98. Die Schwalbe und die Nachtigall

1795.


Progne und Philomele sind Schwestern; die eine verkündet
Uns den Sommer, und ist jedem willkommen und lieb;
Aber willkommner ist uns und heil'ger, siebenmal lieber
Philomele! wen rührt nicht Philomelens Gesang?
Nichts verkündet sie uns, doch lauschen wir, nimmer getäuschet,
Ihrem süßen Gesang, welcher uns Thränen entlockt.
Thräne der Sehnsucht, entfallen dem Aug', und dem Herzen entfallen,
Bist mir erquickend, wie Tau auf dem versengten Gefild!
Zarter Ahndungen bebender Glanz, du schimmerst mir schöner,
Als des erwachenden Tags Purpur in zitterndem Tau.
Singe mir Sehnsucht ins Herz, geliebte Sängerin! singe,
Philomele, mir Ruh, Ruhe der Ahndung ins Herz!
Ahndung ist unsre Weisheit hienieden, und unsere Wonne
Sehnsucht, doch kennen wir den, welcher die Sehnsucht uns ließ!
Sehnsucht ist Morgenröte; noch weilet unter dem Himmel
Unsre Sonne – sie kommt! Himmel und Erde! sie kommt!
Heil dir, Herrliche! Tritt aus deinem heiligen Osten!
Wahrheit strahlet dein Licht! Lieb' ist der Herrlichen Glut.

Notes
Entstanden 1795. Erstdruck in: Hamburger Musenalmanach 1797.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu. 98. Die Schwalbe und die Nachtigall. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-1A68-7