht Ernesto, Frau von Willnangen, deren Tochter, daß nicht alle nur von Ottokar sprachen, daß sie ihn nicht alle als den Einzigen, Seltnen laut anerkannten, wie er ihr schon beim ersten Anblick auf der Reise erschienen war. Aber da jedermann schwieg, so verstummte auch sie.

Nur in der stillen Nacht ergoß sich ihr volles Herz in dem Tagebuche, welches sie schon früh zu führen gewöhnt worden war, und in welchem sie von jeher alles Merkwürdige aus ihrem äußern und innern Leben oft nur in kurzen Sätzen niederschrieb. Oft glaubte sie bei dieser einsamen Beschäftigung, die beseligende Nähe des Geistes ihrer Mutter zu fühlen, der ihrer Ueberzeugung [121] nach, als schützender Engel sie umschwebte. Dann redete sie die Mutter als noch lebend an, ihr und den Blättern ihres Tagebuchs vertraute sie allein das glühende Gefühl, welches sie jetzt allmächtig beherrschte, dem sie immer wehrloser sich hingab, weil sie es nicht erkannte. Ottokar ward gar bald durch das Schreiben von ihm zum Geschöpf ihrer jugendlichen Fantasie, zu einem himmlischen Gebilde; er stand in einer Glorie vor ihrem Sinne, zu welcher sie ihm selbst die Strahlen lieh, ohne sich dessen bewußt zu werden.

Alles, was wir in der Einsamkeit dem Papier vertrauen, übt dadurch tausendfache Gewalt an uns, Liebe, Freude, vor allem der Schmerz. Wir selbst schärfen bei dieser stillen Beschäftigung jeden Stachel des Lebens, wir drücken ihn immer tiefer in das wunde Herz, während wir uns alles verhehlen, was ihn sänftigen könnte. Und so kommen wir bald dahin, in fruchtlosem Mitleid mit uns selbst zu vergehen, und kein Strahl aus der helleren Wirklichkeit erleuchtet mehr die sternlose Nacht, die wir selbst immer dichter und dichter um uns und unser Geschick ziehen.

[122] So war es auch mit Gabrielen; aber keiner von den Wenigen, die an ihr Theil nahmen, konnte vor dieser Gefahr sie warnen, denn allen blieb sogar das Daseyn ihres Tagebuchs ein Geheimniß und mußte seiner Natur nach es bleiben.


Alle Abende, an denen Feste und Lustbarkeiten ihre Hausgenossen entfernt hielten, brachte Gabriele bei der Frau von Willnangen zu. Das Gefühl, mit welchem die edle Frau zuerst der Tochter Augustens entgegen kam, hatte sich bald in wahrhaft mütterliche Liebe zu dem verwaisten Mädchen umgewandelt, und oft betrachtete sie es mit ängstlicher Sorge. Ihrem tief eindringenden Blick entging es nicht, daß Gabriele von einer einzigen, vielleicht ihr ganzes künftiges Daseyn bestimmenden Empfindung beherrscht ward, aber vergebens strebte sie, den Gegenstand ihrer jugendlichen Neigung zu entdecken, denn bis jetzt hatte sie in Ottokars Gegenwart sie fast nie gesehen, auch kannte Frau von Willnangen Letztern ohnehin nur oberflächlich, da er so ganz zu den nächsten Umgebungen der Gräfin Rosenberg gehörte. [123] Ahnendes Vorgefühl ließ sie wenig Erfreuliches für Gabrielens Zukunft hoffen, desto fester aber begründete sich der Vorsatz in ihrem Gemüth, dieses so vereinzelt und hülflos dastehende anmuthige Wesen in keinem des Trostes bedürfenden Moment zu verlassen, und bei Gabrielen, wie ehemals bei Ferdinand, an die Stelle der früh verklärten Auguste zu treten, so viel die Möglichkeit dieß erlaubte.

Im nähern Umgang mit ihrer welterfahrnen Freundin ward Gabrielens Blick in das Leben allmählich immer mehr erweitert. Blieb sie allein mit ihr und Augusten, so verlebte sie Abende, während welchen sie sich in ihre frühere Zeit auf Schloß Aarheim wieder versetzt glaubte. Musik, gemeinschaftliches Lesen, vertraulich heitres Gespräch und Uebung mancher weiblichen Kunst liehen den Stunden dann Flügel. Oft aber erweiterte sich auch der kleine Kreis durch das Hinzukommen mehrerer Freunde der Frau von Willnangen, und freie, frohe Mittheilung belebte dann die kleine Gesellschaft. Gabriele fühlte sich in ihr weit heimischer als im Hause ihrer Tante, [124] aber sie vermochte es doch noch nicht, ihr zurückhaltendes Wesen im Beiseyn Mehrerer ganz abzulegen, und blieb darum gewöhnlich nur eine stumme, wenn gleich fröhlich theilnehmende Zuhörerin.

So verging der Anfang des Winters; immer näher kam das neue Jahr, welches bestimmt war, Gabrielen diesen stilleren Freuden zu entreißen, um sie in größere Zirkel einzuführen. Sie sah ihm deshalb mit bangem Widerstreben entgegen.

Eines Abends ward die Gesellschaft weit größer und glänzender als gewöhnlich, viele, die sonst mitten im Geräusch lebten und selten Frau von Willnangen besuchten, traten nach und nach in ihr Zimmer, denn ein ungewöhnlich spät anfangender Ball ließ ihnen zufällig den Abend frei, und sie benutzten diese Gelegenheit, sich vorher hier zu versammeln, wo sie die Frau vom Hause immer zu finden gewiß waren. Unter mehreren Personen, welche Gabriele schon im Hause ihrer Tante gesehen hatte, erkannte diese vorzüglich die Gräfin Eugenia und den jungen Mann, welcher den Antonius vorgestellt hatte; ganz zuletzt kam auch Ernesto hinzu und mit ihm Ottokar.

[125] Frau von Willnangen wurde Gabrielens Erschrecken bei Ottokars Eintritt, ihr hohes Erröthen und eben so plötzliches Erbleichen gewahr, und das bis dahin vergebens gesuchte Geheimniß des jungen Herzens lag nun entschleiert vor ihrem Blick. Ihre Ansicht von Gabrielens Zukunft klärte sich auf, denn ohne Ottokarn genau zu kennen, wußte sie doch genug von ihm, um ihn günstig zu beurtheilen. Zum erstenmal fiel es ihr ein, daß er und Gabriele in einem Hause lebten; daß die ihr eigne Liebenswürdigkeit bei diesem steten Zusammenseyn sich ihm offenbaren müsse; und daß auch er von ihr sich bald mächtig angezogen fühlen würde, schien ihr gewiß. Sie beschloß daher, von nun an Ottokarn genauer zu beobachten, und keine Gelegenheit dazu entschlüpfen zu lassen. Der Gedanke, Gabrielen recht bald unter dem Schutz, am liebenden Herzen eines edlen Mannes zu sehen, war ihr zu tröstend, zu erfreulich, als daß sie sich nicht hätte geneigt fühlen sollen, auf das Thätigste dazu mitzuwirken, sobald die Gelegenheit sich darbot. Fürs erste aber wollte sie sich auf bloßes Bemerken beschränken.

[126] Das Gespräch wandte sich diesen Abend sehr bald wieder auf die Tableaus bei der Gräfin Rosenberg. Als die ersten und bis jetzt einzigen, welche man hier gesehen hatte, waren diese Darstellungen noch unvergeßlich, und in den Gesellschaften ward viel herüber und hinüber, preisend und tadelnd, darüber gesprochen. Gräfin Eugenia fand es seit jenem Feste für gut, überall so wie hier, als die erklärteste Widersacherin dieses neuen geselligen Vergnügens aufzutreten. »Ich war herzlich froh,« sprach sie, »als ich einen schicklichen Vorwand ersonnen hatte, mich von der Theilnahme davon loszumachen. Nie hätte ich es ausgehalten; mich bewegungslos von mehr als hundert Augen anstarren zu lassen, dazu gehört ein Grad von Muth, welchen ich mich wenigstens nicht rühmen darf zu besitzen.«

»Und doch waren Sie so gütig, uns auf unserm Privattheater recht oft durch ihre Erscheinung zu entzücken,« wandte mit einer höflichen Verbeugung der Antonius jenes Abends ein. »Das ist ja ganz etwas anderes,« erwiederte Eugenia, »dort auf den Bretern bin ich nicht mehr ich, die Dichtung, [127] die Kunst reißen mich hin, ich sehe die Zuschauer und ihre Blicke nicht mehr. Ueberdem gehört ein gewisses Talent dazu, um auf der Bühne aufzutreten; aber schön geputzt einige Minuten bewegungslos dastehen, kann jedes Gänschen vom Lande, wenn es nur hübsch ist.«

»Vor allen Dingen ist der hohe Grad von Eitelkeit und Leichtsinn wohl zu erwägen, welcher dazu gehört, sich in fantastischer, oft unanständiger, ja sogar heidnischer Kleidung zur allgemeinen Bewunderung hinzustellen,« sprach langsam bedächtig ein Fräulein Silberhain. Diese junge Dame stand schon seit einiger Zeit auf der zweiten Gränze ihres Lebensfrühlings. Früher war sie eine Naturphilosophin, jetzt wandte sie sich zur Frömmigkeit, weil diese moderner ist, aber sie hatte Schelling und Thomas a Kempis in ihrem Köpfchen noch nicht recht zu einigen gewußt, und warf daher Redensarten aus beiden im Gespräch verwirrt und wunderlich durcheinander. Uebrigens hing ein fein gearbeites Kruzifix an einer goldenen Kette von ihrem Halse herab, ein zweites krümmte sich sehr widerwärtig zu einem Ringe an [128] ihrer Hand, und ihre gemessenen Worte drängten sich mühsam durch die kaum geöffneten, fast regungslosen Lippen.

»Ich begreife nicht wie man um so nichtigen Zweck seine Identität zu opfern vermag,« fuhr Fräulein Silberhain in ihrer Rede fort, »wie kann ein in seinen tiefsten Tiefen vom Höchsten erfülltes Gemüth so ganz dieses vergessen und dem prunkenden Schimmer irrdischer Vergänglichkeit huldigen! Die Stille des Gemüths, das beseligende Gefühl dessen, was unser Eins und Alles seyn soll, müssen ja in der aus Tand und flüchtigen Glanz entstehenden Verblendung auf lange von uns weichen, und der verirrte Sinn braucht vielleicht viele Monate, ehe er wieder zur anschauenden Klarheit gelangt.«

»Hätte ich nur einen recht schönen türkischen Shawl gehabt, ich wäre für mein Leben gern dabei gewesen, wenn ich auch nur ein ganz unbedeutendes Nebenpersönchen hätte vorstellen sollen; und was wetten wir? mein frommes, gelehrtes Schwesterchen würde sich unter dieser Bedingung [129] auch wohl dazu haben bewegen lassen,« rief überlaut das sehr junge Fräulein Fanny Silberhain, indem es sich lachend hinter Gabrielen vor den zürnenden Blicken der viel ältern Schwester verbarg.

»Allerdings,« sprach ein ansehnlicher, schwarz gekleideter Mann, »allerdings wüßte ich wenigstens keine beßre Gelegenheit, um sowohl jene kostbaren Hüllen als überhaupt alle Pracht der Gewänder und auch körperliche Vorzüge ins schönste Licht zu stellen, als solche Tableaus. Bei Maskeraden verlieren die ausgesuchtesten Masken sich im Gewühl, und obendrein verhüllen die häßlichen Larven das Gesicht, hier aber wird uns der ungestörteste Genuß der Anschauung des Schönen, verbunden mit der aesthetischen Freude an dem Kunstwerk, welches, gleichsam ins Leben gerufen, vor uns tritt.«

»Echte Freude an der Kunst ist allemal religiös, hier aber, Herr Professor! sehe ich nur die traurige Erscheinung ungebändigten Weltsinns und unverhüllter Eitelkeit,« sprach, sanftmüthig [130] zürnend, das Fräulein mit dem Kruzifix.

»Erlauben Sie indessen, meine Gnädige!« erwiederte der Professor, »daß ich Sie daran erinnere, wie untrennbar die Neigung zur Eitelkeit von jeder höhern Natur ist, die man die organische zu nennen pflegt; bemerkt man sie doch sogar an einigen der edleren Thiergattungen. Sie ganz ausrotten zu wollen, wäre eben so vergeblich als schädlich, so wie alles, was gegen die Natur anstrebt. Es ist vielleicht unschicklich, hier den nackten Wilden als Beweis, wie tief der Hang zum Putz in unserem Wesen liegt, anzuführen, der sich tattowirt und mit grellen Farben bemalt um sich zu verschönern, aber blicken Sie nur um sich her, Sie finden bei Reichen und Armen dasselbe, nur anders gestaltet. Daß man sich, schön geschmückt, auch Andern gerne zeigt, ist ebenfalls natürlich und war es vom Anbeginn der Welt. Damals, als Weichlichkeit und Prachtliebe das alte Rom seinem Untergange näher führten, war es unter den vornehmen Römerinnen gebräuchlich, sich, [131] wenn sie einander besuchten, nicht nur auf das herrlichste zu schmücken, sondern sich auch durch ihre Sklavinnen mehrere reiche Gewänder und Schmuck nachtragen zu lassen, die sie im Hause der den Besuch empfangenden Dame alsdann sich anlegen ließen, wie Sie alle, meine Gnädigen, aus der weltberühmten Anekdote der Mutter der Grachen längst wissen werden. Man behauptet, daß diese Sitte auch unter den, allen männlichen Augen verborgen lebenden, vornehmen Frauen des Orients noch heut zu Tage im Schwange sey. Aber wie ärmlich, wie unbequem, wie ungraziös selbst erscheint diese Art von Schaustellung gegen eine Reihe von Tableaus, welche die glücklichste Wahl unter den Kostüms aller Völker, aller Jahrhunderte frei lassen. Die Pracht der Steine und der Gewänder erscheint in ihnen nur als das begleitende Attribut der Schönheit, des geistreichen Ausdrucks und der anmuthigsten Stellungen, und wir können es in der That der Gräfin Rosenberg nicht genug verdanken, daß sie mit diesem erhöhten Genuß uns bekannt machte.«

[132] »In welchen wunderlichen Zeiten leben wir! ein Professor muß gegen Damen die Eitelkeit in Schutz nehmen!« rief ein alter Herr.

»Mich dünkt, wir leben in einer in dieser Hinsicht recht verständigen Zeit, in welcher man endlich einmal aufhört, die Frauen allein eines Fehlers zu beschuldigen, den ich am liebsten eine Tugend nennen möchte,« erwiederte schnell Ottokar. »Wir Männer mögen uns noch so weise anstellen,« fuhr er lächelnd fort, »wir sind eben so wenig frei von ihm als die Frauen, und ich danke Gott dafür. Der Hang zum Gefallen erscheint mir als die Würze des geselligen Lebens, als die Wurzel aller seiner Freuden und Tugenden, die ohne ihn zu Grunde gehen müßten. Man thäte ja am besten, in Höhlen und Wälder zu ziehen, wenn niemand mehr das Bestreben zeigen wollte, liebenswürdig zu erscheinen, und sogar durch den bloßen Anblick zu gefallen.«

»Sollte denn aus diesen Tableaus, über welche wir so viel streiten, nicht auch für die Kunst manches Gute entstehen können?« fragte Auguste von Willnangen.

[133] »Dochwohl nur, indem sie mehr Theilnahme an ihr und ihren Erzeugnissen aufregen,« erwiederte Ottokar, »sonst glaube ich nicht, daß sie in dieser Hinsicht von großem Nutzen sind. Sie bleiben doch nur die Kopie einer Kopie der Natur, und zwar eine unvollkommne, denn vieles muß aus jedem Gemälde hier wegbleiben, das doch durchaus dazu gehört, die Hintergründe, die Architekturen, die Landschaften, das Gewölk.«

»Eine angenehme, gesellige Unterhaltung zur Abwechselung mit den ewigen Charaden und Sprichwörtern scheinen sie mir doch wenigstens zu bieten,« sprach Frau von Willnangen, »auch hoffe ich, sollen sie dazu beitragen, die unseligen Jeux d'esprit aus der Gesellschaft zu verbannen, in welchen der arme Geist so gemartert wird, um zu erscheinen, daß er sich endlich ganz in Langeweile auflöst. Nur thut es mir leid, daß die Vorbereitungen zu Tableaus für die kurze Dauer ihrer Erscheinung zu viel Zeit und Mühe kosten.«

[134] »Alles läßt sich vereinfachen,« erwiederte Ernesto, »und ich getraue mir mit sehr wenigen Vorrichtungen, ganz aus dem Stegreif, dennoch manches Ergötzliche in dieser Art Ihnen vorzuführen. Wir brauchen zum Beispiel nur diese Flügelthür auszuheben, einen Vorhang vorzuhängen, eine große spanische Wand dahinter zu stellen, und wir haben das Lokal dazu. Einige große Lampen, oder ein Paar Dutzend zu einer Fackel vereinigte Wachslichter, und die Beleuchtung ist fertig. Schminke und etliche falsche Bärte für die Herren sind bald herbeigeschafft, und wenn die Damen ihre schönen Schawls zur Garderobe herleihen wollen, so läßt sich mit diesen wenigen Requisiten schon manch guter und glänzender Effekt hervorbringen. Auch für die Kunst selbst könnte auf diese Weise Bedeutendes geschehen, wenn die Gesellschaft einem Künstler erlaubte, mit ihrer Hülfe nicht bloß schon vorhandene Gemälde nachzubilden, sondern seine eignen Gedanken, die oft noch beinah formlos ihm vorschweben, auszuführen. Manches erfreuliche Kunstwerk könnte diesem Spiele seine [135] Entstehung verdanken, wenn ein talentvoller Künstler auf diese Weise gleichsam ein Vorbild von dem sähe, was er auszuführen Willens ist; der Zufall würde manches ordnen, manches in ihm erwecken, an das er außerdem nie gedacht hätte, und der aus solchen Proben für die Kunst entstehende Gewinn könnte leicht unschätzbar werden.«

Kaum hatte Ernesto geendet, als schon Auguste von Willnangen und Fanny Silberhain fröhlich aufsprangen und ihn mit Bitten bestürmten, gleich auf der Stelle eine solche Darstellung anzuordnen. Ottokar, Antonius und der größte Theil der Gesellschaft, selbst Frau von Willnangen nicht ausgenommen, vereinigten ihre Bitten mit jenen, und Ernesto mußte dem allgemeinen Wunsche nachgeben; nur that er es mit der Bedingung, daß es ihm erlaubt sey, seine Figuranten selbst zu wählen. Fanny sammelte sogleich aufs eifrigste alle Shawls ein und wählte dabei in Gedanken den glänzendsten unter ihnen für sich aus; Auguste besorgte aufs [136] schnellste alles übrige und trug noch eine Menge zweckdienliche Sachen herbei, die von frühern Maskenanzügen und kleinen theatralischen Vorstellungen her, sich noch in der Garderobe vorfanden. In weniger als einer halben Stunde war alles zum Anfangen der Vorstellungen in Bereitschaft. Mehrere Tableaus folgten nun einander, ernste und heitere, im mannigfaltigen Wechsel, denn Ernesto war unerschöpflich im Erfinden, und Ottokar sowohl als der Professor standen ihm bei der Anordnung treulich bei. Die ganze Gesellschaft gerieth in eine so fröhliche Stimmung, daß Alle die Wagen überhörten welche allmählich, herbeirasselten, um sie zu einem glänzenderen Feste abzuholen. Nur Fräulein Silberhain saß ernst in sich gekehrt, und wies im voraus alle Einladungen zur thätigen Theilnahme unerbittlich ab, ehe noch eine an sie gelangte. Gräfin Eugenia hingegen hatte eine Weile zugesehen; da es aber Ernesto nicht einfallen wollte, ihr eine Rolle anzubieten, winkte sie Antonius herbei, der eben müßig dastand. Leise flüsterte sie ihm den Auftrag zu, Ernesto auf nicht auffallende [137] Weise an sie zu erinnern, und ihm zu verstehen zu geben, daß sie in einem so kleinen, aus lauter Freunden bestehenden Zirkel ihren Widerwillen wohl überwinden werde, und nöthigen Falles sich entschließen könne, etwa als Grazie oder Muse aufzutreten. Antonius erklärte ihr sein Entzücken über diesen Auftrag, versicherte, nicht mit Worten ausdrücken zu können, wie geehrt er sich durch dieses holde Vertrauen in seine Geschicklichkeit fühle, und flog in das Nebenzimmer, um ihren Befehl zu vollbringen. Leider aber gelang es ihm durchaus nicht, Ernesto nur auf eine Minute allein habhaft zu werden, es kam ihm sogar vor, als ob dieser ihm geflissentlich ausweiche. Vielleicht hatte Ernesto wirklich von dem ausgesprochenen Wunsch der Gräfin etwas gemerkt, und vermied mit Vorbedacht die Gelegenheit, ihn an sich kommen zu lassen, vielleicht lag aber auch die Schuld an der gar zu höflichen Unbeholfenheit des Abgesandten; genug, Eugenia blieb den ganzen Abend unangefochten als Zuschauerin, und war die erste, welche die laute Bemerkung machte, daß die zum Anfange [138] des Balls bestimmte Stunde schon längst geschlagen habe.

Gedankenvoll saß Frau von Willnangen dicht neben Gabrielen in der fernsten Ecke des Zimmers. Sie sah, wie jene jedem Tone Ottokars lauschte, wie ihr Auge entzückt auf ihm ruhte so oft er in den Tableaus erschien, und das unruhige, fast hörbare Klopfen des jungen Herzens erregte so tiefes Mitgefühl, so bange Sorge in ihrem Gemüth, daß sie fast eben so sehr als Gabriele selbst erschrak, als Ernesto plötzlich vor beiden stand, und sie zur thätigen Theilnahme an dem Tableau aufforderte, welches für heute die Reihe derselben beschließen sollte. Doch bald faßte sie sich wieder und stand mit gewohnter Freundlichkeit auf, um ihm mit ihrer jungen Freundin in das Nebenzimmer zu folgen. Gabrielens Hand zuckte in der ihrigen, ihr Blick bat, sie frei zu lassen, doch er ward nicht erhört, und Ernesto erinnerte sie mit komischer Feierlichkeit an das ihm zugestandne Recht, seine Figuranten nach Belieben wählen zu dürfen.

[139] Das Tableau stellte die Nacht vor, die ihren dunkelblauen Sternenschleier über ihre Kinder, den Schlaf und den Tod, ausgebreitet hält. Der Frau von Willnangen hohe Gestalt, der ruhige, milde Ausdruck ihres noch immer schönen Gesichts eignete sich ganz zum Bilde einer stillen, heitern Sommernacht. Zu ihren Füßen schlummerten zwei liebliche, blonde Genien, der eine war mit Mohnblumen geschmückt, der andre, mit der ausgelöschten Fackel, trug einen Kranz von Zypressen. Bunte, fantastische Traumgestalten drängten sich hinter ihr, unter ihnen stand Gabriele, als ein trüber, Unheil verkündender Traum, in ihren langen, schwarzen Schleier gehüllt, unter welchem die goldglänzenden Locken tief herabrollten. Beim Lampenlicht, mitten unter rosenwangigen, schimmernden Gestalten schien sie, ohne alle Schminke noch blässer als sonst. Sie glich Pygmalions Meisterwerk bei der ersten Regung des erwachenden Lebens. So glühend strahlte ihr dunkles Auge aus dem Marmorgesicht, denn ihr Blick traf auf Ottokarn, der in einiger Entfernung in ihrem Anschaun verloren stand.

[140] Alle Anwesende erklärten einstimmig dieses Tableau für die Krone von allen, welche dieser genußreiche Abend an ihnen vorüber geführt hatte.

»Ich stimme gern mit Ihnen ein,« sprach Ernesto, »denn die Erfindung dieser Gruppe ist nicht mein, ich habe nur die Träume hinzugefügt. Ich bildete sie nach einer Zeichnung meines leider viel zu früh unter der Pyramide des Cestus zur Ruhe gegangenen Freundes, Carstens,« fuhr er mit bewegter Stimme fort. »Lange fesselte ihn ein trübes Mißgeschick, das wie ein böser Zauber auf seinem Leben ruhte und ihn verhinderte, aus dem Reich der Formen in das der Farben zu dringen. Und da es endlich überwunden war, da sein hoher Genuß die Flügel freier zu regen begann, da entschwand er uns ganz. Die Kunst wird ewig um ihren Liebling trauern, um so mehr, da jetzt ein dem seinen ganz entgegen gesetztes verderbliches Streben unter ihren Jüngern täglich herrschender wird.«

Die Gesellschaft mußte nun ernstlich zum Aufbruch eilen, denn das Stampfen der Pferde [141] unter den Fenstern mahnte sie immer lauter. In dem dadurch entstehenden Gewimmel fand sich Gabriele plötzlich neben Ottokar. Er beugte sich freundlich zu ihr herab und ergriff ihre zitternde Hand. »Ich fürchte keine bösen Träume mehr,« flüsterte er ihr zu, »seit ich die Vorbedeutung des Unglücks so anmuthig erscheinen sah.« Der fortwogende Strom der Gesellschaft riß ihn im nämlichen Moment fort, ohne daß Gabriele zur Antwort Zeit gewann.

Aus Gabrielens Tagebuche.

Ich fürchte keinen bösen Traum mehr, seit mir die Vorbedeutung des Unglücks so anmuthig erschien! Sprach er nicht so? Warum mußte ich auch dieses Mal, nur stumm mich verneigend, vor ihm stehen und vermochte nicht, ihm zu antworten? Ach, weil ich bin, was ich zu seyn schien, weil mein ganzes Daseyn ein schwerer, banger Traum ist! Immer ringe ich nach dem Erwachen; bin ich einst erwacht, dann, [142] Ottokar, dann werde ich zu dir sprechen, dich fragen, dir antworten können, und, gewiß! du wirst mich verstehen.


Wie oft versuchte ich es schon, sein Bild auf dem Papier fest zu halten! aber ich ermüde im fruchtlosen Streben. Ja, wenn ich mit den Zügen seines Gesichts auch die unbeschreibliche Harmonie in seinem ganzen Wesen wiederzugeben vermöchte! Er ist immer er selbst! ganz und ungetheilt er selbst, in jeder seiner Bewegungen, in jedem seiner Worte, im Scherz wie im Ernst! Nur er, einzig er kann so dastehen, so sprechen, so aussehen, und doch ist es nicht seine Gestalt allein, die ihn vor allen auszeichnet, es ist der Einklang, die Uebereinstimmung in seiner ganzen Erscheinung. Wo lebt der Künstler, der diese darzustellen vermöge? Ohne sie bleiben meine Bilder leblos und starr, bei aller übrigen Aehnlichkeit gleichen sie Wachsbildern, die das Leben ungeschickt nachäffen wollen, und ich muß sie vernichten, denn sie erregen mir Grauen.


[143] Nichts wollen, nichts wissen, nichts wünschen als Lieben, sich selbst vergessen im Glück des geliebten Wesens, ohne Erwiederung zu hoffen oder zu wünschen, stellt uns den Engeln gleich, ist Vorgefühl himmlischen Glücks! So lehrtest du mich, meine Mutter! Warum bin ich denn nicht glücklich? Warum treibt unerklärliche Unruhe mich rastlos umher? Warum beklemmt meine Brust ein Wünschen, ein etwas Erwarten von der nächsten Minute, für das ich sogar nicht einen Namen habe? Könnte ich nur einmal recht Großes, recht Schweres für ihn vollbringen, ohne daß er ahnete, von wo es aus ginge. Könnte ich, ungesehen von ihm, ein trübes Geschick, ein großes Unheil von seinem geliebten Haupte auf das meinige lenken und dann, in mich geschmiegt und still aus meinem Dunkel hinauf zu ihm blicken und mich in seinem freudigen Lächeln sonnen. Dann, dünkt mich, wäre ich ruhig und glücklich für mein ganzes übriges Leben.


Nie werde ich mich darüber trösten, daß meine Mutter starb, ohne ihn gesehen zu haben. Ach [144] hättest du Verklärte ihn gekannt, wie lieb wäre er dir geworden! Wie glücklich ich im Anschaun von euch geliebten Beiden!


Arme Pflanzen, die sie verstieß, weil ihr verblüht seyd, wie will ich euch pflegen und lieben! Ich fand sie heute alle im Vorsaal, die schönen Blumen, welche Ottokar Aurelien an ihrem Geburtstage schenkte; verdorrt, losgerissen von ihren Stäben, mit Staub bedeckt, erkannte ich sie kaum. »Sie taugen nur noch zum Wegwerfen,« sprach Aurelia, »sie sind verblüht.« »Ja,« setzte sie mit komischem Pathos hinzu, »sieh hier, gutes Kind, das Bild der Vergänglichkeit aller Dinge, und nimm dir ein Beispiel daran. Alles Fleisch vergeht wie Heu, singt die christliche Gemeine, darum verträume deine Blüthenzeit nicht, sie kehrt dir so wenig wieder als diesen armen Sträuchen, die Anton alsobald wegschaffen soll.« »Liebe Aurelia,« erwiederte ich, »mit uns ist es wie es ist, aber diese Blumen können wirklich wieder blühen, nimm sie nur wieder in dein Zimmer, trage sie an die [145] Sonne, begieße sie.« – »Allerliebste Gabriele, thu du das selbst, ich schenke sie dir«, unterbrach mich Aurelia, und machte mir nach ihrer lustigen Art einen tiefen Knicks. Ich erschrak; »aber du hast sie von Ottokar,« stammelte ich, und fühlte dabei, wie ich roth ward; weiß ich doch nicht ob vor Freuden über die Blumen oder vor Verdruß, daß ich Aurelien an ihren Geber erinnern mußte. »Mag er mir frische Blumen schicken, wenn er will, daß sein Andenken bei mir grüne und blühe,« antwortete sie lächelnd; »seit ich nicht mehr vierzehn Jahre alt bin, bewahre ich nichts länger auf, als es des Bewahrens werth ist. Damals freilich, da hatte ich auch ein Heumagazin von gedörrten Rosen, Vergißmeinnicht und sonst noch allerlei Grünlichkeiten, so gut wie eine von euch zarten Seelen, wie ich aber einmal gewahr ward, daß ich alle das Zeug sogar nicht zum Kräuterkissen bei Zahnweh brauchen konnte, warf ich es zum Fenster hinaus.«


Ottokar weiß, daß ich seine Blumen besitze, er hat Aurelien meine Zeichnung dafür geraubt [146] und auf sein Zimmer getragen, gewiß nur im Scherz, gewiß er giebt sie ihr wieder. Warum hat mich denn Annettens Erzählung dieses unbedeutenden Umstandes so erschreckt? Warum strebe ich jetzt so ängstlich, mir diese Zeichnung Zug für Zug recht deutlich zu denken? Er wird sie ja doch nicht behalten.


Wenn er unglücklich würde! Nein diese Möglichkeit kann ich mir nicht denken. Nicht einmal die, daß ich oder andre es in seiner Nähe seyn könnten. Ihm gegenüber, seinem freundlich hellen Blick gegenüber, muß ja das Unglück eine so stille rührende Gestalt annehmen, daß es zur schmerzlich süßen Freude sich darüber umwandelt.


Sonst nannte Frau von Willnangen nie Ottokars Namen, jetzt höre ich ihn täglich aus dem Munde der geliebten Frau und lausche mit Freuden seinem Lobe. Während Gewohnheit und Arbeit mich zu Hause in meinem Zimmer festhalten, bringt er die Morgen bei ihr und Augusten zu. [147] Meine Freundinnen streben auf vielfache Weise, mich zu einem Besuche zur nämlichen Zeit zu veranlassen, ohne jedoch mich geradezu einzuladen, und oft regt sich auch in mir der Wunsch, ihren Winken folgen zu dürfen, aber ein innres Widerstreben hält dennoch mich zurück.


Abends singt mir Auguste die Lieder, welche er ihr brachte, ihre Mutter giebt mir fast wörtlich den Inhalt ihrer Gespräche mit ihm. Ich bewundre die Freiheit des Geistes, welche es ihr möglich macht, sich mit ihm so in Rede und Gegenrede zu verständigen, denn in seiner Nähe wird mein ganzes Wesen nur ein Spiegel des seinen.


Ich wollte, ich könnte dichten, oder komponiren; oft ist es mir, als müsse ich beides können, aber vergebens suche ich Worte oder Töne für das, was ich so gerne singen oder sagen möchte. Auch in meinen Büchern, in meinen Dichtern, finde ich nicht, was ich suche, nirgends, was auf ihn paßte. Alle Gestalten, welche sie mir vorführen, [148] sind nicht wie er, mild und hoch, kräftig und bescheiden.


Er hat meine Zeichnung behalten, sie hängt über seinem Schreibtisch, freilich als ein Geschenk Aureliens. Ernesto sah sie bei ihm. Ich bin darüber froh wie ein Kind, ich möchte sagen, ich fühle mich geehrt, so wie sonst, wenn die geliebte Mutter irgend eine Arbeit von mir sich zum Gebrauch aneignete. Wenn er die Zeichnung ansieht, muß er nicht zuweilen meiner gedenken?


Heute Abend war ich zeitiger als gewöhnlich zu Frau von Willnangen gegangen, ich fand die liebe Frau allein mit Augusten, trübe und traurig schien ein schmerzliches Andenken schwerer als sonst auf ihrem Gemüthe zu lasten. Sie bat uns, etwas zu singen, und wir wählten das himmlische Duett aus Pärs Sargino, das mir von jeher wie die Sprache klingt, in welcher Engel einander sagen, wie sie sich lieben. Dolce dell' anima, fing ich an; speme e diletto di [149] questo cor, und meine Seele schwebte auf den süßen Tönen himmelan. Da erscholl es dicht hinter mir, dolce dell' anima, es war nicht Augustens Stimme, es war seine, seine! unbemerkt von mir war er ins Zimmer und an Augustens Stelle getreten. Ich wagte nicht, mich umzusehen, aber ich hatte den unbegreiflichen Muth, fortzusingen, la pura fiamma che m'arde in petto! Ich fühlte mir das Herz in der Brust, jeden Puls meines Lebens erzittern, aber meine Stimme bebte nicht, ich wußte kaum, daß ich sang, die Töne strömten unwillkürlich aus meiner tiefsten Brust, aus dem Herzen meines Herzens, und ich hörte mich selbst wie die Stimme eines Dritten. Athemlos, bewustlos sogar, stand ich da, als das Duett geendet war, und konnte nichts als mich tiefer und immer tiefer vor Ottokar neigen, während er zu mir sprach. Auguste sagt, er habe viel zum Lobe meiner Stimme, meines einfachen Vortrags gesagt; ich weiß es nicht, ich habe sogar nicht gesehen, wie er sich bald darauf entfernte. Als er fort war, schloß mich Frau von Willnangen mit verdoppelter [150] Zärtlichkeit in ihre Arme, Augustens schönes Auge blitzte freudig, beide waren den ganzen Abend unerschöpflich in seinem Lobe, in Erzählungen kleiner Züge von ihm. Zu jeder andern Zeit hätte diese Unterhaltung mich sehr glücklich gemacht, jetzt konnte ich kaum darauf achten. Ja Musik ist die Sprache seliger Geister, das weiß ich jetzt mit Ueberzeugung, in Tönen konnte ich ihm singen, wofür ich nimmer Worte fände, und der Nachhall dieser Stunde wird mein ganzes kommendes Leben durchtönen.


Einmal, nur einmal möchte ich doch Aurelia seyn, neben ihm sitzen, ihn ansehen, und mit ihm sprechen können wie sie.


Es war mein Stolz und meine Freude, mit Ottokar, wenn gleich ihm unbewußt, ein Geheimniß zu theilen, etwas, allen andern Verborgnes von ihm zu wissen, daher vertraute ich keiner lebenden Seele die Geschichte unsers ersten Zusammentreffens. So lange ich allein darum wußte, wähnte ich, sie sey ein unsichtbares [151] Band, das mich allein vor allen andern mit ihm vereinte. Nun ist es zerrissen. Woran ich Wochen und Monde hindurch in der Stille mich freute, ist die Neuigkeit des Tages geworden und geht entstellt von Mund zu Mund. Die ganze ungewöhnlich zahlreiche Gesellschaft, Aurelien an der Spitze, strömte mir heut entgegen, so wie ich den Speisesaal betrat, nur Ottokar blieb in der Ferne. Mein Blick sucht immer ihn zuerst, ich bemerkte einen leisen Zug des Unmuths auf seinem Gesicht, ein vielleicht nur meinem Auge sichtbares schnell wieder verfliegendes, zorniges Erröthen. Erstarrt blieb ich in der Thüre stehen, Aurelia und alle Uebrige mochten lange mit Fragen und Redensarten in mich hineingestürmt haben, ehe ich nur begriff, wovon eigentlich die Rede sey. Ich sah nur Ottokar in dieser mir unerklärlichen Bewegung. Ernesto, der, sonst um diese Stunde ein seltner Gast, bei uns ist, kam mir zu Hülfe. Seit meinem ersten Eintritt in dieses Haus ist er mir immer nah, so bald ich seiner bedarf. Wie er es anfing, weiß ich nicht, ich war zu aufgeregt, um [152] es zu bemerken, aber der ganze gesellige Knäuel drehte sich bald von uns ab, um Aurelien her, und ich stand mit Ernesto allein im Fenster. Hier erfuhr ich von ihm, daß Ottokars Kammerdiener Aureliens Kammerjungfer erzählt habe, wie sein Herr eine arme alte Frau unterweges in den Wagen genommen habe, auch daß ich damals mit ihnen in einem Gasthofe wohnend, die Geschichte mit großer Theilnahme gehört und durch Frau Dalling mich näher darnach erkundigt habe, denn obgleich Lorenz mich nicht zu Gesichte bekam, so hatte er diese doch dort gesehen und hier wiedererkannt. Die Jungfer hatte nichts angelegentlicheres zu thun, als ihrer Gebieterin bei der nächsten Gelegenheit diese Anekdote wieder zuzutragen. »Sie können denken,« fuhr Ernesto fort, »wie willkommen ein solcher Stoff Aurelien seyn muß, um ihren nie zu ermüdenden Muthwillen daran auszulassen. Gönnen Sie ihr die Freude, folgen Sie Ottokars Beispiel und lachen Sie mit, anstatt sich darüber zu ärgern. Die Tante trat zu uns, anscheinend recht fröhlich, aber in ihren Augen [153] zuckte doch eine gewisse Unruhe, sie vermochte nicht ganz die Furcht zu verbergen, daß Aurelia den Scherz zu weit treiben könne; der lustige Tumult in dieser und Ottokars Nähe ward immer größer und lauter, die Tante immer ängstlicher und freundlicher, und mir ward das Herz schwer und schwerer mit jeder Minute. Mehrere Spottbilder, mit erklärenden Knittelversen, alle von Aurelien selbst, nur zu geistreich erfunden und ausgeführt, hatten bisher die Gesellschaft ergötzt, endlich gelangten sie auch zu uns. Ottokar war darauf als Don Quixotte dargestellt, wie er seine durch Zauberkünste in die Gestalt einer alten häßlichen Frau verkappte Dulcinea von Toloso in eine Schenke bringt, die er für ein Kastell ansieht. Auf einem andern Blatt erscheint er als ein Schäfer, der eine zur Bettlerin verwandelte Fee vom Tode befreit, und gleich darneben, wie er zum Danke dafür in einen wunderschönen Prinzen mit Krone und Scepter verwandelt wird. Dann sahen wir ihn auch in Hofgalla, die Bettlerin am Arm, und mich im Hintergrunde, ganz in Extase vor [154] Rührung und Bewunderung, neben mir eine ganze Reihe naßgeweinter Schnupftücher auf einer Leine zum Trocknen aufgehängt. Ottokar selbst näherte sich uns und betrachtete diese Ergießungen einer nichts schonenden, übermüthigen Laune mit beifälligem Lächeln. »Wir sind diesesmal Leidensgefährten, liebes Fräulein,« sprach er, indem er sich freundlich zu mir neigte, während ich, erröthend vor Zorn und Verlegenheit, nicht wußte, wohin ich die Blicke wenden sollte. »Sie sehen so ernsthaft aus, thun Sie das nicht, nehmen Sie einen geselligen Scherz nicht höher auf, als er aufgenommen seyn will,« setzte er leiser, fast bittend, hinzu. Alles schwamm vor meinen Augen bei dem unerwarteten Glück, einen von ihm ausgesprochnen Wunsch erfüllen zu können. Ich hätte Aurelien, auf die ich eben erst zürnte, jetzt mit Freuden an mein Herz gedrückt, weil sie die Veranlassung dazu lieh, und ich hoffe, daß jede Spur des Unmuths in diesem Moment eben so von meiner Stirne schwand wie aus meinem Herzen. Um meiner Zufriedenheit die Krone aufzusetzen, sammelte Ernesto die [155] Zeichnungen alle sorgfältig zusammen und legte sie in seine Schreibetafel, mit der Erklärung, daß er sie als das gelungenste Werk seiner Schülerin aufbewahren wolle, und weder die Bitten der Gesellschaft noch Aureliens Zürnen konnten ihn bewegen, sie wieder herauszugeben.

Der einmal angestimmte Ton wollte bei Tische noch nicht gleich verhallen, aber Ernesto und Ottokar bemeisterten sich des Gesprächs, die Tante unterstützte sie auf das kräftigste, und so nahm es bald eine für mich erfreulichere Wendung, die ich mit angestrengter Aufmerksamkeit verfolgte. Ottokars Blick gleitete wärend dem Gespräch oft von dem neben mir sitzenden Ernesto auf mich herab, ich sah es nicht, denn meine Augen senken sich immer vor den seinen, aber ich fühlte seinen Blick wie einen Sonnenstrahl in meinem Innern.

Jetzt bin ich allein, und das durch Ottokars Nähe unterdrückte bittre Gefühl regt sich von neuem in meiner Brust. Ach ich fürchte die Spottsucht, die flache Charakterlosigkeit der [156] Gesellschaft um mich her wird auch mich noch ergreifen. Am besten wär es wohl für mich, ich ginge. Aber wohin? Arme Gabriele, wohin? Wo er nicht ist? Freilich werden Tage kommen, an denen ich ihn nicht sehe, vielleicht ein Tag, der von ihm auf dieses ganze Leben mich scheidet, aber soll ich denn schon jetzt dem Licht der Sonne mich entziehn, weil vielleicht bald die Nacht herein brechen wird?


Mit dem neuen Jahre war endlich der Zeitpunkt er schienen, der eine gänzliche Umänderung in Gabrielens, ihr allmählich lieb gewordnen Lebensweise hervorbrachte. Von nun an ward sie die beständige Begleiterin ihrer Tante durch die ganze lange bunte Reihe von Lustbarkeiten, welche das Karneval in der großen, lebenslustigen Stadt herbeiführte. Bälle, Soirees, Schauspiele aller Art raubten ihr jeden Abend, und die Zurüstungen zu diesen verkümmerten ihr manche Morgenstunde, die sie sonst andern Beschäftigungen zu widmen gewohnt war.

[157] Mit aller Kraft ihres Geistes suchte sie jetzt die ängstliche Blödigkeit zu überwinden, welche ihre ersten Schritte in der Gesellschaft so unsicher gemacht hatte. Es gelang ihr nach und nach. Das Blendende der Erscheinungen, das betäubende Geräusch verloren allmählich die Gewalt, ihr zu imponiren, ihre Existenz in der Welt ward mit jedem Tage angenehmer und obgleich sie sich oft nach den stillen, genußreichen Abenden sehnte, welche sie sonst bei Frau von Willnangen zu verleben gewohnt war, so gab es doch auch oft Stunden, in denen sie sich recht jugendlich heiter an dem bunten Leben ergötzte.

Dennoch war ihre Erscheinung in demselben nichts weniger als brilliant. Als eine nahe Verwandte der von allen gefeierten Gräfin Rosenberg, in deren Begleitung sie überall erschien, verfehlte man zwar nicht, ihr die Aufmerksamkeit zu erzeigen, zu welcher dieses Verhältniß sie berechtigte; aber eigentlich betrachtete man sie doch noch immer als ein halbes Kind, und sie hätte gewiß an manchem Abend die Reihe [158] der ungestört gähnenden Opfer der Sozietät vermehrt, welche man in allen Salons-Ecken sitzen sieht, wäre nicht Ernesto ihr treuer Beschützer geblieben, und hätte nicht Frau von Willnangen diesen Winter der gewohnten Ruhe weit öftrer als sonst entsagt, um ihren Liebling in so ungewohnten Verhältnissen nicht ganz verlassen zu wissen.

Ottokar sah Gabrielen jetzt täglich, ohne daß beide einander deswegen viel näher gekommen wären. Er zeichnete sie nicht minder als Aurelien aus, durch tausend kleine Aufmerksamkeiten, die er, als der Gast der Gräfin, ihnen vor andern schuldig zu seyn glaubte, übrigens aber blieb ihr gegenseitiges Verhältniß fremd und abgemessen wie zuvor.

Nur selten, besonders aber am Neujahrsabende, bei ihrem Eintritt in die große Welt, hatte er ihr einige Theilnahme gezeigt. Die Gräfin feierte den Schluß des festlichen Tages mit einem Ball, den sie den jüngern Bekannten Aureliens gab. Einsam und vergessen saß Gabriele lange in einer Ecke des Tanzsaales. Sie [159] gedachte der Neujahrsabende, welche sie als fröhliches Kind an der Hand der Mutter in den hohen, düstern Sälen von Schloß Aarheim verlebt hatte. Die Tanzmusik tönte nur wie aus weiter Ferne in ihre Träume, als Ottokar plötzlich vor ihr stand und ihr seine Hand bot, um auch sie den fröhlichen Reihen zuzuführen. Es war der erste festliche Tanz ihres Lebens, ihr schwindelte, noch ehe sie den Tanzplatz betrat. Ottokar merkte ihr Schwanken, schrieb es ihrer gewohnten Furchtsamkeit zu, und umfaßte sie nur um so fester, um sie vor jedem möglichen Zufall zu sichern. Gabriele fühlte den Druck seines Arms, das Säuseln feines Athems in ihren Locken, sie sah sein freundliches Auge ganz nahe auf sie herabblitzen und schwebte, an ihn gelehnt, wie auf geflügelten Sohlen durch den weiten Saal, so leicht, so anmuthig, daß selbst die Tante ihr freundlich Beifall zunickte. Mit ihm so durch das Leben! Der Gedanke flog zum ersten Mal wie ein Pfeil, in stechendem Schmerz, durch ihr Innres; ein unendlich betrübendes Gefühl bewegte sie fast bis zum Weinen, und noch [160] nie hatte sie sich so vereinzelt, so ganz verlassen gefühlt, als da Ottokar nach beendigtem Walzer sie zu einem Sitz führte und sie dann mit einer stummen Verbeugung verließ, um sich eine andre Tänzerin zu wählen.


Eines Abends, in einer großen Gesellschaft, wandte sich das Gespräch auf den echt spanischen Fandango. Aurelie war eben in sehr glänzender Laune, und so bedurfte es nicht großer Ueberredungskraft, um sie zu bewegen, ihn zu tanzen, obgleich die musikalische Begleitung, außer dem Tambourin und den Kastagnetten, nur noch aus einem Pianoforte bestehen konnte, und an einen Mittänzer gar nicht zu denken war.

»Du kennst die Figuren des Fandango, ich weiß es vom Tanzmeister,« sprach Aurelia zu Gabrielen, indem sie die sich vergeblich Sträubende in die Mitte des Saales mit sich fortzog; »übrigens,« setzte sie noch, wie ihr zum Troste hinzu, indem sie ihr die Kastagnetten aufzwang, »übrigens hat es wenig zu bedeuten, wer neben mirherhüpft.«

[161] Die mehresten der Anwesenden, sogar die Gräfin, blickten mit mitleidiger Besorgniß auf die arme Gabriele, die beinahe zitternd, mit niedergeschlagnen Augen dastand, während ein dichter Kreis von Zuschauern sich um sie und ihre Kusine bildete. Endlich sah sie auf, ihr erster Blick fiel auf Ottokar, der neben Ernesto stand, und sie mit ängstlicher Theilnahme betrachtete. Unfern von beiden winkte ihr Frau von Willnangen Muth zu, und nie war diese Gabrielen der verlornen Mutter so täuschend ähnlich erschienen. Der Anblick der befreundeten Gestalten, die ersten Takte der ihr bekannten Musik, aus welcher ihr Erinnerungen an ihre glückliche Kindheit wiederhallten, begeisterten sie; die Gewalt, mit der sie ihre Aengstlichkeit niederzukämpfen suchte, verknüpft mit dem lebhaften Wunsche, die durch ihr Gelingen zu erfreuen, welche ihr wohlwollten, versetzten sie in eine Art von Extase. Wider alles Erwarten gelang es ihr, mit unnachahmlicher Grazie auch den künstlichsten Wendungen Aureliens zu folgen, die jetzt in vollem Ernst mit der eben Verachteten zu wetteifern begann.

[162] Wie ein weißer Schmetterling die prachtvoll erblühte Centifolie umflattert, so schwebte die kleine Silfidengestalt um die hohe schöne Aurelia her. Der Anblick war wirklich entzückend, lauter, rauschender Beifall übertönte fast das Pianoforte; nach beendetem Tanze drängte sich alles, um beide mit Lob- und Danksprüchen zu überschütten, vorzüglich aber Gabrielen; denn ein unerwartet neu entdecktes Talent gilt immer mehr als ein längst bekanntes. Frau von Willnangen, Ernesto, Ottokar sogar, erhoben Gabrielen bis in die Wolken, andre folgten diesen anerkannten Koriphäen des guten Geschmacks, sogar die Gräfin erklärte sich für stolz auf ihre liebe Nichte und umarmte sie mit großer Zärtlichkeit. So ward das Unerhörte herbei geführt, daß Aurelia wirklich zu ihrem eignen höchsten Erstaunen ein paar Minuten lang um der kleinen Kusine willen vergessen und verlassen dastand, und diese Erfahrung war ihr nicht weniger neu, als Gabrielen, die der allgemeinen, laut ausgesprochnen Bewunderung.


[163] Mit dem Scharfblick besorgter Mutterliebe bewachte Frau von Willnangen Ottokars Benehmen gegen Gabrielen bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Nichts war ihrem genauen Aufmerken entgangen, weder jenes festere Umfangen ihres Lieblings beim ersten Tanze in der Neujahrsnacht, noch sein Besorgtseyn um Gabrielen, als Aurelia sie zum Fandango hinzog. Freudig hatte sie gesehen, mit welchem Entzücken er hierauf jeden ihrer Schritte mit den Augen verfolgte, zuletzt in laute Bewunderung ausbrach und sich allen Andern vordrängte, um der Erste zu seyn, der ihr für das Allen gewährte Vergnügen seinen Dank aussprach.

Auch in Ottokars übrigem Betragen gegen Gabrielen glaubte sie, wenn gleich nicht leidenschaftliche Liebe, doch ein stilles Hinneigen zu ihr zu erblicken, denn Wunsch und Hoffnung sind zu nahe verwandt, als daß sie im Laufe des Lebens nicht oft sollten eins für das andere gehalten werden. Frau von Willnangen gewöhnte sich nach und nach, alle die kleinen Aufmerksamkeiten mit in ihre Waage zu legen, durch welche Ottokar die [164] Hausgenossin, die nahe Verwandte seiner Gastfreundin, vor andern auszeichnete. Sie sah, mit welcher zarten Schonung und zugleich mit welcher Gewandtheit er so manche kleine, Gabrielen drohende Verlegenheit von dieser abzuwenden wußte; sie legte alles zum Vortheil ihrer Wünsche aus, und wahrhaft mütterliche Liebe verleitete sie endlich zu Mißgriffen, welche bei der welterfahrnen, klugen Frau sich nur durch dieses vorherrschende Gefühl entschuldigen lassen.

Zu diesen Mißgriffen gehörte, daß sie nicht nur es nie vermied, mit Gabrielen über alle jene ihr bedeutend dünkenden Zufälligkeiten in Ottokars Benehmen gegen sie zu sprechen, sondern sie sogar aufmerksam darauf machte, und sie ihr aus einem Gesichtspunkt zeigte, der für Gabrielens Ruhe durchaus gefährlich werden mußte. Augustens ewig heitre Fantasie, ihre warme Anhänglichkeit an Gabrielen verleiteten auch diese, das Gemälde einer Zukunft vollends auszumalen, welche keine von ihnen mit deutlichen Worten zu nennen wagte, die aber Mutter und Tochter für jedes andere Gemüth, als Gabrielens, dennoch nur zu [165] deutlich bezeichnet haben würden. Diese, zu wenig vertraut mit allem, was auf das wirkliche Leben Bezug hat, verlor sich nur mit süßer Schwärmerei in die von ihren Freundinnen ihr geöffnete helldunkle Aussicht. In ruhigen, einsamen Stunden strebte sie freilich, zu ihrer ehemaligen Resignazion wieder zu gelangen, und war es sich sogar nicht bewußt, wie weit sie von ihr gewichen sey. Ottokarn zu werden, was er ihr war, diese Möglichkeit hatte sie noch nie mit klaren Worten sich gedacht, aber noch weniger die, daß eine Andre so über alles von ihm geliebt werden könne. So verwirrten sich ihre Wünsche, ihre Hoffnungen immer mehr, sie vermied sogar, zur Klarheit über sie zu gelangen, und ihr Tagebuch enthielt von nun an nur die Ergießungen eines leidenschaftlich aufgeregten Gemüths, das sich scheut, ein Dunkel zu durchdringen, in welches es sich vor sich selbst verhüllt.


Der Winter zog allmählig fort, die Tage wurden länger, und im wärmeren Sonnenstrahl [166] erglänzten schon die schwellenden Knospen der Bäume. An Gabrielens Rückkehr nach Schloß Aarheim ward indessen nicht gedacht, obgleich der anfänglich dazu bestimmte Zeitpunkt nicht mehr fern war. Der Baron, welcher mit jedem Tage seinem großen Ziele sich zu nähern glaubte, und deshalb ungestört zu bleiben wünschte, hatte schon früher die Gräfin schriftlich um die Erlaubniß gebeten, den Aufenthalt seiner Tochter bei ihr auf unbestimmte Zeit verlängern zu dürfen, und Gabriele war zu sehr von der Gegenwart befangen, als daß sie den Wechsel der Zeiten hätte bemerken können. Tage und Monden gingen an ihr vorüber, ohne daß sie an die Möglichkeit einer Abänderung in ihren Verhältnissen gedachte.

Indessen konnte eine um diese Zeit entstehende geheimnißvolle Bewegung im Hause ihrer Tante ihr doch nicht verborgen bleiben, welche auch außer ihr jedermann bemerkte und niemand verstand; sogar Ernesto nicht, denn die Gräfin pflegte nach Art aller Frauen, die in der großen Welt eine Rolle zu spielen gewohnt sind, ihr eignes Geheimniß sicher zu bewahren, sobald sie es wollte. Sie [167] selbst blieb still und freundlich, wie jemand, der dem Gelingen großer Pläne mit Zuversicht entgegen sieht. Dabei konnte sie indessen es doch nicht lassen, sich zuweilen mit halbverhüllten Winken an Gabrielen zu wenden, von denen es schien, als wollten sie dieser eine große Freude, ja sogar ein hohes Glück verkünden.

Aurelia erschien in dieser Zeit strahlender und übermüthiger als je zuvor, Ottokar war mehr in sich gekehrt, und man bemerkte eine ihm sonst nicht gewöhnliche Ungleichheit der Gemüthsstimmung in seinem Betragen. Unter der Dienerschaft herrschte ein immerwährendes leises Treiben, die Gräfin selbst leitete es, es sah aus wie Zubereitungen zu einem prächtigen Feste, oder zu einer großen Reise, oder zu beiden; niemand von den dabei Beschäftigten wußte es zu erklären, und alle zerbrachen sich darüber die Köpfe.

Gabriele bemerkte wohl, daß alle diese Erscheinungen auch auf sie Bezug haben müßten, sie sann über ihre Bedeutung nach, bis sie von der allgemeinen, dumpfen Unruhe quälend ergriffen wurde, und war nach jedem, so in vergeblichem [168] Aufmerken verlebten Tage herzlich froh, wenn der Abend hereinbrach und der gewohnte Kreis sich in den Zimmern der Gräfin versammelte, welcher jetzt, nach den vorübergezognen Zerstreuungen des Karnevals, wieder in seine alten Rechte getreten war.

Eines Tages schien die allgemeine Spannung der Hauptpersonen des Hauses auf das höchste gestiegen, noch nie waren die Gräfin so geheimnißvoll, Ottokar so ernst in sich gekehrt, Aurelia so übertrieben lustig gewesen. Allen, welche diesen Tag an der Mittagstafel der Gräfin Theil nahmen, fiel dieses unheimliche Wesen bis zum Aengstlichwerden auf. Nichts konnte ihnen daher Erwünschteres kommen, als der für den Abend verheißne Besuch eines berühmten Deklamators, denn er versprach nicht nur Schutz gegen die bei dieser Stimmung der Gesellschaft zu befürchtenden Langenweile, sondern auch gegen etwannige Ausbrüche einer innern Aufgeregtheit der Gemüther, von der sich jedes ergriffen fühlte. Unter allen aber freute sich Gabriele darüber; noch nie war ihr Gelegenheit geworden, einen Künstler dieser [169] Art zu hören, sie hatte überhaupt keinen Begriff, wie man das, was sie als Deklamation kannte, zum Hauptzweck seines Lebens machen könne, und erwartete daher etwas ganz außerordentliches von einem sich einzig diesem Zwecke weihenden Künstler. Alles, was sie jemals von Improvisatoren, von Troubadours, von Barden, die als überall willkommne Gäste mit ihren Liedern durch die Länder zogen, ja sogar vom Wanderleben Homers gehört und gelesen hatte, kam ihr wieder ins Gedächtniß. Sie erwartete nicht viel Geringeres als alles dieß zusammen, und war daher nicht wenig verwundert, als der Erwartete in Gestalt eines hagern, kleinen, schwarzgekleideten, sehr jungen Männchens hereintrat und der Gräfin vorgestellt ward. Seine Ungeduld, sich hören zu lassen, schien nicht minder groß, als die der Anwesenden, ihn zu hören. Er ergriff die erste Gelegenheit, sich anscheinend nachlässig in einen Lehnstuhl zu werfen, und begann mit nicht auffallend angenehmem Sprachton seine Rezitationen.

Es war wunderlich anzusehen, wie er sich [170] ängstlich abmühete, zu deklamiren, ohne dabei zu agiren. Mit der untern Hälfte des Körpers gelang es ihm, er saß mit kreuzweis über einander geschlagnen Beinen wie angebunden auf seinem Sessel, aber die Züge seines Gesichts, Arme und Hände waren gleichsam wider seinen Willen in ewiger theatralischer Bewegung. Er hatte kein Buch nehmen wollen, weil er behauptete, sich vollkommen auf sein Gedächtniß verlassen zu können, dieß aber vermehrte die Verlegenheit, in welche ihn die Haltung seiner Hände augenscheinlich versetzte. Freilich hätte er auch eine ganze Bibliothek herbeischaffen müssen, so viele ganz heterogene Dichtungen der heterogensten Dichter ließ er im schnellsten Wechsel auf einander folgen. Endlich kam auch Macbeths bekannter Monolog an die Reihe. Schauerliches Schweigen herrschte im Saal, alles horchte seinen dumpfen, geisterartigen Tönen. »Ist das ein Dolch?« rief er mit Macbeths stierem Blick und einem plötzlichen Griff auf den vor ihm stehenden Tisch. »Es ist nur die Lichtschere,« flüsterte Aurelia, laut genug, um von den nahe Stehenden, wahrscheinlich auch vom [171] Deklamator selbst gehört zu werden, denn sobald dieser den Monolog beendet hatte, erinnerte er sich eines Versprechens, noch diesen Abend in einer andern Gesellschaft zu erscheinen, und eilte davon.

»Shakespear! ach Shakespear!« rief die Gräfin, indem sie sich entzückt auf dem Sopha zurück lehnte, und so es vermied, ihr Urtheil über den Deklamator zu frühe zu äußern. Beim Shakespeare war sie ihrer Sache gewiß, nicht so bei jenem, obgleich dem in allen Zeitungen Gepriesenen in jeder Pause seines Vortrags von einem großen Theil der Anwesenden lauter Beifall gezollt worden war. »Wie groß erscheint Shakespear, wo man auch immer ihn antrifft!« fuhr die Gräfin fort; »wie sogar nicht zu ertödten! Welch eine Höhe! und welche Tiefe! Wie treten seine Gebilde hinaus in die Wirklichkeit!« »Ich bin nur froh, daß der Deklamator endlich zum Saal hinaus getreten ist,« sprach Ernesto ganz gelassen. Erstaunt sah die Gräfin ihn an, und war doppelt froh, sich an Shakespeare gehalten zu haben, [172] da nun auch der Professor anfing, Klopstocks Ode, Theone, zu rezitiren.


Still auf dem Blatt ruhet das Lied, noch erschrocken
Von dem Getös' des Rhapsoden, der es herlas,
Unbekannt mit der sanfteren Stimme
Laut, und dem volleren Ton.

»Die armen Lieder!« sprach lächelnd Auguste, »sie haben nicht einmal ein Blatt, auf dem sie ruhen könnten, er sagte sie auswendig her, und mir ist daher noch immer, als fühle ich die heimathlosen Geister mich ängstlich umschwirren.« Antonius wollte wenigstens das große Gedächtniß des Deklamators bewundert wissen, konnte aber nicht damit zu Stande kommen, denn Ernesto verdammte gerade dieß aus dem Kopfe-Hersagen, als einen der ärgsten Mißgriffe, welche sich der Deklamator hatte zu Schulden kommen lassen, und der Professor trat ihm treulich bei. »Wodurch wird das Lied zum Liede?« sprach dieser; »durch den Rhythmus, den Versbau, die Wahl des Ausdrucks, nicht durch die poetische Idee allein. Mit der strengsten Auswahl wägt der Poet jedes Wort, jede Silbe, überall sucht er den Geist und die [173] Harmonie aufs genauste zu vereinen, und Gott weiß, wie schwer ihm dieses in unsrer an guten Reimen so armen Sprache oft wird. Verzweifeln müßte er, wenn er es anhörte, wie solch ein Deklamator alle seine Mühe vernichtet und die auswendig gelernten Lieder mißhandelt! »Das ists ja eben,« setzte Ernesto hinzu, »die Herren haben es nur auswendig und nicht inwendig, sonst müßten sie fühlen, was sie zerstören, wenn sie hier ein fremdes Wort einschalten, weil das rechte ihrem untreuen Gedächtniß entschlüpfte, dort einen falschen Akzent anbringen, oder ein kurzes Wort dehnen, weil sie vom vorhergehenden eine Silbe verschluckten, und nun mit dem Versmaaß nicht auskommen. Auch das beste Gedächtniß sichert vor dergleichen nicht. Auf dem Theater verdecken Spiel und theatralische Täuschungsmittel diese Mängel so ziemlich, auch Sängern und Sängerinnen will ich es allenfalls nachsehen, wenn sie unsre Dichter verstümmeln, man versteht sie ohnehin nur selten, und wird es also nicht gewahr; aber der Deklamator, der uns den vollkommensten Genuß eines poetischen Werkes verspricht, [174] müßte sich nie in den Fall setzen, so fehlen zu können.«

»Ich wünschte fast, es gäbe gar keine Deklamatoren in der Welt,« sprach Frau von Willnangen; »wenigstens fühle ich immer das innigste Mitleid, wenn ich einen jungen Menschen sehe, der von falschverstandner Kunstliebe sich verleiten ließ, diesen Weg zu wählen, um darauf durch die Welt zu kommen.«

»Denen jungen Herren, die weder Lust zum Graben noch zum Erlernen gründlicher Kenntnisse haben, scheint dieser Weg aber sehr lustig und bequem,« er wiederte der Professor, »sie denken noch obendrein, etwas Ungemeines für die Kunst zu thun, wenn sie von Stadt zu Stadt gehen und pathetisch hersagen, was andre Leute gedichtet haben, und was jeder seit der Erfindung der Buchdruckerkunst in seinem Kabinet lesen und sich dabei das gerade für ihn Passende auswählen kann.«

»Dabei sind sie gewöhnlich in offenbarem Zwiespalt mit sich selbst,« setzte Ernesto hinzu. Deklamiren mit Aktion oder ohne Aktion, das ist [175] die Frage, die sie nie lösen können. Ersteres mitten im Zimmer auf plattem Boden, hat denn doch immer etwas komisches, abgerechnet, daß es auch dem eigentlichen Begriffe des Deklamirens ganz entgegen steht. Und sich beim Deklamiren im übrigen ganz ruhig zu verhalten, ist fast unmöglich, oder wird es erzwungen, so kann niemand sich an dem Anblick freuen. Eigentliches Deklamiren möchte ich ganz auf das Theater oder auf die Bühne der Volksredner verweisen, wenn es deren noch außer den Kanzeln welche gäbe; zur gesellschaftlichen Unterhaltung aber würde ich bloßes Vorlesen mit Ausdruck und Präzision allen Deklamatorien vorziehen.«

Es ward über diesen Gegenstand noch viel hin- und hergestritten, bis Ernesto Gabrielen aufforderte, den Streit zu beenden und der Gesellschaft zu zeigen, was er mit Vorlesen eigentlich meine. Er kannte ihr schönes, sorgfältig von der Mutter gebildetes Talent, und ergriff gern diese, wie jede Gelegenheit, seine junge Freundin nicht sowohl an das Licht zu ziehen, als vielmehr sie von der ängstlichen Befangenheit [176] gänzlich zu befreien, von welcher sie noch zuweilen befallen ward. Auch diesesmal gewährte sie nur mit innerm Zagen seinen Wunsch, überflog schnell mit den Augen ein Blatt, welches Ernesto ihr reichte, während die Lichter gerückt wurden und der Kreis der Anwesenden sich um sie her ordnete. Sie las zuerst etwas zaghaft, dann aber mit immer steigendem Affekt, immer eindringender, immer wahrer in Ton und Ausdruck, ganz sich und alle um sich her vergessend, wie an jenem Abende, als sie in Ottokars Gegenwart sang: la pura fiamma che m' arde in petto. Kein Hauch regte sich, alle waren an ihren Vortrag wie gebannt, denn man hörte, was sie las, war der innigste Ausdruck ihres eigensten Gefühls, und sie bezwang alle Herzen mit der Wahrheit Gewalt. Sie hatte das Gedicht, welches sie vorlas, zuvor nie gesehen, es war das neueste Erzeugniß eines jungen Poeten von Ernesto's Bekanntschaft.

Hier ist es:


O laßt mich ruh'n an dieser lieben Stelle
Nur einen kurzen, stillen Augenblick!
[177]
Hier zog mein Tag herauf, so licht, so helle;
O laßt mich ruh'n an dieser lieben Stelle!
Vergönnet mir dieß arme, einz'ge Glück!
Ich will nicht um mich schau'n; laßt mich vergessen,
Daß eine Zukunft ist, daß Morgen kommt.
Was über heute liegt, ist unermessen,
Und über Nacht zu denken, ist vermessen,
Mit Sonst zu sprechen, meinem Herzen frommt.
Wenn es der Welt noch einmal tagt, umdichten
Mich Gram und Nacht. Dein Bild kann nur allein
Die Nacht zur Dämm'rung eines Traumes lichten,
Und wie ein Traum mußt du vorüberflüchten,
Geflügelt Glück! dein bin ich, du nicht mein.
Der hat ein süßes, hold Geschick, empfangen,
Wer dich, du zartes Bild! nur einmal sah;
Mich hat dieß Glück für immerdar umfangen,
Bist du auch, Klara! weit von mir gegangen;
Mein Herz bringt ewig deine Fernen nah.
In meiner tiefsten Seele stillen Tiefen
Steh'n deine Worte, rufen nach und nach
– Wie Glockentöne, die am Tage schliefen,
Vom Abend aufgeweckt, zur Vesper riefen –
Das Heiligste in meiner Brust mir wach.
Und diese Augen sollten wiedersehen,
Was nicht zu dir gehört, was du nicht bist?
Es sollten and're Töne mich umwehen?
Und deine liebe Stimme mir vergehen?
Giebt es solch' Aufersteh'n, was Grab nur ist?
[178]
Wer hörte dich und darf noch Unglück denken?
Noch an das Böse glauben und dich seh'n?
Dein liebend Auge könnte Sonnen lenken,
Und meinen Stern, den könntest du versenken
In ew'ger Trennung namenlose Wehn?
Es muß die Zeit hinab zur Zeit wohl gehen,
Doch meine Liebe nicht und nicht mein Schmerz;
Selbst dieser Schmerz darf nicht die Lieb' umstehen
Gewaltsam, rauh; er soll wie Frühlingswehen
Wachrufen, Blumen gleich, ein sehnend Herz.
Und wenn der Winter schlafen legt die Blumen alle,
Und Herz und Sehnsucht starrt in Grabesfrost,
Wenn todtgekühlt die Blumen, Herzen alle,
Dann seh' ich dich allein aus meiner Halle
Noch diamanten-strahlend hoch im Ost.
Bis dahin laßt an dieser lieben Stelle
Mich ruhen meines Lebens Augenblick.
Hier kam mein Tag, hier bleibt die Nacht mir helle;
O laßt mich ruh'n an dieser lieben Stelle!
Euch sey die ganze Welt mit ihrem Glück!!
Während des Lesens waren Gabrielen schon bei der Stelle:
»Es sollten and're Töne mich umwehen?
Und deine liebe Stimme mir vergehen?«

[179] einzelne Thränen in die Augen getreten; sie ward im Fortfahren immer bewegter und bewegter. Bei den Worten:


»Hier kam mein Tag, hier bleibt die Nacht mir helle.«


versagte ihr die Stimme, und sie strebte vergebens, die beiden letzten Strophen des Liedes zu geben, dieses zu beenden. Erbleichend, verstummend stand sie endlich auf, bedeckte das Gesicht mit ihrem Tuche und eilte zum Zimmer hinaus, jede Begleitung durch eine bittende Bewegung der Hand von sich ablehnend.

Ottokar, der zunächst der Thüre sich befand, war dennoch unbemerkt bis in den Vorsaal ihr gefolgt, dann faßte er ihre Hand und führte sie zu einem Sitz im Fenster, während er die Bedienten fortschickte, um Annetten herbei zu rufen. Gabriele erbebte sichtbarlich, als sie ihn erkannte; ein Strom von Thränen schaffte ihrem gepreßten Herzen Luft, während er, den sorgenden Blick auf sie geheftet, vor ihr stand. »Fräulein,« sprach er, indem er noch immer ihre Hand hielt, »liebes Fräulein, Sie haben uns allen einen so hohen Genuß gewährt, wir alle müssen ihnen so dankbar [180] dafür seyn; was ist es denn, das jetzt Sie so gewaltsam niederdrückt? Zürnen Sie mir nicht,« fuhr er fort, da es ihm schien, als wolle Gabriele sich von ihm loswinden, »zürnen Sie mir nicht, daß ich Ihrem Winke nicht gehorchte und Ihnen hierher folgte; daß ich die Besorgniß, mit der ich Ihren schwankenden Schritt bemerkte, nicht unterdrückte. Als ihr Hausgenosse glaubte ich dieß wagen zu dürfen, und vielleicht, hoffentlich sogar, geben mir die nächsten Tage, vielleicht der morgende schon, das schöne Vorrecht, an allem, was Sie betrifft, recht innigen Antheil zu nehmen.«

Gabriele horchte bebend auf seine Worte, sie war unfähig, ihm zu antworten, und fühlte sich zum erstenmal in ihrem Leben einer Ohnmacht nah. Ottokar konnte nichts, als sie unterstützen, bis die erschrockne Annette kam und sie in ihr Zimmer geleitete.


Die Nacht verging Gabrielen unter lautem Herzklopfen, unter tausend wechselnden Ahnungen, [181] Gedanken, halb verstandnen Wünschen. Jedes Wort, das Ottokar am vergangnen Abend zu ihr gesprochen hatte, tönte unaufhörlich in ihrem Innern wieder, jedes war ihr ein Räthsel, dessen Lösung sie mit Entzücken und Grauen suchte und nicht fand, bis sie ermattet spät gegen den Morgen in unerquickliche Bewußtlosigkeit versank.

Ihr Erwachen zu einer ungewöhnlich späten Stunde glich ganz dem ersten im Hause ihrer Tante. So wie an jenem Morgen, durchtoseten auch heute Bediente und Handwerker das Haus mit Zurüstungen zu einem Feste. Weder Aurelia, noch die Gräfin waren den ganzen Morgen über sichtbar, selbst die Bedienten thaten geheimnißvoll, wenn sie einander auf der Treppe begegneten. Gabriele saß in ängstlicher Spannung; unfähig zu jeder sonst gewohnten Beschäftigung, lauschte sie auf jeden Fußtritt, auf jedes Knarren der Thüren in zitternder Unruhe. Sie ahnete das Herannahen einer für ihr ganzes Leben entscheidenden Stunde, sie ahnete einen Zusammenhang zwischen dieser Stunde und dem, was Ottokar am gestrigen Abende zu ihr gesprochen hatte, ohne [182] doch begreifen zu können, wie dieses möglicher Weise seyn könne. Gegen Mittag ließ die Gräfin ihr sagen, daß sie und Aurelia allein in ihrem Zimmer speisen würden, zugleich schickte sie ihr einen sehr glänzenden Anzug für den Abend. Alles dieses so ganz Ungewohnte vermehrte Gabrielens peinliche Unruhe, sie begann weit früher, als sonst, sich anzukleiden, und zählte hernach jeden Pendelschlag ihrer Uhr.

Endlich strahlten die Kronleuchter, Equipagen rollten herbei, und schon durchrauschten die Tritte vieler herannahenden Gäste Treppe und Vorsaal, ehe Gabriele sich wirklich entschließen konnte, den Versammlungs-Saal zu betreten, und eine immer steigende Angst hemmte jeden ihrer Schritte. Unter lautem Herzklopfen blieb sie unfern der Thüre stehen; wie durch einen dichten Flor zeigte sich ihr die ganze glänzende Versammlung, welche längs den Wänden des Zimmers einen weiten Kreis bildete. Alle nahe und entferntere Verwandte der Gräfin, alle ihre vornehmsten Bekannten waren gegenwärtig, nur Frau von Willnangen fehlte, weil eine plötzliche Unpäßlichkeit Augustens sie zu [183] Hause hielt, und weder Ernesto, noch irgend einer der Künstler und Gelehrten, welche sonst das Haus besuchten, waren zugegen. Am obersten Ende des Kreises stand die Gräfin, reich und festlich gekleidet, neben ihr Aurelia, im weiß und silbernen Kleide, diamantne Sterne im dunkeln, mit Perlen durchflochtnem Haar; ihr großes blaues Auge überschaute die ganze Gesellschaft, so wie etwa eine Königin ihren Hofstaat übersieht, ob niemand fehle, und als sie Gabrielen an der Thüre gewahrte, winkte sie sie zu sich heran. Uebrigens herrschte tiefe Stille in der Versammlung, man konnte das Picken der Uhren hören, so regungslos erwartend stand alles da. Da trat Ottokar in völliger Hofkleidung aus einem Seitenzimmer in der Nähe der Gräfin herein, zum erstenmal sah Gabriele ihn von einem breiten Ordensband umschlungen, und einen blitzenden Stern auf seiner Brust. Mit freundlichem Ernst, etwas bleicher, als sonst, näherte er sich der Gräfin, die seine und Aureliens Hand ergreifend, mit würdevollem Anstande beide einige Schritte vorwärts gegen die Mitte des Kreises führte, und Ottokarn als [184] Aureliens verlobten Bräutigam der Gesellschaft vorstellte.

Die Gräfin schien sich zu dieser Festlichkeit eine kleine Rede ausgesonnen zu haben, die sie, zwischen Ottokar und Aurelien stehend, mit dem Anstande der Fürstin von Messina an die Anwesenden richtete. »Der Wunsch ihrer Väter,« sagte sie unter andern, »der Wunsch ihrer Väter, wenn gleich nicht ihr unabänderlicher Wille, bestimmte dieses Paar schon seit Aureliens Geburt für einander, doch blieb dieses, meinem Willen gemäß, beiden ein Geheimniß, bis ich überzeugt seyn konnte, daß kein innres oder äußres Hinderniß sich ihrer Verbindung entgegenstelle. Die Gnade des Fürsten hat auch das letzte beseitigt, indem sie den Grafen in den Stand setzt, seiner Braut mit seiner Hand auch einen meinen Wünschen angemeßnen Rang in der Gesellschaft zu bieten; Ottokar erhielt heute seine Ernennung zum Gesandten in Rom, und Aurelia folgt ihm entzückt in das schöne Land, zu welchem schon längst sie, wie jeden Gebildeten, die Sehnsucht zog. Auch ich werde sie dorthin begleiten, und da Graf Ottokars [185] Bestimmung die schnellste Ausführung des längst Vorbereiteten fordert, so wird uns leider das schöne Fest des heutigen Tages durch den Schmerz des Abschiednehmens von so werthen Freunden getrübt. Schon morgen verlassen wir die Stadt, in wenig Tagen wird das hochzeitliche Band auf meinem Landgute ganz in der Stille geknüpft, und in weniger als einem Monat eilen wir Italien zu, wohin Pflicht, Liebe und Sehnsucht uns rufen. In Jahr und Tag hoffe ich indessen Sie alle hier wieder zu sehen, ich kehre dann mit der festen Ueberzeugung des Glücks meiner Kinder zurück und hoffe, in Erinnerung und Gegenwart mit meinen Freunden frohe Tage zu verleben. Auch meine Nichte, Gabriele von Aarheim, wird mich begleiten. Ich habe dich von deinem Vater dazu erbeten,« sprach sie, in ihrem natürlichen Ton, sich plötzlich zu Gabrielen wendend, »du sollst auch Italien sehen, freue dich recht, Kleine, und wünsche deiner Kusine und ihrem Bräutigam Glück,« setzte sie hinzu, indem sie ihr näher zu treten winkte.

Gabriele, welche schon früher auf Aureliens [186] ersten Wink sich genähert hatte, drängte sich jetzt mit wunderbarem Ungestüm durch die Versammlung, welche sich in dem Moment auch in Bewegung setzte, um Aurelien ebenfalls ihre Glückwünsche zu bringen. Gabriele wankte, als sie der Tante näher kam; im Begriff zu sinken, umfaßte sie unwillkürlich das Knie der Gräfin, um sich aufrecht zu halten. »Wunderliches Kind, wie stürmisch ist deine Freude! Hier, hier bringe deinen Glückwunsch an,« sprach lächelnd die Gräfin, indem sie sie umarmte und dann zu Aurelien und Ottokar wendete. »Glück! Glück!« rief Gabriele, athemlos und wie verwildert, sie konnte in augenscheinlicher Bewußtlosigkeit kein anderes Wort hervorbringen, als dieses eine, das sie mehreremale schnell wiederholte. Die Gräfin, welche auch in der höchsten Bewegung die feingezogne Linie des hergebracht Schicklichen nie aus den Augen verlor, wurde von dem Aufsehen beunruhigt, welches Gabrielens sonderbares Benehmen unter den Zunächststehenden schon zu erregen begann. Sie schob sie daher mit sanfter Gewalt der Thüre zu, durch welche Ottokar hereingetreten war. »Dorthin, [187] dorthin,« flüsterte sie ihr leise ins Ohr, »erhole dich erst von deiner ausgelaßnen Freude, und dann kehre wieder.«

Gabriele ging, der Weisung der Tante gehorsam; sie ging und ging, einen endlosen Weg, wie es ihr schien, die Kronleuchter drehten sich in einem wunderlichen Tanz um sie her, die Tapeten und Fußteppiche hoben und senkten sich, sie sah alles und erkannte nichts, bis sie am äußersten Ende der erleuchteten Reihe von Zimmern in einem nur von einer Dämmrungslampe erhellten Kabinet auf den Divan sank.


Ueber eine Stunde mochte wohl verflossen seyn, seit Gabriele sich von der Gesellschaft entfernte; im freudigen Tumult hatte weiter niemand an sie gedacht, selbst die Gräfin nicht, welche jetzt, nachdem die Gratulationen vorüber waren, alle Aufmerksamkeit darauf verwandte, die Spieltische zu Jedermanns Zufriedenheit zu ordnen. Aurelia [188] zog sich indessen mit ihren jüngern Freundinnen in ihr Zimmer zurück, Ottokars prächtige Brautgeschenke mit ihnen zu mustern und zu bewundern, und so entstand für diesen eine Pause in der geselligen Unterhaltung, die ihm in seiner jetzigen Stimmung höchst willkommen war. Er fühlte dringend das Bedürfniß einiger einsamen, ruhigen Minuten, um sich selbst wieder zu finden. Jede auffallende Abänderung des Gewohnten, und sey sie noch so erwünscht, führt ihre eignen Schauer mit sich, die uns mit unwillkommner Gewalt ergreifen, oft im Momente, wo wir es sogar als Pflicht fühlen, nur Freude äußern zu dürfen. Sogar das höchste Entzücken unverhofften Wiedersehens geliebter Freunde ist im ersten Augenblick ein Schmerz, wir müssen mit jedem Glück erst Bekanntschaft machen, ehe wir uns dessen recht erfreuen können, und wir erschrecken sogar vor unsern eignen Wünschen, wenn sie plötzlich in Erfüllung treten.

So ging es auch Ottokar. Ihn schauerte, als er sich nun wirklich an dem Wendepunkt seines Lebens sah, den er doch seit Monden zu [189] erreichen strebte. Oft hatte er den bittersten Unmuth empfunden über den langsamen Kabinetsgang, der seine Anstellung verzögerte, und jetzt schien ihm alles überraschend schnell gekommen zu seyn. Er konnte es sich nicht verhehlen, daß das leichte, luftige, freie Schmetterlingsleben durch den heutigen Tag beendet werde. Bande aller Art, ehrenvolle Thätigkeit, ernste Pflichten im häuslichen Leben erwarteten ihn, tausend Rücksichten mußten seinem bisherigen harmlosen Umherschweifen jetzt ein Ende machen, die Blüthenzeit seines Jugendlebens war dahin, und er vermochte es nicht, ohne Schmerz von ihr zu scheiden.

Leise hatte er sich, die hellerleuchteten Säle entlang, neben den eben besetzten Spieltischen durchgeschlichen, ohne daß jemand es bemerkte, außer der Gräfin, die auch heute, wie immer, ihm Freiheit ließ zu gehen und zu kommen. Er öffnete vorsichtig die Thüre des Kabinets, in welches Gabriele sich geflüchtet hatte, und fuhr fast wie vor einer Geistererscheinung zurück, da er sie beim Schein der schwach leuchtenden Alabasterlampe erblickte, wie sie sich bleich und langsam [190] bei seinem Eintritt vom Divan erhob und ihm ein paar Schritte entgegen trat.

»Sie sind es? Sie sind es wirklich, Ottokar?« redete sie ihn an. »Sie sind es wirklich? ich sehe Sie noch einmal und kann von Ihnen Abschied nehmen? ich darf einmal im Leben zu Ihnen noch sprechen, ehe ich auf immer scheide? Nun so ward doch ein heißer Wunsch im Leben mir gewährt!«

Ottokar erschrak vor dem zitternd bewegten Ton ihrer Stimme, vor der heftigen Spannung, in der augenscheinlich ihr ganzes Wesen sich befand. Er näherte sich ihr, indem er beschwichtigend ihre bebende Hand ergriff und sie wieder zum Divan zurückführte. »Sie reden vom Scheiden, vom Abschiednehmen?« sprach er, »liebe theure Gabriele, – mit dieser vertraulichen Benennung darf ich jetzt doch Sie anreden? – liebe, liebe Gabriele, an Scheiden, an Trennen ist nun gar nicht zu denken. Verstehen Sie jetzt meine Worte von gestern Abend?« fuhr er fort, indem er recht vertraulich sich neben sie setzte. »Giebt der heutige Tag mir nicht ein Recht, an allem, [191] was Sie betrifft, innigen, warmen Antheil zu nehmen?«

Gabriele schwieg, ihre Hand zitterte noch immer in der seinen, schwere Tropfen fielen einzeln aus ihren gesenkten Augen.

»Morgen gehen wir zusammen auf das Land,« fuhr Ottokar etwas verlegen fort, da es ihm gar nicht gelingen wollte, sie zur Gegenrede zu bringen. »Morgen auf das Land, und wenig Tage später durch den blühenden Frühling nach Italien. Wie wird diese liebliche weiße Rosenknospe in jenem schönen Garten hold erblühen!« sprach er, indem er sich zurückbeugte und Gabrielen mit Wohlgefallen betrachtete. Welche Freude wird es seyn, dort in der Heimath der Kunst alle die Anlagen, die Talente sich bis zur Vollkommenheit entfalten zu sehen, die Ihre zu große Bescheidenheit uns jetzt kaum errathen läßt. Wird es mir dort vielleicht gelingen, Ihr Zutrauen zu erwerben? ich ahne schon lange, daß Sie nicht glücklich sind, liebe Gabriele,« sprach er, ihre Hand fester fassend, »oft wenn Sie, von mir sich unbemerkt glaubend, am Tisch mir gegenüber saßen, [192] sah ich den Schmerz auf Ihren Lippen beben. Ich weiß es wohl, Ihnen fehlt das höchste Glück der Jugend, eine liebende Mutter, Geschwister. Nehmen Sie mich, liebe Gabriele, nehmen Sie mich zu ihrem Bruder an, jetzt, da ohnehin Verwandtschaftsbande uns vereinen werden; geben Sie mir ein Recht, mit liebender Sorgfalt um Sie geschäftig zu walten. In dem fremden Lande, wohin wir gehen, so schön es ist, werden wir doch unter uns unbekannten Menschen allein zusammen stehen, die vielleicht gar nicht zu uns passen; aber wir werden uns dafür auch desto fester an einander schließen und einander um so näher angehören, je isolirter wir sind. Darum adoptiren Sie mich zum Bruder, ehe die Noth Sie dazu treibt, gewiß, ich will ein recht guter Bruder seyn,« setzte er fast scherzend hinzu.

Er schwieg, ihre Antwort erwartend, während sie sichtbar nach Fassung, nach Athem rang; plötzlich richtete sie sich auf und legte auch ihre zweite Hand auf die seinige. Er blickte verwundert, voll Erwartung sie an.

»Ich danke Ihnen, Ottokar,« sprach sie, »ich [193] danke Ihnen herzlich; Sie wollen ein krankes Kind mit erfreulichen Bildern zur Ruhe einlullen, aber ich bin nicht krank, ich bin auch kein Kind, ich darf es ja nicht seyn, von jetzt an nicht mehr. Ach wäre ich es, und läge tief gebettet bei meiner Mutter!« rief sie schmerzlich, ermannte sich aber gleich wieder. »Sie zeigen mir eine entzückend schöne Aussicht in die Zukunft, Ottokar,« fuhr sie fort. »Noch gestern hätte der Gedanke an die Möglichkeit derselben mir ein Traum vom Himmel gedünkt, aber in dieser Stunde fühle ich, daß ich selbst mir diesen Himmel verschließen muß. Ottokar, ich nehme hier an dieser Stelle, in dieser Stunde Abschied von Ihnen, ich kann nicht mit Ihnen gehen. Fragen Sie mich nicht: warum?« setzte sie mit bittender Stimme hinzu, »fragen Sie mich nicht: warum.? Es ist mir selbst nicht deutlich, ich vermag nicht, es in klaren Worten vor mir selbst auszusprechen, aber eine Stimme in meinem Herzen ruft laut, daß wir uns hier trennen müssen, und ich darf ihr nicht widerstreben. Ich danke Gott, daß mir vor dem Scheiden der Augenblick wird, nach dem ich Monden[194] lang mich sehne, und auch Muth und Fassung ihn festzuhalten. So scheide ich doch nicht von Ihnen als eine ganz Unbekannte, so nehme ich doch das Bewußtseyn Ihrer Theilnahme an meinem Daseyn mit mir. Sie werden in dem schönen Lande, wohin Sie ziehen, der armen Gabriele nicht vergessen, die hier immer Ihrer gedenken wird, auch wenn mächtige Gewässer und himmelhohe Alpen zwischen uns liegen.«

In immer steigender Bewegung hörte und sah sie Ottokar, so lange sie sprach, immer fester hielt er ihre Hand, immer näher suchte sein Auge das ihre, während die zarte Gestalt, im Schmerz des Scheidens aufgelöst, das müde Haupt an seine Brust lehnte, und mit der arglosen Sicherheit eines Kindes verstummend, neben ihm saß. Ihm war, als schwände vor seinen Augen ein dichter Nebel, der ihn bis jetzt verhindert hatte, ein Juweel, nach welchem er lange überall vergebens suchte, dicht neben sich glänzen zu sehen. »Wie war es möglich,« rief er endlich, »daß Sie so lange fast unbemerkt neben mir standen? Ja ich ahnete Ihren höhern Werth, wann ich [195] Sie so jung, so allein, so schweigend, mitten im Wirrwar der ungeselligsten Geselligkeit stehen sah; welche unselige Verblendung, welche eitle Verknüpfung unbedeutender Zufälligkeiten hielt mich ab, Sie näher kennen zu lernen! und sollen wir jetzt, da wir uns eben fanden, den herben Schmerz des Scheidens muthwillig auf uns laden, mit dem das Geschick uns dennoch freundlich verschont? Nein, Gabriele, Sie irren, es muß nicht seyn, wir dürfen uns nicht trennen. Ich bin Ihr Bruder, Sie selbst mir die geliebteste Schwester, denn Sie können mich nicht verschmähen, und auch Aurelia wird der Gegenwart einer liebenden Freundin aus der Heimath in dem fremden Lande doppelt bedürfen.

»Aurelia!« rief beinahe schreiend Gabriele, und verhüllte einen Augenblick ihr Gesicht. Dann hob sie gefaßter die schönen, durch Thränen lächelnden Augen zu Ottokar auf.

»Nach dieser Stunde darf nichts halbes in unserm Verhältniß mehr bleiben,« sprach sie, »ganz verhüllt oder ganz erkannt muß ich von Ihnen scheiden. So bringe ich denn mein Herz Ihnen [196] offen dar und fürchte kein Mißverstehen. Seit ich zuerst Sie sah, Ottokar, sind Sie ein Theil meines Daseyns, Ihr Glück ist das meine! Sie legen jetzt Ihr Geschick in Aureliens Hände – du liebst Aurelien – o liebe sie recht innig, recht treu – treue, innige Liebe, alles, sich selbst sogar, opfernde Liebe, bringt uns den Himmel, wenn auch das Herz darüber bricht. – Auch Aurelia liebt Sie,« fuhr Gabriele nach einer kurzen Pause fort. »Sie liebt Sie, aber jeder Einzelne hat wohl seine eigne Liebe, ihre Weise ist nicht die meine, ich würde nie sie verstehen, so wenig wie sie mich jemals verstand. Darum muß ich fort, ich würde in ewiger unendlicher Sorge um dich in deiner Nähe vergehen, ich würde dich mit mir herabziehn zu meinen ängstlichen Zweifeln. Ach schon jetzt suche ich vergebens Worte, um auszusprechen, was doch so klar vor meiner Seele steht, meine Reden verwirren sich unwillkürlich, so würde ich auch in euer Leben nur Verworrenheit bringen. Darum muß ich zurück in meine Einsamkeit, meine Nähe wäre euch nur unheilbringend. Ich bedarf Ihrer Gegenwart nicht [197] zu meinem Glücke, Ottokar, Sie sind doch immer mit mir, und diese an Thränen und Freuden so reiche Stunde bleibt ewig der hellschimmernde Lichtpunkt meines Lebens, er kann nie verlöschen.«

»O Gabriele!« rief Ottokar, mit leuchtenden Augen und tiefbewegter Stimme, »Gabriele! warum schlug diese Stunde uns nicht früher! wie anders könnte alles seyn!« – »Sprich diesen Gedanken nicht aus, hüte dich, ihn nur auszudenken, rein und treu mußt du bleiben, wenn ich nicht im Schmerz um dich vergehen soll,« unterbrach ihn Gabriele, in heftiger Bewegung.

»Ich bleibe rein, ich bleibe treu,« erwiederte Ottokar, »aber noch bin ich nicht gebunden, noch hat die Kirche nicht« – »Ottokar! Ottokar! ich flehe zu dir!« rief Gabriele, in höchster Angst, mit gefaltnen Händen, indem sie vom Divan hinabgleitend fast zu seinen Füßen hinsank.

Ottokar faßte sie schnell in seinen Armen auf; beide saßen einige Minuten sprachlos mit hochpochenden Herzen, Hand in Hand neben einander. »So laß uns wenigstens in dieser entscheidenden [198] Stunde unsers Lebens nichts übereilen.« sprach er endlich mit mühsam errungner Fassung, »höre auch mich an, und dann entscheide du selbst, ich lege willenlos mein Geschick in deine Hände, du kannst kein Unrecht wollen, du reiner Engel des Himmels. Liebe war der süße Traum meiner Jugend, ich trat früh in die Welt, ich suchte sie, ich fand sie nicht, und so gab ich ihn als unerreichbar auf, den schönen Traum, und bereitete mich, mit freiem Herzen bei der Wahl einer Gemahlin dem Wunsch meines Vaters zu folgen. Fern vom Geräusch der Welt, lebt er in tiefer Einsamkeit. Mit der starren Anhänglichkeit des Alters, klammert er sich an die Vergangenheit, die er so gern wieder zurückbrächte, und der Gedanke, mich mit der Tochter seines Jugendfreundes verbunden zu sehen, war immer der einzige Plan für die Zukunft, den er fassen mochte Doch liebt er mich zu sehr, um das Opfer meiner Ruhe zu fordern. Sehen sollte ich sie, Monden lang in ihrer Nähe leben, ehe ich mich erklärte, nur eignes Wollen sollte mich binden, darum sandte er mich hierher. Ich sah sie, Gabriele! [199] wen sollte diese hohe Schönheit nicht blenden? dieser heitre, immer spielende Geist, dieses Talent für alles, was das Leben verschönt? ich glaubte, sie zu lieben, ja ich liebte sie wirklich, wenn unaussprechliches Wohlgefallen an einem reizenden Wesen Liebe genannt werden kann. Wenn mich, wie oft geschah, etwas Befremdendes in ihrem Benehmen auf Augenblicke von ihr zurückscheuchte, wenn ein Ahnen, ein Sehnen höhern Empfindens mich beschlich, so gedachte ich meines guten alten Vaters und entfernte alles, was mir die Erfüllung seines Wunsches hätte erschweren können. So lebte ich Monate neben dem reizenden Mädchen. War auch sie vom Wunsch unsrer Väter unterrichtet? beobachtete auch sie mich im Stillen? ich wußte es nicht, auch galt es gleich. In jedem Fall war sie zu stolz, mich täuschen zu wollen, sie zeigte sich mir immer, wie sie ist, und achtete es nicht, wenn sie es auch bemerkte, daß sie mir deshalb nicht in jeder Stunde gleich liebenswerth erschien. Vor einigen Wochen brachte mein Vater, – Ach! auf mein Bitten, – das frühere Versprechen ihres Gatten bei der Gräfin [200] Rosenberg wieder in Anregung. Sie weigerte sich nicht, es zu erneuern, doch unter der Bedingung, daß ich nur dann gegen Aurelien mich erklären dürfe, wenn ich ihr zugleich den Rang, den Glanz bieten könne, der ihren Vorzügen gebühre. Bis dahin achtete die Gräfin weder ihre Tochter noch mich durch dieses Versprechen gebunden und verhehlte es auch nicht, daß mehrere Männer sich um die Hand derselben bewürben. Jetzt, Gabriele, jetzt da ich die Gefahr sah, Aurelien zu verlieren, jetzt erst fühlte ich mich mächtig zu ihr gezogen. Denn Eifersucht gleicht der Liebe, obgleich jene nicht immer diese begleitet, sie ist gar oft nur das Kind gekränkter Eitelkeit. Die von den ausgezeichnetsten Männern gefeierte Aurelia konnte mein werden, wenn ich sie zu fesseln verstand, dieß bannte mich an jeden ihrer Schritte, während ihr Leichtsinn, ihre auch mich nicht schonende Spottlust mich auf die Folter spannten. Endlich vor einigen Tagen kam mit der Gewißheit meiner Ernennung zu der Gesandten-Stelle auch der Tag meiner Erklärung gegen Aurelien. Kalt, gemüthlos, spottend beinahe, [201] gab sie mir das Versprechen, die meine zu werden, und alle Lust am Leben schwand mir in der Minute dahin. Ich fühlte mit Bewußtseyn, daß dieses kalte, über alles lachende, mit allem seinen Spott treibende Wesen nie lieben kann. Sie wird mir treu seyn, sie wird mich vielleicht freundlich behandeln, ich will es glauben; aber mehr darf ich nie von ihr hoffen, und alle die schönen Ahnungen häuslichen Glücks, denen ich doch nie ganz hoffnungslos entsagen konnte, sinken mir an ihrer Seite in das Reich der Unmöglichkeit. Mir zum Troste suchte ich mich zu bereden, daß, was ich wünsche, zu schön für dieses Werkeltagsleben, nur in andern Welten heimisch sey. Ich war gefaßt, eine gewöhnliche Konvenienz-Heirath einzugehen, und weder mehr noch minder glücklich zu seyn, als alle die Tausende um mich her, und nun, in der letzten Minute, da ich mit halber Freiheit noch athme, kommst du wie eine himmlische Erscheinung, du wunderbares Wesen, und zeigst mir ein Glück, das mir Verblendeten bis heute noch erreichbar war. Und wäre es denn wirklich zu spät? nein! mein guter [202] Engel sandte dich, ich habe dich gefunden, ich gehöre zu dir, und bin noch nicht ganz gefesselt. Gabriele, sprich nicht zu rasch unser Urtheil! ein Wink von dir, und meine Fesseln reißen, und« – »Ottokar! Ottokar!« rief Gabriele erbleichend und trat einige Schritte von ihm zurück – gefaßter näherte sie sich indessen ihm bald wieder. »Wie du mich erschreckst!« sprach sie, »wie du mich erschreckst mit einer mir so fremden Ansicht unserer Zukunft, daß ich es nicht fasse, wie sie dir kommen konnte, dir, dessen Gedanken ich sonst stets lange vorher wußte, ehe du sie aussprachst. Auch ist das, was du sagtest, nicht die wahre Meinung deines Herzens,« fuhr sie fort, »du kannst nicht wortbrüchig werden, weil kein Schwur dich bindet, du kannst deinem guten Vater nicht die nahe Erfüllung seines letzten Wunsches vorspiegeln und dann grausam ihn täuschen, du kannst nicht meiner Tante mit der Schmach ihrer Tochter heimtückisch dafür lohnen, daß sie ihr Haus zu dem deinen machte und dir vertraute. Ottokar, ich brauche nicht zu entscheiden, du selbst hast entschieden in der rechten Tiefe deines [203] Gemüths, du weißt es wohl, was geschehen muß,« setzte sie mit sanftem Weinen hinzu. »Aber ist es denn wirklich so? müssen wir scheiden auf ewig? und du, du Arme, was wird aus dir in den Wüsten des Lebens?« rief Ottokar. »Ich bin beglückt,« sprach Gabriele, kraftlos auf den Divan hinsinkend, »laß mir nur die Hoffnung, daß du streben willst, mit Aurelien glücklich zu seyn.« »Ich will es, Gabriele! ich will alles, was du willst. Guter Gott! wie soll ich es aber anfangen, dich zu vergessen?« erwiederte Ottokar. »Vergiß mich nicht!« bat Gabriele, »laß mich mit dir leben, wie du ewig mit mir leben wirst, vielleicht sehen wir einst uns hier noch wieder, nach langen, langen Jahren, dort finden wir uns gewiß; dorthin wende den Blick,« sprach sie mit aufgehobnen Händen, und sank sogleich wieder zurück.

»Und kein Andenken dieser Stunde gewährst du mir?« sprach Ottokar. »Du hast meine Zeichnung von Schloß Aarheim, betrachte die alten düstern Mauern, in denen ich von nun an leben werde, denke, daß dein Bild sie mir erhellt, und [204] nun lebe wohl, meine Kräfte reichen nicht weiter,« sprach Gabriele mit erlöschender Stimme.

Ottokar kniete vor ihr hin, mit heißen Thränen netzte er die Hände der jetzt beinahe ganz Bewußtlosen, als eine Tapetenthüre sich öffnete. Erschrocken fuhr er auf, es war Annette. Von einer unerklärlichen Angst getrieben, hatte sie das ganze Haus durchstreift, um ihre junge Gebieterin zu suchen, nachdem sie vergeblich sich in der Gesellschaft nach ihr umgesehen hatte. Angst leitete ihre Schritte, auch in das an die Gesellschaftssäle anstoßende Kabinet, und der Zustand, in welchem sie ihre geliebte Herrin dort fand, erschreckte sie so sehr, daß sie kaum Ottokars Gegenwart, noch weniger die an Verzweiflung grenzende Bewegung bemerkte, in welcher er sogleich nach ihrem Eintritt das Kabinet verließ. Es gelang ihm, auf der bis jetzt ihm unbekannt gebliebnen verborgnen Treppe, welche Annetten herbei geführt hatte, sein Zimmer zu erreichen, ohne daß ihn jemand bemerkte. Eben erhaltne Briefe von höchster Wichtigkeit mußten für diesen Abend sein Nichtwiedererscheinen bei der Gesellschaft [205] entschuldigen, während Gabriele, sanft und schweigend, sich von Annetten in ihr Zimmer führen ließ. Der starre Blick, das wunderliche Lächeln, das ununterbrochne Schweigen Gabrielens trieben die arme Annette, unerachtet der dunkeln Nacht, auf die Straße hinaus, um Frau von Willnangen zu Hülfe zu rufen, denn im Hause war alles zu beschäftigt, um auf ihr Bitten zu hören, und glücklicher Weise Augustens Uebelbefinden zu unbedeutend, als daß es Gabrielens mütterliche Freundin hätte abhalten sollen, dem Kinde ihres Herzens zu Hülfe zu eilen.


Schon am zweiten Tage nach diesen Ereignissen war alles Leben aus dem sonst so geräuschvollen Hause der Gräfin Rosenberg gewichen. Nur in Gabrielens Zimmer waltete und flüsterte bange Sorge am Bette der zum Tode Erkrankten. Durch die übrigen verödeten Gemächer schlichen nur noch ein paar halb invalider Diener, [206] um die Vorhänge an den Fenstern herabzulassen und das kostbare Hausgeräthe gegen den Staub sorgfältig zu bewahren. Bald war auch dieses gethan, und die ehemals glänzende Wohnung gewann nach und nach ganz das Ansehen jener verlaßnen Schlösser, die man auf Reisen so oft besehen muß, die wie verzauberte Palläste in einem Feenmährchen dastehen, und einen unbeschreiblich traurigen Eindruck machen, weil sie mit allem versehen sind, dessen das üppigste Leben nur bedarf, ohne daß eine fröhliche lebende Seele zwischen den reichgeschmückten Wänden athmet.

Kaum hatte die Gräfin am Morgen der Verlobung ihrer Tochter die Nachricht von Gabrielens plötzlichem Erkranken vernommen, so ahnete sie mit der ihr in solchen Fällen gewöhnlichen Lebhaftigkeit ein bösartiges Nervenfieber in dieser Krankheit. Der Arzt wagte es nicht, sogleich für oder wider ihre Muthmaaßung zu entscheiden, Frau von Willnangen hingegen wünschte, die Pflege ihrer jungen Freundin ganz ungehindert übernehmen zu können, und bemühte sich daher nicht sonderlich, der Gräfin die Furcht vor einer möglichen [207] Gefahr der Ansteckung auszureden. Halb todt vor Angst, konnte diese von dem Momente an keinen andern Gedanken fassen, als wie die Stunde ihrer Abreise auf das Land möglichst zu beschleunigen wäre. Alles dazu Nöthige war ohnehin schon lange vorbereitet, und es gelang ihr deshalb ohne zu große Anstrengung, sich noch im Laufe des Vormittags, begleitet von Ottokar, Aurelien, und Eugenien, auf dem Wege nach ihrem Landgute Rosenhain zu sehen.

Frauen, wie die Gräfin, pflegen aus angebornem Instinkt genau zu wissen, was sie zu verhehlen, was sie bekannt zu machen haben. Dieses Gefühl leitete sie daher auch diesesmal ganz richtig, indem es sie bestimmte, der Krankheit ihrer Nichte gegen Ottokar nicht zu erwähnen. Nichts in der Welt hätte diesen dazu bringen können, seine Braut und ihre Mutter zu begleiten, wenn er nur eine Ahnung von der Todesgefahr gehabt hätte, in welcher die ihm eben so schnell Verlorne als Gefundne im Augenblick seiner Abreise schwebte. Indem er seinen Reisewagen bestieg, dachte er nur an sie und die [208] unausweichbare Trennung von ihr. Selbst in dem Unwahrscheinlichen des Vorwandes, mit welchem die Gräfin das Zuhausebleiben ihrer Nichte gegen ihn zu beschönigen suchte, wähnte er Gabrielen selbst zu erkennen. In der ungeschickten Art, mit welcher man ihn täuschen wollte, sah er nur ihre reine, jeder Unwahrheit widerstrebende Natur, er ergab sich und schien alles zu glauben, was man ihn glauben machen wollte, weil er dadurch ihrem Willen gemäß zu handeln sich bewußt war.

Aurelia würde vielleicht gar nicht nach Gabrielen gefragt haben, wenn sie nicht zu ihrer großen Freude bemerkt hätte, daß ein Windspiel, welches sie seit zwei Tagen leidenschaftlich liebte, weit bequemern Platz auf dem Rücksitz des Wagens fand, als sie gehofft hatte. Mit halbem Ohr hörte sie auf die Ursachen, die wegen Gabrielens Zurückbleiben angegeben wurden, und hatte diese, wie ihre Kusine selbst, längst vergessen, ehe sie noch über die Vorstadt hinaus war.


[209] Mehrere lange Tage und längere Nächte lag Gabriele ruhig da, im dumpfen bewußtlosen Schlummer, wenn nicht fieberhafte Träume ihre innre Welt aufregten und mit verworrenen wechselnden Bildern vor ihrem Geiste spielten. Frau von Willnangen hatte diese ganze Zeit über an dem Bette der geliebten Kranken in banger Besorgniß gewacht und gebetet; nur wenn die höchste Erschöpfung aller ihrer Kräfte es gebot, wagte sie es, sich einem kurzen unruhigen Schlummer zu überlassen. Auguste und die treue Annette traten dann mit verdoppelter Sorgfalt an ihren Platz vor dem Krankenbette, von welchem sie ohnehin fast nie sich entfernten.

Dankbar, wenn gleich tiefbetrübt, erkannte es Frau von Willnangen, als eine besonders gütige Fügung der ewigen Vorsicht, daß lauter freundliche Gestalten das kranke Haupt der oft sanft Lächelnden umschwebten, daß keine Schreckensträume dem Sterbekissen ihrer geliebten Gabriele nahen durften, und die vielleicht nicht entfernte Stunde ihres Scheidens mild und ruhig, wie ihr ganzes übriges Leben, vorüber zu gehen [210] versprach. Sie belauschte mit der angespanntesten Aufmerksamkeit alle Bilder, welche Gabrielens exaltirte Fantasie dieser vorüberführte, sie horchte auf jedes verständliche Wort von den in wilder Fieberhitze glühenden Lippen. Bald führte diese innige vertraute Gespräche mit der ihr nun zum Schutzgeist gewordnen verklärten Mutter, bald dünkte es ihr, als sey sie wieder ein fröhliches Kind im Schloß Aarheim, spiele mit freundlichen Engeln in ihrem eignen Gärtchen, unter hohen wunderschönen Blumen. Oft sagte sie ganze Stellen aus Schillers Wallenstein her, besonders aus der Abschieds-Scene zwischen Max und Thekla. Dann sah sie Ottokar, wie von einer langen Reise heimkehrend, und nannte ihn Max und eilte ihm freudig entgegen.

Unter diesen Zuständen war endlich die bange, über Tod und Leben entscheidende Nacht herangekommen. Ernst und schweigend saß der Arzt am Haupte des Bettes, auf welchem Gabriele glühend, in schwerem Schlummer und völlig bewußtlos lag. Neben ihm horchte Frau von Willnangen auf jeden Athemzug der Kranken, und [211] erbleichte vor Entsetzen, wenn die Pulse schneller auf einander folgten, oder zuweilen gänzlich auszubleiben schienen. Die arme Annette lag auf dem Fußboden neben dem Bette, und betete in höchster Angst ganz leise vor sich hin; sie war fest überzeugt, daß auch sie mit ihrem Fräulein aus Jammer über dasselbe sterben müsse. Ernesto und Auguste saßen schweigend neben einander auf dem Sopha, sie zählten jede Sekunde an dem Picken der Uhr, und wagten es nicht, einander anzublicken, um nicht eines in des andern Gesichte die starren Züge innrer steigender Hoffnungslosigkeit zu gewahren.

Jetzt schlug die erste Stunde nach Mitternacht. Der Arzt beugte sich mit forschendem Blick über Gabrielen hin, weil er einer fast unmerklichen Aenderung in ihrem Athmen gewahr ward. Annette richtete sich im nehmlichen Moment auf ihren Knieen von der Erde auf, und blickte starr nach dem Fenster. »Dort fliegt er hin, dort fliegt er hin,« flüsterte sie so innerlich leise, daß sie kaum die Lippen dabei regte, und zupfte Frau von Willnangen am Kleide, und zeigte dabei auf[212] das Fenster. »Sie ist gerettet,« sprach sie darauf in fast unhörbarem Tone zu ihr, die im bängsten Erwarten kaum noch athmete. »Sehen Sie dort?« setzte sie hinzu, immer auf das Fenster zeigend, »dort hoch über dem Thurme? den kleinen weißen Wolken am Monde vorüber? Ach Gott, dort senkt er sich wieder!« rief sie einen Augenblick später und verhüllte schluchzend ihr Gesicht.

Eine bange ängstliche Stille herrschte jetzt um Gabrielen, man hörte das Summen der Fliegen im Nebenzimmer, den Schwung der Flügel eines Nachtschmetterlings, der um die Lampe flatterte. Da schlug Gabriele plötzlich groß und hell die Augen auf. »Sind sie schon so früh da? liebe mütterliche Frau?« sprach sie zur Frau von Willnangen, die sie zum erstenmal, seit sie krank ward, wieder erkannte. »Ich habe wohl lange geschlafen, und bin doch noch müde,« setzte sie hinzu. Ein mattes Lächeln glitt über ihr Gesicht, von neuem schlief sie ein, aber die krampfhafte Anspannung in ihren Zügen, die Fieberröthe auf ihren Wangen waren verschwunden; sie lag bleich [213] und schön, gleich einem Marmorbilde jetzt da, und athmete zwar matt aber ruhig. Noch ehe die Sonne aufging, wagte es der Arzt, für die Erhaltung ihres Lebens zu bürgen, wenn man seinen Vorschriften pünktlich Folge zu leisten verspräche.

Ein Arzt, der solch ein Wort mit fester Zuversicht aussprechen darf, wenn von der Rettung eines heiß geliebten Wesens die Rede ist, steht in dem Momente wie ein göttergleiches Wesen vor uns da. Auch bedarf es wohl solcher Augenblicke, um ihn für die vielen bittern Stunden zu trösten, in welchen er die Ohnmacht alles menschlichen Wissens anerkennen muß, und die dennoch von seinem wohlthätigen hohen Beruf sich nicht trennen lassen. Ernesto und Frau von Willnangen, Auguste und Annette, alle drängten sich im freudigsten Tumult um den Retter Gabrielens, alle wußten ihrem Dank, ihrem Entzücken keine Worte zu geben. Es war, als habe er jedem von ihnen neues Leben geschenkt, indem er jene tröstenden Worte aussprach: Ihr unaussprechliches Glück kennt nur, wer in einem einzigen [214] entzückenden Momente den unausweichlich geglaubten Verlust eines über alles geliebten Wesens von sich abgewendet sah.« »Ach! wenn ich nur dieß einemal nicht träume,« rief zwischendurch Annette; »aber es ist doch gewiß wahr, ich sah ihn fortfliegen, gewiß ich sah es,« setzte sie dann ganz leise vor sich hinzu, gleichsam um sich selbst zu beruhigen. »Was sahst du denn fortfliegen? Annettchen,« fragte Ernesto, aber sie erwiederte ihm, »daß es in dieser Stunde noch nicht gut sey, davon zu sprechen. Er ist noch nicht weit,« setzte sie, betrübt und vorsichtig um sich her blickend, hinzu, »ich sah ihn auf das Haus der Frau von Felsberg sich senken, deren Kinder so krank sind.« Und damit nahm sie wieder ihren Platz auf der Erde neben dem Bette ein, legte das Gesicht auf Gabrielens Decke, und wandte kein Auge mehr von ihr ab.

Viele Tage vergingen, ehe Gabriele ihren Freunden anders, als mit unaussprechlich freundlichen Blicken, ihre liebevolle Pflege verdanken konnte, Wochen schwanden hin, ehe sie es vermochte, [215] sich nur wenige Stunden ausser dem Bette zu halten.

In den Armen der Liebe von einer schweren Krankheit zu genesen, ist eine unbeschreiblich rührende, heilige Freude, die für alle erlittene Schmerzen reichlich Entschädigung beut. Das Gefühl des neu erwachenden Lebens verschönt alle Gegenwart, und jeder alte Schmerz wird wenigstens fürs erste zurückgeschoben, daß wir nicht gleich seiner gedenken. Wir selbst sind liebender, als im gewöhnlichen Gange des Lebens, und auch von unsern Freunden mehr geliebt. Die nahe Gefahr des Verlustes, der furchtbare Gedanke des Scheidens für das ganze irdische Daseyn hat uns ihnen theurer gemacht; ihnen ist zu Muthe, als hätten sie zuvor unsern Werth nicht genugsam anerkannt, als hätten sie deshalb ein Unrecht gegen uns gut zu machen, und müßten sich dankbar dafür erweisen, daß wir noch länger unter ihnen weilen wollen. Wir hingegen, mit Sinnen, in der Einsamkeit des Krankenzimmers neugestärkt, wir wissen nicht, wie wir genugsam ihrer großen Liebe uns erkenntlich beweisen sollen, [216] und jeder kleine Dienst, den sie in unsrer Schwäche uns leisten, hat, als Zeuge ihrer treusten Anhänglichkeit, für uns unschätzbaren Werth.

Und so war es auch mit Gabrielen. Sie fühlte sich durch die liebevolle Pflege ihrer Freunde höchst beglückt, und die Ereignisse, welche sie auf das Krankenlager geworfen hatten, waren in der ersten Zeit ihres Genesens fast spurlos aus ihrem Gemüthe verlöscht. Nur mit der allmähligen Erneuerung ihrer Kräfte regte sich eben so allmählig der alte Schmerz wieder auf, und verflocht sich in den Gang ihres Lebens, jemehr sich dieses der Außenwelt wieder zuwendete.

Allmählig war es jetzt völlig Frühling geworden. Draußen im Garten schwärmten die Vögelchen schon gar lustig, zwischen röthlichen Blüthen ihren kleinen Haushalt beschickend, und die Sonne schien warm und lockend durch die immer blühenden Rosen auf Gabrielens Fenster. Auch Ottokars Pflanzen trieben wieder Knospen, und Gabriele stand oft vor ihnen, versunken in stilles Nachdenken, aus welchem nur die angestrengtesten [217] Bemühungen ihrer Freunde sie zu ziehen vermochten.

Eines Morgens hatte sie bis zur Erschöpfung ihrer wenigen Kräfte bei ihnen verweilt, und sank darauf in den tiefen Schlummer der Ermattung. Ernesto mit Augusten, welche eben zugegen waren, zogen sich in das Nebenzimmer zurück, um sie nicht durch ihre Gegenwart im Schlafe zu stören. Auch Annette mußte mit, denn das treue Kind war durch ihre große Liebe zu Gabrielen allen werth geworden, und wurde mehr wie ein zur Familie gehörendes Mitglied derselben, als wie eine um Lohn dienende Kammerjungfer betrachtet.

»Jetzt ist es heller lichter Tag, und für dein Fräulein ist Gottlob alle Gefahr verschwunden,« sing Ernesto an, »jetzt sage uns, liebe Annette! was sahst du fliegen in jener ängstlichen und frohen Nacht, die wir mit dem Arzte durchwachten?« Feuerroth warf Annette einen ängstlichen Blick auf das Fenster und flüsterte dann schnell und leise: »Wen anders als den Todesengel.«

»Den Todesengel?« erwiederte Ernesto lächelnd;[218] »den sahst du fliegen? und wie sah er denn aus, dieser Schreckensengel?«

»Ach schrecklich genug,« antwortete Annette, »mir graust es noch, wenn ich daran denke, wie er aussah, und doch war er so sehr schön, wie ich noch nichts gesehen habe, kein Mensch auf Erden kann so aussehen. Er ist kein Kind, wie die andern Engel, die in der Kirche und in der gnädigen Gräfin ihrem Zimmer abgemalt sind. Er sah aus wie eine sehr schöne Frau, die pechschwarzen Locken hingen ihm zu beiden Seiten des todtenbleichen Gesichts lang herab. Dabei sah er recht gräßlich, recht grausam ernsthaft aus und über alle maßen traurig und herzlich betrübt, und doch war es auch, als ob er mitleidig wäre und sich recht gerne tröstlich bezeugen wolle. So flog er mit den breiten dunkeln Flügeln über das Bette meines Fräuleins, bald in weiten Kreisen rings darum her, bald zwischen den Vorhängen unter dem Betthimmel durch. Ich wollte immer die Vorhänge zuziehen, aber dann dachte ich, er kömmt doch wohl hindurch, und ich sähe nicht, wie er sie [219] zu Tode küsse, denn im Kusse hätte er ihre Seele genommen, das weiß ich gewiß.«

»Liebe Annette! mir schaudert jetzt am hellen Tage bei deiner Erzählung, unmöglich kannst du das gesehen haben, du mußtest ja vor Angst und Schrecken bei dem Anblicke von Sinnen kommen,« wandte Auguste ein.

»Ich wäre auch gewiß dabei von Sinnen gekommen,« erwiederte Annette, »wenn nicht die weit größre Angst um mein Fräulein mich aufrecht erhalten hätte. Er flog ihr immer näher und näher, zuletzt schwebte er so dicht über sie hin, daß ich jeden Augenblick dachte: jetzt wird er sie küssen, und dann ist sie todt. Ich lag auf der Erde neben ihr, und rückte recht mit Bedacht mein Gesicht dicht neben ihrem Gesicht, und dachte immer daran, wie ich es so machen könne, daß er mich an der Stelle meines Fräuleins küssen solle, oder doch wenigstens mit ihr zu gleich. Herr Gott! ich begreife gar nicht, wie Sie alle ihn nur nicht gesehen haben, wie Sie alle nur nicht das ängstliche Schwirren in der Luft hörten, wenn [220] er so über meinem armen Fräulein hin und her flog.«

»Und wo blieb er denn zuletzt, wo flog er hin?« fragte Ernesto. »Er flog durch das Fenster hinaus,« war die Antwort, »wie er durch die Scheiben kam, kann ich nicht beschreiben, er drang hindurch wie der Mondschein, und schwebte noch lange von außen um die Fenster her. Endlich, Gottlob! endlich flog er ganz fort! Hoch durch die Luft, dicht neben dem Monde hin, ich sah es recht deutlich, wie die dunkeln Flügel durch die weißen Wolken neben dem Monde, wie durch einen Silberflor hindurch schimmerten. Auf einmal senkte er sich nieder; mir stand das Herz still vor Angst; aber er flog weiter und ließ sich zuletzt auf dem Hause der Frau von Felsberg herab. Sehen sie wohl dort das grüne Thürmchen mit dem weißen Balkon rings herum? man sieht es fast in der ganzen Stadt. Das Thürmchen steht oben auf dem Hause der Frau von Felsberg. Ach Gott! und ihre lieben kranken Kinderchen sind auch beide in derselben Nacht gestorben. Ich habe schon so viel um sie geweint,« [221] setzte Annette schluchzend hinzu, indem die hellen Thränen ihr über die Wangen liefen.

Eine lange Pause entstand, Auguste vermochte es nicht vor Grausen ein Wort aufzubringen, und auch Ernesto fühlte von der treuherzigen Erzählung der jungen Engelseherin sich befangner, als ihm lieb zu seyn schien. Endlich wollte er einiges über die ängstliche Wallung sagen, in der sie sich alle während jener Nacht befunden, dann sprach er davon, daß Annette aufgeregter und überwachter seyn mußte, als jeder von ihnen, weil sie allein, vom Anfange der Krankheit Gabrielens an, bis zu jenem entscheidenden Moment, sich keine Stunde ruhigen Schlummers gewährt hatte. Auch versuchte er, von den wunderlichen Bildern zu sprechen, die unsre Fantasie uns schon auf nächtlichen Reisen oft vorspiegelt, besonders, wenn wir mehrere Nächte hindurch fahren, ohne auszuruhen, aber die Worte standen ihm nicht so zu Gebote wie wohl sonst. »Am besten ist es,« sagte er endlich, »wir danken Gott, daß der Furchtbare dießmal vorüberzog; sey es auf welche Weise es sey, sichtbar oder unsichtbar, grübeln [222] wir weiter nicht darüber, und hüten wir uns, davon zu sprechen, denn solche Gespräche taugen überall nichts. Vor allen Dingen aber wünsche ich, daß unsre Kranke nie etwas von dieser Erscheinung erfahre.«


So wie sich Gabriele stark genug dazu fühlte, trug man Sorge, sie aus ihrer verödeten Wohnung hinweg, in das Haus der Frau von Willnangen zu bringen, wo sie ihre völlige Genesung bequemer abwarten konnte. Ottokars Name war seit seiner Abreise noch von keinem von ihnen genannt worden, und Frau von Willnangen sah nicht ohne Besorgniß dem Augenblick entgegen, wo dieses zum erstenmal geschehen würde. Bei aller Ueberzeugung, daß Gabrielens Krankheit mit der unerwarteten Erklärung der nahen Vermählung Ottokars Zusammenhang habe, war sie doch weit entfernt, nur eine Silbe von der wunderbaren Zusammenkunft zu ahnen, welche an jenem [223] Abend zwischen beiden statt gefunden hatte. Sie wußte daher gar nicht, wie sie sich über Ottokar zu äußern habe, um Gabrielen nicht weh zu thun. Sie war uneins mit sich selbst, wie jeder, der es sich nicht verhehlen kann, daß er von der rechten Bahn abwich, und nun gern wieder gut machen möchte, was er sich gestehen muß verdorben zu haben, wenn es auch in der besten Absicht geschah. Die Verblendung, in welcher sie Gabrielens Neigung stets mehr entflammt hatte, statt sie zu mäßigen, war ihr jetzt unerklärlich. Sie begriff es nicht, wie ihre im Laufe eines langen Lebens erworbne Welterfahrenheit sie diesesmal so irre gehen ließ, aber eben so wenig begriff sie noch immer, wie Ottokar Aurelien wählen konnte, da Gabriele neben dieser stand. »Habe ich gefehlt,« sagte sie sich endlich selbst zum Trost, »so stürzte die herzlichste Liebe zu dem liebenswürdigen Kinde mich in den Irrthum; mag denn diese Liebe, so lang ich lebe, auch streben, wie der gut zu machen, was sie übel gemacht hat.«

Gabrielens Kräfte nahmen unter der treuen Pflege ihrer Freunde beinahe mit jedem Tage [224] sichtbar zu. Ihre Jugend, ihr stilles, von jedem innren Vorwurf freies Gemüth, und auch des Frühlings allbelebende Kraft waren des Arztes mächtige Gehülfen. Es hatte fast den Anschein, als ob ihre physische Natur dieses heftigen Stoßes bedurft habe, um zur völligen Entwickelung zu gelangen, so auffallend war die Veränderung, welche jetzt in ihrem Aeußern vorging, und sie fast bis zum Unkenntlichwerden verschönte. Das kindlich runde Gesichtchen gewann jetzt den hohen, edlen Ausdruck vollendeter Jungfräulichkeit, ohne dadurch an jugendlichem Reize zu verlieren; ihre mit jedem Tage höher erscheinende Gestalt entwickelte sich zu der edelsten Form, und ihrem ganzen Wesen fehlte nur noch der Glanz blühender Jugendfrische, um aller Augen zu entzücken.

Mit Gabrielens wiederkehrender Gesundheit nahm aber auch der schweigende kalte Ernst zu, mit welchem sie jetzt alles um sich her zu betrachten schien. Eine nachdenkliche, untheilnehmende Stille in ihrem ganzen Benehmen beängstigte Frau von Willnangen weit mehr, als wenn sie sie traurig gesehen hätte. Ihr verging dabei [225] völlig der Muth, endlich eine Erklärung des Vergangnen herbeizuführen, deren Nothwendigkeit sie anerkannte, obgleich sie vor den möglichen Folgen derselben zitterte. Sie wußte ja nicht, welche Art von Schmerzen sich mit dieser in dem armen getäuschten Herzen ihres Lieblings wieder aufs neue, vielleicht zerstörend regen würden. Vom ersten Moment der Krankheit an hatte sie ihren Pflegling vor allen fremden Besuchen gehütet, nicht allein aus Rücksicht auf ärztliche Vorschrift, sondern auch weil sie es gern vermeiden wollte, Ottokars gefürchteten Namen vor unberufnen Zeugen zum erstenmal in Gabrielens Gegenwart nennen zu hören. Im Anfange ward ihr dieses nicht schwer gemacht. Die übereilte, einer Flucht ähnliche Abreise der Gräfin Rosenberg hatte das Gerücht von der in ihrem Hause obwaltenden Gefahr der Ansteckung bis zum Ungeheuern vergrößert. Sogar ihre genausten Bekannten hüteten sich, ihm vorüber zu gehen, und wählten lieber Umwege, um nur nicht die verrufne Straße zu betreten. Doch mit der Zeit verschwand auch diese Furcht, und da Gabriele späterhin im Hause [226] der Frau von Willnangen sich befand, so drängte sich bald die gewöhnliche Schaar von Besuchenden herbei, welche jedes Krankenzimmer für einen erwünschten Vereinigungspunkt anzusehen pflegt. Keiner von diesen gelangte indessen bis zu Gabrielen; Auguste machte in einem Nebenzimmer die Honneurs, und entschuldigte ihre Freundin mit dem, ausdrücklich gegen Annahme aller Besuche gerichteten Verbote des Arztes. Man ließ diese Entschuldigung um so lieber gelten, ohne etwas dagegen einzuwenden, da sich eigentlich niemand für das Leben oder Sterben des jungen Mädchens wirklich interessirte, das bis jetzt eine so wenig bedeutende Rolle in der Gesellschaft gespielt hatte.


Nach vielen, in ihrem Krankenzimmer still verlebten Wochen wagte es Gabriele endlich, zum erstenmal ihre Freundinnen an einem warmen Frühlingsmorgen im eignen Wohnzimmer zu überraschen. [227] Freudig erschrocken fuhren beide vom Sopha auf, als sie die schöne Gestalt am Arme Annettens hereinschweben sahen. Frau von Willnangen hätte sie kaum erkannt, so verändert stand Gabriele jetzt, zum erstenmal außer dem Halbdunkel des Krankenzimmers, im hellsten Strahl der Morgensonne vor ihr da. Das schöne Gesicht mit den blaßrothen Wangen sah wunderlieblich aus dem feinen Spitzenhäubchen hervor, unter welchem die lichthellen Locken sich einzeln um die blüthenweiße Stirn hervordrängten. Die dunkeln Augen strahlten in erneutem Jugendglanz, und das in den wenigen Wochen merklich zu kurz gewordne blendend weiße Morgenkleid zeigte die allerzierlichsten Füßchen. »Mein Kind, mein liebliches, schönes Kind!« rief Frau von Willnangen, hingerissen von der himmlischen Erscheinung, und drückte unter freudigen Thränen sie an ihre Brust, während Auguste sie zum Sopha hinzog, und beide hernach in der Freude ihres Herzens tausend einander widersprechende Anstalten trafen, um es dem lieben Gast nur recht wohl und bequem zu machen. Endlich saßen sie in traulicher [228] Gemüthlichkeit neben einander, als plötzlich die Thüre aufging, und Gräfin Eugenia mit dem ältesten Fräulein Silberhain unangemeldet hereintraten.

»Nun da sieht man die liebe Kranke doch wieder! Und wie groß geworden! wie schön! man möchte bald verleitet werden, sich ein Fieber von solchen Folgen zu wünschen. Sie sehen ja in der That aus, als könnten sie uns die neueste Kunde aus dem Lande der Seeligen bringen,« rief Gräfin Eugenia, indem sie die zu ihrem Empfange aufgestandne Gabriele umarmte.

»Auch war meine Gabriele der Himmelsthüre nahe genug. Ein Glück für uns, daß sie bei Zeiten wieder umkehrte, um noch bei uns zu weilen,« erwiederte lächelnd Auguste.

»Achten Sie es wirklich für ein Glück wenn der Engel zum Fluge in die ewige Heimath schon die Flügel entfaltet hat, und dann, aufs neue gefesselt von irdischen Banden, sie wieder zusammen legen muß?« fragte Fräulein Silberhain; »ach! wir wissen vielleicht nicht, welch ein Unrecht wir thun,« fuhr sie fort, »wenn wir uns der [229] anscheinenden Genesung unsrer Freunde freuen! Was ist denn längeres Leben anders als längeres Harren.«

»Liebe Silberhain,« fiel Eugenia ein, »Gabriele und wahrscheinlich die mehresten Leute harren doch recht gern, so lange als möglich, denn in den himmlischen Freudensaal kommen wir alle zeitig genug. Aber einer Reise nach Italien entsagen zu müssen, wenn schon beinahe der Wagen vor der Thüre steht, das ist ein Unglück, von dem ich gar nicht begreife, wie man es überlebt, ohne wenigstens vor Verdruß darüber den Verstand zu verlieren. Armes, armes Kind! warum mußten Sie auch so ganz zur unrechten Zeit von dem bösen Fieber befallen werden! Sie dauern mich ungeheuer, ach! und hätten Sie nur, wie ich, die Glücklichen abfahren gesehen! Ehegestern ging es fort, gleich am frühen Morgen nach dem Hochzeittage. Das junge Ehepaar fuhr allein, in einem ganz neuen, delizieusen, englischen Wagen; den Platz in der Batarde der Gräfin, der Ihnen bestimmt war, nahm Aureliens Bella ein. Das ist pikant, nicht wahr? gewiß niemand darf es [230] Ihnen verdenken, wenn sie ein wenig mit dem Schicksal grollen, es spielt Ihnen warlich dießmal übel mit.«

»Soll ich dich nicht auf dein Zimmer führen?« fragte ängstlich Auguste; aber Gabriele bestand darauf, da zu bleiben, versicherte, sich sehr wohl zu befinden, und bat die Gräfin Eugenia um nähere Nachricht von der Tante und Aurelien.

»Von beiden bringe ich Ihnen tausend Abschiedsgrüße,« sprach Eugenia, »ich kam erst gestern Abend von Rosenhain wieder zu Hause, denn einem alten gegenseitigen Versprechen zu Folge, mußte ich Aurelien als Brautführerin zum Altar geleiten. Es war recht gut, daß ich gleich mitreisen konnte, da Sie zu Hause bleiben mußten, liebe Gabriele! Die Gräfin und Aurelia hätten sich sonst in Rosenhain vielleicht zu oft allein gefühlt, denn Ottokar machte sich sehr selten. Geschäfte und Reiseanstalten hielten ihn fern von uns, sagte man. Ueberhaupt hat er, meiner Meinung nach, als Bräutigam an Amabilität nicht gewonnen; vielleicht kommt das im Ehestande nach. So lange ich jetzt in Rosenhain [231] mit ihm zusammen lebte, war er wenigstens – maussader als je – möchte ich sagen, wenn ich mich nicht hier vor den strafenden Blicken der Mamma Willnangen fürchtete, die von jeher diesem ihrem lieben Schooßkinde in allen seinen Arten und Unarten gefälligst nachzusehen gewohnt ist.«

»Schelten Sie den Grafen nicht, weil er nicht leichtsinnig den wichtigsten Schritt seines Lebens vollbrachte,« sprach Fräulein Silberhain. »Ach! wer müßte nicht in einem solchen Zeitpunkte sich und sein Gemüth in der tiefsten Stille zu heiligen suchen! Lehrt uns nicht die schöne Geschichte vom jungen Tobias« – – –

»Ob Ottokar so fromm ist, wie der junge Tobias, oder wie Sie, liebe Silberhain, ihn sich denken, weiß ich nicht;« unterbrach Eugenia das Fräulein! »aber langweilig genug war er wenigstens. Ich schiebe alles dieß einzig auf die Luft, die um jene Zeit im Rosenbergschen Hause höchst perniziö's gewesen seyn muß. Unsre liebe kleine Gabriele erkrankte ja auch am Verlobungs-Abend, und Ottokar muß ebenfalls zur nehmlichen Stunde [232] von einem besondern Schwindel ergriffen worden seyn; denn er plantirte beim Soupé nicht nur die Gesellschaft, – das hätte noch hingehen mögen, aber auch die zärtliche Braut, die neben einem leeren Stuhl sitzen mußte. Sein Lorenz erschien zwar, wie wir uns schon an der Tafel rangirten, mit einer sehr lahmen Entschuldigung seines Herrn, der plötzlich höchstwichtige Briefe erhalten haben sollte, aber der naseweise Mensch schnitt zu dieser Entschuldigung ein so pfiffig hämisches Gesicht, daß alle merken mußten, woran sie waren; selbst die, welche nicht wie ich daran dachten, daß Mittwochs keine einzige Post hier eintrifft.«

Frau von Willnangen verging fast vor Angst um Gabrielen bei diesem Gespräch, vergebens bemühte sie sich, ihm eine andere Wendung zu geben, oder doch wenigstens Gabrielen zum Fortgehen zu bewegen. Diese wollte keinen ihrer sie dazu einladenden Winke verstehen, und sowohl Fräulein Silberhains Lust am Fragen, als Eugeniens Lust am Antworten ließen die Unterhaltung nicht fallen, welcher Gabriele mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zuhörte.

[233] »Nie in meinem Leben habe ich eine einer wandelnden Leiche so ähnliche Gestalt gesehen, als Ottokar beim Antritt der Reise nach Rosenhain,« sprach Eugenia weiter. »Gewiß! er war sehr krank, denn solche Todtenblässe, solche trübe, zugeschwollne Augen, solche Veränderung in allen Zügen finden sich über Nacht bei keinem Gesunden ein. Auch in Rosenhain wankte er so schattenähnlich umher, daß ich jeden Morgen zu hören fürchtete, er sey in der Nacht zum Tode erkrankt. Die Gräfin war deshalb in nicht geringerer Besorgniß als ich, allein er hielt sich aufrecht. Uebrigens, wie gesagt, war er am Tage kaum sichtbar, wichtige Arbeiten fesselten ihn in seinem Kabinete, wie es hieß, obgleich ich nicht begreife, was sein Hof jetzt gerade mit Italien, wohin er gesendet wird, so wichtiges zu verhandeln haben kann. Auch die Gräfin wunderte sich gewiß im Stillen darüber, aber sie kennen ihre Art, sich zu verbergen, und immer dasselbe Gesicht zu behalten. Mir schien es, die Wahrheit zu sagen, als ob die Depeschen, welche ihn so beschäftigten, von hier oder doch sehr aus der[234] Nähe kämen, denn an Botentagen kam er gar nicht vom Fenster weg, bis er die grün lederne Brieftasche erblickte, und eilte immer, der Erste zu seyn, der sie aufschloß, um sein Päckchen herauszunehmen. Ich erkannte sogar einmal, kurz vor der Hochzeit, Ernestos Hand auf der Adresse eines seiner Briefe.« »Und Aurelia?« fragte Gabriele.

»Von der läßt sich wenig sagen,« erwiederte Eugenia, »Sie kennen ja das fröhliche Geschöpf. Sie sah nichts, sie merkte nichts, sogar nicht, daß der Hochzeittag von Woche zu Woche, endlich einen ganzen Monat hinaus verschoben ward. Ueber die Freude, einige Offiziere, die in der Nachbarschaft einquartirt waren, zu erobern und auszulachen, und über die noch größere, ein paar Landjunker zu mistifiziren, vergaß sie Italien und die Hochzeit mit sammt dem Bräutigam.«

»Sie behandeln das junge Paar zu strenge,« sprach endlich Frau von Willnangen, »ich hoffe, sie lieben einander, und wenn gleich keine heftige Leidenschaft« – –

[235] »Wer leugnet denn, daß sie einander lieben?« unterbrach sie Eugenia ziemlich eifrig, »keines von beiden ließ es an Beweisen davon fehlen. Aurelia neckte ihren Ottokar, so wie sie seiner ansichtig ward, und, Sie wissen es ja, nach dem alten Sprichwort liebt sich, was sich neckt. Ottokar gab hingegen seine Zärtlichkeit für seine Braut auf modernere Art zu erkennen. Es war, als ob er alle Modisten, Blumisten und Juweliere, auf zwanzig Meilen in die Runde, mit einem Zauberstabe regiere, so unerschöpflich war der Reichthum mannigfaltiger Geschenke, mit welchem er sie überschüttete. Jeder Morgen brachte ihr irgend eine elegante, oft sehr kostbare Kleinigkeit von ihm, Abends überraschte er sie durch Nachtmusiken, Feuerwerke, kleine ländliche Feten. Welche andere Beweise seiner Liebe konnte Aurelia sich wünschen? zum Glück besitzt Graf Ottokar ein unerschöpfliches Genie für die Anordnung dergleichen Dinge an seinem Lorenz, aber gut war es doch, daß endlich der Hochzeittag dem allen ein Ende machte, denn die Erfindungen des Kammerdieners wollten doch nicht mehr recht zureichen, [236] um die geistigen und körperlichen Abwesenheiten seines Herrn zu bedecken.«

So plauderte Eugenia ungestört fort. Frau von Willnangen, sowohl als Auguste, hatten es aufgeben müssen, sie unterbrechen zu wollen. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als den Eindruck zu beobachten, welchen ihre Erzählung auf Gabrielen machte, besonders da die Erzählerin vom Fräulein Silberhain durch noch dringendere Fragen angeregt, sich anschickte, die eigentliche Hochzeitfeier auf das Umständlichste zu beschreiben.

»Die Trauung geschah in der Dorfkirche, und zwar sehr früh am Morgen. Beinah mit Sonnenaufgang, denn so hatte es Ottokar gewollt,« sprach Eugenia. »Und da er zum erstenmal etwas wollte,« fügte sie hinzu, »so staunte man zwar ein wenig über dieses Ansinnen, ließ es aber dennoch gelten, obgleich Aurelia hoch und theuer versicherte, daß sie und wir alle die abscheulichste Migräne vom frühen Aufstehen davon tragen würden.«

Nun ließ sich Eugenia auf eine sehr genaue [237] Beschreibung des prächtigen Negligees von Brüßler Spitzen ein, welches die Braut an dem festlichen Morgen getragen hatte, auch der kleinsten Garnierung desselben geschah ehrenvolle Erwähnung, ehe das Betragen des Brautpaars während der Trauung zur Sprache kommen konnte. Eugenia lobte Aureliens sich durchaus gleichbleibende Fassung und ihren vornehmen, man möchte sagen königlichen Anstand während der Zeremonie, indessen Ottokar bei der endlosen, langweiligen Vorbereitungs-Rede des Pfarres todtenbleich hin- und herschwankte, bis der Moment kam, das feierliche Ja auszusprechen. Da war es denn doch,« erzählte Eugenia weiter, »als ob es ihm einfiel, daß sein Benehmen nicht ganz das eines Menschen sey, der sich am Ziele lang ersehnter Wünsche sieht, und daß es deshalb allen Gegenwärtigen als höchst befremdend auffallen müsse. Er nahm sich ordentlich mit einem Ruck zusammen,« sprach sie, »stand plötzlich aufrecht da, und sein Gesicht belebte sich zu einem Ausdruck, den wir, so lange er in Rosenhain war, an ihm vermißt hatten. Ich muß gestehen, es gab einen[238] Augenblick, während welchem er wieder recht schön war, als er mit glänzenden, himmelwärts gewendeten Augen zum Gewölbe der Kirche aufblickte, und dann, nach einer fast unmerklich kleinen Pause, das verhängnißvolle Ja laut und vernehmlich von sich hören ließ. Aber dieß Wörtchen mußte auch wie ein Zauberspruch auf ihn gewirkt haben, denn auf dem Wege aus der Kirche war der steinerne Mann mit einemmal wieder lebendig geworden. So wie wir zu Hause angelangt waren, drückte er zum erstenmal seine Braut an seine Brust, wenigstens sahen wir es zum erstenmal. »Aurelia!« fing er höchst feierlich, ich glaube gar mit Thränen in den Augen an, und hätte wahrscheinlich ein Supplement zu des Pfarrers Rede geliefert, aber Aurelia machte sich bei Zeiten los, versicherte, todtmüde zu seyn, und eilte in ihr Zimmer. Gleich darauf schickte sie uns ihre Jungfer mit dem Bedeuten, daß sie nicht eher als bei der Tafel sichtbar werden könne, weil sie durchaus vom frühen Aufstehen ruhen müsse, um nicht den ganzen Tag unwohl zu seyn. Ich gestehe es, wir sowohl als der eben aufgethaute Bräutigam[239] blieben bei dieser Erklärung mit recht langen Gesichtern stehen.

»Und wie äußerte sich denn der Bräutigam bei dieser Laune seiner Braut?« fragte jetzt Frau von Willnangen.

»Er sagte das klügste, was sich unter solchen Umständen sagen ließ, nehmlich gar nichts, kein einziges Wörtchen;« antwortete Eugenia. »Die Gräfin, die sich immer zu helfen weiß, ergriff gleich seinen Arm, um mit ihm die Anstalten zur Bewirthung einiger hundert Bauern aus der Umgegend zu besehen, denn der festliche Tag sollte bloß durch ein Volksfest gefeiert werden, da man am folgenden Morgen sehr früh abzureisen beschlossen hatte. Ottokar ging ganz in die Ideen seiner neuen Schwiegermutter ein, und nahm sich des Empfanges und der Unterhaltung seiner ländlichen Gäste mit großem Eifer an, bis später, kurz vor der Tafel, die holde Braut ungerufen erschien, und mit ihm im vollen Schmuck, unter dem Vivatrufen der Bauern, durch ihre Reihen zog.


[240] »Sehen Sie mich nicht so unruhig, nicht so bekümmert an, liebe, theure Frau,« sprach Gabriele zur Frau von Willnangen, sobald Eugenia endlich mit ihrer Erzählung zugleich ihren Besuch beendet und das Zimmer verlassen hatte. »Auch du, meine Auguste, sey getrost! Was ängstigt euch denn, ihr lieben Beide?« setzte sie hinzu, indem sie ihre vereinten Hände an ihre Brust drückte, und mit den klaren, treuen Augen zu ihnen aufblickte. Beide umarmten sie schweigend, und Gabriele fuhr fort zu reden.

»Wonach ich lange im Stillen mich sehnte, ist mir in dieser Stunde geworden,« sprach sie gleichsam zu sich selbst. »Ich habe Nachricht von ihm, von seinem Leben, seit wir uns trennten, vom Vollbringen dessen, was geschehen mußte, alles ist vorbei – alles, alles ist vorbei,« wiederholte sie und sank in die Kissen des Sophas zurück. Doch ermannte sie sich sogleich wieder und richtete sich auf, mit der in solchen Momenten ihr eigenthümlichen Kraft. Frau von Willnangen vermochte es nicht, ihr etwas zweckmäßiges, oder auch nur zusammenhängendes zu erwiedern, [241] nicht allein, weil sie in zu heftiger Bewegung sich befand, auch ihre Ansichten von Gabrielens Geschick schwebten noch immer in zu verworrener Gestaltung ihr vor. In der Verlegenheit, doch etwas sagen zu müssen, stammelte sie einige Worte von unbegreiflichen Täuschungen, von unerklärlichem Benehmen, doch schnell unterbrach sie Gabriele: »Glauben Sie mir,« sprach diese, »keine Täuschung, nichts Unerklärliches liegt zwischen mir und Ottokar; um uns ist alles hell und klar wie das Sonnenlicht. Zwar werden wir auf Erden uns schwerlich wieder sehen, aber dennoch halten wir fest im Glauben an einander. Wir haben uns einmal gefunden, wir haben uns einmal verstanden, und das genügt uns, um nie, in keinem Moment des Lebens an einander irre werden zu können.«

Die Lebhaftigkeit, mit welcher Gabriele diese Worte sprach, versetzte Frau von Willnangen in die höchste Besorgniß um sie. Sie hatte den Moment, von dem sie so vieles aufgeklärt zu sehen hoffte, das bis jetzt ihr dunkel geblieben war, schon lange im Verborgnen herbeigesehnt. Jetzt [242] war er unerwartet ihr erschienen, und sie wünschte beinah noch weit sehnlicher, ihn verschieben zu können, wär es auch auf immer. Das stürmische Pulsiren des jungen Herzens, das, wie Ruhe suchend, sich im Laufe des Gesprächs an ihre Brust gelehnt hatte, erfüllte sie mit Angst um die kaum Genesene. Sie sah mit Entsetzen, wie alles Blut aus diesem armen Herzen in einem Moment auf Gabrielens Wange glühte, im nächsten in dessen Tiefen zurückströmte, und nur die bleiche Farbe des Grams auf dem holden Gesichte zurück blieb. Aber alle Versuche, die ihr jetzt so furchtbar scheinende Unterredung abzubrechen, waren vergeblich.

»Lassen Sie mich jetzt die Brust mir frei sprechen,« erwiederte Gabriele ihren Einwendungen; »fürchten Sie nicht, daß mir die Kräfte dazu fehlen, ich fühle mich und weiß, daß ich in dieser Stunde es vermag. Es ist mir ein Trost, denn schon lange sehne ich mich, Ihre unsägliche Liebe durch eben so ungemeßnes kindliches Vertrauen zu erwiedern. Hernach will ich ruhen, und Sie werden gewiß mit dem kranken Kinde nachsichtig [243] umgehen. Ja! ich liebe Ottokar, und er weiß es, denn in der höchsten Stunde meines Lebens, die mir ewig allein dastehen wird, in Freude und Schmerz, habe ich es ihm gesagt. Wovor erschreckt ihr denn wieder? Gott kennt ja meine Liebe, ich schämte mich ihrer nicht vor ihm, warum sollte ich sie denn dem einzigen Wesen verbergen, das gewiß nach seinem Willen zu mir gehört, wenn wir gleich, durch irdische Verhängnisse eingezwängt, jedes seinen eignen Weg fern von einander gehen müssen. Auch Ottokar liebt mich! wir fanden uns in seligen Schmerzen, in trüber Wonne, nur einen Moment, um uns gleich wieder zu trennen; und nun ist es gut. – Es ist alles sehr gut!« wiederholte sie nach einer kleinen Pause, und drückte, sanft weinend, Mutter und Tochter fester an sich. Beide weinten verstummend mit ihr.

»Wir sollten eigentlich nicht weinen,« sprach Gabriele bald darauf, »ich bin ja nicht unglücklich, ich bin ja nicht beklagenswerth, warum weinen wir denn? ich habe gelebt und geliebt! Beut mir die Zukunft keine Freude mehr, so brauche [244] ich auch dafür sie nicht mehr zu scheuen. Wohin Sie, liebe Mutter! durch Jahre voll Schmerz hingelangten, dahin bin ich in früher Jugend, in einer kurzen Stunde gekommen; ich bin in ihr alt geworden, und kann nun ohne Furcht überall hintreten, meine Ruhe ist gesichert. Ein zweiter Schmerz wie dieser droht mir nicht wieder, denn das Herz liebt nur einmal, wie es nur einmal bricht. Es war ein artiges Spiel des Zufalls, daß unter den Blumen, die ich von Ottokar erhielt, auch die Eine sich befindet, welche nur einmal um Mitternacht eine Stunde lang blüht und dann auf immer sich schließt. Ich erhielt in dieser Blume ein Vorbild meines Geschicks, und von ihm.«

»Gabriele, wüßtest du, wie diese deine kalte Verzweiflung mich quält!« rief Frau von Willnangen; was soll, was kann ich thun, um dich davon zu retten? ach ich selbst, ich Unbesonnene, war es ja, welche in deinem jungen Gemüthe Wünsche und Hoffnungen immer mehr entflammte, die ich hätte unterdrücken sollen, die nun dein Verderben sind! Jetzt weiß ich dieß, aber damals [245] blendete ich mich selbst. Ich wollte an die Erfüllung jener Wünsche und Hoffnungen glauben, weil auch ich sie im Herzen hegte, und du gehst nun an ihnen zu Grunde.«

»Wie Sie mich mißverstehen, theure Frau!« erwiederte mit wehmüthigem Lächeln Gabriele. »Ich bin ja fern von Verzweiflung, glauben Sie mir, ich bin sogar nicht unglücklich, denn wehmüthige Erinnerungen, tiefgefühlte Sehnsucht sind ja nicht Unglück. Verstehen Sie doch alles wörtlich, wie ich es Ihnen sage, ich flehe darum, denn wie ich es meine, spreche ich es aus, immer in einfacher Wahrheit. Nie hegte ich die Wünsche, die Hoffnungen, auf welche Sie mit Winken hindeuteten, die ich jetzt erst verstehe. Nie sogar habe ich mit Bewußtseyn mir ihre Möglichkeit gedacht, nie sie empfunden. Ich liebte Ottokar, wie ich athme, wie ich die Sonne, das Leben liebte. Ich vergaß bei ihm der Vergangenheit und gedachte keiner Zukunft; ich war glücklich und unglücklich in der Gegenwart, ohne mich weiter um etwas zu kümmern. Ja ich will Ihnen nichts verhehlen; nur wie ich Aurelien als [246] seine Braut sah, da erst fiel es mir ein, daß auch auf mich seine Wahl hätte fallen können, da erst, liebe Mutter! und legen Sie es mir nicht als Unwahrheit aus, wenn ich sage, ich hätte eingewilligt, wenn er mich gewählt hätte, wie ich in alles willigen müßte, was er so recht aus der Tiefe seines Gemüths wollen könnte, aber es wäre ein Opfer gewesen, das ich seinem Wollen brachte. Neidlos sehe ich Aureliens Geschick; ich habe es nie für mich gewünscht, glauben Sie es mir; segnen will ich sie, sie lieben wie ihn, wenn sie ihn so glücklich macht, wie er es durch eine solche heilige Verbindung werden könnte.«

Mit diesen Worten und der Bitte, den Tag ganz allein bleiben zu dürfen, zog Gabriele sich in ihr Zimmer zurück. Dort in der Einsamkeit ließ allmählig die Spannung nach, in welche Eugeniens Erzählung und das darauf folgende Gespräch mit ihren Freundinnen sie versetzt hatten. Sie versank in tiefes Nachdenken; jedes Wort, jede noch so leise Andeutung Eugeniens gingen nochmals ihrem Geiste vorüber; alle waren [247] ihr ein unerschöpflicher Quell von Freude und Schmerz, von dem sie zu fühlen glaubte, daß er ihr ganzes Leben hindurch nicht versiegen könne.

Aus dem von Eugenien nur ganz obenhin erwähnten Umstande, daß sie Ernestos Hand auf einem Briefe an ihn bemerkt habe, ahnete Gabriele, was wirklich geschehen war. Ottokar war auf irgend eine Weise von ihrem Erkranken benachrichtiget worden, er hatte alle Qualen der bängsten, zur Hülfe ohnmächtigen Sorge um sie gelitten, er hatte in martervoller Todesangst um sie gebebt, während sie an den Pforten des Todes in süßer Bewußtlosigkeit lag und wahrscheinlich so hinüber geschlummert wäre, ohne Schmerzen zu fühlen. Durch Ernesto hatte er gewußt bestimmte Nachricht von ihr zu erhalten, ohne ihn dennoch zum Vertrauten der Art des Antheils zu machen, den Gabriele in ihm erregte. Als ob Ottokar selbst es ihr gestanden habe, so bestimmt wußte Gabriele jetzt, daß nur Besorgniß um ihr Leben seinen auffallenden Trübsinn veranlaßte, über den Eugenia sich so spottend geäußert [248] hatte; daß nur diese Sorge ihn bewog, den Tag seiner Vermählung immer weiter hinaus zu schieben, und daß nur die Ueberzeugung, sie sey genesen, ihn ermuthigen konnte, das unvermeidliche Opfer endlich zu bringen, welches für das ganze Leben ihn von ihr trennte und ihn sogar aus der Luft verbannte, in welcher sie athmete.

Aureliens und ihrer sich immer gleichbleibenden Art sich gegen Ottokar zu benehmen, gedachte Gabriele nur mit tiefem Schmerz; denn alles überzeugte sie, daß diese kalte, lieblose, spottende Natur sich nie an seiner Seite erwärmen, nie ihn liebend beglücken könne. Daher vermied sie den Gedanken an sie, oder versuchte wenigstens, sich selbst durch die Hoffnung zu täuschen, daß es am Ende ihm doch wohl gelingen könne, die bösen Geister, die sein Glück verhinderten, durch die seiner höhern Natur eigne Güte zu bannen und die Gefährtin seines Lebens für sich zu gewinnen. Wenn alles fehl schlägt, so bleibt ihm der Trost, an den auch ich mich halte, die Ueberzeugung, das Rechte gewollt und vollbracht [249] zu haben, und mein Andenken, setzte sie ganz leise sich zur Beruhigung hinzu.


Noch während dem Laufe des Winters hatte Frau von Willnangen den Entschluß gefaßt, den größten Theil des Sommers in den böhmischen Bädern zuzubringen. Durch Gabrielens Krankheit war die Ausführung dieses Plans einstweilen in Vergessenheit gerathen; nun sie aber wieder genas, kam er aufs neue zur Sprache. Der Arzt drang sogar darauf, ihn baldmöglichst, und zwar in Gabrielens Begleitung, auszuführen; er hoffte viel Erfreuliches für ihre völlige Herstellung, nicht sowohl von den Heilquellen, als von den Zerstreuungen, welche stets im Gefolge einer solchen Reise sind.

Es war durchaus nothwendig, die Erlaubniß des Baron Aarheim zu dieser Reise seiner Tochter einzuholen, und Frau von Willnangen übernahm es sehr gern, ihn schriftlich darum zu ersuchen. [250] Seine Einwilligung erfolgte sogleich und in den verbindlichsten Ausdrücken; nur war die einzige Bedingung beigefügt, daß Gabriele jede Stunde bereit seyn müsse, zu ihrem Vater zu eilen, sobald er ihre Gegenwart verlange.

Nicht ohne Schrecken hatte der Baron die Nachricht vernommen, daß Gabriele mit der Tante nicht hatte nach Italien reisen können, denn er fürchtete nun jeden Augenblick, sie in seinem alten Bergschlosse eintreffen zu sehen. Diese schickliche Gelegenheit, sie noch einige Zeit von sich entfernt zu halten, überhob ihn einstweilen jener Sorge, und ward deshalb freudig von ihm ergriffen. Dennoch war er jetzt sehr zufrieden, daß nicht die Alpen zwischen ihm und seiner Tochter als Scheidewand dastünden, weil er seit einigen Tagen dem Ziel seines Strebens ganz nahe zu seyn dachte, so daß er oft die völlige Entschleierung des großen Geheimnisses von der nächsten Sekunde erwartete.

Seit er so ganz allein, fern von jeder äußern Störung, in Schloß Aarheims düstern Mauern hauste, hatte er sich mit rastloser Leidenschaft, [251] ja bis zur Erschöpfung aller seiner Kräfte, jenen geheimnißvollen Arbeiten hingegeben. Kein freundliches, lebendes Wesen durfte ihm nahen, der Wechsel der Jahreszeiten ging unbemerkt an ihm vorüber, er wußte nicht, ob die Bäume grünten oder ob Schnee sie bedeckte; er sah sogar nicht das Licht der Sonne, denn die schweigenden Nächte sagten seinem dunklen Treiben am besten zu. Deshalb schlief er, wenn alles wachte, und während jedes glückliche Geschöpf nach des Tages Last und Lust Ruhe sucht, begann sein ängstliches Wirken im dunkeln Kreise der finstern Mächte, die kein Sterblicher ungestraft ruft, wenn gleich vielleicht keiner je von ihnen Antwort erhielt.

So verkehrte er die Ordnung der Zeiten. Dennoch verhehlte er sich nicht die bei dieser unnatürlichen Lebensweise für seine Gesundheit obwaltende Gefahr. Er wußte bestimmt, daß er auf keine lange Reihe von Jahren mehr rechnen dürfe, in denen er die Früchte seiner Arbeit zu genießen hoffen könne, aber er achtete dieses nicht, denn er strebte nach keinem dauernden Genuß. In nie gesehnem Glanz aus dem Dunkel seiner [252] Ahnenburg hervortreten, sein uraltes Geschlecht aufs neue in seiner Tochter erstehen sehen, aufs neue für kommende Jahrhunderte der Stifter desselben werden, seine alten Feinde, knirschend vor Neid, in ohnmächtiger Wuth erbleichen sehen, und dann sich hinlegen und sterben; das war es, was er vom Geschick zu erzwingen dachte; und nur der Gedanke, daß irgend einer von denen, welche er haßte, vor dem Gelingen seines großen Werkes dieses Leben verlassen könne, machte ihn beben.

Nicht weniger, als dieses rastlose Treiben, ängstigte ihn ein ewiges Ueberlegen, wie er sein Geheimniß auf das schnellste und vortheilhafteste benutzen könne, sobald es ihm gelungen wäre, es ganz zu entschleiern. Sollte er seine Tochter zur Erbin seines durch mühseliges, unablässiges Forschen und tausendfache Opfer erworbnen Wissens einsetzen? sollte er sich daran genügen lassen, ihr noch bei seinem Leben unermeßliche Schätze zuzuwenden und sein Geheimniß mit sich in die Gruft seiner Ahnen hinabzunehmen? Diese Zweifel erregten einen nie zu stillenden Zwiespalt in [253] seinem Innern, der, zerstörender, als Wachen und Arbeit, ihn langsam verzehrte. Es war ihm unmöglich, einem weiblichen Wesen den Muth, die Klugheit, ja selbst die Verschwiegenheit zuzutrauen, welche unumgänglich dazu gehören, ein solches Geheimniß nicht nur zu verwalten, sondern auch zu verbergen. Die Gefahren, welche jedem drohen, den die Gewaltgen dieser Erde im Besitz solcher Kenntnisse wähnen, waren ihm nur zu bekannt, und das Geschick Böttchers, des unglücklichen Erfinders des sächsischen Porzellans, trat oft warnend vor seinen Geist. Alle diese Ueberlegungen machten ihn geneigt, sein Geheimniß mit sich sterben zu lassen; dann aber ergriff ihn der Gedanke, wie groß es sey, die Erbin seines Namens, mit dieser mächtigsten aller irdischen Gewalten ausgerüstet, zurück zu lassen. Ihn schwindelte, ein neuer Kampf entstand in seinem Gemüth, und so konnte der unglückliche Greis nimmer zur Ruhe gelangen. Rastlos schwankte er ewig in banger Sorge von einem Entschlusse zum andern und verwachte die langen, endlosen Stunden des Tages auf seinem Lager, [254] bis die Abendsonne die Zinnen seiner Burg röthete und ihn mahnte, aufzustehen, um sein nächtliches Tagewerk zu beginnen.


Frau von Willnangen zögerte keinen Augenblick, die Erlaubniß des Barons zu benutzen und die Reise in das Bad anzutreten, denn der Sommer war indessen schon ziemlich weit vorgerückt, und da der Herbst dem rauheren Klima der Gebirge selten günstig ist, so hatte sie keine Zeit zu verlieren.

Ernesto suchte und erhielt sehr leicht die Erlaubniß, sich der kleinen Karavane seiner Freundinnen anschließen zu dürfen, welche ihrerseits froh waren, ihn zum Beschützer auf der Reise zu haben. Nicht Furcht vor der, während der schönen Jahreszeit mit jedem Tag überhandnehmenden Oede der Stadt hatte ihn zu diesem Entschlusse bewogen, wie Auguste im fröhlichen Muthe ihm oft Schuld gab, sondern wahrhaft väterliche, [255] treue Liebe für die verwaisete Tochter der Frau, deren Andenken ihm noch immer wie ein hell leuchtender Stern am fernen Horizont seiner längst hinter ihm zurück gebliebnen Jugend strahlte. Gabrielens Geschick und der Zustand ihres Gemüths waren dem treuen, beobachtenden Freunde nicht verborgen geblieben, obgleich ihm niemand darüber etwas anvertraut hatte.

Zwischen ihm, Frau von Willnangen und auch Gabrielen war sogar eine Art von stillschweigender Uebereinkunft darüber entstanden; man behandelte ihn, als wisse er alles, ohne doch je ausdrücklich irgend eines näheren Umstandes zu erwähnen. Er, der lebenskundige Mann, sah Gabrielens Zustand in weit hellerem Licht, als Frau von Willnangen. Er glaubte Gabrielens Ruhe nicht für immer zerstört, er hielt sie sogar in diesem Augenblick nicht für unglücklich. Er wußte, wie der Zauber der Jugend alles, selbst den Schmerz, zu verschönern vermag und ihn zuletzt in das süßeste aller Spiele umwandelt, das aber zugleich auch das gefährlichste ist, weil es dem Gemüthe die Kraft entzieht für den Ernst [256] des Lebens in später kommenden Jahren. Die Thränen jener nie wiederkehrenden Frühlingszeit gleichen den Thau-Tropfen auf der Rosenknospe, sie verhauchen in süßen Düften, so lange der Morgen frisch athmet, aber wenn die glühenden Strahlen der Mittagssonne sie noch finden, so brennen sie sie ätzend zu unzerstörbaren Flecken ein; die entstellten, früh welkenden Blätter bleiben geschlossen und vermögen es nie, sich in der ihnen von der Natur bestimmten Herrlichkeit zu entfalten.

Uebrigens wußte Ernesto auch, daß der Frauen Herz ewig jung bleibt, wenn gleich ihre Locken unter der Hand der Zeit erbleichen; daß sie immer geneigt bleiben, mit ihren jüngern Freundinnen sich aufs neue den Wonnen und Schmerzen hinzugeben, welche einst auch ihren Frühling erhellten und trübten, und die der Machtspruch des spätern Alters nur entschlummern hieß, aber nicht vernichten konnte. Deshalb fürchtete er Frau von Willnangens zu weiche Theilnahme für Gabrielen, jetzt da diese an dem ihre ganze Zukunft bestimmenden Wendepunkt ihres Lebens stand, [257] und achtete es für Pflicht, in ihrer Nähe zu bleiben, um sie mit starker väterlicher Hand zu fassen, zu stützen, zu leiten, sobald es Noth thäte.


Die kleine Reise ward in wenigen Tagen, und ohne alle Abenteuer zurückgelegt. Gabrielens stille Heiterkeit während derselben hatte zwar oft einen höchst wehmüthigen Ausdruck, der aber nie in wilderen Schmerz, in tiefere Trauer ausartete.

Die Reisegesellschaft kam über Eger nach Karlsbad, und die Gegend in der Nähe dieses ersten Ziels ihrer Reise, besonders aber die mit keinem andern Badeorte zu vergleichende Einfahrt in das Städtchen selbst, entzückte sie alle. »Warlich,« rief Auguste, »es verlohnt sich der Mühe, alle Jahre nach Karlsbad zu reisen, einzig um darin anzukommen. Ich wollte, ich könnte, so lange wir hier bleiben, wenigstens jede Woche einmal die Freude haben, mich so lustig vom[258] Thürmer anblasen zu hören. während ich am Fuß dieser prächtigen Felsen unter den wilden Rosenbüschen hinrolle und ihre Wälder, ihre schimmernde Kreuze, ihre Pyramidenzacken hoch über mir sehe.«

Gabriele lehnte indessen schweigend zum Wagen hinaus, ihr Blick ruhte auf den Felsen, ihre Gedanken flogen der Heimath zu. So, ja eben so umstarrte hohes Gebirge das alte Schloß, in welchem sie das Licht der Sonne zuerst erblickt hatte. Nicht so geschmückt mit jeder Anmuth der Kultur und einer üppigen Vegetation, aber doch diesem ähnlich, nur beinah enger noch und tiefer, war das stille Thal, in welchem sie an der Hand ihrer Mutter zu wandeln pflegte. Seit sie Schloß Aarheim verließ, war sie immer in der Ebne geblieben, nur ganz von Ferne hatte sie mit der allen im Gebirge gebornen eignen Sehnsucht ihre lieben blauen Berge zu sich herüber schimmern gesehen. Beinahe ein Jahr war vorübergezogen, seit sie von ihnen schied. Ihr war, als kehre sie in diesem Augenblick wieder heim zu ihnen aus der fernen Welt, welche sie mit so wenig [259] Erwartungen betreten hatte, in der sie so unendlich viel fand, was nur noch in der Erinnerung ihr gehörte, und von der sie, ohnerachtet ihrer Jugend, jetzt zu wissen glaubte, daß sie ihr nichts weiter mehr zu bieten habe als ein Grab.

Der wirkliche Eintritt in Karlsbad und in ihre freundliche Wohnung riß sie aus ihren trüben Träumen, und Augustens herzliche Freude an allen neuen Umgebungen erweckte auch sie zur Theilnahme. Bald gewahrte sie sich selbst in einer neuen Welt. Die geputzten Brunnengäste, welche an dem wunderschönen lauen Sommerabend unter ihrem Fenster auf- und abgingen, schienen ihr unzählbar, so daß die große lebensreiche Stadt welche sie eben verlassen hatte, ihr wie todt dünkte gegen diesen kleinen, einem Ameisenhaufen ähnlichen Fleck Erde, und sie sich an dem ungewohnten Schauspiel fast eben so sehr ergötzte als Auguste.


[260] Der Julimonat, und mit ihm die Zeit, während welcher Karlsbad am glänzendsten erscheint, war über die Hälfte vorübergezogen, als Frau von Willnangen mit ihren Begleitern dort anlangte. Einige fürstliche Personen, die bisher einen kleinen Hof gebildet hatten, welcher den vornehmern Brunnengästen einen, alle übrige ausschließenden Vereinigungspunkt gewährte, hatten sich schon zur Nachkur in andere Bäder begeben. Täglich sah man lange Reihen mit Koffern hochgepackter großer Berlinen über die Wiese ziehen, in welchen vornehme Familien ihnen nacheilten. Dennoch blieb die Gesellschaft noch immer zahlreich genug, um keine Lücke merkbar werden zu lassen, und neue Ankömmlinge ersetzten täglich die Stelle der Abreisenden.

Frau von Willnangen besaß unter vielen angenehmen Eigenschaften auch die, sich überall, wohin sie kam, leicht anzusiedeln und heimisch zu werden. Auf Reisen wußte sie dem aller ungemüthlichsten Gasthofszimmer in wenigen Minuten ein wohnliches Ansehen zu geben, ohne daß man sonderlich bemerken konnte, was sie darin verändert [261] habe. Wo sie an fremden Orten längere Zeit blieb, da gewannen alle ihre Umgebungen bald einen so behaglich-häuslichen Anstrich, daß jedem wohl darin ward, dem es erlaubt war, sich ihr zu nahen.

Darum sammelte sich auch in Karlsbad wie überall ein sehr angenehmer Kreis der Liebenswürdigsten und Gebildetsten um sie her. Es war als ob sie durch einen Zauberspruch alle an sich zöge, die zu diesen gezählt werden durften, oder als ob sie ein Zeichen an sich trüge, an dem die Gleichgestimmten sie erkannten. Dennoch wunderte sich jeder, der sie zum erstenmal sah, wie diese einfache, weder durch jugendlichen Reiz noch glänzenden Witz ausgezeichnete Frau dazu gekommen sey, der Mittelpunkt der Gesellschaft zu werden, so anspruchlos und zuvorkommend war sie in ihrem Betragen gegen Alle.

Gabrielen hatte der Arzt nur ein paar Gläser des Theresienbrunnens, als des schwächsten von allen, zu trinken erlaubt, damit sie sich doch auch mit Ehren in die Reihe der Brunnengäste stellen dürfe; denn es ist nichts unangenehmer, als bei [262] einem, Allen gemeinschaftlichen Zweck, allein ausgeschlossen zu bleiben. Frühes Aufstehen, Bewegung in der vom Duft der Bergkräuter und frischem Waldeshauch erfüllten Luft, und vor allem Rückkehr zu der regelmäßigen Lebensart, deren sie während dieses Winters sich hatte entwöhnen müssen, waren die eigentlich ihr vom Arzt verordnete Kur, und der Erfolg bewies, daß er in der Wahl nicht geirrt hatte. Gabriele, die jetzt eben ihr siebzehntes Jahr vollendete, blühte von Tage zu Tage schöner auf. Der Rosenglanz der Gesundheit gab ihr einen neuen Reiz, ohne den fast ätherischen Ausdruck zu zerstören, der von ihrer frühsten Jugend an sie ausgezeichnet und ihr das Ansehn einer Bewohnerin andrer Welten gegeben hatte. Dabei lag in ihrem freundlichanspruchlosen Wesen etwas so unaussprechlich liebliches, daß jedermann sich zu ihr gezogen fühlen mußte, obgleich der stille Ernst, mit dem sie das Leben nur als Zuschauerin zu betrachten schien, niemanden zu näherer Vertraulichkeit aufforderte.


[263] Unter den Reisegesellschaftern der Frau von Willnangen war Ernesto der Einzige, der mit dem Ton und überhaupt dem Leben in Karlsbad nicht recht zufrieden seyn wollte. Sie selbst war zu oft sowohl hier als an ähnlichen Orten gewesen, um mehr von ihnen zu fordern, als sie ihrer jetzigen Einrichtung nach leisten können. Augustens heitre Natur befand sich in ihrer Mutter und Gabrielens Gesellschaft überall wohl, und diese freute sich zwar der herrlichen Umgegend, war aber in ihrer innern Welt noch zu befangen, um sonst noch Ansprüche irgend einer Art an die äußre zu machen.

Anders aber verhielt es sich mit Ernesto. Dieser hatte noch nie zuvor einen Brunnenort besucht, denn zu der Zeit, da er im frühen Jünglingsalter Deutschland verließ, um die Ausbildung seines Talents in Italien zu suchen, war es noch nicht wie jetzt Gebrauch, die Bäder als Erholungsorte zu betrachten. Eine Badereise betrachtete man damals als einen großen Entschluß, und fast immer nur als den letzten Versuch zu genesen, ja der Ausspruch des Arztes, welcher die Kranken [264] dorthin verwies, klang den mehresten von ihnen wie ein halbes Todesurtheil. Daher kannte sie Ernesto nur aus lobpreisenden Aufsätzen in Zeitschriften und hochtönenden, an Ort und Stelle verfertigten Beschreibungen, die ihn freilich weit mehr erwarten ließen, als er fand.

»Wir sitzen hier ganz vortrefflich,« sprach er einst in halb unmuthiger, halb zufriedner Stimmung zu der Gesellschaft, die sich an einem warmen Nachmittag, im Schatten der schönen Bäume vor dem böhmischen Saal recht häuslich niedergelassen hatte. »Wir sitzen hier ganz vortrefflich. Frau von Willnangen macht die angenehme Wirthin, als wäre sie zu Hause, die übrigen Damen arbeiten an allerliebsten Kleinigkeiten, und wir Männer führen weise Gespräche. Uns ist wohl! aber wir bilden doch einen Staat im Staate, und das ist hier nicht recht. Mir wenigstens thut mitten in meiner Glückseligkeit das Herz weh, wenn ich die einzelnen Paare ansehe, die dort auf der Wiese und hier in den Alleen langweilig und langsam neben einander herschlendern. Da Gott hier für alle und jede seinen Segen in [265] den Quellen fließen läßt, so sollten auch wir niemanden von unsern Vergnügungen ausschließen und alle zusammen darnach streben, daß allgemeine Freude die ganze Brunnengesellschaft zueiner Familie vereine.«

Die Gesellschaft, an welche Ernesto diese Worte richtete, bestand außer den Hausgenossen der Frau von Willnangen noch aus der im nördlichen Deutschland einheimischen Familie des Baron Wallburg. Dieser bewohnte mit seiner Frau, zwei Töchtern und einem Sohne den obern Stock des nehmlichen Hauses, von welchem Frau v. Willnangen die erste Etage inne hatte. Nicht sowohl diese nahe Nachbarschaft, als vielmehr eine gewisse Uebereinstimmung in ihrer Lebensweise hatte beide Familien zuerst einander näher gebracht. Gegenseitiges Gefallen, besonders des jüngern Theils derselben, machte sie in kurzer Zeit zu unzertrennlichen Gefährten in allen der Geselligkeit geweihten Stunden.

General Lichtenfels, ein heitrer Greis, und sein Neffe Adelbert gehörten als frühere Bekannte [266] des Barons Wallburg mit zu dem kleinen Kreise, in welchem Adelbert der einzige bedeutend Kranke war. Ehrenvoll im Kriege erhaltene, aber übel geheilte Wunden hatten diesen nach Karlsbad geführt, um Genesung oder doch wenigstens Linderung zu suchen. Im Innern schien er noch schmerzlicher verletzt zu seyn als im Aeußern, denn alle seine Züge trugen tiefe Spuren eines verzehrenden Kummers. Gewöhnlich nahm er nur schweigenden Antheil an der Gesellschaft, und schien gern in Gabrielens Nähe sich zu halten, deren ebenfalls nicht fröhliche Stimmung der seinen am besten zusagte. Sein ihn väterlich liebender und von ihm kindlich verehrter Oheim war einzig ihn zu begleiten, nach Karlsbad gekommen, und es gewährte einen eignen rührenden Anblick, wenn der alte eisgraue aber noch immer rüstige Krieger die schöne hohe Gestalt des jüngern unterstützte, der, von einer Fußwunde gelähmt, sich nur mühsam und gebeugt fortbewegen konnte. Allwill, ein junger Dichter, und Wollmer, ein ausgezeichneter Tonkünstler, hatten sich auch dießmal, wie gewöhnlich, der Gesellschaft angeschlossen.[267] Beide waren wegen ihrer Talente und ihres angenehmen Humors immer höchst willkommen.

Ernestos Klage über den Mangel allgemeiner Geselligkeit regte sogleich alle Mitglieder des Kreises zum lebhaftesten Widerspruch auf, denn sie befanden sich in dieser Abgeschlossenheit von den übrigen nicht minder behäglich als im Grunde Ernesto selbst und nahmen sie deshalb gern gegen ihn in Schutz. Auguste und Rosalie von Wallburg überhäuften den italienisirten Signor, wie sie ihn spottend nannten, mit Vorwürfen über seinen Wankelmuth, der ihn verleite, sich nach andrer Gesellschaft zu sehnen, und die kleine zwölfjährige Luzie Wallburg sprang gar von der Stelle neben ihm auf, wo sie als seine erklärte Geliebte gewöhnlich zu sitzen pflegte, indem sie versicherte, von einem so ungetreuen Liebhaber wollte sie nichts weiter wissen.

Friede und Ruhe wurden indessen bald wieder hergestellt, und Frau von Willnangen nahm den Faden des Gesprächs wieder auf, indem sie Karlsbad gegen Ernestos Tadel vertheidigte. »Kommen Sie nur nach Töplitz, Wiesbaden oder überall [268] hin,« sprach sie, »wo nur gebadet wird und nicht getrunken. Dort, wo Morgens kein Brunnen Gelegenheit zum Bekanntschaftenmachen bietet, dort mag es Ihnen allenfalls erlaubt seyn, über Isolirung der Einzelnen und alle die tausend Schwierigkeiten zu klagen, die sich jeder nur einigermaaßen allgemeineren Geselligkeit entgegen stellen.«

»Damit, daß es anderswo noch ärger ist, wird aber dem nicht abgeholfen, was ich hier als mangelhaft schelte,« erwiederte Ernesto. »Ich bleibe dabei, daß der größte Theil der Brunnengäste sich in Karlsbad noch immer mehr langweilt, als recht und billig ist, oder selbst bei einem solchen Zusammenfluß von Leuten möglich seyn sollte, die alle nichts zu thun haben, als sich zu belustigen.«

»Ich muß hier auf Ernestos Seite treten,« nahm der Kapellmeister Wollmer das Wort. »Blicken Sie nur um sich her, die Sonne beginnt zu sinken, längstens in einer Stunde verweiset der Aerzte strenges Gebot uns alle aus der Abendluft unter Dach und Fach, und dennoch werden [269] dann noch vor Schlafengehen ein paar Abendstündchen übrig bleiben, die wohl jedermann gern auf angenehme Weise in Gesellschaft zubrächte. Sehen sie indessen nur, wie sich schon alles vereinzelt und nach seiner vielleicht ziemlich unbequemen Wohnung hinzieht, während beide Säle leer bleiben, in denen man sich doch recht bequem noch zum erheiternden Gespräch versammeln könnte.«

Leo von Wallburg meinte, wenigstens der Bälle lobend erwähnen zu dürfen, die zweimal die Woche einen allgemeinen Vereinigungspunkt bieten, ward aber von Ernesto schnell unterbrochen. »Geht mir,« sprach dieser, »mit euren Bällen, auf welchen niemand tanzt, als wer seine Mittänzer gleich mitbringt. Diese beweisen gerade, wie sehr der Kotterie-Geist hier herrschend ist. Tanzte wohl am verwichnen Sonntag im sächsischen Saal noch irgend eine Seele außer den verwünscht hübschen Polinnen? und auch sie nur mit den Herren, welche sie auf den Ball geführt hatten. Freilich schweben diese Sarmatinnen wie Grazien einher; aber ringsum an den Wänden [270] des Saals saßen auch deutsche und andre Grazien die Menge in langen Reihen da, ohne daß es einem von den vielen jungen Herren eingefallen wäre, sie zum Tanz aufzufordern.

»Eigentlich,« nahm der General wieder das Wort, »eigentlich fehlt es uns hier nur an jemanden, der Aufopferung, Geschicklichkeit und Ansehen genug besäße, um sich an die Spitze aller übrigen stellen zu können, und nicht nur bei Festen und Bällen, sondern überall als Wirth die Honneurs zu machen. Ohne einen solchen Mittelpunkt gedeiht bei uns keine Geselligkeit. Wir Deutsche sind nun einmal bei solchen Gelegenheiten nicht sowohl träge als unbehülflich. Genau wie die Kinder, die wenn sie zum erstenmal zusammen kommen, um mit einander zu spielen, lange verschämt dastehen, einander kaum ansehen, und dabei thun, als läge ihnen im mindesten nichts am Spiel, während sie sich vor innerlicher Ungeduld darnach nicht zu lassen wissen. Da muß durchaus jemand eintreten, der jedem zeigt, was es zu thun hat, um sich zu belustigen, und alle mit linder Gewalt an einander treibt, sonst bleibt [271] jeder für sich und ärgert sich dabei über den Nachbar, der nicht den ersten Schritt thun will.«

»Thun Sie diesen ersten Schritt und machen Sie der allgemeinen Noth ein Ende, lieber Herr General,« sprach lächelnd Frau von Willnangen; »in jeder Hinsicht eignet sich niemand zu unserm Anführer besser als Sie, und ich bin im voraus überzeugt, daß jedermann dieß dankbar anerkennen wird.«

Der General verbeugte sich und fuhr fort zu reden. »In jüngern Jahren habe ich oft aus eignem Antrieb es versucht, den Ehrenposten zu bekleiden, den Sie, meine gütige Freundin! mir jetzt wieder zutheilen möchten, dem ich mich aber um keinen Preis wieder unterziehen würde. In Bädern, in Garnisonen oder wo sonst der Zufall eine ungewohnte Zahl Menschen aus den Ständen zusammenführt, welchen geselliges Vergnügen Bedürfniß ist, bin ich oft von eigner Lebenslust verleitet worden, mich zum maitre des plaisirs aufzuwerfen, aber lag es an meiner Ungeschicklichkeit oder an etwas anderm, ich weiß nur, es [272] ist mir jedesmal so schlecht bekommen, daß ich noch jetzt nicht ohne Aerger daran denken kann.

»In der That,« sprach Baron Wallburg, »das Amt eines Zeremonien- oder wenn sie wollen, Vergnügen- Meisters ist eines der anerkannt mühseligsten und unbelohnendsten, am Hofe wie in der Stadt, vor allem aber in einer Republik, wie doch jeder Brunnenort eine ist, und ich begreife nicht, wie man anders, als durch den Drang der Umstände dazu gezwungen, sich ihm unterziehen mag.«

»Sollten Sie mich auch wieder der Anglomanie beschuldigen, lieber Vater!« sprach Leo, »ich muß hier doch bemerken, daß das Talent der Britten, überall das komfortabelste zu erfinden, sich auch in dem vorliegenden Fall bewährt. Bei ihrer, jeder geselligen Verbindung mit Unbekannten noch weit mehr, als wir Deutschen, widerstrebenden Nation trafen sie dennoch den rechten Weg, alle zufrieden zu stellen. In jedem bedeutenden Brunnenort wählen die Badegäste einen Zeremonienmeister, dessen Anordnungen jeder gern Folge leistet, und der um einen anständigen Ehrensold [273] für die gesellige Unterhaltung Aller, wie jedes Einzelnen, unermüdlich besorgt ist. So darf dort niemand über Vernachlässigung oder Langeweile klagen, der dieß nicht selbst durch sein Betragen verschuldet.«

»Dacht' ichs doch, daß die große Erfindung auf etwas Fabrikmäßiges hinaus laufen würde,« sprach Baron Wallburg, »denn hoffentlich hat dieser Zeremonienmeister auch Gehülfen, die ihm vorarbeiten, und der Fremde, der amüsirt werden soll, geht dabei aus einer Hand in die andre, wie ein englischer Knopf.«

»Haben sie nicht auch aus Holz und Stahl vortrefflich gearbeitete Herrn und Damen, die eingeschoben werden, wenn es an lebendigen Tänzern fehlt?« fragte Ernesto.

Die Idee solcher unermüdlichen Tänzer erweckte großes Vergnügen bei dem jüngern Theil der Gesellschaft. Vor allem äußerte die kleine Luzie den sehnlichen Wunsch, daß auf dem nächsten Ball deren ein halbes Dutzend, wo möglich in Husarenuniform, erscheinen möchten. Dann, meinte sie, käme auch wohl einmal die Reihe an [274] sie, mit so einem hölzernen Husaren zu tanzen, denn die großen Mädchen nähmen ihr die lebendigen Tänzer alle weg.

»Auch ich kenne die Badekönige, denn so pflegt man in England sie zu nennen,« nahm endlich der Kapellmeister das Wort, »und ich habe mich während meines vieljährigen Aufenthalts in jenem Lande zu wohl unter ihrem sanften Scepter befunden, als daß ich mich nicht laut für sie erklären sollte. Aus Reisebeschreibungen ist zwar jedermann von den Statuten ihres Reichs unterrichtet, aber den ganzen wohlthätigen Einfluß derselben auf das Badeleben kann nur der ermessen, der wie ich einst zu ihren Unterthanen gezählt ward.«

Noch vieles sprach man, bald lobend, bald tadelnd über diese englische Einrichtung, deren Einzelheiten selbst dabei sehr umständlich zur Sprache kamen. »Leo hatte in der That Recht,« entschied endlich der General, »und ich wünsche herzlich, recht bald solche Könige auf deutschem Grund und Boden zu begrüßen. Ernestos fromme Wünsche können wahrscheinlich nur durch ihre [275] Einführung bei uns in Erfüllung gehen, aber ich fürchte aus mancherlei Gründen, daß sich unendliche Schwierigkeiten ihr entgegen stellen würden. Indessen käme es auf einen Versuch an, und wäre die Brunnenzeit nicht ihrem Ende so nahe, so möchte ich sie wohl, wenigstens als Probestück, auf einige Wochen in Vorschlag bringen, obgleich ich nicht weiß, wo ich sogleich einen würdigen Kandidaten zu diesem sehr schweren Posten finden würde.« »Ein Mann von Stande könnte sich doch unmöglich dazu entschließen,« meinte Frau von Wallburg. »Und warum denn nicht? meine gnädige Frau!« erwiederte ihr schnell Ernesto. »Ich halte die Stelle eines solchen Königs für recht ehrenvoll, und um so mehr, da nicht gemeine Eigenschaften dazu gehören, sie mit Würde zu bekleiden.« »Glauben Sie vielleicht, daß die Stelle eines Banquiers am Pharao-Tische, die so mancher Sprößling eines sehr edlen Stammes ausfüllt, für ehrenvoller gelten dürfe?« setzte der General lächelnd hinzu.

Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne mahnten jetzt die Gesellschaft zum Aufbruch, doch [276] traf man noch vorher die Verabredung, es an einem der nächsten Abende zu versuchen, ob nicht der größere Theil der in Karlsbad gegenwärtigen Fremden zu einer zahlreicheren Versammlung in einem der Säle zu veranlassen sey, um so vielleicht den Grund zu künftiger allgemeinerer Geselligkeit zu legen. Niemand wandte gegen diesen Plan etwas ein, außer Frau von Wallburg. »Ich weiß nicht,« sprach sie, »warum wir uns um die Uebrigen, die sich um uns nicht bekümmern, so viel Mühe geben wollen, da wir ihrer doch nicht bedürfen, um uns recht wohl zu befinden. Unser Zirkel genügt uns, er ist groß genug, um uns zu amüsiren, und wir werden uns da eine Menge Bekanntschaften aufladen, unter denen sich gewiß Leute befinden, die gar nicht zu uns passen, und die uns in Zukunft vielleicht recht lästig und beschwerlich in unserm eignen Hause werden können.«

Herr von Wallburg tröstete indessen seine Frau mit der Versicherung, daß Badebekanntschaften sich nie über die wenigen Wochen hinaus erstrecken dürfen, die man mit einander verlebt, [277] und daß es anerkannt herkömmlich sey, auch die genausten dieser Art in seiner Heimath zu ignoriren, sobald man nicht durch eigne Beweggründe sich veranlaßt finde sie fortzusetzen; und so wanderte sie beruhigt mit der übrigen Gesellschaft ihrer Wohnung zu.

Die letzten, auf eine eigne, gleichsam etwas bezeichnen sollende Weise betonten Worte des Baron Wallburg machten indessen auf Frau von Willnangen einen nichts weniger als angenehmen Eindruck. Sie hörte sie mit dem prophezeienden Vorgefühl, mit welchem der kundige Schiffer bei sonst heiterem Himmel das kleine dunkle Wölkchen am fernsten Horizonte erblickt, welches ihm den nahenden Orkan verkündigt. Ueberhaupt wohnt in vielen Frauen ein Vorahnen dessen, was sie von denen, welchen sie auf ihrem Lebenspfade begegnen, zu erwarten haben, sey es Freude, sey es Schmerz. Liebe oder Feindseligkeit, sie empfinden beide lange im Voraus, ehe sich noch die Person ihrer bewußt wird, in deren Brust diese Empfindungen später erwachen. Von diesem wunderbaren Gefühl geleitet, würde Frau [278] von Willnangen den Umgang mit dem Baron Wallburg und seiner Frau vielleicht gänzlich vermieden haben, aber sie hielt es für unbillig und thöricht, auf eine Ahnung zu achten, für welche sich durchaus kein vernünftiger Grund erdenken ließ, und überdem erschien ihr der jüngere Theil dieser Familie so liebenswürdig, daß sie um seinetwillen manches ihr minder Angenehme gern übersehen mochte.

Nicht ohne Wohlgefallen hatte sie das Aufkeimen einer Neigung Leos von Wallburg zu ihrer Tochter bemerkt, deren Erwiederung von Augustens Seite ihr durchaus nicht unerwünscht gekommen wäre. Leo zeichnete sich in der That auf eine vortheilhafte Weise vor andern jungen Männern aus. Mit einem sehr gebildeten Geist und einem angenehmen Aeußern verband er die schätzenswerthesten Eigenschaften des Gemüths, die sich auf das Unverkennbarste bei jeder Gelegenheit, besonders aber im Umgang mit den Seinen äußerten. Und so war es wohl sehr verzeihlich, wenn Frau von Willnangen sich bisweilen süßen, allmählig zu Wünschen und Hoffnungen [279] ausartenden Träumen vom künftigen Glück ihrer Tochter überließ, besonders da der einstigen Erfüllung derselben sich auch im Aeußern nichts entgegen zu stellen schien. Dennoch hütete sie sich wohl, mit Augusten darüber zu sprechen, sie ließ das Herz ihrer Tochter ungestört seinen stillen Gang gehen; der Reue Schmerzen, die sie noch immer bei Gabrielens Anblick empfand, lehrten sie jetzt Vorsicht üben, da es vielleicht der ganzen Zukunft ihres geliebten einzigen Kindes galt.

Das vom Baron Wallburg über die Bade-Bekanntschaften ausgesprochene Urtheil wäre vielleicht von ihr unbeachtet geblieben, hätte es sie nicht plötzlich an ein Gespräch erinnert, welches sie mit dem General auf einem einsamen Spaziergange am nehmlichen Morgen gehalten hatte. Er, der immer offen zu Werke zu gehen gewohnt war, hatte mit einer höchst auffallenden Absichtlichkeit die Gelegenheit gesucht, vom Baron Wallburg und dessen Gemahlin zu sprechen. Beide wurden zwar als sehr vorzüglich in jeder Hinsicht von ihm gepriesen, dabei aber zu wiederholten Malen und fast warnend des Ahnenstolzes erwähnt,[280] der in ihrem Vaterland überall mehr als in irgend einem andern Theile Deutschlands vorherrsche. Auch dieses sonst so liberal gesinnte Paar sollte, nach des Generals Versicherung, in dieser Hinsicht mit unüberwindlichen Vorurtheilen erfüllt seyn; nur feine Sitte verhindre es, diese auch im gewöhnlichen Leben laut werden zu lassen.

Die Dazwischenkunft des Barons selbst und die übrigen Zerstreuungen des Tages hatten Frau von Willnangen abgehalten, dieses Gespräch mit dem Ernst zu würdigen, zu welchem es augenscheinlich des Generals Absicht war, sie zu stimmen. Jetzt aber stand jedes Wort desselben plötzlich wieder vor ihrem Geist, und dabei fiel der Gedanke ihr mit Zentnerschwere auf das Herz, daß Augustens Stammbaum wirklich nicht von der Art sey, um vor strengen Richtern als gültig zu bestehen. Ihr Vater war der Sohn eines sehr angesehenen aber bürgerlichen Hauses, seinen später erworbnen Adel verdankte er nur seinen Verdiensten und dem Range, den er bekleidete. Die lange Reihe von Ahnen, welche Frau v. Willnangen als eine geborne Rosenberg zählte, vermochte [281] es leider nicht, die ihm fehlenden zu ersetzen.

Frau von Willnangen fühlte sich bei ihrer Zuhausekunft von diesen Gedanken so verstimmt, daß sie es ausschlug, noch, wie sonst gewöhnlich, ein paar Stunden bei der Gesellschaft zu bleiben, und sich vielmehr mit den Ihrigen in ihr Zimmer zurückzog. Diese Verstimmung theilte sich auch den Uebrigen mit, alle vereinzelten sich, und der Abend nach diesem so fröhlich begonnenen Nachmittag, der eine allgemeine Geselligkeit einzuführen bestimmt schien, war der erste, an dem jedermann sich bestmöglichst zu isoliren strebte.


Ein wunderschöner, wenn gleich schwüler Morgen folgte diesem Abend. Die ganze, durch das Hinzutreten mehrerer entfernteren Bekannten sehr vergrößerte Gesellschaft beschloß deshalb, einen längst entworfnen Plan auszuführen. Das Frühstück sollte auf dem höchsten der über dem schönen [282] Thal thronenden Berge eingenommen werden, neben den drei Kreuzen, die dessen Gipfel bezeichnen. Auch Frau von Willnangen hatte sich mit ihrer Tochter von dem allgemeinen Vergnügen nicht ausschließen mögen. Ernesto mit der fröhlichen Luzie waren als Heerführer an die Spitze der kleinen Schaar gestellt, die singend und jubelnd vom Brunnen weg durch den blinkenden Morgenthau hinzog. Allwill hatte einen eignen Rundgesang für diese Wallfahrt gedichtet, der Kapellmeister erfand auf der Stelle eine Melodie dazu, dieß erhöhte die laute Freude, mit der alle sich auf den Weg machten.

Nur Adelbert und Gabriele blieben einsam zurück. Mit seinem gelähmten Fuß konnte ersterer gar nicht daran denken, eine solche Wanderung zu unternehmen, und Gabriele durfte es auch noch nicht wagen, sich der Ermüdung eines so weiten Spazierganges auszusetzen. Nach dem Scheiden der fröhlichen Gesellschaft begleitete Adelbert Gabrielen schweigend und langsam zu Hause, aber der Morgen war zu schön, um ihn ganz ungenossen vergehen zu lassen, und so wandten [283] sie sich daher bald den lieblichen Schattengängen zu, die das anmuthige Thal von allen Seiten bekränzen.

Nie zuvor hatten beide Gelegenheit gehabt, so ganz allein mit einander zu seyn. Adelbert fühlte sich zwar vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an durch die stille sanfte Schwermuth zu ihr hingezogen, die wie ein Schleier über Gabrielens ganzes Wesen sich verbreitete, und der milde Strahl ihres schönen dunkeln Auges war oft wie ein erwärmendes Licht in seine wunde Brust gedrungen, aber die reine Güte ihres Gemüths und selbst ihre hohe geistige Bildung konnten ihm dennoch nie zuvor, wie jetzt im ungestörten Gespräch mit ihr, in dieser Klarheit sichtbar werden. Auch hatte sie sich ihm noch nie so unaussprechlich freundlich und vertrauend gezeigt.

Beide waren heute durch ähnliche Leiden von der allgemeinen Freude ausgeschlossen geblieben, und Gabriele fühlte sich dadurch Adelberten gewissermaaßen schwesterlich verwandt. Sie neigte sich deshalb zu ihm und sprach mit ihm, wie eine liebende Schwester mit ihrem kranken leidenden [284] Bruder sprechen könnte. Ein wahrhaft und tief verwundetes Gemüth erkennt das andre ohne Worte, daher wußte Gabriele recht wohl, daß Adelbert freundlicher Theilnahme weit bedürftiger sey, als es selbst seine im Aeußern zerstörte Jugendblüthe vermuthen ließ, und daß vielleicht nur diese ihn von völligem Untergang in Tiefsinn und Schwermuth erretten könne. Sie wandte sich deshalb unendlich mitleidig zu ihm; alles was sie sagte und that, drückte das Bestreben aus, ihm tröstlich zu werden. Ihre ohnehin sanfte melodische Stimme klang wie das Flöten einer Nachtigall, denn sie suchte sie noch mehr zu mildern, indem sie zu ihm sprach, und Adelberten ging dabei in lange nicht empfundner Seligkeit das Herz auf.

So in ernstes und vertrauliches Gespräch verloren, wanderten beide langsam neben einander hin, länger und weiter, als sie selbst es bemerkten. An sich unbedeutende Anhöhen, die Adelberten aber noch gestern unübersteiglich geschienen hatten, ging er jetzt, seiner Krücke nicht gedenkend, an Gabrielens Seite hinauf und hinab, [285] ohne es zu gewahren. An den Stellen, wel che ihr am schwierigsten dünkten, bot sie ihm hülfreich die kleine weiße Hand, und indem er sie berührte, war ihm, als ob unsichtbare Engel ihn mit ihren Flügeln unterstützten. Zwar dachte Gabriele nicht ohne Sorge an den Rückweg, indem sie neben ihm herging, aber sie vermochte es nicht über sich zu gewinnen, ihn aus dem augenblicklichen Vergessen seines traurigen Zustandes zu erwecken, und verschwieg daher ihre Besorgnisse.

Endlich erreichten sie den kleinen Tempel, welcher den Namen des Lords Finlater, des Verschönerers dieser Gegend, trägt, und mit ihm die beinahe äußerste Gränze der eigentlichen Promenaden. Bei ihrer, ihnen jetzt erst recht fühlbar werdenden Ermüdung und der ungewöhnlichen Schwüle des Tages war ihnen dieser Ruhepunkt höchst willkommen. Sie setzten sich traulich neben einander und fuhren in dem Gespräche fort, dessen Interesse sie so unvermerkt bis zu diesem, von ihrer Wohnung ziemlich weit abgelegnen Platz hingeführt hatte.

[286] Die Unterhaltung war zuerst von der Poesie und dem verschiednen Werth der neuesten Erzeugnisse unsrer Dichter ausgegangen, unmerklich aber hatte sie sich der Liebe und ihren Leiden und Freuden zugewendet. Gabrielens beredtes Auge hatte Adelberten längst eine unglückliche Liebe als das stille Geheimniß ihres Herzens verrathen, obgleich sie auch nicht auf die leiseste Art darauf hindeutete. Er strebte daher mit der zartesten Schonung, alles zu vermeiden, was ihm das Ansehen geben konnte, als suche er ihr Vertrauen zu erschleichen, oder wolle die nähern Umstände eines Geschicks erspähen, das er nicht umhin konnte, sich dem eigenen ähnlich zu denken. Der Anblick des unaussprechlich anmuthigen und doch so tief verletzten Wesens an seiner Seite stimmte ihn dabei immer wehmüthiger, indem er doch zugleich über seine eignen Schmerzen für den Augenblick sich beruhigter fühlte.

»Nur eines kann ich mir denken, wogegen kein Trost zu finden wäre,« sprach Gabriele im Verlauf des Gesprächs zu Adelbert. »Trennung, Tod des Geliebten, sind zwar ein unnennbares [287] Weh, das schwache Herz möchte darüber brechen, wenn nicht die Liebe selbst und der schöne Hoffnungsstrahl von jenseits es hielten, aber dieser Schmerz reicht doch nicht an jenen, alle Hoffnung, sogar jeden Wunsch nach Trost vernichtenden, für dessen Möglichkeit ich zurückbebe. – Er heißt Unwerth des Geliebten, Verachten dessen, was wir dennoch lieben müssen. – Nein, die menschliche Natur kann dieß Entsetzliche nicht ertragen!«

Todtenblässe überzog bei diesen Worten Adelberts Gesicht, das er im nächsten Moment, krampfhaft zitternd, mit beiden Händen verhüllte. »Und doch, mein Fräulein! und doch,« stammelte er fast unhörbar. »Sie haben in zwei Worten die traurige Bestimmung meines Daseyns ausgesprochen. Lieben und Verachten! Die menschliche Natur erträgt es wohl, Sie sehen, ich lebe noch.«

Gabriele hätte vor Reue darüber vergehen mögen, daß sie ihn, den sie beruhigen und trösten zu wollen sich bewußt war, so unvorsichtig verletzt hatte. Sie fand und suchte kein Wort zu ihrer Entschuldigung, aber Adelbert hob den [288] getrübten Blick zu ihr auf und las in ihrem schimmernden Auge innigere Theilnahme, schmerzlichere Reue, als sie mit aller Beredtsamkeit ihm hätte ausdrücken können. Sein Herz öffnete sich zum erstenmal wieder nach langer Zeit im Ergusse des reinsten Vertrauens; auch sie fand allmählig herzliche beschwichtigende Worte für ihn, und bald vernahm sie die Geschichte seiner glücklich verlebten früheren Zeit und die Ursache des jetzt ihn zerstörenden Kummers, die er mit der, allen Unglücklichen eignen Umständlichkeit ihr vertrauend mittheilte.


Früh verwaiset, wuchs Adelbert im Schlosse seines edlen Oheims auf, der das hoffnungsvolle Kind mit wahrhaft väterlicher Liebe erzog. Zwei Knaben und ein jüngeres Mädchen, Herminie genannt, theilten mit ihm die Stunden des Unterrichts wie die der Erholung. Sie waren die Kinder einer benachbarten Familie, welche durch [289] enge Bande der Freundschaft mit seinem Oheim von jeher vereinigt, fast immer in seiner Nähe lebte. Adelberts Auge strahlte noch einmal im Wiederschein der untergegangnen Sonne seines Frühlingslebens, als er jetzt erwähnte, wie schon in früher Jugend die innigste Liebe zu Herminien ihn zu allem Guten entstammte, wie er stets sich auszuzeichnen strebte, um ihr zu gefallen, und wie auch sie mit unverkennbarer Zärtlichkeit an ihm hing. Sein Oheim und Herminiens Eltern blickten lächelnd auf die frühe Liebe ihrer Kinder, und bauten darauf goldne Pläne für ihre Zukunft. »O wäre ich damals gestorben!« rief Adelbert mit schimmernden Augen, »damals in der Morgenröthe des Lebens, die den herrlichsten aller Tage schien verkünden zu wollen, der jetzt mir untergegangen ist in Nacht und Graus.«

Die Kinder wuchsen zum Jünglingsalter heran; mit diesem erschienen Jahre der Trennung, aber diese sollte ja den Zeitpunkt ewiger Vereinigung herbeiführen. Adelbert fühlte die Nothwendigkeit, sich erst für das Leben zu rüsten, sich Eigenschaften zu erwerben, die ihn einst berechtigen könnten, [290] nach dem Preise zu streben, der in rosiger Glorie vor ihm stand. Auch lockte ihn, den in der Einsamkeit erzognen Jüngling, die ferne bunte Welt mit alle dem magischen Reiz, durch welchen sie jeden Unerfahrnen blendet, und so bestieg er, ziemlich gefaßt, den Reisewagen, der ihn nach einer entfernten Universität führen sollte, während Herminie in wildem Schmerz zu vergehen glaubte. Ein Briefwechsel mit dem Geliebten, zu welchem Eltern und Oheim, nach der feierlichen Verlobung des jungen Paars, ihre Einwilligung gegeben hatten, blieb ihr einziger Trost.

So vergingen drei Jahre. Adelbert verlebte sie unter Arbeit, Sehnsucht und Hoffnung. Herminiens Andenken hielt ihn hoch über den Strudel wüster Verwilderung, in welchem viele seiner jugendlichen Genossen neben ihm versanken. Herminiens Briefe zu beantworten, sein ganzes Herz ihr offen darzulegen, war die höchste Wonne seines Lebens. Er fühlte ganz den hohen Zauber, mit der diese Art, uns das Geliebte zu vergegenwärtigen, zuweilen sogar das Glück der wirklichen Gegenwart besiegt. Auge in Auge, macht[291] die Lippen verstummen, aber in der einsamen Beschäftigung mit einem geliebten Wesen reihen sich die Worte zum Ausdruck unsrer innigsten Gefühle von selbst an einander, und wir vermögen zu schreiben, was wir nimmermehr sagen könnten.

Dennoch nannte Herminie Adelberts Briefe oft kalt und liebeleer, und obgleich sie von allem, was ihn nur auf die entfernteste Weise berührte, unterrichtet zu werden verlangte, so konnte sie doch auch oft darüber zürnen, daß er fähig wäre, irgend etwas anders zu erwähnen als seine Liebe. »Du kannst Mannigfaltigkeit in deine Briefe bringen,« schrieb sie ihm, »du bist ein Mann, du lebst in der Welt. Ich Einsame lebe nur in dir, ich kann nichts denken als dich, darum vergieb, wenn ich langweilig dir nur von dir schreibe; du bist ja meine Welt, von der ich jetzt nur träumen darf.«

Endlich war der Zeitpunkt ganz nahe, in welchem Adelbert zu seinem Oheim zurückkehren sollte, um wenige Wochen später mit Herminien auf ewig vereint zu werden. Mit kaum zu mäßigender Ungeduld sah er dem unfernen Tage seiner [292] Abreise von der Universität entgegen, als ganz unerwartet ein vom General abgesandter Eilbote erschien, mit dem Auftrage, ihn zur möglichsten Beschleunigung seiner Rückkehr in die Heimath zu mahnen. Dieser an sich höchst willkommne Befehl seines Oheims überraschte dennoch Adelberten, besonders da der in höchster Eil abgesandte Bote ihn durchaus nichts näheres darüber zu sagen wußte. Adelbert eilte rastlos Tag und Nacht, bis er das Schloß seines Oheims erreichte. Dort fand er den edlen Greis gerüstet, um in den Kampf gegen die Feinde zu ziehen, deren Horden damals aufs neue unser Vaterland zerstörend zu überschwemmen drohten. Ob Adelbert ihn auf diesem Zuge begleiten würde, blieb nicht die Frage eines einzigen Augenblicks; der General hatte schon alles dazu vorbereitet, der nächste Morgen war zur Abreise bestimmt, und beiden Liebenden blieb nur dieser einzige Abend zum Wiedersehn und zum Scheiden.

Schweigend betrachteten sie einander in der Stunde des Wiedersehns. Mit süßem Erröthen schlug Herminie die langen seidnen Augenwimpern [293] nieder vor den liebeglühenden Blicken des hoch und schön vor ihr stehenden, zum Mann heranblühenden Jünglings, während dieser, verloren in Entzücken, den unbegreiflichen Zauber anstaunte, welchen drei kurze Jahre hier geübt hatten. Die Stunde der Trennung schlug unter den heiligsten Schwüren ewiger Liebe in Noth und Tod. Bewußtlos sank Herminie aus Adelberts Armen in die ihrer Mutter, während er die glänzenden Augen seitwärts wendete, indem er sein Roß bestieg, damit keiner der alten Krieger, die mit ihm und seinem Oheim auszogen, die still über seine Wange hinrollende Thräne gewahren möge.

Von neuem begann der Briefwechsel der Liebenden. Herminie lebte nur mit der Feder in der Hand, Adelbert verwandte für sie jede freie Minute, bis die immer steigenden Unruhen des Krieges alle Möglichkeit einer freien Mittheilung vernichteten. Unglück häufte sich auf Unglück, Jammer auf Jammer.

Nach der Schlacht bei E..... blieb Adelbert unter den Todten liegen, und ward nur durch ein halbes Wunder vom lebendig Begrabenwerden [294] gerettet. Als Kriegsgefangner wurde er in ein Hospital gebracht. Seine Jugendkraft ließ ihn die Behandlung der französischen Wundärzte überleben. Nach abgeschloßnem Frieden erschien sein Oheim selbst, ihn abzuholen. Traurig wandten sich beide der Heimath zu, aber die Hoffnung, Herminien dort zu finden, glänzte wie ein heller Stern dem alten wie dem jungen Krieger durch die dunkle Nacht der Trauer, die jede andre Hoffnung ihnen verhüllte. »Herminiens sanfte Hand wird unsre Wunden heilen, sie wird künftig dich führen, dich stützen, armer Adelbert,« sprach der General, wenn er den Gelähmten sich mühsam an Krücken forthelfen sah. »Jetzt in einer Stunde sehen wir sie wieder,« sprach er endlich.

Aber sie fanden sie nicht. Ihr Schloß war öde und leer, ihre Eltern waren mit ihr, aus Furcht vor den auf dem flachen Lande sich immer weiter verbreitenden Unruhen des Krieges, in eine ziemlich entfernte Residenz gezogen, man wußte nicht, ob und wenn sie wiederkehren würden.

Nach wenigen, der nothwendigen Erholung vergönnten Stunden, saßen Adelbert und der General[295] wieder im Wagen auf dem Wege zu ihr. Kein Zweifel an Herminiens Treue kam in ihnen auf. Adelbert dachte nur ihre Freude, ihn lebend wieder zu sehen. Daß der Arm, den er noch in der Binde trug, der gelähmte Fuß, das bleiche Gesicht, die nach der langen Krankheit nur spärlich es umwehenden Locken Herminien von ihm zurückscheuchen könnten, fiel ihm nicht ein. »Sie wird dich um so mehr lieben, jemehr du ihrer Hülfe bedarfst,« sprach der General, »denn die Weiber sind alle Engel des Trostes in Menschengestalt, sie sind am glücklichsten, wenn sie etwas zu pflegen und zu heilen haben.«

Sie kamen an. Wie wenig glich dieses Wiedersehen dem vorigen! Herminie erbebte, sichtbar erschrocken über Adelberts Anblick; sie wollte sich überwinden, man sah deutlich, wie sie sich deshalb Gewalt anthat, aber sie vermochte es doch nicht, den Entstellten anders als mit heißen Thränen, mit bittern Klagen über dieses Geschick zu empfangen, und keine Sylbe verrieth ein frohes Gefühl über sein wunderbar gerettetes Leben. Auch Adelbert fand Herminien verändert. Zwar [296] stand sie im sorgsam gewählten schimmernden Putz fast reizender noch vor ihm, als da er sie verließ, aber ihre Erscheinung hatte etwas fremdartiges, etwas theatralisches angenommen, wovon bei dem einfachen Landmädchen sonst keine Spur zu finden gewesen war, und Tanzmeister-Künste suchten die Stelle der natürlichen, alle Herzen gewinnenden Anmuth zu ersetzen, welche ehedem jede ihrer Bewegungen begleitet hatte.

Adelbert ward tief betrübt über diese, in so kurzer Zeit aus dem Geräusch des Stadtlebens hervorgegangnen Verwandlung der Vielgeliebten, aber er blieb doch noch immer ihr eigen, und tröstete sich mit schönen Hoffnungen von der Zukunft. »Gewiß sie kehrt zurück, gewiß sie wird wieder, was sie war, wenn wir erst dem Gewühl glücklich entgangen sind, welches jetzt durch seine Neuheit sie betäubt.« Mit diesen Worten suchte er oft sich und seinen Oheim zufrieden zu sprechen. Plötzlich aber zerstörte Herminiens Mutter jede Hoffnung, indem sie mit der Erklärung hervortrat, daß ihre Pflicht ihr nicht erlaube, die junge schöne Herminie für ihre ganze Lebenszeit zur[297] Krankenwärterin auf einem Dorfe zu verurtheilen, daß Herminie selbst ihre Kraft einem solchen Opfer nicht gewachsen fühle, und daß sie deshalb sich gezwungen sähe, das früher unter günstigern Aussichten gegebne Versprechen zurückzunehmen. Adelbert verlor bei dieser Erklärung alle Besinnung, aber der General bestand darauf, sie von Herminien selbst bekräftigen zu hören, und als dieß, obgleich unter Thränenströmen und mit vielen schönen Worten, dennoch wirklich geschah, da blieb dem edlen Greise nichts weiter übrig, als seinen unglücklichen Adelbert an seine väterliche Brust zu nehmen und mit ihm hinaus zu fahren in die Welt. Wenige Wochen darauf kam die Nachricht, daß Herminie einem der Angesehensten aus Napoleons Gefolge ihre Hand gegeben habe, und sich mit ihm auf dem Wege nach Paris befinde.


Nicht in so zusammengedrängter Kürze, sondern in wechselndem Gespräch, belebt durch mehrere [298] Nebenumstände, die hier wegbleiben mußten, hatte Adelbert die Geschichte seiner Leiden Gabrielen anvertraut. Vertieft in klagender und tröstender Rede und Gegenrede, mochten beide wohl lange neben einander gesessen haben, ohne den Blick ins Freie zu wenden, als ein heftiger Donnerschlag sie plötzlich aufschreckte. Ein schweres Gewitter war mit der in Gebirgen nicht ungewöhnlichen Schnelle, von ihnen unbemerkt, heraufgezogen, und entlud sich jetzt gerade über ihren Häuptern in schmetternden Donnerschlägen, in unzähligen, einander durchkreuzenden, gelben, zischenden Blitzen. Heulender Sturm durchtosete die Wipfel der Bäume, laut krachte der Fall einzelner Tannen durch den Wiederhall des Donners, bis endlich, gleich einem Wolkenbruch, mit wildem Brausen herabströmender Regen den allgemeinen lauten Aufruhr der Natur allmählig beschwichtigte.

»Und unsre Freunde oben auf dem Gipfel des unwirthbaren Berges, ohne alles Obdach, dem Zorn der Elemente ausgesetzt!« rief klagend Gabriele. »Gewiß sind sie längst im Schutz einer [299] Bauerhütte am Fuße des Berges,« erwiederte tröstend Adelbert, »das Gewitter konnte sie auf der Höhe, auf welcher sie sich befanden, nicht so hinterrücks überschleichen als uns. In der That,« setzte er nach einem Blick auf seine Uhr etwas verlegen hinzu – »in der That, obgleich ich die Möglichkeit davon nicht begreife, aber ich muß glauben, daß alle längst zu Hause angelangt sind und nun um uns in der größten Sorge schweben, denn die Mittagsstunde ist eigentlich schon lange vorüber. Die engelgleiche Güte, mit der Sie, mein Fräulein! einem Unglücklichen den Trost freundlicher Theilnahme gewährten, hat uns die Stunde vergessen lassen. Wir sind viel länger hier geblieben, als wir es dachten oder eigentlich sollten.«

Gabriele blickte ängstlich hinaus ins Freie, der Regen strömte zwar minder heftig, aber um so eindringender, Wege und Fußpfade glichen rieselnden Bächen. Sie sprach kein Wort, aber Adelbert bemerkte nur zu deutlich, wie der Gedanke an Frau von Willnangen und Augusten sie mit banger Sorge erfüllte. »Was fangen [300] wir nun an?« seufzte sie endlich mit einem Blick auf ihre seidnen Schuhe. »Der Arzt hat mich besonders vor aller Erkältung gewarnt.« »Ach! wie fröhlich, wie leicht, liebes Fräulein! hätte ich Sie ehemals auf meinen Armen hinunter getragen!« rief Adelbert, und blickte traurig und finster auf seine Krücke. »Jetzt, ich muß es Ihnen leider gestehen, jetzt könnte ich Sie auf diesen schlüpfrig gewordnen Pfaden, ohne eine festere Stütze als diese, nicht einmal hinunter begleiten, selbst wenn der Regen nachließe. Hätte ich es ahnen können, daß ich noch heute die erste Stunde des Trostes, seit ich alles verlor, so bitter bereuen würde! Aber so will es das jammervolle Loos, das mir zu Theil ward,« setzte er im finstersten Unmuth hinzu.

»Briccone maledetto! Verwünschter Taschenspieler! Damn'd Juggler!« erscholl es in diesem Augenblick dicht neben ihnen, und eine wunderliche ganz durchnäßte Gestalt schlüpfte in den Tempel hinein, ohne die schon Anwesenden sogleich zu bemerken, warf dann einen ungewöhnlich dicken keulenartigen Stock von sich und arbeitete [301] darauf mit Zähnen und Nägeln an dem Knoten eines Bandes, welches ein kleines braunes Päckchen zusammen hielt. Dabei schimpfte der neue Ankömmling in einem weg und in verschiednen Sprachen, bald auf den Knoten, bald auf den Regen.

Adelbert und Gabriele betrachteten, höchst verwundert, die sonderbare Gestalt. Nach seinem Aeußern zu urtheilen, hätte man den Fremden für einen Taschenspieler oder für den Pagliasso einer herumziehenden Seiltänzerbande halten können, und doch lag etwas in der Art, mit der er Adelbert und Gabrielen, ihrer gewahr werdend, begrüßte, das eine feinere Bildung verrieth. Seine vom Regen triefende Kleidung bestand aus einer kurzen Jacke und weiten wunderlichen Pantalons von weißem buntstreifigem Leinenzeuge, in Schuhen von gelbbraunem Leder, Kamaschen von Nanking und einem großen Strohhut mit breitem Rande und flachem Kopf. Eigentlich war er ziemlich treu nach Ebels Vorschrift für Reisende in der Schweiz gekleidet, was aber hier in Böhmen und zu seiner kurzen gedrängten Gestalt [302] sich sehr lächerlich ausnahm, besonders da er wenigstens funfzig Jahre alt zu seyn schien.

Eines der gewöhnlichen Gespräche, wie man sie in ähnlichen Fällen zu führen pflegt, entspann sich jetzt zwischen Adelbert und dem Fremden, der dabei unermüdet, aber mit allen Zeichen der höchsten Ungeduld, daran arbeitete, den Knoten zu lösen, welchen er dabei immerfort und in allen möglichen europäischen Sprachen halb laut vermaledeite.

»Mercè di Dio!« rief er endlich, denn der Knoten war plötzlich aufgegangen. »Mais voyez, monsieur! sehen Sie nur, ob es nicht zum Verzweifeln war,« sprach er zu Adelberten, der verwundert auf den Inhalt des Päckchens blickte; »Vraiement c'étoit fait pour enrager. Gestern lasse ich mir von einem herumreisenden Physiker im Alexandersbad lehren einen Knoten zu schlingen, der fester als alle Schlösser ist, weil er nur der Hand des mit dem Geheimniß Bekannten weicht, ich knüpfe meinen Regenmantel, my Patent cloak, den ich immer mit mir trage, auf diese Weise zu, und jetzt, da mich der Platzregen [303] überrascht, habe ich Unglückseliger die Lösung des Knotens vergessen. Ich habe einen Mantel in der Hand, mit dem ich unter dem Staubbach hingehen könnte, ohne daß mir ein Tropfen Wassers an die Haut käme, und muß mich durchregnen lassen. No it is too bad, too bad; es ist zu toll.«

Während der Zeit zog er den Regenmantel von dünnem durchsichtigem Wachstaffet an, setzte eine gleiche von allen Seiten herabhängende Kapuze auf den Kopf, und sah in dieser Vermummung noch viel abentheuerlicher aus als zuvor, fast wie ein in Bernstein inkrustirter Käfer. »Könnte ich mich nur auf das Geheimniß des heillosen Knotens wieder besinnen,« murmelte der Fremde vor sich hin, ich muß es doch zufällig getroffen haben, weil er aufsprang.« Dabei arbeitete er wieder aufs emsigste und mit großer Anstrengung an dem dicken Stock, den er beim Eintritt weggeworfen, hernach aber wieder hervorgesucht hatte, bis es ihm gelang, ihn auseinander zu schrauben und in mehrere Stücke zu zerlegen. »Oserois-je Madame, Ihnen diesen [304] Patent Umbrello zum Heimgehen anzubieten?« sprach er zu Gabrielen, indem er ihr einen sehr zerbrechlichen Regenschirm, ebenfalls mit Wachstaffet überzogen, darreichte, den er aus einem Theil seines Stocks zusammengesetzt hatte. »Avouez, que c'est l' invention la plus belle, la plus commode, enfin es giebt nichts bequemers,« sprach er weiter, indem er aus vier dünnen Messingstäbchen und einem Stückchen Leinen eine Art von kleinem Feldstuhl zusammenfügte und Gabrielen nöthigte, sich darauf zu setzen. »Sehen Sie,« sprach er mit sehr großer Selbstzufriedenheit, »so trage ich in diesem Stock gleichsam ein kleines Haus mit mir, das mir selbst auf den höchsten Bergen Schutz gegen die Witterung und einen bequemen Ruhesitz gewährt. Das Futteral, welches Schirm und Sessel beherbergt, dient mir obendrein nicht nur zum Wanderstab, sondern auch zum Fernrohr, wenn ich die dazu gehörigen Gläser hineinschraube, und ich denke nur noch auf eine Vorrichtung, um diesen Stuhl zu einem vollständigen Fauteuil zu vervollkommnen.«

[305] Der Regen hörte endlich auf und der wunderliche Fremde erbot sich auf die gutmüthigste Weise, Adelberten auf dem Wege nach Karlsbad zum Führer zu dienen. Dabei bedauerte er nur, daß diesem nicht das gelähmte Bein bis an das Knie abgenommen sey, ohnerachtet ihm Adelbert wiederholt versicherte, daß er hoffe, nicht zeitlebens lahm zu bleiben. »N' importe,« sprach der Fremde, »ich könnte Ihnen ein ganz vortreffliches hölzernes Bein verschaffen, Sie sollten damit gehen, reiten, sogar tanzen können, il n' y a rien de plus beau et de plus commode au monde, indessen kommen Sie nur, ich will Sie gewiß nicht fallen lassen.« Adelbert dankte ihm lächelnd, und äußerte zugleich die Besorgniß, daß seine Begleiterin in ihren seidnen Schuhen wohl schwerlich würde den Weg zu Fuß machen können. »Ah Cospetto di bacco!« rief der Fremde, »warum habe ich nicht ein einzigs Paar der Pattens der Dutchess of Devonshire bei mir! Auf diesen zierlichen Kothurnen könnte das Fräulein gerade durch einen Bach gehen, ohne naß zu werden; sie sind die allervortrefflichste Erfindung« –[306] »Ich erkenne höchst dankbar Ihre Güte, mit der Sie wünschen mir helfen zu können,« unterbrach ihn Gabriele. »Da es indessen auf diese Weise nicht möglich ist, so wage ich es, Sie zu bitten, die Meinigen bald möglichst zu beruhigen, die gewiß um mich in der größten Besorgniß sind. Haben Sie die Gefälligkeit, Frau von Willnangen im steinernen Hause auf der Wiese aufzusuchen, und ihr zu sagen, daß Gabriele von Aarheim« –

»Aarheim? Sie sind ein Fräulein von Aarheim? Aarheim? von Schloß Aarheim?« rief im größten Entzücken der Fremde, »mais permettez que je vous embrasse, mon aimable petite Cousine, ich bin Ihr Vetter, Ihr nächster Verwandter, Moritz von Aarheim, Ihr Vater und ich sind Cousins à la mode de Bretagne. Ihr Aelter-Vater war der Bruder meines Großvaters. Haben Sie denn nie von mir sprechen gehört?«

»Mein Vater lebt so fern von der Welt,« stotterte Gabriele etwas erschrocken. »Es ist wahr, das thut er,« erwiederte Moritz von Aarheim, »ich habe ihm einmal vor vielen langen Jahren [307] geschrieben, er hat mich aber keiner Antwort gewürdigt. Mais je ne lui porte pas rancune, seine Tochter ist die Krone unsers alten Geschlechts, and I forgive him. Ich will ihn besuchen, den alten Herrn, ich habe mich schon nach ihm erkundigt, ich höre, er beschäftigt sich mit alchymistischen Untersuchungen der Färbestoffe. Ich habe die göttlichsten Vorschriften zum Färben aus England mitgebracht, auch aus der Türkei habe ich deren mir zu verschaffen gewußt, er soll sie alle haben, er hat zwar auf meinen Brief nicht geantwortet, but I do not care for it, er soll sie doch haben.«

So schwatzte Moritz von Aarheim noch lange fort, und legte dabei seine Freude über Gabrielen in fast allen lebendigen Sprachen an den Tag, bis ihm plötzlich der Nachtheil einfiel, der aus diesem langen Verweilen in der feuchten Luft für Gabrielens Gesundheit entstehen konnte. So schnell als möglich eilte er nun fort, auch währte es nicht lange, bis der General Lichtenfels und Ernesto mit einer Sänfte für Gabrielen im Tempel [308] anlangten, um das dorthin vom Sturm verschlagne Paar heim zu geleiten.


Gabriele fand bei ihrer Nachhausekunft den neuen Vetter so eingewohnt, als wäre er Zeit seines Lebens der vertrauteste Freund der Frau von Willnangen gewesen. Alle Tische und Stühle in ihrem Zimmer waren mit kleinen Modellen und Zeichnungen von neuen Erfindungen belastet, deren Erklärung und Nutzen er dem ältern Herrn von Wallburg auf das eifrigste zu demonstriren suchte. Die Damen und Leo hielten sich dabei in einiger Entfernung, um nicht an dem Streite Theil zu nehmen, der sich zwischen jenen beiden schon entsponnen hatte, denn Herr von Wallburg war der abgesagteste Feind aller Neuerungen. Gabrielens Erscheinung machte indessen dem Zwist ein Ende. Moritz von Aarheim ließ alles im Stich, um seiner neugefundenen Kusine unter einem halben Dutzend Fläschchen mit Präservativen [309] gegen Erkältung die Auswahl anzubieten, und suchte auf alle Weise sie zu bewegen, wenigstens aus einem derselben ein paar Tropfen zu nehmen. Sein zudringliches Bitten hatte zwar etwas ungemein Lästiges, so wie im Grunde auch sein ganzes übriges Betragen, aber es lag auch wieder etwas so ausgezeichnet Gutmüthiges selbst in dieser Zudringlichkeit, daß es Gabrielen wirklich schwer ward, ihm seinen Wunsch nicht zu gewähren.

Mehr aber als alles übrige war ihr der vertrauliche Ton unangenehm, zu welchem er als ein naher Verwandter gegen sie berechtigt zu seyn glaubte, und es ward ihr beinah unmöglich, sich daran zu gewöhnen, noch unmöglicher, ihn zu erwiedern. Nie zuvor war es ihr eingefallen, daß sie, außer der Gräfin Rosenberg und Aurelien, noch Blutsverwandte in der Welt haben könne, nie hatte sie solche nennen hören, und nun kam gerade eine der lächerlichsten Erscheinungen und wollte Familienverbindungen geltend machen, welche sie kaum im Stande war zu begreifen.

Den durchnäßten Schweizeranzug hatte Herr [310] von Aarheim zwar abgelegt, und alles, was er jetzt trug, war wirklich so neu und elegant als möglich, aber er sah deshalb nicht minder abenteuerlich aus. Seine Kleidung war wie seine Sprache, allen Nationen abgeborgt; kein Stück seines Anzugs paßte zu den übrigen, alle aber verdankten der aller neuesten und dabei barocksten Erfindung ihren Ursprung. Auch seine Bewegungen hatten etwas unstätes, das mit seinen grauen Haaren und seiner ganzen Gestalt auf eine widerliche Weise kontrastirte. Uebrigens waren die Züge seines Gesichts nicht unangenehm und wurden zuweilen durch einen gewissen Ausdruck von treuherzigem Wohlwollen sogar recht leidlich. Da er im Gespräch immer von einem Gegenstand zu dem andern überging, ohne sich und andern zum gehörigen Auffassen eines einzigen Zeit zu lassen, so war sein Umgang höchst ermüdend, und der ganze Kreis wäre seiner gewiß sehr überdrüssig geworden, wenn er längere Zeit in Karlsbad verweilt hätte. Aber er eilte schon am dritten Tage zum kunstliebenden Scharfrichter nach Eger, den er durchaus sprechen zu müssen [311] behauptete, obgleich er sich augenscheinlich höchst ungern so schnell von Gabrielen trennen mochte. Er verließ sie mit der Erklärung, daß er sie auf Schloß Aarheim wieder zu sehen gedenke, und wollte sich durchaus nicht daran kehren, daß ihr Vater keinen Besuch annähme. Er war auf jeden Fall überzeugt, daß er ihm mit den englischen und türkischen Farbengeheimnissen willkommen wäre, wenn jener auch ihre nahe Verwandtschaft bei der Annahme seines Besuchs nicht in Betracht ziehen wollte. Uebrigens hielt ihn ein innres Zartgefühl ab, Gabrielen zu gestehen, daß er des Freiherrn nächster Agnat und der künftige Besitzer von Schloß Aarheim sey, der als solcher doch einigermaaßen sich berechtigt glauben konnte, bei seinem Verwandten, den er nie beleidigt hatte, vorgelassen zu werden.


Ganz nahe den die Gesellschafts-Säle von Karlsbad umgebenden Alleen steht eine der Madonna [312] geweihte kleine Kapelle zwischen hohen Bäumen und dichtem Gebüsch. Die Mädchen und Frauen der Umgegend schmücken das in ihr wohnende freundliche Muttergottesbild mit dem Schönsten, was sie nur aufzubringen wissen. Nie mangelt es ihm an strahlenden Flittern, an schönen Bändern und Perlen. Frische Blumensträuße duften jeden Morgen auf dem kleinen Altar, so lange die Jahreszeit dieß vergönnt, und an jedem Abend werden helle Kerzen vor dem Bilde angezündet, von denen oft ein funkelnder Strahl durch das dichte Laub bis mitten in die fröhlichen Kreise der vornehmen Welt den Weg findet, und auch da manches stille fromme Herz mit heiliger Sehnsucht erfüllt. Sobald der Abend hereinbricht, bevölkert sich der kleine Betstuhl vor dem Bilde mit Andächtigen; größtentheils sind es Weiber und Mädchen aus den umliegenden Dörfern, die von der Arbeit kommen und zuvor an dieser heiligen Stätte ihr Abendgebet verrichten, ehe sie heimkehren.

Auch Gabriele weilte oft und gern bei der kleinen Kapelle. Wenn frühere Schmerzen sich [313] wieder regten, wenn Ergebung, Hoffnung und die schwer errungne Ruhe des Gemüths im Geräusch ihr fremder werden wollten, dann flüchtete sie sich hierher und kehrte nach kurzem Verweilen immer mit einer Brust voll Frieden zu ihren Umgebungen zurück. Die unerwartete Ankunft ihres Vetters, die unruhige Bewegung, in welche alles um sie her während der Zeit seines Dableibens gerieth, und nun zuletzt noch sein sehr tumultuarischer Abschied und seine Abreise machten ihr am Abende nach letzterer eine einsame Stunde höchst wünschenswerth. Ohnehin waren dießmal die Stunden nach Sonnenuntergang zu der jüngsthin verabredeten allgemeinen Versammlung in einem der Säle bestimmt, und Gabriele wußte wohl, daß sie alle ihre Freunde beunruhigen und betrüben würde, wenn sie nicht dabei erschien. Daher flüchtete sie sich eben, als die Sonne hinter die Felsen zu sinken begann, zu dem Ort, an welchem sie schon oft Trost und Beruhigung fand, um sich für das Geräusch der nächsten Stunden in ruhiger Stille zu erholen, zu stärken und zu sammeln. Sie traf nur eine einzige, auf ihren [314] Knien in tiefer Andacht hingesunkene Beterin in der Kapelle, und schlich sich leise an die andre äußre Ecke des Betstuhls, um durch ihre Gegenwart so wenig als möglich störend zu werden.

Lange hatte sie sich nicht so durchaus beklommen, so recht innerlich betrübt gefühlt als heute. Durch Adelberts Erzählung seines unwürdigen trüben Geschicks war nicht nur ihr wärmstes Mitgefühl in Anspruch genommen worden, es hatte solche auch alle ihre eignen Schmerzen und Sorgen wieder angeregt. Ottokars Bild stand seitdem lebendiger als je wieder vor ihrem Geist, begleitet von einer düstern bangen Ahnung, die ihr weder Rast noch Ruhe ließ, und sie um so mehr beängstigte, je undeutlicher und verworrner die Vorstellungen waren, durch welche ihr aufgeregtes Gemüth sich mit Grausen erfüllte.

In der Kapelle ward ihr indessen bald ruhiger zu Muthe. Die Stille des Orts, die Abendsonne, welche zwischen dem hohen Gezweige der ihn umgebenden Bäume hindurch ihre goldnen Lichter auf das Marienbild streute, stimmten sie zu süßer seliger Wehmuth. Bald erleichterten Thränen [315] ihr gepreßtes Herz, sie weinte recht herzlich, ohne doch eigentlich zu wissen, wem ihre Thränen flossen; aber sie fühlte, daß sie ihr unendlich wohl thaten.

»Gelobt sey Jesus Christus!« Mit dieser in Karlsbad gewöhnlichen Begrüßung hörte sie sich plötzlich von der Frau angeredet, die vorhin in der Kapelle gebetet hatte und jetzt dicht neben ihr stand. »In Ewigkeit!« erwiederte Gabriele und stand auf, um sie an sich vorbei gehen zu lassen; aber die Frau ging nicht, sondern begrüßte Gabrielen nochmals mit dem zweiten, in Karlsbad üblichen Gruß: »Gott schenk Euer Gnaden die Gesundheit!«

»Ich danke euch, gute Frau!« sprach Gabriele, und blickte etwas verwundert auf. Ihr Auge traf in das fromme, stille, halb erloschne Auge eines uralten, ärmlich, aber höchst reinlich gekleideten Mütterchens mit schneeweißen, glatt gekämmten Haaren, das mit unaussprechlicher Freundlichkeit sie betrachtete. »Ihr habt recht andächtig gebetet, fromme alte Mutter! euch muß Gott erhören; gedenkt auch meiner künftig in [316] eurem Gebete!« mit diesen Worten reichte Gabriele der Alten eine Gabe.

»Das will ich,« antwortete die Frau in einer diesen Gegenden fremden Mundart, »recht herzlich will ich für Sie beten, aber nicht um ihres Geschenks willen. Doch nehme ich es gern, Sie sind reich und gut, und ich will meinen Urenkelchen eine Freude damit ma chen.«

»Für diese Urenkelchen habt ihr auch wohl hier gebetet?« fragte Gabriele.

»Alle Tage bete ich für sie und segne sie,« war die Antwort; »aber nicht hier, hier bete ich weder für mich noch die Meinen, nur für Einen, den ich nicht einmal zu nennen weiß. Aber Gott kennt ihn und hat den Nahmen in sein Buch geschrieben; Er weiß, wen ich in meiner Einfalt meine, und wird mich wohl erhören. Liebes gnädiges Fräulein!« fuhr die Alte fort, indem sie sich neben Gabrielen setzte, »halten Sie mirs zu gut. Als ich Sie vorhin so jung, so schön, so vornehm und so reich und doch so herzlich betrübt weinen sah, da konnte ich nicht anders, ich mußte mich zu Ihnen stellen und mit Ihnen zu reden [317] suchen. Glauben Sie mir nur, Gott wird seinen Engel senden, Sie zu trösten, wenn es Zeit ist, bleiben Sie nur in der Geduld und in der Hoffnung. Hat er ihn doch auch mir gesendet, als meine Margarethe gestorben war und ich deshalb zu meinem Sohn nach Böhmen wandern mußte. Da blieb ich in einem wild fremden Lande, von aller Welt verlassen, in Todesnöthen auf freiem Felde liegen, rings um war es Nacht und kalt, ich konnte die Lippen nicht mehr regen und betete nur noch innerlich: »Vater unser, der du bist im Himmel,« und er hörte mich doch und sandte den Retter.«

Freudiges Schrecken durchrieselte Gabrielen bei diesen Worten; sie fragte, die Frau antwortete, und bald fand es sich, daß es so sey, wie sie es geahnt hatte. Es war die nehmliche alte Mutter, welche Ottokar vor ungefähr Jahresfrist vom Verschmachten gerettet hatte. Mit heißen Freuden-Thränen fiel Gabriele ihr um den Hals.

»Er ist Ihnen wohl nahe verwandt?« fragte die Frau.

»Ja wohl verwandt! nahe verwandt!« erwiederte[318] Gabriele,« die nassen Augen gen Himmel gerichtet.

»Das hätte ich gleich sehen können, daß Sie Schwester und Bruder sind, Sie sind beide so gut und so schön. Sagen Sie Ihrem Bruder doch, wenn Sie ihn sehen, wie seine Wohlthat mir Segen gebracht hat, ich denke, es muß ihn freuen, wenn er es hört. Ueberall fand ich weiterhin gute Seelen, die sich einer armen alten Mutter annahmen, und so habe ich von seinem Gelde so viel erübrigt, daß ich meinem Aloys eine Kuh kaufen konnte. Und nun lebe ich bei ihm und meinen Enkeln und Urenkeln dort unten im Dorfe. Aber alle Abende steige ich hier herauf, sobald es Vesperzeit wird, im Winter und Sommer, im Regen, im Schnee, im Sonnenschein, nichts hält mich ab, denn ich habe ein Gelübde gethan und das will ich halten, so lange Gott mir die Kräfte verleiht. Hier bete ich immer einen Rosenkranz für meinen Erretter und empfehle ihn dem Schutz aller lieben Heiligen, besonders der heiligen Jungfrau, denn so habe ich es gelobt. Lieber Gott, denke ich, er ist zwar [319] ein Engel an Güte, aber doch ein junger, reicher, vornehmer Herr. Da kann es wohl geschehen, daß solch ein junges Blut mitten im Vergnügen einmal das Beten vergißt, und mein einfältiges Gebet kommt doch aus treuem Herzen, das muß ihm frommen, wo er auch seyn mag.«

»Wo er auch seyn mag! wo er auch seyn mag! O gute Mutter, vergiß ja nie dein Gelübde und gedenke auch meiner, wenn du für ihn den Himmel anrufst!« Mit diesen, in hoher Bewegung ausgesprochnen Worten drückte Gabriele der Alten ihr Taschenbuch mit Bankzetteln in die Hand und eilte mit verhülltem Gesicht ihrer Wohnung zu.

Jetzt war es ihr unmöglich geworden, noch heute den Abendzirkel zu besuchen, und Frau von Willnangen, der sie mit wenigen Worten das Vorgefallne mittheilte, war auch sehr bereit, sie zu entschuldigen. Allein in ihrem Zimmer gab sie sich ganz den Erinnerungen hin, welche der Anblick jener Frau aufs neue belebt hatte. Jede in Ottokar's Nähe verlebte Stunde ging in ihrem Geiste vorüber, vor allen die erste, in der sie ihn sah, ohne [320] ihn nennen zu können, und dann die letzte entscheidende.

Die Sonne war untergegangen, tiefe Dämmerung, gemildert durch das Licht des eben aufsteigenden Mondes, erfüllte das Zimmer; noch immer saß Gabriele sinnend und im Aeußern regungslos da, obgleich sie innerlich bei jedem auch noch so leisem Geräusch zusammenzuckte, denn ihr war als dürfe sie jetzt auch ihn erwarten, ja als müsse Ottokar in der nächsten Sekunde hereintreten, so sehr hatte die Erscheinung der Alten ihr die Vergangenheit zur Gegenwart gemacht. Annette, die schon lange aus dem Nebenzimmer jede Bewegung ihrer jungen Herrin beobachtet hatte, wagte es endlich, sich ihr zu nahen; mit bittender Geberde legte sie ihr die Harfe in den Arm und kniete dann neben ihr hin.

»Gutes Kind! dein Herz sagt dir, was mir frommt,« sprach Gabriele, indem sie liebkosend ihre Locken berührte. Dann stimmte sie die Harfe und sang ein Lied, welches Allwill ihr einst auf ihre Veranlassung gedichtet hatte.


[321]
Sie sieht mich nicht!
Ich sehe ewig Sie,
Und wenn auch meine Augen einst erblinden,
Mein Geist wird dieses theure Bild doch finden,
Auch wenn ich dahin flieh,
Wo ausglimmt alles Licht.
Sie hört mich nicht!
Ich höre ewig Sie!
Von süßen Lippen flossen Geister-Worte,
Die mich ergriffen, leise Mollakkorde;
Der Ton erstirbt mir nie,
Wenn auch kein Laut mehr spricht.
Beklagt mich nicht,
Daß ferne, ferne Sie;
Bin ich nicht glücklich, ewig Sie zu lieben?
Mein war Sie, mein für immer ist geblieben,
Was Leben mir verlieh
Und auch der Tod nicht bricht.

Da öffnete sich leise die Thüre, und eine im Dunkel kaum erkennbare weibliche Gestalt trat herein, ein paar Schritte brachten sie näher. »Erschrick nicht vor mir, meine Gabriele,« sprach eine liebe bekannte Stimme, ein paar Arme breiteten sich aus, und Gabriele sank mit einem freudigen Schrei an das treue Herz ihrer Dalling.

[322] »Kehrt denn alles, alles heute wieder, was früher mich beglückte? auch du, auch du?« rief sie im frohen Taumel des Wiedersehens, während Frau Dalling mit Erstaunen die unglaubliche Veränderung bemerkte, die in der kurzen Zeit mit Gabrielen vorgegangen war. Statt des kaum der Kindheit entwachsenen, bleichen Mädchens, welches sie verlassen hatte, fand sie jetzt Augustens, ihrer Mutter, verklärtes, verschönertes Bild in der Pracht eben erblühender Jungfräulichkeit und wußte kaum, wie sie es anfangen solle, um Gabrielen mit aller der mütterlichen Liebe zu umfangen, die sie im Busen trug, ohne doch die Ehrfurcht zu verletzen, welche diese hohe, schöne Erscheinung von ihr zu fordern berechtigt schien.


Während die beiden wieder Vereinten im ersten freudigen Taumel ein fast unverständliches Gespräch mit einander führten und Fragen und Antworten auf die wunderlichste Weise durch einander [323] wirrten, kehrten auch Ernesto, Frau v. Willnangen und Auguste aus der Gesellschaft wieder nach Hause.

Niemand hatte an diesem Abende sonderliche Freuden gefunden. Was der General vorher gesagt hatte, war zum Theil eingetroffen, überall hatte es an jemanden gefehlt, der es übernehmen wollte, durch innern Zusammenhang diese Versammlung zu einer Gesellschaft zu bilden. Einige der Anwesenden waren in stummer Unbehülflichkeit neben einander stehen geblieben, andre hatten sich mit ihren Bekannten flüsternd berathen, was denn eigentlich hier vorgehen solle, nur wenigen war der feinere geselligere Zweck dieser Zusammenkunft klar geworden, und diese wenigen hatten sich sogleich dem eigentlichen Kreise der Frau von Willnangen anzuschließen gesucht, ohne sich um die weiter zu bekümmern, welche sich in verlegner oder stolzer Entfernung hielten. Ungeduld trieb endlich den Kapellmeister an das verstimmte Fortepiano, Allwill brachte in der Noth gesellige Spiele in Vorschlag, zuletzt wurden glücklicherweise die Musikanten von der ungewohnten [324] Erleuchtung herbeigezogen und spielten ein paar Walzer auf, mit denen die geselligen Freuden dieses Abends sich endigten.

Jubelnd und fröhlich, wie ein Kind, führte Gabriele die sorgsame, treue Pflegerin ihrer ersten Jugend ihren Freunden zu, und war nun doppelt froh, bei jenem verunglückten Versuche zur Beförderung der Geselligkeit nicht gegenwärtig gewesen zu seyn.

Ein Unglück weissagendes Gefühl ergriff Frau von Willnangen, als sie Frau Dalling erblickte, aber sie schwieg davon, denn sie sah deutlich, wie es Gabrielen noch gar nicht eingefallen war, daß diese ihr so liebe Erscheinung ihr dennoch unheilbringend seyn könne. Auch Frau Dalling schien über das Wiedersehen ihres theuren Kindes den eigentlichen Zweck ihrer Sendung ganz vergessen zu haben. Sie konnte kein Auge von Gabrielen wenden. In der einen Minute schalt sie sich, daß sie die zu ihrer Gebieterin herangewachsene Jungfrau noch immer wie ein Kind behandle, in der nächsten nahm sie sie wieder liebkosend an ihr Herz und nannte sie mit allen den tändelnden [325] Namen, die sie ihr sonst gegeben hatte, als sie sie noch auf ihren Armen trug. So verging die übrige Abendzeit. Frau Dalling ward späterhin sichtbar ernst, wie jemand, dem etwas trauriges, das er vergaß, plötzlich wieder einfällt; aber ein bittender Wink der Frau von Willnangen bestimmte sie, ihren Liebling noch diese Nacht dem ungestörten Schlummer zu überlassen, dessen Gabriele nach den mannigfaltigen Begegnissen des Tages augenscheinlich höchst bedürftig war. Erst nachdem diese mit Augusten das Zimmer verlassen hatte, um sich zur Ruhe zu begeben, kam der eigentliche Zweck zur Sprache, welcher Frau Dalling nach Karlsbad geführt hatte. Frau v. Willnangen hatte in ihren Vermuthungen nicht geirrt, sie kam, um Gabrielen auf das schleunigste zu ihrem Vater zu geleiten, der ohne eigentlich gefährlich krank zu seyn, doch höchst ängstlich nach seiner Tochter verlangte.


[326] Kurze Zeit vor der Ankunft der Frau Dalling in Karlsbad saß der Baron Aarheim um Mitternacht ganz allein in seinem Laboratorium, so wie er es seit vielen Jahren gewohnt war. Sein starrer Blick ruhte bald auf den Retorten, Gläsern und Tiegeln, welche im Ofen am Feuer standen, bald auf mago-kabbalistischen Figuren, die er an der Wand gezeichnet hatte, und aus denen er den Stand der Sterne, und ob es an der Zeit sey, ersehen zu können glaubte. Alles sagte ihm, es sey an der Zeit, die Stunde der Vollendung sey gekommen, und ein leises Flüstern und Knistern um ihn her bestärkte ihn in diesem Glauben, während es sein zitterndes Erwarten fast bis zur Bewußtlosigkeit steigerte.

Nur nichts vergessen! nur nichts vergessen! mußte er immerfort innerlich mit wahrer Todesangst wiederholen, während er mit bebenden Lippen unverständliche Formeln stammelte, durch welche er die Elementar-Geister zu bändigen oder zu gewinnen gedachte. Unverwandt blickte er jetzt die Gluth im Ofen an, die Flammen regten sich lustig, er sah wunderliche Gestalten in ihnen spielen. [327] Langbärtige Menschengesichter nickten ihm aus dem Feuer zu und verzogen sich dann grinsend zur gräßlichsten Unform, bis sie in Dampf sich auflösten; glänzend geringelte, blaue und grüne Schlangen wanden sich hoch empor und reckten die langen, feuerrothen, dreigespitzten Zungen nach allen Seiten aus, immer höher und höher. Aber über alles sah er ein einziges, riesig großes Greisenhaupt sich erheben, mit einem langen, schneeweißen Bart und einer wie Rubin glühenden Krone. So wie der Baron diese Gestalt gewahrte, ward es ihm unmöglich, den Blick von ihr abzuwenden; sein Haar sträubte sich in der Angst, mit welcher er sich bemühte, an alles, für diese Stunde in seinen Büchern Vorgeschriebne sich zu erinnern, während es ihm immerfort warnend in die Ohren dröhnte: Nur nichts vergessen! nur nichts vergessen! Das Riesenhaupt dehnte sich über den Herd des Ofens hinaus, er sah es, wie ihn begrüßend, sich neigen, er sah ganz in der Nähe das gräßliche Durcheinanderflimmern aller Züge desselben, und nun folgte dem Haupte die ganze Gestalt. Der weite, wie aus Feuernebel [328] gewobene Mantel, welcher sie in große bauschende Falten verhüllte, quoll weit über den Herd hinaus und begann allmählig sich im ganzen Gemache zu verbreiten. Der Baron raffte sich mit aller Kraft zusammen, um das Grausen zu überwinden, was ihn ergriffen hatte, und ward wirklich wieder auf einen Augenblick Meister seiner Gedanken. Er warf einen Blick auf den Herd und gewahrte, daß die Flamme dort zu mächtig lodre, er wollte sie dämpfen, aber er vermochte nicht, dieß allein zu vollbringen. Jetzt breitete sich das Feuernebel-Gewand des riesenhaften Greises immer weiter aus, der Baron glaubte, ihn immer zürnender auf sich blicken zu sehen, es war, als ob er ihn in die Falten seines Mantels einwickeln und ersticken wolle; er versuchte, sich davon loszuwinden, aber der unkörperliche Stoff ließ sich mit Händen nicht erfassen, obgleich er schwer auf ihn drückte.

In der höchsten Noth sucht der Mensch immer den Menschen, auch ohne Hoffnung auf Hülfe, und diese hatte der Baron doch noch nicht aufgegeben. Entschlossen riß er die ins Vorgemach [329] führende Thüre auf. »Franz!« rief er mit donnernder Stimme, »Franz!« so hieß der alte Bediente, der einzige, welcher mit ihm diesen Flügel des Schlosses bewohnte und zuweilen bei seinen Arbeiten ihm Handreichung leistete. Keine Antwort erfolgte. Der Baron durchschritt mit festem Tritte das Zimmer. Als er an der andern Thüre desselben stand, blickte er sich um und sah mit Entsetzen das feuerrothe Gewand des Greises ihm durch die Thüre des Laboratoriums nachquellen. Pfeilschnell stürzte er durch das zweite Zimmer. Ein Blick rückwärts verrieth ihm abermals, daß das Gräßliche ihm immer langsam nachfolge. Er floh in das dritte Zimmer; dort lag Franz auf einem Ruhebette, der Baron erfaßte ihn, wollte ihn wach schütteln; umsonst! der siebenzigjährige treue Diener lag starr und kalt, ob durch einen Schlagfluß plötzlich entseelt? ob nur ohnmächtig oder in tiefem Schlaf begraben? der Baron hatte nicht Zeit, dieses zu untersuchen. Ein furchtbarer Knall schien den Felsen, auf welchem Schloß Aarheim steht, bis in den Grund zu spalten, die alten Mauern erbebten, als stürzten sie zusammen. Der Baron [330] sah das Feuergewand mit Macht hervorquellen, die blauen und grünen Schlangen waren riesengroß geworden und wanden sich dazwischen hin und streckten die feuerrothen Zungen nach ihm, als wollten sie ihn durchbohren. Da öffnete er im wahnsinnigen Entsetzen auch die äußre Thür, floh auf Flügeln der Angst pfeilschnell hinab in den Hof, und sah nun den ganzen Theil des Gebäudes, den er bewohnt hatte, rettungslos flammend gen Himmel lodern.

Des Barons erste Bewegung war ein Versuch, in wilder Verzweiflung das eigne Leben auf diesem Scheiterhaufen seines Glücks und seiner Hoffnungen zu opfern, aber er fühlte sich von starken Händen gehalten. Alle Einwohner des Schlosses waren von der heftigen Explosion im nehmlichen Augenblick erweckt worden, und hatten sogleich im ersten Schreck sich in den Hof geflüchtet. Diese seine Diener, von welchen viele ihren Herrn in diesem Moment zum erstenmal erblickten, verhinderten ihn jetzt, den gräßlichen Tod in den Flammen zu suchen, welchen der alte [331] Franz vielleicht im nehmlichen Moment, hoffentlich bewußtlos, starb.

Regungslos und ohne alle Besinnung stand nun der Baron, anscheinend ruhig, und blickte wieder in die zischenden, prasselnden Flammen. Im Rauch, im Feuerdampf sah er noch immer das weite erglühende Gewand des Greises und hoch über sich dessen drohendes Haupt; der weiße, nebelgleiche Bart wehte, wie der Schweif eines Kometen, weit hin durch die Nacht, im Sturmwinde, den die Flammen erregten. An Rettung des brennenden Flügels war nicht zu denken; es war, als ob er an allen Ecken zugleich sich entzündet habe, er sank in weniger als einer Stunde in sich selbst zusammen; nur die aus Felsen für eine Ewigkeit aufgethürmten Außenmauern widerstanden, alles Innere verzehrte die wüthende Feuersbrunst. Nichts blieb von allem, worauf der Baron Schwindel erregende Hoffnungen erbaut hatte, und auch die Gebeine des armen alten Franz verglühten mit im allgemeinen Untergang, und seine Asche fand ihr Grab in den Trümmern.

[332] Mit Anstrengung aller ihrer Kräfte gelang es den Bedienten und den Bewohnern des Dorfs, das Hauptgebäude des Schlosses vom Untergange zu retten, aber der Baron schien ihr Bemühen und ihre Anstalten gar nicht zu bemerken. Ganz still stand er und sah in das Feuer, bis der letzte Balken einstürzte und alles Zerstörbare vernichtet war. Dann wandte er sich und ging mit feierlichem Schritt, begleitet von seinen vornehmsten Dienern, die große Treppe im Mittelgebäude hinauf, in das ehemalige Zimmer seiner Gemahlin, das er seit dem Tage ihres Todes nicht wieder betreten hatte. Dort setzte er sich an ein Fenster, der dampfenden Brandstätte gegenüber, und schlug nach kurzem Besinnen ein so furchtbar gellendes Gelächter auf, daß alle, die ihn umgaben, sich fast bis zum Wahnsinn davon erschüttert fühlten.

Dieser entsetzliche Zustand währte mehrere Stunden, kein Arzt war in der Nähe, der ihn zu mildern versuchen konnte. Das Gesicht des unglücklichen Greises verzerrte sich im furchtbarsten Krampfe, seine ermattete Brust hob sich immer gewaltsamer, während das herzzerreißende unaufhaltsame [333] Lachen immer forttönte, bis die erschöpfte Natur sich endlich seiner erbarmte und ihn nach und nach in ohnmächtiges Erstarren hinsinken ließ, das sich später in tiefen Schlaf auflöste.

Erst als am Abende dieses Tages die Sonne sank, erwachte der Baron, aber unglaublich verändert. Die ohnehin tiefen Züge seines Gesichts waren ganz eingesunken, keine Spur mehr von krampfhafter Anstrengung. Er war still und gelassen, jedermann durfte zu ihm kommen, aber er sprach mit niemanden. Ganz in sich gekehrt saß er da, aß und trank, was ihm gereicht ward, und eben nur genug, um das Leben zu fristen, forderte aber nichts. Die Thüre seines Zimmers blieb offen stehen, seine Bedienten, seine Bauern, Fremde, die des Wegs vorbei kamen, alles strömte, theils aus Neugier, theils aus Theilnahme, herbei, alles wanderte ungehindert bei ihm aus und ein, er aber achtete auf niemand, obgleich er auch niemand zurückscheuchte. Seine ganze Haltung war die des tiefsten Nachsinnens über einen höchst wichtigen Gegenstand. Endlich um Mitternacht [334] rief er Frau Dalling herbei und befahl ihr, in möglichster Eile nach Karlsbad zu reisen, um Gabrielen abzuholen und sie zu ihm zu führen. Nach diesem deutlich und bestimmt ausgesprochenen Befehl, versank er wieder in sein voriges Schweigen.


Frau Dalling konnte den theilnehmenden Freunden Gabrielens nur den heftigen Schreck über die unglückliche Feuersbrunst als die Ursache von des Barons traurigem Zustande angeben, aus welchem der Wunsch, Gabrielen zu sehen, natürlicherweise entspringen mußte. Denn von dessen lange gehegten und jetzt so furchtbar zertrümmerten Hoffnungen hatte sie noch immer keinen Begriff. Frau von Willnangen und Ernesto hingegen blickten tiefer. Aus dem, was sie von des Barons Aeußerungen und seinem entsetzlichen Anfall nach dem Brande hörten, durchschauerte sie die Ahnung eines Geheimnisses, das ihre Angst, Gabrielen in solchen Händen zu wissen, noch um vieles vermehrte. [335] Der Schmerz der Frau von Willnangen über die plötzliche Trennung von ihrem Lieblinge leidet keine Beschreibung; er überstieg alle Gränzen, wenn sie an das Schicksal dachte, welches die arme Gabriele im Schloß ihres Vaters erwartete, und dabei keine Möglichkeit sah, es zu mildern. Ihre gewohnte Fassung hatte sie gänzlich verlassen. »Was wird aus dem weichen, liebebedürfenden Gemüth in jener starren Umgebung werden!« rief sie mit Augen voll Thränen. »Welche Opfer wird der Mann, der das Herz ihrer Mutter mit kalter Hand zerdrücken konnte, nicht von diesem, seiner Willkür ganz preisgegebnen Geschöpf fordern, das wir schutz- und wehrlos ihm ausliefern müssen!«

»Das müssen wir nicht und werden es auch nicht,« erwiederte plötzlich nach einigem Sinnen Ernesto, »denn ich begleite Gabrielen. Das Schicksal und mein Herz haben mich einmal zu Gabrielens Vormund, zu ihrem Beschützer erkoren, ich will es bleiben, solange dieses nur irgend ausführbar ist, ich reise mit ihr.

Beide Frauen hörten mit hoher Freude diese [336] Erklärung Ernesto's, nur wagte Frau Dalling einige Zweifel wegen der Aufnahme, die Ernesto im Schloß Aarheim finden würde. »Vielleicht,« sprach sie, »hat sich der Baron während meiner Abwesenheit völlig erholt, und dann kehrt er gewiß zu seiner gewohnten Abgeschiedenheit von allen Menschen zurück.«

»Weiß ich es doch selbst nicht, ob ich mich werde Gabrielens Vater zeigen wollen oder nicht,« erwiederte Ernesto; »das mögen die Umstände bestimmen. Ich bleibe auf jedem Fall in ihrer Nähe, ihr Schutz, ihr Freund, ja ich kann sagen ihr eigentlicher Vater, wenn väterliche Liebe zu diesem Namen berechtigen kann. Sorgen Sie nur, daß Gabriele morgen früh ihre Bestimmung auf die schonendste Weise erfährt, und daß sie dann wo möglich in der nehmlichen Stunde abreisen kann. Verkürzen Sie ihr die bittern Stunden des Scheidens, ein langer Abschied ist eine lange Qual, die wir ihren Kräften nicht zumuthen dürfen, sie wird sie nöthiger brauchen.«

»Lassen Sie uns übrigens das beste hoffen,« sprach Ernesto zur Frau von Willnangen, sobald [337] er mit dieser allein war. »Nach dem, was ich von des Barons eigentlichem Geschick ahne, und nach dem, was Frau Dalling von der plötzlichen Veränderung in seinem ganzen Wesen erzählt, achte ich ihn seiner letzten Stunde sehr nahe, und leider ist der herbste Verlust für ein glückliches Kind, unsrer armen Gabriele der höchste Gewinn. Sie, die schon Mutterlose, kann nur glücklich werden, wenn sie auch vaterlos ist. Ich wiederhole es Ihnen, ich bleibe in Schloß Aarheims Nähe, und so wie eine günstige Veränderung in Gabrielens Lage eintritt, so wie sie der Fesseln entledigt ist, die jetzt sie drücken, nehme ich sie auf und bringe sie in Ihre schützenden Arme, an Ihr mütterliches Herz. Bis dahin wache ich über sie, ohne zu wanken oder zu weichen.«

»Haben Sie Dank, guter, edler Ernesto!« erwiederte Frau von Willnangen. »Sie wollen mir Trost geben, indem Sie mir die Aussicht für meine Gabriele zu erheitern suchen, aber mein ahnendes Herz will sich nicht zufrieden sprechen lassen. Sie auch künftig in Gabrielens Nähe zu wissen, ist freilich viel; es ist das Einzige, woran [338] ich in dieser trüben Stunde mich noch halte. Möge ein freundlich Geschick Ihr wohlmeinendes Streben begünstigen! Ich bete mit Inbrunst darum, aber ich fürchte, sie ist dennoch von nun an verloren, verloren uns und verloren sich selbst.«


Mit dem Gefühl, mit welchem ein halb Erwachter sich völlig von den Fesseln eines ängstigenden Traumes loszuwinden strebt, saß Gabriele schon am folgenden Vormittage im Wagen. Unverwandt haftete ihr Blick auf dem raschen Umschwunge der Räder, welche sie einer Bestimmung entgegen führten, von der sie noch vor wenigen Stunden keine Ahnung gehabt hatte. Keiner ihrer Begleiter unterbrach auch nur mit einem einzigen Worte die im Wagen herrschende Stille. Ernesto kannte zu gut das weiche aber auch starke Gemüth seiner Schülerin, um nicht überzeugt zu seyn, daß sie gewiß aus dem schweren Kampf zwischen ihrem Herzen und ihrem Pflichtgefühl [339] als Siegerin hervorgehen würde, wenn man sie nur ungestört sich selbst überließ. Frau Dalling schwieg, weil unaussprechliches Mitleid mit ihrem geliebten Kinde ihr die Sprache hemmte, und die arme Annette hatte genug mit ihrem eignen Schmerz zu thun; sie weinte ganz in der Stille über sich sowohl als über ihre Herrin.

Der Erfolg rechtfertigte Ernesto's Erwartungen von Gabrielen. Nach wenigen Stunden richtete sie sich rasch und muthig auf, wie schon oft in ähnlichen Fällen, und suchte von nun an ihre alte Freundin recht liebkosend und hold für das bisherige untheilnehmende Verhalten zu entschädigen. Aber der Geist der Freude blieb dennoch fern von der kleinen Reisegesellschaft. Bei aller gegenseitiger Freundlichkeit saß doch jedes Mitglied derselben trübe und in sich gekehrt da. Keines vermochte sich des Zieles der Reise zu freuen, während alle sich bestrebten, die eignen Besorgnisse den übrigen, so viel es nur möglich war, zu verhehlen.

So kam allmählig der letzte Tag der Reise heran. Der Wagen hielt zur Mittagszeit vor [340] einem Eisenhammer, der schon zu den Besitzungen des Baron Aarheims gehörte.

Das vom ewigen Rauch und Kohlendampf geschwärzte Gebäude steht in einem von öden Felsen eingeengten Thal, oder vielmehr in einer wilden Schlucht, durch deren Mitte ein schäumender Bach über moosbewachsne Steine hinrauscht. Wenn Mittags die Sonne von ihrem höchsten Standpunkt einige erwärmende Strahlen in diesen, einem Grabe ähnlichen Winkel der Erde herabsendet, dann werfen ein paar halb verdorrte Fichten ihren spärlichen Schatten auf die schwarzen Wellen und auf das moosbedeckte Ufer, die übrige Zeit des Tages liegt alles farbelos und erstorben da. Nichts belebt diese schauerliche Einöde, als das einförmige unaufhörliche Klopfen des Hammers, das Schwirren und Tosen der Räder. Wände und Fußboden der engen dunkeln Gemächer des zu dem Eisenhammer gehörenden Hauses dröhnen und zittern immerwährend. Gabriele und Ernesto eilten deshalb sobald als möglich hinaus ins Freie, um diesem ängstlichen Aufenthalt zu entgehen, Frau Dalling aber blieb zurück, [341] um sich bei den Bewohnern desselben nach dem gegenwärtigen Befinden des Barons zu erkundigen.

Gleich beim ersten Schritte außer dem Hause erinnerte sich Gabriele, in früher Kindheit einmal mit ihrer Mutter hier gewesen zu seyn. Am Bach stand noch die alte halb verfallne Bank, wo sie damals an ihrer Seite mit Epheukränzen gespielt hatte, und zum erstenmal auf dieser Reise bemächtigte sich ihrer ein heimathliches Gefühl. Mit wehmüthiger Freude ergriff sie Ernesto's Hand, führte ihn zu dem Plätzchen, welches die ehemalige Gegenwart der Mutter ihr zum Tempel geheiligt hatte, und setzte sich dort recht vertraulich neben ihn hin.

»Ich fürchte, guter Ernesto!« hob sie in großer Bewegung an, »ich fürchte, wir werden sobald nicht wieder eines so traulichen, ungestörten Beisammenseyns uns erfreuen können. Umsonst streben wir, es uns zu verbergen, wir müssen scheiden, heute oder morgen, gleichviel. Ich muß mich auch von Ihnen trennen, wie ich mich schon von meiner ewig theuern Willnangen, von meiner [342] geliebten Auguste, von – ach! von so Vielem trennen mußte, für das mein künftiges Leben mir nie Ersatz bieten kann. Vergebens suchten Sie es mir durch ihre Begleitung auf dieser traurigen Reise zu verbergen, wie ich so ganz verlassen von meinen Freunden künftig seyn werde. Aber ich danke es Ihnen doch, mit dem innigsten Gefühl, daß Sie es mir mitleidig verbergen wollten. Guter, sorgsamer Freund, treuer Beschützer meiner verwaisten Jugend, ich danke Ihnen, mehr kann ich nicht.«

»Wollen Sie mich denn fortschicken, liebe Gabriele?« fragte Ernesto mit etwas gezwungnem Lächeln. »Ich bin noch gar nicht gesonnen, so bald zu gehen. Meine Meinung war, noch recht lange in ihrer Nähe zu verweilen, oder Sie recht bald in Ihre eigentliche Heimath zu Frau von Willnangen zurück zu begleiten.«

»Guter Ernesto! was hülfe es, wenn ich Sie täuschte, und mir selbst Hoffnungen erregte, die doch nie in Erfüllung gehen können;« erwiederte Gabriele. »Ich weiß es, ich stehe hier an der Schwelle eines sehr dunkeln, sehr einförmigen, [343] und in den Augen der Welt sehr freudenlosen Lebens. Ich muß Sie darauf vorbereiten, ehe Sie die wenigen Stunden zwischen hier und Schloß Aarheim zurücklegen, daß kein Fremder, sogar kein Freund dort gastlich aufgenommen wird. Mein Vater flieht die Menschen, bittre Erfahrungen haben ihn sogar ihren Anblick hassen gelehrt.« –

»Ich weiß es,« unterbrach sie Ernesto, »und habe auch nie darauf gerechnet, von ihm freundlich empfangen zu werden! Dennoch bin ich entschlossen, Sie bis zu ihm zu begleiten. Mein Herz sehnt sich nach dem Orte, wo der Stern meiner Jugend unterging. Ich feiere dort ein theures Andenken und kehre gleich darauf in dieses Thal zurück. Ich denke im Försterhause, das dort in der Felsenecke so malerisch liegt, mich häuslich niederzulassen, und Frau Dalling bemüht sich diesen Augenblick, mit meinem künftigen Hausherrn die deshalb nöthigen Verabredungen zu treffen. Ich bleibe so recht sehr in ihrer Nähe, liebe Gabriele, denn wie ich höre, führt ein Fußsteig in weniger als einer Stunde von hier nach [344] Ihrer Burg, während wir auf dem Fahrwege wohl viermal so viel Zeit brauchen werden, wie das zwischen Bergen so oft der Fall ist.«

»Hier wollten Sie bleiben? Hier in dieser gräßlichen Wüste? Guter Gott, Ernesto! wie kann ich je eines solchen Opfers mich werth achten!« rief Gabriele.

»Wie leid ist es mir, daß ich diese bewundernden Ausrufungen nicht verdiene,« sprach Ernesto in seinem gewöhnlichen humoristischen Ton, »denn ich bin leider nicht halb so edelmüthig, als Sie es sich denken. Schon längst wünschte ich die mir oft gerühmte wilde Pracht dieses Gebirges kennen zu lernen. Ich will hier Studien für meinen Johannes in der Wüste nach der Natur malen, den ich, wie Sie wissen, schon längst im Sinne trage. Farben, Leinwand, alles habe ich mitgebracht, vielleicht fange ich morgen schon an, denn seit ich diese Felsengegend sah, bin ich überzeugt, daß ich in der Welt keine beßre Einöde für meinen Heiligen finden kann.«

»Sie sollen ihren edlen Willen haben, Ernesto! ich will thun, als merkte ich nicht, wie [345] Sie meinem Dank ausweichen wollen,« sprach Gabriele und neigte sich kindlich über Ernesto's Hand, die sie an ihr Herz drückte. »Aber,« fuhr sie fort, und sah mit ihren klaren Augen recht treuherzig zu ihm auf, »nehmen Sie auch die Beruhigung an, die ich mit aller Aufrichtigkeit Ihnen zu geben im Stande bin. Glauben Sie meiner Versicherung, daß ich auch die abgeschiedenste Einsamkeit, zu der mein Vater mich bestimmen kann, für kein Unglück halte. Vor Langerweile haben Sie und meine Mutter mich durch die Sorgfalt geschützt, mit der beide für meinen Unterricht sorgten; meinem Herzen bleibt Erinnerung und Liebe, die lassen niemand einsam. Ueber alles tröstend aber ist mir das Gefühl, daß ich hier auf dem einzigen Punkte stehe, auf welchen ich in der Welt hingehöre. Das einzige Kind eines greisen, kränkelnden Vaters darf ja keine andre Freude suchen und kennen, als ihn zu pflegen und die trüben Stunden seines Abends zu erheitern.«

»Mein Heldenmädchen!« rief Ernesto und strebte vergebens, die tiefe Rührung, von der er [346] sich ergriffen fühlte, unter heiterm Lächeln zu verbergen. »Ich weiß, Gabriele! was Sie zu tragen vermögen,« setzte er sehr ernst hinzu, »und darum fürchte ich so sehr die edle jugendliche Lust, die Sie verleiten kann, das Schwerste zu wählen, weil es das Schwerste ist. Wer weiß, zu welchen unerhörten Opfern man Sie in jener finstern Burg auffordern wird! Das in langer Einsamkeit, unter der Last eines freudenlosen Alters verhärtete Gemüth Ihres Vaters, wird es sich an Ihrem milden Wesen erwärmen? wird es sich daran nur erfreuen? Gabriele! eine mir selbst unerklärliche Angst verleitet mich in diesem Augenblick, es zu vergessen, daß ich zu der Tochter von ihrem Vater spreche, aber ich kann nicht anders, ich muß Sie bittend warnen. Hier auf dem kalten Boden, wo Ihre Mutter, einsam und verlassen, vor der Zeit hinwelken mußte, wird es hier ihrem zarten jugendlichen Ebenbilde, das sie uns hinterließ, besser ergehen?«

»Was fürchten Sie denn eigentlich für mich von meinem Vater? lieber Ernesto!« erwiederte Gabriele. Welches Opfer kann er denn von mir [347] fordern? doch keines, als das der geselligen Freuden und meiner Zeit, die ich ohnehin von nun an einzig ihm weihen muß; ich habe ja nichts anders, das ich ihm darbringen könnte. Beruhigen Sie sich. Das hohe Beispiel meiner Mutter leuchtet mir vor auf der Bahn, die ich betrete. Sie sagen: ich gleiche ihr. O lassen Sie mich in Allem ihr immer ähnlicher werden, selbst in ihrem Geschick, wenn es seyn muß, denn was kann ich Höheres wünschen, als zu seyn wie sie war.«

»Nun so segne dich Gott, du reines Wesen! und behüte dich vor gar zu großer Versuchung, dich selbst zu vergessen!« rief Ernesto, und drückte zum erstenmal Gabrielen an seine Brust. »Nur noch den einzigen Trost gewähren Sie mir, um den ich jetzt Sie bitte, und ich will ruhig seyn,« setzte er hinzu. »Versprechen Sie mir feierlich, ohne meinen Rath, ohne mein Mitwissen keinen Ihre Zukunft bestimmenden Schritt zu thun. Versprechen Sie es mir, Gabriele! wenn Sie wirklich glauben, daß ich irgend Dank um Sie verdiene; versprechen Sie es mir, ich muß, ich [348] muß dieses Versprechen von Ihnen erflehen, erzwingen, genug ich muß es erhalten.«

»Ich begreife Sie nicht, Ernesto! warlich ich glaube, diese dunkeln Umgebungen, diese schwarzen Felsen erfüllen ihre Einbildungskraft mit grauenvollen Bildern,« sprach freundlich Gabriele, indem sie ihre Rechte in Ernesto's dargebotne Hand legte. »Hier haben Sie mein feierliches Versprechen, wie Sie es wünschen. Es bedurfte dessen nicht, denn wie könnte ich ohne den Rath meines einzig treuen, erfahrnen Freundes irgend etwas wichtiges für mich entscheiden, sobald ich so glücklich bin, ihn in meiner Nähe zu wissen. Ich ehre und liebe meinen Vater, wie es die Pflicht dem Kinde gebeut, aber ich kenne ihn wenig; ich habe mich nie in meinem Leben vertrauend ihm genaht. Sein ernstes, Ehrfurcht und Gehorsam gebietendes Ansehen schreckte mich stets von ihm zurück, und dieser Eindruck ist bleibend. Aber deshalb rührt es mich eben so unbeschreiblich, daß er gerade jetzt, da ein Unheil ihn traf, sich meiner erinnert und meine Gegenwart verlangt. Wenn ich mir denke, daß er gestorben seyn [349] könnte, ohne mich wieder gesehen zu haben, dann, Ernesto! dann fühle ich erst lebendig das Glück, noch für ihn thätig seyn zu können, ich erkaufe es mit keinem Opfer zu theuer. Das Gefühl eines Kindes, welches nicht mit dem Bewußtseyn am Grabe der Eltern steht, nach Kräften alles für sie gethan zu haben, muß entsetzlich seyn.«

Schweigend reichte Ernesto ihr die Hand, um sich mit ihr dem Eisenhammer wieder zuzuwenden, wo schon alles zu ihrer Abfahrt bereit war.


Zu Gabrielens großer Verwunderung war der neu gefundne Vetter, Moritz von Aarheim, der Erste, der ihr in der dunkeln Vorhalle ihres väterlichen Schlosses entgegen kam. Er bewillkommte sie mit einem Wortschwall, der sich sogar beim babylonischen Thurmbau hätte füglich hören lassen können; auch Ernesto ward mit ungeheuchelter Freude von ihm empfangen, und überhaupt zeigte sein ganzes Benehmen, wie höchst erwünscht [350] ihm die endliche Ankunft der Erwarteten sey. Dennoch fiel es deshalb diesen nicht weniger auf, ihn hier, und zwar in der Eigenschaft eines gebietenden Herrn zu finden. Als solcher beeiferte er sich, Ernesto ein Zimmer anzuweisen und lud ihn dringend ein, doch ja recht lange zu verweilen. Besonders setzte er Frau Dalling, die ihn gar nicht kannte, in Erstaunen und in Verlegenheit.

Seine Gegenwart im Schlosse des Barons war indessen auf sehr gewöhnlichem Wege herbeigeführt worden. Nächst seiner Vorliebe für fremde Sprachen und neue Erfindungen, beschäftigte er sich sehr gern mit Nachforschungen über die ursprüngliche Bildung der Erde, und besaß in der That nicht gemeine geologische Kenntnisse. Er hatte sich längst vorgenommen, das Gebirge, in dessen Mitte Schloß Aarheim liegt, mit Hinsicht auf dieses sein Lieblingsfach zu bereisen, und wollte auch bei der Gelegenheit seinen Verwandten einen Besuch abstatten; das zufällige Zusammentreffen mit Gabrielen in Karlsbad bestimmte ihn, diesen Plan sogleich auszuführen. Nach einem [351] Aufenthalt von ;139;nur wenigen Stunden in Eger,;155; eilte er, sich in die Nähe von Schloß Aarheim zu begeben, und sein wissenschaftliches Forschen hatte ihn in nicht gar zu große Entfernung von der Burg seiner Ahnen geführt, als ihm die Kunde von dem Brande daselbst zu Ohren kam, und zwar durch das Gerücht bis ins Ungeheure vergrößert. Er mußte fürchten, dort keinen Stein mehr auf dem andern zu finden, es war also ganz natürlich, daß er so schnell als möglich sich hinbegab, theils um dem Baron beizustehen, theils um zu retten, was noch zu retten sey, und wenigstens raubbegierigen Händen das zu entreißen, was die Flammen übrig gelassen haben mochten.

Frau Dalling war schon auf dem Wege nach Karlsbad, als Moritz von Aarheim im Schlosse anlangte. Er fand die Zugbrücke heruntergelassen, das äußere Thor, so wie auch alle innre Thüren des Gebäudes, standen weit offen, und ein Schwall von Menschen drängte sich durch dieselben und auf den Treppen, hinaus und hinein, hinauf und hinab. Niemand schien den Neuangekommnen zu bemerken, er folgte dem Schwarm der Hineinströmenden [352] und gelangte so in das Zimmer des Barons.

Schweigend saß dort die hohe düstre Greisengestalt auf einem großen altvätrischen Lehnstuhl dicht am Fenster, den starren Blick auf die Brandstätte fest geheftet, kaum noch einem lebenden Wesen mehr ähnlich. Ein paar alte Diener, schweigend wie ihr Gebieter, schienen bei ihm Wache zu halten. Der Baron bemerkte Moritzens Eintritt eben so wenig, als er die Menge unverschämter Neugieriger zu bemerken schien, die unablässig bei ihm aus- und eingingen. Er saß immer gleich finster und gleich regungslos da, wie die alten grauen Standbilder auf den Gräbern seiner Ahnen.

Des Barons nächster Verwandter mußte bei diesem Anblick die Verbindlichkeit fühlen, hier thätig einzutreten. Sein erstes Thun war, sich dessen Dienern zu erkennen zu geben; mit ihrer Hülfe die fremden Zudringlichen auszutreiben, einen Boten nach einem geschickten Arzt in das nächste Städtchen zu senden, und dann die Thore zu schließen. Dieses vollbracht, begann er, sich [353] der Pflege und Wartung des Barons selbst eifrig anzunehmen, wobei seine Vorliebe für neue Erfindungen wieder eine glänzende Gelegenheit fand, sich zu zeigen. Diese, und seine den Bedienten beinahe ganz unverständliche Art sich auszudrücken, führten freilich manchen Mißgriff, manches lächerliche Mißverständniß herbei, doch die baldige Ankunft des Arztes verhinderte wenigstens jedes Unheil, welches hätte entstehen können.

Ruhe, Stille und stärkende Mittel verhalfen dem Baron in unglaublich kurzer Zeit zur völligen Besonnenheit. Verwundert erblickte er bei seinem Erwachen den ihm so lange ganz unbekannt gebliebenen Verwandten, und obendrein mit einer Art Autorität um ihn geschäftig, welche sich von selbst auf dessen früheres Nichtbemerktwerden gegründet hatte.

Der Baron fand in dem sonst so bitter Gehaßten jetzt den einzigen Menschen, welcher sich seiner angenommen hatte, während er unfähig war, sich selbst zu helfen. Alle seine übrigen Umgebungen waren ihm fast nicht minder fremd als dieser neue Ankömmling, denn seit Jahren [354] hatte er mit keinem von seinen Dienern gesprochen, ausgenommen mit Frau Dalling und Franz. Jene war abwesend, dieser todt. Moritz von Aarheim überhob ihn jeder Nothwendigkeit irgend eines Verkehrs mit andern Menschen, der Baron fühlte dieß als wohlthätig und bequem; gern, wenn gleich nicht dankbar, ließ er es sich schweigend gefallen, und sein Agnat behielt die Freiheit von ihm ungestört alles im Hause einstweilen nach eigner Ansicht zu ordnen. Nur als dieser, durch schweigende Nachsicht dreist gemacht, einst dem Baron einen Plan zum Wiederaufbau des zerstörten Flügels vorlegen wollte, da gerieth der Greis in eine furchtbare Aufwallung. Seine zürnenden Augen schienen Feuer zu sprühen, seine grauen Locken sich zu sträuben, seine ohnehin sehr hohe Gestalt dehnte sich zu fast übermenschlicher Größe, während er laut und mit donnernder Stimme in ganz unverständliche Flüche und Verwünschungen ausbrach. Halb todt vor Schrecken, vor Angst, packte Moritz seine Pläne zusammen, suchte den Baron durch das Versprechen zu beruhigen, diesen Punkt nie wieder zu berühren, [355] und tröstete sich im Stillen mit der sichern Aussicht, spätstens in wenigen Jahren hier bauen und einreißen zu können, ohne irgend jemand darum zuvor befragen zu müssen.

Während Moritz sogleich nach der Ankunft der Reisenden den armen Ernesto mit einem unerträglichen Wortschwall in dem ihm angewiesnen Zimmer peinigte, schlich die zitternde Gabriele am Arm ihrer Dalling bis an die Thüre des Gemachs, in welchem ihr Vater sich befand. Frau Dalling trat allein zu dem Baron herein, um vom Erfolg der Reise ihm Rechenschaft abzulegen und ihn auf Gabrielens Ankunft vorzubereiten, doch er ließ sie nicht zum Worte kommen. »Gabriele!« rief er mit gebietendem Ton, »Gabriele!« Bebend, mit ausgebreiteten Armen, überschritt diese auf den Ruf die Schwelle. Ein gräßlicher Schrei des Barons fesselte sie an der Stelle, auf welcher sie stand. »Du!« rief er, »du! was willst du von mir!« »Sie befahlen ja das Fräulein Gabriele,« sprach leise und zitternd Frau Dalling. Der Baron athmete tief auf; »es ist Gabriele,« sprach er, sich selbst beruhigend, und [356] blickte nach der Thüre, wo diese noch immer bleich und bebend in höchster Unentschlossenheit stand. Aber sein Blick war scheu, die Hand zitterte, mit der er ihr winkte näher zu treten, und seine Lippe bebte, indem er sie zu sich rief. Gabriele eilte herbei und kniete neben ihm hin. »Steh auf! du bist wohl erschrocken?« sprach der Baron, und bemühte sich, mild zu erscheinen. »Steh auf, ich erkannte dich nicht gleich. Ich glaubte, du wärst – ich hielt dich für – für etwas – für jemand anders. Steh auf, gieb mir die Hand. – Du bist gewachsen, wie es mir scheint, du bist – du gleichst sehr deiner Mutter! ruhe aus, geh zu Bette, morgen, wenn ich aufgestanden bin, gleich nach dem Frühstück lasse ich dich rufen. Dann sprechen wir uns, jetzt geh. Geh mein Kind,« sprach er endlich und wollte lächeln, aber die starren Muskeln versagten ihm den Dienst, und sein Gesicht verzog sich wunderlich.


[357] Am andern Tage war Gabriele schon mit Sonnenaufgang bereit, vor ihrem Vater zu erscheinen, aber der Nachmittag ging vorüber, der Abend näherte sich, und noch immer ward sie nicht zu ihm gerufen. Seit er wieder zum Bewußtseyn gekommen war, blieb er älterer Gewohnheit getreu, und lebte nur in der Nacht.

Gabriele hatte volle Muße, an Ernestos Hand das ganze Schloß zu durchwandern, und auch außer demselben alle die Plätze im Garten und Wald aufzusuchen, von welchen ihr vor kaum Jahresfrist das Scheiden so schmerzlich gewesen. Alles war wie damals. Die Blätter der Bäume begannen, sich roth, gelb und braun zu färben, ihre wohlgepflegten Blumen blühten in bunter, herbstlicher Pracht. Ihr zahmes Reh sprang ihr entgegen, sie fand ihre Tauben, ihre Vögel, ihre Hündchen, alle ihre freundlichen lieben Thiere wieder; die treue Anhänglichkeit der Leute im Schlosse hatte für sie alles gepflegt und ihr aufbewahrt. Alles war wie damals, nur sie selbst war es nicht. Ihr waren die Freuden ihrer Kindheit im Gewirre des Lebens verloren gegangen; [358] abgeschiedne Geister mögen so in Wehmuth den Schauplatz ihres irdischen Lebens betrachten, wie Gabriele den ihres viel zu früh entschwundenen Frühlings. Auch Ernesto wandelte stumm und in sich gekehrt an ihrer Seite, trübe Erinnerungen drückten auch ihn nieder.

»Am besten ist es, ich gehe heute, ich gehe jetzt gleich und suche meine Einsiedelei zwischen den Felsen auf,« sprach plötzlich Ernesto, indem er mit Gabrielen vor der Schloßbrücke stand. »Ich bedarf der Ruhe,« fuhr er fort, »ich bedarf der Arbeit; hier komme ich zu keinem von beiden. Auch kann ich es nicht läugnen, dieser Vetter Moritz wird mir allmählig so lästig, daß ich fürchte, mich einst gegen ihn auf eine Art zu vergessen, die dieses, bei aller Lächerlichkeit doch höchst gutmüthige Wesen nicht verdient. Und so leben Sie wohl, Gabriele! gedenken Sie Ihres Versprechens. Ich verlasse Sie jetzt unbesorgt, denn meine Entfernung von Ihnen ist zu gering, um irgend einer Befürchtung Raum zu geben. Auch werde ich schwerlich einen Tag vorübergehen lassen, ohne Sie zu sehen.«

[359] Eine unbeschreibliche Traurigkeit ergriff Gabrielen, indem Ernesto sich zum Weggehen wandte, obgleich sie gewiß war, ihn morgen wieder zu sehen. In ihm verlor sie den letzten ihrer Freunde, gleichsam den Repräsentanten aller ihrer Lieben. Ohne je Ottokars Namen vor ihm ausgesprochen zu haben, wußte sie doch, daß sie durch ihn, und allein durch ihn, von dem Fernen Kunde erhalten könne, sobald sie es wolle. Die furchtbare Macht des Augenblicks, die sie in ihrem kurzen Leben schon mehrmals erfahren hatte, fiel ihr schwer aufs Herz, indem sie Ernesto schon tiefer unten am Schloßberge wandeln sah.

»Wenn ich ihn nie wieder sähe! wenn er diese Nacht stürbe, und mit ihm jede Hoffnung, von Ottokar Kunde zu erhalten!« Kaum in Worte gefaßt, erfüllte sie dieser Gedanke mit unaussprechlicher Angst; von einer unsichtbaren Gewalt getrieben, rief sie, winkte sie. Ernesto sah noch einmal sich nach ihr um, sie flog den Felsen hinab, er eilte wieder hinauf ihr entgegen, und beide trafen an einem uralten steinernen Ruhesitz [360] auf der Hälfte des Schloßberges wieder zusammen.

»Ich möchte in meiner Einsamkeit gern aller meiner Freunde recht lebhaft gedenken,« sprach athemlos und tief erröthend Gabriele. »Die Tante,« fuhr sie in großer Verwirrung fort, »Aurelia, – und – Ernesto! haben Sie keine Nachricht aus Rom?«

»Den Tag, ehe wir Karlsbad verließen, erhielt ich Briefe von dort,« erwiederte Ernesto und vermied es, Gabrielen anzusehen, um ihre Verwirrung nicht zu steigern. »Aurelia kränkelt oder glaubt zu kränkeln, die Luft in Rom sagt ihr nicht zu. Sie wird mit ihrer Mutter den Winter in Neapel zubringen, wo es freilich lustiger hergeht als in jenem, der Nemesis und der Vergangenheit geweihten großen Tempel, in der heiligen Roma, deren Andenken mich noch immer schmerzlich und freudig bewegt. Ottokar führt dort ein schönes, ernstes, der Erinnerung geweihtes Leben, unter den Trümmern versunkner Größe, unter den Wundern der Kunst. Ihn umgeben die ausgezeichnetsten Künstler, welche er [361] gastfrei um sich zu versammlen weiß. Für jetzt hindern ihn Geschäfte daran, die Damen zu begleiten, vielleicht folgt er ihnen später nach, wenn das neue Jahr in jenen glücklichen Zonen den Frühling weckt.

Annettens Stimme erscholl jetzt sehr ängstlich, sie rufte Gabrielen zu dem Vater und ersparte dieser dadurch die Verlegenheit einer Antwort auf Ernestos Erzählung. Den widerstrebendsten Gefühlen hingegeben, stieg sie, auf Annettens Arm gestützt, stumm und langsam den Felsen hinauf, während Ernesto sich gedankenvoll abwärts wandte.

Noch schüchterner beklommen als in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes bei der Gräfin Rosenberg, betrat Gabriele das Zimmer, in welchem ihr Vater sie erwartete. Zu ihrem Erstaunen fand sie ihn von allen ihren Mappen umgeben. Ihre Stickereien, ihre Zeichnungen, ihre geschriebnen Auszüge aus Büchern, ihre Musikalien, alles lag auf einem großen Tische ausgebreitet vor ihm da. Auch ihre Laute, ihre Harfe, und ein schönes Fortepiano, welches einst ihrer Mutter angehörte, [362] waren gestimmt und bereit. Auf des Barons Befehl hatte Frau Dalling alle diese Dinge müssen herbei schaffen lassen, während Gabriele mit Ernesto sich außer dem Schlosse befand.

Jetzt begann ein förmliches Examen, in welchem der Baron mit großer Aufmerksamkeit und Sachkenntniß Gabrielen prüfte. Von allem, was sie früher und später erlernt hatte, mußte sie ihm Rechenschaft ablegen, von allem verlangte er Proben. Sie mußte auf sein Geheiß in fremden Sprachen ihm vorlesen und mit ihm sprechen, sie mußte singen, und auf den verschiednen Instrumenten sich hören lassen, welche eben zur Hand waren. Ihre Zeichnungen und andre künstliche Arbeiten betrachtete und beurtheilte er sehr verständig, und erforschte auch, wie weit ihr Unterricht in andrer wissenschaftlicher Hinsicht gereicht haben mochte.

Zuerst wagte es Gabriele nur zitternd, auf seine Fragen zu antworten, doch allmählig gewann sie mehr Muth. Der Baron äußerte zwar keineswegs durch Worte seine Zufriedenheit mit [363] dem, was sie leisten konnte, aber der Eifer, mit welchem er sie prüfte, die Aufmerksamkeit, deren er sie würdigte, bewiesen ihr solche.

Vier Stunden waren auf diese Weise hingebracht worden, Mitternacht war nicht mehr fern, und Gabriele konnte sich vor Erschöpfung kaum noch aufrecht erhalten oder die Lippen regen, während ihr Vater noch immer unermüdet schien. »Nun ist es genug,« sprach er endlich, und machte mit der Hand eine verabschiedende Bewegung. »Ich weiß jetzt, daß du deine Zeit in der Stadt nicht schlecht angewendet hast, du hast viel und vieles gelernt. Ich bin zufrieden mit dir. Ruhe aus, morgen um die nehmliche Stunde lasse ich dich wieder rufen, bis dahin thue, was dir gefällt.«

Gabriele vermochte es nicht, sich sogleich zu entfernen; sie blieb stehen, als erwarte sie von ihm noch ein freundliches Wort, während er, in Gedanken verloren, vor sich hinstarrte. Auf ein kleines Geräusch vor der Thüre sah er sich um und ward Gabrielen gewahr, die mit bittendem Blicke noch dastand. »Warum gehst du nicht?« [364] fragte er, »du mußt die Nächte schlafen, deine Jugend verlangt dieß, meine Zeitordnung ist nicht für dich. Und nun genug,« sprach er nochmals mit gebietendem Ton, und winkte wieder mit der Hand, so daß Gabriele sich auf das schnellste entfernte, um ihm nicht widerspenstig zu erscheinen. An der Thüre begegnete ihr Moritz von Aarheim, der auf des Barons Einladung kam, um jetzt gegen Mitternacht bei dessen Mittagsessen gegenwärtig zu seyn.


Ohnerachtet seines unruhigen Hanges zur Thätigkeit und seiner unermüdlichen Sprechlust, saß Moritz von Aarheim dennoch während der ganzen Mahlzeit schweigend und stumm dem Baron gegenüber und wartete nur auf eine Frage von diesem, um alsdann durch Antworten ein Gespräch herbei zu führen, das er so ohne alle Veranlassung nicht zu beginnen wagte. Des Barons gespenstisches, finsteres Wesen kam ihm[365] unbeschreiblich grauenvoll vor. Und besonders seit jener heftigen Scene, die er bei Erwähnung eines künftigen Schloßbaues mit ihm gehabt hatte, ging er ihm gern überall aus dem Wege. Längst wäre er abgereist, wenn er nicht Gabrielens Ankunft hätte abwarten wollen, um das Eigenthum seines Verwandten doch nicht wieder ohne alle Aufsicht der Willkühr der Bedienten zu überlassen. Seit Gabriele und Frau Dalling in dieser Hinsicht seine Gegenwart überflüssig machten, hatte er nur auf eine Gelegenheit geharrt, sich beim Baron zu beurlauben, um dann sogleich abzureisen. Er hoffte, die Einladung für diesen Abend, die erste die er erhielt, dazu zu benutzen, und war fest entschlossen, gleich am andern Tage einem Aufenthalt zu entfliehen, der ihm höchst peinlich zu werden begann.

Unter gegenseitigem Schweigen ward die Mahlzeit sehr schnell beendet. Der Baron stand auf, ein Wink von ihm entfernte auf das eiligste die Bedienten. Auch Moritz erhob sich und nahte sich dem Baron, um Abschied zu nehmen, aber dieser schritt feierlich dem Fenster zu, nahm wieder [366] in seinem thronartigen Lehnsessel Platz und heftete, wie gewöhnlich, den starren Blick auf die dunkeln, ihm gegenüberliegenden Trümmer der Brandstätte. Der Mond war hinter ihnen aufgegangen, sein Licht blinkte durch die hohlen, ausgebrannten Fensterlücken, während die in Schatten gehüllten halb zerstörten Mauern scharf und schwarz sich auf dem von leichten Silberwölkchen überzognen Himmel zeichneten.

In höchster Verlegenheit stand Moritz da, und wußte nicht, wie er es anfangen solle, um die Aufmerksamkeit des Barons auf sich zu ziehen, als dieser von selbst sich nach ihm umwandte. »Bleibt!« rief er ihm zu, indem er gewahrte, daß jener sich abschiednehmend verbeugte! »bleibt, ich habe mit Euch zu reden, Vetter! setzt Euch zu mir. Ich will mein Haus bestellen und dann zur Ruhe, denn ich bin müde.« Moritz setzte sich erwartungsvoll auf ein Taburett, dem Baron gegenüber, das jener ihm anwies.

»Ihr seyd mein erster Agnat, darum muß ich an Euch mich wenden,« sprach der Baron weiter. »Unterbrecht mich nicht, ich habe mit Euch zu [367] reden, Ihr könnt mir nichts zu sagen haben, antwortet nur, wenn ich frage. Ihr seht dort die Brandstätte; das weite Grab! Wißt Ihr, was dort begraben liegt? wißt Ihr es? Schweigt! Antwortet nicht. Wie kämt Ihr zu dieser Wissenschaft! – Doch was Ihr fassen könnt, sollt Ihr erfahren. – Wenn ich todt bin, sind diese Burg, diese Güter Euer Eigenthum. Ich hinterlasse nichts weiter. Was sonst noch mein war, liegt auch dort unter jenem Schutthaufen begraben, begraben; Gabriele behält nichts.«

Mit hastiger Gutmüthigkeit und einem Schwall ein-und ausländischer Worte beeilte sich Moritz von Aarheim, den Baron über das künftige Schicksal seiner Tochter zu beruhigen, versprach, wie ein liebender Bruder für sie zu sorgen, sie in Schloß Aarheim, oder wo sie sonst wolle, wohnen zu lassen, und würde noch lange fortgesprochen haben, wenn nicht ein Blick auf den Baron ihm plötzlich die Zunge gelähmt hätte. Schrecklich, wie damals, als Moritz des Schloßbaues erwähnt hatte, stand der Alte vor ihm da, sichtbar kämpfend mit innerlichem Zorn, der konvulsivisch [368] seine Gesichtszüge verzog und ihm die Sprache hemmte.

»Frecher, eingebildeter Thor!« brach endlich der Baron mit donnernder Stimme los. »Meint Ihr, der Freiherr Aarheim von Schloß Aarheim bettle bei Euch für seine Tochter? Meint Ihr, der letzte echte Sproß des uralten Hauptstamms, zu dessen Nebenzweigen Ihr die Ehre habt Euch rechnen zu dürfen, könne von Euch Almosen nehmen?«

Bleich und zitternd stand Moritz von seinem Sitze auf; der Baron war in dieser Minute wirklich furchtbar, doch schien er sich bald wieder zu besänftigen. »Ich sehe,« sprach er gelaßner, »Ihr habt nicht bedacht, was und zu wem Ihr redetet; auch habe ich nicht mehr Zeit zum Zorn.« Mit diesen Worten nahm er wieder seinen Lehnstuhl ein und deutete mit einer Bewegung der Hand dem immer noch bebenden Moritz an, sich ebenfalls wieder zu setzen.

»Ihr wißt jetzt, daß ich Euch nicht zu mir forderte, um von Euch etwas zu bitten. Ihr habt begriffen, daß dieß nie der Fall seyn kann?« [369] fragte der Baron. Moritz bejahete es mit einer stummen Verbeugung. »Ich bin es, der Euch beschenken will,« fuhr der Baron fort, »ich biete Euch eine köstlich hohe Gabe, vor wenigen Wochen noch hielt ich sie wohl der Hand eines Fürsten werth, und eigentlich ist sie es noch. Ich biete Euch Gabrielen, sie sey Eure Gemahlin. Antwortet noch nicht. Hört mich aus, ehe Ihr redet. Gleich vielen deutschen Fürstentöchtern, bringt Gabriele ihrem Gemahl keine Aussteuer. Mögen Krämer die bequeme Versorgung ihrer Töchter mit Golde aufwiegen, das reine edle Blut, das in Gabrielens Adern fließt, überhebt sie und ihres gleichen diesem elenden Zoll.«

Jetzt schwieg der Baron und gab seinem Verwandten ein Zeichen, nun ebenfalls das Wort zu nehmen.

Moritz versuchte es, in allen Sprachen Gabrielens Reize, ihre Talente und sein Glück bis zu den Sternen zu erheben. Dann aber wagte er es auch, einige bescheidne Zweifel über sich selbst und sein Werthseyn eines solchen Glücks zu äußern. Er erwähnte mit der größten Gutmüthigkeit [370] sein Alter und seine Gestalt, als welche zu solchen Hoffnungen ihn keinesweges berechtigen könnten, und ermuthigte sich endlich sogar zu der Erklärung, das ihm dargebotne Glück, so reizend es sey, dennoch dem Zwange nicht verdanken zu wollen.

»Niemand wird gezwungen, nicht Ihr, nicht Gabriele,« erwiederte der Baron. »Daß Gabriele schön ist, weiß ich; ich sah in der Welt wenige, die in dieser Hinsicht mit ihr sich messen dürften, keine sah ich, die an Geist, Talent, Bildung ihr nahe käme. Jetzt, nach vierzig Jahren, bei eurer hochgepriesnen Kultur, mag das nun wohl anders seyn. Auch gebe ich Euch Gabrielens Hand nur als Ersatz für etwas, das ich von Euch fordern will; die Freiherren von Aarheim waren immer gewohnt, kleine Leistungen groß zu lohnen. Gabriele wird nur unter der Bedingung die Eure, daß Ihr mir bei Eurer Ehre versprecht, das zu erfüllen, was ich im Moment, da sie für Euch sich erklärt, verlangen werde. Ihr dürft es ohne Sorgen. Unrechtes, Entehrendes forderte noch kein Freiherr von Aarheim. Wollt [371] Ihr diese Bedingung eingehen?« Moritz verbeugte sich abermals schweigend, denn aus Furcht, zu beleidigen, wagte er es nicht, den Mund zu öffnen.

Der Baron ward jetzt sichtbarlich heitrer, es war, als beginne die Eisrinde um seine Brust sich zu lösen. »Vetter, von Euch kann ich nichts bitten und nichts annehmen, das seht Ihr wohl ein, und doch muß mein Wunsch erfüllt werden,« sprach er gewissermaßen mit behaglichem Zutrauen. »Es liegt mir mehr daran, als Ihr und die Welt zu fassen vermögen. Darum biete ich Euch den höchsten Lohn, den ich zu gewähren habe. Ihr werdet mein Sohn, und unser alter Stamm blüht vielleicht glorreich wieder auf. Um Gabrielens Versorgung willen thue ich nichts, für sie wäre auch ohne Euch gesorgt, selbst wenn sie Euch verschmäht, selbst dann!« Hier versank der Baron aufs neue in tiefes Nachsinnen, er blickte unverwandt auf die jetzt vom Monde hell beleuchtete Brandstätte, und ward wieder zusehends düstrer.

»Habt Ihr nie vom Virginius gehört? vom Römer Virginius?« fragte er nach einer ziemlich [372] langen Pause plötzlich mit wunderlich heimlichem Ton.

Moritz von Aarheim eilte, auf diese Frage bejahend zu antworten, und verbreitete sich darauf sehr weitläuftig in Lobpreisungen der Heldenthat des Römers, die er höchlich bewunderte 1. »Ultimo pegno d' amor ricevi – libertade e morte,« rief er endlich aus.

»Ich sehe, Vetter! Ihr habt Euren Alfieri recht gut inne,« sprach der Baron, pegno d' amor – libertade e morte. Freiheit und Tod: haltet Ihr die wirklich für Liebespfänder, wie Alfieri es dem Virginius in den Mund legt?« Mit diesen Worten zog der Baron ein ganz kleines, hermetisch versiegeltes Fläschchen hervor, das er an einer goldnen Kette um den Hals hangen hatte. »Libertade e morte!« rief er, und hielt das Fläschchen von geschliffnem Krystall hoch gegen das Licht, so daß es in bunten Farben blitzte [373] und funkelte. »Kennt Ihr den diesen Gottheiten geweihten Lorbeer? hier seht Ihr ihn, die Gelehrsamkeit verleumdet ihn zwar und nennt ihn falsch. Er ist der echte! wer ihn errungen hat und ihn zu brauchen weiß, kümmert sich weder um Kronen noch Kränze, und trotzt dem Geschick wie den Gebietern der Welt. Virginius war ein Thor, sein blutiger Dolch erregt Entsetzen. Hier bedarf es nur eines balsamisch duftenden Hauches, und Gabriele tritt schmerzlos mit mir die Reise nach jenem Lande der Freiheit an. Nicht blutig, nicht entstellt, ihre Hülle bleibt die Zierde der Welt, so lange das Licht des Tages sie bescheint, die Oberfläche der Erde sie trägt.«

Mit einem Schrei des Entsetzens warf Moritz von Aarheim sich unwillkürlich auf den Baron und strebte das Fläschchen ihm zu entreißen, doch dieser hielt ihn mit starkem Arm ferne von sich.

»Was wollt Ihr?« sprach er mit blitzenden Augen, »Ihr habt es ja selbst ausgesprochen, Libertade c morte, ultimo pegno d' amor! O ihr armen Thoren! Was steht Ihr denn entzückt [374] vor Bildern? was preist ihr Thaten? was prahlt Ihr mit Gesinnungen, die Euch mit Entsetzen erfüllen, wenn Ihr sie ins wirkliche Leben treten seht? Seyd ruhig, ich gäbe Euch gern dieses Fläschchen, denn ich habe mehr dergleichen, wenn so etwas Euch nur anvertraut werden dürfte. Seyd ruhig! Eure Person ist sicher, mit Euch hat kein Lorbeer etwas zu schaffen. Erfüllt meinen Willen, Gabriele wird die Eure, obgleich es mir leid um sie thut. Ihr wäre besser, sie ginge mit mir, ohne zu wissen, wohin die Hand des Vaters sie führt. Ein Hauch, und es wäre vorbei mit aller Noth und aller Langenweile, die sie bei Euch erwarten. Doch lebt wohl, beruhigt Euch, wir sehn uns morgen wieder, und nun geht!«


Bleich wie ein Todter, bebend vor innerem Grausen, durcheilte Moritz von Aarheim die langen düstern Gänge, welche zu seinem Zimmer [375] führten. Kein Schlaf kam die ganze lange Nacht hindurch in seine Augen. Er blieb angekleidet. Unruhig wandelte er auf und ab und trat jeden Augenblick an das Fenster, um zu sehen, ob der Tag noch nicht zu grauen beginne. In dieser Minute blickte er auf zu Gabrielens Zimmer, und sah, wie der ruhige Schimmer ihrer Nachtlampe das Fenster schwach erhellte; in der nächsten horchte er wieder hinaus, ob nicht etwa das Verderben herumschleiche, ob nicht leise Tritte hörbar würden; doch alles blieb stille und ruhig.

Endlich begann der Himmel, sich zu röthen. Moritz schlich sich auf die andre Seite des Schlosses und sah nach den Zimmern des Barons. Dort erloschen nach und nach alle Lichter, zum Zeichen, daß für jenen jetzt auch die Zeit der Ruhe herbei käme. Nochmals lauschte Moritz, und da alles immerwährend ruhig blieb, eilte er in den Stall, sattelte selbst sein Pferd und pochte schon beim Aufgang der Sonne an die Thüre von Ernesto's bescheidener Wohnung.

Ernestos erstes Empfinden beim Anblick des frühen Besuchs war Zorn über die Zudringlichkeit [376] des Lästigen, doch als er ihn näher betrachtete und Unruhe und banges Entsetzen in seinen entstellten bleichen Zügen las, fühlte er sich selbst von gleichem Gefühle vorahnend ergriffen.

Moritz begann sogleich, das zwischen ihm und dem Baron Vorgegangne zu erzählen, aber so verworren, so weitschweifig, so seltsam in Form und Ausdruck, daß Ernesto dabei in tödtlicher Ungeduld zu vergehen glaubte. Und doch mußte er sich fast jeden Umstand des Gesprächs zwischen Moritzen und dem Baron mehreremale wiederholen lassen, denn was er vernahm, schien ihm so unglaublich, daß er immer meinte, den Erzähler falsch verstanden zu haben.

Recht ehrlich und treuherzig bat Moritz ihn endlich, nach vollendeter Erzählung, um Beistand mit Rath und That, zu Gabrielens Errettung. »Ich wäre der glücklichste Mensch, wenn sie mich heirathen wollte,« setzte er in seiner gewöhnlichen Art zu reden hinzu. »Ich wollte sie recht gut halten, alles wollte ich aufbieten, was ihr Vergnügen machen könnte. Sie ist es werth, sie ist wie Miltons Eva, all softness and sweet attractive [377] grace. Ich will auch nicht, daß sie mich wie einen jungen amoroso lieben soll, ils sont passé ces jours de fêtes, wo ich dergleichen Prätensionen machen konnte, ich weiß es wohl. Aber gut seyn müßte sie mir, und mir vor allen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie als meine Frau jemanden lieber hätte als mich. Auch müßte ich sie zufrieden und heiter sehen. Eine empfindsame Dame mit ewigen Thränen in den Augen, eine pleureuse éternelle, will ich nicht um mich haben. Sagen Sie ihr das alles, Signor Ernesto, und fühlt sie dann keine Abneigung gegen mich, so biete ich ihr mit wahrer Liebe die Hand. Unglücklich aber will ich uns beide nicht machen. Schlägt sie mich aus – Eh bien, je m' en consolerai – Doch will ich auch dann für sie noch wie für eine nahe werthe Verwandte sorgen, sie soll nicht Noth leiden. Aber wie retten wir sie vor der Wuth ihres Vaters, wenn sie mich ausschlägt? Comment la sauver des mains d'un fanatique cruel, qui l' immolera a ses fantaisies? Wollen wir Gabrielen die grausame Gefahr entdecken, in welcher sie von Seiten des[378] eignen Vaters schwebt? Signor Ernesto, reden Sie, schaffen Sie Rath, ich vergehe vor Angst.«

»Lassen Sie mir Zeit, das ganz Unerwartete nur zu fassen,« sprach Ernesto, »ich hoffe einen Ausweg zu finden.«

»What shall we do! What shall we do! was fangen wir an!« rief Moritz in höchster Angst und lief, die Hände ringend, auf und ab. »Ich bitte, sprechen Sie, ich muß zu Hause, der Baron könnte erwachen und –oh Dio! ich will gleich fort, ich will sie hüten, ihre Thüre, sie selbst nicht aus den Augen lassen. Sagen Sie mir nur noch mit einem einzigen Wort, was ich thun soll!«

»Halten Sie zu jeder Stunde Pferde und Wagen bereit, und nun eilen Sie. Ich folge Ihnen sogleich, und gelange auf dem Fußsteige vielleicht noch früher hin als Sie,« sprach endlich Ernesto. »Eilen Sie, und hüten Sie sich, Gabrielen etwas zu verrathen, am besten ist es, Sie vermeiden es sogar, mit ihr zu sprechen. Sie können sie und die Zugänge zu ihr doch im Auge behalten.«

[379] »Addio!« rief Moritz, und eilte in vollem Galopp davon, von Herzen froh, einen Auftrag erhalten zu haben, der ihn in Thätigkeit setzte, und seinem ängstlichen fruchtlosen Sinnen ein Ende machte. Während dessen durchwanderte Ernesto nachdenkend und langsam sein dunkles Thal, um den Felsensteig zu erreichen, welcher in gerader Linie zum Schlosse hinaufführt.

Unwillkürlich verweilte er einige Minuten an der alten moosbedeckten Bank, wo er beim ersten Eintritt in diese düstre Einöde mit Gabrielen gesessen hatte. Alles, was damals in schweren, trüben Ahnungen vor seinem Geiste schwebte, und ihn so ungewöhnlich niederdrückte, lag jetzt im hellsten Licht der nahen Wirklichkeit vor ihm, und weit furchtbarer, als er es sich hatte denken können. Frau von Willnangens Worte: »Sie ist verloren sich, verloren uns,« tönten unaufhörlich in seinem Innern, während er doch mit aller Anstrengung seines Geistes darauf sinnen mußte, Gabrielen wo möglich noch zu retten. Die Gefahr, welche ihrem Leben drohte, schien ihm bei weitem nicht so nah und nicht so groß, als Moritz im [380] ersten Schrecken sie ihm geschildert hatte. Ihm kam sogar der Gedanke nicht unwahrscheinlich vor, daß der halb wahnsinnige Greis in einer bei seiner Gemüthsstimmung nicht ungewöhnlichen, boshaft-fröhlichen Laune, sich eine Lust daraus gemacht haben könne, den armen Moritz auf diese Weise in Angst zu setzen. Desto entsetzlicher aber war ihm die Gefahr, Gabrielen mit einem bei manchen achtenswerthen Eigenschaften, dennoch höchst widrigen, lächerlichen Wesen, auf lebenslang verbunden zu sehen. Und doch begriff er nicht, wie sie dieser Verbindung würde entgehen können. Woher sollte ihr frommes Gemüth die Kraft gewinnen, dem Befehle, vielleicht gar dem Bitten eines Vaters zu widerstehen, den sie von jeher gewohnt war als den unumschränkten Gebieter ihres Daseyns zu betrachten? Keine Hoffnung, sogar kein Wunsch einer glücklichen Zukunft konnten ihren Muth dazu stählen, sie achtete ihre Rechnung mit dem irdischen Leben für geschlossen, denn sie hatte geliebt. Ernesto hatte Gabrielen zu genau beobachtet, um an dieser ihrer Ueberzeugung zu zweifeln. Der Gedanke, daß [381] es mit Bitten, Rathen, Warnen ihm doch vielleicht gelingen könne, sie zur bessern Ansicht des wirklich Rechten und Wahren zu bringen und sie dadurch zur standhaften Weigerung zu ermuthigen, gewährte ihm ebenfalls wenig Trost, denn wie schauderhaft wurde alsdann doch vielleicht vom eignen Vater ihr Leben bedroht!

Flucht, schnelle Flucht, blieb der einzige Weg. Aber wie die Tochter bewegen, ihren alten Vater wider seinen Willen zu verlassen, und vielleicht seinen Fluch auf sich zu laden! Sollte Erneste ihr entdecken, in welcher entsetzlichen Gefahr ihr Leben bei ihm schwebte? Wahrscheinlich würde sie ihm nicht Glauben beimessen, und gelänge es ihm, sie von der traurigen Wahrheit zu überzeugen, so mußte der Gedanke an solche Gräuel ihre ganze Zukunft trüben. Wer bürgte ihm dafür, daß Gabriele nicht in einem, durch das Gefühl ihres Unglücks exaltirten Augenblick, den Tod von Vatershänden ohne Widerstreben annähme! Ernesto kannte den Geist unsrer, jedem überspannten Gefühl günstigen Zeit, welcher der Jugend statt froher Thätigkeit, bloß leidende schmerzliche Sehnsucht [382] als Zweck eines Daseyns zeigt, dem das innige Wohlbehagen, die reine Freude am Leben mit jedem Tage sich mehr entfremden.

In diese Ueberlegungen vertieft, war Ernesto dem Schlosse schon ganz nahe gekommen, ohne eine andre Auskunft gefunden zu haben, als die, welche sich im ersten Augenblick ihm dargeboten hatte, die er als zu eigenmächtig verwarf, und welche zuletzt doch ergreifen zu müssen er jetzt befürchtete. Er nahm sich indessen vor, erst die Ueberzeugung zu gewinnen, daß alles wirklich so sey, wie Moritz es ihm vorgestellt hatte, ehe er Anstalten traf, Gabrielen im äußersten Nothfall ohne ihr Vorwissen und ihre Einwilligung vom väterlichen Schlosse fortzubringen. Moritzen sollte alsdann die Sorge bleiben, den Wahnsinn seines Verwandten gesetzlich anerkennen zu lassen und ihn dadurch unschädlich zu machen.

Ernesto konnte und mochte es sich nicht verbergen, wie viel er durch diesen Eingriff in Gabrielens Schicksal auf das Spiel setzte, aber er sah keine andre Möglichkeit, ihr zu helfen, und [383] mußte sogar davor zittern, daß Zufälligkeiten ihm auch diese vereiteln könnten.


Moritz von Aarheim war bei Ernestos Ankunft noch eifrig bemüht, sein dampfendes Pferd im Schloßhofe herumführen zu lassen, und dem Jokei dabei in eigner Person unter lautem Demonstriren zu zeigen, wie man in England diesen Thieren nach jeder Erhitzung den Kopf und die Ohren mit einem Tuche abreibe. »Sie sehen, wie beschäftigt ich bin,« flüsterte er geheimnißvoll dem eben Angekommnen zu, »sobald ich nur eine Minute Zeit gewinne, besorge ich die verlangten Pferde und Wagen. Uebrigens schläft der Baron hoffentlich noch mehrere Stunden, und die Kusine finden Sie mit ihrer Cameriera im Blumengarten.«

Schön und heiter wie der Morgen trat Gabriele schon an der Thüre des Gartens ihrem Freunde entgegen. Sie trug eine Vase voll malerisch [384] geordneter bunter Herbstblumen. Mit der Linken drückte sie die Vase fester an sich, um sie nicht fallen zu lassen, während sie ihm die Rechte zum Willkommen freundlich entgegen reichte. Die frische Herbstluft hatte ihre Wangen höher geröthet, ihr Auge strahlte glänzender, Ernesto glaubte, sie noch nie so reizend gesehen zu haben. Beim Anblick des holden Geschöpfs, das arglos wie ein Kind am Rande des Verderbens noch lächelnd mit Blumen spielte, ergriff ihn ein unaussprechlich mitleidiges Gefühl. Woher sollte er Muth gewinnen, den rührenden Frieden dieses schuldlosen Wesens durch seine Warnung zu stören, den milden Glanz dieses hellen Auges zu trüben? Es ward ihm, als sey er selbst im Begriff, eine frevelhafte That zu üben, als würde er mitschuldig an ihrem Untergange, wenn er jetzt spräche. Vor ihrem ruhig schönen Anblick verlor er selbst für den Moment den Glauben an die obwaltende Gefahr, und seine sonst so klare Besonnenheit mußte der mächtigen Sprache seines Herzens einstweilen weichen.

Seit sie von Frau von Willnangen sich getrennt[385] hatte, war Gabriele noch nicht so fröhlich gewesen. Ihr Herz schwamm in Wonne bei der Erinnerung an die theilnehmende Art, mit der ihr Vater am gestrigen Abend sich mit ihr beschäftigt hatte. Sie war entzückt, wenn sie seiner deutlich ausgesprochnen Zufriedenheit mit ihrem bisherigen Streben gedachte. Freude macht geschwätzig; wortreicher als jemals erzählte daher Gabriele ihrem Freunde jeden kleinen Umstand des vergangnen Abends, und suchte auch ihm ihre eigne Ueberzeugung mitzutheilen, daß sie von nun an immer höher in der Gunst ihres Vaters steigen, ihm immer nothwendiger werden müsse und würde.

Ernesto hingegen ward immer muthloser, immer unfähiger, ihr das Entsetzliche zu verkünden, je länger er den fröhlichen Ergießungen ihres reinen Herzens zuhörte. Er litt unbeschreibliche Qual bei dem Gedanken, sie aus ihren Träumen von einem heißersehnten Glücke zum Elend erwecken zu müssen. Schonend sie und sich, verschob er es von Stunde zu Stunde, denn jede Minute, während welcher er noch schwieg, war, [386] seiner Ueberzeugung nach, ihrer künftigen traurigen Zukunft abgewonnen.

So kam die Zeit des Mittagsmahls heran. Der Gerichtsdirektor war dießmal dabei gegenwärtig, denn der Baron hatte ihn zum heutigen Abend auf das Schloß einladen lassen. Und auch ohne diesen würde das Beiseyn der Bedienten und selbst Moritzens Gegenwart jede freie Mittheilung während der Mahlzeit unmöglich gemacht haben.

So ganz widerwärtig, wie heute an dem kleinen Tische dicht neben Gabrielen, war Moritz noch nie ihrem Freunde erschienen; sein läppisches verstecktes Winken, sein geheimnißvoll seyn sollendes Fragen, seine Anspielungen, mit denen er Ernesto, so lange die Mahlzeit währte, zu verfolgen nicht aufhörte, machten ihn ganz unerträglich, und dieser war deshalb herzlich froh, als endlich die Tafel aufgehoben ward, und er mit Gabrielen sich wieder allein sah.

Die herbstliche Sonne senkte sich schon dem Felsen zu, die Stunde der früh eintretenden Dämmerung nahte heran, und Ernesto fühlte mit [387] bitterm Schmerz, daß es jetzt nicht möglich sey, länger zu schweigen. Um Gabrielen zu schonen, auch wohl um selbst Muth zu gewinnen, wendete er zuerst das Gespräch auf Gabrielens Verhältniß zu Moritz von Aarheim, als Lehnerbe ihres Vaters, und machte gleich die Entdeckung, daß sie durchaus keinen Begriff davon habe. Alles, was er ihr darüber zu sagen für gut fand, machte auch weiter keinen Eindruck auf sie, als daß es sie an die Zeit erinnerte, in welcher ihr Vater nicht mehr seyn würde, und sie deshalb ernster und trüber stimmte.

»Behalte ich doch Sie, meine Willnangen und meine Auguste, wenn Gott meinen Vater zu sich ruft, dazu Genügsamkeit und Freude an wohlgeordneter Thätigkeit, diese Güter kann kein Gesetz mir rauben,« sprach endlich Gabriele. »Möge mir das Glück, meinen Vater zu pflegen, recht lange gegönnt werden! kommt aber die Zeit, wo ich ihn zu verlieren bestimmt bin, so weiß ich, daß meine Freunde sich um mein künftiges Fortkommen auf dem Lebenswege weit mehr kümmern werden als ich selbst.«

[388] »Auch ich wäre um Ihre Zukunft unbesorgt, theure Gabriele! wenn nicht die Pläne Ihres Vaters mich beängstigten,« erwiederte Ernesto; »vielleicht entdeckt er sie Ihnen heute noch« – Ein eintretender Diener unterbrach ihn mit der Nachricht, daß der Baron Gabrielen sogleich zu sprechen verlange. Ernesto ward bleich wie ein Sterbender.

»Beinahe zwei Stunden früher als gestern! Sehen Sie wie er allmählig meine Gesellschaft lieb gewinnt?« rief frohlockend Gabriele, und bemerkte nicht, in welcher Todesangst ihr Freund vor ihr stand, bis sie im Forteilen sich von ihm fest gehalten fühlte.

»O Gabriele!« rief er, »Sie wissen nicht! armes, unglückliches Kind! Sie wissen nicht, wem Sie entgegen gehn, was Sie erwartet! Worauf ich langsam Sie vorbereiten wollte, muß ich jetzt Ihnen ohne Milderung eilend zurufen. Ihr Vater will Sie vermählen, er will das Unglaublichste, er will an Moritz von Aarheim Sie vermählen, gerade wegen jener Familienverhältnisse, die ich eben Ihnen zu erklären begann. Moritz selbst [389] entdeckte mir dieß, er gab mir den Auftrag, Sie vorzubereiten, er ist zu gutmüthig, um Sie dem Zwange verdanken zu wollen.«

Gabriele ward bleich, sie zitterte, sie verstummte einige Minuten lang, doch wußte sie sich bald wieder zu fassen. »Dank! Dank Ihnen, Ernesto, für Ihre Warnung!« sprach sie, »jetzt aber lassen Sie mich, ich darf meinen Vater nicht länger auf mich warten lassen. Ich hoffe, diese Gefahr soll an mir vorüber gehen, ich werde meinen Vater gewinnen, er soll ohne mich nicht leben können, er soll mich lieben lernen, dann wird er mich nicht verstoßen wollen.« »Gabriele!« rief Ernesto in höchster Angst, und eilte neben ihr her, die schnell die langen Gallerieen durchstreifte, um zu den Zimmern ihres Vaters zu gelangen. – »Gabriele! nur einige Worte noch. Gedenken Sie Ihres Versprechens im Felsenthal, ehren Sie dießmal meinen Rath. Erzürnen Sie Ihren Vater nicht durch Weigerung, wenn er Ihnen seinen Willen kund thut, um Gotteswillen nicht. Bitten Sie um Bedenkzeit, hören Sie mich? um Bedenkzeit. Geloben Sie es mir, [390] um Bedenkzeit zu bitten, ohne irgend eine Abneigung gegen seinen Willen zu äußern, oder ich dringe mit Ihnen in sein Zimmer, werde dann weiter daraus was da wolle;« setzte er wie ausser sich hinzu.

»Ernesto, wie fürchterlich sind Sie!« rief Gabriele, und stand einen Augenblick still, ihn betrachtend. Sie sah Thränen in seinen Augen glänzen, sie gewahrte den Ausdruck des ängstlichsten Mitleids, der höchsten Unruhe in allen seinen Zügen. »Ich sehe es,« sprach sie tief bewegt, »ich sehe es, Ihrer Angst um mich liegt noch ein Geheimniß zum Grunde, das Sie mir nicht entdecken wollen. So bleibe es mir dann verborgen, ich ehre Ihre Gründe, es mir zu verschweigen und traue Ihrer Freundschaft. Ich gelobe, Ihrem Rathe zu folgen, meinen Vater nicht durch Widerspruch zu reizen, ihn um Bedenkzeit zu bitten. Darf ich nun hoffen, Sie beruhigt zu haben?«

Ernesto vermochte vor innrer Bewegung nicht ihr zu antworten. Die dunkeln Mauern von Schloß Aarheim übten ohnehin an ihm eine Zaubermacht aus, welche seine Geisteskraft lähmte. [391] Er wähnte dort noch Augustens Seufzer zu athmen, die einst ungehört hier verwehten; ferne Töne umschwirrten ihn wie der Wiederhall ihrer längst verklungnen Stimme, und ihre holde Gestalt schien ihm aus jeder Ecke entgegentreten zu wollen. Bei dem schwachen Schimmer einer einsamen Lampe in der hochgewölbten düstern Gallerie, in welcher Gabriele mit ihm sich befand, war es ihm, als sähe er plötzlich neben ihr den Geist ihrer Mutter; er bebte ergriffen zurück, im nehmlichen Augenblick öffnete sich die Thüre vom Vorzimmer des Barons, in deren Nähe sich beide befanden, und schlug klingend hinter Gabrielen zu, sobald diese die Schwelle überschritten hatte.

Ernesto wollte ihr nach, um wenigstens, wenn auch durch eine zweite Thüre von ihr getrennt, in ihrer Nähe zu bleiben, aber er hörte die Stimme des Barons, der seiner Tochter gebot, ihm in sein Zimmer zu folgen, und dann den innern Riegel vorschob. Auf Flügeln der Angst durcheilte Ernesto jetzt wieder die Gallerieen, um Frau Dalling aufzusuchen, ihr alles zu entdecken und dann wo möglich mit ihrer Hülfe ein Mittel zu [392] finden, der gefürchteten Unterredung zwischen Vater und Tochter ungesehen beizuwohnen.


Festlich gekleidet, geschmückt mit allen Zeichen ehemaliger Würden und Ehren, war der Baron seiner Tochter bis an die Thüre des Vorzimmers entgegen gekommen, die er, wie schon erwähnt ward, hinter ihr verriegelte. Dann schritt er feierlich vor ihr her, nahm seinen gewöhnlichen Platz im Lehnstuhl am Fenster ein, und winkte ihr schweigend, sich auf ein Taburet ihm gegenüber zu setzen.

Der Eindruck, welchen seine ganze Gestalt auf sie machte, war heute noch imponirender als ehemals, der Baron schien sogar größer als sonst, und der versteinerte Ernst aller seiner Züge beklemmte ihre Brust und raubte ihr den Athem.

»Ich wiederhole die schon gestern dir ertheilte Zusicherung meiner Zufriedenheit mit deinen in der Stadt erworbnen Kenntnissen,« hob der Baron [393] nach einer ziemlich langen Pause an, »sie haben mein Erwarten übertroffen. Wer so fleißig war wie du, hatte wahrscheinlich nicht Zeit, Thorheiten zu begehen. Daher hoffe ich, daß kein innres Hinderniß dich abhalten wird, meine Wünsche zu erfüllen, und daß du auch neben so vielem anderm gelernt hast, kindlichen Gehorsam zu üben. Ich bin entschlossen, dich meinem Lehnserben, Moritz von Aarheim, zu vermählen, doch habe ich ihm versprechen müssen, es dir frei zu stellen, seine Hand auszuschlagen. Entscheide also ohne Zwang: ob du meinem Willen folgen willst oder nicht, so wie du glaubst, daß es recht sey.«

Der Baron schwieg, und Gabriele strebte vergebens, ihre zitternden Lippen zur Antwort zu bewegen. Einige Minuten vergingen im schweigenden Kampf mit ihrer innern Angst. »Entscheide!« – rief endlich der Baron mit flammenden Augen, und richtete sich hoch in die Höhe.

»Mein Vater,« stammelte Gabriele, »wie kann ich so schnell – ich flehe nur um Bedenkzeit.«

»Bedenkzeit!« wiederholte der Baron, und [394] ließ sich langsam wieder nieder, »Bedenkzeit! Thoren, Schwächlinge bedenken sich. Der Tapfre, der Weise, wissen gleich, was sie wollen oder müssen. Doch du bist ein Mädchen, und diese Alfanzerei war schon vor vierzig Jahren unter euch Mode, wunderbarbar, daß sie in der langen Zeit nicht wieder abkam. Nun, es sey – du hast Bedenkzeit, bleib sitzen, bedenke dich.«

Seiner Gewohnheit gemäß wandte sich der Baron nach der Brandstätte, eine bange Viertelstunde verging, während welcher Gabriele es nicht wagte, sich zu regen. Endlich kehrte sich der Baron mit fragendem ernstem Blick ihr wieder zu.

»Vater!« rief sie und hob flehend die Augen voll erstarrter Thränen zu ihm auf, »Vater, ich brauche keine Bedenkzeit. Bei Ihnen will ich bleiben! Ihnen allein widme ich mein Leben, Sie pflegen will ich, Ihnen dienen, keine andre Pflicht erkennen, als jedem Ihrer Wünsche zuvorzukommen!«

»Und weigerst dich dennoch, den ersten, welchen ich aussprach, zu erfüllen?« erwiederte der [395] Baron und durchbohrte sie fast mit seinen glühenden Augen.

»Nein, o nein, mein Vater!« erwiederte schnell Gabriele, »ich bitte Sie nur, mich nicht zu verstoßen. So lange ich lebe, ist Ihnen mein Daseyn geweiht. Ich kann mich nicht entschließen, einem Andern anzugehören als meinem Vater, ich fühle einzig den Beruf, um Sie zu seyn, so lange mir Gott Ihr Leben erhält; was später aus mir wird, macht mir keine Sorge.«

»Auch mir sollte es keine machen – besser wäre es, wenn« – murmelte der Baron nur halb hörbar vor sich hin, dann versank er wieder in tiefes Nachdenken. Abermals vergingen einige stumme Minuten, dann wandte er sich plötzlich wieder zu Gabrielen.

»Höre mir aufmerksam zu,« sprach er. »So viel du davon zu fassen vermagst, will ich dir die Gründe entwickeln, welche mich bestimmen, diese Verbindung zu wünschen. Hernach entscheide. Forderst du dann noch längere Bedenkzeit, so sey sie dir im Voraus gewährt. Höre mich jetzt.

Unermüdetes Forschen, Streben, Arbeiten [396] war mein Leben, so lange du athmest; die Nacht mir Tag. Ich habe Schrecken getrotzt, Gefahren, bei deren bloßem Namen dein jugendliches Blut in den Adern erstarren müßte. Meine Umgebungen waren – Mein Umgang war – Nein, ich will deine Sinne nicht durch die Namen jener Schrecklichen verwirren, ich will dich nicht dem Wahnsinn zuführen. Ich schweige von dem, was ich that, was ich litt, was ich überwand. Für dich, Gabriele, für dich! dich wollte ich erheben, dich erhöhen zur Glorreichsten unseres alten Geschlechts! hoch über alle jene edlen Frauen deiner Ahnen, deren lange Reihe der edelste Schmuck unsers Hauses ist.«

Hier schwieg der Baron wieder einige Minuten lang, Gabriele wagte es nicht, sich zu regen. Dann fuhr er mit fast tonloser Stimme fort: »Die doppelte schuppige Schlange, deren gekröntes Haupt in rother Erde sich birgt, war mein, die Königin ruhte in ihrer Kammer, der Rabe wandelte sich zum hochfliegenden Aar, und ernährte den in ihrem Schooße schlummernden grünen Löwen, es nahte sich der Alte, der zwischen [397] den Bergen geht, die rothe und die weiße Lilie prangten in seinen Händen. – Da – da – fort mit der Erinnerung, wie alles vernichtet ward,« rief der Baron jetzt laut und fürchterlich, »fort – es ward vernichtet. Weh mir! ich vergaß den Fluch, der auf der fünften Zahl ruht, feindliche dunkle Mächte, auf mein Verderben lauernd, irrten mich. – Freundliche zürnten mir – Verloren – verloren – verloren – ist das große Spiel.«

Mit geschloßnen Augen lehnte sich der Baron jetzt in seinen Lehnstuhl zurück und lag regungslos da. Gabriele war vor ihm auf die Knie hingesunken; sie blickte in sein farbloses Antlitz, auf seine grauen Haare, welche spärlich die eingefallnen Schläfe umgaben, sie sah die tiefliegenden geschloßnen Augen in ihren weiten Höhlen, von den überhängenden schneeweißen Augenbraunen beschattet. Er glich so ganz einem Todten, daß der Gedanke sie grausend überfiel, er könne in diesem Moment gestorben seyn.

»Mein Vater, mein Vater!« rief sie, und wagte es, leise seine Hand zu berühren; da richtete er, gleich einem Erwachenden, sich wieder auf.

[398] »Du weinst?« sprach er, »du zitterst? weißt du warum? wovor?« Dann blickte er sie eine Weile starr an. »Ich lese in deiner Seele,« fuhr er fort, »du glaubst, ich sey wahnsinnig, weil du meine Reden nicht verstehst. Du irrst, hohe Weisheit liegt hinter diesen Bildern, aber ihr hört nur, und vernehmt nicht,eure Sinne hält Wahn befangen. Die Vergangenheit enthüllte ich dir, so weit ich es durfte. Die Gegenwart, – tritt her zu mir ans Fenster, blicke hinaus, dort liegt sie, dort in Trümmern. Was diese decken, bleibe ewig verborgen. Fluch der Hand, die es wagt, diesen Schutthaufen zu berühren!« rief er mit furchtbarem Ton, in hoher aufrechter Stellung, mit flammenden Augen, wie ein Begeisterter. »Fluch dem, der dem Unheil, das dort im dunkeln tiefen Gewölbe sicher ruht, den Weg bahnt zum Licht. Niemand darf dort den Faden finden, ihn wieder aufnehmen, der meiner starken Hand entfiel! denn niemanden darf gelingen, was mir mißlang.«

»Moritz von Aarheim gebietet hier nach meinem Tode,« sprach der Baron nach einer kleinen [399] Pause, während welcher er sich mit Anstrengung zu besänftigen schien. »Sein erstes Thun wird seyn, dort zu graben, zu bauen, zu wühlen, er selbst hat mir es ins Angesicht gestanden. Du allein kannst mir die Sicherheit jenes Heiligthums auf ewige Zeiten erkaufen, und erkauft muß sie werden. Es gilt der Ruhe meiner Todesstunde, es gilt dem ruhigen Schlaf meiner Gebeine im stillen Grabe, weit, weit, auf Jahrhunderte hinaus! Gabriele, du darfst jetzt nicht ohnmächtig werden, fasse dich, du darfst jetzt nicht die Besinnung verlieren, du mußt mich aushören, denn nie darf ich wieder wie in dieser Stunde zu dir reden.«

Mit leisem, wunderlich-heimlichem Tone fuhr der Baron nach kurzem Schweigen in seiner Rede weiter fort. »Kennst du die Geheimnisse der Unterwelt? Wie solltest du! Ich aber wagte es, mit dieser Hand ihren Schleier zu lüften. Nicht alle, meine Tochter, nicht alle, die hier entschliefen, ruhen dort in Frieden. Furchtbare Vorhöfe führen zum finstern Reich, dort in Tophet und Scheol weilen rastlos die Seelen derer, die beunruhigt über die Zukunft dessen hinübergingen,[400] was sie hier erstrebten. Jede Mitternacht ruft sie her auf, gespenstisch umwandern sie den Gegenstand ihrer Sorge in banger Qual, bis der Morgenhauch sie wieder zur kalten düstern Tiefe scheucht – jede Nacht sehe ich dort drüben den alten Franz, Sorge um mich läßt ihn nicht ruhen, er hebt das bleiche Haupt aus der Asche, mit langem Todtenfinger winkt er mir zu sich, zu sich, zur jammervollen Wache um das dort Verborgne.«

»Ich habe vollendet, du weißt jetzt genug. Ruhe oder Verzweiflung deines Vaters in der letzten Stunde und im Grabe sey das Werk deiner freien Wahl. Bedenk es wohl, es gilt nicht einer Hand voll Tage, die ihr ein Leben nennt, es gilt der Ewigkeit. Meine Todesstunde kann jetzt schlagen, in dieser Minute, aber du hast Bedenkzeit. Willige ein, verwirf, bringe durch thörichtes Zögern das Unheil über mich, ich breche mein gegebnes Wort nicht, du bist frei, du hast auch Bedenkzeit.«

»Vater, Vater!« rief Gabriele, »kann denn mein Leben nicht das Opfer seyn?«

[401] Hastig griff der Baron an seine Brust, dann ließ er die Hand wieder sinken. »Nein,« sprach er halb leise, und blickte milder als vorher Gabrielen an.

»Nun denn, ich will nicht ängstlich berechnen, was ich meinem Vater opfre, hier bin ich, Ihr Kind! mein Schicksal lege ich in Ihre Hand und murre nicht.«

Erschöpft an allen Kräften, doch nicht bewußtlos, sank sie mit diesen Worten vor ihm hin.

»Ich danke dir,« sprach der Baron, und ließ einen Moment seine Hand auf ihrem schön gelockten Haupte wie segnend ruhen; dann hob er Gabrielen sorgsam auf, und setzte sie in seinen Lehnstuhl. »Ermanne dich, fasse Muth, du hast entschieden wie es recht war. Uebrigens geschehe gleich, was geschehen muß; alles ist vorbereitet. Zögern ist Qual, ist Gefahr, und ich bin müde und will zur Ruhe.«

Mit diesen Worten zog er die Schelle und ging in das Vorzimmer, um die Thüre zu öffnen. Athemlos stürzte dort Frau Dalling ihm entgegen, ein lauter Schrei des Schreckens, als sie Gabrielen [402] bleich und regungslos im Lehnstuhl erblickte, verrieth, daß Ernesto ihr alles vertraut habe, was er wußte. Der Baron achtete nicht darauf. »Führen Sie Ihr Fräulein auf ihr Zimmer,« sprach er, »schmücken Sie die Braut mit dem Hausschmuck, den seit Jahrhunderten jede Braut von Schloß Aarheim an ihrem Ehrentage trägt,« fügte er hinzu, indem er ihr ein uraltes Kästchen mit einem goldnen Schlüssel übergab. »In einer Stunde kommt der Bräutigam, sie zur Trauung abzuholen.«

Matt zum Tode, aber fromm lächelnd wie ein seliger Engel neigte, sich Gabriele vor ihrem Vater, dann wankte sie am Arm der Frau, die einst an der Schwelle des Lebens sie empfing, still hinaus. Ernesto eilte schon im Vorzimmer ihr entgegen. Ein Strom lindern der Thränen machte beim Anblick des treuen Freundes dem armen gepreßten Herzen Luft. »Sie hatten Recht,« flüsterte Gabriele ihm zu, und lehnte das schöne bleiche Köpfchen auf seine Schulter, indem sie erschöpft auf einen Stuhl sank. Frau Dalling und Ernesto knieten vor ihr hin, sie zu unterstützen.

[403] »Noch ist Rettung möglich!« sprach Ernesto ängstlich und schnell. »Fliehen Sie, alles ist bereit. Frau Dalling begleitet uns, Moritz selbst befördert und beschützt unsre Flucht, er will Sie nicht dem Zwange verdanken. Keine Pflicht bindet Sie, den Willen eines verwirrten Sinnes zu erfüllen, wenn es dem Glücke Ihres ganzen künftigen Lebens gilt. Kommen Sie, verlieren Sie keine Zeit, Pferde und Wagen stehen unten am Schloßberge, jede Minute ist kostbar, Moritz selbst will hier uns vertreten, wir eilen zur Frau von Willnangen.«

»Der Rath kam nicht aus Ihrer Seele, Ernesto,« erwiederte Gabriele sehr ernst und trocknete ihre Thränen. »Wohin könnten Sie mich führen, daß nicht der Fluch meines Vaters mich erreichte? daß nicht die Schrecken der eben durchlebten Stunde mich verfolgten, nicht die Angst um einen sterbenden Vater, dem ich den Trost verweigerte, welchen zu geben in meiner Macht stand? Ernesto,« setzte sie hinzu, und blickte ihn zutrauend an, indem sie seine beiden Hände faßte, »können Sie mir wirklich rathen jetzt zu fliehen?«

[404] »Nein! ich kann es nicht, und du bist verloren,« rief Ernesto, »dort in der Freiheit würde Reue dich verzehren, ich fühle es. So gehe denn gefaßt dem entgegen, was du, reine Seele! als Pflicht anerkennst. Damals, als du diesen fürchterlichen Mauern zueiltest, in denen alles Gute und Schöne untergehen muß, damals hätten wir, deine Freunde, dich zurückhalten, dich nicht so unbedacht der Gewalt eines Wahnsinnigen ausliefern, wir hätten seinen Zustand vorher erkunden sollen. Jetzt ist es zu spät,« setzte er mit verhülltem Gesicht hinzu.


Die zum Schmuck der Braut vom Baron bestimmte Stunde war vorüber. Bleich wie ein Marmorbild, keine Spur von Lebenswärme auf Wangen und Lippen, saß Gabriele auf ihrem Sopha, und schauderte bei jedem Geräusch. Nur ihr schwimmendes Auge, die zitternde Bewegung ihres hochklopfenden Herzens, von welcher der [405] diamantne Blumenstrauß an ihrer Brust erbebte, verriethen innres Leben und innern Kampf. Schweigend, aber vergebens, strebte sie wie sonst dem Unvermeidlichen wenigstens äußerlich gefaßt entgegen zu treten, ihr unwillkürliches Zittern, ihre Unfähigkeit, sich aufrecht zu erhalten, vermochte sie nicht zu überwinden.

Ernesto stand bleich wie sie selbst neben ihr, sein Blick ruhte auf den vor alter Zeit in wunderliche Schnörkel gefaßten Diamanten, die, zum Brautkranz zusammengefügt, Gabrielens blonde Locken niederdrückten. Plötzlich ergriff ihn der Gedanke, daß dieser nehmliche Kranz wahrscheinlich auch an Augustens Opfertage in ihren Haaren geschimmert hatte, und die Ironie des Zufalls, der hier den kalten schweren Stein statt der weichen lieblichen Myrte erwählte, erhöhte den bittern Schmerz, der ihn, den sonst so ruhigen Mann, in diesem Augenblick der Verzweiflung nahe führte.

»Alle Liebe erstirbt in diesen Mauern,« rief er aus, »darum ist auch ihr Symbol daraus verbannt, und spitziger Steine flimmernder Glanz muß dessen [406] Stelle ersetzen. O Gabriele! mögen Sie nie auf Ihrem Lebenswege die Myrte vermissen, die jetzt auch Ihrem Schmucke fehlt, und nie ihr begegnen! Dieß ist der einzige Segen, den ich heute Ihnen geben kann, und es klingt wie ein Fluch.«

»Ich denke Sie zu verstehen, guter Ernesto, und möchte gern Sie trösten, wenn Sie mir nur glauben wollten,« erwiederte sanft und gelassen Gabriele. »Mein Leben ist vorüber, wenn Lieben Leben ist. Andern mag Hoffnung strahlen, mein Stern ist Erinnerung, Erinnerung an eine kurze Stunde voll Wonne und Schmerz, die nie mir wiederkehren kann und dennoch ewig mich beglückt. In meinem Herzen ist der Sturm beschwichtigt, um nie wieder zu erwachen, ich weiß es, seit gestern, da ich es vermochte, vor Ihnen den Namen auszusprechen, den ich nie wieder nennen werde, obgleich ich es dürfte, denn mein Empfinden ist ruhig und schuldlos. Das Opfer, welches ich meinem Vater bringe, ist daher nicht so groß, als Sie es sich wohl denken. Ich opfre keine Hoffnungen, denn ich hatte keine, kein Glück der Zukunft, denn mir blüht keins, als in der [407] Liebe meiner Freunde, unddie bleibt mir. Für die Freiheit weniger Jahre gewinne ich meines Vaters Ruhe, seinen Segen, und Frieden mit mir selbst. Es werden der Jahre sehr wenige seyn, mir sagt es mein ahnendes Herz, und warum sollte ich um so hohen Preis mit einer Hand voll Tage noch geizen!«

Die Thüre öffnete sich, Moritz von Aarheim trat herein. Gabriele zuckte bei seinem Anblick krampfhaft zusammen, doch erholte sie bald sich wieder, und ging, gestützt auf ihre Dalling, ihm einige Schritte entgegen. »Haben Sie den Wunsch meines Vaters erfüllt?« fragte sie leise und zitternd.

»Ich habe es. In allen Formen, wie er es verlangte, habe ich gerichtlich mich und meine Nachkommen auf ewige Zeiten verbindlich gemacht, keinen Stein in Schloß Aarheim zu verrücken, weder zu bauen noch einzureißen,« erwiederte Moritz in ungewohnter Kürze, denn innre Bewegung und Gabrielens überirdischer Anblick hemmten den gewohnten Fluß seiner Rede.

»Wollen Sie auch mir eine Bitte gewähren?« fragte Gabriele. Moritz antwortete schweigend [408] mit einer bejahenden Verbeugung. »Nun so versprechen Sie mir, mich nie von meinem Vater zu trennen, solange mir Gott sein Leben erhält,« bat Gabriele, mit unendlich weicher rührender Stimme und Geberde.

»Ich verheiße es Ihnen,« erwiederte Moritz, »gewähren Sie mir dagegen die Versicherung, daß Sie freiwillig und ohne Zwang mir die Hand reichen.«

»Freiwillig, ohne Zwang,« wiederholte Gabriele kaum hörbar.

»Der Baron erwartet uns,« sprach Moritz ebenfalls sehr leise.

Gabriele wankte, indem sie hinausschreiten wollte, Ernesto bot zur rechten Zeit ihr den Arm, um sie vor dem Fall zu schützen; auf ihn gelehnt, betrat sie die an das Zimmer ihres Vaters grenzende Kapelle des Schlosses.

Dort stand der Baron, neben dem Priester am hellerleuchteten Altar, nur die Bewohner des Schlosses und der Gerichtsdirektor waren als Zeugen gegenwärtig, bange Grabesstille herrschte unter allen Anwesenden. Feierlich schritt der [409] Baron dem langsam herannahenden Paare entgegen, er nahm die zitternde Hand der Braut, die so lange auf Ernestos Arm geruht hatte, und schien dabei diesen in der Zerstreuung nicht zu bemerken.

Todesbleiche wechselte mit der Purpurröthe des Zorns in Ernestos Gesicht, während dieses geschah, sein Herz pochte hoch, sein Auge flammte, seine Hand ballte sich wie zum Kampf. Ungehindert hatte indessen die Zeremonie begonnen, welche Gabrielens Schicksal unwiderruflich bestimmte.

Sie ward beendet, alles blieb still, kein fröhliches Getümmel Glückwünschender drängte sich um die Neuvermählten, und wie bewußtlos schwankte Gabriele am Arm ihres Vaters in sein Zimmer. Ernesto folgte mit Moritz von Aarheim, zuletzt Frau Dalling und Annette. Alle übrigen blieben in der Kapelle zurück, die Thüre derselben, welche in des Barons Zimmer führt, ward geschlossen.

Der Baron trat in seinem Zimmer an das Fenster und blickte hinüber zur Brandstätte; wüthender Sturm durchtobte heulend die schwarzen Trümmer. »Dort ist Aufruhr, hier endlich Ruhe,« [410] sprach der Baron, und setzte sich auf seinen gewohnten Platz. Gabriele, unfähig sich aufrecht zu erhalten, kniete vor ihm hin. »Dir danke ich diese Ruhe, Gabriele; auch deine Mutter hat viel für mich gethan,« sprach der Baron. »Ich segne dich nochmals, mein Kind,« setzte er höchst feierlich hinzu, indem er ihre Stirn mit seiner Hand berührte; »auch dich segne ich, mein Sohn Moritz von Aarheim! halte das Kleinod hoch, das ich dir übergab.« Es lag etwas besonders mildes in dem Ton, mit welchem der Baron diese Worte sprach. Ungewohnte Ruhe ebnete die harten Züge seines Gesichts und machte sie fast unkenntlich. »Jetzt ist mein Haus bestellt. Lebt wohl! ich bin müde und gehe zur Ruhe,« sprach er noch, und winkte verabschiedend wie gewöhnlich.

Halb getragen von Annetten und ihrer Dalling, schritt Gabriele langsam der Thüre zu, Moritz und Ernesto folgte ihr; kaum aber hatten sie die Mitte des sehr geräumigen Zimmers erreicht, als Ernesto den Baron in seinem Lehnstuhl zusammensinken sah, zugleich verbreitete sich ein betäubender mandelartiger Geruch. Alle wandten [411] sich plötzlich wieder dem Baron zu. An seinem Halse hing das kristallne Fläschchen erbrochen an der goldnen Kette herab, er selbst lag regungslos in seinem Lehnstuhl, kein Zweifel war möglich. Im Geiste des Kirschlorbeers hatte er den schnellen schmerzlosen Tod eingeathmet, welchen er einst Gabrielen bestimmte, die einzige Frucht seines jahrelangen, mühseligen, alchymistischen Forschens.

In tiefer Ohnmacht sank Gabriele neben der entseelten Hülle ihres Vaters zu Boden.

[1]

Zweiter Theil

Wie dem Blitz der Donner, so schnell war bei der Entscheidung von Gabrielens Geschick die Erfüllung dem ersten Drohen der Gefahr auf dem Fuße gefolgt.

Ernesto hatte im Drange der Begebenheiten keinen ruhigen Augenblick gefunden, um Frau von Willnangen auf die Möglichkeit des fast Unglaublichen vorzubereiten, und selbst, nachdem schon alles entschieden war, währete es noch mehrere Tage, ehe er Muth und Ruhe des Geistes genug gewinnen konnte, um ihr zu schreiben. Ueberdies stand er nach dem Tode des Barons wirklich ganz allein in der alten grausenvollen Burg, mitten unter einem Haufen verschüchterter, hülfloser Menschen, die alle zu ihm aufblickten, die von ihm berathen und in Thätigkeit [1] gesetzt zu werden verlangten, um nur dadurch ihren eignen Gedanken zu entgehen.

Moritz war zufolge seiner armen, schwachen, an tausend Kleinigkeiten sich anklammernden Natur, im ersten Schrecken ganz unfähig geworden, nur einen einzigen Gedanken klar zu fassen; noch weniger vermochte er, einigermaßen zweckdienliche Anstalten zu treffen, wie sie die Umstände heischten. Seine unglaubliche Unbeholfenheit, Gabrielens bewußtloser Zustand, selbst die ängstliche müßige Neugier der Bedienten, alles vereinigte sich, die ganze Thätigkeit des einzigen hellen Geistes in Anspruch zu nehmen, der mitten in diesem Wirrwarr fähig geblieben war, für die Uebrigen zu denken.

Ernestos erste Sorge mußte das feierliche Leichenbegängniß des Barons seyn, dessen selbst gewählte Todesart er um Gabrielens Ruhe willen möglichst zu verheimlichen suchte. Der Uebung dieser traurigen Pflicht folgte des neuen Besitzers festliche Uebernahme der Güter und dem zunächst die Untersuchung der bisherigen sehr nachlässig betriebnen Verwaltung derselben. Ernesto übernahm [2] gern jedes Geschäft, theils um Gabrielens willen, theils weil er wirklich unausgesetzter Thätigkeit bedurfte, um sich selbst aufrecht zu halten.

Moritz wendete indessen seine Aufmerksamkeit auf unzählige unbedeutende Kleinigkeiten, die aber alle mit der höchsten Wichtigkeit von ihm betrieben wurden.

Ruhig, keiner Erdennoth sich bewußt, aber krank zum Tode, lag während der Zeit Gabriele in tiefer Betäubung auf ihrem Bette, bis sie nach mehreren Tagen wieder zur Besinnung und ins Leben zurückgerufen ward. Ihr Erwachen glich dem eines Kindes, das nach einer Nacht voll ängstlicher Träume beim ersten Aufschlagen der Augen in das milde treue Antlitz der Mutter blickt. Ihr war, als fände sie sich wieder im Hause der Frau von Willnangen wie bei ihrer ersten Krankheit. Wie damals, sah sie Ernesto und Annette neben ihrem Bette; freundlich reichte sie beiden die Hand und begrüßte mit mildem Lächeln den tiefblauen Himmel voll goldner [3] Herbstwolken, in den sie durch ein großes Fenster, ihrem Bette gegenüber, blicken konnte.

»Ich bin wohl wieder krank gewesen?« sprach sie, »ich habe euch wohl wieder recht viel Sorge gemacht? mir ist auch, als sey ein großes Unglück geschehen, aber ich weiß nicht welches? und so habe ich doch wohl nur davon geträumt.« Da ging die Thüre auf, Moritz trat herein, sein Anblick, seine laute wunderliche Freude über ihre Besserung, riefen sie plötzlich in helles Bewußtseyn zurück. Alles, alles, was geschehen war, stand in einem fürchterlichen Momente vor ihr, klar wie der Tag, die ganze Hoffnungslosigkeit ihrer Zukunft, alle Schrecken der nächsten Vergangenheit. Sie verbarg das Gesicht in die Kissen, ihre Augen schlossen sich wieder, sehnlich betete sie in ihrem Herzen um neuen Schlummer ohne Erwachen, aber sie ward nicht erhört, ihre Jugendkraft siegte und jeder Tag führte sie von nun an näher der völligen Genesung.

Der Tod ihres Vaters war das einzige Ereigniß, dessen Gabriele sich nicht deutlich erinnerte. Sie selbst hatte ja, fast im nehmlichen Momente [4] als er zusammensank, ebenfalls das Bewußtseyn verloren, und so konnte es Ernestos sorgsamer Freundschaft gelingen, sie nach und nach auf diese traurige Begebenheit vorzubereiten, und vor allem ihr das Entsetzen über die Todesart des Barons zu ersparen.

Heiß und bitter quollen Gabrielens Thränen als sie endlich vernahm, daß sie ihrem Vater mit allem, was sie ihm opferte, nur ein paar ruhige Minuten hatte erkaufen können. Alle ihre, auf dieses Opfer gegründete Hoffnungen von seiner zufriedenen Zukunft, seinem heitern Alter, seiner Wiederkehr zu den Menschen und zu milderm Gefühle waren nun verschwunden auf immer; alles, woran sie unter der ungeheuren Last der übernommenen Pflichten, sich zu halten gehofft, war nun mit ihm zu Grabe getragen. Gabrielen blieb kein Trost als das Bewußtseyn, der heiligen Stimme in ihrem Innern gefolgt zu seyn.

Nach langem Zögern ergriff Ernesto endlich die Feder, um Frau von Willnangen die traurige Geschichte der im Schloß Aarheim verlebten Tage [5] kund zu thun. Das grausenvolle Gespräch zwischen Vater und Tochter, durch welches zuletzt Gabrielens traurige Bestimmung entschieden ward, konnte er ihr fast wörtlich mittheilen. Denn als sich der Baron mit seiner Tochter eingeschlossen, hatte Ernesto in der höchsten Angst seine Zuflucht zu Frau Dalling genommen. Zwar war diese nicht im Stande gewesen, ihn in das fest verriegelte Vorzimmer zu bringen, aber sie hatte ihn auf verborgnen Wegen und Treppen zu einem kleinen Behältniß neben dem Kamine des Barons geführt, von wo aus beide alles deutlich vernehmen konnten, was im Zimmer gesprochen ward. Nachdem Ernesto Gabrielens mütterliche Freundin mit jedem, auch dem kleinsten Umstande bekannt gemacht hatte, der zur Entscheidung ihres Geschickes beitrug, fuhr er in seinem Briefe also weiter fort:

»Alle die Bilder und Räthsel, mit denen der Baron Gabrielen betäubte, der grüne Löwe, die schlummernde Königin, alle bestätigen es mir, daß Forschen nach übermenschlichen Kenntnissen, besonders nach dem Stein der Weisen ihn dem Untergange [6] zuführte. In dem zunächst vergangnen Jahrhundert verfielen manche an Geist ausgezeichnete, bedeutende Männer in den nehmlichen Irrthum und gingen unter wie der Baron. Auch in unsern, jedem verjährten Unsinn, jeder Schwärmerei so günstigen Tagen fällt dem Streben nach sogenanntem verborgnem Wissen manches beklagenswerthe Opfer, ohne daß die Welt viel davon erfährt.

Ich bin zufällig mit der Tendenz und dem Ton der in jenes Fach einschlagenden Schriften wohl bekannt. Mir fiel ein staubiger Wust magokabbalistischer und theosophischer Bücher einst in Italien, beim Aufräumen einer alten Bibliothek, in die Hände. Neugierig durchblätterte ich sie, und vieles ist mir aus ihnen im Gedächtniß geblieben, was mir jetzt das Betragen von Gabrielens Vater erklärt. Unter andern entsinne ich mich einer sehr feierlichen Warnung vor der fünften Wiederholung eines chemischen Prozesses, der, viermal geübt, jedesmal die Kraft des Steines der Weisen verdoppelt, aber dem, der ihn zum fünftenmal wagt, unwiderrufliches [7] Verderben bringt. Diese Warnung erklärt mir des Barons Verzweiflung beim Ausbruch der Flamme, sein späteres Klagen über das Vergessen der fünften Zahl, durch die er wahrscheinlich das Unheil sich selbst zugezogen zu haben wähnte. Ich glaube auch die Angst zu verstehen, mit der sein in Wahn versunkner Geist, kämpfend zwischen Sehnsucht und Grausen, der Todesstunde entgegen sah. Wer sich solchen Träumereien überläßt wie dieser unglückliche Greis es that, der ist auch jeder quälenden Einwirkung des Aberglaubens und vor allem dem Grauen der Gespensterwelt verfallen, welchem auch wohl hellere Geister, in dunkeln Momenten nicht immer glücklich entgegenstreben.

Unter der vor Jahrhunderten schon erbauten Burg Aarheim erstrecken sich unabsehbare, in den Fels selbst hineingehauene feuerfeste Gewölbe. Ich habe sie untersucht, so weit ich vordringen konnte. Nach allen Richtungen hin bilden sich zwei Reihen, unter und über einander, in bedeutender Tiefe; viele sind verschüttet, viele von [8] den jetzigen Burgbewohnern nie besucht, einige werden von ihnen noch als Keller benutzt. Ich habe erfahren, daß der verstorbene Baron oft Stunden lang in den Gewölben unter dem jetzt abgebrannten Flügel des Schlosses verweilte. Vermuthlich ruht dort manches ihm wichtige Geheimniß, manches Resultat seiner ängstlichen mühsamen Arbeit, auch wohl manche Schrift, die auf seiner dunkeln Bahn ihn leitete. Was dort liegt, entzog der schützende Fels wahrscheinlich den Flammen, aber der Zugang dazu ist beim Einsturz des Gebäudes durch hohe Schutthaufen, durch zertrümmerte Mauern und schwere Steine unzugänglich gemacht. Des Barons Blick ruhte stets auf diesen Trümmern, sein Sinnen und Trachten ging nur dahin, jede dort begrabene Spur seines Hoffens und Mißlingens der Welt zu verbergen. Es war ihm unmöglich, nur einen Augenblick seine Gedanken von diesem Wunsche abzuziehen, der dadurch bei ihm zur fixen Idee geworden. Kein Wunder daher, daß ihm vor der Möglichkeit graus'te, dort noch nach Jahrhunderten gespenstisch Wache zu halten, im Fall [9] er ohne die Gewißheit der Erfüllung dieses seines einzigen Wunsches von der Oberwelt scheiden mußte. Seine Bücher konnten ihn nur in dieser Angst bestärken; ich erinnere mich in einer solchen Schrift sogar eine förmliche Abbildung des Aufenthalts unseliger Geister gesehen zu haben, die, wie jene Schwärmer lehren, ihn allnächtlich mit der Oberwelt vertauschen müssen, bis der letzte Wunsch erfüllt ist, der sterbend sie beunruhigte.

Es wird Ihnen unglaublich scheinen, liebe Frau von Willnangen! daß ein Mann, der, wie der Baron, durch Geist, Bildung und Verstand sich einst in der Welt auszeichnete, bis zu dem Glauben an solchen Unsinn sinken konnte; aber Einsamkeit, Ehrgeiz und durch diesen erregtes stetes Hinstreben nach einem Punkte haben wohl noch hellere Geister verdüstert. Uebrigens fiel des Barons Jugend in die herzlose, trostlose, jedes höhere Gefühl austrocknende Zeit von Voltaire und Konsorten, und glauben Sie mir, wer in seiner Jugend sich über den bon Dieu mockiren [10] lernte, der kommt im spätern Alter leicht dahin, vor dem Teufel zu zittern.

Unerachtet seiner jammervollen Ansicht von unsrer Zukunft jenseits, peinigte den Baron dennoch ein unsäglicher Ueberdruß am Leben, eine ewige Sehnsucht nach der Stunde des Scheidens aus dieser Welt, in welcher alle sein Hoffen zerstört war. Ich danke Gott, daß Gabriele die unselige Verknüpfung ihres Geschicks nicht ganz zu übersehen vermag. Wüßte sie, daß sie selbst ihrem Vater das längst erwartete Signal gab, die Bürde des Lebens getrost abzuwerfen, unter deren Last er längst seufzte, wüßte sie, daß sie sein Todesurtheil sprach, während sie Ruhe und Freude für den Spätherbst seines Lebens ihm erkaufen wollte, ich glaube sie überlebte diese Entdeckung nicht. Nur einmal wagte ich die Aeußerung gegen sie, daß vielleicht lebhafte Freude über die Erfüllung seiner Wünsche ihm den Schlagfluß zuzog, an dem sie glaubt, daß er gestorben sey, und ich bereute es bitter, als ich sah, wie gewaltsam erschütternd dieser Gedanke ihr Gemüth ergriff.

[11] Und so habe ich denn das Verderben des liebenswürdigsten Wesens vor meinen Augen bereiten sehen, und durfte es nicht abwenden. Vergebens war meine ängstliche Sorge, vergebens daß ich wie Argus sie bewachte! Wie schwach ist die Hand der Freundschaft, um gegen das Schicksal anzukämpfen! Ich sah alles und durfte nichts ändern, um Gabrielens willen durfte ich es nicht. Ich danke meinem guten Genius, daß er mich mit unsichtbarer Hand im Augenblick der Ausführung von einem Plan zurückhielt, den die Verzweiflung mir eingegeben hatte, daß ich Gabrielen nicht gewaltsam entführte, wie ich es Willens war, als ich jeden andern Weg der Rettung mir versperrt sah. Umsonst hätte sie den Schmerz gefühlt, mich einer solchen That fähig zu wissen. Nichts als offenbare Gewalt hätte sie abhalten können, zu ihrem Vater zurück zu gehen und seinem Willen sich zu unterwerfen; ich selbst hätte sie ihm ausliefern oder sie gefangen halten müssen. Ihre Achtung, ihr Vertrauen, jede Möglichkeit ihr in Zukunft als treuer Freund zur Seite zu stehen, hätte ich auf ewig [12] und nutzlos verloren. Wir beide, theure Freundin! wir beide kannten bis jetzt noch nicht die Tiefe und Festigkeit dieses Gemüths, nicht die seltne Kraft, mit der dieses sonst so zarte Geschöpf alles zu tragen, allem zu widerstehen weiß, nur nicht dem innern Vorwurf des Unrechts oder auch nur versäumter Pflicht. Bei aller unbeschreiblichen Aehnlichkeit mit dem Engel, der ihr zur Mutter gegeben ward, trägt Gabrielens Wesen doch auch starke Züge von dem felsenfesten Sinne ihres Vaters, dessen angestammte Geistesgröße ich, trotz seiner Verfinsterung, anerkennen mußte.

Unerachtet des unaussprechlichsten Mitleids, beobachte ich jetzt mit Bewunderung, wie Gabriele den furchtbaren Kampf mit sich selbst besteht. Sie geht gewiß als Siegerin hervor, aber vielleicht sterbend. Schweigend muß ich es sehen, wie sie die Einsamkeit ihres Krankenzimmers benutzt, um mit ihrem armen wunden Herzen fertig zu werden, und sich auf den Weg vorzubereiten, welchen sie künftig zu gehen hat. Ich darf und kann ihr weder einreden noch rathen; [13] beides darf man überhaupt so selten, gerade wenn es der Mühe werth wäre. Und so ergriff ich heute den ersten besten Anlaß, als ich sie eben heitrer als sonst sah, den Wunsch zu äußern, nächstens meine Einsiedelei im Felsenthal aufsuchen zu dürfen. Ich gab vor, diese letzten schönen Tage des Spätherbstes zu Studien für meinen Johannes benutzen zu wollen, aber ich sah deutlich, wie wenig dieses Vorgeben sie täuschte.

Lange ruhte ihr schönes dunkles Auge auf mir ehe sie mir antwortete, dann reichte sie lächelnd unter Thränen mir die Hand. ›Wo lebt noch ein Freund, der wie Sie zu kommen und zu gehen und alles zu errathen weiß, was gut wäre und nützlich?‹ sprach sie. ›Gehen Sie, lieber Ernesto! weil Sie es wollen, setzte sie hinzu, gehen Sie morgen, um wo möglich täglich wieder zu kehren. Es ist freilich nöthig, daß ich mich gewöhne allein zu stehen, aber nur allmählig, wie es die Kinder lernen, darum lassen Sie mich nicht mit einemmale ganz ohne Stütze.‹

[14] Es blieb mir nicht verborgen, wie die Gewißheit, daß ich nicht mehr stündlicher Augenzeuge von den Lächerlichkeiten Moritzens seyn werde, Gabrielen über meine Entfernung tröstet, obgleich ich mir keine Anmerkung mehr über ihn erlaubte, seit jenes unselige Band geknüpft ward.

Arme, arme Gabriele! Giebt es ein härteres Frauenloos als das, sich des Mannes schämen zu müssen dem man alles aufopferte! Oft ist mir, als wäre Augustens Geschick neben ihrem harten starren Gebieter, doch noch dem ihrer unglücklichen Tochter weit vorzuziehen gewesen.

Dieser Moritz, den ich nie mich werde entschließen können Gabrielens Gemahl zu nennen, dieser Moritz geht umher wie einer der nicht weiß, ob ihm ein Königreich zufiel, oder ob ihm nur davon träume. Noch wage ich es nicht, von seinem Benehmen gegen Gabrielen eine Meinung zu fassen, mich dünkt, es sey unstät und wechselnd, wie seine ganze Erscheinung, bis auf die Sprache sogar. Meine Ueberzeugung, daß er wirklich zu gutmüthig ist, um einem lebenden Geschöpf wissentlich wehe zu thun, giebt mir [15] zuweilen einigen Trost, aber leider schmerzt jede unversehens erhaltne Wunde deßhalb nicht weniger, weil sie uns ungeschickter Weise und ohne Vorbedacht versetzt ward. Am beunruhigendsten ist mir eine Spur von mißtrauischem Wesen, das ich leider an ihm bemerke; vermuthlich ist es das dumpfe Gefühl eigner Unliebenswürdigkeit, was ihn argwöhnisch macht, aber ich fürchte davon die schlimmsten Einwirkungen auf Gabrielens künftige Ruhe.«


Der gesellige Kreis, zu welchem Frau von Willnangen und Auguste gehörten, weilte noch immer in Karlsbad, obgleich die Brunnenzeit beinahe vorüber war, und die Zahl der übrigen Fremden mit jedem Tag merklich abnahm. Alle, den Kapellmeister und den Dichter mit eingeschlossen, hatten dem General Lichtenfels versprechen müssen, ihn auf sein nur wenige Tagereisen entferntes Gut zu begleiten, um dort die letzten schönen Tage des Spätherbstes mit ihm zuzubringen. Man harrte nur auf bestimmte Nachricht von Gabrielen, von der man noch [16] nichts als ihre Ankunft in Schloß Aarheim erfahren hatte, um dann sogleich die kleine Reise gemeinschaftlich anzutreten.

Frau von Willnangen hätte sich eigentlich gern davon ausgeschlossen, da sie vernahm, daß auch die Familie Wallburg mit von der Parthie seyn würde, aber sie wußte nicht wie sie dieses anfangen solle, ohne den General durch eine abschlägige Antwort zu kränken, auch fürchtete sie durch gewaltsames Eingreifen dem Glück ihrer Tochter vielleicht in den Weg zu treten.

Augustens sich stets gleichbleibende Heiterkeit, mit der sie Leos augenscheinliche Huldigung sich gefallen ließ, ohne ihn weder geflissentlich anzuziehen noch zurückzustoßen, beruhigte sie ebenfalls nicht wenig. Das fröhliche Mädchen nahm augenscheinlich das Leben noch zu leicht, als daß man ihrer Zukunft wegen hätte ernsten Besorgnissen Raum geben müssen. Mit ächt jungfräulicher Grazie wußte sie den Ernst zum Spiel, das Spiel zum Ernst zu wandeln, und, gleich entfernt von Leidenschaftlichkeit und Ziererei, nichts zu gewähren und dennoch gefällig zu erscheinen. [17] Auch verstand es niemand besser als sie, sich herzlich zu bezeigen, ohne doch zur Vertraulichkeit herabzusinken.

Ernestos lange erwarteter Brief langte endlich in Karlsbad an. Der Schmerz der Frau von Willnangen und ihrer Tochter läßt sich mit Worten nicht ausdrücken, als sie nun die Lösung von Gabrielens Geschick vernahmen. Sie lasen den Brief wieder und immer wieder, und trauten dabei ihren Sinnen nicht, denn was geschehen war, ließ alles, was sie im Augenblick des Scheidens gefürchtet hatten, so weit hinter sich zurück, daß es ihnen fast unmöglich ward, an solche abentheuerliche und fabelhaft erscheinende Ereignisse zu glauben.

Auguste zerfloß beinah in Thränen, als ihr endlich jedes Bestreben, länger an Gabrielens Unglück zu zweifeln, mißlang. »Ach! wäre sie doch damals in unsern Armen gestorben,« rief sie, »schmerzlicher als jetzt hätte ich nicht um sie weinen können und ihr liebes Bild würde zeitlebens wie ein tröstender Engel mich umschwebt haben. [18] In jeder frohen wie in jeder trüben Stunde hätte ich sie in himmlischer seliger Glorie mir gedacht. Jetzt, wenn ich wieder froh werden sollte, muß ich doch mitten in der Freude mich betrüben, so oft es mir einfällt, welch ein Leben sie indessen an der Seite jenes verhaßten lächerlichen Menschen führet, und jeder Schmerz, der mich trifft, wird mir doppelt wehe thun, weil ich immer denken werde: Gabriele ist doch noch tausendmal unglücklicher als ich es je werden kann.«

»Frevle nicht mit dem Schicksal, mein armes Kind,« sprach Frau von Willnangen, indem sie die weinende Tochter in ihre Arme schloß. »Du weißt eben so wenig, welche Pfeile es für dich aufbewahren mag, als du im Stande bist, den ganzen Umfang von Gabrielens Elend zu übersehen. So drückend ihr häusliches Leben an der Seite des ungeliebten, sogar widerwärtigen Mannes auch wahrscheinlich seyn wird, es ist doch nicht der höchste Punkt ihres Unglücks. Jedes stille heimliche Opfer läßt sich bringen, das fast Unleidliche läßt sich ertragen, wenn wir es nur den Augen der Welt verheimlichen können. Shakspeares [19] »Smiling at grief« 2 ist mehr oder weniger das Loos und die Tugend der besten unsers ganzen Geschlechts; wir sind dazu geboren. Nur das Mitleid der Welt ist eine fast unerträgliche Last, und doch wird unsre arme Gabriele diese Last tragen müssen, wenn sie sich nicht in Einsamkeit begraben will oder kann.«

»Mit Moritz von Aarheim in der Einsamkeit!« rief Auguste.

»Es ist furchtbar, ich gebe es zu,« erwiederte Frau von Willnangen, »aber immer doch noch besser, als das Mitleid der guten Freundinnen, die von nun an sich alle berufen fühlen werden, zu Gabrielen stets wie zu einer Kranken zu sprechen, und sich einbilden, die Stimme immer ein paar Töne höher nehmen zu müssen, um mit recht kläglichem Laut und Blick zu fragen: wie sie sich denn befinde? Und denke dir Gabrielens Gefühl in der Gesellschaft, wenn sie bei jeder Plattheit des Menschen, zu dem sie doch nun einmal gehört, unaufhörlich erröthen muß; denke [20] dir, wie ihr seyn wird, wenn sie das heimliche verlegne Lächeln der Anwesenden und die ängstlich ungeschickte Sorgfalt sich nicht verbergen kann, mit der die Bessern um ihrer willen sich stellen werden, als hätten sie nichts bemerkt! Ich weiß nichts traurigeres als solch ein Loos.«

»Und was fängt Gabriele nun mit Ottokars Bild in ihrem Herzen an?« rief Auguste.

»Ich hoffe, sie soll es heilig und treu bewahren in reiner Brust,« erwiderte Frau von Willnangen. »Möge sie es immer in der Strahlenglorie sehen, in welcher es ihrem jugendlich erwachenden Blicke zuerst erschien, so bleibt es der Schutzgeist ihres Lebens auf einer sehr gefahrvollen Bahn. Meine arme Gabriele ist sehr jung, sehr unerfahren, um in der Welt als Gattin eines Mannes dazustehen, den sie nicht einmal zu lieben vorgeben kann, ohne abgeschmackt oder als Heuchlerin zu erscheinen. Und doch fürchte ich nicht wegen dessen für sie, was die Welt ihr etwa anhaben könnte, ich fürchte nur ihr Herz, wenn es erwacht. Möge Ottokars Angedenken es behüten!«

[21] Sobald Frau von Willnangen nur Fassung dazu erringen konnte, eilte sie, die traurige Entscheidung von Gabrielens Schicksal der Gesellschaft mitzutheilen. Alle hörten sie zuerst mit Entsetzen und bald mit der innigsten Theilnahme, obgleich mancher Nebenumstand im Betragen des Barons und auch die Art seines Todes ihnen um Gabrielens willen verschwiegen ward. Zorn über die Bestimmung des liebenswürdigen Wesens war bei dem ältern Theil der Gesellschaft das überwiegende Gefühl, während Leo und seine Schwestern recht innig mit Augusten trauerten. Herr von Wallburg behauptete, es dem Novitätenkrämer, wie er Moritz von Aarheim nannte, gleich angesehen zu haben, daß sein Erscheinen nichts Gutes bedeuten könne; der General ging schweigend, aber heftig bewegt, im Zimmer auf und ab, und stand dann vor Adelbert still, der wie vernichtet, bleich und stumm allein in der fernsten Ecke des Zimmers saß.

»Armer Adelbert!« sprach der General, und strich liebkosend ihm über die dunklen Locken hin, »ich hoffte freilich, es solle anders kommen!«

[22] Mit höchst schmerzlicher Geberde ergriff Adelbert seines Oheims Hand, drückte sie an seine brennenden Augen, an sein hochschlagendes Herz. »Vater,« sprach er, »mein gütiger Vater! ich hoffte nichts, ich wünschte nichts, ach! ich kenne mich ja zu gut, was kann ein Unglücklicher wie ich noch hoffen oder wünschen! Aber ich erfreute mich ihrer Nähe, ihres Anblicks, wie ich der Sterne mich freue, ohne sie zu mir herabziehen zu wollen. Sie war so gut, so tröstend gegen mich wie ein Engel des Himmels, und eben weil sie es war, mußte sie untergehen. Ich bin es, ich, der sie dem Verderben entgegenführte; die Ueberzeugung davon vernichtet mich, und doch ist es so. Nie hätte Moritz von Aarheim nur ihr Daseyn geahnet, wenn sie nicht mitleidig dort im Tempel neben mir verweilte. Er wäre den nehmlichen Abend abgereist, wie er es sich vorgenommen hatte, er wäre nimmer bei Lebzeiten des Barons nach Schloß Aarheim gekommen; nur um meinetwillen durfte das Verderben sie überschleichen. Ich bin vom Schicksal geächtet, niemand darf freundlich mir nahen!« [23] Mit verhülltem Gesicht verließ Adelbert nach diesen Worten das Zimmer, nur Allwill wagte es ihm zu folgen, dessen weiche Natur sich von ihm stets angezogen fühlte.

Der General sandte noch den nehmlichen Abend einen Eilboten nach Schloß Aarheim, um die Bewohner desselben, nebst Ernesto auf das dringendste zu sich einzuladen. Am folgenden Morgen eilte die ganze Gesellschaft Karlsbad zu verlassen, wo sie nichts mehr fesselte.

Ob Herr von Aarheim die Einladung des Generals annehmen, wie er sie aufnehmen würde, war die ganze Reise über der Gegenstand der allgemeinen Unterhaltung. Viele von der Gesellschaft glaubten nach diesem ersten Schritte sein ganzes künftiges Betragen gegen Gabrielen in voraus beurtheilen zu können, sie bedachten nicht die Unmöglichkeit, bei diesem wankenden formlosen Charakter auch nur von der jetzigen Minute auf die zunächst folgende schließen zu können. Alle blieben indessen voll Erwartung, und die, welchen Gabriele am theuersten war, zitterten [24] heimlich vor dem Gedanken an die erste Stunde des Wiedersehens, so sehnlich sie auch diese herbei wünschen mochten.


Das bequeme heitre Schloß des Generals, die schönen Umgebungen im bunten herbstlichen Schmuck, vor allem aber des Eigenthümers ungezwungne edle Gastfreundlichkeit verfehlten nicht, am Ziel der Reise auf die Ankommenden den angenehmsten Eindruck zu machen. Ein möglichst freier Lebensplan, der jedermann zufrieden stellen sollte, kam bald zur Sprache und ward förmlich angenommen. Die Männer beschlossen, den Morgen den Freuden der Jagd zu weihen, während es den Frauen überlassen blieb, sich einzeln in ihren Zimmern oder versammelt im gemeinschaftlichen Gesellschaftssaal, nach eigner Wahl zu beschäftigen, bis die späte Stunde der Mittagstafel Damen und Jäger vereinte. Gesellige Freuden, Spiel, Tanz, Musik, gemeinschaftliches Lesen sollten die Abendstunden ausfüllen und geladne Gäste aus der nächsten Umgegend zuweilen [25] Mannigfaltigkeit und Abwechselung in die Gesellschaft bringen.

Unter Allwills und des Kapellmeisters Leitung vergingen die ersten Tage größtentheils in Anordnungen geselliger Feste, und in Proben kleiner theatralischer Kunstleistungen, die gewöhnlich mehr Freude gewähren als die Aufführung selbst. Letztere ward bis zu Gabrielens Ankunft verschoben, denn der General wünschte Herrn von Aarheim glauben zu lassen, daß alles einzig zu Gabrielens und ihres Gemahls Empfang veranstaltet worden sey. Herrn von Aarheims dadurch geschmeichelte Eitelkeit, hoffte er, würde ihn dann freundlicher stimmen, und ihn bewegen, Gabrielen recht lange im Kreise ihrer Freunde zu lassen.

Weder die Gemüthsstimmung, noch die Gesundheit Adelberts erlaubte diesem, an dem edlen Waidwerk Theil zu nehmen, welchem die Herren den Morgen über, alles andre ausschließend, oblagen. Angezogen von Frau von Willnangens Güte und Augustens traulicher Freundlichkeit, gewöhnte er sich daher gar bald, die Stunden des Vormittags größtentheils im Zimmer dieser [26] Damen, gewöhnlich mit ihnen allein zu verleben. Oft war Gabriele der Gegenstand ihres Gesprächs, und Adelbert konnte dann nie aufhören, den Unstern anzuklagen, welcher ihn, wenn gleich schuldlos, zur ersten Veranlassung ihres traurigen Geschicks machte.

»Mutter!« sprach eines Morgens Auguste, da er eben niedergeschlagener als gewöhnlich sich bezeigte, »liebe Mutter! der Rittmeister verdient unser ganzes Vertrauen, ich kann es nicht länger tragen ihn so sich quälen zu sehen. Ich bitte dich, erlaube, daß ich ihm alles sage, was wir aus Ernestos Briefe von den Umständen wissen, die Gabrielens Vermählung begleiteten. Was du allen andern mit Recht verhehlst, darf er erfahren, denn gewiß er ist jeder Unbesonnenheit unfähig, die Gabrielens Ruhe gefährden könnte.«

Adelbert blickte verwundert auf Augusten, wie sie mit blitzenden Augen und glühenden Wangen bei ihrer Mutter für ihn sich verwendete. »Fräulein!« sprach er endlich, halb lächelnd, halb gerührt, »Sie wünschen mir Trost zu geben, Sie nehmen Theil an meinem Kummer, o hüten Sie [27] sich! auch Sie sind liebenswürdig, jung, ein Engel an Güte, wie ihre Freundin, auch Sie ergreift das Verderben, wenn Sie mit Wohlwollen sich mir nahen.«

»Ich wage es darauf,« erwiderte lächelnd Auguste, »denn Sie retteten meiner Gabriele das Leben. Ja, das thaten Sie, Herr Rittmeister! und eben so unbewußt, als Sie dem unseligen Moritz sie auslieferten. Wollen Sie über das letzte verzweifeln, so müssen Sie auch des erstern sich rühmen. Sagen Sie mir nicht, daß es vielleicht besser sey, Gabriele wäre gestorben; im ersten Schmerz dachte ich das auch; aber eigentlich halte ich doch viel vom Leben. Im Leben ist Hoffnung, wer weiß, welche Freuden es Gabrielen noch aufbewahrt, die sie alle dann Ihnen verdanken muß.«

Frau von Willnangen hatte indessen Ernestos Brief hervorgesucht. »Ich wage es auf Augustens Verantwortung,« sprach sie, indem sie ein Blatt desselben Adelberten hinreichte. »Ja, ich will Ihnen vertrauen, was aus tausend Gründen jedem Andern ein Geheimniß bleiben muß. [28] Der Antheil, den sie an meiner Gabriele nehmen, ist zu innig, als daß ich nicht wünschen sollte Sie von der unverschuldeten Qual zu erlösen. Wissen Sie denn, der eigne Vater hatte Gabrielen dem Tode geweiht; gekränkter Hochmuth brachte den wahnsinnig Verzweiflenden zu dem entsetzlichen Entschlusse, sie, der er keine, ihrer Geburt gemäße Existenz zu sichern wußte, mit sich hinabzuziehen in das Grab. Darum ließ er so plötzlich sie zu sich entbieten, und nur durch Moritzens unerwartete Ankunft ward sie gerettet, ohne selbst die entsetzliche Gefahr zu ahnen, in welcher sie geschwebt hatte. Der Baron fand in der Vermählung des letzten Zweigs des Hauptstammes seines Geschlechts mit dem Erben der Vorrechte desselben den einzig möglichen ehrenvollen Ausweg. Gabriele wurde dem Leben erhalten, während der verfinsterte Geist ihres Vaters allein, freiwillig, hinabstieg ins Reich der Schatten. Lesen Sie hier die Bestätigung des Unglaublichen.«

Adelbert las; das lebhafteste Entsetzen malte sich während dessen in seinen Zügen.

[29] »Sind Sie nun überzeugt?« fragte Auguste, als er schweigend das Blatt zurückgab, »oder werden Sie noch ferner fortfahren, sich selbst mit fruchtloser Reue zu peinigen?«

»Das sollten wir überhaupt nie,« sprach Frau von Willnangen, »denn wie wenig wissen wir was wir thun, wenn es auf den Erfolg unsrer Thaten ankommt! Wie selten hilft uns unsre Klugheit! Was half es denn, daß Ernesto Gabrielen begleitete? Vermochte er es, sie zu beschützen? Das Leben geht mit uns seinen gemessenen Gang; wir werden mitgezogen; unsre besten, überdachtesten Plane scheitern heute am Zufall, unsre Unbesonnenheiten schlagen morgen uns und andern zum Glück aus. Was hilft es, darüber zu klügeln? Laßt uns nur immer das Gute ernstlich wollen und üben, und uns darein ergeben, wenn es anders wird als wir dachten, oder wenn aus unseren an sich gleichgültigen Handlungen ein unvorhergesehenes Uebel entspringt. Der Zukunft vorgreifen wollen, ist vermessen. Nicht umsonst bietet uns die Vorzeit so manches Beispiel von Orakeln, die gerade das [30] angedrohte Unheil herbeiführten, weil die Menschen zu ängstlich strebten, ihm auszuweichen.«


Der Eilbote, welchen der General nach Schloß Aarheim gesandt hatte, kehrte zur rechten Zeit zurück, und zwar mit einem Danksagungsschreiben des Herrn von Aarheim, sehr zierlich, auf goldnem Papier, mit himmelblauer Tinte geschrieben, in welchem dieser bedauerte, daß Geschäfte, tiefe Familientrauer und die noch immer schwankende Gesundheit seiner jungen Gemahlin es ihm unmöglich machten, die an ihn ergangne Einladung anzunehmen.

Alle fühlten sich durch diese abschlägige Antwort verstimmt, und da unbefriedigte Neugier keinen kleinen Antheil an dieser Verstimmung haben mochte, so sah man sich wenige Tage später durch die ganz unerwartete Ankunft Ernestos um so freudiger überrascht.

Die ganze Gesellschaft eilte ihm entgegen, drängte sich an ihn mit tausend Fragen und [31] Erkundigungen nach allem, was Gabrielen betraf, und es bedurfte seiner ganzen bekannten Geistesgewandheit, um dem überlästigen Forschen schicklich auszuweichen, nicht bald hier zu viel, bald dort zu wenig zu sagen. Mit Noth und Mühe gelang es ihm endlich, eine ruhige Stunde zu erringen, in welcher er vor seinen und Gabrielens innigsten Freundinnen sein volles Herz ungestört ausschütten konnte. Der Schmerz über alles was vorgegangen war seit sie sich zum letztenmal sahen, erneute sich auf das lebhafteste in dieser traulichen Zusammenkunft, und es währte ziemlich lange, ehe Ernesto dazu kommen konnte, von Gabrielens jetziger Lage Bericht zu geben.

»Das unerträglichste bei Gabrielens Geschick, dünkt mir, ist dessen Farblosigkeit,« sprach Ernesto. »Ihr Leben gleicht einem jener grauen Tage, wo es weder friert noch regnet, sondern alles in einem dicken handgreiflichen Nebel eingehüllt ist, der erkältend jedes Leben erstarren läßt, ohne es eben zu tödten. Blumen und Blätter sind nicht erfroren, nicht verwelkt, nicht erstorben, aber sie sehen aus, als wären sie das alles. Ein rechtschaffner [32] Orkan, in welchem die Welt zittert und splittert, wäre mir tausendmal lieber.«

»Moritz ist gut,« fuhr er im Laufe des Gesprächs fort, »aber es ist nicht die rechte, warme, menschliche Güte, die ihn beseelt; nicht jene Güte, die zum Herzen geht, weil sie recht aus dem Grunde des Herzens kommt, und bei der jedermann wohl wird. Er ist gut, weil er nicht böse ist, er ist nicht böse weil es sich nicht schicken will, weil nichts dabei herauskommt, weil – ich weiß, Sie werden mich nicht mißverstehen wenn ich es ausspreche – weil er nicht den Muth dazu hat, wenn gleichwohl zuweilen die Neigung. Er ist feig, wie alle Narren seiner Art, obwohl ihn dann und wann der Moment hinreißt, wie damals als er dem Baron das Fläschchen mit Kirschlorbeergeist entwinden wollte. Dies scheint indessen die größte Heldenthat seines Lebens gewesen zu seyn, denn er hörte nicht auf davon zu sprechen wenn er mit mir allein war. Ich halte diese Feigheit Moritzens für dessen gefährlichste Eigenschaft, denn in ihr ruht der Keim zu[33] tausend andern, als da sind: Mißtrauen, Eifersucht, Unwahrheit, Kleinlichkeit, Eigensinn.« –

»O genug, genug von ihm,« rief Auguste, »sprechen Sie uns von unsrer Gabriele.«

»Die ist ein Engel, von dem sich eben nichts weiter sagen läßt, wenn man den Erdenklumpen nicht erwähnen darf, an den diese Psyche leider gefesselt ist,« war Ernestos Antwort. »Woher das junge Kind den Muth, die Geduld, ja sogar die Lebensklugheit hernimmt, die sie bei jeder Gelegenheit an den Tag legt, ist mir unbegreiflich. Wahrlich ja, ich fange an in ihren kindlichen Glauben einzugehen, daß der Mutter verklärter Geist unsichtbar sie umschwebe und sie leite. Sie erinnern sich, wie nach der Trennung von Ottokar sich ihr ganzes Wesen so gewaltsam emporrang, daß nach überstandner Lebensgefahr die Genesene, obgleich immer dieselbe, uns damals wie in einem verklärten erhöhten Zustande erschien. Jetzt ist sie von jeder Hoffnung auf eine glückliche Zukunft geschieden, wie damals von dem Gegenstande ihrer stillen Liebe, und zum zweitenmal [34] hat die nehmliche Veränderung mit ihr sich zugetragen, denn zum zweitenmal fühlt sie sich erhoben und gekräftigt durch das Bewußtseyn des schweren Siegs über sich selbst. So hoch die Gabriele, welche in Karlsbad von Ihnen schied, über dem furchtsamen, blassen, zitternden Kinde steht, das bei den Tableaus der Gräfin Rosenberg zuerst erschien, so hoch erhebt sich die jetzige Gabriele über jene, die Sie verlassen mußte. Auch im Aeußern ist sie verändert. Sie ist größer, lieblicher, schöner als je. Bescheiden, demüthig sogar, vereint sie mit dem Ausdruck sichrer stiller Ruhe im Gemüth, eine Würde, einen edlen Anstand, der sogar mir imponirt, und den armen Moritz oft dahin bringt, daß er ärger als je alle Sprachen durcheinander jagt, um das rechte Wort zu finden; besonders wenn er ihr etwas anzukündigen hat, von dem er ahnet, daß es ihren Wünschen nicht zusagen möchte, wie zum Beispiel das Ablehnen der Einladung des Generals.«

»War es denn nicht möglich ihn zu bewegen, diese anzunehmen?« fragte Auguste.

[35] »Ich glaube, es wäre Gabrielen möglich gewesen, aber sie scheint sich Verhaltungs-Regeln vorgeschrieben zu haben, denen ich nicht einzureden wage,« war die Antwort. »Ihre ersten Schritte auf der neuen Lebensbahn sind so bestimmt, so sicher, dabei so eigen, daß es Pflicht ist sie ungestört gehen zu lassen. Ihr eignes Vergnügen, jeden Genuß opfert sie Moritzen auf, sobald er den Wunsch davon nur äußert, ohne es der Mühe werth zu achten, ihm merken zu lassen, daß sie ihm ein Opfer bringt. Im Gegentheil, sie ist gerade in solchen Momenten noch freundlicher gegen ihn als sonst. Zu Bitten erniedrigt sie sich nie, denn wen man nicht liebt oder wenigstens achtet, von dem kann ein edler Sinn nichts für sich erbitten wollen. Gilt es aber ihrem Gefühle von Recht und Unrecht, dann erklärt sie ihre Meinung, ruhig und bescheiden, und hält sie fest, und läßt sich nicht irren, ohne sich weiter mit ihm darüber zu streiten. Freilich habe ich dieses nur einmal erlebt, aber sie ist ja auch noch nicht viel über einen Monat ihm vermählt. Herr von Aarheim machte Anstalt sie [36] von Annetten zu trennen, die er bei Frau Dalling in Schloß Aarheim lassen wollte. Er war im Begriffe für Gabrielen eine Pariser und eine Londoner Kammerfrau zu verschreiben, und kündigte ihr dieses mit großem Triumf als einen Beweis seiner ungemeinen Sorgfalt für sie an. Gabriele erklärte ihm mit wenigen Worten, daß Annette ihr zu große Beweise der liebevollsten Treue gegeben habe, als daß sie je sie von sich lassen könnte. Die fremde Bedienung verbat sie sich gänzlich, weil dergleichen zu einem deutschen Haushalt nicht passe. Moritz redete sich Stunden lang außer Athem, um die Kunstfertigkeit und Vortrefflichkeit der ausländischen Kammerfrauen zu beweisen, Gabriele gab alles zu, behauptete aber ganz gelassen, nichts von diesen Talenten nöthig zu haben, und Annette bleibt bei ihr nach wie vor.«

»Raubt er ihr denn alle Zeit zum Briefwechsel mit ihren Freunden? zur Uebung ihrer Talente? zum Genuß ihrer selbst?« fragte Frau von Willnangen.

»Gottlob nein,« sprach Ernesto, »wenigstens [37] nicht für jetzt, so lange die Marotte vorhält, die er sich in den Kopf gesetzt hat, seinen Ehestand auf englische Weise zu führen. Gabriele gewinnt dadurch unendlich an Freiheit, und fühlt sich obendrein sehr glücklich, daß diese Art zu leben sie einer Menge lästiger Vertraulichkeiten überhebt. So fällt es ihnen zum Beispiel gar nicht ein, einander mit Du anzureden. Er nennt sie Madame oder Frau von Aarheim, sie ihn Herr von Aarheim. Da er wie alle Nachahmer die englische Sitte karikirt, so würde er es höchst unschicklich finden, wenn ein Fremder an ihrer Art mit einander umzugehen merken könnte, daß sie ein verheirathetes Paar sind, und er beeifert sich deshalb, besonders vor Leuten, einer oft höchst lächerlichen formellen Höflichkeit gegen sie, die ihn immer drei Schritte von ihr entfernt hält. Bei Tische steht sie nach englischem Gebrauch früher auf als er, um sich in ihr Zimmer zu begeben. Er bleibt dann noch ein Stündchen allein sitzen, knackt Nüsse auf, und da er kein Trinker ist, so läßt er seinen Wein vor sich stehen und verrauchen; dabei langweilt er sich fürchterlich [38] ohne es zu achten, denn es geschieht à l'angloise. Durch diese Lebensweise gewinnt Gabriele den größten Theil des Tages für sich, den sie in ihrem Zimmer bei gewohnten Beschäftigungen zubringt, ohne daß es Herrn von Aarheim oft einfiele, sie durch seine Gegenwart zu unterbrechen. Er ist zufrieden, wenn sie nur bei den Mahlzeiten die Honneurs macht, mehr fordert man ja auch in England von keiner Lady. Leider aber hat diese Nachahmung englischer Sitte uns auch um ihre Gegenwart hier im Schlosse gebracht. Moritz behauptet, ein neuvermähltes Paar dürfe wohl gleich nach der Hochzeit auf Reisen gehen, was leider Gabrielens Gesundheit nicht erlaubt hat, aber während der Flitterwochen sich in Gesellschaft zu zeigen, wäre unschicklich, undelikat und gemein, und eigentlich müsse er sich wundern, wie man ihm nur habe so etwas zumuthen können. Ich glaube aber der Ursache seiner Weigerung besser auf den Grund zu sehen, sie heißt Eifersucht, Eifersucht ohne bestimmten Gegenstand, und deshalb um so gefährlicher. Herr von Aarheim möchte alle Welt von Gabrielen [39] entfernt halten, eigentlich mehr aus Mißtrauen in sich als in sie. Seine englischen Grundsätze, welche dem Mädchen jede, der Frau keine gesellige Freiheit erlauben, kommen ihm dabei trefflich zu statten. Vor jetzt schwebt indessen obendrein Adelberts Bild, trotz der Narben und des lahmen Fußes ihm als das eines höchst gefährlichen Nebenbuhlers vor. Unaufhörlich suchte er mich und Gabrielen auf das ängstlichste über ihn auszuforschen, nannte ihn alle Augenblicke und beobachtete dabei Gabrielens Mienen auf eine wirklich lächerliche Art. Uebrigens aber, glaube ich, thut er auch mir die Ehre an, mich für gefährlich zu halten, da er mit Gabrielen nach seinen Gütern am Rheine gegangen ist, wo er den Winter zubringen will, ohne mich einzuladen, sie zu begleiten, oder auch nur späterhin zu besuchen. Im Gegentheil nahm er es als ganz bekannt an, daß ich hieher gehen müßte.«


Die Abende wurden immer länger. Graue Nebel verhüllten Tage lang die Sonne und trieben [40] die eifrigsten Waidmänner bei ungewohnt früher Zeit dem warmen kerzenhellen Versammlungs-Saale zu, wo die gesellige Freude in steter Abwechselung an jedem Abende lebendiger sich regte.

Seit es entschieden war, daß die zur Königin der Feste bestimmte Gabriele nicht erscheinen würde, hatte alles einen raschen lebendigen Gang genommen. Zwar war sie weder vergessen, noch war der Antheil gesunken, welchen Freunde und Bekannte an ihrem Geschick nahmen, aber man hatte sich darüber ausgesprochen und wandte nun gerne seine Aufmerksamkeit andern Gegenständen zu.

Jeder Eindruck verlischt, der nicht täglich erneut wird, vergebens sucht man ihn festzuhalten, vergebens strebt man, sich länger zu freuen oder zu betrüben, sobald die Zeit ihre Rechte geltend zu machen beginnt. Selbst Auguste ließ oft vom fröhlichen Taumel sich hinreißen, obschon sie gleich darauf sich leichtsinnig schalt, so fröhlich gewesen zu seyn, während ihre freudenarme Gabriele einsam-traurige Stunden verlebte.

[41] »Sie versündigen sich an der Natur und an sich selbst,« erwiderte ihr einst Ernesto auf eine ähnliche Aeußerung, welche sie über ihre jugendliche Fröhlichkeit that. »Wie könnten wir nicht nur den Schmerz, sondern auch die Freude tragen, bliebe ihr Empfinden immer sich gleich? Glauben Sie mir; Niemand von uns überlebte das zwanzigste Jahr, wenn uns nicht die alles ebnende, alles erleichternde Gewöhnung zur tröstenden Begleiterin auf dem Lebenswege gegeben wäre; lebenssatt, oder mit gebrochnem Herzen sänken wir alle lange vor der Zeit in das Grab.«

Im übrigen Schlosse ging es unterdessen gar fröhlich her, und je bunter und lauter das Leben von den aus der ganzen Umgegend herbeiströmenden Gästen betrieben wurde, je zufriedner bezeigte sich der General. Mit der zuvorkommendsten Gastfreiheit bot er zu allem die Hand, munterte zur Ausführung jedes Einfalls auf, den irgend einer seiner Gäste zum allgemeinen Vergnügen angab, und ward dabei selbst mit jedem Tage heitrer. Auch die Freude über Adelberts sichtbares Genesen verjüngte augenscheinlich den [42] liebenswürdigen Greis, der mit mehr als väterlicher Liebe an diesem hing. Seine Augen glänzten, wenn sie auf der Gestalt des geliebten Pflegesohns ruhten, dessen Wange in der Farbe der Gesundheit wieder zu erblühen begann, und dessen ganzes Wesen von neuem in frischer lebendiger Theilnahme an der Außenwelt erwachte.

Adelberts Wunden heilten wie durch ein Wunder, der Arm blieb freilich steif, obgleich fast unmerklich, aber der gelähmte Fuß erlaubte ihm schon an Augustens Seite im Polonoisen-Takte den Saal zu durchwandern, und sey es nun die oft belobte Nachwirkung der Brunnenkur, oder die Wirkung des gegenwärtigen heitren Lebens, Adelbert behielt bald nicht mehr vom Ansehen eines Kranken als er bedurfte, um von allen Fräuleins drei Meilen in der Runde für höchst interessant erklärt zu werden.

Die Zeit, welche man ursprünglich im Schlosse des Generals zu verweilen beschlossen hatte, war unbemerkt längst vorübergezogen und der mit starken Schritten herannahende Winter bestimmte jetzt die Gesellschaft, sehr ernstlich an den Abschied [43] von ihrem freundlichen Wirthe zu denken, sich zur Heimreise zu rüsten.

Die Ungewißheit der Frau von Willnangen in Hinsicht auf Leo und Augusten machte dieser indessen manche Sorge. Vergebens hatte sie fortwährend Beide mit der größten Aufmerksamkeit beobachtet; Leos Benehmen und Augustens Herz wurden ihr mit jedem Tage räthselhafter, und sie selbst immer unentschiedener, ob es nicht die Pflicht der Mutter heische, Augusten um ihr Verhältniß zu dem jungen Manne zu befragen, dessen auffallende Weise, sie allen andern vorzuziehen, von der ganzen Gesellschaft als ein Beweis gegenseitigen Verstehens angesehen wurde.

»Wecken Sie keinen Nachtwandler, indem Sie ihn beim Namen rufen,« sprach Ernesto, den sie deshalb zu Rathe zog. »Sie gerathen in Gefahr, ihn eben dadurch in den Abgrund zu stürzen, wodurch Sie ihn warnen wollten. Leo ist ein ganz guter Mensch, aber leider gehört er zu jener Legion von Kurmachern, die in der Mädchenwelt so viel Unheil stiften. Zum Glück ist Auguste mit ihrer gegenwärtigen Lage zufrieden[44] genug, um keine Veränderung ihres Zustandes herbei zu sehnen. Ich bin überzeugt, daß Leo keinen tiefen Eindruck auf sie gemacht haben kann, obgleich sie seine Huldigungen sich recht gern gefallen läßt. Bei alle dem wäre es aber dennoch möglich, daß sie eine Zeitlang sich einbildete, ihn zu lieben, wenn man durch unnütze Fragen sie auf diese Gedanken brächte; sie könnte in diesem Glauben sogar dahin kommen ihm ihre Hand zu reichen, wenn er sich erklärte und sich für unglücklich zu halten, wenn er es unterließe, was aus Furcht vor dem gnädigen Papa und der gnädigen Mama wahrscheinlich geschehen wird.«

»Glauben Sie in der That nicht, daß Leo Augusten genug liebt um wenigstens einen Versuch zu wagen, die Beistimmung seiner Eltern zu einer Verbindung mit ihr zu erhalten?« fragte Frau von Willnangen.

»Ich glaube es nicht,« erwiderte Ernesto; »denn was konnte ihn bestimmen, fast bis zum Abschiedstage damit zu zögern? Mir scheint es, er gehört zu der Zahl junger Leute, welche wie [45] im Traume umherwandeln, ohne eigentlich zu wissen, was sie wollen. Sie seufzen, sie werfen mit zärtlichen Blicken um sich, sie thun bedeutend, alles ohne Plan und Zweck. Dabei sind sie wetterwendisch wie eine Kokette aus dem vorigen Jahrhundert. Heute glühend, morgen kalt wie Eis, scheinen sie die gestern zur Huldgöttin Erhobene kaum noch zu kennen, und sehen gelassen, und eigentlich nicht ohne heimliches Behagen drein, wenn es ihnen gelingt, ein helles Auge zu trüben, eine jugendliche Wange erbleichen oder erröthen zu machen, und ein unerfahrnes junges Herz in schmerzliche Unruhe zu versetzen.«

»Welch ein Bild!« rief Frau von Willnangen. »Ist es möglich, daß Sie Leo von Wallburg dadurch bezeichnen wollen, der noch vor wenigen Wochen in Karlsbad so viel bei Ihnen galt?«

»Was er mir galt, gilt er noch bis auf einen gewissen Punkt,« erwiderte Ernesto. »Seit ich hier bin, habe ich um Augusten willen ihn genauer beobachtet, und ihn auf mancher der Ungleichheiten [46] betroffen, welche ich eben rügte. Ich hätte deren wahrscheinlich noch mehrere an ihm erlebt, wenn Augusten von dieser Seite nur etwas anzuhaben gewesen wäre; sie blieb aber in vollkommner Ruhe, wenigstens äusserlich, und da mußte er das Spiel freilich aufgeben. Uebrigens streite ich ihm keine der vorzüglichen Eigenschaften ab, um derentwillen ich ihn sonst schätzte. Er ist hübsch, artig, gewandt, unterrichtet, als Sohn und Bruder lobenswerth, wahrscheinlich wird er auch einmal ein Ehemann, mit dem eine Frau, die mit ihrer Glückseligkeit nicht gar zu hoch hinaus will, ein zufriednes Leben führen kann. Aber sein Betragen gegen Augusten erkläre ich deshalb doch für unmännlich und unwürdig. Es kann ihm nicht verborgen seyn, daß der Ahnenstolz seiner Eltern sich einer Verbindung mit ihr stets auf das ernstlichste entgegen stellen wird; er fühlt, daß es ihm an Muth, Kraft und Liebe gebricht, dieses Hinderniß zu bekämpfen; er wagt nicht einmal einen Versuch dazu und dennoch strebt er Augustens Herz zu gewinnen und sogar indirekt der Welt weis zu machen, es [47] sey gewonnen, ohne doch sich selbst auf irgend eine Weise verbindlich zu machen. Das ist es, was mich an ihm empört, denn solche Künste sind verächtlich. Gilt das einfach gegebne Wort dem rechtlichen Manne so viel als ein Eid, so sollte ihm auch jede absichtlich erregte Erwartung so viel gelten als ein Versprechen.«

»Das, was Sie über den jungen Wallburg jetzt aussprachen, habe ich mir immer dunkel gedacht,« erwiderte Frau von Willnangen, »aber dabei blieb ich stets in der Ungewißheit, was ich thun könne. Oft glaubte ich den General bitten zu müssen, daß er den jungen Mann geradezu über sein Verhältniß zu Augusten zur Rede stellen möge, denn als Mutter dies selbst zu übernehmen, dazu fehlte es mir an Muth oder an Demuth.«

»An beiden wahrscheinlich, und das ist ein rechtes Glück,« erwiderte Ernesto. »Aus solchem Einmischen dritter Personen kommt selten etwas gescheutes heraus, wenn gleich zuweilen eine Heirath, die mich denn immer an Molieres [48] mariage forçé erinnert, und bei welcher beide Theile sich gewöhnlich sehr schlecht befinden.«

»Aber wie meinen Sie, daß ich mich jetzt benehme, sowohl gegen Leo als Augusten?« fragte Frau von Willnangen.

»Am besten, Sie benehmen sich gar nicht, sondern lassen alles gehen wie es geht,« war die Antwort. »Gönnen Sie Augusten noch die paar Tage hindurch die Freude, sich von Leo adoriren zu lassen, die Trennung kann wohl einen halb erstickten Seufzer kosten, vielleicht wird auch beim Abschied ein Thränchen mit den Augenwimpern zerdrückt werden müssen, aber dabei bleibt es gewiß. In vier Wochen gedenkt sie Leos nur noch als eines vortrefflichen Partners bei Tanz und Spiel, und vermißt ihn höchstens, wenn sie auf der Promenade ihren Shawl selbst tragen muß. Auguste steht zu hoch über den gewöhnlichen Mädchen, als daß Leos Koketterie wirklich hätte Eindruck auf ihr Herz machen können, und schon ihre ungetrübte Heiterkeit muß Sie hievon überzeugen. Aber wäre dies auch wider Vermuthen geschehen, so wird dieser Eindruck nur [49] um so leichter schwinden, wenn sie niemanden hat, mit dem sie darüber sprechen kann. Glauben Sie mir, die Vertrauten sind oft der Ruhe gefährlicher, als die Liebhaber selbst. Eine ermahnende Mutter ist auch eine Art von Vertraute, sie nennt doch wenigstens den theuern Namen, und der süße Klang verfehlt selten, die Töchter über das Tadeln der Mutter zu trösten.«

»Wenn ich Sie nicht kennte wie ich Sie kenne, Freund Ernesto,« sprach Frau von Willnangen, »so müßte ich Sie nach diesen Aeußerungen nicht nur für höchst frivol, sondern auch für herzlos und gemüthlos halten. Sind das Ihre Ansichten der Liebe?«

»Der Liebelei,« erwiderte Ernesto, »des kalten chinesischen Feuerwerks von ausgeschnittenem Papier, hinter denen man Lämpchen stellt, womit die Jugend so groß thut. Glauben Sie mir, nur Wenige sind berufen, den göttlichen Funken in reiner Brust zu hegen, welcher der Ursprung der heiligsten Gefühle und alles Großen und Herrlichen ist. Wem dieser einmal sich entzündet, dem verlischt er nie, auch nicht im [50] Sturme des Lebens, auch nicht im Grabesdunkel der Trennung, auch nicht unter dem Schnee des Alters. Aber es giebt auch luftige Irrlichter für die Menge, welche ihnen nachjagt. Man läuft, man fällt, man verirrtsich, verlockt andre, aber am Ende kommt doch alles in eine Art von Ordnung, und wenigstens stirbt die Welt dabei nicht aus.«


Am vorletzten Abend des Abschiedstages sollte die schon längst angekündigte Aufführung eines Lustspiels seyn. Allwill war dessen Verfasser, und das Stück bestimmt, die lange Reihe der in dem gastlichen Schlosse des Generals genoßnen Freuden würdig zu beschließen. Zuschauer und Schauspieler sahen dieser Darstellung mit der gespanntesten Erwartung entgegen, welche freilich die vielen Proben und andre Vorkehrungen erregen mußten, mit denen Allwill die ganze Zeit über gestrebt hatte, die Erscheinung seines Stücks so vollkommen als möglich vorzubereiten.

[51] Zum erstenmal in seinem Leben, wenn gleich nur auf einem Privattheater, sollte dem Dichter die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches werden; er sollte die Schöpfung seiner Fantasie auf den magischen Bretern ins plastische Leben gerufen sehn. Mit welchem Enthusiasm er daher bei der Anordnung dieses Festes zu Werke ging, ist leicht zu erachten. Jahrelang hatte er gestrebt bis zur lampenhellen Bühne durchzudringen, ohne daß es ihm, trotz der Klagen über Mangel an guten neuen Komödien, gelungen wäre. Ein Schicksal, welches fast alle Dichter mit ihm theilen, die ihre theatralischen Arbeiten nicht eher schwarz auf weiß dem Urtheil der Welt ausliefern mögen, als bis sie sich von der Wirkung überzeugt haben, welche dieselben an dem Platz machen, für welchen sie bestimmt wurden.

Das Ausland ist in dieser Hinsicht billiger als wir, selten erscheint dort ein Schauspiel gedruckt, das nicht vorher auf der Bühne die große Probe überstand. Aber unsre Theaterdirekzionen bedenken nicht, daß es eben so unmöglich ist, [52] vor der Aufführung über den theatralischen Werth eines Stücks ein ganz genügendes Urtheil zu fällen, als ohne gehörige Beleuchtung über den Effekt eines Gemäldes zu entscheiden. Schwerlich wird ein Dichter zur möglichsten Ausbildung seines Talents gelangen können, dem diese praktische Erfahrung versagt ward, und der heutige Mangel an guten für das Theater passenden neuen Schauspielen ist vielleicht größten Theils nur den Schwierigkeiten zuzuschreiben, die sich zu diesem Zweck dem Dichter überall entgegenstellen.

Bei Privatbühnen sind die Proben bei weitem das Ergötzlichste für die Mitspielenden, das weiß jedermann. Auch Allwill erfuhr es, denn er wollte oft über die gute Laune seiner Schauspieler verzweifeln. Dafür erklärten ihn diese für den wunderlichsten, krittlichsten, herrsüchtigsten aller Theaterdirektoren, und zuletzt galt es für ausgemacht, daß zwei Allwills im Schlosse hauseten, feindliche Zwillingsbrüder, die nie zusammen erschienen; der eine, der Dichter, die Liebenswürdigkeit selbst, der andre aber, der Theaterkönig, ein Despot ohne Gleichen, ein [53] heftiger mürrischer Kautz, mit dem eben kein Auskommen sey.

Des armen Allwills gute Laune war indessen schon bei der Austheilung der Rollen auf fürchterliche Proben gesetzt worden. Es gab dabei unendliche, zum Theil sehr lächerliche Schwierigkeiten, die er aber sich nur zu sehr zu Herzen nahm. Wenigstens dreimal so viel Schauspieler und Schauspielerinnen als man bedurfte, hatten anfangs sich mit großem Eifer gemeldet, und zuletzt kostete es dennoch nicht geringe Mühe, nur so viele zusammenzubringen, als man nothwendig brauchte, um alle Rollen des Stücks gehörig zu besetzen. An ersten Liebhabern und Liebhaberinnen fehlte es freilich nicht, aber ein redseliges altes Fräulein und einen etwas rauhen invaliden Papa wollte niemand übernehmen. Einer der besten Freunde des Generals, welcher schon vor dreißig Jahren den Major Tellheim mit dem größten Beifall gespielt hatte, fuhr im Zorn auf und davon, weil Allwill durchaus den ersten Liebhaber von niemand anders als Leo von Wallburg spielen lassen wollte. Andre, [54] die ebenfalls mit den ihnen zugetheilten Rollen nicht zufrieden waren, folgten dem ehemaligen Tellheim, indem sie sich ganz in der Stille fortschlichen, und Allwill war wirklich in Gefahr, die Aufführung seines Stücks hier eben so gut, als wäre es ein öffentliches Theater, an Rollenneid scheitern zu sehen.

Endlich ließ Frau von Grünborn, die Nichte jenes Tellheims, sich durch unablässiges Bitten und Zureden der übrigen Gesellschaft bewegen, die alte Tante zu übernehmen; ihrem Beispiele folgten andre, und so kam das Ganze zur allgemeinen Freude allmählig in anscheinende Ordnung. Frau von Grünborn brütete indessen ganz im Stillen noch über einen großen Plan, denn so ganz gutwillig konnte sie sich doch nicht entschließen, in einer, ihrer Meinung nach, undankbaren Rolle aufzutreten, und bei dem ersten einsamen Spaziergang mit Augusten, den sie herbeizuführen wußte, nahm sie Gelegenheit, zu versuchen, ob es ihr nicht gelingen könne, diese ihren Wünschen günstig zu stimmen.

»Sie dauern mich unbeschreiblich, liebes [55] Fräulein von Willnangen,« wendete sie das Gespräch nach unendlichen Liebkosungen gegen Augusten, sobald sie weit genug vom Hause entfernt waren um keine Lauscher fürchten zu müssen. »Sie dauern mich, Allwills Eigensinn zwingt Sie, die Elise zu spielen, und ich fühle recht gut, wie entsetzlich es Ihnen seyn muß, vor aller Welt mit Leo von Wallburg zärtlich zu thun. Gewiß der Gedanke an die Aufführung des Stücks ist Ihnen deßhalb recht peinlich, es kann nicht anders seyn, und ich habe es Ihnen schon lange angesehen. Sie wissen nicht, wie sehr ich Sie liebe, theure Auguste, um Ihnen einen Beweis davon zu geben habe ich ganz in der Stille Ihre Rolle neben der meinen gelernt, und bin nun im Stande, Ihnen einen Tausch anzubieten. Das hätten Sie wohl von Ihrer Nanny nicht erwartet?« setzte sie hinzu, indem sie Augusten feurig umarmte.

Mit dem allergrößten Erstaunen hörte Auguste den absurdesten Vorschlag von der Welt aus dem Munde einer Frau, die alt genug war, um ihre Mutter zu seyn, und die nun, schalkhaft lächelnd, [56] in jugendlicher Verschämtheit vor ihr stand. Die Anspielung auf ein näheres Verhältniß zum jungen Wallburg war ihr freilich so unangenehm als unerwartet, und eine leichte zornige Regung röthete dabei ihre Wangen, bald aber siegte das unbeschreiblich Lächerliche in der ganzen Zumuthung ihrer neuen Freundin, und lächelnd gab sie ihr Gehör, als diese mit der selbstzufriedensten Redseligkeit fortfuhr, ihren Plan weiter aus einander zu setzen.

»Vor allen Dingen,« sprach Frau von Grünborn, »müssen wir unsern Rollentausch aller Welt verschweigen, bis zur Stunde der Ausführung, sonst giebt ihn Allwill nimmermehr zu; er hat es sich zu fest in den Kopf gesetzt, daß wir alle seinen Befehlen folgen müssen; steckt er aber erst in seinem Souffleurkasten, so muß er sich schon alles gefallen lassen, was über seinem Haupte auf der Oberwelt vorgeht. Ich habe mir in den Proben Ihr Spiel genau gemerkt, wenn Sie die Rolle noch ein paar Mal mit mir durchgehen, so wird Herr von Wallburg keinen Unterschied finden, und des Beifalls der Gesellschaft [57] können wir gewiß seyn. Auguste ward dem Vorschlage immer geneigter, je länger sie ihm zuhörte. Der Gedanke, wie komisch Leos Verwunderung und Allwills zorniges Schrecken sich ausnehmen müßten, gewann immer mehr lockendes, so daß sie, zuletzt in einem Anfall von Uebermuth, sich wirklich entschloß, in den Tausch zu willigen, und nun, nicht minder eifrig als Frau von Grünborn, selbst sich bemühte, alles darauf vorzubereiten.

Der lustige Erfolg übertraf bei weitem Augustens Erwartung. Beide Damen fanden mit leichter Mühe einen Vorwand bis zum Aufrollen des Vorhangs in ihrem Ankleidezimmer allein zu bleiben.

Leo, der mit einem Monolog zuerst die Bühne betrat, erstarrte über den Anblick der Frau von Grünborn, wie Hamlet indem er den Geist seines Vaters erblickt. Allwill reckte sich lang aus seinem Souffleurkasten empor, und machte Miene, ganz auf das Theater heraufsteigen zu wollen, um wegen des Rollenwechsels Rechenschaft zu [58] fordern, ja selbst die Zuschauer begannen sehr lebhaft zu werden. Frau von Grünborn ließ sich indessen von allem was vorging, nicht im mindesten anfechten. Sie hatte ihre Rolle zu gut gelernt, um der Eingebungen des Souffleurs zu bedürfen und besaß auch überdem ziemliche Gewandheit und theatralische Uebung. An Schminke und jugendlichem Putz hatte sie ebenfalls nichts gespart; man sah deutlich wie sie in großer Herzensfreudigkeit sich selbst Illusion machte, und so war denn die Gesellschaft endlich gutmüthig genug, sich diese ebenfalls gefallen zu lassen und dem Wagestück ward von allen Seiten applaudirt.

Doch dieser gemäßigte Beifall verwandelte sich in ein laut donnerndes Bravo-Rufen, in ein ganz unerhörtes Händeklatschen, wie man es in einem Privattheater gar nicht für möglich halten sollte, als Auguste erschien. Die altmodische Tracht ertheilt jungen Personen immer durch den Kontrast des Scheinenwollen mit dem wirklichen Seyn einen eignen unbeschreiblichen Reiz. Das [59] gepuderte Touppée, die zu beiden Seiten des jugendlichen Gesichtchens tief hineingehende altmodische Dormeuse, aus der die wunderschönen hellen Augen schalkhaft herausblitzten, die schlanke Taille, welche das lange Korsett erst recht versichtbarte, die netten Füßchen in ihren spitzen Hackenschuhen, die man bei der hochaufgeschürzten altfränkischen Zirkassienne deutlich sah, alles dieses verlieh Augustens Erscheinung eine wunderbare Anmuth, von der niemand eine Ahnung haben konnte, der sie nur im gewöhnlichen Leben zu sehen gewohnt war. Ihr mit der heitersten Laune aufgefaßtes und durchgeführtes Spiel ließ den Taumel der Bewunderung, den ihr Anblick erregt hatte, gar nicht enden. Alles ward dadurch versöhnt. Leo konnte über den Streich, welchen sie ihm gespielt hatte, nicht länger zürnen, Allwill setzte sich getröstet wieder auf seinem unterirdischen Ehrenposten zurecht, Frau von Grünborn umarmte sie mit anscheinendem Entzücken, sobald sie wieder zwischen die Kulissen trat, und pries überlaut die eigne Selbstverleugnung, mit der sie Augusten die interessanteste [60] Rolle im Stück freiwillig abgetreten haben wollte.


Je lauter die Freude im Schauspielsaale sich äusserte, je trüber ward Adelbert. Kaum vermochte er es über sich, das Ende eines kleinen Liederspiels abzuwarten, in welchem die scheidenden Gäste unter der Leitung des Kapellmeisters dem gastfreien Hausherren zuletzt ihren Dank brachten. Schmerzlich bewegt verließ er den Saal, sobald er es unbemerkt thun zu können glaubte, und erschrak nicht wenig, als mit ihm zugleich auch Auguste durch eine andre Thüre in ein an das Theater stoßendes Nebenzimmer trat.

Verlegen, wie sonst nie, standen sie da, und keines wagte das andre anzublicken, bis der Abschied zur Sprache kam, der beiden das Herz zusammenpreßte.

»Sie gehen,« sprach Adelbert, »und in diesem Moment fühle ich erst, wie sehr Ihre Nähe das Element meines Lebens ward. Erinnerung ist [61] alles, was mir nun übrig bleibt; ich weiß, um wie viel reicher durch diese mein Daseyn geworden ist, aber wenn mich nun die Sehnsucht ergreift, wie werde ich diese überwinden? Und wenn ich ihr nachgebe, wenn ich über Berg und Thal hineile, um wieder einmal in den Strahlen ihrer lieben, gütigen Augen mein Herz zu erwärmen, ach Auguste! wie werde ich dann Sie finden?«

»Ich hoffe wie jetzt,« erwiderte Auguste sehr freundlich; »hier nehmen Sie meine Hand darauf, Sie finden mich wie jetzt, und kämen Sie auch erst nach langen Jahren; dann vielleicht um so gewisser, genau so,« setzte sie lächelnd mit einem Blick auf ihre Theater-Kleidung hinzu.

»Zwingen Sie mich nicht, mich selbst zu täuschen,« sprach Adelbert, und drückte mit trübem Blick ihre ihm dargebotene Hand an seine hochbewegte Brust. »Mein tröstender Engel betrat mit Ihnen die Schwelle dieses Hauses, mit Ihnen verläßt er es wieder, ich weiß es. Diese Hand, welche jetzt in der meinen ruht, wird in [62] wenigen Tagen einem Glücklichern gereicht. Leo – doch ich mißbrauche ihre Nachsicht, verzeihen Sie mir, ich fühle beschämt, wie unbescheiden ich ward.«

»Leo?« rief Auguste und ward dabei feuerroth, »Leo? Nun der zieht übermorgen jen Norden, während wir dem Süden uns zuwenden, und fast möchte ich wetten, daß ich Sie früher wieder sähe als ihn.«

»Fräulein! wäre es möglich! verstehe ich Sie?« fragte Adelbert sehr bewegt. »Ach ich weiß nicht, welch ein böser Dämon mich in dieser Stunde zwingt, immer auszusprechen was ich eigentlich verschweigen müßte!« Es ist wohl Ihr fremdes Ansehen, was so mich verwirrt,« fuhr er, mit trübem Lächeln sie betrachtend, fort. »Sie sind Sie selbst, und sind es auch nicht. Gewiß wäre es sündlich vermessen, zu wünschen, Sie wären wirklich, was sie diesen Abend scheinen wollen, aber ich kann den Gedanken daran nicht los werden und einem armen Invaliden ist er wohl zu verzeihen, der so Ihnen näher zu stehen wähnen dürfte. Sie sind so reich, daß [63] Sie dennoch bleiben was Sie sind, wenn gleich diese Rosen verblüht wären.«

»Hat es wohl je in der Welt einen jungen Mann gegeben, der einem artigen Mädchen dreißig Jahre mehr und dazu ein gepudertes Touppée wünscht, bloß um ihr etwas schönes zu sagen?« rief Auguste ein wenig gezwungen lächelnd, und wandte sich der Thüre zu, in welcher der General ihr plötzlich entgegentrat, um sie zur Gesellschaft abzuholen.

Bei Spiel und Tanz schwärmte man noch bis tief in die Nacht hinein. Es war als ob die Freude jetzt, so nahe vor dem Scheiden, erst recht lebendig werden wollte. Nur Leo irrte verdrüßlich und abgesondert von den übrigen durch die lange Reihe der Zimmer. Seit mehr als einer Stunde vermißte er Augusten, ohne sie eigentlich suchen zu mögen, als Frau von Grünborn zu ihm trat und unter der Behauptung, sie habe Augusten zu einer Quadrille höchst nöthig, lachend seinen Arm ergriff, um mit ihm das ganze Schloß nach ihr zu durchstreifen.

[64] Beide gelangten auf ihrer Wanderung an das Vorzimmer der Frau von Willnangen, es ward darin gesprochen, das hörte man deutlich, die Thüre war nur angelehnt, neugierig blickte Frau von Grünborn durch die Spalte und fuhr im nehmlichen Moment mit einem ganz eigenen Gesicht zurück, um in großer Hast ihren Begleiter an ihre Stelle zu schieben.

Leo traute seinen Augen nicht, er erblickte Augusten in Adelberts Armen und neben dieser Gruppe Frau von Willnangen und den General. Eingewurzelt wäre er stehen geblieben, hätte nicht Frau von Grünborn ihn wieder mit sich fort zur Gesellschaft gezogen, wo sie jedem, der ihr in den Weg kam, die eben gemachte Entdeckung im strengsten Vertrauen zuflüsterte.

Bald wurden aller Blicke forschend dem armen Leo zugewendet, der, von der allgemeinen Aufmerksamkeit gedrückt, verstimmt, erschrocken sogar, es dennoch nicht wagen mochte, sich früher zu entfernen, als die übrigen, um niemanden Raum zu lauten Bemerkungen hinter seinem Rücken zu geben. Doch da der General sich [65] unter dem Vorwand eines ihm plötzlich überkommenen Geschäfts entschuldigen ließ, so zerstreute sich bald darauf die ganze Gesellschaft.

Tausend unangenehme, einander widerstrebende Empfindungen bemächtigten sich Leos, sobald er in seinem Zimmer allein sich befand, und raubten ihm für diese Nacht den Schlummer. So wenig es ihm in den Sinn gekommen seyn mochte, sich ernstlich um Augusten zu bewerben, so schien sie ihm doch in diesem Moment unendlich reizend und ihr Besitz höchst wünschenswerth, gerade weil er ihm unerreichbar geworden war. Am meisten aber peinigte ihn Reue über sein bisheriges Streben, sich vor der Welt den Anschein eines innigern Verhältnisses mit Augusten zu geben; und die Eitelkeit, welche ihn dazu angetrieben hatte, ward jetzt seine empfindlichste Strafe. Wie oft hatte er nicht Augusten die gleichgültigsten Dinge ab sichtlich mit einem höchst wichtigen Gesicht zugeflüstert! wie oft sich bemüht, dankbar gerührt auszusehen, während sie mit ihm vom Wetter sprach! Unzähligemal hatte er den unbedeutendsten gegenseitigen Gefälligkeiten ein geheimnißvolles [66] Ansehen zu geben gesucht und gewußt! Alle diese Veranstaltungen, die er mit so großer Mühe ersonnen und ausgeführt hatte, halfen jetzt zu nichts, als ihm in den Augen der Gesellschaft das Ansehen eines Abgewiesenen, Zurückgesetzten zu geben. Augustens Charakter stand zu hoch, als daß selbst der Neid es hätte wagen mögen, ihn in ein zweideutiges Licht zu stellen. Leo begriff bei so gestellten Dingen, daß ihm keine andere Wahl blieb, als entweder morgen demüthig, wie ein Verstoßener, das öffentliche Mitleid und den heimlichen Spott der Anwesenden zu ertragen, oder in der Stille sich zu entfernen, ehe es im Schlosse Tag ward. Ein innerer Widerwille, den glücklichen Adelbert zu sehen, trug viel bei, ihn zu der Wahl des letztern zu bestimmen; er hatte die Flamme zu nahe umgaukelt, um nicht jetzt sich von ihr ergriffen zu fühlen, und fürchtete daher, vor den Augen des glücklichen Paars etwas trübselig dazustehen. Nach vorher genommener Rücksprache mit seinen Eltern, machte er sich daher in aller Frühe auf den Weg. Die Ueberzeugung, daß er aus einem [67] Lande und von Menschen scheide, welche nie wieder zu sehen in seiner Macht stand, und daß kein spöttisches Wort aus dieser Ferne in seiner Heimath ihn erreichen könne, war das einzig Tröstliche, was er mit sich nahm.


Strahlend in einer Freudenglorie, als wäre er selbst der beglückte Bräutigam, stellte der General am folgenden Morgen die Braut seines Adelberts der Gesellschaft vor. Die herzlichste Theilnahme aller Anwesenden empfing sie mit lauten Glückwünschen, nur Herr und Frau von Wallburg machten hierin eine Ausnahme, und was sie anscheinend Freundliches sich nicht entbrechen konnten dem Brautpaar zu sagen, war augenscheinlich nur ein Opfer mit kalten Lippen, aus kaltem Herzen der Konvenienz gebracht. Es mag wunderlich scheinen, daß sie, die eine Verbindung Augustens mit ihrem Sohne zwar zuweilen fürchteten, aber nie wünschten, und gewiß nur gezwungen sie zugelassen haben würden, [68] sich jetzt beleidigt fühlten, weil man es nicht in ihre Macht gestellt hatte, solche auszuschlagen. Sie bildeten sich ein, Augustens Verlobung als ein gegen Leo begangenes Unrecht ansehen zu müssen, eigentlich aber verstimmte sie nur die angeborene Unart mancher Naturen, welche nicht ohne heimlich-neidische Regung einen Andern im Besitz dessen glücklich sehen können, was sie selbst verschmähten. Unter dem Vorwande dringender Geschäfte, welche ihren Sohn schon gezwungen hätten, bei Tagesanbruch ohne Abschied fortzureisen, beurlaubten auch sie sich noch in der nehmlichen Stunde und eine allgemeine Erkältung, wie man sie vor weniger Zeit noch nimmer hätte vermuthen können, begleitete ihren Abschied.

Der übrige Theil der Gesellschaft ließ sich gerne bewegen, noch einige Tage beisammen zu verweilen, um sich des neuen Ereignisses zu erfreuen, dessen unerwartetes und schnelles Entstehen zu mancher abgesonderten Unterhaltung den Stoff hergeben mußte.

Adelberts und Augustens gegenseitiges Wohlgefallen hatte sich indessen weit früher als Andere [69] und sogar sie selbst es vermutheten in eine herzliche, innige Neigung verwandelt. Verlassen, verrathen, an schweren Wunden geistig und körperlich erkrankt, war Adelbert früher nur durch seines Oheims väterliche Liebe über dem Abgrund der Verzweiflung gehalten worden, der jedem sich öffnet, welcher aus goldenen Jugendträumen plötzlich in einer Welt voll höhnender, treuloser, verächtlicher Larven zu erwachen glaubt. Herminiens Angedenken ließ nicht ab, ihn zu verfolgen, es war zu innig mit seinem Daseyn verwoben, er hatte nur sie gekannt, einzig sie. Zu Hause war sie die Sonne seines Frühlings gewesen, auf der Universität beflügelte die nahe Hoffnung auf ihren Besitz seinen Fleiß, im Kriege hatte diese Hoffnung ihm Elend, Wunden, tiefgefühlten Schmerz über sein zerrüttetes Vaterland ertragen helfen. Sie schwand und mit ihr der leitende Stern seines Lebens. Er blickte auf die kurze Laufbahn, die er zurückgelegt hatte. Ueberall, seit er ins thätige Leben trat, starrte mannichfaches Unrecht, Elend und Verrath ihm entgegen, seine Jugend fiel in eine sehr trostarme [70] Zeit, in der auch die Zukunft sich immer düsterer verhüllte. Was blieb ihm daher anders, als jene ungemessene Sehnsucht, zu sterben, welche so leicht die Jugend zu ergreifen und in trübe Unthätigkeit zu versenken pflegt! Da strahlte plötzlich Gabrielens mildes Licht in die trübe Nacht seiner Schwermuth, er sah, wie fromm, wie ergeben, wie freundlich sie einen großen Schmerz trug, dessen Daseyn zwar keine Klage verrieth, aber ihr ganzes Wesen bezeugte. Er blickte zu ihr auf, wie zu einem höhern Wesen, wie zu einer Heiligen, der man nur in demüthiger Ferne nachzustreben wagt. Ihr Mitleid, ihre Theilnahme an seinem Geschick nahm er als einen unverdienten Beweis ihrer Huld, bis sie ihm entschwand und Auguste an ihre Stelle trat. Auch diese war freundlich, mild, theilnehmend und voll zarter Schonung. Weniger überirrdisch als ihre Freundin, schien sie in ihrem fröhlichen Jugendglanz ihm näher zu stehen. Ihr anscheinendes Verhältniß zu Leo von Wallburg beunruhigte ihn nicht, er wähnte sich auf ewig von jedem Anspruch in Liebe und Glück ausgeschlossen; [71] um so getroster überließ er sich der süßen Gewohnheit, nur in Augustens Nähe zu leben. Tausend Zufälligkeiten banden mit unsichtbaren Fäden ihn immer fester an sie, jeder Tag brachte ihm neue Beweise ihrer zarten Theilnahme an allem, was ihn betraf, besonders rührte ihn ihr Bestreben, die Angst um Gabrielens Geschick, das er veranlaßt zu haben glaubte, von seiner Seele zu nehmen. So lebten beide über zwei Monate lang im wechselndem, aber stets freundlichem Verhältnisse neben einander. Auguste freute sich am Gelingen ihres Strebens, das verfinsterte Gemüth eines edlen Menschen zu erheitern, ihn der Welt und dem Leben wieder zu geben, die so viel Ansprüche an ihn hatten; sie gewann ihn lieb, wie Frauen alles lieb gewinnen, dessen sie mit treuer Pflege sich annehmen. Jeder Tag lehrte sie Adelberts schönen, reinen Sinn besser kennen, und Leos wechselndes Benehmen fing an, sie immer weniger zu interessiren. So nahte die Zeit der Trennung, und Adelbert wie Auguste gewahrten erst jetzt, wie viel sie indessen einander geworden waren. Der General hatte,[72] ohne es zu wollen, ihrer Unterredung nach dem Schauspiel zugehört; längst bemerkte er mit innigem Wohlgefallen, aber ganz in der Stille, das Heranblühen der Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches, und der jetzige Moment schien ihm günstig, durch sein Hinzutreten alles zu ordnen und mit klarem Sinn dem jungen Paare in der eignen Erkenntniß seiner selbst zurecht zu helfen.

Und so geschah es denn bald, daß liebend und freudig Auguste ihre Hand abermals in Adelberts legte, um sie ihm nie zu entziehen. Entzückt drückte dieser das liebliche Wesen an seine Brust, das ihm zum Lohn für den Kampf um Vaterland und Ehre, die mit Rosen der Liebe durchflochtene Bürgerkrone häuslichen Glücks bot. Zwar fühlte er nicht die flammende Gluth, welche in einem ähnlichen Momente an Herminiens Seite ihn Sinnenverwirrend zu einer Zeit ergriffen hatte, von welcher er jetzt gern den Blick abwandte, ohne sie doch ganz vergessen zu können. Er fühlte sich aber um so glücklicher, je ruhiger er war, denn diese Ruhe nahm er als [73] das Pfand einer heitern segensreichen Zukunft, die aus Augustens seelenvollem Auge ihm lächelnd winkte. Auguste war zu glücklich, um der unlängst verflossenen Tage oft zu gedenken, in welcher Leo sie umflattert hatte, und geschah es ja zuweilen, so erschienen sie ihr wie ein jugendliches Spiel, aus dem zu ihrem eigenen großen Glück nicht Ernst geworden war.

Von Frau von Willnangen mütterlicher Freude, von Ernestos Triumph über den Scharfblick, mit dem er Augustens Herz durchschaut hatte, schweigen wir. In Adelberts Begleitung traten beide mit Augusten froh und hoffnungsreich den Weg in ihre Heimath an, wohin ihnen der General noch vor Ende des Winters zum Hochzeitfeste zu folgen versprach.


Ein langer Brief von Gabrielen, der erste ausführliche, begrüßte Frau von Willnangen bei ihrer Ankunft zu Hause.

[74] »Ich weiß es,« schrieb Gabriele, »ich weiß, Ihr mütterlich liebendes Herz sehnt sich schon lange nach genauer Kunde vom Geschick des armen verwaisten Wesens, das Ihnen so viel, ach so unendlich viel verdankt; aber ich weiß auch, Sie lassen statt aller Entschuldigungen meines bisherigen Schweigens die bloße Versicherung Ihrer Gabriele gelten, daß sie nicht schrieb, weil sie es nicht konnte, weil sie nichts zu schreiben wußte, so sonderbar dieses auch klingen mag.

Den äußern Gang meines Geschicks meldete Ihnen Ernesto; er, der theilnehmende Augenzeuge, vermochte dieß weit besser als ich. Schwindelnd, beinahe bewußtlos den widerstrebendsten Gefühlen zum Raube, war ich vom Wirbel des Lebens fortgerissen worden. Jede schicksalsschwere Minute übergab mich der ihr folgenden, ich konnte kaum die Gegenstände erkennen, an denen ich vorübergeschleudert ward, bis zur unabänderlichen Entscheidung meiner Zukunft, während jene Minuten sich zu weniger als vier und zwanzig Stunden an einanderreihten.

[75] Sie wissen es, ich that was ich mußte, ich duldete, was keine irrdische Macht von mir abzuwenden vermochte, doch am Ziele schwand meine Kraft. Ich ward krank, liebe, gütige Frau! sehr krank. Aus der Betäubung, während welcher meine physischen Kräfte sich wieder gesammelt hatten, erwachte ich zum tiefsten Schmerz über den Tod meines Vaters, ich blickte in meinem Jammer um mich her nach Trost, ich erkannte den treuen Freund Ernesto und Annetten, alles andere aber war mir fremd, wildfremd, ich selbst sogar, ich und meine künftige Bestimmung. Das Fremde aber soll man nie beurtheilen, bis es zum Bekannten geworden ist, damit später keine Ungerechtigkeit uns zu Schulden komme. Darum mußte Ihre Gabriele wohl schweigen, es währte lange, ehe ihr alles klar ward.

Nun bin ich genesen, bin meiner selbst wieder mächtig. Ich erkenne mich wieder; mein Gefühl, mein Seyn, mein Leben, alles was mich umgiebt, ist mir deutlich geworden, so daß ich es nun wagen darf, Ihnen von allem Rechenschaft abzulegen. Vorahnend sehe ich, wie bei Lesung dieser [76] Stelle meines Briefs Ihr Herz höher schlägt, wie Furcht vor der nächsten Zeile sie ergreift, und Sie Klagen erwarten läßt, welche alle Ihre Güte und Liebe nicht zu stillen vermögen. Nein, geliebte, mütterliche Frau! beruhigen Sie sich, Ihre Gabriele klagt um nichts, als um den Tod ihres Vaters. Der lebensmüde Greis ruht im Grabe sanft und still von einem Daseyn aus, das er, ich bin dessen überzeugt, um keinen Preis wieder aufnähme. Gern und schnell entfloh sein entfesselter Geist zu Regionen des Friedens; darum sollte ich nicht trauern. Aber ich bin eigennützig und in den Tiefen meines Herzens regt sich der Glaube, daß es meinem Streben gelungen seyn würde, ihm auch dieses irrdische Daseyn wieder lieb zu machen, wäre er mir nur nicht sobald entschwunden. Es dünkt mich oft hart, daß kaum ein einziger Augenblick seiner Zufriedenheit mir zum Lohne meines Gehorsams ward, und oft muß ich gewaltsam mich zusammennehmen, um mich daran zu erinnern, daß ich ja mein eignes Heil bereitete, indem ich ihm gehorchte; daß ein qualvolles Daseyn, innere unauslöschliche [77] Vorwürfe mein Loos geworden wären, wenn er in Unfrieden mit mir dieses Leben verlassen hätte.

›Und hast du denn Heil dir bereitet? bist du glücklich? Gabriele!‹ So höre ich Sie fragen. Glücklich, meine theure Freundin, glücklich ist undenkbar viel! Wer ist denn glücklich? Die Kinder sind es, auch ich war es, da ich ein Kind war. Ich war es auch noch in einem einzigen Thränenund Wonnenreichen Moment, an der ersten Grenze der Jugend, die jetzt in meinem kaum angetretenen achtzehnten Jahr mir schon so fern zu liegen scheint! Und später, als die segnende Hand meines Vaters meine Stirn berührte, sein Dank bis in die tiefste Tiefe meines Gemüths erklang, war ich da nicht auch glücklich? Ja ich erkenne es dankbar, ich war es, wenn gleich nur in seligen Momenten. Mir wurden Lichtpunkte im Leben, wie Wenigen, und damit darf das Kind Ihrer Wahl sich zufrieden gestellt dünken. »Gabriele du weichst der Wahrheit aus, du sprichst von der Vergangenheit, und verhehlst mir die Gegenwart!« Nein geliebteste Frau! ich weiche nicht aus, ehrlich [78] und offen wie immer, will ich Wahrheit Ihnen geben.

Ich bin zufrieden, denn ich bin resignirt, möchte ich sagen, wenn Sie diesen fremdartigen Ausdruck, für den ich aber in unserer Sprache keinen Ersatz zu finden weiß, nicht in zu trübem Sinne nehmen wollen. Friede mit mir selbst aus reinem Bewußtseyn entsproßen, giebt meinen Tagen Heiterkeit und meinen Nächten Schlaf. Was darf ich mehr wollen? Alle jene Uebungen, jene süßen Beschäftigungen, die ich sonst unter Ihren Augen trieb, füllen auch jetzt in der Einsamkeit meine Stunden vergnüglich aus, mir bleibt Zeit für alles, was sonst auch mir lieb war. Meine äußern Umgebungen lassen mir nichts zu wünschen übrig. Eine reiche Kupferstichsammlung, mehrere vorzügliche Gemälde, plastische Kunstwerke, eine in frühern günstigern Jahren gesammelte reiche Bibliothek sind der Schmuck unseres Hauses und stehen mir stündlich zu Gebot. Wir wohnen in einer entzücken den Gegend; mit unaussprechlicher Sehnsucht male ich mir des Frühlings Erwachen in diesen wunderherrlichen Thälern, auf diesen [79] Rebenhügeln, wenn um sie die grünen Wogen des von Eisesbanden befreiten Stromes den fröhlichen Tanz wieder beginnen werden.

Herr von Aarheim (er selbst wünscht es, daß ich stets so ihn nenne) Herr von Aarheim begünstigt freundlich und nachsichtig alle meine kleinen Liebhabereien, er ist wohlwollend, aufmerksam und gütig gegen mich. Ob er manche Sonderbarkeit, die uns bei seinem ersten Anblick von ihm auffiel, theilweise abgelegt hat, oder ob Gewohnheit sie mir weniger auffallend macht, wage ich nicht zu entscheiden; so viel ist gewiß, daß diese seine Angewöhnungen sehr selten störend in unser häusliches Leben eintreten, und wo sie es könnten, fühle ich die Verpflichtung, jeden Mißton schonend und zuvorkommend abzuwenden, so viel dieß in meiner Macht steht. Auch ohne das Band, durch welches mein Vater in seinen letzten Stunden mich Herrn von Aarheim vereinte, wäre er als mein nächster Verwandter zugleich der natürliche Vormund und Beschützer meiner Jugend gewesen, und als solcher berechtigt, Achtung und Fügung in seinen Willen von mir zu fordern. [80] Meine jetzige Verbindung mit ihm macht mir beides zur heiligsten Pflicht, ich übe sie gern, und seine wohlwollende nachsichtige Art mir zu begegnen, erleichtert mir vieles.

Wahr ist es, wir leben sehr einsam, die Nachbarschaft ist wie ausgestorben, alles nun dem Winter auf dem Lande ausgewichen, dem lustigen Leben in den Städten zugezogen, nur wir allein von allen Güterbesitzern der Gegend, sind hier geblieben. Doch Sie wissen, Einsamkeit war von jeher die Freundin meiner Jugend, und jetzt bedarf ich ihrer doppelt. Denn ich hatte und habe noch manches mit mir allein abzumachen, wozu ich vieler Zeit bedarf. Herr von Aarheim glaubt auch, es wäre gut, wenn ich, ehe ich in die Welt gehe, mich erst in häuslicher Stille an meine jetzigen Pflichten gewöhne, und lerne, was künftig mir obliegen wird zu verwalten. Ich fühle, wie sehr er Recht hat, und selbst, wenn ich seinen Gründen etwas entgegen zu setzen wüßte, würde ich aus Wahl vermeiden es zu thun, denn das stille Familienleben auf dem Lande hat auch im Winter für mich großen Reiz. Sehnte ich [81] mich nur nicht so unaussprechlich und oft nach Ihrer und Augustens lieber Gegenwart! Vermißte ich nur nicht so schmerzlich den heitern belehrenden Umgang Ernestos, des treuen vielerfahrnen Freundes!

Herr von Aarheim gedenkt im nächsten Spätjahre eine Reise nach Italien zu unternehmen. Vielleicht gelingt es mir dann, während der Zeit seiner Abwesenheit mich in Ihrer geliebten Nähe für die lange Trennung von Ihnen zu entschädigen. Oft wenn mich gar zu sehr nach Ihnen bangt, beschwichtige ich mich selbst mit dieser lieben Aussicht. Es wird mir ja hoffentlich nicht schwer werden, Herrn von Aarheims Zustimmung zu einem Besuche bei Ihnen zu erhalten. Zwar liegt es in seinem Reiseplan, daß ich ihn begleiten soll, aber ich bin entschlossen, dieses nicht zu hun, und ich werde zu Hause bleiben, weil ich es für besser achte, jetzt noch Ottokars Nähe zu meiden.

Ottokar! Da steht er, der Name, den ich je wieder zu nennen, mir einst auf ewig verbieten zu müssen glaubte, und meine Hand zitterte nicht [82] indem ich ihn jetzt niederschrieb. Daß er dasteht, sey Ihnen Bürge meines innern Friedens; es ist der Name des Schutzgeistes meiner jetzigen Ruhe, und der ganzen Zukunft meines Lebens. Jetzt erst verstehe ich die wahre Meinung meiner verewigten Mutter, wenn sie mich lehrte: ›Liebe ist der Quell unaussprechlicher Seligkeit, durch sich allein, ohne Hoffnung, ohne Erwiderung, ohne Wunsch sogar.‹ Ja wahrlich, in dieser höchsten Reinheit, muß sie die Seligkeit der Engel seyn, die von uns unerkannt, schützend uns umschweben!

Ich denke Ottokar, und bin versöhnt mit allen Ereignissen, die in einer Welt mich treffen können, in welcher auch er lebt, um seinetwillen liebe und ertrage ich alle Menschen, die mich in meinem Wirkungskreis berühren, die guten wie die bösen, die freundlichen wie die widerwärtigen. Er ist mir fern, und nie vielleicht sehe ich ihn wieder, aber er lebt, lebt wirklich, ist nicht das Geschöpf meiner Fantasie. Daß ich dieses mit Ueberzeugung weiß, beseligt mein Gemüth mit unnennbarem Frieden. In mir regt sich auch [83] nicht der leiseste Wunsch, daß etwas in unserem gegenseitigen Verhältnisse anders wäre als es ist. Darum reise ich nicht nach Italien, denn alles muß so bleiben. Der Schmerz der Trennung ist vorüber, und nun halte ich mich an die Seligkeit, ihn gefunden zu haben. Meine Liebe ist ja nur Freude an seinem schönen Daseyn, und diese wird mich begleiten bis an mein Grab, sie wird mich bewahren, rein und treu mich schützen vor jeder zerstörenden Leidenschaft, sie kann nicht vergehen so lange ich lebe und sie zu erhalten braucht es keines Wiedersehens.

Gewiß, meine liebevolle zweite Mutter! Sie zittern nicht für Ihr Kind bei diesem Bekenntniß? Zittern Sie nicht! Ohne Erröthen darf ich sogar in Herrn von Aarheims Gegenwart Ottokars gedenken, ich dürfte es, wäre der Mann, dem mein Vater mich verband, zugleich der Gegenstand meiner freien Wahl. Ich kenne den ganzen Umfang der heiligen ernsten Pflicht, die mir auferlegt ward, aber mein Herz schlägt ruhig und zeiht mich keiner Untreue. Vor dem Altare gelobte ich Treue dem Gemahl, gefällige Achtung, Ergebenheit[84] und liebevolle Theilnahme an allem, was ihn berührt in Freude und Leid; mehr kann niemand geloben und ich werde halten was ich versprach. Was aber hat dieses Geloben mit dem Gefühl zu thun, das mein inneres Daseyn mit Ottokar aufs innigste verwebt? Dieses ist nicht von dieser Welt, hat mit ihr so ganz und gar keinen Zusammenhang, daß jede ihrer Einrichtungen es nur entheiligen könnte. Wozu jemals geloben, Ottokar ewig zu lieben? Gelobt man denn zu leben? zu athmen? Das kommt ja alles von selbst, und die Liebe, die ich meine, ist ja nur reines ätherisches Leben ohne Absicht, ohne Wollen entstanden, und kann nie vergehen. Wie ich Ottokars, so trug meine Mutter Ferdinands Bild in reiner, treuer Brust, und sie war das Muster der Frauen.

Sie sehen demnach, meine theure zweite Mutter! Sie können ruhig seyn um Ihr entferntes Kind. Ich bin zufrieden. Im Aeußern nichts, das tief mich verletzen könnte; im Innern Kraft und Muth, Liebe und Frieden. Was darf der arme Mensch vom Schicksal Höheres fordern? Ich [85] wende den Blick hinab auf die Tausende, die neidend zu mir heraufblicken, und schaue nicht hinauf zu jenen, denen ein vollerer Freudenkranz, von wenigern Dornen durchflochten, gereicht ward, als mir.«


Wer einer Feuersbrunst, oder der Raubsucht plündernder Feinde alle seine Habe hingegeben sah, der nimmt, was unverhofft ihm gerettet ward, so dankbar auf, als wäre es ein Geschenk. In der ersten Freude über das schon verloren Geglaubte dünkt man sich anfangs mit dem zehnten Theil seines Eigenthums beinah reicher als vorher im Besitz des ganzen, und nur allmählig gewöhnt man sich wieder, ein jedes gehörig zu würdigen.

Gleich einem solchen, dem Feuer oder den Feinden entrißnem Kleinode, betrachteten Gabrielens Freundinnen diesen ihren ersten Brief seit ihrer Vermählung. Mit innerem Zagen und mit [86] widerstrebender Hand hatte Frau von Willnangen ihn entsiegelt; sie fürchtete in herzzerschneidenden Klagen ihres Lieblings die traurige Bestätigung aller der trüben Ahnungen lesen zu müssen, welche Gabrielens Geschick ihr in den dunkelsten Farben vorspiegelten. Was sie von ihr las, übertraf daher so ganz ihre Erwartung, daß wenig daran fehlte, sie hätte sich dadurch verleiten lassen, sie glücklich zu preisen. Freilich schwand dieser erste Freudentaumel früh genug, aber der tröstende Eindruck konnte dennoch nicht gänzlich verlöschen. Allen den lieben Sorgen, allen den mannigfaltigen Beschäftigungen, welche Augustens Ausstattung und Vermählung nothwendig machten, unterzog sich Frau von Willnangen von nun an mit weit leichterem Herzen, und auch die junge Braut gab an Adelberts Seite sich dem Glück unbefangener hin als zuvor. Gabrielens trauernde Gestalt war in manchen Momenten oft wie ein stiller Vorwurf zwischen Augusten und die Freude getreten. Die Ueberzeugung, daß die geliebte Freundin weit weniger beklagenswerth sey, als sie es sich gedacht hatte, schien ihr jetzt erst die [87] rechte Erlaubniß zu geben, es sich selbst zu gestehen wie glücklich sie sich fühle.

Der General Lichtenfels und Adelbert theilten freudig die Hoffnungen, welchen Frau von Willnangen und ihre Tochter sich so unbedingt überließen, nur Ernesto ward sichtbar trübe und verstimmt nach Lesung des Briefes, der alle andern beruhigt hatte. Verstummend gab er ihn in die Hände der Frau von Willnangen zurück, und antwortete nur mit einem halberstickten Seufzer und abgewandtem Blicke ihren, um Bestätigung des eignen frohen Gefühls bittenden Augen.

Nicht Gabrielens gegenwärtige Lage beängstigte so den treuen Beschützer ihrer Jugend. Er kannte die Elastizität ihres Gemüths, dessen Kraft zum Guten durch Uebung, auch der schwersten Tugend, nur erhöht, nicht gemindert werden konnte und baute fest darauf. Aber seit er Gabrielens Brief gelesen hatte, vermochte er es nicht ein banges Vorgefühl künftigen Unheils von sich abzuschütteln. Er zitterte vor dem Gedanken, sie einst, vielleicht bald die tiefe Einsamkeit verlassen zu sehen, in welcher ihr jetzt alle ihre Tage [88] in steter Dämmerung, von lieben Erinnerungen umgaukelt, hinschwanden. Denn Ruhe, ungestörte einförmige Ruhe, dieses trübe Surrogat des Glücks, waren, seiner Ueberzeugung nach, alles, was die Freunde der armen Gabriele dieser von nun an noch wünschen konnten, damit nichts sie völlig aus dem schönen Traume erwecken möge, den sie, wie er fürchtete, schon halb erwacht, sich noch fortzuträumen bemühte.


Es hatte wirklich den Anschein, als ob Ernestos fromme Wünsche für Gabrielens Ruhe auf das pünktlichste in Erfüllung gehen sollten, denn sie lebte lange Zeit am schönen Ufer des Rheins, in abgeschiedener, beinahe klösterlicher Einsamkeit. Nie sah man sie ausserhalb des Bezirks der zu ihrem Schlosse gehörenden Gartenanlagen, als in Herrn von Aarheims Gesellschaft, höchstens mochte sie es zuweilen an schönen Abenden wagen, allein oder nur von Annetten begleitet, in ihrer Gondel auf den goldig grünen Wellen des Stroms [89] hinzugleiten. Argwohn und Eifersucht hatten ihrem Gemahle gelehrt, sie von allen Seiten so schlau einzuengen, daß es gar keines ausdrücklichen Verbots von ihm bedurfte, um Gabrielen jede Verbindung mit der Außenwelt unmöglich zu machen. Daß man in seinem Schlosse nach englischer Sitte die Tageszeiten eintheilte, die Frühstücksstunde auf den Mittag, die Mittagsstunde auf den Abend verlegte, damit war schon ein großer Schritt zur Absonderung von der ganzen Nachbarschaft geschehen, der größte aber dadurch, daß Moritz bei seiner Ankunft unterließ, mit seiner jungen Gemahlin die gewohnten Besuche zu machen, um sie vorzustellen.

Nichts wird strenger und sichrer geahndet, als eine solche absichtliche Verletzung der allgemein hergebrachten Sitte, besonders in kleinen Städten, oder in einem nachbarlichen Kreise auf dem Lande. Man erklärt sich dadurch selbst in die Acht, und alle die,mit denen nicht seyn zu wollen wir bezeigen, halten sich durch unser Verfahren berechtigt, wider uns zu seyn.

Die arme Gabriele würde dieses schwer empfunden [90] haben, hätte ihre natürliche Anspruchslosigkeit sie nicht verhindert zu bemerken, wie man bei allen Gelegenheiten sogar ihre Existenz zu ignoriren beflissen war. Auch das aller unbedeutendste Geschöpf kann nicht so total übersehen werden, als sie es wurde, so oft ein seltner Zufall sie in die Nähe derer brachte, welche Herr von Aarheim ohne ihr Zuthun beleidigt hatte. Dieser fühlte das zu seiner großen Kränkung sehr deutlich, und strebte durch tausend kleine Künste es Gabrielen zu verbergen; aber er hätte diese Mühe füglich sparen können, denn Gabriele schien in ihrer Lebensweise nicht die mindeste Abweichung vom all gemein Ueblichen zu finden. Briefe, welche sie von den Freunden ihrer Jugend empfing, oder an sie schrieb, waren in ihrem gleichförmig-stillen Leben die einzige Auszeichnung eines Tages vor dem andern und eine unbestimmte süße Sehnsucht bemächtigte sich ihrer allmählig in dieser ungestörten Einsamkeit. Oft saß sie Stundenlang allein, das blühende Lockenköpfchen auf die weiße Hand gestützt, in dämmernden Träumen verloren. Hell und einzeln perlten Thränen unter den langen [91] seidnen Augenwimpern hervor, und fielen langsam herab, wie wenn der West eine tropfenschwere Rose wiegt. Ein namenloses süßes Weh durchzuckte schmerzlich und freudig ihr volles Herz, dann nannte sie leise Ottokars Namen, und blickte verwundert, gleichsam sie zählend, auf die Thränen, die ihrem Auge entquollen, sie wußte nicht warum. Zum Glück wurde Frau von Willnangen und Ernesto durch den Ton, der in Gabrielens Briefen vorzuherrschen begann, auf die jetzige Stimmung ihres Lieblings sehr bald aufmerksam gemacht, und ihre warnende Stimme kam nicht zu spät, um die Träumerin zu erwecken.

Gabriele riß sich mit gewohnter Kraft plötzlich empor. Die Gefahr bei diesem süßen Verlieren in sich selbst entging von nun an ihrem klaren Blicke nicht, noch weniger die Nothwendigkeit, in nützlicher Thätigkeit Schutz gegen jene Lähmung des Geistes zu suchen, deren leises Heranschleichen sie jetzt deutlich erkannte. Ein würdiger Gegenstand dieser Thätigkeit zeigte sich ihr, so wie sie nur Gewalt genug über sich gewann, [92] den Blick auf das ihr Zunächstliegende zu wenden.

Seit Moritz so einsam auf dem Lande lebte, hatte er sich mit seiner gewohnten Oberflächlichkeit auf die praktische Oekonomie geworfen. Und sie bot seiner Vorliebe für neue Erfindungen ein unübersehbares Feld. Täglich ward etwas Neues unternommen, sein unruhiges, in sich selbst sich zersplitterndes Wesen erlaubte ihm aber nicht, irgend etwas vollenden zu lassen. Was gestern erbaut ward, mußte heute wieder eingerissen werden; Menschen und Thiere wurden stündlich von den nothwendigsten Feldarbeiten abgerufen, um zur Fröhnung irgend einer momentanen Laune ihres Gebieters ihre Kräfte herzuleihen. Die alten treuen Arbeiter, welche an dem Boden, den ihre Urgroßväter schon im Schweiße ihres Angesichts gebaut hatten, sich eine Art von Anrecht erworben zu haben glaubten, sträubten sich vergebens gegen dieses Verfahren; vergebens vertheidigten sie ihre alte Art das Land zu bauen mit dem, dem Landmann eignen Widerwillen gegen alle Neuerungen. Die Starrsinnigen wurden [93] des Dienstes entlassen und Fügsamere traten an ihre Stelle. Pflüge und Pflüger, Hirten und Heerden, Pflanzen und Gärtner wurden mit unendlichen Kosten aus dem Auslande verschrieben, aus England, aus der Schweiz, aus Spanien sogar. Die Umgegend füllte sich mit fremdartigen Gestalten, Abentheurer aller Art drängten sich herbei, welche Herrn von Aarheim mit den niedrigsten Schmeicheleien zu gewinnen wußten, und die ganze Nachbarschaft sah in stiller Schadenfreude zu, wie er, der sich das Ansehen gab, klüger seyn zu wollen als alle, auf das gröbste hintergangen ward.

Alle diese Mißbräuche konnten Gabrielen nicht entgehen, sobald sie mit Ernst um sich blickte, und indem sie solche gewahrte, mußte sie zugleich die Verpflichtung fühlen, die gutmüthige Schwäche ihres Gemahls nicht länger als unthätige Zuschauerin mißbrauchen und verspotten zu lassen. Das Beispiel ihrer Mutter schwebte ihr vor, die mit sanfter Hand und klugem Auge der Verwaltung der Güter von Schloß Aarheim vorgestanden hatte, und das Gefühl, wie unendlich viel [94] zur Erreichung dieses Vorbilds ihr noch mangle, durfte Augustens Tochter nicht abschrecken, ihm wenigstens von ferne nachzustreben. Zum Glück fand Gabrielens Unerfahrenheit bald einen verständigen und treuen Beistand in einem alten Wirthschaftsbeamten, dem einzigen aus der vorigen Zeit, der unter einem wüsten Haufen aus allen Theilen Europens zusammen gelaufnen Gesindels noch da stand. Eine Art von Scheu vor seiner durch lange Dienstjahre bewährten Treue hatte Herrn von Aarheim abgehalten, ihn, gleich den übrigen alten Dienern zu entlassen.

Die Gärten waren der erste Gegenstand, welchen Gabriele unter ihre besondere Obhut nahm. Dieß schöne Gebiet gehört ohnehin, wenigstens zur Hälfte, in das Reich der Frauen, und Herr von Aarheim trug freudig seiner Gemahlin alle vom Gartenbau handelnde Bücher aus seiner Bibliothek selbst herbei, sobald sie nur den Wunsch äußerte, sich mit der Oberaufsicht desselben zu beschäftigen. Der Gedanke, daß Gabriele beginne, an seinen Verbesserungsplanen Theil zu nehmen, entzückte ihn um so mehr, da seiner Meinung [95] nach gerade der Theil derselben, welchen sie erwählte, sie immer mehr von der Außenwelt trennen und in die Nähe des Schlosses bannen mußte.

Sie begann ihr neues Geschäft mit dem größten Eifer zu treiben. Die Tische in ihrem Zimmer waren bald mit Plänen zu Gartengebäuden, Anlagen und Treibhäusern aller Art bedeckt, sie kamen nach und nach unter ihren, durch vieles Zeichnen geübten Augen ins Daseyn und der große Garten ward unter ihrer Leitung sehr bald ein Paradies voll Duft und Blumen und Früchte. Herr von Aarheim, im Entzücken über das Gedeihen der exotischen Pflanzen, welche er mit großen Kosten aus fremden Ländern hatte kommen lassen, übersah es gern, daß Gabriele deshalb auch die Einheimischen nicht verbannte und Weinstöcken und Obstbäumen nicht minder die ihnen zukommende Pflege angedeihen ließ, als dem Pisang oder der Ananas.

So verging das erste Jahr ihrer Ehe. Uebung vermehrte Gabrielens Kraft und Moritz bemerkte mit Erstaunen die ernste Thätigkeit seiner jungen [96] Gemahlin. Die Gewandtheit, die Sicherheit, die Ruhe, mit der sie alles vollbrachte, was sie unternahm, erregten seine Bewunderung, während ihr ganzes Betragen ihm eine Achtung einflößte, vor der das ängstliche Mißtrauen, mit welchem er sie bisher bewacht hatte, es wenigstens nicht wagte, sich zu zeigen. Seine innere Unruhe, die ihn von jeher rastlos in der Welt nach Neuigkeiten herumjagte, erwachte, so wie er in Hinsicht auf Gabrielen ruhiger zu werden begann, und unwiderstehlicher als je fühlte er in sich den Wunsch, ihr nachgeben zu dürfen. Des ökonomischen Steckenpferdes, so wie der ländlichen Einsamkeit war er eigentlich längst überdrüssig geworden; nichts konnte ihm daher erwünschteres kommen, als daß Gabriele späterhin ihre Neigung erklärte, sich nicht allein der Gärten, sondern auch der ganzen Verwaltung des Gutes anzunehmen. Er fand die Bereitwilligkeit zu bequem, mit der sie ihn so mancher, ihm jetzt höchst lästigen Sorge überhob, als daß er sie sich nicht recht gern hätte gefallen lassen sollen, um so mehr, da er sich dabei das Ansehen [97] geben konnte, als erzöge er sich in seiner Gemahlin eine Schülerin seiner außerordentlichen ökonomischen Kenntnisse. Vielleicht war er auch eitel genug, sich dieses selbst einzubilden, während Gabriele, nach dem Rathe ihres redlichen Inspektors allmählig alle schädliche Neuerungen abstellte, welche Herr von Aarheim eingeführt hatte, und nur die bessern beibehielt, ohne daß dieser irgend eine Veränderung bemerkt hätte. Immer sorgloser, faßte er endlich gar den Muth, Gabrielen erst auf Tage, sodann auf Wochen sich selbst zu überlassen, und zuletzt sie zur unumschränkten Regentin seines Gutes und seines Hauswesens zu machen, während er in den naheliegenden Städten umherzog, oder sich auf kleinen mineralogischen Reisen in das Gebürge vertiefte.

Bald unter dem Vorwande des Heimwehs, bald ganz ohne Abschied in der Stille, verschwanden nun auch nach und nach die fremden Abentheurer, welche Herr von Aarheim früher um sich her versammelt hatte; eigentlich wohl, weil keiner von ihnen unter der Oberaufsicht des alten [98] Inspektors mehr seine Rechnung fand. Die alten, von ihnen vertriebenen deutschen Gesichter erschienen wieder, doch Herr von Aarheim nahm von allen diesem keine Notiz. Wenn er zuweilen eine Säemaschine oder einen neuerfundenen Pflug in Aktivität erblickte, war er vollkommen zufrieden, gab sich das Ansehen, als sey er überzeugt, daß alles noch nach seiner Vorschrift betrieben werde und vermied jede Aufklärung oder Rechenschaft, welche Gabriele ihm zu geben stets bereit war. Sein ewig wechselnder Sinn hatte ihn eigentlich dem Himmel zugeführt, indem er ihn der Erde abwendete, und es war nicht sowohl Vertrauen in Gabrielens Kenntnisse, als Ueberdruß und Eckel an seiner ehemaligen Lieblingsbeschäftigung, was zu diesem Benehmen ihn bewog. Quadranten, Globen, Ferngläser aller Art, gaben jetzt seinen Zimmern das Ansehen eines Observatoriums, aus welchem Fellenberg, Thaer und Arthur Young völlig verbannt wurden, denn Astronomie war für dem Augenblick sein Lieblingsstudium geworden. Diese neue Leidenschaft begann endlich, ihn so mächtig zu beherrschen, [99] daß er, der früher die Reise nach Italien aufgegeben hatte, um Gabrielen nicht zu verlassen, sich jetzt mitten im Kriege nach England schlich, einzig um in Slowe auf Herrschels hohem Sessel in den Lüften zu schweben, mit einem Fernglase in dessen kolossalen Tubus zu kuken und dessen neuerfundenen Kometenjäger zu bewundern.


So waren drei Jahre verstrichen, und Gabriele hatte in steter Einsamkeit, fern von den Freunden ihrer Jugend, ihr zwanzigstes Jahr vollendet, doch war sie durch einen ununterbrochenen Briefwechsel mit Ernesto, Augusten, Frau von Willnangen, sogar mit der guten alten Frau Dalling, die rege Theilnehmerin an allen ihren Leiden und Freuden geblieben. Ja dieser war es eigentlich, welcher noch Abwechselung und Bewegung in den Lauf ihres Lebens zu bringen vermochte, denn ihre eigene Existenz glitt so einförmig an ihr vorüber, daß das Schwinden der [100] Tage ihr nur durch den Wechsel der Jahreszeiten bemerkbar werden konnte. Die Zeit, welche sie bei ihrer Tante verlebt hatte, die Tage voll Schmerz und Lust im Hause der Frau von Willnangen, ja selbst Ottokars Bild schwebten nur noch in dämmerndem Scheine vor ihrer Seele, wie die Tage der Kindheit vor dem innern Auge des lebensmüden Greises schweben, der liebend noch an ihnen hängt, obgleich er es nicht mehr vermag, sie noch deutlich aus der weiten Ferne zu erkennen. Im ruhigen Bewußtseyn erfüllter Pflicht, aufrecht erhalten durch rege Thätigkeit, konnte Gabriele nicht in dumpfe Apathie versinken. Der Anblick der Natur, das Gelingen ihres Strebens, ließ sie nicht unergötzt, aber kein frohes, glückliches Empfinden röthete je ihre Wangen höher, strahlte in ihrem Blick, oder beschleunigte das ruhige Pulsiren ihres Herzens zu rascheren Schlägen. Sie war ruhig, so ruhig, daß sie fast keinen Wunsch mehr kannte, und dieses Gefühl theilte sie in ihren Briefen ihren Freunden mit. Ernesto selbst mußte endlich aufhören, für ihre Zukunft besorgt zu seyn.

[101] So lange Gabrielens Gemahl in England verweilte, setzte sie die eingezogene Lebensweise fort. Gewohnheit hatte sie ihr täglich werther gemacht und bei Moritzens Heimkehr überraschten diesen überall Beweise ihres unermüdeten, stillen, wohlgeordneten Wirkens. Was er noch von seiner ehemaligen Eifersüchtelei beibehalten haben mochte, verschwand, wie Eis an der Sonne, vor dem ruhigen Blick und der über das ganze Wesen der schönen Frau ergossenen Würde, mit der sie freundlich, doch nicht heuchelnd ihm entgegen trat und ihn willkommen hieß. Die englische Manie hatte er ohnehin in England verloren, er kehrte heim, fest entschlossen, einen neuen Lebensplan zu ergreifen; nur schwankte er noch in der Wahl desselben, als bei Gabrielens Anblick ihn ein freudiger Uebermuth ergriff. Er fühlte plötzlich eine Art von Sehnsucht, vor aller Welt mit dem Glück glänzen zu können, dessen eigentlichen Werth zu würdigen er doch weit entfernt war. Sein alter Hang, von einem Extrem zum andern zu eilen, ward mächtiger in ihm als je zuvor, und er, der noch [102] vor kurzem sogar den Sonnenstrahlen den Anblick seiner Gemahlin gern verwehrt hätte, begann jetzt sehr ernstlich darauf zu denken, wie er sie bereden könne, den kommenden Winter in Paris, mitten im Strudel der großen Welt mit ihm zu verleben.

Alle seine Gespräche gingen von nun an einzig darauf hinaus, ihren Widerwillen gegen eine solche Veränderung ihres Wohnorts zu bekämpfen, und je inniger sie an ihrer Einsamkeit zu hängen schien, je eifriger bezeigte er sich, sie ihr zu entreißen und sie den rauschendsten Vergnügungen wieder zuzuführen.

Inzwischen wurde Herr von Aarheim in England nicht nur der englischen Lebensweise untreu, sondern auch seiner neuern Leidenschaft der Sternkunde. Der Landwirthschaft mochte er sich nicht wieder zuwenden, und so schwebte er wirklich vakant, wie nach einem alten Glauben die Seelen der ungetauft gestorbenen Kinder, zwischen Himmel und Erde, in tödtlicher Langerweile, welche das ewige Disputiren mit Gabrielen über ihren künftigen Winteraufenthalt doch nicht ganz zu [103] bannen vermochte. Ein Zufall brachte ihn endlich auf den Gedanken, die Sorge für Requisitionen, Einquartirungen und andere Kriegsübel, welche mit jedem Tage in der Gegend sich häuften, in eigner Person zu übernehmen, und darin einen Zeitvertreib zu suchen.

Wie durch ein Wunderwerk, lag bis jetzt sein Schloß, gleich einer glücklichen Insel, mitten in einem stürmischen Meer. Gabriele, welche die Gränzen der nächsten Umgebungen ihrer Wohnung selten zu überschreiten pflegte, hatte noch nie einen der Feinde erblickt, die ringsum, wenn gleich nicht den Krieg selbst, doch manches Unheil und manche der Unruhen herbeiführten, welche diesen zu begleiten pflegen. Sie verdankte diese Schonung den wohlgetroffenen Maaßregeln ihres Wirthschaftsinspektors, der als Elsasser der französischen Sprache kundig genug war, um jede Verhandlung übernehmen zu können, welche das Ausheben der Konscribirten, der Durchmarsch der Armeen und ähnliche Kriegslasten nothwendig machten. Er hatte überdem ein sehr artiges Jagdhaus zum Empfang der Einquartirungen [104] einrichten lassen, es lag nahe am Schlosse, doch außer dem Gesichtskreis desselben. Dort nahm er einstweilen selbst seine Wohnung und wußte bald durch freundliches Zuvorkommen, bald durch ernstes, gefaßtes Betragen jeden Unfug abzuwenden, welchen der Uebermuth der ungeladenen Gäste hätte stiften können.

Herr von Aarheim, seiner alten Weise getreu, alles besser wissen zu wollen, war weit davon entfernt zu begreifen, wie nützlich diese Einrichtung ihm bis jetzt gewesen sey. Unter dem Vorwande, daß die Gegenwart des Inspektors anderswo nöthiger wäre, vertrieb er diesen aus dem Jagdschlosse, schlug dann selbst seine Wohnung darin auf und schuf sich ein eigenes System zur Erleichterung der Kriegslasten, sowohl für die Armee als den Landeigenthümer. Dieses mochte seltsam genug ausgefallen seyn, wenigstens war niemand mit den neuen Einrichtungen zufrieden, deren Ausführung Herr von Aarheim persönlich übernahm, und Unmuth und Streit traten an die Stelle des ehemaligen gegenseitig guten Vernehmens. Endlich kam es sogar so [105] weit, daß Gabriele durch ihr plötzliches Dazwischentreten ihren Gemahl einst von Mißhandlungen retten mußte, die er anfangs durch Knickerei und Uebermuth, dann durch feiges, ängstliches Betragen sich selbst zugezogen hatte. Ihre unerwartete glänzende Erscheinung machte zwar aller Fehde gleich ein Ende, und Moritz war herzlich froh, seine Persönlichkeit unverletzt gerettet zu sehen, aber ihn überlief dabei doch wieder ein kleiner eifersüchtelnder Schauer. Um den neugestifteten Frieden dauerhaft zu gründen, sah Gabriele sich genöthigt, die fremden Offiziere jetzt in das Schloß selbst einzuladen. Sie folgten ihr mit allen Zeichen der höchsten Verehrung, kamen mit aller Galanterie ihrer Nation jedem Winke der schönen Frau zuvor, leisteten anscheinend jeder ihrer Aeußerungen den pünktlichsten Gehorsam, fanden es aber auch zugleich höchst nöthig, das Schloß des Herrn von Aarheim zum Mittelpunkt zu machen, von wo aus sie ihre Geschäfte in der Umgegend dirigirten und alle ihre Anstalten deuteten auf einen recht langen Aufenthalt in demselben.

[106] Moritz war zu feig, um gegen diese Einrichtung etwas einzuwenden, aber ihm war dennoch gar nicht wohl dabei zu Muthe. Vor allem quälte seine arme schwache Seele sich mit der Furcht, daß Gabriele bei dieser Gelegenheit sich leicht eine Herrschaft über ihren Gemahl anmaßen könne, welche in ruhigern Zeiten ihr wieder zu entreißen ihm schwer werden möchte. Unfähig, länger diese Besorgnisse zu tragen, kam er endlich auf den Gedanken, ihr, die er jetzt nicht mehr nach Paris zu führen verlangte, einen Besuch bei der Frau von Willnangen vorzuschlagen. Eine freudige Aufwallung färbte zum erstenmal seit langer Zeit Gabrielens Wangen und ihre Augen leuchteten vor Entzücken, als sie diesen Vorschlag vernahm. Dankbar ergriff sie ihn; mit der gewohnten ruhigen Einsamkeit hatte der Aufenthalt am Rhein ohnehin seinen höchsten Reiz für sie verloren; die Anstalten zur Reise wurden daher so schnell als möglich getroffen, das Gut der Barmherzigkeit des Himmels und der Aufsicht des treuen Inspektors empfohlen, und kurze Zeit darauf feierte Gabriele im Arme [107] ihrer Freundinnen eine höchst selige Stunde des Wiedersehens.


Nicht in der Stadt, in welcher Frau von Willnangen früher lebte und wo Ottokars Bild Gabrielen auf jedem Schritt entgegen getreten wäre, wurde dieses Wiedersehen gefeiert. Die Gestaltung der Zeit, welche Gabrielen von den schönen Ufern des Rheins verbannte, hatte auch ihre Freundin bewogen, sich mit ihren Kindern auf das Gut des Generals Lichtenfels zurückzuziehen, und Ernesto den dringenden Bitten, seine Freunde zu begleiten, nicht widerstehen können. So lebten alle auf dem schönen Schlosse im fröhlichsten Verein, doch nicht wie sonst in rauschenden Festen.

Mit freudestrahlendem Blicke, wenn gleich noch ein wenig bleich, hielt Auguste von dem Sopha, auf welchem sie ruhte, eine kleine, wenige Tage alte Gabriele der Freundin auf ihrem Arme entgegen. Neben ihr lag ein funfzehn Monate [108] älterer rosenwangiger Adelbert und jauchzte laut im lustigen Spiel mit dem Vater. Ein einziger Blick auf die häuslich frohe Gruppe verkündete Gabrielen das stille Glück dieser Menschen. Und als nun Auguste, nach dem ersten freudigen Verstummen des Wiedersehens, mit froher Redseligkeit die Aehnlichkeit der kleinen Gabriele mit der großen zu beweisen suchte, als Adelbert seinen Knaben tanzen, lachen und einzelne Töne stammeln ließ, um Gabrielen alle erstaunenswürdige Künste desselben gleich in der ersten Stunde zu zeigen, da perlte eine helle Thräne Gabrielen im Auge und ein leiser Seufzer hob langsam ihren Busen, an welchen sie Augusten fester drückte.

Mitleidig betrachtete Frau von Willnangen ihre Gabriele in diesem Moment, doch bald erglühte sie fast zornig bei Moritzens Eintritt, der gleich nach der ersten Begrüßung die Kleidung der Kinder zu untersuchen und zu tadeln begann, dann eine lange Rede über die neuesten Arten derselben hielt, welcher niemand zuhören mochte. Zuletzt verlangte er, alle in das Schloß gehörende [109] Hunde zu sehen, um einen heraus zu finden, der Genie genug besäße zu lernen, wie er vermittelst eines Rades die Wiege des Neugeborenen in Bewegung setzen könne. »Er ist noch wie sonst!« seufzte Ernesto leise vor sich hin und hütete sich schonend, Gabrielens Blicken zu begegnen.

Keine Sylbe über ihr gegenwärtiges Verhältniß, viel weniger eine Klage entschlüpfte beim längern Beisammenseyn Gabrielens Lippen, selbst im vertrautesten Gespräch mit ihren Freunden. Nur überflog zuweilen ein dunkleres Roth ihre Wangen, wenn Herrn von Aarheims Eigenheiten in zu grellem Lichte sich zeigten, und ihre Worte folgten dann schneller wie gewöhnlich auf einander, in dem Bestreben, dem Gespräche, in welchem er zu unvortheilhaft erschien, eine andere Wendung zu geben. Selten mißlang ihr dieses und ihre Freunde fühlten sich oft bewogen es zu bewundern, wie künstlich sie dann gerade die wenigen Gegenstände zur Sprache zu bringen wußte, über welche ihr Gemahl mit erträglicher Sachkenntniß sich zu äußern fähig war. [110] Uebrigens erschien sie ihnen in ihrem ganzen Betragen völlig unverändert, obgleich alle die Unmöglichkeit fühlten, zu fragen, was sie nicht von selbst gestand und was alle sich doch sehnten zu erfahren. Nicht weil sie in geheimnißvolles Dunkel sich hüllte, verloren ihre Freunde den Muth dazu, sondern im Gegentheil, weil ihr ganzes Wesen so krystallhell vor ihnen stand, daß man keine Nachforschung wagen mochte, um es nicht zu trüben.

Endlich brach Gabriele selbst zuerst dieses Schweigen. Es war an einem jener dunkelhellen warmen Herbstabende, wo alles zur wehmüthigen Feier einer lieben Vergangenheit uns auffordert. Langsam, von keinem Lüftchen berührt, sinken die purpurfarbenen und goldenen Blätter einzeln von den Bäumen herab und ein seltsames Rauschen flüstert in den Wipfeln, während unten auf der Erde die tiefste Stille herrscht. Die Menschen rücken dann näher zusammen und haben einander lieber als sonst, denn alle fühlen ahnungsvoll die Gewißheit des vielleicht nahen [111] Scheidens und der Vergänglichkeit aller Blüthe und aller Pracht.

Gabriele, Frau von Willnangen, Auguste und Ernesto saßen in der Dämmerung allein unter den Säulen vor dem Hause. Der General und Adelbert hatten mit dem überlästigen Moritz schon am frühen Morgen zu einer Jagdparthie sich begeben, wie sie oft thaten, um den Frauen ein ungestörtes Beisammenseyn zu gewähren. Vieles aus der Vergangenheit war unter den Daheimgebliebenen schon den Tag über leise zur Sprache gekommen und aller Gemüth weicher gestimmt. Da fragte Gabriele plötzlich wie an jenem verhängnißvollen Abend vor ihrer Vermählung: »Ernesto! haben Sie keine Briefe aus Rom? Weiß Ottokar, welchen Gang das Geschick mit mir nahm?« setzte sie nach einer kleinen Pause hinzu.

»Er weiß es, er nimmt Theil an Gabrielen, wie Gabriele an ihm. In wenigen Jahren, vielleicht noch früher, hofft er uns alle wiedersehen zu dürfen,« erwiderte Ernesto in einiger Bewegung über die unerwartete Frage. Doch fuhr [112] er bald mit festerer Stimme fort, von Ottokars Lage zu sprechen, und von dem Einflusse des gegenwärtigen Ganges der Welt auf diese. Er erzählte, wie Ottokar fortwährend in Rom lebe; doch, für den Augenblick fern von allen öffentlichen Geschäften und Verbindungen; wie er seine Zeit einzig seiner Neigung zur Kunst widme und der fröhlichen Sorge für einen lieblichen Knaben, seinem einzigen Kinde.

Die sichtbare Bewegung, in welche Gabriele bei dieser Nachricht gerieth, bestimmte Frau von Willnangen, eine Frage nach Aurelien hinzuwerfen, um ihrer jungen Freundin Zeit zu geben, sich zu fassen. »Aurelia,« erwiderte Ernesto, »ist ihrem Gemahl als Mutter seines Sohnes viel werther geworden, ohne daß er deßhalb größere Ansprüche an sie machte. Er erlaubt ihr gern, ihren Launen zu folgen, ihren Aufenthalt nach Belieben zu wählen, wenn sie nur zuweilen zu ihm zurückkehrt. Dieses thut sie und ist dann freundlich und angenehm, da sie bei Ottokar keinen Widerspruch antrifft. Im übrigen ist sie sich völlig gleich geblieben. Sie erklärt [113] Rom für ein weites ödes Grab, in dem die Gespenster füglich bei hellem Tage herumwandeln könnten, und behauptet, die Lüneburger Haide sey in Anmuth der römischen Campagna bei weitem vorzuziehen. Deshalb lebt sie bald in Neapel, bald in Florenz oder Venedig. Einen Sommer brachte sie in der Schweiz zu, einen Winter in Paris, wo die Gräfin Rosenberg nach einem kurzen Besuch in Deutschland, sich für immer niedergelassen zu haben scheint.«

Es ward noch vieles über Ottokars Leben in Rom gesprochen, von welchem Ernesto manche angenehme Einzelheiten zu erzählen wußte. Im fernern Laufe des Gesprächs bemerkte Frau von Willnangen bedauernd, wie wenig Aurelia doch eigentlich beitrage, dieses Leben zu verschönern.

»Sie irren, theure Frau,« erwiderte schnell Gabriele, »oder vielmehr Sie vergessen, wie liebenswürdig Aurelia erscheinen kann, sobald sie es will, und bei Ottokar, diesem nachsichtigsten aller Menschen, muß sie immer es wollen. Gewiß bemerkt er ihre kleinen Schwächen nur, um [114] durch sie ihr Freude zu bereiten und ist dann zwiefach glücklich in ihrem Ergötzen.« Alle hefteten bei diesen Worten aufmerksam und gerührt den Blick auf Gabrielen. Sie bemerkte es und fuhr mit glänzenden Augen weiter fort. »Ich danke Gott, daß keine neidische Regung je in meinem Gemüthe Raum fand; auch danke ich Ihnen, Ernesto, daß Sie das freundliche Bild Ottokars mit seinem Knaben mir zum Troste hinstellten an meinen einsamen Lebenspfad, dessen einziger Schmuck Mitgefühl ist und Erinnerung. Jetzt weiß ich, daß alles, was ich je liebte, glücklich ist, dort oben oder hier. Um mich her hat der Sturm ausgetobt, es ist und bleibt jetzt stille. Was kann ich mehr wollen? In meinem Gemüth regt sich kein Wunsch zu einem andern Glück, ich glaube sogar, daß ich keines andern fähig wäre, selbst nicht an Ottokars Seite. Darum bitte ich Euch alle, meine Lieben! seyd in Zukunft ruhig um mich; ich wandle zwar einsam meinen Pfad, aber ich blicke von ihm in die hellerleuchteten Häuser meiner Freunde in Rom und hier, und auch dort hinauf,« sprach [115] sie mit einem zu dem eben aufgehenden Abendstern gehobenen Blicke. »Und so,« fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, »und so fühle ich mich weder allein, noch betrübt und verlassen.« Ruhe des Himmels leuchtete bei diesen Worten aus Gabrielens Zügen und alle fühlten sich näher zu ihr hingezogen. Auguste schmiegte mit ihrem Knaben sich an sie, während Frau von Willnangen unter Thränen sie umarmte und Ernesto ihre Hand ergriff und liebend und bewundernd mit glänzenden Augen sie betrachtete.

Moritzens lärmende Ankunft scheuchte die Gruppe auseinander, seine Stirne umwölkte sich, so wie er sie erblickte und noch am nehmlichen Abend kündigte er den dritten Tag nach diesem als den zur Abreise unwiderruflich bestimmten an. Es war nicht Eifersucht, was zu diesem plötzlichen Entschluß ihn bewog, aber er vermochte es nicht, die bittere Empfindung niederzukämpfen, welche sich allemal seiner bemächtigte, wenn er Gabrielen im kleinen stillen Kreise ihrer Freunde erblickte, in Liebe sie umfassend und von ihnen umfangen. Ein dumpfes Bewußtseyn, [116] wie fremd und fern er selbst ihr bleiben müsse, obgleich es ihm vergönnt war, sie die Seine zu nennen, regte ihn stets zu einer Art Ingrimm gegen diese Freunde auf, und unerachtet der Gefälligkeit und Güte, mit der man ihm entgegenkam, ergriff er freudig die erste Veranlassung, ihnen mit Gabrielen zu entfliehen.


Am Morgen ihrer Abreise stand Ernesto vor dem Schlosse, unter den nehmlichen Säulen, wo sie vor zwei Abenden noch alle im herzlichen Vereine versammelt waren. Sinnend blickte er dem Wagen nach, in welchem Moritz, triumfirend über Gabrielens Freunde, sie ihnen entführte, bis auch die letzte Staubwolke seinem Blick entschwand. Dann wandte er sich, schmerzlich aufseufzend, und gewahrte dicht neben sich Frau von Willnangen, die forschend ihn betrachtete.

»Sie sind betrübt,« sprach sie, »und ich bin es mit Ihnen, denn seit ich Gabrielens liebe Gestalt in diesen Räumen einmal erblickte, werde [117] ich sie immer um so schmerzlicher vermissen. Da wir aber scheiden mußten, so gereicht es mir doch zum Troste, daß sie nicht mehr allein mit dem langweiligsten Narren der Welt in jenem alten Raubschloß am Rhein hausen wird. Sie geht, wenn gleich nicht einer glücklichen, doch einer heiterern Existenz entgegen, wie ihre Jugend sie fordert. Sie scheinen meiner Meinung nicht zu seyn, Ernesto? Sie der Geselligste, Lebensfrohste unter uns. Ich glaube fast, Sie fürchten den Eindruck, welchen die Vergnügungen der Residenz auf Gabrielen machen könnten, und ich gestehe es Ihnen, ich begreife weder Sie noch Ihre Sorgen. Was kann die große Welt einem so erprobten Gemüthe, wie das von Gabrielen ist, anhaben? Ach! leider wissen wir es ja, es giebt für sie weder Hoffnung noch Gefahr; der kurze Frühling meines armen Kindes ist dahin und wird nie wieder erwachen.«

Schweigend stand Ernesto eine Weile da, dann nahm er, nach seiner gewohnten Art, zu einem Gleichniß seine Zuflucht. »Hörten Sie nie,« sprach er zu seiner Freundin, »hörten Sie nie [118] von jenem Baume, dessen beim ersten warmen Frühlingshauch erscheinende Blüthen mit allen Wundern des frühen Lenzes sich befreunden? mit Schneeglöckchen und Krokus, mit Himmelsschlüsseln und Veilchen, und dann verschwinden, wenn die Sonne höher steigt? Der Sommer findet von ihnen keine Spur mehr, aber neue Blüthen entstehen dann an der Stelle der Verschwundenen, sie sind weniger glänzend, werden aber zu Früchten, zu süßen oder herben, je nachdem Sonne und Zeit dem Baum es gewähren, der so, nach dem gauckelnden Spiele seines Frühlings, die Bestimmung seines Daseyns erreicht.«

»Das Bild nimmt sich recht artig aus,« erwiderte Frau von Willnangen, »aber entweder ist das Gleichniß unpassend oder ich verstehe es eben so wenig als Ihre jetzige Sorge. Sie selbst verwiesen mich ja tröstend auf Gabrielens Liebe zu Ottokar, Sie nannten sie den Schutzgeist, welcher durch die Wüsten und Steppen ihres Lebenspfades sie begleiten würde. Wie haben Sie denn nun plötzlich diesen Glauben verloren? Was fürchten Sie für Gabrielens Ruhe, [119] selbst wenn Zeit und Entfernung ihr Gefühl für Ottokar gemildert hätten? Kann man denn zweimal lieben, wie Ihr Gleichniß es andeuten zu wollen scheint? und wenn Andere es könnten, kann es ein Wesen wie Gabriele?«

»Nein! warlich nein!« rief Ernesto. »Ward Ottokar einst wahrhaft geliebt von Gabrielen, so liebt sie ihn bis zum letzten Hauch ihres Lebens, und ist durch diese reine Liebe gesichert gegen Schmerz und Reue. Aber so sehr ich auch dagegen mich sträube, immer von neuem ergreift mich der Gedanke, den ich früher nur leise anzudeuten wagte, daß dieß Gefühl für Ottokar nur des erwachenden geistigen Lebens erstes jugendliches Sich-Loswinden aus den Banden der Kindheit war. Was wir in früher Jugend die erste Liebe nennen, ist es selten, oder nie. Ist doch auch die Morgenröthe, in aller ihrer Pracht, noch nicht die Sonne, welche unsern ganzen Lebenstag erleuchten und erwärmen soll.«

Vergebens bestritt Frau von Willnangen diesen Gedanken Ernestos mit allen Gründen, welche [120] ihr Herz und ihr Verstand ihr nur anzugeben vermochten. »Blicken Sie um sich« erwiderte er ihr, »wie viele der zum Glück nicht zahlreichen Ehen, welche einer sogenannten ersten Liebe ihr Daseyn verdankten, sind wahrhaft glücklich zu nennen? Könnte dieß seyn, wie es denn unleugbar ist, wenn nicht hier Täuschung, Mißverstehen seiner selbst so leicht, ja fast unausweichbar wären? Lassen Sie es uns zum trüben Trost dienen, daß Gabriele vielleicht in Zukunft nicht glücklicher geworden wäre als sie jetzt es ist, wenn ein anscheinend günstigeres Geschick sie an Aureliens Platz gestellt hätte. Ich verkenne nicht Ottokars seltnen Werth, aber die Strahlenglorie mußte im Laufe des Lebens vor Gabrielens Blick dennoch schwinden, mit der sie selbst sein geliebtes Haupt sich zur Anbetung schmückte. Und wenn sie nun vollends vor dem mächtigern Glanz einer höhern, Gabrielen näher verwandten Erscheinung hätte erbleichen müssen? und wenn nun diese Erscheinung ihr jetzt auf ihrem neuen Pfade begegnete? Ach! Frau von Willnangen, ich bin nicht Herr über die bange Vorempfindung, welche [121] mich ergreift! Warum, warum, mußte Gabriele ihrer sichern Einsamkeit entrissen werden?!«


Gabriele verlebte von nun an einige Jahre, getrennt von ihren Freunden, den Winter in einer großen lebensreichen Residenz, den Sommer in den besuchtesten Bädern. Sobald Moritzens verschrobner Sinn nur den Gedanken aufgefaßt hatte, daß alle Huldigungen, welche die Gesellschaft seiner Gemahlin darbringen mochte, auf ihn zurückfallen müßten, daß jeder ihrer Verehrer nur seinen Triumfzug verherrlichen könne, weil sie ihm allein angehöre, so hatte er weder Ruhe noch Rast, bis er Gabrielen auf eine Höhe gestellt hatte, von der sie seiner Ueberzeugung nach alles überstrahlen mußte. Ueberall, wo er länger sich aufhielt, war es seine erste Sorge, ein großes glänzendes Haus einzurichten. Gabriele mußte die Honneurs desselben machen, und Moritz tanzte vor Freude und rieb sich die Hände wund, wenn ihre Vorzüge recht blendend hervortraten. In [122] allen Sprachen posaunte er das Lob seiner Frau, sogar in ihrem Beiseyn, ohne es zu achten, daß die peinlichste Verlegenheit sie in solchen Momenten fast zu Boden drückte. Alles Bitten und Ermahnen von ihrer Seite war an dem eitlen Thoren verschwendet, er blieb bei seiner Weise mit all dem starren Eigensinn eines beschränkten Geistes, und Gabriele fand endlich keinen andern Ausweg, als dem Willen ihres Gemahls zu folgen und nur dabei durch noch einfachere Bescheidenheit und Anspruchlosigkeit den verhaßten Schein eitler Gefallsucht von sich abzuwenden. Es gelang ihr; sogar die Frauen haßten sie nicht, während alle Männer ihr huldigten und ihr Talent für die Welt bildete sich immer glänzender aus, je länger sie in dieser lebte. Von jener Blödigkeit, mit der sie im Hause der Tante erschien, konnte nicht die Rede seyn, noch weniger aber von jenem dreisten Blick, jenem arroganten Auftreten, die so oft die Stelle früher übertriebener Zurückgezogenheit ausfüllen. In kleinen gewählten Zirkeln wußte Gabriele durch ihr Gespräch mit der hinreißendsten Grazie die Aufmerksamkeit [123] zu fesseln, doch besonders liebenswürdig war sie wenn sie erzählte; dann lauschte ihr jedes Ohr und Aller Blicke hingen an dem lebendigen Ausdrucke des schönen Gesichts. Aber sie wußte auch ihre glänzenderen Talente vor der Menge geltend zu machen, sobald es erforderlich war. Sie sang, spielte, tanzte, erschien sogar auf Privatbühnen, gewöhnlich weil Herr von Aarheim es wollte, zuweilen aber auch aus wahrer Lust an dem fröhlichen geselligen Treiben, das ihr die Tage ihres frühern Zusammenlebens mit Ottokarn zurückrief. Moritz genoß bei alle diesem die Gewißheit, der Gemahl der brillantesten Frau in der Residenz zu seyn, mit dem aller behaglichsten Gefühl, während Gabriele da stand, als ahne sie nichts von der Höhe, zu welcher die allgemeine Bewunderung sie erhob. Auch wagte es niemand, sie unbescheiden darauf aufmerksam zu machen. Bei aller Frische des Jugendglanzes, der sie umstrahlte, gab die seltene Würde ihres Anstandes ihr etwas matronenhaftes, und so wie man in ihrem sechszehnten Jahr sie überall für noch weit jünger ansah, so schien jedermann jetzt in ihrem [124] vier und zwanzigsten Jahre geneigt, sie für älter zu halten als sie war. Oder vielmehr, man dachte weder an Alter noch Jugend bei der nicht weniger Achtung als Liebe einflößenden Erscheinung, für die es, wie für die himmlischen, keine Zeitrechnung zu geben schien.


Der Winter war vorüber, überall zeigten sich schon die ersten Vorboten des Frühlings. Bei der Unmöglichkeit, den vielfältigen Einladungen des Generals Lichtenfels schicklicher Weise länger auszuweichen, hatte sich Moritz endlich entschlossen, mit Gabrielen den Besuch auf dem Landgute desselben zu wiederholen, als Gabrielens Tante, die Gräfin Rosenberg, ganz unerwartet in der Residenz eintraf. Napoleons weit aussehende Plane vertrieben sie aus Paris, indem sie letzteres verödeten. In ihrem ehemaligen Wohnorte fand sie ihr Haus von fremden Gästen eingenommen und ihre ehemaligen Zirkel zerstört. [125] Beinah alle ihre Bekannten waren ausgewandert und ihr blieb also keine andere Wahl, als sich einstweilen in einer Stadt niederzulassen, die ihr, bei allen Annehmlichkeiten des geselligen Lebens, die vollkommenste Ruhe und Sicherheit bot.

Die Wahl einer Wohnung, in welcher sie im gewohnten Glanze auftreten konnte, war gleich nach ihrer Ankunft in der Residenz die erste Sorge der Gräfin gewesen; ihr zweiter Wunsch war, sich bei Hofe und in der Gesellschaft auf eine auszeichnende Weise eingeführt zu sehen. Rang und Reichthum, diese mächtigsten Talismane auf Erden, verhalfen ihr zu beiden in unglaublich kurzer Zeit, und kaum waren vierzehn Tage verstrichen, als sich schon in einem der schönsten Hotels alles, was nur auf Eleganz, Ton und Talent Anspruch machte, um sie und ihre Begleiterin, die junge, schöne Markise d'Aubincourt versammelte. Von Paris aus, wo sie einander kennen lernten, waren diese beiden Damen unzertrennliche Reisegefährtinnen geblieben und gedachten jetzt mit vereinten Kräften ein glänzendes Haus zu bilden, das bei ihrem [126] Vermögen und ihren Talenten alle andern in der Residenz zu verdunkeln drohte.

Gegenseitiges Bedürfen hatte gar bald das lockere Band bloßer Bekanntschaft enger zusammengezogen, welches anfangs die Gräfin und die Markise vereinte. Es ward eine jener Liaisons daraus, wie die Welt deren so manche aufzuweisen hat. Sie mit dem Namen der Freundschaft zu bezeichnen, wäre Entweihung. Es kann weder von Liebe noch Achtung bei diesen Vereinen die Rede seyn, aber sie trotzen doch oft Jahre lang manchem Stoße von außen, ja selbst der langsam auflösenden Gewalt der Zeit, und erhalten dadurch bei aller ihrer Frivolität einen Anstrich von Ehrwürdigkeit, den sie mit allem Dauernden gemein haben.

Die Gräfin hatte bei ihrer Rückkehr aus Rom nach Deutschland, und auch später in Paris es sich nicht verbergen können, wie sie, unerachtet aller ihrer noch immer anerkannten geselligen Vorzüge, dennoch mit Aurelien einen großen Theil jener Zaubermacht verloren habe, durch welche sie sonst alles in ihre Nähe zog [127] und fest bannte. Ihr feiner Takt kam ihr bei dieser Entdeckung mächtig zu Statten, und weit entfernt, sich durch dieselbe gedehmüthiget zu fühlen, suchte sie von der nehmlichen Stunde an, wo sie solche ge macht hatte, nach einem Wesen, das fähig war, jene Lücke in ihrer Umgebung auszufüllen.

Die Markise d'Aubincourt, eine junge, blendend schöne Frau, war in Paris zur nehmlichen Zeit ebenfalls aus ihrer gewohnten Sphäre getrieben; ihr Gemahl mußte sie verlassen, um seinem Kaiser in weit entfernte Länder zu folgen, und da die französische Sitte die strengste Wächterin des äußern Scheines ist, so blieb ihr bei ihrer Jugend keine andere Wahl, als sich entweder während der Abwesenheit des Markis der Welt gänzlich zu entziehen, oder sich unter den Schutz einer ältern Frau von Rang und unbescholtenem Ruf zu begeben, in deren Begleitung es ihr allerdings erlaubt war, überall öffentlich zu erscheinen. Was konnte daher diesen beiden Damen wohl erwünschteres kommen, als ihr Zusammentreffen zur Zeit gegenseitiger, [128] völlig ähnlicher Noth? Der Bund zwischen ihnen war bald geschlossen, und da späterhin Langeweile beide aus Paris vertrieb, so erwarb die Markise noch den Anstrich einer exemplarischen Treue, indem sie sich den Mühseligkeiten der langen Reise aussetzte, einzig, um, wie sie versicherte, ihrem bei den Eisbären hausenden Gemahle in Deutschland näher zu seyn.


In allen Zirkeln, aus Aller Munde vernahmen die Gräfin und die Markise, so bald sie ein wenig einheimisch geworden waren, den Namen Gabriele von Aarheim, überall erscholl ihr Lob, Männer und Frauen klagten über ihre Abwesenheit. Die Markise begann die Deutschen etwas langweilig zu finden, welche in Gegenwart einer schönen Frau es wagten, einer zweiten auf diese Weise zu erwähnen, während die Gräfin die ganze Familie Aarheim in ihrem Gedächtniß die Revue passiren ließ, um diese berühmte Gabriele aufzufinden.

[129] »Unmöglich,« sprach sie sehr bedenklich, »unmöglich kann es meine kleine Nichte mit dem blassen Mondscheinsgesichte seyn! In seinem sechzehnten Jahre wußte das arme Kind kaum drei zu zählen, so entwickelt kann sie sich nicht haben, und doch giebt es meines Wissens keine andere Gabriele in meiner Familie. Vor fünf bis sechs Jahren ward mir die Nachricht ihrer Vermählung mit dem halbverrückten Erben unserer Mannlehngüter mitgetheilt; es ist unmöglich, daß sie es sey.«

»Ach Gott! sie wird es wohl seyn,« rief kläglich Graf Hippolit, der gegenwärtige Verehrer der Markise, »sie wird es seyn, die Mondscheinsdame; sie wird zu allgemein gepriesen, als daß wir viel von ihr erwarten könnten!« »Also Ihre Kusine? liebe Rosenberg, nun ich sterbe vor Neugier, wenn ich nicht bald dieses Wunder der Welt zu Gesichte bekomme!« fiel halb jähnend die Markise ein.

»Ach, wie gerne thäte ich das auch,« rief lustig Hippolit, »aber mir sind leider schon in der Welt zu viele dergleichen Wunder vorgekommen, [130] die, entschleiert, eigentlich alle sehr gewöhnlich und natürlich dastanden. Es ist immer das alte Buch mit einem neuen Titel, das nehmliche Räthsel in ein anderes Gewand eingekleidet, was man uns da zu studiren giebt. Bei alle dem bleibt es aber doch ein Studium, dessen man nie überdrüssig wird, besonders wenn uns, wie hier, jede Stunde mit einer neuen ganz unerhörten Kaprize beglückt.« Indem er dieß hinzusetzte, wollte er die Hand der Markise an seine Lippen drücken, sie entzog sie ihm aber, heftig und unwillig sich sträubend. »Schöne Dame,« rief Hippolit in seinem Uebermuth, »indem Sie zürnen, beweisen Sie, daß ich Recht habe; die kleine Wuth steht Ihnen so allerliebst, daß ich dadurch leicht verleitet werden könnte, Sie alle Tage halb todt zu ärgern. Die Versöhnungen, die doch auch nicht zu verachten sind, hätte ich dann für meine Mühe noch obendrein.«

Die Markise begann recht ernstlich sich zu erzürnen, doch nicht auf lange; die Gräfin warf sich zur Vermittlerin auf, und der Friede war bald geschlossen.

[131] Der glänzende Graf Hippolit, entsprossen aus einem der edelsten Geschlechter in Ungarn, schön wie Apoll, kaum zwanzig Jahre alt, und dabei schon unumschränkter Herr großer Reichthümer, war allerdings eine Eroberung, welche eine Frau, wie die Markise, sich auf alle Weise zu erhalten streben mußte. Auch war es ihr seit dem Moment gelungen, da er in Paris, als ein weitläufiger Verwandter der Gräfin ihr vorgestellt ward. Ihre seltene Schönheit, ihr leichter Sinn, vor allem eine gewisse pickante Ungleichheit in ihrem Betragen entzückte ihn, und Gewohnheit, Ueberdruß am Wechsel, hatten bis jetzt ihn fest gehalten.

Als die Damen Paris verließen, wußte er eben nichts besseres zu thun, als ihnen nach Deutschland zu folgen, und bei dieser Gelegenheit späterhin einen Besuch in seinem Vaterlande und auf seinen Gütern abzustatten. Vor jetzt war er der tägliche Gast in ihrem Hause, ihr steter Begleiter außer demselben, aber die Strenge, mit welcher die Gräfin über die Gesetze des Anstandes zu wachen gewohnt war, hatte ihn [132] veranlaßt, sich eine von ihnen abgesonderte eigene Wohnung zu wählen.

Ungeachtet seiner frivolen Außenseite, war Hippolit von Natur zu allem Großen und Edlen geeignet, aber das Schicksal, welches sein äußeres Leben mit jedem Vorzuge reichlich ausstattete, hatte ihn schon früh im Innern tief verletzt und sein Entwickeln verhindert. Von einer leichtsinnigen Mutter als fünfjähriger Knabe verlassen, von einem durch das Betragen seiner Gattin mit der Welt und dem Leben entzweiten, verbitterten Vater erzogen, war der arme Hippolit um jenes Vertrauen in die Menschen gebracht worden, ohne welches keine Jugendblüthe fröhlich gedeiht. Sein ganzes Wesen widerstrebte der strengen klösterlichen Zucht, in welcher er bis in sein funfzehntes Jahr gehalten ward, er fühlte zur Freude sich geboren, aber jede Jugendlust, wie jede sanftere Regung, ward von der Strenge seiner Zuchtmeister niedergedrückt. Er war zu stolz, die Hülfe der, in ihm ihren künftigen Herrn schmeichelnden Diener anzunehmen, und seinen Vater zu betrügen, um wenigstens Stundenlang[133] seinem Kerker zu entgehen, aber in ihm wogte ein verzehrendes Feuer, das, weit entfernt sein Herz zu erwärmen, es nur immer enger zusammenzog, während seine Fantasie ihm das Glück künftiger Freiheit in den glühendsten Farben mahlte. Das jedem gutgearteten Kinde eigene Sehnen nach Liebe sprach zwar auch mächtig in seiner Brust, aber er drückte es, als seiner unwürdig, nieder, denn wen sollte er lieben? Rings um sich sah er nur fühllose Strenge oder erbärmliche Kriecherei. Künftiger Genuß ward ihm die Loosung des Lebens. Worin dieser bestehen sollte, wußte er nicht deutlich sich zu sagen, aber einstweilen gedachte er, die freudenlose Zeit, welche er jetzt verlebte, durch eifriges Bestreben nach Wissen als vorbereitend zu benutzen. Mit dem größten Eifer verfolgte er daher den Gang der ihm von seinem Vater vorgeschriebenen Studien, jede Stunde bereicherte seinen Geist, aber in seinem Gemüth ward es immer ärmer, immer mehr erstorben, bis der Zufall den einzigen Bruder seines Vaters in seine Nähe führte. Hippolit war jetzt funfzehn Jahr alt, und zum erstenmal [134] seit seiner frühesten Kindheit hörte er nun wieder mit milden Worten sich anreden. Da brach die Eisrinde, in welcher sein Herz beinahe erstarrt war. Mit der kindlichsten Liebe, mit der innigsten Treue eines jugendlichen Gemüths hing er sich nun an den Oheim, der wie eine himmlische Erscheinung in die Nacht seines Daseyns strahlte und sogar auch die düstere Stimmung seines Vaters milderte, als letzterer plötzlich erkrankte. Ein seit langen Jahren allmählig heranschleichendes Uebel warf den alten Grafen wenig Monate nach der Ankunft seines Bruders auf das Sterbebette. Bleich und bebend kniete Hippolit neben demselben, als der Vater zum erstenmal liebend und segnend die schwere kalte Todtenhand auf sein lockiges Haupt legte, in den rührendsten Ausdrücken den zum Jüngling heranreifenden Knaben der Vorsorge seines Oheims empfahl, und dann, getröstet durch dessen heiligstes Versprechen, ihn wie seinen eigenen Sohn zu betrachten, die müden Augen auf ewig schloß.

Der weinende, tief erschütterte Knabe folgte nun dem vom Vater ihm gegebenen Beschützer [135] seiner Jugend auf dessen Güter, von wo er in Jahresfrist, begleitet von einem Hofmeister, auf eine von seinem Vaterlande Ungarn weit entfernte Universität gesandt ward. Während er dort, von heißem Durst nach Wissen getrieben, jede Stunde auf das gewissenhafteste anwendete, erhob sein Oheim in seiner Abwesenheit einen Prozeß gegen ihn, der ihn um sein väterliches Erbe bringen sollte. Aller seiner, dem sterbenden Bruder mit in die Ewigkeit gegebenen Versprechen vergessend, jedem menschlichen Gefühl entsagend, benutzte der Eigennützige den Leichtsinn der Mutter des Jünglings, dem er Vater zu seyn geschworen hatte, um die Aechtheit seiner Geburt anzugreifen, und dann seinen eigenen Söhnen die beträchtlichen Güter desselben zuzuwenden. Der Versuch mißlang, er hatte nur die Folge, daß Hippolit etwas früher als gewöhnlich für mündig erklärt ward. Empört bis in den tiefsten Grund seiner Seele, überzeugter als je von der Erbärmlichkeit der Menschen, ging dieser nun nach vollendeten Studien auf Reisen; die Zeit des Genusses schien ihm gekommen, er [136] war entschlossen, sie zu benutzen. Sein Rang, sein Reichthum, seine glänzende Persönlichkeit öffneten ihm Herzen und Thüren, er taumelte von einem Vergnügen zum andern, und übertäubte so den alten bittern Unmuth in seinem Gemüth, der aber dennoch stets von neuem sich regte. Er sah, wie man ihn mit Schmeicheleien überhäufte, um ihn um so sicherer zu elenden Zwecken zu mißbrauchen, aber er verachtete die Menschen und in einzelnen schrecklichen Momenten sich selbst zu sehr, um es der Mühe werth zu achten, dem plumpen Netz entgehen zu wollen, das man ihm stellte. Es genügte ihm, seine sogenannten Freunde zuweilen in wilder Lustigkeit mit bittern Hohn zu mißhandeln, und dann mit Ekel sich von den ängstlichen Windungen wegzuwenden, in welchen sie strebten, ihn nicht zu verstehen, um nur auf guten Fuß mit ihm bleiben zu dürfen.

Auch Frauen kamen überall dem schönen reichen Jünglinge entgegen, kämpften unter einander um ihn, mit allen Waffen der Schönheit und Kunst, suchten überall mit Blumen ihn zu fesseln, [137] und gern vergaß er bei ihrer lieblichen Erscheinung alles, was ihn hätte warnen können. Noch einmal überließ er sich Träumen himmlischer Seligkeit, er glaubte sogar zu lieben, aber er ward grausam erweckt. Ohne zu bedenken, wie so ganz ohne Umsicht er sich hingegeben hatte, klagte er jetzt das ganze Geschlecht des Verraths der Einzelnen an und schwur sich selbst, nie wieder die Maske für Wahrheit zu nehmen. Dem trostlosesten Unglauben zum Raube, vermochte er aber doch nicht, der Freude zu entsagen, sich wissentlich täuschen zu lassen, so lange dieß irgend nur möglich war. Bitter lachendes Spotten seiner selbst übertönte dann oft nur mühsam das Weinen in seiner Brust, wenn ein schöner Traum, den er lange festgehalten hatte, in Nichts zerrann, aber er achtete dessen nicht, auch nicht der bittern Schmerzen, mit denen er jede Regung des Bessern gewaltsam in sich erstickte, um zu seyn wie die Andern. Dennoch sank er nie zum Gemeinen herab, so achtlos er auch dem Treiben der Welt sich hingeben mochte. Was ihn blenden und verführen konnte, mußte [138] wenigstens den Anstrich des Reinen und Sittlichen zu erhalten streben; denn seine bessere Natur und Reminiszenzen der früher bei seinem Vater ihm eingeprägten strengern Grundsätze hielten ihn noch immer über den Abgrund empor.


»Das Wunder der Welt ist endlich angelangt, wie ich sehe,« rief Hippolit freudig aus, indem er die Visitenkarten auf dem Tisch der Gräfin musterte und Gabrielens Karte hoch in die Höhe hielt. »Da steht der geheimnißvolle Name des Erzengels, und mein thörigtes Herz erbebt sogar ein wenig bei seinem Anblick! Ich bitte Sie, theuerste Gräfin!« fuhr er mit komischen Pathos fort, »ist es die Mondscheinskusine? sagen Sie: nein! ich flehe darum.«

»Daß sie die Gabriele ist, die ich meine, weiß ich jetzt gewiß,« erwiderte die Gräfin, »obgleich ich sie noch nicht gesehen habe; wir verfehlten einander bei unsern gegenseitigen Besuchen, und so bleibt uns nichts übrig, als die [139] Soirée zu erwarten, mit der wir, wie Sie wissen, morgen hier debütiren wollen.«

»Also morgen, morgen ist der große, der entscheidende Tag,« rief Hippolit, und wendete sich gleich darauf zur Markise mit der Bitte um den zweiten Tanz. »Den ersten,« setzte er hinzu, »bin ich so gut als versagt, den tanze ich mit der Wunderdame, meine Ehre duldet es nicht anders, ich muß der erste seyn, mit dem sie auftritt.«

»Ich überlasse Sie ihr mit Vergnügen auf den ersten, den zweiten, den dritten und alle folgende Tänze; ich tanze morgen gar nicht; entweder ich habe Migräne, oder ich habe mir den Fuß verrenkt; ich bin noch nicht entschlossen, welches von beiden,« erwiderte die Markise, ein wenig pickirt.

Hippolit blickte lang schweigend und verwundernd sie an. »Wahrhaftig, Markise! ich erkenne Sie nicht mehr,« sprach er endlich. »Zum erstenmal sehe ich, daß auch Sie etwas schwerfällig nehmen können; doch hoffe ich, Sie werden sich eines bessern besinnen, und allen Erzengeln [140] und Erzengelinnen zum Trotz morgen tanzen, wie immer!«

»Dießmal beliebt es wohl dem Herrn Grafen selbst, sich etwas schwerfällig zu zeigen; denn, um des Himmels willen! wer denkt denn an Ihre Erzengelin?« erwiderte spottend die Markise. »Schon in Paris nahm ich mir vor, morgen krank zu seyn; sehen Sie hier den Beweis davon,« fuhr sie fort, indem sie einer Kammerfrau ein Kleid, welches diese eben durch das Zimmer trug, vom Arme nahm und vor dem Grafen entfaltete.

Mit dem größten Erstaunen erblickte dieser ein ganz einfaches, blendend weißes Gewand, fein und durchsichtig, wie aus Aether gewoben, doch schien es für eine Riesin bestimmt; es mußte, wenn die Markise es trug, nicht nur hinten, sondern auch vorne und von allen Seiten mehrere Ellen lang ihr auf dem Fußboden nachschleppen. »Aber wie in aller Welt wollen Sie es anfangen, in diesem Gewande nur zwei Schritte zu gehen?« rief er endlich.

[141] »Gehen,« erwiderte die Markise, und lachte jetzt wirklich recht herzlich, »gehen? Aber, lieber Graf! Sie werden immer schwerfälliger. Wer geht denn, wenn man krank ist?«

»Ach Gott,« seufzte Hippolit, »eigentlich fängt es an, mir leid zu thun, daß diese Gabriele morgen erscheint; abwesend gab sie zu so manchem guten Einfall, zu so manchem pickanten Scherze Anlaß, und ihre Gegenwart wird gewiß nichts weniger als pickant oder amüsant seyn. Ich sehe sie schon im Geiste vor mir mit dem Mondscheinsgesichte, wie sie an der Seite ihres alten Gecken die gestrenge Penelopeya mitten unter den übermüthigen Freiern zu spielen bemüht ist. Die Maske ist übrigens schon etwas verbraucht, indessen wenn sie ihr nur halb so gut steht als die Leute es behaupten, so mag es drum seyn. Ich fürchte aber, der morgende Triumf unserer schönen Freundin wird kaum der Mühe des Erkämpfens werth seyn, obgleich ich diese sehr gering anschlage.«


[142] Der Abend kam. Die glänzende Reihe kerzenheller Säle füllte sich nach und nach und die Gräfin bemühte sich mit gewohnter Liebenswürdigkeit, die Abwesenheit der Markise mit einer heftigen Migräne zu entschuldigen, welche aber hoffentlich späterhin zur gewohnten Stunde nachlassen und ihr erlauben würde, die Gesellschaft, in kleinere Partien getheilt, in ihrem Zimmer wenigstens auf Minuten zu sehen. Hippolit wich beim Empfange der Gäste der Gräfin nicht von der Seite. Mit dem Bedeuten, er müsse sie errathen, hatte diese es abgeschlagen, ihm Gabrielen gleich bei deren Eintritt bemerkbar zu machen, daher hielt er es für das sicherste, auf diese Weise seinen Willen durchzusetzen. Indessen war es spät geworden, die Erwartete fehlte noch immer, Graf Hippolit begann aus Verdruß darüber der Gräfin allerlei witzig-bittere Muthmaßungen über die Abwesende zuzuflüstern, als ein Kreis seiner Bekannten ihn einen Augenblick festhielt, und dadurch ihn von der Gräfin trennte, ohne daß er solches bemerkte.

Ein lächerlich modern gekleideter dicker Mann[143] stand mitten im Kreise der jungen Leute, sprach alle Sprachen zugleich und erzählte, heftig gestikulirend und im völligen Ernste, die Geschichte einer heftigen Leidenschaft, welche vor einigen Jahren eine Nepotessa des Papstes für ihn gefühlt hatte. Dabei erwähnte er der mannichfachen Gefahren, deren er sich ausgesetzt gesehen, um ihr und den Verfolgungen ihrer mächtigen Verwandten in Rom zu entgehen. Die jungen Herren um ihn her stürmten mit Fragen auf ihn ein; er wußte für alle eine Antwort, löste alle Zweifel, die man ihm in den Weg warf; das Lachen, der Lärmen wurden bald lauter, als man es in einer solchen Assemblée hätte erwarten sollen. Hippolit nahm recht herzlichen Antheil daran, als plötzlich erst ein leises Geflüster, dann ein allmähliges Verstummen in dem Kreise entstand. Die, so den lebhaftesten Antheil an den Neckereien genommen, welche man an dem alten Herrn ausgeübt hatte, begannen, sich leise davon zu schleichen, die übrigen nahmen sich sichtbar zusammen und standen dann in etwas feierlich verlegener Fassung; alles verkündete [144] den Eintritt einer allgemein geachteten Person. Hippolit suchte mit den Augen den Gegenstand, der diese plötzliche Umstimmung des Tones verursacht haben mochte und erblickte die Gräfin, welche eben eine Dame hereinführte, deren anmuthige und doch würdevolle Haltung und seltne Schönheit ihm gleich in ihr die lang Erwartete errathen ließ. Vor dem Zauberton ihrer Stimme, in dem sie einige ihr nahestehende Bekannte anredete, war plötzlich jede Spur wilder Lustigkeit verschwunden. Selbst als der alte dicke Herr mit dem Ausruf: »ma femme, ma petite femme vous voilà!« auf sie lossprang, um sie zu begrüßen, wagte es niemand, den Mund zu einem spöttischen Lächeln zu verziehen. »Die ist es?« flüsterte Hippolit der Gräfin zu, und diese beantwortete seine Frage, indem sie ihn erst Gabrielen vorstellte und dann ihn mit Adelberten bekannt machte, welcher Geschäfte halber Gabrielen und Herrn von Aarheim in die Residenz begleitet hatte.

Hippolit vermochte von nun an nicht, sein Auge von Gabrielen zu verwenden; er sah, wie [145] mehrere Bekannte, Männer und Frauen herbeieilten, um die lang Entbehrte zu begrüßen, wie alles um sie sich drängte, als sey mit ihr die Seele der Gesellschaft heimgekehrt.

Moritz wich nicht von der Seite Gabrielens, rieb immerfort freudig die Hände an einander und brach in tausenderlei Redensarten aus, auf welche niemand achtete, obgleich die meisten mit ma femme dit, oderma femme sait, anfingen. Der leise Schmerz, der dabei in Gabrielens Lippen fast unmerkbar zuckte, die ängstliche Röthe, welche, schnell entstehend und entschwindend, ihr Wange, Hals und Busen überhauchte, entgingen Hippolitens Späherblick nicht. Eine wunderbar fremde Regung des Mitleids überschlich ihn dabei und er begann mit einer Art Aengstlichkeit darauf zu sinnen, wie der Lästige auf gute Art aus Gabrielens Kreise zu entfernen sey, um diese in ungestörter Anmuth sich bewegen zu sehen, als sie ihren Gemahl mit wenigen, leicht hingeworfenen Worten auf einige Vasen von seltner Schönheit aus kostbaren Steinarten geformt, aufmerksam machte. Der Tisch, auf [146] welchem diese Vasen standen, war mit farbigem Marmor aller Art ausgelegt, und Moritz fand und benutzte hier ein reiches Feld, auf welchem er mit der einzigen Wissenschaft, welche er wirklich besaß, glänzen konnte. Bald gesellten mehrere Sachkundige aus der Gesellschaft sich zu ihm, ein lebhaftes Gespräch entstand, und Gabriele wendete sich sichtbar heiterer ab, um in den Nebenzimmern die übrige Gesellschaft aufzusuchen.

Sinnend folgte ihr Hippolit mit immer regerem Bemerken. So hatte er sie sich nicht gedacht, nicht so fein, nicht so gewandt, nicht so heiter. Die Melodie ihrer Worte, die Harmonie in allen ihren Bewegungen zogen ihn noch unwiderstehlicher an, als ihre Schönheit.

»Es ist doch nur eine Maske, wie sie alle,« dachte er, »aber diese steht ihr vortrefflich und ist so herrlich angepaßt, daß schon der Versuch, sie zu lüften, Belohnung verdient.« Er versuchte es hierauf, Gabrielen anzureden, aber es war, als ob eine ihm fremde Gewalt den gewohnten Fluß seiner Worte hemmte; Gabrielens [147] gerader kalter Blick brachte ihn aus der Fassung; zum erstenmale fühlte er sich verlegen, und war froh, als die Gräfin mit der Bitte erschien: Gabriele möge sie zur Markise begleiten, welche eben etwas besser sich fühle und den Augenblick kaum erwarten könne, in dem es ihr vergönnt würde, die geliebte Nichte ihrer Freundin zu umarmen.

Der kleine Zug der zu diesem Besuch Auserwählten, welchem auch Hippolit sich anschloß, folgte der Gräfin durch die ganze lange Enfilade prächtiger Säle, welche, wie es in Paris gebräuchlich ist, mit dem Schlafkabinet der Markise endeten.

Ein reicher seidner Vorhang verhüllte noch den Tempel, nachdem schon die Flügelthüren sich geöffnet hatten, aber der berauschende Duft der auserlesensten Aromas des Orients verkündete die Nähe der Göttin. Auch der Vorhang wurde beseitigt und selbst der verwöhnte Hippolit stand jetzt geblendet von dem unerwarteten Anblick.

Auf einer Estrade, zu welcher einige, mit prächtigen Teppichen belegte Stufen hinaufführten, [148] stand, schimmernd von Gold und Elfenbein, das, der edelsten antiken Form nachgebildete Bette. Eine purpurrothe, mit goldner Stickerei und goldnen Franzen geschmückte Decke war darüber hingebreitet, auf welcher die Markise in der anmuthigsten Stellung hingegossen ruhte. Ein großer Spiegel an der Hinterwand desselben, ein anderer an der Decke des Baldachins über ihrem Haupte, und mehrere, anscheinend vom Ungefähr, aber eigentlich mit sorgfältiger Wahl im Zimmer geordnete große Ankleidespiegel vervielfältigten die schöne Erscheinung, indem sie sie von allen Seiten zeigten. Der Genius des Schweigens von Bronze, den Finger auf die Lippen gedrückt, schien den leicht vom Baldachin herabrollenden Schleier zu heben, der sie zu ver hüllen drohte, und blühende Rosenbüsche, Orangenbäumchen, Jasminsträuche, in köstlichen Vasen zu beiden Seiten auf den Stufen der Estrade, gaben der Nische, in welcher das Bette stand, das Ansehen einer Laube aus dem Paradiese der Muhamedaner. Alabasterlampen verbreiteten den zauberhaften Schimmer einer mondhellen Nacht [149] und kleine bläuliche Wölkchen kräuselten sich, aus Kassoletten aufsteigend, in welchen das ausgesuchteste Räucherwerk brannte. Das Auge irrte geblendet auf alle dem mannichfaltigen Geräthe von köstlichen Hölzern, von Krystall, von Marmor und Bronze, welches das Schlafzimmer einer eleganten Pariserin zum glänzendsten Prunkzimmer des Hauses macht.

Mitten in alle dieser Pracht lag die Markise, ganz einfach gekleidet und dennoch alles überstrahlend. Der wohl berechnete Ueberfluß des früher erwähnten weißen langen Gewandes, in große malerische Falten von Künstlerhänden geordnet, umschwebte ihre Gestalt, ohne sie neidisch zu verhüllen; die schönen Formen schimmerten hindurch, wie der Mond durch Silberwölkchen, die an ihn sich heranzudrängen scheinen. Unter der Brust hielt ein großer strahlender Rubin das Gewand zusammen, der eine der weiten Aermel, wie von ungefähr zurückfallend, enthüllte einen wunderschönen Arm, auf dem gestützt, das reizende Köpfchen im lieblichsten Ausdruck der Ermattung ruhte. Eine um den Arm geschmiedete [150] goldne Sentimentskette und einige Perlenschnuren schienen sich abstreifen zu wollen. Den andern Arm bedeckte der Aermel bis zu den zierlichen Fingerspitzen, die, dem Kopfweh zu Ehren, ein Riechfläschchen hielten. Um die hohe Stirne schwebten die glänzendschwarzen Locken in zierlicher Unordnung, nur ein einfaches Band hielt sie und die reichen Flechten zusammen, welche den ganzen Kopfschmuck bildeten. Die Markise war unbeschreiblich reizend in diesen Umgebungen, auch fesselte stummes Erstaunen alles bei ihrem Anblick; nur Hippolit wagte es, sich in ihre Nähe zu schleichen und ihr ein leises »Bravo!« zuzuflüstern.

Gabriele ward mit der entzückendsten Freundlichkeit von ihr empfangen; sie zog sie liebkosend zu sich herab, um sie zu umarmen, und als die hohe, schlanke Gestalt sich zu der auf dem Bette Ruhenden niederbeugte, umschwebte ihr goldnes Haar die dunkeln Locken der Markise wie mit einer Strahlenglorie, während diese mit beiden Lilienarmen den stolzen Marmornacken der geliebten Nichte ihrer Freundin umschlang, und ihr [151] Entzücken darüber in den schmeichelhaftesten Ausdrücken laut verkündete.

Nichts kann einander ungleicher seyn, als beide Frauen in diesem Augenblick. Farbe, Augen, Haare, Ausdruck des Gesichts, nichts von alle dem hatten sie mit einander gemein, und doch war es unmöglich zu entscheiden, welcher von ihnen die Palme der Schönheit gebühre?

Zu matt für eine fortgesetzte Konversation, bat die Markise eine wie durch Zufall gegenwärtige berühmte Künstlerin, die Gesellschaft für ihre kranke Langweiligkeit durch die Zaubertöne ihrer Harfe zu entschädigen. Die Dame ließ sich dazu willig finden, denn eigentlich war sie, nach Pariser Sitte, der die Markise in Deutschland treu blieb, um eine bedeutende Summe von letzterer für den Abend erkauft. Ein griechischer Sessel ward für sie zu den Füßen des Ruhebettes auf die Estrade gestellt, die große goldige Harfe strahlte in ihren Armen, und kaum hatte die Virtuosin mit prüfenden Akkorden die Saiten berührt, als mehrere wunderschöne, fast idealisch gekleidete Kinder aus dem Nebenzimmer herbeieilten, [152] und sich in malerischen Gruppen zwischen den Rosen- und Orangenbäumchen ordneten. Als große Lieblinge der Markise hatten sie in deren Wohnzimmer gespielt und waren von den Tönen der Harfe herbeigelockt worden. So wenigstens suchte ihre Beschützerin das unerwartete Erscheinen mit lächelndem Zorne darüber zu entschuldigen, aber es bedurfte keiner Entschuldigung, denn jedermann fühlte sich von dem wirklich feenhaften Anblick hingerissen, den die Estrade in diesem Augenblick gewährte; es war als sähe man die Liebesgöttin von Amorinen umflattert.

Endlich ward Ruhe. Der Zirkel war allmählig größer geworden; Mehrere, die nicht mit der Gräfin gekommen waren, hatten nach und nach sich vor und in dem Kabinette selbst versammelt, dessen Thüren jetzt weit offen standen. Allgemein herrschte die tiefste Stille einer zur Bewunderung bereiten Erwartung; aber kaum hatte die Künstlerin in leisen Akkorden begonnen, als ein wunderliches fortwährendes Klirren sie wieder verstummen machte.

Zürnend blickten alle in die Ecke, aus welcher [153] das störende Geräusch zu kommen schien. Dort stand Adelbert, todtenbleich, den stieren Blick auf die Markise geheftet. An allen Gliedern heftig bebend, hielt er sich, anscheinend völlig bewußtlos, an einem Gestelle fest, welches in einer Ecke des Zimmers mit Porzellan beladen stand, sein Zittern theilte sich denen darauf befindlichen Prunkvasen und Tassen mit, alles stieß tönend aneinander, ohne daß Adelbert weder dieses, noch die daraus entstehende Störung gewahr ward. Seine Seele war in seinen Augen, sein Herz klopfte in ängstlichen Schlägen gegen seine Brust, als wollte es sie zersprengen, denn mit dem ersten Blick auf die Markise hatte er in ihr Herminien erkannt.

»Adelbert!« rief Gabriele und sprang erschrocken von ihrem Sessel auf, dem Freunde, den sie plötzlich erkrankt glaubte, zu Hülfe zu eilen.

Ein allgemeiner Aufruhr entstand, die Damen drängten sich um die Markise her, welche vor Schreck ohnmächtig zu werden drohte, die Herren führten Adelberten in ein Nebenzimmer, der noch immer bewußtlos mit erstorbnen Augen jedermann [154] anstarrte. Alle umstanden ihn unschlüssig, auch Gabriele, die im ersten Schrecken, jede konventionelle Regel vergessend, ihm gefolgt war. Plötzlich erkannte er diese und mit einem erstickten Schrei des Schmerzes ergriff er ihre Hände, drückte sie an seine Augen, unter fast konvulsivischem Beben, während einzelne Tropfen kalt und schwer ihm über die Wangen rollten.

»Um Gotteswillen einen Wagen, einen Arzt! der Rittmeister ist sehr krank,« rief Gabriele wie ausser sich; »er muß gleich zu Hause gebracht werden.«

»Liebe Nichte, das ist ja ein entsetzlicher Zufall,« sprach die Gräfin, welche als Frau vom Hause eben hinzutrat; »doch beruhigen Sie sich, mein Wagen wird angespannt, der Arzt wird gleich hier seyn den Herrn von Lichtenfels zu begleiten, und nun bitte ich, folgen Sie mir zu den übrigen Damen, beruhigen Sie sich, bitte ich nochmals, für alles nöthige wird gesorgt.«

Gabriele war indessen zu aufgeregt um auf alle diese Redensarten zu achten, sie schien im Gegentheil völlig entschlossen, den Rittmeister, [155] der in ihrem Hause wohnte, zu begleiten. Die Gräfin stand in peinlicher Verlegenheit und sogar von ihrem Betragen etwas beleidigt, dabei, als plötzlich Moritz, mit dem Geschrei, ma che cosa che cosa? what's the matter? ihr zum Trost erschien, gerade im Momente, als das Bereitseyn des Wagens gemeldet ward.

Die Gräfin beeiferte sich Gabrielens Gemahl den Vorgang zu erklären. »Herr von Lichtenfels ist von einem plötzlichen Schwindel ergriffen,« sprach sie, »er braucht schnelle Hülfe, gewiß werden Sie ihn begleiten, und unsre Gabriele wird sich beruhigen, uns ihre Gesellschaft nicht entziehen, wenn sie ihn unter Ihrer Vorsorge weiß.«

»Certainement« erwiderte Moritz, und begann in der Kürze die Reichthümer seiner Hausapotheke anzupreisen, die seltensten arcana, die kostbarsten Wunderessenzen gegen Schlagfluß, Schwindel und bösen schnellen Tod. »Sie stehen ihm alle zu Diensten,« rief er, »ich freue mich der Gelegenheit ihre Kräfte einmal erproben zu können. Vous resterez, ma chère!« setzte [156] er, gegen Gabrielen gewendet, etwas scharf und schneidend hinzu, da er bemerkte wie sie dennoch Miene machte ihn begleiten zu wollen.

Hippolit hatte bis jetzt ganz ohne alle äußre Theilnahme, den prüfenden Blick auf Gabrielen geheftet, dagestanden; doch jetzt, als er sie besonders bei Erwähnung der Hausapotheke, ängstlich noch bleicher werden sah, konnte er einer mitleidigen Regung sich nicht erwehren. Er nahte sich ihr unbemerkt. »Vertrauen Sie mir,« flüsterte er ihr zu, »ich begleite ihn auch, und verlasse ihn nur unter der Aufsicht des Arztes. Sobald er meiner Gegenwart nicht mehr bedarf, bringe ich Ihnen Nachricht von ihm; von dem Glücklichen, der so Ihre Theilnahme zu gewinnen wußte!« Mit einer leichten Wendung kehrte er sich nach diesen wie im Fluge gesprochnen Worten gegen Adelberten, der sich eben etwas erhohlte, um ihn die Treppe hinunter zu führen. Moritz folgte Beiden, immerfort seine Wunderessenzen anpreisend.


[157] Die Markise hatte es indessen für gut befunden, den leichten Schreck bald zu überwinden, und als Gabriele am Arme der Gräfin zu ihr zurückkehrte, fand sie zwar sie noch immer in der Lage einer Kranken, aber voll Lust und Leben, voll Witz und Laune.

Ein in Paris auf das höchste gebildeter Instinkt lehrte sie, jedesmal den Ton der Unterhaltung der Neigung derer anzupassen, welche sie gewinnen woll te, und eigentlich wollte sie das gewöhnlich ohne Unterschied bei allen. Daher war sie witzig, trübe, oder auch gefühlvoll, wie es die Umstände erforderten, oft alles dieses in einer Stunde. Was sie sprach, war selten bedeutend, aber es gewann in ihrem Munde einen eignen Reitz; bei der höchsten Frivolität verstand sie entweder mit der Naivetät eines Kindes den Schein der unbefangensten Unschuld beizubehalten, oder auch mit glücklicher Keckheit bis an die äußerste Grenze weiblicher Zartheit zu treten, ohne dennoch diese je zu verletzen und so gefiel sie Allen, weil sie Allen Alles zu seyn wußte.

Indessen mißlang es ihr diesesmal dennoch [158] Gabrielen an sich zu ziehen, obgleich sie sehr wünschte, durch sie etwas näheres von Adelberts gegenwärtiger Lage zu erfahren. Sie hatte ihn auf den ersten Blick eben so wohl wiedererkannt als er sie, aber aus mancherlei Gründen wünschte sie, die frühere Bekanntschaft mit ihm zu verschweigen und suchte daher, nur ganz von weitem, Gabrielen zu einem Gespräch über ihn zu bewegen. Doch diese blieb einsilbig, sichtbar befangen, bis endlich Herr von Aarheim und Hippolit mit der Nachricht von Adelberts besserem Befinden anlangten. Ihr Blick erheiterte sich jetzt, sie vermochte es nicht, Hippoliten den Tanz zu versagen, den dieser, von Moritzen unterstützt, als Botenlohn für die günstige Nachricht von ihr erbat. Triumfirend führte er sie in den Saal und alles strömte dem schönen Paare nach, um es walzen zu sehen.

Mit unverstellter Verwunderung sah die Markise sich allmählig von allen verlassen, außer von einigen Fräulein, die, durch traurige Erfahrungen gewitzigt, den Tanzsaal gern mieden. Zu diesen gesellten sich noch ein paar alte Damen, [159] welche die gute Gelegenheit sich nicht entgehen lassen wollten, jedes einzelne Stück des Ameublements im Kabinette recht ungestört zu betrachten und nach den Preisen sich zu erkundigen. Von Männern war nur Moritz von Aarheim dageblieben. Dieser unterhielt die Gesellschaft sehr lang und breit von Adelberts glücklicher Ehe, von Gabrielens innigem Verhältniß zu dessen Gemahlin und zur Frau von Willnangen, und wie gewöhnlich hörte niemand auf ihn, sogar die Markise nicht, obgleich sie dieß Gespräch selbst veranlaßt hatte.

Tausend Sorgen beschäftigten diese; ihr so künstlich ersonnenes Krankenkostüm begann, sie in die peinlichste Verlegenheit zu setzen, sie hätte in diesem Augenblick gern alles darum gegeben, es wieder los zu seyn, um die Vorgänge im Ballsaal mit eignen Augen beobachten zu können, aber sie sah doch keine Möglichkeit, es abzuändern, ohne sich lächerlich zu machen. Auch das Zusammentreffen mit Adelberten, den sie nie wieder zu sehen gehofft hatte, beunruhigte sie; Allen, sogar der Gräfin Rosenberg, hatte sie [160] den Glauben wenigstens gelassen, daß sie eine geborne Französin aus einem großen Hause sey, die Entdeckung des Gegentheils, das konnte sie sich nicht verhehlen, mußte ihr das Ansehen einer Abentheurerin geben; vor allem aber fürchtete sie das Bekanntwerden ihrer früheren Verbindung mit Adelberten. Diesen schnell wieder zu gewinnen, das schien ihr der sicherste Weg um allen möglichen Unannehmlichkeiten vorzubeugen, und seine äußre Erscheinung konnte sie diesem Plan nur geneigter machen, besonders in diesem Augenblick, da sie Hippolits Benehmen gegen Gabrielen als für sich höchst beleidigend empfand. Zu ihrem großen Verdrusse blieb ihr volle Muße allen diesen Betrachtungen nachzuhängen; denn auch die alten Damen hatten sich, nach richtig aufgenommenem Verzeichnisse der im Kabinette enthaltenen Kostbarkeiten, den Spielzimmern zugewendet, Moritz aber war dem Ballsaal zugeeilt, um seinen Theil an dem Triumfe seiner Gemahlin sich zu holen. Nur die verlassnen Fräulein waren da geblieben, und die Markise fühlte sich auf eine kränkende Weise mit ihnen auf gleichen Fuß [161] gestellt. Hippolit, der sonst ausser ihrem Kreise keine gesellige Freude anerkennen wollte, ließ sich nicht wieder blicken, vermuthlich huldigte er, wie alle andere, in diesem Augenblick nur jener Gabriele, die ihr immer verhaßter ward.

Endlich vermochte es die Markise nicht länger, der peinigenden Ungewißheit zu widerstehen. Bei der Unmöglichkeit, gekleidet wie sie war, bis in den Ballsaal zu gehen, schickte sie die Fräulein auf Kundschaft dorthin aus, aber die armen Kinder kamen nach kurzer Zeit mit dem betrübten Geständniß zurück, nichts gesehen zu haben. Es war ihnen unmöglich gewesen, den dichten Kreis von Zuschauern zu durchdringen, in dessen Mitte, wie sie gehört hatten, Gabriele mit dem Grafen Hippolit eben die Gavotte tanzte. Niemand hatte auf ihre Bitten, durchgelassen zu werden, geachtet, denn alle waren zu eifrig mit dem Schauspiele beschäftigt, welches, wie überlaute, bis in das Kabinett dringende Beifallszeichen jetzt verkündeten, so eben beendet ward.

Allmählig kamen jetzt auch mehrere Herren und Damen herbei; alle schilderten den eben gehabten[162] Genuß in den lebhaftesten Farben, und bedauerten zwiefach die unselige Krankheit, welche die Markise um den schönsten einzigsten Anblick in der Welt gebracht habe. Da riß dieser endlich der letzte schwache Geduldsfaden, besonders als noch immer weder Gabriele noch Hippolit sich blicken ließen. Die Migräne kehrte plötzlich wieder, und ward bald so unleidlich, daß die Gesellschaft verabschiedet und die Thüre des Kabinetts wieder verschlossen werden mußte. Innerlich hoffte die Markise, daß ihr Ungetreuer, durch diese Maaßregeln beunruhigt, in banger Besorgniß herbeieilen würde. Sie blieb sogar noch in der einmal gewählten Attitüde, so lästig ihr diese auch zu werden begann, aber umsonst, der Erwartete kam nicht.

Längst schon hatte dieser sich in seine Wohnung zurückgezogen, während die Markise noch immer auf ihn harrte. Dort saß er in wortlosem Sinnen verloren, und horchte in die Nacht hinaus auf das ferne Rollen einzelner Wagen, wie es allmählig in den erstorbenen Straßen verhallte. »Morgen, Morgen! Wir werden ja sehen,« sprach [163] er endlich leise vor sich hin, und befahl dann seinem Kammerdiener, ihn früh zu wecken, denn ihm war, als stünde ihm in dem morgenden schon anbrechenden Tage etwas höchst Wichtiges bevor.

Die Nacht verging ihm zwischen Schlaf und Wachen, immer noch schwebte Gabrielens Gestalt, jede ihrer anmuthigen Bewegungen, jedes ihrer noch anmuthigeren Worte ihm vor. In fast nie gefühlter Wonne war er an ihrer Seite durch den Saal geschwebt, mit ungeheuchelter Bewunderung hatte er in der Gavotte jede malerische Wendung ihrer eleganten Gestalt, den Ausdruck des schönen Gesichts, das Spiel der zierlichsten Füßchen unverwendeten Blickes verfolgt, und da sie späterhin alles Tanzen verweigerte, hatte er, bis sie die Gesellschaft verließ, den Platz hinter ihrem Stuhle behauptet. Dort lauschte er auf jedes ihrer Worte, und ihr Geist entzückte ihn nicht minder als ihre Schönheit. Leicht und unbefangen, gleich entfernt von Uebermuth und Ziererei, sah er sie die Lobsprüche annehmen und ablehnen, mit denen man von allen Seiten sie [164] überströmte. Er fand sogar keine Spur von dem sentimentalen steifen Tugendbilde, das seiner Fantasie vorgeschwebt, keine von der Maske, die er abzuziehen sich bereitet hatte. »Sie ist ganz Leben, ganz Natur, Geist und Wahrheit,« flüsterte er noch im Lauf des Abends der Gräfin zu, die ihrerseits auch anfing auf ihre Nichte stolz zu werden, mit großem Selbstbehagen ihn um seine Meinung von ihr fragte und ihm erzählte, wie Gabriele von Kindheit an unter ihrer Aufsicht, in ihrem Hause erzogen worden sey.

»Daß sie jenen glückseligen Adelbert liebt?« sprach Hippolit weiter, »nun Honny soit qui mal y pense! Wer kann es ihr verargen, der die in Eselshaut gebundne Enzyklopädie aller Künste und Wissenschaften sieht, welche der Himmel, er selbst mag es verantworten warum? ihr zum Gemahl erkohr. Mir ist sie durch diese Liebe nur um so verehrlicher und herrlicher. Ein Weib ohne Liebe ist ein Weib ohne Seele. Sogar die Häßliche wird leidlich wenn sie liebt, die Schöne wird dadurch zum Engel verklärt. Und daß diese Gabriele es unter ihrer Würde hält ihre Liebe zu [165] verheimlichen, gefällt mir nun gar über die Maßen, sie heuchelt doch wenigstens nicht wie alle ihres Geschlechts, die etwas zu verschweigen haben was der Mühe verlohnt. Die Gräfin war ähnlicher Aeußerungen ihres jungen Schützlings zu gewohnt, um sich ernstlich darüber zu erzürnen; Ermahnungen aber achtete er nicht, sondern entging ihnen gewöhnlich und auch diesesmal durch schnelle Flucht. Wir werden ja sehen, ob es sich mit dem lahmen Helden nicht aufnehmen läßt! dachte er dabei in seinem Herzen.


Alle alte Schmerzen regten sich indessen von neuem in Adelberts Brust; Haß, Liebe, Verachtung im furchtbarsten Kampf. Vergebens strebte er das verführerische Bild der Markise aus seiner Fantasie zu verbannen, vergebens rief er zu Augusten wie zu einer Heiligen, Herminia schwebte die ganze Nacht hindurch in all ihrer blendenden Schönheits-Pracht vor seinen aufgeregten Sinnen. So hatte er nie sie gesehen, nie geahnet, [166] daß sie so über allen Ausdruck entzückend ihm erscheinen könne. Er bemühte sich, ihres Leichtsinns, ihrer Treulosigkeit, der unverantwortlichen Art mit der sie ihn verstieß, zu gedenken, er glaubte sie zu hassen, er wähnte sie zu verachten, und doch sah er noch immer die lockende Gestalt, gelagert unter Rosen, von Liebesgöttern umschwärmt. Er gedachte der Möglichkeit sie wieder zu sehen, und eine unbeschreibliche Angst bemächtigte sich seiner bei dem Gedanken. Sehnsucht zog ihn zu ihr, Erinnerung in einem blutig zerrißnen Herzen hielt ihn zurück. Dieser Zustand erreichte eine so peinliche Höhe, daß er endlich, um ihm zu entgehen, den Entschluß faßte zu fliehen, ohne jeden andern Verlust weiter zu achten, der aus dieser Flucht im Laufe der Geschäfte, welche ihn hergeführt hatten, für ihn entstehen konnte.

Herzlich froh endlich, der peinigenden Ungewißheit entgangen zu seyn, beschloß er nur die schickliche Stunde abzuwarten, um Gabrielen Lebewohl zu sagen, und dann zu eilen, um in Augustens Armen gegen sich selbst Schutz zu finden; [167] doch graute ihm innerlich mit diesem Entschluß in der Seele allein und müßig zu bleiben. Er rief mit Tages Anbruch deshalb seinen Bedienten, gab ihm mehrere auf die nahe Abreise Bezug habende Aufträge, fing selbst an, Papiere zu ordnen und einzupacken, um nur in erzwungner Thätigkeit sein Gefühl nicht zur Sprache kommen zu lassen, als plötzlich, er begriff selbst nicht recht wie, eine der gestrigen Amorinen, in Gestalt eines artigen kleinen Mädchens von etwa zehn Jahren, ihm ein rosenduftendes Zettelchen in die Hand schob, bei dessen Anblick ihm beinahe, wie gestern beim Anblick der Schreiberin desselben, die Sinne vergingen. Das Briefchen war nicht versiegelt, es war nur zusammengedreht, genau wie jene Zettelchen, die Herminia sonst ihm heimlich zuzustecken pflegte, als den Liebenden noch der ganze Tag, den sie im Hause ihrer Aeltern mit einander verlebten, zu kurz war für alles was sie sich zu sagen hatten. Gedankenlos öffnete er das duftende Papier ohne bestimmt zu wissen was er that. Hier der Inhalt desselben.

»Ich will nicht Vergebung, ich will nicht Mitleid,[168] ich will nicht einmal andeuten daß ich zu beiden wohl berechtigt wäre. Ich verbanne mich auf ewig aus meinem Vaterlande, die nächste Stunde trifft mich nicht mehr hier. Der verhaßte Anblick der armen Herminia soll nicht mehr den Abscheu des Mannes erregen der – genug ich reise. Doch einmal, einmal noch möchte ich zum Abschiede die Hand ergreifen, die einst bestimmt war, mich durch das Leben zu geleiten! einmal noch, ehe ich auf immer gehe! Ich weiß es, dieser Wunsch wird mir nicht gewährt werden, aber ich spreche ihn aus, ich fürchte nicht den Schmerz einer Verweigerung, denn ich fürchte keine Schmerzen mehr. Marion würde ungesehen, unbemerkt den Weg zu mir zu leiten wissen, ich wage es nicht noch eine Sylbe hinzuzufügen. Bitten klingt ja wie Hoffnung, Herminia hat seit gestern keine mehr.«

Unschlüssig starrte Adelbert die lange nicht erblickten, wohlbekannten Schriftzüge an, dann hob er mechanisch den Blick zur Thüre, dort stand Marion mit einem schlauen ächt französischen Kindergesichtchen. Sie machte einen kleinen Knix, [169] schob die nur angelehnte Thüre auf, und trippelte, den Blick rückwärts ihm zugewendet, die Treppe des Seitengebäudes hinab, auf welcher sie zu Adelberts Zimmer gelangt war. Gedankenlos schritt Adelbert ihr nach, über den Hof; auf der Straße erwachte er zwar wieder und war im Begriffe umzukehren, aber er bildete sich ein, sich der Feigheit einer solchen Flucht vor der Gefahr schämen zu müssen, und dieses Gefühl trieb ihn vorwärts.


Hippolit hatte indessen die Stunde sehr ungeduldig erwartet, in welcher er Gabrielens Wohnung aufsuchen konnte, um bei Adelberten einen Krankenbesuch abzustatten, und vernahm mit nicht weniger Unmuth als Erstaunen, daß der, welchen er, von Aerzten umgeben, im Bette zu finden geglaubt hatte, schon am frühen Morgen ausgegangen sey. Niemand wußte, wohin? Hippolit hatte bei diesem Besuche auf irgend einen günstigen Zufall gerechnet, der ihn bedeutender, [170] als eine bloße zeremonielle Visite, bei Gabrielen Zutritt verschaffen sollte, und verweilte jetzt unschlüssig auf der Treppe, darüber nachsinnend, ob es gerathner sey, schon jetzt sich bei ihr melden zu lassen, oder später wiederzukehren, als Moritz, ihm begegnend, seinen Bedenklichkeiten ein Ende machte, indem er ihn erst auf das freundlichste begrüßte und dann sogleich an das Ziel seiner Wünsche führte. Mit unendlichem Bedauern verließ der Baron dort aus Mangel an Zeit Hippolit, nachdem er diesen für den Mittag eingeladen, denn noch am nehmlichen Morgen hatte er der Auktion eines Naturalienkabinetts, einer Vorlesung über die Möglichkeit, den Luftballon zu regieren, und einer Opernprobe beizuwohnen.


Schöner noch als im festlichen Schmuck des gestrigen Abends trat Gabriele Hippoliten im zierlich einfachen Morgenkleide entgegen. Ihr helles Auge ruhte mit sichtbarem Wohlgefallen [171] auf ihm, ihr schöner Mund lächelte ihn freundlich an, während sie mit ihrer süßen melodischen Stimme für die ihrem Gastfreunde geleistete Hülfe ihm nochmals dankte. Er, sonst so vorlaut, aller Frauen Gunst so sicher, stand dabei fast unbehülflich da, und suchte vergeblich nach einer passenden Antwort, er fürchtete, Gabrielen etwas zu erwidern, weil er sie dann nicht mehr hören würde, und fühlte dabei doch mit innerer Angst das Lächerliche seines fortwährenden Schweigens. Endlich suchte er gewaltsam den Zauber zu zerreißen, der seine Zunge fesselte, er strebte wieder in den gewohnten Ton zu gelangen, mit dem er bis jetzt noch immer bei den Frauen Glück gemacht hatte, und ward zuletzt aus bloßer Verlegenheit zuerst vorlaut, und endlich beinahe unverschämt. Mit erzwungner Bedeutung brachte er ziemlich ungeschickt einige witzig seyn sollende Anspielungen auf den Kranken an, der solcher Theilnahme sich erfreuen könne, sprach dann von der Verpflichtung aller Männer, einem so ausgezeichneten Günstling des Glücks zu dienen, wenn gleich sie eben dieser Auszeichnung [172] wegen ihn alle tödtlich hassen müßten. Das Unziemende solcher verbrauchten Scherzreden, Gabrielen gegenüber, fiel ihm selbst auf und vermehrte seine Verlegenheit; er wollte es mildern, und gerieth immer tiefer hinein, bis sie ihn endlich unterbrach, nachdem sie ihm lange genug, zuletzt recht mitleidig ernsthaft zugehört hatte.

»Ich könnte mich stellen, als verstünde ich Sie nicht,« sprach sie, »oder ich könnte Sie auch verstehen, und dann mit gutem Fug und Recht mich erzürnen, und eigentlich sollte ich dieses auch wohl, aber Ihr ganzes Wesen, vor allem Ihre Jugend lassen mich hoffen, daß Sie mir eben eine Lection hersagten, die Ihr Kopf in der Welt, in der Sie bis jetzt lebten, auswendig lernte, von der aber in Ihrem Herzen keine Sylbe steht. Ich freue mich um so mehr der Aussicht, Sie oft und lange in unserm Kreise zu sehen, dem es vielleicht gelingen wird, Ihnen das Leben und auch die Frauen aus einem andern Gesichtspunkt zu zeigen.« Hier schwieg sie, gleichsam eine Antwort erwartend, doch Hippolit, hochroth vor Zorn und Scham, vermochte [173] kein Wörtchen aufzubringen und suchte nur in seinem Aeußern noch das sonst gewohnte dreiste Selbstbewußtseyn auszudrücken. »Stehen Sie nicht so wie ein zürnender Heros vor mir,« setzte daher nach einer kleinen Pause Gabriele lächelnd hinzu, »nehmen Sie lieber meine Aeußerungen, wenn sie Ihnen auch nicht ganz gefallen sollten, so auf, wie ich die Ihrigen, das heißt, mit Duldung.«

Gleich nach diesem suchte sie dem Gespräch eine leichtere, gleichgültigere Wendung zu geben, aber es mißlang ihr. Hippolit war zu sehr aus dem Gleichgewicht gekommen, um es sogleich wieder zu finden, und ergriff deshalb den ersten schicklichen Augenblick, um seinen Besuch zu beenden.

Von Gabrielen entfernt, fühlte er mit tiefer Beschämung, daß er wie ein ausgescholtener Schulbube vor ihr dagestanden, vor ihr, die ohne den geringsten Versuch, ihm seine vorgefaßte Meinung von dem Verhältniß zwischen ihr und Adelbert zu benehmen, dennoch, wie völlig gerechtfertigt, stolz und klar sich erhob, und zugleich [174] eine Art Herrschaft über ihn übte, zu welcher er sich nicht bewußt war, sie berechtigt zu haben.

Aergerlich und mit dem festen Vorsatze, kalt und unbefangen aufzutreten, stellte er zur Zeit der Mittagstafel zum zweitenmale sich in Gabrielens Zimmer ein, aber er konnte sich die Mühe sparen, denn sie begrüßte ihn nur mit einer leichten Verbeugung, und setzte dann sehr lebhaft ihr Gespräch mit einem Fremden fort, der eben aus Rom kam und Ottokarn dort gesehen hatte. Moritz hingegen, der seit gestern eine ganz eigene Zärtlichkeit für Hippoliten gefaßt zu haben schien, bemächtigte sich sogleich seiner, um ihm eine Sammlung von Mißgeburten zu zeigen, welche er am nehmlichen Morgen in der Auktion gekauft hatte. So ward im einzelnen Gespräch beinahe eine Stunde von der nur aus acht oder neun Personen bestehenden Gesellschaft hingebracht. Gabriele blickte oft auf die Uhr, man erwartete sichtbar noch jemanden. Blas und verstört trat endlich Adelbert herein, beantwortete sehr in der Kürze alle Fragen nach [175] seinem Befinden, schob einige unverständliche Entschuldigungen seines späten Erscheinens dazwischen, und versicherte dann wieder, nur der Blumenduft, einzig der Blumenduft im Kabinett der Markise habe ihm gestern den Zufall zugezogen, von dem er sich jetzt völlig hergestellt fühle.

Hippolit fand an der Tafel neben dem Herrn des Hauses seinen Platz, Gabrielen und Adelberten gegenüber. Letzterer blieb sichtbar verstimmt und Gabriele betrachtete ihn mit augenscheinlicher Besorgniß. Dann aber wendete sie sogleich alle ihre Aufmerksamkeit der Gesellschaft zu. Jeden und jedes wußte sie an seinen Platz zu stellen, hatte Allen einzeln etwas angenehmes zu sagen oder zu erzeigen; und das auf so natürliche Weise, als müßte es so und nicht anders seyn. Sie war die Seele der Unterhaltung ohne damit prunken zu wollen, im Gegentheil, es war, als ob der Abglanz ihrer Anmuth sich auf die verbreitete, welche sie umgaben. Wer ihr nahte, gewann an Liebenswürdigkeit, an Geist, Witz, Verstand, denn sie wußte jeden [176] lichten Funken hervorzulocken, und seit sie in der großen Welt lebte, war, außer Hippoliten, vielleicht noch nie jemand anders, als höchst zufrieden mit sich selbst, von ihr geschieden.

Adelbert versank inzwischen in immer trüberes Nachsinnen, aus welchem er, sichtbar sich zusammennehmend, auffuhr, wenn man ihn anredete. Moritz hingegen war seelenvergnügt und eine Albernheit jagte die andere aus seinem Munde. Vergebens strebte dießmal Gabriele, das Gespräch abzuändern, Hippolit sah, wie sie alle Kraft ihres Geistes anwendete, um die Schwäche des Mannes, dem sie angehörte, zu verdecken, und die Nachtseite des Geschicks der schönen anmuthigen Frau trat plötzlich in all' ihrem hoffnungslosen Dunkel vor seine Seele. »So,« dachte er, »so muß das holde Wesen unablässig arbeiten, sich anstrengen, sich quälen lebenslänglich, und warum? Um der Welt zu verbergen, was sie leidet! Um fremden Augen das Unwürdige der Fesseln zu entziehen, die sie zu Boden drücken, und welche nur der Tod lösen kann!

[177] Von unsäglichem Mitleide hingerissen, bemühte er sich von nun an, ihr zu helfen, und gewandt wie er war, gelang es ihm wirklich, den Faden der Unterhaltung behend zu ergreifen, ein Gespräch aufzubringen, welches unter seiner Leitung interessant genug ward, um selbst Moritzen zum Zuhören zu bewegen. Gabrielens dankbare Zufriedenheit, die er in ihren Augen las, lohnte ihn überreich, besonders da Moritz ihn einlud, morgen und an jedem Tage, so oft es ihm bequem sey, wiederzukehren; eine Erlaubniß, welche er sich vornahm, recht oft zu benutzen.


Mehrere Tage vergingen, während denen Adelbert und Hippolit die Rollen getauscht zu haben schienen. Ersterer war nur selten, und nie in Gabrielens Nähe zu finden, wenn er vermuthen konnte, mit ihr allein zu seyn. Er verließ mit dem frühesten das Haus, und kehrte nur selten, und spät wieder heim, während Hippolit [178] dort fast jede Stunde des Tages verlebte, und die Markise nie anders, als umringt von fremden Zeugen, im geselligen Kreise sah. Er hatte sein Verhältniß zu ihr nie bindend gefühlt und auch sie konnte, nach der stillschweigenden Uebereinkunft der Welt, in der sie zu leben gewohnt war, sich hierüber keine Illusion machen. Jetzt war das Band, welches ihn ihr verknüpfte, nicht gelöst, es war zergangen vor Gabrielens Erscheinung, wie Sommerwölkchen vor der Sonne in Nichts sich auflösen, und er achtete übrigens die Markise zu wenig, um ferner nach ihr, noch den Verbindungen zu fragen, die sie jetzt zu schließen für gut finden mochte.

Nicht listig absichtlich, sondern vom ehrlichen Wunsche geleitet, Gabrielens Geschick zu erleichtern, hatte Hippolit sich in kurzer Zeit ihrem schwachen Gemahl so lieb und werth zu machen gewußt, daß dieser ihn ungern von der Seite ließ, und ihn mit Einladungen bestürmte, sein Haus als das seinige anzusehen. Je länger er Gabrielen sah, je deutlicher ward es ihm, daß diese Frau von allen, die er bis jetzt gekannt[179] hatte, sich himmelweit unterschied, und so konnte es ihm nie einfallen, auf gewöhnlichem Wege sie zu gewinnen. Auch dachte er nie daran, planlos lebte er in ihrer Nähe fort, strebte auf jede Weise, sich dort zu erhalten, und sann nie darüber nach, warum er ihr nach und nach seine liebsten Gewohnheiten und Neigungen opferte, warum sie mit mächtiger Allgewalt ihn zu beherrschen beginne; es war ihm, als müsse alles dieß so und nicht anders seyn.

Gabrielen konnte es indessen nicht entgehen, wie zart und schonend der übrigens in allem so rücksichtslos handelnde Jüngling es vermied, die Lächerlichkeiten eines Mannes zu bemerken, der alt genug war, um sein Vater seyn zu können. Sie sah, wie oft er gegen die Spottlust der übrigen jungen Leute ihn in Schutz nahm, und ihre holdeste Freundlichkeit lohnte ihm ein Betragen, welches sie für den untrüglichsten Beweis reiner Herzensgüte nahm. Der frühern jugendlichen Unbesonnenheit, mit welcher er in der ersten Stunde ihrer Bekanntschaft es gewagt hatte, sie zu beleidigen, wurde nicht mehr gedacht; [180] oder wenn es geschah, so schämte Gabriele sich des Ernstes, mit dem sie eine kindische, nichts bedeutende Ungezogenheit gerügt hatte. So gewöhnte jeder Tag sie immer mehr an die Gegenwart Hippolits, den sie zuletzt oft im Scherz ihren Edelknaben nannte.

Adelbert hingegen verlebte diese Zeit in stetem Schwanken zwischen Himmel und Hölle, bald in der wollustathmenden Nähe der Markise alles außer ihr vergessend, bald niedergeschmettert von Reue und Selbstverachtung, wenn ein sorgender Blick aus Gabrielens Augen, wie ein Strahl aus der schuldlosen, seligen Heimath ihn traf. Herminia hatte, als er, von Marion geführt, ihr Zimmer betrat, mit unwiderstehlichem Zauber den ganzen vollen Freudenkranz ihrer Beider Jugend neubelebt, in Himmelsfarben glühend, ihm zu zeigen gewußt. Ohne die frühere Schuld, welche diesen Kranz zerriß, wegleugnen zu wollen, aber auch ohne Reue darüber in Worten auszudrücken, hatte sie vor dem Beleidigten sich nicht gebeugt. Aber, während sie vorgab, ihm Lebewohl auf ewig zu sagen, mußte er wähnen, in ein von Liebe, Reue,[181] Schmerz zerrissenes Gemüth zu blicken, das in kalter Selbstverleugnung sich verloren gab, und nur bedacht schien, sich und seine Qualen ihm zu entziehen. Entschlossen, die Treubrüchige mit kalter wortarmer Vergebung verachtend niederzuschmettern, war er gekommen, nur wenige Minuten vergingen, und er lag zu ihren Füßen, sie entschuldigend, gegen ihre eignen Anklagen sie in Schutz nehmend, die jetzt erst laut zu werden begannen. Diese ihre erste Zusammenkunft endete von seiner Seite mit dem feierlichen Versprechen, noch am nehmlichen Abend wiederzukehren, um dann gefaßter, mit Bewußtseyn den Augenblick ewiger Trennung zu feiern und so in Zukunft sein Bild liebend vergebend und mild in ihrer Erinnerung leben zu lassen.

Zur unglücklichsten Stunde hielt Adelbert sein Wort. Der vereinte Zauber früherer Unschuld und jetziger blendend strahlender Schönheit, in Reue, in Verzweiflung, in aller Gluth der hingebendsten Liebe, riß ihn hin, er vergaß alles, auch die Augusten geschworne Treue. Ihr bescheidnes Bild trat weit zurück in den verborgensten [182] Winkel seines Herzens, schmerzlich fühlte er es dort, ohne es sich selbst zu bekennen.

In bitterer Selbstverachtung gab er von nun an jede Hoffnung der möglichen Rückkehr zum Bessern auf. Er wollte nur Betäubung und fand sie; er sah und hörte nur Herminien, wie sie einzig in seiner Liebe leben und athmen zu können schwur, ihre Versicherungen, ihn nie ganz vergessen zu haben, ihr Geloben künftiger ewiger Treue, er glaubte Alles und Nichts. Im Wahnsinn äußern Sinnenrausches, gefoltert von innern Vorwürfen in jeder Minute helleren Selbstbewußtseyns, mied er aufs geflissentlichste alles, was ihn zu diesem bringen konnte, vor allen Gabrielen.

Herminia hatte bei Adelberts Wiedersehen wirklich eine Regung jener Gefühle empfunden, die einst ihre Jugend beglückten. Sie sah ihn zum edlen stolzen Manne herangereift, sogar die Narbe über der Stirn, welche früher ihr so entsetzlich dünkte, erhob jetzt sein Gesicht, weit davon entfernt, es zu entstellen, zu dem eines Helden. Seine Erschütterung bei ihrem Anblick verrieth [183] ihr die Gewalt, welche sie noch immer über ihn üben konnte, und Gabrielens unverhohlne Theilnahme an seinem anscheinend plötzlichen Uebelbefinden ließen sie sogleich in dieser eine, wahrscheinlich beglückte Nebenbuhlerin ahnen. Gabrielens von allen gefeierter Name erregte schon ihre Eifersucht ehe sie selbst sie noch sah, jetzt da Hippolit ihr um jener willen untreu zu werden drohte, ward sie ihr ganz unerträglich. Sechs in den gefährlichsten Umgebungen verlebte Jahre hatten Herminien sehr tief herabgezogen; Wechsel und Intrigue waren in dieser Zeit ihrem leidenschaftlichen Wesen zum Bedürfniß geworden, und unbekannt mit jeder bessern Regung, beurtheilte sie alle und somit auch Gabrielen nach sich. Sie glaubte daher, sich nicht besser an dieser rächen zu können, als indem sie Adelberten von ihr abzuwenden und wieder in die alten Fesseln zu ziehen suchte. Zugleich hoffte sie dadurch Hippolits Eifersucht rege zu machen, und so auch ihn wieder zu gewinnen, den sie, ohne ihn zu lieben, dennoch nicht freigeben wollte, besonders nicht an Gabrielen. Alles dieses vereint bestimmte sie zuerst [184] zu jener mühevollen Vorstellung, mit der sie Adelberten umgarnte, aber es ging ihr bald mit dieser Rolle, wie jeder guten Schauspielerin mit der ihrigen, sie gewann sie lieb, so daß sie selbst nicht mehr Täuschung und Wahrheit von einander zu unterscheiden wußte, und das Spiel immer weiter trieb, zuletzt hauptsächlich nur um des Spieles willen.

Nicht mit jener quälenden Empfindung, welche Herminia in ihr erregen wollte, aber doch schmerzlich besorgt, sah Gabriele Adelberten sich täglich ihr mehr entfremden. Sie sah die Angst, die ihn in ihrer Nähe ergriff, sie bemerkte wie geflissentlich er jedes Gespräch mit ihr vermied, ohne errathen zu können wodurch sie sein Zutrauen verscherzt habe. Auch zeigte er sich ihr durchaus nicht feindselig, aber ihr Beiseyn übte über ihn eine sichtlich vernichtende Gewalt. Das Geschäft, welches ihn in die Residenz geführt hatte, vernachlässigte er durchaus und brachte dennoch fast alle seine Zeit ausser dem Hause zu. Sie begriff nicht, wo? und womit? Bei der Markise traf sie ihn selten, denn sie besuchte diese nur wenn [185] sich dort Gesellschaft versammelte, und dann pflegte Adelbert gewöhnlich zu fehlen. Tausend Vermuthungen drängten sich Gabrielen entgegen, doch keine brachte sie der Wahrheit nahe, und ihr Gefühl widerstrebte jedem heimlichen Nachforschen, aber dieses unerklärliche Betragen des Gemahls ihrer Auguste lastete recht schwer auf ihrem Gemüthe.

Zwischen der Markise und der Gräfin Rosenberg war indessen seit Gabrielens Ankunft eine Spannung entstanden welche, und vielleicht bald, in einen förmlichen Riß auszuarten drohte. Herminie haßte Gabrielen zu sehr, um diesen Haß nicht auch der Gräfin sichtbar werden zu lassen, besonders seit es mit jedem Tage ihr entschiedner wurde, daß Hippolit um jener willen ihr unwiederbringlich verloren sey. Die Gräfin hingegen nahm Gabrielen stets in Schutz; sie hatte sie auf ihre Art lieb gewonnen, sie wußte sich nicht wenig damit, daß eine so glänzende Erscheinung aus ihrem Hause ausgegangen, unter ihren Augen gebildet sey. Nichts konnte ihr ein beifälligeres Lächeln ablocken, als wenn man Züge [186] von Aehnlichkeit zwischen der Tante und der Nichte entdeckt haben wollte; auch konnte sie Gabrielen nicht entbehren, ihre stete Gegenwart machte die geselligen Abende der Gräfin zu den gesuchtesten und glänzendsten der Stadt, unerachtet schwache Nerven jetzt sehr oft das Nichterscheinen der Markise entschuldigen mußten; zum Theil, weil diese die Abendstunden lieber mit Adelberten allein zubrachte, mehr aber noch, weil sie das Rivalisiren mit Gabrielen scheute. Ausser sich wäre sie gewesen, wenn sie gewußt hätte, wie wenig die Gesellschaft im Salon der Gräfin ihre Gegenwart vermißte. Ihr erstes blendendes Auftreten war zwar nicht vergessen, aber man gedachte dessen nur als eines angenehmen und zugleich fremden Schauspiels, welches sich indessen seiner Art nach doch nicht ganz mit deutschem Sinn und deutscher Sitte vereinen ließ, während Gabrielens sich stets gleichbleibende anspruchslose Liebenswürdigkeit auf Geist, Sinn und Herz immerwährend wohlthuend wirkte.


[187] Unerachtet der tausend Schwachheiten, zu welchen ungemessne Eigenliebe und Lust zu glänzen die Gräfin Rosenberg verführen mochten, hielt dennoch niemand fester als sie, an das was sie ihre Grundsätze nannte. Achtung vor äußerem Anstande, Sitte und guten Ruf, diese Kardinal-Tugend vornehmer Leute besaß sie in hohem Grade; sie war eine abgesagte Feindin alles offenbaren Unrechts, und Adelberts Verhältniß zu Herminien mußte ihr großes Mißfallen erregen, sobald sie es für das erkannte, was es war. Hippolits jetziges Benehmen gegen die Markise machte sie zuerst aufmerksam darauf. Sie sah, wie er, der sonst nur in den Blicken der Markise d'Aubincourt zu leben schien, ihr jetzt mit unverkennbarer Kälte begegnete, wie zuvorkommend er Adelberten jedesmal, wenn beide bei ihr zusammentrafen, den Platz neben ihr einräumte, und sie hatte selbst zu lange und in zu mannigfaltigen Verhältnissen in und mit der Welt gelebt, um nicht, wenn gleich diesesmal ungerechter Weise, den Grund einer so auffallenden Veränderung im Betragen ihrer Hausgenossin zu suchen. Die [188] dunkle Seite desselben blieb ihrem Scharfblick nicht lange verborgen, und gränzenloser Zorn ergriff sie bei der Entdeckung, daß die Markise es wage, unter ihren Augen, in ihrem Hause und gleichsam unter ihrem Schutze mit dem Gemahl einer ihrer nächsten Verwandtinnen ein solches Verständniß zu unterhalten. Hätte die Gräfin Rosenberg den ersten Regungen ihres empörten Gemüths zu folgen gewagt, so wäre die Markise in der nächsten Stunde durch öffentliche Kundmachung ihres Betragens vor der Welt auf das beschämendste bestraft worden; aber sie war von jeher gewohnt, nur mit der äußersten Umsicht vorzuschreiten, und jedes, nicht durch Bewunderung erregte Aufsehen zu scheuen, wie den Tod. Der Familienstolz, welcher einst den Baron von Aarheim so mächtig beherrschte, war auch der Brust seiner Schwester nicht fremd, und das Bekenntniß, daß Auguste, ihre Verwandtin, um einer andern willen verlassen werden konnte, schien ihr unwürdig und entehrend. Schmerzlich vermißte sie jetzt Ernestos gewohnte leitende Hand, doch dieser Freund war fern, auf dem Wege nach [189] Italien, wohin Ottokars wiederholte Einladungen ihn zogen, und so blieb der Gräfin nichts übrig, als an seiner Stelle Gabrielen zu Rath und Mitwirkung aufzufordern, um mit ihrer Hülfe die Markise ohne äußeres Aufsehen zu entlarven, zu entfernen, und hernach Adelberten reuig und gebessert Augusten wieder zuzuführen.

Gabriele stritt lange und heftig mit unglaublichem Erstaunen für Adelberten, gegen die Beschuldigungen der Gräfin, ehe sie sich entschließen konnte, solche als Wahrheit anzuerkennen, und selbst dann bemühte sie sich noch, sein Vergehen in gemildertem Lichte zu sehen. Weder sie, noch ihre Tante hatten die leiseste Ahnung davon, daß er in der Markise d'Aubincourt Herminien wieder gefunden habe; um so auffallender mußte ihnen diese plötzlich entstandne Leidenschaft erscheinen, aber auch um so leichter die Möglichkeit solche zu besiegen. Adelberts schleunige Entfernung von der gefährlichen Zauberin, welche ihn umstrickt hielt, schien beiden Frauen nach langem Berathen, das einzige Mittel, ihn wieder zu sich selbst, zu Augusten zurückzuführen und der [190] innigste Wunsch die ser wo möglich die über dem Glück ihres Lebens schwebende Gefahr gänzlich zu verbergen, bestimmte Gabrielen, sich an Frau von Willnangen zu wenden, um durch diese Adelberts schleunige Zurückberufung zu bewirken. Denn so sehr sie auch den freundlichen Greis, Adelberts Oheim, liebte und ehrte, so wußte sie dennoch nicht, in wie weit man in einer, für Augustens Zukunft so wichtigen Sache auf dessen Leitung sich verlassen könne, und durfte demnach es nicht wagen, das Muttergefühl der geliebten Freundin zu schonen.

Mildernd, begütigend, aber doch eindringend und ernst machte Gabriele sie mit Adelberts trauriger Verirrung so schonend als möglich bekannt. Die Markise zeigte sie ihr, so wie sie ihr selbst erschien, als ein für den ersten Augenblick höchst einnehmendes blendendes Geschöpf, reich an allem was reizt, gefällt und verführt, aber eigentlich doch arm an innerem Werthe, mit keiner einzigen der Eigenschaften begabt, die einst Augusten das Herz ihres Gatten gewannen. Auguste wird ihn wieder gewinnen, setzte Gabriele [191] dieser Beschreibung hinzu. Sie muß ihn wieder gewinnen, um auf ewig ihn zu halten, sobald es uns nur gelingt, ihn dem magischen Kreise dieser neuen Armida zu entrücken, deren Nähe ihn allen seinen Freunden und sich selbst zum Unkenntlichen verwandelt. Um nicht zu ängstlich bei diesem Hauptzweck ihres Briefes allein zu verweilen, versuchte es weiterhin Gabriele, der Frau von Willnangen ein heiteres lebendiges Bild ihres jetzigen Lebens und des glänzenden Horizonts zu geben, an welchem sie selbst ein Stern erster Größe war. »Sie sehen,« schrieb sie ferner, »aus ihrer sonst so furchtsamen Gabriele ist nach und nach ein ziemliches Weltkind geworden; doch fürchten Sie nicht zu viel für meinen häuslichen Sinn. Ach liebe liebe Mutter! ich sehne mich oft so, daß mir die Thränen in die Augen treten, nach einer einzigen Stunde, wie ich deren so unzählig viele bei Ihnen, mit Ihnen, mit Augusten, mit Ernesto verlebt habe. Wissen Sie noch den Abend, wo wir sangen: Dolce dell' anima, speme del mio cor? Wie laut, wie thörigt flatterte damals dieß Herz, das jetzt so leise sich regt! [192] Alles ist anders wie in jenen Tagen und doch im Grunde dasselbe. Was je mir theuer war, ist noch das Leben meines Lebens; jede Freude, jedes Gelingen, jeden guten Vorsatz knüpfe ich an ein liebes Bild; aber dieß Bild glänzt weit, weit von mir in meinem Jugendlande. Ich träume davon, wie schlafende Kinder mit Engelbildern spielen, aus einer fernen, goldnen, himmlischen Heimath, und wenn ich erwache, lächelt der Abglanz des Morgenrothes meines Lebens noch immer freundlich in meinen Werkeltag hinein.

Wirklich, ich komme mit meinen vierundzwanzig Jahren mir oft recht alt, recht matronenhaft vor, und ich glaube, ich erscheine auch Andern so; meinem Zöglinge wenigstens gewiß, denn ich muß es nur bekennen, ich gebe mich jetzt mit der Erziehung ab, und zwar bei einem recht verwarloseten Kinde, das ich dem Untergange entreißen will. Freilich ist es schon einundzwanzig Jahre alt, aber erschrecken Sie nicht darüber, mein Zögling geberdet sich gewöhnlich, als zähle er deren kaum sieben; er ist unbändig, ungehorsam und wieder lenksam, folgsam und gut wie es[193] kommt. Er verbindet alle Arten und Unarten eines Kindes mit jeder glänzenden Eigenschaft der reifern Jugend. Denken Sie sich ihn hoch, schlank, schön wie Achill; schmiegsam, biegsam, fast kindliche Grazie in jeder Bewegung, mit dunkeln Locken und schwarzen blitzenden Augen, wie Mignon. So wunderlich wie in seinem Aeussern eint sich der Widerspruch auch in seinem Innern. Er ist stolz, auch wohl hochmüthig verachtend, eitel, argwöhnisch, suffisant-ausgelassen und oft recht von Herzen betrübt. Alles das theils durch das Leben, welches er bis jetzt lebte und durch die Leute, mit denen er in Verbindung gerieth, mehr aber noch, wie er mir nicht vertraute, aber errathen ließ, durch früh erlittenen Verrath, Mißhandlung und Betrug von Seiten derer, welchen es Pflicht war, ihn zu lieben. Von Natur ist er mild, bescheiden, heiter, vertrauend, jeder Aufopferung fähig, aber diese edleren Eigenschaften treten nur zuweilen hervor, und werden oft verdüstert. Er ist sehr unterrichtet, sogar gelehrt wie es mich dünkt. Er weiß von Kunst zu reden, bläst die Flöte, zeichnet, skizzenhaft aber[194] geistreich. Doch alles dieß ist ihm nur ein Erlerntes, er weiß es nicht zu brauchen, er weiß nur damit zu glänzen. Er geht umher wie ein Nachtwandler in eines Königs Pallast, man muß ihn bei Namen rufen, damit er die Herrlichkeit gewahr werde die ihn umgiebt, aber man muß ihn dabei auch recht sorglich festhalten, um ihn vor dem Falle zu schützen und auf rechte Bahn zu bringen.

Dieß zu versuchen, habe ich mir nun vorgenommen. Ich fand ihn am Scheidewege, oder vielmehr, daß ich es nur gestehe, ich fand ihn schon eine ziemliche Strecke über die Gränze hinaus verlockt. Ein wunderliches Begegnen brachte ihn mir nahe; zuerst war er ungezogen, ich schalt wie billig, er schämte sich etwas ungeschickt, vielleicht zum erstenmale in seinem Leben bei solchem Anlasse, und mitten durch alles dieses blickte so viel Gutes, ja selbst Edles hervor, daß er mein innigstes Bedauern erregte, und ich den Wunsch fühlen mußte, ihm wieder zurecht zu helfen. Die Frauen mögen an seinem Verderben nicht wenig [195] Schuld seyn. Nun es sey gewagt. Vielleicht gelingt es mir, wieder zu erbauen, was Andere meines Geschlechts zerstörten. Hippolit scheint Vertrauen zu mir gefaßt zu haben, und das ist schon viel.

Möge es Ihnen ein Beweis seiner Herzensgüte seyn, daß er zu meinem eignen Erstaunen das Wohlwollen meines Gemahls sich in so hohem Grade zu erwerben gewußt hat, daß dieser ihn immer um sich haben möchte, und Hippolit deshalb beinah wie einer unserer Hausgenossen anzusehen ist; nur daß er nicht bei uns wohnt. Manche kleine körperliche Schwäche des Alters beginnt, früh wie mich dünkt, Herrn von Aarheims Daseyn zu trüben, ohne daß ich deshalb ernstlich um ihn besorgt zu seyn Ursache hätte. Er wäre gewiß weit öfterer leidend und grämlich als er es ist, doch Hippolit macht ihm vieles vergessen, denn er umspielt ihn in Jugendlust und heiterer Lebensfülle. Der allmählig zum Greise heranalternde Mann scheint oft zu wähnen, er habe in ihm einen lieben Sohn wieder [196] gefunden, der seine grauen Locken ehrt und seine kleinen Schwachheiten schonend erträgt. Wie sehr ich dabei an häuslicher Ruhe und Lebensfreiheit gewinne, werden Sie, die Sie uns so genau kennen, leicht ermessen, und sich nicht darüber wundern, daß Hippolit, in diesem freundlichen Verhältniß zu uns, mir selbst ein Verwandter zu seyn dünkt, der Anspruch hat an mich, daß ich für ihn thue was ich kann.«


Einige Wochen waren nach Absendung dieses Briefes vergangen und Gabriele sah längst der Antwort entgegen, als eines Abends sich ein kleiner gewählter Kreis zum musikalischen Verein in ihrem Zimmer versammlet hatte.

Umflossen von Licht, Glanz und Schönheit saß die Markise auf dem Divan unter einer strahlenden Girandole von Kristall. Vor ihr stand die reich geschmückte große Pariser Harfe, hinter [197] ihr über sie hingebeugt Hippolit, dessen Flöte die Töne begleitete, welche sie mit Meisterhand dem goldnen Saitengewebe entlockte. Die ganze Gesellschaft im Saal war in der Andacht des Zuhörens und des Anschauns versunken. Nur Adelbert saß einsam und abgewendet in der fernsten Ecke desselben. Mit den so eben verklungenen einfachen Tönen eines alten oft gehörten Liedes hatte Gabriele eine Welt von Schmerz und Sehnsucht in seinem Busen aufgeregt. Die Melodie des Liedes war eine von jenen, welche wie Töne aus der Heimath in uns wiederklingen und den Worten so fest sich anschließen, daß es unmöglich wird jene ohne diese oder diese ohne jene zu denken. Hier ist das Lied:


Noch einmal muß ich vor Dir stehn,
Noch einmal in Dein Auge sehn
So lieb und klar;
Die Hand, so fest und wahr,
Noch einmal fassen inniglich
Die liebe Hand und Dich – und Dich!
Drum wenn ich nur erst bei Dir wär',
Dann wär' schon alles recht,
Und wenn ich nur erst bei Dir wär',
Wie's Gott dann schicken möcht'!
[198]
Ich muß Dir sagen noch einmal
All' meine Freud', all' meine Qual;
Du kennst sie beid',
Mein Glück und auch mein Leid,
Doch ich muß sagen Dir auf's neu
All' meiner Seele Lieb' und Treu!
Drum wenn ich nur erst bei Dir wär',
Dann wär' schon alles recht,
Und wenn ich nur erst bei Dir wär',
Wie's Gott dann schicken möcht'!
Muß hören noch ein einzigmal
Den süßen vollen Glockenschall
Von deiner Stimm',
Denn, – ging's mir noch so schlimm, –
Wenn sie von deinen Lippen weht
Wird meine Klage still Gebet.
Drum wenn ich nur erst bei Dir wär',
Dann wär' schon alles recht,
Und wenn ich nur erst bei Dir wär',
Wie's Gott dann schicken möcht'!
Will rufen all' mein schmerzlich Glück
Mir noch ein einzigmal zurück;
Will lauschen sacht':
Wie du an mich gedacht?
Noch einmal muß auf Erden mein,
Nur einmal noch der Himmel seyn.
Drum wenn ich nur erst bei Dir wär',
Dann wär' schon alles recht,
Und wenn ich nur erst bei Dir wär',
Wie's Gott dann schicken möcht'!

[199] Diesen Worten, diesen Tönen hatte Adelbert unzähligemal im innigsten Gefühl seines Glücks an Augustens Seite zugehorcht, wenn Gabriele, wie eben jetzt, mit ihrer süßen rührenden Stimme sie sang; und nun erfüllten sie das Gemüth des einsam Verirrten mit einer unendlichen Sehnsucht nach dem häuslichen glücklichen Heerd. Dabei ward ihm, als trennten weite Meere, unüberwindliche Klüfte ihn von den Seinen, als werde er nimmer und nimmer sie wiedersehn. Allmählig versank er so in immer trostlosere Wehmuth und beachtete weder das Spiel der Markise noch alles was ihn umgab. Ein leises Oeffnen der Thüre bewog ihn endlich mechanisch die Augen zu erheben und zu seinem unsäglichen Schrecken erblickte er dicht vor sich die ehrwürdige Gestalt seines, viele Meilen weit entfernt geglaubten Oheims, des Generals Lichtenfels. Blitzschnell fuhr Adelbert bei dem unerwarteten Anblick in die Höhe, er wollte ihn begrüßen, aber die Stimme versagte ihm den Dienst; bleich, wie entgeistert, blieb er auf seinem Platze regungslos stehen, den stieren Blick auf den eben Eingetretenen geheftet, [200] der ihn indessen eben so wenig bemerkte, als er selbst von der ganz der Musik zugewendeten Gesellschaft bemerkt ward.

Leise auftretend, durchschritt der General das Zimmer der Länge nach, bis er dicht vor der Markise still stand, nur durch die Harfe von ihr geschieden. Mit immer zorniger werdendem Ernste betrachtete er sie, jede Sekunde überzeugte ihn immer fester, sie sey wirklich die, für welche er sie im ersten Augenblicke erkannt hatte, bis endlich eine Pause in der Musik entstand. Die Markise, welche bis dahin ihr Harfenspiel ganz unbefangen fortgesetzt hatte, wendete sich jetzt gegen ihre Zuhörer, um in ihren Augen die dankbarste Bewunderung zu lesen, und ihr erster Blick fiel auf die hohe, drohende Gestalt, die, ganz nahe vor ihr, über die Harfe weg, sie anstarrte. Gelähmt vom Schrecken bei der unerwarteten Erscheinung, die auch sie nur zu wohl wieder erkannte, fühlte sie dennoch die dringende Nothwendigkeit, hier ruhig und besonnen zu bleiben. Sogar ein Gedanke der Möglichkeit, unerkannt durchzuschlüpfen, fuhr ihr durch den [201] Kopf, wenn sie Fassung genug behielt, ferner für eine Französin zu gelten, deren große Aehnlichkeit mit der ehemaligen Braut seines Neffen den General verwirre. Aber ein Seitenblick auf Adelbert, der wie vernichtet da stand, brach ihr den Muth, und als nun vollends der General die wohlbekannte Stimme donnernd erhob, sank sie erbleichend auf dem Divan zurück, und vermochte es kaum noch, auf ihrem Sitz sich aufrecht zu erhalten.

Erzürnt, tief empört, vom Augenblick hingerissen, vergaß der General alle ihm sonst eigne Milde und Schonung und begann eine laute lange Strafpredigt. Der ganze Zusammenhang von Adelberts Verirrung war ihm klar geworden wie der Tag, so wie er in der Markise Herminien wieder fand, und er überströmte die ihm jetzt zwiefach strafbar Erscheinende mit Fragen, mit Vorwürfen, mit Anklagen, welche den dabei Gegenwärtigen ihre früheren und jetzigen Verhältnisse in dem allerungünstigsten Licht offenbaren mußten. Die duldende Verlegenheit der Markise galt bei Allen für das vollkommenste [202] Eingestehen jeder Beschuldigung, besonders da sie in der Angst der früheren Verstellung vergaß, und plötzlich in sehr reinem geläufigem Deutsch ihren Widersacher zu besänftigen und manche Anklage von sich abzuwenden suchte. Die Scene ward immer verwirrender und Gabriele, die, wenn sie gleich auf diese Art es nicht gewollt hatte, sich doch bewußt war, sie veranlaßt zu haben, gerieth in immer drückendere Verlegenheit. Denn jetzt erhob sich auch die Gräfin, um die Angeklagte vollends zu zerschmettern.

Mit richtendem Ernst, stolz und hoch wie eine Königin, betrachtete sie sie einige Sekunden, dann wandte sie sich an Gabrielen mit der laut ausgesprochnen Bitte, ihr zu verzeihen, daß sie, auf beispiellose Art getäuscht, sich durch ihre gewohnte arglose Gefälligkeit habe verleiten lassen, eine Dame bei ihr einzuführen, mit deren Verhältnissen sie, wie sie jetzt gewahr werde, dazu nicht bekannt genug gewesen sey. Mit einer verbeugenden Bewegung, welche die nehmliche Bitte auch den übrigen Anwesenden wiederholte, verließ sie alsdann das Zimmer, nur begrüßte sie[203] noch vorher die Markise mit einem nachlässig vornehmen: Madame! J'ai l'honneur de Vous saluer und umarmte nochmals ihre verlegen dastehende Nichte.

Auch Adelbert hatte sich früher, ohne bemerkt zu werden, entfernt.

Jedes Bestreben, dem General Einhalt zu thun, war vergeblich. Mitleidig versuchte es endlich Gabriele, der Markise wenigstens den Weg zur Flucht zu bahnen, aber dieser war nicht zu helfen, sie saß regungslos auf dem Divan, von der einen Seite durch die große Harfe eingeengt, von der andern durch den General, der sich selbst immer zorniger sprach, und seinen Anschuldigungen immer schonungslosere Worte gab. Hippolit hatte indessen sich lange fruchtlos bemüht, die bei diesem widerwärtigen Vorgange nicht persönlich interessirten Zuschauer zum Weggehen zu bewegen, alle bildeten aber einen neugierigen Kreis und niemand hatte die mindeste Lust zu wanken oder zu weichen. Doch jetzt, da die Gräfin das Beispiel gab, konnte man sich nicht mehr anständig weigern, ihr zu folgen. [204] Die Gesellschaft brach also mit ihr auf, und Hippolit ergriff nun das einzige Mittel, das ihm übrig blieb, um diese unangenehme Scene gänzlich zu beenden. Er nahte sich der Markise, schob die schwere Harfe bei Seite, und unerachtet der General, den er nicht kannte, noch immer fort sprach, bot er ihr den Arm, um sie an ihren Wagen zu geleiten. Doch es schien als ob das Regen der Gesellschaft um sie her, sie plötzlich aus ihrer Bewußtlosigkeit erwecke; sie stand auf, wieß mit einer verachtenden Bewegung Hippolits dargebotnen Arm von sich, und wandte sich dann gegen den General, der nun seiner Seits auch über das Unerwartete wie verwundert verstummte.

»Ihr Alter, Herr General! giebt Ihnen das Privilegium, unartig zu seyn, daher verzeihe ich Ihnen,« sprach Herminia sehr vernehmlich. »Ob Sie aber Ihr heutiges Betragen sich selbst und denen, welche Sie dazu aufreizten, werden verzeihen können, das mögen Sie bei kälterem Blute selbst entscheiden. Morgen, wenn Sie das Fieber verschlafen haben, in welches die Ermüdung [205] der Reise Sie versetzt hat, werden beihel lerem Bewußtseyn Ihnen vielleicht die Gründe klar werden, welche diese Dame und diesen Herrn veranlaßt haben können, Sie zu einer Scene zu verschreiben, deren Herbeiführung freilich den Forschungsgeist und das savoir faire derselben in der skandalösen Kronick der Stadt rühmlichst verewigen muß.« Mit einem höhnischen Lächeln verbeugte sie sich bei diesen Worten gegen Hippolit und Gabrielen und verließ dann das Zimmer. Hippolit folgte ihr dennoch, um sie sicher bis an den Wagen zu geleiten, während Gabriele beim General blieb, der zornbleich und von der heftigen Gemüthsbewegung erschöpft in einen Armsessel gesunken war, aus dem er aber mit dem Ausdruck eines schreckhaften Sichbesinnens bald wieder auffuhr.

»Auguste!« rief er, »Auguste! Daß ich diese vergessen konnte! Aber wie war es möglich, ein solches Zusammentreffen vorauszusehen? Wir meinten es gut, Frau von Willnangen und ich; ungern mochte ich Adelberten vor Beendigung seines Geschäftes von hier abrufen. Augustens [206] Wiedersehen, so hofften wir, sollte schnell die Fesseln der Buhlerin lösen. Wer konnte die Möglichkeit denken, in der Markise d'Aubincourt Herminien zu finden?!«

»Um Gotteswillen, wo ist Auguste?« rief Gabriele.

»Die Arme,« erwiderte der General, der noch immer seine gewöhnliche Fassung nicht wiedergewonnen hatte; »die Arme! Sie weiß von nichts. Auf mein Bitten begleitete sie mich, Adelberten, wie sie glaubt, zu seinem heutigen Geburtstage durch ihre Gegenwart freudig zu überraschen. Wir vernahmen beim Aussteigen aus dem Wagen, hier sey Konzert, Gott weiß, ich ahnete nichts von der Scene, die nun erfolgt ist. Ich glaubte nicht die Markise in dieser Gesellschaft zu finden. Gut nur, daß Auguste sich nicht in Reisekleidern zeigen mochte.«

»Wo ist sie? wo ist sie?« fragte Gabriele noch ängstlicher und zog hastig die Klingelschnur, um Annetten herbei zu rufen.

»In Adelberts Zimmer,« erwiderte der General, »sie wollte eiligst sich umkleiden.«

[207] Pfeilschnell flog jetzt Gabriele, die Freundin aufzusuchen, der General folgte ihr; unten von der Treppe herauf hörten sie unterweges Hippolits und Adelberts Stimmen, wie im heftigen Wortwechsel ertönen und auch der Markise Stimme ward vernehmbar.

Zu jeder andern Zeit würde dieß alles Gabrielen sehr beunruhigt haben, jetzt achtete sie kaum darauf und dachte nur an Augusten. Sie fand sie wirklich in Adelberts Zimmer allein, zwar mit allem Geschehenen unbekannt, aber doch zitternd vor einem namenlosen Unglück, das ihr um so furchtbarer erschien, je weniger sie im Stande war, ihm eine Gestaltung zu geben.

Adelbert war vor einigen Minuten heftig bewegt und, wie sie meinte, freudig über ihren unvermutheten Besuch in das Zimmer gestürzt. Mit offnen Armen war sie ihm entgegen getreten, er aber hatte mit vorgestreckten Händen sie von sich abgewehrt, hatte furchtbar sie angestarrt und war dann davon geflohen wie ein Verzweifelnder. Auguste war ihm gefolgt, aber er in dem ihr fremden Hause schnell ihr aus dem Gesicht geschwunden. [208] Mit Mühe hatte sie sich in das Zimmer zurück gefunden, und dann versucht sich zu erholen, um Gabrielen aufsuchen zu können, als diese mit dem General zu ihr eintrat.


Gabriele kannte das zutrauensvolle Gemüth ihrer Freundin, sie wußte, daß diese liebende, neidlose Brust keinen Funken Eifersucht verbarg, und blickte mit um so herzlicherem Mitgefühl auf die Arme, die nur vor einem ihr unbekannten äußern Unglück zitterte, welches ihren Adelbert betroffen zu haben schien, während sie gar nicht daran dachte, daß sie anders als in ihm beklagenswerth seyn könne. Gabrielens erste Sorge war, Augusten unter einem Vorwande aus dem Zimmer zu entfernen, in welchem Adelbert selbst jeden Augenblick überraschend eintreten konnte. Dann suchte sie die schwere Aufgabe zu lösen, Augusten so schonend als möglich mit Adelberts und Herminiens zufälligem Zusammentreffen und dessen Folgen bekannt zu machen. Die Natur [209] hatte Augusten mit Lebensmuth und mit heiterem, alles ebnendem Sinn, diesen zum Glück des Lebens nothwendigsten Gaben, reichlich ausgestattet und so wäre es der sorgenden Freundschaft wohl gelungen, die Bitterkeit des Kelches wenigstens zu mildern, den sie nicht mehr an ihr vorüber führen durfte, doch Moritzens unseliger Unbedacht vereitelte ihr Bemühen.

Unbekannt mit allem früher Vorgefallnen, kehrte er von einem späten Männerdiner zurück und gewahrte mit großer Verwunderung den ungewohnt zeitigen Aufbruch der bei Gabrielen versammlet gewesenen Gesellschaft, deren Wagen sich eben von seinem Hause aus in alle vier Winde verstreuten. Mit noch größerem Erstaunen fand er in der Vorhalle die Markise, Adelbert und Hippoliten in heftigem Wortwechsel begriffen. Ohne dessen Entstehen zu kennen, bemühte er sich, ihn zu schlichten, und stürzte, da dieses mißlang, ganz verstört in Gabrielens Zimmer, ohne die Anwesenheit des Generals und Augustens zu bemerken.

[210] »Sono ammazato! sie sind todt oder vielmehr so gut als todt, alle beide! Sie schlagen sich mit Tagesanbruch auf Pistolen, der Rittmeister und Hippolit,« rief er aus, und lief wie ein Verrückter im Zimmer umher. Vergebens bemühten sich der General und Gabriele ihn zum Schweigen oder zu einer bestimmten Erzählung des Vorganges, den er andeutete, zu bewegen; er fuhr nach seiner unverständigen Weise fort, die bängsten Befürchtungen zu erregen, ohne sich deutlicher erklären zu wollen, bis Auguste, freilich bebend und bleich, sich erhob und des Generals Arm ergriff.

»Kommen Sie, Vater!« sprach sie, »zu ihm führen Sie mich!«

»Bravissimo!« rief plötzlich sehr freudig Moritz von Aarheim, »das ist ein herrlicher Einfall, mein Wagen steht zum Glück noch angespannt und ich selbst will Sie zur Frau Markise begleiten. Dort ist er, die gute Dame zog ihn beinahe gewaltsam mit in ihren Wagen, gewiß hält sie ihn bei sich fest, to keep him out of harms way

[211] »Er folgte Herminien?« rief wie außer sich der General, und wüthender als je flammte sein Zorn auf. »Ja ich nehme Ihren Wagen, ich will den Ehrlosen bei der Ehrlosen finden!«

Auguste sank an Gabrielens Busen. »Herminia! Und du verschwiegst es mir?« sprach sie leise und fiel dann, nicht ohnmächtig, aber wie zerbrochen an allen Gliedern, auf den Sopha zurück.

»What shall we do, what shall we do?« wimmerte Moritz in einem fort, nach seiner gewohnten Art in jeder Angst. Der General war indessen zum Zimmer hinausgestürmt, eben rollte der Wagen fort, in welchem er zur Markise fuhr. Moritz kam glücklicher Weise auf den Gedanken, sich ebenfalls aufzumachen, um seinerseits den Grafen Hippolit aufzusuchen, und so erhielt Gabriele endlich eine ruhige Stunde, um mit der innigsten Liebe Augustens Sorge und Schmerz zu beschwichtigen.

Die Zeit verging im trüben Gespräche, es ward Mitternacht, schlaflos horchten die Freundinnen auf jeden, durch die immer einsamer werdenden [212] Straßen hinrollenden Wagen, unzählige mal mußte die treue Annette hinaus auf den Balkon, um nachzusehen ob niemand käme? Vergebens. Draußen blieb alles ruhig, und in ihnen ward es immer trostloser und bänger.

Schonend, um ihn trauernd, ihn vertretend, wie nur der Schutzengel seines Lebens vor dem ewigen Richter es könnte, hatte indessen Gabriele versucht, Adelberts Verirrung zu entschuldigen, und Hoffnungen einer glücklichern Zukunft zu erregen. Sie hatte es mit einem Herzen zu thun, das ohnehin so bereit war zu vergeben, und der Sieg über die Vergangenheit ward ihr in dieser Hinsicht nicht schwer. Desto bänger aber zitterte Auguste den nächsten Morgenstunden entgegen, die sie, Unheil weissagend, den Himmel schon röthen sah. Gabriele war hier weniger besorgt und bemühte sich eifrig, der Freundin den Glauben beizubringen, den sie selbst so gern festhielt: daß Herr von Aarheim sich geirrt habe und von gar keinem Streit, der einen blutigen Ausgang drohe, die Rede gewesen seyn könne.

[213] Von jeher war sie fern von allen Stadtsagen und aller Anekdotenjägerei geblieben, ihr ganzes Wesen schlug jeden Versuch nieder, sie mit irgend etwas, diesen schmutzigen Quellen Entfließendem bekannt zu machen. Daher war Hippolits früheres Verhältniß zur Markise ihr ein Geheimniß geblieben und sie begriff wirklich nicht, wie und warum Adelbert mit ihm gerade in diesem Momente so heftig an einander hätte gerathen sollen. Die beleidigenden Worte, mit welchen die Markise das Zimmer verließ, hatte sie als Ausbrüche ohnmächtiger Wuth zu wenig geachtet, um sich die Mühe zu geben, sie verstehen zu wollen. Doch während sie auf diese Weise ihre zitternde Freundin zu beruhigen suchte, erhob plötzlich Annette ihre Stimme aus dem dunkeln Winkel, in welchem sie neben Augustens Ruhebette saß, und gab beiden Frauen eine Gewißheit, welche diese so gern entbehrt hätten.

Das treue Mädchen war der Liebling ihrer Herrin geblieben und hatte als solcher so manches kleines Vorrecht; unter andern das, an Konzertabenden in einem Nebenzimmer der Musik [214] lauschen zu dürfen. Auch an diesem Abende hatte sie diese Erlaubniß benutzt. Aengstlich über die ihr so ganz ungewohnte Scene, welche die Freuden desselben unterbrach, wollte sie die große Treppe hinab, der unerwartet schnelle Aufbruch der Gesellschaft hielt sie auf, und so kam sie in der Vorhalle des Hauses an, als eben der Zwist zwischen Hippolit und Adelberten begann.

»Liebe gnädige Frauen!« sprach Annette, »es schmerzt mich in der Seele, Ihnen Ihren Trost zu benehmen, aber Wahrheit bleibt doch immer das Beste, und so denke ich, muß ich sie Ihnen gestehen, da ich sie weiß. Die beiden gnädigen Herren sind freilich leider in gefährlichem Zwist gerathen.«

Gabriele erschrack nicht weniger über dieses Geständniß, als über Augustens Gegenwart dabei und suchte, so viel sie unbemerkt es konnte, Annetten zum Schweigen zu bringen, aber vergebens. Ein unglücklicher Stern schien heute über diesem Hause aufgegangen, der jede Schonung vernichtete, und Auguste drang mit so heftigen, ungeduldigen Fragen in das Mädchen, [215] daß Gabrielen nichts übrig blieb, als sie gewähren zu lassen.

»Die Frau Markise,« erzählte Annette, »ging eben ganz hochtrabend durch die Halle und der junge Herr Graf hinter ihr drein; sie sah sich aber gar nicht nach ihm um, sondern nur immer mit steifem Nacken gerade aus, als der Herr Rittmeister neben mir die Treppe hinabstürmte. Er war so todtenbleich und so zerstört, daß ich ohne die Uniform gar nicht gewußt hätte, er sey es. So wollte er neben der Frau Markise zur Thüre hinaus, aber sie hielt ihn am Arme fest, trat dicht vor ihm und sah ihm starr und fest in die Augen. Da ward er immer bleicher, und zitterte so, und sah aus wie an dem Abende, als er aus der ersten Gesellschaft bei der Frau Gräfin kam. Die Frau Markise sprach französisch zu ihm, und weinte dabei, und lehnte den Kopf an seine Schulter vor allen Bedienten! Ich glaubte es nicht, wenn ich es nicht gesehen hätte.«

»Und er? und er?« fragte ängstlich leise Auguste.

[216] »Nun der Herr Rittmeister stand da und regte sich nicht,« war die Antwort; »er trat sogar ein kleines bischen zurück, wie mir dünkt, aber es half ihm nichts. Die böse Dame, Gott verzeih es mir, aber das ist sie, faßte ihn und drehte ihn plötzlich gegen den jungen Herrn Grafen. Danken Sie diesem Herrn, sprach sie auf einmal auf deutsch, daß er zur Besserung des unartigen Knaben den Herrn Onkel kommen ließ, und dann gehen Sie herauf, bitten Sie ab, küssen Sie die Hand die Sie straft, man wird Ihnen am Ende vergeben und Sie werden auf Ihre Art glücklich seyn. Was aus mir wird, aus meiner gemordeten Ehre, gilt Dir gleich und so auch mir. Ja wahrhaftig, sie hat ihn geduzt, und dann weinte sie und lehnte sich wieder an ihn. Da trat der junge Herr Graf heran, kommen Sie, gnädige Frau, sprach er, Sie geben hier ein Schauspiel, dessen Sie morgen sich schämen werden, und so nahm er ihren Arm und wollte sie an den Wagen führen, aber sie riß sich los. Soll ich vor Ihren Augen um Ihrerwillen mich mißhandeln lassen? rief sie dem[217] Herrn Rittmeister zu. Soll ich den Befehlen dieses Menschen gehorchen, durch dessen Künste ich morgen das Mährchen der Stadt seyn werde? und Sie, um den alles dieses geschieht, sehen gelassen zu? Da ward der Herr Rittmeister so feuerroth als er vorher bleich gewesen war; auch Graf Hippolit ward heftig, und unser gnädiger Herr, der eben zur Thüre hereintrat, sprach auch darein und wollte sie besänftigen, auf spanisch und italienisch, aber es wollte alles nichts helfen. Der Streit ward immer heftiger und mir wurde so angst dabei, daß ich zuletzt auch nicht mehr vernahm, was sie auf deutsch zu einander sagten, bis der junge Herr Graf endlich gelassener wurde und sich verständlich machen konnte. Herr Rittmeister, sagte er, lassen Sie uns eine Scene enden, die schon zu lange gewährt hat und hier doch nicht entschieden werden kann. Morgen bin ich zu jeder Erläuterung bereit. Gut dann, morgen, erwiderte der Rittmeister, und trat ganz nah zu ihm heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf der Herr Graf eine bejahende Verbeugung machte, als wolle er sagen, [218] ich bins zufrieden, und dann fortging. Die Frau Markise that nun ganz ohnmächtig und der Herr Rittmeister mußte sie begleiten, damit sie nicht allein im Wagen wäre. So wurde dann Ruhe, aber gewiß, es war nur zu deutlich zu sehen, die beiden Herren haben so leise nichts gutes mit einander abgemacht.«

»Komm« rief Auguste mit erzwungner Ruhe, »jetzt muß ich zu ihm und wäre er auch bei ihr, ich muß ihn sehen. Ihr Auge flammte, ihre Bewegungen waren fieberhaft und Gabriele kämpfte der Ausführung dieses Gedankens mit aller Macht entgegen. Sie stellte ihr vor, wie mißlich und zweckwidrig jedes Einmischen der Frauen bei Männerstreitigkeiten in der Regel auszufallen pflege, aber sie hätte schwerlich gesiegt, wenn nicht das Rollen eines Wagens in den Hof hinein, Augusten wenigstens für den Augenblick zurückgehalten hätte.

Es war der General, der so ganz mit dem Ausdrucke einer guten Botschaft zu den Frauen hineintrat, daß sie alles geschlichtet und jede Besorgniß für überwunden achten mußten. Doch [219] was den Oheim so freudig machte, war nur die Gewißheit, daß weder Bitten noch Drohen, weder Thränen noch Gründe Adelberten hätten bewegen können, die Markise weiter als bis an die Thüre ihrer Wohnung zu begleiten. Die Gräfin Rosenberg, bei welcher der General, spät wie es war, Zutritt suchte und die freundlichste Aufnahme fand, hatte als Augenzeugin ihn dessen versichert, überdem war sein Zorn gegen Adelberten durch diese Dame um vieles gemildert worden. Mit ihrer gewohnten Klugheit hatte sie dem Oheim alle Künste und Lockungen auf das lebhafteste geschildert, mit welcher Herminia fast unwiderstehlich den Arglosen anzog und festhielt. Die seltne Schönheit der verführerischen Frau, des Neffen früheres Verhältniß zu ihr, Augustens Abwesenheit wurde ebenfalls in Anschlag gebracht, und so gelang es ihr, den Oheim halbversöhnt mit dem Liebling seines Herzens wieder heimzusenden.

»Die Tante ist eine Frau, vor welcher ich alle Achtung habe,« sprach er zu Gabrielen, »Welt und Erfahrung haben sie mild und verständig [220] gemacht. Sie kennt das Leben, und weiß daß Adams Söhne aus gröberem Stoffe geformt wurden als ihr, die ihr doch immer den Engeln näher verwandt seyd als uns, nehmlich, wenn ihr einmal etwas taugt. Die Herminien nehme ich aus, die gehören zu den gefallenen Engeln, vor welchen jeder gute Christ ein Kreuz schlägt. Getrost liebe Nichte! Jugend ist freilich ein strengerer Richter als das Alter, aber ich hoffe doch, der Sünder Adelbert soll Gnade finden wenn er heimkehrt. Und somit gute Nacht. Der heutige Tag hat der Plage genug gehabt, laßt uns Kräfte sammeln für den morgenden, ehe er uns hier überrascht.«

»Und Adelbert? wo ist er?« fragte Gabriele mitleidsvoll, denn Auguste saß da und vermochte keinen Laut aufzubringen.

»Das weiß ich nicht,« erwiderte der General, »wie ich höre hat er weder Freunde noch Bekannte, bei denen man ihn vermuthen könnte, und nachdem ich die Gräfin verlassen, bin ich nach allen Gasthöfen herumgefahren, ihn zu suchen, ich habe schlaftrunkne Portiers und Hausknechte [221] die Menge ins Verhör genommen, aber niemand wollte von ihm etwas wissen. Und wenn ich ihn auch gefunden hätte, was hätte es geholfen? Liebe Frauen, ich will es zugeben, es mag um die Gesetze unsrer Ehre ein barbarisches Ding seyn, aber sie sind für's erste nicht zu ändern. Uebrigens hat er es, wie ich höre, mit einem braven edlen Gegner zu thun, laßt das euern Trost seyn wie er der meinige ist. An das Leben geht es nicht gleich, und ein kleines Andenken an diese Geschichte kann ihm für die Zukunft ganz gesund seyn, wenn es nicht zu arg kommt.«

Die weichen liebenden Herzen der Frauen konnten dieser Ansicht nicht beipflichten, sie schlugen ängstlich und ahnungsvoll in immer wachsender Besorgniß, als auch Moritz bei jetzt ganz hellem Tage heimkehrte.

Der Arme bebte im Fieberfrost und mußte sogleich zu Bette gebracht werden. Seine Nachforschungen waren nicht glücklicher gewesen als die des Generals. Vergebens hatte er Hippoliten in dessen Wohnung aufgesucht, vergebens [222] war er von Haus zu Haus gefahren, wo er nur eine Spur von ihm zu finden hoffen konnte. Endlich war er bis an die Sternwarte gekommen, wo eben der Professor der Astronomie, den er kannte, hinaufstieg, um eine beim Aufgang der Sonne sich ereignende Finsterniß zu beobachten. So wie die Vorliebe für die Astronomie von Moritz gewichen war, hatte er auch solchen Beobachtungen entsagt, aber es kam ihm der große Gedanke: so wie der Tag anbräche, mit Hülfe eines Teleskops alle Thore der Stadt zu bewachen, um zu entdecken, nach welcher Seite Hippolit und Adelbert sich wenden würden, ihr feindseliges Vorhaben auszuführen; denn er vermuthete mit großer Wahrscheinlichkeit, daß sie weder in der Stadt noch bei Nacht ihren Zwist ausfechten könnten. Mit heldenmüthiger Standhaftigkeit begann er auf dem Balkon des Observatoriums seine Beobachtungen der Wege so wie der Tag graute, aber der kalte Morgenthau und die oben herrschende Zugluft griffen ihn nach der durchwachten Nacht und der vorhergegangenen Ermüdung so an, daß er bald seinen Plan aufgeben [223] und mit einem bedeutenden Erkältungsfieber sich nach Hause bringen lassen mußte.


Gleich einer sorglichen Mutter pflegt die Natur ihre leidenden Kinder gern dem allberuhigenden Schlafe in die Arme zu legen, wenn sie sich ausgeweint haben, und auch Auguste war endlich in den schweren todtähnlichen Schlummer völliger Erschöpfung gesunken. Trüb und gedankenschwer blickte die neben ihrem Bette wachende Gabriele in den draußen hellleuchtenden Morgen hinaus, als Annette leise die Thüre öffnete, geheimnißvoll und schweigend ihr winkte, und gleich darauf leicht und unhörbar wie eine Elfe auf den Fußspitzen über den Teppich hineilte und den Platz neben Augusten einnahm, denn ihre Herrin eben verlassen hatte. Gabriele schwankte, einen Augenblick erschrocken, an der Thüre, mit fragendem Blick sah sie das Mädchen an, aber an dem ängstlichen Klopfen ihres eignen Herzens fühlte sie die Unmöglichkeit, lautlos die traurige Nachricht [224] zu vernehmen, die sie zu hören befürchten mußte, und so eilte sie zitternd und stumm die Treppe hinab.

In ihrem Wohnzimmer fand sie Adelberten. Mit dem Ausdrucke der Verzweiflung sank er vor ihr hin, so wie sie hereintrat und umfaßte, tief zur Erde gebeugt, ihre Knie. Sie bebte bei seinem Anblick unwillkührlich zurück, eine Ahnung, der sie nicht Worte zu geben sich getraute, drückte ihr Herz bis zum Stillstehen zusammen; ängstlich blickte sie auf den Trostlosen, der noch immer vor ihr lag und hatte kaum Kräfte genug, ihn aufstehen zu heißen.

»Hier zu den Füßen des Schutzengels, dessen Trost, dessen Hülfe ich auf ewig entsagen muß, lege ich meinen Abschied von jedem Glück nieder, von jeder Freude, von mir selbst! Ich gehe, gleichviel wohin, ich suche das Elend, ich finde es überall fern von Augusten, fern von meinen Kindern,« sprach kaum verständlich Adelbert. Dann sprang er auf, trat einige Schritte von Gabrielen zurück und rief mit wildem Blick und heftig gerungenen Händen: »Nein! nein! es ist [225] nicht möglich. Ich träume, ich will erwachen, ich muß erwachen! Es ist nicht möglich, daß ich selbst mir meinen eignen Himmel so schnöde verschlossen habe. Er war ja mein, er ist es noch, ich will erwachen, ich muß erwachen!«

»Sie sind erwacht. Gottlob Sie sind es,« sprach jetzt Gabriele mild und gefaßt. »Hoffen Sie, haben Sie Vertrauen zu denen die Sie lieben. Das ärgste ist doch nicht geschehen?« setzte Sie mit unsichrer Stimme hinzu. »Kein Blut hoffe ich? – Hippolit?« –

»O hoffen Sie nichts gutes mehr von mir,« unterbrach sie Adelbert mit vor dem Gesicht gefalteten Händen.

Grausen ergriff Gabrielen bei diesen Worten; abgewendeten Blicks wankte sie der Thüre zu, doch er warf sich, sie aufhaltend, ihr in den Weg.

»Nein, ein Mörder bin ich nicht,« rief er, »doch ist es nicht mein Verdienst daß ich es nicht bin. Augustens guter Engel bewahrte mich; der meine nicht; der hat auf ewig sich von mir gewendet!«

[226] »So lebt Hippolit? Sie schlugen sich nicht?« fragte Gabriele.

»Sein Blut floß, es floß von meiner Hand, ich Rasender! Aber er lebt, er wird leben,« rief Adelbert. »Um Augustens Willen wird er leben.«

Lange noch fuhr er fort sich bald zu verdammen, bald sein Geschick anzuklagen, während Gabriele, jetzt selbst beruhigter, sich abmühte, in dem armen umdunkelten Geiste ihres Freundes einen Strahl tröstender Hoffnung zu leiten.

»O bewahren Sie alle Ihre Milde, alle Ihren Trost für Augusten, mich überlassen Sie dem Untergange,« rief er. »Lieben und Verachten! Bezeichnete ich so nicht einst den höchsten Schmerz? Wie wird Auguste ihn tragen? Muß ich denn wünschen, sie möge mein vergessen?«

Gabrielens sanfte Stimme beschwigtigte indessen doch allmählig seine wilde Leidenschaftlichkeit. Sein Herz erwarmte, sein altes Vertrauen erwachte vor ihrer holdseligen Anmuth, und so gelangte er bald dahin, ihr alles zu bekennen. Und wer erst dazu gekommen ist, vor einem [227] Zweiten sich laut anklagen zu können, der beginnt im nehmlichen Moment, halbausgesöhnt mit sich selbst, im eignen Herzen sich leise zu entschuldigen.


Bittre Beschämung, Reue, unaussprechliche Sehnsucht nach seinem ehemaligen glücklichen Leben hatten ihn aus dem Salon hinaus ins Freie getrieben; bekannte Stimmen, welche auf der Straße ihm entgegen kamen, bewogen ihn wieder umzukehren, und die stillere Einsamkeit seines abgelegenen Zimmers aufzusuchen. Dort überraschte ihn geisterhaft Augustens nicht geahnete Gegenwart; mit seinem ganzen Daseyn, sogar mit seinen Sinnen zerfallen, wußte er nicht zu unterscheiden: ob die beschämende Wirklichkeit ihn quäle, oder ob Scheinbilder, durch innres Bewußtseyn ins Daseyn gerufen, ihn irrten? Er floh halb wahnsinnig, mit der Hast des wildesten Entsetzens die Treppe wieder hinab, und am Fuße derselben empfingen ihn Herminiens ungebändigter [228] Zorn, ihre schonungslosen Vorwürfe. Ach! er glaubte in jenem Augenblick diese alle zu verdienen, denn sein Herz lag wie Eis in der wild-bewegten Brust; die Täuschung der Sinne war geschwunden und er fühlte sich zwiefach meineidig, gegen sie wie gegen Augusten. Er hätte die ganze Welt, am liebsten sich selbst in diesem Moment vernichten mögen, in welchem mitten durch den Sturm seines Gemüths noch der zitternde Klagelaut bebte, mit dem Augustens Erscheinung ihm entschwunden war. Hippolits besonnene Klarheit, die sichere Ruhe, mit welcher dieser die schleunige Entfernung der Markise als das zunächst Nothwendigste betrieb, erbitterten den Aufgebrachten noch mehr. In seiner leidenschaftlichen Verworrenheit war ihm alles willkommen, was sich ihm bot, um seiner innern Verzweifelung in verzweiflendem Thun Luft zu machen. Und so ergriff er mit Freuden die jedes Mißverstehn ausgleichen sollenden Worte Hippolits als eine förmliche Ausforderung, die ihm Gelegenheit geben konnte, alle Schuld gegen Herminien wie gegen Augusten mit Blut zu sühnen.

[229] Im Wagen neben Herminien befiel ihn ein unaussprechliches Grauen vor ihr wie vor dem Dämon seines Lebens; vergebens sprach sie ihm zu; er hörte ihre Stimme, ohne ihre Worte zu vernehmen, floh, von einem dumpfen Instinkt geleitet, und ließ sich nicht halten, so wie sie die Thüre ihres Hauses erreicht hatten. Gequält vom ängstlichen Bewußtseyn verdienter Verlassenheit, in wilder Hoffnung auf den folgenden Morgen, irrte er nun heimathlos die ganze Nacht hindurch im Freien umher und strebte nur Hippolits Bild als das eines Feindes festzuhalten. Gleich zerstört von innen und außen, mit jenem Trotz, welcher das innere Bewußtseyn eines Unrechts, das man nicht anzuerkennen fest entschlossen ist, allemal begleitet, betrat er zur bestimmten Stunde um fünf Uhr des Morgens das Zimmer Hippolits, der ruhig und heiter dem Erwarteten entgegen kam.

Ganz anders als der arme Adelbert, hatte dieser die Nacht zugebracht. Zwar war auch sein Blut bei der gestrigen Scene in Wallung gerathen und er hatte deshalb, vom Zorn überwältigt, [230] nicht widersprochen, da sein Erbieten zu jeder Erläuterung ganz anders aufgenommen wurde, als er es eigentlich gemeint hatte; doch in der ruhigen Einsamkeit seines Kabinetts ward er bald Herr seines leicht aufbrausenden Sinnes. Der pünktliche Gehorsam seines Kammerdieners hatte diese Einsamkeit gegen jeden Angriff, besonders gegen Moritzens Nachfragen zu sichern gewußt und so war Hippolit ungestört im ernsten Kampfe mit sich selbst, fähig geworden, dem feindselig zu ihm Eintretenden freundlich-ernst die Hand entgegen zu reichen.

Adelbert stutzte einen Augenblick bei diesem unerwarteten Empfang, dennoch war er weit von dem Gedanken entfernt, die dargebotne Hand zu ergreifen, die er mit erzwungner Kälte, doch nicht auf beleidigende Art ablehnte.

»Herr Graf!« sprach er, so ruhig als es ihm möglich war, »haben Sie die Güte auch für mich ein Pferd sattlen zu lassen, denn Sie begreifen wohl, daß ich jetzt das meinige nicht aus Herrn von Aarheims Stall holen lassen kann.

[231] »Alle meine Pferde stehen zu Ihrem Befehl, Sie sollen die Wahl haben, es sind schöne Thiere darunter, die Ihnen gewiß gefallen werden;« war Hippolits sehr höfliche Antwort. »Doch wäre es nicht besser, den schönen Morgen erst nach der Erläuterung zu genießen, zu welcher ich gestern mich erbot?«

»Ihr kalter Hohn soll mich nicht aus der Fassung bringen,« rief jetzt Adelbert beinahe schäumend vor Wuth. »Kommen Sie dann zu Fuß wenn Sie Ihre Pferde schonen wollen, doch ohne Säumen bitte ich, mich verlangt nach Ihrer sogenannten Erläuterung; mit der schönen Natur halten Sie es späterhin nach Belieben.«

In Hippolits Angesicht flammte bei diesen Worten die glühende Röthe des Zorns auf, doch gelang es ihm schnell, die vorige Fassung wieder zu gewinnen. »Eben deshalb, weil auch ich keine Zeit zu verlieren wünsche, bitte ich, den Ritt bis nach der Erläuterung, die ich Ihnen versprach, zu verschieben,« erwiderte er gelassen. »Nirgend kann ich bequemer sie Ihnen geben als hier.«

[232] »Hier?« rief Adelbert, mit wildem zornigem Lachen, »nun meinetwegen auch. Das Zimmer geht nach dem Hofe zu, in dem engen Raume kommen wir vielleicht um so eher zum Zweck. Nun es sey, auch hier. Wo sind Ihre Pistolen? Ich habe keine mitgebracht, mein rechter Arm vermag zwar nicht mehr, den Säbel zu führen, mit dem linken aber nehm ich es im Schießen mit jedem auf.«

»Hier sind zwei Paar Pistolen, sie sind alle geladen,« sprach Hippolit, indem er sie auf den Tisch legte, dann ging er zur Thüre, schloß ab und steckte den Schlüssel zu sich. »Sie sehen meine Bereitwilligkeit, alle Ihre Forderungen zu erfüllen, Herr Rittmeister! nur eine muß ich bestimmt Ihnen versagen, ich schieße nicht auf Sie, Sie hören mich denn zuvor an. Dann thun Sie, was Ihnen recht deucht. Lassen Sie mich vollenden was ich zu sagen habe,« rief er mit erhobener Stimme, da Adelbert heftig gegen ihn anfuhr, »nur wenige Augenblicke erbitte ich mir, dann können Sie, ich wiederhole es, thun was Sie wollen. Einer Dame zu Gefallen wie die [233] Markise d'Aubincourt ist, schlagen sich Männer wie wir beide nicht; daß dem so sey, liegt in der Erläuterung, die ich Ihnen versprach, klar zu Tage. Und sollten wir uns schlagen, um unsre Tapferkeit zu beweisen? Ihre ehrenwerthen Narben, Herr Rittmeister, überheben Sie dieser Mühe, und obgleich ich leider keine ähnlichen aufzuweisen habe, so verkündet das Gerücht doch zu viel solcher Heldenthaten von mir, wie die ist, zu der Sie mich jetzt auffordern, als daß ich fürchten müßte, in der Welt für feig zu gelten, weil ich erkläre, mich dießmal nicht schlagen zu wollen.«

»Genug, genug der Worte,« unterbrach ihn Adelbert. »Die Zeit entflieht und meine Geduld mit ihr. Haben Sie mich gestern gefordert, warum wollen Sie mir heute nicht Rede stehen? Und war Ihr Versprechen einer Erläuterung keine Ausforderung, nun so fordere ich Sie jetzt, weil Sie es wagen, eine Dame zu lästern, die zu schützen mir, besonders seit dem gestrigen Abend, Pflicht ist. Ihnen gehört jetzt der erste Schuß, ich bin bereit, wählen Sie, hier sind die Pistolen.«

[234] »Nicht eher,« rief Hippolit, »bis Sie den Inhalt des Taschenbuchs untersucht haben, welches dort neben den Pistolen liegt; es enthält die versprochnen Erläuterungen. Und auch dann, ich will Sie nicht betrügen, ich bleibe auf jeden Fall meiner ersten Erklärung treu, ich schieße nicht auf Sie, ich habe Gründe, es nicht zu thun.«

Mit immer steigender, rasender Wuth drang nun Adelbert auf ihn ein, ohne auf ihn zu hören, und wollte ihm ein Pistol aufzwingen, doch Hippolit wehrte ihn ab, indem er bei seiner Erklärung blieb.

»Thun Sie, was Sie wollen,« sprach er endlich, »bleiben Sie meinetwegen dabei, wenn Sie es für Recht halten, meine gestrigen Worte als eine Forderung zu nehmen, der Glaube, es sey so, brachte Sie ja hieher, und ich stelle mich Ihnen, schießen Sie. Nur geben Sie mir Ihr Ehrenwort, das Zimmer nicht zu verlassen, ehe Sie jenes Taschenbuch untersucht haben, und dann geloben Sie mir, den Inhalt desselben vor [235] jedermann auf ewig zu verschweigen. Gewähren Sie mir das.«

Adelbert, vor Zorn bewußtlos, spannte das Pistol. Hippolit stand ihm gegenüber in aufrechter Stellung am Fenster, während Jener der Thüre zuflog. Sein Mund sprach unverständliche Worte, sein Herz klopfte, hörbar bewegt vom wildkochenden Blute, Feuer flammen tanzten vor seinen Augen. »Sie wollen es! Sie wollen es!« schrie er, wie einer, der nicht weiß, daß er spricht, und ohne zu zielen drückte er ab.

Hippolit wankte erbleichend, und sank dann in einem neben ihm stehenden Sessel. »Sie halten Ihr durch die That abgelegtes Versprechen, Sie können nicht eher hinaus, ich habe den Schlüssel und Sie werden keinen Wehrlosen berauben wollen,« sprach er mit leiser Stimme, und hob den linken Arm gegen den Tisch, der rechte, überquellend von Blut, hing bewegungslos herab.

Adelbert stand da wie ein Starrsüchtiger. Fast noch bleicher als der blutende Hippolit, staunte er mit dem Ausdruck völligen Unbewußtseyns [236] ihn an, und hielt dabei das unglückliche Pistol noch immer in drohender Stellung in die Höhe.

»Fassen Sie sich, erfüllen Sie, was ich von Ihnen erbat, Sie sehen, ich blute sehr, und mir kann eher keine Hülfe werden,« sprach Hippolit.

Adelbert schien zu erwachen. Mit einem unterdrückten Schrei des Entsetzens flog er auf den Verwundeten zu.

»Dorthin, das Taschenbuch,« stammelte dieser fast unverständlich und wies immerfort nach dem Tische hin, »lassen Sie mich nicht verbluten.«

In wilder Hast flog jetzt Adelbert an den Tisch, mit zitternden Händen und unstätem Blicke öffnete er das Buch, das Bild Herminiens fiel zuerst ihm entgegen, dann einige Porträte junger Männer, unter ihnen sein eignes, das er ihr gab als er die Universität bezog, auch Briefe quollen den Bildern nach, doch alles flimmerte vor seinen Augen und draußen wurden Hippolits Diener immer lauter vor der verschlossenen[237] Thüre, denn der Knall des Pistols hatte sie herbeigezogen.

»Lassen Sie mich öffnen,« rief endlich bittend Adelbert, »ich kann nicht lesen in dieser Angst, ich will es, ich gelobe es, ich will eher nichts anders unternehmen, aber lassen Sie mich jetzt öffnen.« Hippolit willigte ein.

»Ein Spiel, ein dummes Spiel, wir wußten nicht, daß sie geladen seyen,« stammelte er den erschrocken Eindringenden entgegen und sank dann, vom Blutverlust erschöpft, ohnmächtig hin.

Sein Kammerdiener, der zum Glück zugleich Wundarzt war, begann jetzt die Wunde zu untersuchen und Adelbert erwartete in stummer Angst mit gesenkten Blicken seinen Ausspruch. Die Verletzung war schmerzhaft, bedeutend, doch nicht gefährlich, die Kugel war in den Oberarm gedrungen, aber nur der starke Blutverlust konnte Besorgniß erregen. Die Schmerzen des ersten Verbandes erweckten den Verwundeten aus seiner Ohnmacht; ohne reden zu können, reichte er Adelberten die linke Hand, zeigte aber mals nach [238] dem Tisch, auf welchem das Taschenbuch lag, und schloß dann ermattet die Augen wieder.

Adelbert versuchte zu halten, was er versprochen hatte, er ergriff das Buch, aber die Luft im Zimmer, der Anblick Hippolits, der mit geschlossnen Augen wie ein Todter auf dem Ruhebett lag, beraubten ihn aller Besinnung; in zitternder Hast, ohne eigentlich zu wissen, was er that, raffte er Buch, Gemälde, Briefe, alles zusammen, und floh damit hinaus, zum Zimmer, zum Hause, zur Stadt hinaus. Erst in der lautlosen Einsamkeit eines abgelegnen, um diese Tageszeit ganz unbesuchten Lustwäldchens fand er sich wieder.

Der gestrige Abend, die darauf zum Theil an dieser nehmlichen Stelle durchwachte lange Nacht, und die eben durchlebten wildbewegten Morgenstunden gingen, nach und nach heller werdend, an ihm vorüber; ihn hatte alles ein wüster Traum gedünkt, nur das Taschenbuch, gegen welches sein Herz in heftiger Bewegung anschlug, war ihm ein beängstender Zeuge der Wahrheit. Abermals ergriff und öffnete er das [239] Buch; eine heiße Thräne entfiel seinem Auge als er sein Jugendbild betrachtete, dessen reine von keiner Leidenschaft entstellten Züge ihn mit kindlicher Himmelsseligkeit anlächelten. Es war so wenig ihm noch ähnlich, daß Hippolit ihn wahrscheinlich nie darin wieder erkannt hatte.

»Ja so war ich! Auch sie war so!« seufzte er und verhüllte die brennenden Augen im thauigen Grase und weinte laut. Er gedachte jener Zeit, da er, fast noch ein Knabe, dieß Bild heimlich malen ließ; er gedachte der Freude, mit der Herminia es empfing und wie sie gelobte, allen fremden Augen verborgen, es ewig auf ihrem Herzen zu tragen. Endlich ermannte er sich wieder, und begann nun ernstlich, die im Taschenbuch vorgefundnen Briefe zu untersuchen.

Der erste, der ihm in die Hände fiel, war von Herminien an Hippolit. Er hatte das Geschenk sämmtlicher Porträte, das von Adelbert mit eingeschlossen, begleitet. Sie wollte, schrieb sie, durch dieses Opfer Hippoliten, dem Einzigen, den sie geliebt habe und lieben könne, jeden Argwohn benehmen, als ob sie noch in irgend [240] einer Art von Verbindung mit einem jener Männer wäre, die sie freilich einst, ehe sie Ihn erblickt, zu lieben geglaubt habe. Mit ächt französischer Leichtigkeit, unübertrefflichem Witz und hinreißender Lebendigkeit gab sie ihm die Schilderung der moralischen Eigenschaften und Eigenheiten der Originale, als Zugabe zu jenen Porträten. Vor allem aber hielt sie sich lange bei der Geschichte ihrer ersten Liebe auf. Ohne ihn zu nennen, malte sie Adelberten, recht ausgelassen muthwillig, zuerst als eine Art von zärtlichem Jocrise, im langen Kinderrock, hernach als sentimentalen, invaliden Bramarbas. Auch sich selbst vergaß sie nicht, und spottend schilderte sie sich in ihrer damaligen ländlichen Naivität und Einfalt. Sie wußte dabei doch sehr geschickt sich durch manche liebenswürdige Schwäche, durch manches reizende Detail interessant zu zeigen, während sie sich das Ansehen gab, sich über sich selbst lustig machen zu wollen. Versicherungen ihrer unwandelbaren, ewigen Liebe, fast in den nehmlichen zärtlichen Worten, in den nehmlichen Wendungen, deren sie unzähligemal auch gegen [241] Adelberten sich bedient hatte; Eifersüchtleien, Klagen, tausend Neckereien füllten viele Seiten der übrigen Briefe an Hippoliten an. Andre waren von den Originalen jener Porträte, mit denen sie ehemals in zärtlichem Verhältniß gestanden, die sie mit den Bildnissen zugleich Hippoliten überliefert hatte. Alle waren so viel Beweise eines sehr frivolen, ja man möchte sagen, eines zügellosen Lebens.

Adelbert mochte bald nicht weiter lesen. Das Unwahre in Herminiens Wesen eckelte ihn unbeschreiblich an; die Thorheit des ungeheuern Opfers, welches er dieser Unwürdigen gebracht hatte, fiel mit Zentnerlast ihm aufs Herz. Er fühlte sich plötzlich von ihr losgerissen, frei auf ewig. Aber das Gefühl dieser Freiheit glich dem des Gefangenen, der, dem Kerker entlassen, vor der Thüre desselben steht, ohne Heimath, ohne Freund, ohne in der ganzen weiten Welt eine menschliche Seele zu wissen, zu der er sagen dürfe, nimm mich auf, denn ich gehöre dir an. Leidenschaftlich in allem, auch in der Reue, glaubte er im Uebermaaß derselben, daß sein Hauch nie wieder [242] mit der reinen Luft sich einen dürfe, in der Auguste, in der seine Kinder athmeten. Er beschloß in seiner Verzweiflung, auf immer aus ihrer Nähe sich zu verbannen, nie wieder sollte der Klang seiner Stimme Augustens Ohr verwunden, nie ihr Auge mit Abscheu von seinem Anblicke sich wenden müssen. Doch so ganz ohne Spur zu verschwinden, ohne alles Lebewohl, ohne allen Segen in die Wüsten des Lebens hinaus zu gehen, diese Aufgabe ward seinem liebegewohntem Herzen doch zu schwer, und dieß Gefühl hatte ihn mit allen seinen Klagen zu Gabrielens Füßen geführt.

Noch immer bekämpfte diese seinen wilden Schmerz, und wandte, wenn gleich fast hoffnungslos, alles an, ihn von dem Vorsatz zur Flucht abzubringen, als der General Lichtenfels zu ihnen hereintrat. Ernst, wenn gleich nicht zürnend, ruhte sein Blick eine stumme Minute lang auf Adelberten, der vor dem Gefürchteten sich gern in den Mittelpunkt der Erde verborgen hätte; dann aber trat ein feuchter Schimmer in das milder werdende Auge des edlen Greises.[243] »Komm!« sprach er, und schloß den beinahe Widerstrebenden fest an seine Brust. »Komm, hier trug ich den Knaben, hier ruhtest Du wundenmatt, nach ehrenvollem Kampf, dem Tode nah. Hier weintest Du im schönen Schmerz um die gesunknen Hoffnungen Deiner Jugend, hier ist auch jetzt noch Dein Platz. Du warst ja immer das Kind meines Herzens; welcher Vater wird sein Kind von sich stoßen, weil es fiel? Komm, ich helfe Dir auf, und dann wollen wir beide frisch ans Werk, um zu retten, zu bessern, wieder herzustellen; Gott wird uns helfen.«

Vergebens strebte Adelbert in den Armen des Generals sein übervolles Herz in verständlichen Worten vor ihm auszuschütten. »Sey ruhig,« sprach dieser, »ich weiß alles, Du hast mir nichts zu bekennen. Ich komme von Deinem edlen Gegner, er leidet viel, doch hoffentlich ohne Gefahr. Nur der heftige Blutverlust kann seine Heilung verzögern, die Kugel hat eine Ader zerrissen und er blieb lange ohne Hülfe.«

Adelbert versuchte abermals zu reden, doch der General verhinderte es, indem er nochmals [244] versicherte, die Gräfin Rosenberg und Hippolit hätten ihm alles erklärt. »Ich kenne den ganzen Umfang Deiner Schuld,« sprach er, »aber ich weiß auch was sie mildert. Der Graf wollte freilich anfangs auch mir, wie seinen Leuten, aus eurem Duell ein Geheimniß machen,« –

»Duell?« unterbrach jetzt Adelbert den General, »Duell nennt er es? meine That ist Mord, meuchelmörderisch überfiel ich ihn, der wehrlos vor mir stand« –

»Laß das,« erwiderte der General, »Du wußtest diesen Morgen eben so wenig was Du thatest, als ich gestern Abend wußte was ich that. Zorn und Ueberraschung sind gefährliche Feinde, die uns, auf das Mildeste genommen, zu wenigstens dummen Streichen verleiten, deren man hernach Zeitlebens sich zu schämen hat. Das haben wir beide erfahren, ich gestern, Du heute. Jetzt stehe ich aber als Abgesandter des Grafen vor Dir, durch mich fordert er zurück was er Deiner Ehre vertraute, und erinnert Dich nochmals an das heilige Versprechen ewigen Schweigens über diesen Gegenstand. Ich lese [245] in Deinen und Frau von Aarheims Blicken, daß Du es bei ihr schon jetzt vergessen hast,« sprach nach einer kleinen Pause der General, beide mit prüfendem Blick betrachtend. »Es ist nicht recht, aber auch dießmal noch mag der Zustand Deines Gemüths Dich entschuldigen. Unsere edle Freundin ist unfähig, ihre Kenntniß eines solchen Geheimnisses zu mißbrauchen, darum übergieb ihr jetzt getrost das Buch, so kommt es am sichersten in die Hände seines Eigenthümers. Gabriele wird gewiß nicht den reinen Blick mit dessen leidigen Inhalt besudeln wollen. Und nun komm, alles ist bereit, wir gehen mit einander auf Reisen. Unsere hollsteinischen Güter entbehren schon lange unsrer Gegenwart, dort wollen wir hin. Es ist gut, daß Du jetzt Augusten noch nicht wieder siehst; eigentlich verdienst Du es auch noch nicht, also ohne Abschied, Gabriele und Deine Kinder werden Dich indessen schon bei ihr vertreten und Deine Fürsprecher seyn.«

Gabriele versuchte es, hierin dem General einzureden, doch er verhinderte sie daran mit sanfter Gewalt. »Schöne, gute Frau!« sprach [246] er, »ich weiß, im Grunde Ihres Herzens billigen Sie mein Vorhaben, warum denn versuchen, gegen Ihre eigne Ueberzeugung mich eines andern überreden zu wollen? Wir sollten das nie; es kommt davon so vieles Ueble in der Welt, und dennoch lassen sich auch die Besten und Klügsten unter uns nur zu oft von ihrem Gefühl dazu hinreißen. Von Ihnen aber weiß ich, daß Sie über diese Schwäche erhaben sind, sobald Sie sich nur recht besinnen wollen. Jetzt lege ich Augustens armes, wundes Herz an das Ihrige, und reise in dieser Hinsicht getrost, Sie werden es zu heilen wissen, wenn es geheilt werden kann. Ich komme von ihr, sie schläft noch. Armes Kind! Körper und Geist sind todt-müde, denn wir sind zwei Nächte hinter einander durchreiset; ich und ihre Liebe ließen ihr keine Rast, und so wollen wir ihr die Erholung gönnen, welche die Natur gütig ihr gewährt. Morgen bringt eine Staffette Ihnen die erste Nachricht von uns; Auguste wird sich um Adelberts Geschick beruhigen, wenn sie ihn bei mir weiß. Uebrigens reisen wir Tag und Nacht bis wir [247] über die Gränze hinaus sind, denn die Polizei könnte doch wohl Lust bekommen, sich nach dem von ungefähr losgegangnen Pistol zu erkundigen, darum fort, fort, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Mit diesen Worten zog er Adelberten sich nach, der wie im bewußtlosen Traume ihm folgte, Gabriele blieb einsam zurück. Beinahe nicht minder betäubt als er, starrte sie gedankenlos vor sich hin, bis Annette sie mit der Nachricht ins thätige Leben zurückrief, daß Auguste erwacht sey und sehnlichst nach ihr verlange.


In stiller Ergebung betrachtete Auguste ihr Geschick, so wie allmählig die Hand der Freundschaft den Schleier sorgsam lüftete, der so lange nur in verworrner Gestaltung es ihr gezeigt hatte. Dann aber begann sie auch recht innig in ihre ländliche Einsamkeit, zu ihrer Mutter, zu ihren Kindern sich zurück zu sehnen. Sie hatte noch immer manchen harten Kampf mit ihrem Herzen [248] zu bestehen, so fern auch alle Bitterkeit ihr war und blieb. Mit dem Glauben an Adelberts unerschütterliche Liebe, an seine felsenfeste Treue, war ihr auch die Ruhe verloren gegangen, mit der sie bis dahin der süßen Gewohnheit, glücklich zu seyn, sich hingegeben hatte, ohne weder über ihr Glück noch über die Möglichkeit, daß es anders werden könne, nachzudenken. Es konnte noch alles gut werden, das fühlte sie, das hoffte sie, darum betete sie mit Inbrunst; doch wie konnte es so werden wie es gewesen war? Und dieß Gefühl mußte ihr Gemüth mit einer Sehnsucht, einer stillen Trauer erfüllen, welche nur der Anblick ihrer Kinder zu mildern vermochte. In ihnen lebte ja noch der Adelbert, den ihr Herz, trotz alles Gegenstrebens ihres Verstandes, dennoch verloren geben mußte.

Adelberts Briefe, voll des Ausdrucks der tiefsten Reue, betrübten ihr Gemüth statt es zu trösten. Die glühende Leidenschaftlichkeit, mit der er Augusten zu einem engelgleichen Wesen erhob, von dem er in tiefer Selbstzerknirschung nur Mitleid erflehte, während er sich ihrer Liebe [249] und ihrer Achtung auf ewig für unwerth erklärte, konnte ihre Aussicht in die Zukunft nicht erheitern. Nur des Generals Ansicht ihrer und Adelberts Lage, die er in seinen Briefen ihr offen mittheilte, gewährten ihr einigen Trost. Sein Ermuntern zum Rechten, Vorstellen dessen, was ihr oblag zu dulden und zu vollbringen, stälten ihren Muth. Ihr Blick erheiterte sich, wenn sie las, wie kräftig er Adelberts, durch frühen Schmerz entnervtes Gemüth aufzurichten strebe, wie er durch Thätigkeit ihn zu zerstreuen und aus seiner jetzigen trostlosen Versunkenheit wieder empor zu richten suche, und wie er alles anwende, um ihm nur wieder zum Vertrauen in sich selbst zu verhelfen.

»Der Zustand unsrer hiesigen, durch unsre jahrelange Abwesenheit sehr verwahrloseten Besitzungen gewähren ein weites, fast unabsehbares Feld zur Arbeit,« schrieb ihr der General, »und somit lasse ich unsern Adelbert vor lauter Thätigkeit kaum zu Athem kommen. Morgens, mit Sonnenaufgang, ziehn wir hinaus in Feld und Wald, Abends giebts zu richten und zu schlichten, nachzurechnen, Papiere zu ordnen,[250] bis in die sinkende Nacht. Da müssen die Grillen ihm verschwinden, denn ihm bleibt keine Zeit weder sie zu fangen noch zu pflegen. Muthig, liebe Auguste! laß Du mich nur gewähren, sobald es Zeit ist, bringe ich ihn gesund und geheilt, von innen und aussen, zu Deinen Füßen hin, und Du gute weiche Seele wirst ihn dann wieder an Deinen Busen nehmen, das weiß ich, und fürchte nicht Deine Strenge, sondern nur Deine Milde, die mir ihn wieder verderben könnte.«

Augusten nach Lichtenfels zu begleiten, wäre Gabrielens sehnlichster Wunsch gewesen, als endlich der Tag der Trennung herbeikam; doch Herrn von Aarheims fortdauernde Kränklichkeit erforderte ihre stete Gegenwart. Seit jener auf der Sternwarte thörigt durchwachten Nacht plagten ihn Rheumatism und alle Uebel, welche diesen Unhold in tausendfacher Gestalt zu begleiten pflegen. Gabrielens mitleidige Geduld vermochte es kaum, alle die mannigfaltigen Wunderlichkeiten und Launen zu ertragen, mit denen der grämlichste und unleidlichste aller Kranken, zu jeder[251] Stunde des Tages, zuweilen auch der Nacht, sie quälte. Die Besuche, welche anfangs über manche lange Schmerzensstunde ihr hinüberhalfen, blieben nach und nach aus, denn sein böser Humor verscheuchte alle, die nicht, wie Gabriele, durch Pflichtgefühl gebunden, bei ihm ausharren mußten. Hippolit, der Einzige, der die Langeweile von der Moritz sich hauptsächlich geplagt fühlte, hätte verscheuchen können, befand sich selbst noch leidend. Mehrere Wochen waren seit dem Vorgange zwischen ihm und Adelberten vergangen, und noch immer durfte er das Zimmer nicht verlassen. Gabriele hatte noch in keiner Lage ihres Lebens sich so ganz auf sich selbst zurückgewiesen gefühlt, selbst nicht am Rhein, wo frische lebendige Thätigkeit ihre tiefe Einsamkeit erheiterte. Sogar die Tante hatte sie verlassen; um der Markise auszuweichen, war sie am Tage nach der Konzert-Scene nach einem nicht weit entfernten Badeorte gereist, obgleich noch vor der eigentlichen glänzenden Kurzeit. Ein kaltes höfliches Billet hatte einstweilen Herminien deren Antheil an der gemeinschaftlichen Wohnung aufgekündigt, [252] denn diese war nur im Namen der Gräfin Rosenberg dem Eigner abgemiethet worden.

Die Markise aber eilte sich eben nicht, von dieser Aufkündigung Notitz zu nehmen, sondern verweilte noch mehrere Wochen als einzige Bewohnerin des Hauses, in anscheinend vollkommner Ruhe. Sie zeigte während dieser Zeit sich weit öftrer als sonst im Theater und bei andern öffentlichen Vergnügungen, auch suchte sie auf andre Weise, durch vielfältig ausgesendete Einladungen zu glänzenden Festen, die öffentliche Meinung irre zu leiten, oder auch zu braviren, doch gelang ihr dieses nur bei sehr wenigen Mitgliedern der Gesellschaft. Obendrein gehörten diese wenigen nicht zu denen, deren Beispiel auf die übrigen Einfluß haben konnte. Nie hatte es so viel Migränen und Katarrhe in der Residenz gegeben, als an den Abenden, wo die Markise einen recht glänzenden Kreis um sich her zu versammeln gedachte. So mußte Sie es bald müde werden, in ihren hell erleuchteten, aber spärlich bevölkerten Sälen ihre kleinen Koketterien zu üben, und Unmuth und Ueberdruß bewogen sie [253] endlich, Paris, den einzigen Schauplatz wieder aufzusuchen, auf dem ihre glänzende Erscheinung gehörig gewürdigt werden konnte. Kein sehnender Blick folgte ihr dorthin, wo sie wie ein strahlendes Meteor wieder in den Strudel versank, dem sie, weder sich noch Andern zum Heil, auf kurze Zeit entstiegen war.


Müde und erschöpft von einer zum größten Theil am Schmerzenslager ihres Gemahls durchwachten Nacht, saß Gabriele nach kurzem unerfreulichen Schlummer in der Jelängerjelieber-Laube des kleinen Gartens am Hause, dem einzigen Orte, wo es ihr jetzt vergönnt war, des im höchsten Schmucke prangenden Frühlings sich zu erfreuen. Alles um sie her funkelte und blitzte im Sonnenstrahl von Diamanten, die ein warmer Frühregen verschwenderisch gestreut hatte; ihre Rosen flammten in höchster Blüthenpracht, fast sichtbar stieg der Opferduft von den Lilien und tausend andern Blumen, die in üppiger [254] Fülle ihre Beete schmückten, zum Himmel auf, und mischte sich in den noch berauschendern Wohlgeruch der hohen Orangenbäume, die auf dem Rasenplatz vor der Laube lichte Schatten streuten. Endlich einmal entronnen der ängstlich beklommenen Atmosphäre des dunkeln Zimmers, in der sie jetzt den größten Theil des Tages, unter dem ungeduldigen Klagen ihres Kranken verleben mußte, athmete hier die arme Gabriele mit vollen Zügen neues Leben und Erquickung. Allmählig überschlich sie jene stille Sehnsucht, jener wonnige Frühlingsschmerz, der das Auge mit süßen Thränen füllt und das Herz rascher pulsiren macht. Sie gedachte ihrer ersten Jugend, ferne Gestalten gingen an ihr vorüber, und sie versank in immer lieberes Träumen, von ihrer Mutter, von Ernesto, von Ottokar. Dann gedachte sie auch des jungen Freundes, der so keck das Leben daran gesetzt hatte und alle Vorurtheile seiner Jugend, seines Standes, ja das eigne Gemüth mit eigensinniger Entsagung überwand, um einen ihm fast fremden Mann aus einem gefährlichen Traume zu er wecken. Diese That Hippolits war ihr immer [255] im romantischen Licht eines Heldenmuths erschienen, den sie sehr geneigt war übertrieben zu nennen und dessen Aeußerung gerade auf diese Weise in dem feurigen, sonst alle Schranken so gern durchbrechenden Jüngling, ihr unerklärlich blieb, so oft sie auch schon darüber nachgedacht haben mochte. Seit seiner Verwundung hatte sie ihn nicht wieder gesehen, doch ließ sie täglich mehreremale Nachricht von ihm einziehen, denn Moritz sehnte sich stündlich nach seiner erheiternden Gegenwart, und auch sie vermißte oft ihren Edelknaben.

Ein leichtes Geräusch weckte endlich die Träumerin aus ihrem fast wortlosen Sinnen; sie blickte auf und an einer großen Zipresse gelehnt, stand dicht vor der Laube Hippolit selbst, die dunkeln blitzenden Augen auf sie geheftet. Das selige Lächeln eines Verklärten umspielte die bleichen Lippen und der Ausdruck langer körperlicher Leiden gaben der sonst so lebenskräftigen jugendlichen Gestalt etwas unbeschreiblich Rührendes. Ihn erblicken und mit einem hellen freudigen Ausruf ihm entgegen treten, war das Werk des ersten [256] Moments, während er, wie überwältigt von der Seligkeit desselben, vor ihr auf das Knie sank und die Hand, welche sie ihm bewillkommend gereicht hatte, mit Feuerküssen bedeckte.

»So! so! begrüße ich das neue Leben! Hier begrüße ich die Sonne, die ich so lange entbehrte!« rief Hippolit, wie außer sich vor Entzücken.

»Unvorsichtiger!« schalt freundlich und bewegt Gabriele, »Sie sind noch krank, Ihre Lippen brennen heiß; wie konnten Sie in diesem Zustande sich auswagen? Wahrlich Sie sind im Fieber, Ihr ganzes Wesen ist so unnatürlich gereizt, ruhen Sie, ich bitte, ruhen Sie aus,« sprach sie beinahe ängstlich werdend, und bemühte sich ihm aufzuhelfen.

»Mir ist wohl, mir ist unnennbar wohl, freilich meinem Arzt entsprungen, und – mir ist unaussprechlich wohl,« stammelte Hippolit, ward immer bleicher und sank endlich mit geschloßnen Augen in den Sessel, aus welchem Gabriele bei seinem Eintritt aufgesprungen war. Sie wollte fort, sie wollte Hülfe herbeirufen, doch er hielt mit übernatürlicher Kraft ihre Hand fest umschlossen; [257] auch öffnete er nach wenigen Sekunden die Augen wieder, und athmete hoch auf, sichtbar sich erholend.

»Zürnen Sie nicht, schelten Sie nicht,« bat er, »daß ich die schöne warme Sonne, den blauen Himmel, nicht länger nur aus dem Fenster ansehen mochte. Ihre Pappeln dort am Bassin sind Schuld. Ganz in der Ferne sehe ich von meinem Zimmer aus ihre Wipfel, das einzige Grün weit umher. Stundenlang habe ich während meiner Krankheit sie betrachtet, sie allein verkündeten mir den Sommer, und wenn der Wind in den schlanken Zweigen spielte war mir, als ob sie von Ihnen mir erzählen wollten. Heute, heute regten sie sich und nickten und winkten so sehr und die Nachtigall vor meinem Fenster sang so schmerzliche Sehnsucht, es war nicht länger zu ertragen; ich öffnete ihr den Käfig und sie und ich, wir flogen beide auf und davon. Hier werde ich genesen, glauben Sie mir es nur, hier athme ich Lebensluft.«

Gabriele waltete ämsig und arglos geschäftig um ihn her, während er so sich zu entschuldigen [258] suchte, recht wie ein sorgliches Mütterchen um ihr liebes krankes Kind. Sie breitete ihren Shawl an den Zweigen der Laube aus, um ihn gegen das Sommerlüftchen zu schützen, das draussen sanft und linde die Blumen und Blüthen umspielte; aus einem Körbchen mit Orangen, welches zufällig neben ihr stand, wählte und bereitete sie zu seiner Erquickung die süßeste Frucht, dann brachte sie ihm die schönsten Rosen herbei, es war als wolle sie ihn in diesem Moment für alle Entbehrungen der schönen Tage entschädigen, die der Arme, im dumpfen Zimmer eingekerkert, hatte verleben müssen. Nach Frauen Art vergaß sie in ihrer Geschäftigkeit beinahe, wer der Gegenstand ihrer sorgsamen Pflege eigentlich sey und Hippolit saß still und selig da, ließ sich alles gefallen und hütete sich wohl, diese schönen Augenblicke durch ein unbedachtes Wort sich zu verkümmern.

Inzwischen war unter ihnen beiden doch eine Art von zusammenhängendem Gespräch aufgekommen. Gabriele erzählte von Augustens jetzigem Leben, und wie alle Hoffnung da sey, daß Adelbert [259] in Liebe und Thätigkeit wieder genesen und zu sich selbst kommen werde.

»Das alles danken wir Ihnen, Ihrem uns Allen unbegreiflichen Heldenmuthe. Sie sind ein Kronenwerther Sieger,« sprach sie und blickte mit unbeschreiblicher Freundlichkeit ihn an. »Den schwersten aller Siege, den über sich selbst, haben Sie errungen. Doch gestehen Sie mir, was konnte Sie bewegen, des Mannes, der mit so unerträglichem Trotz Sie zu beleidigen suchte, mit so fast eigensinnigem Unbedacht zu schonen und Ihr eignes Leben einem Rasenden wehrlos in die Hände zu geben? Adelbert war Ihnen kaum ein Bekannter, und für einen solchen wagten und ertrugen Sie das Unglaubliche, das fast Unmögliche, um ihn sich und den Seinen, die Sie noch weniger kannten als ihn, am Rande des Unterganges zu retten! Die Welt wird diese That eben so wenig zu würdigen wissen, als wir, Ihre Freunde, sie verstehen, obgleich wir sie bewundern, wärs auch nur der Seltenheit wegen. Gestehen Sie es mir im Vertrauen, lieber Hippolit, [260] was bewog Sie zu diesem ungeheuern, unglaublichen Opfer?«

»Sie fragen im Ernst?« erwiderte gelassen Hippolit. »Konnte ich denn anders? Sie selbst schwebten ja immer zwischen ihm und mir, da mußte er ja wohl sicher seyn. Wie hätte ich nach dem Leben des Gemahls einer Frau zielen können, die Gabrielen so werth ist, deren Leiden und Freuden sie wie die eignen empfindet! Wäre er gefallen, hätte ich ja Sie betrübt.«

Eine schöne Perl stieg bei dieser unerwarteten Erklärung in Gabrielens helles Auge. Sie wollte sprechen, aber der Athem versagte ihrer bewegten Brust. Lächelnd durch Thränen, wie ein seliger Engel, trat sie endlich ganz nah vor Hippoliten hin, strich mit sanfter Hand ihm die dunklen Locken zurück und hauchte einen leisen, kaum fühlbaren Kuß ihm auf die Stirne. Ihre Lippen bewegten sich, im Begriff ihm etwas recht freundliches zu sagen, aber sie bebte erschrocken zurück da sie ihn ansah. Sein eben noch so bleiches Gesicht flammte in dunkler Purpurröthe, seine Augen blitzten wie verzehrendes Feuer, er[261] machte eine Bewegung, als wolle er sie umfassen, sie an seine ungestüm wogende Brust drücken, und riß sich im nehmlichen Moment mit sichtbarer Gewalt von ihr los und floh bis in die fernste Ecke der Laube. Dort warf er sich auf die Knie nieder; sich selbst unbewußt, hatte er den verwundeten Arm aus der ihn stützenden Binde gezogen, und hob nun in flehender Stellung beide Hände zu ihr auf.

»Nein, nein,« rief er wie ausser sich, »dieß Uebermaaß von Wonne und Schmerz erträgt keine menschliche Brust!« Und nun ergoß sich sein übervolles Herz im glühendsten Ausbruch einer Leidenschaft, die in diesem Moment der seligsten Pein, in wüthenden verzehrenden Flammen hell aufloderte und sich nicht mehr bändigen lassen wollte.

Zitternd vor Schrecken blickte ihn Gabriele eine Weile an, ehe sie Fassung genug gewann, ihm zu antworten. »Stehen Sie auf, Graf Hippolit,« sprach sie endlich sehr ernst, »vergessen Sie den kranken Arm nicht; wahrlich ich sehe immer mehr, wie Unrecht Sie thaten, schon heut [262] das Haus zu verlassen. Kehren Sie heim, armer Kranker!« setzte sie nach einer kleinen Pause etwas milder hinzu, »ich will es nicht verbergen, Sie haben mich erschreckt, doch das ist schon vorüber; die Ruhe wird Ihnen wohlthun, es soll sogleich eine Sänfte geholt werden.«

»Gabriele, Gabriele! wenn Sie jetzt mich fortschicken, werde ich Sie nie wieder sehen dürfen, ich ahne es,« rief Hippolit; »ich verdiene Ihren Zorn; lange, lange habe ich geschwiegen, weil ich ihn fürchtete. Glauben Sie mir, ich habe mich bekämpft, ich wollte ewig schweigen, kein Hauch, kein Wink sollte das Geheimniß meines Lebens verrathen, damit Sie nur ferner mich um sich dulden möchten, damit ich nur ferner Ihre süße Stimme hören, im Strahl Ihrer lieben Augen den Himmel erblicken könne, ich erlaubte mir ja keinen größern Wunsch. Ich wollte ja nichts hoffen, nichts erflehen; das wilde Toben hier sollte sich Ihnen nie zeigen. Ein einziger unbewachter Augenblick hat mich verrathen, und nun darf ich nie wieder vor Ihnen erscheinen, ich weiß es wohl, ich bin verbannt!«

[263] Gabriele sprach in milden Worten zu ihm; er hörte sie wohl, doch er verstand sie nicht, er konnte nur den Gedanken fassen, sie beleidigt, ihren Zorn erregt zu haben.

»Wie werde ich künftig leben können!« rief er. »Entfernung von Gabrielen ist Tod, ist Hölle, das fühlte ich jeden Abend in meiner Einsamkeit wenn ich Ihre Schwelle verlassen hatte. Und nun gehe ich ganz hoffnungslos, kein Morgen kommt, wo ich mir sagen kann, ich werde Sie wieder sehen. O Gabriele! O gnädige Frau! muß es denn seyn? ich will ja ewig schweigen, ich will ja nichts, als was Sie dem Würmchen dort auf dem Grashalm, der Mücke hier in der Luft auch gewähren, nur sehen, nur dulden sollen. Sie mich, und wenn gleich nicht freundlich wie sonst, nur ohne Zorn.

Endlich gewann Gabriele einen Augenblick, sich verständlich zu machen. »Graf Hippolit,« sprach sie sehr ruhig gefaßt, »Sie verkennen sich und mich, und Ihr eignes Gefühl. Daß Sie dieses bald selbst einsehen werden, weiß ich gewiß. Für jetzt bitte ich Sie ernstlich, beruhigen [264] Sie sich, ich zürne nicht, ich vergesse von heut an die wilden Ausbrüche, zu welchen gereizte Fantasie den Kranken verleitete; ich wünsche daß auch Sie dieses thun mögen; nur so allein kann unser ruhiges freundliches Verstehen ungetrübt bleiben. Kehren Sie jetzt heim, und lassen Sie Ihre völlige Widerherstellung einstweilen Ihre erste größte Sorge seyn. Leben Sie wohl.«

»Sagen Sie nur, daß ich Sie wieder sehen werde,« flehte Hippolit in demüthiger Entfernung.

»Darf ich denn mit meinem jungen Freunde so streng ins Gericht gehen? kann ich es denn vergessen, daß Sie für das Glück meiner Auguste Ihr Leben wagten?« erwiderte ihm Gabriele.

Ein Bedienter unterbrach sie, er kam, um Hippoliten zu Herrn von Aarheim zu rufen. Dieser hatte bei seinem Erwachen dessen Anwesenheit im Garten erfahren und drang nun mit kränklicher Hast darauf, ihn augenblicklich bei sich zu sehen.

[265] »Jetzt? jetzt? in dieser Minute? Nimmermehr! jetzt nicht, jetzt kann ich nicht zu ihm,« rief Hippolit, bald erglühend bald erbleichend.

»Nein, Sie können und dürfen es auch Ihrer Gesundheit wegen nicht, und ich selbst will dieses ihm erklären,« erwiderte Gabriele, gab dann schnell dem Bedienten Befehl, den Grafen in einer Sänfte nach Hause zu geleiten und ergriff die Gelegenheit, mit leichtem Gruß an ihm vorüber zu eilen, um Moritzen über sein Nichterscheinen zu beruhigen.

Sie verschwand bald unter den Säulen der Vorhalle, und Hippolit starrte noch immer ihr nach. Er fühlte nicht, daß die Binde wieder um den verwundeten Arm gelegt ward, er merkte kaum, daß man dem Ausgange des Gartens ihn zuführte. Nur als er zu Hause in seinem eignen Zimmer, aus den Fenstern desselben, Gabrielens Pappeln wieder ganz in der Ferne erblickte, nur da kam ein lichter Gedanke an die zunächst vergangne Stunde in ihm auf. Ein schnell aufsteigendes Wetter thürmte sich schwarz und drohend [266] hinter Gabrielens Garten am Himmel empor, schon fielen einzelne große Regentropfen schwer herab und die schlanken Wipfel der Pappeln beugten sich tief vor dem plötzlich sich erhebenden Gewittersturm. Mit bangem vorahnenden Herzen starrte Hippolit in den Aufruhr der Natur, der über Gabrielens Wohnung herein brechen zu wollen schien, als die Sonne die Wolken zerriß. Die Regentropfen wandelten sich in glänzend flüssiges Silber, und hoch über den Pappeln wölbte sich prächtig der leichte Farbenbogen des Friedens und der Hoffnung.


Mit so anscheinender Kälte Gabriele auch immer die unerwartete Erklärung ihres jungen Freundes aufgenommen haben mochte, in ihrem Innern fühlte sie sich doch dabei von Mitleid, Schrecken und zürnendem Erstaunen bewegt. Vergebens versuchte sie das ganze unangenehme Ereigniß zu vergessen, sie konnte sich nicht enthalten [267] in der Einsamkeit darüber nachzudenken. Seit Jahren hatte nichts ihre Ruhe in dem Gräde erschüttert, es war ihr als laste seit jener Minute ein innrer Vorwurf auf ihrem Gemüthe und doch war es ihr unmöglich, zu entdecken, wo und wie sie gefehlt habe.

Mißmüthig über dieses beängstigende Empfinden, ergriff sie endlich die Feder, um sich gegen Frau von Willnangen über den Vorgang auszusprechen der es veranlaßte, und so vielleicht auch mit sich selbst darüber ins Reine zu kommen. Doch kaum hatte sie einige Zeilen geschrieben, als sie mit unwilligem Lächeln alles von sich schob und ihren Schreibtisch wieder zuschloß.

»Bin ich nicht thöricht!« sprach sie bei sich selbst. »Müßte Frau von Willnangen nicht laut auflachen, wenn sie läse wie ich eifrig ernsthaft, gleich einem sechszehnjährigen Mädchen, ihr in großer Herzensangst die Liebeserklärung eines kaum dem Knabenalter entwachsenen Jünglings mittheile, und sie bitte, in dieser entsetzlichen Noth mir zu rathen? Nein! wahrlich nein! so großen [268] Lärmen wollen wir über ein solches Flackerfeuer nicht anstellen! Ihre Wangen erglühten in tiefer Beschämung. Wie war es mir möglich, die brausenden Ausbrüche eines exaltirten jugendlichen Sinnes so zu mißverstehen?« dachte sie, während sie den angefangnen Brief wieder aus dem Schreibtisch nahm und vernichtete. Weichheit des eben Genesenden, Frühlingsfreude nach langem Entbehren, ließen ihn sich selbst verkennen; warum denn nicht auch mich? Er wird froh seyn, wenn ich zu vergessen scheine, was ich nur vergessend verzeihen kann, und was er gewiß nie wieder wagen wird in Anregung zu bringen. Höchstens könnte nur durch Widerspruch erregter Eigensinn ihn zur Beharrlichkeit bewegen, und das muß vermieden werden.«


Herrn von Aarheims Arzt erschien am folgenden Morgen, um Hippoliten die Erlaubniß zu erbitten, ihn am Abend besuchen zu dürfen. [269] Moritz suchte seinen Jubel darüber in allen Sprachen, deren er mächtig war, auszudrücken und versicherte, nun ebenfalls in den nächsten Tagen wieder ausgehen zu können.

»Wir wollen uns damit denn doch nicht übereilen,« erwiderte der Arzt, zu Gabrielen gewendet. Auch dem jungen Grafen wäre es sehr gesund, wenn er noch einige Tage daheim bleiben wollte, aber er läßt sich nicht halten und so ist es gerathner, wenn wir ihm das Ausgehen mit gehöriger Sorgfalt erlauben, als daß er uns, wie gestern geschah, entspringt, und unnützer Weise in Angst versetzt. Ich fand ihn Nachmittags in heftiger fieberhafter Bewegung; auch seine Wunde schien sich wieder entzünden zu wollen, und doch war er augenscheinlich mehr exaltirt als krank. Ich wußte nicht, was ich aus dem wunderbaren Zustand machen sollte und war schon im Begriff, ihn im Verdacht eines bedeutenden Vergehens gegen die ihm vorgeschriebene Diät zu halten, als ich erfuhr, daß er in der Sonnenhitze von einem Ende der Stadt bis zum andern gelaufen sey.«

[270] Hippolit erschien gegen Abend. Gabriele war absichtlich bei seiner Ankunft in Moritzens Zimmer zugegen. Er erröthete, erbleichte und kam bei ihrem Anblick sichtbar außer Fassung, doch Moritzens ausgelassene Freude über das Wiedersehen seines Lieblings überstimmte alles, und verbarg auch die kleine Verlegenheit, deren Gabriele im ersten Augenblick sich doch nicht gänzlich erwehren konnte. Moritz war an diesem Abend, vielleicht zum erstenmal in seinem Leben, die Seele des kleinen Vereins; er scherzte, lachte über seine eignen Einfälle, und ließ übrigens niemanden zum Worte kommen. Hippolit bemühte sich zwar, wie sonst munter und unterhaltend zu erscheinen, aber der Zwang, den er sich dabei anthat, konnte nur einem Beobachter, wie Moritz war, entgehen. Gabriele ward dessen wohl gewahr, sie nahm ihn als Beweis des beschämenden Gefühls, mit dem er des gestrigen Morgens gedenken mochte, und strebte nur, durch möglichste Unbefangenheit das Andenken einer Scene zu vernichten, die sie am liebsten ganz in Vergessenheit begraben hätte.

[271] Vierzehn Tage vergingen, während welchen Hippolit Gabrielen täglich, doch nie alleine sah. Er selbst schien dieses zu vermeiden und hütete seine Blicke wie seine Worte, so daß sie wiederum gegen ihn, sie wußte selbst kaum wie, in ihren gewohnten zutraulichen Ton gerathen konnte. Seine Genesung vollendete sich in dieser Zeit, und auch Moritz erholte sich genugsam, um Tagelang mit Planen für den Rest des Sommers sich zu beschäftigen. Jeden Tag wurde eine andere Reise in Vorschlag gebracht, alle Beschreibungen großer und kleiner Bäder, in der Nähe und Ferne, wurden herbeigeschafft, aber es fanden sich immer am Morgen triftige Gründe, das gestern Abend Gewählte wieder zu verwerfen.

Gabriele hatte allen diesen Berathschlagungen immer sehr gelassen und gleichgültig beigewohnt, bis Moritz eines Morgens mit ganz ungewohnt adeligen und ritterlichen Gesinnungen aufstand, sich zum Frühstück bei ihr melden ließ, und ihr dabei sehr feierlich erklärte, daß er jeden Edelmann für einen Thoren achte, der ohne Noth, [272] ferne von dem Sitz seiner Ahnen, im bunten Gewühl der Menge sich herumstoßen lasse, und daß er deshalb gesonnen sey, sich mit ihr innerhalb zweier Tage nach Schloß Aarheim zu begeben, um dort wenigstens bis zum nächsten Winter zu residiren.

Schloß Aarheim wieder zu sehen! Tausend widersprechende Gefühle wechselten in Gabrielens Gemüth bei diesem Gedanken. Es ward ihr, als harre ihrer in den heiligen Mauern irgend etwas Unerwartetes, etwas Unerhörtes. Nicht um die Welt hätte sie eine Sylbe gesprochen und Moritzens Entschluß wankend gemacht, aber sie bebte in ängstlicher Freude vor dessen Ausführung.

Mit den altritterlichen Gesinnungen überkam dem Baron auch ein Anflug von altritterlicher Gastfreiheit. Rechts und links lud er nun Freunde und Bekannte ein, Wochen, ja Monate lang in der Burg seiner Ahnen bei ihm zu weilen. Auch Gabriele mußte an Frau von Willnangen schreiben und sie bitten, mit Augusten und den Kindern die noch übrige Zeit bis zur Heimkehr [273] Adelberts und des Generals bei ihr zuzubringen. Während sie mit diesem Briefe sich beschäftigte, trat Hippolit in ihr Zimmer und zum erstenmal seit dem Morgen in der Laube sah sie sich mit ihm allein.

Niemand hätte in dem, bange und beklommen, in augenscheinlicher Verlegenheit Dastehenden die vorlaute Zierde der elegantesten Zirkel, den dreisten Liebling der glänzendsten Damen wieder zu erkennen vermocht. Er hatte recht ehrlich mit sich gekämpft, ob er nicht die Reise nach Aarheim als Anlaß ergreifen solle, um sich wenigstens auf einige Zeit von dem Gegenstand einer Leidenschaft zu entfernen, deren Hoffnungslosigkeit sowohl, als deren Unbezwingbarkeit ihm mit jedem Tage fühlbarer wurde. Schon glaubte er sich Sieger, als Moritzens Einladung ihn von der geträumten Stufe herunterriß. So lange er noch an der Möglichkeit zweifeln konnte, in Gabrielens Nähe, unter ihrem Dache, in der glücklichen Zwangslosigkeit eines ländlichen Aufenthalts selige Tage zu verleben, so lange schien [274] es ihm, als könne er entsagen; doch jetzt, da dieses Glück ihm wirklich so nahe geboten ward, daß er es beinahe ohne Unschicklichkeit nicht von sich weisen durfte, jetzt mußte er es ergreifen, und sollte er darüber zu Grunde gehen. Er dachte gar nicht mehr daran, freiwillig darauf resigniren zu können, und nur der Zweifel marterte ihn, ob Gabriele ihm erlauben werde, die Einladung anzunehmen.

»Herr von Aarheim hatte die Güte, mich einzuladen,« flüsterte er ängstlich und kaum vernehmbar –

»Und Sie fürchten die Burggeister? und möchten uns lieber nicht begleiten?« unterbrach ihn Gabriele mit etwas erzwungner guter Laune, denn Hippolits Verlegenheit steckte auch sie an. »Wenn ich Ihnen rathen darf,« fuhr sie lächelnd weiter fort, »so überwinden Sie Ihre Geisterfurcht und begleiten uns; finden Sie dort nicht das Gewohnte, so finden Sie dafür das Ihnen Neue. Die ehrwürdige Burg, das wilde, schöne[275] Thal, die Felsen und Höhlen, ja selbst die tiefe Einsamkeit, Aehnliches ist Ihnen vielleicht im Leben noch nicht vorgekommen. An geselliger Abwechselung wird es uns ebenfalls nicht gänzlich fehlen; viele unserer hiesigen Freunde versprachen auf ihrer Rückkehr aus den böhmischen Bädern einige Tage bei uns zuzubringen, und den kurzen Umweg weniger Meilen nicht zu scheuen. Und um Sie nicht ganz mit der Zukunft vertrösten zu müssen, so habe ich auch Hoffnung, mir Ida und Bella von Schöneck von ihrer Mutter zur Begleitung zu erbitten. Die kaum zwei Tagereisen entfernte große Stadt, wo ich bei meiner Tante zuerst in der Welt erschien, wird uns hoffentlich ebenfalls manchen angenehmen Besuch früherer Bekannten zusenden,« setzte sie hinzu, da Hippolit noch immer schwieg.

»Wie über allen Ausdruck gütig ist es, daß Sie sich das Ansehen geben wollen, als wünschten Sie mich zum Mitgehen zu bereden, während ich in Demuth Ihrer Entscheidung harre, ob ich Sie begleiten darf,« sprach er endlich, [276] sichtbar erleichtert. »Doch darf ich es gestehen? Daß die Aussicht, von so viel gleichgültigen Besuchern umschwärmt –«

»Es wird damit so gar arg nicht werden als Sie es sich denken,« unterbrach ihn Gabriele; »wir werden genug der Tage, vielleicht sogar der Wochen frei behalten, um unsre alten Uebungen wieder vorzunehmen; ich wette, es thut damit Noth, denn Sie sind gewiß während Ihrer Krankheit nicht fleißig gewesen; eben so wenig als ich bei der meines Gemahls es seyn konnte. Das müssen wir wieder einbringen. Für Ihr Landschaftzeichnen bietet mein Thal Ihnen bei jedem Schritt die herrlichsten Punkte. Auch unsere musikalischen Uebungen und vor allem unser Studium der Kunstgeschichte wollen wir mit Eifer wieder vornehmen. So wie wir uns in Schloß Aarheim nur ein wenig eingerichtet haben, sollen Winkelmann und der alte Vasari wieder an die Reihe kommen. Ida und Bella werden gern an alle diesem thätigen Antheil nehmen.«

[277] Ziemlich gegen ihre sonstige Art, hatte Gabriele rasch hinter einander weg gesprochen, als ob sie eine Indiskrezion von Hippoliten befürchtete, und ihn deshalb lieber gar nicht zu Worte kommen lassen wollte. Er selbst hingegen war während der Zeit seiner innern Bewegung Meister geworden und so nahm von nun an das Gespräch eine ruhigere Wendung, während dessen beide vereint eine Auswahl unter Büchern, Musikalien und allerlei Kunstgeräth trafen, die sie mit nach Schloß Aarheim nehmen wollten. Hippolit schwamm dabei in einem Meer von Wonne, doch hütete er sich gar sehr vor jeder, auch der unmerklichsten Aeußerung seines Empfindens.

Gabriele hatte sich bis jetzt täglich unzähligemal wiederholt, daß nichts lächerlicher seyn könne, als wenn sie jene Erklärung Hippolits für etwas mehr nehmen wolle als für jugendliche Uebereilung, in einem durch Zufälligkeiten bis zur Ueberspannung gereizten Zustande. Auch war sie von der Wahrheit dieser Ansicht fest [278] überzeugt, vielleicht weil sie es seyn wollte, denn wer vermag zu unterscheiden, was ihr selbst immer dunkel blieb? Eine Art ängstlicher Uebereilung im Gespräch, die ihr nicht eigen zu seyn pflegte, schien freilich oft, wie eben auch jetzt, geheimes Fürchten einer Aufklärung anzudeuten, das denn doch, ihr selbst unbewußt, in einem Winkel ihres Herzens lauschen mußte, den sie, aus verzeihlicher Zaghaftigkeit vielleicht, zu ergründen nicht wagen mochte.

Fern von Allen, welche sie liebte, in der trostlosen Umgebung, zu der das Schicksal sie verurtheilte, hatte sie in Hippoliten endlich eine für ihr Gemüth wie für ihren Geist gleich wohlthuende Erscheinung gefunden. Sie konnte nicht ohne die reinste Freude, nicht ohne inniges Wohlwollen den glücklichen Einfluß bemerken, den ihre Leitung und warum sollte sie es sich nicht aussprechen? den ihre Nähe an ihm übten. Jemehr angebornen Edelsinn, unglaubliche Güte, und andere glänzende Eigenschaften des Geistes und Gemüths er im Umgange mit ihr entfaltete, [279] je deutlicher sah sie mit Schaudern, wie nahe er bei alle diesem dem Untergehen in Eitelkeit, Unglauben und Lieblosigkeit gewesen war. Nie, unter keinen Umständen, hätte sie ohne den tiefsten Schmerz ihn wieder loslassen, nie ihn dem eitelsten Treiben wieder übergeben können, dem er an ihrer Hand so tapfer sich entwunden hatte. Und nun, nach seinem an Adelberten geübten Edelmuth fühlte sie noch durch das heilige Band inniger Dankbarkeit sich ihm verpflichtet. Daher fiel es ihr nicht ein, ihm eine strenge Richterin werden zu wollen, daher sah sie so gern in der Unruhe, die ihn in ihrer Nähe ergriff, nur das Bestreben, jedes Erinnern an ein Betragen zu verhüten, dessen er, ihrer Meinung nach, sich jetzt herzlich schämen mußte! Und wer mag sie deshalb tadeln? Wer mag es verdammen, daß ihrem reinen Gemüthe nie der Gedanke kam, um einer dem Irrthum verfallnen Minute willen, ihn dem Verderben Preis zu geben? Gabriele war zu rein tugendhaft, um je daran zu denken es seyn zu wollen; daher konnte ihr der Gedanke [280] gar nicht kommen, daß sie hier vielleicht ein Opfer zu bringen habe.


Ida und Bella von Schöneck waren ein paar gute, liebe und schöne Kinder, deren harmlose Gesellschaft nur dazu dienen konnte, das Einerlei eines zu kleinen Kreises zu unterbrechen, ohne durch großes Uebergewicht störend zu werden. Bei ihrer in sehr beschränkten Umständen lebenden Mutter hatten sie nur einsame Tage gesehen, bis Gabriele der armen lebenslustigen Mädchen sich annahm und ihnen zu mancher ihrem Alter und ihrem Range angemessenen Freude verhalf, nach der sie bis jetzt sich um so heißer gesehnt hatten je ferner sie ihnen geblieben waren.

Alles neue war ihnen willkommen; daher fanden sie sich am Tage der Abreise mit frohen erwartungsvollen Gesichtern bei Gabrielen ein, um [281] sie nach Schloß Aarheim zu begleiten. Sie fuhren in Gabrielens Wagen. Moritz hatte seinem jungen Freunde einen Platz neben sich in seiner, nach ganz eigner Erfindung erbauten Batarde bestimmt, doch dieser zog es gewöhnlich vor, auf einem der schönen Pferde, die er sich nachführen ließ, bald Gabrielens Wagen zu umschwärmen, bald Morgens einige Stunden früher aufzubrechen, um die Uebrigen im gemeinschaftlichen Absteigequartier zu empfangen.

Den beiden jungen Mädchen zu Gefallen, deren Fantasie sich aus Romanen und Beschreibungen ein himmlisch schönes Bild von den Freuden des Badelebens zusammen gesetzt hatte, war der Umweg über Karlsbad beschlossen worden. Mit dem Gefühle des frommen Wallfahrers an heiliger Stätte, sah Gabriele sich zum zweiten Mal auf diesem Wege, der sie vor sieben Jahren zu dem Wendepunkte ihres Lebens geführt hatte, von welchem die lange Reihe der strengen Entsagungen und der den schwersten Opfern geweihten Tage ausging, die sie seitdem verlebte.

[282] In Karlsbad selbst knüpfte sich eine oder die andere frohe oder bittere Erinnerung an jeden ihrer Schritte; in stiller Wehmuth suchte sie jedes Plätzchen auf, das irgend ein ihr merkwürdiges Ereigniß bezeichnete; vor allem aber versäumte sie es nicht, in einer stillen feierlichen Abendstunde zur kleinen Marienkapelle im Walde einsam zu wallfahrten, während ihre Begleiterinnen unter Moritzens Schutze sich im sächsischen Saal im lustigen Wirbeltanz drehten.

Es war am Vorabend eines heiligen Festes. Die Betstühle waren leer, nur ein Kind lag in einem Winkel der Kapelle auf den Knien, während der Sakristan den Altar abstäubte, den morgenden Festputz des Muttergottes-Bildes zurecht legte und die welken Blumen und Kränze wegnahm, um sie durch neue zu ersetzen.

Gabriele sah dem einfältig-frommen Treiben eine Weile zu, ehe sie ihrer Stimme Festigkeit genug zutraute, um nach der armen alten Frau zu fragen, die sonst um diese Stunde hier zu beten [283] pflegte, und die sie jetzt mit trübem Vorahnen vermißte.

»Die ist bei Gott,« erwiderte der Sakristan; »ich kannte sie wohl, sie war eine fromme Frau dort unten aus dem Dorfe; sie hatte ein Gelübde gethan und hielt es redlich, bei Frost und Hitze, im Sonnenschein und Regen. Und so ist sie zum Lohne hier an heiliger Stätte vor drei Monaten sanft und selig entschlafen. Wir wollten sie wecken, da es dunkel ward, und sie noch immer auf den Knien wie betend lag, aber sie erwachte nimmermehr auf Erden.«

Gabriele zerfloß in Thränen der innigsten Rührung, während der Sakristan so sprach. Ottokars Bild stand vor ihr und jedes entschlummerte Gefühl in ihrem Herzen regte sich mächtig und laut; ihr war als seyen die Jahre zwischen jetzt und jenem Abend, wo sie an dieser nehmlichen Stelle gestanden hatte, ganz aus der Reihe der Zeiten getilgt, als sey alles noch wie damals.

Indessen hatte das Kind sich ihnen genähert [284] und wollte mit schüchternem Gruße vorüber, als der Sakristan es anhielt. »Das ist ein Urenkelchen der alten frommen Mutter, Ihro Gnaden,« sprach er, und klopfte freundlich die vollen blühenden Wangen des Mädchens. »Nun schäme dich nicht,« fuhr er fort, »du bist ein frommes Kind, Gott und die Heiligen werden deinen Vater und deine Mutter dafür segnen, denn das Gebet frommer Kinder dringt durch die Wolken.«

»Ich hab nicht für Vater und Mutter gebetet,« sprach das Kind.

»Nicht für Vater und Mutter? für wen denn,« fragte der Sakristan.

»Weiß nicht,« war die Antwort, »aber die heilge Jungfrau wird schon verstehen, wem es angeht, sprach Aeltermutter selige, und weil Mutter es ihr einmal versprochen hat, da sie krank war, so geht immer Eins von uns zur Vesperzeit hieher und betet wie Aeltermutter sonst, da sie noch lebte.«

[285] Gabriele sank auf der Stelle, wo das Kind gebetet hatte, in stiller Rührung hin, der Sakristan und das Kind, reichlich von ihr beschenkt, entfernten sich schweigend und ehrfurchtsvoll. Ihr Auge schwamm in süßen Thränen, ihr Herz in seliger Wehmuth. War es Gebet, war es Erinnerung, war es Hoffnung, was ihren Busen in lange nicht gefühlter Wonne hob, sie wußte es nicht zu unterscheiden, aber sie lag da auf den Knien, in Andacht und Freude verloren, bis die fast zur Dunkelheit gewordne Dämmerung sie erweckte. Langsam erhob sie sich und sah dicht hinter sich Hippoliten in ihrem Anblick versunken. Sie wickelte sich als sie ihn gewahrte, fester in ihren großen Shawl, den sie wie einen Schleier über den Kopf nahm, als solle er gegen die Abendkühle sie schützen.

Hippolit verstand diese Bewegung, stumm und ehrfurchtsvoll zog er sich zurück während sie an ihm vorüberging und wagte es nicht ihr den Arm zu bieten. Er drückte nur die zurückflatternde [286] Ecke ihres Shawls demüthig an seine Lippen, ohne daß sie dieses bemerkte und folgte dann von ferne, um sie auf dem Wege nach ihrer Wohnung zu beschützen.

Wenig Tage darauf verließen sie Karlsbad.

[1]

Dritter Theil

Ihn mußt' ich lieben, weil mit ihm mein Leben

Zum Leben ward, wie ich es nie gekannt.

Göthe.


Karlsbad im Rücken, ging die Reise schnell vorwärts. Bald waren die beiden schroff und zackig emporstrebenden Felsen erreicht, die, einander gegenüberstehend, von dieser Seite die Gränze der zu Schloß Aarheim gehörenden Ländereien bezeichnen, und den, einem Riesenthor ähnlichen Eingang zu dem schauerlichen Felsenthale bilden, in welchem der Eisenhammer liegt.

Im ärmlichen Gepränge, so gut sie es vermochten, mit ihren dürftigen Festkleidern geschmückt, harrten dort die Einwohner des Thals, um die Gutsherrschaft vor allen andern zuerst in ihrem Eigenthum zu begrüßen. Die Kinder streuten Blumen, die Alten riefen ein Lebehoch, und Gabrielens überwallendes Herz erlaubte ihr kaum, im Wagen zu bleiben, während Moritz [1] mit echt spanischer Grandezza da saß, und sich allen möglichen Zwang anthat, um sich nicht an seiner Würde durch zu freundlichen Dank etwas zu vergeben, zu dem seine angeborne Gutmüthigkeit ihn dennoch trieb. Denn wunderlich genug war es ihm plötzlich in den Sinn gekommen, sich hier das stolze Betragen seines Vorfahren, des alten Barons Aarheim, zum Muster zu nehmen. Gabriele hingegen rief viele der Landleute, welche sie erkannte, bei Namen, erkundigte sich nach ihrem Ergehen, liebkoste die Kinder, und schickte endlich alle beschenkt und glücklich in ihre armen schwarzgeräucherten Hütten zurück. Dann eilte sie fort aus dem frohen dankbaren Gedränge, um in dem Hause des Försters Ernestos ehemalige Wohnung aufzusuchen. Ida und Bella begleiteten sie; ihrer gutartigen Neubegier war alles interessant, Moritz folgte ihnen etwas langsamer mit Hippoliten.

Im Gedränge des Lebens, unter ewigen Zerstreuungen hatte Moritz sich der Gewohnheit hingegeben, Gabrielen die Seine zu nennen, ohne weiter daran zu denken wie sie es ward; hier [2] aber rief ihm alles Scenen zurück, bei deren erneuertem Andenken sein Blut noch erstarrte. Das Knarren der elenden hölzernen Treppe des armseligen Hauses erinnerte ihn auf das lebhafteste, wie er am Morgen seines schauerlichen Vermählungstages Erneston hier aufsuchte, um von ihm Rath und Trost zu erflehen. Ohnerachtet eines gewissen innern Grauens kam ihm doch jene stolze Freude an, die der armseligste Thor am lebhaftesten empfindet, der ein merkwürdiges oder gar gefahrvolles Ereigniß erzählen kann, in welchem ihm eine Hauptrolle ward. Eben wandte er sich an Hippolit mit einem recht wichtigen Gesicht und allerlei geheimnißreichen Redensarten, die deutlich den Wunsch, befragt zu werden, verriethen, als Ida oben im Hause an das offne Fenster trat, und die Herren antrieb, eilends hinauf zu kommen, weil oben viel Schönes zu sehen sey.

Hippolits Aufmerksamkeit beim Eintritt in Ernestos kleinem Stübchen zogen zuerst die weißen Wände an, auf denen er mit kunstreicher Hand allerlei Skizzen von Felsen, Baumgruppen [3] und Gesträuch höchst geistreich mit der Kohle entworfen hatte. Die Fräulein beschäftigten sich indessen mit einer großen Mappe voll Zeichnungen, welche, wahrscheinlich aus Vergessenheit, in der Schublade des Tisches zurückgelassen worden war, und Gabriele, das schöne Haupt gedankenvoll auf die Hand gestützt, schaute hinaus auf die dunkeln Felsenspitzen rings umher.

»Mein Gott! welche Aehnlichkeit!« rief plötzlich Ida überlaut. Moritz und Hippolit näherten sich, die Zeichnung, welche ihr diesen Ausruf abgelockt hatte, zu betrachten, und ihre Aeußerungen, die eher Tadel als Lob anzudeuten schienen, machten auch Gabrielen darauf aufmerksam. Sie trat zu den Uebrigen an den Tisch, doch kaum hatte sie einen Blick auf das Blatt geworfen, so bebte sie mit einem Schrei des Entsetzens zurück. Sie sah sich selbst. Unverkennbar ähnlich war sie hier als Virginia dargestellt, über deren schuldlosem Herzen der Vater eben den Dolch gezückt hielt. Icilius eilte aus der Ferne herbei, näher ein alter Römer im sichtbaren Bestreben, den Streich abzuwenden; [4] unten standen die Worte: Libertade e morte ultimo pegno d'amor. Die Zeichnung war sehr ausgeführt, fast ganz vollendet; Virginius trug unverkennbar die Züge des verstorbnen Freiherrn Aarheim, der zur Hülfe herbeieilende Alte glich Erneston selbst, Icilius war sehr in der Ferne gehalten, doch glaubte Gabriele in ihm eine Aehnlichkeit mit Ottokar zu entdecken.

»Welch eine Darstellung! Wie konnte Ernesto sie ersinnen! rief Gabriele fast zürnend aus, und wendete den Blick mit Grausen von dem Bilde ab; bald aber faßte sie es wieder und betrachtete es mit immer größrer Theilnahme. Obgleich sie mit der eigentlichen Veranlassung desselben unbekannt geblieben war, so erkannte sie darin doch eine Allegorie auf ihr Leben, die sie schmerzlich berühren mußte. Eine stille Thräne stieg ihr ins Auge, als sie Ottokars nur undeutlich, wie aus einem Nebel hervortretende Gestalt erblickte. Dann betrachtete sie Ernestos Bild, und die in seinen Zügen ausgedrückte schmerzliche Angst erinnerte sie auf das lebhafteste an seine ihr von jeher bewiesene Liebe und Treue. Es [5] fiel ihr ein, daß er wohl nie daran gedacht habe, der Zufall könne ihr die Zeichnung entgegen führen, und sie ward ihr jetzt zur wortlosen Klage des fernen Freundes. Immer tiefer sah sie sich hinein und kaum vermochte sie es, den Blick wieder davon abzuwenden.

»Die Aehnlichkeit der Gesichter ist unverkennbar, aber eine weit größre innre Aehnlichkeit liegt zum Grunde, von der Gabriele nichts ahnet,« flüsterte Moritz Hippoliten ziemlich hörbar zu. Gabriele vernahm die Bemerkung, die sie aus Moritzens Munde zu hören nie erwartet hätte. Unwillkührlich suchte ihn ihr Blick, er stand dicht vor ihr und sah sie mit einem so eignen zweideutigen Ausdruck an, daß sie darüber erschrack. Mit zitternden Händen packte sie die Zeichnung nebst allen übrigen schnell in die Mappe, die sie mit nach Schloß Aarheim nehmen wollte, um sie dort dem Eigenthümer sichrer aufzubewahren; dann eilte sie, das Haus und so bald als möglich auch das Thal zu verlassen.

Durch die Zeichnung sowohl, als durch Moritzens räthselhafte Aeußerungen auf das Höchste [6] gespannt, konnte Hippolit den Augenblick kaum erwarten, wo er mit Herrn von Aarheim im Wagen allein seyn würde, um diesen mit Fragen und Nachforschungen zu bestürmen. Doch Moritzens ungemeine Redseligkeit ließ es nicht dazu kommen. Ueber allen Ausdruck vergnügt die Hände in einander reibend, begann er, sobald er sich bequem zurecht gesetzt hatte, von sich zu erzählen. Er redete von sich und immer von sich und war selig in diesem Bewußtseyn, ohne im mindesten auf den Eindruck zu achten, welchen seine Worte auf seinen Zuhörer machten.

Hippolit ward in diesem Gespräch von allem unterrichtet, was er längst zu erfahren so sehnlich gewünscht hatte; von Gabrielens früherm Geschick und durch welche sonderbare Verknüpfung der Zufälligkeiten sie eben die Gemahlin der Lächerlichsten und Lästigsten aller Karrikaturen geworden war. Von Grausen und unaussprechlichem Mitleid im Innersten der Seele erschüttert, hörte er die seltsame Erzählung an. Es ward ihm nicht ganz klar, welche Mittel der[7] furchtbare Wahnsinnige angewandt haben mochte, um Gabrielen in Moritzens Arme zu treiben, denn Gabrielens Gemahl hatte nie die nähren Umstände von dem letzten, alles entscheidenden Gespräch zwischen Vater und Tochter erfahren dürfen. Hippolit fühlte aber mit fester Ueberzeugung, daß ein unausweichbares Geschick hier gewaltet habe, über welches nachzudenken, er schaudernd vermied, um seiner Sinne mächtig zu bleiben. Plötzlich ergriff ihn der Gedanke, daß Moritz in seiner jetzigen offenherzigen Laune auch Gabrielen hier, an Ort und Stelle, zur Vertrauten dessen machen könne, was ihr ewig verborgen bleiben mußte. Er fühlte im eignen Herzen mit unaussprechlicher Angst, daß sie diesen Moment vielleicht nicht überleben werde, und begann nun all' seinen Einfluß zu erschöpfen, um ihren Gemahl zum Geloben ewigen unverbrüchlichen Schweigens über diesen Gegenstand zu bewegen. Er ging sogar so weit, ihm nicht undeutlich zu verstehen zu geben, wie man doch so ganz eigentlich nicht wissen könne, auf welche Weise der alte Baron im Geisterreiche, dem er [8] doch lebend schon halb angehört habe, eine Indiskrezion über diesen Punkt aufnehmen dürfe.

Dieser Bewegungsgrund wirkte mehr als alle übrigen, Moritz erbleichte und blickte sehr bedenklich zu den grauen alten Thürmen und zackigen Mauern hinauf, welche wie aus dem Felsen, der sie trug, hervorgewachsen, bei einer Biegung des Weges jetzt zum erstenmal sichtbar wurden.

Auch auf Hippoliten machte der Anblick des alten Gebäudes einen tiefen Eindruck, das ihm, wie von einer unersteiglichen Höhe, entgegenstarrte. Und als er nun vollends Gabrielens Wagen vor sich, in der alle Gegenstände verwirrenden Dämmerung, auf dem steilen Wege sich hinaufwinden und dann zum düstern Außenthor hineinfahren sah, da ward ihm, als versänke sie in einem offnen Grabe.

In der hochgewölbten Eintrittshalle, beleuchtet vom schwankenden Schimmer vieler Fackeln, hatten sich die verlebten Gestalten der einst hier im Dienst von Gabrielens Vater ergrauten alten Diener zum Empfange versammelt. In ihren [9] nach der Farbe des Wappens auf das strengste gewählten altmodischen Galla-Livreen standen sie ehrfurchtsvoll in eine Reihe geordnet; Frau Dalling an ihrer Spitze. Auch das Haar dieser war weiß geworden und ihre Gestalt hatte sich gebeugt.

Gabriele schwang sich, so wie sie ihrer gewahr ward, ganz allein aus dem Wagen, beinahe ehe er noch hielt, warf sich der geliebten mütterlichen Frau in die Arme, und begrüßte sie mit tausend sonst gewohnten kindlichen Schmeichelnamen. Dann wandte sie sich an die alten Diener mit den allerfreundlichsten Worten; sie reichte ihnen die Hände und alle drängten sich, zum Theil knieend, um sie her und küßten unter verworrnen freudigen Ausrufungen bald ihren Shawl, bald den Saum ihres Kleides.

Moritz trat mit dem erhabensten Anstande, den er aufzubringen wußte, herein, aber die freudige Gruppe ward seiner nicht gewahr. Hippolit schauderte zurück, da er Gabrielen von alle den greisen bleichen Gestalten umgeben sah, die kaum noch dem Leben anzugehören schienen; er [10] glaubte die geliebte Gestalt schon im Gebiete der Unterirrdischen zu erblicken, während Ida und Bella in einiger Beklommenheit seinen Arm ergriffen, als würde es ihnen so besser gelingen, das Grausen zu bekämpfen, welches der erste Eintritt in das alte wunderlich-dunkle Schloß in ihnen erregte.


Unter Gabrielens sorgfältiger Leitung ward indessen gar bald alles zu Jedermanns Zufriedenheit geordnet. Die Fräulein kamen unter den Schutz der Frau Dalling, und vergaßen dort alles Grauen, obgleich das Schloß Ubaldo und andre Reminiszensen aus ihren Romanen, ihnen oft genug in den Sinn kamen. Gabriele bezog wieder die einfachen Zimmer, welche sie von jeher im Schlosse bewohnt hatte. Gute Geister, von denen einst ihre harmlose Kindheit beschützt worden, umwehten sie auch jetzt dort, und hauchten in seligen Träumen ihr Ruhe und Hoffnung [11] in die jetzt nicht weniger als damals schuldlose Brust.

Auch Hippolit war mit seiner Wohnung zufrieden, denn aus einer Fensterecke derselben konnte er zu Gabrielen hinüber sehen, und Abends zuweilen ihren Schatten belauschen, wenn dieser an den heruntergelaßnen Vorhängen vorüberstreifte.

Nur Moritz befand sich in einer trübseligen Lage. Er hatte es seiner Würde angemessen erachtet, die alten Prunkgemächer zu beziehen, welche von seinem Vorfahren zuletzt bewohnt worden waren, und nun ergriff ihn jedesmal eine unüberwindliche Gespensterfurcht, wenn er, besonders Nachts, sich dort allein fand. Ueberall vernahm er ein geisterartiges Rauschen und Rascheln, von den Ruinen der Brandstätte tönten wunderliche Klänge zu ihm herüber, und ein paarmal glaubte er sogar im hellen Dämmerlichte der Sommernacht den alten Baron auf seinem gewohnten Platz im Lehnstuhl am Fenster, den Ruinen gegenüber, zu erblicken.

[12] Wie alle, die mit sich nicht im Klaren sind, war auch Moritz ein wunderliches Gemisch von Freigeisterei, Vernünftelei und ganz gemeinem Aberglauben. Vergeblich strebte er diesen wegzuspötteln und wegzuraisonniren, immer und ehe er sich dessen versah, übte derselbe seine Gewalt über ihn aus, aber um aller Güter der Welt willen hätte er dieses nicht eingestanden. Deshalb konnte er sich auch nicht entschließen, die ihm so furchtbaren Zimmer mit andern zu vertauschen, obgleich er beinahe in keiner Nacht eines ruhigen Schlafs sich in ihnen erfreute.

Am Tage ging es nicht viel besser, denn da marterte ihn der Anblick der seinen Fenstern gegenüberliegenden Brandstelle. Die Lust, etwas ganz Unerhörtes, nie Gesehenes hier aus der Asche entstehen zu lassen, regte sich um so unwiderstehlicher, je enger ihm in dieser Hinsicht die Hände gebunden waren. Sogenannte Nachbarn, von der Neugier meilenweit zu ihm geführt, machten ihm durch ihre Aufforderungen und Vorschläge zum Bauen die Entsagung noch schwerer; denn er mochte nicht gestehen, was ihn [13] eigentlich zurückhielt. Unzähligemal nahm er den Bauriß, der einst des alten Barons Zorn so heftig erregt, zur Hand, betrachtete ihn mit sehnsuchtsvollen Blicken, und legte ihn mit ängstlichem Frösteln wieder hin. Endlich kam es so weit, daß er sogar Gabrielen fast nie ohne eine geheime widerwärtige Regung anblicken mochte, denn alles erinnerte ihn daran, daß er ohne sie hier als unumschränkter Gebieter nach Belieben würde schalten und walten, einreißen und bauen dürfen. Gleich allen erklärten Günstlingen des Glücks war es ihm unmöglich, nicht gerade das Einzige, was ihm versagt war, für das Allerwünschenswertheste zu achten. Dieses ärgerliche Empfinden verleitete ihn nicht selten zu Ungleichheiten im Betragen und ungeduldigen Ausfällen, wie er sich früher deren nie gegen seine Gemahlin erlaubt hatte. Gabriele wußte indessen diesem allen mit so edler Gelassenheit zu begegnen, ohne sich ihrer Würde im mindesten dabei zu vergeben, daß Moritz gewöhnlich im nächsten Moment über seine eigne Unart erschrak und sich sichtbar schämte, doch ohne es anerkennen zu wollen.

[14] Niemand beschreibt den wilden Schmerz Hippolits bei solchen Anlässen. Seit er als Hausgenosse Gabrielen in ihren häuslichen Verhältnissen genauer beobachten konnte, stieg sein Gefühl für sie bis zur Anbetung; er hätte sein Leben hinbluten mögen, um ihr einen frohen Augenblick zu erkaufen. Keins der unzähligen Opfer, welche sie ihrer Pflicht täglich brachte, entging seinem Scharfblick. Und wenn sie dann mit ihrem schuldlosen Lächeln, in milder Heiterkeit vor ihm stand, mit Leichtigkeit und Sorgfalt nur auf das Vergnügen ihrer nächsten Umgebungen bedacht schien, so hätte er vor ihr in den Staub sinken mögen, wie vor einer himmlischen Erscheinung.

»Nein! sie ist nicht von dieser Welt!« rief er oft in die schweigende Nacht, wenn er mit sich allein den eben verlebten Tag überdachte, »sie gehört nicht zu uns. Sie ist ein Engel, der, uns zum Vorbild, einige Zeit unter uns wandeln muß; weder Wonne noch Schmerzen, wie wir sie empfinden, können das Gemüth dieser Heiligen berühren!«

[15] Aengstlicher als je zuvor bewachte er den Sturm in seiner Brust, kein Wort, kein Blick durfte ihn verrathen. Nur wenn er ganz unbeachtet sich glaubte, wagte er es zuweilen, ihr Kleid zu berühren, eine Blume aufzunehmen, welche sie achtlos liegen ließ, oder an den Platz sich hinzuwerfen, den sie eben verlassen hatte. Wenn sie auf Spaziergängen ihren Schawl ihm anvertraute, oder wenn er vollends ihren Gesang mit seiner Flöte begleitete; und ihr Hauch an seiner Wange streifte, dann erbebte er in Seligkeit, aber er schwieg und wagte nicht, die Augen zu erheben, damit sie nicht an ihm zu Verräthern würden.

So vergingen einige Wochen. Am Ende derselben sah Gabriele sich mit ihren beiden jungen Gesellschafterinnen und Hippoliten fast immer allein, denn Moritz, der noch nie eine der unzähligen Thorheiten seines Lebens so schmerzlich bereut hatte, als den Entschluß, nach Schloß Aarheim zu gehen, schämte sich doch, durch seine Abreise vor der dazu bestimmten Zeit, dieses einzugestehen. Er wählte lieber einen Mittelweg, [16] der seiner Schwäche besser zusagte. Er war nie zu Hause, machte Besuche zehn Meilen in die Runde, suchte die in der Umgegend wohnenden Mineralogen auf, und unternahm mit ihnen kleine Reisen; denn für dieses Lieblingsfach seines Wissens blieb seine Vorliebe beständig sich gleich. Hippolit begleitete ihn selten, seine Unwissenheit im mineralogischen Fache diente ihm meistens zur Entschuldigung, und da Moritz die gewohnte Erheiterung in seiner Gesellschaft jetzt weder suchte noch fand, so erlaubte er ihm recht gern, zum Schutz und Zeitvertreib der Damen zu Hause zu bleiben. Er that sich noch dabei auf seinen Scharfblick etwas zu gute, der ihm eine entstehende Leidenschaft Hippolits zu der schönen Ida entdecken ließ. In besonders aufgeweckten Momenten ermangelte er auch nicht, seinen jungen Freund mit dieser Vermuthung zu necken, und dessen aus andern Gründen sehr verlegnes Läugnen bestärkte ihn in dem Glauben daran, statt ihm denselben zu rauben.


[17] Ruhig von innen und außen, sahe Gabriele den Herbst herannahen. Moritzens Gegenwart trat jetzt sehr selten störend ein und sie zählte wirklich Tage und Wochen, die ihr ein recht anmuthiges Bild der früher an der Hand der Mutter verlebten glücklichen Jugend gewährten. Das Schloß war voll Reliquien jener Zeit. Zeichnungen, Bücher, Musikalien, was nur die geliebte Verklärte berührt hatte, ward von Gabrielen zusammengetragen, aufbewahrt, in ihrem Geiste benutzt. Musikalische Uebungen, gemeinschaftliches Zeichnen, geistige Beschäftigungen aller Art, ließen dem kleinen Kreise keine rauschendern Freuden vermissen.

Ida und Bella wurden gar nicht gewahr, in welcher fast gänzlichen Einsamkeit sie sich eigentlich befanden. Ihre Begriffe, ihr Wissen, ihre Ansichten von der Welt und über das Leben erweiterten sich mit jedem Tage, sie wußten nicht wie? Denn sie erhielten keinen eigentlichen Unterricht, der in der Stadt im Hause ihrer Mutter sie oft bis zum Sterben langweilte. Auch Hippolit, obgleich er im eigentlichen geordneten [18] Wissen sich über Gabrielen erheben durfte, fühlte dennoch, wie im Umgange mit ihr alles, was er jemals gelernt hatte, ihm erst zur Wahrheit wurde, weil es in das wirkliche Leben verflochten ward, statt daß es sonst nur kalt und todt ihm eben zur Hand gewesen war, wie etwa ein Lexikon, in welchem man aufsucht, was man für den Augenblick braucht.

Hätte Gabriele jemals ahnen können, wie schwer der junge Freund, an dessen geistigem Entwickeln sie so innig sich freute, für jede selig mit ihr verlebte Stunde in der Einsamkeit unter den wüthendsten Qualen glühender, hoffnungsloser Leidenschaft büßen mußte! Aber ihrem unbefangnen Sinn kam nie ein solcher Gedanke. Sein durchaus vorsichtiges Benehmen hatte längst jede Erinnerung an jenen unbewachten Augenblick in der Laube verlöscht, und wenn auch in seltnen Momenten ein Wort, ein Blick ihm entschlüpfte, der sie daran hätte erinnern können, so war Gabriele weder eitel noch argwöhnisch genug, dieses zu bemerken. Er ward ihr mit jedem Tage lieber, wie aller Frauen wird, was [19] sie sorgsam pflegen und erziehen. Die sichtbare Veredlung seines Wesens, sein eigentliches Selbst war ihr Werk, das mußte sie mit freudigem Stolz sich gestehen, und dabei pries sie dankbar die Gelegenheit, die ihr ward, ihm so zu vergelten.

Freilich vergingen Tage, in denen auch Hippolit der Gegenwart sich hingab wie ein Kind, ihm genügte dann, sie zu sehen, zu hören, von ihr angelächelt zu werden. Aber wenn nun Moritz nach einiger Abwesenheit zu Hause kam, wenn dieser es wagte, Gabrielen vertraulich zu begrüßen, und nun plötzlich der Dämon der tollsten Eifersucht Hippoliten zuflüsterte: sie ist sein, des mißgeschaffnen, lächerlichen Alten, sein, ganz sein, auf immer! Dann stürmte er fort, hinaus in den Wald, in Klüfte, zwischen Felsen, wie ein gejagter Hirsch, der den Pfeil in der wunden Brust mit sich trägt. Oft irrte er in tiefer Nacht zwischen den Ruinen der Brandstelle, kletterte mit Lebensgefahr über die morschen Mauern und suchte die verschütteten Eingänge zu den Gewölben. Ganz verwilderten Sinnes, [20] wollte er schlechterdings die ihm oft beschriebne Riesengestalt des alten Barons dort erblicken.

»Steig herauf!« rief er in halbem Wahnsinn, »steig herauf aus Deinem Steinhaufen, dem Du die Tochter opfertest! Libertade e morte! Gieb uns Leben und Freiheit im Tode! Zieh uns beide hinab! Was soll sie hier mit leerer, kalter Brust länger einsam umherwandeln? Dort wird sie lieben, dort drüben, auf ihren heimathlichen Sternen. Mich wird sie lieben, sie muß es, denn ich gehöre zu ihr. Mein ganzes Daseyn ist ein Strahl, ein Abglanz ihrer Herrlichkeit, den sie ins Daseyn rief, der ohne sie auf ewig verlosch!«

Moritz hörte ihn oft, und verwachte dann eine Angstnacht, die ihn gewöhnlich bewog, mit Sonnenaufgang wieder von dannen zu ziehen.

Einst hatte Hippolit die halbe Nacht so in fast wahnwitziger Raserei vertobt. Es war weit nach Mitternacht. An allen Kräften erschöpft, sank er zwischen dem Gemäuer der Brandstelle hin; seine Wildheit löste sich plötzlich in unsägliche Weichheit auf; ihm war, als zerflösse sein [21] Daseyn in diesem stillen Weh; er mochte sich nicht regen, sondern überließ sich fast gedankenlos dem angenehmen Gefühl gänzlicher Ermattung, bis ihm die Sinne schwanden und der Schlaf ihn überschlich.

Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne erweckten ihn wieder; der kühle Morgenhauch wehte beruhigend ihn an, er starrte auf seine wunderliche Ruhestätte hin, und begriff nicht sogleich, was ihn hieher gebracht haben könne? Dann begann er, wie immer bei kühlerem Bewußtseyn, sich seines leidenschaftlichen Unmuths recht herzlich zu schämen, nannte ihn unmännlich, und versprach sich selbst, sich künftig Gabrielens würdiger zu betragen.

Noch nie hatte Hippolit sich zu so früher Tageszeit zwischen den Ruinen befunden. Er blickte um sich, und ihn ergötzte das Spiel der fast noch horizontal fallenden Sonnenstrahlen, die hin und wieder, durch Lücken und Mauerspalten dringend, in einzelnen feurigen Lichtern durch das tiefste Dunkel auf den vom Rauch geschwärzten Mauern glänzten. Er stand in dem [22] Theil des Flügels, der zur Zeit des Brandes, um das Hauptgebäude zu schützen, größtentheils eingerissen ward, dicht vor einem der gewölbten Eingänge, welche einst zu den Souterrains führten. Einige ziemlich erhaltene steinerne Stufen führten noch in die Tiefe des kellerartigen Gewölbes hinab, doch nur wenige Schritte weiterhin war alles verschüttet. Hippolit blickte in die Tiefe, wo ein bläulich glänzender Punkt seine Aufmerksamkeit erregte; es war als ob der Reflex eines einzelnen Sonnenstrahls dort von einer metallnen Fläche zurückgeworfen würde. Je länger er hinsah, je wunderlicher schien ihm das seltsame Blinken. Endlich bahnte er sich, nicht ohne Gefahr, den Weg zum Gegenstand seiner Neugier, und stand bald vor einer, in den Fels, welcher dem Gebäude zur Grundlage gedient hatte, eingehauenen kleinen Vertiefung. Spuren einer eisernen Thüre, die einst sie verschlossen haben mochte, waren noch sichtbar. Unter Ueberbleibseln zerbrochner Gläser, vermoderter Schriften und Pergamente, welche die Vertiefung anfüllten, glänzte noch immer der Schein [23] hervor, und Hippolit zog endlich eine kleine Kapsel von weißem Metall aus dem Wuste. Schmutz und Staub verhinderten ihn, die darauf eingegrabnen Charaktere zu lesen, bis er, in seinem Zimmer angelangt, den sonderbaren Fund bequemer untersuchen konnte.

Das Metall, aus welchem die Kapsel bestand, erkannte er für Platina. Liberorum Salus stand darauf eingegraben. Von sonderbarem Schaudern ergriffen, schob er sie weit von sich weg, aber die Neugier siegte, er ergriff sie wieder, und ruhte nicht, bis es seinem Bestreben gelang, sie zu öffnen. Ein ganz kleines, hermetisch verschlossnes Fläschchen von Bergkrystall funkelte ihm aus dem schwarzen Sammt, mit dem die Kapsel gefüttert war, entgegen; es war wit wenigen ganz hellen Wassertropfen angefüllt. Sein Haar sträubte sich bei dem Anblick. Alles, was Moritz ihm auf dem Wege vom Eisenhammer nach dem Schlosse vertraut hatte, trat plötzlich in furchtbarer Lebendigkeit vor seine Seele. Ihm war zu Muthe, als stände der beunruhigte Geist hinter ihm, den er im wilden [24] Wahn so oft zur nächtlichen Stunde herbeirief, als beuge die Riesengestalt sich über ihm weg, um ihm hohnlachend ins Antlitz zu starren. Mit abgewandtem Blick schloß er die Kapsel wieder, vergrub sie tief im verborgensten Fach seines Schreibtisches unter Papieren, und eilte dann hinaus, als folge das Verderben ihm auf dem Fuße.


Alles in Schloß Aarheim gewann eine andre Gestalt, so wie der Herbst näher herankam. Gabrielens Zeitordnung ward verstört, zwischen den alten Mauern wimmelte es von modernen geputzten Herren und Damen, lustige Tanzmusik wirbelte Abends durch die hochgewölbten Säle und laute Freude hallte durch alle Gemächer. Die rückkehrenden Brunnengäste aus Böhmen stellten sich weit zahlreicher ein als man es erwartet hatte, jeder Tag führte neue Besuche herbei, während die früher Angekommnen sich wieder entfernten. Auch ältre Bekannte Gabrielens [25] aus der nächsten Stadt fanden sich ein. Es war ein Leben, ein Treiben, ein Lachen, eine Lustigkeit unter den Leuten, über die Hippolit zuweilen von Sinnen hätte kommen mögen, der er aber auch in andern Stunden sich wieder recht jugendlich-theilnehmend hingab.

Auch Moritz war mit der neuen Gestaltung der Dinge in seinem Schlosse wohl zufrieden. Wo es so geräuschvoll herging, meinte er, hätten die Geister wohl, wenigstens fürs erste, ihre Macht verloren, und so wagte er es, wieder mehr zu Hause zu seyn, um seine Gäste zu empfangen und zu unterhalten.

Ein glänzendes Fest, welches auf einem, ein paar Meilen weit entferntem Gute gefeiert werden sollte, hatte am Vorabende desselben eine ungewöhnlich zahlreiche Gesellschaft auf Schloß Aarheim versammelt, die von dort aus in Begleitung der Bewohner desselben sich mit dem frühesten auf den Weg zum bestimmten Versammlungsorte machen wollte. Gräfin Eugenia, der Professor und der sogenannte Antonius, lauter alte Bekannte aus dem Hause der Gräfin [26] Rosenberg, kamen spät Abends noch ganz unerwartet an. Eugenia warf sich mit lauten, freudigen Ausrufungen in Gabrielens Arme und betheuerte: seit sie der Letztern Ankunft auf Schloß Aarheim erfahren, habe sie ihrem Gemahl keine ruhige Stunde gegönnt, bis sie ihn bewogen, sie zu ihr zu führen. Dann stellte sie den wie gewöhnlich verlegen lächelnden Antonius in dieser Qualität vor. Dieser fing mit vielem Anstand eine schöne Rede an, in der er aber unglücklicher Weise sich so verwickelte, daß er zuletzt nicht mehr wußte, wie er daran war und mitten in einem Paragraphen endete ohne zu schließen. Gabriele achtete nicht sonderlich darauf, und begrüßte indessen mit recht herzlicher Freundlichkeit den Professor, den sie schon im Hause ihrer Tante ausgezeichnet hatte. Moritz bemächtigte sich des Antonius als eines alten Bekannten, um ihm, Gott weiß welche Raritäten zu zeigen. Einige der Anwesenden folgten ihnen, andre, unter ihnen Eugenia, ordneten sich in einem geräumigen Pavillon von neuem um den geselligen Theetisch.

[27] Gegen ihre Gewohnheit sah sich indessen Gabriele bald darauf genöthigt, ihr wirthliches Amt an diesem Tische an Fräulein Ida abzutreten und die Gesellschaft auf eine kleine Weile zu verlassen. Die Zahl der Fremden im Schlosse war nämlich durch den neuen Zuwachs so groß geworden, daß die gute Frau Dalling, trotz der vielen Zimmer in dem weitläufigen Gebäude, sich dennoch, ohne den Rath ihrer Herrin, nicht zu helfen wußte, um jedermann anständig und würdig für die Nacht unterzubringen. Mit leichtem Schritt eilte Gabriele, ihrem Rufe folgend, durch den hohen Lindengang, der vom Pavillon zum Schlosse führt, und die Zurückgebliebnen blickten ihr mit heiterem Wohlgefallen nach. An der Thüre des Pavillons stand Hippolit, die blitzenden Augen in sprachlosem Entzücken auf die schöne Gestalt geheftet, die leicht, wie eine Silfide, vor ihm hinschwebte. Ihr weißes Gewand ward durch das Dunkel des hochgewölbten Bogenganges erhoben, die hie und da durch die Blätter dringenden Sonnenstrahlen bestreuten es mit einzelnen in Rosenglanz brennenden Sternen; [28] die lichten, blonden Locken, goldig im Abendroth schimmernd, umgaben ihr Haupt mit der Glorie einer Heiligen. Zuweilen verschwand sie im tiefern Dunkel vor den sie verfolgenden Blicken, und bald darauf glänzte sie wieder im vollen Sonnenschein wie eine Verklärte, bis sie sich endlich in der düstern Vorhalle des Schlosses völlig verlor.

»Aus Kindern werden Leute, das habe ich lange schon gewußt,« rief jetzt Gräfin Eugenia, »und doch,« fuhr sie fort, »würde es mir nie einfallen, die kleine, blasse, zimperliche, etwas alberne Gabriele der Gräfin Rosenberg in dieser schönen, eleganten Frau von Aarheim wieder zu erkennen, wenn nicht die unwidersprechlichsten Beweise mich überzeugten, daß sie es wirklich ist. Wie die Frau sich ausgebildet hat, so etwas ist mir noch in meinem Leben nicht vorgekommen, es gränzt an Wunder. Erinnern Sie sich noch, lieber Professor! wie sie vor sieben oder acht Jahren zitternd, und knixend und halbweinend dazu, bei der Gräfin Rosenberg erschien? Sie fiel gerade in die famose Tableaugeschichte [29] hinein, die Sie unmöglich können vergessen haben.«

»Ja wohl erinnere ich mich dessen genau,« erwiderte der Professor, auch kann ich noch immer nicht ohne Bewunderung des Muths gedenken, mit dem das sonst so übermäßig blöde Kind sich erdreistete, das ihm Heilige gegen alle Angriffe standhaft zu vertheidigen; ich meine die Trauer um die jüngst verstorbne Mutter.«

»Der lange schwarze Schlepp, die Pleureusen, die häßliche Schneppe und der Schleier, mit dem sie aussah wie eine Nachteule, das war ja eben der Gipfel aller Abgeschmacktheit,« antwortete lachend Eugenia.

»Alle zivilisirten Völker legen um ihre verstorbnen Verwandten Trauer an,« sprach der Professor, »und sogar unter den Wilden finden sich Spuren dieses Gebrauches, der denn doch wohl eines tiefern Ursprungs seyn mag, als blos der Mode. Doch davon ist hier nicht die Rede, Gabriele soll in der Sache selbst Unrecht gehabt haben, ihr Wollen war dennoch rein. Ich behaupte nur, daß, so wie sie damals stand, ihre [30] Weigerung, das eigne Gefühl des Schicklichen dem Willen der Tante zum Opfer zu bringen eine Heldenthat war, deren Werth aber vielleicht nur der ganz zu übersehen vermag, der einst wie sie, ängstlich beklommen und allein, in die ihm fremde Welt geworfen ward.«

Die Neugier der Gesellschaft war rege geworden, und Eugenia mußte erzählen was sie selbst nur vom Hörensagen kannte, denn sie war bei Gabrielens Ankunft im Zimmer der Tante nicht mehr gegenwärtig gewesen, wohl aber der Professor, der als strenger Censor über die Erzählerin wachte, und jede Uebertreibung oder Unwahrheit ohne Gnade rügte und berichtigte. Hippolit hörte Beiden mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu.

»Nun wohl, Sie mögen Recht haben,« schloß endlich Eugenia, des Streitens müde, »Sie mögen Recht haben, und Gabriele äußerte schon damals Spuren jener Festigkeit, überhaupt jenes vernünftigen Ueberlegens, das sie später bewieß, als sie drei Monate, nachdem sie aus Schmerz über die Trennung von einem gewissen Herrn [31] hatte sterben wollen, sich plötzlich eines andern bedachte, der Auszehrung, in die sie zu verfallen drohte, und überhaupt der ganzen traurigen Liebesgeschichte den Abschied gab, und kurz und gut diesen etwas poßirlichen Herrn Vetter heirathete, der sie bei alle dem zur reichsten Frau im Lande machte, und auch sonst, wie ich höre, sich ziemlich lenken läßt.«

»Gräfin! Gräfin!« unterbrach sie unwillig der Professor.

»Stille, stille, lieber Freund!« erwiderte Eugenia und drückte ihre Hand auf seine Lippen, »ich weiß was ich weiß, und behaupte nichts, als was ich mit Beweisen belegen kann. Ich war mit dem Rosenbergischen Hause zu genau liirt, als daß mir diese Geschichte hätte verborgen bleiben können.«

Gabrielens Rückkehr zur Gesellschaft zwang Eugenien mitten im Strome ihrer Rede zu verstummen. Alles brach auf um die letzten Stunden des milden Herbstabends noch im Freien zu genießen. Doch mochte das, was Eugenia noch etwa zu erzählen haben konnte, nicht für alle [32] verloren gehen, denn einige der im Pavillon gegenwärtig gewesnen Damen bemächtigten sich ihrer mit ungemeinem Eifer, um ihr noch bei Mondenschein die Schönheiten des altvätrischen Schloßgartens zu zeigen.

Auf Hippoliten hatte niemand geachtet; ausser sich vor Zorn über die Erzählerin, deren unverkennbare Bosheit seine ganze Verachtung erregte, unfähig ihr zu glauben, und doch von ihr tief in der Seele verwundet, war er auf seinem Platze stehen geblieben, bis der Professor, der letzte welcher den Pavillon verließ, an ihm vorüberging. Mit einem freudigen Auffahren ergriff er diesen am Arm, und zog ihn mit sich fort, ins Schloß hinein. Ein Blick in Hippolits bittendes Auge, und einzelne abgebrochene Worte bewogen den freundlichen Mann, sich ihm unbedingt hinzugeben, und, freilich etwas verwundert über sein seltsames Benehmen, ihm zu folgen, wohin er ihn führen möchte.


[33] So wie sie in Hippolits Zimmer angelangt waren begann dieser, noch athemlos von äußerer und innerer Bewegung, dieses sein unziemend erscheinendes Betragen gegen seinen Gast so gut er es vermochte zu entschuldigen. »Es war mir unmöglich,« sprach er, »eine Frau welche die Anbetung der ganzen Welt verdient, so lästern zu hören« –

»Dann bedürfen Sie bei mir keiner Entschuldigung, Herr Graf,« unterbrach ihn der Professor; »konnte ich selbst es doch auch nicht, und ließ mich, wie Sie werden bemerkt haben, dadurch verleiten, mitten unter mir ganz Unbekannten als ihr Vertheidiger aufzutreten. Und doch habe ich sie nur als ein halbes Kind gekannt. Jetzt stehe ich wirklich geblendet vor ihr.«

»O könnten Sie jetzt erst sie recht kennen lernen! Würde es Ihnen vergönnt wie mir, ein Augenzeuge ihres Lebens zu seyn!« rief Hippolit, von seinem Gefühl hingerissen, und der eben aufgehende Mond spiegelte sich in seinem glänzenden, himmelwärts gerichtetem Auge.

Es entstand eine kleine Pause, während welcher [34] der Professor Hippoliten aufmerksam und mit Wohlgefallen betrachtete. Dann nahm dieser gefaßter wieder das Wort.

»Mag denn die freudige Empfindung, mit der ich Ihnen zuhörte, mir und meinem Ungestüm das Wort reden,« sprach er, »und mich auch entschuldigen, daß ich Sie, mit dem ich so zusammentraf, nicht gleich wieder verlassen kann; daß ich sogar es wage, Sie als einen längst gekannten Freund zu betrachten, und mit vielleicht zu jugendlicher Zutraulichkeit Sie um die Gewährung einer Bitte zu ersuchen.«

»Es sollte mich in Erstaunen setzen, wenn ich im Stande wäre Ihnen eine zu gewähren, Herr Graf! obgleich ich fühle, daß ich Ihnen schwerlich eine abschlagen könnte,« erwiderte der Professor, indem er Hippoliten freundlich die Hand bot.

»Die Macht der Verläumdung ist groß,« sprach Hippolit verwirrt nach Worten suchend, und mit abgewendetem Gesicht; »sie ist darum so über allen Ausdruck entsetzlich, weil sie unser Heiligstes untergräbt, ohne daß es möglich wäre, ihr entgegen [35] zu arbeiten. Man glaubt ihr nicht, man bauet fest auf seinen Freund, man stößt mit Abscheu jeden aufkeimenden Verdacht von sich, und doch bleibt ein geheimer Stachel tief im Verborgensten der Brust zurück, und gräbt und gräbt leis' und unmerklich, bis das alte Vertrauen wankt.« –

»Versteh' ich Sie, Herr Graf?« unterbrach ihn der Professor, und sah mit weniger freundlichem Blick ihn forschend an. »Wäre es möglich? Sie? Wie! Sie? der Sie Gabrielen genau zu kennen vorgeben, Sie könnten die Möglichkeit sich denken, daß elendes Berechnen von Rang und Vermögen sie dahin bringen konnte, sich diesem Herrn von Aarheim zu verkaufen?«

»O sprechen Sie das entsetzliche Wort nicht aus!« rief Hippolit, »schon dieß allein ist ein Verbrechen gegen jenes himmlisch reine Wesen! Wie konnten Sie mich so mißverstehen! Ich, der ich, und vielleicht besser als sie selbst den schauerlich-dunkeln Weg kenne, den das Schicksal mit Gabrielen nahm, um sie in dieses Elend zu führen, ich –«

[36] »Ich weiß nichts von den nähern Umständen, die bei der Vermählung der Frau von Aarheim sich zugetragen haben mögen, auf die Sie anzuspielen scheinen, und verlange auch nichts davon zu wissen,« unterbrach der Professor ihn abermals, noch immer halb erzürnt. »Ich bedarf nichts von alle dem, um überzeugt zu seyn, daß dieses verächtliche sich selbst Wegwerfen ihr unmöglich war, denn Liebe schützte sie damals vor jeder Erniedrigung ihrer edlern Natur; eben jene Liebe, welche die Frau Gräfin Eugenia in so unwürdigem Lichte zu zeigen sich abmühte.«

Ein unartikulirter Ausruf Hippolits, den er bei diesen Worten nur halb zu unterdrücken vermochte, wurde vom Professor nicht beachtet, der, hingerissen von dem Vergnügen Gabrielen zu vertheidigen, im Feuer seiner Rede fortfuhr.

»Ich war freilich bei Gabrielens Ankunft und bei jener Tableauscene zugegen, dessen die Gräfin Eugenia so spöttisch erwähnte. Ich pflegte damals immer gern die mir zur Erholung gegönnten Stunden in dem gastfreien Hause und in dem geistreichen Kreise der Gräfin Rosenberg zuzubringen. [37] Die kindliche Grazie, das unglaublich schüchterne Wesen des jungen Mädchens, bei dem Geiste, der unter den dunkeln Wimpern hervorblitzte, so wie die über ihr ganzes Wesen ergossene unverkennbare Traurigkeit, machten sie mir gleich in der ersten Stunde höchst interessant. Die gänzliche Verlassenheit, in der sie bald darauf oft mitten in den größten Gesellschaften, furchtsam in sich gekehrt, dastand, erregte mein innigstes Mitleid; schon wollte ich als väterlicher Freund ihr mich nähern, aber da entdeckte ich, daß ein Andrer mir zuvorgekommen sey, der in jeder Hinsicht sich freilich besser zu ihrem Beschützer eignete als ich, ein bedeutender Künstler und wie ich späterhin vernahm, ein alter Freund ihrer Mutter.«

Hippolit, der bei Erwähnung dieses Freundes sehr aufmerksam geworden war, athmete bei den letzten Worten des Professors hoch auf, mit sichtbar erleichterter Brust, und jener fuhr fort.

»So begnügte ich mich denn, dem Entfalten dieser lieblichen Blume von weitem, ohne thätige Theilnahme zuzusehen. Mit unaussprechlichem [38] Vergnügen beobachtete ich das erste Erwachen des reinsten Herzens, das vielleicht je in einer Mädchenbrust geschlagen hat. Es zu erwecken, war einem Manne beschieden, den ich vor allen andern dieses hohen Glücks werth achten mußte. Wie oft betrachtete ich mit wahrer Freude das schöne Paar, wenn beide der Zufall neben einander gestellt hatte! Er, das Bild männlicher Hoheit, sie ganz weibliche Anmuth und Bescheidenheit.«

»Er ist todt? Er starb?« fragte Hippolit beinahe athemlos.

»Nicht daß ich wüßte,« erwiderte der Professor, er hat mit letzter Post mir geschrieben. Aber seit Jahren sind sie getrennt, und so viel man menschlicher Weise die Zukunft berechnen kann, sind sie getrennt auf immer. O hätten Sie Gabrielen damals gesehen! Zwar ihre sterbliche Hülle wäre dem Schmerz der Trennung beinahe erlegen, doch Psyche hob die glänzenden Flügel, und schwebt noch immer in ewiger Klarheit. Darum, mein junger Freund! trägt diese seltne Frau alles so leicht, was andre erdrücken [39] würde, sie hat ja das Schwerste früher überwunden.«

Schweigend erhob sich Hippolit von seinem Sitze, und beantwortete des Professors Bitte, dieses Gesprächs gegen niemanden zu gedenken, nur mit einem Händedruck. Dieser blickte abermals verwundert ihn an und eine leise Ahnung, daß er hier wohl Unheil gestiftet haben könne, während er durch Gabrielens Vertheidigung gegen jeden Argwohn, Gutes zu stiften gedachte, flog ihm durch den Sinn, doch blieb ihm zu keiner Aeußerung hierüber Zeit. Es ward zur Abendtafel geläutet, und Hippolit eilte, noch immer in düsterem Schweigen versunken, an seinem Arm dem jetzt hell erleuchteten Pavillon zu, wo die Gesellschaft eben im Begriff war, an mehrein kleinen Tischen sich zu ordnen.

Gabriele, die den Professor schon längst vermißt hatte, trat ihm an der Thüre entgegen, um ihm in ihrer Nähe seinen Platz anzuweisen, und Hippolit nahm diesen Augenblick wahr, um sich, von jedermann unbemerkt, in das dichte wilde Gebüsch neben dem Pavillon zu stürzen.

[40] Unfähig, jetzt Gabrielens Anblick zu ertragen, irrte er planlos umher. Auf ungebahntem Wege, zwischen Felsentrümmern gelangte er in der tiefen Dunkelheit zum Eisenhammer; über wüstes Gestein, am Rande tiefer Abgründe hin, hatte er den Weg gefunden, ohne ihn zu suchen. Die Stille der Nacht verdoppelte das dröhende Tosen der Räder, das Klopfen des Hammers. Die Gluth im hohen Ofen, um welche schwarze, wie der Unterwelt entstiegene Gestalten sich bewegten, leuchtete mit rothem Schein fernhin durch die Einöde; die verdorrten Tannen, die wunderlichen Felsenzacken schienen im flackernden Licht zu gespenstischen Erscheinungen sich umzuwandeln und in seltsamem Tanze auf- und abzuschweben. Jede rege Phantasie mußte hier mit grausenvollen Bildern sich erfüllen. Hippolit fühlte den Eindruck, ohne sich dessen deutlich bewußt werden zu können. Ermattet an Seele und Leib, warf er sich auf die alte steinerne Bank neben dem Felsbach hin, und überließ sich dumpfen ängstlichen Träumen. Weit nach Mitternacht traf ihn dort der Förster, welcher mit seinen Hunden in den Wald wollte, [41] um nächtlichem Holzfrevel zu wehren. Er erkannte ihn, und führte ihn auf dem kürzesten Wege nach seiner Wohnung, wo er ihn einlud, in Ernestos Stübchen bis zum Morgen zu verweilen; denn es war zu spät geworden, als daß Hippolit noch in das Schloß hätte gelangen können, ohne die Hälfte von dessen Bewohnern aus dem Schlaf zu stören. Hippolit ließ sich schweigend alles gefallen.


In der stillen Einsamkeit der einfachen engen vier Wände, zu denen nur aus der Ferne das Dröhnen des Hammers, das Rauschen der Wasserbäche herüber tönte, kam Hippolit bald wieder zu einigem Besinnen. Doch mit diesem erwachte auch das ganze volle Gefühl des Schmerzes, der, sein Innres zerreißend, durch Nacht und Wald ihn bis hieher gejagt hatte.

Sie hatte geliebt? Sie liebte vielleicht noch! Diese Ueberzeugung ward der Untergang seiner bis zu diesem Augenblicke mühsam errungnen [42] und erhaltnen Herrschaft über sich selbst. Gabriele, die er sonst gleich einer über jede Leidenschaft erhabnen Heiligen verehrt hatte, ward ihm jetzt nur zum schönen, liebeglühenden, irrdischen Weibe; die Höhe, auf der sie bis jetzt hoch über ihm stand, war eingesunken und alle Qualen verzehrender Eifersucht, alle Flammen der glühendsten Liebe schlugen hochauflodernd, jeder Mäßigung spottend, über seinem Haupte zusammen. In dem engen Raum, der ihn umgab, wandelte er rastlos auf und ab, bis er, vom Schwindel ergriffen, auf das Lager sank. Kein Schlaf kam in seine Augen, kein einziger Augenblick Ruhe in die wildbewegte Brust. Er wollte fort, er wollte zu ihr, er wollte hinaus in die weite Welt; ganz mit sich selbst zerfallen, arbeitete er sich planlos und vergebens ab, einen festen Zweck des innern und äußern Strebens zu finden.

Der Morgen graute indessen, die Sonne ging auf, sie stieg immer höher, ohne daß er von alle dem etwas bemerkt hätte, bis die Frau des Försters mit freundlichem Morgengruß hereintrat, um ihm ein Frühstück zu bringen. Wie [43] ein gefangner Vogel, dem der Käfig geöffnet wird, rauschte er da, ohne sie anzusehen, durch die von ihr offen gelassene Thüre, hinaus zum Zimmer, zum Hause hinaus.

Erst auf der Hälfte des steilen Weges, der zum Schlosse führt, ward es Hippoliten klar, was ihn so schnell fort und hieher getrieben habe; es war der plötzlich gefaßte Entschluß, den Professor zu sprechen und von ihm durch Bitten oder mit Gewalt Namen und Aufenthalt des Mannes zu erpressen, den Gabriele liebte.

Mit diesem Vorhaben beschäftigt, kam er im Schloßhofe an und fand dort alles in ganz ungewohnter Oede und Stille. Nirgends ließ ein Einziger von der Schaar von Dienern sich erblicken, die sonst immer dort ämsig hin und wieder lief. Die Pferdeställe, die Wagenremisen standen alle offen und leer, das ganze Schloß schien wie ausgestorben.

»Wo kommen der gnädige Herr denn so spät noch her? Die Herrschaften sind schon seit mehr als zwei Stunden nach der Rothenburg gefahren; sie dachten alle, Euer Gnaden wären längst [44] vorausgeritten,« rief Hippoliten endlich der Gärtner zu, der mit einem großen Korbe voll Herbstblumen aus dem Garten kam.

Hippolit hatte der heutigen Lustpartie gar nicht weiter gedacht, um derentwillen sich am vergangnen Abend eine so große Gesellschaft im Schlosse versammelt hatte. Jetzt beschloß er, freilich mit einigem Widerwillen, den Professor in der Rothenburg selbst aufzusuchen; doch während er sich dazu anschickte, fiel ihm plötzlich ein, daß auch Eugenia dort seyn, daß er auch Gabrielen dort finden werde. Er fühlte mit unwidersprechlicher Gewißheit, daß es ihm unmöglich sey, sie mit diesem Sturm in der Brust wieder zu sehen, ohne vor all den neugierigen Blicken, ja vor der Frau, die er als ihre grimmige Feindin betrachtete, das heiligste Geheimniß seines Herzens Preis zu geben. Ein neuer Kampf begann in seinem Innern, den endlich der Entschluß endete, statt nach der Rothenburg, nach der Stadt zu reisen, den Professor dort in seiner Wohnung zu erwarten, und sobald er von ihm erfahren, was er wissen wollte, hinaus zu [45] ziehen in die Welt, um den Mann aufzusuchen, dessen Daseyn ihn mit unerhörten Qualen peinigte. Ihn finden wollte er, ihn sehen von Angesicht zu Angesicht. Was dann aber noch ferner geschehen, was aus dieser Zusammenkunft entstehen sollte? dies schwebte ihm nur in dunkeln Bildern vor, die er gar nicht zu beleuchten wagte.

So wie er über seine nächste Zukunft mit sich im Reinen war, glaubte er sich ruhiger zu fühlen; körperliche Ermattung nach der wilddurchtobten Nacht schien ihm jetzt Fassung zu seyn. Er bedachte die Ungewißheit seiner Wiederkehr und begann manches aufzuräumen und einzupacken, was er fremden Augen zu entziehen wünschte. Briefe, Gedichte, glühende Ergüsse der ihn verzehrenden Leidenschaft, die er dem Papier anvertraut hatte, alles suchte er zusammen, und mitten unter dieser Beschäftigung rollte ihm die längst vergeßne Kapsel von Platina entgegen, welche er einst unter den Ruinen der Brandstätte gefunden hatte.

[46]

Kalte Schrecken durchrieselten ihn mit Todesschauern bei diesem Anblick. Sein Herz stand einige Sekunden, und große Schweißtropfen perlten auf seiner Stirne, wie auf der Stirne eines Sterbenden. Er sank vor seinem Schreibtisch auf die Knie hin, das stiere Auge haftete an der Kapsel; er las die Inschrift »Liberorum Salus,« Rettung der Freien. Er mußte sie immer wieder lesen, und vermochte nicht den Blick abzuwenden. Zischende Lichter, die er seitwärts sah, ohne das Haupt zu wenden, blitzten um ihn her; über sich hörte er ein Rauschen wie von mächtigen Flügeln, es war das seine Adern durchrieselnde Entsetzen, mit dem das junge Leben sich gegen den furchtbaren Gedanken sträubte, der in diesem Moment ihn mit Riesenstärke ergriff. Und dabei mußte er innerlich doch immer wiederholen: Liberorum Salus.

Dieser Zustand währte indessen nur wenige Minuten, dann stand er auf, faßte und öffnete die Kapsel mit fester Hand und hob das funkelnde Fläschchen gen Himmel. »Ich danke dir!« rief er, »wie durch ein Wunder zeigst du mir [47] die rechte Bahn; so sey es denn!« Von diesem Momente stand die Ueberzeugung fest gegründet in seinem Gemüth, daß nur der selbstgewählte Tod ihm einen Ausweg öffnen könne. Was sollte er ohne Ruhe und Rast die Welt durchirren, um ein Wesen zu suchen, dessen Daseyn ihn in Verzweiflung setzte! Wenn er ihn nun gefunden hätte? Nur blutig konnte dies enden. »Nein! Gabriele soll um ihn nicht weinen! mir, mir gehören ihre Thränen, wenn gleich ihm ihre Liebe,« rief er. »Uns beiden zugleich kann diese Sonne nicht länger scheinen, so wähle ich denn für sie den kleineren Schmerz und lege ihrer Ruhe mein Leben willig zum Opfer hin.«

Mit dem feierlichen Wesen, welches die Jugend im Schmerz so gern annimmt, fuhr er nun fort, Papiere zu vernichten, andre zu versiegeln und an entfernte Verwandte zu addressiren. Er versuchte es mehreremale an Gabrielen zu schreiben, doch dieses überstieg seine Kräfte. Allmählig überschlich ihn ein unnennbares Mitleid mit sich selbst, mit tiefer Betrübniß feierte er den Abschied vom schönen, heitern Sonnenlicht. Sein [48] eigner Entschluß erschien ihm als eine unabänderliche äußre Bestimmung; er vergaß ganz, daß es nur von ihm abhing, sie abzuwenden. Er hatte ausgetobt, seit dem vergangnen Tage hatten weder Schlaf noch Nahrung ihn erquickt. Er fühlte kein Bedürfen, aber er war einer völligen Erschöpfung aller seiner Kräfte nah, und so gab er sich ohne Widerstreben sanftern Gefühlen hin. Traurig, aber mit festem Willen beschloß er, die Bande langsam zu lösen, die ihn noch an das Leben fesselten.

Feierlich und still durchzog er das ganze Schloß, er suchte noch einmal alle die Platze auf, wo er sie gesehen, auf jedem Schritte drängten tausend süße und bittre Erinnerungen sich ihm entgegen. Rings um ihn her herrschte das tiefste Schweigen, kein neugieriges Auge, kein geschäftiger Tritt belästigte ihn störend, denn der Theil der Dienerschaft, welchen die Herrschaft zurückgelassen hatte, benutzte den seltnen freien Tag, um sich außerhalb des Schlosses zu vergnügen.

[49] Hippolit gelangte endlich an die Thüre zu Gabrielens Zimmern, er fand sie verschlossen und sank, von seinem Gefühl überwältigt, auf der Schwelle nieder. Alle Furien der Verzweiflung erwachten aufs neue in seiner Brust, er ergriff das Fläschchen, im Begriff, es hier zu öffnen, aber der Gedanke an Gabrielen, an ihren Schrecken, an den Abscheu, mit dem sie gerade hier vielleicht von seiner entstellten Hülle sich wenden würde, hielt ihn zurück. Er riß sich wieder empor, eilte, vor sich selbst fliehend, eine in der Nähe befindliche Treppe hinab, und fand sich erst in einem abgelegnen Seitenhofe wieder, vor dem äußern Eingange zur Kapelle, welche von der andern Seite an die Reihe von Zimmern stieß, die einst der alte Baron und jetzt der gegenwärtige Besitzer des Schlosses bewohnte. Ohne sich dessen deutlich bewußt zu seyn, stieg er die Treppe hinauf, die Thüre der Kapelle stand offen.

Es war zur herbstlichen Zeit des immer merklicher werdenden Abnehmens der Tage, und die Sonne neigte sich schon dem Untergange zu, obgleich [50] es noch gar nicht spät war. Ihr Strahl brach sich in den mannigfaltigen, gleich reichen Edelsteinen glänzenden Farben der alten Heiligenbilder und Familienwappen, welche, bunt und kunstreich gemalt, die Fenster schmückten. Purpurrothe Dämmerung, mit tiefdunkeln Schatten wechselnd, erfüllte das hohe Gewölbe, als Hippolit in die Kapelle trat. Der Altar, hinter welchem die Thüre sich öffnete, schien erleuchtet. Langsam, von der Feierlichkeit des Ortes besänftigt und erhoben, schritt Hippolit vorwärts und erblickte – und traute seinen Augen nicht – und glaubte einer überirdischen Erscheinung gewürdigt zu seyn – denn auf den Stufen des Altars lag Gabriele betend, in Andacht versunken.

Langsam erhob sie sich, vom Geräusche seiner Tritte aus ihren Himmeln zurück gerufen. Ein langes schwarzseidnes Gewand breitete in reichen Falten sich weit um sie her; sie war ungewöhnlich bleich, aber ein Schimmer überirdischer Seligkeit umleuchtete sie, als sie die thränenschweren Wimper hob, und, in der Dämmerung [51] ihn nicht gleich erkennend, ihm einige Schritte entgegentrat.

»Sie sind es, Hippolit?« rief sie erschrocken aus. »Was führt so schnell Sie von der Rothenburg zurück? Ist meinem Gemahl oder sonst jemanden von meinen Freunden dort ein Unglück widerfahren? Ihr zerstörtes Ansehen läßt mich alles befürchten. Um Gotteswillen was ist es? Ich kann alles eher ertragen als diese Ungewißheit, darum bitte ich, sprechen Sie.«

Hippolit, völlig unfähig, nur eine Sylbe zu erwidern, zitterte so, daß er sich an einen der den Altar umgebenden Pfeiler festhalten mußte, um nicht zu Boden zu sinken.

»Reden Sie, reden Sie,« bat Gabriele mit vor Angst fast unhörbarer Stimme und immer bleicher werdend.

»In der Rothenburg ist hoffentlich alles wohl; ich war nicht dort,« antwortete ihr endlich leise und bebend Hippolit. Dann stürzte er, von seinem Gefühl hingerissen, plötzlich vor sie hin, rief laut ihren Namen, verhüllte sein Gesicht in den Saum ihres Kleides, und das Fläschchen, [52] welches er bis dahin noch immer krampfhaft festgehalten hatte, entfiel ihm, jedoch ohne zu zerbrechen. Mit lautem schrillenden Tone rollte es über den Marmorboden hin.

Ein Schrei Gabrielens schreckte Hippoliten auf, er sah sie im Begriffe, zu sinken, und umschlang sie mit seinen Armen; sein Herz pochte hörbar, seine Augen glühten gleich verzehrenden Flammen, seine zitternden Lippen berührten ihren Schleier und die goldnen Locken, er drückte sie fest und immer fester an seine schwerathmende Brust. Sie bemerkte nichts von dem allen, ihre Blicke hafteten mit dem Ausdruck des Entsetzens auf dem blinkenden Krystalle, der zu ihren Füßen die Strahlen der Altarlichter zurückwarf.

»Allmächtiger Gott! was ist das?« rief sie mit zusammengeschlagnen Händen, indem sie sich aus Hippolits Armen wand, ohne sich dessen bewußt zu seyn. »Ich kenne dieses Fläschchen – und doch weiß ich nicht – mir ist als hätte ich einmal davon geträumt, einen fürchterlichen Traum – oder mein Vater – Heiliger Gott! mein Vater!« rief sie mit so wildem Tone, daß [53] Hippolit davon zusammenschauderte, an allen Gliedern bebend, sie los ließ, und mit gesträubtem Haar in die tiefe Dunkelheit am andern Ende der Kapelle hinstarrte, als erwarte er dort dessen düstern Schatten emporsteigen zu sehen.

»Guter Hippolit! ich habe Sie erschreckt,« sprach jetzt Gabriele, indem sie sich erholte und sichtbar nach Fassung rang, »ich wollte es nicht, aber Sie selbst sind Schuld daran.« Sie setzte sich ermattet auf die Stufen des Altars nieder, das Auge noch immer starr auf das Fläschchen geheftet. Ihn sah sie nicht an, der, verzehrendes Feuer im Blick, wie im Kampfe zwischen Himmel und Hölle, über ihr hing.

»Ich kann meine Augen nicht von dort wenden,« sprach sie ernst nachdenkend, »irgend eine entsetzliche Erinnerung knüpft sich an diesen Gegenstand, und doch schwebt mir alles so undeutlich vor, so verworren, wie aus einem frühern Daseyn in einer andern Welt. O rühren Sie es nicht an!« rief sie heftig, und stand auf und faßte Hippolits Arm, als dieser sich bückte, um das Fläschchen aufzunehmen. »Rühren Sie es [54] ja nicht an; ich bin wohl schwach und kindisch, aber mir ist, als müsse irgend ein entsetzliches Unglück hereinbrechen, wenn Sie es berühren – als wäre der Tod darin verborgen. Der Tod! – Mein Gott, mein Gott, wie ist mir denn! – Wo habe ich es früher gesehen? Wo kommt es jetzt denn her?« Bei diesen Worten hob sie den Blick zu Hippoliten auf. In der scheuen Zerstörung, die aus seinen Augen, aus seinem ganzen Wesen hervorleuchtete, schien ihr mit einemmale ein Strahl der Wahrheit aufzugehen.

»Hippolit!« rief sie, »es ist Gift und Sie brachten es hieher! Sagen Sie: nein! Sehen Sie meine Angst um Sie, um Gotteswillen sagen Sie: nein.«

Verstummend sank er vor ihr hin und verhüllte sein Gesicht.

»Um Gotteswillen sagen Sie: nein,« wiederholte sie, an allen Gliedern bebend; »diese Stunde, dieser Ort, Ihr Zurückbleiben von der Gesellschaft, der Ausdruck Ihrer ganzen Gestalt – Was ist Ihnen denn geschehen? Was konnte Sie bewegen? Reden Sie mit mir, vertrauen [55] Sie mir! O Hippolit! Das konnten Sie mir thun?« rief sie endlich und brach in Thränen aus. »Reden Sie mit mir,« bat sie, immer heftiger weinend, indem sie mit aller Kraft den Gebeugten aufzurichten strebte, ihre Thränen fielen auf ihn, sie benetzten seine Hände, sein Gesicht, indem sie ihn zum Auf stehen zu bewegen, sich vergeblich bemühte.

»O Gabriele!« rief er; »Du weinst um mich! Nach dieser Seligkeit giebts keine mehr für mich in dieser Welt. Vergieb mir, ich wollte Dich nicht betrüben. Segne mich und verlasse mich dann, laß mich zur Ruhe gelangen, ich unterliege dem schweren Kampf, aber ich habe ihn redlich gekämpft.«

Der Schleier, der bis dahin Gabrielen die Wahrheit verhüllt hatte, fiel bei diesen Worten Hippolits von ihren Augen. Sein Anblick, die tödtliche Heftigkeit in seinem Wesen, vereint mit der Erinnerung an tausend bis dahin von ihr unbeachtete Züge, traten plötzlich als unwiderrufliche Beweise seiner Leidenschaft vor ihre Seele. Sie gedachte dabei ihrer ersten Jugendzeit, sie [56] gedachte Ottokars, sie gedachte der eignen frühern Schmerzen, und fühlte unaussprechliches Mitleid für den vom Unglück nie gebeugten Jüngling, der dem wilden Kampf gegen ein Geschick zu unterliegen im Begriff war, welches das sanftre Mädchen in stiller Duldung zu tragen gewußt hatte.

»Hippolit!« sprach sie mit unendlich weicher Stimme, »Hippolit! wenn es wahr ist, wenn wirklich ein unseliges Gefühl, dem ich bis jetzt so gern allen Glauben versagte, Ihre Brust erfüllt, wie war es Ihnen möglich, mich so betrüben zu wollen? Fiel es Ihnen denn gar nicht ein, was aus mir werden solle, nach solchem Erleben?«

Ein Thränenstrom erleichterte jetzt auch Hippolits Brust; ihm war, als lüfte sich damit ein eisernes Band, das bis dahin sie zusammengepreßt hielt. Gabrielen zu antworten, vermochte er noch nicht, doch er gab nach, da sie abermals ihn aufzurichten strebte, und setzte sich, ihrem Winke gehorchend, neben sie, auf die Stufen [57] des Altars. Das Fläschchen blinkte immerfort zu ihrer beiden Füßen.

Der Heiligkeit des Orts und seinem edlen Seyn vertrauend, wendete sich Gabriele jetzt ganz zu ihm und faßte seine beiden Hände; sie blickte ihn mit dem vollen Ausdrucke des unendlichen Mitleids, der unsäglichen Besorglichkeit für ihn an, die in diesem Moment bis zum Zerspringen ihre Brust bewegten.

»Sie glauben mich zu lieben,« sprach sie. »Ach! was ist Liebe wohl anders, als der innigste Wunsch, das Geliebte zu beglücken, sey es auch auf Kosten des Theuersten, was wir in dieser Welt besitzen? Und ist denn dieses irdische Daseyn das Höchste, was wir opfern können? Ist Leben nicht oft so unendlich schwerer als der Tod?«

Nach diesen Worten erhob sie sich langsam, bückte sich und faßte das Fläschchen, obgleich sie schaudernd zusammenfuhr, indem sie es berührte. Schweigend stand sie einen Moment, das betende Auge fromm zum Altar erhoben, und es war, als ob sie hiermit wieder die Fassung errungen [58] habe, welche immer zur Zeit der Noth aus ihrem Thun hervorleuchtete. Sie wendete sich mit hohem Ernste zu Hippoliten und überreichte ihm das Fläschchen.

»Ich weiß, daß ich dieses jetzt Ihnen anvertrauen darf,« sprach sie; »ich lege das Glück, die Ruhe meiner künftigen Tage hiemit in Ihre Hände. Und nun geleiten Sie mich ins Schloß, wir sind beide erschöpft und die Natur fordert ihre Rechte. Morgen seh ich Sie wieder, morgen soll alles Verworrene sich lösen. Die Nacht ist düster und schwer, aber die kommende Sonne wird uns Kraft, Muth und Entschluß in die Seele strahlen.«

Sie ergriff seine Hand und führte ihn, wie ein Kind, durch die Kapelle zur Thüre hin, die in ihres verstorbnen Vaters Zimmer sich öffnete, und durch die sie einst, von Ernesto geleitet, zum Traualtar hinwankte. Im Zimmer selbst harrten ihrer Frau Dalling und Annette.

»Ich bringe Dir einen Kranken, den ich Deiner sorgsamsten Pflege empfehle, liebe Dalling,« [59] sprach sie mit der Geistesgegenwart, die sie in schweren Momenten sich immer zu erhalten wußte. »Mich soll Annette auf mein Zimmer begleiten, denn auch ich bin der Ruhe höchst bedürftig.« Hierauf wendete sie sich zu Hippoliten, reichte ihm nochmals die Hand, und blickte mit ihren klaren treuen Augen ihm Hoffnung und Frieden in das hart verwundete Gemüth. »Gute Nacht,« sprach sie, »gedenken Sie meiner in Ihrem Gebet, ich werde Ihrer gedenken. Ich werde den Geist meiner Mutter für Sie anrufen, der an diesem Tage, an welchem er mich einst verwaist in der Welt zurückließ, gewiß noch freundlicher als sonst mich umschwebt. Ich werde die Verklärte bitten, daß sie meinen jungen Freund wie mich, in diesen dunkeln Stunden vor nächtlichem Grauen und jedem Unheil behüte. Morgen sehen wir uns wieder.«

Und so schieden sie.


[60] Mit sich allein in der ungestörten Ruhe ihres Zimmers, fühlte Gabriele erst die zerstörende Gewalt der eben durchlebten erschütternden Stunde. In stiller Betrachtung, in frommen Gebete hatte sie ganz einsam diesen Tag zugebracht, an dem vor acht Jahren der erste Schmerz ihr kindliches Gemüth mit unaussprechlichem Jammer erfüllte. Der verklärte Geist ihrer Mutter war damals von irdischen Fesseln befreit, zu höherem Leben gerufen worden, und was auch Gabriele seitdem Trübes und Schmerzliches erfuhr, so hatte doch nichts den Eindruck dieses ersten Verlustes zu verlöschen vermocht. Immer hatte sie sich gesehnt, nur einmal noch den Sterbetag ihrer Mutter in den, durch das stille Walten der Verklärten geheiligten Räumen zu feiern, und der ihr so selten freundliche Zufall schien diesesmal den frommen Wunsch zu begünstigen. Er ließ gerade auf diesen Tag das glänzende Verlobungsfest eines jungen Paares aus der Nachbarschaft fallen, und Schloß Aarheim sowohl, als alle Schlösser in der Nähe standen während der zwei Tage verödet da, die auf Schloß Rothenburg in allen erdenklichen [61] Lustbarkeiten dem Brautpaar zu Ehren zugebracht wurden.

Gabriele gehörte nicht zu den Frauen, die mit ihren Empfindungen vor den Augen der Welt Prunk zu treiben suchen. Still und geheim mochte sie das, was ihr heilig war, vor jedem kalten fremden Auge gern bewahren. Daher hatte sie gegen niemanden geäußert, welche ernste Feier an diesem Tage sie von dem Verlobungsfeste entfernt halten würde. Unter dem Vorwande einer leichten Unpäßlichkeit, ward es ihr im letzten Augenblicke nicht schwer bei Herrn von Aarheim ihr Zuhausebleiben zu entschuldigen. Von den übrigen der Gesellschaft ward sie im geräuschvollen Moment der Abreise, wo eine große Anzahl Wagen und Pferde den Hof anfüllten, nicht vermißt. Denn jeder, der sie in seiner Nähe nicht erblickte, vermuthete sie bei den Andern. Auch den zurückgelassenen Bedienten blieb die Anwesenheit ihrer Herrin verborgen, denn Frau Dalling hatte sie, um die ungestörte Einsamkeit Gabrielens zu sichern, alle aus dem Schloß zu entfernen gewußt. Und so herrschte denn an diesem [62] Tage die feierliche Stille einer Karthause, wo sonst alles vom lebendigsten Treiben der Geselligkeit wiederhallte.

Ihrerseits hatte Gabriele, mit sich und ihrem Gemüth beschäftigt, eben so wenig daran gezweifelt, daß Hippolit mit dem Strome der Gesellschaft nach der Rothenburg gezogen sey, als sie am vergangnen Abend sein Wegbleiben von der Gesellschaft bemerkt hatte. Sie war zu gewohnt, ihn völlig als ihren Hausgenossen zu betrachten, um bei solchen Gelegenheiten mit besondrer Rücksicht sich seiner zu erinnern, und da an diesem Abend die ungewöhnlich zahlreichen Gäste an mehreren kleinen Tischen soupirten, so konnte es ihr um so weniger auffallen, daß sie in ihrer Nähe seiner nicht gewahr ward.

Um so mehr war es bewundernswerth, daß Gabriele das Schrecken, welches sein Erscheinen in der Kapelle ihr erregen mußte, so ertragen konnte, ohne auch nur für einen Augenblick ihm zu erliegen, besonders da sie sich geistig und körperlich von der ernsten Feier des Tages höchst angegriffen fühlte. Aus dem Sterbezimmer ihrer [63] Mutter, wo sie den ganzen Tag zugebracht hatte. war sie erst gegen Abend, begleitet von der treuen Pflegerin ihrer Kindheit, zu der unter der Kapelle befindlichen Familiengruft herabgestiegen, um an den Särgen ihrer Aeltern zu beten, die sich hier der langen Reihe derer ihrer Ahnherren anschlossen. Den Rückweg nahm sie durch die Kapelle, dort wollte sie noch in stiller Andacht vor dem Altare harren, bis die Sonne, welche diesem thränenvollen und hoffnungsseligen Tage geleuchtet hatte, hinter den Felsen sich neigte; und gerade in dieser Stunde war es, wo Hippolits düstere Erscheinung sie so gewaltsam zwang, sich der Erde und dem Leben auf ihr wieder zuzuwenden.

Mitternacht war längst vorüber und noch immer zitterten Schrecken und Schmerz in den Nerven der armen Gabriele. Vergebens bemühte sie sich, auf das morgende entscheidende Gespräch mit Hippoliten sich vorzubereiten; es war ihr unmöglich, irgend etwas darüber zu beschliessen.

»Wahr und treu und schonend will ich seyn, und das Uebrige Dem überlassen, der heut mich [64] würdigte, wie durch ein Wunder Hippoliten als Retterin vom Untergange zu erscheinen,« sprach sie endlich sich zum Troste.

Immer mußte sie indessen des Fläschchens noch gedenken und wohin sie auch die Augen wenden mochte, glaubte sie es sich entgegen blinken zu sehen. Ihr schauderte davor, und doch konnte sie es nicht lassen, mit Nachdenken und Forschen sich zu quälen: wo sie es früher gesehen haben könne? Glücklicherweise ohne Erfolg. Denn hätte sie sich darauf besonnen, daß gerade ein solches Fläschchen in der Todesstunde ihres Vaters an einer goldnen Kette von sei nem Nacken geöffnet herabhing, so wäre ihr auch mit einemmale die Art seines Todes klar geworden, und mit dieser Klarheit ein ewig nagender Schmerz in ihr kindlich frommes Gemüth gedrungen. Vielleicht hatte das Bild dieses Fläschchens sich ihr in jenem Moment eingeprägt, wo sie von Schmerz, Schrecken und Angst; auch wohl von dem durch das ganze Zimmer sich verbreitenden betäubenden Duft des Kirschlorbeers ergriffen, zu den Füssen ihres sterbenden Vaters ohnmächtig hinsank. Vielleicht [65] war auch die Ahnung einer Vergiftung damals in ihrer Seele entstanden, war in bewußtlosem Zustande, in welchem sie sich während ihrer, gleich darauf folgenden langen Krankheit befand, wieder verloschen, und jetzt durch den Anblick des Fläschchens aufs neue in ihr rege geworden. Vielleicht aber auch hatte der verklärte Geist, dessen Nähe sie den ganzen Tag über erfleht, und zu empfinden geglaubt, diese Ahnung ihr in die Seele gegeben, um Hippoliten zu retten, und ihr das Glück zu gewähren, ihn gerettet zu haben. Wer vermag es, hier zu entscheiden? und wer, der es könnte, möchte hart genug seyn, diesen frommen Glauben, den Gabriele endlich freudig ergriff, als thörichten Wahn zu verdammen oder zu verspotten?


Hippolits Erwachen aus schwerem betäubendem Schlummer, glich am andern Morgen dem Erwachen aus Grabesdunkel in einer andern Welt. [66] Die ganze Vergangenheit war ihm entschwunden und nur in ängstlichen Traumbildern schwebten die zuletzt verlebten Stunden vor seiner Seele. Als er allmählig zur vollen Besinnung gelangte, wünschte er nun wieder einzuschlafen, um von neuem alles zu vergessen. Mit unendlichem Grausen ergriff es ihn, wie alles jetzt so ganz anders seyn könne, hätte nicht Gabriele ihn wunderbar vor sich selbst errettet. Er bebte mit Entsetzen vor dem geheimnißreichen Schleier der Ewigkeit zurück, den er gestern im verzweiflungsvollem Erdreisten mit kecker Hand zu lüften im Begriffe stand. Dann wendete er den Blick zur Erde. Er sah sich selbst bleich, regungslos erkaltet, entstellt vielleicht zum Unkenntlichen, ein Grausen- nicht Wehmuth erregender Todter, von dem Layen und Geistliche sich fromm bekreuzend den Blick abwandten. Fern, Allen zum Graus in ungeweihte Erde gebettet, hob kein bethräntes Auge von dem niedrigen Hügel sich mit tröstender Hoffnung gen Himmel. Freunde und Verwandte konnten nur den Wunsch hegen, ihn sobald als möglich der Vergessenheit zu übergeben; darum durfte kein [67] Stein mit seinem Namen den Ort bezeichnen, wo man ihn hinlegte.

Hippolit hatte den Tod nie gescheut, oft in jugendlichem Unmuth ihn herbei gerufen, wenn das Leben sich in frühern Zeiten seinen Wünschen nicht fügen wollte. Späterhin war er ihm oft dreist entgegen gegangen, wenn er aus keckem Uebermuth, oder um das Lächeln einer schönen Frau, oder wegen ein paar unbedacht hingeworfener Worte seiner Jugendgesellen das Leben wagte, als wäre es eine Seifenblase. Doch vor der abschreckenden Gestalt, in welcher der Todjetzt seiner Fantasie vorschwebte, konnte er nur schaudernd sich abwenden. Das Blinken des krystallnen Fläschchens, das noch auf seinem Tische lag, verwundete ihn mit stechendem Schmerz, und er eilte, es wieder tief und sorgsam zu bewahren, um nur das Entsetzliche nicht mehr zu sehen. Dann bereitete er sich zu der gewünschten und gefürchteten Zusammenkunft, die ihm in den nächsten Morgenstunden bevorstand. Es gelang ihm, eine ruhigere Stimmung zu erringen, und nun begann er, seiner gestrigen Verzweiflung [68] sich herzlich zu schämen. Wie damals, als er zwischen den Ruinen der Brandstätte erwacht war, schalt er auch jetzt sich unmännlich feig, und fühlte mit tiefer Reue, wie grausam und unwürdig er im Begriff gewesen war, auch Gabrielens Frieden auf immer zu zerstören, den geringen Antheil häuslichen Glücks, der ihr ward, zu vernichten, und vielleicht selbst ihre Ehre vor der Welt unheilbar zu verwunden.

Endlich ward er zu Gabrielen gerufen. Er wagte es nicht, die Augen zu ihr zu erheben, bis er ihre sanfte rührende Stimme hörte, mit der sie freundlich ihn begrüßte, nach seinem körperlichen Befinden sich erkundigte. Doch als er sie anblickte, wär' er beinah in ehrfurchtsvoller Anbetung vor ihr hingesunken. So glaubte er noch nie sie gesehen zu haben. Hoch und hehr, bei aller gewohnten Einfachheit, stand sie vor ihm wie eine Königin; ihr Auge stralte in ungewohntem Glanz, ihre Wange war höher geröthet und alle Züge ihres schönen Gesichts trugen den Ausdruck festen, wenn gleich durch innre Güte gemilderten Ernstes. Hippolit fühlte in diesem [69] Moment alle seine Wünsche in Demuth und Ergebung untergehen. Mit einer anmuthigen, wenn gleich etwas feierlichen Bewegung der Hand wies sie ihm seinen Platz ihr gegenüber an, einige Minuten vergingen, und keines von ihnen sprach ein Wort; doch Gabrielens Fassung überwand gar bald dieses verlegne Verstummen.

»Ich habe in vergangner Nacht recht viel, recht besorgt um Sie, Ihrer gedacht, lieber Hippolit!« sprach sie zu ihm. »Ich möchte so gern dazu beitragen, Sie in ungetrübtem Jugendmuthe Ihrem eignen klaren Bewußtseyn wieder zu geben. Dann wäre alles gut. Denn ein düstrer unverstandner Wahn hat wunderlich Sie betäubt. Sie verkennen sich, die Welt und das Leben. Es wäre wohl die Pflicht der ältern erfahrneren Freundin, Ihnen wieder zurecht zu helfen, wüßte ich nur, wo zu beginnen!«

»O Gabriele! ich bin Ihrer Sorge nicht werth. Gefühle, Leidenschaft, Erinnerungen, deren Vorstellungen Ihnen ewig fremd bleiben müssen, nagen an mir, reissen mich hin zu wildem verworrenem [70] Thun; geben Sie mich auf! mir ist nicht zu helfen;« erwiderte schmerzlich Hippolit.

»Wie Sie mich betrüben!« rief Gabriele; »nach dem gestrigen Abend« –

»Erwähnen Sie ihn nicht, aus Mitleid nicht, ich flehe darum,« unterbrach Hippolit sie in heftiger Bewegung. »Die Hälfte meines Lebens gäbe ich willig, um ihn zurückzukaufen. Wüßten Sie, welche wunderbare Verknüpfung unendlicher Zufälligkeiten bis zu diesem Wahnsinn mich trieb! Doch warum mit der trüben Erzählung Sie behelligen? Vergeben Sie dem Unglücklichen; wenn es möglich ist, so vergessen Sie. Fürchten Sie nicht Aehnliches von mir, so lange ich meiner Besinnung mächtig bleibe. Ich werde harren, ich brauche dem Untergange nicht zu rufen, ich weiß, er wird mich früh genug ereilen.«

»An diesem Morgen des neugeschenkten Lebens hoffte ich Sie anders gestimmt zu finden. Doch gebe ich darum die Hoffnung noch nicht auf, Sie besänftigend zum Bessern zu leiten,« erwiderte Gabriele. »Geduld ist die Pflicht der Frauen und der Freunde, ich will gern sie üben, aber [71] üben Sie sie auch, lieber Hippolit. Hören Sie mich an, und ohne Widerstreben, ohne eigenwillig Ihr Gemüth gegen meine Stimme zu verhärten.«

Hippolit unterbrach hier zwar Gabrielen mit lauten leidenschaftlichen Ausrufungen, doch sie achtete dessen nicht. Ein halb bittender, halb befehlender Blick machte ihn wieder verstummen, und sie fuhr fort zu reden.

»In meiner Sorge um Sie, in meinem Gebet um Erleuchtung, wie Ihnen zu helfen wäre, kam mir plötzlich der Gedanke, Ihnen mit meiner Erfahrung zu nützen. Die Klippen, die ein Freund vor uns bezeichnete, sind leicht vermieden, und der Sieg, den Andre vor unsern Augen errungen, scheint uns nicht mehr unmöglich. Darum will ich allen Bedenklichkeiten entsagen, ich will Ihnen vertrauen was ich noch keinem sterblichen Wesen, so in Worte gefaßt, bekannte. Ich gebe Ihnen das theuerste Geheimniß meines Lebens in der Geschichte meines eignen Herzens. Sie sehen, ich achte Sie noch, Sie sind mir noch immer werth, was ich kann, gebe ich Ihnen, [72] Hippolit! und mehr dürfen und werden Sie nicht wünschen,« setzte sie, ihm freundlich die Hand bietend, hinzu.

Mit hohem Erröthen begann sie nun von jener Zeit zu sprechen, da sie, früh verwaist, in eine ihr ganz fremde Welt versetzt, mit beklommnen Herzen, vereinzelt dastand. Doch Blick und Ton wurden immer lebendiger, als sie deren erwähnte, welche ihr so freundlich entgegen traten, Ernestos, der Frau von Willnangen und ihrer Auguste. Hippolit, ihr gegenübersitzend, blickte mit stummen Entzücken in ihr seelenvolles Gesicht, in ihre klaren Augen, die, während sie sprach, oft mit dem Ausdrucke herzlichen Wohlwollens auf ihm ruhten.

»Ohne Ansprüche, geliebt zu werden, betrat ich die Welt,« sprach Gabriele, »doch bereit, mit inniger Liebe zu umfassen, was Liebenswerthes und Edles mir nahen werde. Denn ächte edle Liebe ist die Blüthe des Lebens; sie bedarf keiner Gegenliebe um zu beglücken, sie ist sich selbst ihr eigner hoher Lohn. So hatte meine Mutter mich gelehrt.«

[73] Dann erwähnte Gabriele mit glänzenden Augen Ottokars erstes Erscheinen. Ohne ihn zu nennen, oder sonst auf kenntliche Weise zu bezeichnen, beschrieb sie ihn wie er ihr damals erschienen war und noch immer in ihrer Erinnerung lebte. Mit hinreissender Einfachheit und jungfräulichem Erröthen bekannte sie, wie sie zuerst in Demuth neben ihm gestanden hatte, und all ihr Wünschen einzig darauf hinausgegangen war, nur einmal so wie die Andern mit ihm sprechen zu können; wie sie zuletzt in ihrem Gemüth doch zu der Ueberzeugung gelangt wäre, daß sie allein zu ihm gehöre, daß nur sie ihn ganz verstehe, obgleich er nie im Gespräch sich an sie gewendet habe, und wie dieß völlig von ihm Uebersehenwerden in verborgnen, schweigenden Nächten oft schmerzlich von ihr beweint worden sey. Dann kam sie zur Beschreibung jener einzigen Stunde, die in aller Seligkeit des Himmels und allem herzzerreissenden Schmerz des Erdenlebens beide auf ewig vereinte, indem sie für das ganze Erdenleben sie trennte.

[74] »Und so ist es noch jetzt;« setzte Gabriele nach einem kurzen deutungsvollen Schweigen hinzu. »Sieben Jahre sind seit jener Stunde vorübergezogen. Wir sind für dieses Leben so ganz von einander geschieden, daß in all dieser langen Zeit kein Gruß, kein Blättchen, von uns mit unserm Namen bezeichnet, über die Kluft hinschwebte, die das Geschick und unser eignes Gefühl des Rechten zwischen uns zog. Wir sind mit unserm Loose zufrieden. Der irdische Schmerz ist niedergekämpft und nur die reine Freude, einander gefunden zu haben, ist uns geblieben. Bei jeder Erdennoth, jedem Zweifel, der im Gewühle des Lebens sich an mich drängt, hebt und hält mich das Bewußtseyn, daß er lebt, daß er kein Gebilde meiner Fantasie ist. Und auch ich – ich bin dessen überzeugt, – auch ich erscheine ihm zum Trost, wenn er es bedarf. Weiter haben wir für dieses Leben keine Wünsche mehr, sogar der, einander hier noch einmal wieder zu sehen, verstummte allmählig. Doch will ich meinem jungen Freunde nicht bergen, daß die Ruhe, welche jetzt mich beseligt, nur im schweren [75] Kampfe errungen ward. Hippolit! auch Sie sind zu diesem Kampfe berufen und werden siegen.«

»Nimmermehr!« rief Hippolit in leidenschaftlichem Schmerz. »Wie könnte ich je dahin gelangen, wo Gabriele in der Glorie einer Heiligen strahlt! Seliger Engel! warum bliebst du nicht in deinen Himmeln? Warum mußtest du in dieser entzückenden Gestalt herabschweben, uns zu verderben?«

»Hippolit! ich wiederhole es, Sie betrüben mich mit diesem wilden leidenschaftlichen Wesen; Sie ängstigen mich, und es ist wohl besser, ich ende dieses Gespräch, um schriftlich einen vielleicht günstigern Moment zu treffen,« sprach Gabriele sehr ernst, als wolle sie aufstehen und das Zimmer verlassen, doch Hippolits Verzeihung erflehender Blick und sein sichtbares Bestreben, sich zu mäßigen, bewogen sie, noch zu bleiben.

»Verzeihen Sie mir die Behauptung,« sprach endlich Hippolit, »Gabriele, schönes engelreines Wesen! was Sie Liebe nennen, ist es nicht. So lieben nicht sterbliche Menschen; wie Sie [76] jenen namenlosen Glücklichen lieben, so lieben selige Geister« –

»So lieben Frauen,« unterbrach ihn Gabriele, und ihrem Augen leuchteten in verdoppeltem Glanze.

»Wie gern stimmte ich in kindlicher Demuth diesem Ausspruche bei,« rief Hippolit und wagte erröthend kaum, die Augen aufzuschlagen, aber ich darf gegen Sie nicht falsch seyn,« fuhr er fort. »Ich muß es bekennen, ein feindliches Geschick hat schon früh mich mit der Kehrseite des Lebens bekannt gemacht. Aus Erfahrung, deren ich jetzt nur in tiefer Beschämung gedenke, weiß ich, wie einsam Gabriele auf der Höhe steht, die über ihr Geschlecht sie erhebt, wie ohne alle Ahnung dessen« –

Ein zürnender Ausruf Gabrielens unterbrach ihn. »Fürchten Sie nichts!« fuhr er bittend fort; »kein kühn ausgesprochnes Wort soll Sie beleidigen; möge der Himmel mich noch elender machen, als ich es bin, wenn je die hohe Ehrfurcht mich verläßt, die in Ihrer Nähe mich immer ergreift. Doch wenn Sie je – wenn jemals – ach! wie fange ich es an, um Ihnen gegenüber, [77] das was ich denke, was ich fühle, in Worte zu fassen? Wie soll ich Sie erbitten, es nicht Lästerung zu nennen, wenn ich bekenne, daß ich jetzt, von Ihrem holden Vertrauen beruhigt, ihn nicht mehr beneide, dessen nie zuvor geahnetes Daseyn schon gestern die Bosheit Ihrer Feindin und die unbedachte Vertraulichkeit Ihres Freundes mir verriethen. In nie gefühlten Qualen der Eifersucht jagte es mich in Wahnsinn und Tod.«

»Sie sollen ihn auch nicht beneiden, Sie sollen neidlos ihm nacheifern, Sie sind es werth, neben ihm zu stehen,« sprach Gabriele mit begütigendem Tone, doch Hippolit fuhr fort, wie nachdenkend vor sich hin, weiter zu sprechen.

»Dieß ruhige Gefühl wäre Liebe? Nein, ich wiederhole es, Gabriele hat nie die Liebe gekannt. O – kennten Sie dieses verzehrende Feuer, dieß Wünschen ohne Namen und Ziel, diese Unmöglichkeit, anders wo zu athmen, als in der Nähe des Geliebten! – O Gabriele, was soll aus mir werden? Was soll mich schützen vor Wahnsinn und Verzweiflung?« rief er, von seinem [78] Schmerz aufs neue überwältigt; »was kann mich retten?«

»Was auch mich und meinen Freund vor Untergang und Unwürdigkeit schützte,« erwiderte Gabriele fest und mild. Sie faßte die Hand, mit welcher er im wildem Unmuthe sein Gesicht verhüllte. »Blicken Sie mich an,« sprach sie; »glauben Sie, daß diese Augen nie weinten? Daß nicht auch meine Brust in schlaflosen Nächten nach Trost, nach Hoffnung, nach Beruhigung schmerzlich rang? daß nicht auch er? – o Hippolit, ich fordre ja nichts Unmögliches, nur was ich und er auch thaten und trugen.«

»Entfernung ist Tod!« rief Hippolit, alle Mäßigung vergessend, im wilden Schmerze.

»Und Sie glauben mich zu lieben? Kennt Liebe denn Trennung? Ist sie nicht ewige Nähe? Giebt es für sie Raum oder Zeit?« erwiderte ihm Gabriele.

Lange kämpfte sie mit ihm, erschöpfte Gründe und Bitten, um ihn zu einem Schritt zu bewegen, den sie im Fall seines unüberwindlichen Widerstandes ent schlossen war, selbst zu thun. [79] Mit der Ueberzeugung von Hippolits wirklich leidenschaftlicher Liebe war ihr auch die Nothwendigkeit klar geworden, ihn aus ihrer Nähe zu entfernen. Sie fühlte unendliches Mitleid mit ihm in ihrem Herzen, es betrübte sie unsäglich, ihn wieder ganz allein seiner leidenschaftlichen Natur überlassen zu müssen, ihn Rathund Hülflos in die ihm so gefährliche Welt hinauszustoßen. Auch dachte sie nicht ohne ein sehr schmerzliches Gefühl für sich selbst an die Trennung von ihm; sie war seiner Gegenwart so gewohnt worden, daß sie kaum wußte, wie sie es anfangen solle, um sich von ihm loszureißen. Der schönste Schmuck ihres jetzigen Lebens ging ihr mit ihm verloren, das konnte sie sich nicht verhehlen, und gestand es auch ihm, offen und wahr. Ihr Mitgefühl milderte die Wildheit seines Schmerzes und machte ihn fähig, Bitten und Gründen seine Aufmerksamkeit zu schenken. Mit der größten Zartheit lenkte Gabriele auch seine Blicke auf ihre eigne häusliche Lage, die er nur zu genau kannte, auf die Gefahr, in welche er in unbedachten Augenblicken sie stürzen [80] könnte, dieses Schattenbild von häuslicher Ruhe zu verlieren, das sie bisher mühsam erkämpft, mit unzähligen Opfern sich erhalten hatte. Selbst auf das Urtheil der Welt, das man ehren muß, ohne es achten zu können, machte sie in leisen Andeutungen ihn aufmerksam. Hippolit war es gewohnt, sie beinahe ohne Worte zu verstehen. Er konnte sich die Wahrheit dessen nicht verhehlen, was sie ihn mehr errathen ließ, als daß sie es ausgesprochen hätte, und der Gedanke, ihrer Ruhe dieß große Opfer zu bringen, ermuthigte ihn. Ihre bittenden Blicke besiegten ihn mehr als ihre Gründe; der gebietenden Herrin hätte er vielleicht noch lange Widerstand geleistet, der mit ihm fühlenden Freundin mußte er nachgeben. Und so gelangte er denn endlich zu dem Entschlusse, zuerst in Ungarn Freunde und Verwandte zu besuchen, seine Güter zu bereisen und dann nach Italien zu gehen. In Jahresfrist sollte er selbst entscheiden, ob er dann siegreich genug aus dem schweren Kampfe mit seinem Herzen hervorgegangen sey, um zu verdienen, wieder in Gabrielens Nähe zu leben.

[81] »Was ich mir und meinem fernen Freunde versagen mußte, darf ich Ihnen erlauben,« sprach sie zu ihm. »Ich bitte Sie sogar, mir wöchentlich zu schreiben. Ich will an allem theilnehmen, was Ihnen begegnet, und auch Sie sollen von mir zuweilen Kunde erhalten, obgleich ich nicht versprechen kann, jeden Ihrer Briefe regelmäßig zu beantworten. Der Reisende hat immer leichter schreiben als der, welcher zu Hause bleibt, doch will ich gern freundlich und rathend Ihnen auch aus der Ferne die Hand reichen. Uebrigens vertraue ich Ihrem eignen Gefühle, ich bin gewiß, Sie werden nur schreiben was ich lesen darf; Sie werden nie mich zwingen, einen Ihrer Briefe ganz unbeantwortet zu lassen, oder wohl gar alle zuletzt uneröffnet zurücksenden zu müssen. Hippolit wird so das Gemüth der Frau nicht verwunden, die ihn so gern und freudig ihren Edelknaben nannte,« setzte Gabriele, lächelnd unter Thränen, hinzu, indem sie ihm freundlich die Hand reichte, um so den vielleicht zu streng erscheinenden Ernst zu mildern, mit welchem sie diesen Ausspruch that.

[82] Hippolits endlicher Abschied von der hochgeliebten Frau duldet keine Beschreibung. Schon in der nächsten Stunde saß er auf seinem prächtigen, stolzen Araber, denn er wollte, nach seinen eignen und Gabrielens Wünschen, die noch am nehmlichen Abend von der Rothenburg zurückkehrende Gesellschaft vermeiden. Als er über den Schloßhof sprengte, sah er noch einmal zu Gabrielens Fenster auf; sie stand da und winkte ihm das letzte Lebewohl zu. Sein Herz zuckte, als wolle es brechen, da er sie erblickte. Er vermochte es nicht, ihren Gruß zu erwidern, sondern spornte sein edles Roß so, daß es hoch auf sich bäumte und dann, wie vom Sturmwind getrieben, mit ihm zum Schloßthor hinaus den steilen Felsweg hinunterflog. Die ihm am Thore nachsehenden Bedienten schrien alle vor Schrecken darüber laut auf; Gabriele lauschte bebend am Fenster, bis die Ruhe, mit welcher sie Alle sich dem Schlosse zuwenden sah, sie überzeugte, daß jede Gefahr vorüber sey und kein Unfall ihren jungen Freund betroffen habe.

Dann wandte sie sich langsam vom Fenster [83] ab, in stille Trauer und in wehmüthigem Andenken versunken.


Sowohl Gabriele als Hippolit waren gleich bei der Ankunft auf der Rothenburg von der Gesellschaft vermißt worden, und obgleich Herr von Aarheim seine Gemahlin durch die ihr plötzlich zugestoßne Unpäßlichkeit sehr umständlich zu entschuldigen suchte, so fehlte es dennoch nicht an mannigfaltigen Muthmaßungen über den sonderbaren Zufall, der zugleich auch Hippolits Abwesenheit veranlaßt habe. Eugenia, mehr vielleicht aus Gewohnheit als aus böser Absicht, trug redlich dazu bei, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft so lange als möglich mit diesem Problem zu beschäftigen; Moritz selbst ward zuletzt dadurch angeregt, doch da niemand in seinem Beiseyn ganz verständlich sich auszudrücken wagte, so begriff er nicht recht, mas man eigentlich meinen mochte, und die ganze Geschichte machte keinen großen Eindruck auf ihn. Anders [84] wurde es als er, wenig Stunden nach Hippolits Abreise, wieder zu Hause angelangt war. Hier vernahm er, daß sein junger Freund, durch dringende Ursachen bestimmt, plötzlich nach Ungarn gereist sey, ohne sich vorher bei ihm zu beurlauben. Das halbverstandne Geflüster und Gezische auf der Rothenburg kam ihm wieder in den Sinn, und brachte ihn jetzt auf den albernen Gedanken, seine Gemahlin könne aus wunderlicher Eifersucht den Augenblick benutzt haben, um den einzigen Menschen, dessen Gesellschaft ihn ergötzte, von ihm zu entfernen. So lächerlich diese Vermuthung auch war, so ermangelte er doch nicht, Gabrielen deshalb anzuklagen, und ihr dadurch manche böse Stunde zu machen.

Der Verlust Hippolits und die Verpflichtung, die Fräulein Schöneck wieder in die Arme ihrer Mutter zu geleiten, mußten ihm jetzt zum Vorwande dienen, die Rückreise nach der Residenz zu beschleunigen.

Ida und Bella gingen mit eben der fröhlichen Erwartung dem Geräusch der Stadt entgegen, [85] mit der sie auf die romantische Einsamkeit der alten Burg sich gefreuet hatten. Mit nassem Auge und manchem unterdrückten Seufzer trennte sich Gabriele von dem geliebten Aufenthalte; Moritz hingegen vermaaß sich hoch und theuer in seinem Herzen, die Schwelle des alten verwünschten Schlosses nie wieder zu betreten; er fand jedoch für gut, diesen Vorsatz nicht laut werden zu lassen.

Mit einem sehr unbehaglichen Gefühle, zu welchem die jetzige Gestaltung ihres häuslichen Verhältnisses nicht wenig beitragen mochte, betrat Gabriele in der Residenz abermals die gewohnte Bahn im geselligen Leben der großen Welt. Nie war ihr diese freudenarmer und uninteressanter erschienen, und dennoch durfte sie ihr, um ihres Gemahls willen, nicht entsagen. Letzterer ward mit jedem Tage mürrischer und unleidlicher. Gegen die Freude an Gabrielens glänzender Erscheinung in der Welt, hatte die Zeit ihn abgestumpft; er bildete sich nicht mehr ein, die Bewunderung, welche sie überall erregte, mit ihr zu theilen, und sein ewiges Ausposaunen [86] ihrer Vortrefflichkeit quälte sie nicht, wie wohl ehemals. Dafür machte ihn aber die fürchterlichste Langeweile zum unerträglichsten Gesellschafter, bis er durch irgend eine schnell aufgefaßte Lieblingsidee wieder angeregt und in Thätigkeit gesetzt ward. Doch als er diese endlich am Spieltisch gefunden hatte, gewährte sie ihm nur neue Anreizung zum ärgerlichsten Mißmuthe. Sein Verlust an demselben konnte bei seinem großen Vermögen zwar nicht in Anschlag gebracht werden, aber leider bildete er sich ein, das Geheimniß erfunden zu haben, den Gang des Spiels im Voraus aus mancherlei Nebenumständen berechnen zu können, und das öftere Mißlingen seiner mühsamen Kalkulazionen versetzte ihn beinahe an jedem Abende in den allerwiderwärtigsten Humor.

Der Briefwechsel mit ihren entfernten Freunden gewährte Gabrielen wenig Erheiterung ihres jetzigen trüben Lebens. Ernesto ließ aus Italien selten von sich hören, und Frau von Willnangen mit ihrer Auguste waren selbst des Trostes bedürftig. [87] Denn der General fand für gut, Adelberten noch immer entfernt zu halten, und beide Frauen führten auf dem Lande, in Sehnsucht und banger Erwartung, ein sehr einförmiges Leben. Gabriele hatte ihrer Freundin die Ereignisse nicht mitgetheilt, welche Hippolits Entfernung aus ihrer Nähe herbeiführten, denn sie achtete sich nicht berechtigt, das Geheimniß ihres Freundes ohne Noth zu verrathen. Indessen hatte sich doch eine Art Zwang in den Briefwechsel der Freundinnen durch dieses Verschweigen eingeschlichen, den beide fühlten, ohne sich ihn zu gestehen. Stille Trauer über den Jüngling, den sie gezwungen hinaus in die Verbannung gestoßen, waltete noch immer in Gabrielens Gemüth; überall vermißte sie ihn, und seine Briefe, eigentlich das Tagebuch seines Lebens, waren fast die einzige Unterbrechung ihres bis zum Ueberdruß einförmigen Umhertreibens mitten im Geräusche.


[88] »Ich muß fort,« schrieb Hippolit Gabrielen, wenige Wochen nach seiner Ankunft im Vaterlande, »ich muß fort, ich halte es so nicht länger aus. Ruhe zu hoffen, wäre lächerlich; so will ich denn Betäubung suchen. Betäubung andrer Art als mir die glänzenden Feste, die großen Jagdparthien geben, welche meine Verwandten mir zu Ehren hier anstellen. Wenn sich Abends, von unzähligen Fackeln beleuchtet, unsere oft aus zwanzig und mehr Wagen bestehenden Karavanen von dem Schloße eines Verwandten, wo wir einige Tage oder Wochen lang hauseten, zu dem Gute eines andern begeben, wo wir uns wieder im nehmlichen Kreise von Lustbarkeiten umherzutreiben gedenken, dann kommt mir unser Zug, dem die Landleute bewundernd nachstaunen, oft wie ein prächtiges Leichenbegängniß vor. Ich hörte einmal ein altes einfaches Lied singen, sein Anfang war:«


»Mein Herz, das ist begraben,
Tief und gar weit von hier«

Mein Gedächtniß hat von dem Liede nichts aufbewahrt als diese wenigen Worte, aber ich kann [89] sie nicht wieder los werden. Oft möchte ich meine Verwunderung laut darüber ausdrücken, daß man so viel Umstände mit mir macht, um mich zu ergötzen, aber die guten Leute wissen nicht, daß es eben sowohl Scheinlebende als Scheintodte gibt. Sie ahnen nicht, daß ich mit kalter, hohler Brust unter ihnen herumwandle, weil ich ohngefähr eben so aussehe wie alle andere Menschen, aber – ›Mein Herz, das ist begraben tief und gar weit von hier!‹

Eine freudige Regung, einen Strahl jugendlichen Lebens, hat mir denn doch das Wiedersehen, oder ich sollte lieber sagen, das Widerfinden, eines ehemaligen Jugendgefährten hier gewährt. Auf einer jener glänzenden Familienreisen führte unser Weg dicht neben dem Schlosse meines Oheims vorbei, dem ich als ein Unmündiger vom sterbenden Vater anvertraut ward, und der mich zum Lohne dieses Vertrauens für einen der Familie aufgedrungnen Bastard erklären lassen wollte, um mein reiches Erbtheil seinem eignen Sohne zuzuwenden. Seit einem halben Jahre ist der Oheim todt, aber ich mochte selbst den [90] Ort nicht wiedersehen, wo er mit heuchlerischer Freundlichkeit mich umfing, und mich Sohn nannte, während er im Herzen den Plan, mich zu verderben, umhertrug.

Sein Sohn, mein ehemaliger Spielgefährte, bewohnt jetzt das Gut, ich schlug indessen das Frühstück aus, das uns bei ihm erwartete, und bestand darauf, weiter zu fahren. Ich mochte die Brut des heuchlerischen Alten nicht sehen, die durch meinen Raub hatte bereichert werden sollen, und äußerte dieses ganz unverholen. Heute früh stand Vetter Max vor mir in meinem eignen Zimmer, ehe ich mich dessen versah, und bot mir die Hand zur Versöhnung. Ein einziger Blick in sein ehrliches, treuherziges Gesicht entwaffnete mich, und nun höre und sehe ich zu meiner unsäglichen Beschämung, was Max alles für mich gethan hat. Selbst mit Vernachlässigung seiner eignen Geschäfte, hat er Tag und Nacht nur dahin getrachtet, die Ordnung auf meinen Gütern wieder herzustellen; und daß ich, unerachtet der sinnlosen Verschwendung meiner [91] frühern Jugend, dennoch jetzt weit reicher bin als ich es je zu seyn glaubte, verdanke ich einzig ihm.

›Schweigt davon nur ganz stille,‹ antwortete mir der gute Max, als ich meinem Danke Worte geben wollte, ›ich that wohl etwas um Euch, mehr aber noch um des Vaters willen. Ich meine, wenn ich jetzt gut zu machen versuche, was er schlecht machen wollte, so soll das seiner armen Seele vielleicht besser frommen als etliche Dutzend Seelenmessen, die wir indessen auch nicht versäumen. Euch aber, Vetter! wenn ich Euch wirklich einen Gefallen that, bitte ich übrigens, da Ihr doch meines Vaters nicht im Guten gedenken könnt, so thut mir die Liebe, und denkt gar nicht an ihn. Er war doch mein Vater und hatte mich lieb, zu lieb; und das mag leicht sein größter Fehler gewesen seyn.‹

Morgen soll ich ganz allein mit Max herüber reiten, seine Frau und sein Kind zu sehen, er ist einige Jahre älter als ich und schon Hausvater.«


[92] Am Abend des folgenden Tages.


»Maxens Kind heißt Gabriele! Gabriele, rief ich, Gabriele! und riß das kleine zweijährige Mädchen vom Arme der Mutter, so wie sie es mir genannt hatte. Ich konnte es nicht lassen, ich bedeckte es mit tausend glühenden Küssen, es streckte die Aermchen nach mir aus, es lächelte mich an, es wollte mich liebkosen und ich – Nein ich darf in diesem Momente nicht weiter schreiben – Gabriele! Gabriele! welch ein Zauber liegt in diesem Namen! Er ruft den Himmel und die Hölle in meinem Busen wach.«


Einige Wochen später geschrieben.


»Max ruhte nicht, ich mußte ihm hieher folgen, zum uralten hochgethürmten Sitze meiner Ahnen, am Fuße der Karpathen. Er meinte: wo ich eigentlich zu Hause sey und hingehöre, müsse doch endlich jener Trübsinn weichen, der in meiner Nähe sogar ihn, den immer Lebensfrohen, wie ein böser Geist ergreift, und ihn oft so seltsam beängstigt, daß er das Vorgefühl einer nahen schweren Krankheit zu empfinden glaubt. [93] Und dennoch will der gute treue Freund nicht von mir lassen; mag er denn immerhin meinen einstweiligen Aufenthalt wählen; ich bin froh, dieser Mühe überhoben zu seyn, ich gebe mich seiner Leitung hin, und um so lieber, da ich, mit ihm allein, endlich einmal freier athmen kann.

Ehegestern langten wir ziemlich spät gegen Abend hier an. Aus Hütten und Bauerhöfen strömte Jung und Alt uns schon auf dem Wege entgegen, mit Kränzen, mit grünen Zweigen, und endlosen gutgemeinten lateinischen Reden. Hörner und Trompeten lärmten da zwischen, und der Wiederhall aus den nahen Bergen sandte uns das luftige Losknallen der Feuergewehre, zum fernen Donner umgewandelt, zurück.

Max suchte mit seelenvergnügter Erwartung Freude über seine wohlgetroffnen Anstalten in meinen Augen zu lesen, während die trostloseste Erinnerung an unsern Einzug in Schloß Aarheim mir das Herz zerriß.

An unsern Einzug! Gabriele! an unsern! Wie war es möglich, daß dieser Ausdruck jetzt [94] mir entschlüpfen konnte? Unser! Die Seligkeit des Himmels umfaßte sonst für mich dieß kleine Wort, ich suchte tausendfältige Gelegenheit, es auszusprechen. Jetzt ists damit vorbei! Ich darf ja mit Gabrielen nichts mehr gemein haben als das Tageslicht. Doch still davon.

Ich stand denn ehegestern eine ziemliche Weile unter den hohen Bäumen vor dem Schlosse und war himmelweit von allen jenen Regungen entfernt, die Max in mir zu wecken gehofft hatte. Noch nie hatte ich so verwaist mich gefühlt als eben hier, in dem von meinen Vätern mir vererbten Eigenthume; noch nie war es mir so schwer aufs Herz gefallen, wie ich doch nirgend und zu niemanden mehr hingehöre, seit der Stern meines Lebens mir nicht mehr leuchtet.

Alle diese Menschen blicken hoffend zu mir auf, alle dünken sich, zu mir zu gehören, sie sind bereit, ihr Wünschen und Klagen und Bitten mir zu vertrauen, und ich will gern geben was ich kann; doch das, was sie eigentlich und mit Recht von mir fordern, vermag ich doch nicht, ihnen zu gewähren. Ich stehe, in Sitte, [95] Kleidung und Sprache ein Fremder, in meinem Vaterlande mitten unter meinem Volke.

Warum ließ mein Vater den mutterlosen Knaben nicht hier aufwachsen in diesen alten Mauern, unter diesen Menschen, die so große Ansprüche an ihn haben? Ich wäre dann einfachen Sinnes und doch treu und brav, wie mein Vetter Max; ich nähme, wie er, das Leben arglos hin, ohne große Ansprüche, wie es gerade käme. Es stände dann gewiß viel besser um meine Ruhe, und doch ergreift mich ein Schauder, wie vor dem Gedanken ewiger Vernichtung, wenn ich es mir recht ausmale, wie es mit mir seyn könnte, wenn Gabriele mir nicht erschienen wäre, wenn Kunst, Wissen und jeder verfeinerte Schmuck des Lebens für mich gar nicht existirten, wenn ich, versunken in farblose Apathie, so hinlebte von einem Tage zum andern, und die Jahre über mir hinrollten, ohne daß ich es anders als an meinen ergrauenden Haaren gewahr würde. Nein! nein! ich will fühlen, daß ich bin, sey es auch nur durch den Schmerz! Doch [96] zurück zu meiner Erzählung unsrer Ankunft. Sie wollen ja, ich soll erzählen.

Immer peinlicher ward das beängstende Gefühl, das unter meinen jubelnden Unterthanen mich ergriffen hatte. Immer unmöglicher ward es mir, ihrer Freude, die mit jedem Augenblicke lauter sich aussprach, wenigstens auf halbem Wege zu begegnen. Ich weiß was ich gesollt hätte; ich fühlte recht gut, welche Erwiderung die rührende Anhänglichkeit dieser Menschen, wenn auch nur an meinem, durch die Zeit ihnen heilig gewordnen Namen, von mir fordern durfte, und doch fürchte ich, theure Gabriele, ich fürchte, ich habe mich nicht benommen wie ich sollte. Ich konnte es nicht, weder mich zu freuen, noch Freude zu heucheln vermag ich, und so kam es denn wohl nicht ohne mein Zuthun, daß das muntre Getöse um mich her allmählig verstummte. Alles begann nach und nach, sich mit scheuem Blick, mit unsicherm Verneigen aus meiner Nähe zurück zu ziehen und endlich sich zu zerstreuen, ehe noch völlige Dämmerung eintrat.

[97] Max hat recht ernstlich mein Benehmen getadelt; ich stand beschämt vor ihm und wußte zuletzt nur körperliches Uebelbefinden zu meiner Entschuldigung anzuführen. Er meint es so gut, und obgleich er mich oft eigensinnig schilt, ist doch sein Herz voll Mitleid mit mir; aber wie könnte er je Wunden schonend behandeln, deren Möglichkeit er nie begreifen wird. Ich bat ihn also nur, bei einem Feste, das ich allen meinen Unterthanen zu geben Willens bin, mich als Wirth zu vertreten. Dieß stellte die treue Seele völlig zufrieden, nur mußte ich ihm noch versprechen, dabei zu erscheinen, sey es auch nur auf wenige Minuten.

Morgen also. Von Morgen an wird laute Freude drei Tage lang unten durch die weiten Hallen meiner Burg tosend dröhnen. Für mich hoffe ich indessen ein stilles Plätzchen zu finden, wohin kein Ton von dorther dringen kann, wo ich allein seyn mag mit meinen lieben Gedanken an ehemals, an Gabrielen.


[98] »Sie tanzen, sie singen, sie lachen; wie das ferne Brausen des Meeres, tönt es selbst zu dem kleinen runden Eckthurm herüber, in welchen ich mich vor alle dem Lärmen geflüchtet habe. Ist das Freude? Die ungebändigste Lustigkeit eines Bauerngelages, so wie die ausgesuchtesten Feste der vornehmen Welt, was sind sie im Grunde anders als Schlachtmusik, die der arme Mensch sich macht, um nur nicht zu sehen und zu hören, wie der vernichtende Arm der Zeit die Sichel führt.«


»Schon beim ersten Eintritte in dieses Schloß kam alles so bekannt mir vor. Das altmodisch gestickte goldne Laubwerk auf den schweren rothsammtnen Gardinen meines Bettes, die vergoldeten Löwenköpfe, welche meinen Schreibtisch tragen, die hohen geschnitzten Stühle, die kolossalen unbeweglichen Tische. Mir war, als hätte ich vor langer Zeit das alles schon gesehen, und doch hatte ich dieses Schloß kaum jemals nennen [99] gehört; mein Vater besuchte es nie, so lange ich denken konnte, obgleich es unser Stammhaus ist. Von Unruhe getrieben, durchzog ich heute die lange Reihe unbewohnter Zimmer, die noch in ihrer alterthümlichen verbleichenden Pracht genau so wie schon vor hundert Jahren dastehen. Ein großer Saal am Ende derselben hielt mich endlich fest. Von seinen Wänden schienen die Bilder meiner Vorfahren aus ihren breiten kunstreich geschnitzten Rahmen auf mich, den letzten trüben Sohn ihres Stammes, mitleidig herabzublicken, und ich betrachtete sie der Reihe nach. Zuletzt stand ich beim Bilde meines Vaters still, sein trauriges Alter und die Tage meiner, nicht freudiger bei ihm verlebten Kindheit traten mir vor die Seele. Ich versank in immer tieferes Sinnen, so, daß ich über die Stimme des alten Kastellans wirklich zusammenfuhr, der, von mir unbemerkt hereingetreten war.

Er ist ein alter fast kindischer Greis, der hier, wo er sein ganzes Leben hinbrachte, in spielender Geschäftigkeit den Tod erwartet. Mit der Redseligkeit des Alters begann er, mir die Geschichte [100] aller Feste und großen Jagden, welche er zu meines Großvaters Zeiten hier erlebt hatte, herzuerzählen, bis ich, um ihn zu unterbrechen, nach einem Bilde fragte, von dessen Existenz der leere Raum neben dem meines Vaters zeugte, und das augenscheinlich aus der Reihe weggenommen war. Der Alte wiegte bedächtig das schneeweiße Haupt, ›ich hab's gerettet,‹ flüsterte er mir endlich zu und öffnete dann eine verborgne Tapetenthüre in einer Ecke des Saals. Beklemmend schlug mir die schwüle eingeschloßne Luft das wohl seit vielen Jahren nicht geöffneten dunkeln Zimmers entgegen, doch trat ich hinein, eigentlich ohne Neugier und ohne zu wissen warum. Der Alte öffnete die Fensterladen und ich sah mich in dem Kabinette einer Dame aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Auf dem mit Spitzen auf verblichner rosenfarbner Seide umkleideten Nachttische schimmerten noch die silbernen mit getriebner Arbeit gezierten Putzkästchen; ein dicht zugezogner Schleier von altmodischen Spizzen verhüllte den kleinen ebenfalls in silberne Schnörkel eingefaßten Spiegel und seitwärts stand [101] eine reich mit Perlmutter und Elfenbein geschmückte Wiege, auf deren seidner Decke wohl längst zerfallne Hände mit mühsamer Kunst eine Grafenkrone gestickt hatten.

In ganz eigner Bewegung betrachtete ich die kleine Schlafstätte und die prunkenden Anstalten, welche Mutterliebe und Eitelkeit zum Empfange des hülflosen kleinen Erdenbürgers hier getroffen hatten, den das Schicksal späterhin wohl schwerlich wieder so weich gebettet haben wird, ehe er zu jener Ruhestätte gelangte, die der spanische Dichter die zweite umgekehrte Wiege nennt, und die uns noch tiefern ruhigern Schlaf verheißt. Der Alte machte mich jetzt auf das über der Wiege hängende Bild einer jugendlich schönen Frau aufmerksam. Sie lächelte mit so bekannten Zügen mich an, daß ich den Blick nicht wieder zu wenden vermochte. Plötzlich fiel es wie ein Schleier mir von den Augen, ich stand vor dem Bilde meiner Mutter, ich erkannte dieß Kabinett, in welchem ich, ein glückliches Kind, bis in mein fünftes Jahr neben ihrem dicht daranstoßenden Zimmer gewohnt habe. Ich bin in [102] diesem Schlosse geboren, theure Gabriele, ich wußte es nur nicht, aber der Greis sagte es mir jetzt. Es war meine Wiege an der ich stand, in der auch mein Vater, vielleicht mein Großvater einst ruhten; denn seit einem Jahrhundert wenigstens ist hier nichts verändert worden. Die Morgensonne meines Lebens ging mir plötzlich wieder auf und leuchtete um mich her, so klar, daß ich alles, was mich umgab, in ihrem rosigen Abglanz wieder erkannte. Ich blickte auf zum Bilde meiner Mutter, in ihren Augen schienen mir jetzt Thränen zu glänzen, wie in jener Nacht, da ich, halb erweckt von ihren heißen Küssen, sie weinen sah und mit ihr weinend, wieder einschlief. Am Morgen nach dieser Nacht, erwachte ich das erstemal zum Schmerz der Trennung, der bängsten Sehnsucht nach einem geliebten entschwundnen Wesen.

Die Fenster des Kabinetts gehen in einen kleinen Nebenhof; ich erkannte jetzt auch in ihm die Stelle, wo vor beinahe zwanzig Jahren der Wagen hielt, in welchen ich von ganz fremden Leuten getragen ward und dann still weinend und, [103] bänglich neben dem ernsten schweigenden Vater sitzend, von allen Freuden meiner Kindheit Abschied nahm. Ich habe seit jener Nacht meine Mutter nicht wieder gesehen, nie hat man wieder mit mir von ihr gesprochen, und die unglückliche Ursache unsrer Trennung ist mir nie recht deutlich geworden. Ich weinte lange der Mutter nach, endlich vergaß ich sie doch nach Kinderart. Die Liebe blieb aber dennoch in meinem Herzen, und hielt ihr Bild darin fest; darum erkannte ich es in dem Gemälde gleich wieder, so wie dieses mir vor die Augen trat. Es ist das Einzige was von ihr übrig ist. Dank sey es dem alten treuen Kastellan, der es heimlich gerettet. Alle andere sie darstellenden Gemälde, die sich im Schlosse befanden, wurden nach der Entdeckung ihrer Flucht von uns, auf Befehl meines erzürnten Vaters verbrannt. Der Unglückliche! Das Eine Bild in seinem Herzen vermochte er doch nicht zu vertilgen, das wie ein unheilbringender Dämon ihn überall hin verfolgte, alle seine Tage trübte, ihn in Lebenshaß und Bitterkeit erstarren ließ. War es Schuld meiner Mutter, oder ihr Unstern, der [104] hier vorwaltete? Fern von mir sey es, hierüber forschen zu wollen. Sie hat mich einst geliebt, sie hat um mich geweint, dieß genügt meinem Herzen. Ich beziehe noch heut mein ehemaliges Kabinett, vielleicht senkt in der Wohnung meiner harmlosen Kindheit sich mir ein Strahl ehemaligen Friedens wieder in das wunde Herz.«


»Es ist vergebens. Auch hier, wo ich zuerst athmete, wohnt für mich keine Ruhe! Gabriele, hörten Sie je das Mährchen von jenem Unglückseligen erzählen, der seit langen Jahrhunderten rastlos umher wandert, ohne den Tod zu finden, von den Menschen geflohen, in deren Mitte auch ihm grimmiges Schauern erkältend bis tief in das innerste Herz dringt und dem müden Fuße keine Ruhestätte gönnt? Ich dachte lange nicht mehr daran, aber hier, in diesem Zimmer, wo ich als Kind mit ängstlichem Behagen darauf horchte, und es mir immer wieder und wieder erzählen ließ, hier fällt es mir oft recht grausenhaft ein. [105] Von jeher dünkte mir das Geschick dieses Rastlosen ganz über allen Ausdruck entsetzlich, und nun wandre auch ich so ohne Ruhe und Rast, und wohin ich mich wende, verstöre auch ich jedes glückliche Geschöpf. Lachen und Freude verstummen im Dorfe, so wie ich mich zeige; meine Bedienten schleichen leise wie Gespenster um mich her, wenn ihr Dienst oder der Zufall sie in meine Nähe bringt; die alten Leute, welche meinen Großvater, der stets hier gewohnt, noch gekannt haben, sehen meiner bleichen trüben Gestalt bedenklich nach, und flüstern einander mitleidige Bemerkungen, oder abentheuerliche Vermuthungen über mich zu, wenn sie bei meinen einsamen Spaziergängen mir begegnen. Glauben Sie mir es, Gabriele, ich möchte gern Ihrem Willen folgen, ich möchte mich wenigstens zwingen, auszusehen, als nähme ich das Leben wie andre Leute thun; doch kann ich dafür, daß alles, was ich ergreifen müßte, um zu seyn, wie jene, mir so schaal, so abgeschmackt vorkommt?«


[106] »Jede Noth und jede Freude, jede Tugend und jedes Vergehen der Bewohner meiner Herrschaft, während der ganzen Zeit daß diese mein ist, möchte Max mir jetzt ans Herz legen, und quält mich dabei unaufhörlich, zu entscheiden, ob ich mit dieser oder jener seiner Einrichtungen zufrieden sey. Dazu wimmelt das Schloß von Nachbarn und Verwandten, die Max zwar allein besucht hat, weil er mit aller freundlichen Gewalt, die er über mich übt, es doch nicht vermochte mich mit sich zehn Meilen in die Runde umher zu schleppen. Doch da er mein Hierseyn nicht verschweigen konnte, hat er mein Nichtkommen durch den üblen Zustand meiner Gesundheit zu entschuldigen gesucht, und nun strömt alles in freundlicher Theilnahme herbei, den Kranken zu besuchen. Fremde, nie gesehne Gestalten umschwärmen mich, deren Namen ich zu meiner großen Beschämung alle Augenblicke verwechsele, und die doch durch Bande der Verwandtschaft oder des früheren nahen Umgangs mit meinen Eltern, bedeutende Ansprüche an mein Vertrauen und meine Zeit zu haben glauben. Nein, wenn es denn so seyn [107] muß, wenn ich denn im Geräusche leben soll, so will ich es doch lieber in einer großen lebensreichen Stadt, wo ich mitten im Getümmel mit meinem tiefen Herzeleid einsam und unbeachtet dastehen kann, und niemand fragt: was fehlt Dir? warum blickst Du so trübe? Ich folge den Einladungen meiner Verwandten, ich ziehe mit ihnen in ihren gewohnten Winter-Aufenthalt. – Und wenn ich nun dort seyn werde, was denn?«

Aus Hippolits Briefen auf der Reise durch Deutschland nach der Schweiz.

»Die Sonne geht auf, die Tage sind so lang. Gottlob! sage ich Abends, nun wird es Nacht, aber die Nacht frommt mir nicht, denn nur die Glücklichen schlafen. Vor der Morgenröthe wecke ich meinen Bedienten, das ganze Haus kommt in Allarm, Pferde müssen herbeigeschafft werden, ein Kourier vorauf, ich habe Eile, fort! fort! nur [108] immer rasch vorwärts. Aber wohin? Die Wege, das Wetter sind entsetzlich, aber nur fort, und wohin? Weiß ich es denn? Gabriele! mußte es denn seyn? mußten Sie mich denn verbannen?

Ich will nicht klagen, ich unterwerfe mich Ihrem Willen, und wenn ich nur den Gedanken so recht innig, so recht lebendig zu fassen vermag, daß ich durch diese Unterwerfung vielleicht Ihnen einige trübe Minuten erspare, dann segne ich mein Elend.

Ja, unsre Altväter hatten Recht, welche die Fremde das Elend nannten, das fühle ich. Ich bin in der Fremde; ausgestoßen aus meiner süßen Heimath, zu der ich nie wiederkehren werde! und wie elend!«


»Nun habe ich es erjagt! Ich habe Ihren Brief noch nicht gelesen, ich kann das Siegel nicht brechen, ich muß Ihnen erst danken; ich habe sie, ich halte sie, die unschätzbaren Züge, die Gabrielens Hand für mich niederschrieb. Dieses [109] Papier hat sie berührt, ihr Athem wehte drüber hin, ihr Auge ruhte darauf; nein ich kann noch nicht lesen, das Gefühl dieser Seligkeit duldet es nicht.«


»Ich wußte, daß ich hier das einzige Glück meines jetzigen Lebens zu finden hoffen durfte, ich warf mich auf das schnellste meiner Pferde, die ich vorausgeschickt hatte, so wie ich die wohl bekannten Thürme von *** erblickte. So sprengte ich zum Thor hinein, die Straße hinauf vor das Posthaus; ich kenne die Stadt noch von vorigen Zeiten her. Am Ziel ergriff es mich mit tödtlicher Angst als wäre kein Brief an mich da. Eiseskälte in allen Gliedern, vermochte ich es kaum, eine Karte mit meinem Namen aus meinem Taschenbuch zu nehmen und hinzureichen. Da – da – o Gabriele! ich erkannte gleich das rosenfarbne Kuvert. Segen über Sie, tausendfältigen, daß Sie es wählten! Welche Masse von Seligkeit ruft dieses gefärbte Papier mir zurück! Es [110] war Regenwetter gewesen, mehrere Tage lang, und Ida und Bella und ich, wir mußten artig seyn und uns neben Ihnen sitzend mit nützlichem Fleiße beschäftigen. Ich Ungeschickter, ich konnte nichts brauchbares hervorbringen als diese Briefkuverts, und ward von den Mädchen verhöhnt, von Ihnen in Schutz genommen, und, o Gabriele! Sie haben die armen bunten Papierschnizzelchen nicht verworfen, Sie haben sie mit sich genommen, und nun fliegt eines davon zu mir herüber, von Ihnen gesandt, ein stummer Bote des Friedens und des Entzückens.

Ihr Brief ist ernst, er ist mehr als das, würde ich sagen, durchwehte ihn nicht bei aller anscheinender Strenge die himmlische Güte und Milde, die Sie niemalen verläßt. Ich hätte bei meinen Verwandten noch verweilen, ich hätte überall im Winter nicht reisen sollen! so war Ihr Wille. Theure Gabriele! hätte ich ihn gekannt, ich hätte ihn erfüllt und wäre ich auch zu Grunde darüber gegangen. So habe ich in meiner Unwissenheit von meinem Gefühl mich hinreißen lassen und wäre untröstlich, ohne die Ueberzeugung, [111] daß Sie mir selbst würden geheißen haben fortzureisen, wenn Sie mich und meine Umgebungen in der Nähe gesehen hätten. Nein! mit diesem wunden Herzen konnte Gabriele ihren armen Edelknaben nicht in den wildesten Strudel der Faschingslustbarkeiten stürzen wollen; nicht in jenes Tosen, wo der Schmerz am einsamsten sich fühlt, wo alle Wunden bluten, mit glühenden Krallen unnennbares Weh uns packt und hält und nicht losläßt, und fremdes Lachen um uns zum Larvenartigen Grinsen wird, das uns in stummer Angst von Ort zu Ort treibt, aus wüsten Träumen uns wach schmettert, bis der fürchterliche Kontrast zwischen Außen und Innen uns zu wahnsinnigem Thun treibt, in welchem wir Betäubung suchen, weil es keine Ruhe mehr auf Erden giebt.«


»Gottlob! der Winter ist überlebt, die Bäume knospen, die Natur erwacht! Alte liebe Bekannte suchen den armen Verbannten auch in der [112] Fremde auf; die Nachtigallen singen mir auch hier den einen, einen Namen zu, der alle Harmonie der Welt in seinen süßen Tönen vereint. Und die Pappeln! sie wiegen die grünlich goldigen Häupter hoch in der blauen Luft, und flüstern mit einander, wie jene am Bassin im kleinen Gärtchen – o Gabriele, Gabriele, wie selig und wie elend macht mich Erinnerung! – Verzeihung, ich wage keine Sylbe mehr. Aber zu Fuße will ich ganz allein die Schweiz durchstreifen, fortwandern, bis ich Abends in todtähnlicher Ermüdung hinsinke, und mir im betäubenden Schlummer vielleicht Vergessenheit wird auf wenige Stunden. So will ich das Ziel meiner Verbannung erreichen; Sie wollen es; es sey! Das Meer und mächtige Ströme und himmelhohe Alpen sollen zwischen uns treten, ich soll sogar der Luft des Landes entsagen, in dem Sie athmen und leben, sogar den mir so lieb gewordenen Tönen Ihrer Sprache. Es sey! Aber Gabriele, es hilft Ihnen nichts! Nachts leuchten mir und Ihnen dieselben Sterne, und wenn ich die Augen schließe, stehen zwei dunkele, blitzende [113] Sonnen vor mir, und strahlen mild und warm mir bis ins innerste Herz. Sehnsucht spottet des Meers und der Ströme und der Alpen, und zaubert ein unaussprechlich anmuthiges Bild auf allen meinen Wegen mir vor. Freilich schwindet es bald wieder, und ach! in welche dunkle hoffnungslose Nacht!«

Aus Konstanz am Bodensee.

»Mir war diesen Morgen so still, so ruhig zu Muthe; aller Jammer der Welt schien sich mir in sanfte Liebesklage auflösen zu wollen. Gewiß, theure Gabriele, auch Sie erlebten solche Stunden, wo jeder Schmerz eine Zeitlang verstummt, wo es wie Feiertag in uns wird und wir beschwichtiget und still in immer lieberes Träumen versinken. So lag auch ich heute früh in eine Ecke meines Wagens gedrückt; rollte viele Stunden weit über Berg und Thal, ich weiß selbst nicht wie lange, aber ich mochte mich nicht regen; es war, als ob flüsternde Engelstimmchen [114] mir leise zusängen: Bleibe still, sieh dich nicht um, öffne die Augen nicht; draußen steht der Schmerz, drum bleibe in dir selbst verhüllt.

Endlich hielt der Wagen. Mag er immerhin halten, dachte ich, und strebte in meiner süßen Abgeschiedenheit von der Außenwelt zu verharren, aber die überlauten bewundernden Ausrufungen meines Kammerdieners rissen mich wider Willen auf. Ich blickte um mich her, und fand mich zu meinem Erstaunen nur in den allergewöhnlichsten Umgebungen, mitten auf dem Marktplatze eines kleinen schwäbischen Landstädtchens. Verdrüßlich sprang ich zum Wagen heraus, ging einige Schritte vorwärts, und glaubte nun von neuem zu träumen, denn eine Zauberwelt, wie durch Feengunst mir aufgeschlossen, lag blühend und duftend im Morgenrothe vor meinen geblendeten Augen. Die ganze unabsehbare Reihe der hohen Schweizer-Gebürge bis zu den Tyroler-Alpen hinauf, stand in schimmernder Ferne vor mir, gleich himmelstürmenden Riesengebilden, in einen weiten feierlichen Halbkreis geordnet. Ihr Diadem aus ewigem Eise strahlte hell im Sonnenglanz [115] zu mir herüber, während der Morgenschein noch die niedrigen Felsengipfel röthete. An den Seiten der Berge, wo sie den menschlichen Wohnungen sich zuneigen, glaubte ich sogar die grünen Alpenmatten zu entdecken, so nahe schienen mir mit einemmale die Wunder jenes Landes entgegengerückt, dem Ihr Wollen mich zusendet. In Andacht und Bewunderung verloren, ward mir, als wandle ich in einem heiligen Tempel. Gabriele, ich war recht fromm in dieser Stunde, ich dachte Sie und mich und meine stille trübe Zukunft. Die Brust ward mir weit in hoher Zuversicht auf Den, dessen mächtige Hand diese Berge pflanzte und hält. Ich fühlte Muth und Kraft in mir sich neu beleben, und war in dem Momente gerüstet, jeder Bestimmung meines Lebens hoffend und vertrauensvoll entgegen zu treten, sey sie auch düstere Verborgenheit und ewiges Schweigen.

O Gabriele, warum konnte diese Stimmung meines Gemüths nicht dauernd bleiben? warum mußte sie verschwinden wie der Thau der Wiese vor der höher steigenden Sonne? Ach! nichts ist dauernd und treu als der Schmerz und die [116] Sehnsucht, das fühle ich mehr und mehr mit jedem Tage!

Ich war allmählig in ein offenstehendes duftendes Blüthengärtchen seitwärts, dicht neben der Stadt, hineingerathen, ich wußte selbst nicht wie. Von hier aus übersah ich ganz das tiefe tiefe Thal, das zwischen mir und jenen glänzenden Titanen-Gestalten noch eine weite Kluft bildete. Und welch ein Thal ist dieß! Gleich einem herrlich glänzenden Kleinode schimmerte zwischen Wald, Obsthainen und Weinbergen der prächtige Bodensee zu mir herauf, überall blitzten im Sonnenschein Städtchen, Klöster, Dörfer, einzelne Wohnungen durch das üppigste Grün. Nie und nirgend sah ich so das Anmuthigste neben dem Erhabnen im zauberhaften Verein, als hier in dem fast unbekannten Städtchen Heiligenberg.

Rechts dicht neben demselben thront ein ansehnliches weit in die Ferne hin leuchtendes Schloß, auf hohem, fast senkrecht aus der Tiefe aufsteigendem Felsen; es steht unbewohnt da, der Eigenthümer desselben sucht die Freude in London oder Rom oder Paris, genug in der weiten Welt, [117] wo sie so selten sich treffen läßt. O Gabriele, hier mit einem einzigen geliebten Wesen zu wohnen, einsam wie die Götter, im Angesicht aller dieser Pracht! Mir schwindelt und die Sinne vergehen mir, wenn ich mir recht ausmale, wie das seyn müßte. Und wenn ich mir denke, daß ein solches Leben möglich ist, daß es vielleicht schon einmal hier, an dieser nehmlichen Stelle heimisch war! Nein diese Last von Seligkeit wäre doch zu viel für ein sterbliches Daseyn, nur in Verzweiflung würde es enden, denn was kann der Himmel unserem beschränkten Geiste Höheres verheißen nach einem solchen Leben auf Erden? Was könnte über solches Scheiden trösten?

Unten am Ufer des Sees gestaltete sich alles zur höchsten idyllischen Anmuth, was oben so herrlich, so prachtvoll mir erschienen war. In einem kleinen, von einem einzigen Fischerknaben geführten Nachen schiffte ich einsam über dem Wasser hin, und überließ meinen Leuten die lärmende Sorge für das Herüberbringen der Pferde und Wagen. Der See war spiegelglatt, nur hie und da tauchten einzelne Wellen auf, spielten [118] ein paar Sekunden lang im Sonnenschein, und verschwanden dann schnell wieder. Die Insel Meinau, das Ziel meiner Schifffahrt, schwamm bald in dem grünen Frühlingsschmuck ganz nahe vor mir auf der silberhellen Fluth; das kleine Eiland liegt so still vertraut im leuchtenden See, und in immer lichterer Klarheit schwebte Gabrielens schönes Bild vor mir hin auf den Wogen! Ich glaubte in seliger Wehmuth zu vergehen.

Plötzlich sang es hell und wunderfremd über mir in der Luft, und halb flatternd, halb taumelnd sank ein Vögelchen mit müden, hängenden Flügeln zu meinen Füßen in den Kahn hin. Ich nahm das arme kleine Geschöpf auf, zu meiner Verwunderung war es ein Kanarienvogel, zahm und furchtlos wie Ihr kleiner Liebling, Gabriele, der mir so oft den guten Morgen entgegen sang. Damals! ach damals! – ›Hat auch Dich der Ausflug in die fremde Welt schon ermüdet, und Du sehnst Dich zurück in die warme Heimath?‹ fragte ich ihn. Das arme Ding neigte das Köpfchen zur Seite, und blickte so klug aus den schwarzen Korallenäuglein mich an, als verstände [119] es mich. Wir haben ein langes Gespräch mit einander geführt; Ihr Edelknabe, theure Gabriele, war wieder einmal recht kindisch, aber ich weiß, Sie schelten ihn deshalb nicht.

Wir landeten an der Insel und ich wendete mich, den kleinen Reisegefährten auf der Hand, den nahen schattenden Bäumen zu; da regte er sich, zwitscherte und flog plötzlich auf und davon. Ich blickte besorgt ihm nach und sah jetzt alle Zweige von unzähligen Vögeln seiner Art belebt; sie hatten ihre Nester dort erbaut und waren völlig wie daheim; leider zerstörte ungebeten ein vorübergehendes Mädchen die schöne Illusion des Augenblicks, die mich in andre Zonen versetzte. Sie erzählte mir: die Vögel würden Winters in einem nahen Hause verpflegt, zur Sommerzeit aber ließe man sie frei auf der Insel herumfliegen, da ihre schwachen Flügel es doch nicht vermöchten, sie über den breiten See der Insel fortzutragen. Ich blickte nach dieser Erläuterung mit wahrer Betrübniß die armen kleinen Fremdlinge an, die in ihrer Beschränktheit die ganze Welt sich zu Gebote wähnen. [120] Ach Gabriele, ist es denn mit uns anders? Auch uns halten unsichtbare Bande, und wehe uns, wenn wir den kühnen Flug über sie hinaus wagen wollen. Mit gelähmtem Fittig sinken auch wir dann nur zu bald dem lauernden Abgrunde zu, wenn nicht ein seltnes Wunder bei Zeiten uns rettet, wie jenen armen Vogel, den ein glücklicher Zufall über meinen Nachen wegführte.

Ich wandelte immer weiter und vermied sorgsam die menschlichen Wohnungen dieses kleinen Eilandes. Die hellen Mauern des Schlosses, einer ehemaligen Komthurei des Malteserordens, schimmerten noch durch die Bäume; ich wandte mich ab. Lange war mir es nicht sowohl ums Herz gewesen! An der, meinem Landungsplatze entgegengesetzten Seite der Insel warf ich mich ins hohe Ufergras. Niedern Wellen gleich, schlug es über mich zusammen, ich sah nicht Himmel, nicht Erde, nur grüne dichte Dämmerung um mich, und leise schlich es über den Wellen zu meinem Ohr heran, wie fernes Hörnertönen. Ich lauschte ihm mit stillem Entzücken.

[121]

O Gabriele, da ward dieß Tönen immer lauter und lauter. Und Lachen und helles Jauchzen und kurzes, abgerißnes Singen scholl dazwischen. Ich sahe auf. Eine ganze Flotte von Kähnen zeigte sich dicht neben meinem Ruheplätzchen, fast schon im Begriffe, zu landen. Es war ein hochzeitlicher Zug, gewiß, gewiß, ich erkannte den Nachen, der die Braut trug, an den Blumenkränzen, die ihn schmückten, an den bunten fliegenden Wimpeln. Ich sah sie selbst, Arm in Arm mit dem Geliebten.

Da erwachte der Schmerz und riß mich fort, wie die Furien von Orest. Ich floh gemartert, verwildert vor den freudigen Tönen. In furchtsamer Hast, als folge das Verderben mir auf den Fersen nach, suchte ich nach einem Auswege, um dem Anblicke der Glücklichen zu entkommen; ich fand ihn, in einer Entfernung von wenigen Schritten, wo ein sehr langer schwankender Stieg mich über den dort schmäleren See zum festen Lande führte. Dort folgte ich dem ersten Wege, der sich mir bot. Nur fort! nur fort! weiter dachte ich nichts, aber kalte Thränen der Verzweiflung [122] füllten mein Auge. So gelangte ich nach Konstanz, ohne es zu wollen oder zu wissen.

Gabriele, Sie behaupteten einst, daß der Schmerz edlere Naturen noch mehr veredelt und erhebt, sie noch milder und gütiger macht, und wer, der Sie und ihr Geschick kennt, möchte daran zweifeln! Warum denn, o warum mußte mich der Anblick jener Beglückten so schmerzlich verletzen? Warum jenen Ingrimm in mir erregen, den der gefangene Verbrecher fühlt, wenn er aus dem Gitterfenster seines kalten Kerkers auf die Glücklichen schaut, die in der warmen, blühenden Welt in Freiheit sich ergehen? Neid, Haß, und alles diesem Verwandte waren meinem Herzen sonst so fremd! O Gabriele, soll ich auch noch mich verlieren, da ich alles verloren habe was mich beglückte? Ich flehe, lassen Sie mich nicht in mir selbst untergehen; Sie retteten mich von einem furchtbaren Abgrund, lassen Sie mich jetzt nicht wieder sinken, wahrlich nur die Gewißheit, daß Sie Ihre Hand nicht ganz von mir abziehen, daß Sie mich noch Ihrer Sorge werth achten, kann mich noch oben erhalten.

[123] Düster und einsam sitze ich jetzt in dieser düstern öden Stadt. Ich bin noch einmal an den See hinausgegangen, ich blickte hinüber zu jenen jetzt in Nebel verhüllten Bergen, die diesen Morgen mir im Sonnenstrahl so freudig entgegen glänzten. Jetzt konnte ich sie nur als die Scheidewand betrachten, die sich, von morgen an, zwischen mir und dem glücklichen Lande erhebt, wo Gabriele athmet. Morgen ergreife ich den Wanderstab, die Schweiz zu durchziehen. Auf einem andern Wege soll mein Wagen mir folgen, ich gehe zu Fuß. Die Entfernung zwischen mir und Ihnen wächst von nun an mir fühlbarer, mit jedem Schritte, den ich thue. Ich könnte darüber verzweiflen, doch ich befolge auf das Pünktlichste Ihren Willen; der Gedanke daran ist ja alles was mir übrig blieb. Selbst in dem Schmerze, der mir die Seele zerreißt, finde ich eine wilde Freude, denn Sie waren es, Sie Gabriele! die ihn mir auferlegte.«

[124] Auf der Grimsel.

»Ich stand heut, wo die Aar die dunkeln Wellen von gräßlicher Höhe hinabstürzt. Felsen und Tannen erbeben rings umher, die Axe der Erde schien unter mir sich dröhnend umzuwälzen. Wie der Eingang zur Hölle, so schwarz und fürchterlich gähnt der entsetzliche Schlund am Fuße des Felsen, der die in Schaum, in Staub aufgelöste tobende Wassermasse aufnimmt. Von noch höherer senkrechter Höhe stürzt sich der Erlebach der Aar nach, rasch wie die Verzweiflung hinab, hinab in den nehmlichen Abgrund, den er, in Miriaden schimmernder Tropfen zertrümmert, zuletzt erreicht. Den Kampf der Fluthen dort unten verhüllen Dampfwolken jedem sterblichen Auge, aber tausendstimmige Donner verkünden ihn laut den zitternden Felsen rings umher. Ergrimmt faßt der mächtige Strom endlich den überwundnen Bach und schleudert in rasender Wuth die weißen Wogen wieder hinaus aus seiner Grotte, an die gegenüberstehende Felsen wand und höher hinauf den Wolken zu. Sie zerstäuben und sinken in ewigen [125] Nebeldämpfen nieder, gepeitscht vom heulenden Sturm, der nie abläßt, hier zu wüthen. Das laute ängstliche Geschrei meiner Führer, da ich, vielleicht ein wenig zu verwegen, auf den überhängenden Felsen hinkletterte, verhallte in diesem Aufruhr der Natur, gleich dem Zirpen einer Heuschrecke. Anbetend, wortlos, sank ich hin; ich ein Atom, ein Nichts in diesen, alle Sinne betäubenden Schrecknissen; und doch fühlte ich, selbst Angesichts ihrer, Kraft und Muth im glühenden Herzen, mich überselig, gleich jenem neidenswerthen Edelknaben, von dem des Dichters unsterbliches Lied uns singt, hinabzustürzen, und, wie er, den gräßlichen Kampf auf Tod und Leben mit dem empörten Element dort in der Tiefe zu bestehen, würde nur auch mir der hohe Preis geboten, den zu erringen, jener endlich unterging.«

[126] Aus Mailand.

»Ein Strahl des Trostes ist mir hier geworden, hier wo ich ihn nimmer erwartet hätte. Ich bin nicht mehr so ganz verlassen, allein, denn ich höre Gabrielens geliebten Namen auch von andern Lippen als den meinigen.

Noch einmal, an dem zu meiner Abreise von hier bestimmten Tage, suchte ich das Dominikaner-Kloster neben der Kirche S. Maria delle Grazie auf; ich wollte von Leonardos Meisterwerk den letzten Abschied nehmen, wie von einem Freunde; eigentlich war er mir der einzige, den ich hier hatte und der mit jedem Tage mir immer lieber ward. Ich fliehe in meiner jetzigen Stimmung jede nähere Bekanntschaft mit Menschen; das zwecklose untheilnehmende Umhertreiben in ihrer Mitte verletzt mich auf tausendfache Weise, und ist mir entsetzlich. Aber im stillen Gebiete der freien Natur, im noch stilleren der Kunst, da finde ich Vertraute, und von der stummen Leinwand, von der verblichnen, durch Kerzendampf geschwärzten Wand, blickt es oft tröstend mich [127] an. Dann dünkt es mich, als umwehe mich mit lindem Fittig der stille Geist in seinem Heiligthume, der einst hier schaffend waltete, und darüber eine Welt voll Unruhe und Entbehrung gern vergaß; als hauche er mir Ergebung und höheres Hoffen in die wild bewegte Brust. Ach! und wie oft sehe ich mit Entzücken auch von der Leinwand einzelne Züge des Bildes mir entgegenstrahlen, was in unerreichbaren Farben ewig vor meinem innern Sinne schwebt!

Dießmal fand ich das Refektorium der guten Mönche nicht unbesucht wie ich es gehofft und gewünscht; ein junger Mensch saß vor dem wundervollen Bilde des heiligen Abendmahls, ämsig bemüht, seiner Mappe eine Kontur desselben einzuverleiben. Nun ist mir aber nichts verhaßter, als wenn ich dem ängstlichen, nüchternen Streben zusehen muß, das, was mich erhebt, begeistert, entzückt, schwarz auf weiß nach Hause zu tragen, damit man es sicher bei der Hand habe, und es sich haushälterisch auftrocknen und aufbewahren könne zu künftigem beliebigem Gebrauch. Mag meine, jede Anstrengung hassende Ungeduld,[128] die Sie so oft an mir tadelten, Schuld daran seyn und mich ungerecht machen, ich muß es doch bekennen, mich ärgert es immer, wenn die Herren und Damen, denen ich auf Reisen begegne, vor den hohen Wundern der Natur, wo sie anbeten oder doch wenigstens genießen sollten, sich mit einem Blättchen Papier und einem Stückchen Kreide zurecht setzen, um schülerhaft zu krizeln, was sie in jedem Bilderladen tausendmal besser kaufen können, als ihre arme Kunst es hervorzubringen vermag. Auch begreife ich nie, wie der vom ächten Geiste belebte Schüler der Kunst dadurch zum Künstler gebildet werden soll, daß er die Linien, welche die längst in Staub versunkne Hand des hohen Meisters einst zog, mühsam nachzuzirkeln sich abmüht. Mir dünkt, es wäre ihm gerathner, wenn er das Ganze im Geist aufzufassen strebte, dann demüthig und doch freudig nach Hause ginge, und im Gefühl der Schöpferkraft, die dem reich begabten Menschen von der Gottheit gegeben ward, selbst versuchte, jenen hohen Vorbildern sich zu nahen, ohne knechtisch sie nachzuahmen.

[129] Voll von diesem Gefühl, und dazu halb ärgerlich, hier nicht, wie ich es gehofft hatte, allein zu seyn, näherte ich mich dem Zeichnenden, und sah ziemlich verächtlich, ich will es nur gestehen, ihm über die Schulter auf seine Zeichnung. Eigentlich war ich nicht übel geneigt, meinem Verdrusse beim mindesten Anlasse dazu Luft zu machen, als ich ihn deutsch reden hörte mit seinem neben ihm stehenden Begleiter, einem ältlichen Manne von edler einnehmenden Gestalt, den ich jetzt erst bemerkte.

›Seyd doch froh,‹ sprach dieser zu dem jungen Künstler, der sich wohl über den leider wirklich sehr traurigen Zustand des Gemäldes beklagt haben mochte, ›seyd doch froh, daß die Zeichnung und die Anordnung des Ganzen uns erhalten ward; haltet euch an den Geist des Schöpfers, der ja noch immer hier in seinem edelsten Werke waltet, wenn gleich das Körperliche desselben fast nicht minder dahin geschwunden ist, als die Hand, die es schuf. O wie fällt alle Farbenpracht weg, gegen dieses alte edle schmucklose Werk! Nie und nirgend ausser Rafael hat einer diese Einfalt des [130] Herzens mit der hohen apostolischen Würde so zu einen gewußt!‹ setzte er halblaut hinzu, in tiefe Betrachtung des Gemäldes verloren. Nach einer kleinen Pause redete er weiter, nicht vor sich, nicht zu uns, gleichsam nur laut denkend, wie man wohl auch laut liest, was uns entzückt, wenn gleich niemand uns zuhört. Er sprach von der glücklichen Wahl des dargestellten Augenblicks der Handlung, durch welche die Einförmigkeit der Anordnung von dreizehn Personen hinter einer langen Tafel glücklich und schicklich vermieden ward. Mild, mit ruhigem Ernst spricht der Herr das bedeutende schwere Wort: ›Einer von denen, so mit mir sind, wird mich verrathen!‹ Er sieht vor sich nieder, um keinen seiner Jünger mit dem Blicke zufällig zu bezeichnen, aber alle fahren, wie von einem Wetterstrahl getroffen, bei diesem Ausspruch ihres Meisters in die Höhe, alle werden in Handlung gesetzt, einige der von ihm am entferntesten Sitzenden suchen sich ihm zu nähern und bilden so die mannigfaltigsten Gruppen. Gesicht, Stellung, Geberde bezeugen die Reinheit und Unschuld eines jeden unter ihnen, doch, [131] nur mit sich beschäftigt, bemerkt keiner den wilden trüben Blick des schreckhaft zurückfahrenden Judas. Nur dem dicht hinter diesem sitzenden Apostel scheint ein vorahnender Gedanke wie ein Blitz durch die Seele zu fahren.

Je länger der Fremde so sprach, je mehr fühlte ich von ihm mich angezogen. Ich wagte es endlich, ihm einiges zu erwidern und so gelang es mir, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Von einem Apostel zum andern übergehend, gab er mir in wenigen treffenden Worten eine kurze Charakteristik eines jeden derselben. Nie zuvor habe ich jemanden über ein Kunstwerk und über die Kunst selbst so klar, so bedeutsam, und, bei so tiefer Kenntniß, so anspruchslos reden gehört. Immer lebendiger stieg in mir eine freudige wenn gleich dunkle Ahnung auf, er kam mir so bekannt vor, mir war, als sey in ihm ein alter lang entbehrter Freund mir begegnet, von dem ich nichts vergessen hatte als den Namen. Nennt ihn Ihr Herz Ihnen nicht Gabriele? Der immerfort ämsig Zeichnende nannte ihn endlich, obgleich er deutsch mit ihm sprach: ›Signor Ernesto.‹

[132] Mit einem lauten Freudenschrei hätte ich mich gern in seine Arme gedrängt, als ich mit diesem Namen ihn nennen hörte, doch bei aller Freundlichkeit liegt in seinem klugen dunkelblauen Auge, in einem scharfen Zuge seines Mundes, besonders wenn er halblächelnd spricht, etwas, das gebietet, in seiner Gegenwart sich zu bemeistern. Und so nahm ich mich denn zusammen, zog mein Taschenbuch hervor und überreichte ihm die Karte, mit welcher Ihre Güte mich für den Fall eines Zusammentreffens mit ihm ausrüstete. O Gabriele! wie hängt alles ewig an Ihnen, was einmal Sie erkannte! Hätten Sie den freudigen Strahl gesehen, der über das Gesicht des strengen ernsten Mannes sich verbreitete, während er die wenigen von Ihrer Hand an ihn gerichteten Zeilen las! Es war als ob ein heller Abglanz Ihrer eignen Anmuth von der kleinen Karte ausginge und die scharf gezognen Züge des würdigen, von Silberlocken umgebnen Antlitzes verklärte.

Als sey auch ihm ein längst vermißter Liebling seines Herzens unverhofft wiedergekehrt, so freudig begrüßte Ernesto mich nun. Er ergriff [133] meinen Arm, beurlaubte sich leichthin von dem Zeichnenden, mit dem er, wie ich jetzt sah, in keiner genauern Verbindung stand, und begleitete mich in meinen Gasthof, wo sogleich die Pferde wieder abgesagt und alle Anstalten zum längern Verweilen in Mailand getroffen wurden.

Mir traten die Thränen ins Auge, als er mit mir allein auf meinem Zimmer sich nun recht theilnehmend nach Plan und Zweck meiner jetzigen Reise zu erkundigen begann; freilich nicht eher, als bis er mich über Sie, Ihr Leben, Ihre nähern Verhältnisse, Ihre Gesundheit, Ihr Aussehen recht inquisitorisch abgehört hatte. So väterlich wie er, hat noch keiner zu mir gesprochen; stets war ich Elternlos, von meiner ersten Jugend an, wenn gleich nicht verwaiset durch den Tod. In diesem Augenblick fühlte ich recht lebendig, welch ein Glück ich so lange entbehrte, ohne je es gekannt zu haben. Mein Herz schloß sich auf im wahrhaft kindlichen Vertrauen zu dem weiseren, wohlmeinenden Freunde. Sie werden es verzeihen, Gabriele, Sie müssen es verzeihen, wenn, indem ich von Ihnen sprach, Auge und [134] Ton ihm vielleicht mehr als meine Worte gestanden. Wie wäre es möglich gewesen, diesen hellen Blick zu täuschen, der mir fühlbar bis in das tiefste Herz drang! Seit langen Monden zum erstenmal hörte ich Ihren Namen, und wie? o Gabriele! Wie ward er ausgesprochen! Jedes Wort Ernestos war der Nachhall meines eignen Gefühls.

Noch hatte ich keine Stunde mit ihm verlebt, als ich schon vor der Möglichkeit zu zittern begann, daß er, den ich nie wieder zu lassen sehnlichst wünschte, vielleicht auf der Rückreise wäre, nach Deutschland, zu Ihnen – Gabriele, zu Ihnen! Doch meine Furcht war vergebens, das zeigte sich bald. Ein bedeutendes Geschäft, das er für einen Freund hier abzumachen versprach, hatte ihn nach Mailand geführt; es war jetzt vollendet und er im Begriffe nach Florenz zu gehen, wo er den größten Theil des Sommers zu verleben gedachte.

Nun habe ich mir ihn gewonnen. Ich habe mich fest an ihn geklammert, und er stößt mich [135] nicht zurück, denn Gabrielens Name ist der Talisman, der ihn mir verbindet.

Langsam will er mit mir noch einmal Italien durchziehen, vielleicht wandern wir bis Syrakus ehe er mir Rom zeigt. Wahrscheinlich komme ich erst im folgenden Jahre dorthin, gegen die Zeit der großen kirchlichen Feste, welche die Ostertage herbeiführen.

So habe ich denn wieder eine Bestimmung, der ich entgegen gehe. Ernesto leitet mich wie er will, er nimmt meiner sich an, weil ich von Ihnen gesendet ihm scheine. Er hängt an Ihnen mit Jünglingsfeuer und somit auch an allem, was nur auf die entfernteste Weise Ihnen angehört. Wie besorgt ist er um Ihr Wohl! So wie die seine, denke ich mir die Liebe eines Schutzgeistes. Er ist ein seltner Mensch, aber trüge er auch keine Spur seines hohen, ungewöhnlichen Werthes, so müßte ich dennoch seinen Schritten folgen, denn ich kann mit ihm von Gabrielen sprechen und fürchte weder Hohn noch Mißverstehen.«

[136] Aus Florenz.

»Nun weiß ich, wie es dem Schweizer ist, den, fern vom geliebten Vaterlande, ein Ton aus seinen heimathlichen Bergen traf und alle Qualen des Heimwehs über ihn rief! Ich stand an Ernestos Seite im Garten des Pallastes Boboli, oben auf der höchsten Terrasse. Die Sonne ging unter; als wäre der Aetna umgestürzt und schütte alle seine Gluthen aus, so flammte es in Westen und zwischen diesem Abendgolde und dem Aetherblau prangte der Horizont im herrlichsten durchsichtigen Grün, wie ich noch nie es sah. Die fernen Appeninen glühten dunkel-violet zu uns herüber, zu unsern Füßen glänzte die Stadt, das Schloß, der Garten und das ganze reiche herrliche Thal, welches der Arno durchströmt, alles wie verklärt im Lichte der brennenden Himmelspracht. Nureinen solchen Abend hier an Ihrer Seite! ich konnte den Wunsch dem Freunde nicht verhehlen, er theilte ihn mit mir, und ein liebes beruhigendes Gespräch, das nach Schloß Aarheim uns versetzte, hatte sich zwischen uns beiden entsponnen, als plötzlich der Ton Ihrer [137] Stimme, Ihrer Stimme, Gabriele, mein Ohr traf. Was ich rief, was ich that, weiß ich nicht, nur daß Ernesto mich beim Arm ergriff und sehr ernst mich zur Ruhe ermahnte. Dieß brachte mich wieder in leidliche äußre Fassung, obgleich ich seine Worte nur halb verstand.

Eine Gesellschaft Herren und Damen, lustwandelnd wie wir, näherte sich uns vom Pavillon her unter lautem Lachen und Gespräch, und immer tönte noch der Klang der süßen Stimme in ihrer Mitte. Ich zitterte, und als ich aufmerksamer hinblickte, glaubte ich zu vergehen. Sie waren es, Sie selbst, Gabriele, Sie traten hervor, Sie eilten auf uns zu. Signor Ernesto! riefen Sie in so bekanntem Ton! und doch waren Sie es nicht. Nein! wo hatte ich meine Augen gehabt? Sobald man die Gestalt genauer betrachtete, war außer dem Ton der Sprache kein Zug von Aehnlichkeit zwischen Ihnen und der blendendschönen Frau, die jetzt dicht vor mir stand. Diese dunkle Lockenpracht, dieß weitgeöffnete hohe blaue Auge voller Blitze, wie verschieden von der lichten Strahlenglorie, [138] die Gabrielens schönes Haupt umwallt, von dem sanften Mondlicht der frommen braunen Augen, die, gleich lieben freundlichen Sternen, süßberuhigend uns leuchten? Und dennoch hatte diese Ihnen so ganz entfremdete Erscheinung auch etwas in ihren Bewegungen, dem ich unverwendeten Blicks zusehen mußte, weil es eben wie der Ton ihrer Stimme mir Gabrielen vor die Sinne zauberte. Es zog mich an und stieß mich zurück, entzückte und betrübte mich, hundertmal in wenigen Minuten.

Nachdem die Dame ziemlich lange mit Ernesto geplaudert, und ich weiß nicht, welche Vernachlässigungen ihm mit scherzhaftem Tone vorgeworfen hatte, wandte sie den fragenden Blick mir zu und Ernesto konnte es nun nicht vermeiden, mich ihr vorzustellen. Er that es mit einer Art von Verlegenheit, die ich bis jetzt noch nie an ihm bemerkt hatte und ich mir nicht zu erklären weiß. Nach italienischer Sitte nannte er sie mir nur Signora Aurelia und erst da wir wieder allein waren, erfuhr ich, daß sie die Tochter der Gräfin Rosenberg und Ihnen nahe verwandt [139] sey. So war mir denn der Zauber der Aehnlichkeit zwischen ihnen beiden durch dieses Familienband erklärt. Ihre Kusine ist im Begriffe, mit einer englischen Familie eine Reise nach Griechenland anzutreten, weil ihr in Italien das Klima nicht zusagt. Ihr Gemahl lebt in Rom. »Haben Sie ihn jemals gesehen? Ernesto vermeidet von ihm zu sprechen; es muß eine eigne Bewandtniß mit diesem Menschen haben.«


»Was Ernesto durch Gründe, Bitten, Zureden nicht erhalten konnte, hat Aurelia ohne ein Wort darüber zu verlieren bewirkt. Ich gehe wieder in die Welt, die ich ewig meiden wollte, besuche Soiréen, Akademien, Konversaziones; denn nur da kann ich ungestört in irgend einem Winkel sitzend, mich mit verschloßnen Augen der süßesten Täuschung hingeben, während Aurelia zu den Andern spricht. Ihr selbst mich zu nahen, vermeide ich soviel ich es schicklicher [140] Weise kann, weil sie stets von Gabrielen mit mir sprechen will. Letzthin hat sie einen ganzen Abend hindurch mich über Sie ausgefragt. Ausgefragt, das ist das rechte Wort – für dieses neugierige, untheilnehmende Auskundschaften. Mir war dabei zu Muthe, als spräche jene Eugenia, die einst mit ähnlichen Redensarten mich dem Abgrunde entgegentrieb, von welchem nur die Hand eines Engels mich retten konnte.

Und doch hat diese Aurelia eine gewisse, mir so liebe Art, den Kopf ein wenig vorzubeugen und dann seitwärts aufzublicken! Im Gespräch hebt sie oft die zarte wunderschöne Hand, deren gleichen es nur noch einmal in der Welt giebt, und regt die rosigen Fingerchen so, daß ich nicht müde werden kann, ihr zuzusehen. Oft höre ich ihrer Stimme zu, und strenge mich an, auf ihre Worte nicht zu merken, dann träume ich mir, ein böser Zauber habe Gabrielen in diese Gestalt gebannt, und die Zeit desselben wäre nun um; ich blicke auf zu ihr und bei jeder Ihnen abgestohlnen Bewegung wähne ich, jetzt müsse die [141] fremde Gestalt verschwinden und meine Sonne mir aufgehen.«


»Was man so in der Welt liebenswürdig nennt, ist diese Aurelia, sobald sie es seyn will, in hohem Grade. Zu ihrer Ehre sey es gesagt, daß dieses oft der Fall ist, und doch giebt es Momente, in welchen sie mir sogar hassenswerth vorkommt, weil sie nicht Gabriele ist und sich doch unterfängt, ihr ähnlich zu scheinen. Dann graust mir vor ihr, wie vor einem Leben heuchelnden Wachsbilde.

Aber ist es nicht wunderbar, daß Ernesto, außer der Stimme, welche er allenfalls noch zugiebt, mir jede weitre Aehnlichkeit Aureliens mit Ihnen durchaus abläugnet? Er sucht sogar, und oft ziemlich auffallend mich von ihr fern zu halten, als fürchte er für mich in ihrer gefährlichen Nähe. Ahnet er denn gar nicht, daß es nur der Schatten von Gabrielens Schatten ist, was zu ihr mich zieht?«

[142]

Aus gleichzeitigen Briefen Ernestos an Frau von Willnangen.

»Ich weiß es, theure Freundin! Sie lachen über meine Bedenklichkeiten und Besorgnisse, aber ich lasse es mir gefallen und gebe ohne Widerstreben Ihrem gutmüthigen Spotte mich Preis, wenn ich nur nach gewohnter Art Ihnen vertrauen darf, was Herz und Sinne mir trübt. Und dieß ist jetzt Aureliens blendendschöne Erscheinung, ungeachtet ihres zuvorkommenden Betragens gegen mich, und des schmeichelnden Klanges ihrer Worte. Ich kann mich nun einmal des peinlichsten Gefühls in ihrer Nähe nicht erwehren, und seit ein Zufall, den ich durchaus boshaft und unheilbrütend nennen muß, uns hier in Florenz ihr entgegen warf, habe ich innerlich weder Ruhe noch Rast.

Schon seit sie aufhörte ein Kind zu seyn, spürte ich bei ihr etwas Unheimliches, das meinen Unmuth erregte, obgleich ihre äußere Liebenswürdigkeit mir oft recht hinreißend erschien. [143] Jetzt wird dieses Gefühl lauter in mir als je, ihr Lachen, ihr Scherzen klingen mir wie bittrer, dem Leben gesprochner Hohn, der sich nur in erzwungne Lustigkeit zu verkleiden sucht, und ihr ganzes Wesen hat in meinen Augen etwas so verstörtes, unheilweissagendes, daß ich weder mich selbst, noch die, welche ich liebe, in ihrer Nähe wissen mag. Vor allem änstigt es mich, wenn ich Hippoliten, verloren in ihrem Anschauen und in dem Klange ihrer Worte, neben ihr sitzen sehe; dann drängt es mich, ihn von ihr fortzureißen, und müßte ich auch mit meinem geliebten Zöglinge von irgend einem Felsen herabspringen, wie einst der weise Mentor mit dem Sohne des Odysseus. Daß es übrigens mit dem Einflusse dieser neuen Kalypso bei meinem Telemach keine große Gefahr hat, weiß ich, gottlob; sie wird ihn mir weder bezaubern noch verhexen, obgleich sie zu beiden wohl Lust und auch Talent hätte, denn er steht zum Glücke unter höherem Schutze. Wäre mir dieß auch früher nicht schon klar geworden, so hätte mir es ein Lied gesagt, welches er sich schrieb mitten in einer rauschenden [144] Gesellschaft, wo Aurelia und andre schöne Frauen ihn aufforderten, mehr Theil an der Geselligkeit zu nehmen. Es war an dem Ufer eines kleinen Flusses, wo er sich unter überhängende Pinien setzte und in seine Schreibtafel die Worte aufzeichnete, die er mir beim Nachhausegehen als Antwort auf die Aufforderung der Damen stumm überreichte, die ich ihm wortlos zurückgab und die ich ihn seitdem oft nach einer Melodie singen höre, welche er dazu fand. Ich schließe die einfachen Worte diesem Briefe bei.

Trotz alle dem suche ich doch absichtlich aber unmerklich die Gelegenheiten zu entfernen, wo Hippolit mit Aurelien zusammentreffen kann; denn der Um gang mit Wesen ihrer Art bringt nichts Gutes, macht Niemanden besser; und darum soll man ihn nach meiner Ueberzeugung meiden, so viel man nur immer kann.«

[145] Hippolits Lied.

Laßt mich, ob ich auch still verglüh',
Laßt mich nur stille gehn;
Sie seh' ich spät, Sie seh' ich früh
Und ewig vor mir stehn.
Was ladet ihr zur Ruh' mich ein?
Sie nahm die Ruh' mir fort;
Und wo Sie ist, da muß ich seyn,
Hier sey es oder dort.
Zürnt diesem armen Herzen nicht,
Es hat nur einen Fehl:
Treu muß es schlagen bis es bricht,
Und hat deß nimmer Hehl.
Laßt mich, ich denke doch nur Sie;
In Ihr nur denke ich;
Ja! ohne Sie wär' ich einst nie
Bei Engeln ewiglich.
Im Leben denn und auch im Tod',
Im Himmel, so wie hier,
Im Glück und in der Trennung Noth
Gehör' ich einzig Ihr.

[146] Fortsetzung von Auszügen aus Briefen Ernestos an Frau von Willnangen.

»Ich fange an, recht tiefes Mitleid für diese Aurelia zu empfinden, die denn doch vielleicht etwas vorzügliches und glückliches hätte werden können, wäre ihr Gemüth minder verwarloset von Jugend an. Allein dieses Mitleid ist nicht jenes schöne, erwärmende Gefühl, mit dem ich Gabrielens gedenke, Schauder und Widerwillen mischen sich darein, und ich möchte auf immer von einem Wesen mich abwenden können, welches so ganz hoffnungslos in sich zerfallen ist, daß kein Gott und kein Sterblicher hier mehr rechten dauernden Trost gewähren kann.

Mit kalter Brust, mit einem Herzen, das nie, weder Liebe noch Haß empfand, das von frühester Jugend an nur mit der unersättlichsten Eigenliebe erfüllt war, stand Aurelia stets in hoher Selbstzufriedenheit da, auf eine Tugend gestützt, die bei ihr, so wie sie einmal ist, kaum noch den Namen derselben verdient. Wer ihr [147] nahte, huldigte ihrem Geiste, ihrer Schönheit, auch wohl oft nur dem Standpunkte, auf welchen das Schicksal und ihre in Eitelkeit versunkne Mutter sie gestellt hatten, und der Stolzen schien die Welt zu Füßen zu liegen. So sind bis jetzt die Jahre, eines nach dem andern, an ihr vorübergezogen, von ihr unbemerkt. Doch jetzt ist die Zeit des Erwachens endlich gekommen und das, woran sie früher in ihrem Leben nicht gedacht hatte, erfüllt sie mit ängstlichem Grausen vor einer Zukunft, der sie doch nicht auszuweichen vermag. Unter dem triumphirenden Lächeln, das sie noch immer beibehält, sehe ich deutlich ihre innere Herzensangst hervorblicken. Und wissen Sie, wem diese Angst gilt? Dem dreißigsten Geburtstage, dem fürchterlichen, der als Schreckbild am Lebenspfade aller Frauen steht, die Aurelien gleichen. Er naht unaufhaltsam mit schnellen Schritten, dieser entsetzliche Tag, denn Aurelia zählt wenigstens volle vier Jahre mehr als unsre Gabriele, und sie beneidet ihr gewiß keinen der übrigen Vorzüge so ganz von Herzen als diesen flüchtigsten von allen.

[148] Im Grunde quält sie sich viel zu früh, denn nie war ihre äußre Erscheinung brillanter. Auch ist die Klippe, die sie scheut, eigentlich nur im gewöhnlichen bürgerlichen Kreise des Frauenlebens recht gefährlich, wo es Tanten und Basen giebt, die über alle Familienereignisse Buch und Rechnung halten und alle Data nachzuweisen wissen. In der Welt, in welcher Aurelia lebt, gleitet man über alles leichter hin; man ist toleranter; man gewinnt kaum Zeit, an sich selbst zu denken, geschweige an Andre, und jeden, der sich nur geschickt zu benehmen weiß, läßt man gern für das gelten, wofür er sich geben will. Geist, Witz, Leichtigkeit und Vielseitigkeit im Umgange werden über alles geschätzt, darum trifft auch die glänzendste Periode im Leben berühmter schöner Frauen der großen Welt sehr selten mit ihrer ersten Jugendblüthe zusammen, denn man muß gelebt haben, wenn man sich aufs Leben genugsam verstehen will, um es wie ein Kunstwerk behandeln zu können. Aurelia weiß dieses alles so gut und besser als ich, aber sie denkt nicht daran, oder achtet es für einen traurigen Trost. [149] Sie ist noch immer von einer bewundernden Schar demüthiger Verehrer umgeben, über die sie nach Lust und Laune unumschränkt gebietet, aber sie fühlt dennoch ihren Thron unter sich wanken und ich sehe deutlich, wie das trübe Vorgefühl einer dunkeln, freudenarmen Zeit sie Tag und Nacht unablässig quält und nagt. Mit ängstlicher Hast wirft sie sich nun auf alles, wovon sie noch in spätern Jahren Glanz und Bewunderung sich versprechen zu können glaubt, auf Musik, Literatur, Kunststudium; sogar Chemie und Astronomie hat sie eine Zeitlang getrieben, weil diese Wissenschaften einmal zufälliger Weise Mode wurden. Ihr mangelt, wie Sie wissen, weder Geist noch Talent zu allem was sie unternehmen möchte, aber sie ist unfähig, irgend etwas sich selbst zum Trost fest zu halten. Ihre rastlose Natur trieb sie von jeher immer von einem zum andern und erlaubt ihr jetzt sogar kaum, länger als einige Monate an dem nehmlichen Orte zu verweilen. Daß sie in manchen Stunden die Unzulänglichkeit eines so zerstückelten Strebens tief empfindet, vermehrt noch [150] ihr Unglück auf jede Weise, denn dieses an sich peinigende Gefühl reizt und erbittert sie innerlich mehr und mehr, und treibt sie zu seltsamen, ihrem Zwecke ganz entgegenarbeitenden Launen.

Manche ihrer Anbeter, welche ihre wirklich zuweilen unwürdigen Mißhandlungen nicht ertragen mögen, ziehen sich allmählig zurück und dadurch wird das Uebel immer ärger. Sie muß mit ungewohnter Anstrengung die so Verlornen durch neue Eroberungen wieder zu ersetzen suchen, und sie treibt dieß mit einem Eifer, einer Ungeduld, die deutlich beweisen, wie anschaulich ihr jetzt mit einemmale die Flüchtigkeit der Zeit geworden ist. Die arme Frau geräth dabei oft außer Athem und Tackt, obgleich nicht jedermann dieß gewahr wird.

Daß mein glänzender Hippolit gleich auf ihre Liste kam, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Bei seiner Jugend mußte sie ihn für einen vollkommnen Neuling in der Welt ansehen, und bei dem sichtbaren Eindrucke, den ihr erstes Erscheinen auf ihn machte, hielt sie seine Eroberung für ein leichtes Kinderspiel. Um so größer war [151] ihr Erstaunen als sie alle ihre kleinen Künste an ihm abgleiten sah. Ich bin überzeugt, daß sie bis diese Stunde noch nicht weiß, wie sie eigentlich mit ihm daran ist, doch eben dieser Zweifel giebt ihm in ihren Augen ein erhöhtes seltnes Interesse.

Ich sehe zuweilen mit wahrem Vergnügen dem kleinen Kriege zwischen beiden zu. Allen den haarfeinen Schlingen, die Aurelia mit unendlicher Klugheit und tiefer Berechnung ihm legt, weiß mein junger Held mit so unbefangnem Gesicht und so gewandt aus dem Wege zu gehen, daß es mir oft schwer wird, meinen innern Triumf darüber zu verbergen. Wenn ich ihn aber wiederum in den Assembléen hinter ihrem Sessel stehen sehe, wie er jede ihrer Bewegungen belauscht, jedes ihrer, nicht zu ihm gesprochnen Worte von ihren Lippen wegzuhaschen sucht, und dabei immer tiefer in sich selbst sich verliert, so daß zuletzt ausser Aurelien nichts mehr für ihn zu existiren scheint, dann werde ich wieder irre, auf Augenblicke wenigstens. Zwar weiß ich, Aureliens Zaubergewalt über Hippoliten liegt nur in einer nie [152] zuvor von mir bemerkten Familienähnlichkeit mit Gabrielen, die sich erst später entwickelt haben muß, und über die er im Stande ist, Stundenlang in Extase zu gerathen, aber solche Aehnlichkeiten haben doch auch ihre Gefahren, und ich wollte, wir oder Aurelia hätten die Terrasse des Gartens Boboli nie gesehen.«


»Wünschen Sie mir Glück, liebe Frau von Willnangen, ich athme freier! Aurelia hat heute in aller Frühe Florenz verlassen, um die große, lange beabsichtigte Reise durch Sicilien nach Griechenland endlich anzutreten, und es scheint mir, als ob Hippolit das trügerische Schattenbild Gabrielens, das in der letzten Zeit ihn wohl öftrer betrübt als erfreut haben mag, nicht ungern endlich schwinden sah. Ein kleiner Mißgriff, zu welchem Aurelien ihre Unsicherheit in Hinsicht seiner wohl verleitet haben kann, ist wahrscheinlich die nächste Veranlassung dieses plötzlichen Aufbruches gewesen. Vermuthlich ward sie ungeduldig [153] über seine anscheinende Blödigkeit, die ihn, wie sie meinte, verhinderte eine Bitte auszusprechen, welche sie ihm oft genug so nahe legte, daß ich kaum begreife wie er ihr ausweichen konnte, nehmlich die, sie auf der Reise nach Griechenland begleiten zu dürfen. Ihre Ungeduld brachte sie dahin ihm anzubieten, was sie freilich lieber seinen dringenden Bitten zögernd gewährt hätte, und nun stellen Sie sich das bittre Erstaunen vor, mit dem sie den so furchtsam gehaltenen Jüngling das Anerbieten von sich weisen sah, und zwar auf die feinste aber auch bestimmteste Weise! Ich gestehe Ihnen, ich selbst muß dieses feste Entsagen bewundern, denn sowohl die Reise als die Reisegesellschaft können schwerlich reizender erdacht werden.

Daß Aurelia nach der ersten bittren Sekunde, die sie benutzte, um sich von ihrem Erstaunen zu erholen, genug Fassung behielt, um aus dem ganzen Anerbieten einen gar nichts sagen wollenden Scherz zu machen, war ihr wohl zuzutrauen, doch scheint sie den Verdruß über Hippolitens Benehmen recht tief empfunden zu haben. Dieß [154] schließe ich unter andern auch aus der Eile, mit der plötzlich alle so lange vernachlässigte Reiseanstalten betrieben wurden, und aus ihren wiederholten Versicherungen, daß sie die englische Familie, mit der sie schon längst diese Reise verabredet hatte, unmöglich länger auf sich warten lassen könne. In der That hatte sie diese, unter allerlei nichtigen Vorwänden, von einer Woche zur andern hingehalten, und ich mußte schon längst die Geduld der guten Leute im Stillen bewundern.

Genug, die Wagen wurden gepackt und sie ist fort! So fahre sie denn hin! Recht glücklich – aber – wenn es seyn kann, auch recht weit und auf recht lange von uns und auch von meinem Ottokar, auf dessen Frieden ihre Gegenwart doch störender wirkt, als er es sich selbst vielleicht gestehen mag.

Ist es aber nicht entsetzlich, daß dieses durch so viele seltne herrliche Gaben ausgezeichnete Wesen weder glücklich ist noch glücklich macht? Wie weit steht Aurelia in dieser Hinsicht hinter ihrer Mutter, der Gräfin Rosenberg, zurück! so weit, [155] als diese wohl von jeher, selbst in ihren blühendsten Zeiten, in jeder andern Hinsicht hinter dem zurückgestanden haben mag, was Aurelia ist und war. Und doch ist die Mutter, selbst jetzt noch, schwerlich weniger gefallsüchtig und eitel als die Tochter, nur äußert sich diese ihre Gefallsucht auf andre Weise. Die Gräfin wollte von jeher nicht sowohl bewundert, als gesucht seyn, nicht sowohl blendend erscheinen als liebenswerth, und dieß giebt ihr bei allen ihren übrigen Schwächen einen Anstrich von Gutmüthigkeit, welche jedem wohlthut, der ihr nahen darf. Aurelien hingegen beten selbst ihre allerunterthänigsten Sklaven nur mit Furcht und Zittern an. Sie reizt, sie entzückt, aber wohl ist noch Keinem bei ihr geworden. Sie fahre hin.«


»Wunderbar! Dieses Zusammentreffen mit der gefährlichen Dame, das mir so viel Sorge ohne Noth machte, hat meinen Hippolit mir nur noch inniger verbunden, statt mir ihn zu [156] entfremden. Ich glaubte, je länger ich darüber dachte, seine Verweigerung, Aureliens Einladung zu folgen, zum Theil auf meine eigne Rechnung setzen zu dürfen, denn ich war nicht ausdrücklich darin mit einbegriffen gewesen. Ich wollte ihm darüber etwas freundliches sagen, und da gesteht er mir mit der liebenswürdigsten Offenheit, daß ich gar keinen Antheil an dieser seiner Entsagung habe, daß ich sie ihm überhaupt viel zu hoch anrechne; weil durch eine frühere Reise mit einer französischen Dame ihm jede ähnliche auf Lebenszeit verleidet sey. Mein Erstaunen über diese unerwartete Entdeckung brachte die Geschichte seines frühern Lebens zur Sprache. Guter Gott! in welches Labirinth von Gefahren und Verirrungen haben Unbedacht, Eitelkeit, jugendlicher Uebermuth, den zu früh sich selbst Ueberlaßnen geführt! Welch ein Glück, daß die Folgen einer frühern streng tugendhaften Erziehung seine, im Grunde doch sehr edle reine Natur, mitten in all der Verworrenheit bei Kräften erhielt, daß es nur einer hülfreichen Hand von außen bedurfte, um ihn aus dem Sumpfe von [157] Thorheit zu erretten, an dessen Rande er in jugendlicher Unvorsichtigkeit und kindischem Muthwillen herumgauckelte.«


Daß Gabriele dieser rettende Engel gewesen sey, brauchte Hippolit seinem weltklugen Freunde nicht zu vertrauen, um ihn davon zu überzeugen. Auch schwiegen beide über diesen Punkt, aber es entstand zwischen ihnen jenes zarte wortlose Verstehen, das einem wunden Gemüthe so wohl thut. Ernesto machte es sich von nun an zur heiligsten Pflicht, durch ernste Vorstellungen und anhaltendes Beschäftigen mit einem großen Gegenstande, den ihm mit jedem Tage werther gewordnen Jüngling dem muthlosen Schmerz, der trübsinnigen Verworrenheit zu entreißen, in die er nur zu oft noch versank. Der klassische Boden, den sie jetzt langsam durchzogen, bot ihnen Anlaß und Stoff zu geisterhebender Betrachtung einer kolossalen Vorwelt, und Ernesto benutzte alles, um seinen Liebling auf das gründlichste und vielseitigste [158] auszubilden. Es währte nicht lange, so entdeckte er in ihm einen jener Seltenen, von der Natur Hochbegünstigten, denen das Schwere leicht wird, denen das unerreichbar Scheinende von selbst zufällt, und die ohne Anstrengung, ja beinahe ohne Fleiß, alles Wissenswerthe nicht sowohl erlernen, als es sich aneignen mit Kraft und Geist. Dabei bemerkte er abermals mit großem Wohlgefallen, wie ihm Hippolits erste fast gelehrte Erziehung kräftig vorgearbeitet habe. Bei jedem Anlaß dazu entwickelte dieser Kenntnisse, von deren Besitz er kurz vorher kaum selbst eine Ahnung gehabt haben mochte; weil sie in ihm geschlummert, und nun, durch den Zufall geweckt, wie neu gewonnen ihm erschienen. So knüpfte jede mit einander verlebte Stunde beide fester an einander, und Ernestos Blick ruhte oft mit wahrhaft väterlichem Stolz auf dem geliebten Zögling, der ihn dafür, wie ein liebender Sohn, treu und innig verehrte.


[159] Moritz zog indessen von einem Bade in das andre, um seine neuerfundene Theorie des Spieles zu vervollkommnen, jedoch ohne dabei auf Gabrielens Begleitung Ansprüche zu machen; eine Schonung, die sie ihm um so herzlicher verdankte, da sie dadurch zu der lange gewünschten Reise zu ihren Freundinnen in Lichtenfels Zeit gewann. Der kleine Kreis, in dessen Mitte sie einst so schöne Tage verlebte, fand sich dort wieder ungetrennt beisammen, denn der General hatte Adelberten mit dem Anfange des Frühlings den Seinigen wieder gegeben.

Alle empfingen Gabrielen, wie man ein lang vermißtes Glück empfängt, und das Leben ging im Aeußern wieder den lieben gewohnten Gang; doch im Innern war es anders geworden.

Adelbert und Auguste wandelten so still, mit so ängstlicher Schonung neben einander her, als wären sie von Todtkranken umgeben. Die Liebe war geblieben, aber das Vertrauen war entflohen, und eben weil es entflohen war, strebten sie sich zutraulicher als je zuvor gegen einander zu bezeigen, um nur keinem geliebten Herzen [160] wehe zu thun. Nur der von allen gleich verehrte Greis, der General Lichtenfels, trat mit gewohnter Sicherheit, fröhlich und nichts ahnend unter ihnen auf. Weil keine Klage laut ward, weil aller Blicke ihm lächelten, glaubte er jede Wunde geheilt. Und wenn er auch zuweilen das ehemalige rege Leben unter ihnen vermißte, so schob er dieses auf die zu große Einförmigkeit, in der sie so lange Zeit hingebracht hatten. Gastfrei, wie in glücklichern Tagen, suchte er diesem bald abzuhelfen; er öffnete von neuem sein Haus; Freunde und Bekannte strömten wieder herbei, und aufs neue wurde das frühere gesellige Treiben in Gang gebracht, das einst Augusten und Adelberten zusammenführte. Alles zeigte sich ihm heiter und fröhlich wie damals, und so glaubte er gern an ein Glück, das er so innig wünschte und so angelegentlich herbeizuführen sich bemühte.

In stiller Wehmuth betrachtete indessen Gabriele das zerstörte Lebensglück ihrer Freunde; obgleich man ihre Ehe nicht eigentlich unglücklich nennen konnte. Nie ward ein Zwiespalt zwischen ihnen laut, vielmehr suchte jedes von ihnen dem [161] unausgesprochnen Wunsche des andern mit geschäftiger Aemsigkeit zuvorzukommen. Mit ängstlicher Sorgfalt vermied Auguste jedes Wort, jede Miene, die in ihrem Gemahl den leisesten Argwohn erregen konnten, als gedenke sie noch jener Verirrung, die er so schmerzlich bereute und so streng zu büssen im Begriff gewesen. Adelbert war seinerseits ebenfalls lauter Liebe und Aufmerksamkeit und beide erschienen in der Gesellschaft als Muster des schönsten ehelichen Verhältnisses. Nur das scharfblickende Auge inniger Freundschaft konnte hier ahnen, daß jenes sonst sie beseligende Empfinden gegenseitigen Glücks, jenes Leben des einen in dem andern, den laut Gepriesnen auf ewig entschwunden sey. Sie liebten sich noch, aber wie Verstoßene aus dem Paradiese einer Unschuldswelt sich lieben können. Das stille, ruhige, vertrauensvolle Gefühl war zu einer Art Leidenschaft umgewandelt, die in Momenten des glühendsten Aufwallens oft in der Tiefe ihres Gemüthes einem verbissenen Hassen glich. Trotz aller Anstrengung konnte Adelbert nie vergessen, daß Auguste ihm vergeben [162] habe, so wie sie stets daran denken mußte, daß sie ihmetwas zu vergeben gehabt habe. Beide fühlten den Zwang, auf etwas achten zu müssen, was ihnen sonst nie in den Sinn gekommen war, auf ihr Benehmen gegen einander. Und so geschah es denn oft, daß sie mit ausbrechender Wehmuth sich von einander abwandten, wenn der Zufall sie ohne Zeugen einmal zusammen führte, und sich dann mit wilder Hast mitten im Strudel der Gesellschaft vor dem eignen Herzen zu retten suchten, welches ihnen ihre ehemalige Seligkeit und ihr jetziges Elend laut zurief.

Frau von Willnangen sah anfangs tief bekümmert dem Verhältnisse ihrer Kinder zu, dessen trübe Seite ihr nicht entgehen konnte. Bald aber bewährte sich von neuem ihr glückliches Talent, stets das Beste zu hoffen; sie gedachte ihrer eignen Ehe an der Seite eines über alles geliebten Gatten, dem sie mit Freuden ihr Leben weihte, und dadurch unendlich beglückt war, obgleich er ihre glühende Liebe nicht in eben dem Maaß zu erwidern vermochte. Ihre Fantasie [163] spiegelte ihr in dem jetzigen Verhältnisse ihrer Auguste eine trügerische Aehnlichkeit mit dem eignen früheren vor, und so kam sie nach und nach zu der beruhigenden Ueberzeugung, daß Zeit und Liebe zu den, mit jedem Tage sich anmuthiger entwickelnden beiden Kindern alles bald wieder auf das Schönste ordnen und beruhigen werde. Sie versuchte es auch, Gabrielen ihren heitern Glauben an die Zukunft mitzutheilen, und diese ließ ihr gern den beruhigenden Irrthum, dem sie selbst sich hinzugeben nicht vermochte.

Gabriele durchschaute zu klar die tiefe, nie wieder herzustellende Zerrüttung eines einst seltnen Verhältnisses, das, so wie die Dinge jetzt standen, sich höchstens nur noch zu etwas sehr Gewöhnlichem gestalten konnte, zu einer leidlichen Ehe, in der man aus Gewohnheit und um der Kinder willen einander gegenseitig erträgt. Ihr Herz blutete für Augusten, deren gegenwärtiges Loos ihr sogar trauriger als das eigne dünkte, weil der zur Armuth herabgesunkene Reiche weit beklagenswerther ist, als der in Dürftigkeit Geborne. Aber sie hütete sich eben so sehr, das [164] Herz ihrer mütterlichen Freundin durch diese ihre eigne Ansicht zu verwunden, als sie jedes Gespräch mit Augusten sorgfältig vermied, das zu irgend einer Erklärung über diesen Gegenstand führen konnte. Gabriele wußte aus eigner Erfahrung, daß es Seiten im menschlichen Herzen und Verhältnisse im Leben giebt, welche selbst die zarteste innigste Freundschaft nicht mit einem Hauche zu berühren wagen darf.


Den Schmerz um ihre Freunde abgerechnet, erfreute Gabriele sich indessen doch eines Zustandes, der mit den letzt vergangnen unruhvollen Jahren sehr angenehm kontrastirte. Augustens Kinder waren die Freude ihres Lebens, mit ihnen und in der stillen Beschäftigung mit sich selbst, welche ihr durch das zerstreute Leben in der Residenz so erschwert worden war, brachte sie die erste Hälfte des Tages in der ruhigen Einsamkeit ihres Zimmers zu. Der Abend wurde ihren Freunden geschenkt, besonders der Erheiterung [165] des freundlichen Oheims, den sie, seit sie ihn näher kennen gelernt hatte, gleich einer liebenden Tochter verehrte. Die Verlängerung von Moritzens Reise, die sich auf unbestimmte Zeit über den Winter hinaus ausdehnte, erlaubte ihr, den Bitten ihrer Freunde nachzugeben und bis zu seiner Rückkehr bei ihnen zu verweilen. Sie that dieses um so lieber, da sie wohl einsah, wie erfreulich ihre Gegenwart den armen Verstörten, wenigstens momentan, den Schein vergangner Glückseligkeit zurückgab.

Hippolits Tagebuch-ähnliche Briefe waren ihr jedesmal wie ein lieber Besuch, dem sie immer zur bestimmten Zeit mit froher Erwartung entgegen sah; und auch wenn er nicht schrieb, gedachte sie seiner mit einer eignen Rührung. Nie konnte ihr dankbares Gemüth des hochherzigen Jünglings zarte Aufopferung vergessen, mit der er ertragen hatte, was seiner kühnen Natur das Unerträglichste seyn mußte, um nursie nicht in ihrer Freundin zu betrüben. Für die wilde Leidenschaftlichkeit, der er sich bis zur höchsten Verblendung überlassen hatte, fand ihre nachsichtsvolle, [166] alles gern ausgleichende Natur von jeher tausend Entschuldigungen und seine jetzigen Briefe bekräftigten diese. Aus jedem derselben leuchtete die höhere Entwickelung seines Geistes unter Ernestos Leitung hervor. Sie sah aus ihnen, wie der bis jetzt nur in seinen Gefühlen lebende Jüngling heranreifte zum festen edlen Manne, der mit hellem Blicke die Welt anschaut, und aufhört, sich und sein Herz für den Mittelpunkt derselben zu halten. Ihr selbst unbemerkt, regte sich dabei oft der Wunsch baldigen ruhigen Wiedersehens in ihrem Gemüth und ward allmählig zur süßen Sehnsucht, die ihrem Leben neuen Werth gab. Das Gefühl, dessen Bekenntniß Hippolits Entfernung veranlaßt hatte, schimmerte zwar noch fortwährend aus seinen Aeußerungen hervor, aber es glich einem goldnen Faden, der das ganze Gewebe seiner jetzigen Existenz zusammenhielt, und es schien, als sähe er es doch als seiner und ihrer unwürdig an, ihr länger nur von sich und seinen Empfindungen zu schreiben. Dabei waren seine Bemerkungen über Natur und Kunst, über Welt und Leben, von einer Tiefe [167] und Originalität, über die sie oft in freudiges Erstaunen gerieth.

Ernestos Briefe bestärkten von Zeit zu Zeit ihr frohes Hoffen von der Zukunft ihres jungen Freundes. »Sie sind noch immer die hohe Dame seiner Gedanken, an der er mit der tiefen Verehrung eines ächten Chevaliers der Tafelrunde hängt,« schrieb er ihr einst. »Leugnen Sie mir nicht ab, obgleich ich auch nicht fordre, daß Sie es mir gestehen sollen, daß ich Ihnen hiemit nichts neues verkünde. Machen Sie es wie er, geben Sie es mir schweigend zu. Weiß ich doch nicht, ob er mehr als ein solches schweigendes Geständniß auch gegen Sie jemals gewagt hat, obgleich ich es aus dem Stottern wohl schließen könnte, das ihn allemal befällt, wenn ich der nächsten Veranlassung seiner Reise nach Italien nachforschen will. Nicht minder aus einer gewissen reuigen Wehmuth, die ihn leicht bis zu Thränen bewegt, wenn er der letzten Tage gedenkt, die er in Schloß Aarheim verlebte. Dem sey wie ihm wolle, ich danke den Göttern, für ihn und mich, daß wir einander fanden. Was [168] ich für ihn thue, ist alles und nichts; das hohe Gelingen lohnt mir tausendfältig. Schön und traurig, wie ein Antinous, stand er vor mir bei unserm ersten Zusammentreffen, und erregte schon durch seine äußre Erscheinung das lebhafteste Interesse; aber sein Festhalten an mir, da er mich erkannte, sein Ergeben in meinen Rath, in meine Leitung gewann bald bei dieser seiner rüstigen Jugendkraft, etwas so unaussprechlich Rührendes, daß ich mich seiner hätte annehmen müssen, und hätte es mich auch das höchste Opfer gekostet. Und so entstand denn eine Verbindung, die mir jetzt gegen das Ende meiner irdischen Laufbahn die höchste Freude gewährt. Denn was kann belohnender seyn, als der Anblick einer edlen kräftigen Natur, die aus geistiger und irdischer Verirrung mancherlei Art sich tapfer loswindet, und dabei das selige Bewußtseyn, ihr hülfreich und schützend zur Seite zu stehn. Sie, Gabriele! mögen immer das schöne Gefühl mit mir theilen; Sie haben mir kräftig vorgearbeitet, so kräftig, daß ich oft Sie zu sehen und zu hören glaube, wenn er recht aus dem Herzen spricht oder handelt. [169] Und so ist es billig, daß auch Sie sich Ihres Werks erfreuen mögen.«


Still und ruhig hatte Ottokar indessen seit mehreren Jahren in Rom gelebt, in selbsterwählter Zurückgezogenheit von öffentlichen Geschäften und Ehrenbezeugungen, nur mit sich, seinem Knaben, der Natur, der Kunst, und wenigen auserwählten Freunden. Tausend sehr ernste Erfahrungen hatten ihn endlich überzeugt, daß nur in der Kunst, entsagen zu können, der ächte Stein der Weisen verborgen liegt. An Aureliens marmor-glatter und kalter Natur waren alle seine Versuche fruchtlos abgeglitten, sie sich und dem ächten Genuß des Lebens zu gewinnen. So hatte er sie denn endlich aufgegeben, und begnügte sich damit, seine Gemahlin nach der von ihr selbst gewählten Weise das Glück suchen zu lassen, indem er ihr Geld und Freiheit gab, so viel sie bedurfte oder verlangte. Ersteres machte sein großes Vermögen und eigne Genügsamkeit [170] ihm möglich, und daß Aurelia ihre unumschränkte Freiheit nie auf eine, seine Ehre verletzende Weise mißbrauchen könne, dafür bürgte ihm ihr Stolz auf die einzige Frauentugend, die sie eigentlich anerkannte, und zu deren strenger Richterin sie sich überall aufwarf. Der kleine Herrmann, Ottokars sehr anmuthig heranwachsender Knabe, gewährte ihm wenigstens einen Theil des häuslichen Glücks, nach dem er sich stets gesehnt und das er leider an Aureliens Seite nie hatte finden können. In der Freude über ihn, vergaß er gern alles, was die Welt sonst noch ihm versagt hatte. Er näherte sich jetzt dem Alter, in welchem die Stürme in der Brust, denen er früher mit Muth und Kraft entgegen kämpfen mußte, allmählig von selbst sich beschwichtigen. Seine Jugend lag hinter ihm, wie ein halb schöner, halb ängstlicher Traum, aus dem Gabrielens kurze Erscheinung gleich einem hellen Sterne hervorleuchtete. Er gedachte ihrer, wie einer himmlischen Gestalt, die auf irdischem Pfade ihm einst segnend vorüberschwebte und von höhern Sfären Kunde und Gewißheit verlieh.

[171] Von ihrem fernen Leben auf Erden seit jener Stunde wußte er nur wenig. Ernesto hatte immer vermieden, ihm genaueren Bericht davon zu geben; er wollte gern dem ohnehin auf mancherlei Weise Verletzten unnütze Schmerzen ersparen, und konnte es schweigend nur, da er ihm so wenig Erfreuliches zu melden hatte. Ottokar wußte nur daß Gabriele vermählt sey, daß sie mit diesem Schritte ihrem Vater und ihrer Pflicht ein schweres Opfer freudig und willig gebracht. Dieß war ja einst sein eignes Loos auch gewesen, und nach der ihn dafür beseligenden Ruhe seines eignen Bewußtseyns mußte er auch sie für beglückt halten. Freilich vergaß er dabei der Verschiedenheit des Verhältnisses, welches den Frauen das als eine sehr schwere drückende Last aufbürdet, was das freie glücklichere Loos der Männer diesen auf tausendfache Weise erleichtert.

So fand ihn Ernesto als er gegen Weihnachten mit seinem jungen Freunde in Rom anlangte. Denn die Reise nach Sicilien war aus mehreren bewegenden Gründen einstweilen aufgegeben. Bis jetzt hatte Ernesto sich von innerem Bangen immer [172] abhalten lassen, Hippoliten mit Ottokar bekannt zu machen. Von diesem Gefühle geleitet, hatte er sogar die Reise nach Rom so weit hinausgeschoben und Ottokars nur immer in sehr allgemeinen Redensarten gedacht. Eigentlich fürchtete er, daß Gabrielens Name, zur Unzeit genannt, bei Beiden Gefühle und Erinnerungen aufregen, ja vielleicht Scenen herbeiführen könne, die wenigstens ihrer mühsam errungenen Ruhe neue Gefahr brächten. Doch jetzt mußte er sich endlich entschließen, den Schritt zu wagen, den er nicht länger schicklicher Weise zu vermeiden wußte. Er führte beide einander zu, und hoffte dabei, weil er es wünschte, daß jeder von ihnen das heiligste Geheimniß seiner Brust wohl zu bewahren wissen werde.

Hippolit fühlte sich gleich in den ersten Minuten ihres Beisammenseyns von Ottokars Erscheinung mächtig ergriffen. Kein sterbliches Wesen, selbst Gabriele nicht, hatte sein Herz mit so unaussprechlicher Ergebung, mit so ganz rücksichtsloser reiner Neigung beim ersten Anblick erfüllt, als der schöne, ernste und dabei so unsäglich milde [173] Mann, aus dessen hell leuchtendem Auge jugendliche Kraft und Wärme sprach, während er, ausgerüstet mit aller Würde und allen Vorzügen des reifern Alters vor ihm stand.

Auch Ottokar ward von Hippolits liebenswürdigem und bescheidnem Wesen angezogen, dieser kam ihm, wie ein jüngerer Bruder vor, zu dessen vollendeter Bildung mitzuwirken, er mit der lebendigsten Theil nahme sich verpflichtet fühlte. Und so erbot er sich, mit Ernesto sein steter Begleiter zu allen jenen Wundern der Vorwelt zu werden, welche keine feindliche Macht dem heiligen Boden entführen konnte, der eine lange Reihe von Jahrhunderten hindurch sie treu aufbewahrte und aufbewahren wird. Innigst erfreut über Hippolits reges und richtiges Gefühl, schwelgte er an seiner Seite im frohen Nachempfinden jener Tage, in denen er selbst zuerst dieß klassische Land betrat. Dafür theilte Hippolit Ottokars Freude an dem kleinen Herrmann, der sich sehr schnell gewöhnte, ihn als seinen liebsten Spielgefährten zu betrachten. So ordnete sich bald ein für Alle sehr genußreiches Zusammenleben; nur Ottokars Nähe [174] schien Hippoliten noch gefehlt zu haben, um ihn ganz auf die Stufe der Bildung zu heben, für welche seine Natur ihn bestimmte; bei ihm fand er im glücklichsten Verein den würdevollen Ernst des vollendeten Mannes mit fast weiblich weichem Zartgefühl auf das innigste verbunden; und während Ernesto Hippolits Geist, dessen Verstand und Wissen mit alle dem Reichthum ausstattete, den er selbst in so hohem Grade besaß, würkte Ottokar nicht minder wohlthätig auf sein Gemüth. Er verhalf ihm zu jener Klarheit in seinem Empfinden, welche er selbst mühsam errungen hatte, und weihte ihn dadurch zu jedem Opfer, jeder Entsagung, welche das Leben im Laufe einer wahrscheinlich sehr langen Zukunft von ihm ferner noch heischen mochte.


So waren mehrere Wochen vergangen, während welchen sich Hippolit immer fester an Ottokar anschloß, als dieser zufällig von einer leichten Unpäßlichkeit gezwungen ward, einige Tage zu [175] Hause zu bleiben. Hippolit eilte auf die erste Nachricht davon herbei und fand ihn allein, in einem abgelegnen Kabinett, zu welchem sonst jedermann der Zutritt versagt ward, und das auch selbst er noch nie vorher betrat.

Eine einzige Zeichnung über dem Schreibtisch schmückte die mit grüner Seide ganz einfach bekleideten Wände des kleinen traulichen Gemachs, sie mußte dem Eintretenden gleich in die Augen fallen, und erstarrt, bleich wie ein Sterbender blieb Hippolit wie eingewurzelt vor Gabrielens Abbildung ihrer väterlichen Burg stehen; dem einzigen Angedenken von ihr, das Ottokar vor jedem fremden Blick hier wie ein Heiligthum aufbewahrte.

Ottokar fuhr, über den Zustand seines Freundes erschrocken, vom Divan auf, auf welchem er lag. Er mußte ihn von einem plötzlichem Uebel befallen glauben und wollte ihm zur Hülfe eilen, als dieser in aller früheren, mühsam bekämpften Heftigkeit seines Wesens in seine Arme sich warf und ihn fest umklammerte.

[176] »Ja Du bist es,« rief er, und das Weh eines ganzen Lebens lag in dem schmerzlichen Ton dieser Worte, »Du bist es! Wer anders konnte es seyn als Du? Wie war es möglich, daß ich Dich nicht gleich erkannte! Nun ist mir alles klar, ja nur Dich, nur Dich konnte Gabriele lieben, und nur Du konntest ihr entsagen. O ich Verblendeter! Daß ich erst jetzt dieses weiß!«

Auch Ottokar erstarrte als er diesen Namen von diesen Lippen so nennen hörte. »Gabriele!« rief er, »kennst Du Gabrielen? Kennst Du dieß Schloß?«

»Ob ich es kenne? ob ich Gabrielen, ob ich Schloß Aarheim kenne?« antwortete Hippolit; seine Augen blitzten und alles Blut aus seinem Herzen färbte die erblichnen Wangen in Purpurglut. Er sprang auf und riß sein Taschenbuch hervor, in welchem er eine kleine Kopie von Ernestos Virginia aufbewahrte, die er auf Schloß Aarheim heimlich zu zeichnen Gelegenheit gefunden hatte. »Sieh her,« rief er, »blick her, und Du, Du bist ja Icilius, unverkennbar; mein Gott! wie gehen mir jetzt erst die Augen auf!«

[177] Ottokar betrachtete das Blatt; auch er erbleichte, tief erschüttert, und kaum vermochte die zitternde Hand es fest zu halten; denn eine Ahnung des ganzen Umfanges von Gabrielens traurigem Geschick ging ihm zum erstenmal aus diesen Zügen auf. Mit einer Art Beschämung fühlte er plötzlich, wie vergleichungsweise glücklich er diese Reihe von Jahren verlebt hatte, während sie den bittersten Kampf mit dem Leben bestand. Schweigend standen beide einige Minuten einander gegenüber, doch dem geprüften festeren Manne gelang es eher, Fassung zu erringen als dem wild bewegten, sturmvollen Herzen des Jünglings. Ottokar nahm ihn an seine Brust, wie ein Vater sein liebes verwundetes Kind, er zog ihn zu sich, er sprach ihm liebkosend zu, mit seiner sanften beruhigenden Stimme. Hippolit erkannte die Töne, die einst auch in Gabrielens Herzen wiederhallten, er konnte ihrem Zauber nicht widerstehen, sie beschwichtigten allmählig das Toben in seinem Innern, und nun begann zwischen beiden edlen Menschen eine Scene des innigsten Vertrauens. Ihre Seelen, alle ihre Gedanken ergossen [178] sich in einander; was nie über ihre Lippen gekommen war, gestanden sie sich hier, offen, wahr, ohne Rückhalt, alles tief im Herzen Verborgne kam zur Sprache und diese Stunde, die bei minder Vorzüglichen vielleicht eine ewige Trennung bewirkt hätte, verband sie einander für Zeit und Ewigkeit.

Den ganzen Tag hindurch ließ Ottokar den jetzt ganz Gewonnenen nicht von seiner Seite. Ernesto kam hinzu, es war unmöglich ihm, was vorgegangen, zu verhehlen, und er sah mit freudiger Rührung neues, ihm unerwartetes Heil aus einer Entdeckung entstehen, die er nur deshalb so ängstlich abzuwenden gesucht hatte, weil die Erfahrung eines langen Lebens unter den Menschen ihn um den Glauben an die hohe Reinheit des Gemüths gebracht hatte, die ihm doch hier, fast am Ende seiner Laufbahn, aus der Brust seiner Lieblinge so hell entgegen strahlte.


[179] Ottokar nachzustreben, in allem nur Erreichbaren, war von nun an Hippolits felsenfester Entschluß.

»Sie hat ihn geliebt und er konnte ihr entsagen,« sprach er in einer ernsten Stunde des reinsten Vertrauens zu Ernesto. »Auch ich entsage, ich der Ungeliebte, der, hoffnungsloser als je, doch ewig ihr Bild im Herzen tragen muß. Ich kann sie nie gewinnen, nun so sey all' mein Streben, ihrer werth zu werden, wie Ottokar es ist. Kein Laut, kein Blick verrathe von nun an meinen stillen Schmerz, auch Sie Ernesto, ich flehe darum, ehren ihn durch Schweigen.«

Andre Pläne, andre Hoffnungen reiften indessen in Ottokars edler Brust. Erst jetzt, durch die Zeichnung Ernestos zur Sprache gebracht, hatte er von diesem treuen Freunde vernommen, welche lange Reihe von Entsagungen und Opfern jeden Tag in Gabrielens Leben bis zu dieser Stunde bezeichnete. Seine reuige Wehmuth, wenn er den Abstand zwischen seinem und ihrem Geschick betrachtete, steigerte sich zu einer ängstlich drückenden Höhe, ihm war, als habe auch er [180] ihr Unglück mit verschuldet, und müsse jetzt nur suchen, sie zu erretten. In aller unerträglichen Lächerlichkeit und Widerwärtigkeit sah er Moritz neben Gabrielen, unablässig wie ein Schreckbild stand dieser vor seiner Fantasie. Er vermochte es nicht, sich von ihm abzuwenden; im Gegentheil ward er nicht müde, Ernesto über seine Persönlichkeit auszufragen, als hoffe er, dennoch endlich etwas zu vernehmen, das ihm Trost zu geben vermöchte. Und zuletzt blitzte wirklich während eines solchen Gesprächs wenigstens ein Hoffnung verheißender Strahl in ihm auf.

»Nein,« sprach er endlich, sich selbst zum Troste, »die Natur wird nicht ungerecht seyn, sie wird nicht die Lebenszeit des kränklichen Greises bis an die äusserste Gränze des menschlichen Lebens hinaus rücken, um die Qual jenes himmlischen Wesens zu verlängern. Gabriele wird frei, vielleicht bald, und wer wäre dann des Glücks würdiger die trübe Erfahrung ihres Lebens auszugleichen, jede qualvolle Erinnerung zu verlöschen, als dieser seltne Hippolit, mit seiner unendlichen Liebe! An sich selbst dachte Ottokar nicht dabei, von [181] jeher glich sein Gefühl für Gabrielen mehr der anbetenden Bewunderung, als irdischer Liebe. Jugendlich schön, fast noch in holder Kindlichkeit, wie sie in jener einzigen unvergeßlichen Stunde ihm erschienen war, um schnell wieder zu verschwinden, schwebte ihr Bild noch immer unverändert vor seinem inneren Sinn; es konnte ihm nicht einfallen sich selbst des Glücks noch würdig zu halten, ihr alle ihre Leiden zu lohnen, sogar wenn ein unerwartetes Geschick die Bande zerreißen sollte, die ihn an Aurelien fesselten, und die er selbst nie eigenmächtig zu lösen längst entschlossen war. Die bedeutende Reihe von Jahren die er vor Gabrielen vorauszählte, hatte ihn jener Zeit zugeführt, wo jedes jugendlich-wild-aufbrausende Gefühl in milderes Empfinden übergegangen ist. Gabrielen noch dereinst glücklich zu wissen, mit dem Bewußtseyn, selbst zu ihrem Glück beigetragen zu haben, ward ihm jetzt zum vorherrschenden Wunsch, der immer und überall ihn verfolgte. Hippolits unveränderte mit jedem Tage steigernde Liebe zu ihm, die ganze Liebenswürdigkeit seiner Natur, zogen ihn immer mehr [182] an, er gewöhnte sich, ihn nur mit Hinsicht auf Gabrielen zu betrachten. Bald kam er dahin, sich Beide schon jetzt als Eins zu denken, und so machte er es sich zum angelegentlichsten Geschäfte, ihm überall zur Seite zu stehen. Gabrielens Name ward nach jenen ersten Stunden heiligen Vertrauens nie wieder unter ihnen genannt, doch beide lasen ihn oft, eins in des andern Blicken. Auch Ernesto schwieg, und beruhigt durch Hippolits Herrschaft über sich selbst, gab er sich heiterer wie zuvor, der Freude an den Fortschritten seines Zöglings in allem Edlen, Guten und Schönen hin, ohne weder über die Vergangenheit noch über die Zukunft ängstlich zu grübeln.


An der Seite seiner edlen Freunde, angeregt und ermuthigt durch Ottokars Nähe und Ernestos klaren welterfahrnen Sinn, gelangte Hippolit zu immer sicherer Gewalt über sich selbst. Das Jahr neigte sich zu Ende, und er fühlte jetzt im [183] gerechten Vertrauen auf sich, daß er es wagen dürfe, Gabrielen um die Erlaubniß zur Rückkehr zu bitten. Sie hatte sie ihm beim Scheiden unter Bedingungen versprochen, deren Erfüllung ihm zwar noch schwer, aber doch nicht mehr unmöglich dünkte.

So schmerzlich auch Ottokar die Trennung fühlen mochte, bestärkte dieser ihn doch durch seine Zustimmung in diesem Entschluß, und so wagte es Hippolit denn endlich, ihn gegen Gabrielen auszusprechen.

»Fürchten Sie keinen neuen Ausbruch jener vernichtenden Leidenschaftlichkeit mehr von mir, deren ich jetzt nur noch mit einem sehr beschämenden Gefühl gedenken mag,« schrieb er ihr. »Sie werden Ihren wilden Edelknaben in nichts wieder erkennen, als in der treusten Anhänglichkeit und unbedingten Ergebung in Ihren Willen. Mögen Sie ihn zum zweitenmal und auf immer verbannen, wenn je ein Wort, ein Blick, ein Athemzug jene trüben Tage Ihnen zurückruft, in denen er mit umdüsterten befangnem Sinn alles vergaß, was er Gott, sich selbst und Ihnen [184] schuldig ist. Gabriele! seyn Sie wieder mild und gütig, wie Sie es immer waren, Sie können es ohne Sorge, ich will ja nichts als in Ihrer Nähe seyn, Sie sehen, Sie hören. Sie selbst sollen bestimmen, wie oft, wie lange? Und wenn Sie mir nur eine Stunde, ja nur wenige Minuten des Tages vergönnen, ich will nicht murren gegen Ihr Gebot, das ich dankbar verehre.«


Wenige Wochen nach dem Empfange dieses Briefes stand Hippolit selbst vor Gabrielen.

Er fand sie allein in ihrem stillen Zimmer in der Residenz, wohin sie von Lichtenfels zur Pflege ihres Gemahls zurückkehren mußte, der vor einigen Monaten sehr krank von seinen ermüdenden Streifereien zu Hause angelangt war. Hippolit wankte zwar, als er Gabrielen zuerst wieder erblickte, doch half ihm die Bewegung, in die sie selbst in diesem Momente gerieth, dieß zu verbergen. Ihr Auge strahlte mit ungewohntem [185] Feuer, ein blühenderes Roth färbte ihre Wangen, ihre Gestalt schien noch ätherischer als sonst, die Zeit hatte ihrer Schönheit höheren Glanz verliehen und mit der ersten Blüthe früher Jugend ihr keinen Reiz geraubt. So erhob sie sich bei seinem Eintritte von ihrem Sessel und suchte vergebens nach freundlichen Worten, ihn damit zu begrüßen. Er wagte es nicht, die Hand zu berühren, die sie wie unwillkührlich ihm halb entgegenreichte, aber sein Herz sprach laut aus seinem gesenkten Blicke, aus der edlen und doch so demüthigen Stellung, in der er vor ihr, wie vor einem Götterbilde, sich ehrerbietig neigte. Der Edelknabe war zum Manne geworden, zum männlichschönsten, den ihr Auge je erblickte, aus dessen edlen, rein harmonischen Zügen jede Spur jenes wilden Feuers verschwunden war, von dem sie sonst so oft erschreckt worden. So hatte Ottokar ihren Jugendträumen vorgeschwebt, jetzt erblickte sie das Traumbild ins Leben gerufen, aber veredelt, verklärt, wie sie selbst in ihren fantasiereichsten Stunden es nie sich gedacht hatte.

[186] Beide schwiegen in den ersten Momenten; Hippolit fand zuerst den Muth, dieß Schweigen zu brechen. Er brachte Briefe, Zeichnungen, Kameen, Pasten, kleine Mosaiken, die Ernesto ihm für Gabrielen mitgegeben hatte, und kramte alle die glänzenden Gaben in liebenswürdiger Geschäftigkeit vor ihr auf dem Tische aus.

Von ihnen wendete sich das Gespräch auf sein Leben und seine Reisen in Italien. Er sprach viel von Ernesto, endlich wagte er es, sogar Ottokars Namen zu nennen und Gabrielen manches Angenehme von dessen jetzigem Leben mitzutheilen. Er that es mit etwas unsichrer Stimme und gesenktem Blick; ohne jedoch Ottokars in irgend einer genauern Beziehung zu Gabrielen zu erwähnen. Er sprach von ihm nur als von einem ihm sehr theueren Freunde, dem er unendlich viel verdanke. Es war das letzte schwerste Erproben seiner Standhaftigkeit, das er sich selbst auferlegt. Er hatte darin bestanden, aber jetzt vermochte er auch nicht mehr. Er erhob sich um Abschied zu nehmen, und bat [187] nur noch um die Erlaubniß, zu einer gelegenen Stunde auch Moritzen begrüßen zu dürfen.

Hippolit hatte während seines Besuchs beinah allein gesprochen, denn Gabriele vermochte es kaum über sich, dann und wann einige Worte der Schicklichkeit zu Liebe einzuschieben; sie war ganz Auge, ganz Ohr, hingerissen vom lebhaftesten Erstaunen über die unglaubliche Veränderung, die, in weniger als zwei Jahren, wie durch ein Wunder bewirkt, ihr hier entgegenleuchtete.

In tiefem Nachsinnen und doch fast ohne Worte für ihre Gedanken, blieb Gabriele lange wie in sich verloren. War das der Hippolit, welcher einst so keck und vorlaut an dieser nemlichen Stelle auftrat? War das der wilde rohe Jüngling, dessen ungebändigten Sinn sie unlängst mit so ernster Strenge zurecht zu weisen gezwungen war? Ihr Herz regte sich laut in ungestümen Schlägen, ihre Wangen glühten vor Freude, meinte sie, über diese glückliche Verwandlung. Eine ihr unerklärliche Unruhe hielt sie mitten in diesem frohen Gefühle befangen, [188] die bei dem Gedanken, ihn am Abend wieder zu sehen, in ihr ein Bangen erregte, wie sie kaum damals es empfunden hatte, als sie, ein Neuling in der Welt, zwischen Fürchten und Hoffen Ottokars Gegenwart im Salon ihrer Tante entgegenging.

Endlich am Abend erschien Hippolit in Moritzens Zimmer. Der mürrische Kranke empfing ihn mit bittern Vorwürfen über seine plötzliche Abreise von Schloß Aarheim, die Hippolit mit vieler Sanftmuth ertrug. Bald fühlte sich Moritz wieder von dem gewohnten Zauber hingerissen, den die Gegenwart seines ehemaligen Lieblings stets an ihm übte. Er wurde immer freundlicher, zuletzt war alles Unangenehme so weit vergessen, daß er nur aufs neue mit Bitten in ihn drang, sein Haus wie ehemals als sein eignes zu betrachten. Der ihm nun wieder ganz zugeneigte Alte trug ihm sogar eine Wohnung in demselben an, er drang sie ihm fast auf, und Hippolit bedurfte aller seiner Gewandheit im Leben, um dieß Anerbieten bescheiden von sich abzuweisen. Er that es, ohne dabei den Blick zu [189] Gabrielen zu erheben, die hocherröthend und schweigend der Verhandlung zuhörte, ohne die mindeste Aeußerung über sie zu wagen. Sie schämte sich innerlich ihrer Verlegenheit dabei, denn sie glaubte nun fest überzeugt seyn zu können, daß in Hippolits Gemüth keine Spur von jenem Gefühl mehr lebe, das sie einst zwang, ihn zu verbannen, und doch vermochte sie es nicht über sich, diese wunderbare, ihr selbst unerklärliche Befangenheit zu besiegen.


Von nun an war Hippolit aufs neue Gabrielens täglicher Gast. Sein Betragen blieb sich immer gleich. Immer erschien er gelassen, sanft, freundlich gegen Moritzen; voll inniger Theilnahme und ungeheuchelter Ehrfurcht gegen Gabrielen. Zuweilen fand er sie allein, öfter am Krankensessel ihres Gemahls, der von einem unheilbaren Asthma ergriffen, in manchen Augenblicken Todespein litt, von der er sich aber stets nach einigen qualvollen Minuten schnell wieder [190] erholte. Zufolge des Ausspruchs der Aerzte konnte er noch viele Jahre lang mit diesem Uebel kämpfen, ehe es ihn überwältigte.

Einst, nicht lange nach seiner Ankunft, überraschte Hippolit Gabrielen, eben da sie zitternd vor Frost, in der unfreundlichsten Jahreszeit, bei weitgeöffneten Thüren und Fenstern den athemlosen Kranken unterstützte, der für seine gequälte Brust nur in der fürchterlichsten Zugluft einige Erleichterung fand, und sie dabei in seinem bewußtlosen Zustand fest umklammert hielt. Der Anfall ging vorüber und Hippolit gewann Zeit und Kraft, Gabrielen zu betrachten, welche, mitleidige Thränen im schönen Auge, erschöpft hinsank.

Sein Herz stand still vor Entsetzen, da ihm in diesem Momente die Gefahr plötzlich entgegenstarrte, der sich dieses zarte Wesen täglich aussetzte. Und für wen?

Die auf ihren vorher so bleichen Wangen schnell erblühende tiefe Röthe, das ungewohnte Strahlen ihrer Augen bezeichnete sie seinem vorahnenden Herzen auf einmal als eines jener Opfer, [191] welche der langsam heranschleichende Tod erst mit überirdischer Schönheit schmückt, ehe er sie früh und auf immer erbleichen läßt.

Von ungeheurer Angst getrieben, ergriff er nun die erste einsame Stunde mit ihr, um sie um Schonung für sich selbst anzuflehen. Es war die erste Bitte, die er seit seiner Rückkehr aus Italien an sie wagte; wenn sie sie ihm gewährte, sollte es auch die letzte seyn, dieß gelobte er auf das Heiligste. Gabriele konnte sie ihm weder versagen noch gewähren, und Hippolit sah sich dadurch gezwungen, sie von nun an gleich einem theuern Kleinod argwöhnisch zu bewachen. Er beschloß, so viel Zeit als möglich in ihrem Hause zuzubringen, entstehe daraus was da wolle, um nur gleich zur Stelle zu seyn, wenn der Kranke so gefahrvollen Beistand verlange. Denn eigensinnig wie immer erklärte dieser, ihn nur von seiner Gemahlin oder Hippoliten annehmen zu wollen.

Die Welt, eigentlicher was man in großen Städten die Welt zu nennen pflegt, begann freilich hier und da des glänzenden Fremdlings [192] stete Anwesenheit im Aarheimischen Hause zum Ziel ihrer Bemerkungen zu machen; doch in der Abgeschiedenheit, in welcher Gabriele jetzt lebte, vernahm diese wenig davon. Weniger noch Hippolit. Denn sowohl sein Aeußeres, als die Erinnerung an sein Betragen gegen Adelberten waren ganz dazu geeignet, jedermann den Muth zu einem unziemenden Scherze gegen ihn zu benehmen.

Und so war Hippolit jetzt glücklicher als er es je zu werden gehofft hatte; er war es in der Ueberzeugung, daß es ihm wirklich gelänge, zur Erhaltung und Erleichterung des geliebten Wesens beizutragen, für das er mit Freuden sein Leben hingegeben hätte. Ein freundlicher Stern schien dabei sein Bemühen zu begünstigen, denn Moritz ward bald darauf scheinbar besser, wie das bei Kranken seiner Art zuweilen wohl auf kurze Zeit geschieht, und er ermangelte nicht, dieß einzig der treuen Pflege seines jungen Freundes zuzuschreiben. Seine beängstenden Anfälle verließen ihn einstweilen fast gänzlich, dafür aber stellte sich seine alte Feindin, die Langeweile, wieder ein, und er machte jetzt weit stärkere Ansprüche [193] als je zuvor auf Hippolits und Gabrielens Gesellschaft in den Abendstunden.

Um der Unterhaltung eine leidliche Wendung zu geben, trug Hippolit allmählig alle seine in Italien gesammelten Kunstschätze herbei. Gemälde, Zeichnungen, Kupferstiche, kleine Antiken gaben Moritzens Zimmer gar bald das Ansehen eines Museums. Wunderbarer Weise bildete dieser sich mit einemmale ein, ein großer Kunstkenner geworden zu seyn; da indessen seine Redseligkeit durch sein Uebel sehr gehemmt ward, so war er weit weniger störend als sonst, und blieb gewöhnlich nur ein größtentheils stummer Zuhörer von dem, was Hippolit und Gabriele mit einander sprachen. Er behauptete indessen sehr ernstlich, diese Unterhaltungen, besonders Hippolits Erzählungen ungemein ergötzlich zu finden, spielte aber dabei doch mit sich ganz allein eine Schachparthie nach der andern, wie Philadelphia sie in seinem Schachbuche vorschreibt, sammt allen Abänderungen jedes einzelnen Spieles. Triumfirend rief er sein »Matt!« aus, wenn die Weißen gewannen, die er nach seines Meisters Beispiel, [194] der die Schwarzen gewöhnlich schlecht spielen läßt, in besondern Schutz genommen hatte. Dabei glaubte er steif und fest, sich den ganzen Abend über einzig mit der Kunst beschäftigt zu haben.

Hippolits und Gabrielens Unterhaltung gewann durch dieses sonderbare Beisammenseyn einen ganz eignen Reiz, eine fast größere Freiheit, als wären sie ganz ohne Zeugen gewesen. Moritz vertiefte sich immer mehr in sein Studium des Schachspiels und mischte sich immer weniger in ihr Gespräch. Die Kunstwerke um sie her, und Hippolits in Italien, unter Ernestos Leitung sehr ausführlich geschriebnes Tagebuch gaben ihnen stets neuen unendlichen Stoff.

Gabriele ward in mancher Hinsicht jetzt wirklich die Schülerin ihres Freundes, anstatt daß er sonst in Schloß Aarheim von ihr lernte. Lächelnd erwähnte sie einst gegen ihn dieser seltnen Umwandlung.

»Bin ich nicht alles durch Sie?« erwiderte er ihr. »Sie allein erweckten mich ja zu diesem neuen erhöhten Leben. Sie öffneten mir ja zuerst [195] das Reich der Kunst und führten mich zur beseligenden Erkenntniß der ewigen Schönheit. O Gabriele, wüßten Sie, mit welchem Wonnegefühl ich mir täglich zurückrufe, was ich Ihnen alles verdanke! Möge nur ein günstiges Geschick mir erlauben, Ihnen stets zur Seite zu stehen wie jetzt, um mit jedem Athemzuge Ihnen zu beweisen, daß ich nur für Sie lebe, für Sie, die mich allein dem Sonnenlichte und der Hoffnung erhielt.«

Ein Monat nach dem andern verging auf diese Weise, und Hippolit fühlte mit immer tiefrer Ueberzeugung, daß weder Zeit noch Veränderung des Ortes seinem Gemüth in Hinsicht auf Gabrielen eine andre Richtung gegeben habe, noch geben könne. Sie nur thronte, gleich einem Götterbilde, in seinem Herzen, und die Einsamkeit war noch oft Zeuge seines Schmerzes. Unendliches Mitleid mit ihr, mit sich und auch mit Ottokar hielt manche bange lange Nacht hindurch den Schlummer fern von seinem Lager. Doch er hatte gelobt, sich zu beherrschen, und er führte es mit bewundernswerther Standhaftigkeit [196] aus. Er kam und ging, und kein Wort, kein Blick durfte sein Geheimniß verrathen. Er dachte wohl daran, daß Gabriele auf diese Weise setne frühere Liebe zu ihr als erloschen, und in ruhige Freundschaft umgewandelt betrachten würde, aber er war bereit, auch dieses zu tragen, um nur den innern Himmelsfrieden der hochgeliebten Frau nie wieder zu trüben.


Aechte Liebe und Bescheidenheit gehen stets Hand in Hand. Deshalb kam in Hippolits Seele keine Ahnung von dem, was in qualvoller Seligkeit ihn vielleicht zum Wahnsinn getrieben hätte, wäre es von ihm erkannt worden. Ach! jener Himmelsfriede, den er schonen wollte, war längst aus Gabrielens Brust gewichen und entfremdete sich ihr immer mehr und mehr mit jedem Tage, den Hippolit in ihrer Nähe verlebte. Während die unablässige Sorgfalt, mit der er in Gabrielens Gegenwart stets über sich selbst wachte, ihm keine Zeit ließ, sie anders als in [197] Hinsicht auf ihre Zufriedenheit mit ihm zu beobachten, entzückte ihn zwar die holde Freundlichkeit, mit der sie ihn gewöhnlich behandelte, aber er dachte dabei nur daran, sich dieses sein gegenwärtiges Glück zu erhalten, und war weit davon entfernt, zu kühnern Hoffnungen den Blick zu erheben.

Auch Gabriele blieb Wochen- und Mondenlang sich selbst ein Räthsel, dessen Auflösung sie, ohne sich dessen bewußt zu seyn, immer weiter hinaus schob. Vom Rückblick auf das frühere, von ihrer Seite so ruhige reine Verhältniß zu Hippoliten geblendet, glaubte sie, es sey noch wie ehemals. Sie ahnete nicht, was alles Blut ihres Herzens in heißen tobenden Strömen ihren Wangen zutrieb, wenn sie aus fast unhörbarer Ferne den Ton seiner Stimme, das Nahen seiner Schritte vernahm. Neues, nie zuvor geahnetes Leben war ihr aufgegangen, doch sie erkannte weder dessen Ursprung, noch das Stürmen und Wogen, welches ihre Brust mit süßem Schmerz beklemmte, himmelweit abweichend von jedem früheren Gefühl. Früh, wenn sie erwachte, [198] war Hippolit ihr erster Gedanke, Sehnsucht, ihn wieder zu sehen, ihr erstes Empfinden, und dennoch erschrak sie, und hätte es gern abgewendet, wenn sein Besuch ihr gemeldet ward. War er aber erst da, dann begann ein hohes genußreiches Leben. Seine Worte, seine Aeußerungen entwickelten ihr täglich eine zuvor nicht gekannte Liebenswürdigkeit, eine neue, höhere Achtung fordernde Eigenschaft an dem edlen schönen Manne, der dabei in ungeheuchelter Verehrung sich und jede seiner Handlungen ihrem Willen unterwarf. Sie hing an seinen Blicken, an jeder seiner Bewegungen, alles andre vergessend, bis irgend ein unbedeutender Zufall sie aufschreckte. Verlegen wandte sie sich dann von ihm ab, floh aus seiner Nähe oder suchte ihre, ihr selbst unbegreifliche, tiefe Beschämung hinter irgend einem kleinen Geschäft, das sie plötzlich unternahm, zu verbergen. Zwanzigmal des Tages fühlte sie sich auf diese Weise von ihm angezogen und fortgetrieben. Sie war von einer Unruhe, einer Unbestimmtheit ergriffen, die sie mit Angst erfüllten, die ihr nicht erlaubten, irgend etwas zu [199] unternehmen oder gar zu vollenden, als nur in Bezug auf Hippolit. Jene, ihr eignes Wesen wie die Welt, hellüberschauende Klarheit, war für den Moment gänzlich von ihr gewichen; Gedanken, Empfindungen stiegen in ihr auf, ihr so fremd, daß sie oft sich überredete: das Herannahen einer bedeutenden Krankheit vorzuempfinden. Ein Zufall mußte sie über sich selbst klar werden lassen, wenn gleich auf schmerzliche Weise.


Unerachtet ihres jetzt sehr merklich herannahenden höheren Alters hing Gabrielens Tante, die Gräfin Rosenberg, noch immer mit gewohnter Leidenschaftlichkeit an der Welt, an deren Freuden, und war keinesweges gesonnen, den Platz aufzugeben, den sie in ihr so lange ehrenvoll behauptet hatte. Mehr als je zuvor beruhte jetzt ihr Glück auf Glanz und Geräusch, denn sie bedurfte beides, um manchem ernsteren Gedanken zu entweichen, der sich zuweilen doch ungerufen ihr entgegendrängte. Ein einziger unbesuchter [200] Assembleeabend in ihrem Hause hätte ihr den Tod geben können. Dieß fühlend, und treu ihren früheren Grundsätzen, suchte sie daher bei Zeiten in dem sie umgebenden Kreise nach einem jungen liebenswürdigen Wesen, das fähig wäre, Gabrielens Alle herbeizaubernde Gegenwart ihr einigermaaßen zu ersetzen. Denn sie mußte leider diesen Winter über in ihrem Salon Gabrielen vermissen, weil die Pflicht diese an das Krankenzimmer des Gemahls gefesselt hielt.

Der Gräfin gewohnter Scharfblick fand gar leicht den geselligen Magnet, welchen sie suchte, in der im üppigsten Jugendreiz eben aufblühenden Ida von Schöneck, Gabrielens ehemaliger Begleiterin nach Schloß Aarheim. Seltne Schönheit und manches angenehme Talent hatten sich seit jener Zeit auf das schnellste und liebenswürdigste in diesem jungen Mädchen entwickelt. Die Gräfin konnte keine glücklichere Wahl treffen, denn der ewige Kampf zwischen einem unbegränzten Hange zum Vergnügen und sehr beschränkten häuslichen Verhältnissen machten die arme Ida zur Gefälligkeit selbst, was auch immer [201] von ihr gefordert werden mochte. Sie verließ das Haus ihrer Mutter und bezog ein Zimmer im Hotel ihrer neuen Beschützerin.

Alle Stunden, welche Toilette und Gesellschaft ihr übrig ließen, wurden dort mit unermüdetem Eifer auf den Unterricht gewendet, den ihr die Gräfin in Musik, Tanz und allen jenen Künsten geben ließ, welche in unsern verfeinerten Tagen den höchsten Schmuck der darüber selbst zur Kunst gewordnen Geselligkeit ausmachen. Von Eitelkeit gespornt, ersetzte der angestrengteste Fleiß, was hie und da die Natur versagt haben mochte, und die einmal der Dunkelheit entrißne, vor kurzem noch so unbedeutende Ida trat ganz unerwartet als eine leuchtende Sonne hervor, deren Glanz alle ihre Umgebungen überstrahlte. Der Gräfin Rosenberg Haus ward durch Ida wieder, was es stets gewesen war, der Mittelpunkt aller guten Gesellschaft in der Residenz, sie selbst schwamm in Seligkeit, und vergötterte beinahe die kleine Zauberin, welche alle diese Wunder bewirkte.

Zwar war Ida himmelweit davon entfernt, [202] Gabriele zu seyn; ihre Talente, ihr Wissen, waren nur ein oberflächlich Erlerntes, auf den Licht-Effekt berechnet; aber eben diese Licht-Effekte hatte sie meisterhaft studirt. Dazu besaß sie den Reiz der Neuheit, der frischesten Jugend und obendrein eine seltne Fähigkeit, fremde Liebenswürdigkeit sich anzueignen. Sogar das Mondenlange Zusammenleben mit Gabrielen hatte sie, wenigstens für das Aeussere, vortheilhaft zu benutzen gewußt, und nichts bezeichnet sie besser, als das französische Wort: je ne suis pas la Rose, mais j'ai habité avec elle.

Begleitet von diesem ihrem jungen glänzenden Lieblinge, trat nun die Gräfin eines Abends ganz unerwartet in Gabrielens Zimmer ein, um ihre vielgeliebte Nichte einmal wieder zu sehen, nach der sie sich, ihrer Versicherung nach, Mondenlang vergebens gesehnt hatte. Sie erklärte, den ganzen Abend bei ihr bleiben zu wollen und etablirte sich förmlich mit ihrer Knötchen-Arbeit auf dem Sopha, um dieses zu beweisen, denn der heutige Tag war eben ein allgemeiner Bußtag gewesen, der ohnehin still und mitunter auch wohl langweilig [203] selbst von denen zugebracht werden mußte, die wie die Gräfin und Ida im ewigen Wechsel des Vergnügens sich herumzudrehen gewohnt sind. Der seltne Besuch der Tante ward von Gabrielen mit gewohnter Holdseligkeit empfangen und auch Idas beinahe ungestüme Liebkosungen wurden so von ihr erwidert. Wie entzückt, warf sich diese ihr in die Arme, und ward nicht müde, ihrer Freude über dieses lang ersehnte Wiedersehen Worte zu geben.

Mit innigem Wohlgefallen und stiller Bewunderung betrachtete indessen Gabriele das, alle frühere Erwartungen weit hinter sich lassende Erblühen des jugendlichen Wesens, das noch in diesem Moment durch ein, bei Hippolits Anblick aufleuchtendes freudiges Strahlen der schönen Augen unendlich reizender ward. Sie ließ Ida lächelnd gewähren, wie man einem artig spielenden Kinde den Willen thut, als diese nun mit anmuthiger Geschäftigkeit sich der Verwaltung des Theetisches bemächtigte, dabei die in Schloß Aarheim selig verlebten Tage pries, und überhaupt alle ihre kleinen Künste spielen ließ, um [204] sich so interessant und liebenswürdig als möglich zu zeigen. In Gabrielens reine Seele kam noch immer keine Ahnung von diesen Künsten, unerachtet ihre genaue Bekanntschaft mit der Welt sie in dieser Hinsicht wohl hätte einsichtiger machen können. Sie aber war zu wahr geblieben, um an das Falsche oder Schlechte zu glauben, ehe Thatsachen davon sie unwidersprechlich überzeugten. Und so wie sie als sechszehnjähriges Kind die jugendliche frische Farbe ihrer schon damals mehr als vierzigjährigen Tante bewundert hatte, eben so ließ sie sich auch jetzt zehn Jahre später, von der gutgespielten kindlichen Naivetät eines achtzehnjährigen Mädchens blenden, ohne in ihr die geübte Schauspielerin zu erkennen. Das Vergnügen, mit dem sie dem anmuthigen Wesen zusah, stieg mit jeder Minute, ihr Auge suchte endlich Hippoliten auf, um auch ihn zur Theilnahme daran aufzufordern, doch sie ward gewahr, daß es dessen nicht bedürfe. Fest gebannt, alle seine Aufmerksamkeit ausschließend dem reizenden Geschöpfe zugewendet, sah sie ihn hinter Idas Stuhl stehen, die glänzenden Augen [205] nur auf diese geheftet, und ein ganz eignes stechendes Weh durchbebte in dem Momente ihre Brust.

Ida ward immer lebendiger in ihren Bewegungen und im Gespräche. Die ihr ganz eigne Grazie in all' ihrem Thun wurde immer sichtbarer, und Hippolit gerieth dadurch nach und nach in eine ihm jetzt seltne fröhliche Laune. Unter dem Vorwande, ihr wie wohl ehemals in Schloß Aarheim geschah, bei ihrem Geschäfte helfen zu wollen, rückte er sich einen Stuhl dicht neben den ihrigen, verwirrte lachend und schäckernd die Tassen, reichte ihr den Rum statt des Rahms, warf Zucker in die Tassen die dessen nicht bedurften, ließ sich von ihr ausschelten ohne sich deßhalb zu bessern, und trieb tausend kindische Possen, worüber sie herzlich lachen mußte, was ihr über die Maßen wohl stand, und ihn zu immer neuen lustigen Einfällen hinriß.

Die Gräfin sah dem artigen Spiele des schönen jungen Paars mit unverhehltem Vergnügen darüber zu, und begann nach Art älternder Frauen, auf diese Stunde Pläne für ihre Ida zu bauen, [206] die sie durch manchen heimlichen Wink auch Gabrielen mitzutheilen versuchte; doch diese war nicht gestimmt, sie zu verstehen.

Mit nie empfundner Angst fühlte sie in ihren Augen aufsteigende Thränen, sie wollte nach dem Beispiel der Andern den heimlichen Schmerz weglachen, aber es war ihr unmöglich. Je lustiger jene wurden, je ernster ward sie. Zum ersten mal in ihrem Leben dünkte sie sich launig, verdrüßlich zu seyn; sie strebte, ihre Verstimmung wenigstens zu verbergen, da sie nicht vermochte sie zu unterdrücken, und zuletzt hielt sie dieses sogar für überflüssig, denn sie glaubte zu bemerken, daß niemand sie beachte. Hippolit wie die Tante, hatten nur Augen für Ida, die ihren Muthwillen immer höher trieb, und dabei immer reizender ward, während Gabriele in immer steigender Angst den Abstand ihres innern Mißmuths mit der allgemeinen Stimmung empfand.

Es ist Besorgniß um Moritzen, was so mich quält, dachte sie endlich, er ist so verlassen, vielleicht schmerzlich leidend, in seinem einsamen Zimmer. Sie wünschte Hippoliten an ihn zu [207] erinnern, aber ein wunderliches Schämen hemmte ihre Worte. Sie dachte darauf, sich selbst auf einige Minuten bei der Tante zu beurlauben um nach ihm zu sehen, aber auch dazu fehlte ihr Entschlossenheit. So kämpfte sie eine ziemliche Weile mit sich selbst und ward immer ernster, als der vermeinte Gegenstand ihrer Sorge ihrer Ueberlegung ein ganz unerwartetes Ende brachte, denn Moritz selbst trat in ihr Zimmer, was er lange nicht gewagt hatte.

Heiter und wohl, wie er es seit Monden nicht gewesen, wollte er seine Gemahlin durch diesen Besuch angenehm überraschen, und ward selbst durch das lustige Treiben überrascht, in das er hier ganz unerwarteter Weise hineingerieth, und das ihm in diesem seinen Anflug von guter Laune höchst willkommen war.

Die Stunden flogen, der Abend verging ehe man es dachte. Idas naiver Witz zeigte sich unerschöpflich, ihre Fröhlichkeit unverwüstlich, so daß Moritz nach ihrer Entfernung nicht aufhören konnte, sie und den angenehmen Abend, den sie ihm gewährt hatte, zu preisen. Er erinnerte sich [208] mit einemmale, schon in Schloß Aarheim eine stille Neigung Hippolits zu dem reizenden Mädchen bemerkt zu haben, alle jene alten Neckereien und Anspielungen, mit denen er seinen jungen Freund dort oft genug gelangweilt hatte, wurden wieder hervorgeholt, und mit ernsten Ermahnungen begleitet, das Glück ja zu ergreifen und festzuhalten, so lange es ihm lächle.

Hippolit erwiderte wenig; er stand da, in ängstlicher Verlegenheit, die Moritzens Vermuthungen zu bestätigen schien, und dachte nicht daran, sich gegen Angriffe zu vertheidigen, die er kaum vernahm. Denn er sah Gabrielen bleich und leidend im Sofa hingesunken, ohne sichtbare Theilnahme an dem Geschwätz, in welches Moritzens lange nicht geübte Redseligkeit, überströmend von Albernheiten, sich ergoß. All sein Sinnen und Denken ging nur dahin, den überlästigen Schwätzer auf eine schickliche Art zu entfernen, um ihr, die er krank glauben mußte, endlich die nöthige Ruhe zu verschaffen. Es gelang ihm zuletzt, ihn auf sein Zimmer geleiten zu dürfen, aber noch in der Thüre wandte Moritz sich [209] um. »Allons Madame« rief er Gabrielen laut lachend zu, »ne faites pas la sainte Nitouche! Mustern Sie nur morgen mit Sonnenaufgang Ihre Mirthen und Rosen zum Brautkranze, ersinnen Sie ein recht elegantes Hochzeits-Cadeau; vous en aurez besoin; sehen Sie nicht hier das leibhafte Bräutigamsgesicht? Wie trübselig der arme Teufel da steht! Courage, mon ami! La petite non sarà crudele; Courage! faint heart never won fair Lady


Ein langer mühsam verhaltner Strom heißer bittrer Thränen machte Gabrielens gepreßtem Herzen Luft, sobald sie sich allein sah. Ernsteres Nachdenken folgte diesem während einer unendlich langen schlaflosen Nacht, bis hell und klar, wie die eben aufgehende Sonne der Abgrund von Unglück vor ihr lag, an dessen Rande sie bebte, ohne die Möglichkeit, sich abzuwenden.

Ja, sie mußte es sich endlich, ohnerachtet alles innern Widerstrebens, selbst gestehen, es war [210] Liebe was sie empfand, heiße glühende Liebe, die sie jetzt nur an ihren Qualen erkannte, und o wie himmelweit verschieden von jenem Ideale, mit welchem ihre sanfte, der unbedingtesten Hingebung geweihte Mutter schon in früher Kindheit ihr junges Herz erfüllt hatte! Wie fern stand ihr jetzt jener kindliche Glaube, daß Liebe in sich beglücke, und nur das unbedingte Glück des Geliebten fordere, um dieses irdische Leben zum seligen der Engel zu erheben. Ihr ungestüm pochendes Herz, sie konnte es sich nicht ableugnen, es forderte Gegenliebe, Treue, Nähe des Geliebten; ihr Auge verlor sich in undurchdringliches Dunkel, im welchem all' ihr Wünschen, ihr Sehnen, ihr Hoffen unausgesprochen und unaussprechlich verschwebte.

Reuevoll, mit schmerzlich gerungenen Händen, warf sie sich vor dem wehmüthig lächelnden Bilde ihrer Mutter hin, wie vor dem einer Heiligen, und betete zur ihr um Muth, um Kraft und Beistand, sich aus den mächtigen Zauberbanden loszuwinden, die sie umstrickt hielten. Sie überdachte alles früher mit Hippoliten Erlebte; sein [211] erstes Auftreten bei ihr, die Scene im Gärtchen, die spätere in der Kapelle; vergebens! Aus dem Ideal von Hoheit und Schöne, das jetzt vor ihr stand, war jede Spur jenes wilden unbesonnenen Knaben gewichen, ihn konnte sie zurückstoßen, doch dieses mußte sie lieben, mit all der schwärmerischen Anbetung, die ihr sonst nur als Dichtertraum erschienen war.

Um sich zu retten, rief sie Ottokars Andenken herauf aus ihrem Herzen, es sollte ihr helfen zum Sieg über eine Leidenschaft, deren verzehrende Glut sie mit Schrecken erfüllte. Alle frühere Erinnerungen ihrer Jugend wurden von ihr hervorgesucht, vor allem jenes Tagebuch, dessen Blätter auch das flüchtigste Empfinden ihres Gemüths während jener Zeit, die sie mit Ottokar verlebte, treu aufbewahrten. Sie wollte sich der Untreue gegen ihn anklagen, sie las, und sah mit Erstaunen, je weiter sie las, daß sie dem ersten geliebten Freunde ihres neuen jugendlichen Herzens nicht untreu sey. Was er ihr gewesen, war er ihr noch immer; der Stern ihres Lebens, zu dem sie ohne Wunsch hinaufblickte in Freude [212] und Leid, dessen bloßes Daseyn sie tröstete in allem Zweifel, allem Bangen, allem Ueberdrusse ihres freudenarmen Lebens. Zu ihm allein hätte sie sich mit allen ihren Schmerzen flüchten mögen, ohne Furcht ihn zu beleidigen, in aller Zuversicht des reinsten Vertrauens, um von ihm zu lernen, wie man über sich selbst Macht gewinnt.

Immer klarer ward sie, je weiter sie in ihrem Tagebuche las; sie gewann es über sich, ihr ganzes Ich als ein Fremdes deutlich zu erkennen, so wie auch den Unterschied zwischen Jetzt und Damals, als sie in eine fremde Welt gestoßen ward, noch halb ein Kind, mit jugendlich-neuen Sinnen, das Herz voll Sehnsucht nach Liebe, welche die nur in ihrer Ideenwelt lebende Mutter viel zu früh in ihr erweckt hatte. Verlassen, unbemerkt, auch wohl verspottet stand sie damals da, ohne Schutz, ohne Sicherheit, in furchtsamer Verlegenheit mitten unter fremden Gestalten, die kalt und achtlos an ihr vorüber rauschten, bis er erschien. Er, Ottokar! so hoch über alle jene Figuranten erhaben, daß sie in ihrer Unerfahrenheit ihn wie eine göttergleiche Erscheinung nur [213] aus der Ferne bewundernd verehrt hätte, wär' er ihr nicht zugleich auch der erste Mann gewesen, den sie mild und gütig sah, und hätte sie nicht einzig deshalb sich ihm näher als Alle verwandt wähnen müssen. Ihr durch den Tod einer angebeteten Mutter tief verwundetes Gemüth bedurfte eines Gegenstandes für die ängstlich suchende verwaiste Liebe, von der es überfloß, und wo war ein würdigerer zu finden als Ottokar? Sie nahte ihm in fast kindlicher Verehrung, sie wagte es, ihn zu lieben – so wie sie ihre Mutter geliebt hatte; und wähnte ihre Bestimmung erfüllt. Sie kannte ja keine andre Liebe, und konnte keine kennen als aus ihren Dichtern, deren Gebilde, von ihrer Mutter gewarnt, sie weit entfernt war in der Wirklichkeit zu suchen. Aber auch er schien achtlos an ihr vorüberzugehen, wie die übrigen, der Schmerz darüber täuschte ihr Bewußtseyn, und führte endlich jene feierliche Stunde voll Wonne und Schmerzen herbei, deren Andenken sie bis jetzt in einem schönen Irrthum über sich selbst erhalten hatte.

Und nun! Zu neuem, nie geahnetem Leben [214] war sie erwacht, zu nie gedachten Schmerzen und Wonnen. Jetzt erst verstand sie ihre Dichter, jetzt erst die Natur um sich her. Eine neue Sprache, neue Begriffe und Ansichten waren mit diesem neuen Leben ihr gewonnen, ihr war, als erhöbe sie sich aus langem, traumbewegten Schlummer zum Licht. Mit richterlichem Ernst überblickte sie ihre Vergangenheit; sie wollte sich schuldig finden, aber sie konnte nie ungerecht seyn, auch nicht gegen sich selbst. Ihr heller Geist hatte endlich den rechten Standpunkt gefunden, und sie gestand sich, einer Gefahr erlegen zu seyn, die sie nicht erkannt hatte, und ihrer Natur nach nicht erkennen konnte. Sie fühlte sich schuldlos an dem Irrthum ihres reinen, nichts ahnenden Gemüths; sie fühlte, daß schon ein Grad von Verderbtheit dazu gehört, um ewig sich selbst zu bewachen und Gefahren zu fliehen, deren Möglichkeit wahre Unschuld nie sich denken kann, und ihre unbedachte Sicherheit, die sie nicht verdammen konnte, obgleich sie sie als den Quell ihres Unglücks betrachten mußte, flößte ihr Mitleid mit sich selbst ein.

[215] Dieß reine Bewußtseyn ermuthigte sie endlich wieder zu der Festigkeit und Kraft des Gemüths, die schon so oft in ihrem Leben ihr aus jener schmerzlichen Versunkenheit emporhalf, in welcher Schwächere untergehen.

»Herr meines Empfindens bin ich nicht, und kann es nicht seyn, doch Herr meiner Handlungen will ich seyn!« sprach sie, und fühlte sich in dem Momente erhaben über sich und ihr Geschick.

Den ganzen langen Tag, den sie unter dem Vorwande eines leichten Uebelbefindens ganz einsam in ihrem Zimmer verlebte, verwendete sie zum ernsten Ueberdenken, wie das Unabänderliche würdig zu bestehen sey. Hippoliten abermals von sich zu entfernen! Wüthender unaussprechlicher Schmerz durchzuckte sie bei dem bloßen Gedanken an dieses Opfer, das ihr schwerer als der Tod dünkte, aber sie hielt ihn fest. Doch wie? wie sollte sie ihn entfernen? unter welchem Vorwande? ihn, der durch sein Betragen sie auch nicht auf die entfernteste Weise zu einem solchen Schritte berechtigte, der in inniger ehrfurchtsvoller Ergebung nichts wollte, als in ihrer [216] Nähe athmen; der keine Aufopferung scheute ihr dieses zu beweisen und daneben ihr trübes Leben auf tausendfältige Weise zu schmücken! Wahrscheinlich hatte er jene jugendliche leidenschaftliche Aufwallung längst auf ewig besiegt, wohl gar vergessen, die er einst für die Bestimmung seines Lebens hielt, und von deren Daseyn seit seiner Rückkehr aus Rom, jede Spur in seinem Betragen gegen sie verschwunden war. So verwandelt wie sein ganzes Wesen, war vielleicht auch sein Herz, und nur Mitleid, Dankbarkeit und hoher Edelmuth fesselten ihn noch an sie. Ihre Liebe, die einst das höchste Ideal von Seligkeit ihm schien, würde jetzt vielleicht nur in wehmüthiger Trauer über ihre Schwäche ihn niederdrücken; und wenn gerade ihre Bitte sich zu entfernen ihm ihr Geheimniß verriethe, wenn er dadurch entdeckte – Gabriele vermochte es nicht den Gedanken zu vollenden; mit hohem Erröthen, mit dem ängstlichsten Gefühle der tiefsten Beschämung verhüllte sie sich vor dem Lichte des Tages, vor sich selbst, und träumte dabei doch eine Minute lang von der Himmelsseligkeit, ihm einmal[217] nur sagen zu dürfen: »dich habe ich geliebt!« und dann zu sterben!

Schaudernd wie vor einem Verbrechen, eilte sie, von diesem Gedanken sich loszureißen. Sie wußte es, sie mußte leben, sie war bestimmt, den blutigen Pfeil im Busen zu tragen und gleichgültig dazu lächelnd, ihren Weg zu gehen, wenn er gleich zum Untergange führte.

Mit möglichster Gelassenheit begann sie jetzt, über ihr künftiges Verhalten gegen Hippoliten nachzudenken; sie wollte eine Richtschnur ihres Lebens in seiner gefahrvollen Nähe ersinnen, und sah bald ein, daß beinah alles bleiben mußte wie es war, wenn sie nicht in ihm und vielleicht auch in ihrem Gemahle Aufmerksamkeit, sogar Argwohn erregen wollte. Im Aeussern war so wenig abzuändern, und in ihrem Innern, das fühlte sie mit Ueberzeugung, konnte es nie anders werden. Trennung von ihm konnte sie zwar vor Verrath ihres heiligsten Geheimnisses bewahren, aber sein Bild stand auf ewig in unverlöschlichen Zügen ihrem Herzen eingegraben, und Abwesenheit oder Gegenwart galten hier gleich.

[218]

Schnell wie ein Blitzstrahl durchzuckte sie plötzlich der Gedanke: wie wenn auch ihn heilige Pflichten bänden! wenn er, glücklich an der Seite eines geliebten Wesens, von selbst sich nach und nach entfernte, und beseligt durch alle die süßesten Bande des häuslichen Lebens, nun immer seltner käme, zuletzt ganz ausbliebe? Tausendmal schöner und reizender als sie gestern Ida gesehen hatte, schwebte diese ihrem Geiste vorüber; abermals sah sie Hippolit in Bewunderung des anmuthigen Wesens verloren, der ganze Abend des vergangenen Tages, selbst Moritzens plumpe Scherze und Anspielungen kehrten ihr zurück, und alle Schmerzen der fürchterlichen Nacht, die darauf folgte, wurden wieder in ihrem Busen wach. Ida ward das Gebilde ihrer Fantasie, das sie zu ihrer eignen Qual mit jedem Liebreize verschwenderisch sich schmückte. Je länger sie es betrachtete, je überzeugter ward sie, daß nur dieses jugendlich schöne Wesen werth sey, den Gegenstand ihrer eignen glühenden Liebe zu beglücken, daß es für ihn geschaffen, einzig bestimmt, von ihm geliebt zu seyn. Ein neuer schwerer Kampf [219] erhob sich in ihrem Gemüthe, aber auch aus diesem trat ihr besseres Selbst bald wieder siegreich hervor. Edlen Seelen gilt die schwerste Pflicht oft für die Einzige, daher ward auch bald in Gabrielens Gemüthe der Entschluß fest: Hippoliten selbst zu einem Schritt aufzufordern, zu welchem ihre Einwilligung zu erbitten, ihm vielleicht der Muth gebrechen möchte. Ihr Gefühl bei dem Gedanken an die Ausführung dieses Entschlusses läßt sich nicht in Worten aussprechen, aber sie schwelgte in ihrem Schmerz, ohne Linderung zu suchen, als in dem Bewußtseyn, das Rechte erwählt zu haben, für sich und für ihn.


Eine zweite, wenn gleich minder stürmisch, doch nicht minder schmerzlich durchwachte Nacht führte endlich den Morgen herbei, den Gabriele dem höchsten Opfer geweiht hatte, das sie der Pflicht und dem Glück des Hochgeliebten bringen zu müssen glaubte.

Die bängste Sorge um sie, die er ernstlich [220] krank glaubte, trieb indessen Hippoliten lange vor der sonst gewohnten Stunde an Gabrielens Thüre. Er war die ganze Nacht hindurch bis zum grauenden Morgen vor ihrem Hause auf- und abgegangen, hatte zu ihren Fenstern hinaufgeblickt und diese mit unaussprechlicher Angst von einem weit helleren Licht erleuchtet gesehen, als die verschleierte nächtliche Lampe geben konnte, deren schwachen Schimmer er in ruhigen Nächten so oft von dieser Stelle aus beobachtet hatte. Er sah an den herabgelassenen grün-seidenen Rouleaus Gabrielens Schatten einigemal vorüberschweben; er hielt ihn für den ihrer, um sie beschäftigten Frauen, und dachte vor ungeduldiger Sorge dabei zu vergehen. Um so freudiger überraschte ihn jetzt die kaum gehoffte Erlaubniß, sie sehen zu dürfen; denn die kurze Trennung eines einzigen Tages dünkte dem Verwöhnten, schon unerträglich lange gewährt zu haben.

Anfangs stockte das Gespräch. Gabriele schwieg oft und lange; sie schien bleich und erschöpft, Hippolit glaubte sie noch immer körperlich leidend, und verhielt sich ebenfalls still und [221] in bescheidner Entfernung, um ihr nicht lästig zu werden; er war ja zufrieden, sie nur zu sehen.

Mit der äußersten Anstrengung ihrer geistigen Kraft begann Gabriele endlich, das, was in ihr so stürmisch wogte, ruhig zur Sprache zu bringen. Idas Name glitt zuerst fast unverständlich über ihre Lippen, doch nach und nach ermuthigte sie sich. Immer lebhafter werdend, sprach sie endlich von ihr, ihrer Schönheit, ihrer Anmuth, ihren geistigen Vorzügen, wie eine Begeisterte; auch war sie es in diesem Moment durch das Bewußtseyn des mit fast übermenschlicher Kraft errungnen Sieges über sich selbst.

Hippolit hörte ihr indessen mit lächelndem Beifall zu, wie man etwa die geistreiche Beschreibung eines schönen Gemäldes anhört. Er war so himmelweit davon entfernt, nur eine Ahnung von dem zu haben, was Gabriele mit ihren Worten eigentlich meinte, daß er sogar nur jetzt erst durch sie wieder an Idas liebliche Erscheinung erinnert ward, die ihn zwar während eines flüchtigen Moments recht angenehm beschäftigen konnte, die aber sammt den Ereignissen [222] des mit ihr verlebten Abends, über der Besorgniß um Gabrielen von ihm gänzlich vergessen worden war. Die unerwartete Gegenwart der Gräfin Rosenberg hatte ihn damals wie immer sehr unangenehm berührt, denn er ward durch sie stets an Herminien und an einen Abschnitt in seinem Leben erinnert, dessen er nie ohne tiefe Beschämung und Reue gedenken konnte. Bewacht von ihren scharfen stehenden Augen, die ihn immer verfolgten, als wollten sie seine geheimsten Gedanken erspähen, mochte er es in ihrem Beiseyn kaum wagen, Gabrielen anzusehen, doch da er gern unbefangen und heiter erscheinen wollte, so war er darüber in jenen ihm sonst fremden Ton gerathen, in welchen Ida so meisterhaft einzufallen wußte, daß sie ihn viel weiter mit sich fortriß als er es anfangs gemeint hatte.

Jeder von uns hat ja wohl im Leben erfahren, wie leicht man gerade in recht trüber Stimmung, um diese zu verbergen, sich den Schein ungewohnter Lustigkeit zu geben sucht, die dann leicht in ein wildes freudenloses Toben ausartet, [223] und späterhin in nur noch herberen Schmerz sich auflöst.

Gabriele, durch Hippolits schweigende Aufmerksamkeit in ihrer Ansicht immer mehr bestärkt, begann indessen immer deutlicher das anzudeuten, was sie meinte, ohne daß Hippolit sie verstand. Und als er endlich denn doch aufmerksam ward, Gabrielen einiges erwiderte, und ihre Antworten ihn immer mehr ins Klare setzten, da suchte er nur den Zweck eines Scherzes aufzufinden, der so ganz dem bittersten Ernste glich, und den er dafür zu nehmen sich doch unmöglich entschließen konnte. Zum erstenmal erschien Gabriele ihm fremd und unbegreiflich; er gerieth dadurch in eine peinliche Spannung, die sie ebenfalls verkannte, weil auch sie, vom Gange ihrer eignen Ideen hingerissen, ihn nicht mehr verstand. Seine immer steigende Verwirrung, seine unzusammenhängenden Reden schienen ihr ein Bekenntniß, das ihm, sie fühlte dieß in seiner Seele, freilich schwer werden mußte, vor ihr auszusprechen. Ihr Herz brach dabei, aber ihre Stimme, ihre Blicke blieben fest, ihre Augen trocken, als sie [224] nun endlich in deutlichen Worten sich erbot, selbst für ihn bei Ida zu sprechen.

Als wäre aus blauer Luft ein Blitzstrahl vor ihm niedergeschmettert, so, von bleichen Schrecken ergriffen, fuhr Hippolit jetzt von seinem Sessel auf; sie sank völlig erschöpft zurück, und eine bange Pause entstand, während welcher kein Laut den bebenden Lippen beider sich zu entringen vermochte.

»Ist es möglich?« rief endlich Hippolit mit unendlich schmerzlichem Ton und Blick. »Gabriele! was habe ich verbrochen, daß Sie so mich strafen? Jetzt erst verstehe ich Ihre Meinung; ich werde zum zweitenmal verbannt. Doch weshalb? und warum so? O Gabriele! und warum eben so? Wie ist es möglich, daß ich so ganz und gar keiner Schuld mir bewußt bin, und doch schwer genug gefehlt habe, um dieses zu verdienen? Ich sehe es wohl, gnädige Frau! ich habe Ihre Achtung, mein einziges Glück verscherzt, denn Sie, Sie sonst so wahr und offen gegen jedermann, Sie sind es nicht mehr gegen mich!«

[225] Vom Schmerz überwältigt, wandte sich hier Hippolit mit verhülltem Gesicht von Gabrielen ab, während sie vergebens nach Athem rang zu beruhigenden tröstenden Worten.

»Gnädige Frau,« begann Hippolit wieder mit einem ganz eignen, an Verzweiflung gränzenden Ausdrucke, »ich flehe,« rief er halb knieend, »ich flehe darum wie ein Schwerverwundeter um den Tod, sagen Sie mir: ich sey unwürdig in Ihrer Nähe zu athmen, sagen Sie mir, ich soll fort, ich soll aus der Welt, ich will nicht mehr fragen, warum? denn sie können nicht ungerecht seyn; aber sagen Sie es mir nur unumwunden, geben Sie es mir nur nicht so zu verstehen, nur nichtso! O mein Gott, nur nicht so

»Ich wollte – ich will Ihr Glück!« hauchte Gabriele fast unhörbar.

»Mein Glück!« erwiderte Hippolit, »Sie wollten mein Glück! und zeigen mir deshalb, daß es noch ein höheres Unglück für mich giebt als das, von Ihnen verbannt zu seyn, ein Unglück, dessen Möglichkeit ich vor einer Stunde noch nicht ahnen konnte! Gabriele achtet mich [226] nicht mehr ihrer Befehle würdig, sie will mich nicht ausdrücklich verbannen, sie will michvertreiben. Dagegen freilich ist Verbannung Seligkeit!« rief er, wie außer sich. Doch mitten im höchsten Sturme seines empörten Gemüths fiel ein Strahl aus Gabrielens jetzt überquellenden Augen auf ihn und er verstummte. Gefaßter näherte er sich ihr nach einigen Augenblicken, und betrachtete sie mit immer steigender Wehmuth.

»Oder wäre es möglich? konnten Sie wirklich wähnen?« fragte er jetzt so sanft und leise als er es nur vermochte, »konnten Sie es? Nein es ist unmöglich! eben so unmöglich, als daß Sie zu einer Ehe ohne Liebe mich führen, mich zum Heuchler, zum Meineidigen herabwürdigen wollten. Verzeihung, daß ich in dieser Trostlosigkeit einen Gedanken nur zu berühren wage, der Ihnen so fern steht. Einmal nur noch würdigen Sie mich Ihres Vertrauens, um meine Zweifel zu lösen,« setzte er bittend hinzu, »Ihr Schweigen treibt mich sonst dem Wahnsinn entgegen, ich flehe darum, erklären Sie mir, was [227] meine schwachen Sinne zu begreifen nicht vermögen.«

Gabriele sammelte jetzt alle ihre Kraft, um ihm mild und begütigend die zitternde Hand wie zur Versöhnung zu reichen. Er hielt sie, doch wagte er es nicht, sie an seine Lippen zu drücken, sein Auge ruhte in angstvoller Erwartung auf dem ihrigen. »Ich wollte Ihr Glück,« wiederholte sie endlich, »ich will es stets, ich werde es immer wollen, möge dieß Ihnen genügen, forschen Sie nicht weiter.«

»Mein Glück?« rief er sehr bewegt. »Und wo ist es außer bei Gabrielen? O lassen Sie es stets nur bleiben wie es war! ich verlange ja nichts Höheres. Lassen Sie mich nur in Ihrer Nähe, nur täglich Sie sehen, mehr will ich nicht, doch hieran hängt mein Leben.«

»Gabriele!« fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »Sie sind bewegt, erschöpft, und alles in dieser Stunde Vorgegangne ist mir so unbegreiflich! doch ich frage nicht, ich forsche nicht. Nur ein Blick, ein Wink sage mir, daß auch Sie des Gegenstandes dieser Unterredung nie wieder [228] erwähnen wollen, nur dieß gewähren Sie mir, und ich bin wieder ruhig.«

Mit schmerzlichem Lächeln hob Gabriele das trübe Auge zu Hippoliten auf und senkte hocherröthend schnell es wieder.

Ein Blick drückte Hippolits Dank aus. Ruhiger setzte er dann hinzu: »Ich sehe es aus Ihrem Schmerze, ich fühle es in meiner Brust, es war nicht Gabriele selbst, die vorhin jene entsetzlichen Worte zu mir sprach, aus dieser reinen Seele konnten sie nicht kommen. Ich ahne fremde Einwirkung; vielleicht war es Ihr Gemahl, vielleicht sogar – nein ich frage, ich forsche nicht weiter,« setzte er schnell hinzu, da er Gabrielens Bewegung bei diesen Worten bemerkte; »ich will sogar jetzt Sie der Ruhe überlassen, deren Sie so sichtlich bedürfen, ich gehe freudig, denn ich darf zur glücklichen Stunde wieder kommen, und bin nicht verbannt.«


[229] Der Zustand, in welchem Gabriele nach Hippolits Entfernung allein zurückblieb, läßt sich kaum in Worte fassen. Lange ruhte sie in jener stillen wehmüthigen Ermattung, der treuen tröstenden Nachfolgerin zerreißender Schmerzen, in der wir es nicht wagen, uns zu regen, kaum zu athmen, und nur ganz leise, leise uns sagen: es ist überstanden!

Vieles war in der That überstanden. Die Qualen gehässiger, dem Neide und dem Mißtrauen doch immer nah verwandter Eifersucht waren aus Gabrielens reiner Brust gewichen; das Opfer, welches sie der Pflicht und dem Glücke des Geliebten mit brechendem Herzen zu bringen bereit gewesen, wurde nicht von ihr gefordert und er war unwandelbar derselbe geblieben, in verschwiegner Liebe, stiller Ergebung und fester Treue! Das freudige Gefühl gänzlich niederzukämpfen, das bei diesem Bewußtseyn unter Schmerzen und Wonnen in ihr rege werden mußte, überstiege wohl jede menschliche Kraft.

Doch allmählig gelangte sie zu hellerem Ueberdenken dessen, was die so ganz veränderte Ansicht[230] ihres Verhältnisses und selbst der nächste Moment von ihr fordern mochten. Sie rief sich mit aller möglichsten Treue ihr Betragen und jedes ihrer Worte während der eben durchlebten erschütternden Scene zurück, und gewann wirklich die beruhigende Ueberzeugung, sich und ihr Geheimniß Hippoliten auf keine Weise verrathen zu haben. So konnte sie denn mit der Vergangenheit zufrieden seyn; für die Zukunft blieb ihr kein Ausweg, als nach Hippolits Beispiel ihr Inneres fest zu verschleiern und übrigens, getreu der Tugend und ihrem eignen innern Gefühl des Rechten, muthig und getrost auf der gewohnten Bahn fortzugehen. Ihr klarer Sinn erkannte zu gut den Unterschied zwischen Schuld und Unschuld, zwischen Pflicht und überspannter Unnatur, als daß sie bei diesem Entschlusse sich der Unwahrheit gegen Hippoliten oder ihren Gemahl hätte zeihen können. Und so war sie denn abermals bereit, ihrer eignen Ueberzeugung gefaßten Sinnes zu folgen.


[231] Jene innere Feigheit, die uns verleitet, einem unausweichbarem Schmerze so lange als möglich aus dem Wege zu gehen, war Gabrielens entschloßnem Gemüth stets fern geblieben, daher gewann sie es auch diesesmal über sich, Hippoliten noch am Abend des nehmlichen Tages in Moritzens Beiseyn wieder zu sehen. Er fand sie wie sonst, freundlich und mild, wenn gleich übrigens ermattet und bleich, und war zu glücklich im Gefühle des alten unzerstörten Verhältnisses zu ihr, als daß er sich beobachtenden Muthmaßungen über die nächste Vergangenheit hätte hingeben mögen. Beide wandelten eine Weile neben einander so hin, er ohne Hoffen, fast ohne Wunsch, weil jeder seinem der innigsten Ergebung geweihten Gemüthe anmaßend dünkte. Sie in aller Wonne des Bewußtseyns, so geliebt zu seyn, in aller Qual eines ewigen fruchtlosen Kampfes mit sich selbst, in ewiger Anstrengung, jeden ihrer Blicke, jedes ihrer Worte zu bewachen, um nicht zu verrathen, was ihre bewegte Brust oft bis zum Zerspringen erfüllte.

Das Letztere gelang ihr so, daß in Hippolits [232] Seele keine Ahnung dessen kam, was sie ihm verbergen wollte; ihr Geist siegte unter dem heiligen Schutze der Tugend, doch ihre körperliche Kraft erlag der ungeheuern Anstrengung. Moritzens höchst beschwerliche Pflege während seiner langen Krankheit mochte ohnehin ihre sonst so blühende Gesundheit untergraben haben, sie erkrankte, und die herbeigerufnen Aerzte erklärten ihr Uebel für um so bedeutender, da man sogar nicht einen Namen dafür sogleich aufzufinden wußte.

Fast zu gleicher Zeit kehrte auch Moritzens peinliches Leiden mit verdoppelter Heftigkeit zurück, und Hippolit sah sich zwischen beiden Krankenzimmern in einer ganz unbeschreiblichen Lage. Während Herr von Aarheim durch alle die vielen Ansprüche an ihn seine Geduld aufs äußerste brachte, hätte Hippolit jede Minute mit einem Tage seines künftigen Lebens erkaufen mögen, in der es ihm vergönnt gewesen wäre, Gabrielen nur aus der Ferne zu sehen. Aber das Herkommen, das man so gern strenge Sitte nennt, hielt unerbittlich Wache an ihrer Thüre, [233] und übergab die angebetete Frau der Pflege gemietheter Hände. Gabriele, in deren Bewunderung sich sonst alles erschöpfte, wenn sie, von Glanz und Pracht umgeben, sich zeigte, sie, der sonst überall die innigsten Freundschaftsversicherungen entgegenstürmten, sie fand jetzt in der ganzen großen volkreichen Stadt keine einzige liebende Seele, die sich ihrer Pflege angenommen hätte. Daß der Tante längst bekannte Scheu vor Krankenzimmern diese und auch Ida von diesem ebenfalls entfernt hielt, versteht sich von selbst; aber auch die treue Annette war nicht zugegen, denn sie lebte jetzt in Lichtenfels, wo sie an einen der dortigen Beamten recht glücklich verheurathet war.

Hippolit schrieb in seiner Todesangst an Ottokar, an Ernesto, an Frau von Willnangen, die er gar nicht kannte, er hätte mit einem einzigen Schrei die ganze Welt zu Hülfe rufen mögen, und mußte sich begnügen, an der Thüre ängstlich zu lauschen, bis der Arzt oder jemand von Gabrielens Bedienung heraustrat und ihm versicherte, daß sie noch athme. Die Aerzte wichen [234] ihm aus, wo sie nur konnten, denn er quälte sie mit Fragen und Bitten, denen sie nichts bestimmtes entgegen zu setzen hatten. Oft wenn es ihm im Hause zu enge ward, lief er hinaus auf die Straße und starrte hinauf zu denen verödeten Fenstern, aus welchen so manches freundliche Grüßen und Winken ihm sonst entgegengelächelt hatte, bis die vorübergehenden Leute stille standen und ihn verwundert angafften. Dann erschrak er beschämt über seine Unvorsichtigkeit, eilte fort und nahm sich von neuem vor, so lange Gabriele athme, strenge zu halten was er ihr gelobte.

Endlich kam ihm Trost, denn noch ehe die Antwort auf Hippolits Brief zu erwarten gewesen wäre, erschien Frau von Willnangen selbst. Sie hatte sich gleich nach dem Empfang desselben in ihren Wagen geworfen. Hippolit empfing sie wie man einen Rettung und Heil verkündenden Engel empfängt; er hätte gern dankbar ihre Knie umfaßt, da sie ihm entgegentrat. »Nun wird alles, alles gut, und Gabriele uns wiedergeschenkt!« rief er beinahe jubelnd aus, während[235] er sie bis zur Thüre des Zimmers der geliebten Kranken mehr trug als geleitete.

Hippolit hatte mit prophetischem Geist gesprochen. Freude über das unverhoffte Wiedersehen der theuern Beschützerin ihrer Jugend, vielleicht auch sorgsamere Pflege von der Hand der Freundschaft übten an Gabrielen eine höchst wohlthätige Wunderkraft aus, so daß die Aerzte sie nach wenigen Tagen für gerettet erklären konnten. Freilich vergingen von nun an noch Wochen, bis sie, völlig hergestellt, das Zimmer verließ, doch Hippoliten war es unter dem Schutze der Frau von Willnangen jetzt zuweilen erlaubt, sie zu sehen, und mehr bedurfte es nicht, um ihm das Leben wieder liebzumachen.

Der Tag, an dem sie am Arme ihrer Freundin zum erstenmal aus ihrem Zimmer hervorging, war ihm ein heiliges Fest. Unwillkürlich beugte er das Knie, als die rührende Gestalt, leicht und ätherisch, wie eine Auferstandne ihm entgegenschwebte. Sie wollte ein paar freundliche Worte ihm lächelnd sagen, aber der Athem fehlte ihr; nur ein leises Roth, wie der Abglanz, den [236] die vollblühende Zentifolie auf die neben ihr stehende silberweiße Lilie wirft, überflog mit einem flüchtigen Hauche das schöne Gesicht, während Hippolit, ebenfalls schweigend, die Hand der Frau von Willnangen dankbar an seine Lippen drückte und nur den feuchten glänzenden Blick zu Gabrielen erhob.


Gabriele fand ihren Gemahl mit Anstalten zu einer großen Reise vollauf beschäftigt. Die Bäder von Pisa und die wärmeren italienischen Lüfte waren ihm als einziges Rettungs- und Linderungsmittel verordnet worden, und er hatte Gabrielens Herstellung bis jetzt mit der größten Ungeduld erwartet, weil er auf ihre Begleitung rechnete. Doch ihre fortdauernde Schwäche schien die Möglichkeit derselben auf viele Monate hinausschieben zu wollen, und er, der wenig Zeit zu verlieren hatte, sah sich deßhalb durch den Ausspruch der Aerzte genöthigt, einstweilen, wenn gleich ungern, darauf zu verzichten. Ein geschickter [237] angehender Arzt, der gerne diese Gelegenheit benutzte, Italien zu sehen, erbot sich indessen, während der Reise die Pflege des Kranken zu übernehmen, und sein Erbieten wurde um so lieber angenommen, da ihn Moritz schon seit geraumer Zeit als einen vorzüglich heitern Gesellschafter und ausgezeichnet-guten Schachspieler kannte.

Nach der Abreise ihres Gemahls blieb Gabriele in so wunderbar-schwankendem Zustande zurück, daß Frau von Willnangen es gar nicht wagen mochte, ihre Rückreise nach Lichtenfels zu den Ihrigen nur zu erwähnen. Zwar war Gabriele eigentlich nicht mehr krank zu nennen, denn kein merkliches Fieber, kein entschieden-schmerzhaftes Empfinden quälte sie am Tage oder raubte ihren Nächten den Schlaf. Ihr Auge strahlte heller als je, ihr ganzes Wesen zeugte von erhöhtem innern Leben, aber eine unerhörte Mattigkeit lähmte und hemmte jede, noch so wenig anstrengende Aeußerung desselben, und zwang sie oft Stundenlang, nur mit den Augen zu ihren Lieben zu sprechen. Jeder Tag schien sanft [238] und linde die Lösung eines nahen Bandes der gefesselten Psyche zu beginnen, die schon jetzt freier sich bewegte und, halb der ewigen Heimath zugewendet, dem schwindenden Erdenleben noch wie zu guter Letzt alle Liebe und Theilnahme zeigte, die sie ihm noch zuzuwenden vermochte.

Abends sank Gabriele oft wie halb vernichtet hin, wenn die fragelustige Schar gewöhnlicher Besuche an ihr vorübergerauscht war, denen sie jetzt während der Entfernung ihres Gemahls wenigstens auf ein paar Stunden des Tages ihre Thüre öffnen mußte, wollte sie um der Welt willen sie nicht auch zugleich Hippoliten verschließen.

Die Kunst der berühmtesten Aerzte der Residenz wurde aufgeboten; Frau von Willnangen wachte mit unermüdlicher Sorgfalt über die geliebte Tochter ihres Herzens, und war nur bedacht, Unangenehmes oder Schädliches von ihr zu entfernen. Hippolit brachte alles herbei, war es noch so selten, noch so schwer zu erhalten, was er nur irgend zur Erquickung oder Pflege [239] der geliebten Leidenden ersinnen konnte; doch ihr Zustand blieb immer und unabänderlich derselbe. Früh, beim ersten Morgengruße, fand Frau von Willnangen sie oft in wehmüthigem Nachdenken versunken, aber so wie die Freundin sich zeigte, erglänzte ihr Blick wie gewöhnlich; sie winkte sie zu sich und lehnte schmeichelnd das Haupt voll lichter Locken an ihre Brust; ein liebseliges Lächeln glitt über dem bleichen Gesichte hin, wie ein winterlicher Sonnenstrahl über ein Schneegefilde, und die durchsichtig zarte blendende Hand strich freundlich unter beruhigenden Schmeichelworten jede sorgliche Falte von der Stirne der geliebten mütterlichen Frau. So blieb Gabriele gewöhnlich den ganzen Tag über, bis sie Abends, gänzlich erschöpft, dem Schlummer sich zuneigte, stets liebevoll, freundlich und ihren Freunden in heitrer Aufmerksamkeit zugewendet. Nur wenn ihr Blick auf Hippoliten, von ihm ungesehen, ruhen konnte, dann zuckte zuweilen ein schmerzliches, dem Weinen nahverwandtes Lächeln um die sanftgeschloßnen Lippen. Eine ängstlich unbestimmte Ahnung ergriff dann oft das Herz der [240] Frau von Willnangen, denn ihrem stets wachen Blicke durfte auch nicht die kleinste Bewegung ihres Lieblings entgehen. Zuweilen stiegen aber auch in solchen Momenten freudigere Hoffnungen in ihr auf, ähnlich denen, welche Ottokar sich zum Troste ersann. Ernestos frühere Briefe aus Italien hatten die edle Frau längst zur Vertrauten Hippolits gemacht, ohne daß dieser es ahnete, und sie bemerkte jetzt in schweigender Bewunderung, wie treu er seine glühende Liebe und seine bange Sorge mit gleicher Anstrengung und, wie sie glaubte, auch mit gleichem Glücke Gabrielen zu verbergen suchte. Nur wenn der Zufall die Freundin der Heißgeliebten mit ihm allein zusammenbrachte, dann rief ein einziger zitternder Druck seiner Hand, ein einziger schmerzenvoller Blick ihr seine innere Qual weit deutlicher zu, als Worte es vermocht hätten. Doch blieb jede laute Klage fern von ihm; denn, wo hätte er anfangen sollen und wo enden? Aber das weiche Herz der Frau von Willnangen zerfloß dennoch in Mitleid mit dem Armen. »Lassen Sie uns auf den Frühling hoffen, guter Graf [241] Hippolit!« sprach sie in solchen Stunden ihm oft zum Troste. »Im Frühlinge richten alle Blumen sich wieder auf, auch unsre schöne Freudenblume wird in ihm wieder erblühen, lassen Sie uns nur getrost die nahe Zeit erwarten.«

Der Frühling kam, mit seiner Herrlichkeit, mit seinem milden belebenden Hauche. Ueberall sproßten neue Blumen, überall erwachte das schlummernde Leben, aber Gabrielens Zustand blieb sich gleich, ohne alle merkliche Abänderung weder zum Schlimmern noch zum Guten, und die bange ängstliche Besorgniß ihrer Freunde stieg peinlicher mit jedem Tage.


Endlich kam es dahin, daß den Aerzten nichts übrig blieb, als die gewöhnliche Zuflucht in Fällen, wo ihre Kunst sie verläßt, der Rath: Heil und Genesung in einem ruhig ländlichen Aufenthalte und in frischer Waldesluft zu suchen.

»Ja auf dem Lande!« rief, als sie dieses vernahm, Gabriele mit ungewohnter Lebendigkeit. [242] »Ja auf dem Lande, da werde ich genesen; in Schloß Aarheim, wo ich geboren ward! Dorthin liebe Frau von Willnangen, dorthin bringen Sie mich, dort wird es mit mir besser werden, ich weiß es. In den Armen meiner zweiten Mutter werde ich in Schloß Aarheim alles Weh schwinden sehen, und ein neues Leben beginnen!«

Eine eigne Bangigkeit bemächtigte sich der Frau von Willnangen bei diesen, in fast prophetischer Begeisterung ausgesprochnen Worten, so tröstlich sie übrigens klangen, und auch Hippolit, der eben zugegen war, fühlte sich sonderbar dabei ergriffen. Gabriele bemerkte es, und strebte durch erheiterndes Gespräch den Eindruck wieder zu verlöschen, den sie unwillkührlich bei ihren Lieben erregt hatte. Sie sprach viel von der wilden ernsten Pracht ihres Gebürges und von dem ehrwürdigen Ansehen und Alter ihrer Burg.

»Sie können mich jetzt doch nicht verlassen!« setzte sie hinzu, den bittenden Blick zur Frau von Willnangen erhoben. »Sie müssen ja die Wiege ihres Kindes sehen, und den Ort, wo meine Mutter lebte; ach! wie werden meine armen [243] alten Burgbewohner sich wundern und freuen, wenn sie die Nievergessene in ihrem hochverehrten Ebenbilde wieder unter sich wandeln zu sehen glauben werden!«

»Mein Kind, mein herzliebes Kind, meine Gabriele!« rief Frau von Willnangen und nahm sie recht liebend in ihre Arme; »wie könnte ich jetzt von Dir gehen, so lange Du meiner Pflege noch bedarfst? Mögen die Meinigen noch immer mich ein Weilchen entbehren; Auguste hat ihre Kinder und den Oheim, die geben ihr Freude und Beschäftigung, wenn gleich Adelbert, von mancherlei Geschäften behindert, jetzt wenig daheim ist. Ich weiß, sie selbst würde mich schelten, wenn ich ohne die Gewißheit deiner völligen Genesung zurück käme.«

Beide Frauen vertieften sich nun im Gespräche über die Vorkehrungen zu dieser kleinen Reise, die sie, von Gabrielens sehnsüchtiger Ungeduld getrieben, gleich in den nächsten Tagen anzutreten beschlossen. Hippolit blieb dabei ein stummer Zuhörer, während Gabrielens hochklopfendes Herz ihr nicht erlaubte, ihm nur einen Blick, vielweniger ein Wort, zuzuwenden. In banger Ungewißheit [244] sprach sie immer fort, sie wußte kaum was, bis Frau von Willnangen, die nur zu gut sie verstand, sie aus dieser Verlegenheit zog.

»Und Sie, Graf Hippolit! wo bleiben Sie?« fragte diese, den freundlichen Blick ihm zugewendet, da Gabriele eben von der Wahl des Fuhrwerks sprach.

»Und ich!« erwiderte er mit einem Ton, in welchem all sein Wünschen, sein Hoffen, sein sehnendes Erwarten lag.

Gabriele fühlte in den tiefsten Tiefen ihres Herzens diesen Ton wiederhallen. »Mag Frau von Willnangen entscheiden, ob wir in Abwesenheit meines Gemahls den Grafen nach Schloß Aarheim einladen dürfen;« fiel sie hoch erröthend ein, und wagte es nicht die Augen dabei aufzuschlagen, um durch keinen Blick den Ausspruch der Freundin zu leiten.

»Ich sehe nicht recht ein, warum wir es nicht dürften,« erwiderte nach sehr kurzem Bedenken Frau von Willnangen, mit möglichster Gleichgültigkeit, und blickte dabei recht ämsig auf ihre Arbeit, um beide zu schonen; doch niemand antwortete [245] ihr. Es entstand eine für den Moment recht drückende Pause, der Frau von Willnangen nur dadurch ein Ende zu machen wußte, daß sie begann, etwas umständlich ihre Meinung von dem q'uen dira-t-on, und von der Nachgiebigkeit, die man ihm schuldig ist, aus einander zu setzen.

»Diese sogenannte Welt,« sprach sie, »der wir von Kind auf so manches schwere Opfer bringen müssen, ist doch beim Lichte besehen, ein sehr schwankendes Kameleonartiges Wesen; jeder von uns hat seine eigne, die Hofdame wie die Schneidersfrau, so wie man sagt, daß auch jeder seinen eignen Regenbogen hat; jeder ehrt nur die seine und ignorirt alle übrigen, und am Ende läuft es mit allen diesen ideellen Welten, wie mit dem Regenbogen auch, nur auf eine optische Täuschung hinaus. Millionen Regentropfen, von denen ein einzelner doch nur sehr wenig ist, setzen vor unsern Augen das stattliche Fantom zusammen, das im kühnen Bogen die halbe Erde zu umfassen scheint, und wenn wir die einzelnen Glieder der Menge betrachten, deren gesammtes [246] Urtheil uns so bedeutend dünkt, daß wir es zur Richtschnur unsrer Handlungen erheben, so möchte die Mehrzahl derselben wohl auch nicht viel größern inneren Gehalt haben als solch ein kleiner farbloser fader Wassertropfen.«

»Sie sprechen aus meiner Seele,« rief Hippolit mit ungewohnter Lebhaftigkeit. »Warlich ja, Sie haben recht! Wir brauchen nur die Einzelnen recht ernstlich ins Auge zu fassen, die wir, in unsrer Idee zu einem Ganzen versammelt, als Richter über Glück und Unglück anzusehen uns gewöhnten, um verachtend, und über unsre bisherige Verblendung lachend, aus der schimpflichen Knechtschaft zu scheiden.«

»Sachte, sachte, junger Freund,« erwiderte freundlich wenn gleich mit aufgehobnem drohendem Zeigefinger Frau von Willnangen. »Was ich andeuten woll te, war nicht ganz so gemeint, wie Sie es nehmen. Nie soll man, ohne die äußerste Noth der öffentlichen Meinung den Krieg ankündigen. Eine große Masse, sie sey zusammengesetzt wie sie wolle, ist immer etwas Furchtbares und hat Ansprüche auf unser Nachgeben [247] in billigen Dingen; sie rächt sich schwer und sicher, wenn wir es ihr versagen. Indessen muß ich mich aber doch zu dem Glauben bekennen, daß es Fälle geben kann, in welchen es erlaubt, sogar billig ist, einmal eine Ausnahme von der großen Regel zu machen und sich nicht viel um das zu kümmern, was die andern etwa sagen möchten. Zum Glück aber sind diese Fälle obendrein gewöhnlich solche, bei denen gerade diese aus Leuten zusammengesetzte Welt, trotz ihrer gewohnten Kälte und ziemlicher Absurdität, dennoch zuletzt sich bewogen findet, uns beizustimmen.«

Frau von Willnangen schwieg hier, doch da niemand das Gespräch fortzusetzen den Muth bezeigte, nahm sie nach einer kleinen Pause es wieder auf. »Ich glaube,« sprach sie, »daß die Frage, ob der Graf uns nach Schloß Aarheim begleiten soll oder nicht, gerade zu jenen Fällen gehört, deren ich eben erwähnte. Man hat sich seit langem schon gewöhnt, ihn als zu uns gehörend zu betrachten, man hat sich schon tausend mal darüber so müde gesprochen und gewundert, [248] daß man vielleicht sogar recht erfreut wäre, durch sein Hier blieben während wir fortgehen, neuen Anlaß zur Verwunderung und zu Muthmaßungen zu erhalten. Ueberdem bin ich überzeugt, daß das, was man über seinen Besuch auf Schloß Aarheim sagen könnte, so wenig von dem verschieden seyn wird, was man bis jetzt wahrscheinlich schon gesagt hat, daß es deshalb wohl schwerlich der Mühe verlohnen möchte, uns ein Entbehren aufzulegen, welches wir alle Drei doch schmerzlich empfinden müßten.«

»Ich bitte, lassen Sie uns in dieser Stunde noch nichts entscheiden,« nahm jetzt Gabriele das Wort. »Morgen sind wir ruhiger, dann sehen wir alle heller, was zu thun ist, was nicht? Ich würde es dann vielleicht am liebsten Hippolits eigner Entscheidung überlassen, ob er sogleich in diesen Tagen uns begleiten will, oder ob er es für besser hält später meiner Einladung zu folgen wenn –« eine kleine augenblickliche Schwäche verhinderte sie hier zu vollenden und zwang sie Ruhe zu suchen.


[249] Ernestos höchst unerwartete erfreuliche Erscheinung machte am folgenden Tage allem Zweifel und allem Berathen über diesen Gegenstand ein Ende. Er stand plötzlich in der Mitte seiner Freunde, ohne daß einer von ihnen seine nahe Ankunft nur geahnet hatte, denn der Brief, der sie Hippoliten verkünden sollte, war verspätet oder vielleicht verloren; ein gar nicht ungewöhnlicher Fall auf den italienischen Posten. Hippolits beängstende Darstellungen von Gabrielens Zustand, vereint mit Ottokars dadurch veranlaßter und mit jedem Tage wachsender Besorgniß um sie, hatten ihn aus seinem geliebten Rom getrieben. Er wollte selbst sehen, helfen, retten, trösten wo es Noth that, und nun schien bei seinem lange entbehrtem Anblicke Gabrielen neues Leben zu durchströmen. Sie eilte auf die erste Nachricht seiner Ankunft ihm entgegen, fröhlich und leicht, fast wie ehemals; ihre bleichen Wangen röthete die Freude und ihr ganzes Wesen schien mit einemmale alle bange Besorgnisse ihrer Freunde vernichten zu wollen.

Ernesto und Frau von Willnangen erklärten [250] scherzend den Anstand für völlig abgefunden, jetzt da die Damen nicht mehr nur einen, sondern zwei Männer des Glückes würdigten, sie begleiten zu dürfen, und Gabriele hatte ihre eignen stillen Gründe, ihren Freunden hierin nicht zu widersprechen.

Die Reise ging vor sich, wenige Tage nach Ernestos Ankunft, und unter den frohesten Hoffnungen, zu denen Gabrielens fortwährendes Wohlbefinden Alle zu berechtigen schien. Die Luft ihres Geburtsortes, die Ruhe, die Stille, der balsamische Waldeshauch bewirkten augenscheinlich ein Wunder, dessen Anblick alle Bewohner der Burg mit unbeschreiblicher Freude erfüllte. Nur Ernesto hatte dem kleinen Kreise dieser durch die innigsten Bande vereinigten Menschen noch gefehlt; mit ihm war erst das rechte Leben unter sie gekommen, im ernsten Scherze und frohem Ernste, in ewig rascher Theilnahme und stetem unterhaltendem Wechsel der sie aufregenden Gegenstände. Ihnen selbst schien ihr Glück unermeßlich. Doch leider sank es nur zu bald wieder, wie alles Glück dieser Erde.

[251] Gabriele vermochte nur kurze Zeit alle den Wonnen und Schmerzen zu widerstehen, die stärker als je zuvor heimlich auf sie einstürmten. Ihre Kräfte schwanden eben so schnell, als sie wiedergekehrt waren, und ihre Lieben begannen von neuem, sie und einander mit immer hoffnungsloserem Blicke zu betrachten; besonders Ernesto. Er allein las deutlich in Gabrielens Herzen alles unausgesprochne Weh, unter dessen Last es erlag, und sein eignes drohte vor Schmerz und Reue zu zerspringen, wenn er daran dachte, daß er Jahre vorher mit prophetischem Geiste alles vorhergesagt habe, was jetzt in trauriger Erfüllung ihn der Verzweiflung nahe brachte, und daß er doch dabei verblendet genug gewesen sey, um nicht Hippolits Rückkehr zu Gabrielen aus allen Kräften zu verhindern. Er begriff es nicht, wie es ihm möglich gewesen, später die Gefahr zu übersehen, welche die Nähe des schönen liebenswerthen Mannes, verbunden mit seiner heißen, edlen, alles opfernden Liebe ihrem Frieden, ja ihrem Leben bringen mußte. Die drei Jahre, welche, wie er wußte, Gabriele mehr [252] zählte als Hippolit, hatten freilich aus der Ferne ihm ihr Verhältniß zu diesem verschoben und ihn einem Irrthum zugeführt, den Gabriele mit ihm theilte, bis auch sie zu spät ihn erkannte. Das Einzige, woran er sich noch aufrecht zu halten vermochte, waren jetzt Ottokars, auf Moritzens baldigen Tod gebaute Hoffnungen, die er diesem bis jetzt aus Schonung des Freundes nur halb zugegeben hatte.


Indessen ward in dieser Zeit das Leben in Schloß Aarheim das rührendste und erfreulichste, das schmerzlichste und seligste, das man zu erdenken vermag. Gabriele wandelte unter ihren Lieben wie ein schöner verklärter Geist, der schmerzensfrei nur die Seligkeit empfindet, welche die Gegenwart der geliebtesten Freunde zu gewähren vermag. Niemand wagte es, in ihrem Beiseyn nur durch einen Blick den bangen vorahnenden Schmerz auszusprechen, der allen am Herzen nagte, ja sie vergaßen ihn oft, in [253] ihrer erhebenden Nähe. Es war als ob Gabriele jetzt am Rande des Grabes noch die Quintessenz des Lebens genießen wollte, denn sie sammlete alles, was jemals es ihr verschönt hatte, mit zartem Sinn und fern von aller Ziererei um sich her: erheiterndes Gespräch, bildende Kunst, Poesie und Gesang. Sie nahm an allem Theil mit ewig frischem jugendlichem Geist; nichts, was Trauer bezeichnet, keine noch so ferne Andeutung von Scheiden, von Trennung durfte ihr nahen. Ihre innre Heiterkeit stieg mit jedem Tage, je tiefer ihre körperlichen Kräfte sanken, ihr ganzes Wesen bezeichnete nur die innigste Liebe zu ihren Freunden und die reinste Freude an dieser schönen Welt. Ihre Blumen, ihre Vögel, alles was schon ihre Kindheit beglückt hatte, mußte wieder um sie her gestellt werden, und sie liebte das alles und pflegte es, soviel es ihr möglich war, wie sonst. So genoß sie lächelnd, wie zur Zeit ihrer herrlichsten Blüthe, jede kleinere Freude, welche die Natur beut, und verlor sich in bewunderndem Entzücken vor der höheren Pracht, die mit unendlichem Reichthum [254] in den wilden Umgebungen ihres Wohnortes sich täglich neu entfaltete.

Hippolit ertrug den Schmerz, den keine Sprache nennen kann, mit unbeschreiblicher Gewalt über sich selbst. Er ging ganz in den Geist der Hochgeliebten ein, lebte nur in ihr, lächelte wenn sie lächelte, und schien nur von dem Licht ihrer Augen Worte und Bewegung zu empfangen. Nie wich er von ihrer Seite, so lange es ihm vergönnt war, bei ihr zu weilen. Ihr nahe, vermochte er es, sein Herz zusammen zu drücken, und seinen unaussprechlichen Schmerz wie seine glühende Liebe zu beherrschen; denn Gabrielens heilige Gegenwart erhob ihn über Tod, Trennung und Grab. Keine Klage kam über seine Lippen, keine Thräne in seine Augen, bis die Nacht ihn und seinen ausbrechenden Jammer verhüllte.

Gabriele bewachte minder ängstlich als sonst ihr Benehmen gegen ihn und suchte nicht mehr ganz so wie ehemals ihm den Grund ihres Gemüths zu verschleiern. Manche Ahnung des ganzen Umfangs der unnennbaren Seligkeit, die [255] ihm hier vor seinen Augen unterging, durchschauerte den Armen mit allen Freuden des Himmels und versenkte ihn in selige Träume, aus denen er leider mit dem Gefühl des Unglücklichen wieder auffuhr, der im Schlafe den Himmel offen sah, und aufgerüttelt zu jahrelanger Pein, im Kerker wieder erwacht.

Nicht minder unaussprechlich als Hippolits Schmerz war auch das tiefe, unsägliche Mitleid, welches Gabriele für ihn empfand, denn sie fühlte für ihn den unendlichen Jammer seines treuen liebenden Herzens. Sie selbst war beglückt in der seligsten Hoffnung, und die nahe Trennung, deren Gewißheit ihr an jedem Morgen deutlicher entgegentrat, erschien ihr nur als ein Schritt aus dem Dunkel zum Lichte, zur sicheren, ewigen Vereinigung, deren nahe Seligkeit sie schon hier vorempfand. Abends, wenn wieder einer ihrer Tage zur Ewigkeit hinabsank, wiederholte sie jetzt in der unbelauschten Einsamkeit ihres Zimmers oft die einfachen Worte eines Liedes, welches sie unter den Papieren ihrer verehrten Mutter gefunden hatte. Hier ist es:

[256] Gabrielens Abendlied.

Zur letzten Tages-Stunde
Flammt goldner noch das Licht,
Spricht mit dem Purpur-Munde;
»Ich gehe schlafen nicht;
Unsichtbar, zu dem Osten
Zieh' ich den Sternen-Pfad;
Auch Du sollst Aether kosten,
Den frisch der Morgen hat.«
Wenn all' die Welten schlafen,
So ist's die Lieb', die wacht,
Und landet sie im Hafen,
Sagt sie: »Welt, gute Nacht!«
Ich mußte still verschließen
Was Schmerzreich mich entzückt,
Was tödtlich mich beglückt
In tiefster Brust verschließen.
Ich mußt' im Dunkel gehen
Als hell es draußen war,
Nun Schatten mich umwehen,
Nun wird es licht und klar;
Aus Sonnenschein gewoben
Mein Aether-Kleid so blank,
Die Sprache bald Gesang
In blauen Sfären droben;
[257]
Wo mich der Engel-Flügel
Leicht trägt auf lichtem Steg',
Wo Sonnen sind mein Weg
Fern von der Erde Hügel.
Ich möchte mehr noch singen
Aus meiner tiefsten Brust,
Was Niemand war bewußt,
Es sollten's Töne klingen;
Es möchte mehr noch sagen
Die Lippe treu und bleich,
Doch sieh', es will schon tagen
Herauf aus licht'rem Reich'.
Denn, wenn die Welt geht schlafen,
Ist's Liebe noch, die wacht.
Mein Herz erblickt den Hafen;
Zu tausend gute Nacht.

Früher schon verdankte Gabriele diesem Liede oft wehmüthigen Trost und erleichternde Thränen; jetzt klangen sie in ihrem Innern wie Jubelgesang, wenn gleich die athemlose Brust ihm nur leise Töne noch zu leihen vermochte.

[258] So lebte sie hin in stiller Freundlichkeit. Nur wenn sie Hippolits gedachte, des Verlassenen, dann wollte ihr das Herz brechen bei dem Gedanken an den langen, einsamen, freudenarmen Lebensweg, der von nun an öde und düster sich vor dem Freunde durch eine unabsehbare Wüste hoffnungslos ausdehnen mußte; und all ihr Streben ging nun dahin, seine Zukunft ihm wenigstens mit frohen Erinnerungen auszustatten, zu schmücken. Daher zeigte sie sich Hippoliten wie seine stille Ergebung es glorreich verdiente. Sie war ihm die liebendste Schwester, die innigste theilnehmendste Freundin, und jeder Tag brachte ihm neue rührende Beweise des reinsten, von keinem irdischen Hauche befleckten Vertrauens.


Die Tage schwanden, der Sommer flog vorüber, immer tiefer senkte sich die Sonne und der Wald schmückte sich abermals mit Purpur und Gold. Wieder ging der Sterbetag von [259] Gabrielens Mutter auf, doch dießmal feierte sie ihn in frommer stiller Heiterkeit, gleich einem Feste der Auferstehung, nicht des Todes. Der kalte Stein, der die geliebte Hülle bedeckte, ward nach ihrer Angabe mit einer Fülle reicher Blumenkränze geschmückt, statt der Zypressen, die sie einst mit frommer Hand gewunden hatte. Von ihr selbst blieben ebenfalls alle ihr sonst an diesem Tage gewohnten äußern Zeichen der Trauer entfernt, und kein langes schwarzes Gewand, kein dichter Kreppschleier verhüllte sie. Wie immer in blendendes Weiß gekleidet, saß sie am Abend des festlichen Tages an ihrem gewohnten Platze in einem großen Bogenfenster; die seitwärts in das Eckzimmer fallenden letzten Strahlen der untergehenden Sonne verklärten ihre blonden Locken zur himmlischen Glorie, genau wie an jenem für Hippolit unvergeßlichen Abende, da dieser fast an der nehmlichen Stelle bewundernd ihr nachsah, als sie den dunkeln Lindengang hinabschwebte. Sie blickte hinaus in die herbstliche Wolkenpracht, die rosig und golden im tief-blauen Aether verglühte; überirdisches [260] Lächeln schwebte auf dem verklärten Angesicht, ihr dunkelstrahlendes Auge haftete mit dem Ausdrucke des unaussprechlichsten Entzückens auf der schimmernden Ferne, als schwebe aus ihr eine geliebte Gestalt herbei, und ihre Lippe regte sich unhörbar leise wie im Gebet.

Ernesto und Frau von Willnangen hatten es nicht vermocht, der heitern Feier dieses Tages länger zuzusehen, deren Deutung sie nur zu wohl verstanden; sie hatten beide sich entfernt, um in gegenseitigen Klagen neue Kraft zu suchen, und niemand war bei Gabrielen geblieben als Hippolit. Schweigend betrachtete er sie, und wagte es kaum zu athmen, um sie nicht zu wecken. Auch er ahnete, von ihrem Gefühl durchdrungen, welche Gebilde ihrem Auge jetzt vorüberschweben mochten; ihm war, als empfinde auch er die Nähe der an diesem Tage zur ewigen Freude eingegangnen Mutter, der halb schon Verklärten, und kalt und geheimnißvoll hauchten Schauer aus einer andern Welt ihn, den Lebenden, an.

Wie ein Engel, der vom Himmel herabschwebt, um Sterblichen von seinen Freuden [261] Kunde und Gewißheit zu geben, wandte Gabriele sich dem geliebten Freunde endlich wieder zu; sein Herz erwärmte sich an ihrem Blick, es war, als wolle sie zu ihm sprechen, als wolle sie irgend etwas wichtiges ihm vertrauen, doch schien sie bald wieder anders entschlossen, und bat ihn nur mit den Augen, ihr die Harfe zu reichen, die seit mehreren Tagen von ihr unberührt in einer Ecke lehnte. Hippolit gehorchte wie immer ihrem Winken, und nun begann unter ihren schwachen zarten Händen leise und langsam ein fremdartiges Tönen, gleich dem Nachhall himmlischer Lieder. Endlich erhob sich auch ihre süße Stimme, lieblicher, herzdurchdringender als Hippolit sie jemals gehört hatte, wenn gleich unendlich zart und leise. Es war gleichsam ein innerliches Singen, ein wunderbar-ergreifendes Heraufklingen aus der Tiefe ihres Herzens.

In kurzen abgerissenen Sätzen, oft unterbrochen von Harfenklängen, die, der Erdensprache erst Bedeutung gebend, wie zur Erläuterung forttönten, wenn diese wortarm verstummen mußte, [262] sang Gabriele ein regelloses Lied, von der Begeisterung des Augenblicks eingegeben.

Nie hatten ihre Freunde diese Gabe der Dichtkunst in ihr vermuthet, die jetzt erst neu in ihr erwacht, der halb schon dem irdischen Leben Entschwebten eine nie zuvor von ihr geübte Sprache lieh. Gleich dem Schwane, der nur dann zum erstenmale mit süßen Klängen die Sterne begrüßt, wenn sie zum letztenmale die stille Fluth ihm versilbern, auf welcher er sterbend wogt.

Gabrielens Lied sang alles Hoffen, Sehnen, Erwarten ihrer in Himmelswonne vergehenden Brust. Es waren Worte, es waren Töne, welche der Unsterblichkeit angehören und der schwache Hauch des Erdenlebens wiederzugeben nicht vermag.

Sie sang, bis sie erbleichend, verstummend in ihren Lehnstuhl erschöpft zurückfiel. Noch eine Weile flüsterten die Harfentöne, endlich verstummten auch sie. Die zarten Lilienfinger entglitten matt den goldnen Saiten und Gabrielens Auge schloß sich einige Minuten lang wie im Schlummer; [263] doch bald öffnete es sich wieder und suchte Ihn, der, zum erstenmal in ihrer Gegenwart vom Schmerz überwältigt, in einer Ecke des Zimmers in der trostlosesten Stellung hingesunken war.

»Mein Freund! mein theurer herzlich lieber Freund! warum so?« sprach sie zu ihm. »Ich dachte Muth und Hoffnung in Ihre Seele zu singen, denn ich selbst bin sehr freudig, sehr hoffnungsreich in meinem Gemüthe. Das Leben ist nicht minder kurz als schön, darum sollten wir nie die köstlichen Stunden der Gegenwart in voreiliger Trauer über eine vielleicht nahe, dunklere Zukunft verschwenden. Denken Sie daran daß ohne Trennung kein Wiedersehen möglich wäre. Und welches Wiedersehen erwartet uns dort über jenen glänzenden Welten, die durch unsre kurze Erdendämmerung leuchten!«

Es war zum erstenmale, daß Gabriele auf die Nähe ihres Scheidens so hindeutete. Hippolit glaubte dabei in neuem nie gefühltem Schmerze zu vergehen, denn das ausgesprochne unheilverkündende Wort ist weit furchtbarer als [264] unsre trübesten Gedanken es seyn können. Doch übte er auch in dieser bangen Stunde die gewohnte Kraft über sich selbst. Er erhob sich und nahete ihr mit Ergebung in seinen Zügen.

»Das Singen hat mich ein wenig angegriffen, weit mehr als ich es vermuthete,« sprach Gabriele sehr freundlich. »Und doch sind wir so ungestört, so traulich beisammen! ich möchte die Zeit nützen, recht gern, recht viel mit Ihnen reden, auch wohl etwas von Ihnen erbitten; ich werde ganz leise flüstern müssen. Doch das thut nichts, setzen Sie sich nur recht nahe zu mir, damit Sie mich verstehen, recht nahe, ich bitte.«

Hippolit schauerte vor innerer ihm selbst unerklärlicher Angst, denn er hatte Gabrielen schon weit ermatteter gesehen als sie es in diesem Augenblicke zu seyn schien; aber er nahm sich zusammen, zog ein Taburett aus dem Fenster herbei und setzte sich dicht zu ihren Füßen. Sein Auge ruhte in ihrem, ihre Hand lag kalt und regungslos in der seinen, während sie mit der ihm so bekannten anmuthigen Beugung des schönen[265] Hauptes sich gegen ihn hinneigte, und ganz leise und vertraulich zu ihm sprach.

»Sehen Sie, wie das Abendroth sich noch so glänzend dort in den Fenstern der Kapelle spiegelt? Ist es nicht genau so, wie heute vor vier Jahren –«

»Guter Gott, theure Gabriele, an welche Stunde erinnern Sie mich in diesem Momente!« rief Hippolit erbleichend aus, von unwiderstehlichem Grauen und Schrecken ergriffen.

»Ruhig, ruhig, mein Freund!« erwiderte ihn beschwichtigend Gabriele, »Sie können ja jener Stunde immer nur mit Dank und Rührung gedenken, so wie ich es auch thue. Gott würdigte mich damals des Glücks, Sie von einer großen Gefahr zu erretten,« setzte sie mit einem durch die Wolken hindurch leuchtenden, zum Himmel gerichteten Blick hinzu. Dann wandte sie sich wieder an ihn, der, mit seinem Gefühle sichtbar kämpfend, jetzt wieder ruhiger da saß. »Die Vorsehung führte Sie damals vom Rande des [266] furchtbarsten Abgrundes, in den wir Verblendete versinken können, hin, auf den Weg, der zum neuen, erhöhten Daseyn Sie gelangen ließ. Gottes Führungen sind unbegreiflich und gütig wie er selbst. Wer hat das anschaulicher erfahren als wir beide? Darum, lieber Hippolit! wollen wir auch nie uns Eigenmächtigkeit oder Widerstand erlauben. Wir wollen immer vertrauen, immer, immer, auch wenn es recht dunkel um uns wird; jeder Nacht folgt ein hell leuchtender Tag, der alles Grauen verscheucht.«

Sie schwieg einige Minuten, dann begann sie von neuem. »Vergeben Sie, wenn ich Ihnen wehe that durch die Erinnerung an jenen großen Wendepunkt ihrer Existenz, von dem alles Gute und Edle und Schöne ausgeht, das Sie seitdem sich aneigneten. – Ich wollte es nicht, doch was ich von Ihnen bitten wollte, hängt zu genau damit zusammen, und ich bin verlegen und weiß nicht wie ich es aussprechen soll. – Jenes Fläschchen, jener Kristall, der damals Ihren Händen entsank, den ich wenige Minuten später [267] Ihrer Bewahrung anvertraute, bewahren Sie ihn noch? und wo?«

»Ich bewahre ihn, auf meinem Herzen,« erwiderte nach kurzem Schweigen Hippolit, mit fast unhörbarem klanglosem Tone.

»Hippolit!« rief Gabriele mit ungewohnter Kraft, und richtete sich plötzlich hoch und ernst in ihrem Sessel empor. »Sie tragen das Entsetzliche auf ihrem Herzen? und seit wenn?«

»Seit – seit den letzten Wochen unsers Hierseyns,« entgegnete Hippolit, und verhüllte sein Gesicht in die weiten Falten ihres herabhängenden Shawls.

»Muth, armer Freund, und Friede Ihrem bangem Herzen,« sprach Gabriele, ihre schwachen Hände strebten ihn aufzurichten, und eine warme Thräne sank auf seine Stirne. »Ach Hippolit!« sprach sie mit unendlich sanfter Stimme weiter, wie oft vergessen wir auf den Himmel zu bauen, wenn uns das Leben hier unter die ernste dunkle Seite zuwendet! Darum sollten wir es wo möglich [268] nie in unsere Macht stellen, der gefährlichen Wirkung des Augenblicks folgen zu können. Wir Schwache sollten schon von Ferne der Gefahr ausweichen, die ein einziger unbewachter Moment über unser Haupt rufen kann. – Der Tod,« fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, »der Tod ist immer unserm Herzen nah; warum, lieber Hippolit, warum ihn noch auf demselben tragen?«

Hippolit vermochte nicht, ihr zu antworten. Nach einigem Schweigen fuhr sie fort zu reden.

»Jenes furchtbare Fläschchen, ich habe viel darüber nachgedacht und weiß jetzt, daß es ein Eigenthum meines Vaters war. Sie fanden es dort in den Ruinen, die, seinem letzten Wunsch gemäß, in sich selbst versinken müssen, mit allem was sie bedecken; ist es nicht so?«

Hippolit bejahte die Frage mit einer stummen Neigung des Hauptes.

»Nichts von allem, was dort auf ewig begraben ward, darf das Licht des Tages wieder bescheinen; so wollte es mein sterbender Vater,« [269] fuhr Gabriele fort. »Darum bitte ich Sie mein Freund, ich bitte recht ernstlich, recht dringend, geben Sie der Finsterniß wieder was ihr geweiht ward. Tragen Sie noch heute, noch diesen Abend Ihren schauerlichen Fund zurück zu jenem geheimnißvollen Gemäuer, versenken Sie ihn dort in tiefe, selbst Ihnen unzugängliche Kluft. Dort mag er ruhen, in dem weiten Grabe wo so vieles ruht. Wollen Sie es? Wollen Sie mir die Freude gönnen, den letzten Wunsch meines Vaters auch im kleinsten Punkt erfüllt zu sehen?«

»Noch heute, noch in dieser Stunde,« erwiderte Hippolit, und drückte seine brennenden Augen auf ihre liebe Hand. »Wie könnte ich je Ihrem ausgesprochnen Willen widerstreben!«

»Dank Ihnen, innigen Dank,« erwiderte Gabriele, mit einem fast unfühlbaren Händedruck. »Sie haben Nachsicht mit meiner Schwäche,« setzte sie matt lächelnd hinzu, »Sie spotten nicht einer vielleicht kindischen Ehrfurcht gegen den Willen der Todten. Aber das Zuviel ist hier in unserm Dunkel [270] doch noch immer dem Zuwenig vorzuziehen; nicht wahr lieber Hippolit?«

»Gabriele! himmlisches Wesen! nicht diese Engelmilde gegen mich, wenn ich nicht ganz vernichtet werden soll!« rief Hippolit tief erschüttert. »Ich fühle alles, was Sie mir verbergen und andeuten, vergebens suchen Sie es mir zu verschleiern um auch nur die Idee eines Vorwurfes von Ihnen mir zu ersparen. Jene noch immer roth schimmernden Fenster der Kapelle, Ihre eigne verklärte Gestalt, sogar die Dämmerung um uns her rufen mir die Vergangenheit zurück. Alles ist wie es war, alles heute wie damals! Und doch, wie ist es auch so furchtbar anders! Kindischer Thor der ich war! daß ich damals schon das Unglück zu kennen wähnte!«

»Sie kannten es damals nicht,« fiel Gabriele ein; »und glauben Sie mir, es kommt ein Tag, wo alles, was Ihr Herz heut so schwer belastet, Ihnen eben so erscheinen wird, als jetzt jener Schmerz, der damals Sie in Tod und Verzweiflung jagte, Ihnen erscheint. O mein theurer Hippolit, es kommt eine Stunde, in welcher die [271] Erde mit all ihrem Weh unter uns zusammen sinkt und der Himmel mit seinen Freuden sich uns öffnet. Wie leicht, wie klein sehen wir dann alles, was uns vor kurzem noch so schwer, so unübersteiglich groß dünkte! Geloben Sie mir, mein geliebter Freund, geloben Sie mir, diese meine Worte nie zu vergessen. Lieber lieber Hippolit, sie nicht zu vergessen, in keiner noch so dunkeln schweren Stunde Ihres Lebens. Ach Sterben ist oft so viel leichter als Leben! Wer würfe nicht gern alles, was uns belastet, von sich, um einer geliebten entschwebenden Seele durch alle Himmel zu folgen? Doch mein edler Freund wird das Schwerere wählen, und es tragen, so lange die ewige Vorsicht es will.« Gabriele streckte ihre rechte Hand gegen ihn aus, doch er legte nicht versichernd die seine hinein. Dunkel, fast verzweifelnd starrte sein Blick hinaus in die Dämmerung, durch welche die Fenster der Kapelle noch immer im Abendschimmer röthlich erglänzten.

»Undurchdringliche Nacht verhüllt uns das Jenseits,« sprach jetzt mit bewegter Stimme [272] Gabriele, wir ahnen seine Schrecken wie seine Seligkeit, und es ist verwegen, mit sterblicher Zunge von Göttlichem stammeln zu wollen. Doch den Rand des Grabes vergoldet ein purpurner Schein, der den ewigen herrlichen Ost uns verkündet; er heißt Hoffnung des Wiedersehens! Ach und doch wäre es möglich, daß eigenmächtiges Eingreifen in den Willen der Vorsicht eine Kluft risse, die dieses Hoffen vielleicht vernichtet, vielleicht auf Jahrtausende hinausschiebt. Längre Prüfung in andern Welten erwartet vielleicht den, der ungerufen diese verläßt. – Schrecklich, schrecklich muß es seyn, furchtbar über alle Beschreibung,« sprach sie lauter und heftiger; »es würde mir den Tod erst zum Tode machen, wenn ich entschlummern müßte, ohne die beruhigende Zuversicht, daß alle, die ich liebe, vertrauend, wenn gleich weinend mir nachblicken werden, und daß keines von ihnen sich vom Schmerz zu einem Schritt verleiten lassen wird, der mein Hoffen eines nahen seligen Wiedersehens in der ungemessenen Ewigkeit vernichten könnte.«

[273] An allen Kräften erschöpft, bleich, leblos beinah, sank Gabriele mit diesen Worten in ihren Sessel zurück, aber ihr bittendes Auge haftete noch immer mit unaussprechlichem Ausdruck auf Hippoliten.

»Heilige! Verklärte!« rief jetzt dieser, außer sich vor unaussprechlicher Angst, und warf sich, ihre Knie umfassend, vor ihr nieder. »O entschwebe mir noch nicht! Nimm mein Gelübde mit, daß ich Deinen Willen erfülle, sey es noch so schwer; daß ich keine Kluft ewiger Trennung zwischen uns reißen will. Ja ich will noch leben, weil Du es gebeutst, ich will noch leben und athmen so lange ich kann, auch wenn Du –« Thränen erstickten seine Worte. Gabriele vermochte es nicht ihm zu antworten, aber ihre Hände ruhten segnend auf seinem Haupte, ein dankbares Lächeln umspielte ihre Lippen, und ihr gen Himmel gerichtetes glänzendes Auge erhob sich betend für ihn.


[274] Bange, leise, wehmüthig einander zulächelnd, und doch unfähig jeder ausgesprochnen Mittheilung ihres Gefühls, wandelten in den nächstfolgenden Tagen Gabrielens Freunde neben einander her. Im Schlosse herrschte eine bange schwüle Stille, wie vor einem Gewitter, und auch draußen war es so in der Natur. Alle Gipfel ruhten, kein Lüftchen spielte in den goldigen Blättern, sie fielen von selbst leise und langsam, man hörte das flüsternde Rieseln ihres Niedersinkens, weil kein stärkerer Ton durch den schweigenden Wald rauschte.

Gabriele blickte täglich aus ihrem Bogenfenster hinaus in die herbstliche Pracht, denn weiter zu gehen verstattete ihr ihre große, wenn gleich schmerzlose Mattigkeit nicht mehr. Mit jeder Stunde beinah sahen ihre Freunde die schöne Blume bleicher und immer bleicher sich neigen, aber ihr Geist loderte immer sichrer und heller auf, ihre Theilnahme an dem Leben ihrer Freunde entwickelte sich immer freudiger. Diese durften sie jetzt fast gar nicht mehr verlassen, denn sie [275] schien mit jeder Minute des Beisammenseyns noch geizen zu wollen und wendete alle ihr noch immer zu Gebote stehende Liebenswürdigkeit daran, sie alle so lange als möglich in ihrer Nähe festzuhalten. Ihr Auge wandte sich in dem kleinen Kreise mit unaussprechlicher Liebe von einem zum andern. Lächelnd suchte es den treuen Ernesto, der liebenden Freundin Muth und Licht in die Seele zu strahlen; dann ruhte es wehmüthig auf Hippoliten, der, ganz in sich verloren, sich und den Schmerz, und jede Klage, selbst Zukunft und Vergangenheit in ihrem Anblick vergaß, während Frau von Willnangen und Ernesto nur mit der mühsamsten Anstrengung aller ihrer Kräfte ihrem tiefen Schmerz gebieten konnten.

Gabriele redete in diesen Tagen ungewöhnlich viel von Ottokar, und von einer frohen Ahnung seines nahen Wiedersehens nach so langer Trennung. »Ernesto war nur sein Vorläufer, gebt Acht, unversehens ist er da!« sprach sie mit einer eignen Art von Gewißheit, für die sie doch selbst keinen rechten Grund anzugeben wußte, [276] denn er hatte nur kürzlich geschrieben, und den Willen, Rom zu verlassen, auf keine Weise geäußert.


Am dritten Morgen nach dem Todestage ihrer Mutter ließ Gabriele etwas früher als gewöhnlich Hippoliten zu sich entbieten. Er eilte herbei. Alles im Zimmer hatte ein eignes festliches Ansehen. Wölkchen von Wohlgerüchen durchkräuselten es in bläulichem Duft, Gabriele schien auf ihrem gewohnten Sessel im Fenster wie in einer Blumenlaube zu ruhen, denn aller Schmuck des sinkenden Jahres stand in schönen Vasen zierlich um sie her geordnet und Blumen und Früchte fügten sich im gefälligsten Vereine um ihre Umgebung zu verherrlichen. Die durch die herabgelaßnen rothen Vorhänge gemilderten Sonnenstrahlen verbreiteten ein lieblich-rosiges Scheinen im ganzen Gemach und liehen auch der bleichen Gabriele noch einmal den flüchtigen Schimmer der Gesundheit. Sie selbst hatte mit mehr [277] als gewohnter Sorgfalt wie zu einem Feste sich schmücken lassen, ihre reichen Zöpfe waren zierlicher aufgeflochten, ihre Locken umkräuselten die schöne Stirn in gewählterer Form, und ein weiter, kostbarer Shawl von himmelblauer Farbe umwallte in reichen Falten die im zierlichsten weißen Morgenkleide ruhende schlanke Gestalt. Nie war Gabriele schöner gewesen als in diesem Moment, doch war ihre Schönheit nicht mehr von dieser Welt.

Freundlich winkte sie dem Eintretenden, näher zu kommen. Er that es und sank unwillkürlich zu ihren Füßen hin, in Anbetung und Liebe verloren. Eine eigne Freudigkeit des Herzens hatte sich seiner bei ihrem Anblick bemächtigt, sie leuchtete aus seinen Augen, während er bewundernd die Hochgeliebte betrachtete. »Hippolit,« flüsterte sie leise, »theurer, geliebter Hippolit! ja ich fühle es, Sie werden durch ungestümen Schmerz die heiligste schönste Stunde meines Lebens mir nicht stören; sie ist die Krone unsers Daseyns, ihr darf keine andre folgen. Auch gehöre ich den [278] Lebenden nicht mehr an; – erschrick nicht so über dieses Wort, erschrick nicht, daß ich gewiß weiß, ich werde die Sonne, die jetzt uns leuchtet, nicht mehr sinken sehen.«

Mit einem kaum unterdrückten Schrei fuhr Hippolit in die Höhe, der Thüre zu, als wolle er Beistand, Hülfe herbei rufen oder suchen, doch ihre sanfte Gewalt, ihr flehendes Auge und die innre Ueberzeugung, daß jeder Versuch, zu helfen, hier nur quälend mißlingen könne, zogen ihn wieder zu ihren Füßen hin. Sein starrendes Auge, sein Beben, sein tödtliches Erbleichen machten ihn einem Sterbenden weit ähnlicher als Gabriele es war.

»Erwache, o erwache,« rief sie, »geliebtester aller Menschen, erwache und segne mit mir diese Stunde, die den lange gehegten einzigen Wunsch meines Herzens, den Lohn alles meines Strebens mir gewährt. Die Sterbende darf gestehen, was der Lebenden strenge Pflicht war, tief in der Brust, unter unsäglichen Schmerzen zu vergraben.«

[279] Ihr Auge strahlte von neuem himmlischen Feuer, ihre Wangen färbten sich, alle ihre Züge verklärten sich zu unaussprechlicher Schönheit. »Ja Dich, Dich habe ich geliebt!« sprach sie mit vor Entzücken bebender Stimme, »Dich liebe ich, Dich allein, Du Einziger, Geliebtester, Du mein Hippolit, nur Dich! ich liebe Dich wie Du mich liebst, und lange schon trage ich Dein Bild im Herzen. Ich sterbe, weil ich Dich liebte, ich sterbe beglückt, daß ich nur einmal mein Herz Dir öffnen darf, entzückt, beglückt, und nun laß mich enden. Die Erde beut mir nichts mehr nach dieser Stunde, die alle meine Fesseln zerreißt! Ich darf dem Leben nicht mehr angehören, aber ich gehöre Dein! Dein! von nun an, und an diesen Moment gränzt eine wonnevolle Ewigkeit!«

Das seligste Entzücken, der zerreißendste Schmerz, Gabrielens geliebte Stimme rief Hippolit schnell wieder zu klarem Bewußtseyn; in Thränen, Seufzern, Blicken mehr noch als in Worten, tauschten die Liebenden alles Weh und alle Wonnen ihres Daseyns gegen einander aus. [280] Die Stunde, die sie so mit einander zubrachten, gehört nicht ins irdische Leben, keine Vergangenheit, keine Zukunft begränzt sie; sie steht da, einzig, für sich allein gleich der Ewigkeit, jedem Versuch, sie zu schildern, unerreichbar.


Es war stille im Zimmer geworden, ganz still. Ernesto trat leise herein, ihm folgte Frau von Willnangen. Die Geschichte eines großen unverhofften frohen Ereignisses glänzte in Beider Augen, schwebte sichtbar auf Beider Lippen. Sie fanden Hippoliten auf dem Taburett neben Gabrielens Sessel knieend, ihr Haupt ruhte an seiner Brust, einer ihrer Arme hielt ihn umschlungen, die Hand des andern hielt er in der seinen, ein liebes Lächeln umspielte ihre Lippen, sie schlummerte tief und süß. Hippolit regte sich nicht beim Eintritt seiner Freunde. Sie winkten ihm, sie riefen leise seinen Namen, er achtete nicht darauf oder ward es nicht gewahr. [281] Endlich nahte sich ihm Frau von Willnangen leise und behutsam. »Sie schläft,« flüsterte sie, »wie sanft, wie fest, doch auch wie unbequem; sehen Sie, wie ihr Arm, ihre Wange gedrückt werden.« Mit diesen Worten versuchte sie es, Gabrielen mit großer Sorgfalt, wie ein unter Spielen eingeschlummertes Kind, zurück in die Kissen zu legen. Es gelang. Hippolit ließ es ohne Widerstand geschehen, und Gabriele erwachte nicht.

Ernesto nahte und zog Hippoliten in die fernste Ecke des Zimmers, Frau von Willnangen blieb gleich einer über die Wiege ihres kranken Kindes gebeugten Mutter neben Gabrielen stehen und bewachte ihren Schlummer; Hippolit folgte gelassen dem Freunde, wohin er ihn führen wollte.

»Gabrielen steht beim Erwachen eine große Erschütterung bevor,« flüsterte Ernesto Hippoliten mit freudig glänzenden Augen zu. »Da gilt es Vorsicht und die sorgsamste Behutsamkeit. Lieber Hippolit! weiß ich doch kaum wie ich Dir es entdecken soll. Gabrielens Prophezeihung [282] ist eingetroffen, Ottokar ist wirklich da und harrt der Erlaubniß, ihr zu nahen. Was er bringt, wird sie weit später, nach und nach erfahren müssen; es ist ein Glück, aber es wird ihr sanftes Gemüth doch verwunden. Ottokar kommt von Pisa. Lieber Hippolit! Moritz ist gestorben, ach! nun kann alles noch sehr gut werden, und –«

»Gabriele ist tod!« schrie Frau von Willnangen mit dem klanglosen Tone des wildesten Schreckens, und sank neben ihr hin.


Was läßt sich von den Ueberlebenden ferner sagen? Allein, von niemanden gesehen, verweilte Ottokar eine Weile neben der geliebten Todten, der untergesunknen Sonne seiner Jugend; dann schloß er den unglücklichen Freund in seine Arme, der bewußtlos und starr ohne Thränen, ohne einen Laut, kaum noch dem Leben anzugehören schien. Seinen mit ihm gekommnen Sohn übergab Ottokar dem treuen Ernesto, und bat ihn, [283] den armen, mit den Weinenden ängstlich weinenden Knaben zurück nach Rom zu begleiten, dort seiner Zurückkunft zu harren. Er selbst nahm den durchaus in nichts widerstrebenden Hippolit an seine Brust, führte ihn in den noch dastehenden Reisewagen, in welchem er eben gekommen war, und fuhr mit ihm fort, gleichviel wohin.

Man sagt, Ottokar sey nach etwas mehr als Jahresfrist traurig und ganz allein wieder in seinem Hause in Rom angelangt, eben noch früh genug, um den treuen Ernesto zur Piramide des Cestius zu geleiten.

Fußnoten

1 Nimm das letzte Pfand meiner Liebe –

Freiheit und Tod.

Aus Virginia, Trauerspiel von Alfieri.

2 Dem Schmerze lächeln.

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TextGrid Repository (2012). Schopenhauer, Johanna. Romane. Gabriele. Gabriele. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-EFB4-C