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Liebchen, wie leben wir doch so wundersam? Sind wir denn wirklich
Eins in das Andre verliebt, oder betrügt uns der Schein?
Traulich sitzen wir oft, und es scherzt muthwillig der Leichtsinn
Ueber das tiefe Gefühl, über ein schwärmendes Paar;
Dichten vereint Spottliederchen oft auf den kindischen Amor,
Necken mit stechendem Dorn sicher den trotzigen Gott,
Und doch lieg' ich so oft zu deinen Füßen und flüstre,
Was mich das Herz allein, was nur die Liebe mich lehrt,
Und du beugst dich herab, und ein glühender Kuß, der des Leichtsinns
Lüge bestraft und des Spotts Dornen, beglücket den Freund.
Froh dann scheid' ich von dir und schwelg' in süßer Erinnrung,
Wähn' ein ewiges Band kette mein flüchtiges Herz:
Doch kaum flieht der Moment, so umstrickt arglistig den Frevler,
Welcher die Fessel so gern duldet ein anderes Netz,
Ach, und jeglichen Schwur, den ich dir that, tilgt die Bezaubrung,
Gleich dem Gewölk, das rasch gaukelnde Winde zerstreun.
Doch noch nimmer vergaß ich dich selbst, und, bin ich auch treulos,
Nur dein eigener Reiz trage des Irrenden Schuld.
Ach, du fesseltest mich mit ewigen Banden der Sehnsucht,
Jegliches holde Gesicht zeigt dem Getäuschten dein Bild:
Doch kaum bin ich dir wieder genaht, so beugt mich gewaltsam
Dein allmächtiger Blick wieder in's vorige Joch.
Wahrlich, dir schenkte Cythere gewiß den magischen Gürtel,
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Welchen mit Zaubergeflecht webte der Grazien Hand.
Was du auch thust, du thust es mit Reiz, und heimliche Anmuth
Schwebt im Blick dir und schwebt rings um die ganze Gestalt.
Kehr' ich dir wieder zurück, ja dann gesteh' ich dir Alles,
Preise die Schönen sogar, welche mich gestern besiegt,
Und, bei Gott, kaum trau' ich mir selbst, du hörst es geduldig,
Stimmst in's schmeichelnde Lob gern und gefällig mit ein,
Lobst den beweglichen Geist, der nur die Genüsse des Lebens
Leis' umschwebt und den Schmerz unter die Winde verstreut,
Neckst nur zuweilen mit stechendem Scherz den Armen, der Dornen
Statt der Rosen empfing, die er zu pflücken gehofft.
Schalkhaft zeigst du ein Briefchen mir dann, das du eben empfangen,
Aber die Unterschrift deckst du mit sorglicher Hand,
Rühmst mir die Blume, die jüngst ein Unbekannter dir sandte,
Sprichst: schön ist das Geschenk, sollt' es der Geber nicht seyn?
Faßt mich dann plötzlicher Zorn, so ergreifst du die nahe Guitarre,
Uebertäubest mein Wort rasch mit der Saiten Getön,
Singst mir des Mißtrauns Qual mit komischem Pathos, und wahrlich,
Endlich muß ich noch selbst wieder mich flehend dir nahn.
Wahrlich uns gaben die Götter den Sinn der ewigen Kindheit,
Lang ist immer die Lust, kurz uns der flüchtige Schmerz:
Oder es wurde schon jetzt der Olympischen Götter Geschick uns,
Welches die Leidenschaft würzet, doch nimmer vergällt.

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TextGrid Repository (2012). Schulze, Ernst. Gedichte. Elegieen. 9. [Liebchen, wie leben wir doch so wundersam? Sind wir denn wirklich]. 9. [Liebchen, wie leben wir doch so wundersam? Sind wir denn wirklich]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0593-8