Reinhard Johannes Sorge
Odysseus
Dramatische Phantasie

[Widmung]

Der ewigen Wiederkehr Seher:

Friedrich Nietzsche

Personen

[242] Gestalten.

    • Odysseus.

    • Penelopeia.

    • Telemachos.

    • Der Seher.

    • Der Sänger.

    • Erster Freier, erster Gegensprecher

    • Zweiter Freier, zweiter Gegensprecher

    • Dritter Freier, Chorsprecher

    • Chor der Freier.

    • Ein Dienender Knabe
    • Zwei Dienerinnen, , stumm

[Stücktext]

Schaubild:

Rechts und links vom Zuschauerraum.
Der Palast des Odysseus ist zur rechten Seite angedeutet durch drei Säulen, die schräg hintereinander auf erhöhtem Gefels errichtet sind, so daß die hinterste ganz nahe der rechten seitlichen Bühnenwand zu stehen kommt. Von den Säulen erscheinen weder Kapitell noch Architrav, sie streben gerade und nackt bis zur letzten sichtbaren Höhe empor. Bei dem nächtlichen Dämmer sind nur zwei Drittel von ihnen deutlich, erst zu Ende der Handlung werden sie glänzend erhellt. Diesen Säulen zur Linken fällt der Fels bis zu ebener Bühne in unregelmäßigen Stufungen und nach der Mitte zu sich verengend ab; hier schließt sich eine freie felsige Plattform an, die sich bis in den Hintergrund hinein dehnt. Zur Linken des Vordergrundes steigt der Fels ungleichmäßig wieder an und läuft, im flachen Bogen sich weitend, nach dem linken Mittelgrunde zu in eine steile Klippe aus. Von der gesamten Szene reicht also nur die letzte Säule und ein Teil der Plattform [242] in den Hintergrund. Das übrige grenzt nicht über den Mittelgrund hinaus. Den gesamten freien Hintergrund der Bühne nimmt der Nachthimmel ein, so daß die Felsszene wie ein harter, zackiger Rand in ihn hineinragt. Wenige
mattflimmernde Sterne geben der Bühne ein Dämmerlicht, in dem man die Gebärden der Schauspieler noch erkennen kann.
Vor dem Palast, diesem in gleicher Höhe und nahe der mittleren Säule sitzt Telemachos, gänzlich in dunkles Gewand gehüllt in der eingesunkenen Haltung eines Trauernden. Unter ihm zu ebener Erde, am Fuße des säulen-tragenden Gesteines, hocken die Freier. Sie sitzen in einer Reihe nebeneinander, den Säulen rückgewendet und ihnen parallel, mit vorgebeugten Leibern, die Hände tappen wie suchend auf der felsigen Erde. Ihnen gegenüber, in gleicher Höhe auf dem Ausläufer der Plattform im Hintergrunde kauert der Sänger, nur wie ein Schatten sichtbar. Telemachos wendet sein verhülltes Gesicht diesem zu. Auf der steilen Klippe im Linken des Mittelgrundes zeichnet sich ein dunkler Körper vom Felsen ab: Odysseus. Er liegt ausgestreckt um das Gestein gekrümmt, das er mit seinem Leib umschlingt, als sei er mit ihm verwachsen.
Aus dem Chor der Freier sondern sich die drei Sprecher: Der Chorsprecher, anfangs inmitten des Chores sitzend. Die zwei Gegensprecher, anfangs an beiden Enden der Chorreihe, die etwas seitlich und erhöht stehen.

ERSTER FREIER
erster Gegensprecher.
Munter, meine Freunde, welch Trauriges fing euch denn? Ihr sitzt wie Nachteulen.
CHOR
in einem Tone bleierner Dämpfung, matt singend und eintönig resigniert.
Munter, munter.
ERSTER FREIER.
Ach, meine Freunde! Euer Witz stieg zu Grabe. Ein dürres Gerippe ward er da und klapper-knochig.
CHOR
mit Lachen.
Hört ihn!
ERSTER FREIER.

Meine Freunde, ach, ach! Ihr krächzt wie Totenvögel, euer Lachen lallt aus den Eingeweiden. Laßt uns auf lustigeres Lachen sinnen!

[243]
ZWEITER FREIER
zweiter Gegensprecher; sich erhebend.
Schlachtet Ochsen und tut ein großes Schmausen!
DRITTER FREIER
Chorsprecher.
Wir schmausten schon den Tag über. Voll Übelkeit sind wir, und Speise ward uns ekel.
CHOR.
Ekel ward das Schmausen.
ERSTER FREIER.
Ach, meine Freunde, wißt ihr denn nichts zu sinnen?
ZWEITER FREIER.
Herzet Dirnen und liegt ihren Leibern bei.
DRITTER FREIER.
Wir lagen alle Tage bei Dirnen; wir sind des Hurens überdrüssig und müden Samens.
CHOR.
Müd ward unser Same.
ZWEITER FREIER.
So schlafet allesamt, wie die Nacht es gebietet.
DRITTER FREIER.

Schweig still davon. Hassen lernten wir den Schlaf; unser Blut ward von grausigen Träumen schwanger, grausige Träume schleift uns der Schlaf im Hirn.

CHOR.
Nicht schlafen. Nicht schlafen.
ERSTER FREIER.
Ach, meine Freunde, seid ihr denn ganz hilflos?
ZWEITER FREIER.
Mag der Sänger uns singen, so scheucht er uns den Schlaf, so nimmt er uns Ekel und Übelkeit.
CHOR.
Der Sänger soll singen.

Der Sänger erhebt sich, dunkel und hoch steht er vor den Freiern.
ERSTER FREIER.
Schon harret er bereit.

Eine Stille.
Der erste und zweite Freier sitzen ein wenig abseits nieder und lehnen die Häupter weit zurück an die Felsen.
Der Chor und mit ihm der Chorsprecher neigt sich bei des Sängers Worten tiefer zu Boden, er ist ganz ohne Bewegung, die Hände ruhen.
SÄNGER
langsam und leise, fast zage, beginnend, bald aber mit starker Steigerung.
Aus blauen Weiten schäumte eine Sonne
Glänzende goldene Weine ihres Lichtes;
Rings tanzte Helle, taumelheiße Tänze
[244] Tosender Lust um wildgewiegte Welten,
Strahlen-Umblendung gürtete die Felsen
Und weißen, stolzen Leiber dieser Säulen;

Doch diese Schwelle rührte der Fuß,
Der königliche des Odysseus, Herrschers
Zu Lande hier. Ein König war er allen:
Um seine Stirne flogen Trunkenheiten
Und schlangen seinem dichten Haar den Kranz;
Sein Auge schaute aus Versunkenheiten
Erglühend allen Dingen ihren Glanz,
Sein Schritt war jäh und ein verhaltener Tanz
Voll Hoheit wie die Schritte der Geweihten ...
ERSTER FREIER
hart einfallend.
Singe uns Penelopeia!
CHOR
fährt je empor.
Penelopeia
SÄNGER.
Wehe des jammervollen Leides, wehe
Des leiden Helden, wehe des Geschicks,
Nun er uns schwand, losch eine Sonne aus.
ZWEITER FREIER.
Singe uns Penelopeia!
DRITTER FREIER.
Penelopeia singe!
CHOR
gesteigert.
Penelopeia.

Die Freier hören die folgenden Worte des Sängers starr und gierig an, den Blick auf den Redenden gebannt, die Arme zurückgereckt mit krampfenden Händen.
SÄNGER.
Penelopeias Keuschheit schritt verhüllt
In königlicher, dunkeler Gewalt;
Die Herzen blühten alle solchem Wunder,
Die Seelen bebten, ach ... den Wonnen nach
Und seltenen Gestirnen, die die Fluten
Durchdämmerten und Gründe ihres Wesens ...

Wehe, ihr wurde Wehmut wandellose,
Wehe, ihr Weinen ward ihr namenloses,
Wie lebt sie wohl so kummervolles Wehe?

Zu Zeiten tastet heimlich eine Sage
Durch den Palast. Sie wirke ein Gewand
[245] Bei sich die öden Nächte, öden Tage;
Schluchzen verwirre ihre heißen Hände,
Drum fände mühevoll ihr Tun nicht Ende,
Eh' sie nicht ihren Tränen Ruhe fand.

Bei des Sängers Worten ist Telemachos – gleichsam ein Echo diesen Worten – aus seiner versunkenen Trauer aufgewachsen; nun steht er, groß und bebend, in trunkener Geste hintübergeneigt.
ZWEITER FREIER.

Wohlan, du Sänger, verstumme dein Lied, der jähen Wünsche wecktest du genug, ferne auch scheuchtest du jede Müdigkeit.

ERSTER FREIER.

Wohlan, meine Freunde, die Stunde ward unser; es weckte uns der Sänger. Allzu lange sitzen wir hier schon zögernden Harrens, indes Penelopeia uns beschwatzt mit toten Versprechen und tandhaften Reden und die Stunde der Hochzeit trüglich behält. So greifet nun endlich diese Stunde, meine Freunde, Penelopeia laßt uns werden.

DRITTER FREIER
sich erhebend.
Penelopeia.

Chor verharrt reglos noch immer im Banne des Sängers.
ERSTER FREIER.

Seid ihr Kinder, die man mit Spiel verlockt? Seid ihr Kinder, die man mit Tanz betaumelt? Seid ihr Kinder, die man mit süßen Wiegenliedern einschläfert? Kinder wäret ihr wohl, doch weckte euch der Sänger; Penelopeia wird euch jetzt.

CHOR
jäh auffahrend.
Penelopeia.
ERSTER FREIER.

Durch die Hallen und über die Stiegen werdet ihr hinschreiten, an ihr Gemach werdet ihr pochen; so sie aber vor lauter Klage unser Kommen nicht vernimmt, werdet ihr die Riegel brechen. Wohl wird sie dann ihr Jammern enden, Zittern wird ihre Tränen trocknen, Ängste und Schrecken werden ihre geputzten Worte straucheln lassen und alle Flitter verwirren. Penelopeia ist dann euer, meine Freunde!

DRITTER FREIER
gesteigert.
Penelopeia.
CHOR
gesteigert.
Penelopeia.
ERSTER FREIER.

Zwingen werdet ihr sie, aus eurer Mitte einen zum Gatten zu wählen, zwingen werdet ihr sie, [246] aus ihrer Trauer zu schreiten und die Hochzeit zu rüsten, Brautgewand anzutun und Brautgeschmeide –

CHOR
sich erhebend.
Penelopeia ist unser!
DRITTER FREIER
Chorsprecher.
Laßt uns schnelle sein und nicht länger säumen.

Er wendet sich halb nach dem Palast um, als wolle er hinaufeilen; der Chor schart sich um ihn.
DRITTER FREIER
mit lebhaften Gesten.

Hunger zehrt unsern Leib, ein wilder Hunger, der ihren Leib begehrt, ein nicht zu sättigender Hunger, denn an ihrem Leibe ...

CHOR.
Hunger.

Mitsamt dem Chorsprecher eilt er hastig und ungeordnet die Anhöhe hinauf, dicht vor den Säulen tritt ihnen Telemachos entgegen.
TELEMACHOS.

Ihr werdet nicht gehen. Ihr werdet nicht gehen. Niemand von euch wird seinen Schritt in den Palast wagen.


Die Freier halten inne, sie stehen ohne Ordnung in drei lockeren Reihen, die den Hang hinab einander geneigt sind. Der erste und zweite Gegensprecher sind an ihrem bisherigen Platz verblieben, doch wenden sie jetzt das Gesicht dem Palaste zu.
DRITTER FREIER.
Holla! Hört den Schwätzer.
CHOR.
Hört den Schwätzer!
ERSTER FREIER.
Ein Schwätzer will euch wehren, meine Freunde, ein schwatzhaftes Kind will euch gebieten.

Chor tut eine Gebärde, weiter vorzudringen.
TELEMACHOS.

Hört mich! Hört mich! Ihr! Ich werde selbst gehen, ich werde statt eurer gehen und meiner Mutter reden.

ZWEITER FREIER.

Du selbst willst gehen! Du selbst willst gehen! Vergissest du dein Knabentum? Wie kann ein Kind seiner Mutter reden, wie kann ein Kind seiner Mutter gebieten? Weinen wirst du mit ihr, so du ihre Tränen siehst, jammernd wirst du ihren Brüsten hinsinken, jammernd wirst du verseufzen an ihren Brüsten.

DRITTER FREIER.
Was harren wir so lange? Hunger nagt uns.
[247]
CHOR.
Hunger.

Geste wie oben.
TELEMACHOS
sehr gesteigert.

Ich bin nicht Kind. Ich bin nicht Knabe. Auch mich weckte der Sänger. Zitternd ward ich ein Feuer, an euch aufzuzucken.

DRITTER FREIER.
Endet sein Schwatzen!

Chor stürmt hinan.
TELEMACHOS
stürzt – zuckend wie eine Flamme – mit erhobenen Armen und vorgebeugtem Körper haltlos unter sie.
Ihr werdet nicht gehen!

Die Freier weichen zurück, Telemachos hält inne, und auch sie halten. Sie stehen etwa im rechten Winkel auf dem Hange, der Chorsprecher im Scheitelpunkt. Telemachos steht dem Chorsprecher gegenüber und ein wenig vor dem geöffneten Winkel. Die Gegensprecher stehen unverändert.
TELEMACHOS
mit erhobenen Armen und mit Zittern seines knabenhaften Leibes.

Ein Feuer ward ich, eine zackige Glut. Eher noch zu verlöschen bin ich bereit, als euch zu lassen. Purpurn hoben sich des Sängers Worte vor mir auf. Purpur hob sich auf in meiner Seele, ein Erbe meines Vaters, meines Helden Erbe: Purpur und Glanz und Bewußtsein einer Krone. Wohl ward mir Stolzes da zu hohem Stolze, doch ach auch zu um so größerem Leide ward es mir.


Läßt die Arme sinken.

Denn nicht vermag ich euch von meines Vaters Hof zu treiben, mein Zittern und Zucken reicht nicht hin, euch vielen so zu tun. Allzu viele seid ihr mir, zu gering bin ich vor euch, zu neu, zu fremd, zu jung, zu zerbrechlich vor euch vielen. Eine harte eherne Macht verwuchs sich mit euch in den Jahren, da ich noch Kind war, ohne Richtung und ohne Ziel, spielend nur aus mir meine Kinderspiele. Nun ich aber zur Flamme erwacht bin, finde ich euch flammengehärtet. Ein Stammeln nur bin ich an euch, ein fieberhaft Stammeln, ein übermenschlich Stammeln, doch ach ... ein Stammeln nur.


Unbändig.

Daß ich zu wilder Lohe würde und in die Himmel[248] spränge. Daß ich euch mit meinem Tanze sengte, tanzend euch zerträte. Wehe ... Wehe ... meiner Ohnmacht! Wehe ... Wehe ... meiner flehenden Verzücktheit! Daß meine Seufzer mich zerbrächen und höher mich bauten. Daß ich die Schande kehrte diesem Hause ...


Er läßt die Arme sinken, neigt das Haupt zurück und schließt die Augen.
ERSTER FREIER.
Ein Trunkener redet, und nicht ist mit ihm zu rechten.
DRITTER FREIER.

Nimmer werden wir die Hochzeit lassen, weder du vermagst daran zu hindern, noch vermag es deine Mutter.

ZWEITER FREIER.
Gehe und rede deiner Mutter.
TELEMACHOS
blickt auf und spricht toten Tones.
Ich werde gehen und ihr reden; sie wird zu euch kommen.
ZWEITER FREIER.

Hüte dich, solche Worte zu Nichts zu sprechen; reiche Worte sprichst du wohl, doch reiche Worte arm zu achten, lehrte deine Mutter.

DRITTER FREIER.
Wir harren deines Tuns, Telemachos.
ERSTER FREIER.
Eile dein Tun, Telemachos!
CHOR.
Eile, Telemachos!

Alle Freier haben Telemachos starr angeblickt, der nun zaudernd und stockend wie bezwungen, weitverstörten Auges rückwärts schreitet; wie er den Palast erreicht hat, wendet er sich um und geht hinein.
Der Chor und Chorsprecher schließen sich zu einer Reihe, man nimmt die erste sitzende Stellung wieder ein.
ERSTER FREIER
wieder das Antlitz zum Chor vor ihm gewendet.

Erwacht ist der Knabe Telemachos, meine Freunde, erwacht ist sein Blut, erwacht ist sein Sinn; ein Hassender ward der Knabe Telemachos, meine Freunde, ein Liebender ward er, ein Verzichtender, ein Begehrender. Hütet euch! Fluch und Segen weiß er nun, seinen eigenen Wegen wandelt er nach, seine eigenen Gedanken hascht er, er schwört sich seine Schwüre, er tut seine Waffen an. So hütet euch!

ZWEITER FREIER.
Ein Eigener ward der Knabe Telemachos.
ERSTER FREIER.

Ich sah auch, wie ihr alle zittertet und zitternd [249] wichet, als er zu euch niedertaumelte: Meine Freunde, ich sah auch eure Schwäche. Hütet euch!

ZWEITER FREIER.
Ein Eigener war der Knabe Telemachos.
ERSTER FREIER.
Und wieder und wieder: Hütet euch, meine Freunde!
ZWEITER FREIER.
Was gebührt den Eigenen?
DRITTER FREIER.
Das Sterben.
CHOR.
Das Sterben.
ERSTER FREIER.
Ihr wollt sein Sterben?
CHOR.
Wir wollen sein Sterben.
ZWEITER FREIER.
So gebührt den Eigenen.
DRITTER FREIER.
Ein spitzes Eisen laßt uns denn glühen und eine sichere Hand dazu finden.
ERSTER FREIER.
Ihr glüht das Eisen?
CHOR
sich erhebend.
Wir glühen das Eisen.
ERSTER FREIER.
Meine Freunde, so tut ihr klug und behutsam und treu eurem Brauche.

Die Freier knien in weitem Kreise nieder, gesondert voneinander, ein jeder tief und stumm zu Boden geneigt. Dem Sitz des Sängers gegenüber tritt der Chorsprecher vor den offenen Kreis, er steht unbeweglich aufrecht, den Blick über die Knienden hin, statt zum Palaste gewandt. Der erste und zweite Freier ändern ihre Stellung nicht, so daß die Sprecher etwa die Ecken eines spitzwinkeligen Dreiecks bilden, dem der Kreis einbeschrieben ist. – Während der Worte des ersten und zweiten Gegensprechers beginnen die Freier sich allmählich aufzurichten, sie greifen mit den Händen langsam tastend und zuckend über sich, tastend dehnt sich ihr Oberkörper, indes sie jedoch stets kniend verbleiben. Das Spiel der Hände wird fiebriger, der Körper schneller, die Gebärden steigern sich bis zu verzweifelter Heftigkeit.
DRITTER FREIER.
Vergeltung wird alten Brauches.
CHOR.
Vergeltung.
ERSTER FREIER.
Ihr glühet das Eisen, meine Freunde, wisset es recht zu glühen.
ZWEITER FREIER.
Aus rechten Feuern recht zu glühen.
ERSTER FREIER.
Wisset die Feuer gut zu fachen.
[250]
ZWEITER FREIER.
Aus euren Gluten gut zu fachen.

Die beiden Gegensprecher wachsen jetzt in ihren Worten aus jeder persönlichen Besonderheit heraus, herb und ehern verkünden sie ehernes Geschehen.
ERSTER FREIER.

An des Menschtums Wurzeln schwälen eure Gluten, die wurden bei dem Schrei der heißen Tiermenschen. Die wurden zitternd gezündet bei dem Schrei der heißen Tiermenschen, die Wälder verheerten und Felsen zerbrachen, die Meere zerwühlten und Berge lockerten. Die die trunkenen Tänze erdumwärts tanzten, die eure Häupter in trunkenen Tänzen zerschlugen, tanzend zerschlugen an felsigem Gestein. Da ward eure schwälende Glut geboren: aus Gejammer und Gewimmer, aus Flucht und eurem Blut.

ZWEITER FREIER.

An des Menschtums Wurzeln wächst auch euer Eisen, das ward gepflanzt, als ihr Kette wurdet, kettend euch fesselt unter dem Heulen der heißen Tiermenschen. Das ward gepflanzt, als ihr euch fliehend zusammenfandet, fliehend gemeinsam wurdet unter der Tiermenschen Gestampf. Da pflanztet ihr euer Eisen, eine gemeinsame Saat.

ERSTER FREIER.

Als ihr euer Eisen pflücktet: längst westen schon hin die Leichen der Schrecklichen, es wachte da ihr Same auf unter euch. Ihres Wesens voll erwachte er, er erwachte im vierten Gliede, im zehnten Gliede oder im tausendsten. Da wurden die lohetrunkenen Menschen und die sengenden, da wurden die Weisenden, wurden die furchtbar Weckenden, wurden die Zerbrechenden. Da wurden die großen Mordenden und die mit Blut ihren Acker düngten: die zielte euer Eisen.

ZWEITER FREIER.

Da wurden, die sich aus euch wandelten, schmerzenden Blutes die Bande rissen, die einst gekettet ward zu der Tiermenschen Zeit. Da wurden, die euch ungemeinsam wurden, die Ungetreuen an euch, die Verräter an euch, die Überläufer ihren Ahnen, züngelnd zuckte da diesen euer Haß und euer spitzes Eisen.

ERSTER FREIER.

So fachet recht eure Glut, fachet mit dem Atem fernster Ahnen, dem Atem der Ängstlichen und Schaudernden, der Verkrümmten und der wimmernd [251] Glimmenden, der Flüchtigen vor der Tiermenschen wahntollem Reihen.

ZWEITER FREIER.

Härtet recht euer Eisen, härtet mit dem Hasse fernster Ahnen, mit gleichem Hasse gleicher Gebundener, die euer Eisen einst pflückten unter dem Tanze der Glutmenschen, der Tiermenschen Same.


Der dritte Freier [Chorsprecher] tritt rasch in die Öffnung des Kreises; indem die Freier zuckend ihre gehobenen Hände ineinanderschließen, faßt er – aufrecht stehend – die Hände der neben ihm Knienden.
DRITTER FREIER.
Zum Werke schlössen sich die Hände.
CHOR.
Vergeltung.
DRITTER FREIER.
Aus Glut und Eisen ward die Waffe.
CHOR.
Vergeltung.
DRITTER FREIER.
Meine Hand fand sich dem Eisen.
CHOR.
Vergeltung wird alten Brauches.

Die Gestalt des Odysseus hat sich inzwischen langsam vom Felsen gelöst, sie kniet jetzt tief verhüllt und gebeugten Leibes auf der Klippe. – Die Freier lassen die Hände voneinander und erheben sich. Wie sie sich wieder zur Reihe schließen wollen, ertönt langhallend ein trunkener Ruf aus dem Hause.
Die Freier halten ein, einen Augenblick lauschend, dann spricht der Chor, der ungeordnet steht, mit hastigen, schnellen Gesten die folgenden Worte unter sich, sehr rasch hintereinander.

Welch ein Ruf?
Eines Menschen? Eines Tieres?
Ein Trunkener rief.
Laßt sehen, laßt sehen!
Sagt, welch ein Ruf?
Gab es Streit?
Ist zu fürchten?
Ein Mann ward irr.
Sag doch, welch Ruf?
Ein Warnruf? Ein Wehruf?
Eines Wunden? Eines Sterbenden?
Eines Hirten? Eines Wächters?
So sagt, welch ein Ruf?

[252] Der Chor steht jetzt ohne Ordnung vor dem Hange. Die Stimme erschallt noch einmal, näher als vorhin und bedeutend verstärkt. Der irre, zitternde Schein von Fackeln fällt von innen her auf Säulen und Gefels; aus dem Palast eilt der Seher in den Fiebern und Atemlosigkeiten der Intuition. Nahe der mittleren Säule hält er jäh inne, einen Augenblick steht er hoch und aufrecht, den Rumpf rücklings gebogen, die Fäuste vor Stirn und Augenhöhle gepreßt, dann bricht er kurz und hart in die Knie, der vornübergesunkene Leib ringt über dem Boden, plötzlich halb aufgereckt, erstarrt er, seine Gesten kehren sich nach innen, die Augen sinken zurück und schauen in sich hinein, sein ganzes Wesen
furcht sich, er richtet sich nun gänzlich auf und lehnt starr und düster an der Säule.
ERSTER FREIER
indes der Seher am Boden ringt.
Der Seher leidet Schmerz.
ZWEITER FREIER.
Der Seher rief den Ruf.
DRITTER FREIER
höhnt und lacht.
Der Seher ward bezecht.
CHOR
ebenso.
Der Seher ward bezecht.

Eine Stille, indes der Seher sich aufrichtet.
ERSTER FREIER.
Im Schmerz rief er den Ruf ...
ZWEITER FREIER.
Schmerz litt er ...
DRITTER FREIER
jetzt leiser und mit verhaltener Scheu.
Der Seher ward bezecht.

Chor blickt schweigend unverwandt den Seher an.
SEHER
beginnt zu reden, herb und schwer; seine Worte gelten den Freiern nicht, er sucht nur sich selbst.
Die steilen Runen und verzackten Ranken
Schufen sich mir zu seltsamen Symbolen;
Scheu grub ich in mein Herz und tief verstohlen
Die ersten jungen, ratlosen Gedanken.

Dann aber fühlt' ich meine Gründe wanken,
Zerstücktes schloß sich zu verflochtenen Ringen,
Nun sah mein Auge erst in allen Dingen
Ewig das Gleiche sich dem Gleichen ranken.

[253] Schaudernd erkannte ich das starre Zwingen,
Darin ich endlos mich von neuem lebte,
Endlos mich selber im Gewirke webte:
Ewige Wiederkehr in ewigen Ringen.

Da ward mir Weinen und verschluchztes Singen
Und irre Krämpfe schwer von toten Schreien;
Doch endlich ruhte ich in stummen Weihen
Zerfurchten Herzens über allen Dingen ...

Eine tiefe Stille – der Chor steht reglos.
DRITTER FREIER
plötzlich jäh auffahrend.
Lachet doch ...
CHOR
unter tosendem Lärm und großer Bewegung.
Der Seher ward bezecht ...
DRITTER FREIER
gell und kreischend.

Lachet doch ... Der Seher tritt etwas vor und tut eine Geste, als ob er reden wolle. Sofort schweigt der Chor.

SEHER.

Lachet, denn sehr nahe ist euch die Wandlung. Nutzet die löschende Zeit, haschet jedes Glimmern. Schon hockt es neben euch, euer Furchtbares, es umtastet schon euer Blut, es umklammert schon euer Hirn, es umkrallt schon euer Gebein, das Mark zu saugen. Lachet mir recht, denn bald seid ihr verlacht. Spottet mir recht, denn bald seid ihr Gespött. Putzet zu Tand eure Armut, eure jammernde Armut, denn ein Tand und zerbrochener Putz seid ihr bald.

ERSTER FREIER.
Meine Freunde, hört ihr ihn höhnen?
ZWEITER FREIER.
Euch zu beschämen, sprach er nackte Worte.
DRITTER FREIER.
Welch Furchtbares nennt er?
CHOR.
Welch Furchtbares nennst du?
SEHER.
Des Odysseus Wiederkehr.

Chor erschauert in gellender Lache. – Der Sänger erhebt sich und starrt den Seher an.
SEHER.

Lachet, lachet, lachet ihr Betörten, lachet euer freudloses Lachen. Was blieb euch sonst, als euer freudloses Lachen? Sehet, wiederkehren wird Odysseus, dies Wissen ward mir. Daß er von dannen ging, bürgt seine [254] Wiederkehr. Euch ward Odysseus ein wesendes, wurmdurchhöhltes Gebein, ein verwehter Staub ward er euch, ein verwehtes Nichts. Doch vergaßet ihr das Leben der Gerippe, vergaßet ihr das Leben des Staubes und eures blindgezeugten, blindgeborenen Nichts? Euch ward Odysseus ein Tod, doch vergaßet ihr das Leben des Todes? Kurzsichtig schaut ihr, euer Auge ist ein Krüppel. Wer ihr aber seid, wißt ihr alle nicht. Von allem All wißt ihr alle nichts.

ERSTER FREIER.
Meine Freunde, höret ihr ihn höhnen?
ZWEITER FREIER.
Euch zu beschämen, sprach er nackte Worte.
DRITTER FREIER.
Halt inne, irrer Schwätzer!
CHOR.
Halt inne!

Der dritte Freier [Chorsprecher] tut mit drohender Gebärde einige schnelle Schritte vor, den Hang hinauf, der Chor folgt ihm mit gleicher Gebärde, zugleich schließt er sich zur Einheit, zu einem spitzen, sehr kleinen Winkel, dessen Scheitel der Chorsprecher bildet, der demnach an der Spitze des ganzes Chores vor dem Seher steht. Der Chor bildet gleichsam einen schmalen Keil gegen den Seher. – Die beiden Gegensprecher ändern ihren Platz nicht.
SEHER
sieghaft und aufwachsend, gebieterisch in Gebärde und Rede.

Hier herrschte einst Odysseus; Licht war rings, das spendeten segnend blaue Lichthimmel. Hier herrschte einst Odysseus; sein Kleid war Purpur, sein Thron war golden, der fing die Strahlen der Sonne und zuckte sie überhell zurück.

Hier herrschte einst Odysseus; Penelopeia saß ihm zur Seite, hier herrschte ein Herrscherpaar.

Odysseus ging ferne, Nacht nahte und ihr hinterhaltiges Dunkel, ihr nahtet auch mit euren Nachtbegierden, Penelopeia gehrend. Manche Nacht- und Dunkelschliche wurden da erfunden, manche Nacht- und Dunkellaster sprächet ihr da heilig. Jetzt aber krankt ihr wohl an euch selbst, an eurem Nacht- und Dunkeltum und an allen euren heiligen Lastern.

[255]
DRITTER FREIER
Chorsprecher; hebt hastig einen schweren Stein vom Boden; diesen über seinem Haupte zum Wurfe bereit haltend, tritt er rasch gegen den Seher vor.
Hüte dich, Seher!

Chor folgt ihm, so daß der Keil eine jähe stechende Bewegung gegen den Seher hin tut. Jeder der Freier erhebt während des Vorschreitens seinen der gegenüberstehenden Reihe nächsten – linken oder rechten – Arm bei flachgestreckter Hand empor, und zwar so, daß die Arme von den beiden Gegensprechern an je zwei allmählich ansteigende Linien bilden, die in den senkrecht erhobenen Armen des Chorsprechers, der den Stein hält, ihr Ende finden.
CHOR.
Hüte dich, Seher!
SEHER
gesteigert.

Ich sage euch, Odysseus wird rückkehren und eures Nachtseins Ende mit ihm. Wohl dunkelte sich zu Nacht seine Strahlenhelle, doch wähnet ihr, es bliebe ewig Nacht? Und wähnet ihr, er bliebe ewig fern? Von seiner Helle Wandlung und Rückwandlung will ich euch künden.


Dritter Freier [Chorsprecher] läßt die Arme sinken, zugleich das rechte Bein ein wenig vorstellend und beugend läßt er den Stein in der rechten Hand und auf dem rechten Oberschenkel ruhen. Der Leib neigt sich lauschend vor gegen den Seher hin.
Chor läßt die Arme sinken; jeder der Freier beugt sein der gegenüberstehenden Reihe nächstes – linkes oder rechtes – Bein etwas, die Leiber sind nach dem Seher hin lauschend ein wenig vorgeneigt.
SEHER.

Dunkel überrann ästelnd seine Helle, Dunkel durchwand flutend seine Helle, bis zitternd auch geringstes Flimmern entfloh. Alle Finsternis durchwuchs da dies Dunkel: die Tastenden, die Blutenden, die Bleiernen, die Zackigen, die Verkrümmten, die Zerfurchten, die Summenden, die Donnernden; was immer nur möglich ist an Finstergestalten. Dann aber fiel wieder ein erstes Licht in das Dunkel, zitternd, mit sprühenden, glitzernden Fünkchen hinspringend, ein winziges Leuchten; blitzend schoß darauf ein tieferes Licht aus [256] ihm auf, tiefer aus Dunkel strahlend. Aus ihm wieder glänzten wandelnd alle Hellen, sich weitend und umbreitend, was immer nur möglich ist an Lichtgestalten; wann aber alle diese geglänzt, einmal wird dann die frühere wiederstrahlen.


Indes der Seher sprach, dehnte langsam der Sänger das Haupt und den Rumpf etwas hinüber, die herabhängenden Arme etwas zurück; fast zu Ende der Rede tat er dann plötzlich einige zuckende glutverhaltene Schritte auf den Seher zu, als dieser jetzt schweigt, hält er inne.
Bei den letzten Worten des Sehers haben sich die Freier in großer Erregung weiter und tiefer vorgebeugt. Nun teilt sich der Chor jähe in der Mitte, die beiden Reihen der oberen Hälfte eilen rechts und links um den Chorsprecher schwenkend hinauf und stehen dann so, daß sie einen spitzen Winkel bilden, der vor dem Seher geöffnet ist und dessen Scheitel der Chorsprecher darstellt. – Die beiden Reihen der unteren Hälfte schwenken langsam rückwärts, scheuen und verstörten Auges, je eine inwärts um einen der Gegensprecher; sie bilden so zwei Glieder, die in einer Richtung stehen, jedoch mit geringem Zwischenraum untereinander.
CHORSPRECHER
jäh auffahrend.
Ende deine Worte!
OBERER CHOR
indem er sich eilend und mit stürmischen Gesten in der beschriebenen Weise aufstellt.
Ende deine Worte!
UNTERER CHOR
zugleich rückweichend in der beschriebenen Art und dumpf vor sich hin.
Worte, Worte, Worte.
DRITTER CHORSPRECHER
in Hast und Heftigkeit.

Wisse, wir sind nicht willens, rohe und irre Reden von dir anzuhören. Schamlos nenne ich dich und brauchverletzend, ein rechter Räuber an Scham, Scheu und guter Sitte; ein blindtolles Tier nenne ich dich, das ferne ist von jeder Menschengewohnheit. Dein Tierblut und deine Tiergier treiben dich wohl, die Zäune zu brechen, die wir uns zu hegen richteten; solcherweise hoffst du wohl, uns zu schrecken mit Gebrüll und allem Gebaren der Bestie.


[257] Der untere Chor starrt indessen scheu zum Seher auf, er tut ein raunendes Murmeln unter sich und Gebärden, die auf den Seher weisen.
CHORSPRECHER
fortredend.

Wir aber sind nicht gewillt, dich also wüten zu lassen, und werden uns gut zu wehren wissen mit schlichiger List und lispelnder, irrelockender Vernunft und allem Menschlich-Eigenen, das dir fehlt. Schweige ja stille, sonst möchten wir wohl einen schnellen Fang an dir tun!

ERSTER GEGENSPRECHER
im unteren Chor, zum Seher aufblickend und in ähnlicher Art redend wie vorher – starr und ohne persönliche Sonderheit.
Niemals sprach je einer so kühne Worte, so mörderische und mörder-lustheiße.
CHORSPRECHER
kehrt seine Stimme zu spitzem Zischen.

Du schweigst wie einer, der unsere Worte nicht achtet, du schweigst wie einer, der unseren Worten nicht schweigt; dein Schweigen höhnt uns noch. Hüte dich! Hüte dich! Ich sage dir, wir haben Stricke und Schlingen, in die verfängt sich heil- und hilfelos, wer sie zerreißen will. Jahre und aber Jahre wanden wir daran mit emsigen Händen; wage nicht zuviel; viele wurden schon in ihnen zu Tod gewürgt.

ZWEITER GEGENSPRECHER
im unteren Chor; spricht gleicherweise wie der erste.
Niemals trieb einer solches Spiel, solch unbändiges und verfängliches, solch löwen- und tigerhaftes.
SEHER.

Ein gleicher Schrecken schlug euch alle: einige stehen vor mir angstverstummt, andere aber angstbeschwatzt. Denn angstbeschwatzte Worte vernahm ich eben. Angst zitterte in jedem Atem. Ein gleicher Schrecken hieß euch reden oder schweigen. Und also wollte ich es: Euch zu schrecken und zu wecken kam meine Rede, all euer seliges Hoffen zu entseelen kam sie, alle eure lustgelullten Träume fortzuscheuchen. Ihr vermeintet wohl, euer stumpfes, dumpfes Dasein also fortzuleben, ja, ihr hattet wohl schon irgendein wollust- weiches Winkelchen für Ewigkeit euch bereitet, wohlig gefüttert und gewärmt mit kleinen, lieben Lüsten. Nun [258] aber kam meine Rede und zauste und fetzte es, ein rechter Sturmwind kam sie, es fortzublasen.


Der untere Chor steht starr, die weit geöffneten Augen haften voller Angst auf dem Seher. Der erste und zweite Gegensprecher stehen gleichfalls beide unbeweglich, ihre Blicke sind, ohne dem Seher zu begegnen, ruhig geradeaus gewandt. Der obere Chor und der Chorsprecher recken rasch und lautlos die Arme nach dem Seher aus: eine schweigende Gier und Wut. Der Chorsprecher verbleibt auf seinem Platz, die übrigen treten etwas näher, so daß der Winkel kleiner wird.
SEHER
tritt schnell einen Schritt vor und tut eine große zwingende Geste mit beiden Armen um sich.
Ihr ... Ihr ... Ihr ...

Die Arme der Freier sinken nieder, die Freier selbst wie auch der Chorsprecher treten etwas zurück und stehen dann ohne Ordnung um den Seher.
SEHER
ohne eine Pause weiterredend.

... Was vermögt ihr mir zu tun!? Ahnet ihr nicht, daß ich euch stets entschlüpfe, schlüpfend über euch hinwegtanze, tanzend über euch mein blinkendes Lachen lache? Unbeirrt schreite ich hin auf meiner Worte hartem, knirschendem, lichtgestirntem Schnee, meiner Sonne zu, euerer Trübsal fern; ihr aber hascht täppisch meines Sonne- und Schneegelächters Widerhall, ein genarrtes Narrenvolk ...

CHORSPRECHER
wirft die Arme jach empor und schreit gell.
Steinigt ihn!
OBERER CHOR
auf den Seher eindringend.
Steinigt ihn!
UNTERER CHOR
gleicherzeit wie der obere Chor und indem er die Anhöhe hinauf eilt.
Steinigt ihn!

Es entsteht ein lautes Getümmel um den Seher, in welchem dieser den Blicken entzogen wird. Der erste und zweite Gegensprecher stehen unentwegt auf ihrem früheren Platz, ganz in gleicher Haltung. Unterdessen schreitet der Sänger ebenso wie vorhin hoch und verzückt auf den Seher zu, die Anhöhe hinan. Wie er bis dicht vor die Tummelnden gelangt ist, erschallt aus der [259] Menge, unbeirrt und gleichmäßig den Lärm übertönend, die jubelnde Stimme des Sehers.
SEHER.
Die letzte Höhe will ich noch erklimmen, mein spähefrohes Auge weitum schweifen lassen ...

Der Chor stutzt und schweigt stille, er öffnet sich vor dem Seher ein wenig, so daß man diesen jetzt erblickt. Der Sänger ist indessen weitergeschritten; nun steht er nahe vor dem Seher und blickt diesen
tief und groß an. Dann gleitet er vor ihm nieder und preßt in stummer Demut des anderen Gewand an die Lippe.
SEHER
mit weitgeöffnetem Auge weitaus schauend, ohne eine Pause hinter den vorigen Worten zu tun.

Ein Glanz liegt über jener Höhe, ein goldiger, goldverräterischer, Gutes und Letztes kündend. Gutes und Letztes dieser Morgennacht, wie ich hell sie nenne, denn längst zog Mitternacht vorüber. Morgenluft spüre ich hier schon, eine tagerwartende, taglauschende, graues Morgenflattern streicht hier schon vorbei, hörbar nur für feine Ohren. Erstes Dämmer tastet, erste Morgenröte flüstert, alle lichten Dinge künden sich. Ach, Mitternacht zog längst schon vorüber! Schon rauscht Helle morgendlich ganz um mich, hoch auf letzter Höhe; ein Adler kreist über mir, dem glüht auf den Schwingen goldverräterischer Glanz goldenen Mittags. Denn er kommt, er ist nahe, der goldene Tänzer.


Bei den Worten des Sehers hat auf der Klippe Odysseus die Arme zu weiter, mächtiger Geste emporgehoben; jetzt hallt seine Stimme wie aus großer Ferne.
ODYSSEUS.
An welches Landes Küste warf die Woge mich?
Zu welchen Ufern trieb das Uferlose hin?
Todtiefem Schlaf entscheucht, welch neues Wachen ward
Dem ewig Ruhelosen ruhelos zuteil?
Was birgt das Nächste: lauter Waffen Widerhall,
Fährliche Wunden oder freundesfrohe Lust?
Birgt es ein stummes Trauern um geliebte Frau'n,
Verhülltes Sinnen oder Küsse hellen Muts?
Ein gleiches Preisen wird die Lippe allem leihn;
Selbst Mißgeschick zu kränzen ist des Kühnen Art.

[260] Der Seher lauscht mit seligem Antlitz und hoch aufgerichtet; wie Odysseus endet, stürzt er jäh in sich zusammen; Odysseus selbst tut langsam einige Schritte die Klippe hinab. Die Freier umdrängen den leblosen Seher, so daß dieser wie auch der Sänger den Blicken verborgen bleiben.
CHORSPRECHER
sich hastig niederbeugend.
Der Seher fiel.
CHOR
der während der Worte des Odysseus, offenbar ohne diese zu hören, den Seher unverwandt angeblickt hat, jetzt näherdrängend.
Der Seher fiel.
CHORSPRECHER.

Endlich also fuhr er uns dahin, er starb an seinem eigenen Narrengeschwätz. Jedem mag solches Los zuteil werden, jedem, der freche Worte uns in die Ohren jagt, mit Schrecken uns zu scheuchen, mit Hohn uns zu drohen, wie dieser tat. Solche Worte aber laßt uns eilig von uns schütteln, nicht zu Heile flüstern sie in uns. Eilig gebt solche Worte dem Wind anheim und jedem Verwehen; uns tun wir so am besten und ihm am rachevollsten. Wahrlich, dem Toten tun wir so noch die härteste Rache an! Reinigt euch von ihm, denn sein Schmutz wird euch zu Seuche und Aussatz! Laßt ihn in eurem Erinnern ein zweites Mal sterben, denn nur Vergessen, nur Vergessen erlöst von ihm!

CHOR
düster, fast angsthaft.
Nur Vergessen erlöst ...

Der Chorsprecher wendet sich und steigt langsam den Abhang hinab; die Freier schließen sich allmählich an, indem sie sich einer hinter dem andern zu zwei Einzelreihen ordnen, die getrennt nebeneinander wandeln. Wie der Chorsprecher bis zur Hälfte des Hanges hinabgelangt ist, beginnt der erste Gegensprecher zu reden, in selber Art wie vorher; bei seinen Worten halten die Niederschreitenden inne. Der Seher und der Sänger sind beide noch immer den Blicken verdeckt durch die Gruppe der Freier, die noch ungeordnet vor dem Palaste weilt.
ERSTER GEGENSPRECHER.

Ein furchtbarer Feind sank euch dahin. Euer furchtbarster Feind seither, der alle eure Heimlichkeiten wußte. Eure heimlichen Ängste wußte er auch, tief stach er in eure Angstwunden, erbarmungslos [261] quälend. Seid auf eurer Hut, daß euch nicht größeres Unheil treffe, denn ihr seid erkannt.

ZWEITER GEGENSPRECHER.

Ein Bild erschuf er euch zur Angst, nicht zu stürzen und nicht zu trümmern. Schließt eure Augen und wagt nicht zu blinzeln, das Bild ragt vor euch und sein wilder Schrecken! Blendet euch, werdet freiwillig Blinde, das wäre noch die sicherste Zuflucht!


Der Chorsprecher und die Freier senken das Haupt und wandeln stumm und gedrückt den Hang nieder. Die Gruppe der Freier vor dem Palast schließt sich an, so daß Sänger und Seher sichtbar werden. Der Sänger hat den Seher halb hinter die mittlere Säule gebettet, man sieht nur Haupt und Brust, das zur Seite geneigte Antlitz ist der Klippe zugewendet. Der Sänger selbst steht seitlich neben dem Seher mit dem Rücken an der Säule, er blickt den Zuschauern abgekehrt dem Hintergrunde zu. Der Chor mit dem Chorsprecher an der Spitze schreitet langsam zwischen erstem und zweitem Gegensprecher hindurch; an dem früheren Platz des Sängers macht der Chorsprecher halt und wendet sich nach dem Palast um; die beiden Reihen des Chors
gruppieren sich schräg zueinander vor dem Chorsprecher, so daß sie zwei gerade Linien bilden, die verlängert sich im Chorsprecher treffen würden. Erster und zweiter Gegensprecher stehen nach wie vor. Unter dem tiefen Schweigen kommt Telemachos aus dem Palast den Hang hinab; er schreitet verhüllt und mit gesenktem Antlitz, langsam in der Haltung eines trauernd Versunkenen; wie er den Hang halb hinabgestiegen ist, ruft der Sänger [ohne eine Geste] in langgezogenem Klageton.

Telemachos ...

Dieser schreitet weiter, zwischen den beiden Gegensprechern hindurch, es ist wieder tiefstill. Als er hinabgestiegen ist, tut er noch einige Schritte in gleicher Richtung; wie er sich dann abwenden will, um nach der Klippe zu schreiten, ruft ihm der Chorsprecher in gierigern, zischendem Tone zu.

Telemachos ...
[262]
CHOR
flüsternd.
Telemachos ...

Der Jüngling stutzt und hebt das Haupt. Dann spricht er nach einer kurzen Weile klar und ruhig.

Penelopeia bereitet sich zu kommen.

Er senkt das Haupt wieder, wendet sich und schreitet auf die Klippe zu; plötzlich aufschauend, erblickt er Odysseus. Er stutzt, er reckt sich hoch auf, sein zurückgeneigtes Antlitz überhuscht seliger Jubel, er hebt die Arme zum Gruß und Wink, sein ganzer Körper bebt in Entzücken und entzücktem Gruß, er bricht in die Knie, erhebt sich wieder ... stummes Spiel. – Indem Telemachos noch auf die Klippe zuschritt, sprach der erste Gegensprecher [in unveränderter Haltung zu den Freiern].

Eure Stunde ist gekommen.

Gleich darauf der Chorsprecher leise und deutlich, doch sehr vernehmbar.

Meine Hand fand sich dem Eisen.

Dann der zweite Chorsprecher.

Was gebührt den Eigenen?
CHORSPRECHER
wie oben.
Das Sterben.

Der Chor – ohne den Chorsprecher – gruppiert sich lautlos um Telemachos. Er teilt sich in drei Viertelkreise, von denen je einer rechts und links hinter dem Jüngling niederkniet; der dritte kniet in dem durch die beiden anderen begrenzten Raume dicht hinter Telemachos. Durch die Stille
schreitet der Chorsprecher langsam heran, jähen Schrittes, schleichend und lauernd. Wieder erschallt der Klageruf des Sängers, diesmal etwas verstärkt .

Telemachos ...

Der Chorsprecher schreitet unbeirrt weiter durch die Knienden bis dicht hinter den Jüngling. Er hebt die Hände; dumpfen Schlags trifft er das Hinterhaupt. Telemachos stürzt nieder. Der Chor erhebt sich lautlos. Abermals – jetzt sehr laut – und verzweifelt – tönt des Sängers Ruf.

Telemachos ...

[263] Odysseus steigt nach des Telemachos Fall die Klippe hinab.
DER ERSTE UND ZWEITE GEGENSPRECHER
reden gleichzeitig, so daß es wie die sehr verstärkte Stimme eines einzelnen tönt.
Vergeltung ward alten Brauches.
CHORSPRECHER
mit höhnend gellendem Lachen, indem er den vor ihm liegenden Toten mit dem Fuße anstößt.
Telemachos ...

Odysseus steht jetzt vor dem Leichnam und blickt starr dem Chorsprecher ins Antlitz. Dieser stutzt und weicht ein wenig zurück, mit ihm der ganze
Chor.
CHORSPRECHER
hastig, leise.
Wer bist du, Fremder?
ERSTER GEGENSPRECHER
in gewohnter Art.
Hütet euch!
ODYSSEUS.

Verschlagen schon durch viele Meere, suche ich heimatlichen Strand. Viel ward mir des Schauens und des Kämpfens, ehe mich die Wellen diesen Felsen hinwarfen.


Auf Telemachos deutend.

Wer ist der Leichnam?
CHORSPRECHER
hastig.

Laß dich durch ihn warnen. Er wagte, uns Trotz zu tun; von den törichten Frechen war er einer, die manches Mal sich wider uns heben. Wir übten Rache, er fiel durch uns.


Auf den Palast deutend.

Auch dort, Fremdling, wirst du einen Toten hingestreckt finden; auch er vermaß sich des Eigenwillens und höhnenden Spottes. Auch er fiel. Richte du danach deinen Sinn und wage nicht Gleiches; Gleiches würde dir dann auch zuteil. Doch wenn du uns achtest und unseren Bräuchen Ehrfurcht bringst, wirst du dich eines sicheren friedlichen Lebens unter uns freuen. Dies wisse, Fremder, und hüte dich.

ZWEITER GEGENSPRECHER
in gewohnter Art.

Hütet euch! Odysseus tut einen schnellen Schritt über den Leichnam fort; wieder weicht der Chorsprecher, dieses Mal etwas weiter rückwärts, zugleich eiliger und erschreckter; auch der Chor weicht in weitem Umkreise. – Es ertönt der lange, seligtiefe Ruf des Sängers. ... Odysseus! ...

[264]
CHORSPRECHER
unter hastigem Lachen.

Wohlan, wohlan, Fremdling, laß uns miteinander recht in Lustigkeit feiern! Doch vorerst erzähle uns von deinen Schicksalen und Abenteuern, deren du wohl manche erlebtest. Köstlich wollen wir dich nachher bewirten, prunkend wollen wir dein Tun dir vergelten. So komme nur, sprich und muntere uns!


Odysseus schreitet vorwärts; der Chorsprecher folgt, bisweilen ihn verstohlen forschend von der Seite anblickend. Der Chor folgt gleichfalls ohne Ordnung; hier und da flüstert man scheu untereinander.
ERSTER GEGENSPRECHER
in langgedehntem Klageruf.
Wehe! ...
CHORSPRECHER
zum Chor, indem er auf den ebenen Boden vor dem Hange weist, immer mit hastiger, etwas verschleierter Stimme.
Lagert euch hierher, ihr alle insgesamt, des Fremden Rede anzuhören!

Zu Odysseus, dem er zum untersten Hange deutet.

Du aber stelle dich ein wenig erhöht, daß wir dich um so besser vernehmen! Zuvor jedoch laß einen alten Brauch an dir erfüllen!


Er schlägt in die Hände, aus dem Palast tritt unter die Säulen ein dienender Knabe.
DER CHORSPRECHER
zum Knaben.
Bringe Wein!

Der Knabe geht wieder in den Palast hinein. Der Chor hat sich unterdessen in ziemlich großem Umkreis auf den Boden gelagert, doch ohne besondere Ordnung; man liegt teils zerstreut, einige auch zu Gruppen vereinigt. – Eine kurze Stille.
ZWEITER GEGENSPRECHER
gleicher Art wie der erste.
Wehe! ...
CHORSPRECHER
sehr hastig.
Der Knabe weilt lange, doch nur ein weniges, Fremdling, gedulde dich noch! ...

Der dienende Knabe kommt mit dem gefüllten Becher den Hang hinab; er reicht dem Chorsprecher den Wein und geht dann gleichen Weges wieder.
CHORSPRECHER
Odysseus den Becher darbietend.

Nimm hier und labe dich, Fremdling, denn gewiß sind dir die Glieder müde und erschöpft; gewiß auch wird dich nach [265] so vielen Leiden und Irrfahrten ein Trunk erquicken, dir die notumwundene Seele zur Heiterkeit lösen und dich geneigt machen zu mannigfachem Wort. Denn selbst unserer Leiden läßt uns ja der Wein froh gedenken, wenn sie nur überstanden sind; alle ferne Trübsal wandelt er zu Gold und Glanz. Koste drum den Trank.


Odysseus nimmt den Becher und schleudert ihn in weitem Bogen in den Nachthimmel. Glänzend fällt ein Stern. Der Chorsprecher hat sich tief unter dem Wurfe geduckt; wie der Stern fällt, wimmert der Chor auf und tut zitternde Gesten.
ERSTER UND ZWEITER GEGENSPRECHER
in eins und gleicher Weise wie oben.
Wehe! ... Wehe! ...
CHORSPRECHER
ängstlich lachend, spricht fiebrig.

Ei, ei, du Fremdling, wo lerntest du solchen Brauch? Fremd scheint er mir, fremd wie du selbst, doch ein recht lustiger Brauch scheint er mir vor allem. Doch nun zaudre nicht länger und künde uns.


Er setzt sich in die Mitte zwischen Odysseus und die gelagerten Freier nieder. Odysseus steht erhöht, groß und unbeweglich lehnt er an einem Felsen des
unteren Hanges ... Eine Stille ... Man hört den Sänger freudeschluchzen.
ODYSSEUS
mit langsamer, eherner Stimme beginnend.

An öden Fels geklammert lag ich allein in Nacht- und Wellennöten, sturmberast gierte ein Meer nach mir, felsempor sich reckend zu meinen Gliedern. Mit Schaum und flachem Wasser tastete es mich zuerst, einem Tiere gleich, das seine Beute prüft, dann sprang es jäher heran, ein Wellenmaul zuckte gegen mich, kalten, harten Zahns schlug es in meine Nacktheit, zurückzerrend wollte es meine starren Finger vom Gesteine krallen ...

CHORSPRECHER
ängstlich unterbrechend, hastig und leise.
Etwas Lustigeres, Fremdling, erzähle uns!
EINE STIMME
aus dem Chor, in verhaltener Angst.
Mich friert.
EINE ANDERE.
Mich friert.
[266]
CHOR.
Mich friert.
ODYSSEUS
in gleicher Weise wie vorhin.

Ich kämpfte mit Feinden. Jauchzend klang meines Bogens Sehne, meine schwirrenden Pfeile zerschnitten die Herzen, rings fielen Leiber. Meine Pfeile gruben Brunnen, sickernd und ästelnd rann das Blut einen rankenverkreuzten Teppich zu meinen Füßen. Sterbend brachten mir so meine Feinde wider Willen das Siegsgeschenk. Als ich des Spieles müde war, schritt ich hin über den Teppich; meinen Bogen warf ich hinter mich, es starrten die Feinde. Rasch packte ich einen, über meinem Haupte bog ich ihn wie einen Stirnreif, brechend knackten die Wirbel ...

CHORSPRECHER
aufschreiend.
Fremdling, Fremdling, so erzähle doch Lustigeres! ...
CHOR
zitternd, leise.
Mich friert.

Die einzelnen kriechen furchtsam zueinander.
ODYSSEUS.

Ein fahrbereites Schiff sah ich vor kurzem in einer Bucht vor Anker. Ein Fremdling betrat es, sein hoher Wuchs war eines Königs. Seinem Schritte bogen sich die Balken, die Wellen wichen scheu. Sein Auge war Glut, seine Stirne wolkenschweres Wetter. Springend schlugen seine Pulse die Adern, sein Weisen war Blitz, sein Wort war Donner. Er rief die Winde, rauschend füllten sie die Segel, ferne fuhr das Schiff. Ich erfragte seinen Namen und seines Schiffes Ziel. Ithaka war seines Schiffes Ziel, sein Name Odysseus.


Es fallen Sterne.
ERSTER UND ZWEITER GEGENSPRECHER
zusammen.
Wehe!
CHOR
tief zu Boden gedrückt, indem die einzelnen immer verzweifelter und flehend einander mit den Händen greifen.

Odysseus!

Ein Sturm streicht heulend in der Ferne vorüber, dann schweigt er wieder. Der Chor jetzt ein furchtzusammengeballtes Knäuel, stöhnend und jammernd. Odysseus!

CHORSPRECHER
kreischt auf.
Wehe! ... Wehe! ... Wehe! ...
EINE STIMME
aus dem Palast.
Penelopeia naht.

[267] Der Chor, ebenso der Chorsprecher schweigen sogleich und halten mit Bewegungen inne; die Leiber richten sich halb vom Boden auf, starr lauschend.
ERSTER UND ZWEITER GEGENSPRECHER
zusammen.
Penelopeia naht.
CHORSPRECHER
aufspringend wie im Rausche.
Penelopeia ...
CHOR
ebenso.
Penelopeia ...

Getümmel; wie der Chor die Anhöhe hinaufeilen will, erscheint Penelopeia zwischen den Säulen des Palastes, der Chor hält inne. Odysseus steht unbeweglich und – da der Chor vorgerückt ist – jetzt in geringer Entfernung neben demselben. Penelopeia ist in dunkles Gewand gekleidet und tief verhüllt, von hoher, königlicher Haltung. Zwei Dienerinnen stehen zu beiden Seiten hinter ihr; die eine hält den Bogen des Odysseus, die andere den
Köcher mit den Pfeilen. – Eine tiefe Stille.
PENELOPEIA
ruhig anhebend.

Telemachos tat mir euren Willen kund, ihr Freier, ich hatte mich nicht lange zu bedenken. Müd seid ihr des Harrens und voll Ungeduld. Wahrlich, auch ich ward des langen Hinhaltens überdrüssig, drum bin ich jetzt gewillt, Entscheidendes zu wagen!


Sie wendet sich um und nimmt der Dienerin den Bogen aus der Hand.

Den Bogen des Odysseus weise ich euch hier; keine Hand tastete diese Waffe, seit ihr stolzer Eigner von hinnen zog, fromm bewahrte ich sie zu frommem Gedenken. – Wohlan: Ohne Zögern folge ich dem als Gattin in sein Haus, der diesen Bogen zu spannen vermag und also sich ebenbürtig zeigt an Kraft und Gewalt des Arms dem hingeschiedenen König. Die übrigen mögen dann wiederum auf ihre Gehöfte zurückkehren. Und also schwöre ich: Kein anderer wird je mich besitzen, kein anderer je sich glücklich preisen meiner Liebe als des Bogens starker Zwinger!


Sie winkt der Dienerin; diese legt den Köcher ihr zu Füßen; beide Dienerinnen gehen darauf wieder in den Palast hinein. – Eine Stille.
[268]
CHORSPRECHER.

Leicht erscheint mir, Königin, dein Bedingen, leicht dürfte sich wohl ein mächtiger Arm dieser Sehne finden. Dann aber – bitte ich – bleibe auch deines Schwures eingedenk und suche nicht in Ausflüchten Aufschub; taub möchten wohl unsere Ohren solchen Worten sein. So versuchen wir uns jetzt an der Waffe, wenn du es zugestehst ...

PENELOPEIA.
Tretet denn nahe!

Der Chor wandelt, vom Chorsprecher geführt, in zwei Reihen den Hang hinauf; der erste und zweite Gegensprecher schließen sich an. Oben nehmen die Freier nicht vorn neben den Säulen Stellung, sondern gehen etwas zurück, so daß sie in tieferes Dunkel zu stehen kommen. Man sieht sie sich hier in großer Unruhe um den Bogen scharen, doch erkennt man nicht die Gesten der einzelnen, sondern nur die mächtige Bewegung der ganzen Masse. Man hört das Gewirre ihrer Stimmen. Nachdem der Chor in kleiner Entfernung an ihr vorübergeschritten ist, tut Penelopeia einige Schritte den Hang hinunter, dann hält sie ein.
PENELOPEIA
zu Odysseus.

Was bliebst du zurück, du einsam Schweigender? Bist du etwa nicht von jenen einer, wie? Oder schontest du gar meines Leides?

ODYSSEUS
hat sich bei den Worten Penelopeias umgewendet; nun tritt er vor und neigt sich tief vor ihr.

Königin, nicht Sinn und Begier habe ich mit jenen gemein. Ein Fremdling bin ich, durch Schicksals Mißgunst an dieses Gelände verschlagen, nachdem mir die See Gefährten und Schiff genommen. Nicht unbekannt finde ich mich hier; vor Zeiten, da Odysseus hier noch unvermählt herrschte, durfte ich mich rühmen, Gast dieses Hauses zu sein. Ach, Schrecken und Bestürzung mußte ich leiden, als ich die Schmach jetzt erschaute, Tränen mußte ich leiden, meines Freundes Hof so geschändet zu sehen! Wahrlich, recht zu Jammer trieben mich die Wasser her ...

PENELOPEIA
schmerzzitternd.
Fremdling ...

Eine Stille zwischen beiden. Man hört indessen den[269] ersten Gegensprecher, etwas verhalten, während der Chor schweigt.

Meine Freunde! Nur wenige erprobten den Bogen noch nicht! Wehe! Und den übrigen mißlang die Tat! Welk und hinfällig wurde ein jeder Arm an harter Sehne. Müht euch, müht euch, meine Freunde, denn es gilt vieles ...


Der Chor tut wieder das vorige Spiel.
ODYSSEUS.

Trost ward mir einzig der Gedanke, daß bald Odysseus diesen Frechen Halt gebieten wird, bald ihr Blut ihm dargebracht wird als ein Sühneopfer, ein lang verschuldetes. Zweifach wird unsere Freude sein, o Königin, wenn in alter Pracht Altes neu ersteht, wenn schmachtiefe Nacht wieder der Helle weicht!

PENELOPEIA.

Fremdling, Fremdling, Qual und Blut sind deine Worte meinern Herzen! Ach, niemals wird, was du erhoffst! Ein Toter, ruht Odysseus längst, irgendwo an fremdem Strand wäscht die Welle sein bleichendes Gebein ...

ODYSSEUS
leise, sehr eindringlich.
Penelopeia, Odysseus lebt! ...

Es fällt ein Stern.
PENELOPEIA
aufschluchzend und mit einer Bewegung, als wollte sie den fallenden Stern erhaschen.
Odysseus! ...

Eine Stille zwischen beiden. Man hört den zweiten Gegensprecher, in gleicher Weise wie vorher den ersten.
ZWEITER GEGENSPRECHER.

Wehe ... Wehe ... meine Freunde, häßlicher Hohn wächst über euch aus dieser Stunde! Wehe! Was soll werden? Erlahmet ihr nicht alle an Unüberwindbarem? Wehe! Will niemand mehr wagen?


Allmählich verlöschen die Sterne am Nachthimmel.
ODYSSEUS
gesteigert, doch stets leise.
Glaube, Penelopeia, glaube, er ist nahe! ... Alle meine Schwüre schwöre ich dir ...
PENELOPEIA
zerbricht jähe ihr Schluchzen, stutzt .
.. dann leise tastend und spähend zu Odysseus nieder. Odysseus! ...

Ein Sturmstoß heult.
[270]
BEIDE GEGENSPRECHER
verhallend herüber.
Wehe ... Wehe ... Wehe ...
ODYSSEUS
steigt langsam den Hang hinauf, vor Penelopeia neigt er sich lief in die Knie.
Penelopeia, Odysseus lebt! ...
PENELOPEIA
wild aufjubelnd.
Odysseus! ...

Jäh einsetzender Sturm läßt ihren Schrei verhallen; während des folgenden nimmt der Sturm unentwegt zu, es wird finsterer.
ODYSSEUS
richtet sich empor, nun neben Penelopeia den Freiern zurufend.

Vergeblich scheint ihr euch um den Bogen zu mühen, ihr Freier. Wohlan, so vergönnt auch mir einmal ein Versuchen, vielleicht, daß rechte Kraft mir innewohnt!

CHORSPRECHER
spricht hohnvoll, doch in einer heimlichen Angst.

Mit törichter Hoffnung betörst du dich da, du Narr, denn diesen Bogen – das erkannten wir genug – vermag einzig Odysseus selbst zu spannen. Dessen Kraft scheint mir die deine gewiß nicht ebenbürtig, vermessen hoffst du, wenn du also hoffst! ... Wie?

Lauernd. Oder bist du vielleicht bei Odysseus in die Schule gegangen? Fast sollte man es glauben, wenn man deine stolzen Worte hört; auch fabeltest du vorhin so manches von Odysseus. Doch komme nur heran und versuche dich, ein Gelächter wirst du uns damit, du Narr!

CHOR
fast drohend.
Narr! ...

Penelopeia steigt langsam hinauf, Odysseus folgt ihr. – Wütendes Wetter.
ODYSSEUS
oben vor den Freiern.

Weicht ein wenig von hier, ihr Freier, und steigt hinab! Eure nahedrängende Menge möchte mir sonst die Sinne verwirren und meinen Arm untauglich machen.

CHORSPRECHER
dicht vor Odysseus, indem er diesem spähend in die Augen blickt.

Wohl werden wir weichen, damit du nicht auf uns deines Mißgeschickes Schuld nachher wirfst; denn Mißgeschick wirst du jetzt leiden, [271] In ängstlich forschender Hast. es sei denn, du wärest Odysseus, dem einzig dieser Bogen gehorcht.


Auflachend.

Doch sehr unähnlich bist du jenem Helden, du Jammernarr!
CHOR
drohender als vorhin.
Narr! ...

Vom Chorsprecher geleitet, steigt der Chor ziemlich ungeordnet den Hang hinab, furchtsam unter sich flüsternd; die beiden Gegensprecher schließen sich an. Am Fuße des Hanges nimmt der Chor ungeordnet Stellung; starr erwartend blickt er zu Odysseus empor. Penelopeia steht neben Odysseus.
ODYSSEUS
faßt den an einer Säule lehnenden Bogen; in diesem Augenblick erlischt der letzte Stern, der Sturm erreicht seine heftigste Gewalt, dann schweigt er plötzlich.
Aus dem tiefen, undurchdringlichen Dunkel tönt des Odysseus Stimme.
Zu herbster Vollendung endlich greife ich
Den Bogen, der seit Jahren dieser Stunde harrt.
Nun soll er treffen, soll er tilgen Schändliches,
Giftiges, Gift – Verseuchtes, das um Mitternacht
Aufschloß zu Tod und Unheil allem Heile rings.
In Grund vernichtend gründet stärkere Gewalt
Stärkere Mächte großem Leben prächtiger.

Der Chor beginnt zu wimmern, immer weiter rückwärts weichend. Dann wird es ganz stille.
Odysseus spannt mit jähem Ruck den Bogen, wie er die gespannte Sehne prüft, schwebt ein tiefer, dröhnender Ton über die Bühne.
DIE FREIER
wild aufschreiend.
Odysseus!

Ein Blitz überzuckt den Himmel; man sieht Odysseus, den Bogen schußbereit, die Spitze des Pfeiles zeigt gegen die Freier. Diese stehen am äußersten Rand der Felsszene; sie haben einander an den Händen gefaßt. Der Blitz erlischt. Dunkelheit. Odysseus schießt den Pfeil ab; krachend springt die Sehne zurück. Das Geschoß flieht in feurigem Streifen durch die Luft über die Häupter der Freier fort und nieder in den Himmel. Die[272] Freier stürzen hintüber zum Abgrund. Ein morgenroter Sonnenstrahl loht aus der Tiefe über den Himmel, Morgenhelle ringsum.
DER SÄNGER
in schluchzender Freude die Arme weit breitend.
Odysseus!

Er sinkt sterbend nieder. Odysseus steht hoch und stolz, zitternd in der Freude des Siegers. Penelopeia lehnt an ihm.
Der Vorhang gleitet rasch über die Szene.

Notes
Entstanden 1911. Erstdruck in »R. Sorge: Der Jüngling. Die frühen Dichtungen«, München und Kempten (Kösel & Pustet), 1925.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Sorge, Reinhard Johannes. Odysseus. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-11A3-3