Friedrich Spielhagen
Faustulus

[1] Seit zehn Minuten hatten sie kein Wort zu einander gesprochen. Wenn er, im Zimmer mit langen Schritten auf und ab schreitend, sich nach dem Sofa wandte, in dessen Ecke sie unbeweglich saß, den Kopf an die hohe Lehne zurückgebogen, sah er nur eben noch eine dunkle Gestalt; die Gesichtszüge konnte er nicht mehr unterscheiden. Durch sein Hirn zuckte die Erinnerung der Zeit, wo er, hatten sie sich einmal veruneinigt, vor ihr niederkniete, sie seinen Kopf an ihre Brust drückte, und sie in glühenden Küssen gegenseitiges Vergeben und Vergessen tranken. Wie lange war das her? Kein halbes Jahr. Dennoch dünkte es ihm eine Ewigkeit. Wer war schuld? Sie hatte vorhin gesagt: er. Wahrscheinlich hatte sie recht: Männer pflegen in dergleichen Lagen die Schuld zu haben. Aber sie um Verzeihung bitten? Daß er ein Narr wäre! Jetzt war es kein Kampf mehr um die Liebe. Es fragte sich nur noch, wer herrschen sollte: er oder sie. Nur daß es eine kolossale Albernheit war, die Frage überhaupt aufzuwerfen.

Er war an das dritte Fenster getreten und starrte auf den kleinen, menschenleeren Platz. Vor dem Hause wurden eben die beiden Laternen angesteckt. Karl hatte Mühe, damit zurecht zu kommen; dann flackerten die [1] Flammen in ihren Glashäuschen, und die Lichtkreise auf dem Pflaster tanzten hin und her in dem Wind, der von der Flußseite hereinstieß. Er öffnete den einen Fensterflügel, weislich den Riegel in der Hand behaltend. Die Gardine bauschte sich auf; im Zimmer fiel irgend etwas von einem Tisch; die Thüren nach dem Speisezimmer und dem Flur knackten.

»Aber mein Himmel!« rief ihre Stimme vom Sofa. »Bitte, mach wieder zu!«

Er that es, nachdem er ein paar volle Züge der frischen Luft eingesogen.

»Ich wollte nur den Tabaksrauch ein wenig abziehen lassen,« sagte er, sich wieder ins Zimmer wendend. »Du weißt, wie empfindlich er dagegen ist.«

Vom Sofa kam ein kurzes, höhnisches Lachen.

»Du wirst ja neuerdings sehr rücksichtsvoll gegen ihn.«

»Bitte, mein Schatz, das war ich stets.«

»Bitte, mich nicht mein Schatz zu nennen! Das ist doch nur Hohn.«

»Also: liebe Lora. Du erlaubst, daß ich dich im Nach- und Auskosten unserer angenehmen Unterhaltung nicht länger störe.«

»Du darfst nicht fort! Ich habe ihm gesagt, du würdest zum Abend bleiben.«

»So hast du dich geirrt. Irren ist menschlich. Ich dächte, wir hätten uns nur eben erst einen drastischen Beweis davon geliefert.«

Er machte einen Schritt nach der Thür.

»Arno!«

»Du befiehlst?«

»Bitte, geh nicht fort!«

[2] Sie hatte sich schnell aus der Sofaecke erhoben und war dicht an ihn herangetreten, nach seiner Hand greifend, die er ihr entzog.

»Mein Bleiben wird die bösen Dinge, die wir uns gesagt haben, nicht wieder gut machen.«

»Bitte, bitte, bleib! Wie soll ich es denn erklären! Er muß ja denken, daß wir uns gezankt haben!«

»Also darum?«

»Auch darum. Ich weiß nicht, ich habe das Gefühl: er traut uns nicht mehr.«

»Das wäre nur ein weiterer Grund, uns zu trennen.«

Sie hatte nun doch seine Hand gefaßt.

»Arno, ich bitte dich! Ich flehe dich an!«

»Es hat wirklich keinen Sinn. Machen wir ein Ende!«

»Dann willst du, daß ich sterbe.«

Sie war an ihm herabgesunken und hatte seine Knie umklammert.

»Dies ist ja lächerlich. Schlechte Komödien werden durch Wiederholungen nicht besser. Zum Teufel! So steh' doch auf!«

Ein Schritt kam über den Flur auf die Thür des Zimmers zu. Im Nu stand Lora auf den Füßen und war, so weit es noch möglich, von ihm zurückgetreten. Die Thür that sich auf; Malwine kam mit der angezündeten Lampe herein, die sie nach dem Tisch vor dem Sofa trug. Während sie an den beiden vorüberging, hatte sie die Augen gesenkt.

»Befehlen die gnädige Frau, daß ich auch die Lampen vor den Spiegeln anstecke?«

»Es ist nicht nötig. Wir werden doch gleich zu Tisch gehen. Ist der Herr schon oben?«

[3] »Ich glaube, er ist noch im Laboratorium. Soll ich ihn rufen?«

»Er wird schon kommen, wenn er fertig ist.«

Malwine war gegangen, wieder mit den niedergeschlagenen Augen.

»Verdammt!« murmelte Arno durch die Zähne.

Die schönste Gelegenheit, endgültig mit ihr zu brechen, durch das Hereinplatzen des dummen Frauenzimmers verpufft! Nun würde der Tanz ein nächstes Mal von neuem beginnen. Jetzt konnte er wirklich nicht mehr gut fort.

Er hatte wieder angefangen, mit seinen langen Schritten im Zimmer hin und her zu gehen, an ihr vorüber, die mit gefalteten Händen regungslos stand, ihn scheu beobachtend.

»Ich bitte dich, Arno, verzeih mir! Ich war nervös, abgespannt. Diese Frühlingsstürme – sie haben mir immer so zugesetzt, schon, als ich noch ein Kind war.«

»Unsinn! Frühlingsstürme! Du hast zu viel geraucht in dieser stickigen, gräßlichen Patchouliluft; da müssen die stärksten Nerven zum Teufel gehen. Und eine Injektion hast du dir jedenfalls auch wieder gemacht, trotzdem ich es dir streng verboten habe.«

»Ich will alles thun, was du willst; alles lassen: Rauchen, Patchouli, Morphium – alles, wenn du mir nur wieder gut bist.«

Ihre sonst harte und scharfe Stimme klang beinahe weich. Es rührte ihn nicht; ärgerte ihn nur. Nun wurde die Sache ins Sentimentale hinübergespielt. Er kannte das. Und wie lange es vorhielt.

»Ja, ja!« sagte er.

[4] Und dann, von ihr abgewandt, mit dem Blick auf das Porträt des Hausherrn, das aus dem breiten, goldenen Rahmen durch die große goldene Brille irgendwohin ins Zimmer lächelte: »Du sagtest vorhin: er traue uns nicht mehr? Wie kommst du darauf?«

Es hatte ihr bereits leid gethan, daß sie es gesagt. Sie hätte wissen sollen, wie er es aufnehmen und sofort »einen weiteren Grund, sich zu trennen« daraus machen würde. Es galt, sich so gut es ging, herauszureden.

»Ich bin vielleicht zu ängstlich,« sagte sie. »Mein Gott, in einer solchen Lage wird man mit der Zeit ängstlich. Es ist auch wohl nur wegen Malwine.«

»Was ist mit ihr?«

»Sie ist in der letzten Zeit so frech.«

»Das ist sie immer gewesen.«

»Nicht so, wie jetzt. Sie erlaubt sich Dinge –«

»Welche zum Beispiel?«

»Ich kann da nicht so ins Detail gehen; du mußt mir schon glauben. Eine Frau hat für so etwas scharfe Augen.«

»Du hast mir nicht einmal, sondern ich weiß nicht wie oft gesagt, daß du dich auf die Person völlig verlassen könnest; du ihrer absolut sicher seiest.«

»Ich war es auch; glaubte auch, es sein zu dürfen.«

»Und wenn sie jetzt die Verräterin spielen wollte – was weiß sie denn schließlich? Was hätte sie denn zu verraten? Gar nichts.«

»Gar nichts? Aber Arno!«

»Weshalb hast du sie da nicht längst weggeschickt?«

»Damit sie in der Stadt umherläuft und mich verklatscht? Oder nun wirklich sich hinter Gustav steckt und mich vollends unglücklich macht?«

[5] Sie hatte sich an den Tisch vor dem Sofa gesetzt, die Ellbogen aufgestemmt und das Gesicht in die flachen Hände gedrückt. Ihr Busen hob und senkte sich schnell; der Atem ging schwer. Entweder weinte sie wirklich, oder die Imitation war sehr gelungen. Arno nahm das letztere an: er hatte sie noch nie weinen sehen und sie unter die Frauen rubriziert, die nicht weinen können. Woher sollte ihr plötzlich die Fähigkeit dazu gekommen sein? Ein satirisches Lächeln zuckte um seinen Mund, in seinen Augen.

»Vollends ist gut,« sagte er, »sehr gut. Der Löwenanteil des Unglücks bis dahin kommt dann wohl auf meine Rechnung? Ja, meine Beste, da weiß ich wirklich keinen anderen Rat, als daß wir –«

Er hatte sehr schnell gesprochen, um das letzte Wort gesagt zu haben, bevor Herr Siebold, dessen tänzelnden Schritt durch das Speisezimmer er hörte, eintreten konnte. Aber er gelangte nicht dazu. Die Thür wurde geöffnet und Loras Gatte stand auf der Schwelle.


* * *


»Guten Abend! Das ist schön von Ihnen, Doktor –«

Er unterdrückte einen leichten Hustenanfall und starrte, immer noch auf der Schwelle, nach der Rauchwolke, die über der hochstenglichen Lampe in verschiedenen, fein grau in grau abgetönten Schichten lagerte.

»Treten Sie näher, lieber Siebold! Thun Sie ganz als ob Sie zu Hause wären!« sagte Arno mit einem sarkastischen Lächeln.

»Sehr gut! Sehr gut!« rief Herr Siebold. »Aber nehmt es mir nicht übel –«

[6] »Sie haben ganz recht,« sagte Arno; »das Rauchen ist ein gräuliches Laster. Aber wenn Sie die Thür nicht zumachen, haben Sie den Rauch hernach auch im Speisezimmer.«

»Freilich, freilich!«

Herr Siebold war nun doch völlig eingetreten, hatte die Thür hinter sich zugezogen und kam mit den kleinen Schritten auf seine Frau zu, der er galant die Hand küßte, um dann den Doktor zu begrüßen.

»Schon lange hier, Doktor?«

»Ein Stündchen vielleicht. Sie hatten noch unten zu thun?«

»Ein paar Analysen –«

Und dann dicht an Arno herantretend, sich möglichst zu dessen Höhe hinaufreckend, im Flüsterton:

»Diabetes!«

»Kollege Hannemann?«

Herr Siebold nickte.

»Nichts gefunden? Natürlich.«

Der Apotheker schüttelte den Kopf.

»So finden Sie doch gelegentlich was! Der Mann macht sich ja lächerlich mit dem Teufel, den er überall an die Wand malt, und der so selten kommt.«

»Was wollen Sie, Doktor! Er hat nun einmal nicht Ihren Scharfblick, Ihre feine Diagnose. Er will sicher gehen.«

»Und Klappern gehört zum Handwerk.«

Arno hatte sich zu Lora gewandt, die sich am Sofatisch in einen Fauteuil geworfen hatte und die Nägel ihrer zusammengekrümmten rechten Hand aufmerksam zu betrachten schien.

[7] »Verzeihen Sie, schöne Frau! Sie wissen, wenn zwei Auguren sich begegnen –«

»Zu viel Ehre!« rief Herr Siebold. »Ein hochgelahrter Doktor, der längst Universitätsprofessor sein müßte, und ein armer unwissender Apotheker!«

»Wissen Sie, was Goldschwefel ist?«

»Aber, Doktor!«

»Nun, ich wußte es im Staatsexamen nicht. – ›Können Sie mir sagen, Herr Doktor, wieviel Prozent Gold im Goldschwefel enthalten sind?‹ – Ich hatte keine Ahnung von Goldschwefel, geschweige denn von dem etwaigen Goldprozentsatz. Sag irgend etwas, dachte ich. – ›Ein achtel bis ein viertel Prozent, Herr Geheimrat.‹ – ›Da können Sie ein gutes Geschäft machen, Herr Doktor. Wir anderen Chemiker und Pharmakologen nennen diese Verbindung des Antimons mit Schwefel – der lateinische Name, der Sie vielleicht interessiert, ist: Stibium sulfuratum aurantiacum – nur so wegen ihrer Orangenfarbe. Ich empfehle Ihnen das Präparat als Expektorans bei Katarrh und kroupöser Pneumonie. Armen Kranken können Sie ja dann die von Ihnen gewonnenen achtel bis viertel Prozent Gold extra geben.‹ – Der Mann hatte mich reinfallen lassen wollen. Urteilen Sie selbst, ob es ihm gelungen ist!«

Arno hatte die Anekdote in seiner gewohnten trockensarkastischen Weise erzählt. Herr Siebold wußte wieder einmal nicht, ob dies nun Ernst oder Spaß sei. So begnügte er sich mit einem unbestimmten Lächeln. Lora besah sich noch immer ihre Fingernägel.

Malwine öffnete die Thür zum Speisezimmer.

[8] »Gott sei Dank!« rief Herr Siebold. »Ich habe einen Riesenhunger. Wollen Sie meiner Frau den Arm geben, Doktor? Verzeihen Sie, wenn ich vorangehe! Ich will nur noch schnell sehen, ob Malwine den richtigen Wein –«

Der kleine Mann war verschwunden; Arno an Lora herangetreten.

»Wenn er denn schon nichts merken soll, rate ich dir dringend, ein anderes Gesicht zu machen.«

»Sie sah zu ihm empor mit beinahe feindlichem Blick: »Es ist ja doch das letzte Mal, daß du hier bist.«

»Dann hättest du erst recht Ursache, eine freundliche Miene aufzusetzen. Sei nicht kindisch! Komm!«

Er hatte sie am Arm ergriffen und fast gewaltsam in die Höhe gezogen.

»Arno, liebst du mich wirklich nicht mehr?«

»Unsinn! Natürlich liebe ich dich. Komm!«

Sie hing sich in seinen Arm, legte für einen Moment den Kopf an seine Schulter und ließ sich von ihm in das Speisezimmer führen. Malwine hatte den richtigen Bordeaux aufgestellt, der aber mindestens zwei Grad unter der gehörigen Temperatur war. Auf die Leute, auch die besten, sei eben kein Verlaß!

Von dem im Salon geflüsterten Gespräch hatte Herr Siebold offenbar nichts gehört; auch Malwine nicht, die eben erst wieder mit dem gewärmten Wein zur Thür hereinkam.


* * *


Wie oft während dieser letzten zwei Jahre hatte Arno in demselben Zimmer, an demselben Tische, an demselben Platz zwischen Lora und ihrem Gatten gesessen [9] zu derselben Abendstunde! Sich gegenüber an der Wand dasselbe Bild: eine Kopie des Sposalizzio, die ein befreundeter Kunsthändler Herrn Siebold zu seiner Hochzeit geschenkt hatte! Selbst die Gespräche waren so ziemlich immer dieselben gewesen, oder hatten doch kaum mehr variiert, als die aufgetragenen Speisen und Weine, nur daß diese in ihrer Qualität stets als mustergültig gelten konnten, was von den Gesprächen zu behaupten eine schamlose Übertreibung gewesen wäre. Führte doch Herr Siebold beinahe immer allein das Wort! Wenn zwei ineinander verliebt sind, pflegen sie zu dritt nicht sehr mitteilsam zu sein, besonders wenn der dritte der Gatte ist, und den man bei guter Laune erhalten will und muß; und den man nur sprechen zu lassen, immer nur sprechen zu lassen braucht, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Laßt doch das Männchen plappern, wie die alte Uhr an der Wand in ihrer Kapuze aus Ebenholz ticken, ticken, ticken! Wer hört darauf! so lange man verliebt ist! Aber wenn man es nicht mehr ist, nur noch aus Gewohnheit kommt, aus Gewohnheit dasitzt, ißt, trinkt; man sich vorher wieder einmal auf Tod und Leben gezankt hat; sie das prophetische Wort gesprochen hat: es ist doch das letzte Mal, daß du hier bist! ohne zu ahnen, wie prophetisch es war – nun, bei allen Teufeln, dann hört man jedes Wort des Plappermännchens, jedes Ticktack der Uhr und muß an sich halten, das Glas Rotwein, das Plappermännchen eben gefüllt hat, ihm nicht über die blonde Perrücke zu gießen und dem Ebenholz-Kapuziner die Flasche an den Kopf zu werfen!

So nagten Grimm, Überdruß, Langeweile an Arnos Herzen, während er mechanisch aß und trank und zwischendurch [10] immer hastiger Brotkügelchen drehte, die er, wenn sie fertig waren, krampfhaft zwischen den Fingern zerdrückte. Lora stand böse Pein aus. Die flehentlichen Blicke, die sie auf ihn richtete, so oft sie sich von ihrem Manne unbeachtet wußte, wollte er nicht sehen, nicht verstehen. Mehr als einmal hatte sie die holde Gewohnheit der ersten Liebeszeit wieder hervorgesucht und ihren Fuß schüchtern auf seinen Fuß gesetzt – sein Fuß blieb unbeweglich. Sie war dem Weinen nahe. Dann hatte sie das Gefühl, daß sie unbedingt in der nächsten Sekunde aufspringen und ihm um den Hals fallen – nein! nein! an der langen, dürren Kehle packen und erwürgen müsse. Und dann lächelte sie blödsinnig zu einem Scherz, den ihr Mann gemacht und von dem sie kein Wort verstanden hatte, der aber doch sehr gut sein mußte, da er sein kurzes, meckerndes Lachen hören ließ und ihr durch die großen Brillengläser mit den kleinen, blaßblauen Augen zuzwinkerte.

Herr Siebold war in der allerbesten Laune. Zweifellos war er heute abend geistreicher, als je; da konnten Lora und der Doktor freilich nichts Besseres thun, als stumm zuhören. Ja, ja! Gustav Siebold! Wenn der seinem Affen einmal Zucker gab! Es geschah nicht oft. Aber wenn es geschah! Der Doktor! Nun ja, er war ein feiner Kopf. Der feinste in ganz Uselin, sagten die Leute. Nur daß einer vielleicht doch noch ein bischen feiner war. Und Lora war die Frau, das zu begreifen, wenn sie auch den schönen Takt besaß, es sich nicht merken zu lassen, um den Doktor nicht zu beschämen!

»Doktor, Sie sollten wirklich noch ein Glas von diesem Margaux trinken. Grand vin! Schloßabzug![11] Achtzehnhundertdreißiger! Dem großen Cholerajahr! Ich hab' ihn noch von meinem Vater selig im Keller. Die Bescheidenheit verbietet mir zu sagen, was die Flasche jetzt wert ist.«

»Ich danke. Ich habe genug getrunken.«

»Oder vielleicht ein Glas Sekt? Clicquot veuve

»Meinetwegen.«

»Sehen Sie, das ist brav! Das ist auch was für Lora, die mir heute den Kopf gar zu sehr hängen läßt. Übrigens habe ich noch meine besonderen Gründe; meine ganz besonderen. Malwine! Malwine!«

Er war mit kurzen Schrittchen Malwinen entgegengelaufen, die eben auf sein Klingeln in das Zimmer getreten war. Während er ihr an der Thür seine Befehle gab, flüsterte Lora, sich zu Arno herüberbeugend:

»Wenn du mich auch nicht mehr liebst, nimm wenigstens ein bischen Rücksicht auf ihn. Wäre er nicht so vernarrt in sich, er müßte es ja sehen. Du hast doch kein Recht, mich bloßzustellen.«

»Es ist wahr: dazu habe ich kein Recht.«

Herr Siebold war wieder an den Tisch getreten, sich vergnügt die Hände reibend.

»Kinder! – Pardon, Doktor! Obgleich ich beinahe Ihr Vater sein könnte – dies ist wirklich famos, wirklich ganz famos.«

»Was haben Sie denn eigentlich?«

»Abwarten, Doktorchen! Abwarten! Es giebt Sachen, die mit Sekt beträufelt werden müssen, wie eine Auster mit Citronensaft.«

Der Sekt war gebracht; Malwine hatte drei Kelchgläser aus dem Büffett genommen und auf den Tisch gestellt.

[12] »Wir wollen uns selbst bedienen,« sagte Herr Siebold herablassend, während er die entkorkte Flasche in ihrem Eiskübel drehte.

»Na, Siebold, nun schießen sie endlich einmal los!«

»Festina lente! Doktor! Festina lente

Er hatte die Gläser gefüllt, hielt das seine empor und rief, jetzt den Doktor, jetzt seine Frau anblinzelnd:

»Ich bitte die verehrten Herrschaften, mir zu gratulieren!«

»Prost!« sagte Arno, sein Glas leerend.

»Aber Sie wissen ja gar nicht, wozu?« rief Herr Siebold ganz verblüfft.

»Zu Ihrer Frau; wozu sonst?« sagte Arno, das geleerte Glas hinhaltend. »Oder aber: Sie haben die Million nun glücklich beisammen.«

Der Apotheker lachte geschmeichelt.

»Eine solche Frau und eine Million, das wäre zu viel für einen gewöhnlichen Sterblichen, wie ich. Meine Frau freilich – die spielt in der Angelegenheit eine große, richtiger gesagt: die entscheidende Rolle. Ja, ja, liebe Lora! Es kommt nur noch auf dich an – auf deine Entscheidung – ob du Frau Rittergutsbesitzerin sein willst, oder nicht.«

Lora, die bis dahin den Vorgängen und Reden nur zerstreut zugesehen und zugehört hatte, richtete die hohe Gestalt plötzlich auf; die großen apathischen Augen belebten sich.

Siebold hatte sich wieder zu Arno gewandt.

»Sie müssen wissen, Doktor, meine Frau ist die Bescheidenheit selber. Wünscht sie sich aber mal was, so muß es gleich was ganz Großes sein.«

[13] »Charakteristischer Zug aller bedeutenden Menschen,« murmelte Arno.

»Nicht wahr? Nun, von jeher – so lange ich die Ehre und die Freude habe, sie zu kennen und zu lieben, – war ihr sehnlichster Wunsch, ein Gut ihr eigen nennen zu dürfen.«

»Dann hätte ich ja nur einen Gutsbesitzer zu heiraten brauchen,« sagte Lora mit einem hoheitsvollen Lächeln.

»Gewiß,« sekundierte Arno, »in Sundin wimmelt es von Gutsbesitzern und Gutsbesitzerssöhnen, denen das schönste Mädchen gerade recht ist.«

Lora warf ihm einen dankbaren Blick zu.

Siebold war etwas aus dem Text gebracht. Er hätte gern angedeutet, daß die Landherren, die allerdings viel in Sundin verkehrten, gewiß nichts gegen schönste Mädchen hätten, vorausgesetzt, daß sie reich seien – etwas, das man von Lora doch sicher nicht habe sagen können. Aber an einen so zarten Punkt durfte er natürlich nicht rühren.

»Wenn die Herrschaften mich fortwährend unterbrechen –« sagte er empfindlich, »werde ich wohl nie zu Ende kommen.«

»Machen Sie's kurz! Sie haben gekauft. Ist es Boltenhagen? Sie sprachen schon im Winter davon.«

»Damals lag die Sache noch im weiten Felde. Bath wollte nicht recht heran; forderte auch zu viel.«

»Und nun seid ihr handelseinig.«

»Noch nicht ganz. Eine Differenz von nebenbei zwanzigtausend. Aber nach dem Skandal von voriger Woche –«

[14] »Welchem Skandal?«

»Ja, mein Gott, man kann das in Gegenwart einer Dame kaum erzählen – na, liebe Lora, du mußt entschuldigen – wir sind ja schließlich auch ganz unter uns. Also! Die Ehe war nie gerade glücklich. An der Differenz der Jahre kann es nicht gelegen haben. Die ist gar nicht so groß, oder doch nicht viel größer als zwischen mir und Lora. Aber sie war ein adliges Fräulein – eine geborene Baroneß Bresekow – sie sind so arm wie die Kirchenmäuse, die Bresekows; dafür entsetzlich hochmütig – Bath hatte das Gut nur ihrethalben gekauft, weil sie von Kindesbeinen an auf dem Lande gelebt hatte. Er selbst verstand von der Wirtschaft gar nichts, oder doch nicht mehr, als ein Holzhändler im Vorübergehen lernen kann. So mußte er sich auf die Inspektoren verlassen, wobei er nicht zum besten gefahren zu sein scheint. Am meisten machten ihm die Volontäre zu schaffen, deren immer einer oder mehrere auf dem großen Gute waren.«

»Wieso zu schaffen?« fragte Arno, wieder ein Brotkügelchen knetend.

Siebold errötete und warf einen schnellen Blick auf seine Frau.

»Na,« sagte er, »ich sehe schon, es geht nicht anders: ich muß mit der Sprache heraus, wenn ihr beiden unschuldigen Menschen mich verstehen sollt. Lieber Himmel! Frau Bath ist doch eigentlich noch sehr jung; Volontäre pflegen auch nicht alt zu sein – und – und Jugend hat keine Tugend –«

»Aber, Siebold,« sagte Arno, »sollte das Thema nicht wirklich in Gegenwart Ihrer Frau –«

[15] »Fürchten Sie nichts!« rief Siebold, die rechte Hand abwehrend erhebend; »ich werde mich der größten Diskretion befleißigen; und so etwas ganz Schlimmes habe ich auch nicht zu berichten – Gott sei Dank! Verschweigen darf ich freilich nicht, daß, als Herr Bath, seine Frau und der junge Volontär von Schuchtritz – er war zur Zeit der einzige und die beiden Inspektoren waren schon aufgestanden – neulich abends noch bei Tische sitzen –«

Siebold räusperte sich und wurde bis an die blonde Perücke rot.

»Sie spannen mich auf die Folter!« rief Arno.

»Ich will doch lieber hinausgehen,« sagte Lora, das Dessertmesser, mit dem sie gespielt hatte, auf den Tisch legend.

»Nein, nein!« rief ihr Gatte. »Bleib'! Es ist wirklich nicht so schlimm. Die Sache ist: nicht weit von dem Tisch, an dem die drei saßen, war ein großer Trumeau, der bis unten auf den Teppich herabreichte. Wie Bath nun zufällig den Blick nach der Seite richtet, sieht er, daß der junge von Schuchtritz den Fuß von seiner Frau auf seinem Fuß – na ja! – tanzen läßt.«

Arno und Lora blickten einander für einen Moment starr in die Augen. Konnte er es gesehen haben? War dies ein avis aux amants? Aber der Mann, wie erschrocken über seine Kühnheit, lächelte so verschämt, das Stumpfnäschen in sein Glas steckend – nein! hier drohte keine Gefahr.

Und nun kam ihnen die Komik der Sache zum vollen Bewußtsein: Lora brach in Gelächter aus; Arno lächelte in seinen Bart. Siebold sah verwundert auf seine Frau.

»Warum lachst du?«

[16] »Daß du dir so was aufbinden läßt! So was ist doch ganz unmöglich.«

»Bitte! Meine Quelle ist sehr sicher. Was sagen Sie, Doktor?«

»Entschuldigen Sie mich! Ich bin in solchen Dingen völlig inkompetent.«

»Mein Gott,« rief Siebold ganz verzweifelt; »ich sehe, ich komme hier in den Geruch eines Menschen, der sich frivole Geschichten ausdenkt! Und es ist doch alles buchstäblich wahr.«

»Nehmen wir es an, wie traurig es auch ist,« sagte Arno mit einem Ernst, der Loras Gelächter beinahe wieder entfesselt hätte. »Und was geschah nun weiter? Was that Herr Bath?«

»Er ist ganz ruhig vom Tisch aufgestanden, in sein Zimmer hinaufgegangen und hat ein Billet an den jungen von Schuchtritz heruntergeschickt: in einer Stunde würde ein Wagen vor der Thür halten und er möchte gefälligst zu seinen lieben Eltern zurückkehren.«

»Bravo! Das nenne ich mir einen vernünftigen Mann! Und die Frau?«

»Die hat er am nächsten Tage zu ihren lieben Eltern nach Sundin geschickt.«

»Bravissimo! Und nun will er das Gut à tout prix verkaufen?«

»Wenn es à tout prix wäre! Ich sagte Ihnen ja: es ist da noch eine Differenz, eine schlimme Differenz. Hunderttausend Thaler gebe ich! Nicht einen Groschen mehr.«

»Das steht nun kaum noch in Ihrem Belieben.«

Siebold starrte den Doktor fast erschrocken an.

[17] »Nicht in meinem Belieben? Warum denn nicht?«

»Weil man einer so liebenswürdigen Frau nicht einen von ihr längst gehegten Wunsch in nächster Erfüllung zeigt, um ihr dann zu sagen: es wird doch nichts daraus.«

»Aber, lieber Doktor! eine Differenz von zwanzigtausend Thalern!«

»Die Bagatelle! Lächeln Sie nicht, Mann! Als wollten Sie sagen: was weiß so ein armer Teufel, wieviel zwanzigtausend Thaler sind! Sie haben ja so recht! Ich habe noch niemals tausend auf einmal auszugeben gehabt, geschweige denn zwanzigmal so viel; werd's auch wahrscheinlich im Leben nicht haben. Aber Sie! Wetter! Mit Ihrem Gelde und mit einer solchen Frau! Noblesse oblige! Wissen Sie, Herr, was das heißt! Also, schöne Frau, ich gratuliere!«

Er hatte sein Glas Lora hingehalten; sie stieß mit ihm an; aber ihr Blick war nicht auf ihn gerichtet, sondern über den Tisch hinüber auf ihren Gatten – ein gespannter, lauernder, angstvoller Blick, der Arno unsäglich häßlich dünkte zusammen mit dem Zug um den Mund, dessen Winkel nach unten gezogen waren wie die Zipfel einer Börse. Ja, das war sie, die sich der Karikatur von einem Manne da verkauft hatte, weil die anderen Freier anfingen auszubleiben, und eine Million eine so schöne Sache ist, für die man nach Umständen willig den pflichtschuldigen Tribut zahlt! – Hölle und Teufel!

»Und auch Ihnen, lieber Freund,« fuhr er fort, sich zu Siebold wendend, der wie ein ertappter Verbrecher zusammenzuckte und die verliebt auf seine Frau [18] starrenden Augen schleunigst niederschlug. »Es war wirklich die höchste Zeit, daß Sie sich auf sich selbst besannen, ich meine: was Sie selbst sich schuldig sind. Ihr Vater – nun ja, er hat klein begonnen – ein dunkler Ehrenmann, um mit Goethe zu sprechen; aber Geld zu machen verstand er aus dem Grunde; und Sie wurden schon reich geboren, um so reicher, als Sie der einzige blieben. Weshalb in aller Welt wollten Sie sich nun so weiter quälen und für Kollege Hannemann resultatlose Analysen machen! Wenn ich es recht bedenke: Sie sind der geborene Landmann; jeder ordentliche Apotheker ist es. Chemie, lieber Freund! Was ist denn die Landwirtschaft anders als angewandte Chemie? Sie sind ein anderer Kerl als der Kommerzienrat drüben. Ein Gut nach dem anderen kaufen – Kunststück, wenn man das Geld dazu hat! Aber selbst wirtschaften können! In Stulpenstiefeln auf dem Sturzacker! Zu Pferde, daß die Funken stieben! Mit Vieren vorm Wagen, an der Seite die schöne Frau, hinein in die Stadt, daß die Fenster klirren! Nein, nein, sagen Sie mir nichts! Oder wollen Sie etwa behaupten, Sie wüßten mit den Knechten nicht umzugehen? Lächerlich! Zittern werden die Kerls vor Ihnen! Oder den Inspektoren? Fliegen werden sie auf Ihren leisesten Wink, wie Tauben, in die der Habicht stößt! Den Volontärs? Herr, heißen Sie Bath? Sind Sie ein Holzhändler? Brauchen Sie Spiegel, um hinter die Untreue einer Frau zu kommen? Einer Frau! Welcher Frau? Einer, die Untreue höchstens von Hörensagen kennt, ohne in ihrem unschuldsvollen Gemüt zu wissen, was sie sich dabei denken soll! O, Sie Glücklichster unter den Sterblichen! Sie Gebenedeite unter[19] den Frauen! Möge der Himmel der Ehe sich stets wie heute krystallklar wölben über euch! Möget ihr euch so weiter lieben mit der Liebe der Engel! Möget ihr stets von Freunden umgeben sein, die kein anderer Wunsch beseelt, als zu euerem Glücke beizutragen! Möge nie die Schlange in Gestalt eines flaumbärtigen Volontärs in euer Paradies schleichen! Oder, wenn's geschieht, vergessen Sie den Landmann! Werden Sie wieder Apotheker! Rektifizieren, raffinieren, destillieren Sie den Burschen, den Homunkulus, bis er in einer Phiole Platz hat, nicht größer als dies Glas! Das Sie dann nehmen und es an die Wand –«

Schon mitten in seiner tollen Rede hatte er die lange dürre Gestalt vom Stuhle gehoben und die letzten Worte immer schneller und schneller mehr geschrieen als gesprochen, wobei er mit den Armen in der Luft herumfuchtelte, in der rechten Hand das Glas, aus dem der Wein herumspritzte, und das er im Schwunge über Herrn Siebolds Kopf an die Wand schleudern zu wollen schien. Anstatt dessen sagte er mit plötzlich völlig ruhiger Stimme: »Prost!« schlürfte bedächtig die letzten Tropfen aus; nahm wieder Platz und lächelte seinen Wirten freundlich in die verdutzten Gesichter.

»Bravo! bravo!« stöhnte Herr Siebold, der ganz blaß geworden war.

Lora sagte nichts. Sie hatte schon das Schlimmste befürchtet: das Glas an Gustavs Kopf zersplittern sehen; und bebte heimlich an allen Gliedern.

Da nun auch der Doktor in Schweigen versunken war, lag eine peinliche Stille auf der noch eben so lauten kleinen Gesellschaft, zur Verwunderung Malwinens, [20] die eben hereinkam, dem Herrn Doktor ein Billet zu bringen: vom Herrn Kommerzienrat; der Diener sei schon in der Wohnung des Herrn Doktor gewesen, von wo man ihn hierher geschickt habe.

»Sie verzeihen!« sagte Arno, das Billet öffnend.

»Empfehlung an den Herrn Kommerzienrat! Ich würde sofort kommen.«

»Wie schade!« murmelte Lora.

»Jammerschade!« sekundierte ihr Gatte.

»Ja, lieben Freunde, das ist nun nicht anders. Na, also:


Viel schönen Dank

Für Speis' und Trank!

Und werde euch die Nacht nicht lang!


Prost!«

Er hatte sich den Rest aus der Flasche in sein Glas geschenkt, es ausgetrunken, sich erhoben und war, ohne auf Siebolds Frage: ob es der Kommerzienrat selber sei? zu antworten, zur Thür hinaus.

Die beiden Gatten blickten einander an.

»Verstehst du das?« fragte Siebold.

Lora zuckte die Achseln:

»Er war betrunken. Was sonst?«

»Es ist entsetzlich.«

»Sie sagen ja: er ist jetzt immer halb betrunken.«

»Ein abscheuliches Laster,« murmelte der Gatte, der zu seinem Schrecken bemerkte, daß er selbst keineswegs mehr fest auf seinen Beinen stand. Wollen wir zu Bett gehen, Lora?«

»Wie du willst.«


* * *


[21] Über den kleinen Platz, an dem das Sieboldsche Haus und das des Kommerzienrats sich schräg gegenüberlagen, fegte der Wind von der offenen Wasserseite her. Durch graugelbe Wolkenfetzen jagte der beinahe halbe Mond, jetzt fast gänzlich verschwindend, jetzt in blendender Klarheit hervortretend, um sofort wieder, wie in tollem Übermut, gegen die Dunstmassen anzurennen, in sie hineinzuschießen. Die Masten der Schiffe und Boote im Hafen schwankten hinüber und herüber; Arno konnte deutlich das Knarren und Knacken hören.

Wie wohl das alles that!

Er stand mitten auf dem Platz und ließ sich den Wind um die Ohren knattern. Nicht einmal den Paletot hatte er zugeknöpft; selbst den Hut hatte er abgenommen und strich sich durch das kurze, krause Haar, als sollte der Wind bis auf die Schädelhaut dringen. Heiß genug war's darunter. Und dann, wenn es die Frau Kommerzienrätin war – Siebold, der seine Leidenschaft kannte, gewährte großmütig nach Tisch die Cigarre; und er hatte zwei oder drei hintereinander geraucht. Das mußte erst ein bißchen aus dem Haar und aus den Kleidern.

Dann war er in das stattliche Haus getreten, auf dessen erleuchtetem Flur der alte Diener bereits auf ihn wartete.

»Wer ist es, Ludwig?«

»Der junge Herr, Herr Doktor.«

»So, so! Seit wann?«

»Schon seit ein paar Tagen, Herr Doktor. Aber heute Abend ist es schlimmer geworden.«

»Frau Kommerzienrat ist bei ihm?«

[22] »Nein, Herr Doktor, der Herr selbst. Frau Kommerzienrat sind nach Sundin zu unserm Fräulein.«

»So, so! Bleiben Sie nur hier, Ludwig; ich weiß ja Bescheid.«

Arno stieg die breite Treppe hinauf zum oberen Flur, wandte sich dort links in einen schmaleren Korridor, wo er leise an die dritte Thür klopfte, um dann, ohne eine Antwort abzuwarten, einzutreten.

An dem Bett des jungen Patienten saß der Kommerzienrat, der sich nun erhob und ihm entgegenkam.

»Verzeihen Sie, lieber Doktor, die späte Störung! Hoffentlich hat es nichts zu bedeuten. Aber meine Frau ist nicht zu Hause – in Sundin – und Sie wissen: die Verantwortung –«

»Aber selbstverständlich, Herr Kommerzienrat. Wollen Sie mir erlauben!«

Er hatte sich auf den Stuhl neben dem Bett gesetzt, den Kranken beobachtend, der im unruhigen Halbschlaf lag.

Der junge Mann war in den beiden letzten Jahren schon wiederholt sein Patient gewesen, immer an derselben leichteren oder schwereren Affektion der Bronchien, welche von jeder, auch nur geringen Erkältung hervorgerufen wurde und auf ihrer Höhe ein mehr oder minder starkes Fieber zur Begleiterscheinung hatte. Es verhielt sich auch diesmal nicht anders. Schon nach wenigen Minuten konnte er das mit Bestimmtheit dem Vater versichern, der nun von dem alten Diener abgelöst wurde, während er selbst den Doktor in sein Privatkabinett hinter dem großen Kontor geleitete.

»So!« sagte Arno, sich von dem mit sorgfältig geschichteten Akten und Papieren bedeckten Tisch, an welchem [23] er ein Rezept geschrieben, auf dem ledernen Sessel umdrehend. »Das wird ihm Erleichterung verschaffen. Im übrigen kann ich nur wiederholen: zu Sorge ist auch nicht die mindeste Veranlassung.«

Der Kommerzienrat hatte an einer Klingelschnur gezogen. Ein jüngerer Diener, der alsbald erschienen war, wurde mit seinem Auftrage weggeschickt. Arno wollte sich ebenfalls entfernen.

»Wenn Sie noch eine Minute Zeit hätten, Doktor!«

Arno nahm wieder Platz, während der Kommerzienrat sich einen Fauteuil heranzog.

»Sie sagen, lieber Doktor, zu Sorge ist keine Veranlassung. Ich habe das größte Zutrauen zu Ihnen, das wissen Sie. Aber diese Anfälle wiederholen sich jetzt so oft; und vom Regiment haben sie Georg doch auch nach einem halben Jahr zurückgeschickt.«

»Ich hätte ihn gar nicht genommen; er hat knapp die Brustweite.«

»Das ist es! Und in der Familie meiner Frau steht es nach dieser Seite man schwach. Sie haben da oben am Rhein nicht unsere pommerschen Brustkasten. Die Schwester meiner Frau ist an einer Lungenentzündung gestorben.«

»Was jedem passieren kann, Herr Kommerzienrat. Übrigens ist ihre Frau Gemahlin völlig frei von dem Erbfehler, wenn es denn wirklich einer ist. Die Frau Kommerzienrat ist nach Sundin?«

Der Doktor wollte von dem Thema abbrechen; Herr Moorbeck empfand das sofort, und daß es unschicklich sei, den geplagten Mann mitten in der Nacht mit einer Familienkrankheitsgeschichte zu behelligen.

[24] »Ja,« sagte er, »wegen Alexe. Fräulein Volkmar möchte das Kind noch gern ein halbes Jahr behalten. Sie selbst will nach Haus. Nun soll die Mama entscheiden. Aber ich darf Sie nicht länger aufhalten. Sie werden schon bös genug sein, daß ich Sie um Mitternacht aus dem Bett habe holen lassen.«

»Von diesem Attentat gegen meine nächtliche Ruhe kann ich Sie dispensieren. Ich war den ganzen Abend drüben bei Siebolds. Ludwig hat mich von da geholt.«

»Wie geht es der schönen Frau?«

»Danke. Sie langweilt sich, glaube ich. Wie immer.«

»Na, Doktor, offen gestanden: ich denke mir ein Leben an der Seite des guten Siebold für eine Frau auch gerade nicht interessant. Wenn noch Kinder da wären! Aber so! Und die Dame ist von Haus aus ein wenig verwöhnt.«

»Sie war doch ein armes Mädchen?«

»Nicht immer. Der alte Reimar in Sundin war seiner Zeit ein reicher Mann, ein sehr reicher sogar. Sein Vater und mein Vater hatten den ganzen Kornhandel in Händen: in Mecklenburg, Schwedisch-Pommern, Rügen und hier auf Uselin und Woldom. Und waren scharfe Konkurrenten. Noch ich und der Vater von Frau Siebold, bis das Geschäft sich mehr und mehr hierher wandte. Ein paar sehr verfehlte Spekulationen kamen dazu, und der Krach war fertig. Ich darf sagen: Hake in Sundin, Homeyer in Woldom und ich hier in Uselin haben ihn zu halten gesucht: es war nicht möglich. Er selbst hat es durch seinen Eigensinn unmöglich gemacht. Was ich sagen wollte: Frau Siebold war als Laura Reimar –«

[25] »Lora, Herr Kommerzienrat, wenn ich bitten darf!«

»Verzeihung! Ich höre, daß sie sich jetzt so nennt. Als ich sie kannte – ich meine: in Sundin, wohin ich früher öfter kam als jetzt – ich habe sogar, als verheirateter Mann, noch auf den berühmten Ressourcebällen mit ihr getanzt – hieß sie Laura. Sie war die gefeierte beauté von Sundin. Das ist nun übrigens auch schon so ein zehn, zwölf Jährchen her.«

»Sie sagt, sie ist achtundzwanzig –«

»Achtund – Na, Doktor, wir wollen da nicht so genau nachrechnen. Apropos! Kommen Sie morgen zu Siebolds?«

»Ich glaube kaum. Weshalb?«

»Weil ich nicht möchte, daß Ihnen drüben eine gewisse Angelegenheit in einem falschen Lichte dargestellt würde; ich meine, in einer Version, die ein falsches Licht auf mich werfen könnte.«

»Das dürfte in meinen Augen doch kaum möglich sein.«

»Sie sind sehr gütig. Es handelt sich um einen Gutskauf, bei dem Siebold und ich konkurrierten.«

»Boltenhagen?«

»Also wissen Sie schon?«

»Nur daß Siebold auf das Gut spekulierte; er schien seiner Sache sicher zu sein.«

»Man hatte es ihm auch zuerst angeboten. Er wollte den geforderten Preis nicht zahlen. Dann kam man zu mir. Ich kenne das Gut sehr genau; weiß, daß es unter Brüdern so viel wert ist. Nun, Siebold zu schonen, habe ich gar keine Veranlassung. Welche Chicanen haben er und Ihr Kollege Hannemann mir vor fünf Jahren bei der Gründung unseres Krankenhauses[26] gemacht! Dennoch ließ ich ihm durch den Agenten sagen, ich würde eventuell zurücktreten. Er scheint geglaubt zu haben, daß es mir nicht ernst mit der Sache sei; feilschte und feilschte, bis man es auf der anderen Seite satt hatte und nochmals zu mir kam. Da habe ich denn heute abgeschlossen. Hätten Sie anders gehandelt?«

»Herr Kommerzienrat, ich glaube, die landläufige Portion Phantasie zu haben; aber mich in die Lage jemandes zu versetzen, der Güter für Hunderttausende von Thalern kauft, geht über meine Kraft.«

»Na, das wird auch noch kommen, wenn wir erst Dirigent eines großen Krankenhauses in Berlin sind, anstatt unseres piccolissimo hier. Wieviel Betten haben wir denn jetzt belegt?«

»Sechzehn. Lauter leichtere Fälle. Die Leute sterben lieber in ihren Spelunken, als daß sie zu uns kommen.«

»Ja, ja! Es sind Dickschädel hier an der Wasserkante. Aber ich darf Sie wirklich nicht länger aufhalten.«

»Ich komme morgen wieder vor. Wenn ich über Land müßte, schicke ich Radloff.«

»All right, wenn es denn doch nichts zu sagen hat.«

»Durchaus nicht. Gute Nacht, Herr Kommerzienrat!«

»Gute Nacht, lieber Doktor! Schönen Dank!«

»Keine Ursach!«


* * *


Der Kommerzienrat hatte Arno bis auf den Flur begleitet. Draußen hatte es vorhin heftig geweht, jetzt stürmte es. Als Arno über den Platz ging, mußte er wiederholt stehen bleiben, sich gegen die gewaltigen Stöße zu stemmen. Von dem Mond, der schon weit nach Westen [27] gerückt war, kam nur selten eine spärliche Helle, die sofort wieder verschwand. Auf den Häusergiebeln kreischten die Wetterhähne; alle Augenblicke krachte ein Fensterladen, oder rasselten Ziegel von den Dächern aufs Pflaster, ein paarmal unmittelbar in Arnos Nähe. Er ließ sich das nicht anfechten; er hatte seine Freude an dem Lärm und Graus. Ja, der Sturm! Der brave Nordost, der hatte es gut! So seine ganze Kraft austoben zu dürfen! Bäume ausreißen, Häuser abdecken, mit den Schiffen Fangball spielen! So einen Kerl an den Schultern packen und ihn schütteln – schütteln, bis ihm die falschen Zähne klappern und die gelbe Perücke von dem kahlen Schädel fliegt! Dieser Golem! Dies Alräunchen! Wenn das Kerlchen vorhin die ganze Geschichte mit dem abgeschlossenen Kauf nicht erfunden hat, bloß, um sich seine Nacht zu sichern, will ich Hans heißen! Aber ihr Gesicht morgen, wenn sie erfährt, daß alles nur pour le roi de Prusse war! Sieboldchen! Sieboldchen, hüte dich! – Halloh!

Dicht hinter ihm war etwas mit einem Knall, der selbst das Pfeifen und Heulen des Sturmes übertönte, auf das Pflaster geschlagen. Sich wendend, sah er im Flackerlicht einer nahen Laterne und beim Schein des Mondes, der für einen Moment durch die jagenden Wolken kam, eine mehrere Ellen lange und breite, platte, dunkle Masse – ein Stück von dem Zinkdach, mit dem linker Hand ein neuer hoher Speicher des Kommerzienrates eingedeckt war.

Arno stieß mit der Fußspitze gegen die Masse:

»Hm!« murmelte er. »Das wiegt unter Brüdern einen Centner mindestens. Zwei Sekunden früher, und [28] ich war ein toter Mann. Schade! So wäre man auf die bequemste Manier alles auf einmal los gewesen. Und brauchte sich nicht weiter zu plagen mit dem verfluchten Einerlei des Daseins und seinen Schulden und Lora, – die eigentlich Laura heißt – Laura ist gut, sehr gut! – Wie der Zufall doch alles an den Tag bringt! Werde sie von jetzt an Laura nennen, wenn ich sie ärgern will. Übrigens scheint mir, daß ich etwas betrunken bin.«

Er hatte es vorhin nicht gespürt und merkte es, als er nun weiter ging, an einer wunderlichen Neigung, von Zeit zu Zeit einen Schritt nach rechts anstatt geradeaus zu machen. Er suchte nach einem ausreichenden physiologischen Grund für diese beständige Tendenz, ohne ihn finden zu können. Das ärgerte ihn. Und daß er sich in letzter Zeit wiederholt in diesem Zustand befunden. Freilich, wenn man in dem Rattennest zuletzt zum Potator würde – ein Wunder wär's nicht.

Nun war er vor seiner Hausthür. Als er bereits aufgeschlossen hatte, hörte er hinter sich über die enge Gasse herüber einen Schritt:

»Herr Doktor!«

Er wandte sich.

Eine große schwarze Gestalt stand vor ihm.

»Wer sind Sie?«

»Lotse Prebrow, Herr Doktor – vom Nedur.«

»Was wollen Sie?«

»Meine Frau hat sich den Arm gebrochen, Herr Doktor – ich glaube ein paarmal; und da wollte ich den Herrn Doktor bitten –«

»Sie sind wohl nicht recht gescheit, Prebrow! Einen Hund jagt man in solcher Nacht nicht auf die Straße. [29] Und da soll ich mit Ihnen in die offene See – Sie sind positiv verrückt. Wie lange stehen Sie denn schon hier?«

»So'n drei Stunden, Herr Doktor. Wir sind noch vor dem Sturm gekommen.«

»Sie haben Ihre Frau mitgebracht?«

»Nein, Herr Doktor: ich und Jochen Lachmund. Lieber Herr Doktor, ich bitte Sie doch so sehr! Wenn Sie nicht mitkommen, – meine arme Frau hält's nicht durch.«

»Ach was! Es stirbt sich nicht so leicht. Übrigens habe ich auch nur ein Leben zu verlieren. Fragt morgen früh wieder vor, wenn's sich möglicherweise ausgestürmt hat! Wir wollen dann sehen. Gute Nacht!«

»Lieber, bester Herr Doktor –«

Arno hatte bereits die Hausthür aufgestoßen. Er wandte sich.

»Zum letzten Mal: lassen Sie mich in Ruh! Und übrigens: warum haben Sie Ihre Frau nicht mitgebracht? Wozu haben wir unser Krankenhaus hier? Damit ihr nicht hineingeht? und der Herr Doktor um eures verfluchten Eigensinns willen ersaufen soll, wie eine junge Katze? Daß der Herr Doktor ein Narr wäre!«

Er hatte die Thür hinter sich zugeschlagen und abgeschlossen. Seine Wirtin hatte wieder einmal vergessen, die Lampe auf den Treppenabsatz zu stellen. Er mußte sich die knarrenden Stufen im völligen Dunkel hinauftasten, wütend über die Nachlässigkeit des Weibes; wütend über seine Brutalität gegen den alten Mann, der noch dazu ein guter Bekannter von ihm war und zu den wenigen Menschen gehörte, die er nicht haßte. Aber in dem Sturm – lächerlich!

[30] Nun hatte er das Vorzimmer durchschritten, in welchem er die Patienten warten ließ, und in seinem Studierzimmer die Lampe auf dem Arbeitstisch entzündet. Er wollte eigentlich zu Bett gehen; aber fühlte, daß er mit dem Alkohol und dem Ärger im Blut doch nicht würde schlafen können. Und stand nun so, die eine Hand aufgestemmt, mit düstern Augen die Papiere musternd, die da vor ihm ausgestreut lagen: beantwortete, unbeantwortete Briefe; Journale; medizinische Broschüren; ein halbfertiger Aufsatz: »Die rationelle Behandlung des Typhus«; ein größeres Konvolut: das Manuskript einer Tragödie in Versen, an der nur noch einige Scenen fehlten.

Er schlug das Heft auf und las auf gut Glück eine Seite. Die Verse kamen ihm seltsam holprig vor; ein paarmal hatte er Mühe, einen Sinn hineinzubringen. Er versuchte es mit einer zweiten, einer dritten Seite – es wurde nicht anders. Mit einem halb unterdrückten Fluch schleuderte er das Heft auf den Tisch. Ein Blatt fiel heraus: der Brief an seinen Freund Fritz. Er hatte ihn gestern abend nicht zu Ende gebracht, weil er zu einem Kranken gerufen wurde. Mechanisch überlas er, was er geschrieben:

»– – Du schreist nach ›historischen‹ Briefen – Briefen, die Thatsachen enthalten, – Thatsachen, die Dir ein Bild von meinem Leben und Treiben geben. Und schiltst mich, daß ich nur immer spekuliere, Gedanken spinne, als schriebe der Mann im Monde die Briefe und nicht Dein irdischer alter Freund, an dessen Schicksal Du doch so innigen Anteil nimmst. – Sehr schön! Und sehr lieb von Dir! Aber wenn mir selbst nun mein Schicksal so völlig gleichgültig ist, wie das der Krähe, [31] die ich draußen von dem Dachevis-à-vis krächzen höre – sie kommt jedesmal um dieselbe Stunde; das greuliche Tier, und thut es nie unter fünf Minuten – wenn ich an meinem Leben würge, würge – und soll das wiederkäuen, wie das Pferd seinen Häcksel – non, mon cher, c'est plus fort que moi.

So weiß ich Dir keinen besseren Rat, als: gieb mich auf! Ist es doch auch genug, daß jeder den eigenen Schlagschatten vor sich her auf seinen Lebensweg wirft. Weshalb zu dem einen Gespenst noch ein zweites, ein richtiges? Wenn ich noch keins bin, ich qualifiziere mich täglich mehr dazu. Es muß doch einen Grund haben, weshalb mich die Menschen oft mit so seltsamen Augen ansehen, besonders die Kinder. Das ist mir sehr aufgefallen. Erwachsene Menschen werden dumm, verlieren die feine Fühlung – der Teufel könnte sie um Feuer bitten, sie würden ihm ruhig die brennende Cigarre hinhalten. Aber die Kinder! Sie und die Hunde! Gestern erst machte ein Köter auf der Straße einen großen Bogen um mich mit eingeklemmtem Schwanz, hängenden Ohren und verdrehten Augen, daß nur noch das Weiße zu sehen war –

Du wirst mich trösten wollen und sagen: das ist das Stück Mephisto, das jeder Mensch in sich hat, und vor dem es den reinen Seelen schaudert. Ganz recht! Jeder! Nur der eine weniger, der andere mehr: zehn, zwanzig, fünfzig Prozent – weiter bringt man's nicht. Ist auch genug. Vielmehr das normale Verhältnis, so daß Mephisto und Faust sich die Wage halten, miteinander ringen können, ohne daß der eine den anderen unterkriegt, bis die beiden Hampelmänner zusammen in einen [32] Sarg gelegt oder an einen Galgen gehenkt werden, wenn sie zufällig in die Seele eines russischen Nihilisten eingesperrt waren. Mir deucht, darin hat es Goethe versehen: sein Mephisto ist seinem Faust zu weit über. ›Her zu mir!‹ Das ist das rechte Wort und der rechte Schluß. Was hinterdrein kommt – es erinnert mich immer an die ›Rettungen‹, welche witzige Gelehrte, um ihr Licht leuchten zu lassen vor den Leuten, an historischen Größen vornehmen, wie Nero, Tiberius und anderen Höllenbraten, an denen schlechterdings nichts zu retten ist.

Überhaupt der Faust! Ich meine nicht das Gedicht als solches. Das ist so schön, daß Schöneres niemals vorher geschrieben ist, noch jemals geschrieben werden wird. Nein! Ich meine den Kerl selbst. Das ist doch, recht besehen, ein trauriger Gesell und für mich ein Beweis: man braucht nur schöne Worte machen zu können, um Männlein und Weiblein, jung und alt, Kluge und Dumme – alle im Sack zu haben. Was denn thut der Mann anderes als schöne Worte ma chen, die wir auf Treu und Glauben hinnehmen sollen? ›Habe nun, ach, Philosophie –‹ Wo denn bewährt er sich als Philosoph? O ja, wenn man einen Phantasten einen Philosophen nennen will! Mit seiner Juristerei und Theologie wird es auch nicht viel weiter her sein. Und was die Medizin betrifft – ich will mich hängen lassen, wenn er so viel davon verstanden hat, wie ein Student im dritten Semester. Was weiter? Er übergiebt sich dem Teufel. Das kann jeder, der dumm genug ist, an ihn zu glauben. Er verführt ein armes, einfältiges, blutjunges Ding von Bürgermädchen, – eine Leistung, in der er mehr Rivalen hat, als einem honetten Kerl lieb [33] ist. Er sticht den Bruder des Mädchens tot, was man ja halbwegs eine Mannesthat nennen könnte, nur daß er sich auch dabei wieder von Mephisto helfen lassen muß. Dann ein Leben wie ein liederlicher Student mit dem obligaten gelegentlichen Katzenjammer; sich von Mephisto ›in abgeschmackten Zerstreuungen‹ wiegen lassend, während das arme Opfer ›erbärmlich auf der Erde lange verirrt und nun gefangen‹ die Nägelschuhe des Henkers schon auf der Schwelle ihres Kerkers stapfen hört. Dazu der Lärm! Dazu sich an Nostradamus' Nonsens Hallucinationen holen! den Erdgeist zu sehen und zu hören glauben! Und wenn ihm schon so viel daran gelegen, zu ›erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält‹ – zum Teufel, da hat er ja nun den Teufel, dem, wenn er auch nicht allwissend ist, doch viel bewußt ist; der mit dem Herrgott selbst Zwiesprach hält und ganz offenbar in seiner ewigen Himmel- und Höllencarriere manchen Blick hinter die Weltcoulissen gethan hat. Sollte man nicht denken, er wird den geriebenen Burschen mit Wissensfragen bis aufs Blut quälen? Und bewegt sich mit ihm in Unterhaltungen, wie sie ein Gelehrter, den's juckt, den Weltmann zu spielen, mit einem alten Roué zu allen Zeiten geführt hat und führen wird. Natürlich! Was man nicht weiß, macht einem nicht heiß; und von den letzten Dingen weiß der biedere Mephisto gerade so viel, wie der brave Faust, oder wie ich, wie Du, wie alle. So daß das Ganze schließlich auf eitel Spiegelfechterei hinausläuft; Gott und seine himmlischen Heerscharen und der ganze transcendentale Krimskrams eine große schillernde Seifenblase sind, die, zerplatzend, einen Tropfen trüben Wassers zurückläßt.

[34] Nein und tausendmal nein! Das heißt den Finger nicht in die brennende Wunde der Menschheit legen! Das heißt, des miserablen Weltenbaues klaffende Spalten und Ritzen mit bunten Allegorien verputzen. Da soll mein Faustulus ein anderer Kerl werden! Poetisch neben Goethes Faust ein winzig Zwerglein; aber das Herz wird er auf dem rechten Fleck haben; sich nicht hinter dem Höllenkumpan verkriechen und ihn für seine dummen Streiche verantwortlich machen wollen (ein Vexierspiel, das dem blöden Publikum gegenüber ja so leicht gelingt!); sondern der Thäter seiner Thaten sein: fünfzig Prozent gute, fünfzig Prozent schlechte, wie's in der Ordnung ist; in sich selbst, in der eigenen Seele Gott und die Welt, Himmel und Hölle, die klassische Walpurgisnacht mit sämtlichen Nymphen und Tritonen, den Blocksberg mit allen Teufeln und Hexen! Das wird dann freilich sehr viel nüchterner aussehen; aber wahrer wird's sein, verdammt viel wahrer.

Und du weißt, mein Freund, ich bin kein Platenide. Wenn ich von meinen Jliaden und Odysseen spreche, so will ich sie nicht erst schreiben, so liegen sie fertig im Pult, oder doch bis auf wenige Verse fertig.

Und so wundere Dich den nicht, wenn in den nächsten Tagen –«

So weit war er gestern gekommen.

Er legte das Blatt auf den Tisch zurück und begann im Zimmer hin und her zu gehen. Was hatte er dem Fritz denn noch schreiben wollen, daß er den Brief nicht mit ein paar Worten zu Ende gebracht und abgeschickt hatte? Richtig! Er hatte sich gesagt, daß mit allem, was er geschrieben, der Freund den Schlüssel zu seinem [35] Faustulus noch immer nicht in der Hand hatte. Daß sein Faustulus eben der »historische« Brief und authentische Bericht über sein Leben sei, nach dem jener verlangte. Daß in dem Faustulus nichts stehe, absolut nichts, was er selbst nicht in Hirn, Herzen und Nerven durchgelebt und durchgeprobt habe. Daß sein Faustulus er selbst sei.

Vor dem Bekenntnis hatte er Halt gemacht, wie ein Reiter vor einer morastigen Stelle im Terrain. Es waren da viel morastige Stellen in seinem Faustulus – Stellen, in denen ein braves Pferd und ein reinlicher Mensch, wie Freund Fritz, leichtlich versinken konnten. Und er hätte den reinlichen Freund Fritz doch ungern verloren. Man verliert ungern etwas, wenn man nur noch so wenig zu verlieren hat. Mit Lora war's ja auch wieder einmal aus. Ein künstlich genährtes Licht von Anfang an; aber doch ein bißchen Helligkeit dann und wann; nicht das völlige, dicke, greifbare Dunkel, das hereindrohte, wenn er jetzt auch seinen Jonathan verlor, den einzigen Menschen, der ihm echte, unwandelbare, unverdiente Liebe entgegengetragen hatte, seitdem sie sich auf der zweiten Bank in der Tertia links neben dem großen Pfeiler zusammengefunden. Was Fritz wohl gesagt hätte, als er vorhin den bittenden Mann von seiner Thür wegjagte wie einen verlaufenen Hund!

Er war an das Fenster getreten und starrte in die Gasse hinab. Herr des Himmels! Da – auf der anderen Seite, in dem gespenstigen Schein der flackernden Laterne, die große dunkle, unbewegliche Gestalt – da stand er ja noch, der Alte, wie er drei Stunden lang vorher schon gestanden und auf den Heimkehrenden gewartet hatte!

[36] »Stöckischer, alter Esel,« murmelte Arno.

Dann hatte er doch das Fenster aufgerissen.

»Prebrow!«

»Herr Doktor!«

»Kommen Sie herauf! Ich werde Ihnen aufschließen.«


* * *


Es mußte in der letzten halben Stunde fürchterlich geregnet haben: von dem Südwester, den Prebrow jetzt in der Hand hielt, aus seiner weiten Flausjacke rann das Wasser auf den Teppich; die hohen Thranstiefel erglänzten im Licht der Lampe, die Arno nun wieder auf den Tisch stellte.

»Setzen Sie sich! Schadet nicht. Die Möbel sind unsertwegen da, nicht wir der Möbel wegen.«

Der Lotse hatte sich vorsichtig auf den Rand eines Stuhles gesetzt; Arno war an den großen Schrank in der Wand getreten, aus dessen Tiefe er eine Flasche und ein Glas nahm, das er voll goß.

»Da, Prebrow! Trinken Sie erst einmal!«

»Auf Ihr Wohl, Herr Doktor!«

Der Alte, den Kopf hintenüber beugend, goß den Inhalt seines Glases herunter und schüttelte sich.

»Noch einen, Prebrow!«

»Danke, Herr Doktor!«

»Ach, machen Sie doch keine Umstände, altes Haus!«

»Danke wirklich, Herr Doktor!«

»Wie Sie wollen. Na, nun erzählen Sie mal! Wie ist denn Ihre Frau dazu gekommen?«

»Sie wollte was vom Boden holen und ist die Treppe herabgeschlagen von oben herunter. Da hat sie denn [37] wohl den rechten Arm unter sich gekriegt; und sie ist ein bißchen völlig, Herr Doktor.«

»Wird nicht viel an zwei Centnern fehlen –«

»Kalkuliere ein paar Pfund –«

»Und Ihr meint, der Arm ist zweimal gebrochen?«

»Glaub's beinahe, Herr Doktor. Einmal hier und einmal hier.«

Der Alte wies auf die Mitte seines Oberarmes, dann auf den Unterarm über dem Handgelenk.

»Kalte Umschläge gemacht?«

»Ja, Herr Doktor, immerzu.«

»Stark geschwollen?«

»Schrecklich, Herr Doktor.«

Arno machte einen Gang durch das Zimmer, währenddessen ihm die traurigen Augen des Alten verstohlen folgten.

»Na, also,« sagte er, plötzlich stehenbleibend. »Das aber sage ich Euch: ersaufe ich, ist es das letzte Mal gewesen, daß ich mich auf solchen Unsinn einlasse.«

In des Lotsen Augen blitzte es auf; über sein braunes, wettergefurchtes Gesicht huschte etwas wie ein Lächeln.

»Der Herr Doktor sollen nicht versaufen. Dafür lassen Sie man den alten Prebrow sorgen!«

»Gist brauche ich darauf ja wohl nicht zu nehmen?«

»Das können Sie ganz ruhig, Herr Doktor. Mit dem Regen ist der Sturm vorbei; und der Wind ist jetzt Südost, gerade wie wir ihn brauchen. Bis wir aus dem Fluß sind, hat sich's noch mehr abgeweht. Draußen –«

Der Lotse räusperte sich! Arno lachte ironisch.

[38] »Draußen ist die schönste glatteste See. Das wollten Sie doch wohl sagen, Sie alter Heuchler!«

Er war in sein Schlafzimmer nebenan gegangen. Der Alte hörte ihn dort rumoren. Hatte er nicht zu viel versprochen? Es mußte draußen eine schreckliche See stehen, auch wenn sich der Wind nicht wieder aufmachte.

Der Mann kratzte sich in dem dichten, grauen Haar.

Wenn's doch zum Versaufen kam? Er selbst – na ja! Und Jochen – na, der versoff dann um Stines willen. Aber der Herr Doktor – Und bis Mittag oder so zu warten – möglicherweise wehte es da noch ebenso fort. Und die Alte hatte so gottsjämmerlich gestöhnt und gewimmert –

Des Alten Brust hob sich zu einem tiefen Seufzer, während er so in schwerem Sinnen vor sich hinstierte. Er war doch geschworener Lotse. Konnte er das auf seinen Eid nehmen?

Da ging die Thür von nebenan auf und der Herr Doktor kam wieder herein, jetzt auch in hohen Stiefeln und einem weiten Gummirock über dem Anzug; in der linken Hand einen polierten, ziemlich großen schwarzen Kasten, den er jetzt auf den Schreibtisch stellte, um noch verschiedenes, was er aus den Schränken nahm, hineinzulegen. Dann schloß er den Kasten wieder zu, zog den Schlüssel ab und ließ ihn in die Westentasche gleiten.

»Da, Prebrow! und die Flasche da stecken Sie gefälligst ein! Die werden wir jedenfalls brauchen; der Kasten ist nur für den Notfall.«

»Versteh, Herr Doktor.«

[39] »Desto besser. Die Lampe nehmen wir mit hinunter. Sonst geht's uns am Ende wie Ihrer Frau. Einen Augenblick!«

An den Schreibtisch tretend, ohne sich zu setzen, bat er seinen jungen Kollegen Radloff auf einem offenen Blatt, ihn heute zu vertreten; besonders auch bei Kommerzienrat Moorbeck vorzusprechen. Er müsse nach dem Nedur; wisse nicht, wann oder ob er zurückkomme.

»So!«


* * *


Als Arno mit seinem Begleiter auf den Platz vor dem Hafen gelangte, schlug es von der Johanneskirche, deren spitzer Riesenturm in dem schwarzen Nachthimmel verschwand, zwei Uhr. Der erste Schlag klang seltsam deutlich, als würde er von oben herab aufs Pflaster geschmettert; den verhallenden Ton des zweiten jagte der Sturm über die steilen Giebeldächer, daß er von einer ganz anderen Stelle zu kommen schien. Die Häuser um den Platz lagen dunkel, von den beiden Laternen vor der Apotheke brannte nur noch die eine, dem Verlöschen nahe. »Wie meine Lora-Liebe,« dachte Arno.

Sie kamen zum Hafen.

Drüben über den Uferwiesen am Rande des Horizontes hing der Mond als rötliche Sichel. In seinem matten Schein und im Flimmerlichte der Sterne, die in seltsamem Glanz von dem jetzt wolkenlosen Himmel blinkten, schwankten die Masten der Schiffe und Boote, glitzerte es hier und da auf den erregten Wassern des Flusses. Der Hafenwächter trat aus seiner Holzbude, eine Laterne in der Hand, mit der er den beiden an dem Quai hin über [40] die Ketten und Stricke leuchtete. Prebrow und er wechselten ein paar abgerissene Worte: es schien, daß Jochen Lachmund das Boot an eine andere Stelle, weiter stromabwärts gelegt hatte. Dann kam man zu dem Boot an der äußersten breiten Landungstreppe. Ein Mann stand in dem Boot, der mit einer Hakenstange das schaukelnde Fahrzeug an die unterste Stufe der Treppe drängte, und, es so mit der Linken festhaltend, Arno die Rechte zum Einsteigen entgegenstreckte. Das Licht aus der Laterne des Wächters fiel hell in sein Gesicht, aus dem der Südwester in den Nacken geschoben war. Arno zog den schon erhobenen Fuß zurück. War das ein junger, bartloser Mensch? War's ein Meerscheusal, das ihn aus den runden, grausamen Augen anglotzte?

Jochen Lachmund hielt noch immer die Hand ausgestreckt. Prebrow, des Doktors Zögern bemerkend, hatte ihn an dem linken Ellbogen gefaßt.

»Denkt ihr denn, es ist das erste Mal, daß ich in ein Boot steige!« rief Arno ärgerlich, sich von Prebrow losmachend und an dem Matrosen vorbei in das Boot springend, aus dem er auf der anderen Seite herausgefallen wäre, wenn ihn das schon halbmast aufgehißte große Segel nicht gehalten hätte.

Das Boot war von der Treppe abgebracht und begann mit halb gerefften Segeln den Fluß hinabzugleiten. Links noch ein paar seltene rötliche Lichter aus der Vorstandt, die sich lang am Ufer hinstreckte, rechts wieder vereinzelte blinzelnde Laternen der Schiffe, die dort vor Anker lagen. Dann verschwanden die Lichter; auch der Mond war untergegangen; doch wurde es nicht völlig dunkel, als ob das Wasser den matten Schein der Sterne zurückwürfe. [41] Oder war es bereits der kommende Tag, der seinen Kampf mit der Nacht begann, stundenlang, bevor die Sonne kommen konnte?

Arno, in die Nacht hineinstarrend, kauerte auf einer Bank im Hinterteile des großen Bootes, nicht weit von Prebrow, dessen schwarze Silhouette am Steuer unbeweglich saß. Von Jochen Lachmund sah und hörte er nichts: er mußte irgendwo im Vorderteil des Bootes hocken. Warum der Kerl nur Lachmund hieß? Er konnte es mit den breiten Tierlippen doch bestenfalls nur zum Grinsen bringen. Aber die Lippen allein waren es sicher nicht gewesen. Eher die wie grüner Gallert glitzernden Augen, die runden grauenhaften Fischaugen. Die und die strohgelben Brauen, die über der Wurzel der stumpfen Nase ununterscheidbar zusammenliefen wie die Haare einer Bürste. Aber er kannte ebenso häßliche Menschen, gegen die seine Empfindung durchaus nicht reagiert hatte, und bei dem Erblicken des Menschen hatte es ihn durchzuckt wie ein elektrischer Schlag; um keinen Preis hätte er seine Hand in des Menschen breite Tatze gelegt. Antipathie, wie Gretchen sie vor dem Teufel hatte? Instinkt? Vorahnen der Gefahr, das die Taube vor dem Habicht fliehen läßt, den sie nie zuvor gesehen hat? Wieder eines der dunkelsten Kapitel im Buch der Menschenseele. Nicht dunkler, als die Leidenschaft für ein Weib, das man innerlich verachtet; die Gewalt, die einen zwingt, das Fenster aufzureißen, trotzdem man weiß, daß man eine halbe Stunde später in diesem verfluchten Boot sitzen und sich auf den Tod erkälten wird.

Ihn fror erbärmlich, trotzdem er sich dicht in die Decke gehüllt hatte. Er ließ sich von Prebrow die Cognacflasche [42] geben und trank die noch beinah volle auf einen Zug zur Hälfte leer. Dann saß er wieder brütend. Aber das gleichmäßige Schaukeln des mit raumem Wind den Fluß hinabgleitenden Bootes und die Wirkung des Alkohols machten ihn schläfrig. Er vermochte nicht mehr seine Gedanken zusammenzubringen, seine Augen offen zu halten. Dann vernahm er nur noch das Gurgeln des Wassers und das Knarren der Segelstange. Dann hörte er auch das nicht mehr.

Seltsam schauerliche Träume verfolgten ihn in seinem Schlaf. Er lag auf einem Schneefeld, das sich unermeßlich nach allen Seiten dehnte, während durch die graue Luft ungeheure Wolken von schwarzen Krähen zogen, die gräßlich krächzten. Dazu wieherte von Zeit zu Zeit der Pferdeschädel, auf dem er mit dem Kopf sehr unbequem lag; und dann wirbelten jedesmal die Krähenwolken wie toll durcheinander, indem eine Krähe mit ihren Krallen die Krallen der anderen packte, daß sie wie tanzende Menschen aussahen, von denen er die einzelnen Paare nicht auseinander halten konnte, bis die wogende Masse sich öffnete, um Lora Raum zu geben, die mit ihrem Mann einen Cancan zum besten gab nach einer tollen Melodie, welche der Pferdeschädel wieherte, während ein Gerippe, das daneben stand und der Ballettmeister war, mit den Knochenhänden den Takt dazu schlug. Er ärgerte sich über die Schamlosigkeit Loras, die es viel toller trieb als Fifi in der Closerie des Lilas; und mußte doch lachen, als sie jetzt mit der Fußspitze ihrem kleinen Partner die gelbe Perücke vom Kopf schlug, daß sie hoch in den Himmel hinaufflog, wo sie als Halbmond stehen blieb. Bis der Mond auf einmal sich in Bewegung zu setzen [43] begann, erst langsam, dann immer schneller und schneller, zuletzt in rasendem Lauf durch den Weltenraum stürzend mit ihm selbst, der in der Sichel saß und sich mit beiden Händen an den Hörnern festhielt. Von Zeit zu Zeit im Vorüberrasen stießen sie an einen Stern. Das that weh, aber er rief jedesmal höflich: pardon! und der Stern machte eine tiefe Verbeugung und rief: il n'y a de quoi! Dann tauchte aus der Unendlichkeit eine Riesengestalt auf, nebelhaft. Wenn das der liebe Gott war, an den er nicht glaubte? Und wahrhaftig, es war der liebe Gott, wenn er auch wie der alte Prebrow aussah, nur viel grandioser und ehrwürdiger. Und plötzlich fiel der Mond, der jetzt zur Kugel geworden, noch viel schneller als er vorhin gestiegen, immer hinab, hinab, in den Wellen verzischend, die von allen Seiten auf ihn hereinbrachen, über ihm zusammenschlugen, so daß er voll Todesangst nach einer braunen Hand griff, die sich ihm entgegenstreckte und Prebrow gehörte, der über ihn gebeugt stand und sagte:

»Nu sind wir all da, Herr Doktor.«

Arno richtete sich im Sitz auf und blickte um sich, ohne sich gleich in die Lage finden zu können. Erst allmählich wurde er inne, daß es nicht mehr ganz Nacht war und das Boot von vier oder sechs Männern, die im Wasser standen, durch die Brandung auf den Strand geschoben wurde, der sich grau vor ihm nach rechts und links streckte mit seinen niedrigen Dünen, aus denen die Dächer von ein paar Lotsenhäusern eben noch hervorblickten. Hinter sich blickend, sah er in die Unendlichkeit der See, eine schwärzliche wogende Masse, an deren Rand hin sich ein langer blutroter Streifen zog. Nun stieß das Boot mit einem schweren Stoß auf, und noch einmal, [44] dann stand es still. Der weißliche Gischt der verrinnenden Wellen leckte an dem Bug hin nach dem Strand. Dann hockte er auf einem breiten Rücken, unter dem ein Paar hoher Stiefeln durch den Gischt stapfte, bis der Mann, der ihn trug, ihn von seinen Schultern auf den Sand hinabgleiten ließ, um sofort wieder nach dem Boot zurückzustapfen, es mit den anderen vollends auf den Strand zu ziehen. Es war Jochen Lachmund. Er erkannte ihn erst, als Jochen, die Hände an den Bord des Bootes legend, das Gesicht nach dem Strande wandte. Beim Einschiffen hatte er die Hand des Menschen nicht nehmen mögen; jetzt hatte er sich von ihm tragen lassen müssen, mit ängstlich ausgestreckten Beinen, beide Arme um den Stiernacken des Kerls klammernd. Wenn das nicht lächerlich war!

»Wollen Sie mit mir kommen, Herr Doktor!« sagte Prebrow, der, in der einen Hand die triefende Wolldecke, in der anderen den Instrumentenkasten, neben ihm stand. Der schwarze Kasten glitzerte von Nässe und hatte in dem Licht der Morgenröte einen purpurnen Schein.

Arno machte die Beobachtung ganz mechanisch. Es war ihm fürchterlich wüst im Kopf, und die ersten Schritte, die er, hinter dem Alten her, strandaufwärts machte, wurden ihm sehr schwer. Kaum, daß er ein Bein vor das andere setzen konnte. Aber er kannte sich und wußte, er hatte seine Nerven in der Gewalt, sobald es zum Handeln kam.


* * *


Der schwarze Kasten mit dem Purpurschein hatte umsonst vorgespukt: es war kein Blut geflossen. Dank dem fleißigen Kühlen mit nassen Tüchern war der fleischige [45] Arm nicht so geschwollen gewesen, daß Arno den glatten Bruch des Oberarms nicht leicht hätte feststellen können. Sonst hatte sich nur eine Verstauchung der Hand ergeben, die Arno mehr Sorge machte, als der glatte Bruch, und deren Behandlung der Patientin schlimme Schmerzen bereitet haben mußte, ohne daß in ihrem breiten Gesicht eine Muskel zuckte oder ein Klagelaut aus dem großen Munde kam. Nur die starken weißen Zähne hatte sie fest aufeinander gebissen. Während er operierte, war niemand zugegen gewesen, als ein junges blondes Mädchen, das ihm schweigsam Handdienst leistete mit einer Umsicht, einem Verständnis seines kürzesten Wortes, seines leisesten Winkes, einer Anstelligkeit und Geschicklichkeit, die einer gelernten Krankenpflegerin Ehre gemacht haben würden.

Prebrow ließ sich nicht sehen, als bis alles vorbei und die Kranke unter dem Schutz des jungen blonden Mädchens in einen Schlaf verfallen war, den Arno durch ein Opiat beschleunigt hatte.

»Ihr seid ein rechter Hasenfuß,« sagte er, während ihn der Alte über den winzigen Flur in das Zimmer linker Hand führte, wo auf dem runden Tische vor dem kleinen schwarzen Sofa eine bauchige braune Kaffeekanne und eine geblümte Tasse standen; daneben Brot, Butter, ein Teller mit geräucherten Fischen, eine grüne Branntweinflasche, ein Schnapsglas – alles so sauber, wie die Serviette aus grobem Linnen, die über den Tisch gebreitet war.

»Ein rechter Hasenfuß,« wiederholte Arno.

Prebrow erwiderte nichts, fragte auch nicht; er hatte sich offenbar, als er drüben für einen Moment auf der[46] Schwelle stand, durch einen Blick mit dem Mädchen über alles verständigt.

Arno hatte sich auf das kleine, harte Sofa gesetzt; Prebrow blieb einen Schritt vor dem Tische stehen.

»Warum setzen Sie sich nicht auch, Prebrow? Sie sind doch kein Kellner!«

»Danke, Herr Doktor! Ich habe schon ein bißchen in der Küche zu mir genommen.«

»Wie Sie wollen. Das war wohl eine böse Fahrt, Prebrow?«

»Es war ein bißchen schlimm, Herr Doktor. Bloß daß wir guten Wind hatten. Sonst –«

»Na, ich kann mir denken. Wie lange sind wir denn gefahren?«

»Man drei Stunden, Herr Doktor.«

»Das ist kolossal schnell.«

»Ich hab so 'ne Fahrt noch nicht gemacht in diesen dreißig Jahren.«

»Kennt Ihr die Geschichte von dem Reiter über den Bodensee? Nein? Ist auch nicht nötig. Man kennt sie besser nicht. Die Kleine drüben ist Eure Tochter?«

»Ja, Herr Doktor, meine Stine.«

»Wie alt?«

»Siebzehn in diesem Herbst.«

»Habt Ihr noch mehr Kinder?«

»Drei Jungens, Herr Doktor. Alle zur See. Einer kommt wohl nicht wieder.«

»Warum?«

»Er ist schon fünf Jahre weg, Herr Doktor. Wir haben seitdem kein Sterbenswort von ihm gehört. Kann ich noch sonst was für den Herrn Doktor –«

[47] »Nein, Prebrow. Ich danke Ihnen. Nur, nehmen Sie das hier wieder weg! Es ist alles ausgezeichnet; aber ich habe keinen Appetit. Schlafen möchte ich. Legen Sie die Decke da aufs Sofa! Ich sehe, Sie haben sie getrocknet. Sehr schön. Überhaupt sind Sie ein Mustermensch, wenn Sie auch ein ausgemachter Hasenfuß sind.«

Über des Lotsen braunes Gesicht war ein melancholisches Lächeln geglitten, während er mit der zusammengelegten Serviette und den Sachen, die er sorgsam auf einem großen zinnernen Teller aufgebaut hatte, zur Thür hinausging.

Arno hatte sich auf das Sofa geworfen, sprang aber alsbald wieder auf: das Ding war so furchtbar hart und so kurz, daß er sich zu dem einen Stuhl, den bereits Prebrow herangerückt, noch einen zweiten holen wollte. Statt dessen fing er an im Zimmer auf und ab zu gehen: sechs Schritte von dem blauen Kachelofen bis zu den niedrigen zwei Fenstern, vier und einen halben von der Thür bis zum Sofa und der Kommode zwischen Sofa und Fenster, die rotbraun gesprenkelt war, wie ein verunglückter Leopard, mit einer Kollektion von gräßlichen Nippes aus Glas und Porzellan auf ihrer Wachstuchdecke; darüber an der Wand ein quadratfußgroßer Spiegel, aus dem, als er einen flüchtigen Blick hineinwarf, ihn ein blaßgrünes, verzerrtes Gesicht anstarrte. Vielleicht hatte der Spiegel recht: nach einer solchen Nacht wär's kein Wunder. Thaten ihm doch noch alle Glieder weh; schmerzte ihm doch der Kopf von dem verfluchten Pferdeschädel, auf dem er im Traum gelegen. Das Frühstück hatte ihn freilich nicht restaurieren können mit seinem unmöglichen Kaffee – Koffi hatte der Alte den Sud [48] genannt – seinem Brot, das schon einen Monat lang in einem Kasten geschimmelt haben mußte; seiner Butter, die wie Leberthran schmeckte; seinen Fischen, von denen der Rauch nur Haut und Gräten übrig gelassen. Und nun mußte er auch noch in der Eile die Cigarrentasche zu Hause haben liegen lassen. Das war das Allerschlimmste; die Aussicht, auf Stunden, auf einen ganzen Tag vielleicht ohne Cigarre erfüllte ihn mit grimmem Unmut. Keine Möglichkeit, auf dieser Sandscholle im Meer ein rauchbares Kraut zu haben. Als er vorigen Herbst zum letzten Male hier war, hatte er die Höflichkeit so weit getrieben, von dem Lotsenältesten Bonsak eine Cigarre anzunehmen, die dieser eigens für den Doktor in Sundin gekauft haben wollte. Wochen hatte er gebraucht, den gräßlichen Geschmack wieder zu vergessen. Aber dies sollte auch das allerletzte Mal sein, daß er sich zu den Ichthyophagen verschleppen ließ! Mochte ein anderer ihre Weiber entbinden, oder ihnen die Knochen zusammenkleistern!

Die dumpfe Luft in dem Zimmerchen mit ihrem Parfüm, zu dem vermoderter Seetang und alte Thranstiefel die Ingredienzen hergegeben zu haben schienen, hatte ihn vom ersten Moment an gepeinigt. Er glaubte ersticken zu müssen und stieß das eine der beiden Fenster auf. Die hereinströmende frische Luft that ihm wohl, kalt, wie sie ihn anwehte. Er rückte den Urväterstuhl, der am Fenster stand, ein wenig weiter ins Zimmer, zog sich die Reisemütze bis auf die Ohren, breitete die Decke über Brust und Knie und schloß fest die Augen gegen die wachsende Helle, die sich draußen über Dünen, Meer und Himmel zu strecken begann.

[49] Als er nach einem todähnlichen tiefen Schlaf die Augen wieder öffnete, hätte er nicht zu sagen gewußt, ob er schlafe, wache, wachend träume. Er fragte es sich aber nicht in der dumpfen Empfindung, es werde damit dieser wonnige Zustand verloren gehen. Nur daß er etwas auch nur Ähnliches nie erfahren, wußte er genau. Sonst schlechterdings nichts. Nicht, ob, was er da in dem Rahmen des offenen Fensters sah: die weißen Dünen, durch deren Einschnitt das dunkelblaue Meer schimmerte, über das sich der lichtblaue, hier und da mit weißen, gleißenden Wolken betupfte Himmel spannte – ob es Wirklichkeit war, oder ein Gemälde; ob das leise Rauschen von den Wellen am Strande kam, ob's Musik war, die ihm im inneren Ohr erklang, zusammen mit dem Triliri von irgendwoher aus der Höhe, das Lerchensang sein mochte, oder die zu Himmelstönen gewordene Seligkeit, die ihn durchdrang, als hätte er alle irdische Schwere abgestreift: ein Wesen aus ätherischem Stoff, begabt mit Sinnen, welche die Kreatur nicht kennt.

Dieser sonderbare Zustand mochte Minuten, er mochte auch nur Sekunden, den tausendsten Teil einer Sekunde gedauert haben. Dann kam er zum vollen Bewußtsein der Wirklichkeit, nicht ohne daß ein Nachklang der genossenen überirdischen Lust in seiner Seele geblieben wäre,

Und so in diesem götterhaften Frieden, dieser Himmelsruhe, genoß er den Anblick, der ihm wurde, als er, auf der Lehne des Urväterstuhles den Kopf nur um ein weniges nach rechts rückend, die Augen, anstatt starr vor sich hin, nach links wandte.

Ein sonnenbeschienenes Stück Düne, an dem hin auf Stangen, die in den Sand getrieben waren, ein großes [50] braunes Netz ausgespannt hing. Vor dem Netz, ihm den Rücken zuwendend, bewegte sich eine zierliche Mädchengestalt, jetzt die nackten weißen Arme hebend, um an den Seetang oben zwischen den Maschen zu langen, jetzt sich bückend, um unten zu putzen und zu säubern. Das braun und rot gestreifte Röckchen, das die schlanken Hüften eng genug umschloß, reichte nur bis zu den zarten Knöcheln, die strumpflos aus den groben Schuhen schimmerten; und wenn sie, die Arme in die Höhe reckend, sich auf den Fußspitzen hob, kam zwischen dem braunroten Röckchen und dem knapp anliegenden blauen Mieder ein wenig von dem Hemd zum Vorschein. Dann fiel auch der dicke Knoten, in den sie das goldglänzende Haar geschlungen, tiefer auf den schmalen Rücken; und Arno fragte sich, wo er heute nacht seine Augen gehabt habe, um von der Anmut des entzückenden Geschöpfes nichts zu sehen. Ja, er hatte sie so wenig beachtet, daß, als sie ihm jetzt bei einer Wendung erst das überschnittene Profil, dann das Gesicht voll zuwandte, er sich fragte, ob er sie überhaupt gesehen, und diese hier mit dem feinen Gesichtchen, aus dem ein Paar große, glänzende blaue Augen für einen Moment träumerisch zum Himmel empor blickten, nicht eine andere sei als die Krankenpflegerin von heute nacht.

Aber wer anders sollte es sein? Schließlich saß er doch hier in dem Hause des Lotsen Prebrow auf dem Nedur; und die Mädchen hießen hier Stine und nicht Nausikaa.


* * *


»Guten Morgen, Stine!«

Sie hatte seinen Schritt in dem lockeren Sande nicht gehört und stieß, sich jäh nach ihm wendend, einen leisen [51] Schrei aus. Ihr hübsches Gesichtchen war dunkelrot geworden; ein Zucken flog um die vollen Lippen.

»Ich habe Sie erschreckt?«

»Ach nein, Herr Doktor!«

»Sind Sie immer so früh an der Arbeit?«

»Ach ja, Herr Doktor!«

»Ach nein, Herr Doktor! ach ja, Herr Doktor!« höhnte Arno der Kleinen im stillen nach. Aber nicht mit seiner gewöhnlichen Bitterkeit: die blauen Augen unter den langen Wimpern blickten gar zu treuherzig lieb. Die Wimpern waren viel dunkler als die Haare, die, wie er jetzt bemerkte, weich und wellig auf den Schläfen lagen und neben dem goldigen einen rötlichen Schimmer hatten. Das stimmte gut zu den paar Sommersprossen auf der Stirn und den Schläfen.

»Wie geht's der Mutter?«

»Sie schläft, Herr Doktor.«

»Noch immer? Das heißt: was ist denn eigentlich die Uhr?«

»Es geht auf neun, Herr Doktor.«

Er hatte seine Uhr gestern abend nicht aufgezogen; in der Nacht war sie stehen geblieben. Um neun Uhr pflegte er zu Hause auf die Praxis zu gehen: zuerst nach dem Krankenhause; dann zu den Privatpatienten, für die er keine andere Rangordnung gelten ließ als die größere oder geringere Wichtigkeit der Fälle. Dann, am Nachmittag, die Landpraxis, die ihn oft bis spät am Abend, bis in die Nacht draußen hielt. Am nächsten Tage dieselbe Tretmühle.

Er hörte förmlich ihren knarrenden, nervenzerrüttenden Gang, während er schweigsam dem Mädchen zuschaute, das ihre Arbeit am Netz wieder aufgenommen [52] hatte. Ach, aus der Tretmühle heraus zu sein für immer! Den Rest des Lebens verbringen zu können hier in der Einsamkeit dieser Sandscholle; um sich, über sich die zwei Unendlichkeiten des Meeres und des Himmels, in denen der Raum seine Maße verliert und die Zeit ihre Schrecken: ein hohles, blutleeres Gespenst, das von dem Einst lebt, das einmal war, und der Zukunft, die noch nicht ist, und nicht den Millionenteil einer Sekunde wahrhaft sein eigen nennen darf. Ja, so sein Leben zu verträumen – mit der hübschen Dirn da zum Weibe – natürlich!

»Stine!«

»Herr Doktor!«

Gott sei Dank, daß der Herr Doktor wieder anfing zu sprechen! Ihn so hinter sich stehen zu haben und zu fühlen, daß er sie fortwährend ansah und kein Wort dazu sagte – das war ja ganz unheimlich.

»Wie kommt es, daß Sie so gut hochdeutsch sprechen?«

»Ich war zwei Jahre in Sundin – bei der Tante.«

»Und gingen in die Schule?«

»Ja, Herr Doktor.«

»Und haben da tüchtig was gelernt?«

Stine schüttelte den Kopf.

»Na, doch Lesen, Schreiben, Rechnen?«

Stine nickte.

»Sonst noch was?«

»Religion, Herr Doktor.«

»Das ist die Hauptsache.«

»Ja, und Stricken, Nähen, Waschen und Plätten. Aber nicht in der Schule. Bei meiner Tante. Sie wäscht und plättet für die Herrschaften. Ich bin erst seit vergangenem Herbst wieder hier.«

[53] »Darum habe ich Sie auch vorher nicht gesehen. Sagen Sie, Stine, mir ist heute nacht aufgefallen, wie geschickt Sie mit Kompressen und Bandagen umzugehen wußten. Sie sind doch nicht auch schon Krankenpflegerin gewesen?«

»Ach nein, Herr Doktor. Mein Onkel ist Heilgehilfe.«

»Also ein Kollege.«

Stine sah ihn fragend an.

»Ich meine: er zieht Zähne, läßt zur Ader und so weiter – alles, was wir gelegentlich auch thun. Und von dem Onkel haben Sie's gelernt?«

Stine antwortete diesmal nicht. Wie vorhin das Schweigen, so war ihr nun das viele Fragen des Herrn Doktor ängstlich geworden. Und der Onkel hatte wiederholt davon gesprochen, daß die Doktoren auf die Heilgehilfen neidisch wären und einen armen Mann leicht wegen Kurpfuscherei, wie sie es nannten, ins Unglück bringen könnten.

Sie ist doch nur eine dumme Gans, sagte Arno bei sich, und wer von ihr Kinder haben wollte, müßte sich darauf gefaßt machen, daß die Mädchen mit Fischschwänzen zur Welt kommen und die Jungen mit Kalibangesichtern, wie –

»Sagen Sie, Stine, kennen Sie Jochen Lachmund?«

»Ja gewiß, Herr Doktor.«

»Ich wollte auch eigentlich fragen: ist er von hier? vom Nedur?«

»Nein. Von da! von Mönchgut!«

Sie deutete auf das Meer hinaus, wo sich am Horizont nach Nordwest die verschwommenen Umrisse einer Spitze der Halbinsel aus dem Wasser hoben.

[54] »Was thut er hier?«

»Er ist vier Jahre als Matrose gefahren. Nun will er Lotse werden.«

»Ein braver Mensch? Wie?«

Stine antwortete nicht.

»Und Sie haben ihn gern?«

Stine schwieg; aber während sie, von ihm abgewandt, eifrig an dem Netze zupfte, sah Arno, wie eine heftige Röte an ihrem schlanken Halse herab bis fast an die zarte Schulter schoß.

Also so steht's, sagte Arno bei sich. Sie ist wirklich noch dümmer als eine Gans.

Von dem Hause her kam der alte Prebrow.

Ob der Herr Doktor jetzt nach seiner Frau sehen wolle? Sie sei eben aufgewacht.

Arno fand den Zustand der Frau befriedigend. Das Fieber war sehr mäßig, die Temperatur fast normal. Er konnte Prebrow die Versicherung geben, daß alles gut und glatt verlaufen werde.

Die verstauchte Hand machte ihm größere Sorge als der Arm, wenngleich auch hier von Gefahr keine Rede sei. Übrigens werde er in ein paar Tagen wiederkommen, und, sollte es sich mit der Hand bis dahin nicht wesentlich gebessert haben, wahrscheinlich einen Gipsverband anlegen.

Die Patientin und ihr Gatte hörten andächtig auf jedes Wort, das der Herr Doktor sagte. Zuletzt war auch Stine leise ins Zimmer gekommen. Er zeigte ihr noch einiges, worauf sie achten solle.

»Haben Sie verstanden, Stine?«

»Ja, Herr Doktor.«

[55] Prebrow atmete erleichtert. Wenn Stine es verstanden hatte, war alles in der Reih.


* * *


Stines Gänsedummheit, ihre verräterische Röte bei seiner Erwähnung des Jochen Lachmund, die muffige Luft der Krankenstube hatten Arno wieder gründlich die Laune verdorben. Als Prebrow draußen auf seine Frage, wann er wieder nach Hause könne, bescheidentlich antwortete, er habe geglaubt, der Herr Doktor wolle bis morgen bleiben, fuhr er ihn heftig an: ob er glaube, daß er seine Zeit gestohlen habe? Der Alte schob die wollene Zipfelmütze zurück und kraute sich hinter dem Ohr: es werde heute schwer halten, zwei Lotsen seien schon nach Sundin, einer nach Grünwald unterwegs; nach dem Sturm heute nacht könne man nicht wissen, ob Schiffe, die Havarie gehabt, in Sicht kämen, und da müßten ein paar zur Reserve auf der Station bleiben. Der Herr Doktor möge doch mal mit Bonsak sprechen.

Arno hatte auch ohnedies vorgehabt, in dem Hause des Lotsenältesten sich nach der Frau zu erkundigen, die er im vorigen Herbst entbunden hatte. So machte er sich auf den Weg. Weit brauchte er nicht eben zu gehen: die sieben oder acht einstöckigen Häuser mit den kleinen Wirtschaftsgebäuden lagen sämtlich in der flachen Mulde zwischen den niedrigen Dünen, die sie hier – fast in der Mitte des Inselchen – ein wenig gegen die West- und Ostwinde schützten. Warum man innerhalb der Mulde das eine Häuschen hier und das andere dort aufgerichtet, hatte Arno nie herausbringen können: es schien, als seien sie aus einem Würfelbecher herausgeschüttelt und auf gut Glück dahin oder dorthin gekollert. Vor [56] jedem der Häuschen war ein Gärtchen; jedes Gärtchen umgab eine niedrige Hecke von Taxus; in jedem Gärtchen hatte man die kleinen Beete mit großen Muscheln eingefaßt; jede Muschel kehrte ihre blaßrote Innenseite nach außen. Kein Mensch ließ sich sehen, kein Laut sich vernehmen, nur das Atmen des Windes, das, sich hebend und senkend, durch die Dünenhügel zog.

Und wieder, während er langsam durch den Sand schritt, in welchem sein Fuß manchmal bis an die Knöchel versank, wollte der traumhafte Zustand von vorhin über Arno kommen, aber ohne die himmlische Ruhe, den seligen Frieden. Eher ein ängstlicher Traum, aus dem man zu erwachen strebt. Wenn, wie er sich vorhin gewünscht, das Schicksal ihn in diese Einsamkeit bannte – die Öde, das Schweigen müßten ja einen Menschen wie ihn in kürzester Frist zum Wahnsinn treiben. Nicht im Donner des Sturmes, im Säuseln des Windes naht sich der Herr; nicht im Gerassel der Großstadt – in der Stummheit der Wüste tritt das furchtbare Geheimnis des Seins an uns heran. Die Sphinx mit den dicken Lippen, die sich immer öffnen zu wollen scheinen und immer schweigen – sie ist das wahre Bild des Erdgeistes, unsäglich grauenhafter als die Fratze, vor der Goethes armseliger Faust zusammenbricht.

Arno stand still, in eines der Gärtchen stierend, von dem er nichts sah. Er war im Geist bei den letzten, noch ungeschriebenen Scenen seines Faustulus. Der sollte nicht, wie sein berühmter Vorgänger, zu guter Letzt mit Hilfe der Dämonen den Menschenwohlthäter spielen und dem Meere einen Fetzen Land abgewinnen, damit noch eine Handvoll armseliger Kreaturen mehr ihr Dasein [57] verfluchen könne – nein! Bis zum letzten Atemzuge sollte alles oder nichts sein Wahlspruch sein. Und da sollten die letzten Scenen in Sais spielen: sein Held, der königliche Jüngling, der, in wildem Wissensdrang die Welt auf's Spiel setzend, die er sich durch Meere von Blut erobert, den ungeheueren Frevel wagt!

Nur daß er damit doch in die Allegorie geriet, die er an Goethes Faust so bitter tadelte; doch sein Princip verletzte, nach welchem die ganze Tragödie sich in des Helden Seele abspielen mußte!

Nein, lieber ins Feuer mit dem Werk, an das er nun schon so viele Nächte der letzten drei Jahre gesetzt!

Er stand vor des Lotsenältesten Haus. Die Frau, die ihn vom Fenster aus hatte kommen sehen, trat ihm auf der Schwelle entgegen, das Baby auf dem Arm, während sich zwei Mädchen von fünf und sechs Jahren hinter die Röcke der Mutter steckten. Die noch jugendliche, beinahe hübsche Frau war über den Besuch hocherfreut; ob der Herr Doktor ihnen nicht die Ehre anthun wollte und ein wenig näher treten? Aber Arno wußte aus Erfahrung, daß es da drinnen gerade so nach vermodertem Seetang und alten Thranstiefeln roch, wie bei Prebrows. Er habe es sehr eilig, nach Hause zu kommen, und nur Herrn Bonsak fragen wollen, ob er nicht Rat schaffen könne. Ihr Mann sei schon seit dem frühen Morgen auf der Warte, sagte die Frau; ob Mine oder Line den Doktor hinbringen solle? Arno dankte: er wisse Bescheid; tätschelte Baby die Pausbäckchen; strich Mine und Line über die blonden Köpfe; drückte Frau Bonsak die fleischige Hand und machte sich eilends wieder auf den Weg.

[58] Der ihn nun aus dem Dörfchen in der Mulde in die Norddünen führte, deren höchste die Warte war: ein Sandhügel, dessen Böschungen man sorgfältiger mit Strandhafer und Disteln bepflanzt und durch eine sehr primitive Treppe von kurzen Bohlenstücken, die auf Holzpflöcken wackelten, leichter zugänglich gemacht hatte. Auf dem Gipfel, einem natürlichen oder künstlichen Plateau von kaum hundert Schritt im Umkreis, stand eine Leuchtbake, daneben eine kleine Wärterbude, kaum größer als ein Schilderhaus, vor der Bude ein hoher Flaggenstock und ein Gestell mit einer Drehvorrichtung für das Teleskop, durch welches, den breiten Rücken krümmend, Herr Bonsak so eifrig aufs Meer blickte, daß Arno bis dicht an ihn herangekommen war, bevor er ihn bemerkte. Nun Händedrücken und Entschuldigung seitens des Mannes, daß er den Herrn Doktor nicht bereits aufgesucht: er habe heute morgen ein bißchen viel zu thun gehabt.

Arno brachte sein Anliegen vor. Herr Bonsak schüttelte den Kopf: es werde kaum angänglich sein; er habe nur noch ein paar Leute zur Hand, und von denen müsse er noch einen abgeben. Da habe eben eine schwedische Brigg, die erst den Kurs auf Sundin gehabt, die Lotsenflagge gehißt, nachdem sie umgelegt und jetzt sich heraufkreuze. Auf Sundin hätte sie den Lotsen von Thissow eingenommen. Nun wolle sie jedenfalls Uselin anlaufen. Er habe sich noch nicht ganz verständigen können; die Entfernung sei noch ein bißchen groß.

Die Entfernung war freilich groß genug: erst durch das Teleskop vermochte Arno etwas am Horizont zu entdecken, das möglicherweise ein Schiff war.

[59] Der Lotse, nachdem er ein neues Signal aufgehißt und sich wieder an das Teleskop gestellt, sagte, sich aufrichtend:

»Es stimmt, Herr Doktor. Sie hat Havarie gehabt und will nach Uselin, weil das so viel näher ist. In einer kleinen Stunde kann sie hier sein. Ich möchte dem Herrn Doktor einen Vorschlag machen: gehen Sie mit dem Lotsen an Bord! Sie werden dann freilich ein bißchen spät nach Hause kommen; aber es ist doch besser, als daß Sie bis morgen warten müssen, wenn's Ihnen schon so pressiert. Sonst, Herr Doktor, – bei Prebrow ist es ja man ein bißchen eng. Aber wenn der Herr Doktor mir die Ehre erweisen wollten – in unserer Giebelstube hat schon der Herr Baurat aus Sundin ein paarmal geschlafen. Einen Pfannkuchen kriegt meine Alte auch noch fertig. Und dann zu einem lütten Glas Grog – echten Jamaika, Herr Doktor! – eine von den Cigarren, die dem Herrn Doktor letzten Herbst so gut geschmeckt haben –«

»Um keinen Preis der Welt!« rief Arno. »Ich meine: ich muß um jeden Preis heute abend noch nach Uselin. Wenn also das Schiff – apropos, was kann es geladen haben?«

»Jedenfalls Hering, Herr Doktor: salzen und frischen. Es ist jetzt die Zeit.«

Die Aussicht, auf lange Stunden zwischen Fässern gesalzenen und ungesalzenen Hering auf einem kleinen Kauffahrer, der bereits Havarie gehabt, war nicht verlockend; aber die Cigarre des Herrn Bonsak –

»Also es bleibt dabei,« sagte Arno. »Und nun –«

»Ich bin hier fertig; und wenn es dem Herrn Doktor recht ist –«

[60] Sie stiegen die wackeligen Stufen hinab und stapften durch den Sand nach dem Dörfchen zurück. Herr Bonsak sprach von Arnos nächtlicher Fahrt. Prebrow sei eigentlich straffällig; er hätte es mit nur noch einem Mann an Bord bei dem mächtigen Seegang nicht wagen dürfen, wenn man auch Jochen Lachmund für zwei rechnen könne.

»Warum?« fragte Arno.

»Er hat Kräfte für zwei; und als Matrose – ich kann wohl sagen: ich hab mein Lebtag keinen besseren gesehen.«

»Auch sonst ein braver Kerl?«

»O, brav, ja! brav ist er schon; aber –«

»Was aber?«

»Man ein bißchen heftig ist er. Das heißt: wenn er einen zu viel getrunken hat. Dann ist er mit dem Messer ein bißchen flink bei der Hand. Sonst ist er so gutmütig wie ein Lamm.«

»Und Stine Prebrow und er sollen sich heiraten?«

»J wo! Wie kommen denn der Herr Doktor darauf?«

»Wie man auf dergleichen kommt.«

Herr Bonsak war stehengeblieben, hatte seinen Wachshut abgenommen, den er sehr nachdenklich betrachtete, um ihn dann wieder aufzusetzen und, weitergehend, mit einem lebhafteren Klang in seiner phlegmatischen Stimme zu sagen:

»Na, Herr Doktor, daran ist nun wirklich etwas. Das heißt: er mag sie gern, und sie ist ja auch soweit eine hübsche Dirn; aber, ich glaube, sie will nicht viel von ihm wissen.«

»Was ich ihr nicht verdenken kann.«

[61] »Na, Herr Doktor, wie man's nimmt. Prebrow ist so arm, daß man ärmer nicht sein kann. Von den Jüngsten ist er auch nicht mehr, und als Lotse – na, das wissen der Herr Doktor – da kann einem leicht was Menschliches passieren. Und, wie gesagt, der Jochen Lachmund ist ein braver Mensch und, so lang er nun hier ist – über ein halbes Jahr – hat er sich nicht das Geringste zu Schulden kommen lassen – von wegen Saufen meine ich – und wenn er sich noch ein halbes Jahr so hält –«

»Wird er hier Lotse, natürlich. Und prügelt seine Frau, wenn er besoffen ist.«

»Glaube ich nicht, Herr Doktor. Wenn einer seine Frau rechtschaffen lieb hat, läßt er das Saufen. Und prügeln – na, Herr Doktor, ich kann nur sagen: die fünfundzwanzig Jahre, die ich hier auf dem Nedur bin, ist so was nicht vorgekommen. Und was meine Selige war –«

Der Mann war wieder in seinen phlegmatischen Ton gefallen und erzählte von seiner langen kinderlosen ersten Ehe mit seiner Seligen, die ein etwas reizbares Temperament gehabt und ihm den Kopf manchmal etwas warm gemacht zu haben schien. Na, was die Frauen wären, die nähmen es ja mit den Worten nicht immer so genau. Aber dabei sei es auch geblieben. Das könne er auf seinen Amtseid nehmen.

Arno versicherte höflich, es ohne jede weitere Versicherung zu glauben.

Das langsam-eintönige Sprechen des Mannes brachte ihn fast zur Verzweiflung. Glücklicherweise konnte er sich wenigstens vorläufig von ihm losmachen, als ihnen [62] ein jüngerer Lotse in den Weg trat, der mit seinem Vorgesetzten etwas zu besprechen hatte. Mit langen Schritten ging er durch den Sand davon – nicht zu Prebrows: er mochte die hübsche schlanke Dirne nicht wieder sehen, die den ungeschlachten Kaliban heiraten sollte. Heiraten würde sie ihn schließlich ja doch.

So trieb er sich denn müßig am flachen Strande umher, bis der Schwede so weit heraufgekommen war, daß man das Boot flott machte, in welchem der Lotse an Bord fuhr und er sich als Passagier mit einschiffen durfte.

Einer der beiden Leute, die das Boot ruderten, war Jochen Lachmund. So hatte er denn ausreichende Gelegenheit, sich den Menschen genau anzusehen und sich zu überzeugen, daß seine Phantasie ihm wieder einmal einen Streich gespielt. Zwar plump genug blieb das Gesicht und schön war es sicher nicht, und die über der Nasenwurzel zusammengewachsenen dicken, strohgelben Brauen gaben ihm mit dem breiten zusammengekniffenen Munde und dem viereckigen massiven Kinn ein finsteres Ansehen. Aber der Gesamteindruck war doch der eines keineswegs bösartigen, eher gutmütigen Menschen, dessen stumpfe Seele erst der Rausch um ihre Ruhe bringen konnte. Dann allerdings mochte der Mann furchtbar sein. Er verstand offenbar seinen Vorteil nicht: als Preisboxer oder Cirkusathlet mußte er Furore machen. Und sich neben diesem Menschengebirge aus Knochen, Muskeln und Sehnen die hübsche Dirn zu denken mit ihrem knospenden Busen, ihren schlanken Hüften, dem zierlichen Halse und den zarten Knöcheln!

Zum Teufel! Was hatte er daran zu denken! Danach zu fragen! Da hinter ihm versank schon die Sandscholle [63] im Meer, daß nur noch die Warte mit der Leuchtbake ein wenig hervorragte. Sie sollte ihm versunken sein und bleiben.

Die Brigg hatte beigedreht, den Lotsen an Bord zu nehmen. Der Kapitän hieß den fremden Herrn, der nach Uselin sein Passagier sein wollte, schon vom Deck aus höflich willkommen. Als er aus dem schwankenden Boot die herabgelassene Strickleiter erklettern wollte, wäre er ins Meer gefallen, hätten nicht zwei gewaltige Hände ihn gehalten.

Es waren die Jochen Lachmunds.


* * *


Frau Kommerzienrat Moorbeck war auf die Nachricht von der Erkrankung ihres Richard sofort nach Uselin zurückgekehrt. Als Arno spät in der Nacht nach einer unsäglich langweiligen Fahrt, während der er den Nedur hundertmal verflucht hatte, in seine Wohnung kam, fand er ein Billet der Dame vor, in welchen sie den Herrn Doktor bat, sich möglichst bald zu ihr bemühen zu wollen. Frau Moorbeck stand bei ihm in großer Gunst: er sah in ihr die einzige »Lady« in Uselin und dem zehnmeiligen Umkreis. Schon die klaren, schönen Züge ihrer Handschrift hatten für ihn etwas Anmutendes. Er meinte: so schlanke, aristokratische Finger könnten gar nicht anders schreiben. Aber in seiner wilden Stimmung hatte er das zierliche Billet mit einem höhnischen »Natürlich! möglichst bald!« zerknittert auf den Schreibtisch geworfen, und es war am anderen Tage bereits Mittag geworden, bevor er seine Visite machte.

Frau Moorbeck empfing ihn in dem großen, in seiner Weise prächtigen und doch behaglichen Salon, dessen drei [64] Fenster auf den Hafenplatz gingen und in deren mittlerem, zu einer Nische erweiterten sie mit einer Stickerei beschäftigt saß. Sie legte die Arbeit in den Nähkorb und kam ihm ein paar Schritte entgegen mit ausgestreckter Hand, die er so schön fand, daß er sie immer am liebsten mit Küssen bedeckt hätte und die er gerade deshalb stets nur an den Fingerspitzen berührte. Wieder Platz nehmend, hatte sie ihn mit einer Geste aufgefordert, sich auf einen Fauteuil in ihrer Nähe zu setzen.

»Sie waren gestern über Land, Herr Doktor?«

»Über Wasser wäre richtiger, gnädige Frau. Ich war auf dem Nedur.«

»Ist das Inselchen wirklich so interessant, wie man mir sagt?«

»Ich bin gestern vor Langerweile beinahe gestorben. Aber ich kann mir wohl denken, daß es Leute giebt, die, einmal dort, nicht wieder fort möchten.«

»Und welche Sorte Leute wäre das?«

»Die, welche alle Schiffe hinter sich verbrannt hat.«

»Wie zum Beispiel Sie.«

»Ich?«

»Oder hätten Sie eines übrig gelassen, als Sie sich entschlossen, von Berlin hierher überzusiedeln?«

»Von einem Entschlusse kann nicht wohl die Rede sein bei jemand, den das Schicksal an den Schultern packt und ins Leben hinauswirft, wie ein Hausknecht den unliebsamen Gast auf die Gasse.«

»Schmeichelhaft ist das Bild für uns gerade nicht.«

»Tertium comparationis, gnädige Frau. Übrigens schmeichelt man nur denen, die man für zu dumm hält, um ihnen die Wahrheit sagen zu dürfen. So wären [65] Sie, gnädige Frau, die letzte, die eine Schmeichelei aus meinem Munde hörte.«

Frau Moorbeck beugte sich lächelnd über ihren Nähkorb nach einer Docke Garn und sagte:

»So, Herr Doktor! Das wäre dann ja wohl das Wortgeplänkel, mit dem eine Unterredung zwischen uns zu beginnen pflegt. Kommen wir nun, wenn es Ihnen recht ist, zur Sache! Sie haben Richard gesehen?«

»Ich war eben bei ihm. Sie hätten wirklich ruhig in Sundin bleiben können.«

»So sagte mir auch Doktor Radloff gestern. Aber wir Mütter sind eine sonderbare Nation, das wissen Sie ja. Und gelangen nie dazu, uns unseres Besitzes wahrhaft zu erfreuen, weil wir immer in der Furcht leben, er könne uns entrissen werden.«

»Was man in der Politik konservativ nennt.«

»Vermutlich. Nur, daß einer vor dem anderen Grund zu dieser Furcht hat.«

»Welcher eine eben jeder zu sein glaubt.«

»Sie sind heute schlimmer als je. Es muß Ihnen etwas sehr Unangenehmes begegnet sein.«

»Nicht, daß ich wüßte. Es war völlig die alte Leier.«

»Für die ich leider keine neue Melodie weiß. Aber euch vorklagen zu lassen, ist doch nun einmal euer trauriges Metier. Und nun erweisen Sie mir die einzige Gunst und verbannen Sie einmal zehn Minuten lang das sarkastische Zucken um Ihre Mundwinkel, das einen einfachen Menschen, wie mich, zur Verzweiflung bringen kann. Ich bitte um Ihren Rat in einer Angelegenheit, die für mich von äußerster Wichtigkeit ist. Sie wissen, wie ich mich um Richard sorge. Um Alexe habe ich mir [66] nie Sorge gemacht; es war, oder schien ja alles an ihr Leben und Gesundheit. Und nun sagt mir der Geheimrat Hasselbach in Sundin: es sei ganz zweifellos eine Schwäche in ihrer Lunge, die vorläufig zu ernsten Bedenken keine Veranlassung gebe, aber doch sehr sorgfältig beobachtet sein wolle. Also genau dasselbe, wie bei Richard; und das genau in demselben Alter bei Alexe eintritt, in dem es auch bei Richard zuerst konstatiert ist. Mir deucht, Ursache genug für eine Mutter, sich nach Rat und Hilfe umzusehen.«

Frau Moorbeck hatte die Stickerei weggelegt, für Arno ein Zeichen, daß die geistvolle Frau entschieden der besorgten Mutter Platz gemacht habe. So stellte er denn seinen Hut, den er bis jetzt in den Händen gehalten, neben sich auf den Teppich und sagte:

»Um von der Hilfe nicht zu reden, bis sie notwendig geworden, nach welcher Seite hin liegt der Rat, den Sie von mir wünschen?«

»Es ist dies,« sagte die Dame, sich ein wenig vornüberneigend und die großen dunkeln, etwas kurzsichtigen Augen auf ihn heftend. »Sie – ich meine Sie selbst, Doktor Radloff gestern und der Medizinalrat in Sundin – sprachen bis jetzt nur von Schwäche, die geschont, sorgfältig beobachtet sein will und so weiter. Aber Schwäche hat die Tendenz, schwächer zu werden; und was heute so heißt, kann morgen schon einen viel böseren Namen haben. Schwäche wird sich – wenigstens in einem solchen Falle – schwerlich jemals in Stärke verwandeln lassen, aber man kann sie vielleicht doch dahin bringen, daß sie ihre angeborene Natur bis zu einem gewissen Grade bezwingt und ungefähr an das normale Niveau der Leistungsfähigkeit [67] heranreicht. Unter besonders günstigen Bedingungen selbstverständlich, auf die der Arme ja leider verzichten muß, die zu schaffen uns aber vielleicht nichts kostet als einen mutigen Entschluß. Sie wissen bereits was ich meine: einen längeren Aufenthalt im Süden: Riviera, Sizilien, Ägypten – muß man sich einmal trennen, kommt es auf hundert Meilen mehr oder weniger nicht an. Denn sehen Sie, lieber Freund, hier liegt für mich die Schwierigkeit und das, was die Entschließung lähmt. Ich würde natürlich die Kinder begleiten; mein Mann könnte uns wohl an den Bestimmungsort bringen, müßte dann aber unbedingt zurückkehren – das große Geschäft kann kaum auf Tage und Wochen, geschweige denn auf Monate ohne den Herrn sein. Nun ist mein Mann zu jedem Opfer bereit, sobald es das Wohl der Kinder betrifft. Und er würde auch dieses bringen. Fraglos. Aber darf man, darf ich zugeben, daß er es bringt? Er sagt ›ja‹. Nur gehört er zu denen, die nicht ›nein‹ sagen können; auch hinterher die äußerste Mühe aufwenden, sich nicht merken zu lassen, wie schwer sie an ihrem ›ja‹ zu tragen haben. Eine wie vergebliche Mühe in den Augen einer Frau!«

Frau Moorbeck wischte sich leicht mit dem Tuch über die Augen und fuhr mit einem Lächeln, das nicht recht gelingen wollte, fort:

»Sehen Sie, das ist nun wieder einer von den vielen Fällen, wo man euch eine Verantwortung zuschiebt, die, auf sich zu nehmen, man in sich selbst nicht die Kraft fühlt.«

»Aber, gnädige Frau,« erwiderte Arno nicht ohne einige Ungeduld, »nehmen Sie es mir nicht übel, mir[68] scheint, wir gleichen hier doch ein wenig den seltsamen Leuten, die sich das Fell teilten, bevor sie den Bären hatten. Wer sagt denn, daß das Opfer überhaupt gebracht werden muß? Sie sich auf Monate, Jahre vielleicht, mit ihren Kindern expatriieren, den Gemahl, den Vater den Qualen der Vereinsamung ausliefern müssen? Natürlich werde ich daraufhin Ihren Sohn noch einmal ganz genau untersuchen, wenn ich auch im voraus weiß, daß das Resultat kein anderes sein wird, als bisher; das heißt eines, bei dem sich seine Eltern völlig beruhigen können. Nun aber Ihr Fräulein Tochter! Ich habe sie freilich in den drei Jahren, die ich hier bin, so selten gesehen und immer nur auf kurze Zeit; jetzt, wenn ich nicht irre, seit einem Jahre überhaupt nicht – immer aber ist sie mir, mich Ihres eigenen Ausdrucks zu bedienen, als das Leben und die Gesundheit selbst erschienen. Indessen der Geheime in Sundin sagt! Gnädige Frau, meine Erfahrung hat mich leider gelehrt, bis auf weiteres das Gegenteil von dem anzunehmen, was meine Kollegen behaupten. Auf jeden Fall muß ich, bevor ich urteile, eine Untersuchung haben anstellen dürfen. Das liegt doch auf der Hand, gnädige Frau.«

»Gewiß, gewiß! Wie könnte man es anders von Ihnen verlangen, erwarten. Nur –«

Sie brach ab und begann plötzlich einen Diamantring auf ihrer linken Hand sehr eifrig zu betrachten.

»Nur?« fragte Arno, als die Pause sich in die Länge zog.

Frau Moorbeck blickte auf; ein verlegenes Lächeln spielte um ihren Mund; auf ihren Wangen hatte sich eine Röte entzündet, daß alles Matronenhafte aus ihrem [69] Gesicht verschwunden war, und Arno ein junges, verschämtes Mädchen vor sich zu sehen glaubte. Zum ersten Male hatte er die volle Empfindung der außerordentlichen Schönheit der Dame, die ihre große Liebenswürdigkeit ihm bis dahin verborgen gehalten zu haben schien.

»Nur?« wiederholte er.

»– daß Sie so sehr jung sind!« rief Frau Moorbeck in einem kläglichen Ton, über den sie nun selber lachen mußte.

»Ich bin vielleicht älter, als ich aussehe, gnädige Frau.«

»Ach nein! Sie haben mir gesagt, daß Sie Ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag im Jahre achtundvierzig auf den Barrikaden in Berlin gefeiert haben. Nun und jetzt schreiben wir vierundfünfzig. Wären Sie doch noch wenigstens verheiratet!«

»Ich würde untröstlich sein, gnädige Frau, wenn von den Mängeln, die Sie an mir rügen, der eine nicht mit jedem Tage geringer würde, und man den anderen jeden Tag ablegen könnte.«

»Wenn Sie sich dazu entschlössen! Sie glauben nicht, welche Empfehlung für einen Arzt der Trauring an seinem Finger ist.«

»Da Sie es sagen!«

»Es scheint ja ein ganz thörichtes Vorurteil, und ist es vielleicht doch nicht, wenigstens nicht in dem Umfang. Die Ehe ist eine Fessel, manchmal im schlimmen, öfter, weit öfter im guten Sinne. Sie hilft uns unsere Leidenschaften beherrschen; sie hilft uns entsagen. Gewiß thut sie es nicht immer; aber die Regel möchte es sein. An diese Regel glaubt das Publikum, was für unseren Fall [70] das Entscheidende ist. Beziehungen, Verhältnisse, die es bei einem unverheirateten Arzt sehr zweifelhaft, ja, direkt anstößig findet, würde es dem Verheirateten ruhig passieren lassen.«

»Hat diese Philosophie nicht einen etwas pharisäischen Beigeschmack, gnädige Frau?«

»Es ist möglich. Aber wir können die Welt nun einmal nicht anders machen als sie ist.«

»Besonders nicht in Städten unter zehntausend Einwohnern.«

»Besonders da nicht.«

»Denn sehen Sie, gnädige Frau, es kann unter anderem folgendes geschehen. Es siedelt sich da ein Arzt an, der mit den beiden schlimmen Qualifikationen behaftet ist: dreißig Jahre und unverheiratet zu sein. Die zweite Eigenschaft muß um so straffälliger erscheinen, als er ist, was Goethe einen frauenhaft gesinnten Menschen nennt: einen, der ohne den Verkehr mit liebenswürdigen, gebildeten Frauen nicht leben kann. Nun giebt es leider in besagter Stadt unter zehntausend Einwohnern nur eine einzige, wahrhaft liebenswürdige, wahrhaft gebildete Frau; so liebenswürdig und gebildet, daß sie gar nicht nötig hätte, schön zu sein, und es trotzdem ist. Der junge Arzt wäre glücklich, könnte er in dem Hause dieser bevorzugten Dame nach Belieben aus und ein gehen, seine ihm knapp zugemessenen freien Stunden verbringen. Aber darum zu bitten, verbietet ihm seine Bescheidenheit, und der Dame – was kann ihr an ihm gelegen sein! Sie hat ihren trefflichen Gatten, ihre liebenswürdigen Kinder, ihren großen Umgangskreis, ihre wohlthätigen Anstalten, ihre ausgebreitete Korrespondenz –«

[71] »Aber, lieber Herr Doktor!« rief Frau Moorbeck, »ich versichere Sie –«

»Verzeihung, gnädige Frau,« fuhr Arno in demselben kühlen Tone fort, »lassen Sie uns noch einen flüchtigen Blick auf die andere Seite der Medaille werfen! In der Stadt mit dem berechtigten Anspruch, in kommenden Jahrhunderten eine Weltstadt zu werden, lebt eine zweite Dame, die ich mit der ersten nicht vergleichen will und kann, und von der ich nur sagen muß, daß sie besser ist als ihr Ruf. Ihr Ruf ist nämlich, eine Menschenfischerin, sagen wir: Männerfischerin zu sein. Wie sie dazu gekommen ist, weiß ich nicht. Möglicherweise, weil sie in ihrer Frisur, ihrer Toilette einem anderen Geschmack huldigt als die übrigen Damen der Stadt. Jedenfalls kann diese Extravaganz – wenn sie eine ist – für den frauenhaft gesinnten Fremdling kein Grund sein, die Freundschaft, welche ihm diese Dame bietet, zurückzuweisen; die angenehmen Stunden, die sie dem Unbehausten an ihrem Theetisch, ihrer Abendtafel bietet, zu verschmähen, auf die Gefahr hin, daß jene erste Dame ihre Tochter seiner Kunst nicht anvertrauen mag, ja, – wer kann es wissen – ihm ihre Gunst völlig entzieht, und damit der werdenden Weltstadt das Signal giebt, ihn gleicherweise fallen zu lassen. Ich habe die Ehre, gnädige Frau –«

»Doktor! lieber, bester Doktor –«

Arno hörte es nur noch hinter sich her. Er hatte, seinen Hut vom Teppich raffend, nach einer steifen Verbeugung, mit langen Schritten den Salon verlassen.

»Da habe ich etwas Schönes angerichtet,« murmelte Frau Moorbeck, in ihren Fauteuil zurücksinkend.

[72] »Da habe ich eben eine kolossale Dummheit gemacht,« sagte Arno bei sich, als er die Hausthür hinter sich ins Schloß drückte.


* * *


Es blieb eine Dummheit, von welcher Seite er es auch betrachten wollte. Wie durfte er in seiner Lage sich das Wohlwollen der vornehmsten und einflußreichsten Frau der Stadt verscherzen? Daß er an Stelle des alten Kreisphysikus, der sich zur Ruhe setzen wollte, in dem Moorbeckschen Hause als Arzt angenommen war und nicht sein Kollege Hannemann, der schon jahrelang in Uselin praktizierte und also das größere Anrecht zu haben schien, hatte ihm mit einem Schlage ein halbes Dutzend der besten Häuser der Stadt geöffnet. Wiederum war es zweifellos die Fürsprache von Frau Moorbeck, welcher er die Oberarztstelle an dem vom Kommerzienrat der Stadt geschenkten Krankenhause verdankte. Es mit den Moorbecks verderben, hieß seine ergiebigsten Einnahmequellen verschütten. Wem zuliebe? Einzig seinem Stolz, der nicht dulden wollte, daß man ihm in seine Angelegenheiten hineinredete, mochte es auch auf die zarteste, liebevollste Weise geschehen, und mit gutem Recht. War Frau Moorbecks Weise etwa unzart gewesen? Hatte sie nicht hundertmal recht? Gab er sich durch sein schon beinahe stadtkundiges Verhältnis mit Lora nicht die schlimmsten Blößen? Konnte man es der Mutter verdenken, wenn sie ihre unschuldige Tochter nicht berühren lassen wollte von ihm, den sie mehr als im Verdacht hatte, der Geliebte einer Lora Siebold zu sein?

Und hätte es bei ihm noch die Verteidigung einer Liebe gegolten, gleichviel, ob sündhaft, oder legitim! Aber [73] liebte er denn Lora noch? Oder hatte er sie überhaupt je geliebt? Hatte zwischen ihnen je so etwas wie ein Seelenbund existiert? Waren ihre Unbildung, ja Bildungsunfähigkeit, ihre maßlose Gefallsucht, ihr ästhetischer und moralischer Stumpfsinn nicht von Anfang an Gegenstände des Spottes und des Hohnes für ihn gewesen? Hatte ihr Verhältnis hinüber und herüber je eine andere Basis gehabt als banale Sinnlichkeit? deren Reiz und Zauber für ihn nun auch schon längst verloren waren? Darüber, wenn es ihm noch nicht klar geworden, hätte ihn doch wahrlich der letzte Abend vor seiner Fahrt nach dem Nedur belehren können. War er nicht in jener Nacht aus dem Hause gegangen mit dem Vorsatz, nie wieder einen Fuß über die Schwelle zu setzen?

Auch blieb er diesem Vorsatz drei Tage treu, während der er stündlich auf ein Billet harrte, durch welches Frau Moorbeck ihn wieder zu sich rief. Er war wütend auf die schöne Dame, daß das Billet nicht kam; wütend auf Lora, die ihm im Laufe dieser drei Tage nun schon den sechsten Brief geschrieben. Er hatte ihn vorgefunden, als er in der Abenddämmerstunde von seiner Praxis nach Hause gekommen war, und, eben wie seine Vorgänger, ungelesen zerrissen und in den Papierkorb geworfen, als an seine Thür gepocht wurde. Gerade so – in derselben Dämmerstunde – klopfte es heute nicht zum ersten Male. Ärgerlich öffnete er die Thür.

»Lora!«

»Ja, deine unglückselige Lora!« sagte sie, eintretend, den schwarzen Schleier zurückschlagend und Arno mit einer Heftigkeit umarmend, die ihm sehr gemacht erschien.

[74] »Wir waren übereingekommen, daß diese Besuche nicht wiederholt werden sollten,« sagte er.

»Niemand hat mich gesehen,« versicherte sie.

»Gleichviel. Du setzt deinen Ruf aufs Spiel und meinen um nichts und wieder nichts.«

»Ist das nichts, wenn ich auf alle meine Briefe keine Zeile Antwort habe?«

»Schweigen ist unter Umständen auch eine Antwort.«

Sie hatte sich in einen Stuhl geworfen und war in Weinen ausgebrochen. Das und der Gedanke, was Frau Moorbeck sagen würde, wenn sie Zeugin dieser Scene wäre, brachte ihn vollends außer sich.

»Zum Teufel!« rief er wild. »Was soll die Komödie! Machen wir ein Ende! Dies hat keinen Sinn. Hätte doch nur welchen, wenn wir uns noch liebten. Nach unserer letzten Scene habe ich wenigstens nicht mehr den Mut, es zu behaupten.«

»Aber ich!« rief sie, aufspringend. »Daß du mich nicht mehr liebst, das weiß ich längst. Wer hat dir das Recht gegeben, an meiner Liebe zu zweifeln?«

»Unter anderem unsere letzte Unterredung. Du scheinst sie ganz vergessen zu haben.«

»Mein Gott! was sagt man nicht alles, wenn man in solcher Aufregung ist!«

»Gewiß! Und was man da nicht alles thut! Oder wolltest du in Abrede stellen, daß die Aussöhnung mit deinem Mann in jener Nacht eine vollkommene gewesen ist?«

»Der Elende!« murmelte sie, auf den Stuhl zurücksinkend.

[75] »Freilich. Am nächsten Morgen nicht als Rittergutsbesitzerin aufwachen – das schreit zum Himmel.«

Er hatte die Thür verschlossen, sich gegen unliebsame Störungen zu sichern. Jetzt stand er an seinen Schreibtisch gelehnt, das eine Bein über das andere geschlagen, mit grausamem Blick sie betrachtend, die krampfhaft in die vorgehaltenen Hände schluchzte.

»Das fordert eine eklatante Rache,« fügte er mit höhnischem Lachen hinzu.

»Ja, Rache! Rache!« rief sie, die Hände vom Gesicht reißend. »Rache muß ich haben! Will ich haben! Scheiden lassen will ich mich!«

»Oho!«

»Jawohl, scheiden! Hundertmal hab ich's gewollt. Jetzt ist es mein fester Entschluß.«

»Der sich nur nicht so glatt wird ausführen lassen.«

»Das werden wir sehen.«

»Dazu gehört kein besonderer Scharfblick. Das Gericht ist so unverständig, Scheidungsgründe zu verlangen. Welche hättest denn du? Ein so lieber Mann, der dich auf den Händen trägt, dir jeden Wunsch erfüllt, wenn er sich nicht bis zu einem Rittergut versteigt! Und wer weiß! Vielleicht bringt er auch einmal das als Morgengabe. Du kannst freilich von ihm weglaufen. Ich weiß nur nicht gleich, wohin. Eheliche Untreue. Sehr schön. Nur, daß dazu zwei gehören. Oder wolltest du mich als den betreffenden Zweiten reklamieren? Leugnen kann ich es ja nicht und werde ich nicht, ohne es bis zum Eid kommen zu lassen. Ich werde als anständiger Mann auch ein übriges thun: ich werde dich heiraten. Das wird dann ein Gaudium sein. Gezankt haben wir uns [76] ja vorher nie; weshalb sollten wir es nachher? Les gueux! les gueux! sont les gens heureux! ils s'aiment entre eux! Nun und die Bettlerschaft ist garantiert. Von Berlin bin ich weggegangen, um nicht zu verhungern. Wollte ich hier bleiben, würde ich, würden wir verhungern. Ich dächte, du kenntest die lieben Useliner: der letzte Hafenarbeiter denkt zu korrekt, um sich von einem Doktor kurieren zu lassen, der dem großen Apotheker und Stadtverordneten die Frau entführt hat. Nun ist die Welt ja allerdings sehr weit, selbst das Stück davon, das Deutschland heißt. Bon! Gehen wir auf die Suche. ›Günstige Gelegenheit in Posemuckel für einen Arzt und Geburtshelfer. Vierhundert Thaler garantiert; dazu lohnende Landpraxis, die auf mindestens zweihundert Thaler zu veranschlagen ist.‹ Eine glänzende Offerte! Gehen wir nach Posemuckel!«

Er begann, die Hände auf dem Rücken, in dem dämmrigen Gemach auf und ab zu schreiten zwischen den Fenstern und dem Stuhl, auf welchem sie regungslos saß. Plötzlich erhob sie sich und zog den schwarzen Schleier wieder über das Gesicht.

»Du willst fort?«

»Ja. Ich denke: das Maß der Beleidigungen ist jetzt voll genug. Selbst für deinen Geschmack.«

Die Redewendung imponierte ihm. Er hatte sie ihr nicht zugetraut. Auch nicht die Ruhe, mit der sie sprach. In einem Wortwechsel mit ihr den kürzeren zu ziehen, war er nicht gewohnt.

Er blieb stehen und sagte von oben herab:

»Wenn es dich beleidigt, deine – unsere Lage in ihrem richtigen Licht dargestellt zu sehen – meine Schuld ist es nicht.«

[77] »Hast du dir das Licht vielleicht von der Frau Kommerzienrat anstecken lassen? Ich sah dich heute mittag hineingehen.«

»Um Cancan zu reden, dazu ist die Dame zu vornehm.«

»Entschuldige, wenn mir der Ausdruck nicht geläufig ist.«

»Ich wollte, du könntest von der Sache dasselbe sagen.«

»Also: adieu!«

Sie wandte sich nach der Thür und blieb wieder stehen.

»Noch eins! Wenn in der Stadt über unser Verhältnis mehr gesprochen werden sollte, als wohl sonst, und mit Details, die man vorher nicht kannte, – ich bin ja gewohnt, daß du mich für alles verantwortlich machst. Ich bin es natürlich auch diesmal: ich habe Malwinen weggeschickt.«

»Nachdem du neulich abend selbst gesagt, du müßtest das Frauenzimmer behalten, wenn die Geschichte nicht in der ganzen Stadt herumgetragen werden sollte!«

»Ich erinnere mich. Aber siehst du, mein Lieber, eine Frau kann auf einem Punkt ankommen, wo ihr alles gleichgültig ist: guter Ruf und Schande, Leben und Tod. Wo sie nur Ruhe haben will, um jeden Preis. Ich hatte keine, so lange die Person im Hause war – keine Stunde. Sie konnte nicht mehr an mir vorübergehen, ohne eine höhnische Fratze zu machen; meine Sachen selbst gehörten mir nicht mehr; sie nahm, was ihr gefiel, als wäre es ihr gutes Recht. Das habe ich dir alles geschrieben; dich gefragt, was du mir rietest. Wenn ich jetzt nicht nach deinem Sinne gehandelt habe – kannst du mir die Schuld daran geben?«

[78] War die Erregung, in der sie sprach, nun wirkliche Empfindung? Wollte sie eine offenbare Thorheit, die sie begangen, hinter einer zur Schau getragenen Heftigkeit verstecken? War es gar nicht Thorheit, sondern planvolle Absicht, durch das Gerede, welches das Mädchen in der Stadt herumtragen würde, eine Katastrophe herbeizuführen, an deren Ende das Elend in Posemuckel stand?

Er konnte darüber nicht mit sich ins reine kommen. Zum erstenmale war er ihr gegenüber um eine Antwort verlegen. Glücklicherweise schien sie auch keine zu erwarten. Sie ging eilig auf die Thür zu, er ihr nach, den Riegel zurückzuschieben. Bereits an der Thür, knickte sie plötzlich zusammen; er konnte sie nur noch eben in seinen Armen auffangen. Ihr schlanker, kraftvoller Körper hing schlaff herab. Er trug sie zum Sofa und fühlte nach ihrem Pulse, ihren Schläfen –

»Es ist nichts,« murmelte sie. »Nur einen Moment – ja, ja! einen Moment – einen letzten – der Seligkeit in deinen Armen –«

Sie hatte ihn mit beiden Armen umschlungen, ihn an ihre Brust ziehend mit einer Leidenschaft, in der keine Spur von Schwäche zu spüren. Es war ja Komödie: Ohnmacht, Leidenschaft – alles. Aber so gut gespielt! Und in der Erinnerung vergangener Wonnen fühlte er, wie ihm das Herz zu klopfen begann, seine Lippen die ihren nicht mehr mieden. Da schreckte ein Pochen an der Thür ihn von den Knien, sie vom Sofa auf.

»Um Gottes willen –«

»Still –«

Er war an die Thür getreten.

»Wer ist da?«

[79] »Ich, Kollege! Ich möchte Sie in einer Krankenhaussache –«

»Wollen Sie sich einen Augenblick gedulden, Kollege!«

Er war zu ihr zurückgeschlichen:

»Über den Flur, durch die Küche –«

»Ich weiß –«

»Leb wohl!«

»Liebst du mich noch?«

»Ja, ja!«

»Auf Wiedersehen!«

Sie war hinausgeschlüpft. Er ging zu öffnen. Doktor Radloff trat ein.

»Was giebts, Kollege?«

»Es ist ein Schiffer eingeliefert – ein Däne – Typhlitis im letzten Stadium. Höchstens noch eine Operation –«

»Ich komme sofort mit Ihnen.«


* * *


Mit den Folgen ihres kecken Besuches durfte Lora zufrieden sein. Das Verhältnis mit ihrem Geliebten war auf den alten Stand zurückgebracht; schien sogar ein besseres als zuvor. Er kam die beiden folgenden Tage wie sonst in der Dämmerstunde, blieb am zweiten auch zum Abendessen; war weniger herrisch und sarkastisch, während sie ihre ganze Liebenswürdigkeit spielen ließ und ihr Gatte sich nicht genug freuen konnte, den lieben Herrn Doktor wieder in alter Weise bei sich zu haben. Zwar werde der liebe Herr Doktor nächstens gar keine Rezepte mehr verschreiben und einen armen Apotheker verhungern lassen; aber ehrlich verhungern sei [80] immer noch besser, als mit so unlauteren Mitteln reich werden, wie der Herr Kommerzienrat drüben. – An Stelle der weggejagten Malwine war ein neues Mädchen engagiert, von dem Lora nach vierundzwanzig Stunden versicherte, daß sie es die längste Zeit gehabt habe. Malwine hatte keinen Dienst wieder angenommen, sondern war zu ihrer Schwester, einer gesuchten Putzmacherin in der Stadt, gezogen und wollte nun ebenfalls Putzmacherin wer den. Siebold erklärte, nicht begreifen zu können, wie Lora die schlechte, freche, durch und durch verlogene Person so lange um sich habe dulden mögen. Lora sei eben zu gut und verziehe alle Menschen.

So war hier der Frieden dem Anschein nach völlig hergestellt; aber Lora würde weniger triumphierend gelächelt haben, hätte sie in Arnos Seele blicken können. Er fühlte sich tief gedemütigt, und beleidigt, weil er sich gedemütigt fühlte. Er hatte Krieg gewollt und nun doch sich den Frieden diktieren lassen. Wo blieb da sein Grundsatz: fahren zu lassen, was ihm nicht genügte? Wo sein Stolz, koste es, was es wolle, Herr der Situation zu bleiben, in der er sich befand?

Und war er es denn in einer anderen geblieben, die ihm, wie sie sich nun durch seine Schuld gestaltet hatte, fast noch qualvoller war, weil es sich in ihr um Personen handelte, die er schlechterdings nicht verachten konnte?

Das Billet der Frau Kommerzienrat, nach dem er so sehnsüchtig ausgeblickt, war nun doch gekommen. Am vierten Tage. Sie schrieb ihm in ihrer klaren, schönen Hand: ob er denn noch immer schmolle? Ob denn wirklich zwischen Freunden ein freieres Wort nicht erlaubt sei, mit welchem man nichts gewollt, als das Beste des [81] Freundes? Sie habe ihn nie für einen jener Herdenmenschen gehalten, die nach der Schablone fühlten, dächten, handelten; sie sei auch noch jetzt weit davon entfernt, es zu thun. Aber sie sei eine Frau. Eine Frau habe das stete Bedürfnis nach immer neuen Beweisen ihres Glaubens, ihrer Überzeugung. Und sei den Männern dankbar, welche ihr diese Beweise führten. Die Beweisführung koste ihm nichts als einen Besuch von fünf Minuten.

Ja, er hatte auf dies Billet sehnsuchtsvoll geharrt; aber nur, um darauf zu erwidern, er dürfe wohl annehmen, daß die verehrte Familie sich während dieser Tage, an welchen Doktor Radloff sie statt seiner besucht, nicht schlechter befunden habe, als vorher; und er der gnädigen Frau auch für die Zukunft den Genannten als einen ebenso geschickten, wie gewissenhaften und fleißigen jungen Arzt nicht dringend genug empfehlen könne.

Und zehn Minuten nach Empfang des Billets hatte er im Salon der Dame gestanden und ihre schöne Hand nicht an den Fingerspitzen ergriffen, sondern zum erstenmale huldigend an seine Lippen geführt.

Also auch in diesem Falle der Besiegte.

In einem dritten hatte er sich wenigstens zu starken Konzessionen herbeigelassen, um zum Ziele zu gelangen.

Noch von seinen Studentenjahren her lag ihm ein Drama im Pult: Der Verbannte. Vor ein paar Monaten war ihm die halbvergessene Arbeit wieder in die Hände gekommen. Er hatte sie über Erwarten gut gefunden und sie an Eduard Devrient nach Karlsruhe geschickt, auf den er als Dramaturgen große Stücke hielt. Fast umgehend die Antwort: das Stück sei ausgezeichnet, [82] und der Autor dürfe es nicht nur als angenommen, sondern auch zur demnächstigen Aufführung angesetzt betrachten, wenn er sich entschließen könne, gewisse näher bezeichnete Veränderungen vorzunehmen, bei denen es, wie der Autor sich überzeugen werde, nur um Äußerlichkeiten handele, wie sie die Bühnentechnik nun einmal leider Gottes notwendig mache. Arno hatte den ebenso höflichen, wie einsichtsreichen Brief des erfahrenen Mannes unbeantwortet gelassen. Ihm dergleichen auch nur zumuten! Er war, wie er war, oder er war nicht!

Vorgestern ein zweiter Brief Devrients: ob denn sein Schreiben vom Dezember nicht zu des Autors Händen gelangt sei? Er habe von Woche zu Woche gewartet. Jetzt dränge die Zeit aufs äußerste. Die Arbeit, die er dem Herrn Autor angeraten, sei doch in wenigen Stunden gethan. Er bitte dringend, die kleine Mühe sich nicht verdrießen zu lassen; und glaube dann einen vollen Erfolg verbürgen zu können.

Noch in derselben Nacht hatte sich Arno an die Arbeit gemacht; die Veränderungen ganz im Sinne des Direktors ausgeführt und am nächsten Morgen das, wie er sich selbst gestehen mußte, so wesentlich verbesserte Stück zum zweitenmale auf die Reise ge schickt.

Sein einziger Trost bei dieser neuen Demütigung war, daß er das Opfer seines Stolzes seinem Schmerzenskinde, seinem Faustulus, habe bringen müssen. Er wollte den Triumph erleben, das große Werk aufgeführt zu sehen. Da mußte er doch erst einmal auf der Bühne Fuß gefaßt, die Theaterleute sich vertraulich gemacht haben. Schlug der Verbannte durch, würde Devrient schon mit sich reden lassen. Vorläufig hatte er sich diesem [83] gegenüber mit einigen Hindeutungen begnügt auf eine zweite, viel bedeutendere dramatische Arbeit, die er ihm vorzulegen sich verstatten werde, sobald er mit den letzten Scenen zu stande gekommen.

Aber würde das jemals der Fall sein? Für ihn gab es keinen transcendenten Himmel, in welchem mit der Wette um Fausts Seele zwischen Gott und dem Teufel die Tragödie anhebt, um wieder jenseits der Wolken in der Transfiguration des Helden und seiner Aufnahme unter die Heiligen ihren Abschluß zu finden. Bei ihm spielte sich der Kampf des Guten mit dem Bösen in der Seele seines Helden ab und nirgends sonst. Dieser Kampf aber war von Ewigkeit gesetzt und würde in Ewigkeit währen; wurde mit jedem Menschen neu geboren, mit jedem Menschen zu einem Scheingrabe getragen. Von einem finalen Sieg des einen oder des anderen Princips konnte keine Rede sein. Damit aber schien der künstlerische Schluß seiner Tragödie, der doch ein durchaus sicheres Resultat verlangte, das der Zuschauer getrost mit nach Hause nehmen konnte, die Quadratur des Zirkels.

Solche Zweifel und Bedenken, die ihn längst schon gequält, hatte ein langer Brief seines Freundes Fritz aufs neue lebhafter als je entfacht. Freund Fritz war seit zwei Jahren außerordentlicher Professor der Philosophie in Berlin – er muß es also wissen, höhnte Arno, nur um sich desto verzweifelter an seine Auffassung zu klammern.

»Du gestehst,« erwiderte er dem Freunde, »Dir keine Vorstellung davon machen zu können, wie ohne den Apparat der Dämonen, den Goethe mit so souveräner Weisheit und Geschicklichkeit handhabe, der große Kampf [84] zu lebensvoller, plastischer, überzeugender Darstellung zu bringen sei. Aber ist denn dieser Kampf in Wirklichkeit nicht ohne den Apparat schon wer weiß wie oft geführt worden? Und ein und das andere Mal in so großartigen Dimensionen, daß sie selbst für einen Professor der Philosophie etwas Überzeugendes haben müßten? Oder meinst Du, daß in dem Leben eines Alexander, eines Cäsar, und der Großen alle, die ihre Namen mit Flammenlettern in die Bücher der Geschichte geschrieben haben, die Dämonen ihr Spiel nicht hatten, trotzdem ihnen kein Gottseibeiuns von der Volkssage und Goethes Gnaden zur Verfügung stand? Glaubst Du, es sei bei den babylonischen Orgien des Ammonsohns sittsamer zugegangen, als in der Walpurgisnacht? Oder Carolus Magnus habe die viertausend Sachsen an einem Tage hinrichten lassen ohne vorherige und nachherige sehr ernste Aussprache mit dem Satan? Oder Friedericus Rex sei, während er sich mit der halben Welt, das Giftfläschchen in der Westentasche, herumschlug, seine arme Seele für eine gewonnene Schlacht nicht ein dutzendmal feil gewesen?

Du siehst, worauf ich hinaus will. Rhodus ist überall in jeder Menschenbrust. Das weiß ich wohl und besser als mancher. Aber in der Brust eines Großen, eines, der auf der Menschheit Höhen wandelt – nicht in der Phantasie eines Dichters, sondern in der Wirklichkeit eines Herrscherdaseins – in dessen Brust, behaupte ich, ist mehr Raum für den Tanz. Er braucht nicht erst in einen Zauberspiegel zu blicken, um nackte Helenen zu sehen; sich nicht von einem Kaiser eine Strecke Küstenlandes schenken zu lassen, die er sich selbst mit der Schärfe [85] seines Schwertes erobern kann. Die und ungemessene Reiche, durch die einherzieht: ein Mordbrenner und Triumphator, ein Würger und gnadenspendender Gott.

So ein bös-guter Gewaltsmensch ist mein Faustulus, der auch Faustinus heißen könnte – irgend wie, wenn es nur an den Namen anklingt, der vor dem sei nen erbleichen soll; nebenbei auf seine römische Abkunft hinweist. Denn er ist ein vornehmer Römer mütterlicherseits, wenn auch im Orient von einer schönen, orientalischen Mutter geboren. Den Vater magst Du Dir als mächtigen Prokonsul denken; der Sohn will höher hinaus. Er will sich seine Befehle nicht von Rom diktieren lassen; will selbst befehlen, Selbstherrscher sein. Er wird's auf Antrieb und mit Hilfe seiner ehrgeizigen Mutter, die ihm beweist, daß der loyale Vater vorerst aus dem Wege muß. Hamlet, der auf den Thron steigt über seines Vaters Leiche! Ach, und seine Mutter ist noch so jung, so schön! – Ja, mein Lieber, in dem Leben meines Helden geht es nicht ganz so zimperlich zu als in dem des deutschen Teufels-Professors, der über Mephistos: »Sie ist die erste nicht!« wie ein Sekundaner flennt. Und es giebt Mütter fürchterlicher als die, zu denen er mit Hilfe des goldenen Schlüssels fährt.

Aber um Himmels willen denke Dir ihn nicht als einen rohen Wüstling: Caligula, Heliogabal e tutti quanti! Er ist, wie der Dänenprinz, ein Philosoph, ein Denker, ein Gelehrter, der mit heißem Bemühen in Rom und Athen studiert; in Memphis zu den Füßen der Priester gesessen hat; die Glaubensstärke der Christen, die er zu Tode martern läßt, bewundert und über die Qualitäten des unsichtbaren Gottes, zu dem sie beten, tiefsinnige [86] Betrachtungen anstellt. Dabei ist dieser Gewaltsmensch – und hier, in dem Nachweis davon, liegt mein Problem und die ungeheuere Schwierigkeit meiner Aufgabe – der zartesten Empfindungen, der edelmütigsten Handlungen, nicht bloß fähig – nein! er empfindet, handelt so. Und ich hoffe es fertig zu bringen, daß jeder Leser oder Zuschauer gestehen muß: dies ist kein Gebilde verstiegener Dichterphantasie; dies ist wahrste Wahrhaftigkeit. Dieser Mensch kann gelebt haben. Ja, er lebt – wenn gleich als schwaches Abbild – in uns allen.

Goethe sagt einmal, daß er die Anlage zu jedem Verbrechen in sich spüre. Er hätte wohl hinzufügen können: zu jeder Gutthat; und würde damit nur zum Ausdruck gebracht haben: daß er ein ganzer Mensch sei. Das sollte sein Faust werden. Aber ich meine: ist es nicht geworden. Weder in der Tugend, noch im Laster reicht er über ein anständiges Durchschnittsmaß hinaus. An der Sünde nascht er herum, wie ein lüsterner Student, und ohne Mephistos Beistand kann er nicht einmal dem alten Ehepaar die Hütte über den Köpfen abbrennen. Von seinen Tugenden wissen selbst die Engel nichts weiter zu sagen, als daß er »immer strebend sich bemüht«. Nun und das kann auch der brave Wagner auf seine Famulus-Ehre nehmen. Glaub mir, Goethe würde den großen Korsen nicht so ausschweifend bewundert haben, hätte er sich in der Stille nicht immer sagen müssen: Hier ist hundertmal mehr als Faust! Hier ist, was du gewollt hast!

Ich will dasselbe. Ja, ich habe es schon – bis auf den Schluß –

Aber auch den werde ich finden –

[87] In einem Moment, wie ich ihn neulich auf einer kleinen wüsten Insel, zu der mich mein Beruf manchmal führt, erlebt habe. Einem Moment, den ich dir nicht beschreiben kann, weil er unbeschreiblich ist – – –«


* * *


Arno hatte wieder und wieder an den seligen Moment seines Erwachens an dem offenen Fenster des Lotsenhauses denken müssen in diesen Tagen, die ihm mit Ärger und Verdrießlichkeiten aller Art bis an den Rand gefüllt waren. Vergebens, daß er sich wieder in den einzigen Zustand zurückzuträumen suchte. Keine Spur des Himmelsglücks, das er da empfunden, wollte wiederkehren. Grau und tot lag die Welt, in die er da geschaut, wie der erstgeschaffene Mensch in das Paradies.

Nur eines hob sich aus dem Bilde, das völlig zu zerfließen drohte, mit einer Deutlichkeit, welche dieselbe blieb, ja, immer leibhaftiger zu werden schien: das schlanke Mädchen mit dem blondrötlichen Haar, das an dem aufgespannten braunen Segel so emsig geschafft hatte. Es bewegte sich vor ihm hin, anmutsvoll, bald diese, bald jene Stellung einnehmend; ihm jetzt den feinen Rücken zuwendend, so daß der dicke Haarknoten tief in den Nacken fiel, jetzt sich zu ihm kehrend, ihn mit den großen blauen Unschuldsaugen scheu vertraulich anlächelnd –

Einmal wieder in diese Augen zu sehen!

Er meinte, dann müsse ihm auch der Moment, nach dem er sich so innig sehnte, zurückkommen.

Und was ihm seltsam dünkte: er wollte es nicht mehr Wort bei sich haben, daß ihm das entzückende Geschöpf höchst stupid erschienen sei. Woraus auch hätte er es [88] schließen sollen? Aus den paar Worten, die sie miteinander gewechselt? Ihre kurzen Antworten auf seine Fragen waren doch verständig und sachgemäß gewesen! Sollte sie sich dem fremden Manne geschwätzig aufdrängen? Und ihr Verlobtsein mit dem jungen Ichthyophagen, das er ihr zum Verbrechen gemacht? Nun, Prinzen von Geblüt gab es auf dem Nedur nicht. Und die Faust-Gretchen-Geschichte wollte er ja wohl nicht mit ihr spielen, zugegeben, daß ein Kuß von ihren taufrischen Lippen eine köstliche Erquickung nach den heißen parfümierten Lora-Küssen sein würde. Unter allem Verächtlichen war ihm immer die Schande des Plagiats als das Verächtlichste erschienen im Dichten, wie ihm Leben.

Es war die höchste Zeit, daß der Verband, den er der Frau Prebrow angelegt, nachgesehen wurde; und Doktor Radloff hatte sich bereit erklärt, heute nachmittag ein Boot zu nehmen und hinüber zu fahren. Am Morgen war er mit dem Gedanken erwacht, ob er es nicht besser selbst thue; mittags stand es bei ihm fest, daß er es thun müsse. Er schrieb an Radloff in das Krankenhaus: er möge sich nicht bemühen, um so weniger, als der noch immer nicht gefahrlose Zustand des operierten dänischen Schiffers seine Anwesenheit in der Anstalt wünschenswert mache. Ihm selbst werde die kleine Ausspannung gut thun nach diesen letzten, für ihn noch besonders leid- und mühevollen Tagen. Sollte er morgen noch nicht zurück sein, möge ihn der Kollege in gewohnter gütiger Weise, wo es not thue, vertreten.

Durch seinen Burschen hatte er die Handtasche nach dem Hafen vorausgeschickt. Als er über den Hafenplatz ging, sah er rechts hinter den Spiegelscheiben Frau Moorbeck, [89] links an ihrem gewohnten Fenster hinter den Balsaminen Lora. Frau Moorbeck blickte nicht von ihrer Arbeit auf; Lora hatte durch den Straßenspiegel, der ihrer Neugier nichts, was draußen vorging, unterschlagen durfte, sein Herankommen bemerkt und stand, nach lebhaftem Nicken, offenbar im Begriff, das Fenster aufzureißen. Er winkte mit der Hand hinauf, eilig weiter schreitend; bei sich lächelnd an den Sohn des Laertes denkend, der zwischen Scylla und Charybdis hindurch das freie Meer sucht. Das freie blaue Meer – die großen blauen Augen der schlanken Lotsendirn! Wie wonnig sie ihm lächeln würden nach den beiden dunklen Augenpaaren hüben und drüben! den sanftglänzenden der Kommerzienrätin mit ihrer beschämenden Klarheit reinster Seelengüte; den unheimlich phosphorescierenden Loras, an Irrlichter mahnend, die auf schwarzem Sumpfe tanzen.

Erquickliche Fahrt nun auf dem reinlichen Segelboot, das rasch den Fluß hinabgleitet, im sommerlich warmen Schein der Nachmittagssonne eines letzten Apriltages zwischen flachen, im Frühlingsgrün prangenden Ufern mit ihren strohgedeckten Gehöften, aus denen, nur um ein weniges höher, das Ziegeldach des Pächter- oder Herrenhauses ragt. Streifen noch braunen Waldes; der bescheidene Turm einer Kirche hier und da. Auf dem Fluß, der immer breiter wird, ein paar Segel, die entgegenkommen, oder die man überholt; der kleine Dampfer, der einen Schoner, geschäftig schnaufend, zur Stadt schleppt. Jetzt häufiger größere Möwen, wollüstigen Fluges durch die Luft sich wiegend; jetzt, an dem roten Feuerschiff vorüber, hinaus in die offene blaue See, hinter sich das Festland, das allgemach verschwindet, vor sich nichts als [90] Himmel und Wasser: Himmel, an dem große gleißende Wolken unbeweglich stehen; Wasser, das in gleichmäßigen, schaumgekrönten Wellen sich hebt und wieder senkt.

Die frische Seeluft, die rhythmische und doch so kecke Bewegung des Bootes, der herbe Duft des Wassers – wie wohl das seinen abgehetzten Nerven that, während er im Hinterteil des Bootes auf einer Bank halb liegend, halb sitzend die scharfen Augen über Meer und Himmel schweifen ließ! Verse aus der Ilias und Odyssee, die er längst vergessen glaubte, kamen ihm wieder in Erinnerung. Er freute sich, daß er noch lange Stellen im Zusammenhang so vor sich hinmurmeln konnte. Die erste Begegnung des Laertiaden mit Alkinoos' Tochter wußte er noch Wort für Wort auswendig. Ob sich zwischen Odysseus und Nausikaa ein Liebesverhältnis angesponnen? Die Frage war eine Zeitlang in der Prima eifrig ventiliert worden. Alle hatten sich dafür entschieden, während er erklärte: das sei sentimentaler Nonsens, unvereinbar mit der herben Keuschheit antiken Denkens und Empfindens. Diesen Menschen sei, wie allen Naturkindern, Liebe und Genuß identisch gewesen; Flirtation hätten sie nicht gekannt.

Nun mußte er lächeln, als er sich sagte, daß er, der gereifte Mann, noch völlig auf dem Standpunkt des Primaners stehe, nur nicht mehr bloß in der Nausikaafrage. Sondern stets dafür gehalten, es dürfe ihm recht sein, was den Alten billig war.

Wenn er in der Erinnerung die Verhältnisse durchging, die er bereits gehabt – es war immer dasselbe gewesen: kurzes, seliges Genießen und dann Trennung, von seiner Seite ohne Kummer und ohne Reue. Goldne [91] Herzen am Halse hatte er nie getragen. Seine Lora-Liebe war keine Ausnahme. Er hatte sich innerlich längst von ihr losgesagt. Was sie noch scheinbar zusammenhielt, war die Misere der Kleinstadt, wo man in dem engen Raum nicht voneinander los kann, wie ein paar Stücke Holz, die aus dem Strom heraus in einen stagnierenden Winkel am Ufer geraten sind, sich langsam eins ums andre drehen, bis – doch einmal eine Welle kommt.

Ihm würde sie kommen. Er hatte Schönleins Versprechen, ihn zu rufen, sobald er ihn, den er seinen begabtesten Schüler nannte, eine seiner würdige Stelle anbieten könne. Und dann Berlin! Berlin mit seinem voll pulsierenden Leben, seinen Kunstgenüssen! Ein Faustulus-Sein würd's ja auch nicht werden, aber doch nicht ein Vermodern bei lebendigem Leibe in dem verdammten Rattennest nun schon seit drei Jahren!

Längst schon war der Nedur in Sicht. Jetzt konnte er bereits die Wellenlinie der Dünenkette nachzeichnen; jetzt die Dächer der Häuser in den Dünen unterscheiden; jetzt die Boote, die man auf den flachen Strand gezogen und die Gestalten, welche dort in kleinen Gruppen standen, nach dem herankommenden Useliner Fahrzeug auslugend. Es schien so ziemlich die ganze Einwohnerschaft. Ob Stine Prebrow von der kleinen Schar sein würde?


* * *


Sie war es nicht, wie er sich überzeugte, nachdem zwölf Thranstiefel in das Wasser gestapft und zwölf braune Hände das Boot so weit auf den Strand geschoben [92] hatten, daß er mit einem Sprunge vom Bord aus auf dem Trocknen stand. Wo es denn erst einmal eine gute Zahl harter Fäuste zu schütteln galt. Kannten von seinen wiederholten Besuchen her ihn doch alle diese wetterfesten Gesellen und ihre Weiber persönlich; und kannte er doch ebenso die meisten von ihnen. Unterwegs hatte er darüber nachgesonnen, wie er es anfangen solle, die Gastfreundschaft Herrn Bonsaks, die ihm fraglos angeboten werden würde, abzulehnen, ohne den guten Mann zu beleidigen. Dieser Sorge sah er sich überhoben: Bonsak war heute mittag in Begleitung von Jochen Lachmund nach Tiessow zum Lotsenkommandeur gesegelt und würde vor morgen nicht zurückkommen. So war denn der alte Prebrow der nächste dazu. Er hatte es auch für selbstverständlich gehalten und Stine vom Strande ins Haus geschickt, alles für den Empfang des Herrn Doktors zurecht zu machen. Die beiden Bootsleute aus Uselin kamen ins Quartier zu zwei anderen Lotsen, ihren guten Freunden und Gevattern.

Arno verabschiedete sich vorläufig von seinen Bekannten und Bekanntinnen am Strande und ging mit Prebrow, der seinen Nachtsack trug. Der Alte erschien ihm noch schweigsamer und melancholischer als sonst. Ob es gegen sein Erwarten mit der Frau nicht gut stehe? – J, bewahre! ein bißchen Wehtag hat sie manchmal noch in der Hand, und den Arm trägt sie in der Binde. Sonst ist ja wohl alles wieder in der Reih. – Ob er schlechte Nachrichten von den Söhnen habe? – J, bewahre! da wird wohl auch alles in der Reih sein. – Na, alter Freund, nun knöpft Euch mal auf! Irgendwo ist es nicht in der Reih. Heraus damit!

[93] Sie waren in den Einschnitt zwischen den Dünen gelangt, wo die Netze zum Trocknen hingen und man das Haus vor sich hatte. Der Alte stand still, schob die wollene Mütze ein wenig seitwärts und kraute sich in dem grauen krausen Haar.

»Es ist man wegen der Stine.«

»Was ist mit ihr?«

»Ich weiß es nicht, Herr Doktor. Und meine Alte weiß es auch nicht.«

»Ist sie krank?«

»Das glaub ich nicht. Wir haben sie gefragt. Aber sie sagt: ihr fehle gar nichts. Aber nun frag ich Sie, Herr Doktor, wenn so 'ne junge Dirn nicht krank ist und nichts Schlechtes gethan hat, weshalb läßt sie denn so den Kopf hangen und sitzt in der Küche und schält Kartoffeln und weint die hellen Thränen dabei. Da muß doch was nicht in der Reih sein, Herr Doktor.«

»Ganz gewiß. Seit wann ist sie denn so?«

»Ich hab es erst seit kurzem bemerkt; aber die Alte sagt, es müsse schon länger sein.«

»Ja, Prebrow, was machen wir da? Soll ich einmal mit Stine sprechen?«

»Ach, Herr Doktor, wenn Sie das wollten?«

»Hilft es nicht, schaden kann's ja nicht.«

»Nein, Herr Doktor, schaden kann es nicht.«

Sie gingen weiter, schweigsam. Arno hütete sich, dem Alten zu sagen, er glaube zu wissen, welche Bewandtnis es mit Stines Melancholie habe. Er erinnerte sich der Worte des Lotsenältesten, als sie über das Verhältnis Stines zu Jochen Lachmund sprachen: er mag sie gern; aber ich glaube, sie will nicht viel von ihm wissen. Das [94] mußte es sein: die Alten redeten ihr zu; alle Welt hier redete ihr zu, drängte sie sehr wahrscheinlich, und – sie wollte von ihm nichts wissen – von dem Ungetüm, dem Fischmenschen, dem Kaliban! Brav so! Und er sollte sie nicht haben, der Kaliban! Es gab jemand, der dafür sorgen würde!

In dem Gärtchen vor dem Hause kam ihnen Frau Prebrow entgegen, den Arm in der Binde, knixend, glückselig über die Ehre, die ihnen der Herr Doktor erweise. Seine Fragen nach ihrem Befinden fielen befriedigend aus. Wieder einmal mußte er staunen über die Selbstheilkraft dieser kerngesunden Naturen. Von den Bandagen war die am Handgelenk erneuert, so vortrefflich, daß er selbst es kunstgerechter nicht hätte machen können.

Und nun erschien auch Stine. Er hatte sie nicht kommen hören und wurde ihrer erst gewahr, als sie bereits in der Hausthür stand. Ein freudiger Schrecken durchrieselte ihn bei ihrem plötzlichen Anblick: sie war noch viel reizender als das Bild, das er von ihr in der Erinnerung trug. Offenbar hatte sie sich in der Eile, so gut es ging, herausgeputzt, ihr bestes Kleid angezogen, das prächtige Haar sorgfältig geordnet.

»Sieh da, Stine! Wie geht's?« rief er so unbefangen er vermochte und streckte ihr die Hand entgegen.

Mit einem gewissen Zögern legte sie ihre Hand in die seine. Dabei übergoß ein brennendes Rot das holde Gesichtchen bis in die blonden Schläfen, und die großen blauen Augen wußten vor Verlegenheit nicht, wohin sie blicken sollten.

»Sie ist doch ein kleines Schaf,« sprach Arno bei sich.

[95] Aber er sagte es nicht, wie an dem ersten Tage, mit höhnender Bitterkeit. Es war wie ein Kosewort, wie ein sanftes Streicheln über ihr dichtes, welliges Haar. Auch ängstigte er die Verschüchterte nicht mit weiteren Fragen, sondern ließ sich von den beiden Alten in das Zimmerchen linker Hand geleiten, aus welchem das schreckliche kleine schwarze Sofa entfernt war, um einer wenig größeren eisernen Bettstelle Platz zu machen mit einer Seegrasmatratze, über die ein grobes sauberes Laken reinlich gebreitet war. Kopfkissen und Decke fehlten noch. Arno vermutete, daß sie erst aus einem anderen Hause entliehen werden mußten.

Er war mit allem zufrieden, fand alles über seine Erwartungen und Wünsche vortrefflich. Auch das aus Rührei und Schinken bestehende Abendbrot, das ihm auf seine Bitte in dem kleinen Gärtchen vor dem Hause angerichtet wurde, und bei dem ihm die beiden alten Leute Gesellschaft leisteten, ohne an der Mahlzeit teilzunehmen. Stine war wieder verschwunden.

Und blieb verschwunden.

Einmal hörte er in seinem Zimmer, dessen Fenster offen standen, Geräusch. Jedenfalls war sie es, die das Bett vollends zurecht machte. Er hoffte, sie würde nun herauskommen. Es war nicht der Fall. Das machte ihn so ärgerlich – er hätte über seinen Ärger lachen mögen. Doch ließ er sich nichts merken, da die Alten das Wegbleiben des Kindes für in der Ordnung zu halten schienen. Er plauderte ruhig weiter; rauchte ein paar Cigarren, bis der Abend völlig hereingedunkelt war und es empfindlich kühl zu werden begann. Heute seit dem frühesten Morgen an der Arbeit, dann die lange [96] Seefahrt – er fühlte sich gegen seine Gewohnheit abgespannt und müde. Die beiden Alten wünschten ihm »eine wohlschlafende Nacht«.

Er schloß in seinem Zimmerchen die Fenster. Ein Licht brauchte er nicht. Gerade den Fenstern gegenüber durch den Einschnitt in den Dünen stand über dem Meere der beinah volle Mond. In seinem Dämmerschein betrachtete er das kleine Bett mit den sanft schimmernden Laken. Mutter Prebrow hatte ihm noch im letzten Augenblick nicht ohne Stolz anvertraut, daß es Stines Bett sei, die heute nacht in der Dachkammer oben auf einer Matratze schlafe.

Und während er das Bett betrachtete, fühlte er plötzlich eine seltsame Spannung in der Herzgegend, über die er lachen wollte, ohne es über ein schwaches Lächeln zu bringen.

»Nur keine Sentimentalität, lieber Freund!« sprach er bei sich. »Das schickt sich für den Dichter von Faustulus nicht.«


* * *


Er hatte halb und halb gehofft, am nächsten Morgen werde sich das Wunder von neulich wiederholen. Aber trotz seiner Müdigkeit hatte er bis Mitternacht wach gelegen, das Mondlicht beobachtend, wie es langsam an der weißen Wand weiter rückte; auf das Wellenrauschen horchend, das bald dumpfer, bald deutlicher durch die Dünen vom Strande heraufkam; auf das Zirpen von Wandervögeln, die über die Insel weg den Norden suchten. Und dann glaubte er deutlich gehört zu haben, wie der Sand in dem Gärtchen vor seinen Fenstern knisterte, [97] und er hatte aufgerichtet im Bette gesessen mit gespannten Sinnen und klopfendem Herzen. Und hatte sich dann wieder auf die dicken Kopfkissen zurückfallen lassen, ärgerlich auf sich selbst, der, wie es schien, von seinen Schulknabenphantasien noch immer nicht lassen konnte; ärgerlich auf die dumme Stine, die auf diese Phantasien nicht einging; und sich höhnisch fragend, wie es sich wohl ausnehmen würde, wenn er seinem Faustulus eine solche Seelenstimmung andichtete.

Nun durfte er sich nicht wundern, daß er spät in den Morgen hineingeschlafen hatte. Sein erster Gedanke beim Erwachen war Stine, wie sie sein letzter vor dem Einschlafen gewesen war; und er empfand es als eine bittere Enttäuschung, ja als schwere persönliche Kränkung, als die Mutter ihm draußen sagte, das Kind sei schon vor einer Stunde zu Frau Bonsak gegangen, deren Mine in der Nacht gar arg gehustet habe. Auch lasse Frau Bonsak den Herrn Doktor recht schön bitten, er möchte doch von der Gütigkeit sein und der Mine mal in den Hals sehen.

Arno sagte, er werde von der Gütigkeit sein. Wo denn Prebrow stecke?

»Mein Alter ist am Strande und hilft Clas Wenhak sein Boot anteeren. Soll ich ihn holen?«

»Lassen Sie ihn nur! Er wird schon kommen, wenn er fertig ist. Es ist mir sogar ganz lieb so. Ich habe was mit Ihnen zu sprechen. Bitte, setzen Sie sich!«

Frau Prebrow, die ihm den Kaffee gebracht hatte, blickte etwas erschrocken aus den runden, gutmütigen Augen, nahm aber gehorsam auf der Kante eines Stuhls in der Nähe des Kaffeetischs am offenen Fenster Platz, [98] strich sich mit der gesunden Hand die blaue Schürze glatt und wartete, bis es dem Herrn Doktor zu sprechen belieben würde.

Der kaute den großen Bissen Butterbrot, den er eben zum Munde geführt, langsam herunter, nahm noch einen Schluck von dem Kaffee – der ihm jedenfalls zu stark war, meinte Frau Prebrow, weil er so ein krauses Gesicht dabei machte – zündete sich eine Cigarre an, that ein paar Züge, und fragte plötzlich in einem so scharfen Ton, daß Frau Prebrow ordentlich zusammenfuhr:

»Was ist das mit Eurer Stine?«

Und als sie, nicht wissend, was der Herr Doktor meinte, ihn mit halb offenem Munde ratlos anstarrte:

»Ihr Mann hat mir gestern abend gesagt: ›Stine ist letzter Zeit anders als sonst: traurig, weinerlich und ich weiß nicht wie‹. Ich habe ihm versprochen, mit ihr zu reden. Aber ich meine, ich thue das besser erst einmal mit Ihnen. Wissen Sie, was dem Kinde fehlt?«

»Nein, Herr Doktor, das weiß ich wirklich nicht.«

»Dann glaube ich, daß ich es Ihnen sagen kann: Ihr wollt sie mit dem Jochen Lachmund verheiraten, und sie mag den Menschen nicht. Das ist es. Oder meinen Sie nicht?«

»Ja, Herr Doktor, möglich kann das wohl sein.«

»Warum soll denn das Kind jetzt schon heiraten? Sie ist noch so jung?«

»Die Leute sagen ja, Herr Doktor: jung gefreit, hat niemand gereut.«

»Ja, das sagen sie und noch vieles andere dumme Zeug. Und warum gerade den Jochen? Es giebt doch mehr junge Männer auf der Welt!«

[99] »Ach ja, Herr Doktor! Man hier auf dem Nedur nicht. Hier sind sie man höllisch knapp. Und sie sagen ja alle: der Jochen kann für drei arbeiten; und daß er Lotse wird, ist so gut wie gewiß. Und dann sehen Sie, Herr Doktor, wird der Herr Lotsenkommandeur in Thissow es schon so einrichten – hat er gesagt – daß er hier auf dem Nedur bleibt. Und wenn er ihn auch nach Thissow nimmt, so haben wir doch in unseren alten Tagen, wo wir unterkriechen können, und –«

Die Rede der Frau war schon während der letzten Worte sehr unsicher geworden. Jetzt konnte sie vor Schluchzen nicht weiter und stopfte sich die Schürze in die Augen.

Arno betrachtete die Weinende mit spöttischem Lächeln. Er kannte das. Diese Leute waren immer sehr gerührt, wenn sie sich ein Unglück ausmalten, das sie möglicherweise treffen könne.

»Schön!« sagte er. »Das heißt, eigentlich ist alles, was Sie da vorgebracht haben, dummes Zeug. Erstens seid ihr beide so alt noch nicht. Ihr Mann kann seinen Dienst noch jahrelang versehen, und Ihnen garantiere ich, daß Sie in vier Wochen in Ihrem Arme nichts mehr spüren werden. Von Euren Söhnen will ich absehen. Vielleicht bringen sie es zu nichts und können, meinetwegen wollen auch ihrer Schwester und Euch nicht beistehen, wenn Ihr einmal nicht mehr für sie und Euch selbst sorgen könnt. Aber ein Mädchen, wie sie, so geschickt und anstellig und – na ja: so hübsch – die kann doch an jedem Finger einen Mann haben, wenn sie will. Hier auf dem Nedur nicht, sagen Sie. So schicken Sie sie wieder in die Stadt: nach Uselin, oder Sundin, wo [100] sie ja schon einmal gewesen ist. Da wird sich leicht der rechte Mann für sie finden.«

»Und wir beiden alten Leute sitzen hier allein,« schluchzte Frau Prebrow.

»Jawohl!« höhnte Arno. »Lieber laßt Ihr Euer Kind unglücklich werden mit einem Manne, den sie nicht liebt.«

Frau Prebrow wischte sich noch einmal energisch die Augen aus und sagte, leise mit dem Kopfe nickend:

»Herr Doktor, nehmen Sie es nicht für ungut. Sie sind ja so ein kluger Mann und meinen es sicher gut mit uns. Aber was wir armen Leute sind, wir sind anders als die vornehmen Herrschaften. Was sollen wir mit der Liebe? Wir sind froh, wenn wir unser tägliches Brot haben und unsere Kinder ehrlich groß bringen. Dann ist es gut. Ich bin nun all über die dreißig Jahre mit meinem Alten verheiratet – denn unsere Jungens sind viel älter als Stine, die man so ein Nesthäkchen ist – und, Herr Doktor, ein böses Wort hat es nie zwischen uns gegeben; aber von Liebe ist nie nicht zwischen uns geredet worden.«

Arno war in seinem Innern durchaus Frau Prebrows Ansicht, daß für die Ehe die Liebe ein völlig entbehrliches Prunkstück und nicht selten eine gefährliche Klippe sei, an der das Schifflein des häuslichen Glückes kläglich scheitert. Aber wenn er das aussprach, war Stines Schicksal entschieden: sie fiel unrettbar in die rohen Fäuste Jochen Lachmunds. Der Gedanke war ihm unerträglich.

»Nun denn,« rief er heftig, »so thut, was Ihr nicht lassen könnt, weil Ihr keine Ahnung habt, welchen Schatz [101] Ihr an Eurem Kinde besitzt! Nicht begreifen könnt, daß sie zu was Besserem geboren ist, als zum Netzeflicken und Kartoffelschälen! Ich will mit der Sache nichts mehr zu thun haben. Aber wenn das Kind hier vor Kummer zu Grunde geht, oder eines Tages ins Wasser läuft, sollt Ihr wenigstens nicht sagen dürfen: wenn wir das gewußt hätten! Ihr habt's gewußt. Ich hab's Euch gesagt. Und nun, Frau Prebrow, schaffen Sie mir meine Useliner Leute. Sie sollen das Boot klar machen. Ich gehe unterdessen zu Bonsaks. Adieu!«

Er hatte die Mütze aufgesetzt und war aus dem Zimmer und dem Hause, bevor die erschrockene, an allen Gliedern zitternde Frau sich von ihrem Stuhle aufrichten konnte.

Der Besuch in der Familie Bonsak hatte nur kürzeste Zeit gewährt. Die Krankheit des Kindes war eine ganz gewöhnliche Halsentzündung, die in ein paar Tagen vorüber sein würde. Seine Hoffnung, hier Stine zu sehen und zu sprechen, war trügerisch gewesen. Oder gesehen hatte er nur ihren schlanken Rücken, als sie durch eine zweite Thür verschwand, während Frau Bonsak ihm die zum Krankenzimmerchen öffnete. Sie kam nicht wieder, und nach ihr fragen, sie rufen lassen, mochte er nicht. Es war jetzt augenscheinlich, daß sie ihm aus dem Wege gehen wollte. Warum? Er konnte keinen Grund dafür finden, außer dem einen: sie war eine alberne, kindische Person; die richtige Gans, für die er sie von Anfang an gehalten. Und er ein kompletter Esel, daß er für die Gans ein besseres Los hatte herausschlagen wollen, als die Frau des Fischmenschen zu werden. Sie würden sich schon verstehen. Und [102] Liebe war Unsinn. Darin hatte Frau Prebrow unbedingt recht.

Eine Stunde später hatte er den Nedur so weit hinter sich, daß der flache Strand gänzlich verschwunden war und die Dünen nur noch ein paar Sandhaufen schienen, welche bereits die nächste Welle verschlingen würde.


* * *


Arnos Patienten hatten in den folgenden Wochen an ihm keinen konzilianten ärztlichen Berater, Doktor Radloff einen mürrischen Kollegen, Lora einen verdrießlichen, sehr kühlen Liebhaber. Aber seit der letzten Katastrophe war Lora die Anspruchslosigkeit selbst und schien das Verhältnis in ein freundschaftliches hinüberspielen zu wollen. Sie hatte ihn sogar ein paarmal bereits direkt »lieber Freund« genannt. Kam er in der gewohnten Dämmerstunde, flog sie ihm nicht mehr in die Arme; und, blieb er zum Abendessen, suchte unter dem Tisch ihr Fuß nicht mehr den seinen. Wäre er eifersüchtig gewesen, hätte er unbedingt auf einen Nebenbuhler schließen müssen, den Lora irgendwo hinter seinem Rücken im Verborgenen hielt, bis die rechte Stunde gekommen war. Aber Uselin bot einer galanten Frau sehr wenig Chancen. Es war und blieb eben der verlorene Winkel im Fluß mit den zwei Holzstücken, die sich verdrossen umeinander drehen.

Auch in das kommerzienrätliche Haus kam Arno jetzt selten. Richard war wieder vollständig hergestellt und hätte sich gern an Arno näher angeschlossen, den er überaus hoch schätzte und von dem er zu seiner Mutter mit [103] Enthusiasmus sprach. Das sei der Mann, der er hätte werden mögen, der er werden möchte: gelehrt, klug, geistvoll, ein Poet. Aber was helfe alles Wollen und Wünschen, wenn die Natur nicht dazu lange, die physische nicht und die geistige erst recht nicht! Ob die Mama den Doktor nicht bald wieder einmal zu einem kleinen Souper einladen wolle, die sie so gut zu arrangieren wisse?

»Er kommt ja doch nicht,« erwiderte Frau Moorbeck.

»Leider,« sagte Richard; »ich habe ihn gestern – ich traf ihn in der Sundiner Vorstadt – gefragt, ob er nicht mal mit mir spazieren reiten wolle. Er hat es mir rund abgeschlagen.«

»Vielleicht kann er nicht reiten.«

»Ach, Mama. Der kann alles, was er will.«


* * *


Arno wollte sich Stine Prebrow aus dem Sinn schlagen – er vermochte es nicht. Nur ein paar Sekunden brauchte er einen Gegenstand zu fixieren, so stand ihr Bild vor seiner Seele; nur die Augen brauchte er zu schließen, so trat es aus dem Purpur heraus, wie an jenem Morgen aus dem Himmel, der hinter ihr über dem Meere blaute. Das schlanke Ding einmal in den Armen zu halten, war ihm zur fixen Idee geworden. Er war wütend auf sich, daß er das letzte Mal auf dem Nedur von ihr weggelaufen war, wie sie vor ihm, anstatt sie zu einer Unterredung zu zwingen; daß er Frau Prebrow so leichten Kaufes davongelassen, anstatt sie völlig mürbe zu machen – sie und den Alten; ihnen das Versprechen abzunehmen, zu der Heirat Stines mit dem Fischmenschen niemals ihre Einwilligung zu geben.

[104] Und warum hatte er nicht darauf bestanden, daß sie von dem vermaledeiten Sandhaufen fortkam hierher nach Uselin – irgendwohin, wo man sie doch wenigstens erreichen konnte; sie von Zeit zu Zeit sehen, sprechen konnte – küssen, totküssen – ah!

Während er Plan auf Plan entwarf, Stine in seine Nähe zu bringen – Pläne, die sich in der Phantasie sehr gut ausnahmen, nur daß sie, als Wirklichkeiten gedacht, wie Seifenblasen zerplatzten – kam ihm plötzlich ein Einfall, der möglicherweise zu etwas führen konnte.

Lora hatte, seitdem Malwine in Ungnade gefallen, bereits das dritte Mädchen, welches, wollte man ihr glauben, ein Ausbund aller Untugenden war. Eines Abends – Arno war wieder zu Tisch geblieben – hob sie das alte Klagelied von neuem an: sie fühle sich in der Gegenwart der Person verraten und verkauft. Natürlich hätten die Herren der Schöpfung von dem, was eine arme Frau unter solchen Umständen zu leiden habe, keine Ahnung. Sie erlaube sich zu fragen, ob man nicht auch an Nadelstichen verbluten könne?

Arno war im Begriff zu antworten, daß das einigermaßen schwer halte, als ihm durch den Sinn schoß: wenn das möglich wäre!

»Sie empfinden natürlich nicht das mindeste Mitleid mit mir,« sagte Lora beleidigt.

»Im Gegenteil,« erwiderte Arno. »Ich meine nur. Sie fangen es nicht richtig an.«

»Wieso nicht richtig?«

»Weil Sie Feigen pflücken wollen von dem Dornenstrauch. Fragen wir uns doch, aus welchen Verhältnissen heraus kommen diese Personen zu uns? Da ist vielleicht [105] ein Trunkenbold von Vater, eine Schlumpe von Mutter, eine Hetze schmutziger, verwilderter Geschwister. Und das Mädchen aus einem solchen Milieu soll eine Lady sein; zum wenigsten ein sittsames, feinfühliges, anstelliges Wesen. Das ist einfach absurd.«

»Ich kann mir keine Gesellschafterin und keine perfekte Kammerjungfer halten,« sagte Lora mit einem bösen Blick nach ihrem Gatten, der sich nachdenklich eine Apfelsine schälte.

»Vielleicht wäre das auch nicht nötig,« erwiderte Arno. »Ich denke an ein Mädchen, in dessen elterlichem Hause Zucht und Sitte herrschen, das keine Ansprüche an das Leben zu machen gelernt hat, auch – als armer Leute Kind – nicht wohl machen kann. Aber in dessen reinlicher Gesellschaft man sich wohl fühlt, trotzdem man sich eben noch Kammerjungferdienste von ihr hat leisten lassen, oder im nächsten Moment leisten lassen wird.«

»Unser geistreicher Freund beliebt wieder einmal zu phantasieren,« sagte Herr Siebold, vorsichtig einen Apfelsinenschnitt zwischen die falschen Zähne schiebend.

»Durchaus kein Phantasiestück,« rief Arno; »im Gegenteil, völlig nach der Natur gemalt.«

»Und Sie könnten mir das Mädchen verschaffen?« fragte Lora.

»Ich fürchte, nein, verehrte Freundin.«

»Das heißt den Leuten den Mund wässrig machen,« rief Herr Siebold. »Darf ich um Zucker bitten, Lora? Diese Apfelsine ist abscheulich sauer.«

»Ganz seine Art,« meinte Lora sarkastisch. »Übrigens schmecken ja auch selbstgegessene Früchte bekanntlich immer am besten.«

[106] Arno stutzte. Er glaubte es vorsichtig genug angefangen zu haben, und hatte doch augenscheinlich seine Partie zu offen gespielt. Aber verloren gab er sie darum nicht.

»Dem Reinen ist sonst alles rein,« erwiderte er gelassen. »Ich hätte auch sagen können: der Reinen, und würde damit ausdrücklich Sie gemeint haben, verehrte Frau. Es wird Ihren mit so viel Grund erregten Argwohn vielleicht einschläfern, wenn Sie hören, daß ich das Mädchen, von dem die Rede ist, zweimal im Leben gesehen und einmal volle fünf Minuten gesprochen habe. Übrigens ist sie die Tochter eines alten Lotsen-Philemon auf dem Nedur und seiner würdigen Baucis, welcher letzteren ich neulich einen gebrochenen Arm wieder zusammengedoktert habe. Und nun zu einem anderen Thema, wenn's Ihnen gefällig ist!«

Er hatte seine Absicht erreicht. Lora bat ihn um Verzeihung: sie habe natürlich nur gescherzt. Aber sehr ernst sei es ihr, das Mädchen um jeden Preis zu haben. Ob Arno nicht so liebenswürdig sein wolle, an die alten Lotsenleute zu schreiben, ob sie sich von dem Kinde trennen könnten? Vielleicht erst einmal auf Probe. Von einem eigentlichen Dienst sei keine Rede. Sie verlange nach einem Wesen, das sie lieb haben könne. Ob Gesellschafterin, Stütze – auf den Namen komme es ja nicht an.

»Ich würde sehr gern schreiben,« erwiderte Arno; »aber ich bin überzeugt, es wird viel besser wirken, wenn Sie selbst es thun. Frauen finden in solchen Dingen immer leicht die richtigen Ausdrücke, nach denen wir grobkörnigen Männer vergeblich suchen. Daß Sie sich dabei auf mich berufen, ist selbstverständlich. Ob die Kleine [107] übrigens nach dem Geschmack Ihres Herrn Gemahls sein wird, ist mir fraglich. Es ist ein schmächtiges, unbedeutendes Persönchen, und er liebt sich bei den Frauen das Majestätisch-Junonische, oder doch die elancierte Schönheit einer Diana-Artemis.«

Siebold, keck die blonden Backenbärtchen streichelnd, erklärte, zwar nicht auf dem Don Juan-Standpunkt zu stehen, dem jede bunte Schürze recht sei; daß er sich aber hinsichtlich seiner Bewunderung der Frauenschönheit von jeder Einseitigkeit frei sprechen dürfe.

Lora war bei Arnos letzten Worten errötet. Er hatte mehr als einmal in holden Stunden behauptet, eine antike Zwillingsschwester von ihr habe zweifellos dem Bildner der Diana von Versailles Modell gestanden. Ein heißer, verstohlener Blick belohnte ihn für seine Schmeichelei und zum erstenmale seit Wochen suchte ihr Fuß wieder den seinen.

Morgen am Tage wollte sie nach dem Nedur schreiben. Sie werde nicht schlafen können, bis sie das Lotsenkind bei sich im Hause habe.


* * *


Es vergingen drei Tage – vom Nedur keine Antwort. Lora war sehr verdrießlich. Eine Woche verlief – vom Nedur keine Zeile. Lora war empört. Eine solche Rücksichtslosigkeit sei ihr noch nicht vorgekommen. Sie habe an die Leute in Ausdrücken geschrieben, von denen ihr jede Silbe leid thue. Für ein Übermaß von Höflichkeit mit einem Übermaß von Grobheit belohnt zu werden, sei sie nicht gewohnt.

Arno hatte Mühe, sich die Verlegenheit, in der er sich befand, und den eigenen Verdruß nicht merken zu [108] lassen. Lora habe unrecht, sich so aufzuregen. Einfältigen Lotsenleuten fließe das Wort nicht so leicht aus der Feder, wie einer geistreichen Dame. In stunden-, tagelangen Erörterungen müsse jeder Ausdruck erwogen werden; jedes Für und Wider der Angelegenheit. Übrigens werde sich Lora erinnern, daß er nie eine Garantie dafür übernommen habe, der Versuch werde reüssieren. Womit er nicht gesagt haben wolle, er werde nicht reüssieren. Nur gut Ding wolle Weile haben. Das sei eine alte Wahrheit.

Er glaubte nicht an seine beschwichtigenden Worte, war im Gegenteil überzeugt: sie kommt nicht. Sie fürchtet sich vor dir.

In diesem letzten Gedanken lag für ihn eine Art von trotziger Genugthuung. So war er für sie, die es ihm so seltsam angethan, nicht völlig Luft gewesen; hatte er einen Eindruck, wenn auch nicht den erwünschten, auf sie gemacht. Das war denn freilich eine recht kümmerliche Abschlagzahlung, aber er ging wenigstens nicht leer aus dem Handel. War er es doch auch sonst gewohnt, bei den Menschen viel öfter Furcht als Liebe zu erwecken! Und dabei hatte sich sein Stolz nicht übel gestanden: Faustulusnaturen müssen gefürchtet, wollen gefürchtet sein.

Er hätte sich die Sache gern aus dem Sinne geschlagen; es wollte nicht gelingen. Wie mit einem Widerhaken saß sie in seinem Herzen fest; und wenn er daran zerrte, um ihn herauszureißen, that es weh. Noch immer, wenn er die Augen schloß, trat sie aus dem Purpur hervor, die schlanke süße Dirn. Und hinter ihr in dem Einschnitt der Dünen über dem dunklen Meer blaute der Himmel.


* * *


[109] In der heißen Mittagsstunde eines der folgenden Tage kam Arno nach Hause, tief verstimmt. Die an dem schwedischen Schiffer im April vorgenommene, denkbar schwierigste Operation war gegen alles Erwarten herrlich geglückt; die kraftvolle Natur des Patienten ließ hoffen, daß er auch die Folgen glücklich überstehen werde. Alles hatte sich aufs beste angelassen: die vollständige Genesung schien unzweifelhaft. Ein Triumph ärztlicher Kunst, mit dessen Schilderung in dem Archiv für Medizin er sicher war, die höchste Ehre einzulegen. Und heute hatte der Mann ihm den Tort angethan, plötzlich zu sterben. Kollapsus – völlig unberechenbar – gegen alle Wissenschaft. Wie ein heimtückischer Streich, den ihm ein Dämon gespielt. Thorheit, nicht an Dämonen zu glauben! Es gab ihrer Millionen, und darunter sehr schlimme, sehr fürchterliche. Er wußte davon zu sagen.

Oben seien zwei Leute, meldete die Wirtin; ältere Leute, Mann und Frau. Sie hätten gesagt: der Herr Doktor kenne sie und sie kämen auch nicht eigentlich zu dem Herrn Doktor, sondern in einer »Provatangelegenheit«. Sie warteten schon seit anderthalb Stunden.

»Schifferleute?«

»Ja, Herr Doktor.«

»Warum sagen Sie das nicht gleich!«

Natürlich waren es die Prebrows. Und sie waren gekommen, ihm zu sagen, daß sie ihre Stine nicht hergeben wollten.

Mochte der Teufel sie holen!

Der unfreundliche Empfang, der ihnen wurde, vermehrte nur die Befangenheit der alten Leute. Mit harten Worten hielt ihnen Arno die Unschicklichkeit vor, eine [110] wohlwollende Dame auf eine freundliche Anfrage so lange ohne Antwort zu lassen. Prebrow drehte verlegen seinen Hut zwischen den braunen Händen und stieß seine Frau an, daß sie reden solle.

Frau Prebrow hatte sich offenbar, was sie sagen wollte, vorher sehr sorgfältig zurechtgelegt; durch das lange Warten aber und des Herrn Doktors Unfreundlichkeit war alles durcheinander geraten, und sie konnte es nicht wieder zusammenbringen. Sie sprach freilich fortwährend von Stine: wie sie zur Welt gekommen, als sie niemand mehr erwartet; wie sie schon als Kind durch ihre klugen Antworten das Wunder von ganz Nedur gewesen; wie es ihr neulich durchs Herz gefahren, als der Herr Doktor gesagt: an der Stine sei etwas Besonderes und man dürfe nicht glauben, daß, was für andere Kinder ein Glück, es auch für sie sei; aber alle diese Lobpreisungen ihres Kindes sollten schließlich doch nur ihre Weigerung, sich von ihm zu trennen, motivieren. Wozu also die endlose Litanei?

Auch der alte Prebrow wurde ungeduldig. Er rutschte verlegen auf seinem Stuhle hin und her, zupfte wiederholt die Frau verstohlen am Kleide; endlich raunte er ihr ins Ohr:

»Mutter, wir haben Stine versprochen, wir wollten in einer Stunde wiederkommen. Nun sind es all zwei!«

Arno horchte auf. Nach dem Nedur konnte man nicht in einer Stunde kommen. Also war sie hier in Uselin.

Er fragte es laut.

»Jawohl, Herr Doktor,« antwortete diesmal der Familienvater.

»Und sie soll zu Frau Siebold?«

[111] »Jawohl, Herr Doktor. Wir haben sie doch dazu mitgebracht.«

»Das war recht von Euch,« sagte Arno würdevoll, mühsam ein Triumphlachen unterdrückend.

Der Alte atmete tief und sagte, starr vor sich niederblickend, während er den verschabten Filz langsam durch die knorrigen Finger drehte:

»Gebe Gott, Herr Doktor, daß es recht ist! Ich weiß es nicht. Meine beiden Jungens sind auf See; ob sie wiederkommen – na, Herr Doktor, wir hoffen es ja; aber den dritten haben wir doch schon verloren. Sie ist unser letztes. Wenn wir die auch verlieren sollten; oder sie käme nicht so wieder, wie sie von uns gegangen ist –«

Der alte Mann schluckte die Thränen, mit denen er kämpfte, hinunter und fuhr mit unsicherer Stimme fort:

»Da wollten wir Sie denn recht schön bitten, Herr Doktor, mein Alte hier und ich: Sie möchten ein Auge haben über unser Kind!«

»Gewiß! gewiß will ich das!« murmelte Arno.

»Danke schön, Herr Doktor! Und der liebe Gott wird es Ihnen vergelten.«

Der Alte war aufgestanden und hatte ihm die Hand entgegengestreckt. Arno hätte beinahe aufgeschrieen, so machtvoll war der Druck der groben Hand, in der die seine fast verschwand. Das war ja wie im Don Juan-Finale!

Auch Frau Prebrow hatte sich erhoben und wischte die letzten Thränen von den dicken Backen.

»Und wo habt Ihr denn das Kind gelassen?« fragte Arno in einem munteren Ton, den er sich nach der Rührscene gönnen zu dürfen glaubte.

[112] Stine war in dem kleinen Hafenwirtshaus, dessen Kundschaft ausschließlich aus Lotsen und Schiffern bestand, zurückgeblieben. Arno wollte die Alten dorthin begleiten, Stine guten Tag zu sagen, bevor die Mutter sie zu Frau Siebold brächte. Frau Prebrow hatte gehofft, der Herr Doktor selbst werde die Einführung übernehmen. Arno wußte ihr das auszureden: es schicke sich nicht für ihn, mit einem jungen Mädchen über die Straße zu gehen; auch würde Frau Siebold es höchlich verübeln, wenn die Mutter sich ihr nicht vorstellte.

Es waren nur Scheingründe, deren geringe Stichhaltigkeit er selbst am schärfsten fühlte. Aber er durfte den guten Leuten doch nicht sagen, daß Frau Siebold eine sehr eifersüchtige Geliebte sei, und er alle Ursache habe, gerade in dieser Angelegenheit mit der größten Behutsamkeit vorzugehen; sich um alles das Interesse nicht merken zu lassen, welches er in Wahrheit daran nahm.

Wie groß, wie innig das Interesse war, sagte ihm sein Herz, das, während er so ruhig sprach und keine Miene veränderte, vor Freude schwoll; und als sie sich jetzt dem kleinen Hafenwirtshaus näherten, ganz ungeberdig zu schlagen begann. Er kam sich dabei sehr albern vor. Die unbedeutende kleine Schifferdirn!

Da trat sie mit der Mutter, die sie aus dem Stübchen oben geholt hatte, in das größere Gastzimmer zu ebener Erde, in welchem er mit dem Alten ein Glas Sherry trank. Ohne heftige Seelenkämpfe war es sicher nicht geschehen, als sie sich hierher zu kommen entschloß: er las sie ihr ab von dem reizenden Gesichtchen, das mit den dunklen Rändern unter den großen, starren Augen [113] doppelt bleich erschien. Er fühlte es aus dem Zittern ihrer Hand, die sie jetzt zögernd in die seine legte. Die Hand war hart; aber klein und zierlich wie eine Kinderhand: die erste Schönheit, um die Lora, die über die eigenen, etwas großen, reizlosen Hände Thränen vergießen konnte, das arme Kind beneiden würde! Und um was nicht noch sonst alles! Eigentlich war es doch ein Verbrechen, das holde, unschuldige Ding einer Lora aus zuliefern. Aber die Reue kam nun zu spät. Und Reue über etwas zu empfinden, schickte sich für Faustulusnaturen nicht.

Arno hing diesen Gedanken nach während der schweigsamen Stunde, die er mit dem Alten in der Wirtsstube bei noch einigen Gläsern Sherry verbrachte, in des Mutter Prebrow ihre Stine zu Frau Siebold begleitete. Von dem Vater hatte Stine kurzen Abschied genommen. Der alte Mann konnte sich offenbar in die Situation nicht finden. Er saß am Fenster, den grauen Kopf aufgestützt, und schien eifrig die Fahrzeuge zu mustern, die am Uferquai, nur um die Breite der Straße vom Wirtshaus entfernt, angekettet waren. Aber so oft die Thür ging, blickte er schnell nach der Richtung, und bei jeder neuen Enttäuschung schien die Wolke auf seiner hohen, kahlen Stirn noch dunkler zu werden. Arno zweifelte nicht, der Alte hoffte, es würde der Stine ihr Entschluß gereuen und sie würde mit der Mutter zurückkommen. Er selbst hielt das nicht für unmöglich; ja, er wünschte es, zuletzt mit einer leidenschaftlichen Heftigkeit, die sich fast in einem wilden Fluche entladen hätte, als nun nach Verlauf von noch einer halben verdrießlichen Stunde Frau Prebrow zurückkam ohne Stine.

[114] Sie hatte dickverweinte Augen; aber sah sonst nichts weniger als unglücklich aus. Schien auch, was den Empfang betraf, den Frau Siebold ihr und Stine bereitet hatte, keine Ursache dazu zu haben. Viel Bestimmtes war freilich nicht aus ihr herauszubringen; all das Neue, Unerwartete, Unverhoffte, das sie eben erlebt, hatte die Verwirrung in ihrem so schon angegriffenen Kopf noch vermehrt. Nur auf eines kam sie wiederholt zurück: auf den ersten Moment der Begegnung. Man habe sie und Stine in ein Zimmer geführt, wie sie so herrlich noch keins gesehen – so eins, von dem sie gemeint, daß nur Könige und Fürsten dergleichen hätten. Da sei die Thür aufgegangen und eine große, schwarzgekleidete Dame sei eingetreten und auf sie zugekommen; habe erst ihr, dann Stinen die Hand gereicht; Stines Hand aber nur losgelassen, um das Kind zu umarmen und wiederholt zu küssen, wobei sie gerufen: ›So habe ich Sie mir gedacht; nur nicht halb so hübsch!‹ Und dann habe sie etwas von Engel gesagt und von einer jüngeren Schwester und noch vieles andere, worauf sie sich nicht mehr besinnen könne, was aber alles sehr schön zu hören gewesen sei.

Das klang ja nun sehr befriedigend, vermochte indessen nicht den trüben Ernst aus dem wettergefurchten Gesicht des alten Mannes zu bannen. Arno sah in diesem Trübsinn einen stummen Vorwurf für sich, der ihn ärgerte und den er doch nicht von sich weisen konnte. Erleichtert atmete er auf, als jetzt der jüngere Lotse hereinkam und sagte, es sei die höchste Zeit, unter Segel zu gehen, wenn sie vor Einbruch der Nacht nach Hause kommen wollten. Der Wind flaue schon ab und werde wohl am Abend ganz still werden.

[115] Er begleitete die Gesellschaft und stand auf dem Quai, bis das Boot, in der Mitte des Stromes, mit vollen Segeln schneller seewärts zu gleiten begann.

Dann machte er sich auf den Heimweg, den Hafenplatz vermeidend. Er wollte Lora nicht sehen, nicht von ihr gesehen werden. Er haßte sie, weil sie die Lippen zu küssen gewagt, nach denen er diese Wochen schier verschmachtet war. Und er schwur ihr grimmige Rache, wenn sie es jemals wagen sollte, die süße Dirn auch nur mit einem bösen Blick, einem rauhen Worte anzutasten.


* * *


Frau Apotheker Siebold hatte den Uselinern von jeher mehr oder weniger zu reden gegeben; so viel nie wie jetzt. Von dem, was da in dem Hause mit den grünen Jalousien am Hafenplatz während der letzten Tage vor sich gegangen war und vor sich ging, liefen in der Stadt die abenteuerlichsten Gerüchte. Frau Siebold habe ein blutjunges Mädchen zu sich genommen, das kaum richtig hochdeutsch sprechen könne, und das sie doch völlig als ihresgleichen behandele, ja, mit dem sie eine lächerliche Abgötterei treibe. Stunden bringe sie damit zu, dem Mädchen das blonde Haar zu kämmen und wieder und wieder anders zu frisieren. Von Kopf zu Fuß habe sie es neu gekleidet, nicht einmal, sondern ein halbes dutzendmal, in eleganten Kostümen, die sie sich sogar aus Sundin kommen ließ. Sie nenne die Kleine »du«, während diese zu ihr »Tante« sagen müsse. Von den Leuten im Hause werde verlangt, daß sie »Fräulein Christine« zu dem Kinde sagten. Ein Lehrling, der von ihr als »Fräulein Stine« gesprochen, sei beinahe weggejagt worden. [116] Natürlich esse Fräulein Christine mit am herrschaftlichen Tisch. Wie würde sie denn nicht, da Frau Siebold vor aller Welt mit ihr spazieren fahre in dem neuen, schönen Landauer, den ihr Gatte ihr kürzlich geschenkt hatte! Und sie nicht ihr gegenüber auf dem Rücksitz, wie es doch einer Gesellschafterin – wenn man dem jungen Ding wirklich diesen Rang einräumen wolle – zukomme, sondern im Fond an ihrer Seite! Als Lehrer seien engagiert: Herr Müller von der Steuermannsschule für Geschichte und Geographie, Herr Doktor Pahnke von der Realschule für Deutsch und Englisch, im Französischen habe Frau Siebold selbst den Unterricht übernommen.

Bei der Angabe dieser Daten herrschte fast völlige Einhelligkeit und die etwaigen Differenzen fielen nicht schwer ins Gewicht. Desto weiter gingen die Ansichten und Behauptungen auseinander betreffs der Herkunft des Wunderkindes. Daß es von dem Nedur gekommen, stand außer Zweifel; aber eine ganz andere und viel schwieriger zu beantwortende Frage war: wie es dahin gekommen? Hier wurde die Angelegenheit äußerst delikat und konnte nur in ganz intimen Kaffeekränzchen unter Ausschluß der jungen Damen erörtert werden. Denn nur zu nahe lag die Vermutung, daß die Auserwählte der Familie Siebold sehr viel näher stehe, als man Wort haben wolle. Woraus dann wieder zwei Möglichkeiten sich ergaben, die beide ungefähr gleich viel für sich hatten und infolgedessen so ziemlich gleich viel Verfechter fanden. Daß die schöne Lora Reimar eine sehr emanzipierte junge Dame gewesen, wußte doch alle Welt; ebenso wie, daß das reiche Sundin mit seiner Garnison und den vielen flotten Offizieren an Lockerheit der Sitten – um [117] nicht Sittenlosigkeit zu sagen – Paris nicht nachstehe. Da konnten einer jungen Dame – die noch dazu notorisch in keiner strengen Zucht gehalten war – seltsame Dinge begegnen! Dinge, die man natürlich im Verborgenen halte, zu welchem Zwecke eine kleine abgelegene Insel vortrefflich geeignet sei. Für Geld könne man ja alles haben, auch die Pseudo-Elternschaft eines blutarmen Lotsenehepaares!

Dagegen lasse sich nicht streiten, sagten die Gegner; nur falle es ihnen schwer, den Ruf einer immerhin etwas extravaganten Dame dergestalt zu verunglimpfen. Es müsse doch einen Grund haben, weshalb der reiche Herr Siebold sich so spät zur Ehe entschlossen. Ein Junggesellenleben berge mancherlei Gefahren, besonders wenn man Jahre davon in Berlin, Paris und London studierenshalber zubringe. Herr Siebold habe sich freilich vor den Augen der Welt von je eines ehrbaren Betragens befleißigt und des Äußeren eines Don Juan erfreue er sich nicht. Aber auch da, und da erst recht heiße es: trau, schau, wem? und die stillsten Wasser seien bekanntlich die tiefsten.

Indessen hatten diese Oberströmungen eine starke Unterströmung, die, wenn sie gleich aus einer Quelle kam, welche in niederen Regionen entsprang, doch Beachtung verdiente. Man kann eben nicht sieben Jahre lang die vertraute Kammerjungfer einer Dame und nebenbei das Faktotum des Hauses gewesen sein, ohne die Familienverhältnisse gründlich kennen gelernt zu haben. Und Malwine behauptete, wenn an dem Gerede, das in der Stadt umging, etwas sei, so müßte sie es unbedingt wissen. Das sogenannte Fräulein Christine sei in der [118] That das eheliche Kind von dem Lotsen Prebrow und dessen Frau auf dem Nedur. Und Frau Prebrow sei die Schwester von der Wäscherin und Plättfrau Krüger in Sundin, die wieder so eine Art Tante von ihr – Malwine – sei. Und in Sundin im Hause der Frau Krüger habe sie Stine Prebrow sehr gut gekannt als ein fünfzehn-, sechzehnjähriges Ding, das da eine Art von Lehrzeit durchmachte, während sie selbst vor zwei Jahren drüben sechs Wochen lang zum Besuch war, um sich ein wenig von ihrem schweren Dienst bei ihrer Gnädigen zu erholen.

Nein! mit der Sache hänge es ganz anders zusammen und sie könnte sehr gut sagen, wie? wenn sie reden wollte, und den wahren Grund angeben, weshalb Frau Siebold sie Knall und Fall fortgeschickt. Aber nur thörichte Leute verbrennten sich ihre Zunge; und so eine arme Putzmacherin, die für kleinere Arbeiten zu den Herrschaften ins Haus gehe, ziehe gegen eine so reiche Dame immer den kürzeren.

Es konnte nicht fehlen, daß eine Person, die von so interessanten Dingen zu berichten wußte, bald von sämtlichen Honoratiorendamen Uselins gesucht wurde. Aber Malwine war zu klug, um in ihren Mitteilungen aus einer diskreten Reserve herauszugehen und sich anders als in Andeutungen zu bewegen, welche der Phantasie ihrer Hörerinnen den freiesten Spielraum gewährten.


* * *


Arno hätte sich gern zu denen gesellt, für welche Loras Benehmen, alles in allem, eine Komödie war, über die sie sich höchlich amüsierten. Aber obgleich ihm [119] die Klugheit gebot, mit den Spöttern zu spotten und mit den Lachern zu lachen, war er innerlich empört. Nicht einen Augenblick hatte er daran gedacht, daß es diese Wendung nehmen könne. Ja, er mußte sich eingestehen: er hatte sich überhaupt kein deutliches Bild von dem Verhältnis gemacht, welches sich zwischen den beiden Frauen herausbilden würde, und nichts weiter gewollt, als Stine in seine Nähe bringen, weil er sich nach ihrem Anblick sehnte; in dem öden Grau seines Alltagslebens sich sehnte nach einer Wiederholung jenes seligen Erwachens am Morgen auf dem Nedur, der ihm als die Offenbarung eines höheren Daseins erschienen war, und dessen Erinnerung sich für ihn mit der schlanken Gestalt der blonden Lotsendirn untrennbar verbunden hatte. Und nicht einmal so bescheidene Wünsche und Hoffnungen sollten sich ihm erfüllen!

Er hatte, so schwer es ihm ankam, zwei Tage vergehen lassen, bevor er in dem Apothekerhause vorsprach, um sich nach Loras und ihres Schützlings Befinden zu erkundigen, und um den Besuch möglichst offiziell zu machen, die Mittagsstunde gewählt. Die gnädige Frau und das Fräulein waren beidemale aus gegangen. Am folgenden Tage um dieselbe Stunde wiederholte er seinen Besuch mit nicht besserem Erfolge. Endlich am vierten, als er zu seiner gewohnten Zeit vorsprach, glückte es ihm. Lora war nicht allein. Eine junge Dame war bei ihr, die er in dem Zwielicht nicht erkannte und für einen Besuch hielt, bis im nächsten Augenblick das Mädchen – ein neues – mit Licht erschien und er nun freilich sah, daß Loras Frage: »Aber, Doktor, kennen Sie denn unsere Christine nicht?« kein schlechter Scherz war. Und doch[120] ein schlechter Scherz! ein niederträchtig schlechter! Stine nicht! Eine Karikatur von Stine! Seine süße Lotsendirn travestiert in ein Fräulein der Gesellschaft! Geschnürt in eine Wespentaille, die für seinen Geschmack den holden Leib greulich entstellte! Mit einer Frisur, die ihm einfach abscheulich dünkte!

Gern hätte er seinem Unwillen über eine so alberne Kömödie in heftigen Worten Luft gemacht. Aber augenscheinlich nahm Lora die Farce nicht nur ernsthaft, sondern war sehr stolz auf ihren großmütig geistreichen Einfall, das arme Lotsenmädchen im Handumdrehen in eine Dame verwandelt zu haben. Die bitteren Worte, die er auf den Lippen hatte, konnten alles verschütten. Und sicher durfte er sie nicht aussprechen in Gegenwart Stines, die vor Verlegenheit bald blaß, bald rot wurde; nicht wußte, wohin sie die Augen wenden sollte, und die paar Fragen, die er an sie richtete, mit gestammelten, kaum verständlichen Worten erwiderte.

Zum Glück für ihn, der kaum noch an sich halten konnte, kam hier Herr Siebold, der durchaus seinem verehrten Freunde danken mußte für die Freude, die er seiner Frau und ihm bereitet, als er ihnen ein so liebes Kind ins Haus führte, das nun plötzlich ein ganz anderes Aussehen gewonnen habe. Als seine ihm die Spiegelscheibenfenster eingesetzt, um die ihn Lora quäle, weil Kommerzienrats welche hätten! Nun sie würden auch noch kommen, wie der Landauer, der viel eleganter, freilich auch zweihundert Thaler teuerer sei als der von drüben. Ob der liebe Herr Doktor die beiden Damen im Wagen Seite an Seite gesehen habe? Nein? Aber die ganze Stadt sei voll davon! In der Ressource spreche [121] man von nichts anderem! Er für seine Person würde so gern einmal von der Partie sein. Aber wie hätte ein armer geplagter Apotheker Zeit zu dergleichen! Ob Arno nicht finde, daß Fräulein Christine ganz entzückend aussehe? Ob ihr das meergrüne Kleid nicht prachtvoll stehe? Notabene: seine Idee! Nixen müßten meergrüne Kleider tragen! So ein kleines liebes Nixchen!

Dabei blinzelte Herr Siebold Stinen verliebt durch die großen Brillengläser an; tätschelte ihr zärtlich die kleinen Hände; entschuldigte sich, daß er noch ein halbes Stündchen unten zu thun habe und schoß wie der zum Zimmer hinaus.

Arno hatte die Zeit wahrgenommen, Lora zuzuflüstern, daß er sie allein zu sprechen wünsche. Ihre Antwort war ein heißer Blick gewesen. Und Siebold war kaum fort, als ihr einfiel, daß Stine die halbe Stunde vor dem Abendessen zur Repetition ihrer französischen Lektion für morgen benutzen müsse, und die kleine Verschüchterte bis an die Thür geleitete, die sie hinter ihr schloß, um sich jäh zu wenden, auf Arno zuzustürzen und ihn mit wütender Heftigkeit an ihre Brust zu pressen.

»Lieber! Geliebter! Wie lange habe ich dich nicht gehabt!«

»Du hast wieder in Morphium luxuriert,« sagte Arno, glücklich einen vorwurfsvollen Ton treffend, indem er ihre Arme von seinem Halse streifte. »Ich habe es dir streng verboten; und du hattest fest versprochen, mir zu gehorchen!«

»Ich kann ohne dich nicht leben,« murmelte sie durch die Zähne.

Sie hatte ihn in einen Sessel gedrückt und sich auf seine Knie gesetzt. Ihre dunklen Augen hatten einen[122] gläsernen Glanz, ihr Atem ging rasch. Offenbar hatte sie eine große Dosis ihres geliebten Giftes genommen. In diesem Stadium des Rausches war sie eine gefährliche Gegnerin: voll Kraft, Mut und fast geistvoller Schlagfertigkeit. Arno überlegte, ob er das Thema Stine heute lieber nicht berühren sollte, und erschrak beinahe, als er sich plötzlich sagen hörte:

»Was hast du eigentlich mit Stine vor?«

»Ach, laß doch das Kind!« flüsterte sie, sich von neuem zärtlich an ihn schmiegend.

»Ich bin dir dankbar, sehr dankbar,« fuhr er fort, »daß du dich ihrer so – so schwesterlich annimmst. Aber wo soll das hinaus? Du mußt doch in dem allen eine bestimmte Absicht verfolgen; nach einem überlegten Plan vorgehen.«

»Also um des Mädchens willen, nicht um meinetwillen bist du gekommen?« sagte sie in völlig verändertem Tone, von seinen Knien hinabgleitend und einen Schritt vor ihm stehen bleibend.

»Du träumst, Lora!«

»Im Gegenteil, ich bin sehr wach. Liebst du das Mädchen?«

»Das ist lächerlich.«

»Mir nicht. Liebst du sie? Ja oder nein?«

»Nun denn: nein.«

»Du kannst das beschwören?«

»Wenn du es verlangst.«

»Ich verlange es.«

»So beschwöre ich's.«

Im nächsten Moment saß sie wieder auf seinen Knien, nestelte sich eng an ihn, küßte ihn leidenschaftlich.

[123] »Aber Lora –«

»Ich muß mich wieder einmal satt küssen –«

War's Liebe? War's Morphiumrausch? Wohl beides. Und ihm beides gleich widerwärtig. Doch mußte er's dulden. Um der süßen Dirn wollen, die sie da vorhin zur Thür hinausgedrängt hatte.

»Sei doch einen Augenblick vernünftig!«

»Da ich weiß, daß du mich noch liebst – warum nicht! Also, was ich mit dem Mädchen vorhabe? Nichts weiter!«

»Nichts weiter.«

»Das ist doch sehr einfach, du dummer Mensch. Du willst es nicht glauben, und es ist doch so: er hat was gemerkt. Das heißt: die Malwine hat es ihm gesteckt. Er selbst ist zu dumm. Gleichviel. Er beobachtet uns wenn er auch eine noch so harmlose Miene macht. Daß ich mich bei ihm langweile, weiß er. Nicht seit heute. Hundertmal hat er mir vorgestöhnt: wenn du Kinder hättest! Nun habe ich eins. In das ich vernarrt bin. Oder doch so thue. Das kommt für ihn auf eins heraus. Er ist so dumm! Und er wird sich in das Mädchen verlieben. Oder ist schon verliebt. Das ist himmlisch. Wenn er mir jetzt mit Eifersuchtsscenen kommt, sage ich ganz einfach: Verehrtester Herr, kehren Sie gefälligst erst vor Ihrer eigenen Thür! Wenn das nicht drollig ist!«

»Sehr!«

»Siehst du! Und auch für die guten Useliner Sand in die Augen! Sie wollen etwas über mich zu reden haben. Ist es da nicht besser, sie reden darüber, daß ich einen Narren an dem Mädchen gefressen, als über mich und dich, du herziger Narr, du geliebter Mensch, du – du –«

[124] Während ihre Lippen die seinen suchten, sank ihr Kopf plötzlich schwer auf seine Schulter. Er trug sie nach dem Fauteuil in der Nähe, ging zur Thür, schellte und sagte zu dem alsbald hereintretenden Mädchen:

»Der gnädigen Frau ist nicht ganz wohl. Zu bedeuten hat es nichts. Ich werde den Herrn heraufschicken. Sie bleiben so lange bei ihr. Ihr müßt sie dann ins Bett schaffen. Und schlafen lassen, so lange sie will. Guten Abend!«

Er trat noch einmal an die jetzt völlig Bewußtlose heran, fühlte nach ihrem Puls; wiederholte: »es hat nichts zu bedeuten«, und verließ eilig das Zimmer.


* * *


Arno mußte sich sagen, das Loras Handlungsweise, wenn man ihre Zwecke gelten ließ, sinnreicher und folgerichtiger war als die seine. Anspielungen, wie er sie früher nur zu oft auf sein »Verhältnis zu der schönen Frau« zu hören bekommen, wurden immer seltener; dafür begleitete man eine Reise von acht Tagen, die sie mit ihrem Schützling und dem Gatten zuerst nach Sundin, dann nach Kopenhagen machte, mit den hämischsten Glossen. Wozu brauche so ein armes Ding, dessen Wahlspruch sein müsse: Bleibe im Lande und nähre dich redlich, »die große Welt kennen zu lernen«, wie Lora sich auszudrücken beliebt habe? Von sämtlichen jungen Useliner Damen sei auch nicht eine einzige in Kopenhagen gewesen. Das heiße doch der jungen Person »Raupen in den Kopf setzen.« Und denke denn Frau Lora gar nicht an die Gefahren, die in dem nahen Beisammensein auf einer Reise lauerten? Die Lotsendirn werde wohl nicht seekrank [125] werden, und Herr Siebold, der wiederholt in England gewesen, ebenfalls nicht. Aber wie stände es mit Madame? Und während Madame unten in der Kajüte zwischen Leben und Sterben rang, flanierten auf dem Deck Herr Siebold und sein Schützling Arm in Arm. Ob Frau Siebold nie gehört habe, daß Gelegenheit Diebe mache? Oder woher sie wisse, daß ihr Herr Gemahl vor Diebesgelüsten sicher sei? Ein junges, unschuldiges Geschöpf solchen Versuchungen auszusetzen, beweise eine bodenlose Leichtfertigkeit; und wenn sich die Polizei da nicht einmischen könne und werde – die öffentliche Meinung stehe noch über der Polizei. Das werde Frau Lora eines Tages inne werden. Hochmut komme immer dicht vor dem Fall.

Also Lora hatte recht gehabt: man kümmerte sich nicht mehr um sie und ihn. Er und sie mochten in Zukunft unbehelligt von Späheraugen und Lästerzungen ihrer Liebe leben.

Ihrer Liebe, die ihm längst zur quälenden Fessel geworden war und ihm nun in Zukunft tiefer als zuvor ins Fleisch schneiden sollte!

Wenn das nicht zum Lachen war!

Oder das andere, daß er das geliebte Mädchen hierher gebracht hatte, damit sie ihm ferner sei als je! Er sie nur noch sehen durfte in einer Gesellschaft, die sie ihm verleidete, wie das moderne Kostüm, mit dem man sie herausputzte! Oder auch gar nicht mehr zu sehen bekam, wie nun bereits zweimal nach der Rückkehr der Reisenden, als er seine abendlichen Besuche wieder aufnehmen wollte und auf seine Frage nach Stine hören mußte: das lange Aufbleiben bekomme dem Kinde schlecht, [126] und so ein junges Ding sei bei der Abendunterhaltung erwachsener Leute immer ein wenig genant.

Ob das zum Lachen war!

Aber nur um Himmels willen sich nichts merken lassen! Schon um der armen dummen Dirn nicht, die es zu büßen haben würde. Und der doch am Ende, vorausgesetzt, daß die Komödie nicht eines Tages Knall und Fall zu Ende war, ein Vorteil fürs Leben aus der Geschichte erwuchs. Er hätte es nicht geglaubt; aber die Herren Müller und Pahnke sagten beide: sie sei eine aufgeweckte kleine Person, lerne mit unendlichem Eifer und mache geradezu staunenswerte Fortschritte. So nur noch zwei Jahre und sie könnte als feinere Bonne oder Erzieherin sich ihr ehrliches Brot verdienen; jedenfalls auch, wollte sie heiraten, ganz andere Ansprüche machen, als die Lotsendirn, wenn sie auch noch so geschickt Kartoffeln schälte und Netze flickte.

Es war Arno nicht schwer geworden, Frau Moorbeck zu überzeugen, daß, als er Stine in das Sieboldsche Haus brauchte, eine derartige erfreuliche Perspektive ihm vorgeschwebt habe.

Dabei hatte er es sich dann selber eingeredet.


* * *


Die kleine Differenz zwischen Frau Moorbeck und ihm war um so schneller ausgeglichen worden, als die Dame zu bemerken glaubte, daß ihre freundschaftliche Warnung vor den Gefahren, die sein Verkehr im Sieboldschen Hause für ihn mit sich brachte, bei Arno trotz alledem den von ihr gewünschten Erfolg gehabt hatte. Ohne spionieren zu wollen, konnte sie von ihrem Fenster [127] aus, dessen tiefe Nische ihr als Arbeitskabinett diente, und das sie deshalb selten verließ, seine Ein- und Ausgänge drüben ziemlich genau kontrollieren. Auf drei Besuche von früher kam jetzt kaum einer. Ein solcher Gehorsam, doppelt erfreulich bei einem Manne von so störrischem Charakter und so unbändigem Stolz, wollte belohnt sein. Für seinen Geist und seine Kenntnisse hatte sie immer eine aufrichtige Bewunderung empfunden, ohne doch ein Gefühl der Unbehaglichkeit in seiner Gegenwart jemals überwinden zu können. Oft und sehr ernsthaft hatte sie sich klar zu machen gesucht, welche Bewandtnis es damit habe. Einmal meinte sie, es sei sein äußerer Mensch, der ihren Schönheitssinn und ihre aristokratischen Voreingenommenheiten beleidige: seine lange, dürre Gestalt; seine nicht selten wunderlich steifen und eckigen Bewegungen; seine wenig wohltönende Stimme; seine rauhe, oft überhastete Sprechweise. Aber sie kannte Männer, die häßlicher waren und schlechtere Manieren hatten, ohne daß ihr diese Mängel auf die Nerven fielen. Hatte sie doch auch, als sie ihr freiherrliches Elternhaus und ihre sonnige süddeutsche Heimat mit dieser Ultima Thule vertauschte, allen aristokratischen Velleïtäten abgeschworen und diesen Schwur sonst überall und immer treulich gehalten! Nein, das konnte es nicht sein; und was ihm an äußerlichen Vorzügen abging, brachte der Mann durch seine hervorragenden geistigen Qualitäten doppelt wieder ein.

Also seine Moral!

Aber hatte sie das: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet! nicht als obersten Grundsatz ihrer Menschenschätzung von jeher anerkannt? Wußte sie nicht auf das allerbestimmteste, daß dieser scheinbar so rauhe [128] und harte Mensch ein treuer Freund und opferfreudiger Wohlthäter der Armen und Verlassenen war, für die er mit seiner Hilfe stets bereit stand, während er, der selbst Arme, die reichen Leute antichambrieren ließ und ihnen bei der geringsten Unbotmäßigkeit den Stuhl vor die Thür setzte?

So blieb, alles in allem genommen, nichts, was sie ihm ernstlich zum Vorwurf hätte machen können, als sein Verhältnis zu der Frau da drüben.

Was wußte sie von diesem Verhältnis?

Nichts, als was ihr gelegentlich von der Klatschbaserei der Stadt zugetragen wurde. Sie selbst hatte nie einen Fuß in das Haus da drüben gesetzt; mit der Dame persönlich keine Berührung gehabt außer einer sehr flüchtigen gelegentlich eines Wohlthätigkeitskonzertes, dessen Patronessinnen sie beide in einem Schwarm anderer Honoratiorenfrauen der Stadt gewesen waren.

Nichtsdestoweniger: wie sehr sie sich dagegen sträubte, sie vermochte sich eines Gefühls der Verachtung gegen Frau Siebold nicht zu erwehren. Ihre vielgepriesene Schönheit erschien ihr einfach ordinär; ihre krampfhafte Sucht, die vornehme Dame zu spielen, gründlich lächerlich.

Und unverzeihlich für einen Mann wie Arno, seinen guten Ruf, ja, seine bürgerliche Existenz in die Schanze zu schlagen einer Person willen, die man entweder überhaupt nicht ernsthaft nehmen durfte, oder, that man es, verurteilen, mindestens selbst unter dem Durchschnittsniveau taxieren mußte.

Aber jetzt schien ja Reue über den Sünder gekommen zu sein. Da hatte man ihm die Buße leicht zu machen. So würde die völlige Besserung nicht ausbleiben.


* * *


[129] »Guten Morgen, gnädige Frau!«

»Guten Morgen, Herr Doktor! Bitte, nehmen Sie Platz! Diesen Augenblick habe ich an Sie gedacht.«

»Sie verstatten, daß ich das aus jedem anderen Munde, als dem Ihren, für eine Phrase nehmen würde.«

»Glücklicherweise kann ich den Beweis antreten: bei mir ist es keine. Sehen Sie diese beiden Daguerotypen meiner Alexe! Ich habe sie vor zehn Minuten erhalten. Und während ich sie mit meinen befangenen Mutteraugen bewunderte, gedacht, was wohl ein kühler Betrachter, wie Sie, sagen möchte, und mich dabei des Gesprächs erinnert, das wir im vorigen Winter einmal über Lavaters physiognomische Träumereien und über Physiognomik im allgemeinen gehabt haben.«

»Ich erinnere mich,« erwiderte Arno. »Ich hatte einmal wieder meinen paradoxen Tag und stellte diverse unqualifizierbare Behauptungen auf.«

»Unter anderem: von Physiognomik im Lavaterschen Sinne könne man allenfalls bei den Tieren sprechen. Sie lügen freilich auch je nach dem Grade ihrer Intelligenz; aber doch nicht so gründlich und ausnahmslos wie der Mensch, der ein geborener, konsequenter, unweigerlicher und unverbesserlicher Lügner sei.«

»Habe ich das gesagt? Nun, das scheint mir so paradox eben nicht. Das möchte ich auch heute noch unterschreiben. Natürlich: keine Regel ohne alle und jede Ausnahme.«

»Sie lenken ein?«

»Ich muß wohl. Ich möchte den sehen, der zu behaupten wagte, daß dies Antlitz lügen könne.«

[130] Er hatte die beiden Bildchen, die er abwechselnd zur Hand genommen und eingehend betrachtet, auf den Tisch, an welchem sie saßen, gelegt. Frau Moorbeck lächelte.

»Sie finden sie schön?«

»Nicht, daß ich mit dem alten Schmeichler Horaz sagen möchte: O matre pulchra filia pulchrior: der schönen Mutter schönere Tochter, du! Eher pikant, interessant, geistreich –«

»Und doch hat die Kleine tausend Teufelchen in ihrem Dienst.«

»Das nehme ich als selbstverständlich an.«

»Was kein Paradoxon ist?«

»Für mich nicht. Ich glaube hier das Antlitz eines vollen, ganzen Menschen zu sehen, einer Natur, wie der alte Goethe es auszudrücken liebte. Und in einer vollen ganzen Menschennatur halten sich Hölle und Himmel, Böses und Gutes, Teufel und Engel die genaue Wage. Ich bin eben dabei, das in einer großen Tragödie zu beweisen, soweit ein Drama überhaupt etwas beweisen kann.«

»Sie sprachen schon im vergangenen Herbst davon. Ist es jetzt fertig?«

»Leider noch immer nicht. Es ist da ein böser Widerspruch zwischen dem ästhetischen Princip, das einen Schluß verlangt, und meinem Thema, das schlechterdings keinen hat, sondern, will ich den Knoten nicht zerhauen, anstatt ihn zu lösen, in infinitum fortgeführt werden müßte.«

»Sie entschuldigen, wenn ich das nicht verstehe.«

»Ich will es verständlicher auszudrücken suchen. Mein Held soll der Mensch, der wahre Mensch sein, von dem ich eben sagte, daß in seiner Seele gut und böse zu [131] gleichen Teilen gemischt, vielmehr identisch sind, so daß es nur darauf ankommt, von welcher Seite man es betrachtet, wie die Farbe, welche die Damen, glaube ich, changeante nennen, und die jetzt blau oder rot erscheint, je nachdem man das Licht so oder so auf den Stoff fallen läßt.«

»Sagt nicht Hamlet einmal etwas Ähnliches?«

»Sogar ganz dasselbe. Auch mache ich keinen Anspruch auf Originalität des Gedankens. Ich möchte nur ein oft Gedachtes, wenn ich es fertig bringe, klarer herausstellen, so klar, daß niemand an der Wahrheit zweifeln kann.«

»Bitte weiter! Sie nennen gut und böse identisch. Dann giebt es also keine guten und keine bösen Menschen?«

»Genau so, wie es nur eine und dieselbe identische Natur giebt, die mit souveräner Gleichgültigkeit heute vernichtet, was sie gestern geschaffen; mit derselben Unbefangenheit die holdesten Gebilde und die gräßlichsten Ungetüme aus ihrem Schoß entläßt; hier in zärtlicher Liebe, dort in raffinierter Grausamkeit schwelgt; in einem Atem zart und brutal; bis zum Göttlichen weise, bis zum Blödsinn stupid ist.«

»Die Natur, Doktor! Aber die Menschen!«

»Gehören sie nicht zur Natur? Sind sie nicht Natur, genau so wie die Elemente? Wie Fels und Baum? Wie alles, was geht und steht, kreucht und fleugt? Dürfen wir nicht annehmen, daß dieselben Gesetze, die durch das All wirken, auch in ihnen walten? In erster Linie das Gesetz der Selbstliebe, der Selbsterhaltung? Sehen Sie, gnädige Frau, hier kommen wir zu dem springenden Punkt. [132] Jedes Wesen liebt sich selbst, will sich selbst erhalten, ringt danach mit allen seinen Kräften. Was dieser Selbstliebe schmeichelnd entgegenkommt, sich von diesem Selbsterhaltungstrieb verwerten läßt, erscheint ihm gut, ebenso wie das Gegenteil böse. Und wenn es ein denkendes, sprachbegabtes Wesen, giebt es ihm diese oder jene Bezeichnung. Mithin ist, was ein Volk zu irgend einer Zeit gut genannt und als seine Moral verehrt hat, nichts anderes als die Quintessenz dessen, was ihm seine Selbstliebe nährte und seine Existenz verbürgte, oder zu verbürgen schien. Weiter, weil dies etwas mit den klimatischen, historischen, ökonomischen und sonstigen Bedingungen, unter denen das Volk lebt, notwendig sich verändert, giebt es nur eine temporäre und lokale, aber keine ewige, allgemein als solche anerkannte, oder anzuerkennende Moral.«

»Das Volk, nun ja! Aber der Einzelne!«

»Ihm sollte, deucht mir, als einem Teil, recht sein, was dem Ganzen billig ist. Ich meine, er darf ebensowenig erwarten und verlangen, daß ihm in allen Tagen und zu allen Stunden dasselbe gut oder böse erscheint. Und wäre das der einzige Widerspruch, in den er geraten kann! Ein sehr viel schlimmerer und unter Umständen für ihn sehr viel verhängnisvollerer ist der zwischen seiner privaten und der öffentlichen Moral, das heißt: dem, was ihm persönlich nötig ist und nützt, und dem, worin die Allgemeinheit ihren Vorteil sieht. Das wird in tausenden von Fällen mehr oder weniger weit, oft unvereinbar weit auseinanderfallen. Besonders für sehr kräftige, selbständige, willensstarke Individuen. Sie müssen dann entweder die Welt unter ihre Moral, oder [133] ihren Willen – was dasselbe ist – zwingen; oder, vermögen sie das nicht, da sie nun einmal der Taubenfrommheit ermangeln, klug sein, wie die Schlangen, und eine devote Referenz machen vor der Welt, die sie innerlich verachten und verhöhnen.«

Arno schwieg und nahm seinen Hut zur Hand, ihn mit dem Ärmel langsam glättend, während er starr vor sich niederblickte. Er hatte mit großem, für ihn ungewöhnlichem Eifer in seiner hastigsten, sich manchmal überstürzenden Weise gesprochen. Offenbar war er eben in sein Innerstes hinabgetaucht; hatte, wohl ohne es zu wollen und zu wissen, den tiefsten, dunkelsten Grund seiner Seele aufgedeckt. Dann aber, war das unheimliche Gefühl, das sie so oft in seiner Gegenwart beschlich, nicht vollauf berechtigt? Ließ sich mit einem Manne frei verkehren, der solchen Grundsätzen huldigte? Und doch, es konnte ja nicht sein!

»Nein! nein!« rief Frau Moorbeck, die eingetretene Stille unterbrechend, indem sie sich aus ihrer gebückten Stellung aufrichtete und Arno, wie beschwörend, die Hand entgegenstreckte.

»Nein!« wiederholte sie, als Arno sie fragend anblickte. »Das sind nicht Ihre wahren Gedanken, Überzeugungen. Das sagen Sie nur so, weil Sie wissen, daß Sie ein geistreicher Mann sind, der alles behaupten und beweisen kann.«

»Was die Griechen einen Sophisten nannten,« warf Arno lächelnd ein.

»Auch ich gehöre nicht zu denen,« fuhr die erregte Frau fort, ohne der Unterbrechung zu achten, »die alles auf Treu und Glauben hinnehmen. Ich habe nachträglich [134] gefunden, daß man über so manches, was man in meiner Familie für anständig oder unanständig, erlaubt oder unerlaubt hielt, sehr wohl eine andere Meinung haben könne. Und bin dahin gelangt, immer, wenn mir die Leute mit einem ›man muß‹ kommen, zu fragen: muß man wirklich? Aber ebenso bin ich überzeugt, daß man gewisse Dinge allerdings muß, unbedingt muß.«

»Wir werden uns darüber kaum verständigen, gnädige Frau,« sagte Arno, sich erhebend.

»Da ich natürlich nicht annehme, daß Sie mich täuschen wollen, so täuschen Sie sich selbst,« rief Frau Moorbeck mit einer Leidenschaftlichkeit, die in dem seltsamsten Kontrast mit ihrer angewohnten vornehmen Ruhe stand. »Sie sagen: jeder Mensch thut nur das, was ihm zum Vorteil gereicht, oder wovon er glaubt, daß es ihm dazu gereiche. Welchen Vorteil hat es Ihnen gewährt, daß Sie wochenlang – ich weiß das von Doktor Radloff – Tag und Nacht für das Leben des dänischen Schiffers im Krankenhause gekämpft haben, als gälte es einen teuersten Verwandten, den eigenen Vater oder Bruder zu retten? Und als der Mann nun doch starb, auf Tage ganz tiefsinnig, wie verstört umhergegangen sind? Was versprachen Sie sich für sich davon, als Sie in der Sturmnacht – hier ist wieder Radloff meine Quelle – mit augenscheinlichster Gefahr des eigenen Lebens nach dem Nedur fuhren, einer armen Frau, die Sie kaum kannten, ein paar Schmerzensstunden zu ersparen? Welche Wohlthat glaubten Sie sich zu erweisen, als Sie sich so großmütig des kleinen Lotsenkindes da drüben annahmen, das Ihnen nichts ist und sein kann?«

Arno stand und blickte starr in seinen Hut.

[135] »Nichts ist und sein kann,« wiederholte er leise.

Und dann, wie mit sich selbst sprechend:

»Ja, was ist und was kann uns beim Erwachen nach einer verstörten Nacht ein Blick sein durch ein kleines viereckiges, offenstehendes Fenster, an dem eine Handbreit weißer Gardine weht, zwischen zwei sonnenbeschienenen weißen Dünen, die ihre Füße zusammenschieben, hindurch auf das blaue Meer? Und über dem Meere wölbt sich der lichte Morgenhimmel. Und aus dem Morgenhimmel –«

Er hatte jetzt die Augen geschlossen; aus seinem immer bleichen, von dem dunkeln ungepflegten Bart umrahmten Gesicht schien alle Farbe gewichen. Frau Moorbeck durchrieselte Grausen. War er wahnsinnig geworden? Im Begriff, es zu werden?

»Doktor! Um Gottes willen, was ist Ihnen?« rief sie aufspringend und ihn am Arm ergreifend.

Er öffnete die Augen wieder und sah sie mit einem fremden Blick an, während er sich mit der flachen Hand langsam über die Stirn strich.

In dem Moment kam Richard in seiner fahrigen Art zur Thür herein.

»Du, Mama, da schreibt mir Alexe eben – ah, guten Abend, Herr Doktor, wie geht's? – sie habe dir ein paar Bilder von sich geschickt. Eins für mich. Wo – ah, da! Donnerwetter, das ist famos! Weißt du, Mama, sie sieht dir doch höllisch ähnlich. Nur daß du zehnmal schöner bist. Meinen Sie nicht auch, Herr Doktor?«

Richard wandte sich und sah noch eben, wie Arno die Thür des Salons hinter sich zumachte.

[136] »Na,« sagte er erstaunt, »warum läuft denn der so mir nichts, dir nichts davon?«

»Weiß man denn je, woran man mit ihm ist?« erwiderte Frau Moorbeck nachdenklich.

»Ja, das ist wahr: er ist ein wunderlicher Heiliger. Aber doch ein ganz famoser Kerl.«

»Jedenfalls ein außerordentlicher Mensch, der mit dem gewöhnlichen Maßstab nicht gemessen werden kann.«

»Ganz meine Meinung. Nur daß ich sie so gut nicht ausgedrückt hätte, wie meine kluge Mama.«

Er umarmte die Mutter stürmisch.

»Bist du verliebt?« sagte sie, ihn lächelnd abwehrend.

»Ja, in dich.«

»Und in wen sonst?«

»In das kleine Lotsenmädchen vis-à-vis. Die ist einfach zum Entzücken. Ich finde es nur scheußlich, daß sie in den Händen dieses Weibes ist.«

»Ich glaube, es wird nicht mehr auf lange sein. Das neue Mädchen drüben ist eine Schwester von unserer Rike. Sie will schon sehr häßliche Scenen erlebt haben. Ich wollte es eigentlich dem Doktor sagen, wie ungern ich mich auch in anderer Leute Angelegenheiten mische. Ich kam nicht dazu.«

»Aber das müßte der Doktor wissen. Er kommt jeden Tag ins Haus.«

»Schon seit Wochen längst nicht mehr so oft. Und vielleicht –«

»Was: vielleicht?«

»Du hörst ja: anderer Leute Angelegenheiten! Reitest du heute noch?«

»Ich kam eben, dir Adieu zu sagen.«


* * *


[137] Aus dem Morgenhimmel, wie immer, wenn er in der Absicht die Augen schloß, war sie herausgetreten und hatte sich hin und her bewegt an dem braunen ausgespannten Netze, hier und da den Seetang aus den Maschen zupfend. In dem knappen Mieder, dem kurzen Röckchen – wieder das junge, taufrische Geschöpf, nicht die aufgeputzte Puppe, die man da aus ihr gemacht hatte.

Er warf, über den Hafenplatz mit langen Schritten schreitend, einen wilden Blick nach dem Hause mit den grünen Jalousien. Welch ein ausgesuchter Narr war er gewesen, als er sie dahin brachte! Aber er wollte sie ihr wieder wegnehmen; sie wieder haben – so oder so! Morgen am Tage!

Um die Ecke biegend, sah er vor seinem Hause einen geschlossenen Wagen halten. Der Kutscher, der bei den Pferden stand, reichte ihm mit abgezogenem Hute einen Zettel, durch welchen Frau Domänenpächter Billich ihn in ein paar unorthographischen Zeilen bat, nach Voigthagen herauszukommen, um nach ihrem plötzlich heftig erkrankten Kinde zu sehen.

»Es ist gut,« sagte Arno. »Aber Sie werden möglicherweise noch etwas warten müssen.«

Seine abendliche Sprechstunde war bereits halb vorbei. Er nahm es mit ihr sonst genau, obgleich wenig Leute sich einzufinden pflegten. Das Gespräch mit Frau Moorbeck hatte ihn die Zeit vergessen lassen.

»Ist jemand oben?« fragte er die Wirtin, die in der Hausthür mit dem Kutscher geplaudert hatte.

»Nur ein junges Mädchen, Herr Doktor.«

Immer drei der niedrigen Stufen auf einmal nehmend, hastete Arno die knarrende Treppe hinauf und trat in [138] sein Vorzimmer. An einem der Fenster, durch das bereits abendlich rötliche Lichter fielen, stand, ihm den Rücken zukehrend, eine weibliche, schlanke Gestalt. Er hatte schon ein paar Schritte auf sie zu gemacht, als sie, die in tiefen Gedanken gewesen sein mußte, sich jäh wandte.

»Stine!«

Ihre Antwort war ein heftiges Weinen.

»Mein Gott, Stine, was bedeutet das? Was ist Ihnen?«

Er hatte ihre Hand ergriffen. Die kleine Hand war eiskalt. Sie zitterte am ganzen Leibe. Wieder keine Antwort.

»Kommen Sie!«

Er hatte sie um den schlanken Leib gefaßt und führte sie, die ihm willig folgte, in sein Arbeitskabinett, dessen Thür er abschloß; ließ sie sich auf das Sofa setzen und ging vor ihr auf und ab, bis sie sich soweit beruhigt haben würde, um sprechen zu können. Dann trat er zu ihr, zog sich einen Stuhl heran und sagte, sich vornüberbeugend, die Hände zwischen den Knien:

»Also, liebes Kind, was hat es gegeben? Frau Siebold ist nicht gut zu Ihnen gewesen?«

Stine nickte.

»Nein, Kind, Sie müssen ordentlich antworten. Ich muß alles wissen. Sonst kann ich Ihnen nicht helfen.«

Stine faltete die Hände in dem Schoß über dem Taschentüchelchen, mit dem sie sich noch einmal die Augen gewischt hatte, und versuchte den Blick zu heben, was nur halb gelang.

»So ist es recht. Frau Siebold ist also schlecht zu Ihnen. Seit wann?«

»Die ganze letzte Zeit.«

[139] »Sind Sie sich bewußt, irgend etwas gethan zu haben, weshalb sie unzufrieden sein könnte?«

»Nein. Ich habe nichts Böses gethan.«

»Davon bin ich überzeugt. Also aus schierer Bosheit. Es sieht ihr gleich. Und da schilt sie nun mit Ihnen. – Was ist denn das? Wie kommen Sie dazu?«

Er hatte jetzt erst in dem hellen Licht, das durch die gegenüberstehenden Fenster in ihr blasses Gesichtchen fiel, einen roten Streifen bemerkt, der sich von der Stirn über die Schläfe bis in die Backe zog.«

»Sind Sie gefallen?«

»Nein. Sie – sie – hat –«

»Heraus damit!«

»Mich geschlagen.«

Wieder drückte sie das Taschentuch in die Augen. Arno murmelte einen fürchterlichen Fluch durch die Zähne.

»Wann?« fragte er.

»Vor einer Stunde. Dann hat sie mich eingesperrt und ist ausgefahren. Ich habe mir mein eigenes Zeug angezogen und Jette – das ist das neue Mädchen – die ist an die Thür gekommen; und ich habe sie gebeten, daß sie mich herausließ. Sie wollte erst nicht. Dann hat sie es doch gethan. Und hat mir geholfen, ein paar von meinen Sachen in ein Tuch zu schlagen. Dann bin ich hierher gelaufen.«

»Das haben Sie brav gemacht. Und was hat denn Herr Siebold zu dem allen gesagt?«

»Erst hat er wohl zum guten geredet. Hernach nicht mehr. Er fürchtet sich so vor ihr.«

»Ob er das thut! Also um Herr Siebolds willen ist es nicht gewesen?«

[140] Sie blickte ihn fragend an.

»Um Herrn Siebold?«

»Ich frage nur so. Und nun möchtest du nach dem Nedur zu deinen Eltern?«

Er merkte plötzlich, daß er du zu ihr gesagt hatte und fügte hastig hinzu:

»Sie werden sich gewiß freuen, Sie wieder zu sehen. Ich will Sie auch selbst hinbringen. Nur so schnell geht das nicht. Für heute nacht müssen wir jedenfalls Rat schaffen. Wenn ich Sie nach dem Goldenen Anker brächte?«

»Da sind so häßliche Leute,« sagte sie leise. »Und die Wirtin ist keine gute Frau.«

Arno dachte nach. Er kannte ein paar anständige Gasthäuser in der Stadt; aber ohne Aufsehen und Gerede hervorzurufen, konnte er Stine, die mittlerweile bekannt genug geworden sein mußte, in keinem für die Nacht einlogieren. Plötzlich kam ihm ein Einfall: sein Krankenhaus!

Er stand auf.

»Kommen Sie!« sagte er. »Ich bringe Sie in ein Haus, wo die Leute thun, was ich ihnen befehle; und wo Sie es in jeder Weise gut haben werden. Wir brauchen auch nicht durch die Stadt zu gehen. Ich fahre Sie in dem Wagen hin, der unten vor meiner Thür hält. So, so, liebes Kind! Sie haben doch Vertrauen zu mir?«

»Ja, Herr Doktor.«

»Dann ist alles in Ordnung.«

Die Domäne Voigthagen war nur eine halbe Stunde von der Stadt entfernt; der Weg dahin führte vorüber an dem Krankenhause, das am äußersten Ende der lang [141] sich streckenden Vorstadt lag, ein paar hundert Schritte von den letzten Häusern und Scheunen der Ackerbürger in die Felder hinausgerückt. So brauchte Arno mit seinem Schützling nicht einmal einen Umweg zu machen. Die Wirtin war ein wenig verwundert, von dem Doktor zu hören, daß er das junge Mädchen in das Krankenhaus bringen müsse. Aber man kann ja den Leuten nicht ansehen, was ihnen fehlt.

Stine hatte sich dem Herrn Doktor gegenüber auf den schmalen Rücksitz gesetzt und ihr kleines, in ein rotes Baumwollentuch geschlagenes Bündel neben sich gelegt. Er bemerkte jetzt erst, daß sie wieder das einfache, halb dörfische, halb städtische Kleidchen trug, in welchem sie mit ihren Eltern vor einem Monat nach Uselin gekommen war. Den Kopf hatte sie in ein buntes Tüchelchen gebunden, wie die Schifferfrauen und -Mädchen, wenn sie Sonntags zur Stadt kamen. Aus dem Tuch quollen ein paar der blonden Löckchen über die Stirn, auf welcher der rote Striemen jetzt noch schärfer als vorhin sich abzeichnete. Das blasse, verweinte Gesichtchen war kaum hübsch zu nennen und schien ein ganz anderes als jenes, welches er sah, wenn er, an sie denkend, die Augen schloß.

»Wirklichkeit und Phantasiebild,« sprach er bei sich. »Man muß sie nur auseinander zu halten wissen. Und es ist sehr gut, daß sie sich hier so leicht auseinander halten lassen. Es ist sehr gut.«

In seine Gedanken versunken, blickte er schweigsam durch das offene Wagenfenster. Sie saß still, in ihre Ecke gedrückt. Nur einmal fragte er:

»Haben Sie Ihren Eltern geschrieben?«

»Ja, in der ersten Woche.«

[142] »Als noch alles gut ging?«

»Ja, Herr Dokter.«

Der Wagen hielt an der großen eisernen Gitterthür, welche den Vorplatz des Krankenhauses gegen die Landstraße abschloß. Arno hieß Stine im Wagen bleiben und ging in das Haus. Auf dem Flur traf er die Beschließerin.

»Ist Doktor Radloff zu Hause?«

»Nein, Herr Doktor.«

»Es thut nichts. Ich wollte auch nur mit Ihnen sprechen.«

In aller Kürze erkärte er der Frau, um was es sich handelte. Es hielt nicht schwer, sich mit ihr zu verständigen. Sie hatte nicht nur von Stine bereits gehört, sondern sie wiederholt mit Frau Siebold am Krankenhause vorüberfahren sehen und sich gewundert, wie lange die Herrlichkeit wohl dauern würde. Wenn der Herr Doktor auch morgen noch nicht Zeit haben sollte, sie nach dem Nedur zurückzubringen – es standen zwei Zimmer der ersten Klasse leer. Sie wolle es schon so einrichten, daß es dem jungen Mädchen nicht unbehaglich und unheimlich sei.

»Ich weiß, daß ich mich hier, wie überall, auf Sie verlassen kann,« sagte Arno, ihr die Hand reichend.

»Es ist mein Stolz, Herr Doktor.«

Sie begleitete Arno zum Wagen.

»Liebe Stine: dies ist Frau Livonius, die hier im Hause das Kommando führt –«

»Aber, Herr Doktor!« sagte Frau Livonius lächelnd.

»Wie Ihr Vater, Stine, wenn er als Lotse an Bord ist. Der dürfen Sie unbedingt vertrauen. Adieu! Wird es nicht zu spät, komme ich am Abend noch einmal vor.«

[143] Er sprang in den Wagen und hieß den Kutscher schnell fahren, die versäumte Zeit möglichst wieder einzubringen.


* * *


Die Sonne war im Untergehen, rötliche Lichter über die Felder strahlend, die im frischen Grün des Spätfrühlings prangten. Arno hatte den Wagen aufschlagen lassen und sog mit vollen Zügen den balsamischen Duft ein, der, aus dem Gelände aufsteigend, die Luft erfüllte. Licht, Duft, Lerchengesang aus der blauen Höhe – war das Leben nicht schön, schöne Momente hatte es doch. Dies war einer. Warum? Frau Moorbeck würde sagen: weil du etwas Gutes gethan hast. Ich sage: weil ich etwas gethan habe, das mir Spaß macht. Ist es nicht ein Spaß, ein blutendes Vögelchen aus den Fängen des Sperbers gerettet zu haben? Das heißt: so eigentlich gerettet hast du es nicht. Es hat das Glück gehabt, zu entkommen, und ist zu dir geflohen – in deinen Schutz.

Er wurde plötzlich tief ernst. Es fiel ihm ein Geschichtchen ein, das er irgendwann – vor langen Jahren, auf der Schule – gelesen. Das Geschichtchen von einem Knaben, den die Athener zum Tode verdammten, weil er einen Sperling, der an seinem Busen vor dem verfolgenden Raubvogel Schutz gesucht, mutwillig getötet hatte. Wahr oder erfunden – es hatte ihn seiner Zeit sehr erschüttert. Die Strafe schien mit dem Vergehen in so gar keinem Verhältnisse zu stehen. Irgend ein tiefes Geheimnis lag da verborgen. Er hatte es nicht herausgebracht. Dennoch hatte er sich gesagt: die Athener waren im Recht.

[144] Und jetzt mußte er wieder sagen: ja, sie hatten recht. Aber nicht, verehrte Frau, weil hier ein Grundgesetz verletzt wurde, das, der Menschennatur eingeboren, der ganzen Menschheit heilig sein muß. Nein, Madame! Nur ein Gesetz, das den Athenern und allen primitiven Völkern sakrosankt war und ist: das Gesetz der Gastfreundschaft. Ohne dessen Heilighaltung in einer Welt, wo die Hand jedes gegen jeden, völlig nicht zu leben gewesen wäre.

Und dann: man fühlt sich so groß und mächtig, wenn da ein Schwaches ist, das Schutz begehrt, und das man schützen kann. Und sich groß und mächtig zu fühlen –

Alles Larifari, mon cher!

Die Sache ist: die Kleine ist dir heute in ihrer Wirklichkeit erschienen: als ein unbedeutendes, unwissendes, geistloses Ding, das nicht einmal hübsch genannt werden kann. Und das deine Phantasie zu einem Märchenwunder herausgeputzt hat, gerade wie Lora partout eine Dame aus der armen Lotsendirn machen wollte.

Seine Stirn faltete sich; er klemmte die Zähne aufeinander.

Lora! Sie sollte es ihm büßen! Büßen, daß sie ihm sein Vögelchen zerfleischt hatte! Ihr machte das Spaß: es war ihre Sperbernatur. Wohl! Und ihm machte es Spaß, dem Sperber seine Fänge zu stutzen. Es sollte ihr teurer zu stehen kommen, als sie sich träumen ließ!

Was konnte sie gegen das arme wehrlose Geschöpf so aufgebracht haben? Zweifellos, weil sie sich verrechnet, als sie glaubte, die Tage von einstmals würden für sie wiederkommen, nachdem sie ihm den Gefallen gethan, das Mädchen bei sich aufzunehmen. Oder sie hatte sich geärgert, [145] als sie hörte, daß man sich in der Stadt über die Narrenspossen, die sie mit dem armen Kinde trieb, lächerlich machte.

Und das Weib hatte er geliebt, wie die Phrase lautet!

Nur daß es eben eine Phrase war und sonst nichts. Eine bunte Seifenblase, an deren Schillern und Flimmern sich die Kinder ergötzen, um ach! zu schreien, wenn sie zerplatzt.

Und ein schmutziger Wassertropfen zu Boden fällt.


* * *


Frau Billich war sehr glücklich, als der Herr Doktor versicherte, daß von Typhus, der allerdings in der Gegend häufiger auftrete, keine Rede sei. Eine starke Magenverstimmung mit heftigem Fieber, die in wenigen Tagen gehoben sein werde. Man möge ihm, wenn es gegen seine Annahme morgen nicht bedeutend besser stünde, abermals den Wagen schicken.

In dem Wohnzimmer war inzwischen nach Landesbrauch eine reichliche Kollation aufgetragen worden; aber vergebens, daß die freundlichen Leute den Herrn Doktor baten, ihnen die Ehre zu erweisen. Er mußte stehenden Fußes zur Stadt zurück. Nur ein Glas Wein nahm er an, das er hastig austrank, um sofort wieder den Wagen zu besteigen, der auf seine Bitte vor der Thür halten geblieben war.

»Na, denn adjüs, Herr Doktor!« sagte Herr Billich, die Wagenthür schließend. »Und, Krischan, daß du ordentlich zufährst! Der Herr Doktor hat's eilig.«

Arno hatte es eilig. Er hätte sich Flügel gewünscht. Zu ihr zurückzukommen, der kleinen einfältigen Lotsendirn, die nicht einmal hübsch war.

[146] Rein zum lachen!

Aber er lachte nicht. Er saß da, in die Felder starrend, von denen die goldigen Lichter verschwunden waren. Über die Niederungen der Wiesen hier und da breitete sich zarter bläulicher Nebelduft. In einem Kornfelde lockte der Rebhahn seine Schar. Hoch ob seinem Haupte flog ein Dreieck großer Vögel: wilde Gänse oder Schwäne, westwärts in das letzte Abendrot. Ein Nachzügler kam hinterdrein geschwingt, von Zeit zu Zeit einen seltsamen melodischen Klageruf ausstoßend. Er sah und hörte das alles, wie in einem Traum. Sein Atem ging schnell und schwer; ein paarmal richtete er sich auf, die Spannung loszuwerden, die ihm das Herz beklemmte. Die Augen wagte er nicht zu schließen, trotzdem ihm die Lider heiß waren: er wußte, sofort würde ihr Bild dastehen in dem magischen Licht, dessen berückenden Zauber er nun so gut kannte.

Und er wollte nicht berückt sein; wollte nicht Wirklichkeit und Phantasie durcheinander mengen wie ein thörichter Knabe.

Und das Vögelchen nicht verletzen, das an seinem Busen Schutz gesucht.

Am Ende gab's doch etwas, das auch ihm heilig war. Zum Exempel das Versprechen, das man einem alten Lotsen in die harte Hand geleistet, über seinem Kinde wachen zu wollen. Es ihm, wenn es hier in Uselin nicht ging, heil an Leib und Seele wieder zurückschaffen zu wollen auf den heimischen Dünensand, Netze zu flicken und Kartoffeln zu schälen, und gedörrte Fische und ranzige Butter zu essen mit den lieben Eltern. Und den Kalibau zu heiraten mit den Riesenfäusten und dem Stiernacken.

[147] Schließlich wollte sie ja selbst auch nichts anderes und nichts besseres.

Und würde heilfroh sein, den unheimlichen Herrn Doktor los zu werden, vor dem sich ihr kleines Seelchen schier aus dem schlanken Leibe ängstigte.

Da war das Krankenhaus, bereits ganz nahe. Sollte er vorüber und gleich in die Stadt zu seiner Wohnung fahren?

Aber er hatte halb und halb zugesagt, noch einmal vorzusprechen. Und es mußte doch auch verabredet werden, was morgen geschehen solle. Es gab freilich morgen etwas viel zu thun. Radloff mußte eben sehen, wie er allein fertig würde. Ein Boot nach dem Nedur würde sich wohl im Hafen auftreiben lassen.

»Kutscher! Halt!«


* * *


Er hatte den Wagen weggeschickt und trat in das Haus. Frau Livonius, die den Wagen gehört hatte, kam ihm entgegen.

»Wie steht's mit unserer Pflegebefohlenen?«

»Gut, Herr Doktor.«

»Es ist ein braves Kind. Nicht?«

»Ja, Herr Doktor, ein sehr braves, das ich in der kurzen Zeit ordentlich schon lieb gewonnen habe. Wie Frau Siebold mit der nicht hat auskommen können, verstehe ich nicht. Sie sieht einem ja von den Augen ab, was man will. Und anstellig und geschickt ist sie, daß man sich richtig verwundern muß. Sie wollte durchaus was zu thun haben. Da habe ich sie mit zu der Minna Ried genommen, die einen neuen Verband haben mußte, [148] und zu der Rike Kraft; die mußte ich umbetten. Ja, Herr Doktor, wie sie da zufaßte und wie ihr alles flink von der Hand ging – ich kann's wahrhaftig selber nicht besser. Wissen Sie, Herr Doktor: so eine könnten wir brauchen. Die hat mir schon lange gefehlt.«

»Vorläufig werden wir sie wohl erst einmal nach dem Nedur zurückspedieren müssen. Wo ist sie?«

»Ich habe sie noch auf eine halbe Stunde in das Wäldchen geschickt. Sie bat mich darum; unter Bäumen, das sei ihr so was Neues. Soll ich sie holen lassen?«

»Nein, bitte, lassen Sie! Ich will selber gehen. Ich habe mit dem Kinde wichtige Dinge zu sprechen. Zwischen den vier Wänden ist sie so verschüchtert – mir gegenüber wenigstens. Auf dem Nedur zwischen den Dünen konnte sie ganz gut reden.«

In dem Wäldchen hinter dem großen Garten wußte er wenig Bescheid, trotzdem es ebenfalls zu dem Krankenhause gehörte. Er hatte aus den seltenen Besuchen nur die Erinnerung an teils sandige, teils grasbewachsene Wege, die sich an einigen Stellen zu kleinen Plätzen erweiterten, auf welchen hier und da eine primitive Bank angebracht war. Stine würde sich nicht eben weit in die kleine Wildnis gewagt haben; auch war es noch immer hell genug, um in den breiten Gängen zwischen dem Strauchwerk und den jungen Eichen und Buchen, die nur dann und wann ein älterer Baum überragte, bequem sehen zu können. Auch ohne den beinahe vollen Mond, dessen Rund eben im Osten durch das zarte Gezweig zu blinken begann.

Eine große, schier beklemmende Stille herrschte in dem Revier. In dem Gras und Lattich und dem weichen [149] Sande der Wege vernahm er seinen Schritt nur, wenn sein Fuß gelegentlich auf ein trockenes Zweiglein trat. Bei einer Wendung des Weges stand ihm plötzlich die glänzende Scheibe des Mondes frei gegenüber zwischen den Buschwänden rechts und links. Ein schwarzer Schatten schwebte langsam über die glänzende Scheibe: ein Raubvogel, Eule wahrscheinlich, die zu ihrem nächtlichen Beutezug ausflog auf kleine wehrlose Vögelchen.

Wie er eines suchte.

Nicht mit Raubvogelgedanken.

Einem Raubvogel pocht das Herz nicht so in der Brust, wie es ihm bis in den Hals hinaufschlug, als er rechter Hand, nur noch wenige Schritte von ihm entfernt, auf einer niedrigen Bank am Rande der kleinen Lichtung eine weibliche Gestalt sitzen sah.

»Sind Sie es, Stine? Erschrecken Sie nicht! Ich bin's. Frau Livonius sagte mir, ich würde Sie hier finden. Darf ich mich zu Ihnen setzen? Oder besser: wir gehen gleich wieder hinein. Es fängt an, kühl und feucht zu werden. Und Sie sind in dem dünnen Kleidchen.«

Er sagte das alles aber hastig, mit stockendem Atem und einer Stimme, die ihm seltsam rauh und unfreundlich vorkam. Da war's freilich kein Wunder, wenn das arme Ding sich vor ihm fürchtete und ihre kleine kalte Hand, die er für einen Moment in die seine genommen, so nervös bebte.

Sie war von der Bank aufgestanden und ging nun neben ihm her, der die gewohnten langen Schritte kürzte, daß die Kleine mitkommen könnte. Er hatte nicht gewußt, daß sie so klein war. Knapp an die Schulter reichte sie ihm. Das wahre Kind!

[150] »Nun lassen Sie uns einmal recht vernünftig miteinander sprechen. Zu Frau Siebold wollen Sie nicht wieder zurück?«

»Ach, nein, Herr Doktor.«

»Auch wenn ich mich dafür verbürgte – ich meine: wenn ich es machen könnte, daß Sie in Zukunft gut behandelt würden?«

»Ach, nein, Herr Doktor.«

»Hat es Ihnen denn gar keine Freude bereitet, so hübsch herausgeputzt zu werden? Und so feine Sachen zu essen und zu trinken? Und spazieren zu fahren? Und all das?«

»Nein, Herr Doktor, gar keine.«

»Und das Lernen, das hat Ihnen erst recht keinen Spaß gemacht?«

»Doch, Herr Doktor, das habe ich gern gethan. Weil –«

»Nun?«

»Ich glaubte, daß der Herr Doktor es wünschten.«

Sie hatte es so leise gesagt; er mußte sich erst die kaum verständlichen Laute zusammenlegen, den Sinn herauszubringen.

»Ah so! Und warum sollte ich das gewünscht haben?«

Sie antwortete nicht. Er schalt sich innerlich über die dumme Frage. Sie hatte sich ihre Gedanken darüber gemacht, weshalb er sie zu Frau Siebold in die Stadt gebracht habe: daß sie da was Ordentliches lerne. Eine Fortsetzung ihrer Lehrzeit in Sundin. Es war ja an jenem Morgen zwischen den Dünen unter ihnen davon gesprochen worden.

[151] »Da blieben Sie am Ende gern hier, wenn Sie Gelegenheit hätten, weiter zu lernen? Und bei Leuten wären, die Sie freundlich behandelten?«

»Ach, ja!«

Es war so hell herausgekommen: das erste freudige Wort, das er aus ihrem Munde gehört. Ein zufällig berührter, höchst sensibler Nerv. Er hätte ihn in ihr nicht gesucht.

»So, so!« sagte er. »Nun dazu könnte wohl Rat werden. Vielleicht gleich hier in meinem Krankenhause. Ich weiß, daß Sie bereits halbwegs eine gelernte Wärterin sind. Frau Livonius hat es auch schon heraus. Sie würde Sie sicher gern behalten. Dann könnten Sie ein paar leichtere Patienten übernehmen und hätten noch immer Zeit, nach Herzenslust zu lernen.«

»Wenn das möglich wäre!« rief sie in demselben erregten Ton, die Hände zusammenfaltend.

»Es würde ganz darauf ankommen, was Ihre Eltern dazu sagen. Ich habe nicht den Eindruck gehabt, daß sie Sie gern fortließen. Im Gegenteil! Ich bin überzeugt, sie hätten Sie heute lieber als morgen wieder bei sich zu Hause auf dem Nedur.«

»Ja, das ist wohl sicher so.«

Die Stimme klang wieder recht gedrückt.

»Wenn ich an sie schriebe?« sagte Arno.

»Ach ja, Herr Doktor!« erwiderte sie schnell. »Vater und Mutter thun alles, was der Herr Doktor ihnen sagt.«

»Nun, und Jochen Lachmund?«

Er war stehen geblieben, auf sie herabblickend, die plötzlich das Gesicht nach unten geneigt hatte. Es kam keine Antwort.

[152] »Ja, liebes Kind, wenn ich die Verantwortung für Sie übernehmen soll – und das muß ich, bleiben Sie auf meine Veranlassung hier – so muß ich wissen, wie es nach der Seite steht. Muß wissen, ob ich da nicht einen Eingriff in Ihr Leben mache, den ich nicht verantworten kann; etwas zerstöre, worin Ihre Eltern für Sie das Glück sehen; und Sie selbst es sehen werden, wenn Sie noch ein paar Jahre älter geworden sind.«

Er hatte mit eindringlichem Ernst gesprochen ohne jeden selbstischen Nebengedanken. Sie war ihm in diesem Augenblick durchaus das hilflose Vögelchen, das an seinem Busen Schutz suchte.

Und so nahm er ihre herabhängende Hand und sagte freundlich:

»Gestehen Sie es: Sie lieben den Jochen nicht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Lieben Sie einen anderen? Sehen Sie mich einmal darauf an! Und antworten Sie mit einem ehrlichen ja oder nein!«

Sie hob langsam das Gesicht. Der Mondschein fiel voll in ihre weit zu ihm aufgeschlagenen Augen. Er erschrak in tiefster Seele. Was war das? Dieser weiche, träumerische, sehnsüchtige Glanz – das war kein Spiel des Mondenlichts!

»Stine!« stammelte er.

Ihr Kopf lag an seiner Brust.

»Stine, du liebst mich!«

Seine Arme hielten den zarten Leib umschlungen; sie schmiegte sich an ihn in bebender Leidenschaft. Die Lippen fanden sich, preßten sich aufeinander in zitternder [153] Gier, als wollten die beiden sich hinüber und herüber den Tod aus diesen Küssen trinken.


* * *


Am folgenden Tage um die Mittagsstunde trat Arno in das Haus mit den grünen Jalousien. Gegen seine Gewohnheit langsam stieg er die Treppe hinauf; jemand kam ihm von oben entgegen; auf dem Absatz begegnete man sich. Es war sein Kollege Hannemann, der, als er ihn erblickte, eine sehr betretene Miene machte.

»Genieren Sie sich nicht, Herr Kollege,« sagte Arno, im Begriff, die Treppe weiter hinaufzusteigen.

»Wenn Sie mir eine Minute Gehör schenken wollten,« stotterte Doktor Hannemann.

»Hier auf der Treppe?«

»Nur eine Minute! Ich muß Ihnen in einem sonderbaren Licht erscheinen –«

»Ganz und gar nicht. Le roi est mort, vive le roi! Ich sehe in Ihnen einen völlig legitimen Nachfolger.Parole d'honneur

»Das ist sehr freundlich, sehr kollegialisch von Ihnen. Aber ich betrachte dies nur als eine Vertretung, sozusagen. Auf keinen Fall möchte ich bei Ihnen in den Verdacht kommen –«

»Sie können völlig ruhig sein. Ich habe meine Praxis in diesem Hause definitiv aufgegeben. Sie dürfen das in der ganzen Stadt sagen. Was mich heute hierher geführt hat, ist eine reine Privatangelegenheit. Guten Tag!«

Er ließ den verblüfften Kollegen stehen. Auf dem oberen Flur kam ihm Herr Siebold eilfertig entgegen[154] und nötigte ihn in ein Gemach neben dem Salon, das einiger Bücherschränke wegen, die dort Platz gefunden hatten, von Lora die Bibliothek genannt wurde.

»Ich komme eigentlich zu Ihrer Frau Gemahlin,« sagte Arno; »sie hat mich durch ein Billet, das ich vorfand, als ich eben nach Hause kam, zu sich gebeten.«

»Ich weiß, ich weiß,« erwiderte Herr Siebold, sich verlegen die weißen Händchen reibend. »Vor zwei Stunden. Aber gleich darauf wurde sie plötzlich von einem heftigen Unwohlsein befallen. Doktor Hannemann war gerade unten in der Apotheke –«

»Ich begegnete ihm eben auf der Treppe. Und habe ihm gesagt, daß für mich sein Weg in dies Haus völlig frei ist. Daß ich, nach dem, was vorgefallen, auf die Ehre, in diesem Hause zu praktizieren, verzichte. Wollen Sie jetzt die Güte haben, mich zu Ihrer Frau Gemahlin –«

»Sie hat mich beauftragt, sie zu entschuldigen. Sie ist so hochgradig nervös – diese ganze fatale Angelegenheit –«

»Dann verstatten Sie, daß ich mich Ihnen empfehle.«

Arno hatte seinen Stuhl zurückgeschoben; auch Herr Siebold war aufgesprungen.

»Aber, lieber, verehrter Herr Doktor, eilen Sie doch nicht so! Sie können sich doch denken, wie fatal, wie überaus fatal mir – Ist denn keine Möglichkeit – So alte Freunde, wie wir, – so alte, bewährte Freunde –«

»Sehr obligiert. Aber ein Betragen, wie es Ihrer Frau Gemahlin gegen die arme Stine Prebrow beliebt hat, verzeihe ich nicht. Nun und nimmer. Ich war ge kommen, das Ihrer Frau Gemahlin zu sagen. Wollen Sie die Güte haben, es in meinem Namen zu thun!«

[155] »Gewiß, gewiß, wenn es denn sein muß. Ich kann es nicht fassen. So alte, bewährte Freunde! Und Sie kennen doch Lora. Sie wissen, wie heftig sie ist; wie wenig sie überlegt, was sie sagt oder thut. Fräulein Chri –, die Stine ist ja ein gutes, fügsames Mädchen; und ich – ich kann es beschwören, Herr Doktor, nicht einen Augenblick habe ich daran geglaubt, daß es wahr ist. Aber die Frauen sind in diesem Punkte so ganz anders; trauen einander gleich alles mögliche zu –«

Arno horchte auf. Hier endlich schien die Wahrheit an den Tag kommen zu wollen. Konnte sie für das geliebte Mädchen beschämend sein? Nimmermehr!

»Alles mögliche,« sagte er. »Wollen Sie die Güte haben – ich habe wohl einiges Recht, um diese Vergünstigung zu bitten – mich zu unterrichten, worin ungefähr dies alles mögliche besteht?«

Herr Siebold stierte ihn durch seine Brillengläser an.

»Ja, hat Ihnen denn Fräulein Chri–, hat Ihnen Stine es nicht gesagt?«

»Ich weiß nur, daß man sie höchst unwürdig behandelt, nicht was man ihr vorgeworfen hat.«

»Freilich, freilich! Wenn es nicht wahr ist – und es ist ja gewiß nicht wahr – da konnte sie allerdings kaum –«

»Herr Siebold, ich bitte noch einmal, mit der Sprache herauszugehen. Ich verlange es peremptorisch.«

Der kleine Mann trippelte von einem Fuß auf den anderen, rieb sich die Nase, rückte an der Brille.

»Sie setzen mich da in eine grausame Verlegenheit. Wie soll ich das nur – Aber Sie dürfen es verlangen – Und unter uns Männern – Wir brauchen [156] doch am Ende keine Heiligen zu sein – Man will wissen – daß –«

»Was in drei Teufels Namen?«

»Chri–, die Stine Ihre Geliebte ist.«

Arno lachte laut auf. Herr Siebold war zu erregt, um herauszuhören, wie gezwungen das Lachen klang.

»Es ist recht,« rief er erleichtert. »Lachen Sie nur! Es ist auch wirklich lächerlich.«

»Nachdem man's nimmt,« sagte Arno, der sich sofort wieder in der Gewalt hatte. »Es wäre immerhin ein starkes Stück, seine Geliebte in ein befreundetes Haus einzuschmuggeln. Und, wie mir scheint, ein recht dummes dazu, sie unter die Tugendwächterschaft einer so exemplarischen Dame zu stellen. Und so ein albernes Märchen – verzeihen Sie – hat sich Ihre Frau Gemahlin aufbinden lassen? Ich darf jetzt auch wohl fragen: von wem?«

»Jawohl, von wem! Ich habe Lora nicht einmal – hundertmal habe ich ihr gesagt: wie kannst du der verlogenen Person, der Malwine, über den Weg trauen!«

»Ah! Ist die wieder bei Ihnen im Hause?«

»Behüte der Himmel! Es scheint, sie hat sich an meine Frau herangedrängt; oder meine Frau hat sie sich kommen lassen –«

»Nehmen wir das letztere an!«

»Mein Gott, das wäre doch auch nichts Böses. Man will sich doch über ein Mädchen, das man in sein Haus genommen, sozusagen an Kindesstatt angenommen hat – möglichst unterrichten; Details erfahren. Bei so kleinen Leuten – lieber Gott, das weiß man doch! – passieren manchmal seltsame Dinge. Vor drei Jahren – kurz, [157] bevor Sie hierher kamen, – hatten wir eine Köchin, ein blutjunges Ding –«

»Bleiben wir bei der Sache! Was wollte Ihre Frau Gemahlin von der Malwine?«

»Ganz recht. Sie ist die Cousine, oder etwas der Art von Christine Prebrow, kennt die ganze Familie in Sundin und auf dem Nedur. Wenn eine, mußte sie um alles Bescheid wissen.«

»Und die Person hat gewagt –«

»Nichts Bestimmtes, lieber Herr Doktor – ich versichere Sie. Andeutungen, Möglichkeiten – was sich denn so eine Person zusammenphantasiert. Christine, behauptet sie, ist bis vor kurzem verlobt gewesen mit einem jungen Lotsen auf dem Nedur – einem stattlichen, schönen jungen Menschen. Soll ihn auch sehr gern gehabt haben. Eltern ganz einverstanden. Hochzeitstag festgesetzt – alles in Ordnung. Da – aber, bester Herr Doktor, Sie dürfen mir nicht bös sein: relata refero – relata refero – da kommen Sie ein paarmal nach dem Nedur – in das Haus – nächtigen da auch. Plötzlich will das Mädchen von ihrem Bräutigam nichts mehr wissen; wird ganz tiefsinnig; will nach Amerika – Gott weiß wohin. Nun der Brief von meiner Frau, der sie hierher einladet. Auf einmal ist sie wieder ganz glückselig; will nicht mehr nach Amerika; will hierher, trotzdem ihre Eltern, ihr Bräutigam sie himmelhoch bitten, dazubleiben. Na, Herr Doktor, da hat sich dann die Malwine die Sache so zusammengereimt.«

»Und Ihre Frau Gemahlin nichts eiliger gehabt, als alles für bare Münze zu nehmen.«

[158] »Gott ja! Die Frauen sind nun einmal so. Wittern überall eine Liebschaft, oder so was. Und dann, lieber Herr Doktor, nehmen Sie es mir nicht übel: Sie waren ja auch von dem Augenblick so – so eigentümlich. Nichts, was meine Frau in der besten Absicht für die Kleine that, war Ihnen recht. Ihre uns so hochwillkommenen Besuche wurden immer seltener, kürzer. Schließlich kamen Sie gar nicht mehr. Da will denn meine Frau bemerkt haben, daß die Christine heimlich oft geweint hat –«

»Sollte sie etwa lachen, wenn es Ihrer Frau Gemahlin beliebte, sie zu mißhandeln, bis sie sich keinen Rat wußte, als gestern abend zu mir zu kommen? Nun, in dem Krankenhause ist sie wenigstens vor Schlägen sicher. Ich schrieb Ihnen noch gestern abend, daß ich sie dort untergebracht habe und heute ihre Sachen abholen lassen würde.«

»Sind schon expediert, bester Herr Doktor, bereits vor einer Stunde. Lieber Gott, viel war's nicht.«

»So ist alles in Ordnung. Adieu!«

»Aber liebster, bester, verehrtester Herr Doktor! Ich kann mich gar nicht darein finden. So alte, bewährte Freunde – Und unser geschäftliches Verhältnis –«

»Ich werde meine Rezepte nach wie vor in Ihrer Offizin machen lassen.«

»Liebster, bester –«

Arno hörte nicht mehr. Mit drei seiner langen Schritte war er zur Thür hinaus.

In demselben Moment, als die Thür zum Salon aufgerissen wurde und Lora hereinstürzte im Morgenrock, der nur mangelhaft zugeknöpft war, das dunkle Haar wirr in die Stirne hängend, funkelnden Auges, mit [159] bleichen Wangen, auf denen ein paar dunkelrote Flecke brannten.

»Feigling, elender!« schrie sie ihren Mann an, der erschrocken zurückprallte, stammelnd:

»Aber was habe ich denn gethan?«

»Mich von ihm beschimpfen lassen, anstatt mich zu verteidigen! Anstatt ihm in sein höhnisches Gesicht zu sagen: meine Frau hat recht und zehnmal recht, daß sie Ihre Dirne zum Hause hinausgeworfen hat!«

»Aber Lora, wenn wir ehrlich sein wollen: was wissen wir –«

»Wir! wir! Wann hättest du jemals etwas gewußt? Ich weiß es. Das muß dir genug sein. Ins Krankenhaus! Sein Krankenhaus! Wo alles nach seiner Pfeife tanzt! Verstehst du das noch immer nicht, du Tropf! du –«

Sie war an das Fenster gerannt.

»Da geht er hin mit seinen Stelzbeinen, der – zu seiner lieben Frau Kommerzienrätin – um sich über mich lustig zu machen! Warte nur! Ich will dir das Lachen noch vertreiben!«

Und sie schüttelte die Faust gegen den treulosen Liebhaber da unten auf dem Hafenplatz.


* * *


Als Arno aus dem Hause getreten war, atmete er tief auf:

»So! die Episode wäre zu Ende! Gratuliere dir, mein Sohn!«

Würde das nun wieder eine Episode werden? Möglich. Möglicherweise sogar eine sehr kurze, wenn der Alte nun doch nein sagt.

[160] Er ging langsamer, den Blick auf das Haus mit den Spiegelscheiben gerichtet.

Man hatte es sicher da schon gehört. Morgen wußte es die Stadt. Also Vorsicht. Den Unbefangenen spielen. Den Leuten es als ganz unverfänglich darstellen, plausibel machen. Sie auf noch mögliche Eventualitäten vorbereiten. –

»Frau Kommerzienrätin für mich zu sprechen?«

»Oben im Salon, Herr Doktor! Brauche den Herrn Doktor nicht zu melden.«

Die schöne Frau kam ihm mit ausgestreckter Hand entgegen:

»Ich habe Sie erwartet, lieber Doktor.«

»Sehr gütig, gnädige Frau.«

»Weil ich wußte – bewundern Sie aufs neue die herrliche Akustik in unserem guten Uselin! – es hat da drüben eine Katastrophe gegeben. Und zu wem kommt man da, um sein Herz auszuschütten, wenn nicht zu seinen Freunden!«

»Ich hatte in der That, gnädige Frau, das dringende Verlangen, Ihnen die Sache vorzutragen. Wenn sie nur nicht leider so unsäglich albern wäre! Man schämt sich förmlich.«

»Sagen wir lieber: man ärgert sich ein bißchen, daß man nicht vorsichtiger gewesen ist. Offen gestanden, Doktor: ich habe es kommen sehen. Eine Dame, die bei allen ihren Vorzügen und accomplishments, die ich ihr willig einräume –«

»Ich ebenfalls. Um so mehr, als in Zukunft zwischen ihr und mir Raum die Hülle und Fülle sein wird. Ich [161] habe dort eben meine unwiderruflich letzte Vorstellung gegeben.«

»Ah!«

Frau Moorbeck errötete bis in die Schläfen unter den glänzend schwarzen, glatten Scheiteln.

»Da darf man ja wohl gratulieren,« sagte sie leise.

Es kam so drollig-zaghaft, verschämt-freudig heraus – Arno mußte lachen; auch Frau Moorbeck konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.

»Das heißt,« sagte sie, wieder ernsthaft, »eigentlich ist es gar nicht lächerlich. Wenn Freundschaft so schnell zerbrechen kann, was ist dann noch fest im Leben der Menschen?«

»Vielleicht die Liebe.«

»An die Sie nicht glauben. Wie kann an sie glauben, wer alles nur daraufhin ansieht, ob es ihm Vorteil bringt oder nicht? Nun scheint ihm seine Liebe eines Tages keinen Vorteil mehr zu bringen – was dann?«

»Nach meiner Theorie ist dann allerdings das Spiel aus und der Vorhang fällt. Aber die Dinge gestalten sich manchmal in der Praxis anders als in der Theorie.«

»Auch wenn man ein so eminent theoretischer Kopf ist, wie Sie?«

»Dann vielleicht am ehesten. Shakespeare sagt einmal: ›Niemand ist noch so arg gefangen worden, als Weise, tretend in der Narrheit Orden.‹«

»Sehr wahr! Wissen Sie, was ich oft gedacht habe? Darf ich einmal ganz frei, ganz offen reden?«

»Ich bitte Sie darum.«

»Daß Sie, gerade Sie, in die Gefahr kommen können, eine Liebe, die Ihnen Ihre Theorie verleidet hat, mit [162] dem Glück Ihres Lebens, vielleicht mit dem Leben selbst bezahlen zu müssen.«

»Womit dann der Beweis erbracht wäre, daß es in dem so eminent theoretischen Kopf im Grunde recht windig aussah.«

»Vielleicht doch nicht. Vielleicht, daß, nachdem der Kopf das Herz so lange tyrannisiert hatte, die Reihe einmal an das Herz gekommen ist, und es nun von dem Recht des Siegers mitleidlos grausamen Gebrauch macht.«

»Freilich! Vae victis! Wehe den Besiegten! Mit denen ich nebenbei nicht die mindeste Sympathie habe. Wer besiegt ist, verdient es zu sein, so oder so.«

»Verzeihen Sie! Mir fällt eben ein, daß ich einen Auftrag zu geben habe.«

»Bitte, gnädige Frau!«

Frau Moorbeck hatte zweimal auf eine Klingel gedrückt und ein paar Schritte nach der Thür gemacht. Ein Mädchen trat herein, mit der die Dame einige leise Worte wechselte, um dann in die Fensternische zu Arno zurückzukommen.

»Sie wundern sich?«

»Ein wenig. Ich hätte diese – dieses Mädchen in Ihrem Hause am wenigsten zu sehen erwartet.«

»Sie sollten Malwine freilich kennen. Aber ihre Zeugnisse sind sehr gut, sogar das letzte von Frau Siebold. Und dann ist sie ganz ungewöhnlich geschickt, mehr als eine Kammerjungfer in Uselin zu sein braucht, die sie doch wieder vorstellen muß: mit der Putzmacherei wollte es nicht gehen. Schließlich, ich brauche notwendig ein Mädchen für meine Alexe. Ich erwarte sie in acht Tagen.«

[163] »So früh?«

»Fräulein Volkmars Kränklichkeit hat zugenommen. Sie hält es für ihre Pflicht, das Pensionat, das sie nicht mehr überwachen kann, aufzulösen. Alexes Zeit war ja so wie so um.«

»Wann kommt sie?«

»Sonnabend Abend. Am Sonntag – am sechzehnten also – gedenken wir ihr zu Ehren eines unserer kleinen Diners zu geben. Bei dem Sie nicht fehlen dürfen. Vergessen Sie das nicht! Vier Uhr!«

»Ich werde mich zur Minute einfinden.«

Arno hatte sich bereits zum Abschied verbeugt, als Frau Moorbeck rief:

»Apropos, Doktor – was ich fragen wollte: Sie haben die kleine Prebrow in Ihr Krankenhaus gebracht?«

»Wo hätte ich anders mit ihr bleiben können?«

»Es war gewiß das zweckmäßigste. Ihr Vater wird sie wohl abholen kommen?«

»Ich habe heute morgen an ihn geschrieben.«

»Nun, da werden Sie ja auch dieser Sorge bald ledig sein. Au revoir, lieber Doktor!«

»Au revoir, gnädige Frau!«


* * *


Während der folgenden Tage fragte Arno sich wiederholt, ob er denn noch wirklich er selbst sei, oder ihn ein mächtiger Zauberer verwandelt habe. Aus dem grundsatzmäßigen Menschenhasser und Menschenverächter in einen sentimentalen Weichling und Geßnerschen Schäfer, der nach seiner Phyllis girrte. Und Tag und Stunde zählte, bis er sie wiedersehen würde. Und sah er sie [164] wieder, durfte er sie wieder an seine Brust drücken, ihre frischen, weichen Lippen mit Küssen bedecken, in einen Rausch versetzt wurde, der darum nicht weniger entzückend war, weil er sich vor sich selbst lächerlich vorkam und sich fragte, wie lange das wohl noch währen könne.

Schwerlich nicht lange. Bereits waren vier Tage ins Land gegangen; er hatte seinem ersten Brief einen zweiten, höchst dringenden nachgesandt, und noch immer keine Antwort von dem Nedur. Das konnte kein gutes Zeichen sein. Man scheute sich, ihm gegenüber nein zu sagen. Endlich würde man es doch. Und dann lebe wohl, du süße, herzige Dirn! mein schlankes Reh! meine holde Wonne und sinnberückende Lust! Zwischen dir und mir wird das öde Meer seine Wogen wälzen an den sandigen Strand, auf dem du trostlos umherirrst, die Arme vergeblich sehnend nach dem Liebsten breitend, wie er nach dir!

Eine wahre Verzweiflung befiel ihn, wenn er sich diese Möglichkeit vorstellte, die mit jedem Tage drohender die greuliche Gestalt der Gewißheit anzunehmen schien. Er ertappte sich darauf, daß er die abenteuerlichsten Pläne schmiedete, wie er sich in eine Lage brächte, in der ihm niemand die Geliebte rauben könnte. Er sah sich als Farmer im fernsten Westen von Amerika, mit Freiligraths ausgewandertem Dichter »die Tanne fällend, drauf die Adler horsten;« und mußte dann höhnisch lachen, wenn er sich erinnerte, daß er es nie fertig gebracht hatte, eine Buche von einer Eiche mit Sicherheit unterscheiden zu können, geschweige denn eine Tanne von einer Fichte.

[165] So träumend, gedankenlos mit einem Briefaufschneider spielend, saß er am Vormittage des fünften Tages auf seinem Arbeitszimmer in dem Krankenhause, als ihm der Wärter einen Brief brachte, der eben von einem Schiffer abgegeben sei. Der junge Mensch habe gesagt, daß er auf Antwort warten solle. Der Brief stak in keinem Couvert, sondern war altfränkisch zusammengefaltet; die Adresse von einer steifen, aber sicheren Hand. Sicherer als die seine, auf deren Festigkeit am Operationstisch er sich absolut verlassen konnte und die, als er jetzt das Blatt erbrach, bebte wie die eines hysterischen Mädchens. Er las in fiebernder Hast:


»Lieber Herr Doktor! Lotse Prebrow und seine Frau, beide des Schreibens kundig, aber nicht gewohnt, bitten mich, Ihnen das Folgende ganz ergebenst zu vermelden.

Ihre beiden werten Schreiben von Montag und Mittwoch sind ihnen zu Händen gekommen, und haben sie von dem Inhalt Kenntnis genommen, selbigen auch mit vielem und schmerzlichem Nachdenken wohl erwogen. Es kommt ihnen schwer an, Stine von sich zu thun, nicht sowohl von wegen der Arbeit, die sie im Hause und sonst verrichtet, sondern vielmehr, weil sie alte Leute sind, die sonst keine Freude im Leben haben und sich sehr nach ihr bangen werden (besonders an den langen Winterabenden, wenn der Nordost aufspielt, oder auch der Nord, die hier beide manchmal sehr hart wehen). Jedennoch, wenn der Herr Doktor meinen und dafür halten, daß es Stine zum guten gereicht, so sie in der Stadt bleibt und unter des Herrn Doktors Aufsicht die Krankenpflege lernt (was ja ein ehrsames und gottgefälliges Gewerbe ist nach dem Exempel unseres Herrn Jesu und seiner Jünger) [166] und dann später ein besseres Auskommen hat, als eine arme Lotsenfrau, die nie weiß, ob ihr Mann wieder nach Hause kommt – alles dies wohlerwogen (und noch vieles andere, was zu schreiben sehr umständlich ist), wollen sie Stine nicht hinderlich sein. Und bitten nur den lieben Gott, daß er ihr gnädig sei und sie in Tugend und Ehrbarkeit erhalte.

Womit sie verbleiben des Herrn Doktor ergebenste

Für Lotsen Peter Prebrow und seine Frau Anne Marie

Karl Bonsak, Lotsenältester.


Nachschrift: Stine wird doch wohl von Zeit zu Zeit einen freien Tag haben, wo sie ihre alten Eltern auf dem Nedur besuchen kann, wenn gerade eine Lotsenboot von Uselin zurückgeht?

Das wollene Zeug für den Winter schicken wir bei nächster Gelegenheit.

Der Obige.«


Er hatte den Brief auf den Tisch gelegt und begann langsam auf und ab zu gehen.

Wenn ich sie nun doch zurückschickte! Noch ist es Zeit. Wer weiß, ob es nicht morgen schon zu spät ist. Jetzt verwindet sie's vielleicht. Ich selbst – pah! eineillusion perdue mehr oder weniger! Stände nur nicht im Hintergrunde der greuliche Fischmensch! Sie dem Kerl ausgeliefert zu sehen – es würde ja doch das Ende vom Liede sein – darüber komme ich nicht weg.

Es wurde an der Thür gepocht. Abermals der Wärter. Der junge Mensch unten sage, er müsse fort. Ob er die Antwort mitnehmen könne?

»Ich will sie ihm vor der Hand mündlich geben. Führen Sie ihn herauf!«

[167] »Es ist besser so,« sagte Arno bei sich, während der Mann den Boten holen ging. »Nach dem Brief muß ich jedenfalls noch einmal mit ihr sprechen. Möglicherweise kriegt sie es nun mit dem Heimweh. Wir werden sehen.«

Draußen ein Stapfen von schweren Stiefeln. Der Wärter schob einen Mann zur Thüre herein: Jochen Lachmund.

Arno starrte ihn an. Seltsam, daß er nicht daran gedacht hatte, Jochen könne der Bote sein! Und nun stand es da, das Ungetüm, den runden Hut steif in den beiden roten Riesenfäusten haltend, und glotzte ihn an!

»Sie sind es! Nun, das ist schön. Da hat es mit meinem Brief gewiß noch Zeit. Also einen freundlichen Gruß an die alten Leute! Auch von Stine, die natürlich hier bleibt, da Vater und Mutter nichts dagegen haben.«

»Da bin ich doch aber auch noch, Herr Doktor.«

Die Glotzaugen waren jetzt nach der Zimmerdecke gerichtet, als ob da oben der sei, der mit ihm sprach.

»Ich verstehe Sie nicht, lieber Freund,« sagte Arno, sich zur Ruhe zwingend, während ihm das Herz heftig klopfte.

»Ich meine man, weil ich die Stine gern habe und ein ehrlicher Kerl bin und sie heiraten will.«

»So hat man mir gesagt. Aber, sehen Sie, Jochen Lachmund, dazu gehörte doch, daß Stine Sie ebenfalls gern hätte und Sie heiraten wollte. Wenn nun beides nicht der Fall ist? Sie werden doch das Mädchen nicht unglücklich machen wollen?«

Es kam keine Antwort. Jochen stand da, unbeweglich, die Augen nach der Zimmerdecke.

[168] »Ja, lieber Freund,« fuhr Arno fort, sich an seinen Schreibtisch lehnend und scheinbar unbefangen mit dem Briefaufschneider spielend; »das kommt im Leben oft genug vor. Einmal ist es das Mädchen, das den Mann nicht mag; ein andermal ist es umgekehrt. Da muß man denn die Zähne aufeinander beißen und sich in sein Los schicken. Ihnen kann das doch so schwer nicht werden. Stine ist ein vortreffliches Mädchen – gewiß. Aber es giebt viele vortreffliche Mädchen. Und Sie sind ein junger, kräftiger Mann, der sein Handwerk versteht – Herr Bonsak hat mir gesagt, daß Sie in kurzer Zeit Lotse werden. Da kann es Ihnen gar nicht fehlen. Sie werden Mädels die Menge finden, die Sie mit Vergnügen heiraten. Warum soll es denn nur gerade Stine sein?«

Jochen stand unbeweglich.

»Könnte ich wohl mit Stine sprechen?«

»Ich versichere Sie, es würde zu nichts führen; würde ganz vergeblich sein.«

»Herr Doktor, ich muß mit Stine sprechen.«

Ärgerlich legte Arno den Aufschneider hinter sich und ging nach dem Klingelzug.

»Ich lasse Fräulein Stine bitten, heraufzukommen. Hier sei Jochen Lachmund vom Nedur, der sie zu sprechen wünsche.«

Der Wärter war gegangen. Arno blieb vor Jochen stehen.

»Ich werde Sie mit ihr allein lassen. Ich denke, Sie werden sich wie ein vernünftiger Mann betragen. Übrigens bleibe ich da nebenan. Und fassen Sie sich kurz! Sie hatten vorhin schon keine Zeit. Ich habe auch nur wenig.«

[169] Jochen stand unbeweglich.

Nur, als jetzt Stine eintrat, ging es wie ein Zucken durch seinen mächtigen Körper. Aber seine Blicke blieben an der Zimmerdecke haften.

Stine, die jetzt das blaue Kleidchen und die graue Schürze der Krankenwärterinnen trug, hatte ein paar zaghafte Schritte in das Zimmer gemacht und war dann stehen geblieben, blaß, mit niedergeschlagenen Augen, leise bebend, wie eine Angeklagte, die ihr Urteil erwartet. Arno beeilte sich zu sagen:

»Liebe Stine, Ihre Eltern schreiben mir soeben, daß sie nichts dagegen haben, wenn Sie hier bleiben. Jochen Lachmund möchte Ihnen Adieu sagen. Ich habe es ihm erlaubt unter der Bedingung, daß er Sie nicht lange aufhält. Ich denke, fünf Minuten werden ausreichen. Ich komme dann wieder herein.«

Er suchte im Hinausgehen Stines Blick aufzufangen, was ihm aber nicht gelang. Ärgerlich, verstimmt, die Seele voll Unruhe, schloß er die Thür hinter sich.

Und so schritt er in dem Operationssaal zwischen den Tischen und Matratzenlagern auf und ab, auf leisen Sohlen, nach dem Zimmer nebenan horchend.

Aber die Thür war eine Doppelthür: er hörte nichts. Sprachen sie so leise? War es eine Unterredung durch Blicke? Die verlangenden des Menschen? Die abwehrenden Stines? Wehrte sie nicht ab? Trug die alte Gewohnheit den Sieg davon über die neue Liebe?

Er blickte auf die Uhr; der Sekundenzeiger rückte so langsam vorwärts, schien fast still zu stehen. Fünf Minuten! Warum hatte er da nicht gleich gesagt: fünf Stunden! Jetzt waren zwei vergangen. Bis die übrigen [170] drei um waren, konnte er längst verrückt sein. Hatte er sich doch schon als Primaner mit dem Gedanken getragen, er könnte plötzlich einmal wahnsinnig werden!

Aber dies war ja schon Wahnsinn! Faustulus, der sein Glück davon abhängig machte, ob ein kleines, unbedeutendes Mädchen seine Leidenschaft erwiderte oder nicht! Sein letzter Kämmerling mußte sich da tot darüber lachen!

Und plötzlich ein dumpfer Schrei von nebenan. Im Nu hatte er die Thür aufgerissen; Stine stürzte ihm entgegen, in seine Arme.

»Was hat er dir gethan?«

»Nichts, nichts!«

»Gehen Sie! Auf der Stelle!«

Jochens rechte Hand fuhr in die Tasche seines weiten Schifferbeinkleides; aber er zog sie sofort wieder leer zurück. Unter den struppigen Brauen, die nur noch ein Dach bildeten, schoß aus den Glotzaugen ein fürchterlicher Blick auf sie, die sich an den Geliebten klammerte, auf ihn, der die Geliebte schützend umfaßt hielt.

Dann war er aus dem Zimmer.

»Was war es?«

»Nichts, nichts! Ich fürchtete mich nur so.«

»Und du willst nun bei mir bleiben?«

»Ja, ja! Immer und immer!«

»Mein süßes, einzig geliebtes Mädchen!«


* * *


Arno war, seiner Gewohnheit gemäß, auf die Minute pünktlich erschienen. Als ihm der alte Diener Ludwig die Thür zum großen Salon öffnete, fand er dort[171] nur Richard, der ihm mit seiner strahlenden Liebenswürdigkeit entgegenkam.

»Verzeihen Sie, lieber Herr Doktor; die betreffende Malwine hat noch immer an Alexe herumzuputzen. Mama steht dabei und adoriert. Papa hat noch einen Augenblick unten im Kontor zu thun. Ich bin glücklich, Sie einen Moment für mich zu haben.«

»Bitte!«

»Doktor, die kleine Prebrow ist jetzt bei Ihnen im Krankenhaus.«

»Im Krankenhaus: ja; bei mir: nein.«

»So meine ich es doch natürlich nur. Doktor, wissen Sie: ich bin rasend in die Kleine verliebt.«

»Sie kennen sie ja gar nicht.«

»Ich sie nicht kennen! xmal habe ich sie drüben am Fenster gesehen; dreimal bin ich ihr auf der Sundiner Chaussee begegnet, wenn sie mit der Siebold spazieren fuhr.«

»Dann allerdings!«

»Nicht wahr? Mehr braucht man doch nicht, um sich zu verlieben. Bis über die Ohren!«

»Nun, und?«

»Sie müssen mir die Möglichkeit verschaffen, sie zu sprechen.«

»Ich würde mir dadurch einen besonderen Dank von Ihrer Frau Mama verdienen.«

»O, ich habe es Mama schon gebeichtet. Ich beichte ihr alles.«

»Das ist brav. Und was sagt sie?«

»Sie sagt, ich solle Sie bitten, die Kleine schleunigst nach dem Nedur zurückzuschaffen.«

»Was mir allerdings sehr angezeigt scheint.«

[172] »Es würde nichts helfen. Ich nehme das erste beste Boot im Hafen und fahre hinterdrein.«

»Wie wär's, wenn Sie sich inzwischen erst einmal in Ihre Schwester verliebten?«

»Habe ich schon!«

»So seien Sie doch zufrieden!«

»Kann ich nicht. Eine Schwester – das ist nicht das Wahre. Und überhaupt, warum soll man nicht zwei Mädchen zugleich lieben dürfen?«

»Oder tausend und drei. Von Ihnen kann ja Don Juan noch lernen.«

»Don Juan. Ah! der ist überhaupt mein Ideal.«

»Wenn einen nur nicht hinterher der Teufel holte.«

»Glauben Sie an den Teufel?«

»An den in uns: sehr.«

Hier kam der Kommerzienrat zugleich mit dem Landwehr-Bezirks-Kommandeur von Groß und dessen Frau und Tochter.

»Aber wo bleiben denn nur Mama und Alexe?« fragte der Kommerzienrat nach der ersten Begrüßung ungeduldig seinen Sohn.

»Hier sind sie!« rief Frau Moorbeck heiter, mit ihrer Tochter hinter sich, aus dem Nebenzimmer tretend.

Die Herrschaften Groß, die erst kurze Zeit in Uselin waren, kannten Alexe noch nicht; eine förmliche Vorstellung war obligatorisch. Dann wandte sich Frau Moorbeck an Arno.

»Sie, lieber Doktor, erinnern sich natürlich meiner Alexe!«

»Dennoch würde ich das gnädige Fräulein nicht wiedererkannt haben.«

[173] »Als ob Sie den Schimmer einer Ahnung hätten, wie ich ausgesehen!« sagte Alexe mit einem ironischen Zucken der feinen Nasenflügel.

»Einen sehr blassen allerdings nur,« erwiderte Arno; »Sie waren ein kleines Dämchen, das den entschiedensten Wert darauf legte, ernsthaft genommen zu werden.«

»In dieser Hinsicht, kann ich Sie versichern, habe ich mich nicht im mindesten verändert.«

»Wenn ich nicht gewußt habe, daß ihr beide euch vom ersten Moment an zanken würdet!« sagte Frau Moorbeck lächelnd.

Die Damen hatten sich gewandt, Postdirektor Lenz, Frau und Tochter zu begrüßen. Die Begrüßung war sehr herzlich. Die Frau Postdirektor war eine Patin Alexes, Mathilde Lenz ihre Jugendgespielin und geschworene Freundin, wie Richard Arno zuflüsterte.

Bald war die Gesellschaft vollzählig – einige dreißig Personen – über die Hälfte junges Volk. Arno war ärgerlich. Frau Moorbeck hatte von einem ihrer kleinen Diners gesprochen, zu denen er auf ihren Wunsch ein für allemal im Überrock kam. Auch heute war er so erschienen, während sämtliche Herren im Gesellschaftsanzug paradierten mit den obligaten Orden, wer gerade welche hatte; die Damen ausnahmslos in großer Toilette.

Dann ärgerte er sich, daß er sich ärgerte – um eine solche Lumperei!

So war er denn, als man in dem großen Speisesaal an der reich geschmückten Tafel saß – er zwischen der Frau Postdirektor, die er geführt hatte, und der Frau Majorin – kein sehr unterhaltender Nachbar. Er fand es bequem, daß keine der beiden Damen in [174] dieser Beziehung größere Ansprüche machte, auch wohl machen konnte, wenn ihr Redefluß freien Lauf haben sollte. Der plätscherte dann, jetzt zu seiner Linken, jetzt zu seiner Rechten, ununterbrochen fort, dort von militärischen, hier von postalischen Dingen mit einer Beimischung von Kinderstubengeschichten – quantum satis, wie Arno höhnend bei sich sagte. Der Major, erfuhr er, hatte in einem Potsdamer Garderegiment gestanden, und als er – infolge von Intriguen, welche sich der genaueren Mitteilung entzogen – die Compagnie zwei Jahre länger als billig geführt, seinen Abschied genommen. Zu ihrer – der Dame – großer Befriedigung. Sie, als eine Bürgerliche, habe es satt gehabt, sich von der adligen Sippe über die Achseln ansehen zu lassen. Ob Arno auch dafür halte, daß eine Weingroßhändler-Tochter aus Bremen weniger sei als eine verhungerte Baroneß oder Komteß von Dingsda? Überhaupt, was da für Geschichten passierten! Bände ließen sich davon voll schreiben! Aber sie wisse, was sie dem Stande schuldig sei, dem ihr Gatte doch noch immer angehöre. Gott sei's geklagt! Denn wozu? Zu leben hätten sie auch ohne das miserable Majorsgehalt. Dafür sei man aus dem Hause Luprecht und Compagnie in Bremen!

Hier fiel Frau Postdirektor, welche das letzte Wort gehört hatte, mit der Versicherung ein, daß Bremen eine sehr interessante Stadt sei, aber sich doch mit Hamburg nicht messen könne, wo sie ihre Mädchenjahre verlebt habe im Hause einer Tante, ohne sich träumen zu lassen, daß das Schicksal sie einmal nach Uselin verschlagen würde. Vermutlich, um nie wieder wegzukommen. Avancement im Postfach gebe es ja nicht mehr, seitdem alle Welt [175] nach Eisenbahnen schreie und jedes obskurste Nest seinen Bahnhof haben wolle. Sie für ihr Teil bescheide sich, aber für ihren Mann thue es ihr leid. Freilich, er sei noch aus der guten, alten Naglerschen Schule. Die gelte natürlich heute nichts mehr, wo Rechtlichkeit und Solidität in der Beamtenwelt zur Fabel geworden. Gerade wie es keine gewissenhaften Mütter mehr gebe. Wenn sie so sehen müßte, was da für Dinge vorkämen! Es sei schon manchmal, um nach der Polizei zu rufen. Erziehe aber eine Mutter ihre Tochter, wie es sich gehöre, und sie es vor Gott verantworten könne – da dürfe das gute Kind sicher sein, auf den Bällen als Mauerblümchen zu verkümmern, was ja bekanntlich als beste Vorbereitung zu einer »Stütze der Hausfrau« gelte, wie jetzt die Phrase laute.

In diesem Punkte waren die Damen einverstanden mit dem Unterschiede, daß die Frau Majorin keine Töchter hatte – Gott sei Dank! – dafür aber drei Söhne in drei verschiedenen Kadettenanstalten, was denn auch eine Welt von Sorgen mit sich bringe.

Worauf Frau Postdirektor Arno zuflüsterte: ihr sei unverständlich, wie Leute sich zu beklagen die Stirn hätten, die ihre Kinder auf Staatskosten großpäppeln ließen. Denn darauf laufe es doch bei den Kadettenanstalten hinaus.

»Und das sind die Menschen, für die du einen Faustulus dichtest,« dachte Arno bei sich. »Diese Dutzend-Weiber und -Männer mit ihren Gedanken, die am Boden kriechen, ihren Interessen, die sich um das erbärmlichste Mein und Dein drehen!«

Unmutig schweiften seine Blicke umher und blieben wieder auf Alexe haften, die ihm schräg gegenüber saß [176] und mit ihren beiden jugendlichen Nachbarn übermütig plauderte. Wiederholt klang ihr lustiges Lachen zu ihm herüber. Und dann blitzten im Licht der Kerzen ihre weißen Zähne.

Sie war ihm neulich in dem Bilde sehr viel schöner erschienen als jetzt in der Wirklichkeit; es war ihm sogar zweifelhaft, ob man sie überhaupt schön nennen könne. Mit ihrer Mutter verglichen, sicher nicht. Von der stilvollen Regelmäßigkeit, die er an den edlen Zügen jener bewunderte, hier gerade das Gegenteil: die Stirn etwas zu niedrig, die Nase in keine Kategorie zu bringen, der Mund mit den übervollen Lippen entschieden zu groß. Das Haar, wenn auch voll und dunkel, hatte nicht den tiefen blauschwarzen Glanz, welchen er an dem der Mutter bewunderte, ebenso war das Braun der Augen lichter; der Schnitt der Augen weniger mandelförmig; die Wimpern schienen ihm nicht so lang und dicht. Wie er denn auch vorhin bemerkt hatte, daß sie einen halben Kopf kleiner war als die Mutter, und ihre Gestalt nicht die edle Schlankheit jener aufwies, eher eine Fülle, die er bei so jungen Mädchen unerfreulich, beinahe anstößig fand.

»Die und ich,« sprach er bei sich, »wir werden keine Freundschaft schließen.«

Während das Geschwirr der Stimmen ihn umtönte und die Redewasserfälle zu seinen Seiten ununterbrochen plätscherten, er ein gedankenloses Ja oder Nein aufs Geradewohl einfließen ließ, war seine Seele bei ihr, seinem Vögelchen, seinem Reh, seinem süßen Lieb. Er küßte ihr blondes Haar, ihre blauen Augen, die taufrischen, rosigen Lippen, wie in den flüchtigen Minuten [177] zwischen den Büschen des verschwiegenen Wäldchens, das ihnen schon wiederholt eine Zufluchtsstätte gewährt; wie in der wonnigen, einzigen Stunde, als sie ihm gegen Abend eine Botschaft von Frau Livonius in seine Stadtwohnung gebracht hatte, und sie sein geworden war, ganz sein. Sie konnte lieben, sie! Besser, inniger, treuer als das kokette Fräulein da drüben, das nichts vor ihr voraus hatte, als daß es in einem reichen Patrizierhause geboren war. Und pfui rufen würde über die Lotsendirn, die dem Liebsten alles willig gegeben was sie hatte: ihre unschuldsvolle Seele und ihren jungfräulichen Leib. Wie bettelarm dagegen, du reiches Gesindel! Häufe alle deine Schätze – sie schnellen in die Luft, lege ich in die andere Wage mein holdes Geheimnis!

»Darf ich bitten, Herr Doktor?«

Er wandte das Gesicht über die Schulter und begegnete dem Blick Malwinens, die mit den beiden Dienern des Hauses, einem Lohndiener und einem zweiten Mädchen bei der Tafel aufwartete und bereits ein Weilchen mit einer Dessertschale hinter ihm gestanden haben mochte. Ein kaum merkliches Lächeln zuckte um ihren hübschen Mund. Es mochte seiner Zerstreutheit gelten, konnte aber auch sehr wohl etwas ganz anderes bedeuten. Jedenfalls war es blitzschnell verschwunden, wie es gekommen. Als sie eine Minute später an der anderen Seite der Tafel vorüberging, hatte sie keine Augen für ihn, wie wenn sie sagen wollte: ich weiß zu schweigen.

Was wußte sie von seiner Lora-Affaire? Wahrscheinlich alles. Und was sie nicht beim plötzlichen Eintreten in das Zimmer beobachtet und hinter den Thüren erlauscht, hatte ihre geschäftige Phantasie sicher ergänzt. [178] Dazu Loras entsetzliche Indiskretion und unbezähmbare Leidenschaftlichkeit. Wenn nicht hundertmal vorher, so hatte sie sich gewiß verraten, als sie die Person kommen ließ, sie nach Stine auszuforschen.

Würde sie das Verrätergeschäft hier im Hause fortsetzen? Sehr wahrscheinlich, wenn er ihre Gunst und Verschwiegenheit nicht erkaufte. Das wiederum hieß sich schuldig erklären, sich völlig in ihre Hände geben. So blieb nichts übrig, als es darauf ankommen zu lassen. Und einen Schutz hatte er: die vornehme Gesinnung von Frau Moorbeck, der mit ihrem Klatsch unter die gütigen Augen zu treten, die Person nicht leicht wagen würde. Bei der Tochter würde sie schon eher Gehör finden.

Arno bemerkte, daß er auf dem besten Wege war, Alexe Moorbeck zu hassen.


* * *


Die Tafel war aufgehoben. Sie hatte sich ein wenig in die Länge gezogen, da es Herrn Major von Groß noch ganz zuletzt beliebte, einen Toast auf die »ebenso schöne, wie liebenswürdige Wirtin« auszubringen. Was denn Frau Postdirektor Lenz zu einem sehr energischen Wink nach ihrem Gatten hin veranlaßte, der sich nun über die langjährigen intimen Beziehungen der Familien Moorbeck und Lenz verbreitete in einer Rede, die kein Ende nehmen zu wollen schien und schließlich in einem Hoch auf die »Spielgefährtin seiner Tochter, die neueste und kostbarste Acquisition der guten Stadt Uselin: Fräulein Alexe,« gipfelte. So viele, auf seine Damen gehäuften Freundlichkeiten konnte selbstverständlich der Kommerzienrat nicht ohne eine Erwiderung lassen, die keineswegs [179] kurz ausfiel, da er während eines mehrjährigen Aufenthaltes in England die Kunst der Tischrede sehr sorgfältig studiert hatte, und ihm niemand einen größeren Gefallen thun konnte, als wenn er ihm Gelegenheit gab, die erworbene Meisterschaft zu beweisen.

So meinte, etwas pietätlos, Richard zu Arno, als man nach Tisch in dem Garten promenierte, der sich weit hinter dem Hause hinstreckte, auf der einen Seite von dem Flusse flankiert. Doch blieb man nicht lange dort: es wehte zu kühl vom Wasser her; Frau Moorbeck rief Arnos Autorität an, der es grausam fand, ihm und seinen Herren Kollegen auf diese Weise ein halbes Dutzend kostbarer Erkältungen zu unterschlagen.

Wieder im Hause, hatten sich die jungen Leute erst zu Pfänderspielen, dann für einen Tanz entschieden, aus dem mehrere wurden, die Frau Moorbeck am Flügel festhielten, während die älteren Herren ihre Bostontische aufgesucht hatten, ohne die, wie der Kommerzienrat den Major von Groß belehrte, eine regelrechte Useliner Gesellschaft überhaupt nicht denkbar sei.

Arno, trotzdem er sich grausam langweilte, war noch immer geblieben. Sein einsames Zimmer lockte ihn nicht; und Stine, das wußte er, würde den ganzen Abend bei Frau Livonius sein, die sie, Doktor Radloff und eine junge Nichte, welche in dem großen Modewarengeschäft am Hafenplatz als Verkäuferin konditionierte, zum Thee eingeladen hatte.

So saß er denn, müßig, träumend, in dem Wintergarten, der an den Tanzraum stieß. Einmal schloß er lange und fest die Augen, um Stine zu sehen. Aber das so oft erprobte Experiment wollte heute nicht glücken: [180] nur eine schwach rötliche Wolke entstand, aus der ihr Bild nicht hervortrat. Die psychologische Erklärung lag ihm nahe genug: seitdem er die Geliebte in holdester Wirklichkeit besaß, versagte die Phantasie ihre kupplerischen Dienste.

»Ah! Bitte um Verzeihung!«

Arno riß die Augen auf: es war Alexe, im Begriff, sich nach dem Tanzsaal zurückzuwenden, aus dem sie gekommen war.

»Es war so heiß da drin. Und da ich gerade nicht engagiert bin –«

»Wollen Sie sich nicht einen Augenblick setzen?«

Er hatte ihr den zweiten Korbsessel an die andere Seite des Marmortischchens gerückt. Alexe schien einen Augenblick unschlüssig, ob sie der Einladung folgen solle, nahm dann aber Platz.

»Warum tanzen Sie nicht?« fragte sie, sich mit dem Taschentuch Kühlung zuwehend.

»Ich kann nicht tanzen, gnädiges Fräulein.«

»Wie kommt das?«

»Ich habe es nicht gelernt.«

»Warum spielen Sie dann nicht?«

»Auch das hat man mich zu lehren verabsäumt.«

»Dann müssen Sie sich aber in Gesellschaften sehr langweilen.«

»In solchen, in denen nur getanzt und gespielt wird, ja.«

»Wie in Uselin überall. Weshalb bleiben Sie da hier?«

»Weshalb bleibt der Sklave auf der Galeere, an deren Bank er geschmiedet ist?«

»Wissen Sie, ich glaube, Sie werden nirgends gern sein, wo Sie nicht der erste sind.«

[181] »Eine Bemerkung, die ich in dem Munde eines so jungen Mädchens nicht erwartet hätte.«

»Natürlich! Den Ehrgeiz reservieren wir für uns, die Herren der Schöpfung!«

»Ich kann mir sehr wohl eine ehrgeizige Frau vorstellen.«

»Und ein junges ehrgeiziges Mädchen nicht?«

»Es dürfte immerhin eine Ausnahme sein.«

»So sehen Sie in mir eine solche Ausnahme. Warum blicken Sie mich so sonderbar an?«

»Auf die Ausnahme hin.«

Aber sein forschender Blick hatte ausschließlich ihrer schön geschwungenen Oberlippe gegolten. War das ein Schatten, der von der Hängelampe über ihnen auf die Lippe fiel? War es ein zartester dunkler Flaum, der dennoch in seinen Augen dem jungen Gesicht einen neuen pikanten Ausdruck gab?

»Und da finden Sie nun ein Dutzendgesicht, wie überall.«

»Ich halte es für unmöglich, daß jemand Ihr Gesicht unter die Dutzendgesichter registriert.«

»Auch wenn er es mit Mamas vergleicht?«

»Ihre Frau Mutter freilich!«

»Nicht wahr, sie ist schön. Neben ihr kommt man nicht auf. In Sundin galt ich überall für die erste; hier werde ich immer nur die Zweite sein.«

»Das kann sich ja zu einer großartigen Tragödie entwickeln: Mutter und Tochter, oder die Eifersucht vor dem Stellspiegel.«

»Sie sind Dichter –«

[182] »Wenn man einen so nennen will, der manchmal Verse macht.«

»Und arbeiten jetzt an einem großen Drama, sagt Mama.«

»Aufzuwarten.«

»Wollen Sie es uns nicht einmal vorlesen?«

»Sobald es fertig ist.«

»Wann wird das sein?«

»Nie. Es sind Variationen ohne Ende.«

»Über welches Thema?«

»Ob Kain an Abel ein Verbrechen beging?«

»Aber das ist doch keine Frage.«

»Mir ist es eine. Vielleicht hätte Abel nicht viel später ein paar Engeln, die ihm, einem so frommen Mann, jedenfalls zu Diensten waren, befohlen, Kain als Revolutionär hinzurichten. Und er kam ihm nur zuvor.«

»Dergleichen habe ich nie gehört.«

»Ich glaube es gern.«

»Nun möchte ich mehr davon hören.«

»Vielleicht später. Wenn wir einmal gute Freunde sind.«

»Ist dazu Aussicht?«

Sie blickte ihm gerade in die Augen. In dem Blick, in der Miene kein leisester Anflug von Koketterie: ein ernst forschender Blick, eine erwartungsvoll gespannte Miene. Es vergingen ein paar Sekunden, bevor seine Antwort kam.

»Ehrlich gestanden: ich zweifle daran.«

»Warum?«

»Weil gleichnamige Pole einander abstoßen.«

»Wissen Sie, daß Sie mir da in den Augen meiner Mama ein großes Kompliment machen?«

[183] »Wie das?«

»Sie nennt Sie den einzig geistreichen Mann in Uselin.«

»Ich habe nicht den Eindruck, daß Sie durch die Augen ihrer Frau Mama, oder irgend eines anderen Menschen zu sehen gewohnt sind.«

»Das nehme ich nun mit Ihrer Erlaubnis für ein direktes Kompliment.«

»Als solches war es gemeint.«

Ein Lächeln – das erste während dieser ganzen Unterredung – blitzte in ihren Augen, zuckte um ihre vollen Lippen, auf denen eine Antwort schwebte, die er nicht mehr hören sollte. Nach ein paar vollen Akkorden war nebenan die Musik plötzlich verstummt; eine Wolke von hellen Mädchengewändern flatterte herein, Alexe umringend, sie mit sich in den Tanzsaal zurückziehend, aus dem bereits wieder die Aufforderungstakte zu einer Quadrille ertönten.

Arno saß noch ein Weilchen, den Ellbogen aufgestemmt, versuchend, sich den Eindruck zurechtzulegen, den das Mädchen und die sonderbare Unterhaltung, die es mit ihm geführt, auf ihn gemacht hatten. Er konnte darüber nicht ins klare kommen. Alles in allem fühlte er sich doch mehr abgestoßen, als angezogen.

Verdrießlich erhob er sich, warf einen gelangweilten Blick durch die weit offenstehende Flügelthür in den Tanzsaal, wo man mit dem Aufstellen der Quadrille noch immer nicht fertig schien, und ging. Auf dem Flur, als Ludwig ihm in den Paletot half, kam Richard aus seinem Zimmer, eilfertig, Notenblätter in der Hand.

»Sie wollen schon fort?«

[184] »Ich habe noch einen Patienten zu besuchen. Bitte, entschuldigen Sie mich bei Ihrer Frau Mama!«

»Aber Sie kommen doch wieder?«

»Ich glaube kaum.«

»Doktor,« sagte Richard mit einem Blick über die Achsel auf den alten Diener, der sich nach dem Tanzsaal zu entfernte; »Sie denken doch an Ihr Versprechen?«

»Welches?«

»Mich mit der kleinen Prebrow bekannt zu machen.«

»Ich wiederhole Ihnen, junger Freund: verlieben sie sich in Ihre Schwester! Das ist bedeutend weniger gefährlich – für Sie, meine ich, – und rentiert besser. Ihre Schwester ist ein ganz ungewöhnlich geistvolles Mädchen.«

»Darf ich ihr das sagen?«

»Nicht nötig. Sie hat es schon von mir selbst gehört. Adieu!«

Draußen spann er die angelegten Gedankenfaden weiter, vor sich hinmurmelnd:

»Geistvoll ist sie – ganz fraglos. Nur, daß mir geistvolle Frauenzimmer stets unausstehlich waren. Wir suchen doch schließlich in den Weibern, was wir nicht haben, nicht sind. Ein Abbild von uns selbst, nur um so viel schwächer, matter, farbloser – was soll uns das? So ein Hauch von einem Bärtchen auf der Oberlippe thut's nicht. Übrigens könnte Theodora, um die mein Faustulus eben wirbt, weil sie ihm Ägypten und Nubien zur Morgengabe bringt, wohl mit einem solchen weichen Schatten unter den vibrierenden Nasenflügeln paradiert haben.«

[185] Es fiel ihm als sonderbar auf, daß er plötzlich wieder an sein Drama denken mußte, nachdem er es seit Wochen verdrossen beiseite gelegt.

Und ihm plötzlich eine Scene aufging, die das Stück dem Schluß ein gut Teil näher zu bringen versprach.

Wenn jede Unterhaltung mit Alexe diese Wirkung hatte, wollte er ihr ihr Haschen nach Geist, sogar ihr Schnurrbärtchen vergeben.

Er beschleunigte seine Schritte, die Scene zu Papier zu bringen, welche sich immer deutlicher in seinem Kopf zu gestalten begann.


* * *


Dem regnerischen, windigen, kühlen Frühling und Frühsommer war der eigentliche Sommer gefolgt mit stillen, überaus heißen Tagen und Wochen. Die Landleute rieben sich die Hände: es mußte, wenn nichts dazwischen kam, eine großartige Ernte geben.

Leider wirkte die Hitze, welche das Getreide so mächtig in Halm schießen und in Korn wachsen machte, auf die Menschen weniger günstig. Unter den Kindern ging der Würgengel um; Typhusfälle, die bereits im Frühjahr sporadisch aufgetreten waren, kamen immer häufiger vor, besonders auf den Dörfern an der Sundiner Chaussee, deren Wasserverhältnisse sehr schlecht waren, ohne daß die eifrige Regierung Abhilfe zu schaffen vermochte.

Arno, dessen Landpraxis fast ganz nach dieser Seite lag, hatte infolgedessen wenig Muße. Vor seiner Thür hielten fast beständig Gefährte, die ihn holen sollten, von dem vornehmen Landauer des großen Gutsbesitzers mit den ausgesucht prächtigen Pferden bis zu dem kleinen [186] Bauern-Leiterwagen, dem zwei Strohsäcke als Sitze dienten, und vor dem ein magerer steifer Klepper gespannt war. Auch in der Stadt gab es mehr als sonst zu thun. In dem Krankenhause waren fast sämtliche Betten belegt.

»Ein wahres Glück, Herr Doktor, daß wir unsere Stine haben,« sagte Frau Livonius. »Ich wüßte wahrhaftig nicht, wie ich ohne sie fertig werden sollte.«

Stine war der erkorene Liebling sämtlicher Insassen des Krankenhauses, nicht zum wenigsten der Kranken selbst. Wer von ihnen mit ihr in Berührung gekommen, wollte sie nicht wieder von sich lassen; die nur von ihr gehört hatten, baten, daß man sie ihr in Wartung gebe.

»Wahr und wahrhaftig, Herr Doktor,« sagte Frau Livonius; »ich bin gewiß nicht abergläubisch und alle Kurpfuscherei ist mir in den Tod zuwider. Aber daß von dem Mädchen eine Heilkraft ausgeht, die unser Begriffsvermögen, meines wenigstens, übersteigt – davon bin ich fest überzeugt. Jette Jansen auf Nummer drei hatte vorgestern nacht zweiundvierzig Grad, und Sie schüttelten den Kopf – erinnern Sie sich. Da löste mich am Morgen Stine ab. Um zehn Uhr hatte sie neununddreißig, heute knapp über siebenunddreißig.«

»Es geht alles mit rechten Dingen zu, liebe Frau Livonius.«

»Daran zweifle ich nicht, Herr Doktor. Aber ein so freundliches Gesichtchen, eine so sanfte Stimme, eine so leise Hand, wie Stine sie hat, die gehören auch zu den rechten Dingen. Herr Doktor –«

»Was?«

»Sie können es mir bezeugen: ich schwatze nicht aus der Schule. Aber Sie haben mir doch Stine, sozusagen, [187] in Obhut gegeben. Und wenn auch nicht, ich würde es für meine Pflicht gehalten haben, über sie zu wachen. Sie brauchen mich nicht so ängstlich anzusehen, Herr Doktor! Es ist nichts Schlimmes. Vielleicht sogar etwas ganz Gutes – wenigstens für Stine.«

»Sie spannen mich auf die Folter. Und ich habe heute morgen verteufelt wenig Zeit.«

»Es ist in drei Worten gesagt. Ich glaube, Doktor Radloff liebt Stine.«

»Ach!« sagte Arno, erleichtert aufatmend. »Weshalb glauben Sie?«

»Gott, Herr Doktor, man hat doch seine Augen im Kopf. Angefangen hat es wohl schon vor vier Wochen, als ich eines Sonntagabends beide zum Thee bei mir hatte. Der Herr Doktor waren bei Kommerzienrats. Doktor Radloff ist sonst so still – kaum ein Wort aus ihm herauszukriegen. Und an dem Abend war er so gesprächig! Meine Nichte konnte es nicht sein. Ein gutes Mädchen, aber häßlich wie die Nacht. Dann ist er ihr acht Tage lang aus dem Wege gegangen, daß es ordentlich zum Lachen war, wie er sich dabei anstellte. Jetzt könnte man wieder lachen, wie er es anfängt, möglichst überall da zu sein, wo sie ist, um sie anzuschmachten, wenn er meint, daß sie's nicht merkt, und rot und verlegen zu werden, wenn sie ihn nun doch zufällig ansieht.«

»Meinen Sie, daß Stine es weiß?«

»Bewahre! Die ist die liebe Unschuld selbst.«

»Ich soll mit Radloff reden?«

»Ich meine, es wäre am Ende gut. Er hält so große Stücke auf Sie. Und wenn Sie ihm nun die Sache in dem rechten Lichte darstellten – mein Gott, [188] was sollte denn auch am Ende daraus werden? Sein Vater ist Geheimer Medizinalrat; die Mutter eine geborene von Plüskow aus Mecklenburg. Ich kenne die Familie ganz gut. Furchtbar adelstolz, Herr Doktor. Haben sich lange geweigert, die Tochter an einen Bürgerlichen zu geben. Was soll die arme Stine in den vornehmen Kreisen! Über kurz oder lang wird er ja doch nach Berlin zurückgehen. Oder er sucht sich ihretwegen eine Praxis in kleinen Landstädten und verkümmert da. Dafür ist wieder er zu schade.«

»Ich danke Ihnen,« sagte Arno, Frau Livonius die Hand reichend, »und will mir die Sache überlegen. So viel sehe ich freilich schon: es ist eine sehr delikate Aufgabe. Radloff ist außerordentlich empfindlich.«

»Das ist er wohl; aber von Ihnen –«

»Gut, gut! Ich will die Sache im Auge behalten.«


* * *


Frau Livonius' Mitteilung war für Arno keine Neuigkeit. Er hatte die wachsende Neigung seines jüngeren Kollegen für Stine längst erkannt und im stillen beobachtet. Aber es war ihm zweckmäßig erschienen, nichts zu sehen und nun selbstverständlich gegen die Beschließerin den Überraschten zu spielen. Auch dachte er nicht daran, ihren Wunsch sobald zu erfüllen und auf diese Weise vielleicht eine Katastrophe herbeizuführen. Für Stine brauchte er nichts zu fürchten, auch wenn er ihrer Liebe weniger sicher gewesen wäre. Er kannte Radloff schon von Berlin her und wußte, wie streng, ja pedantisch gewissenhaft der scheue, in sich verschlossene junge Mann war. Und einen besseren Deckmantel für sein Verhältnis [189] zu Stine konnte es nicht geben, als das Interesse, welches das ganze Personal vom Pförtner bis zu Frau Livonius an einem Handel nahm, auf dessen Ausgang alle gleich gespannt waren, wenn die Ansichten und Prophezeihungen auch weit auseinander gingen. Meinten die einen, es könne ein für allemal nichts daraus werden, behaupteten die anderen, es seien schon viel unwahrscheinlichere Dinge zu stande gekommen; und ein Krankenhaus sei gerade der rechte Ort dafür. Frau Livonius, wenn sie sich auch zu der letzteren Partei hielt, blieb mit ihrer Ansicht, daß es dann ein Unglück, mindestens für den Doktor, wahrscheinlich für beide geben würde, allein, wie es sich für ihre superiore Stellung im Hause zu geziemen schien.

Aber Arno, trotzdem er die allgemeine Aufmerksamkeit so gespannt nach einer falschen Seite gerichtet sah, hatte es an Vorsicht in seinem Verhalten Stine gegenüber nicht fehlen lassen. Gewohnt, wie er es war, seine Miene und seine Augen zu beherrschen, kostete es ihm keine Mühe, ihr gegenüber in Gegenwart anderer nichts zu sein als der wohlwollende Vorgesetzte. Er brachte es sogar fertig, ihr dann und wann für ein kleines Versehen eine Rüge zu erteilen, eine weniger gelungene Leistung nachdrücklich zu tadeln zur Verwunderung des anderen Personals und zur Entrüstung Doktor Radloffs, den nur der angewohnte Respekt vor seinem älteren Kollegen von offenem Widerspruch zurückhielt.

Und der Zwang, den er sich so auferlegen mußte, fand nicht die Entschädigung, nach der seine Leidenschaft verlangte. Als er unter glaubhaften Vorwänden die Geliebte zweimal in seiner Stadtwohnung empfangen und [190] ihre Liebe in vollen Zügen getrunken, hatte er es ein drittes Mal nicht wieder gewagt, nachdem Frau Livonius gefunden, es sei ja gewiß unverfänglich, aber sie wolle in Zukunft doch lieber einen anderen Boten schicken, um den schlechten Leuten keinen Stoff zur Rederei zu geben. Seitdem hatte er sich mit den Begegnungen auf den Korridoren und in den Krankenzimmern begnügen müssen und den allzukurzen Zusammenkünften in dem Wäldchen, die er nur dadurch ermöglichen konnte, daß er, scheinbar das Krankenhaus verlassend, um in die Stadt zurückzukehren, auf einem Umweg wiederkam und durch ein Pförtchen, zu dem er den Schlüssel hatte, in das verschwiegene Revier gelangte.

Es hatte ihn im Anfang furchtbar ungeduldig gemacht und er hatte der Geliebten in wilden Worten seine Verzweiflung geklagt; auch manche Stunde vergeblich darüber gesonnen, ob diesem lästigen Stand der Dinge denn in keiner Weise abzuhelfen sei. Aber diese Ungeduld brach jetzt nur noch selten hervor; die Verzweiflung hatte sich resigniert; und weshalb über die Möglichkeit einer Abhilfe sich den Kopf zerbrechen, wenn erfahrungsmäßig nichts dabei herauskam?

Auch ist eine Praxis, die einen Mann vom frühen Morgen bis in die Nacht in Atem hält, ihn meilenweit über staubige Chausseen oder greuliche Landwege oft in federlosen Wagen zu fahren zwingt, zarteren Gefühlen nicht gerade günstig.

Und, wenn man so, Tag aus, Tag ein, auf der Bresche gegen den Tod, der kein Mitleid kennt, die Dutzende einem anvertrauter Leben verteidigt, wird man hart gegen sich und andere; und büßt das bißchen gesellschaftliche [191] Politur, das man sich im Laufe der Jahre mühsam angeeignet, gründlich ein.


* * *


Frau Moorbeck lächelte, wenn Arno in ihrer Gegenwart dergleichen Äußerungen machte. Sie konnte keineswegs finden, daß seine gesellschaftlichen Sitten sich in letzter Zeit verschlechtert hätten. Viel eher schien ihr das Gegenteil der Fall zu sein.

Arno war in diesen Wochen häufiger ins Haus gekommen. Wenn man wollte, konnte man sagen: Richard zu Liebe, oder doch auf des jungen Mannes beständiges Drängen, trotzdem Arno sich konsequent geweigert hatte, ihm auch nur zu der flüchtigsten persönlichen Bekanntschaft mit Stine zu verhelfen.

»Reiten Sie, so oft Sie wollen, an dem Krankenhause vorüber,« hatte er ihm gesagt; »aber hinein kommen Sie mir nicht! Ein Dandy, wie Sie, ist für ein so junges, erfahrungsloses Ding unwiderstehlich. Das kann ich nicht verantworten; abgesehen davon, daß Sie sich auch Ihre reizenden Schmetterlingsflügel verbrennen würden – ich meine noch mehr, als schon jetzt – und dann kriege ich es mit Ihrer Frau Mama zu thun. Oder mit Fräulein Alexe. Weiß nicht, was das Schlimmere ist.«

»Ich wollte keinem anderen raten,« erwiderte Richard lachend, »mich so als Muttersöhnchen zu verhöhnen, oder als einen, der an seiner Schwester Schürze hängt. Sie freilich dürfen es. Dafür kommen Sie heute abend, wenn Sie sich frei machen können, in unsern Garten. Wir spielen eine Partie Kegel, oder rudern ein Stündchen. Das soll Ihre Strafe sein.«

[192] Arno kam, ließ sich von Richard in die Feinheiten des Kegelspiels einweihen, ohne wesentliche Fortschritte zu machen, und von Alexe auslachen, weil jeder sechsjährige Junge im Hafen besser zu rudern verstehe, als er.

Denn Alexe war fast immer von der Gesellschaft, offenbar nicht wenig stolz, daß sie ihre Kegelkugeln so sicher und kraftvoll schob, wie sie das Ruder handhabte.

»Ich thue entweder etwas gut, oder gar nicht,« sagte sie dann wohl mit flammenden Wangen und fliegendem Atem.

»Kleine Leute, wie ich, sind eben bescheiden,« erwiderte Arno.

»Bescheiden!« rief Alexe. »Jawohl! Wie der Kalif, der sich in ein Derwischkostüm steckte, um abends in den Straßen zu flanieren und sich über die Leute lustig zu machen.«

»That er das? Spinoza würde ihm gesagt haben, daß man die menschlichen Dinge nicht belachen und nicht beweinen, sondern verstehen lernen soll.«

»Die Philosophie eines kaltblütigen Frosches! Wie kann man die Menschen verstehen lernen, wenn man mit ihnen nicht lacht und weint! Das sollten Sie als Dichter doch wissen.«

»Es wird eben mit meiner Dichterei nicht weiter her sein, als mit meinem Kegeln oder Rudern.«

»Wenn Sie mir nicht bald den Beweis vom Gegenteil bringen, muß ich es allerdings glauben.«

»Macht dieser Glaube Sie nicht gerade selig, unselig macht er Sie auch nicht. Lassen wir es also dabei.«

»Sie wären ja unglücklich, wenn Sie nicht das letzte Wort behielten. Ich will Sie nicht unglücklich machen.«

[193] Sich die beiden so zanken zu hören, war für Richard ein Gaudium.

Und er versuchte dann hinterher seiner Mutter das Wortgefecht zu wiederholen, wobei er regelmäßig zu seiner Verzweiflung »die Pointen nicht wieder herausbrachte«.

»Es ist merkwürdig,« sagte Frau Moorbeck, »in meiner Gegenwart streiten sie sich eigentlich nie.«

»Das macht der Respekt, den sie vor dir haben, Mama.«


* * *


Frau Moorbeck glaubte nicht an diesen Respekt. Für sie gab es dafür eine andere, sehr viel wahrscheinlichere Erklärung, die ihr manche nachdenkliche, sorgenvolle Stunde bereitete.

Es war ihr durchaus begreiflich, daß ein Mann wie Arno für ihre Alexe etwas stark Anziehendes haben müsse. Sie war zu geistreich, um einen geistreichen Menschen nicht voll zu würdigen; und es war sicher das erste Mal in ihrem Leben, daß ihr ein solches Phänomen begegnete. Wiederum, wenn man sie auch gewiß keine Kokette im gewöhnlichen Sinn nennen durfte, so mußte es ihr Selbstgefühl erhöhen und ihrem Stolz schmeicheln, einen solchen Mann in ihren Bann zu zwingen; sich sagen zu dürfen: er erkennt in dir seinesgleichen; respektiert dich als eine ihm Ebenbürtige.

Nun hatte sie selbst von Anfang an Arnos große geistige Begabung willig gelten lassen; aber lange Zeit gebraucht, bis sie sich an sein rauhes Wesen, seine eckigen Manieren nur einigermaßen gewöhnte. Selbst noch jetzt konnte er in gewissen Augenblicken ihre Nerven auf eine [194] mehr oder weniger harte Probe stellen. In ihrer gehaltenen Weise, die sich vor Entdeckung sicher wußte, suchte sie Alexe zu ergründen, indem sie mit scheinbarer Unbefangenheit das Unausgeglichene in Arnos Art und Weise beklagte.

Seltsamerweise wollte Alexe, die sonst für dergleichen Unzulänglichkeiten bei anderen das schärfste Auge und gelegentlich den beißendsten Spott hatte, davon in Arnos Fall nichts wissen. Oder behauptete, wenn sie die Thatsache nicht in Abrede stellen konnte, man dürfe solche Menschen nicht mit dem gewöhnlichen Maßstab messen. Wie ihre Rede anders sei als anderer Leute; wie ihnen Ausdrücke, Wendungen zu Gebote ständen, auf die niemand sonst komme, und zerbräche er sich noch so sehr den Kopf, müßten sie auch das Recht haben, sich über die landläufige banale Gesellschaftshöflichkeit wegzusetzen und ihr Betragen für sich zu haben. Wem das nicht gefalle, möge ihnen aus dem Wege gehen. Mit großen Herren sei schlecht Kirschen essen, das wisse doch jeder. Sie für ihr Teil sei dabei noch nie zu kurz gekommen. Es scheine ihr deshalb, daß der Fehler nicht sowohl bei den großen Herren, als bei den kleinen Leuten liege. Die thäten dann freilich besser, unter sich zu bleiben.

Wenn Alexe sich in dergleichen gewagten Behauptungen erging, glaubte Frau Moorbeck manchmal Arno sprechen zu hören. Zwischen den beiden bestand eine entschiedene Wahlverwandtschaft, die freilich in ihren Augen keine sichere Bürgschaft für ein gemeinschaftliches Glück, aber doch die erste notwendige Bedingung dazu war.

Und sie dachte schmerzlich daran, daß, weil in ihrer Ehe diese Bedingung unerfüllt geblieben, sie auf ein [195] Glück, wie ihre Seele es sich ersehnte, habe verzichten lernen müssen. Und wie schwer, wie bitter schwer ein solches Lernen-müssen dem Menschen ankomme. Es gab niemand, sie kannte wenigstens niemand, der so seelengut gewesen wäre, erfüllt von so braver, redlicher Gesinnung, wie ihr Gatte. Noch sollte sie nach einer Ehe von fast fünfundzwanzig Jahren das erste rauhe oder herbe Wort aus seinem Munde hören; daß er und sie jemals in Zank und Streit geraten sollten, schien undenkbar. Dennoch – wie weit, wie weit gingen ihre Gedanken auseinander! Wie waren ihm so völlig die Wege verschlossen, die zu der Welt führten, in der sie allein wahrhaft lebte! Wie hatte er so keine Ahnung davon, daß es überhaupt eine solche Welt gab! Ihrem Kinde ein Glück zu schaffen, das, wie eine Fata morgana, immer nur vor ihr hergeschwebt war, ohne je zur Wirklichkeit zu werden – es war ein göttlicher Gedanke, der ihr das Herz stürmisch klopfen machte und die Augen mit sehnsüchtigen Thränen füllte.

Und daß er arm war – lieber Himmel, in ihrem freiherrlichen Elternhause hatte man Jahr aus, Jahr ein mit dem Mangel zu kämpfen gehabt; die bare Not nicht selten an die Thür gepocht; und man hatte sich tapfer durchgehungert und durchgefroren und mit zerstochenen Fingern, die man in dreimal gewaschene Handschuhe zwängte, der Welt ein lächelndes Antlitz gezeigt. Bis der reiche junge Kaufherr aus Ultima-Thule kam und der Not und der Misère mit königlicher Freigebigkeit für immer ein Ende machte. Hätte sie die gütige Hand, die sie alle zu retten willig und stark genug war, zurückweisen sollen, wenn es ihr nichts kostete als [196] das Opfer eines Glücks, von dem die klugen Leute behaupteten, daß es ein Traum sei? Hier aber galt es kein Opfer. Arno brauchte keine fremde Hilfe, war Manns genug, sich sein Glück selbst zu schmieden. Eben jetzt schwebten Verhandlungen zwischen ihm und einer ersten ärztlichen Autorität Berlins, die, wenn sie, wofür alles sprach, zu einem günstigen Abschluß kamen, ihm in der Hauptstadt eine höchst angesehene Stellung sicherten. Was bedurfte er des Moorbeckschen Geldes? Geld würde ihm bald in Hülle und Fülle zufließen. Wenn man es recht bedachte, war im weltlichen Sinne Alexe die Gewinnerin. Einer Provinzialin, und sei sie noch so reich, würde es immer schwer fallen, die kleine Welt, an die sie tausend Bande fesselten, mit der großen zu vertauschen, nach der sie sich leidenschaftlich sehnte mit jenem Instinkt, der jedes Geschöpf in das Element weist, für das es geboren ist.

Und doch und doch!

Konnte eine gewissenhafte Mutter einem Manne wie Arno ihr Kind anvertrauen?

Daß er – gewiß mit auf ihre Veranlassung – sein Verhältnis zu Frau Siebold gänzlich abgebrochen, wußte sie ihm Dank. Aber eine häßliche Empfindung war in ihrer Seele zurückgeblieben. Eine Frau, die in ihren Augen so tief stand, hätte wohl als Patientin für ihn existieren dürfen, nimmermehr als Geliebte, wenn sie das Wort auch nicht in seiner schwerwiegenden, anstößigen Bedeutung nehmen wollte und nahm. Mochte sie der Sache immerhin die wenigst kompromittierende Seite abzugewinnen suchen – von einer traurigen Geschmacksverirrung konnte sie ihn nicht freisprechen.

[197] Dann die Angelegenheit des jungen Lotsenmädchens. Er hatte es gewiß gut gemeint, als er es zu Frau Siebold brachte; aber wie unvorsichtig war es gewesen! Wie wenig hatte es seiner Menschenkenntnis Ehre gemacht! Und als es da drüben, was jeder Verständige vorausgesehen hätte, ein trauriges Ende nahm, mußte er die Kleine möglichst schnell zu ihren Eltern zurückschaffen, anstatt sie in das Krankenhaus zu nehmen. Freilich hatte sie selbst sich bei einem jener Besuche, die sie, als Patronin, dort von Zeit zu Zeit machte, überzeugen müssen, daß Stine in dem Hause gut aufgehoben war; und aus dem Munde der Frau Livonius ein glänzendes Lob der Sittsamkeit, des Fleißes, der Anstelligkeit des jungen Mädchens zu hören bekommen. Dennoch war da etwas, das ihr nicht gefiel und worüber sie nicht fortkam. Das Mädchen, meinte sie, sei zu jung und zu hübsch, um schicklich in einer Anstalt untergebracht zu sein, die von zwei Männern geleitet wurde, deren einer eben dreißig geworden war, während der andere sogar erst sechsundzwanzig zählte. An der Bravheit und Ehrbarkeit der Frau Livonius zu zweifeln, hatte sie keinerlei Veranlassung; aber die rechte Beschützerin und Erzieherin eines weltfremden Kindes aus dem Volk vermochte sie in der Vielbeschäftigten, selbst nur Halbgebildeten nicht zu erblicken. Sie hatte Arno den Vorschlag gemacht, Stine auf ihre Kosten in eine Erziehungsanstalt zu schicken; er hatte dazu den Kopf geschüttelt und gesagt: Glauben Sie mir, verehrte Frau, es hieße das Zeit und Geld nutzlos verthun. Ich habe früher wohl auch an etwas der Art gedacht, bin aber völlig davon zurückgekommen. Ein Lernkopf ist Stine ganz und gar nicht; zur Erzieherin [198] oder dergleichen halte ich sie für völlig ungeeignet. Alles, was sie werden kann, ist eine exemplarische Krankenpflegerin. Und dazu ist sie auf dem richtigen Wege. Weshalb sie nicht da lassen?

Frau Moorbeck war weit davon entfernt, Arno in diesem seinem Verhalten eines egoistischen oder gar unlauteren Motivs zu zeihen; auch hatte er Richard gewiß einen Freundschaftsdienst erwiesen, als er dem Jungen betreffs Stines so gründlich den Kopf zurecht setzte –

Und doch und doch!

Ein Mann, der in Frauenangelegenheiten so wenig zarte Empfindung, so wenig sicheren Takt ungescheut, weil unbewußt an den Tag legte, konnte der Mann lieben, wie eine Alexe würde geliebt sein wollen?

Ja, liebte er sie überhaupt, so weit es einem Manne wie ihm gegeben war, lieben zu können?

Frau Moorbeck glaubte heute, es mit Sicherheit annehmen zu dürfen, um morgen über ihre »mütterlichen Kuppelgelüste« zu lächeln.

Aber, sie war sich völlig bewußt, daß sie die gläubige Stunde keineswegs glücklich machte und ihr das Lächeln ebensowenig von Herzen kam.

Dann, aus ihren schweren Gedanken erwachend, that sie einen tiefen Atemzug und murmelte, sich wieder über ihre Arbeit beugend: man muß es auch da halt gehen lassen, wie's Gott gefällt.


* * *


Bei dem Kommerzienrat war heute, wie an jedem ersten Sonnabend im Monat, das aus zwei Spieltischen bestehende Bostonkränzchen; Frau Moorbeck hatte die [199] Liebenswürdigkeit gehabt, für den Postdirektor einzutreten, der im letzten Augenblick abgesagt. Arno, der ziemlich spät gekommen, hatte wieder gehen wollen, da auch Richard fehlte, den der von ihm gestiftete Kegelklub in einem Kaffeegarten der Sundiner Vorstadt festhielt. Dann war er doch geblieben, als Frau Moorbeck, der er gemeldet war, heraussagen ließ: man würde bald zu Tisch gehen, und sie lasse den Herrn Doktor bitten, Fräulein Alexe so lange im Salon Gesellschaft zu leisten.

»Vorausgesetzt, daß ich Ihnen nicht lästig falle, Fräulein Alexe,« sagte Arno.

»Es wäre freilich das erste Mal,« erwiderte sie, eine Arbeit, an der sie beim Schein der großen Reverberelampe genäht, aus den Händen legend. »Indessen, man soll nichts verreden. Wie steht's in der Praxis?«

»Eine relative Ruhepause; aber sie wird nicht lange dauern; und gar der Herbst wird bös werden. Was der heiße Sommer noch nicht in Erschöpfung der Kräfte geleistet, werden die Erntearbeiten vollenden. Dann haben wir die Typhusepidemie in ausgesprochenster Form.«

»Der Typhus ist Ihre Specialität?«

»Es ist wenigstens die Krankheit, auf deren Gebiet ich wissenschaftlich am meisten gearbeitet habe.«

»Leistungen, denen Sie auch die Berufung nach Berlin verdanken?«

»Es sind da, wie Oberst Wrangel im Wallenstein sagt, so manche Zweifel noch zu lösen.«

»Das thut mir leid.«

»Möchten Sie mich so gern los sein?«

»Nein. Aber Sie in einer Situation wünschen, die Ihrer würdig wäre. Hier sind Sie nicht an Ihrem Platze.«

[200] »Cäsar wollte lieber der Erste in einem Dorf, als in Rom der Zweite sein.«

»Welches mir der Grund scheint, weshalb er der Erste auch in Rom wurde.«

»Er gehörte zu den glücklichen Menschen, denen nur eine Seele in der Brust wohnt. In mir wohnen leider zwei: eine Poeten- und eine Medizinerseele. Die letztere ist freilich nur eine Treibhauspflanze.«

»Es ist nicht das erste Mal, daß Sie von Ihrem Beruf so geringschätzig sprechen. Wenn er Ihnen so wenig sympathisch ist, warum haben Sie ihn dann ergriffen?«

»Wie, wer mit den Wellen kämpft, das erste beste Stück Holz ergreift, das ihm zur Hand kommt.«

»Möchten Sie mir nicht etwas mehr davon erzählen? Ich weiß so wenig von Ihrem früheren Leben.«

»Sie haben nichts dadurch verloren. Ich wollte es um vieles nicht noch einmal durchkosten.«

»War es so hart?«

»Es giebt viel härtere. Was es mir so fatal machte, war, daß es beständig meinen Stolz mit Füßen trat. Mein Vater war ein kleiner Beamter in Woldom. Er starb, als ich zehn Jahre alt. Meine Mutter folgte ihm zwei Jahre später. Sie hatte mir ein geringfügiges Vermögen hinterlassen, von dem mein Vormund ausrechnete, daß es zu meiner Gymnasial- und Studienzeit langen würde, vorausgesetzt, daß ich mich nach der Decke strecke. Die Decke war freilich sehr kurz. Sie reichte, während ich auf dem Gymnasium war, nur zu der Pension bei einem ehrsamen Schuhmacher hinsichtlich des lodging. Für board hatte mein ingeniöser Vormund dadurch gesorgt, [201] daß er mir für die sechs Wochentage bei ebenso vielen gutmütigen Bürgern verschaffte, was man einen Freitisch nennt. Ob er meinte, daß am Sonntag er, der die jungen Raben speist, meine Verköstigung übernehmen würde, ober ob er mich zu den Raubtieren rechnete, die in den zoologischen Gärten einen Tag in der Woche fasten müssen – ich weiß es nicht. Jedenfalls hatte er den Sonntag aus seiner Kalkulation ausgelassen; dafür durfte ich dann, während die anderen Jungen es sich schmecken ließen, wenn das Wetter schön war, spazieren gehen, so weit ich wollte. War es schlecht, sagte ich zu meinem Schuster, ich befände mich nicht ganz wohl, blieb zu Hause und arbeitete. – Darf ich hier eine Cigarette rauchen?«

»Ich will Ihnen Feuer holen.«

»Danke! Ich habe alles bei mir.«

Sie hatte, während er sprach, unbeweglich dagesessen, ohne ein einziges Mal die Augen von ihm zu wenden, daß er an den Blick der griechischen Götter denken mußte, der kein Blinken der Lider kennt. Es machte ihm Spaß, den armen hungernden Teufel, den er schilderte, gegen ihre satte olympische Bedürfnislosigkeit auszuspielen.

Er that ein paar Züge aus der Cigarette und fuhr fort.

»Eigentlich arbeitete ich immer. Was sollte ich anderes anfangen? Sie wunderten sich neulich, daß ich nicht tanzen gelernt habe. Ich habe sonst noch vieles nicht gelernt: schlittschuhlaufen, schwimmen, reiten, rudern – ich weiß nicht was alles nicht. Meine Erziehung hat ungeheure Lacünen; die Vorsicht schien nur auf eines unaufhörlich bedacht zu sein: mich zu einem [202] Arbeitstier zu machen. Da sie in dieser löblichen Absicht nichts und niemand störte, mußte sie ihr wohl gelingen. Dazu besaß ich, was man einen guten Kopf zu nennen pflegt. Da war es kein Wunder, daß mir in jeder Klasse der erste Platz wie ein angestammtes Recht zufiel und den Lehrern vor meiner gelehrten Ähnlichkeit mit ihnen manchmal bange wurde. Das Komische der Sache aber bestand darin: ich hegte vor diesem Wissen, das mir so viel Lobeserhebungen eintrug, die tiefste Verachtung. Wenn ich nicht Gold fabrizieren lernte, den Stein der Weisen fand und die vierte Dimension entdeckte – das bißchen Lateinisch, Griechisch und der andere elende Quark – er konnte mich nicht glücklich machen. So war es mir, als ich zur Universität ging, völlig gleichgültig, ob ich mich zu diesem oder jenem Studium bekennen sollte. Daß mir mein Vormund, der gute Verbindungen hatte, ein mehrjähriges Mediziner-Stipendium in Greifswald ausmittelte, gab den Ausschlag. So wurde ich anstatt Jesuitengeneral Doktor Medicinae.«

»Wieso Jesuitengeneral?«

»Es ist nur ein Wort für viele: für die vielen wilden Träume von unbeschränkter Macht und Herrlichkeit, die mein rastloses Gehirn träumte im eklen Staub und Brodem des ausgetretenen Weges nach dem banausischen Ziel eines bürgerlich ehrbaren Berufes, Schulter an Schulter mit Hinz und Kunz. Es war und ist da etwas in mir, das sich gegen jede Schranke aufbäumt, in die uns das Geschick klemmte, als es uns geboren werden ließ mit diesen grauenhaft engen Gehirnwänden; uns zwang, mit Vorstellungen zu operieren, wie Raum und [203] Zeit, die nichts als Bettlerkrücken sind; ausstattete mit Sinnen, so stumpf und blöde, daß tausend Tiere uns beschämen; zu einem Leben gebar, das uns jeden Tag die Frage vorlegt, ob es nicht sehr viel besser wäre, nicht zu sein; und uns doch beständig mit der Angst vor dem Tode foltert, trotzdem er nichts kann, als diesem wertlosen Dasein ein Ende bereiten.«

Er hatte sich jäh erhoben und ging mit langen Schritten, die der dicke Teppich unhörbar machte, auf und ab. Aus dem Spielzimmer nebenan kam durch die nur angelehnte Thür dann und wann ein gelegentliches lebhafteres Wort, das Stimmengewirr eines bald wieder beigelegten Streites, das Klappern der Marken – dann wieder lautlose Stille. Alexe saß unbeweglich; nur ihre Augen folgten der wandelnden Gestalt, die jetzt im Hintergrunde des großen Gemaches undeutlicher wurde, jetzt wieder in das helle Licht der Lampe trat. Plötzlich, wie er aufgesprungen, hatte er wieder Platz genommen, im Niedersitzen den Sessel näher an sie heranrückend, und sagte, hastiger noch und leidenschaftlicher als vorhin sprechend, die Ellbogen aufgestemmt, die flachen Hände gegen die Schläfe drückend:

»Und wenn man nun dahinter gekommen ist, daß die Mauern unsers Kerkers, die man in überschäumendem Jugendmut durchbrechen zu können wähnte, stärker sind als wir; und wir zu ewiger Gefangenschaft verdammt sind; und auf dem Punkte stehen, darüber wahnsinnig zu werden – so fängt man an, die nackten Wände zu bemalen mit heroischen Landschaften, die weite, weite Horizonte haben, über welche eine untergehende Sonne purpurne Lichter streut; und mit den Gestalten gewaltiger [204] Menschen, die alles das können und thun, was wir nicht thun, weil wir es nicht können: Städte und Länder erobern, Meere auf stolzen Flotten durchfahren, tausende unserem Ehrgeiz opfern, tausende wieder beglücken, um uns ein Gott zu dünken. Und treiben so noch viele Narrenspossen. Unter anderen die, vor einer jungen, schönen, geistvollen Dame all den Unsinn auszukramen, die uns dann für verrückt hält und nicht weiß, ob sie nicht auf die Klingel drücken soll, den alten Ludwig herbeizurufen, oder die Herren von ihren Spieltischen aufjagen, sie vor dem Narren zu beschützen.«

Er ließ die Hände auf den Tisch sinken und blickte sie mit einem ironisch-bitteren Lächeln an. In ihren Augen war derselbe große, starre Ausdruck. Langsam sagte sie:

»Ich bedarf des Schutzes nicht. Da ist ein anderer, der geschützt werden muß – vor sich selbst. Ich kenne nur ein Wesen, daß ihm diesen Schutz gewähren kann.«

»Das wären dann Sie?«

»Ich. Ich allein.«

»Und wenn ich Sie beim Wort nähme?«

»Ich erwarte es nicht anders.«

Sie hatte ihre beiden Hände auf seine Hände gelegt.

Er beugte sich nieder und drückte seine Lippen darauf.

Hinter ihnen rauschte ein Gewand. Sie wandten sich. Frau Moorbeck, erstaunt, erschrocken, blickte in zwei bleiche Gesichter, die zu lächeln versuchten.

»Was ist das? Was habt ihr?«

»Wir haben uns nur eben verlobt, Mama.«


* * *


[205] Gegen Mittag des nächsten Tages fuhr Arno in der Equipage des Kommerzienrates vor dem Krankenhause vor.

Er kam von einem Besuch bei seiner Braut und den Schwiegereltern, die er durch eine frohe Botschaft überrascht hatte. Heute morgen war von Berlin die private Nachricht eingetroffen – der die offizielle Bestätigung auf dem Fuße folgen würde – daß man in seine sämtlichen Bedingungen willige. Seine Berufung als erster Direktor des mit großen Kosten und Berücksichtigung seiner Wünsche neu erbauten Krankenhauses lautete auf den fünfzehnten September. Er hatte dabei die Verpflichtung, klinische Vorträge an der Universität zu halten, vorläufig als außerordentlicher Professor.

Der Kommerzienrat umarmte beglückwünschend seinen Schwiegersohn, während ihm die Thränen in den Augen standen.

Das sei ja alles ganz herrlich und komme merkwürdig apropos. Aber daß er nun seine Alexe so bald hergeben solle, habe er nicht gedacht.

»Natürlich kommt der Professor auf die Verlobungsanzeigen,« rief Richard triumphierend.

»Thörichtes Kind,« sagte Alexe, »da müßten wir bis zum fünfzehnten September mit der Versendung warten.«

Arno stimmte ihr bei; Richard wollte sich nicht überzeugen lassen. Von dem Augenblick, da Arno die Bestallung in Händen habe, sei er Professor. Und damit basta!

Es gab einen großen Streit. Richard blieb mit dem Vater in der Minorität; Arno, Alexe und Frau Moorbeck [206] sahen in der Titelentfaltung eine Prahlerei, die ihrer Empfindung widerstrebte.

»Und übrigens wäre es eine Unwahrheit,« entschied Alexe. »Ich habe mich nicht mit dem Professor, sondern dem Doktor Arno verlobt. Eigentlich nicht einmal mit dem; nur mit dem geliebten Menschen.«

»So laßt doch drucken: Als Verlobte empfehlen sich Alexe Moorbeck und ihr geliebter Mensch,« rief Richard, wütend zum Zimmer hinausrennend.

Um die Thür sofort wieder zu öffnen und Arno mit den Worten: »Geliebter Mensch!« an den Hals zu stürzen.

Darüber war es für Arno sehr spät geworden. Er hatte noch ein paar Besuche in der Stadt zu machen; der Weg dann nach dem Krankenhause war weit und der Tag ungewöhnlich heiß. Der fürsorgliche Kommerzienrat hatte, ohne Arnos Erlaubnis einzuholen, anspannen lassen; der Landauer hielt vor der Thür. Arno war es nicht recht; aber, ohne den guten Mann zu kränken, konnte er sich nicht weigern. So fuhr er ab in tief gedrückter Stimmung, welche er nur mühsam während der Visite verborgen hatte, und die sich mit jeder Minute verdunkelte.

Als der Wagen vor dem Portal des Krankenhauses hielt, sah er aus dem Seitenpförtchen, durch welches die Besucher zu kommen und zu gehen pflegten, eine weibliche Gestalt heraustreten, die sich eilig über den Vorplatz nach der Straße zu entfernte. Er hatte die Person nur vom Rücken gesehen, aber sein scharfes Auge sofort Malwine erkannt.

Der Anblick der verdächtigen früheren Zofe Loras und jetzigen Kammerjungfer seiner Braut machte ihn[207] stutzig und trieb seine böse Laune zu einer bedenklichen Höhe.


* * *


»Wie können Sie der Person den Eintritt in das Haus gestatten?« herrschte er Frau Livonius an, die ihm auf dem Wege nach seinem Zimmer begegnete.

»Welcher Person?« fragte die Erschrockene.

»Der Malwine – ich weiß nicht, wie sie weiter heißt.«

»Ja so! Sie ist die Cousine von unserer Stine, Herr Doktor. Ich hatte keinen Grund, ihr das Haus zu verbieten, wenn sie Stine zu besuchen kam.«

»Das heißt, sie ist schon öfter hier gewesen?«

»Ein paarmal.«

»Und war eben wieder bei Stine?«

»Wahrscheinlich. Ich habe sie gar nicht gesehen. Stine ist auf ihrem Zimmer. Sie hatte die Nacht gewacht. Und wird auch diese Nacht wachen müssen. Vor einer Stunde ist eine neue Kranke eingeliefert. Wieder Typhus.«

»Es ist gut. Sagen Sie, bitte, Stine, daß ich sie hernach zu sprechen wünsche. Wo ist die neue?«

»Auf Nummer vier.«

»Radloff hat sie aufgenommen?«

»Ja. Er ist jetzt eben bei ihr. Er sagt, es ist ein schwerer Fall.«

»Radloff sieht gleich alles schwarz.«

Er schritt den Korridor weiter hinauf. Frau Livonius blickte ihm kopfschüttelnd nach, bei sich denkend:

[208] »Was kann er nur gegen die Malwine haben? Sollte an der Siebold-Geschichte doch was dran sein?«

Arno hatte mit Doktor Radloff noch einmal die Kranke untersucht. Es war allerdings ein schwerer Fall.

»Haben Sie eine Minute für mich?« fragte Doktor Radloff, als sie zusammen das Krankenzimmer verlassen hatten und vor Arnos Thür standen.

»Selbstverständlich,« erwiderte Arno, die Thür öffnend. »Aber ich denke, wir sind über den Fall einig?«

»Es ist etwas anderes; eine Privatangelegenheit.«

»Doch nichts Unangenehmes?«

Er hatte erst jetzt bemerkt, daß der Kollege ungewöhnlich blaß aussah.

»Wie man es nehmen will,« erwiderte Radloff, eine Hand auf die Lehne des Stuhles legend, den ihm Arno bot. Die kräftige Hand zitterte.

»Sie spannen mich auf die Folter.«

»Ich bitte um Verzeihung. Es kommt mir eben nicht leicht an, Ihnen zu sagen, daß ich von hier fort muß und will.«

»Aber weshalb, um Himmels willen?«

Der junge Mann ließ in hilfloser Verlegenheit seine Blicke durch das Zimmer schweifen, während auf seinem Gesichte die Farbe kam und ging. Dann sagte er, sich mühsam zum Sprechen zwingend:

»Ich weiß, Sie sind mein Freund. Ich darf ganz offen mit Ihnen reden. Hätte auch keinen Sinn, Versteckens zu spielen, da ich sonst auf der Welt keinen Grund vorzubringen wüßte, warum ich das Krankenhaus und Sie verlassen sollte. Ich – ich liebe Stine Prebrow, liebe sie wahnsinnig. Gestern abend habe ich es [209] ihr gesagt, und daß sie mein Weib werden möchte. Sie hat mich abgewiesen.«

Arno hatte nie für möglich gehalten, der Geheimratssohn, der die ausgezeichnetsten Verbindungen hatte, könne, trotz all seiner Liebe, der Lotsentochter seine Hand anbieten. Ihm war es nicht in den Sinn gekommen, – ihm, der Stines volle Liebe genossen, – und er fühlte, daß jener die edlere und vornehmere Natur war. Mit dem häßlichen Gefühl der Beschämung kam ihm ein Gedanke, der ihm teuflisch dünkte. Was that's? Wußte er doch seit gestern abend, daß die bösen Dämonen in seiner Seele losgelassen waren und der Teufel Gewalt hatte über ihn.

»Und darum wollen Sie fort?«

»Kann ich bleiben?« erwiderte der junge Mann erregt; »ihr zu jeder Stunde auf den Korridoren, in den Krankenstuben begegnen? Aus ihren süßen traurigen Mienen stets von neuem mein trauriges Schicksal lesen? Das wäre eine Qual für sie und für mich. Die will ich uns beiden ersparen.«

»Aber, lieber Kollege, so ein Mädchenwort ist kein rocher de bronze! Das ist doch wie der Wind, der heute so weht und morgen so. Lassen Sie ihr Zeit, sich die Sache zu überlegen!«

»Sie hat Zeit genug gehabt. Es kann ihr längst kein Geheimnis sein, daß ich sie liebe. Nach einer Äußerung von Frau Livonius muß ich fürchten, es wissen es noch mehr Leute hier im Hause.«

»Um so mehr sollten Sie bleiben. Gehen Sie jetzt, so haben Sie zu dem Schaden den Spott. Ich gebe Ihre Sache noch lange nicht verloren. Gut Ding will Weile haben. Und was das Mädchen dem Assistenzarzt [210] versagte – Kollege, ich habe einen ganzen Sack Neuigkeiten für Sie. Gestern abend habe ich mich mit Fräulein Moorbeck verlobt; heute morgen kommt von Berlin die Nachricht, daß meine Angelegenheit ganz nach meinen Wünschen geregelt ist. Ich muß zum fünfzehnten September in Berlin sein. Das sind circa sechs Wochen, von denen ich wohl diverse Tage auf Reisen und meinen Bräutigamsstand abrechnen muß. Sie arbeiten sich inzwischen in das Direktorat ein und übernehmen es bei meinem Fortgang definitiv. Was wollen Sie, Mann? Sie sind nur vier Jahre jünger als ich, und ich leite die Anstalt doch auch bereits seit zwei Jahren. Man muß nur Vertrauen zu sich haben. Sie sind ein bißchen spät in die Praxis gekommen, aber hier haben Sie die beste Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln; und mißrät Ihnen mal was, wie das jedem passiert, so kräht kein Hahn danach. Ich habe vorhin mit dem Kommerzienrat über meinen Nachfolger gesprochen und Sie vorgeschlagen. Er ist völlig einverstanden, und Sie wissen, sein Wunsch ist in Uselin Gesetz. Dann bleiben Sie noch ein paar Jahre hier, kommen mir dann nach Berlin nach, wo ich schon was für Sie ausfindig machen werde. Und bringen Stine mit, die inzwischen natürlich längst Ihre Frau geworden ist.«

Radloffs düstere Miene hatte sich, während Arno so auf ihn einsprach, etwas aufgehellt. Nun holte er tief Atem und sagte, melancholisch den Kopf schüttelnd:

»Das sind schöne Träume, aber in Erfüllung werden sie nicht gehen. Wenn ich Sie wäre! Sie sind der Mann, der aus seinen Träumen Wirklichkeit macht. Meine Träume bleiben Träume.«

[211] Er strich sich mit der Hand über die Stirn.

»Gleichviel! Ich danke Ihnen für Ihren guten Willen, Ihre freundschaftliche Gesinnung von ganzem Herzen.«

»Also, ich nehme Ihre Kündigung nicht an.«

»Wir können ja später noch darüber sprechen.«

»Das ist brav. Und ich hoffe zuversichtlich, dann aus einem weniger resignierten Ton als heute.«

Doktor Radloff war gegangen. Arno hatte die Empfindung, als ob von seinem Gesicht eine Maske herabfiel – die lächelnde, treuherzige Maske, die er während der Unterredung getragen. Er trat vor den Spiegel. Zwischen seinen Brauen stand eine tiefe Falte; die starren Augen hatten einen kalten, unheimlichen Blick; um seinen Mund zuckte ein böses Lächeln.

Er zuckte zusammen, als jetzt leise an die Thür gepocht wurde, fuhr sich über das Gesicht und rief »Herein!« mit einer Stimme, die sich Mühe gab, unbefangen zu klingen.


* * *


»Stine! meine liebe, kleine Stine!«

Er hatte ihre beiden Hände ergriffen; sie fühlten sich eisig kalt an; unter ihren niedergeschlagenen Augen waren blaue Ränder.

»Bist du krank, Kind?«

Sie schüttelte den Kopf. Er hatte ihr einen Stuhl herbeigezogen, auf den sie sich setzte, die Hände über den Knien faltend, wie es ihre Gewohnheit war.

Er hatte auf der Zunge: »So sieh mich doch wenigstens einmal an!« Aber er hatte nicht den Mut dazu und sagte statt dessen:

[212] »Wenn du dich nicht wohl fühlst – ich habe wichtige Sachen mit dir zu besprechen. Wir lassen es dann lieber auf morgen.«

»Nein, nein! heute!« flüsterte sie ängstlich, hastig. »Ich fühle mich ganz wohl.«

»Ich will mich möglichst kurz fassen. Zuerst, um es nicht zu vergessen, ich habe Frau Livonius befohlen, die Malwine abzuweisen, wenn sie wiederkommt. Das ist eine ganz schlechte Person, der kein wahres Wort aus dem Munde geht.«

Stine schlug langsam die Augen auf mit einem festen stillen Blick, vor dem er wider Willen den seinen senken mußte.

»Aber, daß Sie sich gestern abend verlobt haben, ist doch wahr?

Sie hatte es so leise gesagt; ihm war's, als hätte eine Donnerstimme die Worte gesprochen. Er mußte seine ganze Kraft zusammennehmen, um auch nur mit einiger Ruhe erwidern zu können:

»Es thut mir leid, daß du es von der Person gehört hast. Ich wollte es dir selber sagen. Ja, liebes Kind, ich habe mich mit Fräulein Moorbeck verlobt. Ob jetzt oder später – das war nur eine Frage der Zeit. Ob mit ihr oder einer anderen – darauf kam auch nicht viel an. Von Liebe ist nicht die Rede – auf meiner Seite wenigstens nicht – du weißt, wen ich liebe. Immer lieben werde. Aber sieh, Kind, heiraten konnte ich dich nicht. Das weißt du selbst. Ich bin ein armer Teufel, fast so arm, wie du. Wir beide wären unser Leben lang aus dem Elend nicht herausgekommen. Ich brauchte eine reiche Frau, wenn ich vorwärts wollte, mir [213] die Stellung in der Welt erringen wollte, auf die ich Anspruch machen kann.«

Sie saß da, wieder mit niedergeschlagenen Augen, die Hände auf den Knien, während er vor ihr hin und herging, froh, daß sie es so ruhig nahm. Er hatte wieder einmal nicht bedacht, daß diese subalternen Naturen keine sensiblen Nerven haben.

»Und siehst du, liebes Kind, ich habe dabei auch an dich gedacht. Unsere Liebe ist bis jetzt, Gott sei Dank, ein Geheimnis vor aller Welt. Aber irgend ein Zufall hätte es doch einmal an den Tag gebracht; und was dann? Dann wäre dein guter Ruf für immer verloren. Du könntest nicht wieder nach dem Nedur zurück, und hier wäre der Boden auch für dich zu heiß geworden. Gar nicht zu reden von der Heirat, die du doch einmal machen wirst. Du bist so jung und hübsch – es kann dir gar nicht fehlen. Dutzende werden dich haben wollen – junge Männer, weit über deinem Stande, an die du nicht gedacht hast und denken konntest, bis du hierher kamst. Da ging noch eben einer zur Thür hinaus, der sterblich in dich verliebt ist – Doktor Radloff –«

Er hatte, als er den Namen aussprach, wie zufällig eine Wendung von ihr fort, nach dem Fenster gemacht.

»Haben Sie ihm gesagt, wie es zwischen uns beiden steht?«

Er wandte sich auf den Hacken um.

»Bist du toll?«

»Dann müßte ich es ihm doch sagen.«

Er starrte sie wild an.

»Ich müßte ihm auch noch mehr sagen.«

[214] Sie hatte die gelösten Hände mit einer verzweifelten Geberde erhoben. Die Hände sanken herab und fielen wie leblos auf ihre Knie. Ihr Kopf hing nach vorwärts; aus den gesenkten Augen rannen zwei große Thränen über ihre bleichen Wangen.

»Du bist deiner Sache sicher?« fragte Arno nach einer fürchterlichen Pause mit dumpfer Stimme.

Sie antwortete nicht.

Er that ein paar verlorene Schritte, blieb wieder stehen.

»Ich frage nur, weil da ein Irrtum leicht möglich ist. Aber angenommen, es ist, wie du sagst – ja, mein Gott, darauf mußten wir am Ende gefaßt sein. Und was ist es denn nun weiter? Hier kannst du natürlich nicht bleiben. Ist auch gar nicht nötig. Nach ein paar Wochen finde ich, daß du durchaus eine Badekur nötig hast, einen stillen ländlichen Aufenthalt – irgend etwas derart. Der Aufenthalt zieht sich in die Länge, und wenn du zurückkommst – oder besser: du kommst gar nicht wieder zurück. Ich behalte dich in Berlin – in meinem neuen großen Krankenhause – ich gehe nach Berlin – im September – mein Gott, so etwas läßt sich doch arrangieren. Und selbstverständlich sorge ich für alles – alles. Meine kleine Stine soll es gut haben – wie eine Prinzessin – nicht wahr, kleine Stine?«

Er war an sie herangetreten, mit sanfter Gewalt ihren gesenkten Kopf aufrichtend. In den großen verweinten, blauen Augen lag ein so tiefer Jammer – er drückte ihren Kopf an sich, nur, um nicht noch länger in diese Augen sehen zu müssen; küßte sie auf den Scheitel und murmelte:

[215] »Mut, Mut, Kind! Es wird alles gut – viel, viel besser gehen, als du jetzt denkst. Und ich verlasse dich nicht – mein heiliges Wort darauf – nicht jetzt und niemals. Und werde dich immer lieb behalten. Hörst du: immer! So, so! Nun wisch dir die Thränen ab; die Leute dürfen nicht sehen, daß du geweint hast. Ich komme morgen wieder heraus. Wir sprechen dann weiter darüber. So, so! Jetzt geh! Man wird sich schon wundern, was wir beide so lange miteinander zu reden gehabt haben.«

Den Arm um sie legend, geleitete er sie bis zur Thür, wo er ihr einen Kuß auf die Stirn drückte. Den Mund, nach dessen zarten Lippen er einst verschmachtet war, wagte er nicht mehr zu küssen.

Er starrte auf die Thür, die sich hinter der zierlichen Gestalt geschlossen. Aber er sah nicht die Thür, sondern ein weites blaues Meer, an dessen fernstem Horizont ein weißes Segel eben verschwand.

Dann war es wieder die Thür.

»Nun ja,« murmelte er, sich in das Zimmer zurückwendend, »ich fühlte deutlich, wie wir mit jeder Sekunde weiter und weiter auseinander rückten. Es ist nicht meine Schuld. Der Lauf der Welt. Wer kann ihn ändern?«


* * *


Frau Livonius war überzeugt, daß die lange Unterredung, die Stine mit dem Herrn Doktor gehabt, sich um Doktor Radloff gedreht habe. Sie hätte darauf schwören mögen: der junge Mann hatte um sie angehalten, sie ihn zurückgewiesen und der Chef ihr eben[216] den Standpunkt klar gemacht. Seinen natürlich, der nicht der des Mädchens war; hoffentlich auch nie werden würde. Er wollte ja immer hoch hinaus; ihm war ja nie etwas vornehm genug. Sie war klüger; sie wußte, daß Gleiches sich gern zu Gleichem gesellt, und ein armes Lotsenkind nicht einen Geheimratssohn heiraten dürfe. Mochte ihr freilich schwer genug angekommen sein, nein zu sagen. Schadet nicht. Besser jetzt ein paar Thränen und schlaflose Nächte, als lebenslanges Unglück.

So fand denn Frau Livonius, als Stine gegen Abend wieder erschien, ihr bleiches Aussehen, die rotgeweinten Augen, ihr noch besonders stilles, wortkarges Wesen sehr begreiflich. Auch als sie dringend bat, heute abermals eine Nachtwache übernehmen zu dürfen, mochte sie es ihr nicht abschlagen. Sie könne doch nicht schlafen, sagte Stine. Frau Livonius glaubte es gern. Nur solle Stine nur die erste Nachtwache haben und sich um drei Uhr von Schwester Betty ablösen lassen. Wenn sie ihr verspreche, das zu thun, sei es gut.

Stine versprach es.


* * *


Und nun saß sie in der Stille der Nacht an dem Bett ihrer Kranken, brütend, brütend, brütend –

Wie war es nur so gekommen? Es schien alles so verworren, so unmöglich, wie in einem wirren Traum, und war doch so klar, hatte doch gar nicht anders kommen können. Daß sie an ihn hatte denken müssen Tag und Nacht, als sie ihn zum erstenmal an dem Morgen gesehen zwischen den Dünen. Wo er so freundlich zu ihr gesprochen hatte, trotzdem sie in einem Anzug gewesen, [217] daß sie sich hinterher die Augen aus dem Kopf hätte schämen mögen. Nicht einmal Strümpfe hatte sie angehabt! Nun, es war das erste und das letzte Mal gewesen – das war ein Trost.

Der nicht anhielt, als er nun doch nach ein paar Tagen wiederkam.

Aber da hatte sie sich brav vor ihm versteckt, und, als er zu Bonsaks in die Kinderstube kam, war sie zur anderen Thür hinausgelaufen.

Um weiter an ihn zu denken, Tag und Nacht –

Und dann der Schrecken, als der Brief von der Dame kam, die sie bei sich haben wollte, und die sie nicht einmal dem Namen nach kannte. Aber sie sollte dann doch nach Uselin, und da war er! Da würde sie ihn wohl einmal sehen, auf der Straße begegnen, ohne daß er sie wiedererkannte – natürlich! Sie wiedererkennen! Warum?

Gott, wie hatte sie lachen müssen, als er ihr dann erzählte, daß er das alles so eingerichtet, damit er seine kleine Stine wieder habe, die er liebe, ohne die er nicht leben könne! –

Und sie lächelte still vor sich hin. Wie war sie glücklich gewesen! Ach, so sehr glücklich!

Die Kranke, nachdem sie eine Stunde regungslos dagelegen, fing an sich hin und her zu wälzen; erst murmelnd, abgebrochen, dann lauter, vernehmlicher, zusammenhängender phantasierend.

Frau Livonius hatte ihr die Geschichte des Mädchens erzählt. Sie war von ihrem Gutsherrn verführt worden, einem rohen, herzlosen Menschen, der sich nicht weiter um sie und ihr Kind gekümmert hatte, das sie zu fremden [218] Leuten austhun mußte. Da war das arme Wurm nach kurzer Zeit gestorben.

Nun klagte sich die Unglückliche an, daß sie das Kind getötet habe. Denn sie habe gewünscht, es möge sterben, weil sie wußte, daß es schlecht behandelt wurde; und sie, wie sie auch sparte und darbte, nicht mehr erübrigen konnte.

Jetzt in ihren Phantasien hatte sie es getötet mit eigenen Händen, ihm die Kehle zugedrückt, es ins Wasser geworfen – in den See im Walde, wo die Binsen zischelten und die Rohrdommel des Abends schrie; und sie mit dem Liebsten gesessen auf dem dichten Rasen. Gluck, gluck; hatte das schwarze Wasser gesagt, als sie das Kleine hineinwarf. Gluck, gluck, gluck!

Und die Kranke saß im Bette aufrecht, immerfort Gluck, Gluck! sagend, endlos. Das war fürchterlich anzuhören. Stine meinte, sie könne es nicht länger aushalten und müsse jemand rufen.

Dann aber hätte sie nicht weiter so für sich über den Plan brüten können, der ihr eben bei den Phantasien der Kranken gekommen war.

In dem Wäldchen, ganz hinten, wo es an die Felder stieß, war ein kleiner Teich, eigentlich eine große Mergelgrube, in der das Grundwasser an einigen Stellen über sechs Fuß hoch stand. So sagten die Mädchen im Hause, die in diesen grausam heißen Tagen des Abends und auch in aller Morgenfrühe manchmal dort ein Bad genommen. Warum sollte sie nicht auch einmal ein Bad nehmen? Und dabei in eines der tiefen Löcher geraten, aus denen man, sagte die Köchin Male, nur wieder herauskam, wenn man schwimmen konnte.

[219] Sie konnte nicht schwimmen.

Die Kranke war in die Kissen zurückgesunken, regte sich nicht. Stine schien das Fieber zugenommen zu haben. Die Gelegenheit, das Thermometer anzulegen, war günstig: dreiundvierzig Grad! Dann sollte sofort ein Bad gegeben werden.

Die alte Wärterin, die Manneskräfte hatte und stets in solchem Falle half, war alsbald zur Stelle. Sie meinte, es sei nicht nötig, Doktor Radloff zu rufen: die Baderei verstehe sie besser als der junge Herr.

Es war alles gut gegangen, die Kranke frisch gebettet, Stine wieder allein mit ihr.

Das Phantasieren setzte abermals ein, aber weniger heftig. Jetzt waren es fortwährend Fische, welche sie zu sehen glaubte: schöne, große, glatte Fische. Die schossen durch das klare Wasser hin und her. Das war so lustig anzusehen. Es wurde einem so wohl dabei. Nun war sie selber ein Fisch. Das war noch viel schöner. Husch! husch! hierhin, dorthin! War das ein Vergnügen!

Und auf einmal wußte Stine, wie sie es machen müsse. Als ob es eine Erleuchtung von oben wäre, stand der Plan vor ihrer Seele; jeder Schritt, den sie zu thun hatte. Das andere, das ging nicht. Da hätten die Leute gleich gesagt: sie sei ins Wasser gegangen. Es mußte wie ein Zufall aussehen. Wovon die Malwine wohl wußte, daß sie ihn liebte? Sonst wußte es doch keiner. Und Malwine hatte es vom ersten Anfang an gesagt, und immer wieder gesagt, trotzdem sie sich heilig und teuer verschworen, es sei nicht wahr. Lügen war ja eine Sünde; aber das durfte sie doch nicht eingestehen; auch heute mittag nicht, als Malwine atemlos [220] kam und ihr entgegenrief: »Weißt du schon: er hat sich mit ihr verlobt!« Und sie, trotzdem ihr das Herz stillstand, ruhig geantwortet hatte: »Ja, warum sollte er nicht?«

Und sie grübelte, grübelte. Jetzt, da ihr Plan fertig war, störte sie nichts darin.

Warum sollte er nicht? Hatte sie denn je geglaubt, daß er sie heiraten würde? Nicht einmal, als sie wußte, wie es mit ihr stand, hatte sie daran gedacht. Sie hatte ja überhaupt nichts gedacht, als daß sie ihm alles zu Liebe thun müßte. Und keinen Lohn begehrt. War es denn nicht überreicher Lohn, daß er sie wieder liebte? Und nun liebte er sie nicht mehr. Seit heute mittag wußte sie's. Nicht wegen der Verlobung! Aus jedem seiner Worte hatte sie's herausgehört; aus jeder Berührung herausgefühlt. Und liebte er sie nicht mehr, so hatte er sie auch nie geliebt. Wie könnte denn Liebe aufhören, wenn sie einmal im Herzen ist? Das war es. Sie hatte ihr alles hingegeben um etwas, das ihr heilig war, wie der liebe Gott im Himmel. Ihm war es nichts gewesen, als ein Spiel.

Darum wollte sie sterben.

Aber keiner sollte sagen können, daß es darum war. Auch Malwine nicht.

Die Uhr über dem Hausportal schlug drei! Schwester Betty kam hereingehuscht. Stine berichtete, wie die Nacht gewesen. Das Fieber war entschieden heruntergegangen. Stine meinte, das Mädchen würde durchkommen. Betty meinte es auch.

Als Betty sich nach dem Fenster gewandt hatte, zu sehen, wie weit es draußen schon hell wäre, beugte sich [221] Stine schnell über die Kranke und küßte sie auf die Stirn. Dann wünschte sie Betty eine gute Wache und ging.

Zuerst auf ihr Zimmer.

Da band sie sich ein Tuch um die Schultern und ein kleineres um den Kopf, nachdem sie ihre Kranken pflegerinnen-Schürze abgethan und das weiße Häubchen über den kleinen Ständer auf der Kommode gehängt hatte. Sie wollte, wenn ihr jemand begegnete, nicht gleich als Krankenpflegerin erkannt werden; aber es sollte auch nicht den Anschein haben, als sei sie gegangen, um nicht wiederzukommen.

Dann auf leisen Sohlen über die Steinfließen der unteren Korridore in die Küche. Es begegnete ihr niemand. Auch in der Küche, wie sie es erwartet, war alles still. Nur die Fliegen, die ihr Eintreten aufgescheucht hatte, summten hin und her.

Auf dem weißgescheuerten Anrichtetisch lag ein dickes Buch, schmal und lang, in das Male ihre Einkäufe für den nächsten Tag schon den Abend vorher einzutragen pflegte. Stine schlug es auf, wo der Bleistift zwischen die Blätter gelegt war: Gemüse (Schoten und Bohnen), Rindfleisch (dreißig Pfund), Fische (Maischollen, Hecht) –

Sie unterstrich »Fische« und schrieb auf ein Blatt, das sie mitgebracht hatte:

»Liebe Male! Die Fische besorge ich Ihnen. Mir brennt der Kopf von der Nacht in dem Krankenzimmer. Ich muß ein wenig an die frische Luft. Da gehe ich am liebsten gleich an den Hafen. Da ist es am kühlsten. Haben Sie keine Sorge. Auf Fische verstehe ich mich. Und zu teuer werde ich auch nicht einkaufen. In einer Stunde bin ich zurück. – Stine.«

[222] Sie klappte das Buch wieder zu; nahm von der Wand den braunen Korb für die Fische; schloß leise die Thür auf, die aus der Küche auf den Hof führte; ging über den Hof – wo es noch eine Thür aufzuschließen gab – und trat auf den Weg, der, an der Hofmauer entlang, in die Vorstadtstraße mündete.

Es war bereits völlig hell, trotzdem es noch eine gute halbe Stunde bis Sonnenaufgang sein mochte. In den Bäumen der Gärten an den Wegseiten zwitscherten hier und da Vögel; auf den Blättern der Büsche, die ihre Zweige durch die hölzernen Gitter streckten, lagen dicke Tautropfen. In der Luft war noch die Frische der Nacht; aber Stine sagte sich, es würde wieder ein sehr heißer Tag werden: das Morgenrot war so sehr licht, eigentlich gar kein Rot, sondern Gelb. Das bedeutete immer einen heißen Tag.

Sie wunderte sich, daß sie das denken konnte. Was hatte sie mit den Vögeln und dem Tau und dem Morgenrot noch zu thun? Das alles war ja für die Menschen, die da hinter den heruntergelassenen Vorhängen schlafen und zu einem neuen Tage erwachen würden. Für sie gab es keinen neuen Tag. Bevor noch die Sonne aufging, gab es keine Stine Prebrow mehr.

Wenn nur schon Fischer da waren! Sie kamen in diesen heißen Tagen gern vor Sonnenaufgang herein. Aber manchmal wehte der Wind konträr, oder der Strom lief zu stark aus. Dann konnte es immer eine Stunde oder so später werden. Einer oder der andere würde es ja wohl fertig gebracht haben.

Nun war sie in der Stadt. Die Bäcker hatten ihre Läden schon auf; hier und da begegnete ihr ein Arbeiter, [223] oder ein Dienstmädchen mit eilig übergeworfenen Kleidern und ungemachten Haaren huschte in Pantoffeln über die Straße; sonst lärmten nur die Sperlinge auf den Dächern und die Schwalben schossen über das feuchte Pflaster hin. Es mußte auch in der Stadt stark getaut haben.

Über den Hafenplatz hätte sie es näher gehabt; aber da mochte sie nicht vorüber kommen. An dem Hause mit den Spiegelscheiben, wo sie wohnte, die in der seidenen Kutsche fuhr, in der er heute gesessen hatte und morgen an ihrer Seite sitzen würde, wenn sie ihre Verlobungsbesuche machten. Und an dem anderen mit den grünen Jalousien, wo sie so schlimme Tage verlebt bei ihr, mit der er es auch gehalten. Sie hatte es nicht geglaubt, als Malwine es heute gesagt; und daß er noch viele andere Liebste gehabt, Frauen und Mädchen. Jetzt glaubte sie's. Und daß sie später mal einer begegnet sein würde, die auch ein Kind von ihm hatte.

Ja, er war schlecht. »Ein Matrose,« hatte Jochen Lachmund gesagt, »na, Stine, du weißt ja! Aber so schlecht, wie der, bin ich noch lange nicht.«

Der arme Jochen! Dicke Thränen hatte er geweint, als er den Brief in das Krankenhaus brachte. Er wolle ihr nie wieder sagen, daß er sie lieb habe. Nur nach dem Nedur solle sie wieder kommen, zu ihren Eltern.

Nach dem Nedur! zu ihren Eltern!

Sie war aus dem engen Gäßchen herausgetreten auf den Zimmerplatz am Hafen, wo die neuen Boote gebaut und die alten kalfatert wurden. Es waren noch keine Arbeiter da; Theereimer, Werkzeuge – wie sie sie gestern abend aus der Hand gestellt und gelegt; in einem der [224] Balken, aus denen man die Bretter schnitt, auf dem hohen Doppelgestell, die große Säge, die ein Mann unten handhabte, der andere von dem Balken herab. Hundertmal hatte sie das alles gesehen und das Klopfen der Hämmer und Äxte, das Knirschen der Sägen gehört. Und der Duft von dem frischen Teer und den Hobelspänen und von dem Wasser –

Da war es, das breite Wasser des Flusses, dessen Wellchen rötlich glitzerten in dem Widerschein des Lichtes der steigenden Sonne. Sie mußte jetzt bald aufgehen. Hier und da standen leichte Nebelsäulen auf dem Wasser, die mit dem Strom seewärts trieben. Der Strom ging ungewöhnlich stark aus; ein größerer Holzspan, der vom Ufer abgespült war, tanzte nur so an ihr vorüber.

An ihr vorüber seewärts – nach dem Nedur – zu ihren Eltern!

Wenn sie that, um was Jochen sie so heiß gebeten? Zurückkehrte, von wo sie gekommen? Und weiter lebte mit ihrem Kinde, das keinen Vater hatte; unter den traurigen Augen des alten, guten Vaters; den weinenden Augen der guten, lieben Mutter; den vorwurfsvollen Jochens, Frau Bonsaks – all der ehrlichen Männer und Frauen – nein! tausendmal lieber ins Wasser!

Hier konnte sie es thun – von den Balken, die, zusammengebunden, hart am Ufer im Wasser lagen, und an denen der Strom vorüberschoß.

Aber dann war's wieder kein Zufall. Und sie hatte sich doch ausgedacht, es müsse wie ein Zufall aussehen.

Sie wandte den Blick stromaufwärts, dahin, wo die Fischerboote anlegten. Sie konnte nicht erkennen, ob[225] welche da waren: ein paar größere Fahrzeuge lagen dazwischen. Um die mußte sie erst herum.

Nun stieg sie über die Seile und Ketten, mit denen die Fahrzeuge an den Blöcken auf dem Bollwerk befestigt waren, eilig: von der Johanniskirche am Hafenplatz schlug es vier – sie hatte keine Minute mehr zu verlieren. Es tauchten hier und da Gestalten auf. Eines der Schiffe hatte schon die Segel hoch und drehte vom Ufer ab in den Strom; über die große Rahe des Hauptmastes eines anderen hingen zwei Matrosen und banden die Segel los.

Da waren die Fischerboote – zwei, drei, vier. Gleich das erste war das größte. Es hatte nicht ganz an den Quai herankommen können; vom Quai nach dem Boot lag eine Planke.

So, gerade so hatte sie sich's gedacht. Das Herz fing ihr an zu klopfen – jetzt mußte es gelingen.

Sie ging auf das Boot zu. Vom Ufer konnte sie hineinsehen. Es war nur ein Mann drin, ein alter Mann, wie ihr schien, der, ihr den Rücken zuwendend, seine Fische aus einem Kasten in den anderen sortierte.

Sie schritt über die schmale Planke, die naß vom Tau war und sich ein wenig unter ihrer Last bog. Der Fischer hatte das Knarren gehört und blickte auf, verwundert über den frühen Kunden, in welchem er Stine Prebrow, Peter Prebrows Tochter, erkannte. Vor vier Wochen erst war er im Krankenhause gewesen, sich einen großen Splitter aus dem rechten Handballen herausschneiden zu lassen. Da hatte er gehört, daß sie die Stine Prebrow sei, die er als kleines Mädchen manchmal gesehen.

[226] »Na, Stine Prebrow,« sagte er, »was wollen Sie denn hier vor Tau und Tag?«

»Fische kaufen – fürs Krankenhaus, Krischan Höfft,« erwiderte Stine freundlich, wie der Mann zu ihr gesprochen.

»Na, was möchten Sie denn?«

»Ja, was haben Sie? Haben Sie Maischollen?«

»Ob ich welche habe! Sie sind man ein bißchen lütt; aber frisch sind sie.«

»Dann thun Sie mir zwei Dutzend in den Korb! Natürlich die größten!

Sie bog sich, nun am äußersten Ende der Planke stehend, zu ihm hinab mit dem Korb, den er ihr aus der Hand nahm, und sah zu, wie er die Fische hineinzählte.

»So! Und weil Sie es sind, kriegen Sie noch einen zu. Sonst noch was gefällig?«

»Haben Sie Hecht?«

»Man einen einzigen – einen schönen Hecht.«

»Bitte, zeigen Sie mir ihn!«

Der Mann langte den Fisch aus dem Kasten.

»Wenn ich den nur in den Korb kriege!«

»J, er muß wohl. Ich gebe ihm eins auf den Kopf; da soll er wohl still liegen.«

»Um Gottes willen nicht!«

»Er springt Ihnen heraus.«

»Der Deckel schließt ganz gut.«

»Wie Sie wollen.«

»Und was sollen die Fische nun kosten?«

»Na, Ihnen mache ich es billig. Und Handgeld ist es ja auch.«

[227] Der Mann nannte eine mäßige Summe, die Stine aus dem kleinen Portemonnai bezahlte, in welchem sie das Taschengeld verwahrte, das sie nach langen Sträuben seit einiger Zeit von der Kasse des Krankenhauses wöchentlich entgegennahm. Der Fischer hatte ein paar Groschen herauszuzahlen. Es fehlte an dem Wechselgeld.

»Lassen Sie nur,« sagte Stine, »ich komme einen dieser Tage wieder. Da können wir's ja machen.«

»Ist mir auch recht.«

»Was ich Sie bitten wollte, Krischan Höfft, kommen Sie wohl wieder mal nach dem Nedur?«

»Kann sein – Ende dieser Woche. Clas Swantow läßt sein Jüngstes taufen. Ich bin Vaterbruder von ihm.«

»Wollen Sie dann so gut sein und Vadding und Mutting recht schön von mir grüßen!«

»Soll gern geschehen.«

»Und – und Jochen Lachmund!«

Der alte Fischer zwinkerte mit den kleinen hellen Augen zu ihr hinauf:

»Ist wohl der Zukünftige?«

»Ich denke nicht dran.«

»Na, na! Das wäre doch weiter keine Sünde! Werd's ausrichten.«

»Danke. Adjüs!«

»Adjüs!«

Er hatte ihr den Korb hinaufgereicht.

»Nehmen Sie sich man in acht mit dem schweren Korb! Das Brett ist ein bißchen glitschig.«

»Ist nicht so schlimm.«

Der Alte hatte sich wieder über seine Fische gebückt. Stine machte einen Schritt und blickte nach den anderen [228] Booten. Da war es auch schon lebendig geworden. Es hatten sich einige wenige Käufer und Käuferinnen eingefunden; ein paar andere kamen über den breiten Quai auf die Boote zu. Als sie sich etwas weiter links wandte, sah sie den Rand der Sonne aufblitzen über den Wiesen des Ufers drüben.

Und die Sonne hatte sie nicht mehr sehen sollen.

Sie öffnete den Deckel des Korbes. Warum sollten die armen Tiere mit ihr sterben? Der Hecht krümmte sich und flog in einem großen Bogen an ihr vorüber ins Wasser. Unwillkürlich stieß sie einen leisen Schrei aus.

Der Fischer blickte auf.

»Was ist los?«

»Mein Hecht!«

»Hab ich's nicht gesagt? Donnerwetter, lassen Sie das Biest doch schwimmen! Der kommt doch nicht wieder.«

Er hatte gesehen, wie Stine auf der Planke stand, den Oberkörper weit vornüber gebogen. Im nächsten Augenblick war sie ins Wasser gestürzt, den Korb in der Hand.

Der Fischer griff nach einer Hakenstange und hastete nach der Spitze des Bootes. Da mußte sie vorbeitreiben. Er sah auch noch zwei Fuß unter dem Wasser den Körper; aber die Stange war nicht lang genug. Er versuchte es auf gut Glück noch einmal; dann sah er den Körper nicht mehr. Der Strom lief so mächtig schnell aus.

»Gotts Donnerwetter!« sagte der alte Mann. »Die kommt auch nicht wieder.«


* * *


Das traurige Ende von Stine Prebrow erregte in der Stadt allgemeinste Teilnahme. Die Thorheiten, [229] welche Frau Siebold mit ihr getrieben, hatten sie schon damals in aller Leute Mund gebracht; aber man war verständig genug gewesen, der Kleinen nicht anzurechnen, was doch offenbar Schuld der überspannten Dame war. Dann hatte man es löblich gefunden, daß sie den schweren Dienst in dem Krankenhause übernahm, wie zur Abbüßung von Sünden, die sie gar nicht selbst begangen. Aus dem Krankenhause hatte sich ihr Lob noch weiter verbreitet. Da gab es schon eine ganze Anzahl kleiner Leute, die sie längere oder kürzere Zeit gepflegt hatte, und die nicht genug zu rühmen wußten, wie gut die Stine zu ihnen gewesen sei. Dann hatte Richard Moorbeck in seinem Kegelklub wieder und wieder mit solcher Begeisterung von ihr gesprochen, daß ein Dutzend junger Kaufleute, Post- und Steuersekretäre in sie verliebt war und Gedichte auf sie machte, ohne sie gesehen zu haben. Durch die war wieder ihr Ruf in die Familien getragen; und das Interesse hatte seinen Höhepunkt erreicht, als es verlautete – man wußte nicht, wer das Gerücht aufgebracht, aber ein Zweifel war ausgeschlossen – daß der junge Doktor Radloff vom Krankenhause, der Geheimratssohn aus Berlin, auf den mehr als eine Useliner Honoratiorentochter sich heimlich Hoffnung machte, sich mit dem Mädchen verlobt habe und es demnächst heiraten werde.

Nun hatte das arme junge Ding so elend ertrinken müssen! Bei einem Geschäft, das sie aus schierer Gutmütigkeit übernommen; bloß, um einer alten Köchin einen frühen Gang zu ersparen! Und wieder einmal hatte es sich gezeigt: wenn ein Unglück geschehen soll, dann geschieht es eben, mag man zehnmal sagen: so was kann [230] ja gar nicht vorkommen! Einmal kommt es doch vor. Dann fällt eine – und noch dazu ein Lotsenkind – ins Wasser von einer Planke, über die hundert andere so sicher gehen, wie auf Gottes Erdboden. Der Fischer muß gerade allein im Boot sein und ein alter unbehilflicher Mann; sein Boot das letzte stromabwärts, daß der Körper sogleich ohne Aufenthalt mitten in den Strom treiben kann. Und der Strom an dem Morgen so stark auslaufen, wie kaum je: sechs Fuß in der Sekunde! Da konnte der Körper schon eine Stunde später in der offenen See schwimmen. Wer weiß, ob nicht nach Schweden hinüber? Es war alles schon dagewesen.

Tagelang ging das Gerede in der Stadt. Die Abweichungen in der Darstellung waren ganz geringfügig. Der alte Krischan Höfft von Thiessow auf Mönchgut galt als ein durchaus glaubwürdiger Mann; hatte überdies auf der Polizei seine Aussage zu Protokoll geben müssen, und würde sie auch beschworen haben, wenn der Polizeidirektor nicht gesagt hätte: er glaube es schon so. Auch Karl Bredow vom zweiten Boot hatte den Vorgang gesehen und schilderte ihn genau so wie Krischan Höfft.

Es hatte eben sein sollen. Und wenn es sein soll, zerbricht man sich den Finger in der Westentasche.

In ganz Uselin gab es nur zwei Menschen, die nicht an einen bösen Zufall glaubten: Doktor Arno und Malwine Müller.


* * *


Arno hatte den Abend vor dem Unglücksmorgen im Hause seiner Schwiegereltern zugebracht. Der Kommerzienrat hatte darauf bestanden, daß in der Eile eine [231] kleine Gesellschaft der intimeren Freunde zusammengebeten wurde, die sich über das gehaltene, um nicht zu sagen: kühle Benehmen der jungen Brautleute gegeneinander mehr oder weniger wunderten. »Sind sie immer so?« hatte Frau Postdirektor Lenz Frau Moorbeck, sie auf die Seite ziehend, fast unverständlich vor Aufregung, gefragt, worauf diese ruhig erwiderte: »Hier haben sich vorderhand erst einmal die Geister gefunden« – eine Antwort, welche Frau Postdirektor zehn Minuten später ihrem Mann mitteilte, zugleich mit ihrer Übersetzung: von ihrer Seite eine Caprice, von seiner eine Spekulation.

Die so wenig landesübliche Zurückhaltung der Verlobten konnte nicht verhindern, daß es dann doch hernach bei Tisch sehr laut, wenn nicht lustig herging, sehr viel Champagner getrunken wurde; der Postdirektor, durch die ominösen Mitteilungen seiner Gattin in dem sonstigen hohen Schwung seiner Gefühle gelähmt, einen seiner kürzesten und schlechtesten Toaste ausbrachte; der Kommerzienrat, in dem neuen Glück der Schwiegervaterschaft, einen seiner längsten und besten; Richard, bereits in entschiedener Weinlaune, einen so blühenden Unsinn sprudelte, daß Mathilde Lenz, seine Tischnachbarin, sich totlachen zu müssen erklärte, was ihr einen streng strafenden Blick der heute abend in ihren heiligsten Empfindungen tief verletzten Mutter eintrug.

Nur Arno war, trotz mancher versteckter Anspielungen und Aufforderungen, zum Reden nicht zu bewegen gewesen. Es sei Grundsatz bei ihm, zu unterlassen, wovon er wisse, daß er es nicht gut machen könne. Dazu gehöre unter anderem Tischreden halten. Man müsse ihn eben nehmen mit den vielen Lacunen seiner gesellschaftlichen [232] Erziehung, darin dem Beispiele seiner Braut folgend, die ihm nach dieser Seite ein für allemal Amnestie erteilt habe.

»Wenn das keine gute Tischrede war, will ich Hans heißen,« hatte hier Richard begeistert gerufen. »Mein beredter Schwager lebe hoch!«

Und wieder waren die Gläser aneinander geklungen.

Sehr spät erst hatte man sich getrennt.

In Arnos Augen war während des kurzen Restes der Nacht wenig Schlaf gekommen.

Zwar an die Scene am Vormittage mit Stine wollte er nicht denken. Die Rechnung war für ihn abgeschlossen und mußte so bleiben. Er hatte das Mädchen geliebt, soweit er überhaupt der Empfindung fähig, welche die Leute Liebe nannten; dann war die Reaktion eingetreten, und er hatte wieder in ihr gesehen, was sie, nach Verschwinden der Illusion, in Wirklichkeit war: ein ungebildetes, unbedeutendes, kaum hübsches weibliches Wesen, wie es tausende und tausende gab. Das war einfacher Lauf der Natur. Und sollte, wie es schien, das Verhältnis eine Folge haben, so war das gewiß Natur. Mephisto hatte völlig recht mit seinem: »Sie ist die erste nicht«. Und wenn Faust das abscheulich fand, so dokumentierte er sich damit zum anderenmale als der Philister und Spießbürger, der er trotz aller seiner Fanfaronaden in seinen Augen war und blieb.

Nein! Die Rechnung war abgeschlossen trotz des scheinbar neuen Faktors, der nur durch ein verzeihliches Übersehen nicht bereits in der alten Kalkulation figurierte. Es handelte sich schlechterdings um nichts als um Geheimhaltung von Stines Zustand, wenigstens so lange, [233] bis er sich in der Position, in die er so unversehens geraten war, sicher fühlte.

Unversehens! Er hatte wohl vorher gelegentlich flüchtig daran gedacht: es sei doch keine schlechte Philosophie, ein Mädchen zu heiraten mit hunderttausend Thalern oder so zur Mitgift und der angenehmen Aussicht auf eine später zu erbende Million. Wurde doch der Kommerzienrat überall auf mindestens drei Millionen geschätzt: nur daß einige von vier oder fünf wissen wollten!

Aber Alexe hatte physisch nichts Anziehendes für ihn gehabt, eher das Gegenteil. Ihre üppigen Formen waren nicht nach seinem Geschmack; ein Kuß von ihrem vollen Munde mit dem dunklen Flaum auf der Oberlippe erschien ihm nicht ganz so häßlich wie ein Männerkuß, – der ihm einfach abscheulich dünkte, selbst zwischen Vater und Sohn, Bruder und Bruder – danach verlangt hatte ihn wahrlich nicht. An ihrer Schlagfertigkeit, ihrem regen Geist hatte er anfangs wohl Vergnügen gefunden, das aber bereits stark im Abnehmen begriffen war: die Schläge trafen doch nicht selten vorbei; und seine geistigen Bedürfnisse war er von jeher gewohnt, aus eigenen Mitteln zu decken. So war es doch auch vorgestern abend gewesen. Es hatte ihm Spaß gemacht, die Geschichte seiner Jugend zu erzählen – poetisch retouchiert, in dem obligaten kunstvoll-trügerischen Licht von Wahrheit und Dichtung – ein Monolog, wie er sie zu halten gewohnt – es war der reine Zufall, daß gerade sie und sie allein sein Auditorium bildete. Dann hatten sie sich verlobt. Genauer: sie sich mit ihm. Keine Sekunde vorher hatte er daran gedacht, daß es so kommen könne. Aber als es nun kam, sollte er der Narr sein, eine Zukunft auszuschlagen, [234] die sich nach aller menschlichen Berechnung zu einer glänzenden gestalten mußte? Warum, trotzdem er so viele an Geisteskraft überragte, daß sie ihm wie Pygmäen erschienen, hatte sich sein Leben in obskuren Nebenwegen und Sackgassen zu verlaufen gedroht, als weil ihm fehlte, was so viele Dumme sich in Scheffeln herbeizuschaffen wissen? Und wenn die Berufung nach Berlin auch eine freundlichere Perspektive eröffnete, das rechte Licht würde doch erst auf das Bild fallen durch den goldigen Reflex von des Kommerzienrats Millionen.

Schließlich, liebte er auch Alexe nicht und würde sie niemals lieben – ihre schöne Mutter, trotzdem sie neunzehn Jahre älter war als sie, hätte er sofort geheiratet. Und Richard war ein guter, wenn auch dummer Junge, und sein Vater ein dummer, aber guter Kerl. Mit einer solchen Familie mußte es sich doch leben lassen, besonders wenn man die Entfernung von Uselin nach Berlin in Rechnung stellte.

Solche Betrachtungen hatten Arno den Mißmut, den er aus der Gesellschaft bei den Schwiegereltern mitgebracht, endlich doch verscheucht. Er las noch ein paar Kapitel in einem neuen Werke über den Typhus; ärgerte sich ein wenig über den Autor, der ihn auf jeder Seite unter den größten Lobeserhebungen citierte, anstatt sein jetzt überflüssiges Buch ungeschrieben zu lassen, und schlief bis tief in den Morgen hinein einen traumlosen Schlaf.


* * *


Eine Stunde später als gewöhnlich hatte er eben auf seine Praxis gehen wollen, als Doktor Radloff in sein[235] Zimmer gestürzt kam: totenbleich, zitternd an allen Gliedern, unfähig zu sprechen, endlich mit einer gewaltsamen Anstrengung ein paar Worte murmelnd, die: »sie ist tot« lauten konnten, um sich dann auf den nächsten Stuhl zu werfen und in schluchzendes Weinen auszubrechen.

Arno brauchte nicht zu fragen: wer tot sei? Um wen sollte Radloff so jammern, als um Stine? Seine erste Empfindung war Zorn. So das ganze Krankenhaus zum Zeugen ihrer Verzweiflung zu machen! Womöglich, nachdem man Frau Livonius oder eine andere ins Vertrauen gezogen; oder auf einem hinterlassenen Zettel aller Welt verkündet, warum man in den Tod gehen müsse! Daß sie sich das Leben genommen, daran zweifelte er nicht einen Augenblick. In einem herrischen Ton, der den Kollegen nur deshalb nicht beleidigte, weil er ihn in seiner fürchterlichen Erregung gar nicht bemerkte, forderte er jenen auf, das Jammern zu lassen und zu berichten, was er wisse.

Ein Polizeidiener hatte die Nachricht nach dem Krankenhaus gebracht, unglaublicherweise erst kurz nach acht. Die Köchin hatte das Blatt, das Stine in ihr Küchenbuch gelegt, gefunden und Frau Livonius gezeigt; beide hatten sich gewundert, wo Stine so lange bleibe. Aber wer konnte ahnen, daß sich das Rätsel so schrecklich lösen würde! Er – Radloff – war nun sofort nach dem Hafen gelaufen. Um das Boot des Fischers habe eine dichte Menge gestanden; nur mit Mühe habe er sich Bahn zu dem alten Fischer gemacht und von ihm jede Einzelheit erfahren. Später sei auch noch der Polizeidirektor erschienen und habe ihm versichert, daß niemand eine Schuld an dem Unglück treffe, man nicht einmal [236] von einem Leichtsinn der Unglücklichen, oder einer Fahrlässigkeit des Fischers sprechen könne, sondern eben nur von einer verhängnisvollen Kombination verderblicher Umstände; sodann, daß der ganze Strom nach der Leiche abgesucht werden würde, wenn auch die Hoffnung, sie dort zu finden, sehr gering sei.

Während Radloffs Erzählung hatte Arno Zeit gehabt, seine Fassung völlig wiederzugewinnen. Und als jener jetzt fast wieder in Thränen ausgebrochen wäre bei dem Gedanken, daß er das geliebte Mädchen nie, nie wieder sehen, ihr holder Leib eine Beute der blöden Fische werden solle, suchte und fand er Worte, die aus seinem Munde gütig genug klangen und dem Unglücklichen besseren Trost gewährten als die salbungsvollste Rede.

»Schämen Sie sich Ihrer Thränen nicht, Kollege! Sie ist es wert, daß man ihr nachweint, mehr, als tausend und tausend andere. Ich habe sie selbst in meiner Weise lieb gehabt, so daß ich Ihren Schmerz wenigstens mitfühlen kann. Sie wissen, ich bin ein rauher Mensch; und wenn mich Unglück trifft, beiße ich die Zähne aufeinander und fluche den boshaften Göttern. Das ist nicht Ihre Art. Ihnen kann nur die Zeit helfen. Aber sie wird ihr Werk thun – glauben Sie mir! Die Zeit und die Arbeit. Vor denen hält kein Schmerz auf die Dauer stand. Ich will sorgen, daß Sie Arbeit vollauf haben. Natürlich nicht hier. Hier dürfen Sie nicht bleiben, wo Sie alles täglich und stündlich an Ihren Schmerz erinnern würde. Sie müssen mit mir nach Berlin. Ich werde das schon ermöglichen. Lassen Sie mich nur sorgen!«

Radloff drückte Arno wieder und wieder gerührt die Hand. Arno empfand es als etwas Sonderbares, daß, [237] während er den jüngeren Freund aufzurichten suchte, er selbst sich dabei als eine dritte Person vorkam, die dabei stand, die gewechselten Reden mit anhörend, ohne bei der Angelegenheit unmittelbar beteiligt zu sein. Warum auch nicht? Für ihn war sie abgethan; ihm durfte sie das Concept seines Lebens nicht weiter stören.

In dieser gleichmütigen Stimmung erhielt er sich mühelos den ganzen Tag, erledigte seine Stadtpraxis mit gewohnter Sorgsamkeit, begab sich dann zum Krankenhaus, ließ die thränenreiche Klage der Frau Livonius um ihren verlorenen Liebling ruhig über sich ergehen, überzeugte sich von der entschiedenen Besserung in dem Befinden der Kranken, an der Stine ihr letztes Liebeswerk gethan hatte, ohne Frau Livonius zu widersprechen, welche darin einen neuen und ach! letzten Beweis der wunderbaren Heilkraft erblicken wollte, die unter Gottes gnädigem Beistand von dem lieben Kinde ausgegangen war.

Den Abend verbrachte er im Hause seiner Schwiegereltern in ruhigem Gespräch über die Maßnahmen, welche die Übersiedelung des jungen Paares nach Berlin nötig machen würde. Die Hochzeit sollte am ersten September stattfinden, bis wohin man noch beinahe sechs Wochen hatte. Mehr Zeit als nötig, um die Ausstattung zu schaffen, die Mutter und Tochter in Verlin besorgen wollten. Wenn Arnos Zeit es erlaubte, sollte er die Damen begleiten. Andernfalls würde man auch ohne ihn fertig werden um so eher, als seine Dienstwohnung in dem dortigen Krankenhause die zu treffenden Dispositionen gewissermaßen diktiere.

Von Zärtlichkeiten, die das Brautpaar ausgetauscht hätte, war auch an diesem zweiten Abende nichts zu[238] merken. Jetzt doch auch zu einiger Verwunderung des Kommerzienrates, trotzdem ihm eine dunkle Erinnerung davon kam, daß Alexes Mutter als Braut durch ihre vornehme Reserve ihn manchmal in gelinde Verzweiflung gebracht habe. Arno war augenscheinlich keineswegs verzweifelt. Aber er hatte so oft hören müssen: Arno sei ein exceptioneller Mensch. Und das war denn wohl die Weise exceptioneller Menschen, für die er, als ein gewöhnlicher Sterblicher, das rechte Verständnis nicht besaß.

Auch empfahl sich Arno ziemlich früh und arbeitete die halbe Nacht an einem Aufsatz, in welchem er nachwies, daß der Verfasser des neuen Werkes über den Typhus ein Plagiator schlimmster Sorte sei, der noch nicht einmal richtig abschreiben könne.


* * *


Es war am nächsten Vormittag kurz nach seiner Sprechstunde, als seine Wirtin noch einmal heraufkam und meldete, unten sei der alte Schiffer, der schon einmal vor ein paar Monaten mit seiner Frau bei dem Herrn Doktor gewesen sei.

»Ich ließe bitten,« erwiderte Arno mit seiner gewohnten Floskel, ohne sich zu besinnen.

Er hatte es als selbstverständlich angenommen, daß Stines Vater ihn aufsuchen werde. Darüber weg mußte er. So denn: je früher, je besser.

Dennoch berührte es ihn umheimlich, als der alte Mann nun hereintrat, heute nicht in seiner Schiffertracht, sondern in langen schwarzen Beinkleidern, schwarzer Jacke mit großen Knöpfen, in der Hand einen hohen lackierten Hut, der mit schwarzem Krepp dicht umwunden war. [239] Sicher ließ nicht die andere Kleidung den Alten noch um zehn Jahre gealtert erscheinen. Die vertieft die Furchen, verglast die Augen nicht so; zieht keine weißen Strähnen in das dünne graue Haar. Das kann nur schwerster Herzenskummer.

»Und kann's in verzweifelt kurzer Zeit,« sagte Arno bei sich, während er den alten Mann, der in der Thür stehen geblieben war, in das Zimmer und auf einen Stuhl nötigte. Die Hand, die er in der seinen hielt, und deren kraftvollen Druck er so wohl kannte – wie war sie welk und schlaff geworden!

»Mein armer alter Freund, Sie kommen mir zuvor. Ich hatte die Absicht, in diesen Tagen nach dem Nedur zu segeln.«

Der Alte blickte starr in den umflorten Hut.

»Herr Doktor. Wir haben sie gefunden.«

»Ah!«

Eine lange Pause entstand.

Dann fragte Arno mit dumpfer Stimme:

»Wann? wo?«

»Heute früh um zwei Uhr, Herr Doktor – ich und Jochen Lachmund. Wir suchten am Südstrande. Es war ja doch eine Möglichkeit, daß sie antrieb. Und dann mußte es am Südstrande sein. Auf den steht der Strom immer, besonders, wenn er so stark geht, wie in diesen letzten Tagen. Wir waren auch schon vergangene Nacht dagewesen – die ganze Nacht, Herr Doktor. Er von West nach Ost, ich von Ost nach West, bis wir uns in der Mitte trafen – dann kehrten wir um – die ganze Nacht, Herr Doktor. Am Tage war's nicht so nötig. Da kann man von der Düne den ganzen Strand übersehen.«

[240] »Heute nacht war Mondschein?«

»Ja, Herr Doktor, heller Mond. Der Wind Süd-Süd-West – mäßiger Wind – schwache Brandung. Ich sagte immer zu mir: wenn der liebe Herrgott es will, dann ist es heute nacht. Ist es nicht heute nacht, will er nicht, daß ein alter Vater sein Kind noch einmal sehen soll; dann hat er es hinaustreiben lassen in die offenbare See. Als ich wieder so denke und bei mir sage: lieber Herrgott, wenn du willst, du kannst es, sehe ich etwas auf und nieder tauchen, sechzig Schritt vom Strande. Da haben wir zehn Fuß Wasser, Herr Doktor – eine schmale Rinne; hernach kommt eine Sandbank, da steht kaum Wasser; und von der Rinne zum Strande ist es auch man ganz flach: drei, zwei Fuß bis auf den ebenen Sand. Zu jeder anderen Zeit würde ich gesagt haben: es ist ein Seehund; aber jetzt wußte ich, daß sie es war. Wir hatten ein Boot am Strande, Herr Doktor – schon die ganze Zeit – auf alle Fälle. Es war ganz nahe bei dem Boot, und Jochen, der von der anderen Seite kam, war auch nicht weit. Ich schrie: ›Jochen, Jochen!‹ Da kam er gelaufen, was er konnte; wir schoben das Boot ins Wasser und ruderten durch die Brandung drauf zu. Richtig, Herr Doktor, sie war es: mit dem halben Leib auf der flachen Sandbank, mit dem anderen noch in der tiefen Rinne. Als ich anfasse, gleitet sie von dem Sand ab, wieder in die Rinne und taucht unter. Das war schrecklich, Herr Doktor: der Strom ging mächtig durch die Rinne, und wenn sie nicht wieder heraufkam – da sah ich sie wieder: unter dem Wasser. Das war ganz klar, und der Mond schien hell hinein. Sie hatte das Gesicht nach oben und stand schräg, weil der Strom [241] unten stärker ist als oben. Ich lange zu, wie tief ich kann, und fasse sie am Haar. Das war an der einen Seite aufgegangen und floß nach oben, mir in die Hand. Da kam der Körper auch gleich wieder herauf. Es war grausig, Herr Doktor, sein Kind so bei den Haaren zu schleppen; aber was sollte ich thun? Dann hatten wir sie auf dem flachen Strand, und Jochen sprang ins Wasser und trug sie heraus. Dann haben wir sie zusammen nach Haus getragen.«

Der alte Mann nahm aus dem Hut, den er zwischen den Knien hielt, ein rotes Taschentuch, wischte sich über die Stirn, auf der helle Schweißtropfen standen, that das Tuch wieder in den Hut, machte eine Bewegung, als ob er aufstehen wollte, blieb dann aber doch sitzen, in den Hut starrend.

»Herr Doktor –«

»Bitte, lieber Prebrow –«

»Sie hatte ein Kleid an – so eines, wie sie es wohl im Krankenhause tragen. Meine Frau hat es getrocknet und geplättet. Ich habe es mitgebracht und der Frau unten gegeben.«

»Das war nicht nötig; aber ich danke Ihnen.«

»Ich habe auch unten am Hafen Krischan Höfft gesprochen und die anderen. Die sagen: sie hätte ein Tuch umgehabt, als sie ins Wasser fiel. Das hat wohl der Strom mitgenommen. Als wir sie fanden, hatte sie nichts weiter um. Sonst hätte ich es mitgebracht.«

»Sie machen sich wirklich ganz unnötige Sorge. Ich denke an anderes. Das Krankenhaus ist Stine für die großen und vielen Dienste, die sie ihm vom ersten Anfang bis zum letzten Augenblick geleistet hat, zu großem [242] Dank verpflichtet. Es heißt nur einen kleinen Teil dieser Dankesschuld abtragen, wenn das Krankenhaus für das Begräbnis sorgt. Es soll wohl in Thiessow stattfinden?«

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Nein, Herr Doktor, wir haben unseren Begräbnisplatz auf dem Nedur. Zwischen den Nord-West-Dünen. Da liegen schon zehn vom Nedur, und drei, die angetrieben sind, wie meine Stine. Der Herr Pastor von Thissow kommt manchmal dazu herüber, manchmal, wenn Sturm ist, auch nicht; dann spricht Bonsak oder ein anderer ein Gebet. Wir meinen, das ist dem Herrgott ebenso recht. Den Sarg, wenn einer angetrieben ist, giebt die Regierung; und Bonsak meinte, weil ich doch ein armer Mann bin und sie auch angetrieben ist, die Regierung müsse für ihren Sarg aufkommen. Aber das leide ich nicht, Herr Doktor. Den Sarg für mein Kind – den bezahle ich selbst.«

Die Stimme des alten Mannes war fast heftig geworden; die runzligen Hände, die den Hut hielten, zitterten. Arno hielt es für nicht geraten, weiter in ihn zu dringen.

»Sie fahren noch heute zurück, Prebrow?«

»Ja, Herr Doktor, sobald ich den Sarg an Bord habe. Mag sein, er ist schon da, wenn ich hinunterkomme.«

Der Alte war aufgestanden; Arno folgte ihm zögernd. Er hatte noch etwas zu sagen. Es kam ihm nicht leicht an; aber es mußte sein.

»Prebrow, ich bin der erste – der Direktor in dem Krankenhause, für das Ihre Tochter gearbeitet hat und für das sie auch, sozusagen, gestorben ist. Es ist nur[243] in der Ordnung, daß ich ihr im Namen des Krankenhauses die letzte Ehre erweise. So bitte ich denn, mit Ihnen nach dem Nedur fahren zu dürfen. Es soll keinen Aufenthalt verursachen. Ich bin in einer halben Stunde fertig.«

»Nein, Herr Doktor, das kann nicht sein.«

»Warum nicht?«

»Herr Doktor, Sie haben es gut mit Stine gemeint. Das sage ich. Und meine Frau und Bonsak und die anderen sagen es auch. Da ist einer, der sagt es nicht.«

»Jochen Lachmund?«

»Ja, Herr Doktor. Er ist sehr schlecht auf Sie zu sprechen; wenn ich auch sage: ›Jochen, das kannst du gar nicht verantworten!‹ Sehen Sie, Herr Doktor, er hat Stine lieb gehabt und immer gemeint, sie würde ihn doch noch heiraten. Nun, sagt er, wären Sie dazwischen gekommen, und da wäre es aus gewesen.«

»Denken Sie etwa, daß ich mich vor Jochen fürchte?«

»Nein, Herr Doktor, das denke ich nicht. Ich will aber nicht, daß, während Stine noch über der Erde ist, oder hernach an ihrem Grabe Streit entsteht. Wegschicken kann ich Jochen Lachmund nicht; das hat er um Stine nicht verdient, sagt auch Bonsak, als ich ihn heute morgen frage, was er meint: ob ich den Herrn Doktor bitten soll, zum Begräbnis zu kommen. ›Ich kann die Verantwortung nicht übernehmen,‹ sagt Bonsak; ›Jochen kennt sich nicht, wenn er in Wut kommt,‹ sagt er. Sehen Sie, Herr Doktor, Bonsak ist bei uns auf dem Nedur der Oberste – was hier bei Ihnen die Polizei ist. Wir haben es in unserem Lotseneid, daß wir thun müssen, was er uns sagt. Also nicht für ungut, Herr Doktor!«

[244] Er streckte Arno die Hand hin. Arno durchzuckte die Erinnerung an den Augenblick, als er hier auf dieser selben Stelle in dieselbe Hand versprochen, er wolle Stine ein treuer Hüter sein. Wem gereichte es zum Nutzen, wenn er bekannte, daß er seinen Schwur gebrochen?

»Lassen Sie's gut sein, Prebrow!« sagte er, die dargebotene Hand kräftig drückend. »Am Ende ist es besser so. Der arme Mensch thut mir schon leid genug. Er soll um meinetwillen sich nicht noch vollends unglücklich machen.«

Der Alte war fort. Arno starrte auf die Thür, die sich hinter ihm geschlossen.

Sollte er ihn zurückrufen? sollte er – Unsinn! Er hatte nicht einmal das Recht dazu. Sie hatte gewollt, daß es wie ein böser Zufall aussah. Dabei mußte es bleiben, wenn nicht um seinet-, so doch um ihretwillen.

Dann nahm er Hut und Stock und ging auf seine Praxis.


* * *


Die Kunde, daß Stines Leiche auf dem Nedur angetrieben und ihr Vater gekommen sei, den Sarg für sie zu holen, hatte sich, wie alles, was das öde Einerlei des Alltagslebens irgend unterbrach, durch die ganze Stadt verbreitet. Die einen hatten den Sarg von Tischler Meinks Hause durch die Semloer Straße von den beiden Lehrlingen auf einem Handkarren fahren, andere ihn im Hafen selbst auf dem Lotsenboote an der Fährbrücke stehen sehen, bis er mit einem Segel zugedeckt wurde. Wiederholt im Laufe des Tages wurde Arno auf das merkwürdige Ereignis hin angeredet. Ihm, als dem Direktor [245] des Krankenhauses, mußte es doch besonders nahe gehen! Wie schnell bei einem Menschen, der ins Wasser gefallen, der Tod eintrete? Es gebe doch Leute, die zwei Minuten und darüber tauchen könnten! Ob der Tod des Ertrinkens ein schwerer Tod sei? Wie lange eine Leiche im Wasser treiben müsse, bis sie unkenntlich werde? Ob die Fische auch an frische Leichen gingen?

Niemand konnte darüber klagen, daß der Herr Doktor einem Gespräch über diese interessanten Fragen ausgewichen sei. Man fand ihn heute sogar ungewöhnlich entgegenkommend und mitteilsam, wenn er auch mit seinen Sarkasmen und Spitzen nicht sparte. Das war nun einmal seine Art, an die sich gewöhnen mußte, wer ihn zum Arzt haben wollte.

Zum Abend wurde er bei seinen Schwiegereltern erwartet, mußte aber absagen lassen: am Spätnachmittage war er in ein entferntes Dorf gerufen, in welchem mehrere Typhusfälle fast gleichzeitig aufgetreten waren. Er wisse nicht, wann er zurückkomme; es könne spät werden; keinesfalls dürfe man mit dem Abendbrot auf ihn warten.

In der That war es elf Uhr geworden, als der kleine Leiterwagen mit den Strohsäcken, der ihn geholt, wieder vor seinem Hause hielt. Er war nach einem Tage, der ihm keine Minute wirklicher Rast gegönnt, sehr müde und abgespannt. Gegen seine Gewohnheit ging er alsbald zu Bett.

Er schlief beinahe sofort ein; schlief tief und traumlos, er wußte nicht wie lange, als er plötzlich erwachte. Beim Zubettgehen hatte er in der Müdigkeit vergessen, die Vorhänge herabzulassen; der Mond schien hell durch die beiden Fenster, auf die gegenüberliegende Wand, an [246] der ein großer Eichenschrank stand, dessen altersschwarze Farbe das Licht einsaugte. Die Uhr der Johanniskirche schlug die vier Viertel vor. Der Wind mußte vom Hafen kommen; die Töne waren so auffallend klar. Dann eine kurze Pause. Dann langsam – eine Terz tiefer – zwei.

Während der letzte Schlag verhallte, begann auf der Wand, wo der Schrank stand, ein seltsames Flimmern, wie Mondlicht, das über wenig bewegtes Wasser glitzert. Dann sah er unter der glitzernden Oberfläche das tiefere Wasser, oben heller, nach unten zu dunkler. In dem Wasser stand schräg eine weibliche Gestalt, Kopf und Oberkörper in dem helleren, der übrige Körper in dem dunkleren Wasser. Er konnte Stines Züge völlig deutlich erkennen. Die Augen waren nur halb geschlossen. Das einfallende Licht gab ihnen einen Schein von Leben. Wie auch das umfließende Wasser dem Körper, der sich um ein weniges hob und senkte, so daß das lange, an der einen Schläfe losgegangene blonde Haar auf und nieder schwebte wie sehr feines Seegras. Die Gestalt hatte das dunkelblaue Kleid der Krankenhauspflegerinnen an; die Arme waren unter dem Busen gekreuzt, die weißen Hände übereinandergelegt.

So, sich leise hebend und senkend, floß das Bild, wie in einem mäßigen Strom, langsam von links nach rechts und war verschwunden. Ein Weilchen sah er noch das Wasser mit der glitzernden Oberfläche. Dann schwand auch das. Der Schrank war wieder, wie vorher, nur eben in seinen Umrissen sich aus dem Dunkel hebend.

In dem Moment, als das Bild verschwand, hatte Arno Licht gemacht. Er wußte – und hatte sich zufällig [247] heute noch wieder davon überzeugt – daß seine Uhr genau mit der Turmuhr ging. Wenn er von dem Verhallen des letzen Schlages und auf das Lichtmachen eine halbe Minute rechnete, konnte die Erscheinung nicht länger als ein paar Sekunden gewährt haben, trotzdem er die Empfindung hatte, als sei es zehn Minuten gewesen. Er hatte wenigstens ein dutzendmal den Körper langsam sich heben und ebenso wieder sinken sehen. Auch hatte es nach seiner Empfindung, bis der Körper im Wasser sichtbar wurde, wohl eine Minute gedauert, und ebensolange, nachdem er verschwunden war und die glitzernde Oberfläche erlosch.

Selbstverständlich für ihn handelte es sich um eine Hallucination. Es war weitaus nicht die erste in seinem Leben. Noch vor drei Tagen im Krankenhause, als es plötzlich keine Thür mehr war, vor der er stand, sondern eine weite See, an deren fernstem Horizont eben ein Segel untertauchte. Nur eine so ausgeprägte, bis in die kleinsten Einzelheiten klare hatte er noch nicht gehabt. Vermutlich weil die Erfindung bei der Komposition und im Ausmalen des Bildes so gut wie keine Rolle spielte, alles nur Reproduktion gewesen war. Reproduktion der Erzählung des alten Mannes von den Umständen, welche das Auffinden der Leiche begleitet hatten. Das alles hatte sich ihm natürlich, ohne daß er sich dessen bewußt war, tief eingeprägt; die träumende Phantasie das Bild wieder hervorgerufen; er, wachend, noch ein paar Sekunden weiter geträumt und das Traumbild leibhaftig zu sehen geglaubt.

Es ging das Ganze ja psychologisch durchaus mit rechten Dingen zu; an der obligaten Unterstützung des [248] psychischen Vorgangs durch den physischen Zustand fehlte es ebensowenig. Das angelegte Thermometer zeigte achtunddreißig Grad und drei Striche, also leichtes Fieber, dem der harte Puls mit seinen zweiundneunzig Schlägen entsprach.

Immerhin war es ein interessanter Fall, der eine genaue Beobachtung verdiente und die exakte Darstellung in dem Journal für Nervenheilkunde, dessen gelegentlicher Mitarbeiter er war.

So machte er schnell an seinem Schreibtisch, seiner Sache morgen sicher zu sein, ein paar Notizen; nahm die Mitteldosis eines Pulvers, das er gegen ähnliche Zustände verschrieb und immer vorrätig hielt, legte sich wieder zu Bett und war nach einer Viertelstunde, in welcher er im Geist an seinem Aufsatz von gestern abend weiter arbeitete, fest eingeschlafen.


* * *


Arnos Prophezeihung, der Spätsommer werde eine Typhusepidemie bringen, ging in schreckliche Erfüllung. Ein Dorf nach dem anderen wurde infiziert; besonders stark litten die, welche von der Stadt aus am Strom entlang bis zur See lagen. Die Bevölkerung war von Furcht ergriffen, die sich zur Panik steigerte, als das Gerücht sich verbreitete, an zwei Orten sei die Seuche in ihrer grausigsten Form: der des Flecktyphus aufgetreten.

Das Gerücht hatte nicht gelogen; die Gefahr der Ansteckung konnte nicht größer werden.

Zu spät traf man die Maßregeln, auf die Arno schon seit Monaten in den öffentlichen Blättern gedrungen. Die Regierung entfaltete eine fieberhafte Thätigkeit, die [249] jetzt, nachdem das Übel solche Dimensionen angenommen, wenig mehr nützte. Immerhin trugen die getroffenen Maßregeln etwas zur Beruhigung der Gemüter bei. Besonders dankbar wurde anerkannt, daß sie einen Stab von Ärzten nach Uselin und in die am meisten bedrohten Ortschaften schickte, so daß die Leute, wie Kämmerer Vahl, der bekannte Spottvogel der Stadt, sich ausdrückte, wenigstens nach den Regeln der Wissenschaft sterben könnten.

Arno für seinen Teil hatte das Publikum längst an eine Leistungsfähigkeit gewöhnt, die das gewöhnliche Maß weit überstieg. Jetzt schien er sie noch verdoppelt und verdreifacht zu haben. Seitdem seine Berufung nach Berlin bekannt geworden, galt er nicht nur den jüngeren, sondern auch den älteren Kollegen als unbedingte Autorität. Wie hätte es auch anders sein können, da die anerkannt höchste des Faches, die vom Ministerium zum Studium der Zustände nach Uselin entsandt war, ihm mit der Achtung begegnete, die man seinesgleichen gewährt, und nur immer wieder darauf drang, Doktor Arnos Anordnungen als Gesetz zu betrachten und zu befolgen.

Jedermann, der sehen konnte, sah, was der hagere Mann mit den scharfgeschnittenen Zügen des blassen Gesichtes und den düsteren Augen unter der gedankenschweren Stirn seit Wochen Tag für Tag leistete; niemand ahnte und konnte ahnen, was er seit Wochen Nacht für Nacht litt. Nacht für Nacht um dieselbe Stunde, Minute und Sekunde erschien das Grauenbild immer in genau derselben Folge und Zusammenstellung: erst flimmerndes Wasser, dann der Körper in seiner schrägen Stellung mit unter dem Busen gekreuzten Armen, halbgeschlossenen [250] Augen, fließendem langen, blonden Haar, leise sich hebend und senkend, langsam vorübergleitend; dann wieder nur flimmerndes Wasser, verblassend, verschwindend. Er hatte jetzt festgestellt, daß die wirkliche Dauer der Erscheinung nur drei Sekunden währte, ohne daß der Eindruck, als habe sie zehn Minuten in Anspruch genommen, sich änderte. Und hatte die Thatsache erhärten können, da die Erscheinung ihn jetzt nicht mehr aus dem Schlaf zu wecken brauchte, sondern eintrat, während er völlig wach, aller seiner Sinne scheinbar durchaus mächtig war. Der Unterschied war nur der, daß die hellbrennende Lampe auf seinem Arbeitstisch, die Lichter, die er außerdem entzündet hatte, bis auf einen Rest von Leuchtkraft, der ungefähr einem matten Mondschein gleichkam, erloschen, so lange die Hallucination währte. Er hatte die verschiedensten Experimente mit ihr angestellt: sie im Freien erwartet, in der Gesellschaft, am Krankenbette – er konnte ihr nirgends entrinnen. Nicht einmal im Schreiben oder Sprechen unterbrach sie ihn: die Feder lief mechanisch weiter; die Zunge versagte nicht ihren Dienst. Er hatte die, welche zufällig zugegen waren, wenn der Anfall kam, sorgsam ausgeforscht, ob sie irgend eine Veränderung an ihm bemerkt hätten? Niemand hatte etwas bemerkt; niemand wollte es verstehen, wenn er versicherte, er habe eben die Empfindung gehabt, als sei er – wenn auch nur momentan – völlig bewußtlos gewesen.

»Sie sind schwer überarbeitet, Kollege,« sagte Doktor Radloff. »Sie sollten wirklich auf ein paar Tage ausspannen. Jedenfalls müssen Sie Schlaf haben. Ich möchte doch dringend gelinde Dosen Morphium, oder, [251] wenn Sie das nicht vertragen, eines unserer anderen Schlafmittel empfehlen.«

Arno hatte längst schon Schlafmittel in starken und stärksten Dosen genommen. Sie hatten seinen Zustand eher verschlimmert: aus dem tiefsten künstlichen Schlaf aufgeschreckt, hatte er sie langsam im flimmernden Wasser an sich vorübergleiten sehen; nur daß der Vorgang dann länger zu währen schien, als sonst.

Er wußte: dies führte auf den Weg, von dem Lora Siebold schon nicht mehr zurück konnte, und der in Wahnsinn enden mußte.

Er hatte Lora, gleich in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft, als er nur als Arzt in das Haus kam, gegen eine akute Neuralgie, an der sie litt, wiederholt Morphium-Injektionen gemacht. Aus dem akuten Übel drohte ein chronisches zu werden; von Stunde an hatte er kein Morphium mehr verordnet: sie sollte sich nicht an das fürchterliche Mittel gewöhnen. Es war bereits zu spät gewesen: sie konnte nicht mehr davon lassen; er, der inzwischen unbedingte Gewalt über die Geliebte erlangt hatte, in diesem Punkt hatte er keine. In den Künsten, die sie spielen ließ, sich in Besitz des Giftes zu setzen, war sie unerschöpflich. Es ging das Gerücht, daß sie hier vor den niedrigsten nicht zurückschrecke, und als der von Arno eingeschüchterte Gatte seine Helfershelferdienste trotz ihrer Bitten versagte, die Provisoren, die Gehilfen an die Reihe gekommen seien, und keiner sich gefunden habe, der auf die Dauer ihrem Sirenenlocken widerstehen konnte. Darüber hatte es zwischen ihr und Arno fürchterliche Scenen gegeben, bei denen sie heißeste Thränen vergoß und sich hoch und heilig verschwor, von ihrem Laster [252] zu lassen, sobald er sie davon überzeugt haben werde, daß er sie wirklich liebe.

Es war das sicher keine bloße Phrase gewesen; der beständige Zweifel an seiner Liebe hatte schlimmere Wirkungen gehabt als die neuralgischen Schmerzen.

Und jetzt hatte sich Herr Siebold auf Andrängen seines neuen Hausarztes Doktor Hannemann entschließen müssen, sie in eine Anstalt für unheilbare Nervenkranke zu schicken. Eine Irrenanstalt wäre der zutreffende Ausdruck gewesen. Doktor Hannemann selbst hatte seine Patientin dahin eskortiert.

Arno erfuhr es noch an demselben Tage aus dem Munde des Gatten, den er in einer Weinstube am Hafenplatz traf, in welcher er ein schnelles Frühstück einzunehmen pflegte.

Herr Siebold, der hinter einer bereits halbgeleerten Flasche Sekt saß, war bei seinem Eintreten ein wenig verlegen.

»Was wollen Sie, lieber Doktor,« sagte er, nachdem er Arno fast mit Gewalt an seinen Tisch gezogen und ihm ein Glas aufgenötigt hatte, »man muß doch schließlich den Kopf oben behalten, wenn einem auch das Liebste auf der Welt geraubt ist. Sie haben ja immer gesagt, daß es noch einmal so kommen werde. Ich konnte es nicht glauben. Eine so kluge, so gute Frau! Gott ja, sie hatte gelegentlich ihre kleinen Schrullen – welche Frau hat die nicht! Zum Exempel, als das kleine Lotsenmädchen, die Stine Prebrow, bei uns war! Und selbst da wäre alles gut gegangen, wenn nicht die Malwine – na, ich sehe: es ist ein wunder Punkt, den ich da berühre. Das arme Kind! Und Sie hatten es doch so gut [253] mit ihr gemeint! Nun jetzt meine unglückliche Lora! Sie kommt nicht wieder, sagt Doktor Hannemann. Niemals wieder! Niemals!«

Und der kleine Mann nahm die goldene Brille ab, deren große Gläser er mit dem gelben Foulard wischte, wie Arno meinte, um sich die Illusion zu geben, daß seine Augen bei den letzten Worten feucht geworden seien.

Die kurze Unterredung hatte auf Arno den widerwärtigsten Eindruck gemacht. Ihm war, als hätte er unversehens auf eine Kröte getreten. Und war er denn nicht schuld an Loras Unglück in erster Linie? Wie er es in erster und letzter an Stines Tode war? Würde vielleicht jetzt auch noch Lora kommen, ihm die Nächte zu zerstören, wie die andere? Und war da nicht noch eine dritte, die von ihm erwartete, was die Leute Glück nennen, und die sich darauf gefaßt machen mochte, daß er ihr das Gegenteil davon schaffen werde? War es nicht seine Pflicht, sie wenigstens zu warnen?

Pflicht? Pah! Mochte jeder für sich selber sorgen! Sie hatte es ja dazu, kühl und klug, wie sie war. Mit der kühlen, klugen Mutter!

Ihm half keiner. Er konnte keinem sagen, daß er auf dem Punkte stehe, wahnsinnig zu werden; ja, es bereits war.

Da galt es aufzupassen, Achtung zu geben, keinem einen Blick in sein Geheimnis zu verstatten!

Den Zeitpunkt vorauszusehen, wo er keine Gewalt mehr darüber hatte; es ihm entschlüpfen würde!

Und im Augenblick vorher das Gift zu nehmen, das er für den Fall bereit hielt!


* * *


[254] »Wird Arno heute abend kommen?«

»Wie kann ich das wissen, Mama, da er selbst es niemals wissen kann?«

Die beiden Damen saßen, jede mit einer Handarbeit, in der tiefen Fensternische mit dem Blick auf den stillen Hafenplatz, über den der Abendschatten der Nikolaikirche fiel.

»Es ist ein furchtbares Leben, das er führt,« begann Frau Moorbeck nach einer Pause von neuem. »Ich darf sagen, ich bewundere deine Ruhe und Geduld.«

»Sehr gütig,« Mama, erwiderte Alexe, eine Flocke Seide aus dem Körbchen nehmend; »aber ich weiß wirklich nicht, was da zu bewundern ist. Mit Unruhe und Ungeduld käme ich auch nicht weiter. Überdies, ich wußte doch, daß er Arzt war; und daß der eigentlich niemals Herr seiner Zeit ist, wie andere Leute. Nun kommt diese entsetzliche Epidemie. Gewiß, es ist fatal; sehr! Aber sie giebt ihm Gelegenheit zu beweisen, daß er der erste in seinem Fach ist. Woran ich nebenbei nie gezweifelt habe.«

»Ebensowenig wie ich. Aber –«

»Was aber, Mama?«

Frau Moorbeck machte ein paar Stiche, von denen sie wußte, daß sie sie werde wieder auftrennen müssen. Nun legte sie die Arbeit entschlossen in den Korb und sagte:

»Kind, ich möchte ein ernstes Wort mit dir sprechen.«

»Bitte, Mama!«

»Es betrifft dein Verhältnis zu Arno.«

»Mein Verhältnis zu Arno? Aber das kann nicht besser sein.«

[255] »Ich weiß nicht. Mir will es nicht nach jeder Seite gefallen. Du wirst mir nicht bös, wenn ich meine Meinung einmal ganz offen sage?«

»Wozu Mama, da ich sie ohnedies kenne? Wir sind dir nicht zärtlich genug. Hab ich's getroffen?«

»Doch nicht so ganz. Ich fürchte, ich selbst bin keine sehr zärtliche Braut gewesen.«

»Also was ist es?«

»Es ist so schwer zu sagen, Kind. Meine Liebe zu deinem Vater war auch nicht leidenschaftlich – ich glaube, das liegt nun einmal nicht in meiner Natur – aber ich empfand für ihn doch eine ehrliche, herzliche Neigung; sagte mir: ihr werdet euch vielleicht nicht immer verstehen, aber du darfst ihm zu jeder Zeit unbedingt vertrauen.«

»Ich vertraue Arno. Unbedingt.«

»Es ist so schwer gegenüber einem Manne, der so völlig unberechenbar ist.«

»Nichtsdestoweniger. Ich habe noch heute einen eklatanten Beweis davon geliefert.«

»Welchen?«

»Den, daß ich Malwine Knall und Fall wegschickte.«

»Weil sie impertinent gewesen war.«

»Ich habe es so genannt, weil ich ihm keinen anderen Namen geben durfte.«

»Das sind mir Rätsel, Kind.«

»Die ich dir leider nicht lösen kann.«

»Du möchtest, daß wir von diesem Thema abbrechen?«

»Offen gestanden: ja, Mama.«

Frau Moorbeck selbst war es nicht unlieb, den Rückzug antreten zu dürfen. Sie hatte es doch mißlicher gefunden, als sie gedacht, der energischen Tochter zu [256] sagen, mit wie schweren Sorgen für ihre Zukunft sie sich trage; wie ihre Hoffnung, das Verhältnis der Verlobten zu einander werde sich mit der Zeit inniger, herzlicher, erquicklicher und erfreulicher gestalten, so gar nicht in Erfüllung gegangen sei; wie sie auf dem Punkte stehe, an der Erfüllung dieser Hoffnung für alle Zukunft zu verzweifeln. Und nun hatte sie, ohne es zu wollen, an ein Allerbedenklichstes gerührt. Alexe wollte, oder, wie sie sagte: durfte den wahren Grund nicht nennen, weshalb sie das Mädchen heute vormittag entlassen und darauf bestanden hatte, daß sie das Haus sofort verließ. Was konnte das anderes heißen als: die Person hatte in der Absicht, sich damit bei Alexe einen Dank zu verdienen, oder sich wichtig zu machen, oder aus schierer Bosheit, oder aus welchem Motiv immer das frühere Verhältnis Arnos zu Frau Siebold zur Sprache gebracht und dadurch Alexes Ungnade auf sich gezogen. Sie selbst hatte in dem Verhältnis, mochten die Leute sagen, was sie wollten, niemals etwas anderes gesehen, als eine zu weit getriebene Flirtation, die ihr selbst vielleicht nur deshalb so widerwärtig gewesen war, weil sie ihr Arnos unwürdig schien. Sollte das Mädchen mehr gesagt haben, weil es mehr wußte? Dinge genannt haben, die Alexes Ohren niemals hätten hören dürfen? Und Alexe hatte sich dadurch nicht irre machen lassen! Vertraute nach wie vor Arno unbedingt!

Da war es denn freilich besser, wenn auch sie schwieg, ihre mütterlichen Zweifelssorgen in das Herz zurückdrängte, die beiden ihren Weg allein gehen ließ.

Ungewöhnliche Menschen gehen nicht die ausgetretenen Straßen. Was sie auch an Arno auszusetzen hatte – [257] daß er ein ungewöhnlicher Mensch sei, hatte sie nie bestritten, nie bezweifelt.

Und Alexe selbst war kein gewöhnliches Mädchen. Darüber hatte sie das intime Zusammenleben der letzten Monate hinreichend belehrt.

Frau Moorbeck hing schweigend diesen Gedanken nach. Auch Alexe war verstummt. Der Hafenplatz lag bereits völlig im Schatten; nur um die Giebel der Häuser drüben spielte noch ein letztes Abendrot.

»Da kommt Arno,« sagte Alexe, die jetzt die Arbeit beiseite gelegt und das Schwinden des Tageslichtes draußen beobachtet hatte.

»So will ich mich eklipsieren,« sagte Frau Moorbeck, aufstehend und ein Bund Schlüssel aus dem Korb nehmend. »Es ist dir doch recht?«

»Wie du willst, Mama.«

»Ihr habt euch seit vier Tagen kaum gesprochen. Natürlich bleibt er zu Abend, wenn er Zeit hat.«

»Selbstverständlich, Mama.«


* * *


Alexe war dem Eintretenden ein paar Schritte entgegengegangen, ihm die Hand reichend, die er an seine Lippen zog. Es war kein feuriger Kuß. Alexe mußte unwillkürlich lächeln.

Sie hatten sich in die Fensternische gesetzt, Arno in den Schaukelstuhl, von dem Frau Moorbeck eben aufgestanden war.

»Wo ist die Mama?« fragte er.

»Sie war noch diesen Augenblick hier,« erwiderte Alexe; »und ging, als sie Sie kommen sah.«

[258] »Warum?«

»Sie meinte, wir hätten uns seit vier Tagen kaum gesprochen.«

»Es ist nicht meine Schuld.«

»Das hat sie nicht gesagt, auch gewiß nicht gemeint.«

»Aber Sie meinen es?«

»Weil ich weiß, daß Sie vom Morgen bis zum Abend und gewiß noch oft die halben Nächte – die ganzen Nächte vielleicht – in Ihrem Beruf thätig sind?«

»Frauen ziehen nicht immer aus den Thatsachen die nötigen Schlüsse.«

»Wenn ich nun aus der Thatsache, daß Sie auch heute, wo wir uns endlich einmal im ungestörtenTête-à-tête gegenübersitzen, kein freundliches Wort, keinen freundlichen Blick für mich haben, schlösse: er liebt dich nicht! wäre das nötig und richtig?«

»Wir müßten uns zuerst wohl darüber klar werden, was wir unter Liebe verstehen.«

»Was ich darunter verstehe, glaube ich völlig klar machen zu können, wenn ich Ihnen erzähle, was mir heute begegnet ist.«

»Dann bitte, erzählen Sie!«

»Malwine – Sie kennen sie – als sie mir heute vormittag bei der Toilette half, sagte plötzlich: sie könne es nicht länger mit ansehen, müsse endlich sprechen, mir endlich die Augen zu öffnen. Und dann, ehe ich es verhindern konnte, kam eine lange Anklage gegen Sie. Ich wiederhole: es war mir nicht möglich, es zu verhindern, oder auch nur das Mädchen zum Schweigen zu bringen. Sie gebärdete sich wie eine Rasende. Als ich sie endlich zur zur Thür meines Zimmers hinaus hatte, habe ich dafür [259] gesorgt, daß sie eine halbe Stunde später auch aus dem Hause war.«

»Natürlich haben Sie ihr kein Wort geglaubt?«

»Ich habe ihr jedes Wort geglaubt.«

»Und trotzdem?«

»Eben deswegen. Ihr gegenüber durfte ich es nicht zu glauben scheinen.«

»So wird sie jetzt hingehen und es aller Welt erzählen.«

»So werde ich aller Welt gegenüber es ebenso machen: es nicht zu glauben scheinen.«

»Darf man wissen, was sie denn nun von mir erzählt hat?«

»Ich bin bereit, es zu wiederholen. Nur müssen Sie erlauben, daß ich es in meinen Worten thue, nicht in denen des Mädchens, die für meinen Geschmack manchmal etwas zu – wie soll ich sagen?«

»Drastisch?«

»Nennen wir es so.«

»Also bitte das Was des Mädchens mit einem Wie nach Ihrem Belieben!«

»Sie haben ein Liebesverhältnis mit Frau Siebold gehabt.«

»Das weiß so ziemlich die ganze Stadt.«

»Verstehen Sie: keine Flirtation, wie die gute Mama annimmt, sondern ein Liebesverhältnis, dessen nähere Definition Sie mir erlassen werden.«

»Das ist die Meinung so ziemlich der halben Stadt.«

»Der Sie nicht widersprechen?«

»Da ich zu lügen nicht gewohnt bin: nein.«

»Sie sollen auch andere Frauen und Mädchen zu Geliebten gehabt haben?«

[260] »Für diese Fälle würde Flirtation doch das richtige Wort sein.«

»Passons là-dessus! Ich lege kein Gewicht darauf. Größere Bedeutung hat in meinen Augen Ihr Verhältnis zu Stine Prebrow.«

»Stine Prebrow ist tot. Ich denke, wir lassen die Toten ruhen.«

»So bin ich mit meiner Relation zu Ende.«

»Ich sollte aus ihr Ihre Auffassung der Liebe folgern können.«

»Können Sie das nicht?«

»Jedenfalls würde ich es vorziehen, wenn Sie selbst die Folgerung formulieren wollten.«

»Ich will es versuchen. Meine Ansicht ist, daß eine Frau, die einen Mann liebt, nicht nach seiner Vergangenheit fragen darf. Und wenn sie, ohne ihr Fragen und Zuthun, Kenntnis davon erhält – wie in meinem Falle – sie einen Strich dadurch machen, vor allem gegenüber der Welt die Ungläubige – wenn Sie wollen: Dumme spielen muß.«

»Das ist sehr liberal gedacht.«

»Mag sein. Ich vermute: auch sehr unweiblich, unmädchenhaft. Aber nach der Schablone zu denken und zu fühlen, ist mir nie gegeben gewesen; ich möchte sagen: schon von Kindesbeinen an. Und ich habe immer gemeint, wenn Sie sich für mich interessieren, ist es nur aus diesem Grunde. Es bleibt hier für mich eine Frage, die Sie allein beantworten können.«

»Welche?«

»Ob dies Interesse jetzt, nachdem Sie mich näher kennen gelernt haben, noch immer so weit geht, daß Sie [261] mich zur Frau haben wollen? Einen Augenblick! Ich schäme mich nicht zu gestehen: es würde mich sehr schmerzen, wenn Sie nein sagen müßten. Aber ich glaube, Sie sind mir eine offene Antwort schuldig.«

»Sie sind ein edles Mädchen, Alexe; und verdienten eine bessere Liebe, als ich Ihnen geben kann.«

»Das ist keine offene Antwort.«

»Ich habe keine andere. Legen Sie sie aus, wie Sie wollen; ich meine: wie Ihnen recht dünkt. Ihre Auslegung soll die meine sein.«

»Sie sagen: eine bessere Liebe. Was heißt das? Liebe ist doch eine Frage von Fall zu Fall. Was dem einen als die bessere Liebe erscheint, ist dem anderen die schlechtere. Wenn mir nun Ihre Liebe – ich meine: was Sie unter Liebe verstehen, Sie an Liebe fühlen können – so bescheiden und nüchtern es auch in anderer Mädchen Augen sein mag – mehr, tausendmal mehr wert und die bessere und die beste Liebe ist, und ich keine andere wünsche, nach keiner anderen nur das mindeste Verlangen trage – Arno, geliebter Mensch, bist du noch immer nicht zufrieden? Soll ich mich dir etwa noch an den Hals werfen?«

Sie hatte sich ihm, der sich ebenfalls erhoben, in die Arme gestürzt eben als Frau Moorbeck wieder in das Zimmer trat. Natürlich hatte sie nichts gesehen; aber durch ihre schöne, tiefe Stimme zitterte ein freudiger Ton, als sie nun Arno Willkommen bot und hoffte, er werde zum Abend bleiben können.

Arno blieb. Es war der erfreulichste Abend, den seit der Verlobung Arnos und Alexes das schwiegerelterliche Haus gesehen. Arno war mitteilsamer als je und kein [262] Sarkasmus kam über seine Lippen. Die Familie hörte zu ihrem Erstaunen, daß sein nach Karlsruhe gesandtes Drama bereits vor vier Tagen aufgeführt sei und Eduard Devrient ihm einen vollständigen Erfolg gemeldet habe. Er würde gern hingereist sein, sich den Scherz anzusehen; aber wo hätte er jetzt die Zeit dazu hernehmen sollen? Wenn er nicht urbi et orbi seinen dramatischen Erstlingerfolg verkündet – du lieber Himmel! er lege so gar kein Gewicht darauf! Die richtige Schülerarbeit! Nichts weiter als im besten Falle ein ballon d'essai; ein stepping stone, der möglicherweise einmal seinem Faustulus zu gute kommen werde, wenn das Stück jemals fertig würde, was er bezweifele aus denselben Gründen, welche die Quadratur des Zirkels noch immer verhindert hätten.

Wenn Arno so plauderte, hörte Alexe, manchmal ein geistreiches Wort einfließen lassend, mit strahlenden Augen zu, und ihre Mutter sonnte sich in diesem Lächeln. So waren doch ihre Befürchtungen umsonst gewesen. So sollte sich doch ihre alte Maxime aufs schönste bewahrheiten, daß die schlimmste Trennung die der Gedanken ist, und gegen ihre Einigung alle sonstigen Mängel eines Liebesverhältnisses nicht aufkommen. Auch der Kommerzienrat und Richard waren glücklich, als sie sich die beiden zum erstenmale mit dem traulichen Du anreden hörten anstatt des Sie, das jener ungehörig, dieser beleidigend gefunden hatte.

Freilich, als Arno aufbrach, kam es wieder nicht zu dem herzhaften Kuß, auf den sich Richard gefreut hatte; aber da Alexe ihm einen versprach, wenn er den Mund halten wollte, gab er sich zufrieden, und erklärte, nachdem [263] er seinen Tribut eingefordert, Arno trotz all seiner Geistreichigkeit für einen riesig dummen Kerl.


* * *


Arno nannte sich schlimmere Namen, während er ziellos durch die stillen nächtlichen Straßen rannte. Seit Tagen trug er sich mit dem Entschluß, sein Verhältnis zu Alexe zu lösen, es sei nun, wie es sei. Und jetzt, als sie ihm die Gelegenheit dazu entgegentrug, er nur zuzugreifen brauchte, hatte er es nicht gethan, sich fester als je zuvor verstricken lassen, ein unentschlossener, elender Feigling, der er war. Was hatte ihn nur so weichmütig stimmen können? Offenbar die Bewunderung ihrer Großherzigkeit; ihrer edlen, eigenartigen Liebe. Aber je aufrichtiger er sie bewundern mußte, um so zwingender war doch seine Verpflichtung, das seltene Geschöpf nicht einem Wahnsinnigen auszuliefern. Konnte er denn noch an seinem Wahnsinn zweifeln? Würde er nicht einen Kranken, von dem er gewußt hätte, was er von sich wußte, für einen heillosen Monomanen erklärt haben? Wollte er, während er seine junge Frau in den Armen hielt, das Bild der anderen an seinem verstörten Geist vorüberziehen lassen?

Und das war ja noch nicht das wahrhaft Fürchterliche. Sie, die so vieles verstand, würde auch das zur Not verstanden haben, hätte er den Mut gefunden, es ihr zu beichten. Einen Menschen in ihm gesehen haben, bei dem eine schwere Wunde nicht völlig ausgeheilt ist, vielleicht nie völlig ausheilen kann. Und Geduld und Mitleid mit ihm gehabt haben, wie sie gute Menschen einem solchen Unglücklichen gern gewähren.

[264] Was er ihr außerdem hätte beichten müssen, darüber könnte sie, könnte keine wegkommen. Man verzeiht nur, was man begreift; was man nicht begreift und was auch unbegreiflich ist, verzeiht man nicht.

Unbegreiflich für jeden anderen! Hatte er selbst doch Wochen gebraucht, bis es ihm allmählich klar wurde. Von einem eigentlichen Grausen, oder gar Entsetzen war auch das erste Mal, daß ihm die Erscheinung kam, keine Rede gewesen; aber er hatte den folgenden Malen ihr Eintreten doch mit einer gewissen nervösen Spannung entgegengesehen, und, war sie vorüber, sich gesagt: jetzt hast du wieder für vierundzwanzig Stunden Ruhe.

Dann war eine Zeit angebrochen, wo freilich die Spannung blieb, aber einen anderen Charakter annahm: den der Erwartung, in der er sich sagte: sie wird doch heute kommen, wie die anderen Nächte!

Und dann war aus der Erwartung Sehnsucht geworden, welche die Stunden und Minuten zählte bis zu dem Augenblick, der ihm die Geliebte wiederbrachte, wenn auch nur in einem Bild, das ihm seine Phantasie vorgaukelte.

Ja, die Geliebte! Er hatte nicht gewußt und nicht geahnt, was Liebe sei. Ein Sinnenrausch war sie ihm gewesen, nicht mehr. Und hatte der Thoren gelacht, die in der Wolke, die aus ihrem erhitzten Gehirn aufstieg, die Göttin zu umarmen wähnten. Hier hatten die Sinne ihre brutale Macht verloren. Welchen Reiz und Zauber hätte für sie der Schemen eines ertrunkenen Kindes gehabt, der, ein wenig sich hebend und senkend, die verglasten Augen halb geschlossen, die Arme keusch unter dem Busen verschränkt, in einem Schein-Wasser, durch das Schein-Licht flimmert, langsam vorübergleitet?

[265] Nein, nein, hier sprachen die Sinne nicht mit. Sie sprach und sie allein, die geschwiegen hatte, als nur die Sinne sprachen: die von so viel Unschuld, so viel Holdseligkeit, so viel gläubiger, duldender Liebe bis in ihre tiefsten Tiefen erschütterte und gerührte Seele. Jetzt sollte er wahnsinnig sein? Er war's gewesen, als er die unschätzbare Perle, die er in Händen hielt, nicht erkannte; sie in den Schmutz des Weges warf wie wertloses Glas! Taub und blind war er gewesen; ein blödes Tier! Mit schnödem Gelächter hineinzugellen in die süßeste Melodie, die je aus einer Menschenseele erklungen! Mit viehischer Faust das köstlichste Gebilde zu packen, das je der Natur gelungen, und es da hinabzuschleudern zu den schnappenden Fischen! Warum selbst nicht auch da hinab? Warum diese zermalmende Last der Reuequal weiter schleppen durch das öde Leben? Feigheit? Nein, beim Himmel! Nur so ein bißchen Abgefärbtes von der Noblesse, die in ihrer Seele wohnte! Und nicht wollte, daß man ihren Tod auf die Rechnung ihres Schlächters schrieb!

Wie man von ihm nicht sollte sagen dürfen: er ist vor der Heirat mit Alexe Moorbeck in den Tod geflohen. Das war er der jungen Dame schuldig. Ihr und ihrer schönen, edlen Mutter, die ihm mit schwesterlicher Güte von Anfang an entgegengekommen war, seine Schroffheiten und Wunderlichkeiten freundlich getragen, zuletzt dem armen Teufel die Hand der reichen Tochter nicht vorenthalten mochte, der die Wahl zwischen den vornehmsten und reichsten Männern frei stand.

Er mußte einen Tod finden, der nicht von ihm gewollt schien. Wenn er es auch nicht so klug und fein[266] anzustellen wußte, wie die Einzige, Unvergleichliche – etwas derart mußte es sein.

Ohne zu wissen, wie er dahin gekommen, war er an den Hafen geraten. Die Nacht war sehr dunkel; auf dem breiten Bollwerk in weiten Abständen brannten ein paar trübe Laternen; dann und wann trat ein Stern hell und groß aus den schwarzen Wolken und blinkte für wenige Momente in dem schwarzen Wasser des Flusses, dessen Wellen nur manchmal an den Dallen und den Wänden des Quai leise plätscherten. Der Augenblick, da die Erscheinung eintreten mußte, war nahe. Er wollte sie heute hier erwarten.

Dann, als der geliebte Schemen an ihm vorübergeglitten war, erhob er sich von dem Schiffsbauholz, auf dem er, die Hände gegen die Augen drückend, gesessen hatte. Und geweint hatte, daß ihm die Thränen durch die Finger gerieselt waren. Geweint vor Liebe und Sehnsucht, wie ein krankes Kind; er, der sich nicht erinnerte, je in seinem Leben geweint zu haben.

Über den Hafenplatz mochte er den Heimweg nicht nehmen. In einer der engen Gassen, die er nun zu passieren hatte, kam er an einer Matrosenkneipe vorbei, in der es noch lärmend zuging. Die Fenster des Tanzraumes zu ebener Erde standen weit auf. In einem der Fenster streifte sein Blick zwei Gestalten, die in eifriger Unterredung begriffen schienen. Oder es redete die weibliche Person eifrig auf den Mann ein, der mit gesenktem Kopf aufmerksam zuzuhören schien. In das Gesicht der Frau fiel hell der Schein der Laterne vor der Hausthür. Es war zweifellos Malwine. Und der Stiernacken des Mannes, dessen Gesicht in das tabakraucherfüllte [267] Zimmer gerichtet war, konnte nur Jochen Lachmund gehören.

Wenn er in die Spelunke trat und einen Streit mit dem Burschen begann? Das Messer saß ihm gewiß lose genug –

Dann aber würden sie sagen: Was in der Welt hatte Doktor Arno in der Spelunke zu suchen, wenn nicht den Tod!


* * *


»Übermorgen, lieber Fritz, ist mein Hochzeitstag; morgen, nach Landesbrauch, der Polterabend. Ich stehe also hart am Rande eines Lebensabschnittes – an seinem Grabe, sozusagen. Da fühlt man sich verpflichtet, noch schnell sein Testament zu machen, war man leichtsinnig genug gewesen, es bis dahin zu verabsäumen. In wessen Hände sollte ich es wohl legen, wenn nicht in Deine, Du mein einziger Freund!

Ja, Fritz, das bist Du. Ich habe nie einen anderen gehabt; nie einen anderen haben wollen. Du bist es seit der Zwischenviertelstunde in der Tertia, als Du den armen, scheuen, gehänselten Jungen so wacker aus der Schar der ihn umgrinsenden Peiniger heraushiebst. Da fiel in mein hartes Herz ein warmer Strahl der Dankbarkeit, und die Blume der Freundschaft ging auf.

Die freilich längst verblüht und verdorrt wäre, hätte sie nur mich rauhen Menschen zum Hüter gehabt; hättest Du sie nicht mit zarter Sorge gehegt und gepflegt; mit nimmermüder Geduld aus dem Schatten meiner Herzenskälte in den Sonnenschein Deiner liebevollen Seele gerückt.

So sind wir Freunde geblieben und haben das Wort des alten Sallust auf den Kopf gestellt. Wann hätten[268] wir je dasselbe gewollt, oder nicht gewollt? Unsere Studien haben sich von jeher kaum berührt, und wo sie es thaten, flohen unsere Ansichten auseinander. Unsere Philosophie, unsere Weltanschauung – sie könnten nicht weniger Gemeinsames haben, wenn wir Bewohner der eine der Erde, der andere des Sirius wäre. Unsere Charaktere scheiden sich wie Öl und Wasser. Du bestrebst Dich, ein guter Mensch zu sein, und bist es. Ich frage, die Achseln zuckend: was ist gut? was ist schlecht? Du würdest den Selbstmord unter allen Umständen als eine schlechte, unmoralische Handlung verdammen. Ich sage: wem das Leben nicht mehr lebenswert erscheint, der hat das Recht gegen die andern und die Pflicht gegen sich selbst, es von sich zu werfen. Deshalb dünkt mich Goethes Faust so verächtlich, der sein Leben tausendfach verflucht und den ›die Erde wieder hat‹, als ihm ein Osterchoral Thränen in die rührseligen Augen lockt. Dieselbe Erde, deren Geist ihn noch eben einen furchtsam weggekrümmten Wurm nannte! Das heiß ich mir einen Kerl, der etwas auf sich hält und Courage im Leibe hat! Goethe verwechselt eben sich selbst konsequent mit seinem Helden. Weil er sich voll bewußt war, ein großer, vielleicht der größte aller Dichter zu werden, durfte er sich nicht den Dolch, den er auf dem Nachttisch liegen hatte, ins Herz stoßen; Faust mußte den braunen Saft trinken, weil er sich hätte bewußt sein sollen, daß er mit all seinem Streben und Bemühen nichts ist und nichts leistet und in alle Ewigkeit leisten wird, als Narrenspossen an dem Hofe eines Schattenkaisers treiben; eine klassische Walpurgisnacht mit der obligaten Helena träumen; unter Beihilfe der drei Gewaltigen (für sich selbst kann der Mensch ja [269] nichts) problematische Landes-Amoliorationsversuche machen, und zwischendurch schöne Reden halten, die – ihm der Dichter einbläst.

Doch weshalb mich wieder und wieder über diesen Schönredner ereifern, der keinen Augenblick auf eigenen Füßen zu stehen vermag, und in dem der Deutsche folgerecht sein idealisiertes Konterfei sieht!

Brotneid? Wie?

Zum Teufel, Herr, nein! Ich habe nie bezweifelt, daß ich, als Dichter, neben Goethe ein Lump bin; aber ebensowenig, daß ich besser weiß, als er je gewußt hat, wie es in einer heroischen Seele aussieht und was einem Helden zukommt.

Daß ihm zukommt, die Glut und Gewalt seiner Seele in große Thaten auszuströmen; die Fähigkeiten und Kräfte von Tausenden und Millionen in seinen Dienst zu stellen; auf den Herzen und Seelen von Tausenden und Millionen zu spielen, wie auf einer Riesenorgel, deren brausende Akkorde nichts sind als das Echo des Triumphgesanges, der in der eigenen Seele erschallt.

Alles, wie in meinem Faustulus.

Oder aber bei Zeiten einzusehen, daß man sich zu hoch vermessen hat; nicht fieberfest ist, trotzdem man seit Wochen mit der fürchterlichsten Form des Typhus unbeschadet im Kampf liegt, absichtlich selbst die notwendigsten Vorsichtsmaßregeln ungestraft vernachlässigt; im Gegenteil von einem Liebesfieber sich befallen weiß, das einem die gesunden Sinne raubt, den Geist verwirrt; Nacht für Nacht zu derselben Stunde, Minute und Sekunde Gesichte zeigt – Gesichte, vor denen anderen das Blut gerinnen und das Haar bleichen würde – und die ihm [270] lieblich und köstlich dünken über alles menschliche Sagen hinaus – und daß man auf dem Punkte steht, wahnsinnig zu werden; auch seinerseits nichts dagegen hätte, nur Leuten, vor denen man notgedrungen einigen Respekt empfindet, das Schauspiel nicht geben will, und darum still aus der Welt geht.

Alles, wie –

Aber bleiben wir bei meinem Faustulus!

Ich habe Dir das Manuskript geschickt, bei dessen Lektüre Du sicher nun schon so oft den Kopf verzweifelt geschüttelt hast. ›Zu Nero und Busiris wirfst du seinen Namen‹, und in gewisser Beziehung hast Du recht. Nur daß das feige Menschengesindel sich seine Nero und Busiris selber züchtet. Die letzten Scenen versprach ich nachzuliefern: hier sind sie. Nicht ganz so, wie ich gewünscht hätte. Aber es stürmte in diesen letzten Wochen etwas viel auf mich ein; und mein Kopf war nicht so klar, wie wohl sonst. Trotzdem: ich wollte ein Werk zu Ende bringen, das zu dem Lebensabschnitt gehört, an dessen Abschluß ich halte. Der, in welchen ich demnächst treten werde, weiß von dem Wüten der Urkräfte nichts mehr, das einen Faustulus als Niederschlag zurückläßt. Da waltet die Ruhe, da herrscht der Friede, da regiert das Glück. Auf den Asphodeloswiesen, über die ein mildes Licht flutet, das nicht Tag und nicht Nacht ist, und in deren heiligen Bezirk keiner Eintritt erhält, der nicht der Welt abgeschworen hat, wie das Gretchen im Faust.

Oder wie –

Fritz, wenn Du sie gekannt hättest! Dir vor allen Menschen hätte ich es gegönnt! Dir allein! Und Du würdest sie verstanden haben! Du, der Du in der Reinheit [271] Deiner frommen Seele weißt, warum die Lilien auf dem Felde köstlicher gekleidet sind, als Salomo in all seiner Herrlichkeit – –

Eben habe ich sie wiedergesehen: kaum merklich sich hebend und senkend, mit halb geschlossenen Augen, die Arme unter dem zarten Busen verschränkt, langsam vorübergleitend in dem Wasser, auf dessen Oberfläche das Mondlicht flimmert –

Wahnsinnig, sagst Du?

O, nein doch! Ich bin nur etwas melancholisch, daß ich nicht, wie mein jüngerer und stärkerer Bruder Faustulus, der Herrschernatur, die ich von Haus aus, gleich ihm, bin, bis zu meinem letzten Atemzuge treu bleiben konnte – –«

Neben dem Briefe, an dem er schrieb, lag das Manuskript seiner Tragödie. Wie hieß es gleich in dem Monolog des Helden, kurz vor seiner Ermordung durch die aufrührerischen Satrapen, als er im Begriff steht, zu dem Feldzug nach Nubien aufzubrechen, wieder einmal ungezählte Tausende seiner Herrschgier opfern will, und ihm der Gekreuzigte erscheint, der sich für seine geliebte Menschheit geopfert hat?

Er nahm ein Blatt und las:


Dich kenn' ich wohl! Du nennst dich Gottes Sohn,
Erlöser und Gesalbter – was weiß ich!
Und bist es auch für Sklaven und für Bettler,
Für all das Kleinvolk, das im Staube kriecht,
Im Schweiß des Angesichts sein trocken Brot
Hinunterwürgt und heute nimmer weiß,
Ob's morgen noch das Dasein fristen wird.
Bist es nicht minder für die satten Leute,
[272]
Die meinen, wie vortrefflich ihre Rechnung
Auf Erden steht, es drüben fehlen möchte
Im Jenseits, das die schwachgemute Seele
Sich jetzt als Himmel, jetzt als Hölle träumt.
Was kannst du mir sein, der des Höllenglaubens
Und auch des blauen Himmelsglaubens spottet;
An keinen Gott glaubt, keinen Gottessohn:
Nur an sich selbst glaubt, einzig an sich selbst?
Und deiner lachen kann ich dennoch nicht,
Ob gern ich's möchte. Wie denn dürft' ich lachen
Des Usurpators, der, mir unangreifbar,
Wohnt in der festen Burg des Aberglaubens?
Und Millionen feiger Menschenseelen,
Die mein sein sollten, zwingt in seinen Bann?
Es sind nur Nullen. Ja, das weiß ich wohl.
Doch stelle vor die Nullen eine Zahl,
So schwillt sie trotzig an. Der eine Große,
Um groß zu sein, muß viele Kleine haben,
Die nach ihm aufschau'n mit den blöden Augen.
Der andern Ohumacht ist des Mächt'gen Stuhl.
Ich hab' dich wachsen sehen Jahr um Jahr,
Seitdem man dich ans Kreuz schlug. Wachsen seh'n
Gleich einer Wetterwolke, die nur handbreit
Auf des Gebirges schroffem Scheitel steht,
Und, eh' man's ahnt, des Himmels Blau verschlingt
Die Höh'n und Thäler finster überschattend.
Dann aus der Wetterwolke fährt der Blitz,
Der gierig nach den Goldpalästen züngelt;
Dem Herrscher aus der Hand das Scepter schlägt,
Indes des schmutz'gen Fellahs Nischlammhütte,
Des blinden Bettelmannes Stab ihm heilig.
[273]
Und so denn haß' ich dich als meinen Feind,
Den einzig fürchterlichen, den ich habe.
Und jeder Herrscher müßte so dich hassen,
Der du mit heuchlerischer Demut sprichst:
Mein Reich ist nicht von dieser Welt, dieweil
Du eben diese Welt für dich eroberst,
Langsam, allmählich, wie die Flut, die steigt,
Den Sand des Strandes Zoll um Zoll benagend.
Und was ist diese Welt, als öder Sand!

* * *


Die bevorstehende Hochzeit des schönsten und reichsten Mädchens mit Doktor Arno, der ihr nun schon seit drei Jahren so viel zu reden gegeben, hatte die Stadt bereits wochenlang in einer Aufregung erhalten, die in dem Maße zunahm, als die Zeit bis zu dem erwarteten großen Tage schwand. Wie immer, sobald Doktor Arno ins Spiel kam, waren die Meinungen geteilt. Der Kegelklub junger Herren unter dem Präsidium Richard Moorbecks hatte einstimmig votiert, daß Doktor Arno einzig und allein Alexes würdig sei. Von einem zweiten rivalisierenden Klub ebenfalls junger Leute, deren Familien nicht zu dem anerkannten Patriciat gehörten, und die ausschließlich dem Ruder- und Segelsport huldigten, war nicht minder einhellig erklärt worden: Useliner Bürgerblut sei das beste Blut der Welt, und ein Mädchen, daß sich gegen diese sonnenklare Wahrheit verblendet habe, könne ihnen leid thun.

Auch in den Urteilen der Familienväter traten starke Differenzen zu Tage. Fanden die einen es nur in der Ordnung und der Tendenz der Zeit entsprechend, daß [274] die Intelligenz einen Bund mit dem Reichtum schließe, hielten die anderen dafür: es sei eine Sünde, das schöne Geld aus der Stadt zu lassen; und der Kommerzienrat, der doch jeden Thaler hier in Uselin verdient habe, solle sich schämen.

So waren auch die jüngeren und älteren Damen in zwei feindliche Lager geteilt.

»Wenn man wissen will, wie einer über die Sache denkt,« sagte der Witzbold der Stadt, der Senator Vahl, »braucht man ihn nur zu fragen, ob er zur Hochzeit, respektive zum Polterabend eingeladen ist, oder nicht. Ich bin eingeladen. Zu beiden. Ergo –«

Von den Vorbereitungen für den Polterabend erzählte man sich Märchenhaftes.

Aber auch über der freudigen Erwartung der Eingeladenen, also Wohlgesinnten, hing es wie ein trüber Schleier.

Die fürchterliche Seuche, nachdem sie auf dem platten Lande fast erloschen, hatte ihren Einzug in die Stadt gehalten. Vorerst freilich gewaltsam und übermächtig nur in die von Fischern, Schiffern, Hafenarbeitern und sonstigen kleinen Leuten bewohnte Vorstadt, die sich hart am Ufer des Stromes hinzog. Indessen auch in der inneren Stadt und durchaus wohlsituierten Familien waren einige Fälle, und zwar besonders schwere vorgekommen, von denen zwei einen tötlichen Ausgang genommen hatten. Wer konnte wissen, ob es sich hier nicht um einen Anfang handelte, dem eine schreckliche Fortsetzung folgen werde? Mit so banger Sorge im Herzen kann man nicht heiteren Auges einem Fest entgegensehen, bei dem erfahrungsmäßig an Speisen und Getränken [275] mehr konsumiert wird, als die Bescheidenheit der Natur verlangt, und der Gefahr der Erkältung kaum auszuweichen ist.

Im Moorbeckschen Hause war die Stimmung ebensowenig wolkenlos. Oder wenn es nur eine Wolke war, um die es sich handelte, so war der Schatten, den sie warf, desto dunkler.

Arnos Gesundheitszustand ließ so viel zu wünschen!

Wie wäre es freilich anders möglich gewesen?

Seit Monaten trug er eine Arbeitslast, welche die stolzeste Kraft erschöpfen mußte. Von einem Krankenbett zum andern eilend – oft über meilenweite Entfernungen – hatte er Tage und Tage zugebracht, in denen er auch nicht eine ruhige Stunde fand. Und wie viel Stunden der Nacht hatte er opfern müssen! »Er brennt sein Licht an beiden Enden zugleich ab,« sagte der Senator Vahl; »das hält auf die Dauer kein Mensch aus.«

Arno hatte es nicht ausgehalten. Es war nur zu ersichtlich. Von seiner immer hageren langen Gestalt mit der schmalen Brust schien nur das fleischlose Skelett geblieben. In die feingeschwungene Stirn – die einzige wirkliche Schönheit seines Gesichtes – hatten sich tiefe Furchen gegraben; bläuliche Adern an den Schläfen zogen ihre Linien mit unheimlicher Deutlichkeit. Der scharfe Blick der fast schwarzen Augen – Geierblick nannte ihn Senator Vahl – war stumpf geworden, um dann je zuweilen in einem Glanz aufzuflammen, der etwas erschreckend Gespenstisches hatte.

Alexe und ihre Mutter hatten mit steigender Sorge und Angst diese Metamorphose beobachtet. In Frau Moorbeck, die Frau Siebolds trauriges Geschick sehr[276] wohl kannte, war ein schlimmer Verdacht aufgestiegen. Sie hatte sich fragend, auf eine offene Antwort dringend, an Doktor Radloff gewandt, der, ein immer gern gesehener Gast, oft in das Haus kam und als Arnos nächster Kollege es eher als ein anderer wissen konnte.

Der junge Mann hatte zuerst nicht mit der Sprache heraus gewollt, dann, mit der Bitte um strengste Verschwiegenheit, sich doch zu einem Geständnis herbeigelassen.

Ja! Arno nahm Morphium bereits seit geraumer Zeit, ungefähr seit die Epidemie auf den Dörfern kulminierte, und die Anforderungen, die an ihn gestellt wurden, ins Ungemessene gewachsen waren. Er selbst hatte es ihm angeraten. Morphium in nicht zu großen Dosen und während eines Zeitraumes angewandt, der nach der Natur des Patienten genau berechnet werden müsse, sei freilich immer ein pis aller; aber das könne man von allen heroischen Medikamenten sagen. Daß Arno werde Maß zu halten wissen, dürfe man wohl von einem so ausgezeichneten Arzt füglich erwarten; und er selbst, den Arno in dieser Sache fortwährend kollegialisch konsultiert habe, glaube sich dafür verbürgen zu können. Hauptsache sei, die Periode, in der Arno zu dem bedenklichen Mittel notgedrungen seine Zuflucht nehmen mußte, nähere sich ja, Gott sei Dank, ihrem Ende mit raschen Schritten. Auf der Reise, die das junge Paar unmittelbar nach der Hochzeit antreten wolle, werde für Arno von Morphium wahrhaftig keine Rede mehr sein. Und nach Menschengedanken niemals wieder: es sei so gut wie ausgeschlossen, daß er in seiner Direktorstellung je zu so unerhörten Anstrengungen, wie er sie eben jetzt durchgemacht, sich werde gezwungen sehen. Für seine [277] völlige Rekonvalescenz brauchten die gnädige Frau und Fräulein Alexe nun schon gar nicht zu sorgen. Naturen, ganz Nerv, wie Arnos, erholten sich wunderbar schnell.

Frau Moorbeck war beruhigt. Sie hatte großes Vertrauen zu dem jungen Arzt, der mit aufrichtiger Verehrung und Liebe an dem älteren Kollegen hing.

Es gelang ihr, auch Alexe, die sich, ohne es Wort haben zu wollen, die schwerste Sorge machte, und ihren Gatten, der schon ganz verzweifelt war, mit frischem Mut und Vertrauen zu erfüllen. Richard hatte von vornherein kein Bedenken gehabt.

»Ich weiß nicht, wie ihr euch habt!« sagte er. »Es ist eben ein Parforceritt. Natürlich kommt der Gaul dabei vom Fleisch; und ein gewöhnlicher hält's nicht durch. Aber ein Rassepferd – lächerlich!«


* * *


Daß ein so glänzender Polterabend seit ihrer Gründung noch nie in der Stadt gefeiert sei, war die allgemeine Meinung. Schien es doch, als ob die ganze Bürgerschaft sich an dem Fest beteiligen wollte. Die Schiffe im Hafen hatten geflaggt; am Hafenplatz waren die Häuser mit Guirlanden und Teppichen geschmückt, ausgenommen die Apotheke, die auch am Abend dunkel blieb, als die Fenster aller anderen im Lichterglanz zu strahlen begannen. Vor dem Festhause brannten in riesigen Pfannen auf hohen eisernen Kandelabern gewaltige Pechflammen, deren mächtige Rauchsäulen in der völlig stillen Luft gerade in die Luft stiegen. Halb Uselin war auf den Beinen, sich die Herrlichkeit anzusehen, und wandelte und stand paarweise und in dichten Gruppen auf [278] dem Platz, die laue Sommernacht genießend und den Anblick des Brautpaares, das auf den Balkon über dem Hauptportal hinausgetreten war, während unten der Sängerchor der vereinigten Handwerker, deren Protektor und Ehrenpräsident der Kommerzienrat, seine schönsten Lieder vorzutragen nicht müde wurde.

Der Kommerzienrat hätte in seiner Herzensfreude am liebsten heute abend die ganze Stadt bewirtet, mußte sich aber nun überzeugen, daß sein Haus, so weit auch seine Räume waren, mehr Gäste, als er geladen hatte, nicht wohl fassen konnte. Dennoch erwiesen sich Frau Moorbecks Befürchtungen, es möchten ihrer zu viel werden, als unbegründet. Man bewegte sich durch die Zimmer und Säle frei genug, und dabei war vor der Hand der Hauptsaal, in welchem die Darstellungen stattfinden sollten, noch verschlossen. Die konnten erst um zehn Uhr beginnen, da vorher ein Gartenfest zu absolvieren war, dessen Beginn man bis zum Eintritt der völligen Dunkelheit verschieben mußte. Da nun freilich thaten die unzähligen farbigen Papierlaternen, die, auf Drahtbänder gereiht, in schönen Linien die Wege und Stege begleiteten, und gar das Feuerwerk, das auf dem großen Rasenrondell abgebrannt wurde, ihre volle Wirkung. Der zurückkehrenden Gesellschaft leuchtete die hintere Fassade des Hauses in prachtvoller bengalischer Beleuchtung entgegen; im Hause von dem oberen Absatz der breiten, blumengeschmückten Eichentreppe luden schmetternde Fanfaren zum Beginn der Darstellungen in den herrlich dekorierten Hauptsaal, vor dessen eleganter Bühne die Sessel gereiht standen mit den obligaten Ehrenplätzen für das Brautpaar, die Eltern und andere besonders zu respektierende Personen.

[279] Da gab es zu sehen, zu hören und zu lachen.

Gleich der Prolog, von keinem Geringeren gedichtet, als vom Senator Vahl, und von ihm selbst in der Maske des aller Welt bekannten alten Ausrufers der Stadt vorgetragen, schlug zündend ein.

Auch Fräulein Mathilde Lenz, die in einem Kostüm, welches sinnig ihren Vatersnamen allegorisierte, als Jugendgespielin der Braut den Kranz überreichte, fand allgemeinen Beifall, trotzdem sie in dem langen und etwas rührseligen Gedicht (Verfasserin, wie man sich leise zuflüsterte, die Frau Postdirektor, ihre Mutter) zweimal beinahe und ein drittes Mal ernstlich stecken blieb.

Desto flotter machte seine Sache ein Streichquartett, welches dem Bräutigam, dessen musikalische Unbegabung notorisch war, wie der Prologos erklärte: beibringen solle, was gute Musik sei. Die Instrumente aber bestanden aus Cigarren- und anderen Kisten und Kästen, über deren Höhlungen die jungen Künstler Saiten gespannt hatten, welchen sie eine höchst närrische, aber keineswegs unschöne Musik entlockten. Ihr Hauptstück, einen Zigeunertanz, zu dessen Ausführung sich noch ein Fünfter und Sechster mit Tamburin und Kastagnetten gesellten, mußten sie da capo geben.

Nun traten vier zwölf- bis vierzehnjährige, als Pagen in blauen Sammet gekleidete Mädchen auf, welche mit ihren allerliebsten, im Geschmack Louis quatorze kostümierten kleinen Partnerinnen nach einer anmutigen Melodie eine Gavotte so graziös tanzten und so entzückend aussahen, daß eine Wiederholung stürmisch verlangt wurde. Aber, wenn nicht die holden Geschöpfe selbst, so war doch der Arrangeur klug genug, sich mit einem Erfolge [280] zu begnügen, der nicht gesteigert, höchstens abgemindert werden konnte.

Es folgte eine tolle Posse, deren Verfasser, laut feierlicher Versicherung des Prologos, ungenannt bleiben wolle und ungenannt bleiben würde, was ein fröhlichstes Gelächter entfesselte, da alle Welt seit vier Wochen wußte, daß es niemand anderes als der Sohn des Hauses sei.

Ein von Fanfaren angekündigter stattlicher bärtiger Mann in Heroldsschmuck erscheint und verkündet als königliches Dekret nach der Weise des Rufers in Lohengrin:


»Wer hier der Dümmste ist

In dieser guten Stadt,

Die häßlichste Person

Sofort zu freien hat.«


Die Leute stehen ratlos, stecken die Köpfe zusammen: niemand will der Dümmste, keine die Häßlichste sein. Man beschuldigt sich gegenseitig; es kommt zu ärgerlichen Scenen. Der Magistrat legt sich ins Mittel, hält eine Ratsitzung. Man beschließt: die Väter der Stadt als die notorisch weitaus Klügsten, könnten unmöglich wissen, wer der Dümmste sei. Das müßten die Dummen unter sich ausmachen. Nun gebe es auf der Welt nichts Dümmeres als das Kegelspiel, wie schon daraus ersichtlich, daß die größten Taugenichtse der Stadt ihm am fleißigsten oblägen. Also sei der Dümmste auszukegeln; und der famose Kegelklub unter seinem bekannten Präsidium habe die Sache in die Hand zu nehmen.

Das leuchtet den jungen Männern ein. Sie ziehen sich zurück, um sofort ans Werk zu gehen.

Unterdessen haben sich die ältesten und weisesten Matronen versammelt, um sich ihrerseits über die Häßlichste [281] schlüssig zu machen. Es werden sehr spitze Reden geführt; beleidigende Insinuationen fliegen von einer klappernden Kaffeetasse zur anderen. Endlich trifft eine das Rechte: Wozu sich die Köpfe zerbrechen! Habe man erst den dümmsten Mann – und das müsse sich ja nun bald herausstellen – möge man ihm getrost die Wahl überlassen. Daß er die Häßlichste wählen werde, sei doch selbstverständlich. Man solle vor der Hand nur die jungen Weibspersonen zusammenrufen!

Es geschieht. Die jungen Mädchen sind sehr verschüchtert. Jedes fürchtet, die Wahl könne sie treffen. Sie flüchten in die Ecken, drängen sich in einen Knäuel zusammen. Nur eine läßt es sich nicht anfechten und bleibt ruhig im Vordergrunde stehen. Man erkennt sofort, daß die junge Dame in ihrer vornehmen Sicherheit Alexe sein soll.

Die jungen Männer kommen hereingestürmt, einen triumphierend auf den Schultern tragend. Er hat nichts als Pudel geworfen!

Der, den sie nun auf die Füße stellen, gleicht Arno, wie die Dame Alexe.

Er aber erklärt, mehr zu thun zu haben, als seine Zeit mit Narrenspossen zu vertrödeln. Da er aber wählen solle und müsse, werde er die Sache kurz machen und die erste beste wählen.

Worauf er auf die junge vornehme Dame zutritt, die ihm freundlich entgegenlächelt und ihre Hand in die seine legt.

Die Menge steht, wie im ersten Tableau, ratlos, bestürzt. Dies kann unmöglich stimmen! Wie denn? Er der Dümmste? Sie die Häßlichste?

[282] Durch die Murrenden drängt sich der Prologos atemlos: er müsse die Herrschaften um Entschuldigung bitten. Es sei ein Irrtum vorgefallen: der Herold habe ein falsches Dekret verkündet. Da komme er schon, das richtige zu melden.

Fanfaren. Der Herold, mit heller Stimme singend:


»Wer hier der Klügste ist

In dieser guten Stadt,

Die allerschönste Maid

Sofort zu freien hat.«


Brausender Jubel. In der Höhe ein prächtiges Transparent: »Als Verlobte empfehlen sich Doktor Arno und Alexe Moorbeck.«

Vor den rasch herabgelassenen Vorhang tritt der Prologos als Epilogos: das Spiel sei aus. Wenn hier, wie er fürchte, zu viel Geist produziert sei, möge man es nicht den Darstellern beimessen, sondern Apollo und den neun Musen, die über sie das Regiment führten. Wer lieber zu Bacchus und Ceres bete, lade er im Auftrage der milden Wirte nach dem Speisesaale, wo die genannten hohen Gottheiten ihrer Verehrer harrten.

Erst in dem mächtigen Speisesaal ließ sich übersehen, wie groß die Gesellschaft war. Dennoch fanden alle an kleineren und größeren Tischen Platz. An dem Ehrentische für das Brautpaar, die nächsten Angehörigen und Großwürdenträger mit ihren Damen bedienten die vier reizenden Pagen zur Verzweiflung der jungen Herren, welche sich sämtlich in die blauen Sammetkostüme vernarrt erklärten.

Es fehlte nichts an dem köstlichen Mahl; selbst die Reden, die gehalten wurden, waren ausnahmsweise gut. [283] Mit Senator Vahl konnte sich freilich keiner messen. Am nächsten kam ihm Richard, der für seinen stummen Schwager antwortete.

Aber es war schon bekannt, daß Arno nicht zum Reden bei Tisch zu bewegen war; sonst hatte man sich über ihn nicht zu beklagen. Mit vielen Personen hatte er, gegen seine Gewohnheit, im Laufe des Abends gesprochen, und alle rühmten die Freundlichkeit und Sanftmut seines Betragens, von dessen Herbheit und Schroffheit man so viel zu erzählen wußte. Dabei sah man ihm freilich nur zu deutlich an, wie abgespannt und müde er war. Über den eingesunkenen Augen trat die Stirn mit unheimlicher Schärfe hervor. Die Eltern, Alexe selbst baten ihn liebevoll, sich zurückzuziehen. Er sagte: ja, er wolle es; und zögerte immer wieder; auch, nach dem die Tafel aufgehoben war und die junge Welt nach dem Tanzsaal drängte, aus dem dann auch alsbald die ersten Takte eines flotten Walzers erklangen.

Endlich legte sich Richard ins Mittel.

»Du mußt nach Hause, Arno. Du hältst dich ja kaum noch auf den Beinen. Bedenke, morgen ist auch noch ein Tag!«

»Wirklich?« erwiderte Arno zerstreut.

»Na ob! Du weißt schon nicht mehr, was du redest. Komm!«

»Ich will nur noch Alexe Lebewohl sagen. Sie tanzt eben.«

»Das dauert mir zu lange. Ich werde dich bei ihr entschuldigen; auch bei den Alten. Komm!«

»Wenn du meinst.«

[284] »Ich meine es allerdings. Ich bin für dich verantwortlich. Ich will dich nach Hause bringen.«

»Auf keinen Fall.«

»So dann bis nach unten.«

»Das mag sein.«

Arno stand noch einen Moment, mit müden Augen in den Saal blickend. Eben flog Alexe im Arm von Louis Krafft, einem Freunde Richards, an ihm vorüber. Sie winkte ihm, lächelnd, mit den Augen. Er winkte mit der Hand zurück. Dann ließ er sich von Richard aus dem Saal ziehen.

Die Portalthüren standen weit offen; draußen im Halbkreis, dicht geschart, viele ärmere Leute: Männer, Frauen, denen, einer alten Sitte der Stadt gemäß, Diener Kuchen und Wein heraustrugen.

»Hier kehrst du um!« sagte Arno. »Es zieht fürchterlich, und du bist sehr erhitzt.«

»Na, meinetwegen. Adieu! Auf Wiedersehen morgen! Ich hole dich ab.«

»Nicht zu früh!«

»Keine Sorge! Ich werde auch ausschlafen wollen.«


* * *


Als Arno durch die Menge schritt, die ihm willig Raum gab, trat ihm ein halbwüchsiger Schifferknabe entgegen, den er kannte: der älteste Sohn aus einer Familie, die zu seiner Armenpraxis gehörte.

»Wolltest du zu mir?«

»Ja, Herr Doktor.«

»Der Vater ist kränker geworden?«

»Ja, Herr Doktor.«

[285] »Du wartest wohl schon lange?«

»Sie wollten mich nicht hereinlassen. Mutter sagte auch, Sie würden heute doch nicht kommen.«

»Ich gehe mit dir.«

Während der kurzen Unterredung hatte ein Mann, den Arno in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, ganz in der Nähe gestanden. Arno glaubte, er gehöre zu dem Knaben. Der Knabe sagte: nein. Arno trat auf den Mann zu, fragend, ob er ein Anliegen habe? Der Mann murmelte Unverständliches und drückte sich wieder in die Menge. Arno hatte den bestimmten Eindruck, es sei Jochen Lachmund gewesen.

Daß er an Jochen einen Todfeind hatte, wußte er, ehe der alte Prebrow es ihm sagte; und gestern abend hatte er in dem Fenster der Matrosenkneipe den Menschen zusammen mit Malwine gesehen, die um seinethalben erst aus dem Sieboldschen, dann aus dem Moorbeckschen Hause gejagt war.

Er lächelte, mit dem Knaben weiter schreitend, trübe in sich hinein:

»Es wäre eine Travestie der letzten Scene des Faustulus. Warum nicht? Bin ich selbst doch nur eine Travestie meines Helden.«

Sie gingen durch die engen Hafengassen, in denen ihr Schritt auf dem holprigen Pflaster wiederhallte; vorbei an der Matrosenkneipe, die heute dunkel war. Bei dem trüben Licht der Laterne vor der Thür sah Arno nach der Uhr. Es war viertel auf zwei. Die Leute wohnten in einem der letzen Häuser der langen, mit dem Flußufer parallel laufenden Gasse, in die sie jetzt kamen. Er würde Mühe haben, bis vor zwei zu Hause zu sein.

[286] Der Knabe lief immer vor ihm her. Er folgte ihm mit langen Schritten. In der Dunkelheit schien die Gasse kein Ende nehmen zu wollen. Endlich erreichten sie doch die kleine, baufällige Spelunke, aus deren zwei viereckigen Fenstern linker Hand von der offenen Hausthür der rötliche Schein eines Lämpchens dämmerte.

Die Schiffersfrau kam ihm auf dem dunklen Hausflur entgegen, weinend: es gehe mit ihrem Manne zu Ende.

Es ging zu Ende; Arno sah es mit dem ersten Blick in das hippokratische Gesicht des Kranken. Er mußte es der Frau sagen.

Sie weinte leise weiter, während sie an dem Bette saßen: Arno auf einem brüchigen Rohrstuhl, die Frau auf einem Holzschemel. Der Puls war nur noch ein dünnster, kaum fühlbar fließender Faden. Dann schwand das letzte schwache Lebenszeichen. Es war vorbei.

Arno beugte sich über den Toten. Indem er sich wieder aufrichtete, fuhr er ihm sanft mit dem Finger über die verglasten Augen.

»So,« sagte die Frau, die plötzlich seltsam ruhig und gefaßt erschien. »Nun können ich und meine Kinder verhungern.«

Arno blickte sich in dem Zimmerchen um. Es war bis zur Peinlichkeit sauber, aber unsagbar armselig. Er wußte auch sonst, daß die Leute zu den Allerbedürftigsten der Stadt gehörten.

»Das werden Sie nicht,« sagte er. »Ich selbst gehe in wenigen Stunden auf eine Reise, von der ich nicht wieder zurückkomme. Aber mein – der Kommerzienrat Moorbeck wird für Sie sorgen. Bringen Sie ihm morgen diese Karte!«

[287] Er hatte eine Visitenkarte aus seinem Portefeuille genommen, war an das Tischchen getreten, auf dem die Lampe stand und schrieb auf die Rückseite ein paar Worte, in welchen er dem Manne, dessen Wohlthätigkeitssinn er so wohl kannte, »diese Ärmsten der Armen« dringend empfahl.

Dann entnahm er dem Portefeuille einen größeren Geldschein, den er zusammenfaltetete und, ungesehen von der Frau, die sich wieder zu dem Toten gewandt hatte, unter die Karte legte. Gern hätte er mehr gegeben; aber er mußte eine bestimmte Summe für sich zurückbehalten.

Es war hier nichts mehr für ihn zu thun. Die Frau, die ihre seltsame Fassung beibehielt, gab ihm mit dem Lämpchen das Geleit über den Flur. In der Hausthür sah er noch einmal nach seiner Uhr: dreiviertel auf zwei! Keine Möglichkeit mehr, noch vor zwei zu Hause zu sein.

Warum denn auch? Sie würde ihm zur Minute und Sekunde erscheinen, wo er auch war. Heute zum letztenmal!

War es das enge Fischerzimmer mit seinen viereckigen Fensterchen; der Wasserduft; die Stimme der Frau, welche gerade so klang, wie die von Stines Mutter – er mußte an jene Situation denken, in der er das geliebte Mädchen zum erstenmale sah. Früher hatte er sich die Scene zurückrufen können, so er nur die Augen in der Absicht schloß. Dann war sie ihm immer nur als Tote erschienen.

Auch so ihm unsäglich lieb!

[288] Und doch hatte der sehnsüchtige Wunsch in seinem Herzen nicht schweigen wollen: einmal, nur einmal möchte er sie wieder sehen können, wie er sie damals sah!

Und er würde es als Zeichen genommen haben, daß sie ihm verziehen, trotz alledem! Ohne Groll gegen ihn aus dem Leben geschieden sei – trotz alledem!

Diese Gnade würde ihm nun nicht werden. Er hatte sie ja auch nicht verdient.

Nicht verdient, auch wenn er jetzt freiwillig aus einem Leben schied, das ihn noch vor einer Stunde umgaukelt hatte in seinem verführerischsten Glanz. Die schöne Braut mit der schöneren, ach! so gütigen Mutter; der wackere Vater; der prächtige Junge von Bruder; die glückwünschenden Gäste; die Üppigkeit eines fürstlichen Reichtums rings um ihn her gebreitet; die tollen Possen einer lebensfreudigen Jugend; die holden Gestalten der jungen Mädchen, die sich nach der süßen Weise der Gavotte so zierlich im Tanz bewegten – er hatte ja alle und alles nur wie durch einen Nebelschleier gesehen – eine schöne Welt, über die sich das Gespinst des Abends deckt – dichter und dichter, bis die Nacht vollends herabsinkt – die ewige Nacht.

Er war aus der engen Gasse auf das breite Hafenbollwerk gebogen. Es war der weitere Weg; auch der kürzere hätte ihn nicht mehr an sein Ziel gebracht.

Plötzlich fühlt er das geisterhafte Rieseln durch seine Nerven, das jedesmal der Erscheinung um ein paar Sekunden vorausgeht. Er lehnt sich an ein Boot, das da auf dem Stapel liegt und schließt die Augen.

Da sieht er sie.

Wie er sie sah an jenem wunderherrlichen Morgen:

[289] Ein sonnenbeschienenes Stück Düne, an dem hin auf Stangen, die in den Sand getrieben sind, ein großes braunes Netz ausgespannt hängt. Vor dem Netz, ihm den Rücken zuwendend, bewegt sich eine zierliche Mädchengestalt, jetzt die nackten, weißen Arme hebend, um an den Seetang oben zwischen den Maschen zu langen; jetzt sich bückend, um unten zu putzen und zu säubern. Das braun und rotgestreifte Röckchen, das die schlanken Hüften eng genug umschließt, reicht nur bis zu den zarten Knöcheln, die strumpflos aus den groben Schuhen schimmern. Wenn sie, die Arme in die Höhe reckend, sich auf den Fußspitzen hebt, kommt zwischen dem braunroten Röckchen und dem knapp anliegenden blauen Mieder ein wenig von dem Hemd zum Vorschein. Dann fällt der dicke Knoten, in den sie das goldglänzende Haar geschlungen, tiefer auf den schmalen Rücken. Er sieht nur das überschnittene Profil. Jetzt wendet sie sich ihm ganz zu. Das süße Gesicht ist von Freudenrot überhaucht; die großen, blauen Augen glänzen in wundersamem Licht. Sie breitet weit die Arme aus; mit einem leisen Jubelruf stürzt sie sich an sein Herz –

Die Erscheinung ist verschwunden. Er öffnet, sich aufrichtend, die Augen. Dicht vor ihm steht eine dunkle, massige Gestalt mit erhobenem rechten Arm, in dessen Faust im Licht des halben Mondes, der drüben über den Wiesen steht, ein Messer blinkt.

»Stoß zu!« sagt Arno.

Der Mensch prallt einen halben Schritt zurück. Das hat er nicht erwartet.

»Stoß zu!« sagt Arno noch einmal, Rock und Weste aufreißend. »Hier sitzt das Herz, hier! Das Herz, das [290] Stine gehört im Leben und im Tode, wie ihr Herz mir gehört hat im Leben und im Tode.«

Ein halb unterdrücktes Wutgeheul, wie eines wilden Tieres, kommt aus der breiten Brust des Mörders. Die Riesenfaust mit dem Messer fährt herab.

Lautlos bricht Arno zusammen.

Hinter dem Boot, hastig, tritt eine weibliche Gestalt hervor.

»Hast du's ihm ordentlich gegeben?«

»Ich denk wohl.«

»Dann mach, daß du auf dein Schiff kommst! Von Amerika schreibst du!«

»Ja, von Amerika.«

Die beiden verschwinden im Dunkel. An der Erde auf einer dünnen Schicht von Hobelspänen liegt ein Toter. Der Mond, der hell über dem Rande einer schwarzen Wolke steht, blickt in ein bleiches, tieffriedliches Gesicht.

[291]

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TextGrid Repository (2012). Spielhagen, Friedrich. Romane. Faustulus. Faustulus. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-13F5-E