62. Die Feier der Erde

1778.


Alles unter dem Monde,
Unter der himmelwandelnden
Sonne, kennet und kannte
Alles die Muse;
Unter den Tiefen der Erde
Schwebet ihr Fittich,
Und willkommen ist die kühne Fremdling auch oft
Unter den Reigen der Himmlischen
[123]
Dennoch erscheinet sie
Oft dem sterblichen Dichter;
Eilet dem rufenden
Zürnend vorbei,
Aber besuchet,
Ungerufen und lächelnd,
Oft im bebenden Mondenschein,
Oft auf glühendem Sonnenstrahl,
Deine ruhenden Säuglinge,
Mutter Natur!
Staunend sah ich und froh,
Wogenumdonnertes Hellebek,
Wie der Winter und der Sommer zugleich
Schmückten dein rauschendes Haupt.
Staunend und froh,
Weilten vorüberwallende
Geister, die aus Orions
Fluren zu den Inseln der Pleias
Schwebten, und erkannten kaum
Der Erde Antlitz, das sie oft schon sahn,
Forschten nach des rollenden
Jahres Alter, denn sie sahn
Auf der grauen schneeigen Scheitel,
Goldene, säuselnde Locken des Hains!
Mir vertraute, sie vertraute mir,
Die kundige Muse
Das Geheimnis der Natur!
Es feiert die Erde
Heute den Tag ihrer Geburt,
Den sie nach tausend
Rollenden Jahren
Immer feiert!
Denn an diesem Tage
Stieg sie zuerst,
Aus der heimlichen Halle der alten Nacht,
An der strahlenden Hand des ersten der Morgen,
Lächelnd und errötend, den Himmel hinan!
[124]
Es feiert die Erde
Diesen Tag!
Sie berief zur Feier
Die Söhne des Jahrs!
Es erhub sich im nordischen Thal
Der Winter nach kurzem Schlaf;
Schüttelte sein Haupt, da ward bedeckt
Der Boden mit Schnee;
Ging mit eilendem Riesenschritt,
Setzte den starrenden Strahlenfuß
Auf die türmenden Gipfel
Des hohen schwedischen Felsengebirgs;
Schritt übers Meer,
Trat aufs Gestade,
Wo sein Bruder, der Herbst,
Waltete im falben Hain,
Wo sein Bruder, der Sommer,
Weilte in der Eiche grünem Laub.
Es schmückten die Brüder mit vereinter Hand
Die Feier der Erde;
Zartes Eis bedeckte die Fläche
Schimmernder Landseen,
Und es kräuselte sich auf ihm der Buche goldnes Haar!
Spiegelten sich in ihm
Ellern, noch bekleidet mit des Frühlings Schmuck,
Und rote,
Nickende Beeren,
Duftender Feldrosen
Jüngere Schwestern,
Glänzten vom Reife durch den grünen Busch.
Aus brausenden Tiefen
Erhub sein Haupt
Das heilige Nordmeer,
Staunend über Seelands neuen Schmuck;
Aber zagend wich
Zurück vom Gestade die Ostsee,
[125]
Fürchtend, daß schon itzt
Würde binden der Winter
Mit krystallner Fessel ihren blauen Arm,
Würde stürmend zerschellen
Schiffe, die sich ihr
Vertrauten, und zahllos
Ihre weißen Flügel öffneten dem Hauch des Windes.
Neuen Mut
Gab ihr die steigende Sonne,
Deren goldener Strahl
Träufeln ließ, wie Tau,
Von grünen Eichen den geschmolznen Schnee
In der wankenden Blume glänzenden Kelch!
Freudig sangen und feirten Vögel des Hains,
Freudig singet und feiert mein Gesang,
Den ich früh der heiligen Natur
Weihte, die Leier und Gesang mir gab!

Notes
Entstanden 1778. Erstdruck in: Gedichte der Brüder Christian und Friedrich Leopold Grafen zu Stolberg, hg. von H.C. Boie, Leipzig (Weygand) 1779.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu. 62. Die Feier der Erde. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-1ABB-B