43. An die Grazien

1776.


Leicht, wie Hauche des Abendwinds,
Schwebe leicht, mein Gesang; sanft, wie des Liebenden
Kuß von Lippe zu Lippe schwebt!
Wehe Düfte des Lobs, süßer denn Weihrauchsduft,
Zum Altare der Grazien;
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Junger Blumen Geruch, welche die Muse mir
Im geheimeren Thale las!
Lächelt immer mir zu, stimmet mein Saitenspiel,
Allbelebende Göttinnen!
Lehret meinen Gesang senken vom Himmel sich,
In die Quelle der Schönheit sich
Tauchen, wieder getränkt steigen dem Himmel zu!
Ach, die Blume des Liedes welkt
In dem Kranze des Ruhms, wenn sie ein Sterblicher
Mit unheiligen Händen bricht!
Pflücket ihr sie für mich; daß nicht der silberne
Sonnenstrahlende Morgentau
Ihr entträufle sie nicht hangend gekräuselte
Blätter senke der Erde zu!
Euch soll künftig ein Hain blühender Stauden, euch
Meine Quelle geweihet sein,
Euch mein moosichtes Dach, und die Bewohner der
Stillen Hütte geweihet sein!
Suchet ihr mir, und bald, unter den freundlichen
Töchtern Deutschlands ein Mädchen aus,
Blau die Augen, ihr Haar golden, und schlank ihr Wuchs,
Sanft die Seele, den Augen gleich;
Daß sie Priesterin sei eurem Altare, früh,
Wenn ihr rötend die Sonne winkt,
Ihr im leichten Gewand flattert die Morgenluft,
Und in wallenden Schleierflor!
Daß sie Priesterin sei eurem Altare, spät,
Wenn ihr winket der Abendstern,
Und der Nachtigall Lied um den Altar ertönt!
Wenn ein Kind ihr am Busen hängt,
Wird sie weihen das Kind eurem Altare. Einst
Wird die Tochter, die Enkelin
Euch noch singen mein Lied. Dann werd' ich freudiger
Greis mit zitternden Thränen noch
Mich am wärmenden Strahl sonnen, mit zitternder
Hand noch rühren mein Saitenspiel,
Bis mit Lächeln mein Haupt sanft in die Grube sinkt!

Notes
Entstanden 1776. Erstdruck in: Hamburger Musenalmanach 1777.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu. 43. An die Grazien. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-1B41-6