[271] Havanna 1816

Tausendachthundertundsechzehn! – Tausendachthundertundsechzehn! Jawohl wird Südamerika deiner gedenken in heiteren und trüben Tagen, denn du lehrtest es zu Gott beten, indem du das Jammermaß der Verzweiflung bis an den Rand fülltest! Aber sollten je unheilvolle Tage wieder hereinbrechen, so wirst du auch als zwar düster leuchtender, aber tröstender Pharus vor ihm stehen, den Mutlosesten, den Verzweifelnden aufrichtend! Denn der Gott, der Südamerika auf diese lange Nacht Tag werden ließ, wahrlich, er kann es nimmermehr verlassen!


Es war aber im Spätjahre, am 19. November dieses für Südamerika so gräßlichen Jahres, mehrere Monate nach der unglückseligen Schlacht von Cachiri, die mit den vorhergegangenen gleich unglücklichen von Puerta, Araguita, Alto de Tanumba so entsetzliches Elend über einen halben Weltteil gebracht, daß ein junger, dürftig gekleideter Mann seine Wohnung in Calle Agostino zu Havanna verließ und sich eiligen Schrittes dem Hafen zu stahl.

Es war noch dunkel, die Sonne noch nicht aus dem Atlantischen Ozean heraufgestiegen, aber, obwohl der Calle mehrere Straßen von dem Hafen ablag, er auch fremd schien, schlüpfte er doch Gassen und Gäßchen mit jenem Instinkte hindurch, mit dem ein gejagtes Tier seinen Feinden zu entgehen sucht. Als er diesem endlich nahe gekommen, stahl sich ein zweiter gleich eilig hinter einem Lager von Kaffeesäcken und Rotholz hervor, fixierte ihn einen Augenblick scharf und dann, seine Hand ergreifend zog er ihn dem soeben verlassenen Verstecke wieder zu.

Hier hielten die beiden in ängstlicher Erwartung leise einander zuflüsternd, mit den Augen in die trüben, dunklen Nebelschichten hineinbohrend, [272] in denen Stadt und Hafen und die Tausende von Häusern und Schiffen gehüllt lagen.

Bei jedem Laute, der aus den Nebelschichten hervordrang, schraken sie zusammen – der erwachende Tag, wie er sich allmählich im lauter werdenden Leben verkündigte, schien sie mit Schrecken zu erfüllen, ihnen den Atem zu benehmen.

Etwa eine halbe Viertelstunde waren sie so gestanden, als regelmäßige Ruderschläge das Herannahen eines Bootes verkündeten, das auch wirklich bald darauf unter dem Nebelvorhange hervor und dem Hafendamme zuschoß. Noch ehe es an der steinernen Treppe hielt, deutete der eine der Männer auf den am Bootsruder Sitzenden, drückte dem andern die Hand und verschwand hinter Kaffeesäcken und Rotholze.

Im Boote waren drei Männer, offenbar Seeleute, von denen zwei Matrosen, der dritte ihr Offizier schien. Er sprach, als das Boot an der Treppe des Hafendammes hielt, einige Worte zu den Bootsleuten und stieg dann die Treppe hinauf. Noch einen Blick warf er dem wieder unter der Nebelschicht verschwindenden Boote nach und dann wandte er sich der Stadt zu.

Wenige Schritte brachten ihn dicht ans Rotholzlager, hinter welchem der Fremdling geborgen stand, der jetzt hastig hervor – und auf ihn zutrat. Die erste Bewegung des Seemannes war natürlich nach seiner Waffe, denn er war in Havanna und der Tag noch nicht angebrochen; ein zweiter Blick jedoch machte ihn den Dolch wieder ruhig in den Ärmel zurückschieben. Der junge Mensch schien nichts weniger als meuchelmörderisch gestimmt. Seine Kleidung war abgetragen, selbst geflickt, seine Miene verriet Trostlosigkeit, die Züge waren zwar jugendlich, selbst edel, aber gramerfüllt. Kummer und Entbehrungen sprachen aus seinem ganzen gebeugten Wesen, das aber ursprünglich sehr viel Stolzes gehabt haben mochte. Mit bebender Stimme fragte er, ob er der Kapitän des Schoners von Philadelphia sei, der nächstens abzusegeln im Begriffe stände.

Der Seemann schaute den jungen Menschen einen Augenblick forschend an und versetzte dann, er sei Kapitän eines Schoners, der auf dem Punkte stehe, die Anker zu lichten.

Des jungen Mannes Augen blitzten. Mit zwischen Furcht und Hoffnung schwankendem Tone fragte er wieder, ob er nicht Passage für sich, eine erwachsene Person und zwei Kinder finden könnte.

[273] Abermals maß ihn der Seemann, und zwar schärfer. Der junge Mensch hatte ein Etwas, das Seekapitänen in der Regel nicht sehr zu gefallen pflegt, etwas abenteuerlich Zerstörtes, Zerrissenes, abgesehen von seiner Kleidung. Bescheiden, ja demütig, wie seine Worte klangen, hatten sie jenen gewissen, gebieterischen Nachhall, der seltsam, ja grell mit seiner ärmlichen Kleidung, seiner Ängstlichkeit kontrastierte. Während ihm die Lippen zitterten, blitzte wieder aus den Augen ein Mut, eine Unbändigkeit, die etwas Gewalttätiges verrieten.

Der Seemann schüttelte den Kopf.

Der junge Mensch schnappte nach Atem, die Sprache schien ihm zu versagen; er zog einen ziemlich vollen Beutel aus seinem Busen.

Er wolle vorausbezahlen, alles vorausbezahlen.

Der Kapitän stutzte. Der Widerspruch zwischen dem vollen Beutel und dem kläglichen Äußern war zu schreiend! Er schüttelte den Kopf stärker.

Jetzt starrte ihn der junge Mensch mit einem Ausdrucke so düsterer Verzweiflung an, die Lippen zuckten ihm so krampfhaft, der Atem stockte so gänzlich!

Der Kapitän wurde augenscheinlich betroffen.

»Junger Mann!« fragte er spanisch, »was wollt Ihr eigentlich in Philadelphia, Ihr seid kein Handelsmann?«

»Ich will nach Philadelphia«, würgte dieser heraus, »will für die Passage bezahlen. Hier ist Geld, hier ist mein Paß; Ihr seid Kapitän, was wollt Ihr mehr?«

Die Worte waren so heftig gesprochen, die Züge des jungen Menschen hatten einen so verzweifelnden, schmerzhaften Ausdruck angenommen, daß der Kapitän immer mehr und mehr den Kopf schüttelte.

Er schaute ihn mit einem langen, durchbohrenden Blicke an und war im Begriffe zu gehen.

Der junge Mann schnappte nach Atem, hielt ihn mit krampfhaft zuckender Hand zurück.

»Nehmt mich um Gottes willen mit, und meine arme Frau und meine armen Kinder, Kapitän!«

»Frau und Kinder?« sprach plötzlich mit weicherer Stimme der Kapitän, »habt Ihr Weib und Kinder?«

Weib und Kinder berühren die Eisenseele des Amerikaners immer an der tiefsten, zartesten Seite!

[274] »Weib und Kinder!« stöhnte in Verzweiflung der junge Mensch.

»Ihr habt doch nichts verbrochen, wollt nicht etwa dem Gesetze entfliehen?« fragte wieder schärfer der Kapitän.

»So möge mir Gott helfen, ich habe nichts verbrochen!« versetzte die Hand erhebend der junge Mann.

Einen Augenblick stand der Kapitän sinnend, dann sprach er:

»In diesem Falle will ich Euch als Passagier mitnehmen. Behaltet Euer Geld, bis Ihr an Bord seid. In einer Stunde längstens gehe ich.«

Der junge Mensch antwortete nicht, aber wie einer, der wieder Hoffnung schöpft, eine entsetzliche Angst überstanden hat, holte er tiefen Atem, schaute den Kapitän, dann den Himmel an und sprang davon.


Kapitän Ready, Meister des Schoners »The speedy Tom«, hatte seine Ladung gelöscht, seine Geschäfte abgetan und würde auch bereits die Havanna verlassen haben, wenn nicht ein stürmischer Nordwester ihn zurückgehalten hätte. Dieser jedoch hatte sich an demselben Morgen gelegt, und er wollte bloß noch einmal nach seinem Gasthofe sehen, um auch die etwas stark angelaufene Rechnung zu löschen, noch ein und das andere Vergessene nachzuholen und dann zurückzukehren. Sein Schoner lag ganz segelfertig. Es war ein in Baltimore gebauter Schoner, womit ich alles gesagt zu haben glaube, – eines jener Fahrzeuge, um die uns die Welt mit Recht beneidet und um die wir auch wirklich zu beneiden wären, wenn es keine Squalls gäbe; aber diese Squalls qualifizieren wieder die Baltimore-Tugenden, denn sie schlagen euch bei nahe ebenso leicht während eines solchen Windstoßes um, als irgendeine lockere weibliche Tugend nur umschlagen kann. Aber flüchtig sind sie, das muß man gestehen; auch bieten sie im geringstmöglichen Raume wohl die größtmögliche Bequemlichkeit sowie Leichtigkeit dar, vom Verdecke herab in die See zu kollern. Ich war einige Male nahe daran – und einmal auch darin; glücklicherweise war gerade Windstille, der Sturm vorüber. Doch zu unserm ›Speedy Tom‹ zurückzukehren, so konnten sich in seiner Nußschale von Kajüte vier bis fünf Personen so ziemlich behaglich einrichten, und daß sie gerade keine anderen Passagiere hatte, schien den jungen Kapitän willfährig gestimmt zu haben, obwohl [275] er sich zu seiner verdächtigen Akquisition eben nicht Glück wünschen mochte. Unterdessen war die Aufnahme auf alle Fälle so ziemlich durch den Paß gerechtfertigt; zwar konnte dieser auch falsch sein, aber das ging nicht ihn, das ging die Hafenpolizei an. Wollte er nach dem Lebenslaufe jedes seiner Passagiere inquirieren, konnte er ebensowohl seine Kajüte vernageln. Dieses mochten allenfalls die Gründe sein, die den jungen Seemann bewogen, obwohl ihm die Heimlichkeit, die Angst des Fremden offenbar nicht gefielen, er auch leicht in eine Kollision mit den Hafenbehörden kommen konnte, für die ihm seine Schiffseigentümer nur wenig danken würden. Doch er war jung, entschlossen und obwohl seiner Pflicht als Kapitän haarscharf getreu, doch auch wieder Mensch. Der blasse Fremdling schien eine Saite in ihm berührt zu haben, die stark vibrierte. Etwas sprach zu seinen Gunsten; was es war, wußte er nicht, aber sein tiefstes Gemüt fühlte sich von dieser Stimme bewegt.

Ohne sich übrigens den Kopf zu zerbrechen, nahm er sein Frühstück ein, tat noch ab, was abzutun, und kehrte dann zu seinem Schoner zurück.

Wie er die Strickleiter hinauf auf das Verdeck sich schwang, kam ihm bereits der Fremde entgegen. In die Kajüte eingetreten, führte er ihm eine junge Dame auf, deren blasse Schönheit, verbunden mit dem höchsten Adel in Blick, Wort und Bewegung, wohl den seltsamsten Kontrast gegenüber dem halb zerlumpten jungen Menschen darbot. Die Dame war mit ihren zwei seraphartigen Kindern zwar einfach, aber in sehr feine Stoffe gekleidet. Doch auch hier zeigten sich Widersprüche. Auf einem der Koffer lag ein dürftiger Oberrock, den sie soeben abgelegt haben mußte; die zwei Kinder hatten gleichfalls zwei solche ärmliche Hülsen abgelegt. Unser Kapitän schüttelte etwas finster den Kopf; die Grazie der Dame jedoch, der Flötenton, der so zitternd, so duldsam ergeben aus der Brust heraufkam, durch die Perlenzähne, die schönen Lippen so bittend klang, schien die Wolke, die sich auf der Stirn des jungen Seemannes niedergelassen, wieder zu verscheuchen.

Er lud sie artig ein, sich in der Kajüte zu Hause zu machen, und bestieg dann die Treppe zum Verdeck.

Wenige Minuten darauf verriet das »heave ho yeo« der Matrosen, daß der Anker aufgezogen, und darauf das stärkere Schwanken, daß dieser empor und der Schoner in Bewegung sei.

[276] Die Sonne war aus dem Ozean heraufgestiegen, aus dem zerstiebenden Nebelschleier traten im Hintergrunde die Häusermassen von Havanna, im Vordergrunde die zahllosen Schiffe und rechts der düstere Koloß des Molo hervor, dessen drohenden Kanonenluken sich der Schoner nun mehr und mehr näherte. In atemloser Spannung, die starren Blicke auf das Fort gerichtet, standen die beiden Eheleute an der Kajütentreppe, mit der einen Hand das Seil der Treppe, mit der andern sich umschlungen haltend.

Auf den Nordwester war wie gewöhnlich eine kurze Windstille mit leichten Windstößen aus Südwest eingetreten, die die Ausfahrt des Schoners bisher begünstigt. Er stand jetzt dem Fort gegenüber.

Starre und atemlos, Totenblässe auf den Gesichtern, hielten sich noch immer die beiden Eheleute, in sprachloser Angst den Molo anstarrend. Es war da keine Bewegung zu verspüren. Die Wachen gingen ihren Automaten schritt auf und ab. Alles schien wie ausgestorben.

Aber jetzt öffnete sich auf einmal ein Pförtchen, zunächst dem Damme, ein Offizier trat eilig heraus, sechs Soldaten mit blitzenden Gewehren folgten. Vier Männer, die in einem Boote am Fuße der Dammtreppe lagen, sprangen auf – die Soldaten ein; zugleich wurde dem Schoner ein Signal zu halten gegeben. Das Boot flog wie von Fittichen getragen auf diesen zu.

»Jesu Maria y José!« stöhnte die Dame, »Madre de Dio!« der Mann.

Auf einen Wink des Kapitäns fiel das große Segel. Ruhig, unbewegt schaute er dem heraneilenden Boote entgegen, aus dem eine Minute darauf der Offizier samt den Soldaten an Bord stieg.

Der Offizier war jung, aber seine Miene charakteristisch spanisch, ernst und streng. Mit kurzen Worten befahl er dem Kapitän, seine Schiffspapiere vorzuweisen, seine Mannschaft sowie Passagiere vorzuführen.

Ehe der Kapitän ging, die ersten zu holen, befahl er seinem Leutnant, die andern vorzurufen. Zurückgekehrt überreichte er, ohne ein Wort zu sagen, dem Offizier die Papiere.

Dieser überflog sie, musterte einen der Matrosen nach dem andern, schaute dann erwartend in der Richtung hin, wo die Passagiere herkommen mußten. Sie kamen, der junge Mensch ein Kind im Arme, die Frau das andere.

[277] Ob er wisse, donnerte der Offizier plötzlich den Kapitän an, daß er einen Staatsverbrecher an Bord seines Schoners habe; wie er sich so etwas unterfangen könne!

»Jesu Maria y José!« stöhnte abermals die Frau, und dann sank sie ohnmächtig zusammen.

Eine tiefe Stille, die nur durch das Gekreisch der Kinder unterbrochen wurde, trat ein. Soldaten und Matrosen schlugen erschüttert die Augen zu Boden. Der Offizier war vorgesprungen, um dem jungen Staatsverbrecher beizustehen, der, das eine Kind in seinem Arme, nur mit Mühe die sinkende Frau mit dem andern aufzufangen und zu halten imstande war. Nicht ohne Delikatesse nahm er ihm die Kinder ab, es so dem Manne möglich machend, die Frau auf das Verdeck niederzulassen.

»Ich bedaure, Señor, aber Sie müssen zurück.«

Die Worte waren in einem bewegten, ja ehrfurchtsvollen, aber bestimmten Tone gesprochen, der junge Mensch jedoch hörte sie nicht – wie ein Geistesabwesender kniete er neben der Frau, ihr die Schläfe reibend.

Der Kapitän nahm unterdessen ein Stück Kautabak, schnitt davon ein Quid ab, steckte ihn in den Mund, und ebenso mechanisch den Paß entfaltend, hielt er ihn dem Offizier hin, der aber unwillig den unempfindlichen Amerikaner zurückwinkte, selbst empört, wie es schien. Es war aber auch etwas Empörendes in dieser Gefühllosigkeit eines jungen, kaum fünfundzwanzigjährigen Mannes! Freilich war er Kapitän im Dienste eines Handelshauses, dem alles daran gelegen sein mußte, den Verdacht abzuwälzen, als stehe er im Einverständnisse mit dem Flüchtlinge; der Schoner lag keine fünfhundert Fuß von dem Fort, ein bloßer Wink des Offiziers, und er mußte zurück, um vielleicht einer scharfen Untersuchung, einer schweren Strafe zu verfallen. Aber diese eisige Ruhe bei einer so erschütternden Szene, sie verriet doch ein gar zu fühlloses Herz, die impassablen Züge ein für jedes edlere Gefühl erstorbenes Gemüt! Nicht doch! Wir täuschen uns. So haarscharf sich die gewöhnliche Seele in ihrem äußeren Spiegel, dem Gesichte, abzeichnet, die kräftige, starke hat der Rinden, die den edlen Kern bedecken, viele und rauhe! Ein leichtes, wie konvulsivisches Zucken begann jetzt in dem eisernen Gesichte des Kapitäns zu spielen, das keiner bemerkte als sein Leutnant, der an ihn herantrat und dem er einige Worte in die Ohren wisperte. Dann [278] ging er abermals auf den Offizier zu und lud ihn ein, einige Erfrischungen in der Kajüte zu nehmen.

Es ist dies, wie ihr wisset, die gewöhnliche Courtoisie, die Kapitäne visitierenden Hafenoffizieren stets erweisen und die auch der Spanier annahm.

In der Kajüte schien unser Kapitän mit einem Male ein ganz veränderter Mann geworden zu sein. Mit einer Zuvorkommenheit, die niemand bei ihm gesucht hätte und die auch gewiß niemand so glücklich affichieren kann als der Yankee, wenn es ihm darum zu tun ist, einem guten Freunde sawder 1, wie er zu sagen pflegt, in die Augen zu streuen, war er auf einmal die Beweglichkeit, die Bonhommie selbst geworden. Während der Steward den Tisch mit Boston Crackers, Mandeln und Oliven besetzte, entkorkte er eine Madeirabouteille und war dabei zugleich so sehr beflissen, dem Offizier seine Unschuld an dem ganzen Vorfalle darzustellen, daß dieser, der den Madeira versucht, ihn tröstend versicherte, der Paß sei zwar falsch, für einen andern ausgestellt, aber er solle sich beruhigen, der Madeira sei echt, der Staatsgefangene aber ein Mann von größter Wichtigkeit, den noch erwischt zu haben er sich Glück wünschen dürfe.

Die Spanier lieben ein Glas Madeira, besonders wenn rein-ölichte Oliven die Grundlage bilden. Der Offizier schien sich ganz behaglich in der Kajüte zu fühlen. Unterdessen befahl er doch, das Gepäck des Staatsgefangenen, und zwar unverzüglich, in das Boot zu bringen.

Der Kapitän, nachdem er artig um Vergebung gebeten, ihn allein lassen zu müssen, eilte, dem Befehle Folge zu leisten.

Während er die Kajütentreppe hinaufstieg, schwankte ihm der unglückliche Staatsgefangene entgegen. Seine Gesichtsfarbe war blau geworden wie die eines Gehängten, die Züge ins Gräßliche verzerrt; das eine Kind hielt sich an seinem rechten Schenkel geklammert, die Frau, mehr tot als lebendig, hing an seinem Nacken; die Dienerin, eine junge Indianerin, trug das zweite noch saugende Kind. Unser Kapitän mochte bereits solcher Szenen mehrere in seinem bewegten Seeleben gesehen haben, aber diese hatte doch etwas Eigentümliches, Erschütterndes. Der stille Adel der Frau, die verzweifelnde Zerrissenheit des Mannes führten eine eigene Sprache, die wohl die stärksten Nerven erschüttern konnte. Wie er jetzt heran schwankte, loderte [279] ein so gräßliches Feuer in seinen Augen, die Gesichtsmuskeln, die Lippen zuckten so konvulsivisch! Die Zähne klapperten ihm, als wäre er vom Fieberfroste befallen; dazu haschte und tappte er wie wahnsinnig unter seinen Rockärmel nach dem Griffe eines Dolches!

Sie schien nicht mehr den Lebenden anzugehören, aber selbst in ihrer erstarrten Bewußtlosigkeit war sie unsäglich reizend!

Der Kapitän erfaßte die Hand des Unglücklichen und versuchte ihn zu trösten.

»Hättet Ihr mir doch nur einen Tag früher Eure Lage entdeckt, ich würde für Hilfe gesorgt haben, denn Tyrannei ist mir so wie jedem Amerikaner unter allen Umständen verhaßt; aber hier ist Hilfe beinahe unmöglich, die Order des Offiziers bestimmt; die Kanonen des Forts können uns in wenigen Sekunden in Grund bohren. Ich bedaure Euch, aber Hilfe, wie gesagt –«

Der Unglückliche ließ ihn nicht ausreden. Er faßte seine Hand, preßte sie wie ein Ertrinkender, stöhnte, versuchte es zu reden, vermochte es aber nicht. Endlich brachte er schluchzend und gebrochen heraus:

»Hört, Kapitän, ich bin geborner Kolumbier, Offizier in der Patriotenarmee, wurde kriegsgefangen in der unglücklichen Schlacht von Cachiri, von da mit meinen Unglücksgefährten nach der Havanna abgeführt. Meiner Frau und Kindern wurde erlaubt, mir zu folgen, um – eine der ersten Familien Kolumbiens ganz in Gewalt zu haben. Vier Monate lag ich in einem der entsetzlichsten Kerker, Seekrebse und Ratten und giftiges Ungeziefer aller Art waren meine einzigen Gesellschafter. Bloß meiner starken Konstitution verdanke ich es, daß ich noch lebe. Von siebenhundert meiner Unglücksgefährten sind alle bis auf einige wenige Opfer der spanischen Grausamkeit geworden. Ein vollständiges Gerippe, holte man mich vor vierzehn Tagen aus meinem Kerker hervor, quartierte mich in die Stadt ein, um mich wieder zu einigen Kräften zu bringen und dann – abermals lebendig einzumauern. Bereits ist der Befehl gegeben, mich in die vorige grausame Haft zurückzubringen. Daß ich in dieser keine acht Tage mehr aushalten kann, davon bin ich so gewiß, als daß ein Gott im Himmel ist. Ein Freund, der ungeachtet der großen Gefahr sich unserer Lage erbarmte, hat uns einen Paß und Geld verschafft, mich an Euch angewiesen. Der Paß gehörte einem am Gelben Fieber verstorbenen Spanier; mit ihm und durch [280] Euch hoffte ich Rettung. In Euch beruht meine, meiner armen Frau, meiner Kinder einzige Hoffnung, Leben oder Tod! Gebt Ihr mich auf, so ist mir dieser gewiß, aber ich schwöre es Euch: ehe ich mich zurückbringen und abermals einmauern lasse zu Leiden, deren Gräßlichkeit ich nicht beschreiben kann, bin ich fest entschlossen zu sterben. Nein, nun und nimmermehr lasse ich mich zurückliefern in die Hand des entsetzlichen Spaniers.

Armes Weib! Arme Kinder! Armes Vaterland!«

Der Kapitän, ohne eine Miene zu verziehen, stand, an seinem Kautabak schneidend, fuhr dann mit der Hand über die Stirn und trat rasch auf das Verdeck. Den Matrosen befahl er, die Koffer und Portemanteaux der Familie auf das Verdeck – aber nicht in das Boot zu bringen; dann prüfte er Himmel und Wetter und wisperte angelegentlich mit dem Leutnant. Noch raunte er dem Steward zu, den Soldaten und Bootsleuten ein paar Bouteillen Rum zu reichen, und stieg dann die Kajütentreppe hinab. Wie er diese betrat, murmelte er, ohne den Patrioten anzusehen, die Worte: »Vertraut auf ihn, der dann hilft, wenn die Not am größten ist!«

Kaum hatte er diese Worte gemurmelt, als der Spanier aus der Kajüte heraussprang, und wie er den Staatsgefangenen erblickte, diesem finster rief, sogleich ins Boot hinabzusteigen. Aber der Kapitän trat vor und bat, doch zu erlauben, daß sein unglücklicher Passagier noch ein Glas – einen Valettrunk nähme. Er sei Soldat und er als Kapitän auch ein halber, und er sei überzeugt, daß der tapfere und großmütige Spanier, und jeder Spanier sei tapfer und großmütig, ihn nicht zwingen werde, einen Unglücklichen ungastlich von seinem Verdecke zu lassen.

Der junge Offizier war kein harter Mann, er nickte beifällig, trat selbst zur Treppe, und die Hand bietend, geleitete er den Kolumbier diese herab in die Kajüte ein.

Die beiden nahmen am kleinen Kajütentische Platz. Der Kapitän brachte eine frische Bouteille, und zwar Xeres, der denn so vortrefflich war, daß des Spaniers Augen beim ersten Glase bereits funkelten. Die Unterhaltung wurde trotz der tödlichen Spannung des Kolumbiers immer lebhafter. Der Kapitän sprach das Spanische geläufig und überließ sich einer Suada, die niemand in dem trockenen, düstern jungen Manne gesucht hätte. So verging eine Viertel-, vielleicht eine halbe Stunde.

[281] Auf einmal erhielt der Schoner einen Stoß, der die Gläser zum Schwanken und Fallen brachte.

Der Spanier sprang zornig auf.

»Kapitän, der Schoner segelt!«

»Ganz natürlich!« versetzte ruhig der Kapitän; »Ihr werdet doch nicht erwarten, Señor, daß wir bei der herrlichsten Brise, die je einem Schoner blies, ruhig liegenbleiben werden?«

Ohne ein Wort zu erwidern, sprang der Offizier der Kajütentür zu, die Treppe hinauf, warf einen Blick auf den Molo.

Das Fort lag gute zwei Meilen im Rücken.

Der Spanier wurde wütend.

»Soldaten!« schrie er, »sogleich ergreift den Staatsgefangenen und Kapitän. Verrat ist hier im Spiele. Ihr, Steuermann, wendet um!«

Und Verrat war wirklich im Spiele, denn so verräterisch waren die Segel angezogen worden, daß weder die ruhig forttrinkenden Soldaten noch Bootsleute es gemerkt hatten. Erst die Ankunft des Offiziers hatte sie aufmerksam gemacht.

Der Kapitän blieb jedoch ganz ruhig.

»Verrat!« versetzte er ernst, »Gott sei Dank, wir sind Amerikaner und haben also nichts zu verraten, keine Treue zu brechen; was aber diesen Staatsgefangenen betrifft, so bleibt er hier.«

»Hier!« schnaubte der Spanier. »Wir wollen Euch zeigen, Ihr verräterischer –«

»Hier!« versetzte ruhig der Kapitän. »Gebt Euch keine unnötige Mühe, Señor! Die Musketen Eurer Soldaten sind, wie Ihr seht, in unsern Händen, meine sechs Matrosen mit Fängern und Pistolen wohlversehen. Wir acht nehmen es sehr gut mit Euch zehn auf. Bei der ersten Bewegung schießen wir Euch nieder.«

Der Offizier ward sprachlos, wie er jetzt um sich schaute. Die Musketen seiner Soldaten lagen in einem Haufen, von zwei bewaffneten Matrosen bewacht.

»Ihr würdet es wagen?« schrie er. Der Zorn ließ ihn nicht ausreden.

»Ich würde ohne weiteres, hoffe aber, Ihr werdet mich nicht dazu zwingen; auch ist es ganz und gar nicht vonnöten. Ihr bleibt noch für einige wenige Stunden mein Gast, und dann fahrt Ihr in Eurem tüchtigen Boote zurück und habt gegen einen vielleicht monatlichen [282] Arrest das Bewußtsein, einen edlen Feind von Tod und Verzweiflung gerettet zu haben.«

Alles das war ruhig, ernst, aber zugleich auch so scharf und bestimmt gesprochen, als den Spanier zucken machte.

»Maestro! Maestro!« sprach er, »ich hoffe, Ihr treibt Scherz!«

»Sind keine sehr scherzhaften Leute, wir Amerikaner!« versetzte gelassen der Kapitän.

»Wißt Ihr, daß Ihr Euch eines todeswürdigen Verbrechens schuldig macht?« schrie wieder der Spanier.

»Wäre ich ein Spanier, ja, als Amerikaner nein«, versetzte wieder ruhig der Kapitän, den Finger mit einem eigentümlich launigen Rucke in einen Kübel Seewassers tunkend, den der Steward soeben an der Schiffswand heraufgezogen.

»Wir sind auf der See, auf amerikanischer See, und Ihr wisset wohl, daß wir Amerikaner auch auf dieser die Herren – und zu stolz sind, uns von irgendeiner Nation, welche immer sie sei, Gesetze vorschreiben zu lassen. Nehmt Verstand an und seid menschlich!« fügte er freundlicher hinzu, »dieser Patriot da hat nichts verbrochen, im Gegenteile seine Schuldigkeit getan, getan, was unsere Washingtons, Putnam, Greene und Tausende unserer Revolutionshelden auch taten – für sein Vaterland, die Freiheit gefochten; und Ihr, statt ihn – den unglücklichen Gefangenen – menschlich zu behandeln, habt ihn zur Leiche gemartert! Seht ihn Euch an und sagt, ob ich nicht härter als Stein sein müßte, wollte ich ihn abermals Euren Klauen überliefern. Er soll nicht zurück!«

Der Offizier knirschte mit den Zähnen, gab aber die Hoffnung offenbar noch nicht auf. Zwar war an Widerstand nicht zu denken, die Musketen seiner Leute waren in der Gewalt der Amerikaner, die, Pistolen in den Händen und Fänger in den Zähnen, davorstanden. Die Soldaten selbst schien der Rum nichts weniger als zum Fechten begeistert zu haben; die Bootsleute waren Neger, und also von Hause aus kampfunfähig; aber mehrere Regierungs- oder Revenue Cutters 2 waren in nicht sehr großer Entfernung zu sehen. Gelang es ihm, auch nur einem derselben ein Zeichen zu geben, so mußte der Schoner angehalten, aufgebracht werden. Er sah ängstlich in der Richtung hin, in der soeben eine bewaffnete Sloop 3 dem Hafen zuschwankte.

[283] Der Kapitän schien seine Gedanken zu erraten.

»Señor, wie gesagt, Ihr müßt uns schon die Ehre antun, noch ein leichtes Gabelfrühstück mit uns zu nehmen. Das Mittagsmahl dürftet Ihr wohl zur See zubringen, aber zum Souper mögt Ihr wieder zu Hause sein.«

Und mit diesen Worten reichte er ihm artig die Hand, die der Spanier, gute Miene zum bösen Spiel machend, wohl annehmen mußte, denn die Züge des Amerikaners hatten nun einen Ernst angenommen, der verriet, daß er in der Tat nichts weniger als scherzhaft aufgelegt sei. Die beiden Gatten aber stießen einen unartikulierten Schrei aus, und dann sanken sie einander in die Arme. Zu reden, zu danken vermochten sie nicht, das Herz war ihnen zu voll. Schluchzend hingen sie einander am Halse, sich so krampfhaft umschlingend, als wollten sie sich nimmermehr trennen lassen, dann lachten sie wieder wie wahnsinnig auf – murmelten wieder, stierten auf das gräßliche Havanna, den entsetzlichen Molo zurück!

Allmählich traten die endlosen Massen der Hafenstadt, das verworrene Chaos der Segel, Taue und Schiffe, der Molo selbst in den Hintergrund, ein glänzend lichter Streifen begann zwischen ihnen und der Stadt sich aufzurollen, anfangs nicht größer als ein lichtblaues Silberband, rasch jedoch in die Länge und Breite wachsend; Gatte und Gattin verfolgten in namenlosem Entzücken sein schnelles Wachstum. Wie ihr trunken verklärter Blick an dem zum Seespiegel gewordenen Streifen hing, schien es ihnen, als wüchse er vom Himmel herab, als sende ihn dieser, begünstige ihre Rettung! Er begünstigte sie auch sichtbar. Immer mehr schwanden Stadt und Hafen, bereits waren die Masten der Schiffe nicht mehr sichtbar, nur die Wimpel flatterten noch wie Seevögel am entfernten Horizont. Der Schoner flog vor der stärker werdenden südwestlichen Brise seine zehn Knoten dahin.

O diese Empfindungen, diese Gefühle!

Im Rausche empfanden sie keines der irdischen Bedürfnisse, nicht Hunger, nicht Durst. Erst als die Stimme des Spaniers sich auf der Kajütentreppe hören ließ, kamen sie wieder zu sich.


Das Gabelfrühstück mochte ihm wohl sehr gut gemundet haben, denn er war ungemein redselig geworden. Noch auf der Treppe [284] versicherte er lachend dem Kapitän, daß ihn der Ausflug freue und das Vergnügen, die Bekanntschaft eines Yankee-Amerikaners gemacht zu haben, ihm teuer bleiben werde, da er sie leicht mit ein paar Monat Arrest im Staatsgefängnisse, vielleicht noch schwerer büßen dürfte; dafür hoffe er jedoch, falls er einst im wechselnden Kriegsglück in eine ähnliche Lage geraten sollte, auch einen Yankee zu finden, ihm aus der Klemme zu helfen.

Frank und offen entgegnete ihm wieder der Kapitän. Wer ihn jetzt sah, diesen Kapitän, würde ihn nicht mehr erkannt haben. Die finster impassablen, ja feindseligen Züge waren heiter geworden, hatten eine zuversichtlich klare Fassung angenommen, das Bewußtsein, die Welt mit einer edlen Tat bereichert zu haben, hatte ihn offenbar in seinen eigenen Augen gehoben. Wie er jetzt Arm in Arm mit dem Spanier auf das Verdeck heraustrat, erschien er dem Ehepaar mehr denn schön – ein Held, ein Gott!

Der Schoner war gute zwanzig Meilen von Havanna, der Molo kaum mehr zu sehen. Es war Zeit zu scheiden, denn eingeholt zu werden durfte er nicht mehr befürchten; längeres Zurückhalten aber konnte dem Offizier und seinen Leuten gefahrbringend werden. Er eilte, ihn und die Soldaten ins Boot zu schaffen.

Ehe dieser den Schoner verließ, umarmte er noch mals den Kapitän. Eine Minute darauf flog das Boot dem Hafen zu.

Der Schoner aber eilte auf den Fittichen der Windsbraut der Heimat zu, in der er nach eilf Tagen anlangte. Die Gatten stiegen im Hause des Kapitäns ab, dessen liebliche junge Gattin – er war seit sieben Jahren verheiratet – sie wie alte Freunde aufnahm.

Estoval – so hieß der Kolumbier nach seinem Passe – und seine Gattin nahmen die Einladung ihres Retters und Beschützers um so lieber an, als ihr Auftreten unter eigenem Namen für sie mit einiger Gefahr, für den Kapitän aber mit Unannehmlichkeiten verbunden sein konnte. Philadelphia, eine von ruhigen, ehrsamen Quäkern, Gelehrten und Handelsleuten bewohnte kreuzbrave, aber etwas engherzige, spießbürgerliche Stadt, von jeher Revolten und Revolutionen abhold, war begreiflicherweise auch auf die Patrioten nie sehr gut zu sprechen gewesen, denn sie hatte durch die häufigen Wechsel des Kriegsglücks bedeutende Einbußen, und zwar gerade durch sie, erlitten. Nun sie auf allen Seiten unterlagen, kam auch die Verachtung hinzu, nicht zu erwähnen, daß die spanische Ambassade [285] in der aristokratischen Clique der Stadt einen sehr starken Anhang hatte, der allerdings gefährlich werden konnte. Die Flüchtlinge hielten es daher geraten, sich still und inkognito um so mehr zu verhalten, als auch ihre Geldressourcen sehr beschränkt waren, der volle Beutel aufgespart werden mußte, um die Heimkehr möglich zu machen.

Diese erfolgte drei Monate darauf, wo ein Freund des Kapitäns es übernahm, die Familie nach Marguerite zu bringen, damals dem Vereinigungspunkte der Patrioten, von wo aus sie bekanntlich unter Bolivar abermals ihre Operationen gegen die Spanier, und zwar mit glücklicherem Erfolge, begannen.

Erst auf der Heimreise fiel es den beiden Gatten bei, daß sie ja von ihrem Retter nicht einmal nach ihrem eigentlichen Namen befragt worden waren. In der Tat hatte dieser nie gefragt, und da sie sich immer nur bei ihrem Taufnamen genannt hatten, so waren sie wirklich inkognito geschieden.

Dem Kapitän hatte unterdessen die gute Saat keine guten Früchte gebracht. Ja, wäre der Gerettete ein sogenannter Loyaler, gleichviel ob Brite, Franzose oder Spanier, gewesen, die guten Philadelphia würden in Ekstase ausgebrochen sein über die edle, entschlossene, ritterliche Tat: aber einen Rebellen, einen Patrioten dem Gesetze, der wohlverdienten Strafe zu entziehen und zugleich Schiff, Kargo und, was mehr, die Respektabilität des Hauses, wie man es nannte, so bloßzugeben, das konnte nicht verziehen werden, verdiente Ahndung. Die Firma war zum Teile quäkerisch, und quäkerisch ahndete sie auch. Zwar unternahm sie nichts öffentlich, aber sie sorgte um so mehr dafür, es nachzutragen, da auch die Consignees in Havanna einige Unannehmlichkeiten von der Geschichte hatten. Der Kapitän wurde mit einem sehr zweideutigen Wohlverhaltenszeugnisse entlassen und so ein Schatten auf seinen Charakter geworfen, der ihm wohl für immer geblieben sein dürfte, wenn ihn nicht, wie gesagt, der Wechsel des Kriegsglücks wieder begünstigt hätte. Aber doch hatte er lange zu kämpfen, ehe er den üblen Eindruck verwischte.


Jahre waren unterdessen verstrichen. Kolumbia hatte seine Unabhängigkeit errungen, Bolivar seinen berühmten forcierten Marsch, der die Vereinigung der spanischen Streitkräfte verhindern sollte, unternommen; Hualero war von Caracas aus mit einem zweiten [286] Heere nach Peru abgegangen. Aber während er in Panama ein- und das Kap Hoorn auf seinem Wege nach Lima umschiffte, hatte Sucre die Spanier bei Ayacucho angegriffen, geschlagen und gefangengenommen, so die Unabhängigkeit Perus und mit dieser die des ganzen spanischen Amerikas sichernd. So war denn kein Feind mehr vorhanden als der in der Festung Callao eingeschlossene. Diese Festung, bekanntlich vier Jahre zuvor von Martin und Cochrane blockiert und erobert, war durch Verräterei in die Hände der Spanier zurückgefallen, und General Hualero, nun mit seiner Armee im Hafen vor Lima angekommen, wurde sie zu belagern beordert.

Eben hatte er sie zu Lande eingeschlossen, als der Kapitän erschien, um ihr Lebensmittel und die einem Spanier so unentbehrlichen Zigarren zuzuführen. So brachte das Schicksal Schützling und Beschützer in wahrhaft gegenfüßlerischer Laune abermals zusammen, den armseligen Flüchtling als General en chef einer für Südamerika sehr bedeutenden Armee, den Yankee als einen rat-, schifflosen Kapitän. Aber weder der eine noch der andere verleugnete seinen Charakter, beide bewiesen sich gleich ehrenhaft. Der Patriot hatte im Stolze des über Tausende Gebietenden – nicht den Wohltäter vergessen, der Kapitän im Unglück – nicht den Mann. Noch immer stand er als Mann dem berühmten Heerführer gegenüber, und auch kein Zug, keine Gebärde, keine Bewegung verriet, daß er aus seiner Rolle oder vielmehr aus seiner Natur gefallen. Für mich aber war es einer der erquicklichsten Momente, die beiden so verschieden temperierten und doch in der Hauptsache so gleichgestimmten Charaktere zu beobachten. Sie genossen sich drei volle Wochen, nach Verlauf welcher sie schieden.

Daß nun die Klemme, in der wir mit Kargo und Schiff staken, einen sehr brillanten Ausgang nahm, brauche ich wohl kaum mehr zu sagen. Noch waren wir nicht drei Tage in Lima, als der Kapitän Schiff und Kargo mit Ausnahme des spanischen Eigentums zurückerhielt. Dieses ward natürlich konfisziert und von der Regierung in Beschlag genommen, aber der General en chef ersteigerte es und präsentierte die sämtlichen Zigarrenkisten dem Kapitän, während er zugleich eine Art Auktion veranstaltete, in der, wie Sie wohl denken mögen, diese köstlichen Glimmstengel auf eine brillante Weise losgeschlagen wurden.

Der Kapitän erntete reine dreißigtausend Dollar, die er in Gold [287] mit nach Hause brachte. Die Brigg selbst mit dem losgegebenen Kargo wurde von der Regierung für ihre Flotte angekauft. Wir verließen nach drei Wochen Lima in einer ganz andern Stimmung, als wir es betraten. Nicht, daß mein guter Kapitän auch nur um ein Jota lauter oder fröhlicher geworden wäre, selbst die noch immer reizende Gattin des Generals vermochte ihm kaum ein Lächeln abzugewinnen, aber man achtete, liebte nun diese Finsternis, diese gerunzelte Stirn, diese trüben Wolken; sie waren bloß die Schleier, die den heitern Tag, den reinen Äther, den läutern, probehaltigen Geist verhüllten. Wir hatten den reichen, köstlichen Kern hinter der rauhen Schale gefunden.


Der Präsident hatte geendet.

Eine lange Pause trat ein.

»Und dieser Kapitän Ready? Sagt an, Präsident, dieser Kapitän Ready?« brach endlich Oberst Oakley aus.

»Ist ein Yankee!« versetzte ruhig der Präsident.

»Duncan! Ihr seid auch so ein halber Kishogue vor den irisch richterlichen Lords. Es ist Käpt'n Murky, ist er's nicht?« fiel General Burnslow ein.

»Vielleicht ist er's, Burnslow!« warf Duncan hin.

»Dann, Gentlemen!« rief der General mit Emphase, »dann schlage ich vor, unserm wackern Kapitän als Merkmal unserer Achtung und Anerkennung –«

»Und?« schaltete spöttisch der Präsident ein.

»Macht mich nicht irre!« rief ärgerlich der General, »als Merkmal unserer Achtung und Anerkennung und unserer Würdigung seines ritterlich seemännischen Benehmens – ein öffentliches Diner zu votieren.«

»Mit vierundzwanzig Toasten und Schüsseln und halb so vielen Dutzend Bouteillen, nicht wahr?« meinte trocken der Bankpräsident, »protestiere im Namen meines Freundes dagegen. Würde sich wahrlich nicht zweimal bei Euch bedanken, wenn Ihr ihm da mit Euren Madeiras und Schildkrötenpasteten und Eurer Würdigung und Anerkennung als Postskript kämet. Verdürbe ihm nur Euer Senf sein Diner. Weiß sich und seine Tat schon selbst zu würdigen, zu fetieren, sowie denn solche Taten auch sich schon von selbst genießen, [288] fetieren, fetend getoastet aber allen ihren Hautgout verlieren, ungenießbar werden.«

»Seid ja auf einmal ein außerordentlicher Freund stiller, zarter Genüsse geworden«, spottete der General.

»Hat aber recht, General Burnslow, vollkommen recht!« nahm der Supreme Judge das Wort. »Glaube nicht, daß hier ein öffentliches Diner à propos wäre. Mir wenigstens, wenn mir das Schicksal eine so herrliche Blüte in meinen trocken juridisch kriminalistischen Lebenskranz gewunden hätte, könnte nichts Ärgeres begegnen als eine solche Popularisierung oder vielmehr Theatralisierung.«

»Seid denn doch über die Maßen zartfühlend, Ihr Yankees!« spottete wieder der General.

»Wie Ihr es nehmen wollt, General Burnslow!« entgegnete halb im Scherz, halb im Ernste der Supreme Judge. »Unser Yankeetum ist zwar ein trockener Boden, bringt aber doch so duftende Blüten, so herrliche Früchte hervor wie irgendeiner. Es ist in unserm Yankeetum ein stiller, tiefer Sinn, den Ihr Southrons ein Brüten, Grübeln nennt, ein ewiges Auf-Dollar-spekulieren, weil unsere Stirn gerunzelt erscheint. Und doch, wenn es zum Ausschlage kommt – sag' Euch – will der chevaleresken Tat unsers teuren Murky nicht zu nahe treten, aber das getraue ich mir doch zu verbürgen, daß es unter unsern Yankee-Kapitänen noch Hunderte gibt, die sich keinen Augenblick bedenken würden, an seiner Stelle das gleiche zu tun.«

»Ohne Zweifel!« rief es von mehreren Seiten.

»Allen Respekt vor der Yankee-Ritterlichkeit!« lachten wieder andere.

»Seid doch so gut, laßt uns Southrons auch noch ein bißchen übrig!« spotteten wieder dritte.

»Nicht nur das«, meinte lachend der Präsident, »sondern wir Yankees beugen uns auch alle, nicht wahr, Judge, in tiefster Demut, anerkennen unser Zurückstehen, euer Übergewicht in diesem Punkte, und zwar so vollkommen, daß ich moralisch überzeugt bin, ein Southron im Falle unsers Käpt'n Murky und vor dem Molo zu Havanna würde nicht nur den Spanier mit seinen Musquetaires, sondern auch den Molo mit seinen hundert Kanonen, wenn nicht Havanna selbst, zum Kampfe herausgefordert haben.«

»Geht zum Henker!« riefen lachend die Southrons.

Der Präsident lachte herzlich mit.

[289] »Seid und bleibt heißblütige, heißköpfige Southrons!« fuhr er in seiner kaustisch trockenen Manier fort, »seid und bleibt Southrons, die, wenn ihrer vierundzwanzig zusammenkommen, auch richtig sechs Erdbeben, zwölf Gewitter, vierundzwanzig Blitze und sechsunddreißig Donnerschläge mitbringen.«

»Geht zum Teufel!« lachten wieder alle. »Gute Nacht! Wollen gehen, sonst bekommen wir noch ein Dutzend Pillen mehr mit auf den Weg.«

»Gute Nacht!« riefen sie alle.

»Gute Nacht!« rief ihnen lachend der Präsident nach, »und vergeßt nicht, daß ihr heute über acht Tage meine Gäste seid!«

Fußnoten

1 Verbindliche Redensarten, Schmeicheleien.

2 Zollkutter.

3 Schaluppe.


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TextGrid Repository (2012). Sealsfield, Charles. Havanna 1816. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0A1D-0