Bertha von Suttner
Martha's Kinder
Fortsetzung zu
»Die Waffen nieder!«

[1] I

»Es lebe die Zukunft!«

Mit diesen Worten schloß Graf Rudolf Dotzky seine Tafelrede. »Und aus diesem Glase,« fügte er hinzu, indem er den Champagnerkelch an die Wand warf, daß er klirrend zerschellte, »darf kein anderer Trunk mehr gemacht werden, und heute, zu meines Erstgeborenen Tauffest, soll auch kein anderer Toast mehr gesprochen werden als dieser: Es lebe die Zukunft! Nicht unserer Vätersväter – wie die alte Phrase lautet – wollen wir trachten, uns würdig zu zeigen, sondern unserer Enkelsöhne ... Mutter« unterbrach er sich – »was ist Dir? ... Du weinst? ... Was siehst Du dort?«

Baronin Martha Tilling hatte ihre großen schwarzen Augen, die so seltsam von dem weißen Haare abstachen, und aus welchen ihr jetzt zwei große Thränen über die Wangen rannen, starr nach dem Garten gerichtet, der vor der offenen Terrassenthür lag.

Was sie dort sah, war ein Halluzinationsbild, das oft in ihren Träumen auftauchte: ein alter Mann – ihr Mann, der im Abendsonnenschein mit einer Gartenscheere Rosenbäumchen stutzt.

Sie hatten einst, die glücklichen jungen Eheleute, von ihrer fernen Zukunft gesprochen: »Weißt Du, Martha, wenn ich einmal über die Siebzig bin und für das Weltgetriebe nicht mehr tauge, da werde ich mich meiner Liebe zu den Blumen hingeben und Gärtnerei betreiben.« – [1] »O, ich sehe Dich vor mir, ein Hauskäppchen – nicht etwa von mir gehäkelt, derlei grauenvolle Arbeiten mache ich nie – ein Hauskäppchen auf den Silberlocken, in der Hand eine Gartenscheere, mit der Du die welken Blüten von den Rosenstämmen trennst.« – »Ja – und Du sitzest auf der Gartenbank – ein duftiges Spitzentuch auf Deinem ebenfalls schon gebleichten Haar geschmackvoll gesteckt – denn kokett wirst Du immer bleiben –; in der Hand – also keine Häkelei, sondern das noch geschlossene Buch, aus dem Du mir später vorlesen wirst, und lächelnd siehst Du meiner Arbeit zu ... Wir werden ein glückliches altes Paar sein, Martha!«

Diese Vorstellung hatte sich ihr so eingeprägt, daß sie sich in ihren Träumen wie ein Erlebnis zu wiederholen pflegte. Achtzehn Jahre schon war sie verwitwet und immer noch, wenn sie von ihrem verlorenen Friedrich träumte, sah sie ihn lebend vor sich; meist so, wie er in der Brautzeit gewesen, und manchmal auch in jene Gestalt, die nur in beider Phantasie entstanden war.

An diesem Tage, beim Tauffest ihres Enkelkindes, als Rudolf in seinem Trinkspruch gesagt: »Ja, Mutter, dieses Glas bringe ich dem Andenken Deines ewig Geliebten und ewig Betrauerten, dem auch ich alles verdanke, was ich denke und was ich bin« – da war ihr furchtbar weh ums Herz geworden. Sie saß der offenen Fensterthür gegenüber. Die Strahlen der untergehenden Sonne umwoben einen Rosenstrauch mit zittergoldigem Dunst und davon sich abhebend – ihr Traumbild: sie sieht die Gartenscheere flimmern, das weiße Haupthaar glänzen ... »Nicht wahr,« lächelte er zu ihr herüber, »wir sind ein glückliches altes Paar?«

Durch Rudolfs Frage aufgeschreckt, trocknete sie rasch ihre Augen und erhob sich.

Sie nahm den Arm ihres Nachbars zur Rechten – Ritter von Wegemann, Minister a. D., im Hause unter dem Spitznamen »Minister Allerdings« – oder eines[2] neuerlich angenommenen Gewohnheitswortes wegen – »Minister Andrerseits« bekannt.

Man begab sich in den anstoßenden Salon. Es war nur eine kleine Tischgesellschaft gewesen: Außer den schon Genannten Rudolfs Halbschwester Sylvia – der Mutter lebendes Jugendbild; Gräfin Lori Griesbach, Rudolfs Schwiegermutter; Doktor Bresser, der langjährige Freund des Hauses und sein Sohn Hugo Bresser; Graf Anton Delnitzky, der junge Pate des Täuflings; Oberst Baron Schrauffer, ein alter Anbeter Gräfin Loris und der Ortspfarrer, Pater Protus.

Sylvia schänkte den schwarzen Kaffee in die Schalen und reichte diese den Gästen.

Jede Bewegung der schlanken, geschmeidigen Gestalt atmete Anmut; auf dem rosigen Gesichtchen lag ein Schein von gehobener Glückstimmung.

Martha und Lori nahmen auf einem kleinen Eckdivan Platz, während die Herren in der Nähe Sylvias blieben.

»Also wirklich,« sagte Gräfin Griesbach, »der Toni Delnitzky hat sich erklärt? Da gratuliere ich ... Und darf man schon laut – –?«

»Nein, nein, ich bitte Dich! ... Sylvia hat mir die Sache auf dem Wege von der Kirche mitgeteilt – erst morgen wird er bei mir um ihre Hand anhalten. Erst dann, bis ich ja gesagt habe, kann die Verlobung verkündet werden – wenn ich ja sage ...«

»Du wirst doch nichts einzuwenden haben? Einer der größten Epouseure Österreichs! Daß er ein leichter Vogel war – je nun, das sind sie mehr oder weniger alle – solche junge Leute wie Rudolf findet man nicht wieder.«

»Und wenn ich auch einzuwenden hätte ... ich glaube wirklich, daß der beiden Charaktere nicht zueinander passen ... aber Sylvia ist kein Kind mehr ...«

»Du kommst mir sehr unschlüssig vor: zuerst ›wenn [3] ich ja sage‹ und dann ›wenn ich auch Einwendungen machen wollte, so nützt es nichts‹.«

»In der That – es nützt nichts. Schau nur, wie glückstrahlend sie aussieht und mit welchem Eifer Delnitzky jetzt in sie hineinredet ...«

Lori seufzte. »Es ist doch eine schöne Sache um die Jugend! ...«

»Du kommst mir eigentlich auch noch jung vor, Lori ...«

»Vorgestern war mein achtundvierzigster Geburtstag ...«

»Du hast Dich körperlich nicht viel und seelisch gar nicht verändert seit den letzten zwanzig Jahren. – Du bist noch immer so schlank, so blond, so lebhaft (so seicht, setzte sie im Geist hinzu) und so – verzeih – so gefallsüchtig wie immer ... Diese prachtvolle granatrote Toilette – dazu die Blicke, die Du unserem Minister Adrerseits zugeworfen hast – was wird Schrauffer dazu sagen?«

»Und Du in Deinem ewigen Schwarz und ewigen Ernst – Du gibst Dir ein viel älteres air, als Dir zukommt.«

»Ach, mein Schatz, wenn man solchen Schmerz erfahren hat wie ich – so unsägliches Unglück nach so unsäglichem Glück, dann dürfte man schon ganz gebrochen sein ... Ich bin es nicht, weil ich meine Kinder habe ...«

Der Minister näherte sich den Damen und ließ sich in einem Fauteuil an der Seite Gräfin Loris nieder.

»Ich habe eben mit dem Grafen Rudolf disputiert, meine Damen, und rufe Sie zu Richterinnen an. Der Ton, den er in seinem Trinkspruch angeschlagen, wollte mir nicht gefallen ... ein Ausfall gegen die Väter und Vätersväter! Allerdings, wenn man gerade ein Wickelkind feiert, so liegt der Gedanke an Enkelssöhne näher – andrerseits soll man nicht vergessen, daß es nur [4] einen Boden giebt für ersprießliches Gedeihen (namentlich für Unsereins) – den Boden der Tradition. Was sagen Sie, Gräfin?«

Lori war weit davon entfernt, über diese Frage irgend eine Meinung zu hegen, aber da sie doch etwas antworten mußte, so sagte sie:

»Sie haben ganz recht, ganz recht.« Das ist eine Meinungsäußerung, welche denjenigen, dem sie gilt, gewöhnlich als sehr vernünftig berührt.

»Ich muß meinem Sohne recht geben,« widersprach Martha. »Es ist besser, denen zu Dank zu handeln, die nach uns kommen, als jenen, die vor uns waren. Straßen pflegen ist ganz schön – Bahn brechen ist schöner.«

Die Neuverlobten konnten jetzt einige unbelauschte Worte tauschen:

»Morgen werde ich also mit Ihrer Mutter sprechen, Sylvia ... ich fürchte mich ein wenig ...«

»Sie glauben doch nicht, daß Mama –«

»Nein, abweisen wird sie mich nicht – das fürchte ich nicht, sondern die Feierlichkeit davon – die Ungewohnheit ...«

Sylvia lachte: »Hoffentlich ist's ungewohnt! Wer soll denn Übung darin erlangen, um Hände anzuhalten? Übrigens, auch mir ist entsetzlich ›ungewohnt‹ zu Mute ... ich begreife gar nicht, daß ich mit einem kurzen ›ja‹ mein ganzes Leben verpfändet habe ... war ich nicht voreilig? Ich kenne Sie eigentlich so wenig und Sie – – kennen mich vielleicht gar nicht ...«

»Und ob ich Sie kenne: das natürlichste, heiterste, anmutigste Geschöpf ...«

»Kurz, das Muster eines wohlerzogenen Komtessels, wie? Ein anderes Bild hatte ich ja auch nicht Gelegenheit, hervorzukehren in den fünf oder sechs Kotillons, die wir miteinander getanzt haben. Es steckt aber wirklich [5] doch noch manches andere in mir, von dem Sie vermutlich nichts ahnen.«

»Zum Beispiel?«

»Ungeheure Ansprüche an das Leben und an die Menschen – und besonders an den Menschen der mein Leben ausfüllen soll –«

»Muß er ein halber Gott sein?«

»Nein, aber ein ganzer Mensch. So wie dieser da,« fügte sie hinzu, auf den Bruder deutend.

Rudolf trat heran. »Warum wird hier mit Fingern auf mich gezeigt?«

»Als Muster der Vollkommenheit wirst Du gepriesen,« antwortete Delnitzky. »Du entsprichst dem Ideal, das sich Deine Schwester von einem – wie sagte sie doch? – ganzen Menschen macht.«

Seufzend schüttelte Rudolf den Kopf:

»Da muß ich das Leitmotiv meines Toasts wiederholen – es lebe die Zukunft – die wird ganze Menschen haben ... heute findet man nur viertel, achtel, hundertstel –«

»Nicht einmal halbe gibst Du zu?«

»O, Halbheit in anderem Sinne, auf die stößt man nur zu oft. Ernstlich, Du hast eine zu gute Meinung von mir, Sylvia. Du weißt doch, daß ich eine Aufgabe habe, und weißt, wie wenig ich noch die Kraft fand, sie zu erfüllen, Du weißt –«

»Nicht die Kraft,« unterbrach Sylvia, »die Möglichkeit hat Dir gefehlt.«

»Auch die. Hoffentlich wird es größere, weitere Möglichkeiten geben, wenn mein Friedrich erwachsen ist. Sein Feld wird das zwanzigste Jahrhundert sein, und von dem erwarte ich die Erfüllung großer Dinge.«

»Du bist heute ganz Zukunft, Rudi,« sagte Delnitzky; »da folge ich Dir nicht, denn die Gegenwart ist mir viel zu schön.«

Sylvia warf ihm einen Blick zu, mit dem sie ihm[6] das Weiterreden verwehrte. Offenbar war es ihr unerwünscht, daß Rudolf in diesem Augenblick erfahre, was Delnitzkys Gegenwart so sehr verschönte.

In einer andern Ecke standen der Oberst von Schrauffer, Doktor Bresser und der Pfarrer im Gespräch.

»Ein hübscher Junge, Ihr Sohn, Herr Doktor,« sagte der Pfarrer, »dem wäre die Uniform gutgestanden – warum haben Sie ihn nicht zum Militär gegeben?«

Pater Protus war eine Zeitlang Feldkaplan gewesen und hatte sich eine große Vorliebe für die Angehörigen des Militärs bewahrt. Die Erinnerung an die in Gesellschaft fröhlicher Offiziere zugebrachten Stunden gehörte zu seinen liebsten Erinnerungen. Zweiunddreißig Jahre alt, aufgeweckten Geistes, lern- und lebenslustig, war er von jeglichem Sektengeist, von jeglicher muckerischer Strenge weit entfernt. Als Gesellschafter war er allgemein beliebt. Er wußte ebensowohl auf Scherze einzugehen, als an wissenschaftlichen Diskussionen teilzunehmen. Natürlich hatten seine Freunde den Takt, dem Priester gegenüber bei Scherzen keinen zu frivolen, bei Diskussionen keinen glaubensverletzenden Ton anzuschlagen. Ebenso zurückhaltend war Pater Protus: im gesellschaftlichen Verkehr schlug er niemals einen lehrhaften, bekehrenden Ton an. Ob er nicht auch selber in seinem Innern mit manchen Dogmen gebrochen, das konnte aus seinen Äußerungen niemals hervorgehen, doch lag in seiner Art mit notorisch freidenkenden Menschen ein Zug stillschweigender Achtung.

»Ein hübscher Junge, Ihr Sohn,« sagte er zu Doktor Bresser, »dem wäre die Uniform schön gestanden, warum haben Sie ihn nicht zum Militär gegeben?«

»Gegeben? Ich? Er hat sich seinen Beruf selber gewählt. Er ist Schriftsteller.«

»So–o?« machte der Oberst. »Ist denn das überhaupt ein Beruf?«

[7] »Ich sollte meinen, einer der allerschönsten,« bemerkte Pater Protus.

»Und ich denke, Schriftstellerei kann man doch nur so nebenbei betreiben; es ist ja doch keine Karriere – mit regelmäßigem Vorrücken, mit gesichertem Erwerb.«

»Das freilich nicht. Aber da mein Sohn von seiner Mutter ein genügendes, selbständiges Vermögen geerbt hat –«

»Ich verstehe«, unterbrach der Oberst, »so privatisiert er.«

»Im Gegenteil – er hat sich die breiteste Öffentlichkeit als Lebensweg gewählt: er ist Schriftsteller und Journalist.«

»Journalist? – Also der Beruf der Leute – ich glaube Bismarck hat ihn so genannt – die ihren Beruf verfehlt haben?«

»Ich finde den Journalismus einen sehr schönen Beruf,« fiel der Pfarrer lebhaft ein. »Ein lieber, sehr geschätzter Freund von mir schreibt die Kunst- und Musikreferate für die Neue freie Presse –«

»Es nimmt mich Wunder, daß ein geistlicher Herr das bekannte Judenblatt –«

»Oh, ich stehe nicht auf dem antisemitischen Standpunkt, Herr Oberst. Und für welche Zeitung arbeitet Ihr Sohn, Doktor Bresser?«

»Für zehn verschiedene. Doch vom künftigen Oktober ab wird er eine Stelle als ständiger Redakteur eines neu gegründeten politischen Blattes antreten.«

»Hoffentlich ein gutgesinntes ... Einerlei: als Leutnant ... jetzt könnte er auch schon Oberleutnant sein – wäre mir Ihr Sohn doch lieber, wie als – verzeihen Sie – als Federfuchser. Hätten Sie ihn rechtzeitig in eine Militärakademie gesteckt ... Aber Sie sind ja ein alter Freund der Baronin Tilling – folglich ein geschworener Militärfeind –«

»Militarismusfeind.« verbesserte Bresser.

[8] »Das bleibt sich gleich. Wenn einer eine Sache nicht mag, so fügt er ihrem Namen ein gehässiges ›ismus‹ an. Nicht wahr, Herr Pfarrer, die Feinde der Kirche sagen auch beileibe nicht, daß sie etwas gegen die Religion oder gegen die Kleriker haben – nur dem Klerikalismus sind sie feind –«

»Ich fühle da doch den Unterschied,« erwiderte Pater Protus. Dann an Doktor Bresser gewendet:

»Ihr Sohn kommt mir heute sehr schweigsam und melancholisch vor. Ist er oft so?«

»Er ist gewöhnlich ernst; doch ist mir es auch aufgefallen, daß er heute etwas verstimmt scheint.«

Der junge Mann, von dem die Rede war, saß an einem Tisch und blätterte in illustrierten Zeitschriften. Aber sein Blick haftete nur zerstreut auf den Bildern, immer wieder irrte er in die Richtung, wo Sylvia und Denitzky nebeneinander standen.

Seit Jahren schon trug Hugo Bresser eine schwärmerische Neigung für Sylvia im Herzen. In bewußter Hoffnungslosigkeit zwar, denn er maßte sich nicht an, der gefeierten, reichen Aristokratin als Freier sich zu nahen. Was ihm aber heute in Gebaren und Mienenspiel an dem Paare aufgefallen, hatte seine Eifersucht entfacht.

Selber auf ein Glück verzichten, ist schon schwer genug – aber einen andern in dessen Besitz zu sehen, ist unerträglich ... Wenn ich recht erraten, sagte er sich – so werde ich dieses Haus meiden – ich könnte da nicht zusehen. Und dabei: er ist ihrer nicht wert ... Nur dem Besten, Gescheitesten, Edelsten wäre sie zu gönnen ... aber dieser Dutzendmensch! ... Ist es nicht schon bedauerlich genug, daß der herrliche Rudolf sich ein Dutzend-Komteßchen nahm ...

Indessen waren die beiden Großmütter in das Schlafzimmer der jungen Frau gegangen, ihr einen Besuch abzustatten.

Beatrix Dotzky, in schleifen- und spitzengeschmücktes [9] Nachtgewand gehüllt, lag in ihrem Bette und hielt den kleinen Fritz im Arm. Kammerfrau und Wärterin standen daneben.

Gräfin Lori eilte auf ihre Tochter zu:

»Also Trixi – wie geht's? Gib mir das Wurm ein bissel her ... So ein lieber Schneck. Die ganze Mama – und Du siehst mir ähnlich, folglich die ganze Großmama – ich kann zwar nicht behaupten, daß mich dieser Titel entzückt ...«

»Er will Dir auch gar nicht passen, liebste Mama ...«

»Aber mir paßt er doch, Beatrix, nicht wahr?« sagte Martha. »Gib mir den Kleinen, Lori.«

Gräfin Griesbach ließ sich nicht bitten und legte das Kind auf Marthas Arme.

»Und jetzt laß Dir erzählen ...« Sie setzten sich an das Fußende des Bettes und in übersprudelndem Redefluß berichtete sie, wie die Taufe in der Kirche vor sich gegangen, was der Pfarrer gesprochen, und wie der Kleine geschrien und was für Toaste bei Tische ausgebracht wurden: Oberst von Schrauffen hatte so herrlich von den künftigen Großtaten gesprochen, die der kleine Fritz bestimmt war, im Dienste des Vaterlandes auszuführen, wenn er wie sein Großvater und wie sein Urgroßvater Althaus des Kaisers Rock trüge. Von da sprang Loris Rede ohne Übergang auf die Genesis ihres granatroten Damastkleides »bei der Spitzer, weißt Du – die arbeitet doch am chiksten ...« – auf verschiedene Sorten von »Milchkasch«, mit denen man am besten kleine Kinder aufpäppelt, auf die Misere, die man später mit den Bonnen hat und auf Verhaltungsmaßregeln für die junge Mutter. »In sechs Wochen,« so schloß sie, »mußt Du, ja mußt Du nach Mariazell, um der Muttergottes für die Geburt des Knaben zu danken (ich bin so froh, daß es ein Bub ist – wegen dem Majorat). Ich bin schon vor Deiner Geburt nach Mariazell – nein Mariataferl [10] war's – gewallfahrtet und wie Du siehst, hat es Dir Glück gebracht – –«

Martha saß schweigend am andern Bettrand und blickte nachdenklich auf das Kind, das sie im Schoße hielt. Gedanken, Gefühle, Bilder durchwogten ihre Seele – nicht klar, nicht abgesondert, sondern ineinander fließend, in ihrer Vermengung eine Wehmutsstimmung ergebend.

Der Sohn ihres Sohnes ... vielleicht würde auch der wieder Söhne zeugen ... und so geht das Leben, um alles Sterben unbekümmert, aus entlegenster Vergangenheit in entlegenste Zukunft hinüber – dazwischen immer wieder Leid, Kampf, Alter, Tod – und was am Ziele? Was am Wege? Wohl auch mitunter Freude, Liebe, Begeisterungsschwung: das ist ja an sich schon erfüllter Zweck. Das Ziel kann doch nur sein: mehr Freude, mehr Liebe, höherer Schwung ... O du kleines, hilfloses Geschöpfchen, was wird aus Dir werden – wenn Du überhaupt erhalten bleibst? Wie viel Schmerz wirst Du erdulden, wie viel Schmerz bereiten? Sicher ist Dir nur Eines, früher oder später: das Todsein – die ewige Abwesenheit ... O mein Verlorener! ...

Und wieder erstand das Bild Tillings vor ihrem inneren Auge. Aber nicht in jener im Traum entstandenen, altersmüden Gestalt, sondern wie er in seiner Vollkraft gewesen an dem Tage, da er unter den Kugeln des Exekutions-Pelatons zusammenfiel.

[11]

II

Rudolf Graf Dotzky, geboren 1859, wenige Monate vor Ausbruch des italienisch-österreichischen Krieges, in dem sein Vater den Tod fand, zählte jetzt dreißig Jahre. Besitzer des ausgedehnten Dotzkyschen Majorats, hatte er keinen andern praktischen Beruf als die Bewirtschaftung seiner Güter. Daneben hatte er sich aber noch einen idealen Beruf erwählt, dem sein Lernen, Denken und Streben galt: nämlich die Aufgabe zu erfüllen, welche Friedrich Tillings Vermächtnis war: die Bekämpfung der Kriegsinstitution. Die eigentliche Erbin dieses Vermächtnisses war freilich Tillings Witwe, doch freiwillig hatte sich Rudolf zum Mitarbeiter seiner Mutter herangebildet. Das zu Friedrichs Lebzeiten angelegte »Protokoll« – ein Einschreibebuch, in das die Fortschritte der Friedensidee und -Bewegung eingetragen waren, wurde zuerst von Martha, dann von Rudolf weitergeführt. Die von dem Elternpaar zusammengetragene Bücherei natur- und sozialwissenschaftlicher Werke fand in ihm einen eifrigen Studenten und Mehrer.

Allerdings mußte daneben das obligate Studium der offiziellen Schulgegenstände absolviert werden; auch das Freiwilligenjahr hatte er ausdienen müssen. Dann kam die Erbschaft des Dotzkyschen Majorats, wodurch dem jungen Mann die Notwendigkeit erwuchs – wollte er anders den Pflichten des Großgrundbesitzes gerecht werden – ernstliche Landwirtschaftsstudien zu betreiben – all das ergab eine bedeutende Ablenkung von jenem idealen Beruf.

[12] Auch kam eine Zeit, da er durch den Umgang mit seinen Alters- und Standesgenossen in einen Wirbel von weltlichen und sportlichen Vergnügungen gerissen wurde, wobei die Beschäftigung mit seiner Lebensaufgabe stark zur Seite geschoben ward. Sogar die Gesinnungen, die dieser Aufgabe als Grundlage dienten, waren durch den Einfluß der ganz entgegengesetzten feudalen, chauvinistischen und reaktionären Ansichten, die in seiner Umgebung herrschten, momentan ins Schwanken geraten und hätten Gefahr gelaufen ganz unterzugehen, wären sie nicht schon so tief in seiner Seele geankert gewesen, und wenn der niemals ganz aufgegebene innige Verkehr mit der Mutter ihm nicht immer wieder die Ideale aufgefrischt hätte, für die er wirken wollte – später, später, bis er zu Ruhe käme.

Und er kam bald zu Ruhe. Das schale Leben der »goldenen Jugend«, mit dem ewigen Trinkgelagen und ewigen »kleinen Jeux«, mit den abwechslungslosen Jagd-, Rennstall- und Koulissengesprächen ekelte ihn bald an. Es zog ihn zurück zu seinen Büchern und zu seinen gutsherrlichen Pflichten. Schon im Alter von vierundzwanzig Jahren hatte er sich von dem Treiben seiner Genossen losgerissen. Er zog sich auf Brunnhof – die größte und schönste seiner Domänen – zurück und lud seine Mutter und Schwester ein, bei ihm zu wohnen.

Hier widmete er sich wieder mit verdoppeltem Eifer seinen beiden Berufen – dem einen mit ausübender, dem anderen mit vorbereitender Arbeit. Er unterbrach dieses einsame Landleben nur durch einige Reisen nach Paris, London und Italien. Denn er sah wohl ein, daß man ein Stück Welt gesehen haben müsse, wenn man einst öffentlich wirken wollte.

Das Gebiet seiner Aufgabe hatte sich ihm unversehens stark erweitert. Ursprünglich war es nur die eine – von Tilling überkommene Idee – Bekämpfung der [13] Kriegsinstitution – die ihm als Ziel vorgeschwebt, aber allmählich kam er zur Überzeugung, daß jeder Zustand, jede Einrichtung mit allen anderen Zuständen und Einrichtungen in vielfacher Wurzelverschlingung verbunden ist, und da begann er, sich in andere Probleme zu vertiefen und andere Bewegungen zu verfolgen; überall lauschte er hin, wo ein neuer Geist die alten Formen sprengen wollte. Je weiter er vorwärts drang, desto zahlreicher eröffneten sich ihm immer wieder neue Forschungsfelder. Die Fülle der auf ihn einstürmenden Gedanken und erwachenden Erkenntnisse hinderte ihn daran, sich auf irgend eine bestimmte Aktion zu konzentrieren. Erst mußte er lernen und noch lernen, erst mußte sein gährender Geist Klärung gewinnen, ehe er daran gehen konnte, tätig in das Räderwerk des öffentlichen Lebens einzugreifen. »Später, später!« rief er sich zu und hatte vorläufig darauf verzichtet, sich politisch oder publizistisch zu betätigen. Er bewarb sich nicht um den Reichsratssitz, zu dem ihn sein Großgrundbesitz berechtigt hätte, er schloß sich keinem Vereine an und veröffentlichte keine Aufsätze; er begnügte sich mit Studieren und Denken, mit Schauen und Beobachten. Daß er öffentlich werde wirken müssen, um die in Tillings Vermächtnis enthaltene Aufgabe zu erfüllen, das war ihm klar – aber: später, später.

Als er achtundzwanzig Jahre alt war, entschloß er sich, zu heiraten. Der Besitzer des Majorats und zugleich letzter männlicher Sproß des Hauses Dotzky war einfach verpflichtet, für Vermögens- und Namenserhaltung zu sorgen und sich eine ebenbürtige Gattin zu wählen.

Von Kindheit auf hatte er – halb im Scherz, halb im Ernst – um sich wiederholen gehört, daß die einzige Tochter der Gräfin Griesbach, die kleine Beatrix, seine Frau werden solle. Die Mütter waren Jugendfreundinnen, die Kinder Spielgenossen, und der Gedanke, daß sie einst ein Paar werden sollten, wuchs sowohl bei Rudolf wie bei Beatrix als etwas selbstverständliches, einfaches, [14] gar nicht tiefbewegendes noch hochbeglückendes, aber immerhin als etwas ganz erfreuliches heran.

Ohne langes Hofmachen seinerseits, ohne langes Überlegen ihrerseits, ohne Überraschung für die Familien und Freunde wurde Rudolfs Werbung vorgebracht und angenommen und sechs Wochen später die Trauung vollzogen. Beatrix war eine anmutige und elegante Erscheinung; in geistiger Beziehung war sie nicht viel über das Niveau ihrer Mutter herausgewachsen, aber Rudolf hatte gar nicht den Versuch gemacht, sie zur Teilnahme an seinen geistigen Interessen heranzuziehen – hierin war und blieb seine Vertraute die Mutter. Bei seiner kleinen Frau wollte er nicht Anregung zu seinen Arbeiten, sondern Erholung finden. Ausruhen wollte er bei ihr und sich aufheitern lassen. Sie besaß ein fröhliches Temperament und fühlte sich durch die glänzende Lebensstellung, die ihr der liebenswürdige und hübsche Gatte bot, vollständig glücklich – da konnte sie wohl durch sonnige Laune und ungeheuchelte Zärtlichkeit die gewünschte Aufheiterung leisten. Für das geistige Ausruhen bürgte ihr gänzliches Unverständnis: mit ihr gab es kein weiteres Ausspinnen der Gedanken, kein Erwägen der Pläne – mit einem Wort: keinerlei weiteres Kopfzerbrechen; in ihrer Gesellschaft mußte man die geistige Arbeit ruhen lassen.

Martha hatte sich dieser Eheschließung nicht widersetzt. Sie hatte die Empfindung, daß Rudolfs Lebensaufgabe und Lebensinhalt außerhalb der häuslichen Verhältnisse lag, etwa wie bei einem von seiner Berufspflicht ganz erfüllten Priester. Rudolfs Schicksal hing nicht an der Gemeinschaft mit einem geliebten Weibe – es hatte ein weiteres Feld. Auf diesem Felde war die Mutter seine Vertraute und Beraterin; vielleicht wäre es dieser sogar schmerzlich gewesen, eine solche Rolle einer anderen überlassen zu sollen. Der große Liebreiz der jungen Gräfin Dotzky verbunden mit ihrem kindlichen Frohsinn, ließ [15] über ihren Mangel an Geist, über die Seichtigkeit ihres Charakters hinwegsehen. Viele nannten sie entzückend und Rudolf hatte sie von Herzen lieb.

So fühlte sich Martha über ihres Sohnes Eheleben ganz beruhigt und zufriedengestellt. Anders urteilte sie über die bevorstehende Heirat der Tochter. Da war ihr unsäglich bang. Für Sylvia hatte sie stets den Traum genährt, daß ihr in einer harmonischen Ehe ein Glück beschieden sein möge, wie sie selber es an der Seite Tillings gefunden. Und dafür bot ihr das Wesen des jungen Delnitzky keine Bürgschaft.


Es war am Abend des Tauffestes. Sylvia saß beim Fenster in ihrem Zimmer. Die Dunkelheit war schon hereingebrochen. Das Fenster stand offen und die laue Sommernachtluft, düftebeladen, strömte herein. Hinter den Baumwipfeln stieg eine glutrote, unnatürlich groß scheinende Mondscheibe empor. Von ferneher leiser Unkensang und aus nahem Gebüsch die Triller einer Nachtigall.

Sylvias Kopf war an die Fauteuillehne zurückgeworfen und ihre beiden Hände hingen über die Armlehnen hinab. Ihr Atem ging hörbar und kurz durch die halbgeöffneten Lippen; sie selber fühlte das Schlagen ihres Herzens.

Verliebt ... Die Wonne dieses Bewußtseins war nicht nur eine seelisch, sondern zugleich physisch empfundene Wonne. Eine süße Wärme, eine seligkeitsahnende Beklemmung in der Brust, eine wogende Betäubung im Kopf.

Beim Abschied – sie standen von den anderen ungesehen in einer Nische der finstern Ausgangshalle – hatte Delnitzky sie auf den Mund geküßt. Der erste Liebeskuß in ihrem Leben. Jetzt saß sie da und suchte sich dieses Erlebnis, dieses Ereignis wieder zu vergegenwärtigen. Sie war erschüttert, bereichert – verändert mit einem [16] Wort, nicht mehr dieselbe Sylvia, die sie vor einigen Stunden gewesen.

Die Tür ging auf.

»Im Finstern, mein Kind?« Und Martha drückte an den elektrischen Knopf. Ein mattes rosa Licht fiel nun durch die gläserne Deckenampel in den Raum und zeigte die weiß lackierten Möbel, die blumengemusterten Stoffe und Tapeten des frischen, einfachen Mädchenzimmers

Sylvia sprang auf.

»Habe ich Dich erschreckt?«

»O nein, Mama ... Gut, daß Du kommst ... ich wäre ohnehin später zu Dir hinüber ... Bitte, setz Dich hierher auf das Sofa ... und laß mich ... so, auf diesen Schemel ...« Und Sylvia ließ sich zu ihrer Mutter Füßen nieder und legte den Kopf auf deren Schoß.

Martha strich liebkosend über des jungen Mädchens Scheitel:

»Das ist ja unsere Märchenerzähl-Stellung,« sagte sie lächelnd, »nur sind die Rollen getauscht: jetzt mußt Du mir erzählen. Wie ist das gekommen? ... Morgen will Delnitzky um Deine Hand bei mir anhalten .... Werde ich – werden wir ja sagen? Bist Du mit Dir im Reinen?«

»Glücklich bin ich, glücklich ...«

»Die Frage ist, ob Du glücklich wirst ... Auf die Dauer, meine ich ... für ein Leben ... Paßt Ihr auch für einander? ... Kennst Du ihn als einen Mann, zu dem Du vertrauensvoll aufblicken kannst, von dessen Verstand, dessen Güte, dessen Übereinstimmung mit Deinem Wesen Du überzeugt bist? ...«

»Das sagte ich ihm vor ein paar Stunden selber: ›Wir kennen uns nicht.‹ So wie Du, Mama, empfand auch ich halbe Zweifel ... aber jetzt ist das verscheucht ... Liebe kann nicht so täuschen – und ist Liebe nicht schon an und für sich Gewähr für Glück? Ob fürs ganze Leben? ... wer wird gleich so viel verlangen? [17] Ist es nicht schon Erfüllung genug, daß man diese goldene Frucht – das Glück – überhaupt pflücken und die Seele damit laben darf? ... Erinnerst Du Dich, Mama – Du hast mir nicht nur Märchen, Du hast mir auch Geschichten aus Deinem Leben erzählt – erinnerst Du Dich, wie Du Deine Ehe mit Rudolfs Vater eingegangen? Ein Kotillon auf einem Kasinoball – und sein und Dein Schicksal war besiegelt. Warst Du nicht glücklich mit ihm? ... Freilich auch nicht fürs Leben – denn nach einem kurzen Jahr ist er Dir entrissen worden ... aber war dieses Jahr nicht schön?«

»Mein Kind, das ist etwas anderes ... ich war damals so jung, so unausgewachsen an Vernunft und Charakter – während Du, Sylvia –«

»Ich bin doch auch jung –«

»Doch schon zweiundzwanzig ... Ich war damals siebzehn Jahre alt. Aber nicht die Jahre machen es – Du bist ein ernstes Mädchen, ein selbständig denkendes Weib – Du stellst große Ansprüche an die Menschen –«

»Ja, dasselbe habe ich heute meinem Bräutigam gesagt ... dieselben Zweifel ausgedrückt ...«

»Siehst Du?«

»Ausgedrückt habe ich sie, aber ich empfinde sie nicht – wenigstens jetzt nicht. Das Glück, das mich erfüllt, ist stärker als alles – alles andere – ich begreife es ja nicht ...«

»Du hast schon so viele Körbe gegeben und unter Deinen abgewiesenen Freiern waren solche, die ich höher einschätze als Delnitzky, Du aber konntest nicht genug zu erwägen, zu tadeln finden. Der war nicht genug universell gebildet, der nicht hochherzig genug – dem mangelte es an funkelndem Geist, dem an edler Milde – kurz, man hätte glauben sollen, Du wolltest Deine Zukunft nur einem Ideal von Vollkommenheit anvertrauen, und jetzt –«

[18] »Und jetzt habe ich das Gefühl, daß es auf der ganzen Welt keinen anderen Menschen gibt, dem ich angehören könnte, als Delnitzky. Märchen sollte ich Dir erzählen, Mama? Da hast Du eins! Ein lichtes Wunder, ganz losgelöst von allem vernünftigen ›Warum?‹ und ›Wozu‹. Es hat keine Erklärung und braucht keine. Ich bin so glücklich und mir ist, als wäre alles verzaubert, und ich selber bin eine andere, als die ich war. Was ich früher gedacht, überlegt, erwogen – das ist alles zerflattert, zerstoben, etwas Neues umgibt, durchdringt mich, hebt mich empor –«

»Kind, Kind – Du sprichst wie im Rausch –«

»Ja, Mama. Aber nicht der Champagner ist mir zu Kopf gestiegen – ich weiß jetzt, was das Wort Glücksrausch bedeutet.«

»Du bist mir aber noch die Erzählung schuldig. Wie ist es gekommen?«

»Auf dem Wege von der Kirche hat er sich erklärt.«

»Nein – ich frage, wie ist es gekommen, daß er Dein Herz erobert? Allmählich? Plötzlich? – Welche besondere Eigenschaft hast Du an ihm entdeckt?«

»Eine besondere Eigenschaft? Irgend eine wahrgenommene Tugend, die mich zu dem überlegten Entschluß veranlaßt hätte: ›Dieser Mensch ist liebenswert – ich will ihn lieben‹? So etwas ist nicht geschehen. Zwar hatte ich das stets so erwartet. Da bisher alle meine Bekannten und alle meine eifrigsten Courmacher mich kalt gelassen, sagte ich mir: es hat eben noch keiner so liebenswerte Eigenschaften gezeigt, wie ich sie von meinem künftigen Gatten fordere; wenn sich einer so offenbaren wird, wie mein Ideal beschaffen ist, dann werde ich ihm meine Liebe schenken. Als ob ein solches Geschenk ein willkürlicher Akt wäre! ... Jetzt habe ich erfahren, daß Liebe von jeglicher Willenslenkung unabhängig ist – ebenso gut könnte man aus freiem Entschluß ein Nervenfieber bekommen, wie –«

[19] »Wie ein Liebesfieber? Als eine Krankheit betrachtet meine Sylvia ihr schicksalsentscheidendes Gefühl?«

»Als eine süße, betäubende, gefährliche Krankheit –«

»Warum gefährlich?«

»Weil ich sterben müßte, wenn etwa jetzt ein Hindernis –«

»Oh, man stirbt nicht so leicht an Schicksalsschlägen und an Seelenschmerz – davon bin ich ein Beispiel. Doch jetzt will ich Dich allein lassen, mein geliebtes Kind ... geh zur Ruhe – ein tüchtiger, langer, fester Jugendschlaf wird Dich erfrischen und beruhigen – Du bist jetzt so erregt ... ich will Dich gar nicht mit weiteren Ausforschungen plagen. Morgen früh wirst Du mir besser erzählen können, was ich noch wissen will. Gute Nacht, mein Kind.«

Martha beugte sich über ihre Tochter und strich ihr mit der einen Hand zärtlich über das Haar, während Sylvia die andere an ihre Lippen zog:

»Gute Nacht, Mutter, Freundin – einzige, gute, liebste Mama, ich bin so glücklich ...«


Nachdem sie allein geblieben, ging Sylvia wieder zum offenen Fenster und, an die Fensterwand gelehnt, den Kopf auf den zurückgelegten Arm gestützt, schaute sie zum Nachthimmel auf. Jetzt stand der Mond schon hoch am Firmament und goß ein sanftes, blauweißes Licht auf die Büsche und auf die Kieswege des Gartens. Die leise bewegte Luft war von Rosen und Jasmindüften durchweht.

Diese Nachtluft und diese Düfte: wie oft hatte Sylvia deren Zauber empfunden; doch während solcher Zauber sonst eine Verheißung war – heute war er Erfüllung. Ja, das Leben ist schön ... ja, der Lenz mit seinen Blütenschätzen, mit dem geheimnisvollen Glanz [20] seiner Mondnächte, ist Verkünder und ist Spender liebeatmender Entzückung ...

»Wie es gekommen?« Das zog jetzt an Sylvias Geist vorüber.

Vor vierzehn Tagen im Prater – damals blühte noch der Flieder und es war auch so eine laue, helle Frühlingsnacht gewesen – da war im Sacher-Saale ein »Junge-Herren-Ball« veranstaltet worden. Von allen jungen Herren der Gesellschaft galt Delnitzky als der hübscheste und eleganteste. Wenigstens zehn Komtessen schwärmten für ihn und fast alle Mütter wünschten im stillen, daß ihre Töchter ihn erobern mögen – denn er war eine der ersten »Partien« des Landes.

Auf den drei oder vier vorhergehenden Bällen, die Sylvia mitgemacht, hatte der junge Mann besonders auffallend ihr gehuldigt, wodurch sie sich – nicht ohne eine gewisse Genugtuung – als der Gegenstand vielseitigen Neides fühlte. Dann aber, in einer Soiree bei der französischen Gesandtschaft – am Vorabend jenes Praterballes – hatte er sich von Sylvia ganz fern gehalten und in ziemlich ostentativer Weise der jungen Gattin eines alten Diplomaten den Hof gemacht. Eine gemischte Empfindung von Kränkung und Ärger klärte Sylvia darüber auf, daß ihr Delnitzky nicht gleichgültig war.

Am liebsten hätte sie auf den »Junge-Herren-Ball« – den letzten der Saison – verzichtet. Delnitzky unter solchen Umständen wiederzusehen, würde ihr nur Qual bereiten. Es kam aber anders. Gleich bei ihrem Eintritt in den Saal eilte der junge Mann auf sie zu und bat um den Kotillon.

Einen Augenblick war sie versucht, zu erwidern, daß sie vergeben sei, aber ehe sie noch darüber entschied, hatte sie schon unwillkürlich ja gesagt.

Jene junge Frau war auch anwesend, doch wechselte Delnitzky diesmal keine zehn Worte mit ihr. Während [21] einer Tanzpause kam eine ihrer Freundinnen auf Sylvia zu und hängte sich in sie ein:

»Komm, laß uns ein wenig auf und ab gehen – ich habe Dir etwas zu erzählen –«

»Das wäre?«

»Ich bin vorhin von einem Verliebten zur Vertrauten erkoren worden. Zwar kein gar lustiges Amt – man ist in solchen Angelegenheiten lieber der Gegenstand ... aber, da es sich um Dich handelt – von der man weiß, daß Du meine liebste Freundin bist ... kurz, ich bin nicht neidisch. Hast Du gesehen, mit wem ich die letzte Quadrille getanzt? ...«

»Ja, mit Delnitzky ... und ich sah ihn eifrig mit Dir sprechen –«

»Was er mir so eifrig sagte, war, daß er sterblich in Dich verliebt ist; daß er Dich aber für kalt und ablehnend hält. Gestern habe er – in seiner Verzweiflung – versucht, einer anderen den Hof zu machen ... er hatte sich vorgenommen, Dich zu meiden – doch heute war dieses Vorhaben wieder umgestoßen; er hielte es nicht aus ... Und er bat mich, Dich auszuforschen – klug und unmerklich auszuforschen, ob er hoffen dürfte. Ich entledige mich dieses Auftrags ... freilich nicht gar klug und unmerklich – wozu auch? Du wirst auf jeden Fall aufrichtig mit mir sein? Nun?«

Sylvia zögerte mit der Antwort. Da fiel das Orchester mit einer rauschenden Walzermelodie ein und mehrere junge Leute traten mit auffordernder Verbeugung vor beide Mädchen hin.

»Freut euch des Lebens,« hieß der Walzer – und wahrlich: diesem von Meister Strauß in Dreivierteltakt erlassenen Gebot gehorchte Sylvia aus vollem Herzen, als sie sich nun von ihrem Tänzer durch den Saal wirbeln ließ.

[22] Der Kotillon, die Krönung der schönen Ballnacht, brachte zwar keine förmliche Erklärung, aber ein durch Blick und Tonfall sich unzähligemal wiederholendes Bewerben und Gewähren. Auf einen Heiratsantrag hätte Sylvia sich Bedenkzeit erbeten, denn sie war durchaus nicht entschlossen, Delnitzkys Frau zu werden – dazu mußte sie ihn doch erst besser kennen lernen –, aber auf die stummen, lieberglühten Blicke gaben ihre Augen, ohne daß sie es hindern konnte, zärtliche Antwort, und seine leidenschaftszitternde Stimme, auch indem er die gleichgültigsten Dinge redete, weckte ein Echo in ihrer befangenen Gegenrede.

Nach dem Kotillon das Souper an seiner Seite – und dann der Aufbruch in den dämmernden Frühlingsmorgen hinaus; er war es, der sie in ihren Mantel hüllte, der ihr das Spitzentuch um den Kopf wand, der sie zum Wagen führte und ihr einsteigen half – mit langem, bebendem Händedruck.

An all das dachte Sylvia zurück. Jetzt war alles besiegelt, er hatte ihre Hand begehrt und sie hatte ja gesagt; er hatte sie geküßt und sie hatte seinen Kuß erwidert ...

Und so war es denn Sylvia ergangen, wie dem ersten besten »Komtessel«, dessen ganzer geistiger Horizont von den Begriffen: Ball, Courmacher, »Passion«, »glänzende Partie« umgrenzt ist. Und doch wie ganz anders war sie geartet. Ihre Interessen umfaßten eine ganze Welt von Ideen, Kenntnissen und Zeitfragen; an den Bestrebungen und Plänen ihrer Mutter und ihres Bruders hatte sie stets ernsten Anteil genommen. Obwohl von diesen beiden nicht zur tätigen Mitarbeit herangezogen, war ihr doch Einblick in deren Denken und Fühlen gegeben, und auch sie war ein ernstes, von hohen Idealen erfülltes Menschenkind geworden. Und wenn sie von ihrer Zukunft träumte, so pflegte sie sich an der Seite [23] irgend eines bedeutenden Mannes – Gelehrter oder Staatsmann – zu sehen, der seiner Zeit seinen Stempel aufdrücken würde, und der befähigt wäre, diesen Stempel so zu formen, daß den Zeitgenossen wieder um eine Stufe herauf verholfen würde, auf der Skala der Veredlung und Beglückung.


Und jetzt? Jetzt war sie bereit und entschlossen, ihr Leben mit einem Mann zu teilen, von dessen Charakter sie eigentlich nichts, gar nichts wußte; von dem ihr keinerlei Bürgschaft geboten war, daß er ihre Träume erfüllen, daß ihm jemals eine hervorragende und einflußübende Rolle zufallen würde, daß er überhaupt ein – Edelmensch sei. Dieses von Tilling geprägte Wort war im Hause geläufig geblieben. Und an ihrem Bruder besaß Sylvia das Urbild aller Eigenschaften, die zu jenem Titel berechtigen; von Toni Delnitzkys Eigenschaften kannte sie eigentlich nur die, daß er ihr Herz in seliger Unruhe pochen gemacht, daß er rasend verliebt schien, und daß er der eine Mann, der einzige auf Erden war, nach dessen Kuß ihre Lippen sich sehnten. Sie war aber nicht verblendet, sie dichtete ihm nicht alle Tugenden an, wie das naiv Verliebten sonst Brauch ist. Sie gab sich Rechenschaft darüber, daß sie dem Bann einer Leidenschaft verfallen war. Es war aber ein so starker und so süßer Bann, daß sie gar nicht versuchen wollte, dagegen anzukämpfen. Wozu auch? Es band sie keine andere Pflicht, sie brach niemandem die Treue; – sie setzte nur eines aufs Spiel: ihr eigenes Glück. Das Glück späterer Jahre. Nun, diesen Einsatz konnte sie wagen; war ihr das Glück der gegenwärtigen Stunde und der nächsten Zukunft sicher und fühlte sie doch, daß sie höchstes Glück gewährte, daß sie dem geliebten Freier mit ihrem »Ja« eine beseligende Gabe gereicht, während ihr »Nein« ihm schier unerträgliches Leid zugefügt hätte. Sie empfand, daß sie durch diese Verlobung aus der Alltäglichkeit in ein ungeahntes [24] Fest – in eine Lebens-Sonntagsstimmung gehoben war, aus der sie nicht willkürlich sich herausreißen konnte, ehe die Festnummern absolviert waren, die auf dem rosa Programm prangten ...

Lange noch stand Sylvia am offenen Fenster und sog die balsamische Nachtluft ein. Jeder Atemzug Freude, jeder Pulsschlag Lebensgenuß.

[25]

III

Martha hatte ihren Sohn bitten lassen, auf ihr Zimmer zu kommen, sie habe mit ihm zu sprechen.

Rudolf folgte dem abgesandten Diener auf dem Fuße:

»Was steht zu Befehl, Mutter?«

Baronin Tilling saß in einem an ihr Schreibzimmer anstoßenden runden Erker. Der kleine Raum enthielt nur ein Miniatursofa an der linken Wand und einen niedern Schrank an der rechten. In der Mitte, dem Eingang gegenüber, Marthas Fauteuil, davor ein drehbarer Lesetisch, und rechts daneben ein zweites Tischchen. Auf diesem die Tageszeitungen, ein Arbeitskorb, Fächer, Flacon, Blumenvase und ein Photographierahmen mit Tillings verblaßtem Bild. An den Wänden hingen noch mehrere Bilder des verlorenen Gatten in verschiedenen Aufnahmen und Größen. Darunter auch ein gemaltes lebensgroßes Kniestück, von der Hand eines berühmten französischen Künstlers. Dieses Porträt war aber unvollendet. Begonnen im Sommer 1870, einige Wochen vor Ausbruch des Krieges, konnte es nicht ausgeführt werden, weil sich der Maler zu den Fahnen stellen mußte. Dennoch, so wie es war, zeigte es schon die sprechendste Ähnlichkeit.

Der niedere Schrank, kunstvoll aus Ebenholz geschnitzt und mit Elfenbein eingelegt, war mit Andenken an Tilling bedeckt und angefüllt. Da standen zwei Kassetten aus oxidiertem Silber mit den gravierten Jahreszahlen 1864 und 1866. Es waren die Briefe, welche Tilling von den dänischen und den böhmischen Schlachtfeldern an [26] seine Frau geschrieben, und in einem kleinen goldenen Kästchen lag der erste Brief, den sie überhaupt von ihm bekommen – geschrieben am Sterbelager seiner Mutter. In dem Schranke waren auch die blauen Hefte aufbewahrt, das sogenannte »Protokoll«, worin die Gatten im Verein die Chronik der Friedensidee eingetragen hatten.

In diesem Winkelchen hielt sich Martha täglich mehrere Stunden auf; hier las sie ihre Bücher und Zeitungen, oder zog die Fäden einer Stickerei, dabei an den Verlorenen denkend.

Mit den Worten: »Was steht zu Befehl?« küßte Rudolf seiner Mutter die Hand. Dann setzte er sich auf das kleine Sofa.

Wohlgefällig blickte Martha auf ihren Sohn – ein Bild männlicher Jugendfrische und Vornehmheit. Er trug einen lichten, sommerlichen Morgenanzug, der seine sonngebräunte Hautfarbe noch dunkler erscheinen ließ. Tiefschwarz das kurzgeschorene, in drei Zacken in die Stirn gepflanzte Haar; schwarz der schmale Schnurrbart, der den schöngezeichneten Mund frei läßt, schwarz auch und leicht gekräuselt der spanisch zugestutzte Kinnbart. Nur die dicht bewimperten Augen unter den dunklen Brauen sind blau. Edelgeformt das Profil; die Gestalt geschmeidig und schlank und beinahe sechs Fuß hoch, aristokratische Hände und Füße. – Mit Recht galt Rudolf Dotzky als einer der hübschesten Männer des an schönen Männererscheinungen nicht armen österreichischen Hochadels. So ungefähr hatte auch der junge Husar ausgesehen, der das Herz der siebzehnjährigen Martha Althaus im Fluge erobert hatte. Die Züge waren jedenfalls ähnlich, jedoch viel durchgeistigter. Und in Sprache und Tonfall hatte Rudolf vieles von seinem Stiefvater angenommen, so waren ihm manche seiner Bewegungen, seine Art zu lachen und ein paar norddeutsch anklingende Redewendungen hängen geblieben.

[27] »Ich wollte mit Dir über zwei wichtige Dinge sprechen, Rudolf.«

»Auch ich will Dir eine Mitteilung machen. Doch nachher ... Zuerst Du ...«

»Also, erstens: Delnitzky hat um Sylvias Hand angehalten.«

»Habe mir's gedacht.«

»Sie liebt ihn und ist entschlossen, ihn zu nehmen. Zwar habe ich mir meinen künftigen Schwiegersohn anders geträumt – was ist Deine Ansicht?«

»Mein Gott, ich kenne den Toni nur wenig ... Ich könnte nichts Übles von ihm sagen, habe auch nie Übles über ihn gehört ... Und wenn sie ihn gern hat –«

»Ich halte ihn für oberflächlich, für unfähig, auf die Ideen und Gesinnungen einzugehen, die meine Kinder hegen.«

»Vielleicht wird Sylvia ihn beeinflussen –«

»Das dacht' ich im ersten Augenblick auch ... Daß sie für einander schwärmten, bemerkte ich schon lang – besonders seit jenem Jungen-Herren-Ball ... Und Delnitzky ist ja ein lieber, guter Mensch, ein Gentleman ...... Aber seit die Entscheidung gefallen, steigen mir die Zweifel auf ... Meines unvergleichlichen Friedrich Kind ... das gönne ich keinem, der nicht so ist wie er gewesen. ... Aber gibt es einen solchen? ... Und verlieren werden wir sie ...«

»Ich glaube nicht, daß unsere Sylvia sich uns entfremden wird. Wir drei sind mit zu vielen Herzens-und Geistesfasern mit einander verwachsen, als daß uns etwas auseinander reißen könnte. Auch die Ehe nicht ... Sieh mich, zum Beispiel ...«

»Ja Du, mein Rudolf! ... Reden wir jetzt von Dir. Das ist der zweite Gegenstand, den ich auf dem Herzen hatte. Du hast gestern, beim Tauffest, Worte gesprochen, die tiefen Eindruck auf mich gemacht haben[28] – die klangen wie eine geliebte, längstverstummte Stimme –«

»Und darum brachst Du in Tränen aus? ... Was sagte ich? Ich erinnere mich nicht –«

»Desto genauer erinnere ich mich – jedes Wort hat sich mir eingeprägt ... ›So lange wir uns an die Vergangenheit klammern, werden wir Wilde bleiben‹ – sagtest Du – ›Aber schon stehen wir an der Pforte einer neuen Zeit – die Blicke sind nach vorwärts gerichtet, alles drängt mächtig zu anderer, zu höherer Gestaltung – schon dämmert die Erkenntnis, daß dieGerechtigkeit als Grundlage alles sozialen Lebens dienen soll und aus dieser Erkenntnis wird die Menschlichkeit erblühen – die Edelmenschlichkeit ...‹ Aber, Rudolf, die Zukunft wird nur eine andere, wenn die Gegenwart zu vorbereitender Handlung ausgenützt wird. Willst Du nicht handeln?«

»Ja, ich will. Das war es eben, was ich Dir mitzuteilen hatte. Was ich vor mir sehe, ist dies: ein Sitz im Abgeordnetenhause. Die Schaffung – vielleicht die Führerschaft einer neuen Partei. Daneben publizistische Tätigkeit ... In Bressers Blatt wird mir allwöchentlich eine Spalte offen stehen –«

»Und da wirst Du die Friedens- und Abrüstungsidee vertreten? Wie mich das beglückt! Du weißt ja, daß sich eine interparlamentarische Union gebildet hat – da könntest Du im österreichischen Parlament auch eine Gruppe zu bilden trachten –«

»Ich habe ein umfassenderes Programm im Sinn. Damit eine große Wandlung angebahnt werden könne, müssen zehn andere große Wandlungen gleichzeitig angestrebt werden.«

Martha schüttelte den Kopf.

»Gewiß,« sagte sie, »jede Wandlung ist von anderen bedingt, und zieht andere mit sich – ob aber ein Mensch [29] zugleich nach allen verzweigten Richtungen streben soll? Wo bleibt da die Arbeitsteilung?«

»Es gibt Dinge, die sich nicht teilen lassen, die ein großes Ganzes sind – z.B. eine Weltanschauung. Je mehr ich mich umsehe im ganzen öffentlichen Leben, je deutlicher erkenne ich, daß das, was not tut, eben dies ist: eine neue Weltanschauung – eine neue Orientierung. Nicht Schrauben und Masten sind an dem Schiffe zu ändern, auf daß es besser segele – der Kurs muß ein anderer werden. Denn in seiner jetzigen Richtung gleitet es nach einem Maelstrom, der es in die Tiefe ziehen wird –«

»Und Du allein, mein Sohn, willst der Lotse sein, der solche Kurswendung erreicht? Dein Ehrgeiz ist hoch.«

»Ehrgeiz?« – Rudolf machte eine wegwerfende Handbewegung – »Nein, den hab' ich nicht. Ich weiß ganz gut, daß das, was man unter Ehren und Würden versteht, nicht auf Pfaden zu holen ist, die man erst aushauen muß –«

»Und aus welchem Anlaß hast Du Dich gerade jetzt zum Handeln entschlossen?«

»Mein dreißigstes Jahr ist vollendet – die Lehrlingszeit ist vorüber – und dann, vielleicht auch die gestrige Feier ... Als ich es aussprach, daß wir uns der Söhne und Enkel würdig zeigen müssen, da mahnte mich das Gewissen, daß ich selber noch nichts dazu getan. Wie soll ich hoffen, daß mein Sohn einst meine Arbeit fortsetzt, wenn ich die Aufgabe nicht erfüllt hätte, die ich von meinem Vater übernommen –«

»Von Deinem Vater? –«

»Ach, verzeih – meinen wirklichen Vater habe ich ja nicht gekannt und in meinem Herzen habe ich stets diesen« – er zeigte auf das Bild an der Wand – »so genannt.«

»Das hat er auch verdient ...«

[30] »Und billigst Du meinen Entschluß?«

»Ich sagte schon: er beglückt mich. Nur das eine fürchte ich: – daß Du ein zu weites Feld bebauen willst, und dadurch vielleicht gerade die Pflanze vernachlässigen wirst, deren Pflege er« mit einem Blick auf das Bild – »uns hinterlassen hat. Ich meine jene ganz bestimmte, umgrenzte Bewegung – –«

»Ich weiß, was Du meinst: Schiedsgericht – Weltfrieden – – und das nennst Du umgrenzt? Es bedeutet nichts geringeres als die Umwälzung aller landläufigen Erziehung, Politik, Moral, Gesellschaftsordnung – kurz, eine ganze Revolution. Und bemerkst Du nicht, daß wir in einer Zeit leben, in welcher auch wirklich auf allen Gebieten revolutioniert wird? Seit zehn Jahren etwa ist in Deutschland eine ›Revolution der Literatur‹ ausgebrochen; die bildende Kunst nennt ihren Aufstand ›Sezession‹; die Frauen heißen den ihrigen Emanzipation und die Proletarier – Sozialdemokratie, und so nach allen Seiten – –«

»Nicht jeder, der eine neue Zeit ersehnt, braucht aber auf allen Seiten mitzuarbeiten. Jeder hilft dem andern am besten, wenn er die eigene Aufgabe gut erfüllt.«

»Du, Mutter, interessierst Dich eben nur für die eine Frage – und nicht für den Umschwung in Literatur und Kunst – nicht für die Frauen- noch Arbeiterbewegung?«

»Interessieren? Doch! Wer am Wandel der Zeit Anteil nimmt, der horcht und blickt überall mit Spannung hin ... aber kämpfen und wirken, das möchte ich nur in einer Richtung – und wie Du weißt, so weit meine Kräfte reichen, habe ich's ja durch die Niederschrift meiner Lebensgeschichte auch versucht ... In anderer Richtung fehlt mir das Verständnis – die Auffassungskraft. So gestehe ich Dir, daß mich die neue Kunst vielfach abschreckt ... daß ich noch an allem hänge, was ich [31] in meiner Jugend als schön bewunderte und als gut kennen gelernt ... Ich habe nicht versucht, aus Sylvia eine ›neue Frau‹ zu machen; ich bin zu alt, um zu –«

»Vielleicht ist das der Unterschied zwischen uns,« unterbrach Rudolf. »Ich bin jung ... Ich bin aufgewachsen in der gährenden Atmosphäre, in dem Sturm der ›Moderne‹ ... Freilich wehte mich dieser Sturm zumeist nur aus Büchern und Zeitungen an, – denn die Menschen, mit denen wir verkehren, die leben noch so sehr in den alten Anschauungen und Gewohnheiten, die wissen gar nicht, daß die Welt sich bewegt. Höchstens fühlen sie, daß ein miserabler Plebs an der schönen alten Ordnung zerren will – und das wehren sie verächtlich ab. Bis auf den alten Grafen Kolnos kenne ich aus unseren Kreisen gar keinen Menschen mit modernen Ideen. Es gibt deren gewiß ein paar Dutzend, aber ich kenne sie eben nicht.«

»Von Kolnos habe ich heute einen lieben Brief bekommen,« sagte Martha. »Der ist wirklich ein merkwürdiger und herrlicher Typus. Aber nicht, was ich unter modern verstehe: nichts von Dekadententum, nichts von raffiniertem Übermenschentum, nichts von tempelschänderischen Gelüsten.«

»Du mußt nicht gerade die krankhaften Erscheinungen des modernen Geistes ins Auge fassen, Mutter –«

»Freilich, Du hast recht; die meisten Mißverständnisse kommen auch daher: jedes Ding hat so verschiedene Aspekte – und zwei Menschen, die im Grunde eigentlich gleicher Meinung wären, streiten über eine Sache, für die sie nur einen Namen haben, die sie aber von zwei ganz verschiedenen Seiten betrachten ... Wovon sprachen wir eigentlich?«

»Von Kolnos –«

»Ja, richtig ... Wo habe ich seinen Brief? – Ah, da ... er hat mir sein neuestes Gedicht geschickt ... [32] da lies: er kennt meine schwache Seite, wie Du siehst, sein Lied ist gegen die Kanonen gerichtet.«

Rudolf nahm das Blatt und überflog es. Das dreizehn Strophen umfassende Gedicht, betitelt: »Nach X-tausend Jahren«, schildert eine Szene der fernen Zukunft, da man in dem vergletschert gewesenen Europa alte Funde ausgräbt und darüber Forschungen anstellt, um den Lauf der Kulturentwicklung zu erkunden:


Gelehrte schreiben dicke Bücher
Und streiten sich wie heute auch,
Um Wert und Schönheit der Antike
Und ihrer Werke Nutzgebrauch.

Nun findet man ein rätselhaftes Instrument, über dessen Bestimmung man sich die weisen Köpfe zerbricht. Es ist ein dickes Metallrohr. Sollte es eine Riesenorgelpfeife, ein prähistorisches Flötenstück oder ein Trinkhorn für Giganten gewesen sein? Oder ein mystisches Symbol – sogar in finsteren Zeiten der Gläubigen Götze? Endlich ward ein Stein entziffert, worin die Erklärung eingegraben war. Darauf wäre man freilich von selber nie gekommen: man brauchte das Rohr zum Massenmorde, euphemistisch Krieg genannt:


Und weil der Totschlag gut kanonisch,
(Das Mittel heiligte den Zweck)
So nannte man das Ding Kanone
Und blies damit die Gegner weg.

Robert gab das Blatt zurück.

»Nun, ich sag's ja: ein moderner Mensch, dieser hohe Sechziger. Denn sein Blick ist nach der Zukunft gerichtet. Er weiß, daß wir in Wandlung begriffen sind. Er schaut erkennend und sehnend nach vorwärts, während meine verehrten Genossen, wenn sie schon Ideale haben, sie immer nur in der Vergangenheit sehen. Die meisten sehen überhaupt nicht weiter als ihre Nase.«

[33] »Dabei sind aber diese Menschen ihrer Anlage nach vielleicht gerade so gescheit wie Du, mein Lieber. Es kommt nur darauf an, auf welche Gedankenpfade, auf welche Kenntnisfelder man zufällig geraten ist. Erziehung ist alles. Und nicht nur Kindererziehung – auch die der Erwachsenen. Tilling hat erst mit vierzig Jahren über gewisse Dinge nachzudenken begonnen – über die ihm dann so weite Horizonte aufgegangen sind.«

»Du denkst doch immer und immer wieder an ihn,« sagte Rudolf in leisem, ehrerbietigem Ton.

Martha hob den Blick zum Himmel:

»Immer. Ich bin stolz darauf, an mir erfahren zu haben, daß es eine Liebe gibt, die stärker ist als der Tod.«

[34]

IV

Ein heißer August-Nachmittag. Die Hitze hindert aber die Bewohner von Brunnhof nicht, sich am Tennisspiel zu ergötzen.

Der Spielplatz liegt in einem um diese Stunde von der Sonne unbeschienenen Teil des Parkes. Von hier ist die Rückseite des Schlosses in Sicht, mit seinen in das Parterre führenden Terrassen. In der Mitte ein großes Wasserbecken, aus welchem ein Springbrunnen steigt. Rings in künstlerischer Anordnung farbenprächtige Teppichbeete. Eben war ein Gärtnergehilfe beschäftigt, den Wasserschlauch auf diese Beete zu richten, die unter dem belebenden Strahl verstärkte Düfte aussandten, die von der schwülen Luft bis zum Tennisplatz getragen wurden. Unter den gemischten Wohlgerüchen herrschte der etwas betäubende Hauch einiger in der Nähe blühender Vanillensträucher vor. Ein eigentümliches Licht lag auf dem Grün des Rasens und der Bäume. Jene lackierte, theatereffektmäßige Färbung, die den Leuten den Ausruf abzuringen pflegt: »Seht doch! ... die sonderbare Beleuchtung ...«

Es war zufällig dieselbe Gesellschaft, die beim Tauffest versammelt gewesen, noch vermehrt durch die Gegenwart der jungen Schloßherrin, die jetzt schon vollkommen hergestellt war und auch schon die von ihrer Mutter ihr so dringend empfohlene Wallfahrt nach Mariazell hinter sich hatte.

Man saß da, zur Seite des Tennisplatzes, auf einer Reihe von Bänken und sah den vier Spielenden zu:[35] Sylvia und ihr Bräutigam; Rudolf und der junge Bresser.

Dieser war seinem Vorsatz, das Haus zu meiden, falls Sylvia sich verlobte, untreu geworden. Die Gewohnheit, mit der Familie zu verkehren, deren ältester Freund sein Vater war, war ihm zu teuer geworden. Der Umgang mit Baronin Tilling, die kameradschaftlichen Plauderstunden mit Rudolf Dotzky und wenigstens der Anblick der still angebeteten Sylvia: darauf konnte er doch nicht auf die Länge verzichten. Die blöde Eifersucht mußte niedergekämpft werden. Hatte er doch niemals gehofft, das Mädchen zu erringen, so mußte er sich darein finden, sie an der Seite eines anderen zu sehen. Daß dieser andere kein Idealmensch war, bot ihm eigentlich eine kleine Genugtuung, die er sich zwar nicht eingestand, die er aber darum nicht weniger empfand. Da ihm selber Delnitzky nicht liebenswert erschien, so gab er sich der Idee hin, daß Sylvia eine Vernunftheirat einging, an der ihr Herz nur wenig beteiligt war. Mit dieser Vorstellung hatte er wenigstens die eine Hälfte seiner eifersüchtigen Gefühle verscheucht.

»Game – play – out«. Die Worte drangen vom Spielplatz herüber, aber in ruhigem Tone; die Bälle flogen hin und her oder stießen an das Netz und fielen oft zu Boden, alles dies lautlos, außer wenn der Ball ungeschickterweise mit dem Rand der Rakete aufgefangen wurde, dann rief gewöhnlich von den Zuschauern einer: »Holz – Holz!« Die Bewegungen der Spielenden hatten keinerlei Heftigkeit; kein Laufen oder Springen, vielmehr – besonders bei den Herren – eine behäbige, sich wiegende Nachlässigkeit.

Martha, die etwas abseits von den anderen saß, hielt ein Zeitungsblatt in Händen; sie las aber nicht, sondern verfolgte mit den Blicken die anmutigen Gestalten ihrer Kinder.

Mit Sylvias Verlobung hatte sie sich nunmehr ausgesöhnt. [36] Täglich wiederholte ihr das junge Mädchen, daß sie sich vollkommen glücklich fühle. Mitunter stiegen ihr zwar dennoch Zweifel auf; vieles in ihres künftigen Schwiegersohnes Wesen und Äußerungen wirkte auf ihre Nerven – wie etwa das Ausgleiten einer Messerschneide auf einem Porzellanteller, oder das Kratzen spitzer Fingernägel an einer Seidentapete, aber solche Regungen verjagte sie rasch.

Beatrix und ihre Mutter saßen nebeneinander, in eifriges Kleinkinder-Gespräch vertieft. Die Existenz des neuen Insassen und Erben von Brunnhof war für seine junge Mutter die wunderbarste – und für seine Großmutter die wichtigste Erscheinung der Umwelt.

Die vier Herren, Oberst von Schrauffen, Minister »Allerdings«, Pater Protus und Doktor Bresser unterhielten sich untereinander.

»Von dem Spiel verstehe ich nichts,« sagte der Pfarrer. »Es sieht gar nicht lebhaft aus – sehen Sie nur, wie wenig heftig die Bewegungen sind, kein Laufen, kein Springen – im Gegenteil ... besonders die Herren – so was Behäbiges, Wiegendes, Nachlässiges. Aber ämüsieren müssen sich die Herrschaften doch dabei, sonst würden sie's nicht so hartnäckig betreiben – wo jetzt das Tennis einreißt, da wird täglich zur Rakete gegriffen, als ob damit eine wichtige Pflicht abzutun wäre. Mir ist leid um die gemütlichen Kegelpartien, die nun überall abkommen.«

»So ist die Welt, hochwürdiger Herr – alles alte wird von neuem verdrängt.«

Der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Nur unter neuerungssüchtigen Menschen, Herr Doktor – sehen Sie sich einmal die Natur an: immer wieder die gleichen Bäume, dieselben Berge –«

»O nein, nicht dieselben,« rief der Doktor. »Die Veränderungen in der Natur gehen nur langsam vor sich – sodaß man sie nicht wahrnimmt; aber meinen Sie [37] nicht, daß seit der Tertiärzeit die hiesige Gegend viel größere Wandlungen durchgemacht hat, als die von der Kegelbahn zum Tennisplatz?«

»Allerdings,« bestätigte der Minister. »Die größten und häufigsten Wandlungen sind aber schon in unserer Politik zu konstatieren. Da läßt sich schon gar nicht, trotz der nimmer nachlassenden Anstrengungen der Konservativen, die geringste Stabilität erzielen ...Ad vocem ›Politik‹: wissen die Herren, daß unser Rudolf sich um ein Mandat im Abgeordnetenhause bewirbt?«

»Ich weiß es,« sagte Doktor Bresser. »Die Baronin Tilling ist entzückt darüber.«

»Einerseits begreife ich das,« versetzte der Minister, »Mütter freuen sich immer, wenn sich ihre Söhne im öffentlichen Leben hervortun wollen – andererseits bringt die Abgeordneten-Laufbahn viel Verdruß und Schwierigkeiten.«

Der Oberst zuckte die Achseln: »Ach was, Schwierigkeiten! Mit Rudolfs Namen und Verbindungen ... Da wird's ihm nicht fehlen, zu irgend einem angesehenen Posten zu gelangen – zuerst ein paar Jahre im Parlament – dann irgend ein Portefeuille –«

»Ich kann mir nicht recht vorstellen,« sagte Pater Protus, »welche Rolle Graf Rudolf in der Politik spielen wird. Seinem Range nach müßte er sich der konservativen Partei anschließen –«

»Allerdings,« nickte der Minister.

»– Wie ich ihn aber kenne, neigt er zu den Liberalen, um nicht zu sagen – Radikalen.«

»Jedenfalls ist seine Gesinnung nicht ganz geheuer,« sagte der Oberst, »ich kann die antimilitärische Rede nicht verschmerzen, die er beim Tauffest seines Erben gehalten hat, wobei Sie, Herr Doktor, ihn noch unterstützten ... wenn ich mich recht erinnere, so haben Sie für Verweigerung der Heereskosten plaidiert. Wenn Rudolf in dieser Richtung auftreten sollte –«

[38] Der Minister machte eine beschwichtigende Handbewegung:

»Seien Sie ruhig – wem Gott das Amt gibt – gibt er auch den Verstand. Das heißt mit anderen Worten: wenn man in eine gewisse Stellung gelangt – und in gewisse Kreise, so wird man von den Obliegenheiten dieser Stellung und dem Geist dieser Kreise unwillkürlich so durchdrungen, daß die alten Ideen und Neigungen wie Nebel zerrinnen und man tut und wirkt, was der neue Posten erheischt.«

»Es sei denn,« entgegnete Bresser, »daß man eine so starke Persönlichkeit ist, daß die Umgebung gezwungen wird, sich ihr anzupassen und nicht umgekehrt –«

Die Spieler hatten ihre Partie beendet. Rudolf trat auf die Gruppe zu:

»Wovon sprechen Sie so emsig, meine Herren?«

»Von Ihnen und Ihrer Reichsrats-Kandidatur –«

»Da haben Sie wohl nicht viel Gutes gesagt, denn – mit Ausnahme Doktor Bressers vielleicht – stehen Sie alle auf ganz anderem politischen Standpunkt, als ich –«

»Die Nüancen mögen allerdings verschieden sein,« sagte der Minister, »aber in der Grundfarbe, da sind doch ziemlich alle anständigen Leute übereinstimmend: verfassungstreu, kaisertreu, vaterlandstreu ...«

»Treu, treu ...,« wiederholte Rudolf kopfschüttelnd. »Diese schöne Eigenschaft ist wohl dem Bestehenden gegenüber – wofern es gut ist – sehr angebracht. Was soll aber derjenige sein, der dem Werdenden dienen will?«

Besser antwortete:

»Der muß kühn sein.«

»Ja,« sagte Rudolf, »und doch auch treu. Sich selber treu.«

Sylvia und Delnitzky gingen nebeneinander in einer der Parkalleen auf und nieder; den anderen in Sicht, aber außer Gehörweite.

[39] In den sechs Wochen, die seit der Verlobung verstrichen waren, hatte das junge Mädchen sehr verschiedene Stimmungen durchgemacht. Der taumelnde Glücksrausch jenes Abends, an dem sie den ersten Kuß und ihr Jawort gegeben, hatte sich nicht wiederholt, – nur erinnern konnte sie sich an das, was sie damals empfunden, ohne es jedoch wieder zu empfinden. Es kann eben keine zwei ersten Küsse geben, und keine zwei Augenblicke, in welchen man einen bestimmten, lebensentscheidenden Entschluß faßt. Es war ihr sogar manchmal geschehen, daß ihr Liebensgefühl erlahmte. Auch ihr war, wie ihrer Mutter, manches, was Delnitzky sagte oder wie er es sagte, an die Nerven gegangen. Aber das dauerte nicht länger als eine Minute, die nächste Minute brachte ihr wieder das Bewußtsein, daß sie eine liebende, glückliche Braut sei.

Einige Schritte waren sie schweigend einhergegangen. Delnitzky sprach zuerst:

»Wie schön, wie schön Du bist!« Das »Du« war nur dem Tete-a-tete vorbehalten. Unter Leuten sagten sich die Verlobten »Sie«. Und gerade das machte aus dem Du eine Art Liebkosung. »So gefällst Du mir noch viel besser als im Sommerkleid – und beim Ballspiel finde ich Dich noch graziöser als beim Tanzen.«

In ihrem fußfreien weißen Piquékleidchen mit Ledergürtel um die geschmeidige, nicht zu dünne Taille; mit den absatzlosen, gelben Schuhen an den schmalen Füßen; mit dem einfachen Matrosenhut auf dem kastanienbraunen Haar, das in einer festen Flechte auf den Hinterkopf gesteckt war und auf welches die Sonne bronzefarbene Lichter setzte – bot Sylvia in der Tat ein frisches, liebreizendes Bild. Das jugendliche Gesichtchen mit dem feinen Profil war wie in Glanz getaucht; rosige Glut auf den Wangen, dunkelrote Glut auf den Lippen, schwarzes Funkeln in den Augen, weißblitzendes Lächeln; wohl konnte der beglückte Bräutigam in den Ruf ausbrechen: »Wie schön Du bist!«

[40] »Findest Du? Und ist Dir mein Hübschsein das Liebste an mir?«

»Alles ist mir lieb an Dir ... Bist ein Kreuzmädel ... voll Rasse – ohne Faxen ...«

Über Sylvias Gesicht huschte eine Wolke. Das war wieder eine jener Äußerungen, die sie ärgerlich berührten. Sie blieb stumm. Delnitzky fuhr fort:

»Mir ist nichts zuwid'rer als affektierte oder kokette Manieren oder gar Blaustrumpf-Fexereien. Du bist einfach, natürlich ... zwar auch mörderisch g'scheit – kehrst es aber nicht protzig heraus ... Vor Deinem G'scheitsein habe ich mich anfänglich ein bissel g'fürchtet ... Du hast so den Ruf, daß Du allerlei ernste Sachen studierst und mit Deiner Mama und dem Rudi stundenlang gelehrte Bücher liest. Aber 's war nicht so schlimm ... ich hab' Dich nie 'was Pedantisches reden g'hört.«

»Bis jetzt, mein lieber Toni, haben wir eigentlich nur im Ballsaal verkehrt, da konnte ich natürlich keine ›pedantischen‹ Unterhaltungen einleiten ... und seit wir verlobt sind, sprechen wir fast immer von unserer Liebe – auch dieses Thema läßt nichts pedantisches zu ... Aber Du mußt Dich doch darauf gefaßt machen, daß ich in der Tat darauf rechne, wenn wir einmal verheiratet sind –«

»Über Schoppenhauer und Nietzsche oder gar über die Geschichte der Konzilien mit mir zu konversieren? Da danke ich –«

»Die beiden Denker, die Du meinst, so tief und wunderbar ihre Sprache ist, gehören nicht zu meinen Lieblingen –«

»Hast Du sie denn überhaupt gelesen?«

»Du etwa nicht?« – Anton verneinte mit dem Kopfe – »und was die Konzilien betrifft, so habe ich von deren Geschichte nicht viel gehört –«

»Ich schon. Du weißt, ich war zwei Jahre in Kalksburg, bei die Jesuiten –«

[41] »Bei den Jesuiten.«

Toni zuckte ungeduldig mit den Achseln. »No ja, pardon, bei den Jesuiten – und da wird alles, was Kirchengeschichte ist, gar genau studiert. Länger als zwei Jahr hab' ich's übrigens dort nicht ausgehalten – aus mir wär' doch nie der richtige Jesuitenzögling geworden.«

»Gottlob. Was ich aber sagen wollte: ich rechne darauf, daß wir in inniger geistiger Gemeinschaft sein werden – daß wir miteinander über alles reden, was wir bewundern – was wir bestaunen von den Mysterien, die –«

»Ich staune über das Mysterium Deiner Schön heit –«

Jetzt zuckte sie mit den Achseln. »Schon wieder?«

»Bist Du bös, wenn ich Dich bewundere – wenn ich verrückt werde durch Deinen Reiz?«

Nein, darüber war sie nicht böse; aber daß er nichts anderes zu sagen wußte, das begann ihr ein gewisses Grauen einzuflößen.

Er drückte ihren Arm fest an sich und beugte sich zu ihr nieder, indem er seine brennenden Augen tief in die ihrigen senkte – eine Art zu blicken, die sie mit süßem Schauer durchrieselte. In der Tat, was in der Welt konnte neben solchem Mysterium noch bestehen? ...

Sie schwiegen nun beide. In der schwülen Luft erhob sich ein leiser Regengeruch. Die »sonderbare« Beleuchtung wurde immer unnatürlicher; nicht wie Gras lag es auf den Rasenflächen, sondern wie grünes Metall. Ein fernes Donnergrollen wurde vernehmbar.

»Kinder, Kinder!« riefen die anderen, »es kommt ein Gewitter – gehen wir hinein ...«

Wenn etwas Sylvias Empfindung – halb Lust, halb Bangen – noch erhöhen konnte, so war es die Aussicht, daß jetzt ein tüchtiges Unwetter losbrechen werde: prasselnder Regen, grelle Blitze, Donnerschläge: darnach sehnte – und darauf fürchtete sie sich. Und richtig, kaum [42] verstrichen noch einige erwartungsvolle Minuten, so fing ein pfeifender Wind an, die Baumäste zu biegen und Wirbel von Staub und Blättern durch die Luft zu jagen; dicke, warme Tropfen fielen herab; die gelbgrüne Beleuchtung wich einer plötzlich heranbrechenden Dunkelheit; schwarze Wolkenmassen wälzten sich heran und hingen tief zur Erde herab. Ein blendender Blitz zeichnete eine feurige Zackenlinie vom Zenith bis zum Boden und gleich darauf knatterte eine heftige Donnersalve – es mußte in der Nähe eingeschlagen haben.

Die ganze Gesellschaft stürzte, so schnell sie konnte, dem Schlosse zu. Die Verlobten waren etwas weiter entfernt und sie mußten ihre Schritte noch mehr beschleunigen, wollten sie rechtzeitig unter Dach kommen. Hugo Bresser, einen Schirm in der Hand, eilte ihnen entgegen.

Jetzt kam ein förmlicher Wolkenbruch herabgeschüttet. Da begann Sylvia zu laufen; als sie nur mehr einen Schritt von Hugo entfernt war, stolperte sie über einen Stein und fiel. Der junge Mann fing sie noch rechtzeitig in seinen Armen auf.

Er umschlang sie fest. Mitten in dieser elektrizitätsgeladenen Atmosphäre, in diesem Sturm der losgelassenen Elemente pochte es auch wild in seinen Adern. Und seine langverhaltene Leidenschaft entlud sich in diesem einen Augenblick, da der Zufall ihm das angebetete Mädchen in die Arme warf und – er konnte nicht anders – er drückte sie ans Herz. Dabei lag in seinem ganzen Gesichtsausdruck das deutlichste Geständnis glühender Liebe.

Auch Sylvia war unter dem Bann der stürmischen Minute: diese plötzlich geoffenbarte Leidenschaft glich ja auch einem Blitzstrahl ... Sie empfand keinen Groll; was sie empfand, war vielmehr der Rückschlag desselben elektrischen Stromes, der das Herz durchzuckte, an dem sie lag.

[43] Nur drei Sekunden lang. Schon war Delnitzky herbeigesprungen und befreite sie. Er hatte von dem Vorfall weiter nichts gesehen, als das Ausgleiten ihres Fußes und die zufällig gebotene Hilfe.

»Sie haben sich doch nicht weh getan?« fragte er besorgt.

Sylvia atmete schwer und tief auf.

»Nein, nein – nichts, nichts« stammelte sie und schloß die Augen.

[44]

V

An diesem Abend blieb Sylvia nicht im Salon.

Gleich nach dem Diner, bei dem sie die Schüsseln beinahe unberührt vorübergehen ließ, zog sie sich, heftigen Kopfschmerz vorschützend, auf ihr Zimmer zurück.

Sie wollte beichten. Zuerst ihr Gewissen erforschen und dann Beichte ablegen – sich selber. Und sich wahrscheinlich eine Buße diktieren – denn die Sünde, die sie in der bevorstehenden Gewissenserforschung zu finden fürchtete, verdiente nicht – ohneweiteres – die eigene Absolution.

Bei Tische hatte die Unterhaltung einmal einen höheren Ton angeschlagen als gewöhnlich. Rudolf und Hugo, die einander gegenüber saßen, waren in ein Wortgefecht geraten, das bald so lebhaft wurde, daß alle anderen Gespräche verstummten und die ganze Gesellschaft den beiden jungen Männern lauschte:

»– – Und ich sage, lieber Bresser, das höchste ist die Tat.«

»Ich bleibe dabei, Graf Rudi, als Höchstes thront der Gedanke, schon deshalb, weil er einsam sein kann – in Gletscherhöhen schweben. Ich weiß in der Geschichte keine sogenannte Tat, durch die die Menschheit bereichert und geadelt worden wäre – das ist immer nur das Werk großer Gedanken gewesen.«

»Die erste Stufe kann doch nicht höher stehen, als die nächste. Zuerst denkt – dann handelt man. Das Wort muß Fleisch werden, die Idee muß eine Form beseelen. [45] Das Gedachte muß sich bejahen, durchsetzen, muß geschehen, muß – mit einem Wort – getan werden; entschlossen, kräftig, wuchtig getan.«

»Diese Worte passen auf Faustschläge, auf Gewaltakte überhaupt. Es wundert mich, daß gerade Sie, der Friedensanwalt, so sprechen.«

»Eben weil ich Anwalt einer Idee bin, lechze ich darnach, daß sie sich in Taten umsetze, in Institutionen verkörpere.«

»Das geschieht von selber, wenn die Idee erst mächtig genug geworden. Eine Institution ist nicht lebensfähig, wenn sie vorzeitig erzwungen wird ... Was verstehen Sie übrigens unter Institutionen? Gesetze? Verfassungen? Politische Formen? Anstalten und Körperschaften? Wie ist das alles so nebensächlich, so unwichtig gegen das Reich des Geistes ... des täglich wachsenden, immer lichtere Höhen erklimmenden Menschengeistes ...«

»In wie wenig Köpfen!« ...

»Die vielen folgen langsam nach.«

»Die folgen nur dem sichtbar – also dem tatgewordenen Gedanken –«

»Übrigens: – noch wertvoller als Handeln und als Denken ist das Gefühl. Gefühl ist der Gipfelpunkt des Lebens ... Ist auch der Regulator, all der sogenannten Institutionen: Das Gefühl, nicht das besonnene Urteil der Massen, kann als Gradmesser der Kultur gelten. Nur im Bereiche des Gefühls entfalten sich die reichsten Blüten der Seele: das Mitleid, die Begeisterung, die Andacht, und die Krone alles Seins – die Liebe. Aus dem Gefühle strömt die Schöpferkraft des Künstlers und flammt die Lust des Kunstgenießens ... Auch des Naturgenusses; nicht was wir an der Rose riechen ist, was uns entzückt, sondern was wir beim Einatmen ihres Duftes mit allerlei verketteten Vorstellungen und Erinnerungen fühlen; was wir an Akkorden und Tonfolgen hören, ist Lärm, erst was wir daraus fühlen, ist Musik – –«

[46] »Was der für geschwollenes Zeug redet,« flüsterte Delnitzky seiner Braut zu. »Paß nicht auf, reden wir lieber von –«

Sylvia machte eine abwehrende Handbewegung, kehrte sich noch mehr von ihrem Nachbar weg und blickte mit gespannter Miene auf den Sprecher. Dieser fuhr fort:

»Durch das Gefühlte – Inspiration, Ahnung, Leidenschaft – wächst man über sich selbst hinaus. Augenblicke, in denen der Mensch zum Gotte wird – essind nur Augenblicke, nicht Tage, nicht einmal Stunden – sind Augenblicke überströmenden Gefühls ... Der Dichter, der Seher, der Liebende weiß, was solche Augenblicke sind. ... Wer sie erlebt hat, ist geweiht – der gäbe die Erinnerung daran nicht um schwere Schätze her ... Einer solchen Erinnerung –« Hugo nahm sein Glas zur Hand und stand auf – »ich besitze sie erst seit heute – trinke ich nun zu, und wer einen Augenblick erlebt hat, der ihn über alles Irdische erhoben, stoße mit mir an!«

»Mit anderen Worten,« sagte Oberst von Schrauffen, der neben Hugo saß und Bescheid tat, »unsere schönen Erinnerungen hoch!«

Damit war der etwas überspannte Ausfall des jungen Schriftstellers auf ein allgemein verständliches Niveau gebracht und die Gläser klirrten: »Unsere Erinnerungen hoch!« hieß es um die ganze Tafelrunde.

Delnitzky fand ein für einen Bräutigam glückliches Wort:

»Höher noch unsere schönen Erwartungen!«

Sylvia hatte Hugo zugetrunken – auf den Toast Antons gab sie nicht Bescheid.

Als sie in den Salon gingen, fragte Delnitzky seine Braut, die er am Arm führte:

»Warum hast Du vorhin nicht mit mir angestoßen?«

»Laß mich,« antwortete Sylvia in nervösem Tone, – »ich habe Kopfweh.«

[47] Und dieses Kopfweh ward ihr zum Vorwand, sich ohne Verzug zurückzuziehen.


In ihrem Zimmer angelangt, war ihr erstes, die Fenster aufzureißen. Vorsichtshalber war von der Dienerschaft, als das Gewitter losging, alles verschlossen worden, aber jetzt war das Unwetter vorbei und Sylvia lechzte nach Luft. Die Sonne war schon untergegangen, aber noch war es Tag. Abgekühlt, regenfeucht, schwer duftend strömte die Luft herein. Von den Bäumen und Büschen tropfte es noch herab; am Horizont, bald hier, bald dort, flammte es wetterleuchtend auf – ein förmliches Lichtgeknatter ...

Sylvia ließ sich ein paar Minuten von den fächelnden Lüften die heiße Stirne kühlen, dann ging sie zur Tür und schob den Riegel vor. Es wäre ihr unangenehm gewesen, wenn jetzt ihre Mutter hereingekommen wäre. Wollte sie vielleicht nachsehen und fände die Tür verschlossen, so werde sie in der Idee, Sylvia schlafe, wieder fortgehen.

Das junge Mädchen warf sich in die Chaiselongue und schloß die Augen: Also jetzt: die Beichte – –

... Ich bin schuldig ... Flatterhaft – und – – wie soll ich's nur nennen? wie? einfach beim Namen, im Beichtstuhl lügt man nicht – beschönigt man nicht: – sinnlich bin ich. Meine Liebe zu Toni, die ja erst unter seinem ersten Kuß so mächtig aufgeflammt – ist es überhaupt Liebe? Eigentlich nein, da er mir jetzt so oft mißfällt – da so vieles, was er mir sagt, mich wie mit einem kalten Wasserstrahl berührt ... Und dasselbe, was ich – bei jenem ersten Kuß – in Tonis Armen empfand, es hat mich heute – und noch viel heftiger – durchzuckt, als Hugo Bresser – – Hugo liebt mich ... das habe ich deutlich gefühlt ... Er hat es ja auch gesagt: der Augenblick, der ihn zum Gott gemacht – den hat er erst heute erlebt ... Das war der [48] Augenblick, in dem er mich – die nicht Widerstrebende! – ans Herz gedrückt ... Ich habe ihm zugetrunken ... sagte ich damit nicht: »Ich verstehe Dich?« Was wird er jetzt hoffen dürfen und was werde ich fürchten müssen? ...

Es wurde an der Türklinke gerüttelt.

»Ich bin's, mein Kind ... Hast Du Dich niedergelegt?«

Sylvia schwankte. Sollte sie der Mutter öffnen? Sollte sie dieser bewährten Freundin gestehen, was in ihrem Innern vorging? Ach, wußte sie es denn selber? ... Nein – zuvor mußte sie mit sich ins Klare kommen.

Sie gab keine Antwort und Martha entfernte sich wieder.

Jetzt schloß Sylvia das Fenster, ließ die Vorhänge herab und machte Licht. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und nahm die darauf stehende Photographie Delnitzkys in die Hand.

Lange betrachtete sie das Bild. Dabei stiegen ihr Erinnerungen an die zärtlichkeits- und glücksvollen Gefühle auf, die sie noch vor Kurzem bei Anblick dieser Züge erfüllten ... das ist doch Liebe – –

Gleich darauf aber regte sich der Zweifel:

... Ist denn aber auch eine solche Liebe, wie ich sie jetzt durchschaut habe, meiner wert? ... und ist nicht sogar diese im Schwinden begriffen, da ein anderer imstande war, einen Augenblick in mir gleiche Regungen zu wecken? ... Und da ich erkannte, wie dieser andere in seinem Denken und Fühlen über den Verlobten hinausragte? Welcher Schwung in Hugo Bressers Worten, und Toni nannte das »geschwollenes Zeug«. Nun ja, im Grunde ... es klang etwas exaltiert – und wer weiß, ob es aufrichtig war – ob es nicht galt, mich zu faszinieren – eine Art gesprochene Fortsetzung der kühnen Umarmung im Garten? ... Vielleicht war auch nur das [49] Gewitter daran schuld, daß ich in jenem Augenblick wie unter einem elektrischen Schlag erbebte ... ich liebe ja diesen Herrn Bresser nicht – mein Herz hab' ich dem Toni geschenkt ... Mein Herz? Oder ist's – –? Gleichviel: ich bin ja, wie jedes junge Menschenkind, ein Ding von Seele und Leib – mit warmem Blut ... Aber die Ehe – mein Gott, die Ehe ... dieses lebenslängliche Einssein ... wenn da die Seele zu kurz kommt? ... Und da hilft kein Leugnen: in der letzten Zeit haben hundert Dinge, die ich an Toni entdeckt oder die ich an ihm vermißt habe, meine Liebe momentan wie ausgelöscht – freilich entbrannte sie dann von neuem ... Wenn aber die Augenblicke des Verlöschens immer häufiger und immer länger werden? ... Noch wäre es Zeit, zurückzutreten – – –

Jetzt malte sie sich diese Alternative aus: die abgebrochene Verlobung. War das nicht Pflicht, wenn auch schmerzliche Pflicht – denn der Gedanke tat ihr weh ... Doch, war sie es nicht ihrer und auch seiner Zukunft schuldig, einen Bund zu lösen, der – wie es sich nun zeigte – nicht auf zweifel- und reueloser Gesinnung ruhte? ...

Mit raschem Entschluß öffnete sie ihre Mappe, um einen Abschiedsbrief zu schreiben.

In der Mappe lag ein Zettelchen, das einst zwischen die Blumen des ersten Brautbuketts gesteckt war, das sie von Delnitzky bekommen.

An das Zettelchen hatte sie nicht mehr gedacht und sie schob es jetzt beiseite, um einen Briefbogen hinzulegen. Dabei streifte ihr Blick den Inhalt – den hatte sie auch vergessen gehabt:

»Mein Glück über das erhaltene ›Ja‹ ist so groß, daß es kein Maß dafür gibt. Nur etwas hätte noch größer sein können: meine Verzweiflung, wenn es ›nein‹ geheißen hätte.«

[50] Die Worte drangen in Sylvias Innere wie ein flehender Schrei: Um Gotteswillen, laß von Deiner Absicht ab – stürze mich nicht in Verzweiflung!

Sie malte sich nun den Schmerz aus, den sie daran war, dem geliebten – ja dennoch geliebten – Manne zuzufügen. Daran knüpfte sich noch eine ganze Kette anderer peinlicher Vorstellungen: das ärgerniserregende Aufsehen, das eine zurückgehende Verlobung erregen würde; die Kränkung ihrer Mutter, der Tadel Rudolfs, die Vorwürfe der anderen und – was schlimmer war als alles übrige – der Triumph Hugo Bressers, der mit diesem ihrem Entschluß Auslegungen und Hoffnungen verbinden könnte, die ganz falsch wären. Ganz falsch. Ob sie nun mit dem Bräutigam brechen würde oder nicht, ihrer Würde war sie es schuldig, den jungen Schriftsteller fernzuhalten.

Sie war wieder ganz schwankend geworden.

Zur Probe nur wollte sie den Brief aufsetzen – unter dem Vorbehalt, ihn nicht abzuschicken.

Sie tauchte die Feder ein. Dabei sah sie den Diamantring an ihrem Finger blitzen, der das erste Geschenk ihres Bräutigams gewesen. Wie hatte damals das hübsche Kleinod sie gefreut – durch seine geheimnis- und weihevolle Bedeutung gefreut: der Verlobungsring, das Pfand des gegebenen, für das Leben bindenden Wortes ... Leise bewegte sie die Hand hin und her, um die Steine funkeln zu machen.

Und ist ein Wortbruch nicht auch eine häßliche Handlung? Wahrlich, sie wußte nicht, wo ihre Pflicht lag ...

Immerhin, der Brief konnte ja für alle Fälle geschrieben werden. Sie tauchte die wieder trocken gewordene Feder ein zweites Mal in die violette Tinte:

»Mein lieber Graf Delnitzky – –«

[51] Sonderbar, wie ihre Hand zitterte – das war ja gar nicht ihre Schrift ...

»Verzeihen Sie den Entschluß, zu dem mich reifliche Überlegung brachte – weder ich noch Sie könnten glücklich werden –«

Sie strich die ganzen Zeilen wieder durch. Wie war das matt ausgedrückt ... Einem Menschen einen Dolch ins Herz stoßen und höflichst um Entschuldigung bitten, für diesen reiflich überlegten Entschluß ... So geht es nicht ... es geht überhaupt nicht!

Sie sprang von ihrem Sitze beim Schreibtisch auf und lief zum Bett, an dessen Rand sie sich auf die Knie warf, das Gesicht in die Decken vergrabend. Beten wollte sie und – weinen.

Sie stöhnte laut auf: »Toni, Toni, lieb' ich Dich denn nicht mehr? Und doch, ich kann – ich kann Dir nicht Lebewohl sagen. Beides ist so schrecklich traurig: der Verlust meines Glücksgefühls, meines Liebesrausches oder – der Abschied von Dir!«

Ihre schmerzliche Erregung löste sich in Tränen. Fast eine Stunde lang blieb sie auf den Knien liegen und schluchzte – zuerst heftig, dann immer leiser.

Eine große Müdigkeit überkam sie und die vom Weinen brennenden Augen fielen ihr schlaftrunken zu. Dabei durchrieselte ihre Glieder ein eigenes erschlafftes Wohlgefühl. Sie raffte sich auf und machte ihre Nachttoilette, voll Sehnsucht nach der vollen Ruhe des Bettes. Sie wollte nichts mehr denken – nur schlafen.

Das Gefühl des Unglücklichseins hatte sie verlassen ... Ein warmer, linder Strom von Zärtlichkeit stieg ihr vom Herzen auf zugleich mit Tonis Bild. Warum hatte sie ihn denn wie einen Toten beweint – er lebte ja und auch ihre Liebe atmete noch ... Und das Leben überhaupt, das große, reiche, hat ja so viel Schönes zu [52] bieten, so viel Süßes – unter anderm den Schlaf ... wie köstlich würde es jetzt sein, das Bewußtsein zu verlieren und in tiefen, tiefen Schlummer zu versinken ... Sie schlüpfte zwischen die kühlen Linnen, löschte die Kerze aus, vergrub den Kopf in die Kissen und mit einem gemurmelten »Gute Nacht, Toni« schlief sie in wenigen Minuten ein.

[53]

VI

»Ist's wahr, Rudi – Du willst kandidieren? Wie freu' ich mich!«

Rudolf blickte überrascht von seiner Zeitung zur Sprecherin auf:

»Woher weißt Du? und warum freust Du Dich?«

Beatrix, die mit ihrem Frühstück noch nicht fertig war und sich eben eine Buttersemmel strich, machte eine ärgerliche Kopfbewegung.

»Woher ich's weiß? Von fremden Leuten – denn Du hast mich nicht wert gefunden, mir etwas so wichtiges mitzuteilen. Und ich freu' mich wegen der Ehre – in der Politik läßt sich ja zu hohen Stellungen gelangen ... Vielleicht wirst Du Minister ...«

»Das wäre mir nicht unlieb, denn in solcher Stellung könnte ich Einfluß üben, nach der Richtung, die ich träume ... Aber der Weg vom Abgeordneten zum Minister ist ein gar weiter. Und daß ich Dir nichts mitgeteilt? Mein Gott, Trixi, Du interessierst Dich doch nicht für Politik?«

»Nein, Gott sei Dank, ich interessiere mich garnicht dafür – das heißt, wenn Du einmal dabei bist, da wird's mich schon unterhalten.«

»Unterhalten?«

»Na ja, wenn's heißen wird: der Abgeordnete Graf Dotzky hat eine große Rede gehalten über ... von was redet man da? ... über Salzsteuer oder über neue Gewehre – das wird doch spaßig sein.«

[54] »Spaßig?«

»Natürlich wirst Du unter die Konservativen gehen –«

»Wie, Du kennst Dich in den Parteibildungen aus?«

»Das hat Mama gesagt und Herr von Wegemann –«

Rudolf lächelte: »Der ›allerdings‹ – diesmal ist es aber ›andrerseits‹.«

Beatrix fuhr fort: »Leute von unserem Rang – scheint's – gehören immer zu den Konservativen – überhaupt alle anständigen Leute.«

»Ich staune –«

»Du wirst mir doch einen guten Platz auf der Galerie verschaffen, wenn Du Deine erste Rede hältst – das wird mir lieber sein, als ein Theater.«

»Ich bin noch nicht gewählt.«

»Als Großgrundbesitzer – auch das weiß ich durch Herrn von Wegemann – bist Du ja berechtigt ...«

»Ja, wenn ich einer ihrer Parteien mich anschließe, was ich nicht tun will. Ich beabsichtige – – aber das verstehst Du wieder nicht; über meine Gesinnungen und Pläne wird Dich Minister ›Allerdings‹ nicht unterrichtet haben, denn die liegen außerhalb der Sphäre seines politischen Denkens. Ich habe ihm einmal ein paar Andeutungen gemacht, da schaute er mich aber so verständnislos an, als hätte ich japanisch gesprochen. Wenn ich Dir nun erklären wollte –«

»Nein, das brauchst Du nicht – mir ist auch alles japanisch, was in den hohen Häusern verhandelt wird. Lese niemals diese Rubrik in den Zeitungen ... das ist nichts für uns Frauen. Wenn man nicht lateinisch und griechisch gelernt hat – das bildet ja den Verstand und auch das können ja nur die Männer ... Und überhaupt, alles Politische, es ist so fad ... Vielleicht nicht für die Männer, aber die haben einen ganz andern Geist – –«

»Du würdest in der Frauenfrage nicht auf seiten Deiner Geschlechtsgenossinnen stehen, wie ich sehe?«

[55] »Von Emanzipation – ausgenommen das Zigarettenrauchen – will ich nichts wissen ... Würdest Du Dir eine emanzipierte Frau wünschen?«

»Was Du Dir darunter vorstellst – allerdings nicht. Überhaupt wünsche ich mir ja keine andere Frau – Du bist ein lieber Schatz ... Und ich bitte Dich – bleib Deiner Abneigung gegen Politik treu, auch für den Fall, daß ich mich hineinstürzen müßte: Versuche dann nicht, mir eine bestimmte Richtung zu suggerieren, wie vorhin mit dem Konservativsein der anständigen Leute ... Was macht unser Fritzi? Hat ihn das Mädchen in den Garten getragen?«

»Ja, unter die Linde ... komm, gehen wir hin.« Und sie stand auf.

»Geh Du – ich habe zu arbeiten.«

»Aha, da sieht man schon den Staatsmann,« sagte Beatrix lachend. Sie ging hinter Rudolfs Stuhl, legte ihm den Arm um den Hals und küßte ihn auf die Stirn. »Er muß arbeiten – Österreichs Geschicke lenken und vernachlässigt Weib und Kind – adieu denn, zerbrich Dir nicht den geliebten Schädel ... Gib mir ein Busserl.«

Er legte die Zeitung aus der Hand und zog seine Frau zu sich herab.

»Noch zwei, Trixi – auf jedes Deiner Wangengrübchen ... Adieu – ich lasse unsern Kronprinzen grüßen.«

»Für den werd' ich ein neues Wiegenlied dichten:


Schlaf, Kindchen schlaf,
Dein Vater ist ein Graf.«
»Das ist nicht sehr neu ...«
»Warte nur:

Schlaf, Du kleiner Arier,
Dein Vater ist ein Parlamentarier.«

[56] Leichten Schrittes eilte sie durch die offene Fenstertür in den Garten hinaus. Dabei flatterte das weiße Spitzengewoge ihres Schlafrocks und die Strahlen der Morgensonne verfingen sich goldig in ihr flockiges Blondhaar.

Mit lächelndem Wohlgefallen blickte ihr Rudolf nach:

»Vögelchen liebes! ... Kolibri – süßer ... und von einem Kolibri verlangt man doch kein Adlerhirn ...«

Dann stand er auf und begab sich in den ersten Stock in sein Arbeitszimmer.

Dieser Raum war im Hause unter dem Namen »der Harlekinsaal« bekannt. Wie das zweifarbig geteilte Kleid der Komödienfigur, war das Arbeitszimmer des Schloßherrn in zwei abstechende symmetrische Hälften geteilt. An jedem Ende in tiefer Nische breite Doppelfenster, durch die das Grün der Bäume sichtbar ist. Sowohl am rechten wie am linken Ende ein großer Schreibtisch, so gestellt, daß das Licht nicht gegen die Hand falle. Dort wie da Bücherschränke, dort wie da Wandschmuck. Aber die eine Hälfte in lichtem, die andere in dunklem Holz. Die eine Hälfte eine Kanzlei, die andere was in englischen Landhäusern »studio« heißt.

Die Zweiteilung von Rudolfs Berufsleben spiegelte sich in dieser Anordnung. Hier: die Wirtschaftsbücher und Katastralmappen; die Geschäftsbriefe, Steuerbogen, landwirtschaftliche Zeitungen, Prospekte von Maschinenfabriken und Samenhandlungen; Versicherungs-Polizen, Muster von Holz- und Steingattungen; eine ganze Bücherei von Fachwerken über Feld- und Gartenbau, über Obstzucht und Viehzucht, über Milchwirtschaft und Waldkultur. An den Wänden Hirsch- und Rehgeweihe, photographische Ansichten der zu der Domäne gehörigen Meierhöfe, Pferdebilder, und dergleichen mehr. Dort: der Arbeitstisch bedeckt mit Monats- und Wochenschriften sozialpolitischen Inhalts; unter Briefbeschwerern die zu erledigenden Briefe von berühmten Gelehrten und Schriftstellern, [57] mit welchen Rudolf in regelmäßiger Korrespondenz stand. Ein Paket Bücher – eben heute vom Wiener Buchhändler »zur Ansicht« übersandt, immer die hervorragendsten Neuerscheinungen der wissenschaftlichen Literatur. Diesmal: der letzte Nietzsche, Götterdämmerung, Looking backward von Bellamy; Herbert Spencer: Grundlage der Ethik; Carus Sterne: Alte und neue Weltanschauung; Carneri: Entwicklung zur Glückseligkeit. Im Bücherschranke die Werke von Marx, Lassalle, Engel, Henry George, Auguste Comte, Litré Ernst Haeckel, Stuart Mill, Huxley, Buckle, Strauß, Virchow, Berthelot, Alfred Fouillée, Guyeau u.a. In einem offenen Bücherregale neben dem Schreibtisch eine Reihe von Nachschlagewerken, Lexika und Wörterbücher; in einem andern eine Sammlung von Lieblingsdichtern; Goethe, Byron, Viktor Hugo, Anastasius Grün, Shelley, Platen, Musset, Longfellow, und auch von den damals jüngsten: Liliencron, Henckell, Hart. Daneben Prosadichtungen, wie Tolstois Krieg und Frieden, wie Zolas Germinal. Als Wandschmuck Sternkarten und Photographien berühmter Gemälde lebender Künstler: Gabriel Max, Böcklin, Klinger, Piglheim, Wereschagin. Auch einige Porträts: Darwin, Ibsen, Richard Wagner.

Rudolf hatte sein Arbeitszimmer in der Absicht aufgesucht, ein Programm für seine Kandidatur aufzusetzen. Da er sich auf keine der bestehenden Parteien einschwören wollte, so mußte er darauf verzichten, sich einfach einer der Gruppen des Großgrundbesitzes anzuschließen; er beabsichtigte, sich in Wien wählen zu lassen, auf Grund seiner eigenen politischen Ideale.

Darüber wollte er nun ein Programm entwerfen. Noch kein definitives für Druck und Verteilung bestimmtes, sondern zunächst für sich selber. Mit sich mußte er erst einig werden, in welche Form die ihm vorschwebenden Ziele einzukleiden seien. Ein tüchtiges, ernstes Stück Arbeit.

[58] Ehe er sich zum Schreibtisch setzte, trat er ans Fenster. Von hier aus sah er ein hübsches Bild:

Im Schatten der alten Linde, unter der Hut eines Mädchens in russischem Bauernkostüm, die rosa Wiege seines Sohnes und eben aus einer Nebenallee herbeieilend, in ihrem flatternden weißen Kleide, Beatrix. Nun war sie zur Stelle und beugte sich über das Wägelchen. Rudolf blieb beim Fenster stehen und schaute der kleinen Familienszene zu. Am liebsten wäre er hinuntergegangen, um sie durch seine Gegenwart zu vervollständigen. Aber er war ja da, um zu arbeiten.

Zögernd verließ er die Fensternische und sein Blick fiel – am anderen Ende des »Harlekinzimmers« – auf den Arbeitstisch des Landwirts, worauf ein Paket lag, das er nicht kannte – da mußte er doch nachsehen: vielleicht etwas Dringendes

Er ging hin, nahm das Päckchen zur Hand – es war inzwischen von der Post gekommen –, entfernte die Hülle und fand – was er bestellt hatte – einige kleine Modelle von Dresch- und Säemaschinen. Die Dingerchen interessierten ihn lebhaft. Schon wollte er die Klingel ziehen, um den Verwalter rufen zu lassen; doch rechtzeitig besann er sich, daß es jetzt anderes zu tun gab. Nichts Geringeres als ein Programm aufzusetzen, das den Ausgangspunkt seiner öffentlichen Laufbahn bilden sollte.

Nachdenklich schritt er zum Schreibtisch des »studio« zurück. Zum erstenmal stieg ihm ein Gedanke auf, der in der Folge sich oft einstellen sollte: »Man kann nicht zween Herren dienen.« Und gar dreien: die Familie, die Landwirtschaft und ein Apostolat. Dazu noch alles, was mit seiner Lebensstellung zusammenhing: der Umgang mit den Standesgenossen und die daraus erwachsenden geselligen Pflichten, die Nachbarschaften mit ihren Besuchen, ihren Jagden; die Jagden auf der eigenen Domäne, bei welchem Anlaß Brunnhof sich mit Gästen [59] füllte und wobei die Tage und Abende nur mit Sport und Billard- und Kartenspiel gefüllt waren; ein Gesellschaftskreis, dessen Interessen und Begriffe von den Interessen und Begriffen, die seine Lebensaufgabe abgaben, durch einen Abgrund getrennt waren.

Doch, den Gedanken: »man kann nicht zween Herren dienen« suchte Rudolf abzuschütteln; man hat eben einen ganzen Kreis von Pflichten und muß allen gerecht werden können ... alles zu seiner Zeit ... und das Leben will auch genossen sein ... ich werde doch den Freuden, die mir von meinem häuslichen und geselligen Leben geboten werden, nicht allen entsagen sollen ... und auch die den nächsten Kreisen schuldigen Rücksichten darf man doch nicht außer acht lassen, wenn man in der Öffentlichkeit wirken wollte. Man muß nur in den Stunden, die man einer gewissen Sache widmen wolle, auch ganz bei der Sache sein ... An die Arbeit!

Er legte ein weißes Blatt vor sich hin und nahm die Bleifeder zur Hand. Die Stirn in die linke Hand ge stützt, blieb er lange in Nachdenken versunken. Mechanisch führte die rechte Hand Arabesken auf dem oberen Rand des unbeschriebenen Blattes aus. Seine Gedanken zogen weite Kreise. Den ganzen Komplex seiner Einsichten, Schlüsse, Sehnsuchten umfaßten sie. Den Untergrund bildete das Bewußtsein, im Besitz einiger großer, im politischen Leben und in sozialen Einrichtungen noch ganz neuer Wahrheiten zu sein. Die mußten deutlich herausgekehrt, die mußten formuliert werden. Damit theoretische Wahrheiten sich in politische Institutionen, in soziale Sitten umwandeln, dazu müssen sie in die Köpfe der Leiter und der Massen dringen. Zu der Ausführung weittragender Ideen ist dem einzelnen Abgeordneten freilich keine Macht gegeben ... Werkstätte ist das Parlament ja nicht, aber eine Tribüne ist es. Der Predigt in einer Kirche lauscht nur eine kleine Gemeinde; die Parlamentsrede, von allen Blättern wiedergegeben, [60] dringt ins ganze Land und über die Grenzen hinaus.

Und nun begann er zu schreiben. Einzelne Hauptworte, durch Punkte getrennt. Gewissermaßen Leitmotive, Absteckpfähle.

Gemeinwohl. Gerechtigkeit. Versöhnung. Und noch eine ganze Reihe so fort. Als er die Liste überlas, fiel ihm auf, daß diese Worte, die bei der Niederschrift mit ganzen Begriffsketten und Bilderreihen seine Seele erfüllt hatten, voll Größe und voll Verheißung – daß diese Worte abgegriffene Münzen, schlimmer noch: falschen Spielmarken glichen; denn seit Jahren und Jahren und immer wieder, bei jeder neuen Programmrede, in jedem Wahlaufruf wurden solche und ähnliche Worte vorgebracht, – wie sollteda mit das Neue und Erhabene, das ihm vorgeschwebt hatte, würdig ausgedrückt werden? Goldechtes Gold war's, was er seinen Mitmenschen hätte bringen wollen; wenn er ihnen aber auch nur diese alten, verbogenen Messingmarken brachte, wie sollten sie Vertrauen fühlen – wie den verheißenen Schatz erkennen? Freilich – Gerechtigkeit, Versöhnung und Gemeinwohl; besseres könnte ja ein Volksvertreter nicht versprechen; das traurige ist nur, daß es noch von allen jenen versprochen worden, die das Gegenteil verfolgen, die statt der Gerechtigkeit – der Gewalt Vorschub leisten, die statt Versöhnung – Verhetzung betreiben; die das Wohl der Parteifraktion über alles andere stellen. Für die meisten bedeutet Politik eben gar nichts als: Kampf der Klasseninteressen. Oder auch ein Sprungbrett für persönlichen Ehrgeiz, ein günstiger Posten zur Erlangung eigenen Vorteils. Und die ausgegebene Parole heißt immer »Gerechtigkeit, Gemeinwohl«.

Rudolf suchte nach einem andern Wort. Was not tut, ist nicht das Herzählen der in allen Morallehren, allen Katechismen, allen Festansprachen wimmelnden [61] Tugendnamen; was not tut, ist – jetzt hatte er das Wort: Verwirklichung.

Er tat einen tiefen Atemzug. Wie eine Welle der Energie und des Tatendranges hatte es ihm durch die Brust geflutet. Er sprang auf und ging im Saale auf und nieder. Jetzt hatte sein Gedankengang eine andere Richtung. Tun, tun? Was kann ein einzelner Abgeordneter denn tun in seiner engen Machtsphäre? Er kann fordern. Die Versprechungen und Phrasen, die aus allen Regierungsprogrammen und in den Thronreden ebenso tugendhaft und ebenso – leer wimmeln, wie in den Kandidatenreden, die kann man festhalten – auf ihre Verwirklichung kann man bestehen.

Beim Wort nehmen – das war's. All das schal und hohl gewordene Geklingel der großen Worte, wie müßte das zu herrlich brausender Harmonie anschwellen, wenn man den Sinn herauslöste und den Sinn zwänge, Tat zu werden. Ein sekundenkurzes Leuchten fuhr durch Rudolfs Seele. Wie eine bei Nacht durch einen Blitz erhellte Landschaft, so deutlich, aber auch so flüchtig erschien ihm eine ganze Reihe von lebendig gewordenen Worten: Wohlstand, Freiheit, Frieden, Recht ... diese vier ineinander geschmolzen als der herrliche Begriff »Glück«. Nicht nur allen versprochener, sondern für alle erreichter Wohlstand, wahre Freiheit, herrschendes Recht, gesicherter Frieden.

Dann ward es wieder finster. Aber er hatte dabei das Bewußtsein, daß er später das Licht wieder herbeischaffen könne; nur ein Sichsammeln, ein kurzes Anstrengen, und der blendende Ideenschatz wäre wieder da, um sich heben zu lassen – Perle für Perle, Diamant für Diamant – – Also an die Arbeit, sofort!

»Herr Graf – ein Telegramm.«

Rudolf war über die Störung ungehalten. Aber natürlich, mit einer Depesche durfte der Diener jederzeit [62] in das Heiligtum des Arbeitszimmers einbrechen; es konnte ja etwas Unaufschiebbares sein.

Diesmal war es die Nachricht, daß am folgenden Tage Brunnhof Einquartierung bekommen sollte. Die diesjährigen Manöver fanden auf wenige Meilen Entfernung statt. Der Quartiermeister würde in zwei oder drei Stunden der Depesche nachfolgen. Angesagt waren für das Schloß: ein General, ein Oberst und mehrere Offiziere.

Da mußten sogleich Vorbereitungen getroffen, Befehle erteilt werden. Mit dem Programmschreiben war es vorläufig vorbei. Und nicht nur mit diesem, sondern mit der ganzen Stimmung. Als Endaufgabe die Herbeiführung von Zuständen, in welchen die Völker befreit sein sollten von Militärlasten und Kriegsgefahren – und als nächstliegende Aufgabe die reichliche, herzliche, fröhliche Bewirtung von Militärs, die eben von der Kriegsprobe kamen. – Man kann nicht zweien Herren dienen ...

[63]

VII

Hugo Bressers Leidenschaft war durch die Zwischenfälle jenes Gewittertages zu höchster Glut entfacht. Zuerst der selig-schwüle Augenblick, da er Sylvia im Arm gehalten, dann die Exaltation, in die er sich bei Tische durch die eigenen Worte hineingeredet, wobei er sah, wie des geliebten Mädchens Blick an seinen Lippen hing; dann ihre Gebärde, als sie ihm zutrank; zuletzt ihre Flucht aus dem Salon: – ihm war, als sei jetzt zwischen ihnen beiden ein Einverständnis. Heiß und heftig empfand er, daß etwas Neues in sein und in ihr Leben getreten war. Sie liebten sich – sie mußten einander angehören, trotz aller Hindernisse ... die Verlobung würde sie rückgängig machen – –

Bresser hatte am folgenden Morgen schon um acht Uhr von Brunnhof wegfahren müssen, weil er in Wien zu Mittag einer Konferenz jener Unternehmer beizuwohnen hatte, die das neue Blatt gründeten, dessen Feuilletonredaktion ihm zufallen sollte.

Natürlich hatte er zu so früher Morgenstunde keine der Damen des Hauses mehr sehen können; aber für Sylvia hatte er eine stumme Botschaft hinterlassen in Form eines Sträußchens, das er selbst im Garten gepflückt und gebunden, und das er Sylvias Kammermädchen mit dem Auftrag übergeben, es auf ihrer Herrin Toilettetisch zu legen. Es war ein – im Grunde nicht gar geschmackvoll zusammengestelltes – Sträußchen, nur aus roten Blüten bestehend. Eine Rose, [64] ein paar Fuchsien, drei Mohnblumen, und herum ein Doldenring von »brennender Liebe«. Sie würde schon verstehen, was er damit sagen wollte.

Er bestieg ein leeres Coupé. Seine Gedanken flogen von den gestrigen Ereignissen zu der bevorstehenden Konferenz und schnell wieder zu dem Bilde Sylvias zurück. Die Gründungs-Angelegenheit interessierte ihn nun doppelt, da es ihm sehr erwünscht kam, gerade jetzt festen Fuß in der Journalistik und in der Schriftstellerlaufbahn fassen zu können. Liebe feuert den Ehrgeiz an. Er wollte Großes erreichen mit seiner Feder. Großes als Dichter, vielleicht noch Größeres als Publizist. Einen neuen, höher gestimmten Ton in die Tagespresse einführen, für die Ziele sozialer Entwicklung wirken, dem idealen Streben Rudolfs – ihres Bruders – die Stütze der Öffentlichkeit leihen, ihm helfen, indem er die Gedanken, die Rudolf im Parlament verträte, in dem neuen Blatt entwickeln wollte. Denn neben der alleinigen Leitung des Feuilletons sollte ihm auch eine Spalte im politischen Teile zur Verfügung stehen. Das war ein Kampffeld, auf dem bedeutende Siege zu holen waren. Und er wollte siegen. Er wollte, daß sie auf ihn stolz sein könne. Wer weiß, auch die Bühne konnte er erobern. Ein ganzer Schwarm ungeborener Dramenstoffe schien in seinem erregten Hirn zu wirbeln – nebst Ruhm würde er auch ein Vermögen sich erschreiben. Schwert und Szepter und Zauberstab sollte ihm seine Feder sein ...

Auf einer Zwischenstation stieg ein alter Herr ein – zufällig ein Bekannter, ein Berufsgenosse seines Vaters.

Es wäre Hugo viel lieber gewesen, allein zu bleiben. Er fühlte sich gestört, wie jemand, den man beim Schatzzählen unterbrochen hat.

»Ah, guten Tag, Bresser – das ist ja ein sehr angenehmes [65] Zusammentreffen! Sie sehen prächtig aus – und so strahlend!«

Der Ausruf war gerechtfertigt. Aus den Augen des jungen Mannes blitzte solches Feuer, ein so sieghafter Ausdruck belebte seine Züge, daß es auffallen mußte.

»Kommen Sie von einer Kaltwasserkur oder fahren Sie nach Wien, einen Haupttreffer zu beheben?« fragte der andere lachend. »Sie sehen mir nach beidem aus.«

Nun war es mit dem schönen Sinnen und Träumen vorbei, Hugo mußte sich für den Rest der Fahrt in ein banales Gespräch einlassen.

In Wien angelangt, begab er sich in ein Café, wo er frühstückte und die Zeitungen las. Nicht nach den Nachrichten als solchen suchte er in den Blättern, sondern er musterte die Anordnung, kritisierte den Stil und die Tendenz der Kommentare, und verglich damit im Geist das Idealblatt, welches an diesem Tage ins Leben treten sollte.

Und wenn er durch die breite Fensterscheibe, neben der er saß, auf die Straße blickte, wo so manche hübsche junge Frauengestalten vorübereilten – Verkäuferinnen, die nach ihren Geschäften gingen – da betrachtete er auch diese nicht wie sonst um ihrer selbst willen, sondern verglich sie mit dem idealen Mädchen, das er zwar schon lange im Herzen trug, das ihm aber seit gestern zum einzigen Weib auf Erden geworden war.

Als er in das Sitzungslokal – im Bureau eines großen Bankhauses – kam, waren schon einige der Herren anwesend. Nach weiteren zehn Minuten war man vollzählig: der Besitzer des Bankgeschäftes und neben ihm drei andere Finanzgrößen; zwei Advokaten, mehrere Reichsrats- Abgeordnete, darunter ein Minister a. D., ein einstiger Zeitungsherausgeber und eine Anzahl junger Schriftsteller. In der Reihe der letzteren galt Bresser als einer der Hauptträger des neuen Unternehmens; ihm hatte man bei den Vorbesprechungen die meisten Anregungen [66] zu danken gehabt, und von ihm waren die Prospekte aufgesetzt worden, die man zur Anwerbung von Mitgliedern für das Gründungskomitee versendet hatte.

Von einigen der Grundsätze und Programmpunkte, die in jenem Prospekt enthalten waren, war man im Verlaufe der Sitzungen schon abgekommen und manches Neue hatte sich eingeschoben. Heute galt es, zu endgültigen Entschlüssen zu gelangen und über die Finanzierung ins Reine zu kommen. Von verschiedenen Seiten waren Beteiligungsbeträge gezeichnet worden, aber die anwesenden Kapitalisten waren erst diejenigen, die den Ausschlag zu geben hatten, denn das von den anderen Gezeichnete hätte nicht zum zehnten Teile genügt, das Unternehmen lebenskräftig zu gestalten. Ein Jahr oder besser noch, zwei Jahre mußte man arbeiten können, ohne auf Gewinn zu rechnen, vielmehr mußte man gefaßt sein, im Anfang größere Beträge zuzusetzen; das Blatt mußte eine Zeitlang in Massen gratis versendet und in allen Cafés aufgelegt werden, damit das Publikum sich an dessen Physiognomie gewöhne. Eine Zeit der Aussaat hatte vorauszugehen – dann erst konnte man auf eine Ernte zählen. Die größten Autornamen sollten für die literarischen Beiträge gesichert werden, indem man höhere Honorare bewilligte als jede andere Zeitung. Auch im politischen Teile sollten unterzeichnete Artikel von hervorragenden Publizisten des In- und Auslandes erscheinen; der Nachrichtendienst sollte durch Original-Depeschen und Original-Korrespondenzen aus allen Hauptstädten versehen werden – und alles das erforderte große Summen. Wenn man aber erst das reichhaltigste, bestinformierte, literarisch vornehmste, unabhängigste – kurz das führende Blatt geworden, dann hätte man nicht nur eine hohe kulturelle Tat vollbracht, indem man das Niveau der Tagespresse gehoben, dann hätte man nicht nur veredelnden Einfluß auf den Geist der Bevölkerung und vielleicht auch wohltätigen Einfluß auf den Gang der inner- und außerpolitischen [67] Ereignisse gewonnen – auch in finanzieller Hinsicht würde man reichlichen Gewinn erzielen. Schon bei einer Anzahl von dreißigtausend Abonnenten würde das angewandte Kapital sich verzinsen, und hielte man nur zwei Jahre aus, so mußte die Zahl der Abonnenten und Käufer eine weit bedeutendere Höhe erreichen.

Das waren so die Ideen gewesen, auf welchen sich der große Zeitungsplan aufgebaut hatte.

Und nun sollte die entscheidende Sitzung beginnen. Bresser fühlte sich in gehobener Stimmung. Hier eröffnete sich ihm ein reiches Wirkungsfeld. Die roten Blumen, die Sylvia um diese Stunde schon gefunden haben mußte, waren in seinem Bewußtsein mitgegenwärtig. Und selbst, wenn sie Gräfin Delnitzky wurde ... ihr Herz konnte in einigen Jahren doch dem erfolgreichen Dichter sich zuwenden ...

Aber jetzt war überhaupt nicht der Augenblick, an Liebe zu denken. Dieser Augenblick gehörte der praktischen Arbeit, dem Lebensberuf. Es war ein bedeutender, zukunftsentscheidender Wendepunkt.

Als Vorsitzender fungierte der Besitzer des Bureaus. Er eröffnete die Sitzung, indem er die Fondsbeschaffungsfrage zur Diskussion stellte und daran die Mitteilung knüpfte, daß er von zwei Kapitalisten, deren Beteiligung schon in sichere Aussicht genommen war, am selben Morgen Briefe erhalten hatte, worin unter verschiedenen Vorwänden das gegebene Versprechen wieder zurückgenommen wurde. »Was mich betrifft,« fügte er hinzu, »so bleibe ich natürlich im Wort. Hunderttausend Gulden will ich dem Unternehmen zuwenden, nur muß ich noch eine Bedingung stellen, die übrigens weiter keine Schwierigkeit machen und die wir erst beim nächsten Punkt der Tagesordnung – ›Programm‹ – erörtern wollen. Das Wort hat nun Herr Baron Glasschild.«

Der Genannte, ein behäbiger Fünfziger mit ausgeprägt [68] orientalischen Zügen, räusperte sich, klemmte seinen Zwicker auf die Nase und sagte:

»Was ich zu bemerken hätte, bezieht sich ebenfalls auf den Programmpunkt. Aber ich will es lieber gleich jetzt vorbringen, denn es ist mir sehr wichtig. Nämlich das: in dem Prospekt, den ich erst heute genau gelesen habe, finde ich etwas, was durchaus hinaus muß ...« Er nahm eines der auf dem Tische liegenden Exemplare zur Hand – »hier steht's: ›Bekämpfung des Antisemitismus‹.«

Die anderen blickten erstaunt auf. Der Baron, selber ein Jude, konnte doch gegen diesen Programmpunkt nicht eingenommen sein? Dieser aber fuhr fort:

»Wissen Sie, meine Herren, man bekämpft doch nur etwas, was man ernst nimmt – etwas, was bedrohlich sein kann. Aber der Antisemi – semitismus (mir ist das bloße Wort schon verhaßt, man sollte ihm gar nicht die Ehre erweisen, es auszusprechen) das ist ja eine schon absterbende Verirrung, die aus Deutschland hereinkam, eine Erfindung des Pastor Stöcker, die aber hier keine Wurzel fassen wird ... dazu ist der Wiener zu gemütlich und zu – fidel, dem passen solche düstere Verfolgungslehren nicht – auch zu passiv, zu bequem. Glauben Sie mir – ich kenne unsere Bevölkerung; von den hohen Klassen rede ich gar nicht – ich verkehre doch mit der höchsten Aristokratie ... na, und die kleinen Bürger, denen fällt so was gar nicht ein. Da sind nur so ein paar Hetzer, die man am besten durch Totschweigen unschädlich macht. ... Kurz, ich erkläre, wenn sich das Blatt mit dieser Frage überhaupt befassen, das dumme Zeug nur erwähnen wollte, so ziehe ich meine Mitwirkung zurück. Hat sich was: Antisemitismus ... Unsinn, weiter nichts – und soll auch als Unsinn behandelt, d.h. also in einer ernsten Publikation gar nicht behandelt werden. Dixi

Bresser erbat sich das Wort.

[69] »Da ich der Urheber jenes Programmpunktes bin, so muß ich doch zu seiner Verteidigung und Begründung einige Argumente vorbringen.«

»Bringen Sie vor, was Sie wollen,« unterbrach der Baron, »ich gehe von meinem Entschluß nicht ab. Ein Blatt, das ostentativ erklärt, eine solche dumme Frage erörtern zu wollen, subventioniere ich nicht – ich nicht.«

Der Vorsitzende fiel ein: »Diese Kontroverse kann leicht behoben werden,« sagte er. »Ich bin ganz einverstanden, daß das Wort ›Antisemitismus‹ in unserem Prospekt gestrichen werde. Gegen die Formel: ›Bekämpfung aller rückschrittlichen Gesinnungen‹ haben Sie doch nichts einzuwenden, Herr Baron?«

»Nein.«

»Nun, damit ist auch Ihnen Satisfaktion gegeben, Herr Bresser, denn unter diesen Sammelnamen muß ja die mittelalterliche Bewegung auch fallen, die Sie bekämpfen wollen, und die, wenn sie fortfahren sollte, um sich zu greifen, natürlich in einer Tageszeitung auch besprochen werden müßte.«

»Ich bin's zufrieden,« sagte Bresser.

»Ich aber nicht,« versetzte Glasschild. »Je mehr die anderen den Unfug auffallend machen wollen, desto konsequenter müssen wir ihn totschweigen. Übrigens, in ein paar Monaten redet so niemand mehr davon.«

Einer der Reichsräte erbat sich das Wort.

»Da wir schon von den Bedenken sprechen, die das Programm unserer geplanten Zeitung erweckt, so kann ich nicht verhehlen, daß mir daran der Mangel einer strammen Parteiansicht sehr unangenehm auffällt. Wir sind einig geworden, daß wir auf Regierungssubvention verzichten. Gut. Wir werden auch keine Direktive von oben annehmen, wie wir uns zu dieser oder jener politischen Frage zu äußern haben. Auch gut. Dafür aber müssen wir uns selber eine Direktive geben – einen festen Weg vorzeichnen – sonst gleiten wir unversehens [70] ins reaktionäre oder ins revolutionäre Lager. Hauptsache ist doch, dem liberalen Prinzip zum Sieg zu verhelfen, nicht wahr? Also ist es doch geboten, daß wir in unsern Leitartikeln die Grundsätze und die Taktik der liberalen Partei zielbewußt vertreten.«

»Die Taktik dieser Partei ist mit ihren Grundsätzen oft in direktem Widerspruch,« warf Bresser ein.

»Das beruht dann auf kluger Erwägung der gegebenen Umstände.«

»Opportunismus,« murmelte Bresser.

»Nennen Sie es Opportunismus, wenn Sie wollen. Man muß ja doch mit den realen Verhältnissen rechnen. Man kann, wenn man, um seine Prinzipien desto besser durchzusetzen, regierungsfähig werden will, nicht in allem Opposition machen; man muß gewisse Forderungen der Regierung – z.B. in der Militärfrage – opfermutig bewilligen, schon um sich loyal zu zeigen, um keinen Zweifel an seinem Patriotismus aufkommen zu lassen. Kurz, man muß, um nicht irre zu gehen, um das segensreiche Wirken unserer Partei zu unterstützen, fest und unentwegt zu ihr halten.«

»Dazu hätte man nicht erst eine neue Zeitung zu gründen gebraucht,« bemerkte einer der Journalisten. »Wir besitzen ja in Wien ein Weltblatt, das mit Ihrer Partei durch dick und dünn geht.«

Bresser öffnete und schloß mehrere Male hintereinander die Lippen – aber er sagte nichts. Ein zorniges Gefühl stieg ihm in die Kehle – ein Gefühl, das einen trockenen und bitteren Geschmack hatte. – Macht haben und allein sein: das ist das einzige, um Großes, Neues durchzusetzen, – sagte er sich im Geiste – statt all dieser Finanzprotzen, Politikaster und Federfuchser, er allein mit ein paar Millionen in der Hand, dann flöge das Blatt, genau im Geist seines Prospektes beschaffen, schon in vierzehn Tagen in alle Welt. Die kongenialen Kräfte kämen dam schon von selber herbei. Aber hier – das [71] sah er jetzt kommen, würde das Unternehmen an den gegensätzlichen Willensrichtungen scheitern, oder in irgend ein altes Geleise hineingleiten. Schritte zu machen: zu diesem Beschluß raffen sich beratende Körperschaften schon auf: aber nur schön vorsichtshalber auf – ausgetretenem Wege. Einen neuen Weg vorzuschlagen, das wagt immer nur der einzelne.

Nach langer Debatte, an der sich Bresser nicht mehr beteiligte, wurde ein Vorschlag eingebracht und angenommen, dahin gehend, daß aus der Mitte der Teilnehmer eine engere Kommission gewählt werde, bestehend aus zwei Kapitalisten, zwei Reichsratsabgeordneten und zwei Schriftstellern, welche über die Redaktion, über die Annahme und Ablehnung von Artikeln als oberstes Zensuramt und als entscheidende Instanz eingesetzt würde.

Diese Wahl wurde auf die nächste Sitzung anberaumt, denn es war mittlerweile Essenszeit geworden, und der Hunger ist stärker als die Liebe – namentlich als die Liebe zu einem geistanstrengenden Unternehmen.

»Ich bin dabei,« sagte der Vorsitzende, »konstituieren wir unser Zensurkomitee das nächstemal und dann soll auch die finanzielle Frage endgültig gelöst werden. Und somit –«

»Vor Schluß der Sitzung bitte ich noch ums Wort!« unterbrach Bresser mit erregter Stimme.

Einige der Herren, die schon im Aufstehen begriffen, setzten sich wieder.

»Also bitte, Herr Bresser,« sagte der Vorsitzende.

»Ich wollte einfach meinen Austritt anmelden. Der Verlauf, den die heutigen Verhandlungen genommen haben, zeigt mir deutlich, daß unser ursprünglicher Plan ganz fallen gelassen wird. Was an dessen Stelle getreten, macht es mir unmöglich, mitzuhalten. Der Verlust wird für die anderen kein großer sein – ich habe ja kein Kapital und auch keinen berühmten Namen einzusetzen ... Nur Arbeitslust hätte ich mitgebracht und Begeisterung [72] für gewisse Ideen. Die Arbeitslust ist verschwunden, denn gerade die Ideen, die in meinen Augen den Sinn und den Zweck des neuen Blattes abgaben, würden der neubeschlossenen Zensur zum Opfer fallen. Der Begriff Zensur an sich stößt schon alles um, was ich von diesem Blatt geträumt hatte. Wir sollen für die Freiheit wirken und selber nicht frei sein? Nun – heute besitze ich noch meine volle Freiheit, ich benutze sie, um – ich wiederhole es – mich von dem Unternehmen zurückzuziehen.«

Sprach's, empfahl sich und ging.

[73]

VIII

Die Kapelle im Schloß Brunnhof war reich mit Grün Blumen geschmückt. Die Glashäuser waren geplündert worden und hatten alle ihre Oleander- und Orangen- und Palmenbäume in Kübeln hergeben müssen, um den Hauptaltar zu umrahmen. Und an die hohen Wachskerzen, die in den silbernen Kirchenleuchtern brannten, waren weiße Schleifen, Rosen und Kamelien befestigt. Die Rosen, mit welchen man auch in reicher Fülle die Altarstufen bestreute, waren aus Wiener Blumenhandlungen geschickt, denn in Brunnhof – man schrieb den 12. November – blühten keine mehr. Vom Eingang der Kapelle bis zu den Betschemeln des Brautpaares lief ein roter Plüschteppich und auch die ersten Reihen der Kirchenbänke waren mit rotem Stoffe ausgeschlagen.

Schon füllten sich die hinteren Bänke mit den Dorfbewohnern – in der nächsten Viertelstunde mußten die Herrschaften kommen. Die festgesetzte Stunde – elf Uhr – schlug eben von der Schloßuhr herab. In der Sakristei warteten, in vollem Ornat, der Prälat des benachbarten Stiftes, der unter der Assistenz des Pater Protus und dessen Kooperators die Trauung vollziehen sollte. Auf dem Chore saßen und standen die Musiker und Sänger bereit – tüchtige Kräfte aus Wien.

Unterdessen hatten in einem Saale des Schlosses die Hochzeitsgäste sich versammelt. Es fehlten nur noch die Braut und ihre Mutter.

[74] Die ganze Gutsnachbarschaft war eingeladen worden und außerdem noch Verwandte aus Wien und von weiterher – im ganzen etwa sechzig bis siebzig Personen. Ein Schwarm junger Komtessen, Sylvias Ballgenossinnen der verflossenen Wintersaisons, unter ihnen die vier Brautjungfern in gleichen rosa Kleidern; – die Damen alle in lichten Toiletten, zwar hoch und mit geschlossenen Hütchen, aber dennoch mit Schleppe und Schmuck; die Herren in Galauniform oder Frack, die meisten mit Ordenskettchen im Knopfloch. Man stand in Gruppen umher und lebhaftes Stimmengewirr füllte den Raum.

In einem Nebensaale, zu dem die Türen offen standen, waren die Brautgeschenke ausgestellt: zwei lange Tische voll Schmuckkapseln, silberne Toilette-, Tisch- und Teegarnituren, Vasen, Fächer, Spitzen, Lampen, Gürtelschnallen und Sonnenschirmgriffe aus Gold und Edelsteinen und sonstigen Kostbarkeiten. Alles das hatte die Gesellschaft schon vor einer Stunde bewundert; jetzt standen vor der gehäuften Pracht nur noch zwei der jungen Mädchen, und ein stiller Neid, gemildert durch die Hoffnung, daß die Zukunft ihnen ähnliches bescheren werde, erfüllte ihre eitlen Seelchen: – ach, solche schöne Dinge besitzen, solche Brillantsterne im Haar, solche Perlenschnüre um den Hals – aus solchen Kannen den Tee eingießen, imeigenen Salon; vor solchen Spiegeln sich frisieren lassen, »Frau« genannt werden, Pferd und Wagen besitzen, Loge in Oper und Burg, und – nebstbei – auch noch einen verliebten Mann: so wundervolle Dinge gibt es auf der Welt, und gerade so wie sie heute der Sylvia zugefallen, werden sie nächstens auch ihnen zuteil. Das ist ja Tribut, den das Schicksal allen Töchtern der »Gesellschaft« sozusagen schuldet ...

Die Gespräche der Herren im Saale drehten sich fast ausschließlich um die Jagd. Es war ja eben die Jahreszeit, da man von einem Schloß zum anderen fuhr, um Hasen, Rehe und Fasane zu erlegen, und einer erzählte [75] dem andern, oder fragte, bei wem gestern gejagt worden, und bei wem morgen gejagt werde und wieviel man dort geschossen habe und wieviel da. Einige waren so glücklich, von kaiserlichen und erzherzoglichen Jagden erzählen zu können, an denen sie teilgenommen hatten, oder die ihnen bevorstanden. Rudolf, der Hausherr, brachte Einladungen zu den Brunnhofer Jagden vor, die vom 21. bis 23. November stattfinden sollten. Auch in die Unterhaltung der Damen mischte sich häufig das Wort »Jagd«. Wenn auch nur wenige unter ihnen waren, die sich aktiv, mit dem Gewehr auf der Schulter, an dem Sport beteiligten, so gehörte doch die ganze Sache um diese Herbstzeit so sehr zur Lebensausfüllung ihrer Kreise, daß sich ihre Gedanken und Gespräche damit beschäftigen mußten. All den Hausfrauen, denen das Empfangen und Bewirten der Gäste obliegt, ist das Thema beinahe ebenso wichtig, wie für die Jagdherren. »Wieviel ist geschossen worden?« das ist die erste Frage, welche die gastliche Wirtin an die heimgekehrten, vor dem Diner im Salon versammelten Jäger richtet, worauf dann jeder einzelne noch mit lebhaftestem Interesse um die Zahl seiner Beutestücke befragt wird. »Wieviel haben Sie geschossen? Und wieviel Sie?« Den Franzosen und den Engländer frägt man: »Wieviel Stück haben Sie getötet?« Der letztere fügt der genannten Zahl höflich hinzu: »Oh, it was exzellent sport

Sport? Also nur Vergnügen? Mit nichten. Das Ding wird als eine Art Berufspflicht aufgefaßt, als etwas, das man – dem gegenseitigen Rang und Reichtum angemessen – sich und seinen Standesgenossen schuldig ist. »Der erste Bock«: das ist nicht nur ein Jubelbewußtsein für das junge Gräflein – auch seine Mutter erzählt ihren Freundinnen mit Stolz, daß der Gusti oder der Fredi neulich seinen ersten Bock geschossen. Wenn das in Marthas Gegenwart geschah, so blieb sie stumm. »Das arme Reh!« war, was sie dabei dachte, und auch ein wenig »Der arme Bub'«, denn wenn das [76] als freudvolles Ehrgeizziel gelten soll: die Vernichtung eines unschuldigen Lebens ...


Alle Gespräche sind plötzlich verstummt. Sylvia tritt über die Schwelle in einer weißen Glorie von Atlas, Tüll und Myrtenblüten. Zwei kleine Knaben – in Pagenkostüm – tragen ihre Schleppe.

Zugleich war auch Baronin Tilling erschienen. Diesmal hatte sie doch die gewohnte tiefe Trauer abgelegt und war in lichtes Grau gekleidet. Beide Frauen waren blaß und hatten gerötete Augen. Die anderen fanden das natürlich: der Abschied und die Feierlichkeit der Lebenswende – das ist ja Grund genug zum Tränenvergießen. Sie hatten aber nicht nur aus diesem Grund geweint – Mutter und Tochter. Ein banges Weh hatte sie beide erfaßt, ein Gefühl beinahe wie Furcht und Reue.

Jetzt aber stürzten die vier Kranzeljungfern auf die Braut zu und umarmten sie stürmisch; von allen Seiten Händedrücke, Küsse, Gratulationen, Verbeugungen .... Sylvias Bangen wich dem wiedererwachenden Bewußtsein, daß sie der vielbeneidete, vielbewunderte Mittelpunkt dieser glänzenden, wichtigen Feier war. Und auch von ihrer verliebten Leidenschaft strömte wieder eine beglückende Welle von ihrem Herzen empor, als sie nun ihrem schmucken Bräutigam, der auf sie zueilte, in die freudestrahlenden Augen sah.

Noch ein paar Minuten der Begrüßungen und der Gespräche, dann begann, unter Rudolfs Anordnung, der Zug sich zu bilden.

Der Weg aus den Salons zur Schloßkirche – wenn man nicht ins Oratorium, sondern in das Schiff gelangen wollte – führte über zwei Treppen und einen langen Korridor. Dieser ganze Weg war teppichbelegt und mit Reisig und Blumen bestreut. Davon stieg ein Duft auf, der an Fronleichnamsprozessionen mahnte. Glocken- und Orgelklänge drangen auch schon aus dem [77] Kirchlein herüber. Am Arm des Brautführers – ein junger Vetter, Graf Althaus, – schritt Sylvia langsam dahin, hinter ihr die schlepptragenden kleinen Pagen; es war ihr dabei zu Mute, halb als ob sie träume, halb als ginge sie über eine Theaterbühne, und nicht, als wäre das alles wirkliches Erlebnis.

Und als sie die Kapelle betrat und die unzähligen brennenden Kerzen sah, die zwischen den Blattpflanzen auf und rings um den Altar flimmerten, da empfand sie etwas von dem Eindruck, den man beim Betreten eines Zimmers hat, in dem ein angezündeter Christbaum strahlt. Bescherungen und Überraschungen sollte es ja da auch geben: ein funkelnagelneuer Frauentitel, ganze Schachteln voll interessanter Pflichten – und auch Süßigkeiten, sonst verbotene ... in Fülle.

Diese Christbaumstimmung machte schnell einer anderen Platz, als sie jetzt auf den Betschemel nieder kniete – Toni Delnitzky an ihrer Seite. Die Priester kamen aus der Seitentür und stellten sich an den Altar; vom knapp vor dem Brautpaar geschwungenen Weihrauchfaß qualmte der intensivste Kirchenduft empor und mahnte Sylvia an Begräbnisfeiern – begraben für ewig war ja auch die Mädchenzeit, war die Freiheit, war die Möglichkeit, das wunderbar volle Glück zweifelloser Liebe zu finden ... der Mann da neben ihr war ihr nicht Hort und Zuflucht; – erst gestern, während des Polterabends, hatte er Dinge gesagt, die ihr furchtbar mißfallen hatten – momentan hätte sie ihn beinahe hassen können ... zum Glück war nach solchen flüchtigen Regungen die verliebte Regung wieder desto wärmer aufgetaucht, aber das volle Vertrauen, das fehlte; das selige, schutzessichere Sichschmiegen und Sich-kauern, das konnte sie an dieser Brust – da neben sich – nicht finden.

Das Kirchlein war dicht gefüllt. Oben seitlich vom Altar und in den vorderen Bänken die Verwandten und die Gäste in ihren glänzenden Uniformen und Toiletten; [78] hinten die Beamtenschaft und die Dorfbewohner im Sonntagsstaat – gehobene Feststimmung auf allen Mienen. Auf Marthas Gesicht jedoch lag es wie Schmerz und Trauer. Das war man aber – bei feierlichen Anlässen – an ihr gewohnt. Wenn sie bewegt war, pilgerten ihre Gedanken stets zu ihrem geliebten Toten – das wußte man und ehrte man.

Die Traurede begann. Hätte Pater Protus sie gesprochen, so hätte er herzlichere und bewegendere Töne anzuschlagen gewußt. Der fremde, sehr klerikale Prälat hielt eine Predigt, die eher pro domo als für das junge Paar gehalten schien. Das heilige Sakrament der Ehe, so führte er aus, ist von Gott eingesetzt, denn es ist dem Bunde Christi mit seiner katholischen Kirche nachgebildet. Der Zweck der Ehe bestehe darin, daß sich die Eheleute gegenseitig im Glauben stärken und in der Ausübung ihrer religiösen Pflichten zu unterstützen haben, und daß sie eine Familie gründen, die, in echtem Glauben auferzogen, das Reich der Kirche immer mehr verbreite. Das Glück der Ehe ist nur zu erreichen, wenn beide Gatten eifrig beten und die Kirchengebote erfüllen; das Unglück so vieler Ehen rührt von dem leider so stark zunehmenden Indifferentismus her. Die Prüfungen und Krankheiten und Unglücksfälle, die keinem Menschenschicksal erspart bleiben, sind teils Strafen für Mangel an echter Religiosität, teils liebend auferlegte Prüfungen, aus denen man, wenn man gläubig und fromm ist, geläutert hervorgeht und dann zu einem gottgefälligen Tode gelangt, nach welchem die treuen Ehegatten im Himmel wieder zu ewiger Seligkeit vereint werden.

Was in dieser Traurede gesprochen wurde, darauf achtete übrigens die anwesende Gemeinde weniger, als daß eine solche gehalten ward und daß die darin enthaltenen Worte zu der Zeremonie gehörten, kraft welcher diese beiden jungen Menschenkinder zu unlöslicher Lebensgemeinschaft verbunden werden – daß sie einander Liebe [79] und Treue schwören und sich nie verlassen sollen – nicht in Krankheit, nicht in Armut – bis der Tod sie trennt. Das ist's – einerlei, wohin die begleitende Beredsamkeit sich versteigt – was das Priesterwort besiegelt.

Auch der Ringwechsel, sowie das dazu gesprochene »Ja« war so ein zauberkräftiges Verfahren, wodurch zwei vor einer Minute noch freie Menschen aneinander gekettet waren, wodurch der eine Teil sogar den bislang getragenen Namen verloren und einen neuen erworben hat.

Sylvia empfand diese Wandlung, die doch eigentlich nur eine ideelle ist, als wäre sie mechanisch vollzogen; wie ein Ruck überkam es sie, als sie das »Ja« gesprochen und den Ring am Finger fühlte: jetzt bin ich Sylvia Delnitzky.

Vom Chor herab ertönte feierlicher, andachtsvoller Gesang. Die lateinischen Worte verstand man nicht, aber aus der süßen Melodie klang wie eine fromme Bitte um Segen für das junge Paar. Eine gerührte Stimmung bemächtigte sich aller. Als die Sänger geendet hatten, ward der pro domo-Dienst wieder aufgenommen, indem ein Credo, drei Vaterunser und drei Ave Maria laut hergesagt wurden.

Während des Ringwechsels waren draußen Böllerschüsse gefallen und auch jetzt, nach beendeter Zeremonie, während alle Familienglieder sich um die Neuvermählten drängten, sie zu küssen, ließen die Burschen im Dorfe die Freudenschüsse knattern.

Nachdem das junge Paar und die Trauzeugen ihre Namen in das Kirchenregister eingetragen, war die ganze Handlung beendet. Von neuem formte sich der Zug, doch jetzt in anderer Ordnung: Sylvia voran am Arme des – Gatten.

Es folgte nun – alle Festlichkeiten gipfeln ja im Essen und Trinken und Trinksprüchen – das Hochzeitsfrühstück an der mit weißen Blüten überstreuten Tafel.

Den ersten Toast brachte der Prälat aus – auf die[80] Neuvermählten natürlich. Ein Blumensträußchen hatte er für sie gewunden. Darin war weißer Flieder, als Sinnbild der Unschuld der holden Braut; eine blaue Kornblume – die Farbe der ehelichen Treue –; eine rote Rose, das Bild der Liebe, und das Ganze zusammengehalten – damit die höchste Weihe nicht fehle – durch einen Dorn aus des Heilands Dornenkrone. Und indem er ihnen diesen Strauß auf den Lebensweg mitgebe – der aber kein Dornen-, sondern ein Rosenpfad sein möge – bringe er ein Hoch aus auf Graf Anton und Gräfin Sylvia Delnitzky.

Alle rufen »hoch« und stehen auf, um mit den bei den anzustoßen. Gar manche sind darunter, die vor mehr oder weniger Jahren das Gleiche durchgemacht, auf deren Glück ebenso stürmische »Hoch« ausgebracht wurden und die doch nichts weniger als glücklich geworden. Sylvia ist von der durchgemachten Erregung, von dem Lärm wie halb betäubt; das Wort Glück – von allen Seiten schlägt es an ihr Ohr ... Aber ist diese Müdigkeit, diese Abspannung, diese zugleich glühende Neugier und fröstelnde Furcht vor dem so nahe bevorstehenden »Endlich allein«, dieses Bangen vor der lebenslänglichen Zukunft an der Seite eines – Fremden, dieser Abschied von dem teuren Mädchenheim, von den Ihren –: ist denn das »Glück«?

Sie denkt auch, mehr als sie daran denken sollte, an einen Brief, den sie vor einigen Tagen von Hugo Bresser erhalten. Einen Brief, den sie oft durchgelesen und den sie an diesem Morgen verbrannt hatte ...

Nach zwei Stunden war das Mahl zu Ende und eine weitere Stunde später bestieg das junge Paar den Wagen, der es zur Eisenbahnstation brachte. Ein kalter Novembernebel rieselte herab, doch die Hochzeitsreise ging ja in das Land der Sonne – an die Riviera.

[81]

IX

Kurz nach der Abfahrt der Neuvermählten hatte sich Baronin Tilling in ihre Zimmer zurückgezogen. Sie war nicht in der Laune, mit fremden Leuten liebenswürdig zu sein. Diese Aufgabe mußten Rudolf und Beatrix absolvieren, sie sehnte sich nach Ruhe und Einsamkeit.

Gegen Abend aber sehnte sie sich nach Mitteilung, und da ließ sie ihren Sohn bitten, er möge zu ihr kommen. Bereitwillig willfahrte Rudolf diesem Wunsch. Hätte er nicht gefürchtet, seine Mutter zu stören, so wäre er von selber zu ihr gekommen, denn auch er hatte Unausgesprochenes auf dem Herzen, Dinge über die er sich mit niemand anderem als mit ihr aussprechen konnte.

Martha, die ihre prunkvolle Brautmutter-Toilette gegen einen bequemen Schlafrock aus schwarzem Samt vertauscht hatte, lag auf einem in die Nähe des knisternden Ofenfeuers gerückten Ruhebett; eine unter großem Spitzenschirm brennende Lampe verbreitete ein gedämpftes Licht in dem wohligen, mit Blumenduft erfüllten Raum. Der Duft kam von den Orangeblüten des Brautbuketts, das Sylvia hier hatte liegen lassen, als sie von der Mutter Abschied nahm.

»Hier bin ich,« sagte Rudolf eintretend. »Wünschest Du etwas von mir, Mutter?«

»Nur Deine Gesellschaft, liebes Kind ... Mir war so bang ... Komm, setz' Dich daher ... Hab' ich Dich durch mein Rufenlassen gestört – Du spieltest vielleicht Karten unten mit den Gästen? Ich will Dich ja nicht lang aufhalten ...«

[82] »O, ich habe keinerlei Sehnsucht, wieder hinunter zu gehen. Der Pfarrer hat meinen Platz am Taroktisch übernommen und Du hast mir den größten Gefallen erwiesen, indem Du mich rufen ließest ... Sind das alle Depeschen?« Rudolf zeigte auf einen Haufen Telegramme, der auf dem Tischchen lag.

»Ja, ich habe vorhin alle die Glückwünsche durchgelesen – über zweihundert ... fast überall dieselben Worte. Von hoch und nieder – von ihren einstigen Bonnen und von Erzherzögen: demütig die einen, herablassend die anderen – alle wünschen Sylvia Glück ... Und weißt Du, Rudolf, was ich fürchte? ... Sie wird nicht glücklich werden. Das habe ich heute wieder mit erschreckender Deutlichkeit empfunden. Und ich fühle mich so schuldig dabei, so schuldig! ...«

Ihre Stimme zitterte. Rudolf legte beschwichtigend die Hand auf ihren Arm.

»Mache Dir keine Vorwürfe, Mutter. – Die Zeiten sind nicht mehr, da Eltern über das Schicksal der Kinder verfügten. Sylvia hat frei gewählt ... und schließlich, der Toni ist nicht schlimmer als ein Dutzend andere –«

»Unsere Sylvia – meines Friedrichs Sylvia – durfte aber keinem Dutzendmenschen gegeben werden ... Überhaupt, seit einiger Zeit ist mir, als täte ich dem Andenken meines Toten gegenüber nicht mehr meine ganze Schuldigkeit. Als ich an meiner Lebensgeschichte schrieb, da hatte ich das Bewußtsein, eine Aufgabe zu erfüllen; – jetzt, seitdem diese Arbeit vollendet ist, ist mir, als müßt' ich anderes wirken, tun, vollbringen, und ich tue ja nichts ...«

Rudolf sprang erregt auf und ging einige Schritte auf und nieder. Dann blieb er vor seiner Mutter stehen:

»Ich tue nichts. Und das lastet auf Deinem Gewissen wie auf dem meinen. Du hast mich ja dazu aufgezogen, den Kampf fortzusetzen, den Tilling begonnen hatte, und was habe ich bis jetzt geleistet? Immer nur [83] verschoben und verschoben ... immer nur geplant und geplant ... Aber getan? Nichts.«

»Nun wenn Du im Parlament –«

»Ja, das ist auch so einer meiner Pläne, meiner hinausgeschobenen Arbeitsvorsätze. Aber ich fange an zu fürchten, daß es damit auch nichts werden wird ... Es fällt ja immer alles ins Wasser – wie zum Beispiel auch die Bressersche Zeitung ... Das sollte mein Organ werden; darin hätte ich ausgeführt und beleuchtet, was im Parlament nur angedeutet werden konnte. Wer weiß aber, ob ich überhaupt ins Parlament komme? Ich werde hin- und hergezerrt, ich möge mich dieser oder jener Partei anschließen, und wenn ich dann sage, was ich eigentlich will – Dinge, die außerhalb der bestehenden Programme liegen, – so finde ich kein Verständnis, so glauben die Leute – ich sehe es ihnen an – ich hätte einen Sporn. Am allerwenigsten verstehen mich die Wähler. Du wirst sehen: ich werde gar nicht gewählt. Mein Gegenkandidat, der tritt so schön vertrauenerregend in die gewohnten Phrasengeleise; der verspricht so bieder, alle kleinen Lokalinteressen zu vertreten, während ich von Allgemeinheitsinteressen fasele ... Gibt's denn eine Allgemeinheit in der Politik? Glauben denn die Leute nicht immer, daß eine Partei die andere niederringen muß, daß es dem A nur gut gehen kann, wenn der B überlistet und der C zermalmt wird? Du wirst sehen, mein Gegenkandidat wird zehnmal mehr Stimmen erlangen als ich. Und das wird mich nicht einmal kränken können, denn in jeder Ansammlung von Köpfen gibt es doch zehnmal mehr dumme als kluge ... Hat man als Grundlage von Gesetzgebung und Regierung etwas blöderes, geradezu schädlicheres finden können, als das Entscheidungsrecht der Mehrheit?«

»Das Instrument mag schlecht sein, Rudolf. Aber wenn kein anderes da ist, worauf willst Du Deine Melodie spielen?«

[84] »Meine Melodie! Wenn nur die auch schon klar und voll und alles andere übertönend mir in der Seele klingen wollte ...«

»Das tut sie ja. Wenn ich an die begeisterten Worte denke, die Du bei Fritzis Taufe sprachst ... das war echter Klang –«

»O ja, einzelne große Glockentöne, die ich selber höre, wie sie mir aus Herzensgrund und Seelentiefe schallen ... dann aber kommt wieder der Lärm der Welt hinzu, der sie verschlingt – das Gegacker der Alltäglichkeit, das Gekläffe der Gemeinheit ...«

»In solchem Zorne liebe ich Dich ... solche Selbstanklage bürgt mir für Dein echtes Wollen.«

»Du bist zu nachsichtig mit mir, Mutter. Ich würde Deinen Tadel, Deine Vorwürfe verdienen. Was hab' ich bis jetzt erreicht? Was habe ich nur versucht in jener großen Sache, die Friedrich Tillings Vermächtnis war? Heute hat es mich wie Reue erfaßt ...«

»Wir begegnen uns, mein Kind; auch ich habe die Empfindung, mich an Friedrich versündigt zu haben.«

»Du, wieso? Was kannst Du in der Sache noch tun?«

»Nicht in der Friedenssache meine ich. Ich meine ... es ist mir schwer zu erklären ... Du hast doch meine Lebensgeschichte gelesen? Du mußt darin den Abglanz eines Dings gefunden haben, das in der Welt gar so selten anzutreffen ist: das vollständige eheliche Liebesglück –«

»Ja, das habe ich in Deinem Buch gefunden. Auch habe ich's ja selber – als Kind – gesehen, wie ihr beiden glücklich wart – und wie lieb ihr euch hattet. Ich bin aber auch Zeuge, wie Deine Liebe und Treue übers Grab hinaus bis heute jenem Andenken geweiht geblieben – ... was kannst Du da für Reue fühlen?«

»Daß ich – die ich doch durch ihn die ganze Fülle, die ganze Heiligkeit ehelicher Liebe kennen gelernt, einer [85] Liebe, die auf voller Seelenübereinstimmung gegründet war, daß ich seine Sylvia nicht auch einem solchen Glücke zugeführt habe – daß ich sie nicht dazu erzogen habe, nur dann ihre Hand zu vergeben, wenn sie zugleich auch unumschränktes Vertrauen, tiefbegründete Achtung schenken konnte ... ich habe nicht meine Schuldigkeit getan, Rudolf ... Ja, die Pläne, die mein Friedrich für das Wohl der Welt gehegt, seine Gedanken und Spekulationen die habe ich gehütet und der Öffentlichkeit übermittelt; – aber sein persönliches Werk, das er durch sein Herz geleistet hat, das tatsächliche häusliche Glück, das er geschaffen: auch das hätte ich als ein Vermächtnis hüten müssen und auf sein Kind übertragen. Die Lehren, die er gepredigt, die habe ich weiter gegeben, aber die Lehren, die er gelebt, die sind verschollen, durch meine Schuld – meine Schuld – meine Schuld ...«

Martha wiederholte dieses Wort, indem sie die Hände vors Gesicht schlug und in Weinen ausbrach.

Rudolf beugte sich liebevoll über sie:

»Nicht – nicht, Mutter! Du bist nur so angegriffen ... das sind die Nerven. Es ist ja natürlich: die Trennung von unserer Sylvia – der entscheidende Schritt ... Aber der Toni ist ja kein böser Mensch – wer sagt Dir, daß sie nicht glücklich wird –?«

Martha trocknete sich die Tränen ab. »Ihre eigene Ahnung sagt es ihr. Wenn Du sie heute gesehen hättest, wie sie – knapp vor dem Kirchgang – mir weinend in die Arme fiel – –«

»Nun ja – das Abschiedsweh.«

»Nein – nicht Schmerz um das, was sie verließ – es war Furcht vor dem, dem sie entgegenging. Nein Rudolf, sprich mich nicht frei. Wenn man gefehlt hat, so ist noch das beste was man haben kann – die Reue.«

[86] »Das finde ich nicht; besonders wenn sich nichts mehr ändern läßt. Nur die Reue ist furchtbar, die neue Vorsätze, neue Taten nach sich zieht. Drum laß uns auf meine Selbstanklage zurückkommen. Ich kann ja gut machen, was ich gefehlt habe ... Und ich will es. Ich werde – die sind lustig da unten« – unterbrach er sich. Das Zimmer war über dem Salon gelegen und die Weisen eines Straußschen Walzers tönten jetzt herauf.

Martha zuckte die Achseln: »Laß sie – warum sollten sie nicht? Hochzeitsstimmung ... die jungen Leute tanzen. Unter anderem, sag' mir, warum ist denn der junge Bresser nicht gekommen?«

»Ich weiß es zufällig: Weil er Sylvia liebte –«

»Was sagst Du da?!« rief Martha auffahrend.

»Du brauchst nicht zu erschrecken. Meine hübsche Schwester hat gar vielen Leuten den Kopf verdreht ... Hugo ist ein vernünftiger Bursch – er hat sich nie Hoffnungen gemacht ... Jetzt ist er abgereist ...«

»Ob der sie nicht vielleicht glücklicher gemacht hätte?« sagte Martha nachdenklich. »Als Mensch steht er jedenfalls höher als Delnitzky ... Aber diese blöden Standesvorurteile ... ich nenne sie blöde und habe sie doch selber ... ich glaube nämlich, daß das Verpflanzen aus einem gewohnten Kreis in einen anderen – niedrigeren – großes Mißbehagen verursacht ... Wenn man heiratet, heiratet man ja sozusagen die Familie, die Freunde des Gatten mit und muß den eigenen entsagen – das ist hart.«

»Der Vereinigung mit der geliebten Person zu entsagen, mag noch härter sein,« bemerkte Rudolf.

»Gewiß ... hätte Sylvia eine tiefe Neigung zu Bresser gehabt – so hätte ich mich nicht widersetzt. Auch zur Heirat mit Delnitzky habe ich nur ja gesagt, weil sie erklärte, so rasend in ihn verliebt zu sein.«

[87]

»Hoffen wir, daß sie es bleibt.«

»Ach ich glaube, sie ist's schon heute nicht ...«

Rudolf ergriff Marthas Hand:

»Hör' mich an, Mutter, wenn Dir Deine Tochter Sorge macht, so sollst Du wenigstens durch Deinen Sohn Genugtuung erleben. Ich will nun unsere Sache energisch anpacken. Nicht von Wahlergebnissen und sonstigen Zufällen soll das abhängen ... Ich muß mich auf mich selber stellen. Ich muß mich offen auflehnen – auch gegen meine nächste Umgebung – das ganze Milieu, in dem ich lebe, die ganze Gesellschaft, in der wir verkehren, ist auf dem Dinge aufgebaut, das ich bekämpfen soll – auf dem Gewaltsystem. Damit meine ich nicht nur den Militarismus, gegen den Tillings Bestrebungen besonders gerichtet waren – damit meine ich die Gewalt in allen ihren Formen. Das Recht wird vergewaltigt, die Vernunft wird vergewaltigt –«

Martha schaute überrascht auf: »So leidenschaftlich kannte ich Dich garnicht.«

»Wenn Du an mir Leidenschaft auflodern siehst, Mutter, so versuche nicht, sie zu dämpfen. Ich war eben bis jetzt viel zu kalt und ruhig. Man muß heftig fühlen und heftig wollen – dann erst tut man etwas. Vielleicht scheitert man – das hängt von äußern Umständen ab – vielleicht erstürmt man keinen der festen Plätze, gegen die man anrennt, – aber wenigstens ist man Sturm gelaufen, und weist für Nachstürmende den Wea.«

»Was willst Du also tun?«

»Vor allem werde ich mich mit jenen Männern in Verbindung setzen, die an der Spitze der Schiedsgerichtsbewegung stehen, mit dem Engländer dessen Brief Du in Dein Buch eingetragen –«

»Hodgson Pratt?«

»Ja. Dann in Paris mit Fréderic Passy, Jules[88] Simon ... In Rußland ... da werde ich an Tolstoi schreiben ... Wer ›Krieg und Frieden‹ verfaßt hat, der ist mit ganzer Seele ein Feind der Gewalt.«

»Und mit wem wirst Du bei uns ...?«

»Da will ich selber die Fahne aufpflanzen – die weiße Fahne. Hole wieder Deine roten Hefte hervor – ich will Dir, so gut ich kann, neues einzutragen geben.«

[89]

X

Im Frühjahr 1892. Hugo Bresser war seit seiner plötzlichen Abreise in seine Heimat nicht zurückgekehrt. Einige Tage vor Sylvias Hochzeit war er nach Berlin gereist und dort hatte er sich ganz niedergelassen. In dem Brief, den er damals an Sylvia geschrieben und den sie an ihrem Hochzeitsmorgen verbrannte, war in glühenden Worten, in Versen und in Prosa seine ganze Leidenschaft niedergelegt gewesen. Wie er sie jahrelang hoffnungslos geliebt, wie erst in den letzten Tagen – trotz ihrer Verlobung – in jener Gewitterstunde eine Hoffnung in ihm erwacht war ... Sie mußte die Verlobung rückgängig machen, hatte er, der Wahnwitzige, vermeint ... es war Täuschung. Und so gehe er in freiwillige Verbannung – es sei ihm unmöglich, in dem Lande zu bleiben, wo sie an der Seite eines anderen lebte. Möge sie glücklich werden – ebenso glücklich, als er tief unglücklich ist. Nicht so unglücklich, daß er sterben müsse – nein, er wolle leben und streben in heißem Ehrgeiz, um einst den Beweis zu erbringen, daß es kein Unwürdiger war, dessen Liebe sich bis zu ihr erhoben hatte und der ein paar Stunden lang von dem Wahn beseligt gewesen, ihr Herz zu besitzen.

Jetzt nach zweieinhalb Jahren, hielt Sylvia wieder einen Brief Bressers in der Hand. Es waren nur wenige Zeilen, worin er anfragte, ob es ihm gestattet sei, während seines bevorstehenden kurzen Aufenthaltes in Wien der Frau Gräfin seine Aufwartung zu machen.

[90] Sylvia saß mit ihrem Manne beim Frühstück, als dieser Brief ankam. Das junge Paar bewohnte den ersten Stock eines Ringstraßenpalais. Auf Delnitzkys Wunsch war man schon seit Oktober vom Lande nach Wien übersiedelt. Es war in ihm eine große Leidenschaft für die Oper erwacht. Zwei oder dreimal in der Woche nahm er seinen ständigen Sitz in der zweiten Parkettreihe ein.

Viele Leute bemerkten, daß Graf Delnitzky gerade an jenen Tagen unfehlbar in der Oper erschien, an welchen eine gewisse, wegen ihrer Schönheit und ihres Talentes vielgefeierte Primadonna beschäftigt war.

Sylvia bemerkte das nicht – oder beachtete es nicht. In dieser kurzen Frist von zweieinhalb Jahren war ihre Liebe zu Delnitzky vollständig erloschen. Den ersten Schaden hatte diese Liebe schon auf der Hochzeitsreise erlitten, durch die jedes Hauches von Poesie, jedes Zartsinns entbehrende Art, in der der junge Ehemann seine Gattenrechte zur Geltung brachte. Er war leidenschaftlich in ihre Schönheit verliebt; aber diese Leidenschaft äußerte sich durch eine an Brutalität grenzende Heftigkeit. Das Feuer, das – durch mädchenhafte Scheu und keuschen Stolz gedämpft – in Sylvias jungen Sinnen geglüht, war durch solch rauhe Art vollends erstickt. Nicht die Schauer der Wonne hatte er zu wecken gewußt, sondern eher den Schauer des Ekels eingeflößt; und ihr abwehrendes, im günstigsten Falle duldendes Verhalten unter den Ausbrüchen seiner erotischen Gewalttätigkeiten weckte in ihm das zornige Urteil: »O, das zimperliche, kalte, temperamentlose Geschöpf!«

Nachdem der Gatte den physischen Zauber verscheucht hatte, in dessen Bann sich Sylvia zum Bräutigam hingezogen gefühlt, schwand auch bald alle seelische Liebesempfindung; denn, ernüchtert, gewahrte sie nun in voller Deutlichkeit die Mängel seines Wesens; was ihr früher nur für kurze Augenblicke an die Nerven gegangen, das wurde ihr allmählich beständig widerwärtig. Und da sie [91] diese Empfindungen nicht zu verbergen wußte, da sie Freundlichkeit nicht heucheln konnte, wenn sie sich geärgert und abgestoßen fühlte, so erweckte ihr Benehmen bei Delnitzky das weitere zornige Urteil: »O, das launenhafte, mürrische, zuwid're Ding!«

Zu einer Aussprache der stillen Beschwerden, zu gegenseitigen Vorwürfen kam es nicht: Es stellte sich nur eine wachsende Gleichgültigkeit ein. Der Verkehr wurde immer matter und kühler; die Gespräche immer kürzer und sachlicher – ein paar Zärtlichkeitsausdrücke und Kosenamen, die noch aus der Brautzeit stammten, wurden immer seltener angewendet, bis sie ganz ausstarben, und jeder Tag, statt die beiden immer näher und immer näher zu bringen – wie dies in Tillings und Marthas liebesgebenedeiter Ehe gewesen – jeder Tag brachte ein größeres Stück der Entfernung, der Entfremdung zwischen sie.

Im ersten Jahr war ihnen ein Kind geboren worden. Aber auch die Mutterfreuden blieben der jungen Frau versagt. Unter furchtbaren Schmerzen und Lebensgefahr hatte sie das Kind zur Welt gebracht und vier Monate später mußte sie es in qualvollen Konvulsionen sterben sehen.

Sie wünschte sich kein zweites. Einsam fühlte sie sich nicht. Ihr Herz war mit der Liebe zur Mutter und zu Rudolf gerade so ausgefüllt wie zu ihrer Mädchenzeit – eher noch mehr. Ihre Anteilnahme an den Bestrebungen und Ideen des Bruders war noch gewachsen, auch der Mutter hatte sie sich inniger angeschlossen als je. Aus ihren ehelichen Enttäuschungen machte sie dieser ihrer besten Freundin gegenüber kein Geheimnis, aber sie teilte sich mit, ohne dabei in Klagen auszubrechen. Glücklich war sie freilich nicht – aber auch nicht unglücklich. Das große Los hatte sie nicht gezogen in der Heiratslotterie – aber die Niete machte sie nicht zur Bettlerin. Die Selbstvorwürfe, mit welchen Martha sich quälte, suchte [92] sie zu verscheuchen; sie lud alle Schuld auf sich, auf ihre eigensinnige Verblendung – nichts, nicht einmal die mütterliche Autorität, hatte sie von ihrem, durch närrische Verliebtheit befestigten Entschluß abbringen können – und dafür war sie jetzt gestraft. Aber was weiter? Gibt es nicht Tausende von Frauen, die früher oder später mit ihren Männern auch in solches Stadium gegenseitiger Gleichgültigkeit geraten? Und unzählige Mädchen, die gar nicht heiraten und dabei doch Genuß am Leben finden? Übrigens – so philosophierte sie weiter – ist denn auch Genuß und ungetrübtes Glück etwas, worauf jeder berechtigten Anspruch erheben dürfe? Warum sollte gerade ihr ein Paradies erschlossen werden, wo so viele auf Erden ein Fegefeuer, gar manche sogar eine Hölle finden? Man muß sich bescheiden mit dem, was man hat; und wahrlich, sie hatte gar viel: eine herrliche Mutter, einen teuren Bruder, geistige Mitwirkung an den Lebensaufgaben dieser beiden – dazu Gesundheit, Reichtum, Rang. – »Nein, nein, Mutter, bedauere mich nicht!« So wußte sie Martha stets zu trösten, wenn diese über die zu rasche Einwilligung in die Heirat ihrer Tochter in Selbstanklagen ausbrach.


Als Sylvia die Schriftzüge auf der Adresse des Berliner Briefes erkannte, erblaßte sie.

»Von wem denn?« fragte Anton über seine Zeitung hinüber. Er las den Sportbericht im »Neuen Wiener Tagblatt«.

»Von Hugo Bresser ... er will auf kurze Zeit hierherkommen ... Das wird seinen Vater freuen –«

»Du, sag' mir: ist euer Hausfreund, der alte Bresser, nicht etwa ein getaufter Jud'?«

»Mag sein – ich weiß nicht.«

»Also vielleicht gar ungetauft?«

»Das sicher nicht – aber warum fragst Du? Was wäre denn weiter?«

[93] »O, ich mag die Juden nicht – es wird auch von Tag zu Tag mehr ›mal porté‹ mit Juden zu verkehren.«

»Das auch noch!« seufzte Sylvia im Innern. Es war ihr nichts widerwärtiger, als der in der Gesellschaft und in der Wiener Kleinbürgerschaft überhandnehmende Antisemitismus. Laut sagte sie nur:

»Pater Protus denkt da viel weitherziger.«

»Ach, der! Der ist auch so ein Liberaler ... Na ja, ich bin ja auch kein bigotter Duckmäuser ... aber wenn ich schon Priester wäre, so würde ich auch zu den klerikalen Ansichten halten und mich nach meinen Vorgesetzten richten. Im übrigen ist mir das alles egal ... Wird der junge Bresser jetzt im Lande bleiben und sich redlich nähren?«

»Ich sagte Dir – er kommt nur auf kurze Zeit« – sie schob den Brief hinüber: »Lies selber.«

Anton machte eine abwehrende Bewegung. »Es interessiert mich nicht ... der ganze Mensch interessiert mich nicht mit seinem sogenannten ›schriftstellerischen Beruf‹, von dem sein Vater immer so langes und breites erzählt.«

In der Tat: im Hause Tilling war man über die Schicksale des jungen Bresser durch die Mitteilungen des Doktors stets auf dem Laufenden geblieben. Man hatte erfahren, daß sich Hugo in Berlin in die Schriftstellerkreise eingeführt hatte, daß er rastlos produzierte und sowohl mit einem Roman, der in einer angesehenen Rundschau erschienen war, als mit einem Drama, das eben die Runde über sämtliche deutsche Bühnen machte, große Erfolge errungen hatte.

»Übrigens, wenn er kommt,« sagte Delnitzky aufstehend, »lad' ihn zum Essen ein ... Ich geh' jetzt ...«

Sylvia fragte nicht »wohin« – sie nickte einfach »Adieu!«

Allein geblieben, las sie noch ein paarmal die wenigen Zeilen durch. Die Physiognomie der Schrift war es, was sie daran fesselte – denn sie brachte ihr [94] deutlich jenen verbrannten Brief und die – nicht unangenehme – Sensation ins Gedächtnis, welche ihr damals der Brief verursacht hatte. Eigentlich war es eine Kühnheit von dem Bresser, sich jetzt bei ihr anzumelden, als wäre nichts geschehen ... Sollte sie ihn empfangen? ... Warum nicht? Die Schwärmerei von damals war ja sicherlich vergessen. Sie hatte selbst erfahren, wie die Zeit – eigentlich kurze Zeit – gar tiefe Wandlungen in verliebte Gefühle bringen kann. Und nun gar bei einem jungen Mann – einem gefeierten Autor ... der hatte in Berlin sicher mehr als ein Liebesverhältnis angeknüpft und dachte garnicht mehr an jene wesenlose Episode ... Empfinge sie ihn nicht – den Sohn des alten Hausfreundes – so wäre das auffallend. Und er selber könnte sich's auslegen, als fürchte sie sich vor ihm – und wahrlich, das lag ihr fern.

So ging sie an ihren Schreibtisch und antwortete: Es werde sie und ihren Mann sehr freuen, Herrn Bresser wiederzusehen und von seinen Erfolgen berichten zu hören. Er möge, damit man gemütlicher plaudern könne, zur Speisestunde, sechs Uhr, kommen, und zwar am nächsten Donnerstag, da erwarte sie auch ihren Bruder, der sich gewiß ebenso freuen würde, ihn zu treffen.

Und am nächsten Donnerstag, zehn Minuten vor der angegebenen Stunde, fand sich Hugo Bresser in der Delnitzkyschen Wohnung ein. Das Herz klopfte ihm, als er das Vorzimmer betrat. Ein Diener nahm ihm den Überrock ab. Vor dem Spiegel zupfte er die weiße Krawatte zurecht und überzeugte sich, daß die Gardeniablüte im Knopfloch seines Fracks gut befestigt war.

Der Diener ging voran und führte den Gast durch zwei große, nur schwach erleuchtete Salons in einen dritten, kleinen, wo die Hausfrau saß – allein.

Sylvia, in einfacher, heller Seidengaze-Toilette, kam Hugo ein paar Schritte entgegen und reichte ihm die Hand, die er ehrerbietig küßte.

[95] »Herzlich willkommen, Herr Bresser! Wie Sie sich aber verändert haben! – Vorteilhaft verändert,« fügte sie lächelnd hinzu.

Sie sagte die Wahrheit. Hugo, der jetzt einen spitzgestutzten Bart und in der Mitte gescheiteltes Haar trug, hatte ein verändertes und vorteilhafteres Aussehen. – Auch in seinem Gesichtsausdruck, in der eleganten Sicherheit seines Auftretens war etwas Neues, etwas, das er den Erfolgen zu danken hatte, durch die er zu einem gefeierten Liebling der Berliner Gesellschaft geworden war und durch die er an Selbstbewußtsein gewonnen hatte.

Sylvias äußere Erscheinung war unverändert. Auf den ersten Blick und nach den ersten getauschten Worten fand Hugo jenes gewisse Etwas in ihren Zügen wieder, das er daran geliebt hatte – ein eigener Zauber, der, wenn sie sprach und lächelte, um ihre, die kleinen perlenweißen Zähne aufdeckenden Lippen huschte.

Die innere Bewegung dieses Wiedersehens verdeckten beide durch ein beinahe überhastetes Fragen und Antworten über die banalsten Gegenstände: »Wann sind Sie angekommen? – Wie lange bleiben Sie? – Wie gefällt es Ihnen in Berlin?« Und seinerseits: »Wie geht es dem Grafen Delnitzky, wie der verehrten Baronin Tilling? – Hatte die Frau Gräfin einen angenehmen Aufenthalt an der Riviera gehabt und hat sie wieder eine Reise vor?« Dann lenkte Sylvia das Gespräch auf Hugos literarische Erfolge, und dadurch ward es auf ein weniger flaches Gebiet gebracht und auf einen persönlichen Ton gestimmt.

»Sie sind nun ein anerkannter – man darf schon sagen ein berühmter Dichter geworden, Herr Bresser! Das muß doch ein stolzes, angenehmes Gefühl sein?«

»Das Angenehmste beim Dichten liegt nicht in der Anerkennung, sondern in der Arbeit. Das Schaffen ist eine Befreiung ... eine Besitzergreifung von erträumten Schätzen. Alles, was einem das Leben und die Welt [96] auch bringen mag an Enttäuschung, an Schmerz, an Zorn – das braucht einen nicht im Innern zu erdrücken und zu ersticken ... das packt man, gibt ihm eine Form und umkleidet es mit seiner ganzen ausgedrückten Leidenschaft – da steht es denn da, zuckend, lodernd, weinend – aber man ist es los. Und auch die Freuden, die Seligkeiten, die stolzen Siege, die einem das Leben nicht bietet – auch die reißt man aus dem Reich der Phantasie herunter und stellt sie vor sich hin, in den Prunk der Sprache gekleidet – und sie gehören einem – man ist ja ihr Schöpfer.«

»Wie begeistert Sie von der Dichtkunst sprechen!«

»Ich nehme meinen Beruf ernst, Gräfin, ich gehe in ihm auf. Seit jeher, Sie wissen es ja, habe ich darauf gerechnet, mit der Feder zu wirken. Die Journalistik war das Feld, auf dem ich kämpfen wollte –«

»Ja, ich erinnere mich – jene Zeitung, in der auch Rudolf eine Stütze seiner parlamentarischen Aktion finden sollte –«

»Die ist ins Wasser gefallen –«

»Wie Rudolfs parlamentarische Laufbahn,« schaltete Sylvia ein.

»Ich weiß ... für mich war's gut. Vielleicht auch für ihn? ... Ich wurde in ein anderes Gebiet der schriftstellerischen Arbeit gedrängt und habe darin die unerwartetsten Erfolge erzielt.«

»Gesegnet sei also jenes gescheiterte Journal!«

»Nicht dieses Scheitern allein hat mich von der Journalistik zur Dichtkunst gebracht. Es war ein Erlebnis, das meine Seele aufgewühlt hatte – ein Sturm von Gefühlen, den ich nicht in Leitartikeln und Feuilletons hätte austoben lassen können.«

»Sondern in Romanen und Dramen? Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich Ihre Werke noch nicht kenne – haben Sie denn dazu Ihre eigenen Erlebnisse als Stoff verwertet?«

[97]

»Nein. Nur die tobenden Gedanken und Gefühle die durch meine Erlebnisse erweckt wurden, habe ich in meine Versuche gelegt. Ich sage Versuche, wo Sie Werke sagen, Gräfin – denn obwohl ich ja als Anfänger Glück gehabt, so weiß ich doch am besten, daß mein bisher Geleistetes nur schwache Versuche sind ... Mein Werk, mein Kunstwerk – das werde ich erst schreiben. Nennen Sie das nicht unbescheiden, nicht Vermessenheit. Ich glaube, es kann gar keinen rechtschaffenen Künstler geben, der nicht in sich ein ganzes Chaos von brodelnden Stoffen und Kräften fühlte, das darnach strebt, eine Welt zu werden –«

»Bitt' um Verzeihung ... hab' ich mich verspätet?« Es war Delnitzky, der hereingetreten. »Grüß Sie Gott, Bresser – na, ich gratuliere – Sie sind ja ein Tausendsassa geworden ... das muß hübsche Tantiemen absetzen, Ihr Theaterstück, was? Du,« wandte er sich zu seiner Frau, »ich soll Dir sagen: der Rudi kann heut nicht kommen – die Beatrix ist krank.«

»Ach, die Arme, schon wieder? Und meine Cousine hat auch abgesagt, so werden wir allein essen –«

»Das wird ja recht gemütlich so,« sagte Delnitzky, »nur laß schnell anrichten – ich geh' heut' in die Oper und von ›Carmen‹ hör' ich gern den ersten Akt.«

Während des kleinen Diners beschränkte sich die Unterhaltung auf Reminiszenzen aus der Zeit, welche Hugos Abreise und Sylvias Heirat vorangegangen war. Man sprach von den Tennis-Partien in Brunnhof, von Pater Protus, von der Taufe des kleinen Fritz und ähnlichen Dingen. Von sich und seinen Arbeiten erzählte Hugo nichts, er wich sogar einigen darauf bezüglichen Fragen Delnitzkys aus. Wohl mochte er fühlen, daß er von dieser Seite kein Verständnis für sein Streben fände.

Als man von Tische aufstand, sah Delnitzky auf die Uhr: »Gleich sieben – ich bitte um Verzeihung – auf den Kaffee will ich verzichten, sonst komm ich wirklich zu [98] spät ... Ich lasse die Herrschaften ja beide in guter Gesellschaft ... Jugendfreunde ... Also, ich empfehl' mich ... hat mich sehr gefreut ... Sie bleiben doch noch eine Zeit in Wien? ... Schön – also auf Wiedersehen. Adieu.« Und fort war er.

Sylvia ging mit Hugo in den Salon zurück.

»Störe ich nicht, Gräfin? Sie wollten vielleicht auch ins Theater –«

»Nein, nein, ich bleibe zu Hause – ich muß sogar – meine Freunde wissen, daß ich an Donnerstagabenden zu treffen bin.«

Sie schenkte den schwarzen Kaffee ein und reichte ihm eine Schale. Zugleich deutete sie auf einen mit Zigaretten gefüllten Becher. »Wenn Sie rauchen wollen – es ist erlaubt.«

Das Tete-a-tete hatte etwas Schwüles, Beengendes für sie. Sie fürchtete, Hugo könnte von seinem Briefe sprechen, den sie an ihrem Hochzeitstag verbrannt. Sie empfand etwas von Beschämung, denn der junge Mann mußte durchschaut haben, daß ihr eheliches Verhältnis nicht war, was es sein sollte.

In Bresser loderte die alte Leidenschaft wieder hell auf. In den Schatten gestellt war das Bild einer jungen Berliner Schauspielerin, die seine Geliebte war; es war ihm, als hätte er nie an eine andere gedacht – als wäre Sylvia wieder das einzige Weib, das die Welt für ihn enthielt.

Aber er wagte es nicht, sich zu verraten. Er versuchte, die Unterhaltung in demselben banalen Ton fortzusetzen, wie sie bei Tisch geführt worden war. Sylvia ging darauf ein, doch es verletzte sie, daß Bresser nicht, wie er es vor Delnitzkys Ankunft getan, sein Gespräch jetzt wieder auf einen höheren Ton stimmte. Sollte er glauben, daß sie nicht auf seinem geistigen Niveau sei, daß sie sich nur behaglich fühle in den schalen Alltäglichkeiten, welche den Stoff zu Delnitzkys Unterhaltung abgegeben [99] hatten? So sollte ein Dichter – und ein Mann, der sie einst geliebt hatte, nicht von ihr denken. Und als er wieder irgend eine nichtssagende Bemerkung vorbrachte – ein Vergleich zwischen den Bauten von Wien und Berlin, zwischen den Kältegraden von dort und hier – da machte sie eine ungeduldige Bewegung und sagte:

»Ach, das interessiert mich nicht ... reden Sie doch nicht so mit mir ... Wie sagte doch Toni? ›Wir seien ein paar Jugendfreunde‹ ... Freunde haben sich doch Besseres mitzuteilen als architektonische und meteorologische Beobachtungen.«

»Wir waren aber nicht Jugendfreunde, Frau Gräfin. Zwischen uns beiden gähnte ein gesellschaftlicher Abgrund – ich blickte zu Ihnen auf wie zu einem Stern ... Nur einmal – ein paar Stunden, ein paar Tage vergaß ich diese Entfernung – aber davon soll und darf ich doch nicht reden?«

»Nein, davon nicht.«

Sie schwiegen eine Weile – eigentlich hatten sie beide doch davon geredet.

»Lassen Sie uns auf Ihre literarische Laufbahn zurückkommen – das fesselt mich wirklich lebhaft. Ich sehe, daß Sie eine Lebensaufgabe haben, daß Sie großen Zeiten zustreben ... wie mein Bruder. Wie schade, daß er nicht gekommen ist; Sie hätten miteinander vielleicht wieder jenen Streit aufgenommen – über den Vorrang des Gedankens oder der Tat ...«

»Wie! Sie erinnern sich noch? Wie Sie sehen, bin ich meiner Ansicht treu geblieben – ich habe mich einzig in den Dienst des Gedankens gestellt. Und da nicht einmal des grübelnden, oder auf irgend welche praktische Ziele gerichteten, sondern des frei über allen Wolken schwebenden Gedankens. Rudolf hat wohl noch immer politische und weltverbessernde Pläne? Ach, ich fürchte, verbessern läßt sich nicht viel an unserem kleinen Stückchen Umwelt ... Ich wenigstens könnte es nicht – [100] höchstens ein klein wenig verschönern, sei es durch ein bißchen Kunst, oder ein bißchen – Liebe.«

Das Wort Liebe, in der Betonung, in der Hugo es gesprochen, verursachte der jungen Frau eine Sekunde der Beklemmung. Sie wußte selbst nicht, was diese Beklemmung eigentlich war ... Sehnsucht? Eifersucht? Sie holte einen tiefen Atemzug:

»Was schreiben Sie jetzt?« fragte sie.

Er hatte nicht Zeit zu antworten. Der Bediente meldete Besuch. Bald war der Salon mit einem Dutzend Leute gefüllt und Bresser empfahl sich von der Hausfrau.

»Wann sieht man Sie wieder?« fragte sie, ihm die Hand zum Kusse reichend.

»Sobald Sie befehlen.«

[101]

XI

Rudolf Dotzky war bei den Reichsratswahlen durchgefallen. Er hatte es verschmäht, sich vom Großgrundbesitz aufstellen zu lassen, weil er sich da einer der bestehenden Parteien hätte anschließen müssen, und hatte sich um ein Mandat in Wien beworben. In den Wahlversammlungen hatte er sein Programm mit beredten Worten entwickelt und viel Beifall gefunden – die Stimmenmehrheit fand er aber nicht.

Sein Gegenkandidat hatte ein so bewährtes altes Programm entworfen, mit allen üblichen Versprechungen gespickt, daß ihm die Stimmen nur so zuflogen. Alles geht ja – das ist naturgesetzmäßig – auf der Bahn des geringsten Widerstandes – also auf der gewohnheitsgeglätteten Bahn. Die neuen, noch nie gehörten Ideen, die Rudolf vorgebracht hatte, blieben teils unverstanden, teils flößten sie Bangen ein.

Namentlich von seinen Standesgenossen mußte er Vorwürfe hören. Die älteren Herren gaben ihm wohlmeinende Belehrungen. Sie waren ja erfahrene Politiker – »Realpolitiker«; sie wußten also genau Bescheid und versuchten eindringlich, ihn von seinen unpraktischen Anschauungen abzubringen. An und für sich mag ja dies und jenes richtig sein – gaben sie zu – einiges sogar unanfechtbar, dennoch dürfe man es nicht vorbringen, weil es an gewissen Stellen verstimmen könnte – und vor allem gälte es, die eigene Partei regierungsfähig zu machen – nur dann sei überhaupt etwas zuerreichen. [102] Daher ist Unterwerfung unter das Parteiinteresse das wichtigste politische Prinzip: nachgeben auf gewissen Gebieten, damit auf der anderen Seite auch nachgegeben werde –

»Kurz,« unterbrach Rudolf solche Weisheitslehren, »der Kultus des ›heiligen Kompromiß‹ – nein, ich danke.«

Dem meisten Widerstand begegnete Rudolf von einer Seite, von der er ihn am wenigsten erwartet hätte – bei seiner Frau und deren Mutter. Kein direkter Widerstand gegen seine Prinzipien, denn von diesen verstanden sie nichts und er hatte sie ihnen auch nicht mitgeteilt, sondern indirekt durch das Hervorkehren ihrer Auffassung des ganzen parlamentarischen Berufs, in welchem sie nichts sahen, als den Hebel zur Erlangung eigener Vorteile. Als die eigentliche Aufgabe, als die unabweisbare Pflicht eines Abgeordneten betrachteten sie das Bestreben, durch die politische Tätigkeit Karriere zu machen. Also natürlich alles tun und reden, was den jeweiligen Ministern und noch mehr was allerhöchsten Orts gefallen muß. »Darum, nicht wahr, Rudi, nur immer eintreten für Thron, Altar und Armee ... unser Hof ist ja sehr fromm ... Und – friedliebend ist der Kaiser ja auch – aber er liebt seine Armee und tut so viel für sie ... was Friedrich Tilling wollte, ist ja recht schön; aber nur darf man das Militär nicht angreifen ... je stärker das Heer ist und je besser gerüstet, desto weniger werden die anderen sich trauen, Krieg anzufangen ... was würde auch aus allen Söhnen des Adels werden, wenn man weniger Offiziere brauchte? ... Und dann: es ist gar nicht anständig, nicht patriotisch, wenn man gegen den Militarismus loszieht – das tun ja die sogenannten Roten, die alle Ordnung untergraben wollen ...«

Rudolf wehrte derlei Einmengungen zwar ungeduldig ab, aber in einer Form oder der anderen schwirrten sie immer wieder um seine Ohren. Es war ihm daher beinahe [103] wie eine Erleichterung, als er nicht gewählt wurde; denn zu dem Kampf, der im Reichsrat aufzunehmen war, hätte sich noch der Kampf mit den Seinen gesellt. Er wäre zwar nicht zurückgeschreckt vor diesem Kampf, und war entschlossen, bei nächster Gelegenheit wieder auf den Plan zu treten.

Den vor längerer Zeit seiner Mutter mitgeteilten Plan, mit den Führern der Friedenssache in brieflichen und persönlichen Verkehr zu treten, hatte er ausgeführt. Er schrieb an Hodgson Pratt und Randal Cremer nach London, an Frèdéric Passy und Simon nach Paris, an Franz Wirth nach Frankfurt a. M., an Virchow nach Berlin, an Professor Graf Kamarowsky nach Moskau, an Teodoro Moneta nach Mailand, an Ruggiero Bonghi und Beniamino Pandolfi nach Rom, an Frederic Bajer nach Kopenhagen, an General Türr nach Budapest; von diesen erfuhr er genau, wie die »Bewegung« für Frieden und Schiedsgerichte in den verschiedenen europäischen Ländern stand und in das bekannte Protokoll gab es wieder viel einzutragen. Hätte Rudolf dem Parlamente angehört, so würde er versucht haben, sich an die Spitze einer österreichischen Gruppe der Interparlamentarischen Union zu stellen. Eine solche entstand anläßlich der im November 1891 in Rom tagenden interparlamentarischen Konferenz, und zur Anregung dieser Bildung hatte er redlich beigetragen.

Im übrigen war und blieb er ein Feind des Vereinswesens. Martha hatte ihm nahegelegt, daß für ihn die beste Art, Tillings Ideen zu verwirklichen, darin bestände, die internationale Bewegung, mit deren Trägern er ja so eifrig korrespondierte, nach Österreich zu verpflanzen, indem er auch in Wien einen Verein ins Leben riefe, dessen Mitglieder dann an den alljährlichen Kongressen teilnehmen würden. Aber dazu konnte er sich nicht entschließen. Er war nicht, was so viele Menschen nach mehrjähriger Erfahrung werden – vereins müde denn [104] er hatte darin keine Erfahrungen, – sondern er war vereins scheu. Konkrete Dinge, wie beim Roten Kreuz, Rettungsgesellschaft, Tierschutz und dergleichen – die konnten wohl durch Organisation ersprießlich betrieben werden; abstrakte Ideen, sittliche Ideale, philosophische Wahrheiten: nein, diesen half es nichts, sie in ein Bureau mit Funktionären und Sitzungen mit Protokollen, oder in Kongresse mit Resolutionen zu zwingen; die mußten, um die öffentlichen Institutionen umzuwandeln, ihren Weg ins Haus, in die Schule, in die Köpfe der geistigen Führer und der Staatslenker finden. »Eine Weltanschauung,« pflegte er zu sagen, »läßt sich nicht organisieren; zur Heranziehung einer Gemeinde gehören nicht Vorsitzende, Schriftführer und Kassenwarte, sondern Apostel.«

»Und willst Du nicht Apostel werden?« hatte ihn Martha gefragt.

»Wollen – hängt das vom Wollen ab?« fragte er zurück. »Ebensogut könnte man sich vornehmen, ein Genie zu werden. Wie hoch die Kraft sein wird, die man in den Dienst einer Sache stellt, das kann man nicht bestimmen, nur das eine kann man sich vornehmen: treu zu dienen – mit der ganzen Kraft, die man überhaupt hat.«

Da ihm die Tribüne des Abgeordnetenhauses verschlossen geblieben, blickte Rudolf nach einer andern Stelle aus, von wo er die Fülle seiner Gedanken und Pläne verkünden konnte, das Nächstliegende war: Zeitungsartikel zu schreiben. Er versuchte es. Die Anschauungen und Grundsätze, die vor seinen Wählern keine Gnade gefunden, die brachte er nun in Form von Essays zu Papier. Doch fand er damit ebensowenig Gnade bei den großen politischen Blättern. Da herrschte ja die gleiche Parteienge, die er in den lebendigen politischen Kreisen gefunden, ins Papierne übertragen. Was außerhalb der gewohnten Schlagworte, der gewohnten Phrasengeleise lag, das wollten die Blätter nicht aufnehmen. Indessen das [105] »Aktuelle« ist immer zeitungsspaltenfähig und so geschah es, als im Herbst 1891 die Telegraphenagenturen meldeten, in Rom werde unter Beteiligung offizieller Kreise ein Friedenskongreß und eine interparlamentarische Konferenz abgehalten – so geschah es, daß man in den Redaktionen doch auf jene Frage hinhorchte, und ein großes Wiener Blatt veröffentlichte einen von Rudolf Dotzky eingesandten Aufsatz, in welchem er ungefähr folgendes ausführte:


»Millionenheere, in zwei Lager geteilt, waffenklirrend, stehen bereit, nur eines Winkes gewärtig – aufeinander loszustürzen. In der gegenseitig zitternden Angst vor der unermeßlichen Furchtbarkeit des drohenden Ausbruchs liegt einigermaßen Gewähr für dessen Verzögerung.

Hinausschieben ist jedoch nicht Aufheben.

Die sogegannten ›Segnungen‹ des Friedens (als wäre der bewaffnete Friede nicht selber ein Fluch) die werden uns immer nur von Jahr zu Jahr garantiert, immer nur als ›hoffentlich‹ noch einige Zeit anhaltend hingestellt. Von der Abschaffung des Krieges, von gänzlicher Aufhebung des internationalen Gewaltprinzips, durch Einsetzung zwischenstaatlicher Justiz, davon wollen die zur ›Aufrechterhaltung des Friedens‹ waffenbrüderlich verbundenen Gewalten nichts wissen. Der Krieg ist ihnen heilig, unausrottbar, und man darf ihn nicht wegdenken wollen; er ist ihnen auch – angesichts der Dimensionen, die er unter den gegenwärtigen Bedingungen annehmen müßte – furchtbar, vor dem eigenen Gewissen unverantwortlich, also darf man ihn nicht anfangen.

Was ist das aber für ein unnatürliches Ding, das nicht aufhören kann und nicht anfangen soll; das nicht weggewünscht und nicht herbeigeführt, nicht verneint und nicht bejaht werden darf? Ein ewiges Vorbereiten auf das, was durch die Vorbereitung vermieden [106] werden soll – ein Vermeiden dessen, was durch die Vermeidung vorbereitet wird.

Dieses Widerspruchsmonstrum erklärt sich so.

Jenes Gebilde aus historischer Vergangenheit, das man noch aufrecht erhalten will, – die gebietverschiebende, machtvergrößernde, nur einen geringen Bruchteil der Bevölkerung in Anspruch nehmende frische und fröhliche Kriegführung, die ist inzwischen im Entwicklungsgange der Kultur, zur moralischen und physischen Unmöglichkeit geworden.

Moralisch unmöglich, weil die Menschen von ihrer Wildheit und Lebensverachtung verloren haben, daher nicht mehr fröhlich an das Totschlage-Werk gehen können, ›die Blutarbeit ist mir verhaßt‹ schreibt Friedrich III. in seinem Tagebuch; – physisch unmöglich, weil die während der letzten zwanzig Jahre angewachsene Zerstörungstechnik einen Grad erreicht hat, der den nächsten Feldzug zwischen den großen Militärstaaten zu etwas gestalten würde, das etwas ganz neues, anderes wäre, etwas, das sich mit dem Wesen und den Zwecken des landläufigen Begriffes Krieg nicht mehr decken würde.

Ein Beispiel: wollte man durch lange Stunden ein Bad vorbereiten, das Wasser heizen, heizen, bis es siedet und überwallt – wäre dann dasjenige, was einen träfe, der endlich doch in die Wanne stiege – oder vielmehr hineinfiele – noch ein Bad zu nennen?

Noch ein paar Jahre solchen ›aufrechterhaltenden Friedens‹, solcher Heeresmehrungen, solcher Mordmaschinen-Erfindungen – elektrische Sprengminen, ekrasitgeladene Lufttorpedos – und kurz nach der Kriegserklärung sind sämtliche Kriegführende – verbrüht.

Jeden Augenblick kann die Explosion kommen. Diejenigen, welche die Lunte in Händen haben, geben [107] zum Glück acht. Sie wissen, daß, bei solchem Pulvervorrat, die Folgen schrecklich wären, wenn sie unvorsichtiger- oder gar freventlicherweise den Funken hineinwürfen. Um also diese wohltätige Vorsicht zu steigern, wird der Pulvervorrat immer vergrößert. Wäre es nicht einfacher, freiwillig und übereinkommend die Lunte wegzutun, mit anderen Worten: abzurüsten? Den internationalen Rechtszustand einzusetzen, die getrennten Gruppen – die einander stets zuschwören, daß sie, wenn von der andern Gruppe angegriffen, Schulter an Schulter kämpfen wollen – zu einer Gruppe zu verschmelzen, den Bund der zivilisierten Staaten Europas zu gründen?«


Diese zwei Postulate: Einsetzung internationaler Friedensjustiz und europäischer Staatenbund – die bildeten in Rudolfs Sinn das ganze, klare, einfache Ziel des von Friedrich Tilling aufgestellten Ideals. Das dritte Postulat – die Abrüstung – müßte sich als die mechanische Folge der beiden anderen einstellen. So wie das Rüsten die Geste der Kriegswollenden und Kriegsfürchtenden ist, die einander feindlich und mißtrauisch gegenüber stehen, so wäre bei verbündeten Mächten, die für etwaige Streitfälle ein Schiedstribunal bereit hätten, die natürliche Geste das Abrüsten.

Jenen Artikel hatte er unterzeichnet und die Folge war, daß ihm aus den verschiedenen Schichten der Bevölkerung zahlreiche zustimmende Briefe zuflogen. Eine zweite Wirkung aber war, daß man ihn in seinem Kreise als »Exaltierten Menschen« klassierte. Manche seiner Freunde fanden diese Exaltation schädlich und gefährlich. Einigen flößte es geradezu Abscheu ein, daß ein Aristokrat, ein Offizierssohn Ideen Ausdruck gab, die so bedenklich an die Deklamationen der militärfeindlichen »Sozis« anklangen und an der bestehenden Ordnung der Dinge [108] rüttelten. Dabei solch unpraktisches, unausführbares Zeug! – »Utopie« sagten die Höflichen. Das Wort eignet sich so hübsch zum Wegfegen unbequemer Pläne. Es gibt zu, daß die Sache ja ganz schön und wünschenswert wäre – etwa wie die Überwindung des Todes – aber eben einfach unmöglich. Daß alle Errungenschaften von heute – alle, die technischen und sozialen – Eisenbahnen und Aufhebung der Sklaverei – meist als Utopie gegolten haben, daß daher dieses Wort die ganze Kulturgeschichte als eine ununterbrochene Kette beschämter Kleingläubigkeit durchzieht – dessen erinnern sich die neuen Utopie-Rufer nimmer.

[109]

XII

Von Rudolfs Standesgenossen war Graf Kolnos der einzige, bei dem er Verständnis und aufmunternde Sympathie fand. Der alte Herr hatte eine Dichternatur und Dichter sind immer einigermaßen Seher. Ihr Blick holt aus der entrücktesten Vergangenheit romantische Züge hervor oder reicht furchtlos bis in jene Zukunftsfernen, die ihr Schönheitsideal erfüllen werden; zur opportunistischen Anpassung an den Gegenwarts-Alltag haben Dichter kein Geschick. An dem Tage, nachdem jener Artikel erschienen war, suchte Rudolf seinen Freund Kolnos auf.

Die Räume, die der kunstsinnige Edelmann in einem Hause am Kolowratring bewohnte, waren selber ein Poem. Eine Flucht von mehreren Zimmern, hoch und geräumig wie Säle, waren mit gesammelten Kunstschätzen angefüllt. Meistergemälde, Statuetten, antike Möbel, kostbare Stoffe, Teppiche und Felle, Prunkgefäße und Waffen, hunderterlei Dinge aus Porzellan und Edelmetall, aus Elfenbein und Bronze; Preziosen und Juwelen in Email und funkelnden Steinen; mittelalterliche Manuskripte mit gemalten Initialen – daneben die noch unaufgeschnittenen Bücherneuheiten von heute. Das alles aber nicht etwa museummäßig in Vitrinen oder in Reih und Glied aufgestellt, sondern in zwangloser Verteilung; als Zier und Nutzgebrauch in wohnlichem Heime.

Graf Kolnos kam seinem Besucher mit ausgestreckter Hand entgegen.

»Grüß Gott, Rudolf ... Schön, daß Du wieder einmal zu mir kommst!«

[110] Trotz des großen Altersunterschiedes sagten sich die beiden Männer »Du«.

In seiner äußeren Erscheinung gehörte Kolnos demselben Typus an wie Dotzky. Die gleiche hohe schmiegsame Gestalt, das gleiche edelgeschnittene Profil und sogar der gleiche, spanisch gestutzte Bart, mit dem Unterschiede, daß der eine schwarz, der andere schneeweiß war.

»Gut, daß ich Dich allein finde,« sagte Rudolf, »ich will Dir wieder einmal mein Herz ausschütten und Dich um Rat fragen.«

»Ganz zu Diensten, mein Junge. Komm, setzen wir uns ... Hier in meinem kleinen Arbeitserker – da ist's am gemütlichsten ... Also meinen Rat willst Du, um ihn wieder nicht zu befolgen? ... Oh protestiere nicht, Du wirst Dich doch erinnern, daß ich Dir das Kandidieren um das Reichsratsmandat abgeredet hatte – und wer ging dennoch hin, um das zweifelhafte Privilegium werben, im Chor ja oder nein sagen zu dürfen, so wie man eben vom Parteischlüssel aufgezogen worden ... Dein guter Genius hat Dich davor gerettet –«

»Verzeih – ich hätte mich nicht als Spieldose aufziehen lassen – mein eigenes Lied hätte ich vorgebracht. Daraus ist vorläufig nichts geworden. Und so habe ich ein anderes Mittel versucht, gehört zu werden –«

»Ja, durch die Zeitung – ich habe Deinen Artikel vom vorigen Sonntag gelesen. Was Du sagst, ist ja alles wahr, aber –«

»Wenn etwas wahr ist, dann soll's gesagt werden – dann gilt kein ›aber‹ –«

»Das gebe ich zu. Mein ›aber‹ war nicht gegen Dich gerichtet, sondern gegen die Mitwelt: die will keine Wahrheit hören, die sie aus ihrer Bequemlichkeit reißt.«

»Die immer schwerer werdenden Rüstungslasten, die ewige Unsicherheit, der allgemeine Dienstzwang, der als [111] Damoklesschwert drohende Weltkrieg – das nennst Du bequem?«

»Bequem ist alles Altgewohnte – denn man ist darin eingerichtet, man hat seine Interessen daran geknüpft ... In unserer auf die Kriegsidee aufgebauten Ordnung ist der Friedensprediger der schlimmste Störenfried. Aber – schon wieder sag' ich aber – Du hast recht getan, Dein Artikel freute mich. Und je mehr die anderen darüber raisonnierten, desto mehr freute er mich. Wenn Du meinen Rat hören willst: verharre, verharre auf diesem Pfad. Das Verharren ist wohl immer das schwierigste ... doch ich mute Dir diese Kraft zu.«

»Danke. Die Standhaftigkeit wird mir allerdings nicht leicht gemacht. Darüber wollte ich Dir klagen.«

»Wer oder was entmutigt Dich ... die Zweifler?«

»Die fremden Zweifel nicht – ein eigener.«

»Wie – Du glaubst nicht fest an das, was Du sagst?«

»Doch. Meine Überzeugung ist eben so tief wie klar. Ich zweifle nur an der Möglichkeit, die Massen aus ihrer Apathie zu wecken. Diese Massen sehe ich vor mir liegen, wie ein Felsgebirge. In der Hand halte ich eine Lanzette – und damit sollten nun die Felsen von der Stelle gerückt werden? Und selbst, wenn ich statt einer Lanzette die Lunte zu einer Mine in Händen hätte – an welcher Stelle des Felsens sollte man ihn sprengen? Ohne Bild: wo soll man anfangen, um Vorurteile wegzuwälzen – sie sind ja alle so eng miteinander verwachsen. Und wo soll man anfangen, um das Unglück der Welt zu verscheuchen? Dieses Unglück heißt ja nicht nur Krieg – es heißt das Elend, es heißt Geistesnacht, Herzensroheit, Lasterhaftigkeit – diese drei verteilt in allen Klassen – daher auch vom Klassenkampf keine Erlösung zu hoffen ist. Ich meine, daß –«

Rudolf wurde unterbrochen. Der Diener meldete neuen Besuch:

[112] »Herr Hofrat Doktor Bland.«

»Ich lasse bitten.«

Kolnos stand auf, um den Eintretenden – ein behäbiger, sehr ernst blickender Fünfziger – mit freundlichem Händedruck zu empfangen. Dann stellte er vor: »Reichsratsabgeordneter Doktor Bland – Graf Dotzky. Die Herren sind ja Kollegen ... das heißt, nicht Kollegen, sondern etwas mehr noch: Gesinnungsgenossen.« Kolnos erläuterte diese Bezeichnung, indem er darauf hinwies, daß Doktor Bland – eine der »Säulen« der liberalen Partei – sich der im österreichischen Parlament neugebildeten »Gruppe für Frieden und Schiedsgericht« angeschlossen habe und als einer ihrer Delegierten zur bevorstehenden Konferenz nach Rom reisen werde, »und in Graf Dotzky,« fügte er hinzu, »sehen Sie den Verfasser des antimilitaristischen Artikels, der –«

»Ah,« unterbrach der Hofrat, »sind Sie derselbe Graf Dotzky, der bei den Wahlen –«

»Durchgefallen ist? Ja, der bin ich, Herr Doktor; habe daher leider keinen Anspruch auf den Titel Kollege; desto mehr interessiert mich die Gesinnungsgenossenschaft ... Sie beabsichtigen also, bei der Konferenz den Militarismus zu bekämpfen?«

Die drei saßen nun wieder im Erker und Kolnos deutete einladend auf ein nebenstehendes Rauchtischchen. Bland nahm mit dankender Verbeugung eine Zigarette und steckte sie an. Dabei schaute er durch die Gläser seiner goldumrandeten Brille mit intensiver Aufmerksamkeit auf Rudolf und seine ohnehin ernste Miene nahm einen noch strengeren und wichtigeren Ausdruck an.

»Hm ... also jenen Artikel haben Sie geschrieben? ... ich habe ihn nicht mehr recht im Gedächtnis ... doch Ihre Fragestellung von vorhin zeigt mir, daß Sie meine bevorstehende Reise nach Rom etwas irrig auffassen. Gegen den Militarismus, sagten Sie? ... Nein, das nicht –«

[113] »Warum in aller Welt wollen Sie dann an der Konferenz teilnehmen?«

»Mein Gott – wenn ich ganz aufrichtig sein soll, ich hatte schon lange den Wunsch, Rom zu sehen – meine Frau auch ... die Konferenz wird ja auch ganz interessant sein ... Und für den Frieden kann man immer eintreten – freilich unter dem Vorbehalt, daß man an der Wehrhaftigkeit des Vaterlandes festhält ... Natürlich ist ja von ewigem Frieden und derlei Unsinn für einen ernsten Politiker nicht die Rede –«

»Was in aller Welt, möchte nun auch ich fragen,« fiel Kolnos ein, »tun Sie dann auf einer Friedenskonferenz?«

»O, man kann da sehr nützlich sein – – besonders muß man darauf achten, daß, wenn etwa gefährliche Fragen, wie die elsaß-lothringische oder irredentistische, aufgeworfen werden, man den etwaigen Ausfällen der politischen Heißsporne rechtzeitig einen Dämpfer aufsetzt. An dem status quo des Territotal-Besitzes der Staaten darf nichts geändert werden. Wer für die Erhaltung des Friedens ist – und das ist ja schließlich fast jeder vernünftige Mensch im allgemeinen und unsere Partei im besondern – der muß wachen, daß an dem Besitzstand der Staaten nicht gerüttelt werde, der muß darauf hinwirken, daß sich die Nationen jeder Eroberungspolitik enthalten und nur darauf sich beschränken, so stark zu sein, um die Agression der anderen siegreich abwehren zu können. Wäre der Dreibund –«

»Welche anderen?« unterbrach Kolnos. »Wenn sich die Nationen der Eroberungspolitik enthalten, welcher Angriff ist dann abzuwehren?«

Aber Bland beachtete den Einwand nicht und beschloß den angefangenen Satz:

»Wäre der Dreibund nicht so stark, so würden die Franzosen gleich Krieg anfangen, und gegen kosakische [114] Einfallsgelüste muß man auch sein Pulver trocken halten.«

»Und mit diesen Ansichten« – rief Rudolf – »sind Sie Mitglied der interparlamentarischen Union für Frieden und Abrüstung?«

»Für Frieden und Schiedsgericht – nicht Abrüstung. Das Wort Abrüstung dürfen wir gar nicht in den Mund nehmen. Es ist unpatriotisch, unloyal und unvernünftig.«

»Erlauben Sie,« mischte sich Kolnos ein, »wenn Schiedsgerichtsverträge abgeschlossen werden, wozu braucht man dann die übertriebenen Rüstungen? Sind diese nicht eher unvernünftig und vertragen die sich mit den sogenannten liberalen Ideen?«

Bland war um Antwort nicht verlegen.

»Einmal liegen die Schiedsgerichte noch in weiter Ferne – würden doch auch nur für Fälle in Anwendung kommen, bei welchen die Ehre und die Lebensinteressen der Staaten nicht tangiert werden – und was die übertriebenen Rüstungen betrifft, ja da haben Sie vollkommen recht, meine Herren, die ruinieren die Nationen – gegen die muß man sich verwahren. Da sind wir Liberalen immer auf Posten, die bekämpfen wir standhaft. Wir verlangen Rechenschaft für jede Verwendung und streichen ab so viel als tunlich, um die Finanzkräfte zu schonen. Und alljährlich bei der Budgetdebatte erhebt einer von uns die Stimme, um das ungesunde Wachstum des Militarismus zu verdammen. Das Wort Militarismus ist ja eben – im Gegensatz zu Militär – die Bezeichnung eines Auswuchses, eines ungebührlichen Übergewichts ... gerade so wie Klerikalismus im Verhältnis zu Kirche oder Religion. So bekämpft unsere Partei auch den Klerikalismus – nicht aber die Kirche und die Religion. Diese muß dem Volke erhalten werden, ebenso wie das Militär dem Staat erhalten bleiben muß.«

[115] Kolnos unterdrückte die Bemerkung »besonders wenn man einen Sohn in der Wiener-Neustädter und den anderen in der Weißkirchener Militärschule hat.« Diese Ideenverbindung äußerte sich nur in der Frage:

»Wie geht's Ihren beiden Buben, Herr Hofrat?«

»Ich danke – es geht ihnen gut. Die Bengel freuen sich allerdings schon riesig auf ihr Porte-Epée ... die wollten von Antimilitarismus nichts hören! Der älteste wird schon künftigen Sommer ausgemustert – das wird ein Stolz sein, namentlich für seine Mama.«

Rudolf stand auf.

»Lieber Freund,« sagte er zum Hausherrn, »ich muß jetzt leider mich empfehlen.«

Aber Kolnos ließ den jungen Mann nicht fort. Und nachdem man noch eine weitere Viertelstunde über verschiedene Dinge gesprochen, wobei Rudolf äußerst zurückhaltend und wortkarg blieb, was es der Hofrat, der sich zum Gehen erhob und Kolnos versuchte nicht, ihn zurückzuhalten.

Und nachdem er draußen war:

»Ich habe Dir angesehen, mein lieber Rudolf, daß Du Dich geärgert hast. Warum widersprachst Du nicht?«

»Eben deshalb. Nichts schnürt mir so die Kehle zu, wie Ärger. Außerdem hätte ich etwas sagen können, was den Mann von seinen eingefleischten Ansichten abgebracht hätte? Vor einem großen Auditorium, oder im Abgeordnetenhause würde ich ihm vielleicht entgegnet haben, dem Auditorium zulieb oder zum Fenster hinaus ... aber hier – wozu? Er würde es mir dennoch nicht glauben, daß er ein ganz gewöhnliches Muster der fortschrittslähmenden Sorte des Fortschritts-Philisters darstellt – den Typus des freiheitsverleugnenden Liberal-Kompromißlers. Mir graut davor ... da lobe ich mir die konsequent Konservativen, die resolut Retrograden – die marschieren doch wenigstens in der Richtung, wo ihr verkündetes Ziel liegt. Aber diese Sorte, die trompetet [116] hinaus, daß sie links stürmen, dabei schielen sie nach rechts und rühren sich nicht vom Fleck, halten noch die wirklich Linkswollenden am Rockschößel zurück ... und wie weise sie sich dabei vorkommen, diese Freiheitshelden die sich so schön unter alle vorhandenen Fesseln und Joche zu ducken wissen ... Sie nehmen die Feile wohl zur Hand, sie gebrauchen sie aber nicht: der sägende Lärm könnte allerhöchste Gehörnerven verletzen, und einstweilen – unter den gegebenen Umständen – sind die Fesseln und Joche ganz nützliche Instrumente ... vielleicht ein ganz klein wenig lockerer – aber vorläufig müssen sie dem Volk noch erhalten bleiben.«

Kolnos lachte. »Wie Du Dich ereiferst! ... Ich will ja die Bland und Konsorten nicht in Schutz nehmen, aber gibst Du nicht zu, daß man, auch wenn man aufrichtig vorwärts will, doch etwas langsam gehen soll? Evolution – das lehrt uns die Natur – ist ein gar langsamer Prozeß – –«

»Als ob wir das nicht wüßten! Wir wissen aber auch, daß das winzige Von-der-Stelle-rücken des Ganzen das Resultat der größten Eile und größten Kraftanspannung der einzelnen Teilchen ist. – Übrigens, ich kann mich all den Anpassern nicht anpassen – ich werde mit den Leuten brechen, offen brechen müssen!«

[117]

XIII

Aus Marthas Tagebuch.


Im Janur 1892.


»Wenn die Sonne untergegangen ist, so ist die Geschichte des Tages vorbei.« Mit diesen Worten begründete ich Rudolf gegenüber meinen Entschluß, nicht weiter an meiner Lebensgeschichte zu schreiben.

Dennoch habe ich mir neuerdings ein Heft hergenommen, um Eintragungen zu machen. Nicht mein Schicksal soll ja den Mittelpunkt dafür abgeben, sondern das Schicksal und – soweit ich Einblick darein habe – das Seelenleben meiner Kinder. Meine Kinder sind nicht glücklich, fürchte ich. Als ich mein Buch abschloß, da war so eine Lebenswende eingetreten, die – in Romanen und auf der Bühne – wie der Ausgangspunkt einer ungetrübten gesegneten Existenz erscheinen: glänzende Verhältnisse, Geburt eines Erben, Verlobung. Ich ließ mich selber davon täuschen und nannte das gesicherte Glück meiner Kinder das Licht, das meinen Lebensabend verklären sollte.

Ach, um meinen Abend handelt es sich ja nicht. Ich beklage nur, daß ihr Mittag nicht so wolkenlos schön ist, wie ich ihn damals kommen sah.

Meine arme Sylvia ... ihr Mann betrügt sie – das weiß die ganze Stadt. Er hat seiner Geliebten ein kleines Gut gekauft. Er versucht garnicht, seine Abwesenheiten zu maskieren. Und Sylvia zeigt nicht die geringste Eifersucht – ein Zeichen, daß ihr Delnitzky ganz [118] gleichgültig, vielleicht sogar verhaßt ist. Also einsam, einsam! Sie hat sich mir nicht anvertraut, weil sie mir nicht weh tun will. Glaubt sie denn, daß ich nicht sehe, wie freudlos sie ist?

Und nun Rudolf ... der trägt noch größere Sorgenlast. Er hat – »der unglückselige Atlas« – die Sorgen der Welt auf sich genommen. Alles was in unserer Gegenwart an Traurigem enthalten ist, das schmerzt – an Schlechtem, das empört – an Dummem, das erzürnt ihn, an Gemeinem, das flößt ihm Ekel ein. »So gib doch in die andere Wagschale«, sagte ich erst gestern zu ihm, »all das Lichte, Schöne, Gute, das auch vorhanden ist und das in immer steigendem Maße sich entfaltet. ›Die Zukunft gehört der Güte‹, pflegte Tilling zu sagen ... und Du hilfst ja mit, diese Zukunft herbeizuführen – ist Dir das nicht erhebende Genugtuung?« Er schüttelte den Kopf: »Bis jetzt habe ich gar nichts geleistet – ich komme aus der Phase des Vorbereitens zum Handeln ja garnicht heraus – ein Schnitter, der immer nur die Sense schleift, ein Zeichner, der nicht aufhört, Bleistifte zu spitzen ...«

Er übertreibt, er hat schon gehandelt. Nur sind seine Handlungen an äußerlichen Hindernissen, am passiven und aktiven Widerstand der anderen abgeprallt. Da war seine Kandidatur ... sie wählten ihn nicht. Da war seine Reise nach Berlin, seine Unterredung mit Bismarck ... der eiserne Kanzler hat ihn abgewiesen, wie er den Abgeordneten Bühler und wie er den Prinzen von Oldenburg abgewiesen hatte: »An Abrüstung dürfe man nicht denken, am allerwenigsten in Deutschland, das gegen zwei Fronten en vedette zu bleiben hobe.«

Ich habe indessen meinem »Protokoll« doch wieder hoffnungsvolle Absätze hinzugefügt. Ach, daß Friedrich das alles nicht erleben konnte! Sicher hätte er sich den Friedensvereinen und -Kongressen angeschlossen. Das will nun Rudolf nicht tun. Ich bleibe aber durch [119] meine Korrespondenz mit den Gleichgesinnten aller Länder stets in Berührung mit den militanten Trägern der Friedensidee, und mein Protokoll spiegelt die Phasen der fortschreitenden, von der Mitwelt so sehr verlachten oder ignorierten Bewegung wieder.

Und da sehe ich, wie der Gedanke, daß das Gewaltsystem dem Rechtssystem weichen müsse, wächst und wächst und in immer höhere Kreise dringt. »Die Wogen müssen so hoch gehen,« sagte neulich Björnstjerne Björnson in einer Versammlung im Freien, vor einer Zuhörerschaft von zehntausend Menschen, »die Wogen des Friedensgedankens müssen so hoch gehen, daß sie bis in die ersten Stockwerke spritzen.«

Ob sie bis zu einem Thronsaal dringen? Die Leute behaupten, das sei unmöglich, denn die Throne ruhen auf der bewaffneten Macht. Aber was »behaupten die Leute« nicht alles?

Zu den neuesten Eintragungen meines Protokolls gehören die Versammlungen in Rom: die interparlamentarische Konferenz (mit bewundernswerter Energie vorbereitet vom Kammermitglied B. Pandolfi) und der dritte Weltfriedenskongreß. Offizieller Empfang auf dem Kapitol. Die beiden Körperschaften haben beschlossen, je ein Zentralbureau in Bern zu errichten. Der Gedanke nimmt immer mehr Gestalt an; seine Vertreter organisieren sich. Das Umherflatternde ballt sich zusammen und verdichtet sich. So entstehen Planeten und ebenso – Institutionen.

Kolnos, dem ich neulich mein Protokoll zeigte, sagte: »Sie tragen da zusammen, meine liebe optimistische Freundin, alles was in der Welt zu gunsten Ihrer Lieblingsidee geschieht, und lassen unverzeichnet, was zu deren Nachteil vorgeht. Ihre Sammlung umfaßt ein Zehntausendstel dessen, was tatsächlich gedacht, gesprochen und getan wird. Die übrigen 999 Tausendstel, von denen [120] sagt Ihr Protokoll nichts – und die geben den Ausschlag.«

»Ja, heute – aber später? – Millionen Schneeflocken begraben das erste Veilchen im März ... wer gibt den Ausschlag? Fragen Sie den Lenz: – das Veilchen.«

»Optimistin!«

»Mit diesem Namen beleidigen Sie mich nicht.«

»Das war auch nicht meine Absicht.«

»Sie treffen mich aber auch nicht. Das Wort will sagen, daß man nur das Gute sieht und für alles bestehende Böse blind ist. Ich sehe beides – Ormuzd und Ahriman. Der Kampf der beiden dauert ja fort. In diesem Büchelchen sind aber nur die Ormuzd-Siege notiert – und da nur auf einem Felde ... er siegt ja noch auf so vielen anderen. Zum Beispiel hat er die Höhlenmenschen abgeschafft und an deren Stelle Kolnosse gesetzt.«

»Ein magerer Gewinn,« gab mein Freund zur scherzenden Antwort.


Seit jeher haben Bücher in meinem Leben die Rolle von Ereignissen gespielt. Wie haben in meiner Jugend Darwin und Buckle auf mich gewirkt, und vor kurzem noch Tolstoi mit seinem »Das Reich Gottes ist in Euch.« Weil ja solche Bücher mir als etwas noch ganz anderes sich offenbaren, denn als wissenschaftliche und literarische Erscheinungen: Fackeln sind sie mir, ganze, dunkle Gebiete plötzlich erhellende Fackeln. Und die sie schwingen: ganze Menschen, mit ganz lichterfüllten Seelen ...

Vor einiger Zeit fiel mir eine Schrift in die Hand, die mir Ereignis – ein frohes Ereignis ward. Nicht so sehr, was der Verfasser darin schrieb, hat mich erschüttert, als daß er es schrieb; daß einer den edlen Mut hatte – möge es ihm auch seine Stellung kosten – das hinauszurufen, was seinen nach Wahrheit dürstenden Geist erfüllt. Nur ein dünnes Heftchen: »Ernste Gedanken« von Moritz von Egidy. Das Aufsehen war [121] groß. Egidy, Oberstleutnant bei den Husaren im preußischen Dienst, hat seinen Abschied erhalten. Und nun – wird er die Kraft dazu haben? – will er sich ganz der Aufgabe widmen, das auszubauen – in sich selber und für die Mitwelt, was er als Heilslehre in die Worte zusammenfaßt: »Religion nicht mehr neben dem Leben – unser Leben selbst Religion.« In rascher Folge kam nun eine Schrift nach der andern. Er zieht immer mehr die Konsequenzen seiner ersten Ideen; der Horizont der Gedanken weitet sich, das »Ernste Wollen« ward immer inbrünstiger. Es ist eine Lust, daß solche Menschen leben. Jubeln wollte ich, daß – –

Lust, Jubel? habe ich, die Beraubte, diese Worte niedergeschrieben? Gibt es denn noch für mich die Möglichkeit, zu frohlocken? Drängt sich nicht gleich zu jeder freudigen Regung der trübe, dämpfende Gedanke: Er ist nicht mehr da, die Freude zu teilen ... Möge die Welt auch noch so herrlich sich gestalten, mögen Schätze und Wonnen, wie aus Füllhörnern, über sie sich ergießen: die schwarze Leere, in die mein Liebstes versunken, für mich bleibt sie leer und schwarz ... ein Abgrund ohne Boden. Wie man einen Stein in die Tiefe wirft, um zu lauschen, wann er auf den Boden fällt, so lasse ich manchmal meine Empfindungen – Kummer und Freude – in jenen Grabesabgrund fallen und horche hin ... »Friedrich – was sagst Du zu diesem Egidy?« – Nichts. Stumm – auf ewig.


»Liebe Martha,« sagte mir neulich eine alte Cousine, »ich begreife Dich nicht ... immer finde ich Dich in Zeitschriften und Bücher vertieft und alles Neue, was in der Welt auftaucht: Dichtungen, Erfindungen, ›Bewegungen‹ – das greifst Du auf und erwärmst Dich dafür, auch wenn es noch so illusorisch ist. – Dabei behauptest Du doch, Du hättest mit dem Leben abgeschlossen. Woher dieser Widerspruch? In unserem Alter [122] hat man ja auch mit dem Leben abgeschlossen, selbst wenn man keinen solchen Trauerfall erlebt hat wie Du. Da hat man doch nur mehr ein Interesse: das Schicksal seiner Kinder und Enkel.«

Meine gute Cousine ist siebzig Jahre alt und ich höre es gar nicht gern, wenn sie mir, der um ungefähr zwanzig Jahre jüngeren, sagt: »in unserem Alter«. Zudem kümmert sie sich – nebst ihren Kindern und Enkeln – noch gar lebhaft um gar mancherlei Dinge, als da sind: Bekehrung kleiner Neger und Chinesen; die Wunder von Lourdes; die Wiederherstellung der weltlichen Macht des Papstes und dergleichen mehr. Darauf wies ich in meiner Entgegnung hin.

»Ja,« sagte sie, »die Relichion (unsere besonders Frommen sprechen das Wort so aus), das ist etwas anderes.«

»Meinst Du? Ich meine, es ist dasselbe ... es ist nämlich der Drang, für etwas Größeres, Höheres zu fühlen und zu wirken als für die nächstliegenden eigenen, oder der eigenen Kinder Interessen.«

»Aber, liebes Kind (à la bonne heure, das höre ich lieber als ›in unserem Alter‹, wie kannst Du nur vergleichen – der eitle, irdische Tand und die ewige Seligkeit?!«

Ich sprach von etwas anderem. Gerade so, wie ich es in meiner Jugend mit Tante Marie zu tun pflegte, wenn sie das Thema »Bestimmung« zu variieren begann. Die Cousine hätte mich doch nicht verstanden, wenn ich ihr hätte auseinander setzen wollen, daß es das gleiche Streben nach Seligkeit, nach Erlösung, nach dem »Heil« ist, was diejenigen erfüllt, die für Ideen, Erfindungen, Bewegungen sich erwärmen, von denen sie das Paradies schon diesseits erhoffen, oder doch wenigstens die Überwindung des Jammers, der – auch schon hienieden – eine Hölle schafft. Das ist doch nicht minder »Relichion«.

Ach, daß ein und dasselbe Wort oft so verschiedene [123] Dinge bedeutet! Das macht die Verständigung so schwer; das ist daran schuld, daß einer dem anderen so oft unrecht tut. Religion heißt auch das: inbrünstig die Verpflichtung fühlen, für das Gute, das Rechtschaffene, das Heilige einzustehen. Sich mit der Seele anklammern an alles, was von ewiger Schönheit, von lichter Klarheit, von ehrfurchtgebietender Größe erfüllt ist. Und das Gegenteil von alledem, das Häßliche, Finstere, Niedrige – vor allem das Grausame – bekämpfen, wo nur immer möglich. Wenn man noch dazu durch Wort und Eid gebunden ist (habe ich nicht geschworen, Friedrichs Aufgabe zu übernehmen?), da hat man doppelt religiös zu sein, gerade so, wie ein vom Klostergelübde gebundener Gläubiger doppelt fromm sein muß. Und so verfolge ich alle Phasen der Friedensbewegung und bleibe – mit Rudolf und durch Rudolf mit allen Bekämpfern des Krieges in steter Berührung: das ist meine Betschwesterschaft.


Die Post brachte mir heute diesen Brief:

»Berlin, 12. 1. 92.


Ihr Name wird unter den Vertretern einer Bewegung genannt, die die Menschheit ›nach oben‹, das Christentum seiner Erfüllung entgegenführen soll.

Ich halte es für meine Pflicht, mich Ihnen respektvoll zu nahen und Sie zu bitten, mich als einen derer anzusehen, die mit ganzer Kraft für die höchsten Bestrebungen eintreten. Jede Faser meines Daseins gehört dem Aufbau eines Reiches Gottes auf Erden, gehört dem ›Werden des Christentums‹. Es begreift dies alle Bestrebungen guter Menschen.

Ich bin durchglüht von Idealismus, bin aber kein Phantast – Sie haben es mit einem ›Menschen‹ zu tun. Unerschrocken, aber auch unbeirrt werde ich die Wege weitergehen, die mir vorgezeichnet sind. Je [124] umfassender unser Vorgehen ist, desto wirksamer; je entschlossener, desto heilbringender; je gleichzeitiger auf der ganzen Linie, desto durchgreifender der Erfolg.

Jetzt also muß ›etwas werden‹. Ich lebe der festen Überzeugung (das Wort Glaube wäre mir nicht genug hierfür), daß wir vor dem Tore stehen, das uns ebensowohl davon trennt, wie uns einführt in das Zeitalter der Vervollkommnung. Die Klinke mit kraftvoller Hand zu ergreifen, scheint mir die Berufung aller derer, denen Gott die Fähigkeit dazu gab.

M. v. Egidy, Oberstleutnant a. D.«


Diese unerwartete Botschaft erschütterte mich freudig. Ja, es will und es wird etwas werden. Nur kräftig an jener Klinke gerüttelt und das Tor geht auf.

[125]

XIV

Zwei Tage nach dem kleinen Diner traf Sylvia wieder mit Hugo Bresser zusammen. Diesmal in Marthas kleinem Empfangssalon.

Als sie eintrat, in der Absicht, wie sie es oft tat, ein Vormittagsstündchen mit ihrer Mutter zu verplaudern, fand sie diese in Gesellschaft Rudolfs und Hugos. Letzterer sprang auf, um sich vor der Eingetretenen zu verneigen. Es lag Verwirrung in seiner allzu raschen Gebärde, in seinem blaß und rot werdenden Gesicht. Oder schien es Sylvia nur so – und vielleicht nur darum, weil sie selber etwas wie Verwirrung empfand? Keine unangenehme – im Gegenteil ...

Sie umarmte ihre Mutter, schüttelte den beiden jungen Männern die Hand und setzte sich. Bresser wollte sich nun empfehlen.

»Nein, nein, warum nicht gar, mein Lieber,« widersetzte sich Baronin Tilling, »bleiben Sie doch! Wir drei sind oft genug miteinander allein – und Sylvia wird gewiß auch gern in unser Gespräch eingreifen, gerade da, wo wir es unterbrochen haben.«

»So? Wovon spracht Ihr denn?«

Hugo, indem er sich auf seinen früheren Platz wieder niederließ, antwortete:

»Wir sprachen vom Dichterhandwerk. Die Herrschaften – wie das so üblich, wenn z.B. der Kaiser auf dem Industriellenball Cercle hält – haben leutselig die Unterhaltung auf mein Fach hinübergelenkt.«

[126] »Das ist eine falsche Darstellung, Bresser!« rief Martha. »Rudolf sprach ein Langes und Breites über die Weltlage, über den Drang, den er empfindet, da handelnd einzugreifen und Sie waren es, der dagegen die Behauptung aufstellte, daß man die Welt nicht umformen könne, bis sie nicht umgedichtet sei, und damit war das Gespräch bei der Dichtkunst angelangt.«

»Das ist ja im Grunde dasselbe Thema,« bemerkte Sylvia, »das von denselben Streitern an jenem Gewittertage –«

Sie stockte errötend. Hätte sie von dem Tag reden sollen und zeigen, daß sie sich so genau erinnerte an alles, was damals getan und gesagt worden? Hätte sie sich dem Dankesblicke aussetzen sollen, der sie jetzt aus Hugos Augen traf? Sie zog ihre Hand aus dem Muff und atmete an dem halbwelken Veilchensträußchen, das darin verborgen gewesen.

Jetzt nahm Rudolf das Wort:

»Ich erwiderte, daß die Kunst keine Kultur-Umwälzungen hervorbringen kann. Eine Gegend wird verwandelt durch vulkanische Erschütterungen, durch hereinbrechende Fluten – aber nicht durch Blumenzucht.«

»Blumenzucht!« rief Bresser. »Als ob die Kunst ein so harmlos-heiteres Spiel wäre – als ob nicht auch sie mitunter so glühend wie Lava aus den Tiefen der Menschenseele strömte ...«

Lachend fiel Baronin Tilling ein: »Sie sind doch nicht exaltiert ... Wenn ich denke, was für ein natürlicher, nüchterner, beinahe trockener Mann mein alter Freund, Ihr Vater, ist!« – Absichtlich goß sie diesen kleinen Wasserstrahl auf Hugos feurige Art. Sie hatte beobachtet, wie bewegt ihre Tochter ihn angeblickt und erinnerte sich der Mitteilung, die ihr Rudolf an Sylvias Hochzeitstag gemacht: Hugo sei abgereist, weil er Sylvia liebte.

»Sie finden mich überspannt, gnädigste Baronin?[127] Darf man denn bei meinem Berufe ganz nüchtern sein? Mein Vater ist Arzt und ich bin – – daß es doch für unseren Kunstzweig keinen bescheidenern Namen gibt! Es kann einer ohne Anmaßung von sich sagen: ich bin Bildhauer, bin Musiker ... aber ›ich bin Dichter‹, klingt so eingebildet – denn das Wort bedeutet nicht allein die Ausübung, es drückt schon die sieghafte Bewältigung dieser Kunstgattung aus ... und weil ich davon so weit, ach so weit bin, darf ich mich wohl nicht Dichter nennen – sagen wir: Wortziselierer, Traumbändiger – –«

»Bändiger ist auch ein siegreicher Begriff,« sagte Sylvia.

»So nehme ich auch diese Bezeichnung zurück. Es ist ja richtig: die Träume unterwerfen eher mich als ich sie ... Bilder, Gestalten drängen sich mir auf ...sie rufen nach Ausdruck – sie lassen mich nicht, ehe ich sie aufs Papier gebannt ...«

»Und so sind Sie denn daran, die Welt ›umzudichten‹?«

»Absichtlich? Planmäßig? Nein. Der Genius der Kultur baut die Welt von selber um – er zwingt nur die Künstler, ein paar Bausteine zuzutragen, ohne daß sie es wissen.«

»Von selber geschieht gar nichts,« warf Rudolf ein.

»Als ich noch Publizist war und plante, eine große Zeitung zu redigieren, da hatte ich auch so etwas im Sinne, wie Sie, Graf Dotzky: auf die Welt reformierend einzuwirken. Das ist mir, seit ich mich der Dichtkunst, der lyrisch und dramatisch schaffenden, hingegeben habe, ganz verloren gegangen. Vielleicht auch deshalb, weil ich das leidige Zeitungslesen aufgegeben habe, mich um die Tagesereignisse gar nicht kümmere und mich in die Dichterwerke der alten und neuen Zeit vertiefte. Da hat sich eine ganze Phantasiewelt um mich aufgebaut, bevölkert von tausend Gestalten: Götter, Helden, Könige, Feen, Heilige. – Gestalten, die den Köpfen von Homer, [128] Dante, Shakespeare, Corneille, Goethe entstiegen sind. Von den neueren und neuesten gar nicht zu reden – und ich habe alle Modernen gelesen, auch die Russen und Skandinaven. Und da sind es nicht allein die erdichteten Geschöpfe, die mich gefangen nehmen – da ist es auch die technische Seite der Dichtung – der Stil, die Musik der Sprache, das Virtuosentum auf dem Instrument des Worts ... das ist's, was mich entzückt und was mir anzueignen mich als leidenschaftlicher Kunstehrgeiz erfüllt. Schönheit, Schönheit: die erscheint mir als die höchste Offenbarung unseres Genius ... und was man der Schönheit abzuringen vermag, das bereichert, das veredelt uns selber und unser ganzes Geschlecht ... Auf diese Art kann auch der einzelne Künstler, wenn er nur seine liebende Kraft anstrengt, wirklich den Schatz der Kultur vermehren, wirklich das eigene Gehirn und die Gehirne der Mitwelt feiner modeln und so an dem Entwicklungswerk des Menschengeistes helfend mitschaffen – besser als durch alle politischen und ökonomischen und sozialen Spekulationen und Maßregeln. Es ist nicht zu sagen, welche Gleichgültigkeit, um nicht zu sagen Verachtung, mich über all das kleinliche Getriebe erfaßt hat ... man sehe doch – in dem sogenannten öffentlichen Leben – die Enge der Interessen, die Flachheit ihrer Vertretung, die Häßlichkeit und Gemeinheit der Kampfweise. Ästhetisch – in der Politik – wirken höchstens die Gewaltmenschen, daher der Kultus für einen Napoleon oder einen Bismarck – –«

Rudolf schlug sich auf die Stirn:

»Sie haben mir da einen neuen Horizont eröffnet, Bresser ... Politiker und Künstler geringschätzen sich gegenseitig. Sie verstehen einander nicht. Ihre Gebiete sind zu getrennt. Ich sehe aber, daß sie sich verschmelzen sollten: als oberstes Prinzip hat – nicht nur in den Künsten – hat auch in der Lebenskunst, in der Regierungskunst die Schönheit erkannt zu werden. Und was [129] die Lenker der Völkergeschicke leiten sollte, das müßte auch Begeisterung – nicht Berechnung sein.«

Martha warf ihrem Sohn einen dankbaren Blick zu.

Jetzt wurde neuer Besuch gemeldet.

Es war Graf Kolnos. Nachdem er alle begrüßt und sich gesetzt:

»Ich bin gekommen, um – nein, noch nicht, um Abschied zu nehmen, aber um mein baldiges Verschwinden anzukündigen. Mich packt wieder einmal meine Reisewut.«

»O weh,« rief Martha, »da bleiben Sie uns wieder auf ein, zwei Jahre verschollen – Sie sind ein so unmäßiger Reisender – und ich entbehre Sie schwer so lange ... Wohin diesmal?«

»Diesmal nach Indien – dort war ich noch nicht. Vielleicht auch einen Abstecher nach Japan.«

Sylvia lachte. »Abstecher ist gut.«

»Willst Du mitkommen?« wandte er sich an Rudolf. Dieser schüttelte den Kopf. »Doch warum frage ich? Wenn man Weib und Kind hat und Mutter und Schwester, so hat man nicht diese exotischen Gelüste, nicht die Fernensehnsucht, die mich Einsamen alle paar Jahre packt, sogar noch jetzt in meinen alten Tagen. Wenn ich so recht müde geworden bin von dem hiesigen Einerlei, von dem Tritsch-Tratsch der Gesellschaft und dem Quitsch-Quatsch der Politik, da muß ich mich erfrischen in ganz fremder Landschaft, unter Menschen, die nichts von uns wissen, wie ich nichts von ihnen weiß. Da lese ich keine europäische Zeitung, da gebe ich niemand meine Adresse, damit man mir von zu Hause ja nicht schreiben könne, ›was es Neues gibt‹.«

Kolnos blieb nur kurz. Er versprach, am selben Abend zu Martha in Tete-a-tete speisen zu kommen.

»Ich muß Sie vor Ihrer Europaflucht noch tüchtig genießen,« hatte sie ihm gesagt. »Sie gehören zu den wenigen Menschen, deren Existenz mir eine Wohltat ist[130] – Ihnen kann ich immer alles sagen, was ich auf der Seele habe.«

Kaum war Kolnos gegangen, als wieder neuer Besuch eintrat – ein Besuch, der gleich fünf Mann hoch war: Exzellenz Gräfin Ranegg mit vier Töchtern.

Diese Gelegenheit benützte Bresser, um sich neuerdings zu empfehlen, und Martha hielt ihn nicht mehr zurück

Raneggs gehörten zu den nächsten Gutsnachvaren von Brunnhof und die Familien verkehrten sehr lebhaft miteinander. Zur Zeit, als Sylvia ihre Hochzeit feierte, war Gräfin Ranegg mit ihren Töchtern auf einer Italienreise begriffen gewesen, sonst hätten die vier schönen Schwestern sicherlich als Brautjungfern fungiert. Diese Mädchen nebeneinander zu sehen, war wirklich ein ästhetischer Genuß. Alle vier von hohem, schlankem Wuchs, von vornehmer und dabei natürlichster Anmut im ganzen Wesen. Die älteste, Cajetane, dreiundzwanzigjährig, hatte feingeschnittene regelmäßige Züge, dunkles Haar und schwarze Augen; die zweite, Christine, um drei Jahre jünger, war kastanienbraun mit lebhaft-schalkhafter Kaprizenphysiognomie, und die beiden jüngsten, die achtzehnjährigen Zwillinge Ella und Bella, einander zum Verwechseln ähnlich – waren hellblond mit sanften Blauaugen und Madonnengesichtchen. Die Zwillinge waren immer gleich gekleidet, die zwei älteren verschiedenartig, alle vier mit höchster Einfachheit.

Das in hohem gesellschaftlichem Ansehen stehende Paar Ranegg – er bekleidete eine der ersten Hofchargen, sie war eine geborene Fürstin – besaß außer diesen reizenden Töchtern noch zwei wohlgeratene Söhne, beide im Militärdienst. Der ältere, noch nicht ganz dreißig und schon Ulanenrittmeister, der andere, im vergangenen Sommer ausgemustert, Leutnant bei den Dragonern.

In Wien sahen sich die beiden Frauen – Martha und Gräfin Ranegg – eigentlich nur selten, denn während [131] die erste sehr zurückgezogen lebte, machte die andere ihren Töchtern zuliebe alle Unterhaltungen der großen Welt mit: Hof- und Kammerbälle, adelige Picknicks, erzherzogliche und aristokratische »on dansera«, Amateurtheater und Wohltätigkeitsbazare ... desto öfter sah man sich auf dem Lande. Für Martha war es immer eine Herzensfreude, mit dieser Familie zusammenzukommen, besonders in deren eignem Heim.

Das Leben dort bot nach jeder Richtung das Muster glücklichen und harmonischen Menschenloses. Genügender Reichtum, glänzende soziale Stellung, gegenseitige Anhänglichkeit, ein heiteres Dahinfließen der Tage in regelmäßigen Beschäftigungen: musizieren, lesen, sticken, malen, reiten, gemeinsame Spaziergänge und Spiele. Die Mädchen, so jung sie waren, zogen dieses Landleben dem Wiener Aufenthalt vor. Das Mitmachen der Wintervergnügungen war für die Schwestern Ranegg mehr die Erfüllung einer Standespflicht, als wirkliches Vergnügen. Im Mai, wenn die weltliche Nachsaison ihre höchsten Wogen schlug, waren sie schon immer voll Ungeduld, Wien zu verlassen, um in ihr geliebtes Raneggsburg zurückzukehren, das sie im Schmuck des Flieders und der blühenden Kastanien besonders anzog. Und wenn es Winter wurde, schoben sie die Übersiedlung nach Wien so weit als möglich hinaus. Sie liebten es, auf dem zugefrorenen Schloßteich Eis zu laufen und die langen Abende um den Familientisch zu verplaudern, jede mit einer Handarbeit beschäftigt. Vor Weihnachten wollten sie um keinen Preis fort, das Fest mußte in Raneggsburg gefeiert werden, mit dem großen Christbaum im Billardsaal, mit Bescherung für die Dorfkinder und Beschenkung aller Dorfarmen mit selbstgestrickten warmen Unterkleidern und Tüchern.

Martha unterhielt sich sehr gern mit Gräfin Ranegg, deren Altersgenossin sie war. Zwar hatten sich die beiden in ihrer Jugend nur sehr flüchtig, beinahe gar nicht gekannt[132] – erst durch die Nachbarschaft zwischen Brunnhof und Raneggsburg waren sie einander seit einigen Jahren so nahe gekommen –, dennoch sprachen sie mit Vorliebe von alten Zeiten miteinander, von den Begebnissen, Sitten und Anschauungen, die in der Welt herrschten, als sie jung waren. Gräfin Ranegg war in ihren Gesinnungen viel konservativer als Martha, wenn gleich sie viel liberaler dachte, als die Mehrzahl ihrer beiderseitigen Standesgenossinnen. Auf halbem Wege kamen sie sich entgegen; die etwas kühnen Ideen Marthas berührten die andere sympathisch, und das völlige Gleichgewicht des gediegenen, toleranten, vornehmen Wesens der Gräfin Ranegg übte trotz der Grundverschiedenheit der Ansichten auf Martha einen eigenen Reiz; es lag etwas so Beruhigendes und Harmonisches darin, – wie in allem, was aus einem Gusse und dabei aus edlem Stoffe ist.

Mit aufrichtiger Freude ging Martha der Eintretenden entgegen:

»Ah, sieht man Euch endlich wieder, ihr mondänen Geschöpfe!«

Die vier Mädchen küßten Martha die Hand.

»Ja, mondaines sind wir,« seufzte Gräfin Ranegg, »gestern Ball bei Pallavicini, heute bei Erzherzog Ludwig Viktor, morgen im Ministerium des Äußern ... Es ist eine wahre corvée

»Nun, nun, es macht Euch doch Vergnügen,« sagte Martha, »das heißt den Kindern ... das Los der Mütter ist auf Bällen freilich kein beneidenswertes.«

Die Mädchen waren mit Sylvia und Rudolf in eine andere Ecke des Zimmers gegangen, wo sie sich laut und eifrig unterhielten, sodaß die beiden älteren Damen miteinander sprechen konnten, ohne von den anderen gehört zu werden.

»Ich kann Dich versichern,« sagte Gräfin Ranegg, »nicht nur für Mütter, auch für die Töchter ist jetzt in unserer Welt nicht viel Vergnügen zu finden ...«

[133] »Ja,« bestätigte Martha, »das habe ich an Sylvia auch erfahren ... die moderne junge Herrenwelt ist gar so, ich weiß nicht wie ich sagen soll ...«

»Sag' ihr eigenes Lieblingswort: fad. Erinnerst Du Dich zu unserer Zeit, welch ein Unterschied – wie wurde da den jungen Mädchen der Hof gemacht, was doch – seien wir aufrichtig, was doch die Würze der weltlichen Vergnügungen ist. Geflirtet muß werden oder, wie man früher sagte, ›Passionen‹ müssen entbrennen ... Das hat alles aufgehört. Unsere jungen Männer verlieben sich nicht mehr – wenigstens nicht in unsere Mädchen.«

»Nein, in Bühnenprinzessinnen,« schaltete Martha ein.

Gräfin Ranegg fuhr fort: »Und zum Tanzen – da muß man die jungen Leute ordentlich zwingen. Dabei sind die meisten, deren man doch habhaft wird, so uninteressant, so langweilig, so gar nicht bei der Sache ... Sie tanzen ein paar Touren, weil es sein muß, oder tanzen auch nicht. Und zu den Soiréen sind sie einfach gar nicht zu haben. Wieviel solche haben wir schon mitgemacht, wo wir fast nur Frauen waren – ein paar alte Diplomaten und Generäle ausgenommen. Auf den Bällen gibt es zwar männliche Jugend, aber die wird hinkommandiert – die Mehrzahl der Tänzer besteht aus den ganz Jungen: Gymnasiasten, Theresianisten. Väter, Mütter, Töchter und Flaumbärte: das ist das Kontingent unserer Ballsäle. Auch junge Frauen sieht man da wenig – die haben ihre Diners und Spielpartien – dort verkehren auch unsere Herren lieber – –«

»Vielleicht wird die Sitte des Tanzens ganz aussterben,« sagte Martha. »Es ist schon einmal so – die Welt verändert sich.«

»Leider!«

»Ich sage nicht leider. Platz dem Neuen ... Und so langweiligen sich Deine Töchter?«

»Langweilen? O nein ... hörst Du, wie sie dort [134] mit Deinen Kindern lachen – sie sind, Gott sei Dank, stets so guter Laune.«

»Wie geht es Deiner Mutter?«

»Danke – nicht gar gut. Sie spürt ihre fünfundachtzig Jahre ... Wir sind sehr viel bei ihr ... jeden Abend bringt eine oder die andere von den Mädchen bei ihr zu – und oft streiten sie, welche von ihnen den Vorzug haben kann, statt auf den Ball, zur Großmutter zu gehen. Jetzt aber« – Gräfin Ranegg stand auf – »müssen wir wieder fort ... Kinder, kommt!«

»Das war ein kurzer Besuch!«

»Wir haben noch ungefähr siebzehn Visiten zu machen. – Wenn das keine corvée ist! Nächstens will ich übrigens auf einen ganzen Nachmittag zu Dir kommen – auf einen ordentlichen ›Plausch‹.«

»Tu' das! Wir hätten uns so viel zu erzählen.«

Nachdem sich die Tür hinter den Besucherinnen geschlossen hatte:

»Diese Familie ist mein Kreuz,« rief Rudolf. »Ein wahrer Jammer!«

»Aber, aber!« machte Martha vorwurfsvoll, »wie kannst Du so etwas sagen? Ich kenne keine lieberen achtungswerteren Menschen.«

»Das ist ja eben der Jammer ... Soll ich Dir das erklären?«

»Ja, da wäre ich neugierig.«

»Nun denn: Ich erinnere mich, einmal dem Gärtner den Befehl erteilt zu haben, einen gewissen Baum umzuschlagen, dessen Stamm hohl war. Beim nächsten Sturm konnte er umfallen und dabei vielleicht Schaden anrichten, also war es besser, ihn gleich zu fallen. Und während ich das Todesurteil sprach, blickte ich in die Krone hinauf und sah da ein Vogelnest, aus dem die Jungen die Hälse streckten und das die Alten umkreisten. ›Lassen wir's,‹ – sagte ich zum Gärtner – ›vielleicht hält der Baum noch den ganzen Sommer aus‹. – Verstehst [135] Du, was ich meine? So stehen wir sogenannten Reformatoren auch vor morschen Gesellschaftsordnungen und meinen, es müßte da die Axt angelegt werden; in dem Laubwerk aber, das den hohlen Stamm krönt, da haben sich die lieben, glücklichen Vöglein ihre Nester gebaut. Ihre ganze Existenz ist an die Existenz des Baumes gebunden – was liegt ihnen an der innern Fäulnis des Holzes, solange die Blätterfülle ihres Astes grünt? Hier wohnen sie und singen sie und ziehen ihre Kleinen groß. Und siehst Du – denselben Eindruck macht mir das Bild einer Familie wie die Raneggs ... ihr ganzes Glück, ihre ganze Würde ruht auf den Einrichtungen –«

»Ich verstehe,« ergänzte Martha, »auf den Einrichtungen, die innen morsch sind und gegen die Du ankämpfen willst –«

»Ja – und so ist mir dieses Ankämpfen erschwert. Wären schon alle Äste dürr, wäre statt der lieblichen Singvögel nur mehr ekles Gewürm auf dem Baum, da brauchte man nicht zu zögern mit dem Fällen ... wäre die Aristokratie durchaus verderbt und wären die Soldaten wilde Räuberseelen, wie viel leichter wäre es da, die Adelsprivilegien und den Militarismus abschaffen zu wollen ... Aber wenn man solche Familien sieht wie diese, deren ganzer Sinn auf den alten Traditionen ruht – wie das Vogelnest auf dem Ast –, deren Söhne mit Stolz und Freuden dienen, deren Töchter auch wieder bestimmt sind, auf dem Nebenast zu nisten – und dabei so holde, so makellose Geschöpfe sind, wie z.B. diese Ranegg-Mädchen (ich gestehe, wäre ich frei, die Cajetane könnte es mir antun ...) da vergeht einem die Lust, zerstörend – oder auch nur störend dreinzufahren und –«

»Und« – fiel Sylvia ein – »man sagt dann dem Gärtner: ›Lassen wir's noch.‹ Besonders,« fügte sie hinzu, »wenn man, wie wir eigentlich, zur selben Vogelgattung gehört.«

[136]

XV

An diesem Abend ging Sylvia in die Oper. Auf dem Zettel stand »Der Phrophet« und darin war Antons Flamme nicht beschäftigt. Sylvia pflegte nur die Opern zu besuchen, in denen jene nicht sang.

Sie war allein in ihrer Loge; ihr Mann hatte sie nur hergeleitet, dann aber, eine wichtige Sitzung vorschiebend, das Theater wieder verlassen; für ihn gab es nichts Langweiligeres als musikalische Aufführungen, die nicht durch die Gegenwart seiner Schönen belebt waren.

Sylvia gab sich dem Genusse des von Bühne und Orchester strömenden Wohllauts hin. Ein schwermütiger Genuß, denn sie fühlte sich zugleich unglücklich – einfach unglücklich. »Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide«; das war der Grundton ihrer Stimmung.

Sehnsucht – wonach? Nach einem großen Erlebnis, nach – – sie wußte es selber nicht, aber ihre Existenz war so furchtbar öde ... Für immer gebunden an einen nicht mehr geliebten Mann, der sie noch dazu in stadtbekannter Weise betrog ... Warum war es ihr nicht beschieden gewesen, einen Gatten zu finden, mit so weitem geistigen Horizont, mit so tiefem Gemüt, wie z.B. ihr Bruder – oder begabt mit einer schöpferischen Feuerseele, wie – ach nein, es ist besser, an Hugo nicht zu denken. Der Mann könnte ihr gefährlich werden ... Das fehlte noch, daß sie sich verliebte ...

Der Vorhang war über dem ersten Akt gefallen. Der Saal erhellte sich. Nach einer Weile ging die Logentür auf: es war Bresser.

[137] An einer heißen Beklemmung, die ihr Atem und Stimme raubte, sodaß sie die Begrüßung ihres Besuchers nur mit einer stummen Gebärde erwidern konnte, wurde Sylvia gewahr, daß die vorhin in Gedanken aufgetauchte Gefahr, daß sie sich verlieben könnte, schon näher war, als sie geglaubt.

Mit der Fächerspitze deutete sie auf einen Sessel. Dankend machte Hugo von der so erteilten Erlaubnis Gebrauch.

Daß er seinen Blick mit Bewunderung auf sie heftete, bemerkte sie wohl, und sie hatte das für jedes junge Weib – angenehm anregende Bewußtsein, gerade besonders vorteilhaft auszusehen – en beauté zu sein, wie die bezeichnende Redensart lautet. Sie fühlte ihre Wangen glühen und wußte, daß sie hier im Rahmen der Loge, in ihrem halbausgeschnittenen schwarzen Samtkleid und mit den blitzenden Diamantsternen im gewellten Haar ein hübsches Bild abgeben mußte.

»Es wundert mich,« sagte sie, »daß Sie nicht vorgezogen haben, ins Burgtheater zu gehen.«

»Weil ich selber Dramen schreibe, meinen Sie? Um zu lernen?«

»Um sich Begeisterung, Eingebung für Ihre Kunst zu holen.«

»Wenn ich das tun will, so gehe ich in die Oper – Musik zaubert mir zehnmal mehr dichterische Stimmung herbei, als ein Schauspiel. Übrigens bin ich heute hierher gekommen, weil ich wußte, daß ich Sie da sehen würde ... Von weitem sehen, denn ich glaubte, Ihre Loge würde so gefüllt sein, daß ich mich nicht hätte eindrängen wollen – Sie waren aber allein –«

»Ja – sehr,« antwortete Sylvia mit einem unwillkürlichen Seufzer.

»Sehr allein?« wiederholte Hugo. »Die beiden Worte führt der Sprachgebrauch sonst nicht zusammen – ebenso wenig wie sehr tot. Und doch – es ist so richtig – [138] im Alleinsein gibt es Steigerungen. Nicht in der Einsamkeit – mitten in der Menge ist man oft am alleinsten. Und das Gegenteil von Alleinsein ist – Zweisein ...«

»Vorausgesetzt, daß die zwei – eins sind.«

»Das habe ich sagen wollen.« Eine Pause.

Dann sprach Sylvia wieder.

»Ich möchte Sie eines fragen, lieber Bresser. Sind Sie glücklich? Freuen Sie Ihre Erfolge? Und haben Sie in Berlin solche – Zweisamkeit gefunden?«

»Das war nicht eine Frage, das sind drei Fragen, Frau Gräfin. Glücklich? Nein, ich fühle mich nicht glücklich. Erfolge? Mein Gott, es gibt in meinem Beruf keine Erfolge, auf denen man sich gewissermaßen freudig und ruhig ausatmen könnte ... Es ist, wie wenn man auf einer steilen Leiter hinaufklimmt, man freut sich nicht der erreichten Staffel, sondern strebt ängstlich nach der nächsten, von der man ja wieder ganz herabkollern kann. Und die dritte Frage ...«

»Die nehme ich zurück – sie war indiskret.«

»Das nicht, aber für Sie ohne Interesse. Ich verantworte sie dennoch: mein Herz ist nicht in Berlin.«

Wieder öffnet sich die Logentür: – Minister von Wegemann

Nachdem er ein paar Worte mit Sylvia getauscht, begrüßt er sehr herablassend den jungen Bresser:

»Sieht man Sie wieder einmal zu Hause? Das ist schön ... Jetzt bleiben Sie doch da ... ein guter Österreicher kann sich doch nicht immer in Preußen herumtreiben.«

»Ich bin nur auf kurze Zeit hierher gekommen, Exzellenz.«

»Deutschland und Österreich sind doch alliiert,« fiel Sylvia ein – »warum sprechen Sie das Wort Preußen so gehässig aus?«

»Allerdings – verbündet sind wir; andrerseits habe ich sechsundsechzig niemals ganz verwunden, und abgesehen [139] von allen politischen Erwägungen, denen ich ja jetzt fernstehe, ist es mein Privatgefühl, daß man sich nirgends so wohl fühlen kann, wie in unserem alten Wien, und daß ein Mensch, der nicht im Ausland leben muß, zu Hause bleiben sollte ... Wie geht's dem Toni, ist er nicht da?«

»Danke, es geht ihm gut. Er ist in einer Sitzung ...«

»Ah? Und was macht Rudolf? Sagen Sie mir, Sylvia,« fügte er leiser hinzu, »könnten Sie nicht ein bißchen ihren schwesterlichen Einfluß geltend machen und ihm seine Schrullen ausreden? ... Ich meine es ja gut ... er fängt an, bei vielen Anstoß zu erregen – er kann sich noch ganz unmöglich machen ...«

»Womit – was meinen Sie?«

»Mit seinen verschrobenen Ideen ... Neulich, im Kasino, wir waren da lauter Staatsmänner und Militärs, machte er einen Ausfall gegen die ganze Gesellschaftsordnung, als ob er ein roter Sozi wär' ... das verstehen Sie nicht ... ich war wie auf Nadeln ... geben Sie ihm einen Wink.« Dann wandte er sich wieder laut zu Bresser:

»Sie haben ja ein Stück geschrieben, das in Berlin aufgeführt worden ist – hat mir neulich Ihr Vater erzählt. Hoffentlich nicht im neuen, naturalistischen Genre, was? – wie ein gewisser Hauptmann –«

»Hm,« machte Bresser, »der gewisse Hauptmann hat das Zeug, einer unsrer großen Dichter zu werden – ich maße mir nicht an, ihm gleichzukommen.«

»Trachten Sie unserem Grillparzer gleichzukommen?«

»Auch das maße ich mir nicht an – ich versuche überhaupt nicht, irgend jemand nachzuahmen. Mein Glas ist klein, aber ich trinke aus meinem Glase, sage ich mit Alfred de Musset.«

Als der Vorhang wieder aufgezogen wurde, entfernte sich Herr von Wegemann. Hugo, durch ein Zeichen Sylvias aufgemuntert, blieb zurück.

[140] Sie wandten nun schweigsam ihre Blicke der Bühne zu. In schwellenden Wogen flutete die Musik durch den Saal. Was der abwechselnd süße und heroische Gesang, was die Harfenklänge und die rauschenden Akkorde des Orchesters ausdrückten, das empfanden die beiden jungen Menschenkinder als die Offenbarung dessen, was sie einander zu sagen hätten – wie eine Art melodische Gedankenkommunion.

Beim folgenden Zwischenakt kamen wieder einige Besucher in die Loge, und diesmal räumte ihnen Hugo den Platz.

Als er sich von Sylvia empfahl, frug er, ob sie gestatte, daß er morgen seinen Abschiedsbesuch mache, da er am übernächsten Tag nach Berlin zurückreisen werde.

Diese Nachricht versetzte ihr einen leisen Schlag – die Anwesenheit des jungen Dichters in Wien hatte ihr eine Erhöhung des Lebensinteresses bedeutet.

»Wie? so bald schon?« rief sie, ihm die Hand schüttelnd. »Also morgen! Um halb fünf,« fügte sie leiser hinzu – die anderen brauchten es nicht zu hören.


Am folgenden Tag zur bezeichneten Stunde fand Hugo die junge Frau allein.

Als er ihren kleinen Salon betrat, erhob sie sich vom Klavier, auf dessen Pult die Partitur des »Propheten« aufgeschlagen war.

Sie begrüßte ihn mit erzwungen ruhiger Freundlichkeit. Und nachdem sie sich gesetzt hatten:

»Also wirklich – Sie wollen sich verabschieden? ... Der Entschluß zu dieser Rückreise scheint Ihnen plötzlich erst gestern abend gekommen zu sein?«

»Ja, Gräfin, gestern abend.« Eine Pause.

»Ihrem Vater wird es leid tun.«

»Meinem Vater tut es sehr leid.«

Nach einer abermaligen Pause sagte Sylvia:

»Mir auch ... Sie stellen doch ein Stück meiner [141] ersten Erinnerungen dar – als Kinder haben wir oft miteinander gespielt und jetzt – ich gestehe, ich habe mich sehr gefreut, Sie wiederzusehen ... und so – gewachsen zu sehen. Was Sie alles von Ihren dichterischen Versuchen und Erfolgen erzählen, interessiert mich ... Der Einblick in einen Künstlergeist ... kurz, es tut mir sehr leid, daß Sie abreisen ...«

»Wenn Sie es befehlen, so bleibe ich.«

»Ah, ich habe nichts über Sie zu befehlen,« antwortete sie rasch.

Sie war über diese Wendung erschrocken. Vielleicht wäre es besser, wenn er abreiste ... sie erriet, daß sein Motiv dazu dieselbe Gefahr sei, die auch ihr vorgeschwebt.

»Sie haben alles über mich zu befehlen! – Wenn ich Ihnen aber einen Einblick – nicht in einen Künstlergeist, sondern in ein armes Menschenherz gäbe, Sie würden mir vielleicht gebieten, nicht nur daß ich jetzt abreise, sondern daß ich überhaupt nie wieder komme. Sie durchblicken, was ich sagen will ... ich sage es aber nicht, weil das eine Vermessenheit wäre, zu der ich nicht berechtigt bin ...«

Sylvia schüttelte unwillig den Kopf.

»Sie haben es doch gesagt ... Reden wir vernünftig, Herr Bresser. Daß Sie einmal in mich verbrannt gewesen, das weiß ich ja aus einem närrischen Brief, den ich an meinem Hochzeitsmorgen erhielt. Darüber sind nun bald drei Jahre vergangen ... Sie sind in ein ganz neues Leben getreten, haben die alte Schwärmerei, wenn nicht vergessen, so verwunden – das Kopfschütteln gilt nicht. Ihre Arbeit und – was weiß ich, ich frage nicht darnach – vielleicht auch neue Herzensbande füllen Ihre jetzige Existenz aus, also tun wir, ich bitte, als wäre niemals jener Brief geschrieben, niemals Ihre Andeutung von vorhin gemacht worden ... ausgelöscht, das Ganze ausgelöscht ... und um mit dem Thema ein- für allemal fertig zu werden, erkläre ich nun [142] mit aller Entschiedenheit, daß Sie nichts, nichts, nichts von mir zu hoffen haben – außer den freundschaftlichen Verkehr einstiger Jugendgenossenschaft, den in alter Herzlichkeit. Also reisen Sie nach Berlin, wenn Ihre Geschäfte oder Ihre Neigung Sie dahin rufen ... aber nur keine Flucht, ich bitte ... das würde mich beleidigen. So, das war das letzte Wort über diesen Zwischenfall – ich werde ihn nie wieder erwähnen – auch Ihnen verbiete ich, jemals darauf zurückzukommen. Und jetzt erzählen Sie mir von Ihrer neuesten Arbeit.«

Sie hatte sehr schnell gesprochen, über und über rot dabei.

Hugo hatte nicht versucht, sie zu unterbrechen. Ihre Worte – sie sprach ja von seiner Liebe – bewegten ihn wonnig, betäubten ihn – fast wie eine Liebkosung.

Die Dämmerung war hereingebrochen. Ein Diener brachte die Lampen und schürte das Kaminfeuer. Dann entfernte er sich wieder. Das Lampenlicht war von großen, roten Schirmen gedämpft und auch aus dem Kamin flackerte roter Schein über den Teppich; – eine unsäglich trauliche Stimmung war in dem prunkvollen, kleinen Gemach verbreitet.

Bresser stand auf und lehnte sich an den Kaminsims; dadurch war er der jungen Frau etwas näher gekommen.

»Ich werde Ihnen gehorchen, Gräfin Sylvia, in allen Stücken,« sagte er in sanftem, zärtlichem Ton.

»Das ist recht.«

»Einstweilen bleibe ich noch in Wien. Ich kann hier die Arbeit, die ich begonnen habe und um die Sie mich fragen, mit mehr Muße vollenden als in Berlin, wo meine vielen Kollegen mir keine Ruhe lassen.«

»Was ist diese Arbeit?«

»Ein Märchendrama in Versen. Der erste Akt ist fertig – ich werde Ihnen ihn vorlesen – und Sie sagen mir, ob ich den richtigen Ton getroffen.«

[143] »Haben Sie das Manuskript bei sich?«

»Nein, ich bringe es das nächste Mal, wenn Sie erlauben.«

»Gut – morgen.«

»Gut, morgen: wie mir das freundlich klingt – nachdem ich mich schon dazu verurteilt hatte, morgen über alle Berge zu sein. Als ein Begnadigter fühle ich mich.«


Und am folgenden Tage kam er. Um dieselbe Dämmerstunde wie gestern.

Doch diesmal waren die Lampen schon angezündet und Sylvia war nicht allein. Baronin Tilling saß bei ihr.

Als Sylvia den jungen Mann eintreten sah, stockte ihr der Atem und sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. Sie war froh, nicht allein zu sein; nur war ihr der forschende Blick etwas peinlich, den ihre Mutter, welche das plötzliche Farbenwechseln vielleicht bemerkt hatte, nun auf sie heftete.

»Guten Abend, Herr Bresser,« sagte sie, etwas unsicher. »Haben Sie Ihr Manuskript mitgebracht?« Sie deutete auf eine Rolle, die er in der Hand hielt.

»Ja, das ist es.« Er legte die Rolle auf einen Tisch. »Ich lasse es hier – zur gelegentlichen Durchsicht.« Dann näherte er sich der Baronin Tilling und küßte ihr ehrerbietig die Hand.

»Ihr neuestes Werk?« fragte diese.

Sylvia aber nahm das Manuskript und wollte es ihm zurückgeben.

»So haben wir nicht gewettet. Sie versprachen mir vorzulesen.«

»Ich weiß nicht, ob die Baronin ...«

»O, ich würde unendlich gern etwas von Ihnen hören – wenn Sie meiner Tochter versprochen haben, eine Ihrer Dichtungen vorzulesen, dann lassen Sie mich an dem Genusse teilnehmen –«

[144] So aber hatte er nicht gewettet. Allein mit der angebeteten Frau, ihr mit seinen Versen seine Seele ausschütten ...: das hatte er von der verheißenen Stunde erhofft. »Two is company, three is none« – die Richtigkeit dieses englischen Sprichworts schien ihm wieder einmal bewährt. Sich jetzt hinsetzen und den beiden Damen seinen neuesten dramatischen Versuch vortragen, wie um die eigene Eitelkeit zu befriedigen, oder als ob er sich Kritik und Rat holen wollte: – nein, das verhielte sich zu der geträumten innigen Geisteskommunion wie ein Drehorgelstück zu Sphärenmusik – –

»Ich bin ein schlechter Vorleser,« sagte er. »Die Gräfin wird, wenn sie einmal Zeit hat, in dem Fragment blättern.«

»Nur ein Fragment?« fragte Martha.

»Ja, der erste Akt eines Dramas. Mehr habe ich nicht fertig.«

»Aber doch den Plan der nächsten Akte?«

»Der ist noch schwankend.«

Sylvia nahm die Papierrolle:

»Wenn Sie nicht vorlesen wollen, so werde ich es tun!«

Sie setzte sich zurecht und schlug das Manuskript auf.

Wieder durchzuckte der Anblick von Hugos Schrift sie mit der Erinnerung an den heißen Liebesbrief, den er ihr damals geschrieben ... Und tot war ja diese Liebe nicht – das wußte sie – nur zu ewiger Stummheit verdammt. Und doch wieder nicht: einem Dichter kann der Mund nimmer verschlossen werden. Was er einer in direkter Anrede nicht sagen durfte, das konnte er ja – allen vernehmlich und nur einer verständlich – in seinem Gesange aussprechen. Ihr war, als müßte sie nun in dem aufgeschlagenen Hefte gar manche Stelle finden, die an sie gerichtet war, die ihr Leidenschaftliches und Süßes ins Ohr flüstern würde ...

[145] »Gut,« sagte Hugo, »lesen Sie, Gräfin. Meine Verse von Ihnen zu hören, wird mich ganz eigentümlich berühren und – belehren; ich werde besser beurteilen können, als wenn ich selber lese, wie die Verse klingen ... Wenn es Sie also nicht langweilt, Frau Baronin – –«

»Mich?« rief Martha lebhaft, – »ganz im Gegenteil, ich bin sehr gespannt – lies, mein Kind.«

Sylvia rückte näher zur Lampe und begann zu lesen. Hugo lehnte sich in seinem Fauteuil so zurück, daß sein Kopf im Schatten des Lampenschirmes verborgen war; sein Blick hing an Sylvias Zügen, deren Spiel bewegt und ausdrucksvoll den ebenso bewegten und ausdrucksvollen Stimmfall begleitete. Das melodische Organ war bei manchen Stellen weich und zitternd und erhob sich bei anderen zu feuriger Kraft, aber beides geschah – nicht in deklamatorischer Absicht, sondern in unwillkürlicher, deutlich verhaltener Ergriffenheit.

Mit großem Interesse lauschte Martha dem Inhalt des Stückes, mit noch größerem beobachtete sie ihre Tochter.

An sie gerichtete Worte, wie sie erwartet hatte, konnte Sylvia in den vorliegenden Versen nicht finden, denn von Liebe und Liebessachen war nicht die Rede; aber eine Sprache von solchem Schwung und solcher Schönheit fand sie darin, wie sie es nicht erwartet hatte.

Kräftig und klirrend wie Trompetenschall, dann wieder sanft und einlullend wie das Plätschern einer mondbeschienenen Fontäne, von wilder Fröhlichkeit wie Mänadentanz und banger Schwermut wie Grabesläuten, so wechselten die Rhythmen, so reihten sich die Strophen in überraschend neuen Wortverschlingungen aneinander – im Schmucke ebenso neuer Bilder von tiefglühenden Farben oder mattschimmerndem Glanz. Und diese ganze Ausdruckspracht als Gewandung erhabener und lieblicher Gedanken, kühnsten Phantasiefluges und leidenschaftlich pulsierender [146] Gefühlskraft. Die Leserin überkam eine genußvolle Bewunderung, wie nur vollendete Kunstwerke sie einzuflößen pflegen; von der Begeisterung, die in diesen Versen vibrierte, strömte Mitbegeisterung in ihre Seele über – sie war gehoben und beglückt. Als sie das letzte Wort gelesen und die Hand, die das Heft hielt, sinken ließ, holte sie einen tiefen, zitternden Atemzug: sie liebte einen Dichter – einen großen Dichter.

Auch Martha war hingerissen.

»Wundervoll!« rief sie. »Sie haben eine große Zukunft vor sich, Bresser. Und, Sylvia, ich muß sagen – Du trägst sehr schön vor.«

Die beiden anderen blieben stumm. Nach einer Weile ergriff Martha von neuem das Wort, um von der Handlung des eben gelesenen Dramenfragments zu sprechen und zu fragen, wie dieselbe sich weiter entwickeln werde.

»Einen ursprünglichen Plan habe ich verworfen, während dieser Akt entstand – also kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, wie ich die Handlung weiterführe. Eine ganz neue Wendung hat sich mir – durch die zufällige Eingebung einer einzigen Reimzeile – aufgedrängt – und das muß nun erst reifen, ehe ich überhaupt an dem Stücke weiterarbeiten kann.«

»Das also sind die geheimen Vorgänge des Schaffens?« sagte Martha nachdenklich.

»Ich denke,« erwiderte Bresser, »daß diese Vorgänge bei jedem Künstler andere sind.«

Sylvia schwieg noch immer. Sie war wie in einen Traumzustand versetzt, aus dem sie sich nicht durch den Klang der eigenen Stimme reißen wollte. Warm und beseligend – wenn auch zugleich beängstigend – strömte ihr vom Herzen das Bewußtsein auf, daß da ein Mensch vor ihr war, dessen Scheitel mit der höchsten irdischen Krone – mit der des Genius – geschmückt war, und von diesem Menschen wurde sie geliebt ... ihn wiederzulieben war süßester Zwang. Die Dichtung war ihr zu [147] Kopf gestiegen, ihre Seele taumelte in Bewunderungsrausch.

Unerwartet trat Delnitzky herein. Damit war der Bann gelöst. Wie aus einem Traum erwachend, fuhr Sylvia empor; es war, als hätte ein kalter Luftstrom ihre Schläfe berührt und den Rausch verscheucht.

»Grüß Euch Gott alle miteinander ... Küß die Hand, Mama ... ah, Herr Bresser ... freut mich – noch immer in Wien? Ich hab' geglaubt, Sie sind schon nach Ihrem geliebten Preußen abgedampft ... Du, Sylvia, ich wollte Dir sagen, ich hab' heute zwei Freunde zum Essen eingeladen ... den Felsegg und den Milovetz.«

»Gut,« sagte sie.

Er warf sich in einen Fauteui

»Bei was habe ich die Herrschaften gestört?«

»Sylvia las uns aus einem Drama vor – von Herrn Bresser.«

»So. Da hab' ich was versäumt ... Na, wir werden ja Ihre Stücke vielleicht einmal in der Burg sehen, was? Das ist mir lieber als vorlesen hören ... Dazu hab' ich gar kein Talent, oder keine Geduld.«

Hugo empfahl sich bald. Als er, sich verabschiedend, Sylvias Hand küßte, sagte er:

»Sie haben nicht ein Wort des Urteils geäußert, Gräfin – soll ich das als stummen Tadel auffassen?«

Mit festem Händedruck und einem geraden Blick in seine Augen antwortete sie:

»Sie wissen das Gegenteil.«

Ja, er wußte es. Ein magnetischer Rapport hatte, während des Lesens, sich zwischen Autor und Leserin hergestellt. Deutlich hatte er empfunden, daß sie auf den Flügeln seines Gesanges in die gleiche Begeisterungshöhe gehoben worden, die er in den Stunden der Arbeit erklommen hatte. Eine Kommunion auf dem Gipfel des [148] Parnasses – ein gleichzeitiges Eintauchen der brennenden Lippen in das kühle Geriesel des kastalischen Quells ...

Solche, etwas überspannte Ideen erfüllten und begleiteten ihn, als er nun, Sylvias Hand verlassend, in raschen Schritten seiner Wohnung zueilte. Er hatte die Absicht, den Drang, das Bedürfnis – heute noch, den ganzen Abend – zu schreiben. Den zweiten Akt beginnen unter dem Eindruck, den ihm die Lektüre – aus solchem Mund in solchem Ton! – die Lektüre des ersten gemacht. Anderes noch wollte er schreiben: ein Gedicht an – sie. Seine Liebe war – im Bewußtsein erreichter Gegenliebe – zu höchster Glut angefacht, und da dies unter dem Bann der Dichtung so gekommen, so wollte, so mußte er nun in glühenden Versen seinem Gefühle Luft machen. Sie besingen – er lechzte darnach, als wäre es eine Art sie zu liebkosen, sie zu schmücken – statt mit Küssen und Perlen – mit Rhythmen und Reimen.


Baronin Tilling war bei Delnitzkys zu Tisch geblieben. Bald nach dem Essen entfernten sich Toni und dessen Freunde, um in den Klub zu gehen, und Mutter und Tochter blieben allein.

Sylvia war die ganze Zeit zerstreut und schweigsam gewesen. Auch jetzt, wenn Martha etwas fragte oder bemerkte, antwortete sie erst, wenn die Frage oder Bemerkung wiederholt worden war, und da nur ganz kurz und nicht recht zur Sache.

»Komm, mein Kind – mach es wie in Deinen Mädchenjahren – nimm Dir einen Schemel und setz' Dich her zu meinen Füßen ...«

»Ach, Mutter, die Mädchenjahre sind entflohen –«

»Und ebenso Dein Vertrauen zu mir ...?«

»Wie meinst Du –?«

»Ich meine, daß Du mir verschweigst was Dich drückt und was Dich bewegt. Das war einmal anders ... Du pflegtest mir alles zu sagen – wie Deiner besten [149] Freundin. Jetzt freilich könnte Dein Mann mich verdrängt haben, er könnte nun Dein Vertrauter und Berater sein ... dann würde ich mich gern zurückziehen, aber das ist, leider Gottes, – nicht der Fall.«

»Nein, es ist nicht der Fall,« murmelte Sylvia bitter.

»Siehst Du – und das sagst Du mir erst heute –«

»Da Du es durchschaut hast –«

»Ich durchschaue noch mehr ... Sylvia, komm, tu' mir den Gefallen, setze Dich ... da und lege Deinen Kopf auf meinen Schoß und sei aufrichtig, ganz aufrichtig – ich bitte, bitte Dich!«

Etwas widerwillig, aber doch unwiderstehlich angezogen, gehorchte die junge Frau.

»Hier bin ich also ... das alte Plätzchen ... Erinnerst Du Dich – zum letzten Male saß ich so – am Tage, da ich mich heimlich verlobt hatte ...«

»Ja, ich erinnere mich – Du legtest mir damals eine Art Beichte ab.«

»Ja, Beichte. Meine Liebe war nicht sündenfrei –«

»Das ist sie auch heute nicht, Sylvia –«

»Ich liebe ihn ja nicht mehr, dem Himmel sei's geklagt. Nun weißt Du es – ich dachte, Du müßtest es schon längst wissen, doch Dir und mir habe ich das Peinliche ersparen wollen, das in solcher Aussprache liegt.«

»Ich hatte Dich damals gewarnt – Du wolltest nicht auf mich hören – warst leidenschaftsbetört, ›eine verliebte Natur‹ nennt man das – une grande amoureuse – wie's in den französischen Romanen heißt. Aber ich wiederhole es, Deine Liebe ist nicht sündenfrei –«

»Und ich wiederhole: sie ist ja erloschen.«

»Für Toni ja – und das verstehe ich. Doch –«

Sylvia zuckte lebhaft zusammen unter der Hand, die auf ihrem Scheitel lag.

»Also auch das hast Du erraten?« sagte sie bebend.

[150] »Auch das ... Ich beschwöre Dich, mein Kind, empfange diesen jungen Mann nicht mehr ... Du bist Friedrichs Tochter ... nicht anders als in Reinheit darfst Du durchs Leben gehen.«

Eine leise Revolte stieg im Innern des jungen Weibes auf: war sie nicht vor allem sie selbst – und erst in zweiter Linie die Tochter von diesem oder jenem? Aber auch sie selbst ... wenn sie gleich in Bewunderung zu dem jungen Dichter erglühte – hatte sie denn je daran gedacht, ihrer Reinheit etwas zu vergeben? Bresser zum Geliebten –? Der Gedanke stieg ihr da zum ersten Male auf, als etwas heiß Verwirrendes, Beschämendes, – etwas das zu verjagen war, das man nicht ausdenken durfte – –

Martha sprach weiter:

»Dein Vater ist tot – aber sein Werk lebt fort: wir drei: Rudolf, Du und ich sind dessen Erben und Hüter. Kein Schatten darf auf die Ehre unseres Namens fallen, denn solcher Schatten würde auch unsere Sache verdunkeln. Aber nicht der Sache – auch Deiner selbst willen, Sylvia, beschwöre ich Dich: geh in Reinheit durchs Leben!«

»Das will ich ja,« antwortete Sylvia mit erhobenem Haupt.

[151]

XVI

Martha an Graf Kolnos.


»Brunnhof, Mitte Juni 1893.


Lieber Freund!

Zufällig habe ich Ihren jetzigen Aufenthalt und Ihre Adresse erfahren. Sie sind schon auf dem Rückweg und kommen wohl bald hier an. Nach andert halbjähriger Abwesenheit!

Sie wissen nicht, was inzwischen geschehen. In meinem Hause hat sich Trauriges – furchtbar Trauriges zugetragen. Und Sie sollen es zuerst durch mich erfahren – daher schreibe ich Ihnen. Sie sind mein Freund und Rudolfs Freund – Ihrer Teilnahme bin ich sicher.

Der Tod ist bei uns eingebrochen. Zweimal. Zuerst mein Enkelkind – Friedrich. Zwei Tage nur war der arme Kleine krank. Ein harter Schlag für uns alle. Was mit solchen Kindern stirbt, ist nicht nur das gegenwärtige liebe herzige Wesen selber – es sind die ganzen Träume, die man für die Zukunft geträumt ... Der Erbe des Dotzkyschen Majorats, der Nachfolger meines Sohnes, wäre er nicht auch geistig sein Nachfolger geworden und hätte das Werk weitergeführt, das Rudolfs Lebensaufgabe ist? Und alles das durch ein paar Konvulsionen des kleinen Körperchens aus der Zukunft weggewischt!

Rudolf war sehr unglücklich. Beatrix, die eben einer zweiten Niederkunft entgegensah, war ganz verzweifelt. [152] Und jetzt kam der zweite Schlag. Eine Fehlgeburt und – auch Beatrix ist tot.

Sie können sich meines Sohnes Schmerz wohl vorstellen. Er hatte sein Weibchen unendlich lieb – sie war auch ein gutes, liebes, hübsches Geschöpf ... er beweint sie innig. Diese beiden, so kurz auf einander folgenden Verluste haben ihn ganz schwermütig gemacht.

Er wird sich wieder aufraffen. Sein Alles war ihm Beatrix nicht. Er ist jung, ich sehe die Zeit kommen, da er sich eine neue Häuslichkeit gründen wird. Aber als ich ihm neulich so etwas sagte, wehrte er heftig ab.

So, nun wissen Sie, mein alter Freund, daß Sie in uns ein paar recht gedrückte, traurige Leute wiederfinden. Mein holdes Enkelkind, daß den so teueren Namen Friedrich trug – war mir gar fest ans Herz gewachsen ... Der Tod, der Tod ... wie wandelt der doch so grausam unter uns herum und knickt die Blüten unseres Glücks ... Was mir unter seiner Sense gefallen – ich denke immer noch an 1871 – das hat mich eigentlich gegen seine Hiebe abgehärtet. Damals war es nicht einmal sein Hieb, nicht er hat ausgeholt – menschliche Barbarei hat ihm die Sense geführt. Ist ja ein viel zu schwaches, leistungsunfähiges Instrument, diese Sense ... einfach nur für Handarbeit zu brauchen; – das menschliche Ingenium hilft da auch, mit bei Krupp und Konsorten fabrizierten Mähmaschinen. O über die bodenlos wilde Unvernunft, Krieg genannt – die muß niedergekämpft werden ... Wieder zu meiner fixen Idee abgeschweift? Das sind Sie ja an mir gewohnt, teurer Freund. In den feierlichen Stunden der großen Freude und besonders der großen Leiden flüchtet jede Seele zu dem, was ihr als Höchstes gilt.

Sie werden bei Ihrer Rückkunft Rudolf nicht antreffen. [153] Er ist auf einer vom Arzt verordneten Reise – zur Zerstreuung, zur Ablenkung, sagte Doktor Bresser – ach, ich fürchte, er hat seinen Kummer als Reisegefährten mitgenommen. Sylvia finden Sie noch in Wien. Auch Sylvia macht mir Sorge – das erzähle ich Ihnen mündlich. Ich bin allein in Brunnhof. Vielleicht besuchen Sie mich.«


Auf der in einen Garten umgewandelten Terrasse eines Berner Hotels saß Rudolf Dotzky und blickte nachdenklich auf das von der Abendsonne überstrahlte Alpenpanorama.

Um ihn herum war reges Leben. Zahlreiche Hotelgäste saßen um kleine Tische, andere gingen plaudernd auf und nieder oder lehnten an der Balustrade – eine bunte Gesellschaft aus aller Herren Länder.

Rudolf, der seit einer Woche hier weilte, hatte mit niemand Bekanntschaft angeknüpft. Er war auf Reisen gegangen, um eine Zeitlang einsam zu sein, und einsam war er auch geblieben. Er hatte nun, eine nach der andern, fast alle Städte der Schweiz besucht und Bern sollte die letzte Etappe vor seiner Heimfahrt sein.

Angeblich war der Zweck seiner Reise Zerstreuung gewesen, aber was er gefunden hatte, war vielmehr das Gegenteil – war Sammlung. Ein Gedanke, der ihm den Kopf durchkreuzt an dem Tage, da er die Gruft verließ, in die man die Särge seiner Frau und seines Sohnes versenkt hatte – dieser Gedanke hatte ihn während seiner Reise nicht mehr losgelassen und war allmählich zum Entschluß gereift: dem Majorat entsagen.

Frei sein, ganz frei sein, nicht mehr zweien Herren dienen müssen, oder gar dreien: Familie, Ranggenossen und Menschheit. Nein, fortan nur mehr den einen Dienst: den Menschheitsdienst. Frei für die Zukunft, und frei von den Fesseln der Veraanaenheit.

[154] Frei? ... Als ob bei der bestehenden Ordnung irgend ein Mann sich frei nennen dürfte! Mit dem Worte wird lächerlich großgetan. Rudolf wußte ganz gut, welche Fesseln ihn noch banden und die abzustreifen es überhaupt keine Möglichkeit gab. Er war ja – wie jeder gesunde Bürger im Militärstaat – Soldat. Zwar nur achtundzwanzig Tage im Jahre, aber immerhin – Soldat. Und im Kriegsfall jederzeit verpflichtet, einzurücken. »Verpflichtet« ist da auch nicht der ganz passende Ausdruck – unter Pflichterfüllung denkt man sich eine als recht erkannte, freiwillig ausgeübte Tat. »Gezwungen« wäre das richtige Wort. Man hat ja keine Wahl – man muß. Und mag man den Militärdienst aus was immer für Gründen hassen – man muß ihn verrichten. Auf Verweigerung steht Gefängnis und Tod. Und da wagt man, von mehr oder minder ausgedehnten Freiheiten zu reden? Leibeigenschaft und Sklaverei: das war einstens das Los eines Teils der Bevölkerungen; heute, in den Ländern der allgemeinen Wehrpflicht, ist es das Los aller.

Aber was von Fesseln abzustreifen möglich war, das wollte er tun. Dem Majorat entsagen. Mit einem Ruck wäre da die ganze Last der Verwaltungs- und Repräsentations- und sonstiger Pflichten abgewälzt, die ihm seine bisherige Stellung auferlegt und ihn gehindert hatten, sich ganz seiner großen Lebensaufgabe hinzugeben – der Aufgabe nämlich, ein Lehrer, ein Kämpfer, ein Apostel zu sein. Mit Schrift und Wort wollte er seinen Mitmenschen das neue Gesellschaftsideal vor die Seele führen. Das, was er schon verstand, wollte er den anderen verständlich machen und zu dem, was ihm und den anderen noch zu erforschen blieb, wenigstens den Weg weisen. Man kann nicht gleich gefunden haben – erst muß man überhaupt suchen lernen.

Dem Majorat entsagen ... es war kein kleiner Entschluß. Aber er empfand ihn nicht als etwas Schweres[155] – eher als etwas Erleichterndes. Als abgeworfenen Ballast zum Höherfliegen. »Unser ganzes Kunststück besteht darin,« sagte Goethe, »daß wir unsere (bornierte) Existenz aufgeben, um (in erhöhter Weise) zu existieren.«

Es blieb ihm übrigens genug Vermögen, um sorgenlos leben und bequem reisen zu können. Die großen Einkünfte, die das Dotzkysche Majorat abwarfen, die gingen ohnehin für die mit dem Besitz verbundenen Verwaltungs- und Repräsentationskosten auf: Der Dienertroß, die gefüllten Pferdeställe, die zur Institution gewordenen gastlichen Veranstaltungen u.s.w. Der Reichtum, dem er entsagte, hätte doch niemals zur Förderung seiner Zwecke dienen können, im Gegenteil: ihn nur physisch und moralisch an deren Erreichung gehindert. Physisch, indem er seine Zeit und Kraft in Anspruch nahm; moralisch, indem es unmöglich ist, sich für soziale Umwälzungen, für Abschaffung mittelalterlicher Zustände einzusetzen, wenn man seine eigene Existenz auf eine so feudale Einrichtung aufbaut, wie der Fideikommißbesitz.

Hätte Rudolf das gleich große Vermögen als frei verfügbares Privateigentum besessen, dann würde er nicht darauf verzichtet haben, denn dann hätte er es in einer zu seinen Plänen und Anschauungen passenden Art verwenden können: z.B. Gründung von Volksbibliotheken, von einem großen Blatte und ähnlichen Dingen. Aber ein Vermögen, das unverkürzt und unversehrt für den nächsten Anwärter erhalten bleiben mußte – das konnte ihn in seinem Wirken nicht fördern – nur hemmen.

Daß der geplante Schritt in seinen Kreisen Ärgernis geben und bei allen Standesgenossen – mit Ausnahme des begünstigten Vetters – Tadel erfahren würde, darauf war er wohl gefaßt. Die Bemerkungen konnte er schon hören, die darüber fallen würden: »Immer ein überspannter Kopf gewesen, dieser Dotzky ... Mir war er immer unheimlich ... Im Grunde ist es nicht nur zu dumm – es ist ein Verrat an seinen Standespflichten.[156] – Statt den Platz auszufüllen, auf den ihn sein Geschick gestellt hat, in die Welt hinauslaufen und revolutionäre Doktrinen predigen, wie der erste beste Demagogenführer – eine wahre Schande!« und was die Variationen des alten »Kreuziget ihn!« mehr sind.

Übrigens: Revolution zu predigen, war gar nicht seine Absicht. Man würde es nur so deuten – auf falsche Deutungen allenthalben war er überhaupt gefaßt. Die einzige Person, bei welcher er überzeugt war, volles Verständnis und Beifall zu finden, war seine Mutter. Nächster Tage wollte er ihr schreiben.

Seinen Aufenthalt in der Schweiz beabsichtigte er noch zwei oder drei Monate auszudehnen. Hier konnte er in aller Ruhe und Abgeschiedenheit die Arbeit vollenden, die er – wie es Egidy – mit seinen »Ernsten Gedanken« getan – in die Welt schicken wollte, ehe er mit dem gesprochenen Wort, mit eigener Person hinausginge, das Geschriebene zu vertreten und zu verbreiten.

Ehrgeiz war es nicht, was ihn trieb – Frömmigkeit war es. Das Bewußtsein, eine höchste Pflicht erfüllen zu müssen, durch deren Erfüllung man sich selber heiligt und anderen zum Heile verhilft, das ist es, was alle tieffrommen Seelen erfüllt, was zum Beispiel einen Franz von Assisi bewegte, aus einem reichen Lebemann zum Asketen zu werden. Solche Vokationen sind nicht immer natürliche Anlage; sie erwachen oft – wie dies ja auch beim Stifter des Franziskanerordens zutraf – nach einem in ganz anderer Richtung geführten Lebenswandel. Rudolf hatte zwar seit seiner Kindheit die Idee in sich getragen, daß er die von seinem Stiefvater hinterlassene Aufgabe einst werde übernehmen müssen, aber ganz durchdrungen davon war er lange nicht gewesen. Er sah die Ausführung immer nur wie eine Zukunftssache vor sich, während die Gegenwart ihm mit hundert anderen Interessen ausgefüllt war. Erst nach und nach, infolge gewisser Studien und durch die Berührung mit gewissen [157] von Aposteltum durchglühten Zeitgenossen, erfaßte auch ihn ein immer heftiger werdender Drang, sich dem ganz hinzugeben, was ihm zur Religion geworden; hinauszugehen und zu predigen, was sein Glaube war, und zu bekämpfen, was ihm als verdammenswerte Ketzerei erschien. Andachtsvoll, hingebend, voll begeisterter Liebe, voll Ehrfurcht für das Göttliche, das ihm vorschwebte, voll Abscheu gegen das Böse, Gemeine und Jammervolle, das die Umwelt ihm noch an allen Ecken und Enden zeigte, das war nunmehr die Verfassung seiner Seele; – dieselbe Verfassung also, die man – wenn auch mit Bezug auf eine andre Glaubenswelt – mit dem Ausdruck Frömmigkeit zu bezeichnen pflegt. Dieselbe Frömmigkeit, die auch Marthas Seele durchglühte.


In tiefes Rachdenken versunken saß er da. Doch war es kein Denken in klaren Worten oder deutlichen Bildern, sondern mehr in Empfindungen. Nicht verkettete Ideen, sondern verkettete Gefühle, aneinander gereihte, ineinander verschlungene Bewußtseinsphasen.

Eben war die Table d'hote, an der er niemals teilnahm, zu Ende, und ein Trupp von Hotelgästen kam aus dem auf die Terrasse mündenden Speisesaal herausgeflutet. Die meisten ließen sich in einer – dem Platze, wo Rudolf saß, gegenüberliegenden glasbedeckten Veranda nieder und ließen sich da den schwarzen Kaffee und Liköre bringen. Eine große amerikanische Gesellschaft war darunter, meist junge Leute beiderlei Geschlechts, und unter diesen ging es ziemlich lustig und lärmend zu. Aus der offenen Tür des Salons drang glänzendes Klavierspiel herüber – offenbar war es ein Künstler, der sich ans Instrument gesetzt. Alles das unterbrach Rudolfs Meditationen, riß ihn aus seiner Vorstellungswelt heraus. Hier war ein Stückchen wirkliche Welt, ein Stückchen lebendige Gegenwart, im Gegensatz zu seinen Zukunftsträumen, das heißt zu seinen Kampfplänen um eine bessere Zukunft. Die [158] Leute da schienen die gegenwärtige Stunde gut zu finden und kein besseres morgen zu ersehnen. – – Waren sie nicht vielleicht die Klügeren? Ihrer war die Wirklichkeit, in dieser fanden sie sich zurecht, in ihr hatten sie sich's wohlig und bequem gemacht ... Alle Pläne und Kämpfe der Unzufriedenen gehen doch nur dahin, eine Zukunft zu schaffen, in der Leute leben werden – andere Leute als die, welche heute die Erde bevölkern – und für die jene ferne Zeit wieder eine Gegenwart – sein wird, in der sie es sich bequem machen sollen. – –

Rudolf stand auf. Der Platz war ihm zu lärmend und zu belebt geworden; er wollte seine Gedanken in der Einsamkeit weiter denken. Wenn sein Sinn nach dem großen Ziele: »für die Menschheit wirken« gerichtet war, so störte ihn nichts so sehr darin, als der Anblick vieler Menschen. Nur in wenigen Exemplaren oder in der Abstraktion vermochte er die Menschheit zu lieben; wo er eine Menge versammelt sah, fühlte er sich durch vieles angewidert und abgestoßen: die Mehrzahl der häßlichen Gesichter, der unebenmäßigen Gestalten, die kreischenden Stimmen, die kleinliche Geschäftigkeit, die blöde Unbekümmertheit, die schale Geschwätzigkeit: – verdiente es diese Menge, daß man ihretwegen sich sorgte und sich opferte? ... Aber es genügte ihm, von den Leuten wegzuschauen, um wieder in der Vorstellung den Gesamtbegriff Menschheit und die Bilder einzelner herrlicher Menschenkinder wachzurufen, und damit zugleich den Wunsch, die Massen von Unglück und Elend befreit zu sehen und den einzelnen – auch sich selber – ein immer höher und schöner entfaltetes Leben zu erobern.

»Graf Dotzky!« rief plötzlich eine bekannte Frauenstimme.

Rudolf blickte auf. Gräfin Ranegg und ihre Tochter Cajetane standen vor ihm.

»Oh – meine Damen, welche Überraschung!« rief er. Alle abstrakten Gedanken und Bilder waren verflogen; die [159] wirkliche Welt, seine Welt, war mit einem Male wieder vor ihm aufgetaucht.

»Ich bin nicht überrascht, Sie hier zu treffen,« sagte die Gräfin. »Durch Ihre Mutter wußte ich, daß Sie in Bern sind.«

»Und Sie?« ...

»Wir machen eine kleine Tournee durch die Schweiz ... heute früh sind wir hier angekommen und wollen heute wieder weiter fahren. Sie bleiben wohl noch längere Zeit fort von zu Hause? ... Sie haben ja recht ..., ach, es war so schrecklich –«

Gräfin Ranegg hatte Dotzky seit seinem Verluste nicht gesehen und sie legte jetzt in ihren Ton das ganze scheue Beileidsgefühl, das einen überkommt, wenn man Menschen begegnet, die man zuletzt glücklich gesehen und die seither von einem schweren Schlag betroffen worden.

Cajetane, die stumm blieb, drückte das gleiche Gefühl in Blick und Miene aus. Ihre schönen schwarzen Augen waren voll und traurig auf Dotzky gerichtet, – so traurig, daß es beinahe wie zärtlich war. Der junge Mann empfand diesen Blick, als wäre er ein mildes Streicheln. Er hatte Cajetane immer nur heiter gesehen, voll des harmlosesten jugendlichen Frohsinns – und dieser völlig neue Hauch des Schmerzes auf ihren Zügen ließ sie ihm noch schöner erscheinen als sonst.

Ihre letzten Worte hatte Gräfin Ranegg mit einem Händedruck begleitet und darauf reichte auch Cajetane die Hand hin, um mit dieser Gebärde und innigem Druck zu bekräftigen, was ihre Augen sprachen.

Rudolf war sich bewußt, daß die beiden Frauen sein Unglück für größer hielten, als er es empfand; sie glaubten wohl, daß er verloren hatte, was sein Höchstes und Einzigstes war, daß jetzt kein anderer Gedanke ihn erfüllte, als der an seine Beraubung.

Die drei ließen sich nun an dem Tischchen nieder, an dem Rudolf vorhin gesessen hatte. Gräfin Ranegg[160] sprach in teilnahmsvollem Tone weiter über das Ereignis, über den Schrecken, den ihr die Nachricht verursacht und fragte um Einzelheiten. Da sie aber bemerkte, daß Rudolf nur einsilbig und widerstrebend Antwort gab, so wendete sie das Gespräch auf andere Dinge und erzählte von sich und den Ihren:

Schloß Ranegg war augenblicklich verwaist. Christine, die inzwischen geheiratet hatte, war mit ihrem Mann, einem Gesandtschaftsattaché, gegenwärtig in Konstantinopel; die Zwillinge, Ella und Bella, waren auf Besuch bei einer Tante in Böhmen; Ranegg begleitete den Kaiser auf einem Jagdausflug nach Tirol; die beiden Söhne waren in Wien. Der jüngere besuchte da die Kriegsschule – auch ihm stand eine rasche, glänzende Karriere bevor. Der ältere hatte sich verlobt mit der Tochter eines ungarischen Magnaten ... »ein wunderschönes Mädel – und eine Herrschaft von fünftausend Joch als Mitgift ... das verdirbt nichts – aber er wird weiter dienen – der Erzherzog ... Sie wissen ja, er ist der Adjutant des Erzherzogs Wilhelm und sein großer Liebling – der würde es ihm sehr übel nehmen, wenn er quittierte; das wollte er auch gar nicht, er ist ja mit Leib und Seele Soldat.«

»Eine glückliche Familie,« sagte Dotzky.

»Eigentlich ja, das sind wir,« gab Gräfin Ranegg zu. »Und umsomehr tut es mir leid, lieber Dotzky, daß Sie das Schicksal so grausam heimgesucht hat ... Aber es hat doch jeder seine Sorgen,« fügte sie in weinerlichem Tone hinzu. »So macht mir das Leiden meiner armen Mutter viel Kummer – und mein Schwager Hallstein muß jetzt operiert werden – und so verschiedenes andere ...« Es war, als wollte sie seinen Neid dämpfen.

Rudolf war aber nicht neidig. Er konnte sich gar nicht mehr in die Lage jener hineindenken, deren Freuden und Leiden ganz auf die eigenen und nächstliegenden [161] Schicksale und Verhältnisse beschränkt waren, die nichts wußten von der großen Unruhe, der großen Sehnsucht, den großen Kämpfen, die eine mit den Lebensrätseln und sozialen Rätseln ringende Seele bewegen ... Noch am selben Abend reisten die beiden Damen weiter und Dotzky brachte sie zur Bahn. Cajetane war die ganze Zeit sehr schweigsam gewesen. Aber wenn sie ein paar Worte gesagt, so hatte in ihrer Stimme stets verhaltenes Mitgefühl gebebt. Als Mutter und Tochter vom Waggon aus dem Grafen Dotzky, der grüßend vor dessen Fenstern stand, Abschied gewinkt und der Zug sich in Bewegung setzte, da sank Cajetane in die Kissen zurück und brach in Tränen aus.

Die Gräfin sah sie überrascht an:

»Was hast Du, Caji? Ich glaube gar, der junge Witwer hat es Dir angetan ...«

[162]

XVII

Drei Monate später kehrte Rudolf von seiner Reise heim.

Diese drei Monate hatte er in einem einsamen Häuschen zugebracht, das, von grünen Weidetriften umgeben, mitten in den Bergen verborgen lag. Dorthin war er dem Anblick von Menschen und dem Umgang mit ihnen entflohen. Und dort hatte er jene Schrift beendet, die sein Glaubensbekenntnis und sein Tatenprogramm enthielt. Das wollte er in die Welt vorausschicken und dann mit dem gesprochenen Worte weiter ausführen und verbreiten.

Er fühlte sich im Besitze einer Heilslehre und daher als verpflichtet, sie zu verkünden. Die ganze Lehre faßte er in ein Motto: »Miteinander, statt gegeneinander.« Die Geschichte der Zivilisation, wie er sie auffaßte, war ja nur die Geschichte der wachsenden Gemeinsamkeit – zugleich die Geschichte der überwundenen Brutalität.

Wieviel unüberwundene Brutalität heute noch vorherrscht, das gab den Stoff zum längsten Kapitel des Schriftchens ab. Und in welcher Weise sie überwunden werden kann, das suchte ein anderes Kapitel zu verkünden: durch den Tatenmut der Guten, den Wahrheitsmut der Wissenden. Ganz gut ist zwar noch keiner – alles weiß noch keiner; aber das, was die Vorgeschrittenen an Edelsinn und Vernunft besitzen, das müssen sie hervorkehren – im Kampf gegen alles Unedle, das ihnen begegnet, und sei es in den mächtigsten Sphären vertreten;[163] – gegen alles Dumme, und sei es hinter den gelehrtesten und heiligsten Masken verborgen.

Daß der Gang der Zivilisation nur von elementaren, nur von wirtschaftlichen und technischen Faktoren bestimmt werde; unabhängig von dem Wollen und Wirken einzelner Menschen – das bestritt er. Ideen und Taten sind eben mit Elemente der Kultur, sind – nicht die einzigen, sind aber auch die treibenden Kräfte. Gewiß, Entdeckungen und Erfindungen verwandeln das Getriebe der Welt; aber das Auftreten mächtiger Charaktere – im Guten und im Bösen – bestimmt es nicht minder

Und vor allem: die Summe der Einsicht, die aus der Summe der Kenntnisse resultiert, regelt die Einrichtungen und Sitten der menschlichen Gesellschaft; wer also irgend eine klare Einsicht gewonnen – über manche kommt es ja wie eine Erleuchtung – der soll es hinaustragen, damit jene Summe sich mehre. Rudolfs klare Einsicht war die: Das Elend – in seinen verschiedenen Formen – kann aus der Welt geschafft werden und muß daher aus der Welt geschafft werden. Die Erlangung der Seligkeit für jeden (das haben auch die Religionen so hingestellt) ist eines jeden Pflicht. Aber wie? Kraft welcher Gebote und auf Grund welcher Glaubenssätze? Das hat – wenn es um das irdische Heil sich handelt – die Gesellschaftswissenschaft zu erforschen und zu lehren. Einige der Gebote sind längst – auch von den alten Religionsstiftern – schon gefunden. Die goldene Regel zum Beispiel: Was Du nicht willst, daß Dir geschehe, das tue auch einem anderen nicht; Du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht falsches Zeugnis geben. Was aber die neue Einsicht und die neue Pflicht ist, das ist, daß diese Regeln ebenso für das politische und internationale Leben zu gelten haben, wie für die Lebensführung des einzelnen.

Und welche Dogmen? Das wichtigste Dogma des sozialen Glaubens ist die Evolution. Wenn man glaubt, – nein, wenn man weiß (die kontrollierbaren Offenbarungen [164] der Wissenschaft erzeugen »wissen«, nicht »glauben«), daß die Welt und alles, was in ihr sich entwickelt – trotz Entartung und Vernichtung der Einzelorganismen – zu immer höheren, feineren und vielfältigeren Formen sich entfaltet, so wird man diese ewigen Hemmungen und Bekämpfungen aufgeben, mit denen man jetzt jedes sich entfalten wollende Neue, statt zur Quelle der Freude und des Gewinns, zur Quelle des Leidens, der Unterdrückung und der Verfolgung macht. Die Entwicklungsgesetze erkennen und darnach die Gesellschaftsordnung und das sittliche Verhalten regeln: – das ist der Weg zum Heil

Rudolf hatte während seiner Abwesenheit fast täglich an seine Mutter geschrieben und ihr von allen seinen Arbeiten und Plänen Mitteilung gemacht. Die Nachricht, daß er auf das Majorat verzichten wolle, versetzte ihr einen gelinden Schlag. Welche Mutter wird leichten Herzens erfahren, daß ihr einziger Sohn sich des Glanzes und des Reichtums begeben will, der sein Besitz ist? Martha hatte der stillen Hoffnung Raum gegeben, daß Rudolf nach Verlauf einiger Zeit den Verlust verwinden werde, den er durch den Tod der Seinen erlitten hatte, und sich wieder verheiraten würde – und vielleicht mit einer Frau, die ihm geistig ebenbürtiger wäre, als es die arme Beatrix gewesen ... Sein Entschluß aber deutete darauf hin, daß er nicht daran dachte, sich jemals wieder einen Herd zu gründen, sondern daß er sich von allen Fesseln – also auch von Familienfesseln – freimachen wollte, um sich ganz seinem Apostolate hinzugeben.

Die Größe dieser Opfertat erfüllte sie nun auch mit stolzer Bewunderung: Ihr Rudolf war es, der so hingebungs- und entsagungsvoll handeln wollte, im Dienste dessen, was ihr Friedrich erstrebt und was sein Beispiel und sein Andenken in des Knaben Seele gepflanzt hatte ...

[165] Noch vor Rudolfs Rückkunft verließ sie Brunnhof, um ihren ständigen Wohnsitz auf ihrer ererbten Besitzung, Grumitz in Mähren, zu nehmen. Dorthin überführte sie alle die teuern Andenken an ihren Toten – Bilder, Bücher, Möbel – mit denen sie sich stets umgab.

In einer Richtung war es ihr sogar lieb, von Brunnhof wegzugehen. Der Ort erinnerte zu sehr an den zuletzt durchlebten Kummer, an das Sterben der armen jungen Frau und ihres lieben kleinen Enkelsohnes. Sie hatte den Knaben so zärtlich in ihr Herz geschlossen, so schöne Zukunftshoffnungen auf sein Haupt gesetzt. Er, der im zwanzigsten Jahrhundert jung sein und in voller Kraft in neueren besseren Zeiten leben würde – der Erbe von Friedrichs und Rudolfs Ideen – er würde deren Sieg wohl sehen, er würde vollenden, was sein Vater begonnen. Diese Träume waren verweht, zerstoben ... Jeder Platz im Garten, wo der Kleine gespielt hatte, jedes Zimmer im Hause, wo sein helles Stimmchen schallte, das ganze Brunnhof, dessen einstiger Herr er geworden wäre, war ihr der schmerzlichen Erinnerungen voll und sie verließ es nicht ungern.


Graf Max Dotzky, Rudolfs Vetter und nächster Anwarter auf das Fideikommiß, diente beim Handelsministerium. Ganz vermögenslos, war er darauf angewiesen, von seinem Gehalt zu leben, und nur durch peinlichste Sparsamkeit gelang es ihm, sich von Schulden frei zu halten. Seinen Amtspflichten kam er mit größtem Eifer nach, denn es war sein Ehrgeiz, in der Laufbahn rasch vorzurücken, um nach einigen Jahren einen Rang zu erreichen, dessen Bezüge es ihm ermöglichen würden, das Mädchen heimzuführen, das er schon seit Jahren liebte. Ihrerseits war Elsbeth von Rels, Tochter des verwitweten Feldzeugmeisters Baron Rels, fest entschlossen, und wenn es auch zehn Jahre dauern sollte, darauf zu warten, daß Max zum Sektionschef oder doch zum Hofrat [166] avanciere, um dann seine Frau zu werden. Unter den jetzigen Umständen war auf die väterliche Einwilligung nicht zu hoffen, und die jungen Leute sahen selber ein, daß es unmöglich war, sich einen Herd zu gründen.

Diesem Vetter galt Rudolfs erster Besuch nach seiner Rückkehr in die Heimat. Er suchte ihn in seinem Bureau im Handelsministerium auf. Die beiden jungen Männer kannten sich nur wenig, sie waren höchstens ein halb Dutzendmal flüchtig zusammengekommen, daher war Max sehr erstaunt, als ihm der Amtsdiener den Besuch des Majoratsherrn meldete.

Max war allein im Bureau. Er hatte sich eben müde gearbeitet an der Durchsicht eines besonders langweiligen Aktenstoßes. Aus besonderem Pflichteifer hatte er dies Jahr auf seinen Sommerurlaub verzichtet und die Hitze der Stadtluft drückte ihn nieder. Die Arbeit ging nur mühselig vom Fleck. Er war in trüber, physisch und moralisch unbehaglicher Stimmung.

Beim Eintritt seines Vetters ging er diesem einige Schritte entgegen.

»Was verschafft mir die Ehre Deines Besuchs?« fragte er, Rudolf die Hand reichend.

Im selben Alter wie Rudolf, sah er jedoch viel älter aus; einige weiße Haare zeigten sich schon im blonden Spitzbart und an den Schläfen. Die Gesichtszüge, trotz der augenblicklichen Mißlaune, spiegelten große Gutmütigkeit – im ganzen eine sympathische Erscheinung.

»Eine wichtige Angelegenheit, mein Lieber,« antwortete Rudolf.

»Bitte, bitte – steh' zu Diensten ... willst Du Dich setzen?«

Er selber ließ sich wieder vor seinem Schreibtisch nieder und schob den Aktenstoß beiseite.

»Ich bin ganz Ohr.«

Dadurch, daß Rudolf seinen Sohn verloren hatte, war nun wieder Max der nächste Anwärter auf das[167] Majorat ... doch diese Tatsache hatte keinen besonderen Wert; denn einmal war ja Rudolf nicht älter, zweitens war es nur allzuwahrscheinlich, daß er wieder heiraten und noch Söhne bekommen würde. Immerhin eine mißliche Einrichtung, diese Majorate, denn nicht immer kann ein Anwärter beim Anblick des Besitzers den Gedanken abwehren: Wenn Du plötzlich stürbest, so wäre ich ein reicher Mann ... Nein, an das hatte Max nicht gedacht! aber doch – nicht ohne leises Neidgefühl – an Brunnhof und die sonstigen Reichtümer, die der andere sein eigen nannte, während er – –

Rudolf hatte sich in einen seitlich vom Schreibtisch stehenden Lehnstuhl bequem zurückgelehnt und ein eigentümliches Lächeln zitterte um seinen Mund.

»Ich will vom Majorat mit Dir reden,« begann er, als hätte er des Vetters Gedanken erraten.

»So? Und was denn?« Max dachte, es handle sich um irgend eine Geschäftstransaktion, bei der die Einwilligung des Anwärters erforderlich wäre.

»Du weißt doch, woraus es besteht? Die Herrschaft Brunnhof in Niederösterreich; die Herrschaft Nagykyral in Ungarn; das Palais in der Wallnerstraße, die Sammlungen, der Familienschmuck; – kurz, das Ganze hat einen Wert von ... nun, Du wirst es wohl wissen ...«

»Ja, und daneben besitzest Du bedeutendes Privatvermögen und wirst noch ein reichliches Erbe von Deiner Mutter erhalten ... Du stehst pekuniär nicht schlecht.«

»Nein. Und Du?«

»Ich? Ich besitze meinen Gehalt und – als Erbschaft von meinem Vater – ein paar tausend Gulden Schulden, die ich mich verpflichtet habe, nach und nach abzuzahlen.«

»Das ist schön von Dir. Wie steht es mit Deiner Heiratsabsicht?«

»Die kann noch zehn Jahre auf Erfüllung warten.«

»Das ist lang ... Fräulein v. Rels, die jetzt schon[168] achtundzwanzig Jahre alt sein mag, wird dann etwas verblüht sein ...«

»Mein lieber Rudolf, Du hast mich noch niemals aufgesucht ... und wenn Du es nur tust, um mir so unangenehme Dinge zu sagen ... um zu protzen, wie reich Du bist, und mich zu verhöhnen, wie arm ich bin, so ist das doch –«

»Verzeih: Protzerei und Hohn sind nicht meine Motive ... aber den Kontrast rücke ich absichtlich ins Licht – es macht mir Freude ...«

»Danke schönstens,« murmelte Max.

»Und wird Dir noch eine größere machen. Hör' mich an – ich werde Dir etwas Merkwürdiges sagen ... Ich will –«

Er hielt inne. Auf den Augenblick, der jetzt kommen sollte, hatte er sich schon lange gefreut.

»Also? Was willst Du?«

»Ich will auf das Majorat verzichten und Du trittst an meine Stelle.«

Max Dotzky sprang auf und griff mit beiden Händen an seinen Kopf.

»Bin ich verrückt – oder bist Du's?«

»Bitt' Dich, setz' Dich nur wieder nieder. Ich bin bei Vernunft und spreche im Ernst. Und ich genieße die Situation ... Ich weiß, daß ich Dich unbändig glücklich mache. Das ist zwar auch nicht das Motiv meiner Tat ... das liegt tiefer: ich tu's nicht Dir, sondern mir selber – meinem Lebenszweck zu liebe; aber an Deinem Glück werde ich mich doch ergötzen. Es ist ein gar seltenes und so großartiges Schauspiel, ein Mensch in wahnsinniger Freude – Deine erste Idee war ja, daß Du verrückt geworden – und doppelt angenehm ist dieses Schauspiel, wenn man dessen Urheber ist ... Zu Deiner Hochzeit lade ich mich als Trauzeuge ein – natürlich heiratest Du noch in diesem Jahr und ziehst gleich in [169] Brunnhof ein ... Du bist ja ganz starr und sprichst nichts?«

Max, der sich wieder auf seinen Sessel geworfen hatte, saß bewegungslos da.

»Und was mich auch befriedigt,« fuhr Rudolf fort, »ist das Bewußtsein, daß Du ein braver, ehrenwerter Mensch bist und daß Du dem Hause Dotzky als dessen Oberhaupt Ehre machen wirst. Wenn Du und Elsbeth Rels in Brunnhof regieret, so werde ich wissen, daß mein einstiger Besitz in gute Hände gelangt ist.«

Max war es zumute, als hätte er einen Schlag vor die Stirn bekommen. Die Gedanken wirbelten ihm im Kopf herum, und so sehr er sich mühte, fassen konnte er das Gehörte – Unerhörte – nicht. Es mußte ja, wenn es wahr war, und wenn er es erst ganz gefaßt hatte, ihn ganz unsäglich glücklich machen, das wußte er, – aber das Glücksgefühl selber konnte nicht das Gefühl des unbändigen, mit Zweifeln gemischten Staunens verdrängen, das ihn erfüllte. Endlich fand er Worte:

»Rudi ... Wundermensch ... reiß' mich aus diesem Traum – schwöre, daß es Wirklichkeit ist – oder gestehe, daß es ein Spaß war, ein verzweifelt schlechter Spaß ...«

»Du hast recht, der Witz wäre matt. Es ist keiner – es ist die volle Wahrheit – hier mein Handschlag darauf. Noch einige Formalitäten und der Herr des Dotzkyschen Fideikommiß' bist Du.«

»Mein Gott, mein Gott, mein Gott!« rief der andere. Dann vergrub er sein Gesicht in beide Hände und atmete heftig. Rudolf betrachtete ihn schweigend und weidete sich an der Tiefe seiner Ergriffenheit. Das war also ein von Freude überwältigter Mensch! ... Dem Spender dieser Freude war's ein genußreicher Augenblick; es gewährte ihm – wie ja alles Große, Volle, Übergewöhnliche zu erwecken pflegt – ein ästhetisches Entzücken.

[170]

XVIII

Die gerichtlichen und geschäftlichen Transaktionen der Besitzesübertragung waren erledigt.

Zur feierlichen Übergabe veranstaltete Rudolf ein kleines Fest in Brunnhof, welches zugleich ein Abschiedsfest sein sollte, bei dem er seine Familie und Freunde zum letzten Male auf dem alten Herrensitze um sich versammelte.

Die Tafel war im großen Speisesaal gedeckt. Der Spätherbsttag hatte empfindliche Kälte gebracht und im Monumentalkamin brannten ganze Stämme knisternden Fichtenholzes. Vom Kronleuchter flutete das Licht von achtundvierzig Wachskerzen herab, und noch sechs silberne Kandelaber (auch Stücke des zum Majorat gehörigen Familiensilbers), die zwischen den Aufsätzen auf der Tafel standen, und zahlreiche Lampen auf den Pfeilertischen vervollständigten die Beleuchtung. Kostbare alte Gobelins an den Wänden; kunstvoll geschnitzte Eichenholzmöbel in gotischer Form, der Tafeldienst besorgt von einem Haushofmeister in Frack und weißer Krawatte, zwei Büchsenspannern mit silbernen Epauletten und Bandelieren und vier Lakaien in Galalivreen in Schuhen und Strümpfen. Auf die Menükarten gemalt, auf die Porzellanteller eingebrannt, in die Bestecke und Gläser graviert, in den Damast des Tischzeugs gewebt: überall das Dotzkysche Wappen (in gespaltenem Felde drei schräglinke blaue Sterne und hinten ein zugekehrter silberner Schlüssel. Auf dem gekrönten Helme mit rechts rotsilberner und links blaugoldener Decke zwei aufwärts geschrägte [171] silberne Schlüssel vor einem rot mit Pfauenfedern besteckten Spikel zwischen offenem, vorn silbernen und hinten roten Fluge), – kurz, der ganze Aufwand von Pracht und Prunk und Eitelkeit, der in den Schlössern reicher und alter Adelsfamilien zu herrschen pflegt.

Mehr als vierzig Personen, im Abendanzug, saßen um den Tisch. Martha hatte den Sitz der Hausfrau, Rudolf den des Hausherrn inne. Rechts von Baronin Tilling saß Max Dotzky, und zur Rechten Rudolfs – Fräulein Elsbeth von Rels. Den Feldzeugmeister von Rels hatte Martha an ihre linke Seite gesetzt und seine andere Nachbarin war Sylvia Delnitzky. Die Familie Ranegg war, mit Ausnahme der in Konstantinopel weilenden Tochter Christine, vollzählig erschienen. Von alten Freunden des Hauses waren außerdem anwesend: Minister Wegemann, Graf Kolnos, Oberst von Schrauffen, der alte Bresser und Pater Protus.

Das Diner – in acht Gängen – war zu Ende; man knabberte nur noch an den Süßigkeiten des Nachtischs. Auf ein Zeichen des Herrn füllten die Diener noch einmal die Champagnerkelche und verließen dann alle den Saal. Rudolf klopfte mit dem Messer an sein Glas und die lebhaften laut durcheinander summenden Tischgespräche verstummten mit einem Schlage.

Ohne aufzustehen, aber mit erhobener, deutlich vernehmbarer Stimme begann Rudolf zu reden:

»Meine lieben Freunde und verehrten Gäste. Sie alle wissen, daß unser heutiges Beisammensein einem ganz besonderen Anlaß gilt ... einem ungewöhnlichen Anlaß. Manche hier sind genau unterrichtet, um was es sich handelt – den anderen wird es eine Überraschung sein.

Ehe ich die Sache verkünde, möchte ich einen kurzen Rückblick in die Vergangenheit werfen – vielleicht findet sich da teilweise eine Erklärung für das, was Sie nun hören sollen ... Ich erinnere mich – und mehrere unter [172] Ihnen werden sich auch erinnern – an ein Festmahl, das uns um diese selbe Tafel versammelt hat – zur Taufe meines armen kleinen Fritz ...«

Rudolf hielt einen Augenblick bewegt inne und auch durch den Kreis seiner Hörer ging eine Bewegung, ein leises Beileidsgemurmel.

Er holte tief Atem und fuhr fort: »›Es lebe die Zukunft!‹ toastierten wir damals. Die Zukunft aber, die mein Sohn verkörpern sollte, die ist ins Grab gesunken ... Es war ein großer Schmerz, so groß, daß ihn meine Beatrix nicht überleben konnte ... Mein ganzer häuslicher Herd ist eingestürzt.« Das teilnahmsvolle Gemurmel wiederholte sich – einige unter den Frauen führten ihr Taschentuch an die Augen. »Doch, als ich damals auf die Zukunft trank, hatte ich nicht die Zukunft meines Hauses – ich hatte die Zukunft unseres ganzen Geschlechts – des Menschengeschlechts, im Sinn, an der wir alle, bewußt oder unbewußt, mitarbeiten – an der ich bewußt und in bestimmter Absicht mitarbeiten will. Und dazu will ich ganz ungebunden sein ... Ohne weitere Umschweife: ich habe auf das Dotzkysche Majorat verzichtet und dessen nächsten Anwärter, meinen Vetter Maximilian in meine Rechte eingesetzt.«

Ein noch lauteres Murmeln – diesmal staunenausdrückendes – erhob sich, verstummte aber sogleich wieder, als Rudolf aufstand und sein Glas erhebend weiter sprach:

»Ich bitte Sie also, in Graf Maximilian Oskar Dotzky von Donaschits, Herrn auf Brunnhof und Nagykyral, meinen Nachfolger zu sehen und auf sein Wohl, sowie« – er verneigte sich zu seiner Nachbarin zur Rechten – »auf das Wohl seiner Braut, Fräulein Elsbeth von Rels, mit mir anzustoßen.«

Laute Ausrufe folgten. Alle waren aufgestanden, man stieß mit den Brautleuten an und wünschte ihnen Glück. Auch mit Rudolf wurde angestoßen. Dabei veränderten [173] sich aber die gratulierenden Mienen in halbwegs kondolierende.

Rudolf war der erste, der sich wieder auf seinen Sessel niederließ und abermals gab er das Zeichen, daß er sprechen wollte. Da setzten sich auch die anderen und allgemeines Schweigen war bald hergestellt.

»Ich will keinen neuen Toast ausbringen, meine Freunde, keine Tischrede halten; aber sagen will ich Ihnen, was meine Abdankung bedeutet und bezweckt ... Haben Sie etwas Geduld mit mir. Vorträge zu halten gehört zu meinem Zukunftsprogramm, und dies soll mein Jungfernvortrag sein –

Versteht sich, wenn ich einmal auf ein Podium trete und vor versammeltem Volke spreche, dann werde ich nicht dasselbe Thema wählen, das ich nun vor Ihnen erörtern will – das Thema meiner Abtrünnigkeit. Gerade diesem Kreise hier – Verwandte, Jugendfreunde, Standesgenossen – glaube ich, solche Erörterungen schuldig zu sein ... ›Der Mensch ist verrückt!‹ – so wird wohl das erste zusammenfassende Urteil sein, welches von einem Teil der hier Anwesenden, und von den meisten der nicht anwesenden Angehörigen unserer Gesellschaftskreise über meinen Entschluß gefällt werden wird – das weiß ich. Nun, so will ich Ihnen wenigstens gesagt haben, worin die Methode besteht, die in meinem Wahnsinn steckt.«

Nach kurzer Sammlung fuhr er fort:

»Zwei Kräfte sind es, die den Gang der menschlichen Kultur bewegen und regeln: die vorwärtstreibende und die hemmende Kraft – der Fortschrittsdrang und der Erhaltungstrieb. In der Politik haben diese beiden die Namen Liberalismus und Konservatismus angenommen; – aber damit ist nur eine ganz enge Sphäre bezeichnet, in der diese Kräfte sich betätigen, deren Spiel die ganze Welt – Natur und Geist – von allem Anfang an geformt hat und in aller Zukunft weiter formen wird.

So stark und so bewußt wie in unserer Gegenwart[174] sind – so scheint es mir – diese Gegensätze noch nie hervorgetreten, und da heißt es: Farbe bekennen. Man kann ja auch ganz abseits stehen bleiben, sich nicht kümmern um das, was vorgeht, und nur seinen eigenen, engsten Interessen leben –, das tun auch gar viele. Aber diese Vielen – ohne es zu wissen – helfen doch der einen der streitenden Kräfte: eines der wirksamsten Elemente des Beharrungsvermögens ist ja die Trägheit.«

Mit dem niemals täuschenden Instinkt, der dem Redner zum Bewußtsein bringt, was die Zuhörerschaft empfindet, wurde Rudolf gewahr, daß ein leiser Hauch von Gelangweiltsein, von mißmutigem Unverständnis über die Tischgesellschaft wehte. Daß aber einige da waren, darunter seine Mutter, die ihn ganz verstanden und mit Spannung an seinen Lippen hingen, das wußte er auch, und für diese sprach er unbeirrt weiter:

»Ich bin nicht abseits gestanden. Ich habe hineingelauscht in den Kampflärm und wurde von dem Drang erfaßt, mich mitkämpfend zu beteiligen. Mein Stand, meine Stellung, meine persönlichen Vorteile und Interessen würden erfordern, daß ich mich auf seiten derjenigen stelle, die das Bestehende verteidigen. Doch das kann ich nicht: mein Gefühl, meine Einsicht und (mit einem Blick auf seine Mutter) eine als Erbe übernommene Mission treiben mich in das andere Lager. Um also ehrlich und frei zu sein, bleibt mir nichts übrig, als meine Stellung und mein Interesse aufzugeben – und das habe ich getan. Zu den Dingen der alten Ordnung, die ich perhorresziere, gehört zum Beispiel auch die Einrichtung der Majorate – es ist daher ein gerechtfertigter, mehr noch, ein gebotener Schritt, daß ich dem Majorat entsage – und das habe ich getan.«

»Bravo!« rief Max. Und Feldzeugmeister von Relz sekundierte. Dieser Zug von Rudolfs Verrücktheit war seinem Besitznachfolger und dem Vater der künftigen Herrin von Brunnhof jedenfalls sympathisch. Auch Elsbeth [175] hätte gern in den Beifall eingestimmt, doch war sie zu schüchtern dazu. Sie schwamm in traumhafter Glücksstimmung – war es doch wie ein Traum, daß ihr nun plötzlich alles zugefallen: der Geliebte, die wunderbare Herrschaft, der umgebende Luxus ... sie hätte vor Rudolf niederknien mögen, um ihm zu danken. Ein Narr? das ist zuviel gesagt – ein Schwärmer, ein edler Schwärmer – und Gott sei Dank, daß er nicht vernünftiger war! ..

»Ihr Bravo, Exzellenz,« wandte sich Rudolf an Herrn von Rels, »werden Sie vielleicht zurückziehen, wenn ich sage, daß zu denselben von mir perhorreszierten Dingen auch – nein, nicht auch: obenan der Militarismus gehört. Und nicht nur, wie das unsere matten Liberalen hervorkehren, die Auswüchse und Übertreibungen des militaristischen Systems, sondern das organisierte Totschlagen als Rechtsmittel überhaupt. Das will ich fortan in aller Offenheit hinaussagen, ohne Umschweife – auch einem Feldzeugmeister ins Gesicht. Nur der ist frei, der das sagt, was er denkt. Mit der Abdankungsurkunde habe ich mir ein Stück Freiheit erkauft. Ich benutze sie.«

»Bravo!« riefen Kolnos und Bresser.

Herr von Rels sprang auf: »Verzeihen Sie –« begann er mit erregter Stimme.

Aber die andern riefen: »Nicht unterbrechen!« und der General ließ sich wieder auf seinen Sessel nieder.

»Verzeihen Sie mir, Exzellenz,« sagte Rudolf, »ich habe Sie nicht verletzen wollen. Was man gegen eine Institution spricht, ist nicht persönlich gegen ihre Vertreter gemünzt. Vergessen Sie nicht, daß alles, was ich gegen den Krieg vorbringen oder wirken kann, im Geist eines Vermächtnisses geschieht, das mir von einem tapferen Soldaten – von Friedrich Tilling – zugefallen. Was ich getan habe, beweist genügend, wie ernst ich meine Aufgabe, meine bevorstehenden Kämpfe auffasse. Im Kampfe darf man vor der Notwendigkeit nicht zurückschrecken, [176] auf den Gegner loszuschlagen. Meine Waffe ist ja nur das gesprochene und geschriebene Wort – die will ich gradaus und ehrlich gebrauchen, das heißt immer nur das sagen, was ich für wahr halte – das aber ohne Rücksicht, ohne Schonung. Daß man, wenn man mit seiner Meinung zurückhält, die anderen schonen wolle – das ist gewöhnlich nur Vorwand; sich selber will man vor Unannehmlichkeiten hüten, sich schont man dabei: man mag den anderen nicht erzürnen, nicht um ihm den Zorn zu ersparen, sondern um sich diesem Zorn nicht auszusetzen. Feigheit ist's mit einem Wort. Eine Feigheit, die ich an mir selber erfahren, als ich ein Fortschrittsanwalt, zugleich aber kluger Gutsbesitzer, taktvoller Hausherr und liebenswürdiger Vetter sein wollte. Jetzt will ich nichts anderes sein, als ein am Entwicklungsgang der Menschheit bewußt und furchtlos mitarbeitender Mitmensch.

In solcher Mitarbeit, glauben Sie mir, liegt erhebender Genuß. Vor allem das Bewußtsein einer erfüllten Pflicht. Nicht allen offenbart sich diese Pflicht: aber die, welche Einsicht genommen haben in den Kampf der Zeiten, und die die drohenden Gefahren und winkenden Rettungen sehen, die können nicht anders – die müssen mittun. Rettenwollen ist ein natürlicher – ein dem Gesellschaftstrieb anhaftender Instinkt.

Was ich sehe ist dies:

Es sind Zaubermächte am Werk, die menschliche Gesellschaft so zu verändern, daß die Kultur von morgen sich zu der Kultur von gestern verhalten wird, wie der Schmetterling zur Raupe ... Die Raupe hat sich schon eingepuppt – die Kultur von heute ist die Chrysalide.«

»Bravo!« sagte jemand aus der Gesellschaft, der das Wort Chrysalide poetisch fand, und daher ein Beifallszeichen für angebracht hielt.

»Die Zaubermächte, die ich meine,« sprach Rudolf[177] weiter, »heißen Technik und Wissenschaft. Soviel könnende und soviel wissende Wesen, wie die Menschen zu werden jetzt im Begriffe stehen, müssen auch vernünftige Wesen mit vernünftigen Einrichtungen werden. Das ist der Zwang des Anpassungsgesetzes. Daß aber unsere Lebensführung und unsere aus unwissenden Zeiten überkommenen Einrichtungen vernünftig seien, wird man doch nicht behaupten wollen? Um nur das eine hervorzuheben, das Unvernünftigste von allem: neun zehntel aller Hilfsquellen darauf zu verwenden, einander besser totschlagen zu können ... Sich die Heimat Erde in Beutestücke einzuteilen, um die man sich gegenseitig zerfleischt, statt sie in gegenseitiger Hilfeleistung in ein Eden umzuwandeln ... Wie murmelten Sie in den Bart, Freund Wegemann – ›Sozialistenphrasen?‹ Mein Gott, oft gesagte Wahrheiten – und solche, auf die sich eine nach Verbreitung strebende Partei aufbaut, werden immer zu ›Phrasen‹ ... ich will hier aber nicht in sozialdemokratischem Parteigeist, sondern im weitern Sinn – in sozialem Geist gesprochen haben. Daß die soziale Frage in gewaltiger Bedeutung unsere Gegenwart erfüllt und nach Lösung drängt – das kann doch niemand leugnen? Das Arbeitervolk ist es müde, zu leiden, und unter uns gibt es solche, die müde sind, es leiden zu sehen. Ich für mein Teil kann nicht länger müßig zusehen, bei all den unnützen Schmerzen, Lasten und Gefahren, unter denen meine Mitgeschöpfe stöhnen. Tat twam asi ...«

Das indische »das bist Du« veranlaßte den poetischen Beifallsspender zu einem neuerlichen »Bravo!«

»Ein großes Erlösungswerk bereitet sich vor – davon wissen gar viele Zeitgenossen – und wohl auch viele meiner lieben Tischgenossen – nichts. Was sie allenfalls davon vernehmen, klingt ihnen wie das ferne Rauschen einer drohenden Sturmflut und sie rufen nach Deichen und Dämmen. Wir aber, die wenigen, die hingehorcht haben, wir hören das Rauschen einer neuen Zeit [178] der gewaltlosen Zeit, der elendbefreiten Zeit. Wenn wir sie auch nicht erleben ... übrigens, wer weiß? – ihr Kommen beschleunigt zu haben, das soll unsere höchste Genugtuung sein. Das habe ich mir zur Aufgabe erkoren. Nennen Sie solches Beginnen nicht vermessen und nennen Sie es nicht unnütz. Beugen Sie sich nicht jener bequemen Ansicht, daß sich die Kulturwandlungen von selber vollziehen. Das ist falsch – nichts geschieht von selbst. Es fällt doch niemanden ein, zu behaupten, daß sich alle technischen Fortschritte und Erfindungen von selber eingestellt hätten – unabhängig vom Studium und der Arbeit der Techniker und Erfinder. Daß studiert und daß gearbeitet wird, mag auf einen Zwang, der in den Naturvorgängen liegt, zurückgeführt werden, das will aber nicht besagen, daß die Kulturarbeit von selbst entsteht. Sie entsteht durch den Willen der Kulturarbeiter ... Diese Willenskraft mag man auch eine Naturkraft nennen – aber dieser persönliche Wille wird zum Motor der Entwicklung. Auch unter den Entwicklungsfeinden gibt es energisch Wollende und es gelingt ihnen gar wohl, den Gang der Kultur zu hemmen, sogar momentan zurückzuschleudern ... ihn aber gänzlich aufzuhalten, das gelingt ihnen nicht, denn daß dieser – wenn auch in der Spirallinie – unaufhörlich vorwärts und aufwärts führt: das ist Naturgesetz. Dies ist mein zuversichtlicher Glaube. Ein heißer Glaube, der mich oft mit einem Glücksgefühl durchströmt, mitten unter den Zorngefühlen, die mir die herrschenden Verkehrtheiten einflößen. Wenn ich auch weiß, daß Zorn eine unwissenschaftliche Regung ist – ärgert sich der Zoologe über Tigerbosheit und Schlangengift? – so ist er doch auch eine nützliche Regung, denn er rüttelt zur Abwehr auf ... Ohne Leidenschaft wird nichts Kräftiges vollbracht.

Das ist's auch, was ich Ihnen sagen wollte – mein Tun ist durch eine in tiefster Seele lodernde Leidenschaft bestimmt ... Ob ich Kräftiges vollbringen werde, das [179] ist dahingestellt, aber was ich an Kraft besitze, das ist nun in meinem Wollen konzentriert.«

Er hielt einen Augenblick inne. Wieder empfand er es deutlich, daß die Zuhörerschaft – mit Ausnahme der wenigen – ihm nicht gefolgt war.

Und er gewahrte auch, daß ihm die Worte nicht zu Gebote standen, mit denen er gern die Fülle der ihn bewegenden leidenschaftlichen Gefühle und Gedanken ausgedrückt hätte. Das wäre ihm wohl nur möglich gewesen, wenn von seinem Feuer etwas auf die Widerstrebenden sich übertragen hätte und aus ihrer Mitte dann ein Funke der Begeisterung herübergesprungen wäre ... Er hatte die Vision eines großen Saales, gefüllt mit Männern und Frauen aus dem Volke; Leute, die in ihren gramgedrückten Verhältnissen mit Sehnsucht nach Verheißungen besserer Zeiten aufhorchten: wie würde der Dank und die Hoffnung solcher Lauscher ihn gleichsam tragen, emporheben ... aber diese hier? – auf der Höhe der Gesellschaft geborenen, alle Vorteile des Bestehenden genießenden – die mußten wohl jeden Gedanken an eine Änderung als ruhegefährdend und glücksbedrohend empfinden – wenn sie überhaupt zuhörten, wenn das Gesagte nicht vollkommen abprallte an ihrem Unverständnis und ihrer Kälte.

Er ward sich bewußt, daß er nicht weiter reden sollte, noch konnte und suchte nach einem Schluß:

»Meine Freunde – Ihnen das Ziel meines Wollens ganz klar zu legen, oder gar meine Überzeugung auf Sie übertragen zu wollen – das konnte nicht der Zweck meiner Rede sein, die ohnehin schon zu lang geworden ist; ihr kurzer Sinn ist der: hier stehe ich, weil ich nicht anders kann. Und damit ist die Tafel aufgehoben – in Brunnhof die letzte Tafel, deren Wirt ich gewesen bin.« Er stand auf und erhob sein Glas: »Doch – damit wir mit einem ›Hoch‹ abschließen können, trinke ich Dir noch einmal zu, lieber Mar – ›Dotzky, est mort, vive Dotzky!‹«

[180] Die anderen waren froh, die etwas gelangweilte und mitunter peinliche Stimmung mit neuem Gläseranstoßen und Hochrufen verscheuchen zu können.

Dann begab man sich in den anstoßenden Empfangssaal. In den Gruppen, die sich bildeten, wurde natürlich von dem Ereignis des Tages gesprochen. Das Urteil über Rudolf lautete zwar nicht, wie er selber vorausgesagt, auf »Verrücktheit« – aber die ganze Skala von Worten, die den selben Sinn umkleiden, hielt dabei her: Überspannt – Träumer – Irregeleitet – Phantast – hm, ein Original..

[181]

XIX

Rudolf stahl sich hinaus. Er war nicht aufgelegt, in Privatgesprächen den Gegenstand weiter auszuführen, über den er soeben eine Rede gehalten. Und ein eigentümliches Trauergefühl hatte sich seiner bemächtigt – etwas wie Abschiedsweh, das ihn drängte, sich von der heiteren Gesellschaft zu entfernen, und in einem einsamen Winkel seinen Gedanken nachzuhängen.

Er suchte sein einstiges Arbeitszimmer – das Har lekinzimmer – auf. Es war schon halb ausgeräumt, die ihm persönlich gehörenden Bücher und Bilder in herumstehenden Kisten verpackt. Der Raum war durch eine Ampel von mattem Glas nur schwach beleuchtet. Dagegen sah man durch das unverhüllte breite Fenster hellen Mondenschein. Rudolf trat hin und lehnte die Stirn an die Scheibe. Wie zauberhaft lag da der Park seines schönen Brunnhof ... Nein, nicht mehr sein Brunnhof. ... Das war ja der Gedanke, den er ausspinnen wollte, das war das wehmütige Bewußtsein, das ihn beschlichen hatte: vorbei!

Zwischen seinem alten Leben, und dem, dem er jetzt entgegenging, war nunmehr wie ein eiserner Vorhang herabgerollt. Und ein Abgrund war gegraben, zwischen ihm und den meisten Menschen, mit denen er durch verwandtschaftliche und gesellschaftliche Bande verbunden gewesen. Vorbei die kameradschaftliche Gemeinschaft mit seinen Standesgenossen; vorbei die huldreiche Freundschaftlichkeit der Spitzen des Landes; vorbei die ehrerbietige Hingebung seiner zahlreichen Beamten- und [182] Dienerschaft; vorbei diese ganze Machtstellung, die aus dem Chef eines adeligen Majorats einen kleinen Potentaten macht ... dem allen ein ewiges vale – –

Aber auch intimeres Abschiedsleid erfaßte ihn. In diesen Mauern, die er nun verließ, hatte sein häuslicher Herd gestanden. Auf dem Plätzchen da unten im Park unter der großen Linde, wie oft hatte er – das Bild trat ihm lebhaft vors innere Auge – wie oft hatte er da die Wiege seines Söhnchens gesehen und darüber gebeugt, die holdselige Gestalt der jungen Mutter.

Diesen Besitz freilich, dem hatte er nicht selber entsagt, den hatte ihn der Räuber Tod entrissen – aber es wäre ihm ja so leicht möglich gewesen, sich auf demselben Grund einen neuen Herd zu bauen, dem Hause eine neue Herrin zu geben – dem Stammsitz einen neuen Erben. Diese Möglichkeit war durch seinen Verzicht nun abgeschnitten.

Ein schwerer Seufzer hob seine Brust. So deutlich, so fest umrissen, so wirklich waren die Dinge, denen er entsagte, und so unsicher, so nebelhaft die Ziele, denen er entgegenstrebte. Nein, nicht die Ziele – die leuchteten ihm klar in Leitsternlicht, aber die dahin führenden Wege, die waren das unsichere.

Eine Hand legte sich sanft auf seine Schulter. Er wandte sich um.

»Du, Mutter?«

»Ich dachte wohl, daß ich Dich hier finden würde, mein Rudolf. Aber ich störe Dich vielleicht?«

»Ach nein ... Dich, gerade Dich jetzt hier zu haben, tut mir wohl. Denn Du bist die Einzige, die mich ganz verstehen kann ... auch in Anwandlungen der Verzagtheit ... verstehen und aufrichten.«

»Bist Du verzagt, weil die da unten Dich nicht verstanden haben? Wenn sie Dich verständen, wäre es da überhaupt nötig, als Lehrer und Kämpfer hinauszuziehen?«

[183] »Hinaus, hinaus ins Dunkle, ins Kalte ...«

»Um in das Dunkel Licht zu tragen ... Aber kalt – ja, da hast Du wohl recht – unter den Fremden, unter den Massen weht es einen eisig an – und nur eines kann Wärme und Kraft geben – –«

»Was ist das eine?« fragte Rudolf, da Martha inne hielt.

»Man muß das Herz voll Liebe haben ...«

»Für die Fremden? Für die eisigen Massen?«

»Nein, für ein nahestehendes, ebenso warm liebendes als geliebtes Wesen.«

»Das besitze ich an Dir, Mutter.«

»So meine ich's nicht. Es muß die andere, die zärtlich glühende Liebe sein. Die gibt auch Kraft ... Das unendliche Glück, das dieses Gefühl im Besitz, die unendliche Trauer, die es im Verlust einflößt, die lassen einen erkennen, daß alles, alles daran gesetzt werden muß, den Haß aus der Welt zu schaffen. Glaube mir: Friedrich und ich haben nur darum so heftig den Drang empfunden, für die Erlösung der Mitmenschen von der Geißel des Hasses zu wirken, weil wir einander so übereinstimmend lieb hatten. Du hast Weib und Kind verloren – bist gar so einsam, mein armer Rudolf ... Und selbst in der Ehe bist Du einsam gewesen ... Ich weiß ja, daß Beatrix nicht das Wesen war, das Deine Seele ganz ausfüllen konnte. Wie wünschte ich Dir, daß –«

»Nein,« unterbrach er, »ich will nicht wieder heiraten. Ich will frei sein, ganz fessellos –«

»Um Dich in den Sturm hinauszustürzen? Wieviel besser kann man das, wenn man weiß, daß man jeden Augenblick in den Hafen zurückkommen kann. Ja, Hort und Schutz und Panzer – alles das ist die Liebe – die beglückte und die trauernde. Noch jetzt ist mir der reichste Besitz die Erinnerung an meinen Toten. Dir, Rudolf, ist das Leben noch solchen Reichtum schuldig ... [184] eine Gefährtin würdest Du brauchen – eine mitstrebende, dabei angebetete –«

»Ich denke nicht an mich ... Und gerade jetzt, was mich erfüllt, ist Verzicht und Entsagungsweh – von Zukunfts- und Glückshoffnungen weiß ich nichts. Die Liebe, wie Du sie besessen hast, und für mich träumst, was ist das für eine seltene Zufallsgabe! Ich gehe nicht aus, solche Wunderblumen zu suchen, für mich. Ich gehe aus, Pflichten zu erfüllen – für andere. Und traurig bin ich –«

»Ja, das höre ich an Deinem Ton. Mir ist's auch zum Weinen.«

»Also weine, Mutter, das erleichtert – –«

Beide verfielen in wehmütiges Schweigen.

Der Mond verfinsterte sich. Schwarze Wolken zogen über seine Scheibe und es erhob sich ein klagender Wind, der durch die Rauchfänge pfiff.

Martha schüttelte sich fröstelnd. »Komm,« sagte sie, »laß uns zu den anderen zurückgehen. Harre bei Deinen Gästen aus – das letztemal.«

Rudolf erfüllte den Wunsch seiner Mutter, er begab sich in den Salon zurück. Man saß und stand in lebhaft sprechenden Gruppen umher. Bei seinem Nahen verstummten die meisten Unterhaltungen; er hatte den Eindruck, als wäre eben von ihm die Rede gewesen.

In einer Ecke sah er Minister »Allerdings«, Pater Protus und Oberst von Schrauffen bei einander stehen. Auf diese Gruppe ging er zu.

»Hier sind ja drei meiner nächsten Freunde versammelt – tres faciunt consilium – gern wollte ich hören, was Ihr gesagt habt.«

»Ich sagte,« antwortete der Minister, »daß ich den Eisstoß schon lange kommen gesehen ... Dein Benehmen und Deine Äußerungen in der letzten Zeit ließen alles [185] Extravagante vorausahnen. So toll habe ich es allerdings nicht erwartet – seinen Besitz herschenken!«

»Und Sie, Herr Oberst?«

»Na, nachdem Sie mich so grad herausfragen und Exzellenz Wegemann sich auch kein Blatt vorm Mund genommen hat, so rede ich auch grad heraus. Mir kommt die G'schicht nicht nur stark verruckt, sondern sogar ein biss'l straffällig vor. Wollen's unter die roten Sozialisten gehen? Haben's ganz vergessen, daß Sie ein Kavalier – und daß Sie Reserveoffizier sind?«

»In der Tat, mon Colonel, in diesem Falle habe ich mich nur meines Menschtums erinnert. Und Sie, mein lieber Pater Protus – werden Sie mich auch exkommunizieren? Wie ich Sie kenne, fürchte ich das nicht von Ihnen.«

Der junge Pater blickte Rudolf ernst und mild ins Gesicht:

»Sie haben recht, Herr Graf – mir liegt jedes Anathema fern ... Nicht einmal richten und urteilen möchte ich da, wo ich nicht ganz verstehe. Ihre Absichten – Ihre Gedankenkreise sind mir nicht ganz klar; aber so wie ich Sie kenne, weiß ich, daß Sie Gutes wollen ... Mir tut es nur in der Seele weh, einen solchen Patron zu verlieren. Ach, hätte die arme Frau Gräfin und hätte das arme Bubi gelebt – Sie würden uns dann nicht verlassen haben.«

Rudolf schob seinen Arm unter den des Paters und zog diesen ein paar Schritte weiter.

»Kommen Sie, mein lieber Herr Pfarrer, ich möchte ein paar Worte mit Ihnen allein reden. Setzen wir uns hier in diesen Winkel, da hört und stört uns niemand. Den beiden anderen habe ich nicht weiter Rede stehen wollen. Ich habe mich von ihnen getrennt – abgrundweit, da gibt's kein Verständigen mehr und was jene von mir denken, muß mir gleichgültig sein. Ihnen[186] gegenüber, Pater Protus, habe ich das Bedürfnis, mir noch ein bißchen das Herz auszuschütten.«

»Das klingt ja wie die Einleitung zu einer Beichte.«

»Ich habe bei Ihnen nie gebeichtet ... und überhaupt, wie Sie wissen, mich den kirchlichen Zeremonien ferngehalten –«

»Sie – Herr Graf – wie gar viele – glauben, ohne auszuüben –«

»Nein ... Sie sollen keine falsche Meinung von mir haben. Ich glaube nicht – und meinte, daß Sie das wußten –«

»Ich vermutete es wohl, aber –«

»Ach, seien wir in dieser letzten Stunde ganz auf richtig ... Wir haben uns gegenseitig immer geachtet und gegenseitig hinter dem, was wir verschwiegen, einander auf den Grund der Seele geblickt, nicht wahr? Ich weiß, was Sie Ihrem Beruf schuldig sind und schätze den Takt sehr, mit dem Sie es verstanden, ein so pflichttreuer Landpfarrer und ein Mensch von modernem Geist und Wissen zu sein.«

»Und Sie, Herr Graf, vereinten taktvoll den kritischen Skeptiker mit dem adeligen Kirchenpatron.«

»Ich aber, Pater Protus, habe dem Dualismus entsagt. Mit den anderen Majoratsprärogativen habe ich auch das Patronat niedergelegt – und so kann ich mich ganz frei geben. Takt – das ist so ein Ding, das diejenigen brauchen, die einen Widerspruch verbergen, den sie in sich tragen, oder durch den sie sich lavierend durcharbeiten wollen ... ich habe diese Notwendigkeit abgeschüttelt – und darum sage ich Ihnen jetzt ganz offen: der Kampf, zu dem ich mich rüste – der Befreiungskampf gegen alles, was die Menschheit in Fesseln, auch in geistige Fesseln schlägt – der wendet sich natürlich auch gegen –«

»Also ist es doch richtig,« unterbrach der Pfarrer,[187] »daß die sogenannten ›Friedensfreunde‹ – denn dazu gehören Sie ja – Feinde der Religion sind?«

»Es ist nicht richtig. Gewiß gibt es unter den Kriegsfeinden viele Freidenker – aber auch viele Gläubige. Und in dem Kampfe gegen den Krieg betätigen die Freidenker doch ihre Gesinnung nicht, – sie trachten vielmehr, in der Kirche eine Verbündete zu finden, denn sie wissen, welche Macht ihr innewohnt, und wissen, wie sehr die Religionsgebote mit den Friedensgeboten übereinstimmen. Eben weil die organisierten Verfechter der Friedensidee sich der Bekämpfung einzelner Richtungen und Einrichtungen – die ich bekämpfen wollte – enthalten, unterlasse ich es, mich ihren Vereinen und Kongressen anzuschließen. Ich will nach jeder Richtung hin die neue Weltanschauung vertreten – eine Weltanschauung, die meiner Überzeugung nach bestimmt ist, wie eine neue Religion (das Wort heißt ja ›Band‹) die kommenden Geschlechter zu verbinden –«

»Freilich,« unterbrach Pater Protus mit leiser Bitterkeit im Tone, »mit solchem neuen Glauben muß man dem alten gegenüber als Feind auftreten – nicht als Patron.«

»Feind? Im Sinne von Haß und gewalttätigem Verfolgungs- und Vernichtungseifer? – nein. Loyaler Gegner? – ja. Ach, Pater Protus, Pater Protus – was sind das doch noch für unklare, traurige Zustände in der Welt ... wie schmerzlich stoßen die Gedanken, die Pflichten, die Leidenschaften aneinander! Dabei sehe ich so deutlich, wo das Heil liegt ... einfach darin: gut sein und wahr sein – in jeder Lage, unter allen Umständen, niemals Böses zufügen, niemals behaupten, was falsch ist ... Welche von den bestehenden Institutionen im Staate verstößt nicht gegen diese zwei Dinge – Güte und Wahrheit?«

»Was ist Wahrheit? Das hat schon Pontius Pilatus gefragt, Herr Graf.«

[188] »Was Lüge ist, mußte er jedenfalls wissen, denn als er sagte: ›ich wasche meine Hände in Unschuld‹, da hat er gelogen – er wusch sie in Blut. Was Güte ist, braucht keiner zu fragen, das fühlt jeder – auch der Harte, indem er sie verlacht ... Aber, lieber Herr Pfarrer, ich habe ja nicht mit Ihnen philosophieren wollen – nur Lebewohl wollte ich Ihnen sagen, dabei herzhaft Ihre Hand drücken und – ohne die Punkte auf die i zu setzen – Aug' in Auge Sie versichern, daß ich Sie verstehe und Sie schätze und mich von Ihnen verstanden weiß. Auch meinen weiteren Kurs werden Sie nicht verdammen, selbst wenn ich das nicht mehr bin, was wir vorhin ›taktvoll‹ nannten.«

Pater Protus drückte fest die dargereichte Hand und blickte dem anderen ins Auge: »Ja, wir verstehen uns.«

Rudolf sah nun, daß Gräfin Ranegg und ihre Tochter Cajetane im Begriffe waren, sich von seiner Mutter zu verabschieden.

Er eilte auf die Gruppe zu, denn es drängte ihn, mit diesen lieben Nachbarinnen noch ein paar Worte zu tauschen.

»Wie, Sie wollen schon fort? ... Nein, so lasse ich Sie nicht – ich muß Ihnen noch sagen, daß zu den Dingen, die ich durch den Verlust von Brunnhof am schmerzlichsten vermissen werde, die Nachbarschaft der Raneggsburg gehört.«

»Sie gehen ja nicht aus der Welt, lieber Graf Rudi,« sagte die Gräfin freundlich. »Den Weg nach unserem Hause – hier und in Wien – werden Sie hoffentlich immer noch finden. Und recht oft.«

»Danke, Gräfin. Aus dieser liebenswürdigen Aufforderung sehe ich, daß Sie in mir nicht – wie so viele hier – einen gefährlichen Narren sehen.«

Cajetane fiel lebhaft ein:

»Sprechen Sie nicht so ... Sie sind ein –«

Hier blieb sie stecken. Rudolf schaute sie überrascht [189] an. Ihre Wangen glühten und ihre großen schwarzen Augen blickten ihn eigentümlich an.

Gräfin Ranegg ließ sich nicht mehr zurückhalten. Sie verließ den Saal, an ihrer Seite Martha, die ihr das Geleite gab. Rudolf bot Cajetane den Arm und die beiden folgten in einiger Entfernung den vorangehenden Müttern. Der Weg zum Schloßhof, wo der Wagen stand, führte über mehrere lange Korridore, die Treppe hinab, durch eine lange Halle; man hatte Zeit zu einem Gespräch.

»Was wollten Sie vorhin sagen, Gräfin Cajetane?« fragte Rudolf. »Sie sind ein – begannen Sie und brachen ab. Was bin ich?«

»Ein ungewöhnlicher Mensch.«

»Das ist sehr milde ausgedrückt.«

»Sie glauben doch nicht, daß ich mir eine Verurteilung erlaube –«

»Doch wäre eine solche – von Ihrem Standpunkt – nur zu natürlich. Ich bin ein aus der Art Geschlagener, während Sie ein Muster – ein Prachtexemplar der Art sind, aus der ich geschlagen bin. Sie müssen mich daher verurteilen.«

»Ich tue es nicht. Zwar verstehe ich Sie nicht ganz, aber ich weiß, ich fühle, daß Sie Großes und Edles bezwecken –«

»Und glauben Sie, daß ich es erreiche?«

»Auch das kann ich nicht wissen. Ich habe ja in das alles keinen Einblick – bin ganz unwissend. Was Sie getan haben, hat großen Eindruck auf mich gemacht – dennoch, wenn ich mir Ihre Worte zurückrufen will, so geht es nicht. Ich weiß nicht mehr, was Sie gesprochen haben – ich gäbe was drum, wenn ich's noch einmal hören oder lesen könnte ... ich glaube, ich könnte da etwas lernen, etwas ganz Neues –«.

»Flößt Ihnen das Neue keine Furcht ein, Gräfin [190] Cajetane? Ihre ganze Erziehung fußt auf dem Alten, Ihr ganzes schönes, harmonisches Leben ruht darauf.«

Sie schüttelte den Kopf, aber blieb die Antwort schuldig. Sie war zu zurückhaltend, um über sich zu sprechen, um sich gegen die Meinung zu verteidigen, daß sie nur am Alten hing, während doch ihr junger, offener Sinn sich den Ahnungen und Verheißungen nicht verschlossen hatte, mit denen die nach Neugestaltung auf allen Gebieten ringende Gegenwart erfüllt ist. Und der Mann an ihrer Seite hatte den Mut, dieser Neugestaltung Phrophet und Mitschöpfer zu sein, opferte dafür Stellung und Reichtum – wahrlich, »ein ungewöhnlicher Mensch«. Wie bemerkte er vorhin? »Das war milde ausgedrückt« – nein, schwach ausgedrückt war's ... sie hätte sagen mögen – aber auch dazu war sie zu zurückhaltend –: »ein herrlicher Mensch.«

Nun gingen sie schweigend bis hinunter. Aber Rudolf fühlte, daß dieses Mädchen – eines jener Vögelchen, die auf den zum Falle bestimmten Bäumen nisteten – daß dieses Mädchen für ihn und für sein Tun voll Sympathie war. Unwillkürlich drückte er leise ihren Arm an sich.

[191]

XX

Der zwischen Hugo Bresser und Sylvia schwebende Liebesroman, der an jenem Abend, da sie sein Drama vorgelesen, für beide in ein die Herzen tief bewegendes Stadium getreten war, war seither zu keinem Abschluß gelangt – weder Bruch noch Vereinigung – auch nicht einmal zum Geständnis.

Über ihn war mit der gesteigerten Anbetung Schüchternheit und Scheu gekommen – er fürchtete, sie zu erzürnen und zu verlieren, wenn er spräche. Und dadurch, daß er sie zum Gegenstand seiner dichterischen Huldigung machte, war sie ihm in eine Art Wolkenferne gerückt – in Wolken, die zwar seinem eigenen Weihrauchkessel entstiegen, die sie aber in Unnahbarkeit hüllten.

Die ihr gewidmeten und sie besingenden Gedichte gab er ihr nicht zu lesen. Die sollten zu einem ganzen Bande anwachsen, und erst wenn er unbestrittenen Ruhm erreicht hätte, sollten sie so überreicht werden. Nur Großes durfte er ihr schenken: nichts Geringeres, als für ihren Namen die Unsterblichkeit.

Und sie? Sie kam ihm nicht entgegen. »Geh in Reinheit durchs Leben.« Dieses Wort ihrer Mutter hatte sich ihr im Gedächtnis festgesetzt, wie dies manchmal bei Melodien geschieht, die man nicht los wird, die im Ohre nachklingen, man mag wollen oder nicht. Auch die Antwort, die sie darauf gegeben, blieb so haften: »Das will ich ja.« Es war dies ein nicht allein der Mutter, sondern auch sich selber gegebenes Versprechen.

Das Bewußtsein, den jungen Dichter zu lieben, erfüllte [192] sie mit einem so intensiv beseligenden Gefühl, daß sie es wunschlos genoß. Es war eine ganz aus Bewunderung und Zärtlichkeit zusammengesetzte Empfindung – von keinem Schatten sinnlichen Verlangens gestreift. Es war die zweite Liebe in ihrem Leben. Welcher Unterschied mit der ersten! Errötend dachte sie jetzt an den leidenschaftlichen Taumel zurück, der sie zur Zeit ihrer Verlobung erfaßt hatte. Wie sie damals erglüht für einen Menschen, von dem sie nicht eine wahrhaft liebenswerte seelische Eigenschaft kannte – während jetzt die Seele allein, die große, lichte Seele eines Künstlers, eines gottbegnadeten Genius es ihr angetan. Die Ernüchterung, welche durch Tonis brutale Art zu lieben so jäh und schmerzlich auf ihren Rausch gefolgt war, hatte ihr die sinnliche Seite der Liebe verekelt und der völlige Mangel an Idealität, den ihr Gatte im ehelichen Verkehr gezeigt, machte ihr nun die bloß ideale Ekstase ihrer neuen Liebe doppelt wert.

Daß echte Liebe schließlich nach beiden Seiten hin nach Vollendung und Erfüllung drängt, das wußte sie nicht. Sie war, so sehr die Natur sie zur »grande amoureuse« geschaffen, in Liebesdingen nicht erfahren. So ließ sie sorglos und still beglückt es sich genügen, daß eine reine, von keinem Leidenschaftssturm gepeitschte ruhige Flamme ihr Herz durchwärmte. Nicht nur im bildlichen Sinne fühlte sie diese Wärme, sondern fast wie etwas Greifbares, physisch Vorhandenes. Es stieg in ihrer Brust auf – beim Erwachen, beim Einschlafen, oft unter Tags, wenn sie an etwas ganz anderes dachte. Wie ein plötzlicher heißer Strom, der vom Herzen zur Kehle flutete, den Atembeklemmend – in unnennbarer Süße ... Nicht Verlangen war das, sondern Besitzesfreude. Als einen reichen, lebenserhöhenden, sie mit Stolz erfüllenden Besitz empfand sie in solchen Augenblicken, daß sie liebte – einen herrlichen Menschen liebte, von dem auch sie – seit langem schon – geliebt war. Und wenn sie so an [193] ihn dachte, da erschien vor ihrem Innern weder sein Gesicht noch seine Gestalt, sondern nur das abstrakte Bild seines hochfliegenden Geistes, seiner schönheitsgewaltigen Kunst. Gegen eine solche Liebe, durch die sie sich nur gehoben und geadelt fühlte, brauchte sie doch nicht anzukämpfen? ...

Sie hatte sich alle seine Werke kommen lassen und genoß jede gelungene Stelle darin, wie ein Durstender eine saftige Frucht genießt. Der Wohllaut der Verse, die sie sich laut vorsagte und die sie bald auswendig kannte, wiegte sie ein wie Musik; jeder neue, schöne Gedanke war ein Rechtstitel mehr auf ihre stolze Liebe. Nicht nur in Reinheit – nein, in Größe konnte man da durchs Leben gehen!

Äußere Umstände traten hinzu, um die Gefahr hintanzuhalten, daß die so himmelhoch gespannte – im eigentlichen Sinne des Wortes überspannte Leidenschaft der Liebenden in eine irdische umschlage. Fast nie trafen sie sich allein. Notwendige Reisen – Sylvia zu ihrer erkrankten Schwiegermutter, Hugo zur Probe seiner Schauspiele nach deutschen Städten – und andere Zufälle mehr brachten lange Trennungen, und so kam es, daß jetzt, nach so langer Zeit, der Roman noch schwebte – ohne Bruch und ohne Vereinigung.

Das Verhältnis Delnitzkys mit der schönen Sängerin dauerte fort. Es war ihm zur Lebensgewohnheit geworden. Da er weder vor der Welt und seinen Verwandten, noch auch vor seiner Frau – von der er wußte, daß sie davon unterrichtet war – diese Liaison zu verbergen suchte und da die anderen die Sache schweigend, wie etwas Selbstverständliches, hinnahmen, so war ihm allmählich zu Mute geworden, als lebte er da in einer Art zweiter konzessionierter Ehe, und daß er wenigstens darin als treu und standhaft sich erwies, das rechnete er sich selber zum Verdienste an.

Zudem hatte ihm die Geliebte einen Sohn geschenkt [194] und er liebte das kleine Bürschchen – mit ihm zu spielen, war ihm eine wahre Lust. Der Gedanke an eine Scheidung von Sylvia war ihm wohl manchmal aufgestiegen – da konnte er die andere heiraten und dem kleinen Toni seinen Namen geben. Was diesen Gedanken aber nicht recht aufkommen ließ, war die Vorstellung der für einen österreichischen Aristokraten recht unerquicklichen und umständlichen, zu einer Scheidung erforderlichen Formalitäten: Religionswechsel, Naturalisierung in Ungarn und vor allem der »Eklat«. Dieser Begriff hatte für ihn etwas besonders Abschreckendes. So flößte ihm das, was sein Schwager Dotzky getan, das Aufgeben seiner Stellung, um unter die Sozis zu gehen – wie er Rudolfs Handlung bezeichnete – einen an Verachtung grenzenden Widerwillen ein. Natürlich wurde er im Klub und wo er sonst hinkam, mit allerlei Fragen oder Kritiken über Rudolfs Vorgehen behelligt. Er sollte den Leuten erklären, wie und warum sein Schwager so Unerhörtes angestellt und was er noch Unerhörteres vorhatte. Aber er ward des Auskunftgebens bald müde und sagte nur mehr mit ärgerlichem Achselzucken: »Ach, bitt' Euch, laßt mich mit dem Querkopf in Ruhe ... mich gehen seine Extravaganzen nichts an.« – Er versuchte auch, seiner Frau den Umgang mit Rudolf zu verbieten. Diesen Versuch wies Sylvia jedoch mit aller Entschiedenheit zurück. Die Zuneigung und Hochschätzung, die sie seit frühester Kindheit für ihren Stiefbruder hegte, war durch seine so ungewöhnliche Tat noch um vieles gestiegen. Sie blickte zu ihm auf, voll Stolz auf das, was er getan, und voll Vertrauen in das, was er sich zu tun vorgesetzt.

Von der Gesellschaft hatte sich Sylvia allmählich zurückgezogen. Das Bewußtsein war ihr peinlich, daß sie von ihren Bekannten als die verlassene und betrogene Frau bedauert wurde. Solche, die wußten, daß sie eigentlich nicht betrogen war, da sie die Untreue ihres Mannes kannte, die verurteilten sie mit Strenge: »Das [195] ist unmoralisch von einer Frau, sich solches gefallen zu lassen, herzlose Gleichgültigkeit, verächtliche Schwäche!« Wie oft hatten vermeintliche gute Freundinnen mit allerlei vorsichtigen Redewendungen ihr zu hinterbringen gesucht, daß es heiße ... daß man munkle ... sie möge doch auf ihrer Hut sein ... Und wenn sie auf solche Insinuationen achselzuckend mit einem »Ich weiß ja alles« antwortete, dann brach die Entrüstung los: »Wie, Du weißt ... und duldest es? – vergißt Du, was Du Deiner Würde schuldig bist? Deine Rechte als Gattin mußt Du wahren.« Manche sagten auch, sie solle sich einfach rächen ... gleiches mit gleichem. – Das am allerwenigsten. In Reinheit wollte sie durchs Leben gehen.

Länger als ein Jahr war es nun, daß sie Hugo Bresser nicht gesehen. Häufig jedoch erhielt sie von ihm Briefe und, wenn auch seltener, sie schrieb auch ihm. Es waren keine Liebesbriefe, aber zwischen den Zeilen pochte, hörbar für den Empfangenden, das Herz des Schreibenden. Der einzige Gegenstand der Korrespondenz war die Literatur. Er schrieb von seinen Entwürfen und Erfolgen, er übersandte ihr Proben der Sachen, die er eben auf der Werkstatt hatte; er schickte ihr aber auch Bücher anderer Verfasser, die Eindruck auf ihn gemacht, und dissertierte über deren Inhalt. Sylvia gab ihr Urteil ab, nicht im Tone der Kritik, sondern einfach, indem sie sagte, was sie bei dieser oder jener Stelle empfunden

Seitdem sie einem Dichter ihr Herz geschenkt, war ihr die Beschäftigung mit Dichterwerken zu einem genußreichen, lebenausfüllenden Studium geworden. In einem schönen Gedichte – ob es nun von Hugo war, oder nur von ihm angepriesen – konnte sie schwelgen, wie ein musikliebender Mensch in Melodien schwelgt. Zu eigenem Schaffen brachte sie es nicht, hätte es auch gar nicht [196] gewollt. Das Vertiefen in die Werke der anderen gab ihr volle Befriedigung.

Erst durch die Liebe war diese Passion in ihr geweckt worden. Das gehobene und geradezu wonnige Entzücken, mit welchem sie an jenem Abend Hugos Dichtung vorgelesen, hatte in ihr die Leidenschaft für alle Poesie angefacht, und von da an versenkte sie sich mit Inbrunst in die Werke aller toten und leben den Meister des gebundenen Worts. Und ihr Dichter hielt – in ihren Augen – neben den berühmtesten Literaturhelden Stand. Daß auch er die höchste Stufe seiner Kunst erreichen werde, war für sie nicht zweifelhaft. Und sie blickte mit einer Art Ehrerbietung zu ihm auf. Daß sie die große Dame, er ein eigentlich noch unbekannter Literat und gesellschaftlich unbedeutender Mensch war, kam ihr gar nicht zum Bewußtsein – er war der Gottbegnadete, der Anwärter auf die Strahlenkrone des Ruhms – sie eine einfache, unbedeutende Frau.


Einige Tage nach dem Abschiedsdiner in Brunnhof erhielt Sylvia von Hugo einen Brief, worin er seine Ankunft in Wien für den nächsten Tag ansagte.

Es versetzte ihr einen freudigen und zugleich bangen Schreck. Die lange briefliche Gemeinschaft war ihr zu teurer Gewohnheit geworden, daß sie beinahe fürchtete, die persönliche Berührung könnte irgend eine Störung, einen Mißton hineinbringen.

Dennoch gewann die Empfindung die Oberhand, daß der morgige Tag mit diesem Wiedersehen ihr ein hohes Fest verhieß. Sie teilte es sich so ein, daß sie um die Stunde, für die er sich angesagt, allein zu Hause war.

Es war Nachmittag vier Uhr. Draußen schien eine helle und warme Herbstsonne. Dennoch brannte im Kamin ein lustig prasselndes kleines Feuer. Und auf einem Seitentische, über blauen Spiritusflämmchen, brodelte in silbernem Kessel das Teewasser. Von der Straße her [197] gedämpfter Wagenlärm. Magnolienduft vom Blumentisch. Vor diesem steht Sylvia und pflückt eine Blüte ab, die sie an ihre Taille steckt. Sie trägt ein Straßenkleid aus schwarzem Samt – eben war sie von einer Ausfahrt heimgekommen – auf ihren Wangen lag frisches Rot und die Augen funkelten.

In einer halben Stunde sollte er kommen, doch schon jetzt ertönte die Klingel.

Ein Besuch? Nun, die Losung war gegeben, niemand anderer sollte vorgelassen werden als Bresser – und Anton war von Wien abwesend.

Die Tür ging auf und der Diener überreichte auf silberner Platte ein Telegramm.

Jedenfalls eine Absage von Bresser ... An der bittern, schmerzlichen Enttäuschung, die ihr dieser Gedanke verursachte, erkannte sie erst, wie sehr sie sich auf den bevorstehenden Besuch gefreut.

Die Depesche war aber nicht von Bresser und betraf etwas ganz Gleichgültiges. Jetzt freute sie sich doppelt und mit vollem Bewußtsein. Die Furcht, daß das Wiedersehen irgend einen Mißton bringen könne, war nun verflogen – vielmehr eine Erfüllung sollte es werden, ein Löschen des brennenden Durstes ihrer Seele.

Sie ging ans Klavier und spielte leise die Sonnenaufgangshymne aus dem Propheten. Diese Melodie war ihr seit jenem Theaterabend die Zauberformel geblieben, mit der sie sich jederzeit die Gegenwart ihres Dichters herbei beschwören konnte, als atmete sie seine Nähe.

Vom Klavier ging sie in ihre gewohnte Ecke, wo neben der Chaiselongue ein drehbares Lesetischchen stand. Sie setzte sich und nahm ein Buch zur Hand. Der Band »Gedichte von Hugo Bresser« öffnete sich von selber auf der Seite, die sie gewollt. Auch da fand sie eine Beschwörungsformel – eine gewisse Strophe voll Wohllaut und voll Schwung.

Aber sie legte das Buch wieder weg. Sie durfte[198] doch nicht bei dieser Lektüre sich finden lassen – das hätte wie eine plumpe Absichtlichkeit geschienen. Sie ließ die Hände herabfallen und schloß die Augen. Nicht spielen, nicht lesen wollte sie – nur so dasitzen, das holde Bangen der Erwartung genießend, dem eigenen Herzen lauschend, wenn manchmal ein beschleunigter Schlag ihr bis in die Kehle drang – wie süß das war ...

Noch war die halbe Stunde nicht verflossen – und wieder ertönte die Klingel.

Sylvia sprang auf; sie fühlte, daß sie erbleichte.

Bresser trat über die Schwelle und verneigte sich ehrerbietig; sie blieb – eine Weile regungslos – auf ihrem Platz stehen.

Durch den zeremoniellen Gruß und den Ton seiner Stimme »Gnädigste Gräfin« kam sie zur Besinnung, und – ganz Weltdame, die einen willkommenen fremden Gast empfängt – ging sie ihm ein paar Schritte entgegen und reichte ihm die Hand zum Kusse.

»Wie ich mich freue, Sie wieder zu sehen, Herr Bresser – werden Sie nun eine Zeitlang in Wien bleiben? Bitte, setzen Sie sich ...« und sie selber ließ sich auf ihren gewohnten Platz neben dem Lesetischchen nieder ... »Sehen Sie« – lächelnd – »ich habe hier Ihren Gedichtenband – aber Sie dürfen nicht glauben, daß ich ihn nur im Hinblick auf Ihr Kommen hierher gelegt, ich ...«

Sie stockte. Denn Bresser ging weder auf ihren förmlichen, noch auf den scherzenden Ton ein; er blieb stumm und auch den angebotenen Sitz hatte er nicht angenommen; sein Gesicht zeigte tiefe Bewegung, die Augen hielt er mit zärtlichem Vorwurf auf sie geheftet – sie fühlte, daß er von ihrem Empfang enttäuscht war.

Das war er im Anfang auch gewesen; aber wie sie jetzt so stockte, wie unter seinem Blicke auch in ihren Augen es zärtlich zu schimmern begann, da verstand er, [199] daß diese angenommene Gleichgültigkeit nur ein Schleier – ein für ihn jetzt durchsichtiger Schleier war, den sie über den sonst zu grellen Glanz ihrer gegenseitigen Wiedersehensfreude geworfen hatte. Eigentlich nach all den getauschten Gedanken und getauschten Empfindungen, nach der Sehnsucht, die sich in dem verflossenen Jahr von einem zum andern gesponnen, hätten sie ja einfach sich in die Arme sinken müssen: – o Du, Du – seh' ich Dich endlich! – Da dies aber nicht sein konnte, so war diese Art wohl die beste gewesen; sie wußten ja doch beide, was unter dem Schleier verborgen war.

So wollte er denn ihrem unausgesprochenen Befehl gehorchen und, indem er sich setzte, sagte er, einen unbefangenen Ton erzwingend:

»Ob ich längere Zeit in Wien bleibe, Gräfin? Das hängt von Umständen ab. Der Direktor des Burgtheaters, dem ich mein Drama eingereicht, hat mich zu einer Unterredung bestellt. Vielleicht handelt es sich um Änderungen – angenommen ist das Stück – vielleicht auch schon um den Beginn der Proben; da müßte ich allerdings hier bleiben.«

»Was – ein Stück an der Burg – und davon hatten Sie mir nichts geschrieben!«

»Ich wollte es nicht früher sagen, als bis die Annahme sicher war.«

»Und welches Ihrer Stücke?«

»Mein letztes, noch nirgends aufgeführtes – von dem Sie den ersten Akt uns vorgelesen haben –«

»Ah – ›Der tote Stern‹ –? Den haben Sie zu Ende geführt – und mir in Ihren Briefen kein Wort? ...«

»Meine Ambition war, daß Sie die folgenden Akte nicht im Manuskript, sondern von der Bühne aus beurteilen sollen.«

»Ich werde furchtbar zittern bei der Première.«

»Zittern? Für mich?«

[200] »Für Sie, für das Stück, für mich – ich könnte es nicht vertragen, wenn das Publikum keinen Beifall zeigte –«

»Wenn das Stück durchfiele, meinen Sie? ... Wer weiß, ob es vor Ihnen Gnade findet? Vielleicht müßte Ihnen dessen Fiasko gerechtfertigt erscheinen.«

»Werde ich denn überhaupt urteilen können, wenn ich zittere? Nur wenn Sie mir das Ganze zu lesen gäben, könnte ich mir klar werden, ob ich's schön finde oder nicht. Erzählen Sie mir doch wenigstens, wie Sie die Handlung weitergeführt haben –«

»Nichts erzähle ich, Gräfin Sylvia. Ich habe mich zu lange darauf gefreut, Ihnen meine Dichtung in fertiger Gestalt und lebendig und neu vor die Augen zu führen. Ihnen ganz allein wird es vorgespielt werden – das übrige Publikum wird für mich gar nicht anwesend sein.«

Sie sprachen dann von dem großen Ereignis in Sylvias Familie, Rudolfs Verzicht auf das Majorat. Es tat Sylvia wohl, zu hören, wie groß Hugo die Sache auffaßte, mit welchem weiten Blick er die von ihrem Bruder gewählten Wege und Ziele umspann.

»Mich nennen Sie Dichter, Gräfin?« sagte er. »Nun ja, mit geschriebenen Bildern und Worten dichte ich, aber Rudolf tut es mit Handlungen, mit kühnen begeisterungsglühenden Taten ... was er unternommen hat, kann zum hinreißendsten Poem werden.«

So sprachen sie lange über allerlei Dinge. Aber etwas Unausgesprochenes lag zwischen ihnen; etwas, woran beide dachten, und wovon jedes wußte, daß es in den Gedanken des anderen obenauf war. Es zitterte in ihren Stimmen, es blitzte in ihren Augen auf, es tönte in ihrem Schweigen nach, wenn manchmal die Unterhaltung stockte.

In einer solchen Pause geschah es, daß ihre Blicke sich begegneten und wie liebkosend aneinander hängen [201] blieben. Er war glücklich, sie so schön zu sehen – und auch sie empfand es wie eine Freude, daß seine Erscheinung so harmonisch zu seiner Künstlerseele paßte: edle Züge, leuchtendes Auge und dabei in Art und Ton, in Kleidung und Bewegung – tadelloser Weltmann. Diesen Menschen zu lieben, war man wahrlich entschuldbar ... sie war stolz auf ihn – und fast stolz auf sich, daß ihr Herz sich einem so Würdigen geschenkt.

Nach einer kleinen Stunde, die ihnen verflogen war, wie fünf Minuten, mußte er gehen – der Direktor erwartete ihn.

»Wann darf ich wiederkommen?«

»Morgen um dieselbe Stunde.«

Der Abschiedsgruß war ein langer, fester. Stumm sagten sie einander durch diese warmen, bebenden Hände:

Herrliche, auf Wiedersehen! – Auf Wiedersehen,Lieber!

[202]

XXI

Rudolfs Schrift war erschienen; – eine Anklageschrift; der Titel lautete »das Verbrechen der Kulturmenschheit«. Zugleich gab er eine zweite – eine Verheißungsschrift heraus: »Das Glücksfüllhorn der menschlichen Kultur«.

In der ersten war die ganze Schale seines Zornes auf die Heuchelei, den Blödsinn und die Grausamkeiten ausgegossen, die den herrschenden, sogenannten Kulturzuständen zugrunde liegen. In der zweiten ließ er seiner Begeisterung und seiner Einbildungskraft freien Lauf, um zu schildern, wie das Erdenleben sich gestalten müßte, wenn neben den märchenhaften Errungenschaften der technischen Kultur auch die ethische zur Geltung käme, das heißt: wenn Wahrhaftigkeit, Vernunft und Güte alle gesellschaftlichen Verhältnisse regelten. Absichtlich hatte er diese beiden Aspekte wie er die Welt sah – und wie er sie sehen wollte, nicht in eine Arbeit verschmolzen, sondern getrennt, um Zorn und Verheißung mit gleichem Feuer vertragen zu können – nicht das eine durch das andere gedämpft.

Das nächste Ergebnis dieser Veröffentlichung war – daß die Broschüren so gut wie gar nicht gelesen wurden. Sowohl die Anklage blieb ungehört, als auch die frohe Botschaft. Zwar brachten einige Blätter Notizen; aus Bekanntenkreisen erhielt er einige anerkennende – auch zwei oder drei tadelnde, von anonymen Schreibern sogar einige grobe Briefe – aber eine Revolution machten die Schriften nicht, nicht einmal Lärm. Es war da wieder [203] einmal ein Fingerhut voll Pulver zum Sprengen einer Gebirgskette angewendet worden.

Aber gleichviel. Eine kleine Schrift von unberühmter Feder kann die Welt nicht aufstören. Ihr Zweck war auch ein anderer. Rudolf hatte sich sozusagen das Programm vom Herzen geschrieben, das er seinem Apostolat zugrunde legen wollte. Er wußte ja, daß das, was er unternahm, eine langjährige Kampagne werden mußte, um irgendwie durchzudringen – und vorläufig war in den beiden Schriften zu dieser Kampagne der Plan abgesteckt. Er hatte hineingelegt, was ihm in manchen Nachtstunden überkam, wenn er zwischen Wachen und Träumen lag und an sein Lebenswerk dachte – nämlich, tiefgeekelte Entrüstung über obwaltende Schildbürgereien, Bosheiten und Gemeinheiten und dann wieder frohlockendes Erfassen der Glücksmöglichkeiten einer schöneren Zukunft und der schon vorhandenen Ansätze dazu. Er mußte sich aber selber sagen, daß seine Ausführungen, wie sie da auf dem Papiere standen, nur ein ganz matter Abklatsch jener nächtlich heftigen Gefühlsanwandlungen und grellen Gedankenblitze war, das kam daher – sagte er sich: zum Schreiben hat man nur Worte, – festgeprägte, an alte Erkenntnisse geknüpfte Worte, die Gedanken hingegen, vom Gefühle sekundiert, operieren mit Ahnen und Sehnen, mit inbrünstiger Neuerkenntnis von Dingen, für die im bestehenden Wortschatz der Ausdruck noch nicht geprägt ist. »Wenn ich denke,« so erklärte er einmal im Gespräch mit Kolnos diesen Kontrast: »so bewegt sich mein Geist mit Schwingen und wenn ich schreibe – in Galoschen.«

Unter den Briefen, die ihm infolge seiner Publikation zugekommen waren, fiel ihm einer auf in verstellter Frauenhand und ohne Unterschrift. Es waren nur wenige Zeilen:

»Die Lektüre Ihrer beiden Schriften – die Titel sind mir zu lang, ich nenne sie ›die Hölle und das Paradies‹ – haben mich tief ergriffen und ich muß es [204] Ihnen sagen. Wenn Sie auch nicht wissen, wer es sagt – ich glaube, es wird Ihnen immerhin lieb sein, zu erfahren, daß Ihre Worte eine Schwesterseele – die empfängliche Seele eines jungen Weibes – in gehobenste Mitschwingung versetzt haben.

Übrigens nicht um Ihnen angenehm zu sein, schreibe ich dieses, sondern um meine eigene Sehnsucht zu befriedigen, die Sehnsucht, Ihnen zu sagen, daß mein Herz in hingebender Bewunderung für Sie schlägt. Das niedergeschrieben zu haben und mir vorzustellen, daß Sie es lesen werden, das tut diesem Herzen wohl.«

Rudolf war nicht unempfänglich für den warmen Ton, der aus dem anonymen Briefchen sprach. Aber nachdem er es beiseite geschoben, und die anderen mit gleicher Post angelangten Zuschriften las, dachte er nicht mehr daran.

Was ihm mehr zu denken gab, war ein amtliches Schreiben aus dem Kriegsministerium, das ihn für den nächsten Vormittag, zehn Uhr, in die Kanzlei des Ministers beschied.

Er ahnte wohl, was da kommen würde. Der Gang war ihm ein unangenehmer, aber er mußte getan werden. Am folgenden Tag fand er sich pünktlich zur bestimmten Stunde am bestimmten Orte ein.

Der Kriegsminister war ein Vetter vierten Grades seines verstorbenen Vaters und oft war er mit ihm in befreundeten Häusern zusammengekommen, hatte ihm auch einmal als Jagdgast in Brunnhof empfangen. Aber diesmal sollte er dem Gestrengen nicht in verwandtschaftlichem, noch in gesellschaftlichem, sondern in dienstlichem Verhältnis gegenüber treten, in seiner Eigenschaft als Oberleutnant der Reserve.

Der Minister war allein in seinem Kabinett, als Rudolf, von einem Ordonnanzoffizier gemeldet, dasselbe betrat.

Der alte Herr, dessen Physiognomie immer eine martialische [205] war, nahm einen ganz besonders strengen Ausdruck an und mit schnarrender Stimme sagte er:

»Ah – Herr Oberleutnant Dotzky – kommen Sie nur her.«

Rudolf, der in einiger Entfernung salutierend stehen geblieben war, trat näher. Die Ansprache bedeutete nichts gutes. Außerdienstlich waren die beiden Männer auf dem Duzfuße. Das unfreundliche »Sie« kehrte den Vorgesetzten heraus. »Sagen Sie« – er nahm von seinem Arbeitstisch zwei gelbe – Rudolf gar wohlbekannte Hefte und hielt sie, eins in jeder zitternden Hand – in die Höhe – »haben Sie diese beiden Wische geschrieben?«

»Ja, Exzellenz. Ich habe die Schriften ja auch gezeichnet.«

»Aber Sie Unglücksmensch – wissen Sie, was nun geschehen muß?«

»Ich kann es mir ungefähr vorstellen. Ich werde aus dem Armeeverband scheiden müssen.«

»Und eine solche Schand' – die wollens so gleichmütig hinnehmen?«

»Ich habe mir das Recht, zu sagen was ich will, schon sehr hoch bezahlt, indem ich auf das Majorat verzichtet – da kommt es auf einen Verzicht mehr oder weniger nicht an. Als Schande empfinde ich die Freiheit nicht. Ich werde eines Ranges für verlustig erklärt, der mich zwingen soll, Dinge mit anzusehen, die ich verurteile. Diese Verlusterklärung ist berechtigt, aber sie beschämt mich nicht. Wäre es möglich, einfach seinen Austritt aus der Reserve anzumelden, so hätte ich es getan, da das aber nicht angeht, so –«

»Aber Dotzky – bist Du denn ganz verrückt,« unterbrach der Minister, in das verwandtschaftliche Du zurückfallend – »ist die Geschichte mit dem Majorat wirklich wahr? Ich hab's nicht glauben wollen.«

»Ja, ich will ungebunden sein.«

[206] »Das ist ja niemand auf der Welt. – Jeden binden Pflichten – von unserem allerhöchsten Kriegsherrn angefangen, an dessen Pflichttreue jeder sich ein Beispiel nehmen kann.«

»Gewiß. Aber auch ich habe nur aus Pflichtbewußtsein gehandelt.«

»Und was in aller Welt willst Du denn mit solchen revolutionären Schriften erreichen? Ich habe meinen Augen nicht getraut wie ich's durchgeblättert hab'.«

»Ich bin nicht revolutionär. Ich sage was schlecht ist in unserer Gegenwart und was gut werden könnte in der Zukunft. Ich sage aber nicht, daß der Weg vom schlechten Alten zum guten Neuen über die Revolution führt. Von Gewalt will ich nichts wissen weder von oben, noch von unten. Nicht eine Zeile wird in diesen Schriften zu finden sein, die zu irgend einer Gewalttätigkeit aufreizen will.«

»Und ich sage Dir, es ist nicht eine Zeile darin, vom Titel angefangen, die nicht Auflehnung bedeutet. Verbrechen der Kulturmenschheit. Mein Amt ist auch ein Stück unserer Kultureinrichtungen ... Bin ich ein Verbrecher? ... Kurz, Sie haben sich unmöglich gemacht. – Ich hätte Sie für gescheiter gehalten. Wissen Sie denn nicht, daß ein Soldat nicht offene Kritik üben darf an Dingen wie die Gesellschaftsordnung oder gar am Militär selber?«

»Wer darf also Kritik üben – da bei der allgemeinen Wehrpflicht jeder Mann Soldat sein muß – nur Frauen, Kinder, Greise und Krüppel? Und da faselt man von Freiheit –«

»Du hast furchtbar vertrakte Ideen. Aber schließlich – ich will die Sache zu applanieren trachten. Es hängt ja in letzter Instanz doch von mir ab. Wenn Du wirklich nachweisen kannst, daß Du nichts direkt Beleidigendes [207] und nichts zur Auflehnung Ermunterndes gesagt und gemeint hast, und auch in Zukunft –«

»Auch in Zukunft werde ich nie zur Gewalt aufmuntern oder zum Hasse aufhetzen. Diese beiden Dinge sind ja eben das, was ich bekämpfe.«

»Halte Dich in Zukunft lieber ganz still –«

»Wenn das die Bedingung Ihrer Nachsicht sein soll, Exzellenz, dann möchte ich schon bitten, es bei der Strenge bewenden zu lassen – denn zum Schweigen kann ich mich nicht verpflichten.«

»Na, wir werden ja sehen, wie Du Dich weiter aufführst. Einstweilen betrachten Sie sich als gewarnt, Herr Oberleutnant Graf Dotzky.«

Und damit war Rudolf entlassen.

Er verließ das Kabinett des Ministers in trüber Stimmung ... Es war ihm, als fühlte er Kugeln an den Füßen und Handschellen an den Händen. Das ganze Kriegsgebäude, das er nun durchschritt, mit seinen schmucklosen Sälen, seinen weiten Gängen, seinen Treppen, über die uniformierte Menschen auf und nieder eilten, machte ihm den Eindruck eines Gefängnisses. Und vor dem Tor die schwarzgelbe Barriere, die Schilderhäuschen, der Trupp von Soldaten, die neben dem Tor auf der Bank saßen – das alles, was er doch so oft gesehen, erschien ihm heut in ganz neuem Licht ... wie eine Mahnung, daß das Bestehende feststeht, daß es voll organischen Lebens ist und daß die Versuche, es umzustoßen, daran zerstieben müssen, wie der Schaum einer kleinen Welle am Meeresfelsen.

Und als er nun ganz herausgegangen und den Platz »am Hof« vor sich sah, erschien ihm auch diese altbekannte Szenerie in einem ganz besonderen Licht. Es hatte die ganze Nacht geregnet, das Pflaster glänzte im schwarzen Naß und es regnete noch immer; zugleich brach aber ein Sonnenstrahl aus den Wolken und spielte um das [208] Haupt des Radetzky-Denkmals. Der alte Feldmarschall sitzt zu Pferde, dem Kriegsgebäude kehrt er den Rücken und mit der ausgestreckten Hand scheint er die zahlreichen Hökerinnen zu segnen, die auf diesem Platze allmorgendlich Gemüse verkaufen. Auf der andern Seite des Platzes, dem Kriegsgebäude gegenüber, steht das Palais der Nunziatur – auch so ein ragender Fels, an dem so manche Wellchen zerschellen ... Es war ein lärmendes Gewimmel, vor allen Ständen die feilschenden Köchinnen mit ihren Einkaufskörben, auf dem Straßenpflaster das Gerassel der Fiaker, Einspänner, Omnibusse, Frachtenwagen und auch – von allen Gefährten das jammervollste – ein Kälberwagen; hin- und hereilende geschäftige Leute, die mit ihren Regenschirmen aneinander stießen – das Ganze ging Rudolf furchtbar an die ohnehin gespannten Nerven. Es überkam ihn jenes müde und traurige Gefühl, das sich in dem Stoßseufzer Luft machte: Ach, tot sein! ... Und da fielen ihm seine Toten ein. Die liebliche Beatrix, mitten aus der Jugendfülle und von des Lebens Höhen in die finstere Gruft geschleudert – und sein armer kleiner Fritz! Was gäbe er darum, wenn er die beiden noch besäße ... unvergossene Tränen schnürten ihm die Kehle zu.

Als er aber wieder in seine Wohnung gekommen und an den Schreibtisch trat, auf dem die unterdessen eingelaufenen Briefe und Blätter und seine angefangenen Arbeiten lagen, da ward diese Anwandlung mutlosen Trübsinns bald verscheucht. Die Sorgen, die sein eigenes Los betrafen, mußten verschwinden angesichts der großen Sache, der sein Leben nun ganz geweiht war. Die Briefe, die mit der letzten Post gekommen waren, trugen viel dazu bei, die niedergeschlagenen Gefühle zu bannen, die ihn beim Verlassen des Kriegsministeriums übermannt hatten. Dort war er in der so starr und unumstößlich scheinenden alten Welt gewesen, wo alles wie in enge Eisenreifen eingeklemmt ist; und die Briefe hier [209] brachten Kunde der verheißungsreichen, sich dehnenden, werdenden Welt. Signale von Mitkämpfenden, Mithoffenden, Mitwissenden. Es war ihm, als riefen alle diese ihm zu: Nur Mut, nur Ausdauer – wir sehen schon die gelobte Stadt, wir rütteln an ihren Toren – hilf mit!

[210]

XXII

Am nächsten Tag – wie es ihm gestattet worden – und an den nächstnächsten kam Bresser wieder.

Fast niemals traf er Sylvia allein; aber wenn auch ein Dutzend Menschen trennend zwischen ihnen war, die beiden Liebenden wußten sich zu finden, durch beziehungsvolle Worte, durch stumme Blicke oder auch durch den Kontakt gleichgestimmter Gedanken und gleichschwingender Wünsche. Im Tete-a-tete waren sie einander eher ferner, denn da überkam sie beide eine eigene Schüchternheit und Angst. Und diese Angst zu vertreiben, sprachen sie mit erzwungener Kälte von gleichgültigen Dingen – so wie gespensterfürchtende Kinder im Finstern laut zu singen beginnen.

Hugo wußte sich geliebt. Dieses Bewußtsein erfüllte ihn mit so überwältigendem Glück, daß er nicht wagen wollte, die angebetete Frau durch ungestümes Werben zu erschrecken. Die Leidenschaft für Sylvia füllte ihm auch nicht – eben jetzt – die ganze Seele aus. Die Proben seines Stückes nahmen ihren Fortgang; dadurch war er in fieberhafte Aufregung versetzt. Vom Schicksal gerade dieser Dichtung, in die er sein Bestes gelegt, hing so furchtbar viel für ihn ab. Neben der Frage des Erfolges oder Mißerfolges an einer so entscheidenden Stätte, wie das Wiener Burgtheater, stand noch mehr auf dem Spiele: sein ganzes Selbstvertrauen; denn würde diese Arbeit durchfallen, so mußte er an seinem Talent verzweifeln; und umgekehrt, gefiel sie, so wäre ihm in seiner Kunst der weitere Siegesaufstieg sicher. Und die aufregendste [211] Alternative von allen: vor ihr, vor Sylvia, als gefeierter Dichter oder als durchgefallener Autor dazustehen – sie zu glühender Bewunderung hinzureißen oder zu mitleidiger Enttäuschung stimmen ... Er wohnte sämtlichen Proben bei und übte strengste Selbstkritik. Vieles erschien ihm matt und farblos und im Lauf der Proben nahm er verschiedene Striche und Änderungen vor. Bei Tag und Nacht feilte er noch in Gedanken an dem Werk.

Sylvia indessen, die keine solche Ablenkung hatte, war mit ihrer Seele im Banne ihrer neuen, täglich wachsenden Leidenschaft. Sie wehrte sich umso weniger gegen deren berauschende Macht, als Hugos ehrfurchtsvolle Zurückhaltung sie in Sicherheit wiegte. »In Reinheit durchs Leben gehen« – diesem Vorsatz durfte sie nicht untreu werden, aber da war keine Gefahr; ihr Dichter selber, das war ja ersichtlich, mischte kein profanes Begehren in seine Herzenshuldigung – auch er liebte »in Reinheit«.

»Sylvia, ich möchte ein ernstes Wort mit Dir reden« – damit trat eines schönen Tages Delnitzky in das Zimmer seiner Frau, die eben beschäftigt war, in einem Bande Bresserscher Gedichte zu lesen.

Sie blickte überrascht auf. Der Umgang der beiden Gatten war seit letzter Zeit ein ganz förmlicher geworden; nur in Anwesenheit anderer sprachen sie mit einander, unter vier Augen hatten sie sich nichts zu sagen, am allerwenigsten »ernste Worte«.

Sie legte das Buch aus der Hand: »Was gibt's?«

Anton setzte sich neben den Tisch an der Seite ihrer Chaiselongue und schaute das weggelegte Buch an.

»Aha, das stimmt,« brummte er.

»Was stimmt?«

»Diese Lektüre – mit den Dummheiten, die Du machst.«

»Ich verstehe nicht.«

»Du läßt Dir von diesem Skribifax die Cour [212] machen – die ganze Stadt spricht schon davon, und wie steh' ich da?«

»Wie Du dastehst? – verzeih, das weiß längst die ganze Stadt, vor der ist es kein Geheimnis, daß Du –«

Er ließ sie nicht ausreden:

»Das ist was anderes ... wenn über mich getratscht wird, so hat das weiter keine Bedeutung – ich bin ein Mann. Aber ich kann nicht dulden, daß meine Frau Anlaß zu übler Nachrede gibt, und ich verbiete einfach –«

Jetzt sprang Sylvia auf.

»Du, mir? Dazu hast Du das Recht verwirkt. Ich habe mir nichts vorzuwerfen und ich lasse mir nichts verbieten.«

»Na, na, echauffier' Dich nicht so. Daß Du Dir nichts vorzuwerfen hast, glaube ich ja – ich kenn' Dich als viel zu wohlerzogen, als daß Du – und besonders mit so jemand – Dir was vergeben würdest. Aber Du kompromittierst Dich – und damit auch mich ... Ein guter Freund hat mir's gesteckt – und ich denke, es genügt, wenn ich Dich aufmerksam mache, daß die Leute reden ... da wirst Du von selber der Sach' ein End' machen und mir dankbar sein, daß ich Dich rechtzeitig gewarnt hab' ... denn was kann einer Frau teurer sein als ihr guter Name? Schon Skandal genug in der Familie, daß der Rudi solche Narrheiten macht und ganz vergißt, was er seinem Rang schuldig ist.«

»Kein Wort mehr über meinen Bruder!« rief Sylvia zornig.

»Wenn ich auch nichts reden würde, die übrige Welt nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Man bedauert die arme Baronin Tilling, daß ihr Sohn ihr so wenig Ehre macht – so soll doch wenigstens die Tochter ... Kurz« – er stand nun auch auf – »Du verstehst mich schon – das Ganze ist ohnehin peinlich, reden wir nicht mehr [213] davon ... Verbiete dem preußischen Zigeuner das Haus – das ist ja ganz einfach.«

Bleich und zitternd stand Sylvia da. Sie rang nach Worten, fand aber keine.

Er nahm einen gemütlichen Ton an: »Brauchst Dich nicht weiter zu alterieren – die ganze G'schicht' kann dann vergessen sein« – und er schritt der Tür zu.

Sie blickte ihm nach, noch immer stumm. Die Klinke in der Hand, drehte er den Kopf zurück:

»Also ausgemacht? – Keine Antwort? Mir auch recht.«

»So, da kommt ohnehin die Mama – küß die Hand, Mama, kommst gerade recht ... Die Sylvia ist ein bissel aufgeregt, weil ich ihr einen guten Rat gegeben hab' ... sie soll's Dir erzählen ... Wie ich Dich kenne, wirst Du mir recht geben – ich laß Euch allein. Adieu.«

Martha erschrak über den Gesichtsausdruck ihrer Tochter. Es lag etwas darin, was sie vorher niemals an ihr gesehen; die Augen sprühten unheimlich und die Lippen bebten wie in verhaltenem Zorn. Sie blieb regungslos. Martha ging auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Achsel.

»Was ist denn geschehen? Habt Ihr einen Auftritt gehabt? Wegen Fräulein Irma?«

»Nein, wegen Hugo Bresser.«

»Ah so« – sagte Martha gedehnt. Sie ging hin und setzte sich. »Und Toni sagte, ich würde ihm recht geben ... ich gestehe, Sylvia, daß ich heute auch die Absicht hatte, mit Dir über denselben Gegenstand zu reden.«

Sylvias Atem ging noch immer kurz. Das Zittern ihrer Lippen hatte nicht aufgehört. Jetzt ließ auch sie sich in einen Fauteuil sinken, der Mutter gegenüber.

»Laß hören,« sagte sie.

»Ich möchte vorher wissen, was zwischen Dir und Deinem Mann vorgefallen – und aus welchem Anlaß ... [214] Du hast Dir doch nichts zu schulden kommen lassen ... Warum bist Du so verstört?«

»Weil ich empört bin, empört! Dieser Mensch, der mich seit Jahr und Tag betrügt – nein nicht einmal betrügt, sondern mir ins Gesicht die Treue bricht – der wagt es, mir Befehle zu erteilen, auf daß ich mich und ihn nicht kompromittiere – seine Ehre hängt also nicht von ihm ab, sondern von dem, was ich tue oder lasse ...«

»Das ist schon einmal so, liebes Kind – die Untugend eines Gatten gibt der Frau kein Recht, ihren eigenen Ruf aufs Spiel zu setzen ... Wenn es in der Welt hieße, daß dieser junge Bresser –«

»In der Welt, in der Welt! ... das ist doch nicht das höchste, diese ›Welt, in der es heißt‹ – diese blöde, widerspruchsvolle, ungerechte Welt, in deren Vorurteilsnetzen auch meine sonst so gedankenkühne Mutter gefangen ist – –«

»Aber Sylvia!«

»Ja, ja – den Militarismus, so das, worauf unsere ganzen Staaten ruhen, das, was unserer Fürsten Lieblingsbesitz und unserer Adelsfamilien Existenzgrundlage ist, das möchtest Du nur so wegblasen. – Die himmelschreiende Ungerechtigkeit aber in der Gesellschaft, mit Bezug auf die Pflichten von Mann und Frau, die siehst Du nicht – da soll man sich fügen, da sagst Du, ›es ist schon einmal so‹ ... Der Mann mag Liebschaften haben, soviel er will – ohne auch nur den Schein zu wahren, die Frau aber soll alles dulden, muß ihr Herz und ihre Sinne ersticken, ihrem Glück entsagen – nur damit die famose ›Welt‹ nicht tuschelt ... eine Welt noch dazu, die ihre Gesetze nicht einmal einhält, sondern täglich im Geheimen übertritt – geheim muß es nur sein ... Nein, Mutter, siehst Du nicht ein, daß da ein Unrecht, eine Knechtschaft herrscht, die mit den andern Formen von Sklaverei und Unglück sich messen kann, gegen [215] die Du Dich auflehnst, wie es mein Vater getan und wie Rudolf es tut!«

Martha war betroffen. In dieser Richtung hatte sie in der Tat niemals einem auflehnenden Gedanken Raum gegeben. Sie antwortete nichts.

Da sie ihrer Entrüstung Luft gemacht, fühlte sich Sylvia wieder ruhiger. Sie stand auf und ging zu ihrer Mutter hin:

»Im übrigen, Mama,« sagte sie, indem sie den Arm um Marthas Schulter legte, »sei mir nicht böse, und sei nicht besorgt. Ich habe mir wirklich nichts vorzuwerfen – aber von Anton lasse ich mir nichts befehlen.«

»Und von mir nichts predigen?«

»Auch das nicht, liebste Mutter. Ich kann und will allein fertig werden mit meinem Herzen und meinen Pflichten.«

»So gibst Du zu, daß Du Pflichten hast?«

»Die hat jeder – es kommt nur darauf an, gegen wen –«

»Du meinst, gegen sich selber?«

»Reden wir jetzt von anderen Dingen, bitte. Was hörst Du von Rudolf?«

Martha blieb nicht lange. Die Erregung und die Worte ihrer Tochter hatten sie erschüttert. Über die Sache weiter zu reden, nachdem Sylvia erklärt hatte, sie wolle allein mit sich fertig werden, ging nicht gut an und von anderen Dingen zu sprechen, war sie nicht aufgelegt. Also brach sie ihren Besuch vorzeitig ab.

Kaum war sie einige Minuten fort, als der Diener meldete:

»Herr Bresser.«

Sylvia mußte einen Aufschrei unterdrücken. Eine warme Woge schwellte ihr das Herz. Nach dem Vorgefallenen hätte ihr keine Nähe zugleich verwirrender und teurer sein können, als die Nähe des jungen Dichters. – Nach drei Seiten Bretterwände mit Nägeln und Mauern [216] mit Glasscherben und nur eine Seite frei, wo ein lichtübergossener Pfad hinausführte aus all dem Dunkel und auf diesem Pfad – bereit, ihr das Geleit zu geben: Hugo Bresser. So empfand sie in dieser Minute.

Hätte er seine Arme geöffnet – sie wäre hineingesunken und hätte dabei nicht den geringsten Skrupel gehegt, daß dies etwa nicht ›in Reinheit‹ geschehen.

Er aber, förmlich wie immer, verbeugte sich, und die kleine zitternde Hand führte er respektvoll an seine Lippen. Er bemerkte ihre Blässe und ihren ungewohnten Ausdruck.

»Sind Sie nicht ganz wohl, Gräfin?«

»O ja, ganz wohl. Setzen Sie sich, bitte.«

Er gehorchte. »Ich täusche mich nicht, Gräfin Sylvia, Sie sind in einer außergewöhnlichen Gemütsverfassung ... doch, ich habe keinen Anspruch auf Ihr Vertrauen.«

Sie antwortete nichts. Nach einer Weile sagte er leise:

»Sie sind nicht glücklich ...«

Und sie noch leiser: »Nein, nein, nein – glücklich bin ich nicht.«

»Sylvia!«

Zum ersten Male nannte er sie so. Sie schauerte, doch sie rügte es nicht. Sie hob nur die Augen und schaute ihn tief und rätselhaft an.

Unter diesem Blicke erschauerte nun er, und das lang zurückgehaltene Geständnis drängte sich hervor:

»Sie wissen doch, nicht wahr, Sie wissen es, daß –«

Sylvia erriet an seinem Gesichtsausdruck, an dem Ton seiner Stimme, was jetzt kommen sollte und sie unterbrach ihn mit einer heftig abwehrenden Handbewegung:

»Ich weiß, ich weiß – ich will's aber nicht hören ... nicht heute.«

»Wenn Sie es nur wissen, das genügt mir – heute.«

Die junge Frau stand auf und ging ans andere Ende [217] des Zimmers bis ans Fenster und lehnte die Stirn an die Scheiben. Eine schwüle Unruhe war über sie gekommen. Dazu eine Mischung von zwei ganz heterogenen Gefühlen, die nebeneinander ihr Sein durchdrangen, obschon sie sich gegenseitig aufheben sollten: – so unglücklich und so selig ...

Aber der gefährliche Auftritt sollte nicht verlängert werden; wieder trat der Diener ein, Besuch anzumelden – die Schwestern Ranegg.

Hugo nahm seinen Hut und ging – nicht heute war sein Tag. Nicht heute, aber – – er war nicht die Beute doppelter Gefühle – er war nur selig.

[218]

XXIII

Aus Marthas Tagebuch.


Ich habe mir jetzt wieder angewöhnt – wie ich es in meiner Jugendzeit getan – Tagebuch zu schreiben. Nicht regelmäßig, nur wenn etwas mir die Seele bedrückt, hatte ich so Zwiegespräch mit mir selber.

Ach, wo sind die Zeiten, da ich Einen hatte, dem ich alles, alles sagen konnte, dem alles zu sagen mir Lust und Bedürfnis war! Was ich erlebte, ward mir erst zum Erlebnis, wenn ich es mit ihm geteilt hatte. Jede Freude, jede Sorge, jeder Zweifel, jede Hoffnung, jedes Urteil kam mir erst ganz zum Bewußtsein, wenn ich darüber mit ihm gesprochen und seine Meinung darüber erfahren hatte. Mein erster Gedanke war stets: was wird Friedrich dazu sagen? Ich kannte ihn so gut, daß ich in den meisten Fällen wohl wußte, was er sagen würde – aber ich sehnte mich darnach, es zu hören – und dann erst war mein Erlebnis, meine Stimmung, mein Urteil sanktioniert. Jetzt hab' ich niemand, dem ich mich so ganz vertrauen kann – als höchstens mich selber. Was ich empfinde, kommt ja doch auch dem am nächsten, was er empfunden hätte – waren wir ja so sehr eins geworden. So beschwöre ich mir seinen Geist herbei, wenn ich diese Blätter fülle ...

Unsere Sylvia macht mir Kummer. Ich sehe sie auf einem gleitenden – in einen Abgrund gleitenden Pfad. Und Schwindel – d.h. Liebesleidenschaft – hat sie erfaßt. Mein Gott, ich kenne das nicht ... ich habe wohl auch geliebt, aber so ruhig, so innig, so – gesetzlich,[219] nur den eigenen Gatten, niemals einen anderen, was weiß ich also von den tollen, betäubenden Gluten verbotener Liebe. Ich kann nicht urteilen, darf also auch nicht richten ... Und das Predigen, das ich neulich versuchen wollte, das mißlang gar kläglich. Sie lehnte sich auf. Dabei warf sie mir vor, daß ich ja auch eine Auflehnerin sei und ihr Vater ein Revolutionär gewesen. Ich frage mich: sind nicht alle Stufen der Befreiung von Jammer, Qual und Fesselung durch Auflehnung erreicht worden? Die ersten Empörer sind freilich oft die Märtyrer ihrer Kühnheit, aber sie sind es, die den Nachkommenden ein Stück – ein dann unbestrittenes Stück Freiheit errungen haben. Mir ist, als hätte Sylvia vor mir einen Vorhang aufgehoben, hinter dem bislang ein ganzes Stück Welt für mich verborgen lag, eine Kette von Dingen, über die ich eigentlich nie recht nachgedacht ...

Neulich hatte ich eine kleine Diskussion mit meiner Freundin Ranegg. »Na ja, Du,« sagte sie, »Du denkst da ganz anders, Du bist eben eine moderne Frau.«

Großer Gott – wie wenig trifft diese Bezeichnung zu! Das fühle ich jetzt ganz deutlich. Rokoko bin ich zwar nicht, auch der Metternich-Ära bin ich entwachsen und unter unseren reaktionären kirchen- und militärfrommen Kreisen gebe ich die neuerungskühnste Aufwieglerin ab – aber der wirklichen Modernität gegenüber stehe ich da kopfschüttelnd, auffassungslos. Ästheten, Dekadenten – Übermensch – the new woman ... Ich sehe wohl, daß eine ganz neue Geschmacksflora (in der sich auch eine absonderliche Typenfauna zu regen beginnt) um mich her aufsprießt – eine Kunst, neuer Stil, neue Sensationen – aber verstehen, mich damit identifizieren, das will nicht gehen. Wenigstens nicht so schnell. Ich versuche es ja, denn mein Entwicklungsglaube schützt mich vor dem bei alten Leuten gebräuchlichen Widerstand gegen das Neue; daß aber alles Neue auch das Bessere sein [220] müsse – wie so viele junge Leute meinen – vor diesem Glauben schützt mich die Erkenntnis, daß so manches, was da auftaucht, nur vergängliche Mode oder krankhafte Entartung ist. Oder auch eine Übergangsform, aus der – –

So weit hatte Martha geschrieben, als sie mit der Meldung unterbrochen wurde, Graf Delnitzky frage, ob die Frau Baronin ihn empfangen könne.

Martha bejahte, unangenehm überrascht. Toni hatte nicht die Gewohnheit, seiner Schwiegermutter ohne Anlaß Besuche zu machen und unter den obwaltenden Umständen war der Anlaß vermutlich ein unerfreulicher.

Und richtig. »Ich bin gekommen,« sagte er nach der ersten Begrüßung und nachdem er sich gesetzt, »um in einer recht peinlichen Angelegenheit –« Er stockte. Martha kam ihm nicht zu Hilfe. Sie blickte nur fragend auf. »Sylvia wird Dir ja neulich gesagt haben,« hub er wieder an, »was es zwischen uns für eine Auseinandersetzung gegeben ... Ich möchte wissen, was sie Dir erzählt hat und was Du ausgerichtet hast ... Du bist doch gewiß auch dafür, daß dieser Sache mit dem Herrn Theaterdichter ein Ende gemacht werden soll –«

»Welcher Sache?«

»Ach, tu' doch nicht so ... Weißt Du denn nicht, daß die Leute schon reden –?«

»Die Leute reden mancherlei. Auch über Dich.«

»Das hat mir Sylvia auch geantwortet – als ob es dasselbe wäre, was man von einem Mann erzählt, oder von einer Frau. Das ist doch ein gewaltiger Unterschied ...«

»Die Ungerechtigkeit dieses Unterschieds fängt mir zu dämmern an.«

»Es ist schon so.«

»Ja, mit diesem Satz glaubt man allen Widerspruch abzuschneiden ... ich hab' ihn auch angewendet. Aber man sollte eher sagen: es ist noch so. Doch, es wird[221] nicht so bleiben. Der Anspruch der Frau auf die Treue ihres Gatten wird –«

»Was?« unterbrach Delnitzky, »auch Du? – Du nimmst Dich um die ›Ansprüche‹ der Frauen an? – Bist Du unter die Frauenrechtlerinnen gegangen? Von der Seite kenne ich Dich gar nicht ... Hast Dich, Gott sei Dank, dieser sogenannten Bewegung immer ferngehalten.«

»Weil man nicht überall mittun und mitsprechen kann. Du weißt, daß eine andere ›sogenannte Bewegung‹ mir Herz und Sinn ausfüllt.«

»Na ja, die ist aber – weil ganz aussichtslos – auch harmlos, während die verflixte Frauenfrage schon ganz bedenkliche Dimensionen annimmt – neulich haben sie sogar schon einen weiblichen Doktor promoviert. Aber das hat ja im Grunde nichts damit zu tun, was ich mit Dir besprechen wollte, Mama.«

»Und was war das?«

»Einfach dies: Du mußt mir helfen, den Bresser aus Sylvias Nähe zu verbannen.« Martha machte eine Bewegung. »Du brauchst nicht zu erschrecken,« fuhr er fort, »ich glaube ja gar nicht, daß sie in den Menschen verliebt ist, aber er schwärmt für sie und, wie gesagt: die Leute munkeln – und das kann ich nicht zugeben.«

»Und wie, wenn sie ihn liebte?«

»Aber Mama – um Gotteswillen ...!«

»Hast Du ihr denn geboten, was eines jungen Weibes Anspruch an das Leben ist? – Hast Du ihr Liebe gegeben? Und Treue gewahrt? ... Toni, ich habe nie über diese Dinge mit Dir gesprochen, weil ich finde, daß eine Schwiegermutter sich solcher Einmengung enthalten soll, aber heute warst Du es, der den Gegenstand – Euer eheliches Verhältnis – zur Sprache gebracht hat, und da kann ich mich nicht enthalten, Dir zu sagen: wenn dieses Verhältnis zerstört und bedroht ist, so liegt die Schuld an Dir.«

[222] Delnitzky sprang auf: »Ich sehe schon, an Dir habe ich keine Stütze ... Ich werd' mit dem sauberen Herrn allein fertig werden müssen. Es wird mir doch nicht schwer fallen, ihn beim Rockkragen zur Tür hinauszuexpedieren.«

»Mäßige Dich doch! Gerade auf diese Weise würdest Du den Eklat herbeiführen, den Du zu fürchten scheinst.«

»Was soll ich also tun? Zuschauen, wie meine Frau einen Liebhaber –«

»Schweig'! So zu sprechen hast Du kein Recht. Für Sylvias Reinheit stehe ich ein. Aber sie sollte nicht länger zuschauen, daß Du Deine Geliebte, diese –«

»Willst Du etwas Beleidigendes sagen?« unterbrach Delnitzky, »vielleicht weil sie beim Theater ist?«

»O nein, aber weil sie das Eigentum einer anderen entwendet hat.«

»Damit meinst Du mich? Glaub' mir, auf dieses Eigentum hat Deine Tochter nie viel Wert gelegt. Du weißt gar nicht, wie kalt und abstoßend sie mit mir war – gleich nach unserer Hochzeitsreise. Wir passen nicht zusammen.«

»So gehet denn auseinander ...«

»Scheidung? Wir leben in einem katholischen Land ... Freilich, man könnte ungarischer Staatsbürger werden ...«

»Die Idee scheint Dir nicht zu mißfallen?«

»Ach Gott, es sind da tausend Schwierigkeiten und ich hasse Schwierigkeiten ... Du willst also nichts tun, um Sylvia auf den Pfad der Pflicht zu lenken?«

»Auf den von Dir verlassenen? Ich will überhaupt nichts tun, Anton – weder für, noch gegen Dich. Wenn Sylvia meinen Rat erbittet, so werde ich ihn erteilen und sicher in der Richtung, in der ich ihre Ruhe und ihre Ehre gesichert sähe ... aber ungebeten werde ich mich nicht als Sittenpredigerin aufdrängen. Sie ist der [223] mütterlichen Autorität entwachsen. Ich bin ihre Freundin – mehr nicht.«

»Meine Freundin bist Du nicht –«

»In aller Aufrichtigkeit: nein. Du hast mein Kind nicht glücklich gemacht ... Du betrügst sie vor aller Welt – wie soll sie Dir da liebevoll zugetan sein?«

»Es ist ja auch nicht nötig, daß Du meinetwegen einschreitest, sondern ihr zu nutz und frommen. Wenn sie sich kompromittiert, so wird es ihr Schaden – und wenn sie sich vergeht, ihr Unglück sein. Denn ich lasse mir nichts gefallen. Mein Name darf nicht in den Schlamm gezerrt werden.«

Er war dunkelrot im Gesicht und die Stirnadern waren angeschwollen. Martha empfand etwas wie Furcht: dieser Mann wäre imstande, ihrer Sylvia ein Leid zuzufügen. Die vorhin angeregte Idee einer Scheidung nahm die Form eines Wunsches an. Freilich, kein schönes Los, eine geschiedene Frau zu sein. Aber wenn es gilt, einer Gefahr zu entrinnen, so kann man nicht erst fragen, ob der Fluchtpfad in eine liebliche Gegend mündet.

»Ich hätte mir den Besuch bei Dir ersparen können,« fuhr Delnitzky im selben zornigen Tone fort. »Auf den Einfluß, den Du auf Deine Kinder übst, brauchst Du Dir wirklich nicht viel einzubilden. Über den Rudi und sein Gebaren wird ja genug gespottet und geschimpft. Daß es geheißen hat, er würde aus der Reserve fortgejagt, hast Du wohl erfahren?«

Martha warf den Kopf zurück. »Du versuchst, mir weh zu tun. Was zwischen Rudolf und dem Kriegsminister vorgefallen, weiß ich – ich besitze meines Sohnes volles Vertrauen und ich vertraue auch ihm. Was er tun wird, wird recht getan sein. Das Gebiet seiner Pflichten liegt höher als Du weißt.«

»Verrückt ist er einfach – und Ihr alle miteinander.«

[224] Sie stand auf: »Anton, ich ersuche Dich, mich zu verlassen. Du hast kein Recht, in meinem Hause mich und meine Kinder zu insultieren.« Sie sagte es mit ruhiger und gar nicht erhobener Stimme, doch war sie kreidebleich geworden.

»Oh, ich gehe ja ohnehin,« antwortete der Schwiegersohn.

Und ohne zu grüßen eilte er zur Türe hinaus und schlug diese heftig hinter sich zu.

[225]

XXIV

Sylvia saß in einer Parkettloge des Burgtheaters – allein. Sie hielt den Zettel in der Hand.

Zum ersten Male:

Der tote Stern.

Märchenspiel in 4 Aufzügen von Hugo Bresser.


Am selben Morgen hatte sie eine Sendung des Dichters aus Dresden erhalten, wohin er sich begeben hatte, um der Generalprobe seines Stückes beizuwohnen. das dort gleichzeitig mit Wien aufgeführt werden sollte. Doch war ihm die Burgtheater-Première die wichtigere und mit dem Sechsuhrzuge wollte er heute hier eintreffen.

In jener Sendung war die Sammlung der Gedichte »An sie« enthalten. »Ich wollte Ihnen diese Lieder erst schicken,« schrieb er dazu, »bis ich zu Weltruhm gelangt wäre, damit die Huldigung Ihrer würdiger sei. Doch nein – so lange will ich nicht warten – wer weiß, ob ich je zu Weltruhm gelange ... Und nicht die Außenwelt – Sie habe ich mir zum Richter eingesetzt. Was ich in den Augen jener bin, die ich besinge – das entscheidet. Und diese könnte mich nicht ganz beurteilen, wenn sie von meinen Dichtungen nicht kennte, was meiner innersten Seele entrungen, was mit meinem Herzblut geschrieben ist – was ich schreiben mußte.«

Mehrere Stunden des Tags hatte Sylvia mit lesen und wieder lesen der zwanzig Gedichte zugebracht, und [226] sie stand von dieser Lektüre auf, so leidenschaftlich aufgewühlt und süß erschöpft, als wäre diese Stunden über der Dichter selber zu ihren Füßen gelegen. So geliebt zu sein, so anbetungsvoll, so schmerzlich, so zärtlich und heiß – das hätte sie sich niemals träumen lassen.

Das Theater war noch leer – es fehlten beinahe zwanzig Minuten bis zur angesetzten Anfangszeit. Sylvia hätte um alles in der Welt nicht das erste Aufziehen des Vorhangs, das erste Stimmen der Orchesterinstrumente versäumen wollen. Daß dieser Theaterabend zu den wichtigsten, angst- und doch zugleich genußreichsten ihres Lebens gehören würde, fühlte sie, und so wollte sie ihn ganz und gar ausnützen, auch die Vorstimmung kosten – auf dem Kampfplatze selber. Nie noch im Leben – selbst an ihrem Hochzeitstage nicht – war sie so erregt gewesen, wie an diesem Abend. So muß einst den Rittersfrauen zu Mute gewesen sein, die von ihrer Galerie auf den Tournierplatz herabsahen, wo der von ihnen still und heiß Geliebte entweder siegen oder in den Staub fallen sollte ...

Ein Viertel vor sieben. Das Publikum fängt an, die letzten Parkettreihen und die höchste Galerie zu füllen. Noch ein paar Minuten und die Musikanten kommen zum Orchestertürchen herein und setzen sich an ihre Pulte. Die Logen sind noch leer. Sylvia späht nach der Direktionsloge ... wo mag Hugo sein? Man sieht ihn nicht ... vermutlich hinter dem Vorhang ... wenn es ihm nur einfiele, jetzt auf einen Augenblick zu ihr zu kommen – mit einem Händedruck hätte sie ihm Mut machen wollen und selber ermutigt werden – sie hatte vielleicht größere Angst als er ...

Fünf Minuten vor sieben. Jetzt füllt sich das Parkett, auch in den ersten Reihen und in den Logen beginnt es, sich zu regen. Die Galerien sind bis auf den letzten Platz gefüllt und im Stehparterre sind die Zuschauer dicht gedrängt.

[227] Punkt sieben. Der Kapellmeister gibt das Zeichen und das Orchester setzt ein. Zwei Erzherzöge nehmen am Rand der Inkognitologe Platz und in der Kammerherrenloge zeigen sich ein halb Dutzend uniformierte Herren und Hofdamen.

Erwartungsvolle Spannung scheint über dem ganzen Haus zu schweben – Premièrenstimmung. Der Vorhang rollt auf. Sylvias Herz pocht und sie atmet schwer. Den ersten Akt kennt sie ja, hat sie ihn doch selber vorgelesen; sie weiß noch, wie entzückt sie von der Schönheit der Sprache gewesen – aber würde das, hier auf der Bühne, so zur Geltung kommen?

Von der ersten Szene, durch drei oder vier Minuten verstand sie kein Wort. War es, weil ihr das Blut im Kopfe tobte, oder weil man immer erst eine Zeitlang an die Stimmen, die von der Bühne dringen, sich gewöhnen muß, bis man die Worte auffaßt und bis man sich überhaupt den Vorgängen dort gefangen gibt? Und die Leute da herum, die gleichgültigen Leute, und die nörgelnden Rezensenten, diese ganze, einem Neuling gegenüber instinktiv widerstrebende Menge – wann wird es dem Dichter gelingen, die mitzureißen, wenn sogar sie, seine glühendste Bewunderin noch dasaß, verständnislos, unaufgetaut? ...

Aber es währte nicht lange und die Reden und Gegenreden der Schauspieler drangen deutlich und lebendig ins Haus. Sylvia erkannte einige der Verse, die ihr bei jener ersten Lektüre aufgefallen waren, und sie hatte die Genugtuung, daß Stellen, deren Schönheit sie frappierte, auch vom Publikum aufgefaßt zu werden schienen. Nicht etwa durch laute Bravos bekundete sich das, denn damit halten die kritischen Zuschauer in den Eingangsszenen einer Erstaufführung zurück; es ist nur wie ein kaum hörbares Aufseufzen – vielleicht ist es nicht einmal ein Laut, sondern nur ein Zucken jenes elektrischen Rapports, [228] der eine versammelte Menge den gleichzeitig erweckten Beifall empfinden läßt.

Mit beruhigtem, immer sicherer werdenden Genuß gibt sich Sylvia jetzt dem Bühnenspiel gefangen. Zu der Süßigkeit der Versmelodien, zu der Pracht der hinwogenden Rede, die sie schon beim Lesen so entzückt hatte, war nun auch der Zauber dargestellten Lebens hinzugekommen. Die Träger der Hauptrollen Fritz Krastel und Stella Hohenfels – waren die verkörperte Poesie. Das eigentümliche Silbergeriesel des Hohenfelsschen unvergleichlichen Organs verlieh den Versen neben ihrem gedanklichen Wert noch den sinnlichen Reiz des Klanges. Und dazu: was es zuschauen gab! Das Stück war ein Märchenspiel, also waren der Phantasie des Dichters keine Grenzen gesetzt. In verschwenderischer Üppigkeit boten die vorgeführten Bilder, was ein Maler nur erträumen kann – an Farbenglut und Formenpracht. Nach der ersten Verwandlung war der Schauplatz ein Zaubergarten. Eine Fee, eine wirkliche Fee, hatte der Regie geholfen ein Bild zu schaffen, das für das Auge ein Rausch war – die Fee Elektrizität. Mit ihren unwahrscheinlichen Leuchteffekten, ihren violetten, blauen und rosa Feuern, mit ihren Silberlichtern und Goldgluten und Lavaflammen, tauchte sie die Gestalten und Dekorationen in immer neue und magische Glanzwogen; eine Flora, wie sie noch kein irdisches Auge gesehen, wucherte in diesem »Garten des Glücks«, in dessen Hintergrund ein diamantener Tempel ragte. Die Lust des Schauens beeinträchtigte aber nicht die Lust des Hörens, denn die Dichtung erlahmte keinen Augenblick. Auch da glitzerte es von Witz und strahlte in Pathos. Als der Vorhang fiel, brach das Haus in lauten Beifall aus.

»Bresser, Bresser!« rief man von mehreren Seiten. Aber Bresser erschien nicht. In seinem Namen dankte der Regisseur

Sollte er den Zug versäumt haben, oder verschmähte [229] er es, sich zu zeigen? Sylvia empfand es als eine Erleichterung, daß er dem Hervorruf nicht gefolgt war. Die Schöpfung war dem Publikum preisgegeben, zu Beifall oder Tadel – nicht der Schöpfer. Nur sein Geist schwebt über dem Werke, nicht seine Person hat sich davor zu stellen. Wie kommt er dazu, sich vor jenen zu verbeugen, die er beschenkt hat, warum soll er dafür danken, daß sie ihm dankbar sind?

Aus diesen Gedanken wurde Sylvia durch Hugos Vater gerissen, der in die Loge trat. Sie reichte ihm die Hand:

»Ich wünsche Ihnen Glück,« sagte sie – »es ist ein Erfolg.«

»Das kann man noch nicht wissen,« antwortete der alte Herr. »Der erste Akt ist gut ... aber ein Erfolg entscheidet sich erst am Schluß ... Warum ist die Baronin Tilling nicht gekommen?«

»Mama ist unwohl – sonst wäre sie schon hier ... sie hatte sich schon lebhaft auf diese Vorstellung gefreut.«

»Und Ihr Gatte?«

»Ist heute in der Oper.«

»Ah – ja.« Ein Ausdruck des Ärgers huschte über Doktor Bressers Gesicht.

»Ihr Sohn sollte heute aus Dresden zurückkommen und nun –«

»Er ist zurückgekommen und er ist im Theater – ganz im Hintergrund der Direktionsloge verborgen. Er will sich nicht zeigen.«

Die Direktionsloge lag der ihrigen schräg gegenüber, also konnte er sie sehen – der Gedanke berührte sie angenehm. Und daß er, wie sie es vorausgesetzt, es vorzog, sich dem Applaus zu entziehen – in Bescheidenheit und zugleich in Stolz – das war ihr auch eine Genugtuung.

»Sie müssen doch große Freude an Ihrem Sohn haben, Doktor Bresser.«

»Mein Gott, wenn ich ihn glücklich wüßte ... aber[230] das Dichterhandwerk scheint ihn stark herzunehmen – er ist oft von einer Schwermut ... als ob die Liebe zu den Musen eine unglückliche Liebe wäre.«

Sylvia wußte wohl, wer seinen Liebesgram verschuldete. Jene Schwermut war in einige der zwanzig Sonette gelegt, die sie heute zum erstenmal gelesen, von denen sie aber schon manche Strophe auswendig wußte.

Zum zweiten Male hebt sich der Vorhang. Jetzt war Sylvia gespannter wie zuvor, denn was nun folgen sollte, war ihr neu. Immer hatte Bresser sich geweigert, ihr mitzuteilen, was die übrigen Akte enthielten; und zwar aus dem Grunde, damit sie einst ganz unbefangen beurteilen könne, wie die Dichtung von der Bühne herab wirke. Sie hatte das Gefühl, als sollte nun das Stück ihr allein vorgespielt werden; die anderen waren nur so nebenher zugelassen – als Richterin war nur sie berufen. Ob ihr »der tote Stern« gefallen werde, ob sie gespannt, gerührt, erhoben, befriedigt sein würde, das war die Frage, die den in der Loge drüben verborgenen Verfasser ganz erfüllte – das wußte sie

Der zweite Akt spielte im »Garten des Schmerzes«. So hell und lieblich die Bilder des ersten Aufzugs gewesen, so düster und erschütternd waren die Vorgänge, die sich jetzt abspielten. Die Sprache hielt sich auf gleicher Höhe, und in dramatischer Steigerung bewegte sich die Handlung weiter. Als der Vorhang zum zweitenmal fiel, erhob sich wieder lauter, langanhaltender Beifall. Hätte sich aber auch keine Hand im Saale gerührt, Sylvia hätte doch gewußt, daß dieser zweite Akt vollendet schön war. Daß aber die Bewunderung der Menge dem geliebten Manne zuflog, erfüllte sie mit stolzem Hochgefühl. Ja, sie war stolz auf ihn und – wenn sie an die Widmung seiner zwanzig Lieder dachte – stolz auf sich. Ein bisher ganz unbekanntes Glücksgefühl durchströmte sie. Der Theatersaal war wie in einen Festsaal verwandelt und sie fühlte sich als des Festes heimliche Königin.

[231] Sie blickte im Hause umher. Nur wenige ihrer Bekannten waren da. Noch waren viele Mitglieder des Hochadels auf ihren Besitzungen – man schrieb Dezember – und das Interesse für literarische Ereignisse ist in diesen Kreisen überhaupt kein so reges, als daß man vom Lande herfahren würde, um der Aufführung eines neuen Stückes, von einem neuen Autor noch dazu, beizuwohnen. Ja, wenn es »theâtre paré« gewesen wäre, zu Ehren irgend einer fremden Fürstlichkeit – das wäre etwas anderes. Dazu kommt man schon hergereist; es ist aber auch gar zu schön: die vielen Uniformen im Parkett, die Toiletten und der Schmuck in den Logen und dann am folgenden Tag in allen Blättern die Liste der Anwesenden, bei der kein glänzender Name, keine offizielle Persönlichkeit fehlt. Da soll man doch dabei gewesen sein; aber so ein modernes Theaterstück, da muß man erst abwarten, was die Bekannten dazu sagen, und ob man überhaupt die Komtessen hineinführen kann ...

Sylvia richtete ihr Glas von Loge zu Loge. Endlich traf sie auf ein paar bekannte Gesichter: Gräfin Ranegg mit ihren Töchtern Cajetane und Christine und bei ihnen – Kolnos. Dieser schaute eben herüber und erkannte sie. Er stand auf und verabschiedete sich – offenbar wollte er zu ihr kommen. Eine Minute später trat er auch schon in ihre Loge ein.

»Ganz allein, Gräfin Sylvia? Und Ihre Mutter?«

»Sie ist nicht ganz wohl.«

»Doch nichts Bedeutendes?«

»Nein, eine leichte Erkältung. Was sagen Sie, Graf Kolnos, ist's nicht wunderschön?«

»Ja – er läßt sich sehr gut an. Wer hätte das hinter dem kleinen Bresser gesucht? ... Ich sehe ihn nämlich immer noch als kleinen Buben vor mir.«

»Was sagen die anderen? Wie urteilt die Ranegg?«

»Sie hat nichts über das Stück gesprochen.«

[232] »Aber Sie haben doch schon Urteile aufgefangen? Der Beifall ist ja groß – sind die Leute nicht entzückt?«

»Sind Sie es, liebe Sylvia?«

»Ja.«

»Für die anderen ist der Ausdruck zu stark. ›Entzückt‹ über eine Dichtung – das kommt bei uns nicht vor. Man schwärmt für einzelne Künstler in gewissen Rollen – das Stück ist Nebensache. Bewunderung kehrt man höchstens für die Klassiker hervor, da ist man auf sicherem Boden ... den neuen, noch lebenden Autoren gegenüber ist man voller Mißtrauen.«

»Gehören Sie auch zu diesen ›man‹?«

»Einigermaßen. Ich begeistere mich auch nicht so leicht; ich müßte das Werk erst lesen – es sind so viele äußere Effekte darin, welche blenden ... beinah wie in einem Ballett.«

»Und ist es nicht auch dichterische Kunst, wenn man mit Bildern, mit aus höchstem Phantasiereichtum geschöpften Bildern die Zuschauer in bezauberte Stimmung versetzt? ...«

»Eigentlich ja – aber warten wir erst das Ende ab.«

»Das Ende wird ebenso schön wie der Anfang – das fühle ich zuversichtlich – Hugo Bresser ist ein großer Dichter –«

»Sylvia, wissen Sie, daß die Leute sagen, daß Hugo Bresser Ihnen nicht gleichgültig ist? – Oh, erröten Sie nicht und entrüsten Sie sich nicht – ich bin der Letzte, der daran Anstoß nähme, wenn es wahr wäre. Nur finde ich, daß es die Leute nichts angeht, daß sie's nicht zu merken brauchten ...«

»Noch nie war mir dieser Sammelbegriff gleichgültiger als heute.«

»Welcher Sammelbegriff?«

»Das, was Sie Leute nannten – Leute, die so freundlich sind, mir ins Herz schauen zu wollen.«

»Mein Gott – man muß doch etwas zu reden [233] haben. Besonders so lang etwas nur vermutet, nur gewittert wird – ist's interessant; weiß man es einmal, so schweigt man einverständlich dazu. Daß die Gräfin X. ein Verhältnis mit dem Opernkapellmeister hat; daß Fürst Ypsilon schon seit Jahren der begünstigte Hausfreund der Baronin Z. ist: das sind alles so landläufige Kenntnisse, über die man kein Wort mehr verliert; höchstens konstatiert man es – aber nicht in medisantem Ton – nur um zu zeigen, daß man auf dem Laufenden ist ... Jetzt verlasse ich Sie, liebe Sylvia, der dritte Akt beginnt.«

Mit dem Aufrollen des Vorhangs war Sylvia wieder in die Zauberwelt versetzt – ein befreiender Gegensatz zu dem Stückchen wirklicher Welt, das sich in Kolnos' satyrischem Berichte gespiegelt hatte.

Der dritte und letzte Akt überflügelten noch die zwei ersten an dramatischen Effekten und an poetischer Kraft. Zum Schluß erhob sich ein wahrer Beifallssturm. Es war ein ganzer, ein großer Erfolg.

Sylvia ließ sich im Logensalon auf das kleine Sofa fallen und mit geschlossenen Augen und zurückgelehntem Kopfe saß sie da. Sie fühlte sich so erschüttert, so berauscht, daß sie um alles in der Welt jetzt nicht da hinausgehen wollte, in das Gedränge der Korridore und Treppen, wo sie riskierte, von Bekannten angesprochen zu werden, die, als wäre nichts geschehen, sie mit einem nüchternen »Guten Abend« angesprochen hätten und dazu: »Wie hat es Ihnen gefallen – es war ja ganz hübsch«.

Sie wollte abwarten, daß sich das Publikum ganz verzogen hatte. Wie sie so dalag, rief sie sich die Bilder zurück, die an ihren geblendeten Augen vorübergezogen waren und schwelgte in den neuen Sensationen, unter denen sie erbebte und erglühte. »Grande amoureuse« – wie einmal ihre Mutter sie genannt – ja, als das fühlte sie sich jetzt. Eine große Liebende – das heißt, daß die Leidenschaft, die sich ihrer bemächtigt hatte, sie nicht schwach, sondern stark machte, daß das Glück, das zu [234] nehmen und geben in ihrer Macht stand – ein überwältigendes, erhebendes – mit einem Wort voll Größe war.

Ihr Bedienter wartete, wie ihm befohlen worden, geduldig vor der Tür, aber jetzt trat die Logenschließerin herein.

»Ich bitt' Euer Gnaden – es wird schon ausgelöscht.«

Sylvia erhob sich und trat vor den Spiegel, um sich das Spitzentuch um den Kopf zu schlingen. Ihr eigener Anblick in dem zurückgestrahlten Bild war ihr fremd; es lag etwas Verklärtes darin, ein süß-zärtlicher Zug um den Mund, der dunkler glühte als je, und es durchzuckte sie eine, zwar schon öfter, aber nie so intensiv empfundene Freude – die Freude, schön zu sein.

Sie trat hinaus. Der Bediente legte ihr den mit Hermelin gefütterten Theatermantel um die Schultern. Langsamen Schrittes – sie fühlte sich so eigens abgeschlagen – ging sie durch die Gänge und die Treppe hinab, in der Tat als letzte – es war schon alles leer.

Nur an dem Pfeiler neben der untersten Stufe lehnte noch ein Mann.

Als sie herankam, riß er den Hut vom Kopf und trat ihr entgegen: Hugo Bresser.

»Also endlich, also doch!« rief er.

Sie hängte sich schweigend in ihn ein und ließ sich zum Ausgang führen. Hier standen sie nun Arm in Arm, während der Diener den Wagen holte.

»Nun,« fragte er, »Ihr Urteil? – Ich will Ihr Urteil hören!«

Ihre Hand drückte schwerer auf seinem Arm:

»Herrlich!«

»Das beglückt mich ... Aber noch einen anderen Urteilsspruch erbitte ich mir ... nicht über das Stück, sondern über mich – über Tod und Leben für mich ... die zwanzig Lieder? ...«

[235] Wieder ein Druck der weißbehandschuhten Hand auf dem schwarzen Ärmel und in innigstem Tone:

»Mein Dichter!«

Der Diener kam zurück: »So, gräfliche Gnaden, der Wagen.«

Hugo half der geliebten Frau beim Einsteigen.

»Darf ich eine Strecke mitfahren?«

Eine Sekunde zögerte Sylvia, dann aber mit Entschiedenheit:

»Nein.«

»Und wann erlauben Sie, daß ich morgen –?«

»Warten Sie eine Zeile von mir ab. Gute, gute Nacht!«

[236]

XXV

In derselben Woche hatte es noch eine Sensationspremière in Wien gegeben: Rudolfs erster öffentlicher Vortrag.

Es war im großen Musikvereinssaal und an einem Sonntag Nachmittag, damit – bei freiem Eintritt – recht viele Leute aus den arbeitenden Klassen kommen könnten. Für vorherige Bekanntmachung durch die Zeitungen und durch Anschlagzettel war gesorgt worden, und so geschah es, daß der weite Raum sich noch als zu klein erwies. Einige vordere Reihen waren für die persönlichen Bekannten Dotzkys, die ihn hören wollten, reserviert; das übrige Publikum war aus allen Schichten der Gesellschaft zusammengesetzt.

Als die Türen geöffnet wurden, gab es ein Drängen und Hasten, und bald war der Saal bis an die Decke gefüllt. Viele mußten umkehren, ohne Einlaß zu finden.

Rudolf stand vor der ersten Sitzreihe, mit seiner Mutter und Grafen Kolnos im Gespräch. Das Schwirren und Sausen, welches das Drängen und Niedersetzen all dieser Leute verursachte, machte ihm keinen anderen Eindruck, als ob er, von einer Strandterrasse aus, das Branden des Meeres gehört hätte. Ein fremdes, fernes Element, diese Menschenmenge, weiter nichts.

Was er sprechen wollte, das galt ja nicht diesem zufällig hier versammelten Publikum, das galt der Mitwelt, der Öffentlichkeit überhaupt. Eine Handvoll Samenkörner wollte er ausstreuen, hier und anderswo, heute, und morgen wieder; allmählich würde doch, an einer [237] Stelle oder der anderen, die Ideensaat aufsprießen; in einzelne Seelen würde wohl dringen, was die seinige erfüllte, und Nachfolger und Mitarbeiter würden ihm erstehen; vielleicht auch solche, die ihn weit überflügelten – desto besser! Von persönlicher Beifallssucht war in dem heiligen Feuer, das ihn durchglühte, auch nicht ein Funke enthalten.

Eine Zuhörerschaft, die einen Redner beklatscht und ihm zujubelt, die hatte er in diesem selben Saale vor einigen Wochen gesehen, als anläßlich eines Katholikentages ein antisemitischer Volksmann eine mit ordinären Witzen gewürzte Haßrede gegen »Judenliberale und Freimaurer«, gegen »Aufkläricht und Wissenschaftsdünkel« losgelassen. Und es war ein gar vornehmes Publikum gewesen: Bischöfe und Minister, Generäle und Aristokraten, Damen aus hohen und höchsten Kreisen, und daneben, in vielen Exemplaren, auch »der kleine Mann«, dem stets geholfen werden soll. Noch größeren Jubel aber hatte er diesen Saal durchbrausen gehört, wenn auf dem Podium ein geschickter Geiger stand oder eine hübsche Diva schalkhafte Lieder zum besten gab: nein, um Applaus buhlte Rudolf wahrlich nicht. Weder als Volksgunstsänger noch als Redekünstler trat er auf, kein rhetorisches Virtuosenstücklein hatte er zu bieten – nur etwas zu sagen hatte er.

Alle Plätze waren besetzt, die anberaumte Stunde war überschritten – es war Zeit zum Anfangen.

Rudolf stieg auf das Podium; das Summen der im Saal geführten Gespräche verstummte, erwartungsvolles Schweigen stellte sich ein.

»Ich habe Herzklopfen,« flüsterte Martha dem nebensitzenden Kolnos zu.

Sie war nicht die einzige. In einer der letzten Reihen – sie war vom Hause entschlüpft und mit einer Freundin hierher gekommen – saß Cajetane Ranegg und [238] ihr Herz und alle ihre Pulse pochten so heftig, daß ihr beinahe die Besinnung verging.

Dotzky selber zitterte nicht. Es war ja nicht das erstemal, daß er zu einer versammelten Menge sprechen sollte. Während seiner gescheiterten Wahlkampagne hatte er es häufig getan und dabei seine Fähigkeit erprobt, Stimme und Rede zu beherrschen. Hier war es freilich etwas anderes, aber etwas, das ihm ein erhöhtes Gefühl überlegener Sicherheit gab; nicht um etwas von den Versammelten zu erreichen, stand er da, sondern um ihnen etwas zu geben.

Er trat an das Pult, das vorn am Podium stand, und stellte sich seitwärts dazu, mit den Ellenbogen sich daran lehnend. Es lag keinerlei Manuskript auf dem Pult und er hielt auch keines in der Hand – er wollte frei sprechen.

Mit lauter, fester Stimme hub er an:

»Ihr Unzufriedenen! Vorerst nur an diese, an die Unzufriedenen hier im Saale wende ich mich – Ihnen hab' ich eine Botschaft zu verkünden: es wird besser werden ... Vielleicht bald, vielleicht noch lange nicht – das hängt von der Zahl und der Arbeit der Unzufriedenen ab.

Aber unter denjenigen hier, die diese Ansprache auf sich beziehen können, muß ich – sollen meine Worte nicht an eine falsche Adresse gehen – genauer sichten, welche Gattung Unzufriedener ich meine. Jene sicher nicht, die damit unzufrieden sind, daß man allenthalben beginnt, an alten Zuständen zu rütteln; auch jene nicht, die ihrer Unzufriedenheit durch Schimpf und Gehässigkeit Luft machen wollen – eine Methode, die von der Hetzrede bis zur geschleuderten Bombe reicht – und ebensowenig jene, die mit ihrer eigenen zufälligen Privatlage unzufrieden sind und nun wünschen, daß bloß diese – im Rahmen der bestehenden Verhältnisse, so viel auch andere davon bedrückt werden – sich zum Besseren gestalte. [239] Nein, weder zu den Quietisten – im Sinne von quieta non movere –, noch zu den Anarchisten der Tat, noch zu den einfachen Egoisten rede ich, sondern zu denen, die ein heiliger Unmut erfüllt gegen das Unglück aller Bedrängten und Bedrückten – und ein heiliger Wagemut dazu, das Unglück wegschaffen zu wollen – für sich und für andere.

Doch einzig mit Mitteln, die eben so rein seien, wie der Zweck.

Nun will ich die Dinge herzählen, mit denen wir unzufrieden sind und sein müssen, wenn anders es wirklich ›besser werden‹ soll.«

Er machte eine kleine Pause und veränderte seine Stellung. Dann begann er mit gleichfalls verändertem Ton die angesagte Herzählung.

Eins nach dem andern ließ er die Zustände und Einrichtungen Revue passieren, die das Ungemach und die Qualen des gegenwärtigen Gesellschaftslebens verschulden. An jede einzelne seiner Anklagen – denn indem er die Zustände nannte, klagte er sie an – knüpfte er eine Schilderung, beinahe eine Erzählung. Es war wie eine Reihe vorgeführter Bilder, fertig und lebensvoll: Arbeiterelend, Frauenerniedrigung, Soldatenmißhandlung, Konfessions- und Rassenhader, das Schicksal der Arbeitslosen und was sonst der beklagenswerten Erscheinungen in der herrschenden Gesellschaftsordnung mehr sind.

»Eine Gesellschaftsordnung, die auf Privilegien aufgebaut, auf Gewalt gestützt, und von Ungerechtigkeit und Unwissenheit durchseucht ist. Eine Gesellschaftsordnung, die zwar alle Tugenden und Gebote kennt und verkündet, deren Herrschaft und Befolgung allgemeines Glück verbreiten würden – nämlich die Tugenden: Milde, Großmut, Nächstenliebe – Feindes liebe sogar; die Gebote: töte nicht, lüge nicht, neide nicht; die aber alle diese schönen Dinge in die Moralhandbücher, in die Religionsstunden, eigentlich ins Jenseits verbannt, im öffentlichen [240] Leben aber ohne Geltung läßt und in ihren staatlichen Institutionen geradezu ins Gegenteil verkehrt.«

Etwas wie ein eisiger Hauch wehte den Redner an. Hatte er leises Murren oder das Räuspern des Polizeiorgans gehört, oder war es nur jener geheimnisvolle Rapport, der zwischen einem Vortragenden und der ihm lauschenden Menge sich einstellt? – Kurz, er wurde plötzlich gewahr, daß ein Teil der Zuhörerschaft tadelnden Widerspruch, wenn auch nicht äußerte, so doch empfand.

Wenn er jetzt zurückwich, war er verloren. Ein feindseliges Publikum, das kann nicht besänftigt, das muß gebändigt werden. Er trat einen Schritt vor, mit verschränkten Armen, mit zurückgeworfenem Kopf.

»Und jetzt ein Wort an die Zufriedenen hier im Saale. Ihnen habe ich nicht zu Dank gesprochen. Die Anklagen gegen Bestehendes klingen in Ihren Ohren wie Aufreizung zum Umsturz – und dabei könnte stürzen, was Ihre Zufriedenheit bedingt: Stellung, Reichtum, Karriere ... darum Handschellen und Knebel her für den aufwiegelnden Störenfried!

Zufriedene, meine Brüder – wir sind ja alle Brüder – Sie vergessen, daß Sie den Störenfrieden vergangener Tage alles danken, worauf Ihr heutiges Behagen, Ihre gegenwärtige Sicherheit und Freiheit – so viel oder, meines Erachtens, so wenig Sie davon haben – mit einem Wort, Ihre ganze Kultur ruht. Hätten alte Zustände niemals ihre Ankläger, neue niemals ihre Verteidiger gefunden, so wäre dieses ganze Publikum heute vielleicht bei einem auto da fé versammelt, oder, wenn man noch weiter zurückgreift, hauste es knochennagend in dunklen Höhlen ... Nur scheinbar ist der Verlust, wenn eine gewohnte, liebgewordene alte Ordnung einer moderneren Platz macht; so haben die Ritter ihre Burgen aufgeben müssen, auf Knappen und Wassergräben verzichten – doch welcher von ihren Nachkommen lebt jetzt [241] nicht sicherer und besser in den unverteidigten Landhäusern? Welcher kann nicht bequemer die gebrauchten Waren sich verschaffen, wenn er sie in den Stadtläden einkauft, als wenn er sie durch Überfall fahrender Kaufleute sich erbeuten müßte? Es kann kein Übel oder Leiden geben – wenn solches Übel und Leiden der einen den anderen auch Vorteil und Gewinn bringt –, dessen Fortschaffung nicht den anderen noch größeren Gewinn zuführte, als sein Bestehen ihnen gewährte.

Darum: nur niemals erlahmen in der Bekämpfung einer als Übel erkannten Einrichtung! Niemals zurückweichen aus Rücksicht für ihre Träger und Diener; nicht die Sklaverei bestehen lassen wegen des Profits der Sklavenhändler, oder die Folter beibehalten wegen des Erwerbs der Folterknechte. Rücksichtslosigkeit? Die gehört zu jeder Rettungsarbeit. Ertrinkende darf man bei den Haaren aus dem Wasser ziehen, aus brennenden Häusern mag man die Leute unsanft in die Rettungsschläuche stoßen, und aus sozialen Übelständen soll man die verblendet Zufriedenen durch rauhe Wahrworte zu befreien trachten. Befreien, erlösen: das sind nicht Aufgaben, die man erfüllt, indem man aus Füllhörnern Blumen schüttet, sondern« – der Sprecher trat noch einen Schritt vor und sprach mit lauterer Stimme – »sondern, indem man mit wuchtigen Hieben Ketten sprengt, mit kühn geschwungenem Speer Drachen fällt, oder mit zornig geschwungener Peitsche einen Tempel reinfegt!«

Lautes Händeklatschen. Da erschrak Rudolf und er fühlte sich erröten. Dieser Beifall erschien als Quittung für einen plumpen Theatereffekt. Von Hieben, Drachen und Peitschen hatte er gesprochen, dabei hatte seine Stimme gedröhnt, und das Publikum dankte ihm dafür, wie einem debütierenden Tenoristen für ein gut geschmettertes hohes C.

Es hätte nur noch gefehlt, daß er sich höflichst verbeugte. Das tat er nicht. Er blieb mit verfinsterter[242] Miene eine Weile regungslos; dann hub er wieder an, indem er wie ruheheischend die Hand vorstreckte:

»Es scheint mir, daß ich mißverstanden wurde. Axt und Speer und Peitsche, die mir einen Applaus eingetragen, als hätte ich diese Kraftwerkzeuge virtuosenhaft durch die Luft sausen lassen, die waren nur bildlich gemeint. Ich stehe hier, um gegen die rohe Gewalt zu sprechen; aber für das Wort selber, diese Waffe des Gefühls und der Idee, wollte ich das Recht vindizieren, scharf und wuchtig zu sein – und kräftig und unerschrocken gebraucht zu werden, wie einst Axt und Speer und Peitsche gebraucht worden sind. Die Dinge, die ich bewältigt sehen wollte, waren da auch nur in bildlichem Sinne gedacht. Die Ketten sind nicht aus Eisen, die Drachen haben keine Schuppen und nicht auf steinernen Säulen ruhen die Tempel, die ich meine. Ich muß deutlicher werden –«

Und nun ging er daran, in ruhigem Tone zu erläutern, was in seinen Augen die Ketten und Fesseln seien, mit welchen wir alle gebunden sind, und wie sie abzuschütteln wären; was er sich unter dem hehren Tempel denkt, den die Händler entweihen, und wie man diese zu verjagen hätte; und schließlich wie der Drache heißt, der in der Mitwelt so verheerend haust, und woraus die Sankt-Georgs-Tat bestehen soll, durch die das Ungetüm zu erlegen sei.

»Jeder Mann wird als Sklave geboren. Er muß dienen, ob er will oder nicht, er muß ein vorgeschriebenes Lernpensum durchmachen, soll er nicht drei sondern nur ein Jahr dem Militärzwang unterliegen – und während er dieses Mußjahr dient, heißt er euphemistisch ›Freiwilliger‹. Von Freiwilligkeit und Selbstbestimmung sieht man im ganzen Gesellschaftsgetriebe nur wenig. Die Leibeigenschaft ist zwar aufgehoben – aber ist man nicht an die Scholle geklebt, wenn man nicht nach beliebigem Ziel und auf beliebige Zeit verreisen kann, ohne Deserteur [243] zu heißen, und ist man etwa bewegungsfrei, wenn man die Galeerenkugel der Armut schleppt? Wie all diese Ketten zu sprengen seien? Durch die Lösung der sozialen Frage. Daß er diese Lösung hierher mitgebracht habe, in eine fertige Formel gedrängt: so viel törichte Vermessenheit würde man ihm hoffentlich nicht zumuten; er habe nur diese Mahnung zu geben: die soziale Frage muß unablässig, ehrlich, wissenschaftlich studiert, Experimente müssen gewagt werden, so lange bis man die Lösung gefunden hat – der hehre Tempel, das ist die Natur, das ist das Leben selber. Beide so voll der Pracht und der Wunder, der Mysterien und der Schätze. Das Leben mit seiner angeborenen Lust – die Lebensfreude – und das Allerheiligste dazu – die Liebe. Die Natur in ihrer Ewigkeit und Unendlichkeit, in ihrer Allmachtskraft, ihren immerwirkenden Gesetzen und stetem Entfaltungswandel ... Und wie wird dieser Tempel – Natur und Leben, uns als Stätte der Andacht und der Seligkeit gegeben – wie wird der geschändet durch den darin betriebenen Täuschungsschwindel und Lügenschacher! Heraus damit! Zu dieser Reinigung braucht man nur das eine: Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Mit anderen Worten: die Offenbarungen der Wissenschaft zum Dogma, – das stete Forschen nach Erkenntnis und deren mutige Verkündigung zum Kultus – und die unschuldigen Genüsse des Lebens zum Ritus erhoben. Genüsse, auf die alle den gleichen Anspruch haben sollen. Das haben die Kirchen gar wohl verstanden, daß auf ihre Feste und Feiern, auf Gnaden und Verheißungen alle gleich berechtigt sind – auch die Ärmsten und Niedrigsten – ebenso muß in dem Tempel, den ich meine, jeder gleichen Anspruch und Anteil an Lebensfreude haben – auch die Ärmsten und Niedrigsten. Oder vielmehr: Ärmste brauchte es nicht mehr zu geben, die Erde ist fruchtbar genug, damit keiner darbe – und niedrig darf niemand heißen, der nicht niedrig denkt ...

Und nun der Drache –«

[244] Rudolf machte eine kurze Pause um sich zu sammeln. Jetzt wollte er das vorbringen, was ihm am tiefsten im Herzen brannte, und von dem er wußte, daß es einer Auffassung entstammt, die für neun Zehntel aller Gegenwartsmenschen ganz ferne lag. Ihm erschien als der feindliche Drache was jene als Götzen verehrten.

Martha befiel eine leise Angst. Sie sah kommen, was ihr Sohn sagen wollte und sie zitterte, daß dies für manchen Anwesenden verletzend ausfallen könnte. In den Parkettreihen sah man zahlreiche Uniformen – und war das Ungeheuer, gegen das der Vortragende jetzt den Georgs-Speer zucken wollte, der Krieg – –

»Ach Kolnos,« flüsterte sie ihrem Nachbar zu, »mir ist bange.«

»Ich verstehe Sie,« gab er zurück. »Aber nur unverzagt, Martha Tilling – dort oben steht ein Kämpfer ... Er tut und sagt, was er muß.«

»Freunde, Gegner und Gleichgültige hier im Saale, Glückliche und Bedrängte, Männer und Frauen, Reiche und Arme, Soldaten und Bürger, Aristokraten und Arbeiter – der Drache den ich meine, das ist nicht nur mein, das ist auch Ihr, ist unser aller heimtückischer Feind. Und seine Name ist – Gewalt. Aber nicht als ein zu Bekämpfendes, Verheerendes, Ungeheuerliches – mit einem Worte nicht als Drache wird von unserer Gesellschaft die Gewalt erkannt, sondern sie gilt und schaltet als deren legitime hochangesehene Herrscherin. Sie betrachtet man als Grundlage der Ordnung, als Schutz vor Gefahren; sie ist die Spenderin der höchsten Ehren, die Vollzieherin des Rechts. Der Glanz und Stolz der Nationen beruht auf der gewaltgesicherten Macht; Gewalttaten werden Großtaten genannt; zur Erlangung von Orden und Würden, zur Betätigung von Pflichttreue und Mut, zur Verteidigung und Eroberung der ›höchsten Güter‹ dient als Mittelder Totschlag.

Und dieses System ist so tief gewurzelt in allen [245] unseren Einrichtungen, in der Erziehung, im Unbewußten – daß die meisten unter uns im Dienste des Drachen Gewalt leben und sterben, ohne ihn nur einmal in die bluttriefenden Augen geschaut zu haben.

Die wenigen, die das Ungetüm in seiner Entsetzlichkeit erkennen, die werden von tiefem Schauer durchbebt – Schauer und Schmerz. Töten, töten, töten ... wenn man sich in den Sinn dieses Wortes versenkt, und dabei die Einbildungskraft (die ja bei abstrahierten Begriffen so selten mittut) spielen läßt, und sich vorstellt, wie man das Eisen in die Brust des Bruders bohren, oder unter seinem Hieb verbluten soll, und wenn man als letzten Schluß der Zivilisation das Schlachtmesser – ob man es auch hochtrabend Schwert nennt – walten sieht, da wird man von dem St. Georgsfeuer erfaßt: das Scheusal muß überwunden werden.«

Wieder eine Applaussalve.

Kopfschüttelnd fuhr Rudolf fort: »Wenn ich im Eifer meines Gefühls mich zu etwas heftiger Sprache mit gewalttätigen Bildern hinreißen lasse, so lohnt mich Ihr Beifall. Aber, daß ich's nur gleich sage: Zur Überwindung der Gewalt denke ich mir keinerlei Gewalttaten. So lange man glaubt, das Böse mit Bösem vertreiben zu können, wird der Gewaltring nicht gebrochen, der uns umklammert hält.

Der Gang der Kultur ist das Zurückweichen der Gewalt vor dem Recht. Noch sind wir auf diesem Wege nicht weit vorgeschritten; aber jedenfalls wird die menschliche Gemeinschaft in dieselbe Richtung weiter sich bewegen, bis zum Eintritt in die gewaltlose Ära, in die ›kriegslose Zeit‹ – wie dies vom Versöhnungsapostel Egidy – der selber ein tapferer Soldat war – geprägte Wort lautet. Was wir tun können, ist die Beschleunigung dieser Entwicklung; – aber jedes brutale Mittel: Aufruhr, Attentat, Verfolgung – verfehlt den Zweck, und verzögert den Gang der Kultur.

[246] Revolution predige ich nicht. Ich rufe auch nicht dem Publikum zu: ›Gehet hin und schaffet dieses oder jenes ab,‹ denn ich weiß, daß wir nicht direkt aus diesem Musiksaal herausgehen können, ein kleines Häuflein Leute, selbst wenn wir eines Sinnes wären, was wir gewiß nicht sind – um heute abend noch, oder morgen früh die gleichgültige Masse draußen mitzureißen, die Gegner zu bekehren und jahrtausend alte Institutionen umzustoßen. Ich sage nur dieses, den Unzufriedenen zum Trost, den Zufriedenen zur Warnung: die Wandlung vollzieht sich schon.«

Und so wie er vorhin die Zustände aufgezählt, die mit ihren Qualen und Lasten die Gegenwart bedrücken, so nannte er jetzt, eine nach der anderen, die verschiedenen Bewegungen und Organisationen, welche eine glücklichere und gerechtere Zukunft vorbereiten; und neben den sichtbaren Organisationen auch die unsichtbaren Stimmungen im Zeitgeist, durch die ein höheres Menschentum und damit auch eine höhere soziale Ordnung sich ankündigt.

»Noch etwas zum Schluß. Ich habe von Eintracht, Wohlstand, Friede, Freiheit gesprochen und gezeigt, wie viele Keime schon sprießen, aus denen der Garten des kommenden Paradieses hervorblühen wird. Und da bin ich mir des Spottes wohl bewußt, der aus gar weisen Hirnen auf mich niederträufeln wird. – – Oh, der naive Tor, wird es heißen – er sieht nicht, wie die praktische Welt auf das Gegeneinander und nicht auf sein empfohlenes Neben- und Füreinander eingerichtet ist; er sieht nicht, wie die Interessen überall im Kampfe liegen, er hört nichts vom Lärm der Parteizwiste, des Klassenhasses, der Rassenverfolgungen; er weiß nicht, wie die Geister von altem und neuem Aberglauben befangen sind – oh der blinde, taube Träumer!«

»Darauf will ich antworten: Alles das sehen und hören wir nur zu deutlich, wir, die wir eine schönere[247] Zukunft vorhersagen; wir sehen und hören sogar schärfer als die anderen, denn unter der wuchernden alten Riesenvegetation sehen wir auch die blaßgrünen Hälmchen der künftigen Flora; durch den wüsten Lärm des Heute vernehmen wir doch schon den noch fernen Heroldsruf des Morgen ...

Als letztes Wort wiederhole ich also mit tiefster Zuversicht mein erstes: es wird besser.

Aber mithelfen müssen wir dabei!«


Der Vortrag war zu Ende. Im Saale wurde geklatscht – nicht übermäßig, und das Publikum strömte den Ausgängen zu.

Rudolf stand im Künstlerzimmer, wo ihn einige Freunde beglückwünschten. Mit Kopfschütteln wehrte er die Komplimente ab. Er fühlte sich unbefriedigt und abgespannt.

[248]

XXVI

Rudolf war vom Musikvereinssaal direkt nach Hause gefahren, ohne auch nur mit seiner Mutter gesprochen zu haben. Er sehnte sich danach, allein zu sein und auszuruhen.

Die Sache hatte ihn heftiger aufgeregt als er sich's vorgestellt. Beim Auftreten war er ganz ruhig gewesen; als aber während des Sprechens ihm zweierlei klar wurde: nämlich, daß ihm die Macht fehlte, alles so zu sagen, wie er wollte, und daß, was er sagte, teils nicht verstanden, teils mit zwar schweigendem, aber feindseligem Widerspruch aufgenommen wurde, da hatte sich seiner eine Aufregung bemächtigt, die peinlich und bitter war – so bitter, daß ihm davon in der Tat ein bitterer Geschmack im Gaumen blieb.

Im Bette warf er sich hin und her und konnte keinen Schlaf finden. Er versuchte, sich zu erinnern, was er gesprochen und korrigierte daran herum: dies und jenes hätte er sagen sollen. Dabei verlor er aber immer wieder den Faden und mußte von vorn anfangen.

Erst gegen Morgen verfiel er in einen fieberhaften Schlummer und als er um neun Uhr erwachte, fühlte er heftigen Kopfschmerz. Das gewohnte kalte Bad erfrischte ihn.

Auf dem Frühstückstisch fand er die Zeitungen. Natürlich galt sein erster Blick den Berichten über den gestrigen Abend. Nicht ob Lob oder Tadel darin enthalten war, interessierte ihn, sondern ob der Inhalt seiner Rede in einem guten Auszuge wiedergegeben, ob sein Gedankengang, [249] wennschon nicht vom Publikum, so doch von den anwesenden Journalisten richtig aufgefaßt worden war.

Das war nicht der Fall. Einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene Phrasen; mitunter auch ganz entstellte Zitate und als eigenen Kommentar dazu die unter herablassendem Lob versteckte Andeutung, daß man es mit einem wohlmeinenden, aber die rauhen Wirklichkeiten des Lebens ignorierenden Idealisten zu tun habe. In solchen Wendungen hat das Wort Idealismus den Klang von Unvernunft. Die ernsten Praktiker haben nur ein gerührtes Lächeln dafür.

Ein einziges Blatt brachte einen richtigen, die wichtigsten Punkte hervorhebenden Auszug und fügte ein begeistertes »habemus prophetam« hinzu.

Neben den Zeitungen lag auch ein Briefchen in der gewissen verstellten Handschrift der Unbekannten. Es war vom vorigen Abend datiert:


»Ich bin überwältigt. Als Sie das Podium betraten, war mir, als drehe sich der Saal um mich herum; alle Lichter tanzten – ich war in eine andere Welt entrückt. Da stand ein Mann, der entsagungsund begeisterungsvoll für eine edle Sache – die Sache des Menschheitsglücks – seine Person einsetzt ... So gibt es also doch noch Größe in der Welt, – gibt es Menschen, die über die Massen der Alltagsleute hinausragen – und dabei so viel Kraft und Zauber haben. Rudolf Dotzky, ich danke Ihnen, daß Sie mir geoffenbart haben, was dem Leben Wert und Adel gibt, ich danke Ihnen, daß Sie sind, Rudolf Dotzky!«


Das Briefchen war, wie seine Vorgänger, ohne Unterschrift.

Rudolf war noch kaum mit der eingelangten Post fertig, als seine Mutter bei ihm eintrat. Er sprang auf und eilte ihr entgegen.

[250] »Störe ich Dich, liebes Kind? ... Du bist mir gestern entkommen – und ich muß doch über Deinen Vortrag mit Dir reden.«

»Es ist wahr – ich habe gestern die Flucht ergriffen – ich war so unzufrieden mit mir und den anderen ... bitte, setz' Dich ... Hier die Blätter – die sind auch nicht zufrieden ...«

»Hab' ich schon gelesen und mich geärgert. Die haben Dich nicht verstanden –«

»Und Du – welchen Eindruck hattest Du?«

»Lach' mich nicht aus, Rudolf, aber ich war so sehr ›Mutter des Debutanten‹ – d.h. so von Lampenfieber geschüttelt, daß ich zu gar keinem ruhigen Urteil kam.«

»Also sogar für Dich war der arme Teufel auf dem Podium – der doch nur im Dienste einer Sache –Deiner Sache dort oben stand, einfach ein – wie soll ich sagen? – ein Konzertredner ... Als solcher habe ich allerdings nicht reüssiert, das fühlte ich gleich.«

»Nein – kein Konzertredner – ein Kämpfer stand dort oben. So drückte sich Kolnos aus. Der hat Dich verstanden.«

»Ja, ja, man wird nur immer von solchen richtig aufgefaßt, die ohnehin gleicher Meinung sind. Aber die anderen hinzureißen – und darauf kommt es doch an ...«

»Hinreißen? Ich meine: überzeugen, darauf käme es an. Auch das ist eine schwere Sache, die nicht mit einem Male gelingen kann. Es ist schon viel getan, wenn es gelingt, Gleichgesinnte in ihrer Gesinnung zu bestärken. Darum – weißt Du – ich hätte lieber gesehen, wenn Du Deine Kraft in den Dienst einer abgegrenzten Bewegung gestellt hättest, dieselbe, die in meinen roten Heften –«

»Du meinst, wenn ich als Mitarbeiter und Redner mich an den Friedenskongressen beteiligt hätte?«

»Allerdings – da hättest Du Gleichgesinnte bestärken und auch nach außen hin besser wirken können, auf [251] einem bestimmten Gebiet. Das Allumfassende verliert sich ins Weite: qui trop embrasse, mal étreint. Du willst doch als Lehrer auftreten? Also trage den schwachen Schülerköpfen auf einmal doch nur einen Gegenstand vor; versuche nicht – besonders wenn Analphabeten darunter sind, sie in einer Unterrichtsstunde zu Enzyklopädisten zu machen.«

Rudolf wiegte lächelnd den Kopf:

»Deine Kritik, liebste Mutter, ist noch strenger als die der Herren Berichterstatter.«

In den nächsten Tagen erhielt Rudolf wieder Briefe von der anonymen Anbeterin; dazu noch andere Epistel verschiedener entzückter Zuhörerinnen, die ihn – ganz wie dies gefeierten Schauspielern und Sängern zu geschehen pflegt – um Autogramme baten, oder gar zum Stelldichein bestellten. Ferner Anfragen von auswärtigen Vereinen, ob nicht im Laufe der Wintersaison ein Vortrag zu erlangen wäre.

Er antwortete bejahend; er wollte so oft als möglich sprechen. Obwohl ihm die erste Probe einen so bitteren Nachgeschmack gelassen, so sehnte er sich darnach, wieder und immer wieder dem lauschenden Volke mitzuteilen, was er als Heilswahrheit empfand, und durch unermüdlich wiederholte Predigt dahin zu wirken, daß die Zahl der Einsichtigen sich mehre, welche helfen sollten, den Eintritt einer lichteren Ära zu beschleunigen. Und wenn es eine Kunst war, durch das gesprochene Wort die Menge zu überzeugen, zu trösten, aufzurütteln, mitzuziehen, nun so würde er, durch die beiden unentbehrlichen Gehilfen jeder Kunst – Fleiß und Übung – vielleicht auch zur Meisterschaft gelangen. Dann ein Herrscher sein, um besser dienen zu können. Denn einzig um den Dienst der Sache war ihm zu tun. Und um die Erfüllung des eigenen Gewissensgebots. Auch eine Art Kampfgier war in ihm erwacht – ein zorniger Drang, aller gleißnerischen Niedertracht die Maske abzureißen; ein Drang, der Gesellschaft [252] ins Gesicht zu sagen, wie viel bodenlos Dummes und bodenlos Böses er hinter ihren hochmütigsten und umschmeicheltesten Leuten und Dingen sah. Freilich ist durch Gesetze dafür gesorgt, daß niemand alles sagen kann, was er denkt. Gegen Verächtlichmachung sind manche Dinge und Leute geschützt, denen es nicht verwehrt ist, verächtlich zu sein und Verächtliches zu tun.

Rudolfs Auftreten als öffentlicher Redner hatte in Wien nicht das Aufsehen erregt, das seine Freunde und er selber davon erwartet hatten. Denn abgesehen von dem, was er gesprochen, wäre es ja doch jedenfalls als ein Sensationsereignis zu betrachten gewesen, daß ein Mann in seiner Stellung so auftrat – und man hätte doch – wie es Achtungserfolge gibt – auf einen Staunenserfolg rechnen können. Neunzig Hundertel der Einwohnerschaft hatten das Ereignis einfach nicht bemerkt, und jener Bruchteil, der den Vortrag gehört oder darüber gelesen, war davon nicht erschüttert. Die Anwesenden erzählten wohl ihren Bekannten, daß sie dabei gewesen, was aber der Inhalt des Vortrags war, hätten die wenigsten erzählen können und die begnügten sich, ein summarisches Urteil abzugeben – meist sehr von oben herab.

Zufällig hatte Rudolf Gelegenheit, ein Gespräch über seinen Vortrag zu belauschen. Es war in dem von Künstlern und Literaten viel besuchten Kaffeehaus an der Ecke der Kärthnerstraße und Wallfischgasse. Er war hineingegangen, um ein paar ausländische Blätter zu sehen und setzte sich an ein Fenster. Um einem Nebentisch, dem er den Rücken kehrte, saßen ein paar junge Schriftsteller, die sich über ihre neuesten ultramodernen Arbeiten unterhielten.

Nach einer Weile aber stockte das Gespräch. Da ließ einer, ein ungefähr neunzehnjähriger Jüngling mit einer Froschphysiognomie, die Bemerkung fallen:

»Ich war am vorigen Sonntag im Musikvereinssaal –«

[253] »Ach ja – der Dotzky,« fiel ein anderer ein. »Nun, wie war's?«

»Furchtbar vieux jeu, alte Leier – Leitartikelstil – Kanzelgeist im Journalistendeutsch. Hervorkehrung überwundener Standpunkte. Wichtigtuende Naivität. Segensgesten mit der Don-Quixote-Lanze, die bekannte Idealmeierei. Fortschritt, Freiheit, Menschenliebe, allgemeiner Wohlstand – mit einem Wort, Quatsch. Der gute Mann hat keine Ahnung von der Umwertung der Werte, er weiß nichts vom Adel des Herrenmenschen, der vor allem dem Gebote folgen muß: ›Werde hart‹. Der wird kein Überwinder sein. Was er eigentlich will, weiß ich nicht – weiß er vermutlich selbst nicht. Soviel ist sicher: davon weiß er nichts, daß des modernen Menschen einziges Ziel sein soll: eine Individualität sein und – sich ausleben.«

Rudolf zögerte. Sollte er sich umwenden und der Tischgesellschaft sich vorstellen? Dem überlegenen Individuum – das sich auslebte – eine kleine Verlegenheit bereiten und dann seinen Standpunkt behaupten?

Er widerstand der Versuchung und lauschte weiter. Man sprach nicht länger von ihm, sondern knüpfte an das Gesagte an, um über Nietzsche zu dissertieren, und langte bald wieder bei den eigenen Angelegenheiten an, der geplanten Herausgabe einer »ultravioletten Revue«.

Das interessierte Rudolf weniger. Er zahlte und ging. Er schlenderte über die Ringstraße, in Nachdenken versunken. Was er da gehört hatte, summte ihm im Kopfe nach. Besonders das Wort Überwinder.

Wodurch wird das Überwinden gar so sehr erschwert? – Dadurch, daß die Arbeit derer, die etwas überwinden wollen, lange vor ihrer Vollendung von jenen unterbrochen wird, die ihrerseits die Überwinder zum Gegenstand der Überwindung machen wollen. Da bemühte sich z.B. eine junge naturalistische Schule, den verlogen gewordenen [254] Idealismus zu verdrängen; und noch war sie in voller Gärung, noch hatte sie ihre Meisterwerke nicht hervorgebracht, so war schon eine neue romantische Schule daran, den Naturalismus für überwunden zu erklären. Das erste, was manche Leute von einer neuen wissenschaftlichen Theorie erfahren, ist, daß man sie schon längst widerlegt und abgetan hat. Verbreitet wird sie viel später als abgeurteilt. Und nun gar der große Kampf, dem Rudolf sich angeschlossen hatte: die Überwindung der jahrtausendalten Institutionen menschlicher Unfreiheit, ein Kampf, der kaum erst begonnen hat, und zu seiner Austragung der rastlosen und kraftvollen Anstrengung mehrerer Generationen bedürfen wird – der soll auch schon als veraltete Philisterei belächelt werden? ... Wahrlich, Schlagworte wechseln heutzutage schneller als Hutmoden. Man darf sich ja – in der geistigen jeunesse dorée – gar nicht mehr sehen lassen mit einem vorjährigen Ideal! Erst dann läßt sich wieder damit hervortreten, wenn es eine Zeitlang »überwunden« gewesen, und die Reihe an die Überwinder kommt, ihrerseits »vieux jeu« zu werden. In immer rascherem Tempo spielt sich dieses Hin und Her ab, dieses Altwerden des Neuen und Wiederneuwerden des Alten – mit Hinzukommen von wirklich noch nie dagewesenen Begriffen und Dingen. Man müßte dabei ganz haltlos, schwindlig und rasend werden, wenn es nicht ein paar feste, ruhige Punkte gäbe, – einiges, das unter all diesem Wirbelnden, Flüchtigen, Aufblitzenden und Untertauchenden als das Ewigragende erscheint ... Zum Beispiel – Rudolf suchte nach solchen Ewigkeitsbegriffen – zum Beispiel: Liebe, Güte. Er mußte unwillkürlich lächeln: Da bin ich ja wieder mitten drin in der – wie sagte doch der hartgesottene Auslebe-Jüngling – alten Idealsmeierei.

Ein Vorübereilender stieß an ihn an. Da hob er den Kopf und bemerkte, daß er sich vor dem Tor des von der Familie Ranegg bewohnten Hauses befand.

[255] Dem Impulse, hier einen Besuch abzustatten, folgte er rasch.

»Die Frau Gräfin zu Hause?« fragte er den Portier.

»Zu dienen, gräfliche Gnaden,« antwortete der Mann und gab das Glockenzeichen.

Oben ließ ihn der Diener ohne vorherige Meldung in den Salon ein. Gräfin Ranegg und ihre Töchter Cajetane und Christine saßen um einen in einer Salonecke stehenden runden Tisch, auf dessen Mitte eine schirmbedeckte Lampe brannte, und der mit Büchern, Arbeitskörben und Schreibmaterial bedeckt war.

Als Rudolf eintrat, erhoben sich alle drei Stimmen, um ihn zu begrüßen; es schien ihm, als wäre unter den Ausrufen: »Ah, Sie? – Ah, Graf Dotzky – Das ist schön!« auch ein leiser Schrei ausgestoßen worden. War denn sein Besuch gar so überraschend? Sonst war er ja ein häufiger Gast in diesem Hause gewesen und diesen gemütlichen runden Tisch kannte er ganz gut, um welchen die Raneggschen Damen in den Nachmittagsstunden zu sitzen pflegten, mit Lektüre, Handarbeiten und Korrespondenz beschäftigt. War er denn, seit seinem Auftreten, ein gar so exotisches Geschöpf geworden, daß sein Erscheinen erschreckte, wie das des steinernen Gastes?

Die Gräfin aber reichte ihm mit sichtlicher Freude die Hand.

»Setzen Sie sich her zu uns, Graf Rudi ... Es ist wirklich schön von Ihnen, daß Sie bei Ihren neuen, großartigen – (sie suchte nach einem passenden Ausdruck, fand aber keinen) hm, Sachen die alten Freunde nicht vergessen.«

»Ach, meine großartigen Sachen,« antwortete Rudolf lächelnd, indem er sich setzte, »werden wohl viele alte Freunde mir entfremden, nicht mich ihnen.«

Er blickte Cajetane an und war erstaunt, sie so blaß zu sehen, blaß bis in die Lippen.

»Ich war am Sonntag verhindert, Sie anzuhören,«[256] sagte die Gräfin – »aber die Caji war dort mit den Blaskowitz' – sie war ganz entzückt.«

Jetzt war das Gesicht des jungen Mädchens mit Purpur übergossen.

Rudolf schüttelte den Kopf.

»Entzückt? Das Wort scheint kaum zu passen. Die Frage ist: waren Sie einverstanden?«

Cajetane nickte.

»Ja,« sagte sie leise und fügte hinzu: »Neue Horizonte haben sich mir eröffnet ... es war schön.«

Rudolf ergriff ihre Hand:

»Danke, Gräfin ... Das ist das erste Beifallswort, das mich erfreut. Ja, darum handelt es sich: neue Horizonte – die sollen der Gemeinde aufgehen, wenn der Prediger von einem gelobten Lande spricht.«

»Prediger?« fiel Christine ein. »Hören Sie, Graf Rudi, so heilig fassen Sie nicht alle Ihre Zuhörer auf. Ich kenne mehrere, die nennen Sie Agitator.«

»Beweger? Auch kein schlechter Name. Ich wollte, ich könnte die Menschen aufrütteln.«

»Nehmen Sie mir's nicht übel,« sagte die alte Gräfin, »aber vom Rütteln bin ich keine Freundin.«

»Das weiß ich, Exzellenzfrau.«

»Sie wollen sagen, daß ich so konservativ bin, weil ich die Frau eines Geheimen Rates bin? O nein – sondern überhaupt ... es ist doch nicht gemütlich, wenn der Boden, auf dem man steht, zum Zittern, die Säulen, an die man sich lehnt, zum Wanken gebracht werden, nicht wahr?«

»Wo jetzt der Ring steht, da stand noch vor vierzig Jahren die Bastei. Hätte niemand an den Basteimauern rütteln dürfen, so wäre hier nicht Ihr schönes Haus erbaut worden –«

»Ist das aber ein Grund, um mir mein Haus gutwillig zerstören zu lassen? Das können Sie doch nicht von mir verlangen?«

[257] »Nein, das kann ich nicht verlangen. Sehe ich aber wirklich danach aus, als ob das meine Absicht wäre? Wie man doch immer die stillen Aufbauer, die an Stelle des Verfallenden neues Material herschaffen wollen, mit gewalttätigen Zerstörern verwechselt! Was ich bringen wollte, ist ein bißchen Licht, ein bißchen Liebe –«

»Verzeihen Sie, lieber Dotzky, das sind doch keine neuen Sachen. Haben wir nicht Licht genug in der Offenbarung und Liebe genug in unserer schönen Religion? Wenn die Leute nur wirklich fromm wären, aber leider sind sie's zu wenig von Natur und werden dann auch noch irre gemacht von allen den sogenannten Aufklärern.«

»Womit Sie mich meinen?«

»Ach, nur nicht streiten!« rief Christine.

Cajetane seufzte. Ihr war die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, offenbar peinlich und darum beeilte sich Rudolf, es abzulenken, indem er sich um das Befinden der Söhne Ranegg erkundigte.

»Oh, es geht ihnen prächtig ... die Kriegsschule glänzend absolviert ...« Auf dieses Thema gebracht, sprudelte die Rede der Gräfin in vergnügtester Weise weiter. Von den frohen Nachrichten über die militärischen Erfolge ihrer Söhne ging sie zum Schicksal ihrer verheirateten Tochter über und da gab's auch nur Erfreuliches zu berichten: Familienzuwachs, eine Erbschaft, interessante Reisen – kurz ein rosa in rosa gemaltes Bild des Lebens.

Und in dieser Art Leben – so flog der Gedanke durch Rudolfs Sinn – hätte ich meinen Platz bewahren können: Sorgenlosigkeit, Familienfreuden, genußreiche Erlebnisse ... und statt dessen – –

»Und hören Sie,« fuhr die Gräfin fort, »ich will Ihnen etwas anvertrauen ... in wenigen Tagen soll's ja doch offiziell –«

»Aber Mama!« unterbrach Christine.

»Schad't nichts – eine Woche lang wird der Rudi[258] schon schweigen. Also: meine Christine hier ist auch glückliche Braut – Otto Weissenberg –«

»Der älteste Sohn des Fürsten Franz Weissenberg? – oh, ich gratuliere, das ist ja eine der glänzendsten Partien des Landes – und dabei ein lieber, hübscher Mensch – ich freue mich herzlich.« Und er schüttelte Christinens Hand. »Jetzt aber ist die Reihe an Ihnen, Gräfin Cajetane –«

»Oh, an der wäre eigentlich zuerst die Reihe gewesen, da sie unsere älteste ist, aber sie ist ein eigensinniges Mädel.«

Cajetane machte eine unwillige Bewegung und stand auf.

Jetzt kamen einige andere Besucher. Es waren zumeist Leute, die Rudolf kannte. In den allgemeinen Gesprächen, die geführt wurden, vermieden sie jede Anspielung auf den stattgehabten Vortrag im Musikvereinssaale. Es war wie eine zarte Rücksicht. Von ihren »faux pas« erwähnt man doch den Leuten nichts. Allmählich landete die Unterhaltung wieder bei Jagdangelegenheiten und Gesellschaftstratsch; man versuchte gnädig, Rudolf hineinzuziehen, als ob man bei ihm das lebhafteste Interesse für diese salonfähigen Gesprächsstoffe voraussetzte. Wirklich, sie bauten ihm goldene Brücken. Wenn er nur seinen »Schritt vom Wege« bereuen wollte und wieder vernünftig werden – sie würden ihn ja wieder als ganz normal behandeln.

Cajetane hatte sich an das andere Ende des Salons begeben, wo das Klavier stand. Sie machte sich dort mit Ordnen der Notenhefte zu schaffen.

Rudolf ging zu ihr hin. Er hielt es in der Mitte der anderen nicht länger aus. Ein plötzlicher Entschluß war ihm gekommen: in diesem Kreise würde er sich nicht mehr als Besucher, als kameradschaftlicher Standeskollege bewegen. Streit und Kampf aufnehmen? Das [259] ja – mit jedem und allerorts – aber höfliche Gemeinplätze austauschen, harmlos konversieren, als ob nichts vorgefallen wäre, als ob er sich nicht feierlich von den hier geltenden Anschauungen losgerissen hätte – sich noch mit einer gewissen Nachsicht patronisieren lassen? Nein, das nimmermehr. Dies sollte seine letzte Visite im Raneggschen und ähnlichen Salons sein.

Doch zu Cajetane zog es ihn. Der mußte er noch einmal die Hand drücken. Er ging zu ihr hin.

»Was suchen Sie in diesen Noten?«

Sie hatte ihn nicht kommen gesehen. Jetzt wandte sie sich rasch um; wie ein Schauer oder wie ein elektrischer Schlag durchschüttelte es ihre Gestalt.

»Habe ich Sie erschreckt?«

»Nein, ich ... ich ... oh, Graf Rudolf –«

»Was denn, Cajetane – was haben Sie? Ich wollte Ihnen nur Adieu sagen – ich gehe.«

»Das begreife ich.«

»Wie meinen Sie?«

»Ich meine, daß Sie sich dort unmöglich wohl fühlen können.« Und sie deutete mit dem Kopf nach der Richtung, wo die Gesellschaft saß.

»Sie haben recht – ich fühle mich dort nicht wohl. Obwohl es ja eigentlich mein von Geburt auf gewöhntes Milieu ist.«

»Sie aber sind neugeboren – Sie haben sich ein neues Reich erwählt und das ist nicht von –« sie wiederholte die Kopfbewegung wie vorhin – »nicht vondieser Welt.«

»Sie sind ein merkwürdiges Mädchen, Cajetane. Sollten Sie auch zu einer anderen Welt gehören?«

»Gehören noch nicht, aber mich dahin sehnen – ja.«

»Seit wann?«

»Seit – seit – Ihrem Abschiedsfest in Brunnhof – und seit Ihren Vorträgen und Broschüren.«

[260] »Meine Broschüren haben Sie gelesen? Da möchte ich doch –«

Das Gespräch wurde durch die Dazwischenkunft Christinens unterbrochen. Da empfahl sich Rudolf von der Hausfrau und den anderen und ging.

[261]

XXVII

Nach dem Burgtheaterabend verbrachte Sylvia eine ruhelose, aber süß ruhelose Nacht.

Ihre Liebe hatte sich, das fühlte sie, zu einer mächtigen Leidenschaft entfaltet, zu etwas, gegen das es kein Ankämpfen mehr gab. Dem Geliebten hätte sie vielleicht noch entsagen können – aber ihrer Liebe nicht – ebenso wie man ja einen Trunk von sich weisen kann, nicht aber den Durst. Der brennt, ob man will oder nicht.

Schon lange hatte das Delnitzkysche Paar kein gemeinschaftliches Schlafzimmer mehr, Sylvia war also allein. Gegen zwei Uhr, da sie durchaus keinen Schlaf finden konnte, machte sie Licht. Sie warf die Decke von sich und sprang vom Bette herab. Ein langes, spitzenbesetztes Nachtgewand fiel ihr bis zu den Knöcheln und die nackten Füßchen verschwanden in dem flockigen Fell, das vor dem Bette auf dem Teppich lag.

Sie hüllte sich in einen warmen Schlafrock, nahm das Licht und ging in das Nebengemach – ihren kleinen Salon.

Was sie dort suchte, war Hugos Photographie, die unter anderen Bildern in einer Schatulle auf dem Tisch lag, und das in ihrem Schreibtisch verschlossene Heft der ihr gewidmeten Gedichte.

Sie nahm beides und ging damit ins Schlafzimmer zurück. Hier zündete sie die Kerzen am Toilettetisch und am Ankleidespiegel an. Sie wollte Helle um sich

[262] Auf dem Toilettetisch erblickte sie die Blumen, die sie am Abend an ihrem Kleiderausschnitt stecken hatte – nunmehr verwelkte, aber desto stärker duftende Tuberosen. Sie nahm das Sträußchen auf und sog dessen betäubenden Atem ein – das brachte ihr die ganze Stimmung des herrlichen Theaterabends zurück.

Dann setzte sie sich auf den Toilettesessel nieder, ihrem eigenen zurückgestrahlten Bilde gegenüber. Abwechselnd sah sie auf dieses und auf Hugos Photographie, blätterte in dem teueren Heftchen und küßte die sterbenden Tuberosen.

Was in den glühenden, so oft gelesenen Liedern stand, und was sie als ihr dargebrachte Huldigung hingenommen und als kunstvolle Poesie bewundert hatte – das verstand sie jetzt alles und glaubte es ihm. Was er von seiner Liebe sprach, das war ja auch von dem gleichen Gefühl diktiert, unter dessen Bann sie selber erglühte. Ebenso sehnsüchtig mußte er ihrer gedenken, wie sie seiner; ebenso tief unglücklich würde er sein, wie sie es wäre im Falle hoffnungsloser Trennung, ebenso überirdisch selig beide, wenn sie einander angehören ... Sie hatte Großes zu vergeben und zu versagen – in ihrer Hand lag das Glück und das Unglück zweier Menschen. Sie malte sich beides aus, in wonneschwülen und in schmerzlichen Bildern. Eine Zärtlichkeit überflutete sie, wie sie niemals ähnliches empfunden.

Nachdem sie eine Stunde so gesessen, wurden ihre Lider schwer. Süße Schlaflust befiel sie. Sie mußte sich aufraffen, um nicht auf dem Sessel einzuschlafen. Sie stand auf, verlöschte die Lichter, ließ den Schlafrock fallen und schlüpfte wieder unter die seidenen Decken.

Hugos Bild und Gedichte, sowie das Blumensträußchen hatte sie unter das Kopfkissen geschoben, und es währte kaum fünf Minuten, so lag sie in tiefem – aber nicht traumlosen Schlaf.

Um den Stuck-Plafond des Schlafzimmers lief eine[263] durch Rosenguirlanden verbundene Bande schwebender Amoretten. Als ob diese Rosen entblättert auf die Schläferin herabschneiten, so lind und so betäubend war der Traum, der sie umfing.

Vom Arm des Geliebten weich umschlungen, schaukelt sie in einer Barke auf saphirblauem See. Längs der Ufer Gärten und Terrassen, Haine voll rieselnder Blütendolden, Säulen und Statuen, weiße Pfauen und funkelnde Paradiesvögel, sprühende Fontänen – das Ganze in magische Farben getaucht, bald in Purpur eines Sonnenuntergangs erglühend, bald in violettem Glanz, als wäre über See und Land elektrisches Veilchenlicht ergossen; über der Barke ein goldenes Dach und auf ihrem Boden ein mit sterbenden Tuberosen überstreuter Teppich aus Hermelin. Kühlfächelnde Lüfte, und von weitem süße Musikklänge – ein Festesrausch für alle Sinne; aber jedes andere Entzücken überragend, das leidenschaftliche Vollglück ihrer Liebe – –

Vielleicht hatte dieser Traum mit allen seinen Bildern nur eine Sekunde ausgefüllt, aber im Gedächtnis der Erwachenden war's, als hätte er stundenlang gedauert. Als sie die Augen öffnete – es war schon Tag – da machte sie die schnell wieder zu, um sich den Traum zurückzurufen und ihn womöglich weiter zu träumen. Das Weiterträumen gelang nicht; aber das Zurückversetzen in seine Stimmung brachte ihr – als wär's ein Erlebnis, eine Offenbarung gewesen – ein neues Bewußtsein, eine neue Kenntnis, die Kenntnis eines Seligkeitsgrades, von dem sie bisher nicht geahnt hatte, daß ihr Lebensthermometer ihn erreichen könnte.

An diesem Morgen wollte sie nicht mit Anton zusammenkommen. Sie ließ sich die Frühstücksschokolade auf ihr Zimmer bringen, ebenso die Zeitungen. Sie verschlang die Berichte über die gestrige Erstaufführung. Es waren nur kurze Notizen in der Theater-und Kunstrubrik – die eigentlichen Besprechungen pflegen erst in [264] den folgenden Tagen die Feuilletons zu füllen – aber schon heute war in sämtlichen Blättern der volle Erfolg konstatiert und der Verfasser des toten Sternes als ein lebendiger, am Dichterhimmel glanzvoll aufgehender Stern begrüßt.

Sylvia labte sich an diesen Kritiken. Sie genoß das Lob, als wäre es eine ihrer Liebe erteilte Sanktion.

Und was nun? Lange blieb sie in Gedanken vertieft. Das Ergebnis ihres Nachsinnens war, daß sie ein Billett an Hugo schrieb, des Inhalts:

»Ich wünsche, ich befehle, daß Sie mir acht Tage fernbleiben. Bald erhalten Sie Aufschluß.«

Dann klingelte sie ihrer Jungfer, um sich in Straßentoilette zu werfen, ließ anspannen und fuhr zu ihrer Mutter.

Baronin Tilling, welche wegen starker Erkältung das Zimmer hüten mußte, und daher gestern verhindert gewesen, der Burgtheateraufführung beizuwohnen, war eben auch damit beschäftigt, in den Blättern die Kritiken zu lesen; es interessierte sie lebhaft, zu erfahren, ob der Sohn ihres treuen alten Hausfreundes Erfolg geerntet hatte. Sie saß in einem zum knisternden Ofenfeuer geschobenen Fauteuil, ein Tischchen mit den Zeitungen neben sich. Ihre Tochter erblickend, rief sie erfreut:

»Ah, Du bist's Sylvia – das ist schön von Dir ... Du kommst nachsehen, wie's mir geht? Nun, wie Du siehst: viel besser – ich habe da gerade über Bressers Stück gelesen ... Du warst ja drin – erzähle, wie war's? Aber was hast Du – Du siehst so eigentümlich aus, so feierlich? ...«

Sylvia hatte hastig Hut und Mantel abgelegt, sie war blaß und sichtbar erregt.

»Was ich habe? Das wirst Du gleich erfahren ... Und wie das Stück war? Wundervoll. Hugo ist ein Genius. Ich bete ihn an.«

»Kind, was redest Du?«

[265] »Soll man das nicht sagen dürfen? ... Seiner Mutter nicht? Seiner besten Freundin soll man's verschweigen, wenn ein großes Gefühl –«

»Ein verbotenes Gefühl, Sylvia.«

»Mutter, Mutter, ein solches – solches – Polizeiwort von Dir! Verbotene Gefühle kann es doch ebenso wenig – noch weniger geben als verbotene Meinungen! – Nur das Verkünden kann einem untersagt werden von irgend einem Büttel der offiziellen Ordnung und Moral – aber doch nicht von Martha Tilling!«

»Also sag', was Du mir zu sagen hast, mein Kind.«

Sylvia schob einen Schemel herbei und ließ sich zu Marthas Füßen nieder:

»Ich will's machen wie in alter Zeit ...«

Mit dem Rücken an Marthas Knie gelehnt, das Gesicht dem Zimmer zugekehrt, begann die junge Frau zu reden, leise, langsam, eintönig, in längeren und kürzeren Absätzen.

»Ich bete ihn an – und will die Seine werden.«

Martha unterdrückte einen Ausruf.

»Ich habe mir vorgenommen, Dich nicht zu unterbrechen,« sagte sie. »Sprich weiter.«

»Anton hat mir die Treue gebrochen, ich bin frei ... ›In Reinheit durchs Leben gehen‹: Das habe ich Dir geschworen – und auch mir selber ... und ich will es halten.

Mit keiner Lüge, keiner Falschheit werde ich mein Tun beschmutzen. Eine Larve vors Gesicht halten? Nein. Wessen hätte ich mich zu schämen? Im Gegenteil: stolz bin ich auf meine Liebe und stolz auf die seinige ... Sich verstecken, verschleiern? Nein. Im Gegenteil: ein Diadem setze ich mir auf.

O, meine hiesige Welt, mit der werde ich brechen müssen, das weiß ich wohl. Die würde mir mein stolzes Lieben nicht verzeihen. Ja, wenn ich mich versteckte, wenn ich meinen Mann und sie alle zu betrügen trachtete, und [266] sie durchschauten mich – dann wären sie voll Nachsicht ... etwas Geflüster, listiges Augenzwinkern – eine Nummer mehr auf der amüsanten Liste der chronique scandaleuse doch von der Besuchs- und Einladungsliste würden sie mich nicht streichen ...

So aber, wenn ich es verschmähen werde zu lügen – werde ich verpönt sein: ›Sie wissen schon? Die Sylvia Dotzky – mit dem jungen Dichter durchgegangen (sie werden es doch durchgegangen nennen), sollen in Italien leben – abscheulich!‹

Warum gerade in Italien? Das erzähle ich Dir später ... ich habe einen Traum geträumt – da war unserer Liebe solch ein Schauplatz gegeben voll südlicher Renaissancepracht ... vielleicht finde ich das an irgend einem italienischen See oder Meeresstrand. Und wie er da arbeiten und schaffen wird – in seiner Seligkeit die Welt bereichern, mit den Gaben seines Genius ...

Übrigens, zwei Menschen auf dem Gipfel des Glücks, ist das nicht auch schon eine Bereicherung der Welt ...

Ich danke Dir, daß Du mich nicht unterbrichst – aber ich kann mir denken, was Du nun einwenden wolltest: ›Wie lange soll der währen, dieser Glücksparoxismus? Was dann, wenn der Rausch verflogen, die Jugend geschwunden ist ... was dann?‹ – –

Nun, nach einem ›Dann‹, das hinter dem Ziele meiner und seiner Sehnsucht liegt, nach dem fragen wir wahrlich nicht. Sollte das Glück, wie ich es mir denke, nur die Dauer eines einzigen Maimondes haben, das würde hundert solche Existenzen aufwiegen, wie die, denen ich sonst entgegenvegetiere ...

Und dann, wer weiß? Für das Alter kann uns auch noch ein schöner Frieden blühen. Selbst den Satzungen der Welt können wir ihre Tribute entrichten. Ich kann ja auch Bressers Gattin werden – wie Cosima Bülow die Gattin Wagners geworden. Ich will mich von Toni scheiden lassen. Es wird hoffentlich nicht schwer sein; dann [267] kann er seine Geliebte heiraten und seinen Knaben – Du siehst, ich weiß alles – legitimieren.

Gibt er mir meine Freiheit nicht – nun dann nehme ich sie mir ... Als mein Recht. Ich lehne mich auf!

Daß eine Frau einem Mann, der sie für eine andere verlassen hat, für den sie selber auch keinen Funken Liebe mehr empfindet – ihre ganze Zukunft opfere, dabei ihr Herz ersticken muß: dieses abscheuliche Unrecht werde ich nicht erdulden. Ich lehne mich auf!

Damit werde ich nicht nur mir, damit werde ich – wie mit jedem Kampf ums Recht – der abstrakten Gerechtigkeit und meinen Leidensschwestern gedient haben.

Da wird immer so viel gezetert und gejammert über Ketten und Joche und Hörigkeiten ... Die Meinen – Du, Mutter, an der Spitze mit Deiner Auflehnung gegen den Krieg, und Rudolf mit seinem Feldzug gegen jegliche Gewalt ... aber das Jammern und Zetern hilft nicht: abschütteln muß man. An der Hörigkeit sind die Hörigen schuld mit ihrer sträflichen Geduld ... Ein gebeugter Nacken: ist das schön? Nein – schön ist das zurückgeworfene Haupt, das achilleische Lockenschütteln –

Mein Gott, Mama, ich rede etwas überspannt ... die Worte kommen mir so ... Seit Monaten und Monaten lese ich Gedichte und gebundene Sprache – und jetzt, in der Erregung, verfalle ich in diesen Ton ... Und doch, was ich vorhabe, Du wirst es gleich hören, ist nichts Überspanntes, Übereiltes – ist ein überlegter, ruhiger Schritt.

Ich will mit Toni in Ordnung kommen – ihm alles sagen, meine Freiheit zurückverlangen, Scheidung anbieten und dann – sollte er sich auch weigern – mir mein Leben einteilen, wie ich muß – ohne Heuchelei. So lange ich nicht alles geordnet und geklärt habe, will ich Bresser nicht wiedersehen. Es wäre mir – nach dem gestrigen Abend, nach dem heute Nacht geträumten Traum unmöglich – ich versichere Dir, einfach unmöglich – [268] ihm nicht ans Herz zu sinken. Und das will ich nicht, solang ich's nicht ›in Reinheit‹ tue, das heißt ohne Hehl wie ohne Reu.

Siehst Du, ich bin hierher zu Dir gekommen, um meinen Wahrheitsmut auf die Probe zu stellen, um ihn zu festigen ... Werde ich imstande sein, meiner Mutter alles zu sagen? Das fragte ich mich noch auf der Stiege ... Ich habe die Probe bestanden – und jetzt ist mir leicht und licht ums Herz.«

Sie stand auf und blickte ihrer Mutter ins Gesicht: »Nun möchte ich Deine Antwort hören.«

Martha legte den Kopf an die Fauteuillehne zurück und schloß die Augen.

»Bist Du böse?«

Ein tiefer Seufzer hob Marthas Brust.

»Meine armen Kinder –« sagte sie leise.

»Warum arm, Mutter?« Sie kniete wieder neben Martha nieder – »und warum denkst Du jetzt auch an Rudolf? Was hat sein Schicksal mit dem meinigen gemein?«

»Daß Ihr beide gleich zu bedauern seid. Beide fühlt Ihr das, was in Eurer Welt Euch umgibt, als unerträglich. Schranken ... Ihr wollt sie einrennen und stoßet Euch blutig daran.«

»Mag sein, aber wir bringen sie ins Wanken – desto besser für die, die nach uns kommen. Ich frage Dich nochmals: bist Du böse?«

Martha verneinte mit stummen Kopfschütteln. Sylvia küßte sie.

»Jetzt will ich gehen, Mama. Morgen komme ich wieder. Da wirst Du über alles nachgedacht haben und mir Antwort geben können. Jetzt bist Du zu erschüttert. Leb' wohl.«

[269]

XXVIII

Aus Marthas Tagebuch.


Ich werde meinem Kinde behilflich sein – nämlich die Ehescheidungssache zu ebnen trachten. Vielleicht blüht ihr doch noch ein Lebensglück an der Seite des geliebten Dichters.

Glück, Glück ... daß wir alle immer nach diesem Phantom haschen; daß wir immer glauben, wir hätten ein Anrecht darauf, nicht nur für uns selber, sondern auch für alle, die uns teuer sind ... Für mich habe ich ja schon lange abgeschlossen – aber in dem Glücke meiner Kinder hätte ich mich noch sonnen wollen, und wie ist das nun anders gekommen! Beide in Kampf und Sorgen, beide aus den normalen, gesellschaftlich gesicherten Lebenslagen gerissen, die ja der solide Untergrund sind, auf den glückliche Existenzen sich aufzubauen pflegen.

Bin ich nicht mit schuld daran? Ja – ich habe zum Kampfe aufgestachelt. Zu der Aufgabe, Friedrichs Mission fortzuführen, habe ich meinen Sohn aufgezogen. Er hat aber den Kampf auf ein Feld hinausgetragen – ein so großes und fernes – wo ich ihm nicht mehr folgen kann.

Und ebenso Sylvia. Ihr trotziges Auflehnen gegen die Urteile der Welt – wodurch sie zur künftigen Befreiung der Frauen mitgeholfen haben will: auch dahin vermag ich ihr nicht zu folgen. Sie mag ja recht haben ... Von Rudolf hätte ich gewünscht, daß er, unter Beibehaltung seiner Stellung und Gründung eines [270] neuen häuslichen Herdes, sich auf einen Zweig der Kulturarbeit beschränkt hätte: auf die Bekämpfung des Krieges – wie sie in meinem »Protokoll« von Abbé de Saint Pierre und Leibnitz und Kant und – Tilling bis zu Frédéric Passy und Egidy reicht. Da sich einreihen, zu den Kongressen die Kraft seiner Persönlichkeit mitbringen, das Propagandawerk durch seine pekuniären Mittel unterstützen, in hohen politischen und höchsten Machtkreisen, bei denen er doch kraft seiner – nunmehr aufgegebenen! – Stellung Zutritt hatte, Proselyten zu machen trachten: das war's was ich von ihm erhoffte. Aber er ist weit darüber hinweggeflogen – zu weit, beinah ins Uferlose. Freilich: alle Übel sind mit einander verschlungen und ein Geist vermag auch die ganze Verkettung zu übersehen; aber positiv helfen, wirken, vorwärts bringen, das kann jeder einzelne nur auf einzelnem Gebiet. So scheint es mir wenigstens.

Verloren sind darum seine Arbeit und sein Streben nicht; zur allgemeinen Einsicht, wie der künftige Tempel gebaut sein soll, kann er beitragen und dadurch zur Inangriffnahme seiner Errichtung anfeuern, aber des Erfolges wird er sich nicht freuen können, der sich an das tatsächliche Einfügen eines kleinen Bausteins knüpft ...

Doch zurück zu meiner armen Sylvia. Man mag noch so großen Anteil nehmen an dem Gang der öffentlichen Ereignisse, an den Phasen – den auf- und niedersteigenden – der Kultur, das Nächstliegende: Freude und Sorge, Glück und Unglück im eigenen Hause – das drängt sich doch in den Vordergrund des Denkens und Handelns. Was soll ich nur tun, um da helfend einzugreifen? Mit Delnitzky reden? Mein letzter Auftritt mit ihm hat zwar eine Schranke zwischen uns aufgerichtet ... aber wenn ich doch ihn zu bewegen trachtete, Sylvia freizugeben? Ich wünschte beinah ebenso heftig wie sie selber, die Fesseln dieser unseligen Ehe gelöst zu sehen.

Und mein anderer Wunsch wäre, daß Rudolf nicht[271] so herzenseinsam bliebe ... ach, meine armen Kinder! Egidy hat auch Familienbande – hat eine Häuslichkeit, die ihn tief beglückt. Das hinderte ihn nicht, der Allgemeinheit eine Kraft zu weihen, die immer noch im Wachsen begriffen ist. Ich setze einiges von dem hierher, was er mir erst gestern schrieb. Briefe von solchen Menschen gehören ins Tagebuch, denn sie sind Erlebnisse:

»– – An Umsturz braucht zunächst gar nicht gedacht zu werden – nur an den Einsturz, den Zusammenbruch einer veralteten Weltanschauung.

Zum Umsturz – d.h. zum Drunter und Drüber, zu einem Schreckenszustand kann es nur kommen, wenn die Vertreter der bisherigen Ordnung in trauriger Verblendung, oder gar aus selbstischen Gründen, sich gegen den Zusammenbruch veralteter Vorstellungen auflehnen, sich gegen den Einsturz unhaltbarer Gestaltungen anstemmen. Daß sie den Zusammenbruch hindern können – daran ist ja natürlich nicht zu denken, so wenig sich jemand einbilden darf, daß er diesen Einsturz veranlaßt hat.

Die Gemeinsamkeit ist ein lebender Organismus, dessen Schäden nur von innen heraus, nur durch ein neues, reines, warmes Herzblut geheilt werden können. Keine Empfindelei, kein Sich-verlieren in Betrachtungen, kein klingelndes Wortgetöse. Sich-entschließen-Wollen. Jeder in seiner Weise auch tun. Wir wollen praktische, wollen verwirklichungsvolle Tatidealisten sein.

Nicht mit einem Male wird alles anders werden, sondern allmählich natürlich; aber das Tempo entscheidet. Allmählich sagen alle, es kommt nur darauf an, ob langsamer Schritt – eins – nochmal zurück – eins – nochmal zurück – zwei ... (Sie kennen doch den Kasernenhof?) oder natürlicher, etwas flotter, meinetwegen auch mal bißchen Geschwindschritt – braucht ja nicht Sturmschritt mit tambours battants zu sein. Und es wird. Es muß werden. Der Durchbruch der neuen Weltanschauung wird – nicht ohne Weh und Ach – [272] aber doch als ein natürlicher Vorgang, eine Geburt sich vollziehen.

Sie sprechen von meiner Arbeitskraft, verehrte Baronin. Nun ja, ich habe Arbeitskraft und Schaffensdrang und wie sehne ich mich danach, beides unmittelbar zur Geltung zu bringen. Geredet und geschrieben haben schon viele; wurden sie aber dann vor das ›Tun‹ gestellt, so versagten sie; sie schlossen elende Kompromisse mit der seichten Unabänderlichkeit und anderen Elendsbegriffen ab. Die Ehrlichkeit, die Übereinstimmung, das In-Übereinstimmung-bringen von Lehre und Leben, darum handelt es sich für mich. Und darin weiche ich nicht um eine Nagelbreite von meiner Erkenntnis zurück.«

Wahrlich, ich kenne keinen Menschen, auf den besser als auf Egidy die Worte paßten:


Von Halbheit halte den Pfad rein,
Der ganze Mann setzt ganze Tat ein,
Und wahre Ehre muß ohne Naht sein.

(Ernst Ziel.)


Daß solche Menschen leben, wie Moritz von Egidy, und in die Welt hinaustreten, ihre Lehren zu verkünden, das ist doch ein großer Trost. Selbst wenn man an die Macht der Heroen nicht glaubt, wenn man meint, daß die Kulturentwicklung sich unabhängig vom Einfluß einzelner vollzieht, so kann man diese einzelnen – wenn nicht als Bildner, so doch als Symptome der Kulturwandlung betrachten. Von der langsamen, aber stetigen Entfaltung der Anti-Kriegsbewegung – dieser mein Lieblingsaspekt jener Wandlung – gibt mir mein »Protokoll« fortgesetzt Kunde. Bei der letzten Konferenz – in Bern – der interparlamentarischen Union sprach Bundespräsident Schenk die Worte: »Es freut mich, so viele Volksvertreter zu sehen, die für Friedensjustiz und Abrüstung ihre Stimme erheben; noch mehr würde es mich freuen, wenn offizielle Vertreter der Regierungen zu einer Konferenz [273] über denselben Gegenstand zusammenträten. Und eine solche Konferenz wird kommen.«

Ob sich diese Wahrsagung erfüllen wird? Die Idee von einer Umkehr in dem allgemeinen Rüstungswettlauf ist schon in die Kabinette gedrungen, das weiß ich. Lord Salisbury hat vor kurzem ein vertrauliches Dokument vorbereitet, in welchem die jährlichen Kosten des Militärs in Europa detailliert aufgestellt waren. Da zeigte es sich z.B., daß in den Jahren 1882 bis 1886 die Staaten Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn, Großbritannien, Spanien und Italien zusammen eine Summe von 974715802 £ einzig für Heereszwecke verausgabt hatten. Das Memorandum war anfänglich ausschließlich für das englische Ministerium bestimmt, aber Lord Salisbury teilte es dem Deutschen Kaiser mit, der so frappiert davon war, daß er privatim seine Absicht kundtat, eine europäische Konferenz einzuberufen zwecks Erwägung praktischer Maßnahmen, den allgemeinen Frieden zu sichern. Daraufhin erhielt die halboffizielle Presse den Befehl, die Frage aufzuwerfen – das Jahr 1890, ich erinnere mich, brachte eine förmliche publizistische Kampagne über diesen Gegenstand. Das Projekt wurde in Frankreich schlecht aufgenommen, wo man sich auf Elsaß-Lothringen als auf ein jeden Abrüstungsgedanken ausschließendes Hindernis berief. Der Deutsche Kaiser ließ hierauf die Idee fallen. Solche Ideen pflegen aber nach einer Zeit wieder aufgenommen zu werden, wenn nicht an derselben Stelle, so an einer anderen. Ideen sind – Kraft, daher ebenso keimfähig und unvertilgbar wie Stoff.

[274]

XXIX

Als Rudolf an jenem Nachmittag das Raneggsche Haus verließ, verfolgte ihn Cajetanes Bild und Stimme. Ihre Worte klangen ihm nach, und was er heraushörte, erweckte einen Verdacht in ihm: sollte sie etwa die anonyme Briefschreiberin sein?

Nun, ein Grund mehr, dieses Haus fortan zu meiden. ... Noch einmal an diese Kreise durch neue Bande sich fesseln zu lassen, sich abermals mit Leuten von so verschiedenen Lebensinteressen und Lebensauffassungen verschwägern? – nein, das wollte er nicht. Cajetane war ein liebes Ding und, wie es schien, etwas verbrannt in ihn, daher auch das momentane Bewundern seiner Taten und Schriften; wie bald aber würde, wenn die erste Schwärmerei abgekühlt, wieder das alte Naturell zum Vorschein kommen, und wie würde sie dann versuchen, geradeso wie es Beatrix getan, ihn von seinen »Extravaganzen« abzubringen und in den Schoß des alleinseligmachenden Aristokratismus zurückzuführen.

Und er selber: der Kampf, den er aufgenommen, füllte seine Seele vollständig aus. Füllte sie mit Sorgen, Ärger, Sehnsucht, Hoffen, – kurz, mit einer großen Leidenschaft. Daneben war nicht Platz für Herzens- oder gar Heiratsangelegenheiten. Höchstens – er war ja doch ein junger Mann – später einmal für kleine galante Zerstreuungen; aber auch daran dachte er gegenwärtig nicht.

Er schlenderte über den Ring dahin. Der Abend war schon hereingebrochen. In den Auslagfenstern funkelten die Gas- und elektrischen Flammen. Kunsthandlung, [275] Blumenhandlung, Fahrradhandlung, Schmuckhandlung – eine neben der anderen zeigte ihre Reichtümer und ihre Lebensgenußlockungen. Vor einem erzherzoglichen Palais, dessen erste Etage in Licht strahlte, hielt eine Reihe von Equipagen – offenbar ein großes Diner ... Aus dem Grand Hotel, an dem er jetzt vorüberging, drang eine Musikwoge – nun ja, zur Table d'hote spielte ein Orchester –; ein junges Paar in Reisekostüm kam eben unter dem Tor hervor und schritt – von Portier und Hoteldirektor begleitet, zu einem mit eleganten Koffern und Taschen bepackten Wagen: »Zum Orientexpreß – Kutscher – schnell –«

Hier freilich sah die Welt aus, wie die beste aller Welten, hier hatte man nach Reformen kein Verlangen ... Mit plötzlichem Entschluß winkte Rudolf einem Fiaker. Er wollte ein ganz verschiedenes Stück des hauptstädtischen Lebens anschauen – lernen, beobachten, Erfahrung und Anfeuerung suchen zu seiner Aufgabe.

»Wohin, Euer Gnaden?« fragte der Kutscher.

»Weit in die Vorstadt hinaus – irgend eine Vorstadt, nahe bei der Linie – zu irgend einem Gasthaus –«

»Was für ein Gasthaus?«

»Wo es gerade Volkssänger, oder lieber noch: wo es eben eine Versammlung gibt oder ähnliches ...«

»Ich versteh', Euer Gnaden, zufällig is in Margarethen draußen, beim ›Goldenen Apfel‹, heut Siegesfeier oder so was politisches. Is das recht?«

»Ganz recht – fahren wir zum ›Goldenen Apfel‹.«

Nach einer Viertelstunde hielt der Wagen vor dem Wirtshaus, ein unansehnliches, nur stockhohes Gebäude.

Der Kutscher öffnete den Schlag:

»Hier sein mer, Euer Gnaden – da ist der Eingang.« Er zeigte auf eine Tür im beleuchteten Erdgeschoß.

»Gut. Warten Sie da.«

Es war ein mit Bierdunst und Zigarrenrauch gefüllter [276] Raum, den Rudolf jetzt betrat, ein länglicher, niedriger Saal. Ungefähr zwanzig besetzte kleine Tische und im Hintergrund eine lange Tafel, um die dichtgedrängt etwa dreißig Männer saßen. Nur einer davon stand mit hochgehobenem Glase: »In diesem Sinne –« also der Schluß eines Toastes, und die Tafelrunde brachte ein sogenanntes »donnerndes Hoch« aus.

In der Nähe dieses Ehrentisches war an einem kleinen Tischchen noch ein Platz frei. Hier ließ sich Rudolf nieder und bestellte ein »Krügel« Bier. Erstaunte Blicke – von Gästen und Kellnern – streiften ihn, denn seine Erscheinung paßte wenig zu der gewohnten Kundschaft des Lokals. Diese bestand – nicht aus Arbeitern, sondern aus allerlei Gewerbtreibenden und »Hausherren« vom Grund: Pfaidler, Selcher, Fleischer – behäbige Kleinbürger, sich selber ungeheuer wichtig dünkende Wähler.

Es war richtig so wie der Fiaker es gesagt: eine politische Siegesfeier. Der Kandidat der anwesenden Stimmenabgeber war gegen einen »liberalen« Gegenkandidaten mit großer Majorität durchgedrungen. Jetzt war der kleine Mann gerettet und die Korruption überwunden und der Glaube der Väter befestigt und was die Konsequenzen eines solchen Wahlsieges mehr sind.

Alles dies hörte Rudolf aus den einzelnen Sätzen heraus, die aus der allgemeinen Unterhaltung zu ihm herüberdrangen. Das ganze untermengt mit boshaftgemeinen Brocken und Schmähausrufen, wie: »Na, wir wollen's ihnen zeigen«, »Blutaussaugerpack«, »Mir sein mir und lassen uns nix g'fallen«, »Außa mit die tiafen Tön«.

An Rudolfs Tischchen saßen zwei junge Männer von widerlichem Aussehen; der eine fahl und mager, der andere feist und blaurot im Gesicht; gekleidet schienen sie in »von Herrschaften abgelegte« Anzüge, mit verknitterten Hemden und lose gebundenen schmutzigen Kravatten. Die beiden unterhielten sich miteinander, aber nicht über Politik, [277] sondern über verschiedene Malis und Resis und Mizzis, deren Feschigkeit und »harbe Reize« sie einander rühmten. Sie gehörten aber auch zu der Gesellschaft der Ehrentafel, denn als der vorige Toast beendet war, hatten sie mit ihren Krügeln hinübergewunken »Prosit, Spezi«.

Ein großer Ekel schnürte Rudolfs Kehle zu. Das also sind die Stoffe, aus denen die Landesgesetzgebung gebraut wird – Leute von solchem Bildungsgrad, tief unter Null – von solcher Gesinnungsroheit ... die gehören zum Räderwerk der Maschine, die eines großen Reiches Geschicke webt!

Zu diesem moralischen Ekel gesellte sich der physische. Die Burschen pafften an Virginia-Stummeln und spukten alle Augenblicke auf den Fußboden; wenn sie ihre Biergläser zu den Lippen führten, sah man wie ungewaschen ihre Hände und wie niemals geputzt ihre abgebissenen Nägel waren. – Glückliche Zustände, menschenwürdiges Dasein für alle? – Jawohl, das ist das Ziel, dazu gehört aber auch, daß würdige Menschen herangezogen werden – moralisch und physisch reine Menschen. Anders ausgedrückt:schön hat ein Geschlecht zu sein, das glücklich zu werden verdient – mehr noch: um glücklich werden zu können ... Aus solchen Gedanken wurde Rudolf durch ein lautes »Meine Herren« gerissen, das der Mann auf dem Ehrenplatz der Tafel, offenbar der Gefeierte des Abends, ausstieß, indem er mit dem Messer an sein Glas klopfte und sich erhob, zum Zeichen, daß er reden wolle.

»Bravo, bravo!« riefen die andern und verstummten dann mit erwartungsvollen Mienen.

»Meine Herren, oder vielmehr, meine Freunde (Bravo!), meine verehrten Kampfgenossen! Ich bin mir bewußt, voll und ganz bewußt, welche Pflichten mir mein Sieg, den ich Ihnen, den ich Ihrer Gesinnungstreue danke ... mein Sieg mir auferlegt und diese Pflichten, das gelobe ich ... will ich ausführen – unentwegt, voll und ganz (Bravo!). Ohne Furcht und ohne Scheu werde ich [278] die Mängel aufdecken ... und die Hallunken entlarven die – die abscheulichen Hallunken, welche – welche –«

»Na ja, nieder mit die Juden!« kam einer dem Redner zu Hilfe.

»Ja – ich werde das Mandat unserer christlichen Bevölkerung hoch halten und zeigen, daß die verfolgten, zurückgesetzten Christen wieder ihre Rechte geltend machen ... und daß das urgemütliche, urehrliche und urlustige Wienertum ... das goldene Wienerherz – kurz unsere alten kaisertreuen, gottesfürchtigen und doch so kreuzfidelen Gesinnungen sich – wie soll ich sagen – von den Einflüssen der – oder vielmehr den Aufdringlichkeiten einer spekulativen Rasse von Parasiten mit voller Kraft – das heißt mit kraftvoller Entschiedenheit stets und immer und überall schützen, befreien, kurz –«

»Kurz davonjagen, die Juden,« resümierte wieder die Aushilfsstimme.

»Davonjagen, davonjagen,« riefen nun alle im Takt und applaudierten frenetisch.

Da hielt es Rudolf nicht länger aus. Er sprang auf und trat an den Tisch.

»Meine Herren« – seine Stimme klang fest – »auch ich bin ein Wiener Wähler und bin auch schon selber Kandidat gewesen – mein Name ist – doch der Name tut nichts zur Sache. Wollen Sie mir gestatten, ein Wort zu sagen?«

»Wer san mer denn?« »A schöner Herr.« – »Hoffentlich a Spezi.« – »No, so reden S'« tönte es von verschiedenen Seiten.

»Ich bin kein Spezi, wenn Sie darunter einen Gesinnungsgenossen verstehen. Aber da Sie« – er wandte sich an den Gefeierten – »im Abgeordnetenhaus auch Gegner finden werden, so werden Sie es wohl vertragen, daß einer Ihnen hier entgegentrete.«

»Also a Liberaler, o je!« rief der Angeredete. »Aber nur heraus mit der Sprach.« Und er nahm eine parlamentarische [279] Haltung an, indem er die Hand in den Westenausschnitt schob.

»Ein Liberaler?« wiederholte Rudolf. »Ich weiß nicht recht, was Sie unter dieser Bezeichnung verstehen. Einfach als Mensch möchte ich sagen, daß es im tiefsten Grade traurig ist, wenn eine Parole des Hasses und der Verfolgung den Ausgangs- und Zielpunkt einer politischen Aktion darstellt –«

»Oho,« rief jemand. »Se san wohl selber a Jud.«

»Zufällig nicht –«

»Nachher a Judenknecht, a bezahlter. Da haben's hier nix zu schaffen, in einer G'sellschaft von redliche Antisemiten. – Schauen's daß weiter kommen.«

Rudolf verschränkte die Arme. Er war totenbleich, aber nicht vor Angst, sondern vor innerer Empörung.

»Gut,« sagte er, »ich versetze mich einen Augenblick an Ihre Stelle. Sie sind Antisemiten. Der Titel ist ja sehr gut getragen. Nicht nur unter einfachen Bürgersleuten wie Sie, auch in hohen und höchsten Kreisen ist die Sorte vertreten, und auch Gelehrte und Professoren verteidigen diese Anschauung von allerlei ethnographischen und nationalökonomischen Standpunkten, aber Sie, Sie bringen, wie ich sehe, nur Ihr Temperament mit – nur so ein Stückchen gesunden Haß und Verachtung – bitte sagen Sie mir also, wie wollen Sie Ihr Programm ausführen? Was soll denn mit den Juden geschehen?«

»Was mit ihnen g'schehen soll? Nach Palästina jagen oder umbringen kann man's leider nit. Aber verhindern kann man's, daß Richter oder Lehrer werd'n – nix kaufen soll man in die jüdischen G'schäft – und wenn mögli, die Güter von die Reichen – von die Rothschilds und dergleichen – einziehn. Und kan Umgang mit ihnen haben – auch mit die Getauften nit –«

Ein anderer fiel jetzt ein, der Grimmigsten einer:

»Ich möcht schon mittun, wenn sich a Jüd taufen läßt – so wie der heilige Johannes es tan hat – ihn[280] ganz einitauchen – dann aber sein Kopf so lang unterm Wasser tauchen, bis er dersauft.« Das hübsche Scherzwort erregte beifälliges Gelächter.

Rudolf hatte sich dem Festtische mit der Absicht genähert gehabt, mit ein paar aus seiner inneren Bewegung quellenden Worten etwas Aufklärendes über die Pflichten und Ziele von Volksvertretern zu sagen, – zu demonstrieren, daß durch Haß und Verfolgung nichts Ersprießliches geleistet werden könne; an Herz und Vernunft hatte er appellieren wollen und zeigen, wie diese beiden, wenn in den Dienst der Mitbürger gestellt, diesen zu moralischer und materieller Erhebung verhelfen können. Aber nach dem, was er jetzt gehört, sah er ein, daß eine solche Sprache hier ebenso wenig verständlich wäre, wie etwa eine griechische Ode vor einem Trupp von Irokesen, und er verzichtete auf jeden weiteren Versuch, mit den Anwesenden zu diskutieren. Nur nach einem Worte suchte er, das seiner ganzen Entrüstung über den wahrgenommenen barbarischen Tiefstand Luft machte – aber er fand es nicht.

»No, is der Herr jetzt paff? Sieht er ein, daß man gegen so stramme Parteileut' wie wir, nit aufkommen kann – daß wir für unser christliches Volk einstehen werden, gegen alle Juden und Judenliberalen, sowie gen alle Freimaurer und Sozi. Unser altes Wien, mit sein' goldenen Herz, mit sein' frommen Sinn, darf uns von die Eindringlinge und ihre Knecht' nit verschandelt werd'n: No, sagt der Herr noch immer nix?«

»Ich sage, daß ich Sie ebenso tief bedauere, als – verachte.«

Und er wollte sich zum Gehen wenden. Aber da brach ein Sturm los. Alle sprangen von ihren Sitzen auf, Schimpfworte flogen durcheinander, worunter der Ruf »Jud, Jud« am häufigsten erscholl, weil er in solcher Mitte als die gehässigste Beschuldigung gemeint ist. Einer warf seinen Bierkrug nach Rudolfs Kopf, doch ohne [281] ihn zu treffen. Zwei Leute – die Burschen, an deren Tisch er vorhin gesessen – packten ihn an den Schultern und, während nunmehr der ganze Saal in den Schrei: »Außi, außi, werft's ihn außi« ausbrach, wurde der Überwältigte zum Ausgang gedrängt und so unsanft herausbefördert, daß er auf das Pflaster fiel. Hinter ihm schlugen die Exzedenten die Tür wieder zu.

Die Straße war leer; nur der Fiaker stand da. Erschrocken sprang der Kutscher herbei und half seinem Fahrgast vom Boden auf.

»Jessas, Maria und Josef, Euer Gnaden, haben's Ihnen weh tan?«

»Nichts, nichts ...« wehrte Rudolf ab. »Fahren wir wieder auf den Ring zurück.« Und er stieg ein. Im Wagen bemerkte er, daß er an einer Stirnwunde blutete.

Es war aber nur ein Ritzer. Am folgenden Tage spürte er nichts mehr davon. Aber eine andere Wunde hatte ihm der Vorfall geschlagen. Eine tiefe Verletzung seines Glaubens an die Menschheit.

[282]

XXX

Hugo Bresser erwartete mit Ungeduld das versprochene Wort. Nach zwei Tagen traf es ein:

»Ich will Dein sein. Aber ohne Falsch und Hehl. Erst muß ich mich befreien. Also noch Geduld. Ich schreibe wieder. Bis dahin ist Dir mein Haus verschlossen. Aber nicht wahr? Das Wort genügt – ich wiederhole es: so wahr ich weiter leben will und kann – Dein will ich sein.«

Von diesen Zeilen aufs tiefste erregt, setzte sich Hugo sogleich an seinen Schreibtisch, um zu antworten. Seine Pulse flogen, ein seliger Rausch erfaßte ihn und mit fliegender Feder schrieb er auf die erste Seite vier glühende Strophen – ein Triumphlied über das Thema: »Du willst mein sein« vielleicht das schönste Lied in dem Zyklus »An sie«, – dann fuhr er in Prosa fort:

»Sylvia, sag' nicht zum Glücke ›Später!‹ Später kann ja eins von uns zweien gestorben sein – was wäre das für ein Raub! Du willst Dich frei machen? Bist Du's denn nicht? Spürst Du nicht, daß in beglückter Liebe eine solche Kraft liegt, daß sie alle Ketten, Skrupel, Rücksichten spielend über alle Dächer schleudert?

Das ist ja wieder ein sklavisches und ängstliches Sichbeugen unter das Joch des fremden Willens, ein Abhängigsein von fremdem Urteil, daß Du da erst Scheidungsurkunden und dergleichen brauchst, daß Du erst dem ganzen Kreis von Tanten und Sippen höfliche Anzeigen machen willst: Meine Verehrtesten, ich liebe Hugo Bresser und will die Seine werden.

[283] Wen geht das etwas an? Das ist unsere Welt und eine so große, so freudenhelle, daß sie für uns das ganze übrige in Nichts und ins Dunkel verdrängt ... Du bist zu stolz, um zu lügen? Vor allem sollten wir zwei zu stolz sein, unser Glück der kalten Menge bloßzulegen ... ein Glück, das um so süßer wäre, je verschwiegener es bleibt. Nicht ängstlich verschwiegen, nur sorglos, als wäre die Mitwelt nicht da. Die Liebe hat solche Isolierungsgewalt. Sie umgibt das selige Paar mit einem undurchsichtigen Netz – aus Flammen gewoben. Das ist der echte Feuerzauber.

Ich bin von einem Hochmut! ... Mir ist, als trüge die Erde niemand, der mir ebenbürtig ist. Der König aller Könige bin ich, denn Du willst mein sein ... niemand ist würdig, mir die Schuhriemen zu lösen, aber vor Dir lieg' ich im Staube – Herrin.

Doch wieder nein: nicht Dein Knecht will ich sein, sondern Dein Schützer – Kind! Du weißt nicht, welche sanfte, schmelzende Zärtlichkeit ich Dir bereit halte; ruhen sollst Du an meinem Herzen, Dich in meine Arme schmiegen, im Bewußtsein voller Sicherheit und Geborgenseins. Du hast ja viel Trübes durchgemacht – Stunden der Bitterkeit, des Ekels, des Aufruhrs – Trost brauchst Du und Rast und Stille. Fürchte nicht, daß Dein Geliebter Dich in einen ewigen Wirbelsturm der Leidenschaft mit sich reißen will – ich will Dir Frieden geben. Minuten lodernder Extase – aber auch Stunden heiterer Vernünftigkeit. Oder auch Unvernünftigkeit; wir sind gescheit genug jedes für sich, um miteinander kindisch sein zu dürfen. Ja, fröhlich wollen wir sein – scherzen und lachen. Scherz ist der Page der Königin Freude – und diese ist die Gemahlin des Königs Glück.

Dann wollen wir auch – in anderen Stunden – ernst sein, dem Leben mit seinen Rätseln tief ins Auge schauen, wir wollen – –

Ich breche ab – Ungeduld erfaßt mich. Diesen [284] Brief trage ich selbst in Dein Haus, um ihn Deinem Mädchen in die Hand zu geben, damit er Dir schnell und sicher zukomme. Und Du: hab' Erbarmen und hab' Mut.«

Zur selben Zeit war Sylvia gleichfalls mit Schreiben beschäftigt. Es war ein Brief an ihren Mann.


»Lieber Anton!

Es gibt Dinge, die sich leichter schriftlich als mündlich sagen lassen. Ich wünsche – und wahrscheinlich komme ich dabei Deinem eigenen Wunsch entgegen – eine Trennung unserer Ehe.

Du liebst seit mehreren Jahren eine schöne Künstlerin, die Dir einen Sohn geschenkt hat; Du verbringst mehr als die Hälfte Deiner Zeit in ihrem Hause – das Du ihr geschenkt hast; Du versuchst nicht einmal den Schein der Treue gegen mich zu wahren – kurz, Du hast tatsächlich unsere Ehe schon gelöst.

Ich war allein und dadurch – frei. Ich aber blieb allein und hielt meinen Part in dem von Dir gebrochenen Vertrage aufrecht. Jetzt aber muß es anders werden. Ich habe mein Herz verschenkt und will meine Freiheit vindizieren. Betrügen will ich nicht. Weder Dich noch die Welt. Ich bitte Dich also, übereinstimmend mit mir Schritte zu einer regelrechten Scheidung anzubahnen. Von meiner Liebe lasse ich unter keinen Umständen. Solltest Du in eine Scheidung nicht willigen, so würde ich einfach abreisen – und nicht allein.

Ich besitze selbständiges Vermögen, das weißt Du, und kann wo immer unabhängig leben.

Die Hauptsache ist jetzt gesagt. Das Übrige kann, wenn Du einverstanden bist, mündlich verhandelt oder zwei Rechtsfreunden zur Durchführung übergeben werden.

[285] Nicht ganz ohne Wehmut scheide ich von Dir; denn ich erinnere mich der Zeit, da ich glaubte, wir beide würden mit- und durcheinander glücklich werden. Es ist anders gekommen. Du warst der erste, der sein Glück fern von unserem Herde gesucht und gefunden – die Reihe ist an mir. Nur möchte ich –«


Bis hierher hatte sie geschrieben, als die Jungfer eintrat und ihr Hugos Brief übergab.

Sylvia erkannte die teuere Schrift, aber sie zerriß nicht sofort den Umschlag. Erst wollte sie ihr eigenes Schreiben vollenden und an seine Bestimmung kommen lassen

»Warte einen Augenblick,« sagte sie und mit vor Erregung zitternder Hand – der unerbrochene Brief wirkte auf sie wie eine geliebte Nähe – warf sie noch ein paar Schlußzeilen auf den begonnenen Briefbogen und schob ihn in ein Kuvert. »So, das trage hinüber zum Herrn Grafen und übergib es ihm selber.«

»Wissen Frau Gräfin nicht, daß der Herr Graf heute früh abgefahren ist? Der Kammerdiener hat ihm seinen Koffer gebracht, dann einen Fiaker geholt ... und der Herr Graf ist auf die Südbahn, und dem Portier hat er gesagt, daß er erst morgen oder übermorgen zurückkommt – –«

»Ach so – einerlei ... leg' den Brief auf seinen Schreibtisch.«

Jetzt war sie allein und vertiefte sich in Hugos Zeilen. Sie las sie einmal durch, dann ein zweites Mal, Satz für Satz – jeden ein paarmal hintereinander; einzelne Worte wiederholte sie laut und lauschte ihrem Klang, als wären sie Musik: »Ein Netz – aus Flammen gewoben ... Dein Schützer, Kind ... schmelzende Zärtlichkeit ...« Alle Töne, die der Briefschreiber angeschlagen – Leidenschaft, Wagemut, Ruhesehnsucht, glühende Extase und schäumender Frohsinn, alles das [286] vibrierte in ihrer Seele nach, und weckte solches Verlangen nach seiner Nähe, daß sie »aus Erbarmen« mit sich selber mehr noch als mit ihm, ihn am liebsten gleich gerufen hätte ... Aber sie widerstand der Lockung. Rufen würde sie ihn nicht, aber wenn er käme ... Bei dem Gedanken fühlte sie eine Beklemmung, von der sie nicht hätte sagen können, ob sie Schmerz oder Seligkeit war – –

Gewaltsam raffte sie sich aus dieser Träumerei empor und klingelte ihrer Jungfer.

»Schnell, einen Fiaker,« befahl sie. Sie hatte den raschen Entschluß gefaßt, ihre Mutter aufzusuchen und bei ihr den Tag zu verbringen. Sie wollte nicht allein bleiben – allein mit ihrer gefährlichen Sehnsucht.

Aber Baronin Tilling war nicht zu Hause. Auch sie war – so sagte der Diener – diesen Morgen von Wien weggefahren, nach Grumitz, in geschäftlicher Angelegenheit.

Den Wagen hatte Sylvia fortgeschickt, also ging sie zu Fuß wieder in die Richtung des Rings zurück. Bei einer Kreuzung mußte sie stehen bleiben, um ein paar Wagen vorüberfahren zu lassen und plötzlich hörte sie eine Stimme hinter sich:

»Sylvia!«

Sie wandte sich um.

»Ach!« rief sie – Hugo Bresser stand neben ihr. Er war ebenso bewegt wie sie, ebenso blaß wie sie. Mit weit aufgerissenen Augen, einen fast schmerzlichen Zug um den zitternden Lippen, blickten sie einander eine Weile starr an.

Ein eilig Vorübergehender, der ein Paket trug, stieß unsanft an ihnen an; da kamen sie rasch zur Besinnung und erinnerten sich, daß sie auf belebter Straße waren. Sylvia wandte sich zum Gehen und als wäre es selbstverständlich, schritt Hugo neben ihr.

»Sie haben meinen Brief –« begann er. Das [287] »Du«, welches er niedergeschrieben, wollte ihm auf diesem öffentlichen Orte nicht über die Lippen und auch von dem Briefe zu reden, schien ihm gar nicht am Platze und so vollendete er nicht den begonnenen Satz und fragte etwas anderes:

»Woher kommen Sie?«

Diese Wendung war ihr eine Erleichterung. – »Ich komme von der Wohnung meiner Mutter – sie ist aber heute nach Grumitz gefahren, ich habe sie nicht getroffen. Wie sind die weiteren Aufführungen Ihres Stückes ausgefallen?«

»Ich habe ihnen nicht beigewohnt. Es ist merkwürdig, wie gleichgültig mir das Stück geworden ist – vielleicht, weil ich jetzt mein eigenes Drama erlebe ...«

Sie ging schweigend weiter und er blieb an ihrer Seite. Nach einer Weile sprach er wieder:

»Ich habe heute morgen den Grafen Delnitzky fahren gesehen – mit einem Koffer auf dem Bock; ist er abgereist?«

»Ja, auf ein oder zwei Tage!«

»So sind Sie allein?«

Sie verstand den Sinn dieser Frage und antwortete:

»Ich empfange niemand.«

Sie kamen an einen Fiakerstand vorbei.

»Fahr m'r, Eu'r Gnaden?« fragte einer von den Kutschern. Hugo blieb stehen und blickte Sylvia ins Gesicht:

»Wie wär's, wenn wir einen Wagen nähmen, und –«

»Wohin?«

»Einerlei ... nach Schönbrunn, auf den Kahlenberg – es wäre ja doch nach Eden.«

Sie schüttelte den Kopf und ging weiter. Eden war ja auch ihr Ziel. Aber in Italien sollte es sein – und wenn sie sich ganz frei gemacht. Seine Worte hatten eine Vision in ihr erweckt, die in Freudenglanz getaucht war. [288] Und überhaupt: glücklich – einfach glücklich machte sie seine Nähe.

Nach ein paar Schritten brach Hugo das Schweigen:

»Es hat mir jemand geschrieben: Ich will Dein sein.«

Sie machte eine heftige Bewegung mit der Hand, die er als Bitte auffaßte, er möge nicht hier, auf offener Straße an diesem heiligen Geheimnis rühren – und er begann von anderen Dingen zu reden: von einer hämischen Kritik, die eine Wochenschrift über sein Stück gebracht; von Rudolf, dessen Vortrag er leider nicht gehört – doch in seiner Stimme lag so innige Wärme, als hätte er stets nur wiederholt: ich liebe Dich – ich liebe Dich in Zeit und Ewigkeit. In ihr steigerte sich das Verlangen, dieses Wort von seinen Lippen zu hören und es ihm selber zu sagen, und so waren die einsilbigen, bedeutungslosen Antworten, die sie ihm gab, gleichfalls von verhaltener Zärtlichkeit durchzittert.

Manchmal verstummten sie auch ganz und gingen nur so nebeneinander her: nicht Arm in Arm, doch so nah, daß ihre Arme sich streiften ... Sylvia kam sich vor, wie in eine nie gekannte Lage versetzt. Alles, was sie umgab, war ihr fremd und eigentümlich, als hätte sie ähnliches niemals erlebt – das Geklingel der Trambahn, die Spiegelscheiben der Auslagen, die geschäftigen und die flanierenden Leute – alles war so unwirklich, es gehörte nicht zu ihr und sie gehörte nicht hinein. Überhaupt, was sie jetzt durchbebte, war nur Präludium, Prolog ... das eigentliche Stück sollte erst folgen. Auch ihr ganzes früheres Leben war wie ausgelöscht, die Gegenwart galt nicht, aber das Kommende ... Sie wagte nicht, gerade hineinzuschauen in diese Verheißung, gerade so, wie man nicht in die Sonne schaut – –

So waren sie vor dem Dotzkyschen Hause angelangt. Sie wollte ihm nun die Hand reichen und Adieu sagen – aber sie war wie gelähmt und tat es nicht. Sie[289] konnte nicht einmal stehen bleiben, sondern bewegte sich mechanisch weiter und trat unters Tor. Er desgleichen. Da fing ihr Herz wild zu pochen an. Sie wollte gar nicht mehr, daß er sie verlasse.

Auf der Treppe bot er ihr den Arm und an der Flurtür zog er die Klingel. Jetzt konnte sie ihn noch immer wegschicken – sie tat es nicht.

Der Diener öffnete. Sylvia trat über die Vorzimmerschwelle; Hugo hinterdrein. Der Diener nahm seiner Herrin die Jacke und dem Besucher den Überrock ab und öffnete dann eine Tür. Sylvia ging voran; ohne sich umzusehen durchschritt sie die ganze Flucht der Zimmer, bis sie in ihrem kleinen Salon anlangte. Sie warf ihren Hut auf ein Möbel und wandte sich um. Hugo, der ihr in dieses Heiligtum gefolgt war, stand mit dem Rücken an die geschlossene Tür gelehnt und öffnete die Arme. Mit einem halberstickten Schrei sank sie hinein.

»O mein Geliebter, Geliebter, Geliebter ...« Ihr gesenkter Kopf war an seiner Brust geborgen. Geborgen: das war das rechte Wort für das, was sie empfand: das Vollgefühl der Erfüllung.

Er hob ihren Kopf empor und bog ihn zurück, um ihr tief in die Augen zu schauen:

»Mein, mein ...« dann drückte er seinen Mund auf ihre wie küssedurstend geöffneten Lippen.

So blieben sie zwei selige Minuten umschlungen. Dann riß Sylvia sich los und entfernte sich ein paar Schritte.

Sie ließ sich in eine Sofaecke fallen mit einem tiefen zitternden Seufzer. Er näherte sich.

»Dort,« sagte sie und wies nach einem seitlich stehenden, etwas entfernten Fauteuil.

Er gehorchte. In dieses Zimmer, das wußte er von früher her, konnte jeden Augenblick jemand hereinkommen. Nur vorhin, als er an den Türflügel gelehnt gestanden, war man vor Überraschung sicher gewesen.

[290] »Ich habe nicht geglaubt,« sagte Sylvia, »daß ichso lieben kann.«

»Wie ich Dich liebe, weiß ich längst ... Schon damals – erinnerst Du Dich – in Brunnhof, bei dem plötzlichen Gewitter, wie Du mir entgegenliefst und ausglittest – als ich Dich in meinen Armen auffing, schon damals wußte ich: für mich kann es nur einen Himmel auf Erden geben – Dich besitzen.«

»Ja, wir werden glücklich sein, über alle Begriffe glücklich ... Und Du wirst dabei ein noch größerer Dichter werden, als Du schon bist.«

»In dieser Stunde ist mir jeder Ehrgeiz erstorben – höheres kann ich nicht erreichen, als Dich –«

»Nicht erstorben, nur betäubt. Mir ist auch so zu Mute ... wie in einem Taumel – und doch so ruhig, ruhig ... Teurer –«

Sie streckte die Hand aus. Er rückte mit seinem Fauteuil näher, um diese Hand ergreifen zu können. Nun sagten sie sich in geflüsterten Worten – Hand in Hand und Aug' in Auge – die hundert innigen, törichten Dinge, die wie gesprochene Liebkosungen sind. Und schließlich, trotz der gefährlich offenen Tür, fanden sich ihre Lippen wieder in einem langen, weltentrückenden Kuß.

So entrückend, daß sie nicht hörten, wie jene Tür tatsächlich aufging und jemand bis in die Mitte des Zimmers kam.

Erst ein zornig ausgestoßener Fluch schreckte sie auseinander. Hugo sprang auf – ihm gegenüber stand Anton Delnitzky.

Mit dem Ausruf: »Elender, frecher Schuft!« stürzte dieser nun auf Hugo los und versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht.

Sylvia stieß einen Schrei aus und sank zu Boden – besinnungslos

[291]

XXXI

Während im Delnitzkyschen Hause dieses Drama sich abspielte, war Rudolf im Begriff, Wien zu verlassen, um einige seiner im Ausland abzuhaltenden Vorträge zu absolvieren.

Zwar hätte es nicht gedrängt: bis zum ersten versprochenen Vortrag dauerte es noch vierzehn Tage, aber der Vorfall im Vorstadtwirtshaus hatte ihm einen solchen Ekel eingeflößt, daß er das sehnsüchtige Verlangen empfand, so schnell als möglich eine andre Luft zu atmen und mit ganz neuen Eindrücken den so peinlichen Eindruck zu verwischen.

Er hatte solche Eile, daß er nicht einmal von Mutter und Schwester sich verabschieden wollte. Nur über eines wollte er sich vor seiner Abreise noch aussprechen, nur eine gewisse Warnung vorzubringen, fühlte er sich verpflichtet.

Zu diesem Zweck suchte er Herrn von Wegemann auf und traf ihn glücklich zu Hause. Es war eben dessen Frühstücksstunde.

»Minister Allerdings« lud Rudolf ein, mit ihm eine Omelette und ein Beefsteak zu teilen, was dieser bereitwillig annahm, weil er wußte, daß es sich bei Tisch, und namentlich nach Tisch, bei Kaffee und Zigarre, am besten plaudern ließe. Er hatte die Absicht, sich über die Sache, die ihm am Herzen lag, gründlich auszusprechen. Zwar war Herr von Wegemann nicht mehr aktiv an der Politik beteiligt, aber er war in stetem Verkehr mit den leitenden Männern und gehörte mit [292] allen seinen Ansichten und Neigungen der herrschenden Partei an. Dazu war er der intimste Freund desjenigen Staatsmannes, der damals den höchsten Einfluß besaß, und der als ein Mann von aufrichtig kirchlicher Gesinnung, dabei von universeller Bildung und lauterstem Charakter bekannt und allgemein – auch von seinen Gegnern – hochgeachtet war.

Ein gar gemütliches Hagestolzen-Heim war es, in dem Herr von Wegemann hauste. Alles, was ihn umgab, war gediegen und behaglich. Einige große schöne Frauenporträts an den Wänden ließen annehmen, daß der Minister es verstand, die sorgenlose, angenehme Gegenwart mit noch angenehmeren Erinnerungen an die Vergangenheit zu würzen.

Rudolf empfand eine gewisse leise Anwandlung von Neid, die ihn in letzter Zeit öfters überkam, wenn er einen Menschen beobachtete, der mit sich, mit seiner Existenz, seinem Milieu und seiner Zeit in ruhiger, völliger Übereinstimmung stand; bei dem das ganze Seelenleben – Denken, Wissen, Fühlen – in eine Art System gebracht war; das alles so schön geordnet und friedlich, daß man daneben ganz gut auch seine kleinen materiellen Vergnügungen und Angelegenheiten systematisch betreiben kann, einen geregelten Haushalt haben, sein solides Vermögen administrieren, von der eigenen Klugheit und Wichtigkeit durchdrungen sein, kurz, in der Atmosphäre des engbegrenzten Egoismus sich wohlfühlen, wie der Fisch im Wasser. Während Leute, die wie er nach allen Richtungen andre Zustände ersehnen, Leute, die das Heimweh der Zukunft in sich tragen, sich so heimlos fühlen, so losgelöst von den kleinen Interessen der umgebenden Gegenwart.

Als die beiden Männer nach beendetem Frühstück sich im Rauchzimmer, wo Kaffee und Liköre aufgetragen waren, niedergelassen hatten, begann Rudolf:

»Und nun zum eigentlichen Zweck meines Besuchs. [293] Daß ich mich verabschiede, weil ich heute abend auf längere Zeit Wien verlassen will, sagte ich schon; was der Grund ist, der mich forttreibt, das will ich Ihnen jetzt sagen. Ich habe hier vor kurzem etwas so Revoltierendes erlebt, daß ich eine Zeitlang eine andre Luft atmen muß ... Aber Ihnen, der Sie dableiben, möchte ich etwas ans Herz legen. Auf eine Gefahr möchte ich aufmerksam machen, die ich im öffentlichen Leben aufsteigen sehe.«

»Allerdings – Gefahren sehe ich auch. Zum Beispiel die überhandnehmende Glaubenslosigkeit, der wachsende Materialismus – womit natürlich Verrohung Hand in Hand geht –, die Begehrlichkeit der Massen und dergleichen mehr. Da gilt es eben, daß die edleren Elemente sich zusammennehmen und alles aufbieten, um die subversiven Kräfte nicht aufkommen zu lassen –«

»Bitte,« unterbrach Rudolf, »reden wir nicht in vaguen Allgemeinheiten. Das, was ich sagen will – die Sache, die mir bedrohlich scheint, ist etwas ganz Positives. Es will sich hier eine Partei breit machen, die sich auf eine einzige Idee stützt, nämlich die Idee einer Rassenverfolgung.«

»Na ja – um auch positiv zu reden – Sie meinen die Antisemiten.«

»Ja. Ich weiß, daß diese Partei, oder vielmehr diese Gesinnung sich verbreitet und bis in die hohen und höchsten Kreise heraufdringt, aber sozusagen incognito – während die Wortführer, die da offen diese Gesinnung als ein politisches Programm ins Parlament bringen wollen, in ihren Reihen so bildungslose, oder sich absichtlich roh gebärdende Individuen haben ... Wenn man das gewähren läßt, so werden diese Leute in das parlamentarische und politische Leben einen so rohen Ton, ein so niedriges Geistesniveau einführen, daß dabei – abgesehen von der Verwerflichkeit des Verhetzungsprinzips überhaupt – sämtliche politische Fragen herabgedrückt [294] werden. Wenn ich Ihnen sagen würde, was ich neulich aus dem Munde einiger neugewählter, von der Einwohnerschaft bejubelter Vertreter dieser Partei für Ausdrücke boshaftester, beschränktester Gemeinheit gehört habe – Sie würden schaudern.«

»Ich weiß, ich weiß ... Sind ja einfache Vorstadtbürger – die reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist – im Abgeordnetenhaus werden sie schon den parlamentarischen Ton annehmen müssen ... und anderseits muß man bedenken, daß diese Wahlen doch einen Sieg über viel gefährlichere Kandidaten bedeuten. Von den Antisemiten weiß man doch, daß sie gläubige Christen sind und daß sie alles bekämpfen werden, was die Ultraliberalen und Sozialisten und dergleichen unternehmen wollten, um an den Säulen von Thron und Altar zu rütteln –«

Rudolf wollte etwas sagen, aber mit beschwichtigender Handbewegung fuhr der Minister fort:

»Mein Gott, ich selber habe ja nichts gegen die Juden ... bin ja, wie Sie wissen, häufiger Gast bei unserer haute finance und kenne einige ganz ausgezeichnete Leute unter jüdischen Doktoren ... aber wie gesagt, die Antisemiten, deren Verfolgungsideen man ja durchaus nicht aufkommen zu lassen braucht – haben ihr Gutes. Und wenn man sie unterstützt, so geschieht das durchaus nicht, weil man ihre Ziele erreichen oder ihre Mittel anwenden will, sondern weil sie indirekt dazu beitragen, andre Gegner fernzuhalten.«

»Sie geben also zu, daß jene Partei von oben protegiert wird? Gehört etwa Graf –« (er nannte Wegemanns Freund, den leitenden Staatsmann) »zu diesen Protektoren?«

»Allerdings –«

»Ich kenne ihn doch als einen vornehm denkenden Edelmann, als einen milden Christen, der unfähig wäre, solche Äußerungen zu indossieren, oder solche Gehässigkeit [295] zu fühlen, wie die antisemitischen Wahl- und Hetzreden zu schüren trachten – und doch sollte er es opportun finden, diese Partei zu unterstützen?«

»Mein Freund hat ein starkes katholisches Empfinden. Erst gestern sprachen wir über die überhandnehmende religiöse Gleichgültigkeit –«

»Ich bemerke eher, daß die klerikalen Einflüsse überhandnehmen.«

»In manchen Kreisen allerdings. Anderseits aber –«

»Also, wie denkt Ihr Freund über die Sache?«

»Er sagte – ich habe mir seine Worte genau gemerkt –: ›Je mehr ich diese Fragen erwäge, desto fester und klarer wird meine Überzeugung, daß sie es ganz eigentlich sind, von deren Wendung die Zukunft der Geschicke Europas abhängt. Die Krisis, in der wir leben, liegt in dem Kampf der Revolution gegen die christlichen Ideen, auf denen seit mehr als tausend Jahren die staatliche Ordnung Europas und seine Zivilisation beruht. Siegen diese Ideen nicht, dann wird Europa zugrunde gehen und mit ihm die ganze Ordnung der Dinge. Dann folgt ein Chaos, das so lange dauern wird, bis die christlichen Ideen wieder, wie in den Zeiten Karls des Großen, allmählich die Geister gewinnen und wieder eine neue christliche Ordnung der Staaten und Völker herstellen – was aber weder wir noch unsere Kinder erleben werden. Wollen wir sie vor allen Greueln der Anarchie und der Christenverfolgung bewahren, so müssen wir in Österreich dem Sturm wider die Kirche Widerstand leisten‹.«

Rudolf nickte vor sich hin.

»Das stimmt zu meiner Auffassung,« sagte er. »Man sieht, man fühlt, daß all die Dogmen schwanken, von denen man glaubt, daß sie die Grundlagen der Zivilisation sind – (aber da möchte ich doch zwischen Klammern fragen, ob denn die heutigen Staaten wirklich nach christlichen Grundsätzen verfahren? ... ich wollte es wäre so, dann fielen dreiviertel meiner Anklagen [296] weg!) – also, um dieses hohe Gut, die Zivilisation, zu schützen, muß man kämpfen und im Kampf gilt das Axiom, daß jede Waffe gut sei – gerade so wie der jesuitische (nicht christliche) Satz allenthalben Geltung behauptet: der Zweck heiligt die Mittel. An diesem Satze krankt unser ganzes politisches System. Zwecke – über deren Nützlichkeit man sich täuschen kann, Zukunftsgefahren, die gar nicht existieren, werden als so groß aufgefaßt, daß sofort auch die bösesten Mittel geheiligt erscheinen, und man protegiert Roheit, Verfolgung und allerlei an sich Abscheuliches und Niedriges in der Gegenwart, welches helfen soll, ein vermeintlich Hohes zu erreichen und vermeintlich entsetzliche Zukunftskalamitäten abzuwenden. Daß aber die geduldete Roheit sicher böse Folgen nach sich ziehen muß, übersieht man ... Sehen Sie, verehrter Freund, das ist das ganze Geheimnis, warum sonst gute, wahrhaft tugendhafte Menschen so viel Böses geschehen lassen – sie glauben dadurch noch Schlimmerem vorzubeugen. So haben sich bisher noch alle historischen Schandtaten durch edle Motive begründen lassen und sind mitunter auch aus edlen Motiven verübt worden ... und die Geschichte wird auch solange eine Kette von Greueln bleiben, solange der Kulturmensch nicht jene unselige Formel abschwört und nicht erkennt, daß für keinerlei Zwecke ein Mittel angewendet werden darf, das weniger heilig, weniger rein ist als der Zweck. Wenn Sie Einfluß auf Ihren Freund haben, liebster Herr von Wegemann, und den haben Sie ja – ebenso wie auf andere machthaberische Kreise – dann benutzen sie ihn, um zu warnen ... darum habe ich Sie bitten wollen ...«

»Nein, mein lieber Dotzky, ich enthalte mich jeder Einmischung in öffentliche Angelegenheiten – ich nehme meinen ›Ruhestand‹ ernst. Und außerdem teile ich da weder Ihre Befürchtungen noch Ihre Auffassungen. Sie haben von staatsmännischer Politik keinen rechten Begriff. [297] Da muß man sich wehren, so gut man kann und die Mittel, die man anwendet, nicht nach ihrem idealen, sondern praktischen Gehalt prüfen. Der gute Zweck ist doch die Hauptsache. Wenn wir den monarchischen und den christlichen Gedanken schützen, schützen wir da nicht den Boden auf dem wir stehen und die Luft die wir atmen? Die anderen, unsere Gegner, die haben wieder ein Interesse daran, diese Prinzipien zu unterminieren und tun es mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln – soll man das geschehen lassen? Sie sind ein ganz vortrefflicher Mensch, mein lieber Rudi, ein liebenswürdiger Träumer, aber von dem Ernst und den Pflichten des staatsmännischen Berufs haben Sie keine Ahnung ... Idealismus und Ästhetik und dergleichen sind ganz schöne Dinge, gehören aber auf ein anderes Feld: ins Künstlerhaus, in die Pflegestätten klassischer Studien, aber doch nicht in die Volksvertretung und Ministerkabinette – in diesen muß ...«

Rudolf hatte mit wachsender Ungeduld zugehört:

»Verzeihen Sie, daß ich widerspreche,« unterbrach er jetzt. »Meine Meinung ist die: nachdem Volksvertretung und Ministerkabinette die Stätten sind, wo dem Leben der Völker die Richtung gegeben wird, so obliegt die Pflege des Ideals gerade diesen; denn dahin strebt doch die Kultur: daß die Schönheitsideale und Sittlichkeitsnormen das Leben durchdringen. Wir werden uns gegenseitig nicht überzeugen, sehe ich – es wäre fruchtlos, weiter zu disputieren, dennoch habe ich bei dieser Unterhaltung gelernt, sie hat mir einen tiefen Eindruck in die Ursachen der gegenwärtigen Kämpfe und Kampfweisen gewährt ...«

»Warum sagen Sie ›gegenwärtig‹? Es ist ja immer derselbe Kampf, mein Lieber, wie er seit Erschaffung der Welt getobt hat und wie er in Ewigkeit weiter toben wird – der Kampf zwischen Gut und Böse.«

Rudolf schüttelte den Kopf:

[298] »In Ewigkeit? Das ist wieder eine Verkennung des Entwicklungsgesetzes. Dieser lange Kampf ist aber nur darum bis heute unentschieden geblieben, weil das Gute noch nicht versucht hat, sich durch Gutes durchzusetzen, weil immer noch das Böse als Mittel sanktioniert ward. Ein neues, ganz neues Licht muß die Geister erhellen – und das wird kommen. Gerade so, wie – auf physischem Gebiet – das elektrische Licht entdeckt wurde, wird auf geistigem Gebiet eine neue Erkenntnis erstrahlen, durch die die Macht des sogenannten Bösen – nicht mit Unrecht Macht der Finsternis genannt – endgültig überwunden wird.«

Wegemann zuckte lächelnd die Achseln:

»Schwärmer!«

»Danke,« sagte Rudolf, indem er aufstand. »Ich nehme diese Bezeichnung als Ehrentitel an und – nichts für ungut. Ich füge nur hinzu, daß, wenn ich einigermaßen schwärmerisch von der Größe einer vorhergesehenen Zukunft spreche, ich dabei die kleinen, tunlichen, praktischen Schrittchen nicht übersehe, die schon heute nach jener Richtung getan werden können, und die jeder von uns zu tun sich bemühen soll. Jetzt adieu – und nochmals Dank für die lehrreiche Unterhaltung.«

Am selben Abend reiste Rudolf von Wien ab. Sein Ziel war Venedig. Vom stillen Zauber dieser Stadt, dem er sich durch vierzehn Tage hingeben wollte, versprach er sich Linderung für sein durch die letzten Vorgänge verwundetes Gemüt.

[299]

XXXII

In der Wohnung seines Vaters lag Hugo Bresser. Die Kugel, die ihn verwundet hatte, war zwar glücklich gefunden und entfernt worden, aber noch schwebte der Patient zwischen Leben und Tod.

Im Krankenzimmer herrschte Halbdunkel; die Fenstervorhänge waren zugezogen, denn Hugo vertrug kein Licht, es tat ihm weh. Am Kopfende des Bettes stand der alte Vater, und an der Seite saßen zwei Frauen, Sylvia und Martha.

Nach dem Duell hatte Anton Delnitzky Wien verlassen. Seiner Frau ließ er ein Schreiben zurück, worin er ihr die von ihr verlangte Freiheit gab. Die »Scheidung soll vollzogen werden« – schrieb er – »den Grund hast Du dazu gegeben. Deinen Geliebten habe ich natürlich niederschießen müssen; nach dem was vorgefallen, hatte weder er noch ich eine andere Wahl, als auf den Kampfplatz zu gehen. Und Du und ich können miteinander nichts mehr zu tun haben; wir können uns gegenseitig auch nicht verzeihen, was wir einander angetan. Du hast unsere Ehre tödlich verletzt – und ebenso verletzte ich Deinen Liebhaber. Da gibt es keine Verzeihung – weder für Dich noch für mich. Wir sind miteinander fertig.«

Als Sylvia von der Ohnmacht erwachte, in die sie bei jenem Auftritt gefallen war, befand sie sich auf ihrem Bette, auf das man sie gebracht hatte. Sie wußte nicht, wie lange sie bewußtlos gewesen, noch was weiter geschehen war.

[300] Daß ein Zweikampf folgen würde, wußte sie, und ein fürchterlicher Zorn stieg in ihr auf über die elenden Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft, die als Auskunftsmittel für schwierige Lagen den Mord eingesetzt haben. Als ob das Töten irgend etwas gut machen könnte! Die beiden Männer würden sich schlagen – das war klar. Ein wildes Verlangen, dieses Duell zu verhindern, erfüllte sie – doch wußte sie zugleich, daß jeder Versuch scheitern würde. Was konnte sie tun? Sich dem Gatten zu Füßen werfen? Umsonst! Abzubitten hatte sie ihm nichts – und um das Leben des anderen flehen: was half's? Der andere würde ja selber – sie erinnerte sich des Schlages, den er ins Gesicht bekommen – nicht ruhen, ehe er diese Schmach mit Blut gewaschen. Als ob vergossenes Blut überhaupt etwas reinigen, etwas Geschehenes ungeschehen machen könnte – – o über den geheiligten Widersinn, unter dessen Herrschaft die blöde Welt sich gestellt hat! Oder zu Hugo eilen und ihm sagen: Du gehörst mir, Du hast kein Recht mehr, Dich mir zu entreißen – fliehen wir ...

Aber kaum zum Bewußtsein zurückgekehrt, und diese und ähnliche Gedanken in ihrem gequälten Hirne wälzend, verfiel sie in heftiges Fieber mit Delirium. Und was die nächsten Tage brachten, das wußte sie nicht. Sie nahm nur dunkel wahr, daß um sie Frauen bemüht waren, daß ein Mann ihren Puls fühlte, und daß die Gestalt ihrer Mutter über sie gebeugt war ...

Erst als das Duell schon vorbei war, hatte sie sich wieder erholt. Jetzt mußte sie alles erfahren. Sie forderte es. Sie schrie nach Auskunft – es war ihr Recht ... Martha willfahrte ihr

»Das Duell hat stattgefunden – auf Pistolen – Anton blieb unverletzt und ist abgereist, und Hugo –«

»Ist er tot?«

»Nein, Kind, nicht tot – aber schwer verwundet.«

Jetzt fand sie keine Ruhe mehr, sie mußte zu ihm.

[301] »Aber Sylvia – Du, zu dem Mann, mit dem sich Dein Gatte geschlagen, was würde die Welt –«

»Darnach frage ich nicht – Hugo stirbt vielleicht. Die Welt? – Ihre Satzungen sind es, die Dir Mutter, Deinen Abgott getötet haben, und die den Mann, der mich betrogen, zum Mörder meines Geliebten machten.«

»Dein Geliebter? ... so war er –«

»Wie soll ich ihn anders nennen? – Ich lieb' ihn ja. Die Welt verachte ich und verächtlich wäre ich, tät' ich's nicht ... Gehen wir – komm mit, Mutter, und gehen wir gleich.«

Jetzt war es am dritten Tag seit dem ersten Krankenbesuch der beiden Frauen.

Hugo lag mit geschlossenen Augen da und atmete schwer.

»Schläft er?« fragte Martha im Flüsterton.

Doktor Bresser schüttelte den Kopf:

»Ich glaube nicht.«

Sylvia war blaß und verweint. Noch hoffte sie auf Rettung, aber schon die Möglichkeit – die sogar eine Wahrscheinlichkeit war – daß er verloren sei, und dazu der Anblick seiner Leiden, verursachten ihr so tiefen Schmerz, daß seit drei Tagen und Nächten ihre Tränen fast nie versiegten.

Gestern und vorgestern waren Mutter und Tochter je zwei Vormittags- und zwei Nachmittagsstunden beim Kranken geblieben und am Abend wurde noch um Nachricht geschickt. Augenblickliche Gefahr war noch nicht eingetreten gewesen.

Martha blickte auf die Uhr und stand auf.

»Komm, Sylvia, jetzt wollen wir gehen.«

Die junge Frau erhob sich auch.

»Sollte ihm schlechter werden, so lassen Sie uns rufen,« sagte sie zum Doktor.

[302] Aber als die beiden schon nahe der Tür waren, kam ihnen Bresser nach und sagte bedeutungsvoll:

»Gehen Sie nicht –«

Sylvia erbebte. Sie schaute zu Bresser auf, eine entsetzte Frage im Blick.

Er verstand diese Frage und antwortete:

»Ich fürchte –«

Sylvia flog wieder an die Seite des Bettes zurück und kniete da nieder. Jetzt weinte sie nicht – der Schreck war zu heftig gewesen.

Hugo lag regungslos; der Atem, der durch seine halboffenen Lippen drang, hatte einen leise wimmernden Laut.

Baronin Tilling ergriff die Hand ihres alten Freundes:

»Was fürchten Sie? – Steht es so schlecht?«

»Es steht schlecht.«

Es gab Martha einen Stich. Dabei dachte sie weniger an Hugo, als an den Freund. Der einzige Sohn! – Freude und Stolz seines Alters ... eine so glanzvolle Zukunft vernichtet ...

»Ich habe nicht genügend Vertrauen in meine Kunst – auch nicht in die des Arztes, der ihn jetzt neben mir behandelt – ich habe noch Professor Linden gerufen.« Er wandte sich an die knieende Sylvia: »Gräfin Sylvia, Doktor Linden kann jeden Augenblick kommen. Wollen Sie vielleicht unterdessen ins Nebenzimmer? –«

Sie hob den Kopf.

»Das hat ja Zeit, bis er da ist – und wenn er mich fortschickt.«

»Dann hat er Sie aber schon gesehen.« – Sylvia blickte verständnislos. – »Ich meine, es könnte dann bekannt werden ... Doktor Linden kommt überall herum ... und nach allem, was man in der Stadt erzählt –«

»Ist mein Platz nicht hier, meinen Sie?«

»Mein Gott, die böse Welt –«

[303] Ein Ausdruck tiefster Geringschätzung flog über Sylvias Züge:

»Ich bleibe.« Und wieder vergrub sie den Kopf in die Decke am Bettrand. Bresser hatte sie verstanden: angesichts von Liebe und Tod – diesen beiden erhabenen Gewalten – war dem jungen Weibe das, was er vorhin die Welt genannt, zu einem Nichts geschrumpft.

Der erwartete berühmte Professor kam. Er konnte nur bestätigen, was Doktor Bresser selber gefunden: die Gefahr war groß. Natürlich hatte er die beiden Damen erkannt und wohl darüber gestaunt, daß diejenige, deren Gatte – ihretwegen – den Rivalen verwundet hatte, an diesem Krankenbette weilte, aber er ließ davon nichts merken.

Er verordnete weiter nichts als eine hohe Dosis Chinin zur Niederschlagung des Fiebers. Gelänge es nicht, die 40 Grad-Temperatur herabzudrücken, stiege sie noch über 41, so wäre das das Ende ... aber es war ja möglich, daß ... nun, er wollte am selben Abend noch einmal nachsehen.

Im Vorzimmer ging es lebhaft her. Ein Zeitungsreporter reichte dem andern die Stiegentürklinke. Auch andere Leute in Menge kamen Nachricht zu holen über den Zustand des Dichters. Bressers Diener gab Auskunft über das Befinden und den Zeitungsmenschen teilte er die Bulletins mit, welche dann regelmäßig in allen Morgen- und Abendblättern erschienen. Die ganze Stadt war voll Teilnahme und etwas Skandalsucht mischte sich wohl auch dazu, man erzählte sich in allerlei Versionen, was die Ursache des Duells gewesen und der abgedroschene Satz »cherchez la femme« wiederholte sich in allen geistreich sein wollenden Kommentaren.

Es wurde Abend. Eine schirmüberschattete Lampe in einer vom Bett entfernten Ecke verbreitete nur sehr gedämpftes Licht in dem durch dunkle Tapeten und Holzverkleidungen ohnehin dunkel erscheinenden Raume. [304] Es war sein Studierzimmer, in das der Doktor den verwundeten Sohn hatte betten lassen – das geräumigste Gemach der Wohnung.

Hugo war eingeschlummert. Sylvia saß neben ihm und hielt seine Hand in der ihren. Auf einem Diwan am anderen Ende des Zimmers saßen Doktor Bresser und Martha nebeneinander, in mehr oder minder langen Zwischenräumen leise Worte tauschend.

»Erinnern Sie sich,« sagte Martha nach einer Pause, »unserer Fahrt auf dem Karren von Königinhof nach Horowetz am Tage nach der Schlacht?«

»Ich erinnere mich ... An dem Leichenhaufen vorbei, von dem die Raben aufflogen. Das war doch noch trauriger.«

»Nur schauriger – und ebenso überflüssig.«

»Ja, es ist dieselbe große Sünde: Zweikampf oder Hunderttausendkampf – derselbe Wahn, daß man mit Töten etwas erreichen, etwas beweisen, etwas gutmachen kann. Es ist alles so traurig, so traurig –«

»Mein armer Freund ...« Martha seufzte schmerzlich. Es war ihr unendlich weh zu Mute. Dieser sterbende junge Mann, das verdorbene Schicksal ihrer Sylvia ... Von Rudolf – der hatte auch gar harte Kämpfe aufgenommen – war sie schon länger ohne Nachricht. Die ganze Zukunft ihrer Kinder (an sich dachte sie ja nicht) schien ihr mit einem Male so verrammelt, die ganze Welt so verdüstert. Bilder aus der Vergangenheit stiegen vor ihrer Erinnerung auf, alle so grausig wie das, welches sie vorhin wachgerufen: der vom Leichenhaufen an der zerschossenen Kirchhofsmauer in den von fahlem Mondlicht erhellten Nachthimmel auffliegende Rabenschwarm ... Sie sah den Novemberregentag auf dem Gräberfeld von Sadowa, da der junge Kaiser in Tränen ausbrach – die schmucklosen Särge sah sie, in denen man im Laufe einer einzigen Woche – der Grumitzer Cholerawoche – ihre drei blühenden [305] Geschwister hinausgetragen – und, das fürchterlichste Bild von allen: zusammenstürzend unter dem Feuer des Exekutionspelotons, die geliebte Gestalt ihres Friedrich – –

Der Kranke erwachte.

»Wasser!« bat er leise.

Der alte Doktor stürzte hinzu, aber Sylvia hatte schon ein Glas gefüllt und mit erregungszitternder Hand an Hugos Lippen gesetzt. Er trank mühsam, aber gierig. Dann sank sein Kopf auf das Kissen zurück; er hatte sie wieder nicht erkannt.

Seit Sylvia hierhergekommen – jetzt war es schon am dritten Tage – hatte er noch mit keinem Wort und keinem Blick gezeigt, daß er wußte, wer da neben ihm war. Sie lechzte danach, von ihm erkannt zu werden. Sie wußte, daß ihre Nähe ihn beglückt hätte; es war ihr schrecklich, daß er nicht imstande war, dieses Glück – vielleicht das letzte – noch zu fühlen. Vergebens hatte sie ihm zugeflüstert: »Hugo, Hugo, ich bin's – sieh mich an – Deine, Deine Sylvia!« Vergebens ihm ins Auge geschaut, die verzehrendste Leidenschaft, die innigste Zärtlichkeit im eigenen Blick – seine armen, fieberbrennenden Augen irrten wie hilfesuchend umher und nicht ein Schein von Verständnis und Bewußtsein. Das war ja gar nicht Hugo, der da lag, nicht ihr Dichter, von dem sie angebetet wurde, das war nur ein zuckender, leidender Körper mit zwar noch nicht entflohener, aber abwesender Seele.

Gegen zehn Uhr kam der Professor wieder. Er fand – was auch Doktor Bresser schon konstatiert hatte – daß das Fieber bedeutend nachgelassen.

»Das ist günstig,« setzte er hinzu.

Sylvia erbebte. Wie ein seliger Hoffnungsblitz hatte sie dieses Wort durchfahren.

Beim Fortgehen gab der berühmte Arzt die Möglichkeit zu, daß der junge Mann davonkomme. Die folgende Nacht würde er wahrscheinlich ruhig schlafen. Da wäre viel gewonnen. Und beim nächsten Erwachen – Hugo [306] war wieder eingeschlummert – würde er wohl bei Bewußtsein sein.

»Bei Bewußtsein« – auch dieses Wort durchfuhr Sylvia mit sehnsuchtsheißer Freude – ein Wiedersehen würde das ja sein!

Martha schlug vor, daß man nach Hause fahre. Sylvia aber weigerte sich.

»Ich weiche nicht mehr von hinnen, bis er gerettet ist, oder –«

»Tot« brachte sie nicht über die Lippen. Um keinen Preis hätte sie den Augenblick versäumen wollen, den der Professor vorher gesagt – den Augenblick des zurückkehrenden Bewußtseins. Wenn er erwachte, mußte sein erster Blick auf sie fallen – dann würde es ein glückliches Erwachen sein, das wußte sie.

Als Martha sah, daß ihre Tochter so fest entschlossen war, zu bleiben, verzichtete auch sie auf das Nachhausegehen. Doktor Bresser stellte ihr sein Schlafzimmer zur Verfügung – er selber wollte bei seinem Sohne wachen. Auch Sylvia bot er an, ihr in einem Nebenraum ein Bett aufschlagen zu lassen, sie aber erklärte, daß sie sich von dem Lehnstuhl an Hugos Seite nicht rühren werde – sie könne auch da ruhen. Martha nahm des Doktors Antrag an und zog sich zurück.

Zwei Stunden später. Hugos Atemzüge gingen regelmäßig und ruhig. Bresser lag angekleidet auf dem Diwan und war eingeschlummert, ebenso die Wärterin, die in einem Lehnstuhl neben dem Ofen ruhte. Die einzige Wache im Zimmer war Sylvia, die beim Kopfende des Krankenbettes saß und unverwandten Blickes auf den Daliegenden schaute, obwohl die geliebten Züge kaum auszunehmen waren, denn die Lampe am anderen Ende des Zimmers war noch mehr herabgedreht worden und nur ein ganz schwacher Schein ging davon aus. Die Wanduhr tickte hörbar – vor kurzem hatte sie ein Uhr geschlagen. Im Ofen knisterten die brennenden Scheiter. [307] Von der Straße her, trotz der geschlossenen Läden, dringt von Zeit zu Zeit das dumpfe Rollen eines vorüberfahrenden Wagens – Leute, die von lustigen Festen heimfuhren, vermutlich, und die keine Ahnung hatten von dem Bangen hier oben – ein Bangen, das sich vielleicht bald in wilden Schmerz verwandeln konnte. Der Gedanke, daß der Geliebte sterben würde, drängte sich ihr immer wieder auf. Manchmal quälte sie sich absichtlich damit, sich vorzustellen, daß er schon tot sei – ein Faltenwurf der Decke auf seiner Brust warf einen Schatten, der bei einiger Einbildung wie ein Kruzifix aussah ...

So verging noch eine Stunde. Die Uhr holte schnarrend aus, um Zwei zu schlagen. Zugleich regte sich der Kranke

Sylvia sprang auf und neigte sich über ihn. Seine Augen waren offen. Es durchfuhr sie der gleiche selige Hoffnungsstrahl wie bei Professor Lindens Wort: »bei Bewußtsein«. Vielleicht jetzt ... vielleicht war er – er selber wieder da – –

»Hugo, Hugo, kennst Du mich?« rief sie leise, aber inbrünstig.

Er war in der Tat zum Bewußtsein erwacht. In raschen Erinnerungsblitzen spielte sich in seinem Geiste das Vorgefallene ab: das Duell, die Verwundung, der Transport hierher, die Operation und dann ein leeres Nichts. Und jetzt: ihr Gesicht lag im Schatten, aber die Stimme hatte er erkannt – jetzt, über ihn gebeugt, das Weib seiner Liebe ...

»Sylvia, Sylvia, Du! – So hab' ich Dich wieder?«

»Und auf immer ... bist gerettet – bist genesen ... ein langes Leben liegt vor Dir, vor uns ... Nichts soll uns trennen. – Wie ist Dir? ... Wie fühlst Du Dich?«

»Ich bin glücklich, Sylvia, o so glückl – –«

Er erhob sich ein wenig, fiel aber mit einem durchdringenden Schmerzensschrei wieder in die Kissen zurück.

[308] Da war auch schon Doktor Bresser an der Seite seines Sohnes und beugte sich über ihn.

»Er ist zu sich gekommen,« sagte Sylvia, »er hat mich erkannt. Nicht wahr, Hugo – was ist Dir? ... Hugo, so sprich doch! ...«

Der alte Mann wehrte ihr ab:

»Still, er stirbt – –«

[309]

XXXIII

Martha Tilling an Graf Kolnos.


Grumitz im Juni 1895.


Teuerer Freund.

Innigsten Dank dafür, daß Sie mir Ihre baldige Rückkunft anzeigen und die Adresse ihrer letzten Etappe geben. Da kann ich Ihnen wieder, wie schon einmal, schreiben, was in der langen Zeit Ihrer Abwesenheit in meinen Kreisen vorgefallen.

Es war ein Drama, ein erschütterndes Drama. Sie werden ja alles hören, wenn sie zurückkommen, aber vielleicht mit Übertreibungen und Entstellungen. So sollen Sie zuerst die ganze Wahrheit von mir erfahren.

Wenige Tage, nachdem Ihr – wie nennen Sie's doch? – Ihr »periodischer Reiseraptus« Sie gepackt hatte, Ziel: das Innere Afrikas –, hat sich das Drama abgespielt. Vielleicht ist doch durch die Zeitungen die Kunde davon zu Ihnen gedrungen? Aber Sie lesen ja keine Zeitungen in Ihrem Erholungsexil – und so wissen Sie wohl nichts vom Duell Bresser-Delnitzky. Ja, mein Schwiegersohn hat den jungen Dichter tödlich verwundet: Bresser war – nein, nicht Sylvias Geliebter – er war von Sylvia geliebt. So sehr geliebt, daß sie, unbekümmert um das, was die Welt dazu sagen könnte, an sein Krankenlager eilte – ich mit ihr – und daß sie bei ihm blieb – ich mit ihr – bis zu seinem letzten Seufzer.

Was dann folgte, war herzzerreißend. Mein Gott, ich habe ja in meinem schwergeprüften Leben viele[310] Schauerszenen durchgemacht, die der unbarmherzige Tragödiendichter Tod zu schaffen weiß: die Agonien in den böhmischen Lazaretten, die Cholerawoche in Grumitz, die Hinrichtung meines Liebsten ... zuletzt die Verluste, die meinen Rudolf betroffen – aber ich dachte nicht, daß ich noch einmal einer Sterbestunde beiwohnen sollte, die mir eine ganz neue Art des Schmerzes offenbaren würde. Es ist ja nun vorüber, Gott sei Dank – also kann ich's sagen. In der Stunde, die ihr den Geliebten ihres Herzens entriß, ist meine arme Sylvia in so wahnsinnige Verzweiflung verfallen – daß die anderen es kurzweg Wahnsinn nannten; sie mußte in eine Nervenheilanstalt gebracht werden, wo man sie durch sechs Monate unter strengster Bewachung hielt, denn sie versuchte es mehr als einmal, zum Fenster hinauszuspringen, oder den Kopf an die Mauer zu schlagen. Nicht als bewußten Selbstmordversuch, sondern in Anfällen von Fieberdelirium. Nach und nach wich die Umnachtung ihres Geistes und die Schmerzparoxismen machten einer sanfteren Schwermut Platz; stundenlang weinte sie an meiner Brust – ich besuchte sie natürlich täglich. Nach weiteren zwei Monaten konnte die Anstalt sie als geheilt entlassen und seither lebt sie bei mir. Immer noch tief melancholisch. – Aber, sie ist ja noch jung, ich rechne auf die Heilkraft der Zeit; vielleicht bietet ihr das Schicksal doch noch Trost ...

Die Scheidung ihrer Ehe ist vollzogen. Leider in einer Weise, als hätte nur sie alle Schuld. Anton hat vor kurzem seine Sängerin zur Gräfin Delnitzky gemacht. Diese hat das Theater verlassen und die beiden leben in dem Landhaus, das Anton ihr schon vor Jahren geschenkt.

Und Rudolf? Diese Frage hätten Sie jetzt sicher an mich gestellt, wenn ich Ihnen alles obige mündlich erzählt hätte; denn Sie wissen ja, daß in meinen Gedanken und Sorgen stets meine beiden Kinder den gleichen [311] Platz einnehmen. Sie lesen überhaupt in meiner Seele, Kolnos, und haben mich immer so gut verstanden, – selbst damals, als Sie einem kurzen Irrtum sich hingegeben hatten – haben Sie schnell begriffen, warum es nicht sein konnte ... doch davon reden wir eigentlich niemals. Verzeihen Sie, daß ich da an einer Erinnerung rührte, die ihnen vielleicht peinlich ist ... mir gehört sie eben zu den lieben Erinnerungen ...

Also Rudolf? Er war am Vorabend jenes Duells von Wien abgereist und erfuhr davon erst nach einigen Tagen durch die Blätter. Vom Zustande Sylvias wußte er nichts. Ich wollte ihn nicht benachrichtigen, weil ich wußte, das er eingegangene Verpflichtungen erfüllen mußte und ich wollte ihm diese Aufgabe nicht erschweren. Aber von anderer Seite erhielt er Mitteilung: da löste er seine Engagements und eilte zu mir. Der Mutter und der Schwester in Unglück und Bedrängnis beizustehen: das erkannte er als seine nächste Pflicht. – Und wahrlich, seine Nähe hat mir wohlgetan.

Noch ein anderes liebes Wesen hat sich um mich bemüht – so viel Trost und Aufrichtung als möglich zu bringen getrachtet: Cajetane Ranegg. So oft ich allein war, kam sie zu mir; nur wenn Rudolf mir Gesellschaft leistete, ging sie fort. Sogar in auffallender Weise; sie mied ihn, so gut sie konnte. Daß sie ihn lieb hat, weiß ich schon lange ... ich habe es Ihnen ja auch gesagt, und meinen Wunsch dazu, daß er sie heimführe, aber er will von Wiederverheiratung nichts hören.

Als Sylvia vollständig genesen war, übersiedelten wir nach meinem alten Grumitz, dem ich für Brunnhof untreu geworden war. Ach, wie ist der Ort so bevölkert von den Gespenstern meiner Jugend ... Rudolf brachte mich hierher und reiste dann wieder ab – er mußte das Versäumte nachholen. Was er tut und denkt und plant – das erzähle ich Ihnen mündlich. Ich bin ja noch immer [312] mit ganzer Seele bei den großen Aufgaben, die mein Gatte hinterlassen und mein Sohn übernommen hat. So sehr der eigene Kummer – um meine unglückliche Sylvia – mich auch bedrückt, so sehr ich selber leidend war, alle diese Sachen haben mein Herz stark hergenommen (Herz nicht im bildlichen Sinne, sondern als Organ), und meine Gesundheit ist arg erschüttert – so habe ich doch nie aufgehört, für jene Ideale – die meine Religion sind – zu sinnen und zu sorgen. Im Unglück flüchtet ja jeder zu seiner Religion.

Was soll ich Ihnen noch erzählen? Max und Elisabeth Dotzky, die seelenvergnügt auf Brunnhof residieren (ob Rudolf da nicht übereilt gehandelt hat? ... er wollte Ketten abstreifen, und doch: wie viele schleppt er noch hinter sich!) also diese beiden glücklichen Leutchen haben – pour comble – auch noch einen Thronerben bekommen – – Armes, kleines Fritzi ... es war ein gar so lieber Bub'! Auch etwas, was ich nie recht verschmerzen kann. In der »Kunst, Großmutter zu sein«, war ich eine so frohe Künstlerin ...

Von Lori Griesbach höre ich schon lange nichts. Sie soll eine große Betschwester geworden sein: tägliche Frühmesse, Paramentensticken, Sammlung für Kirchenbaufonds, Protektion katholischer Vereine, Unterstützung der Missionen, Verkehr mit dem hohen Klerus u.s.w. Den Tod ihrer Tochter und ihres Enkels betrachtet sie – so sagte sie neulich einem gemeinsamen Freunde – als ein göttliches Strafgericht für die Familie Dotzky, weil die Dotzkys nicht von echter Gläubigkeit durchdrungen sind. Nun ja – es war ein harter Schlag für die Arme. Möge auch sie in ihrer Religion Trost und Stütze finden ... Vorausgesetzt, daß dieses fromme Gehaben nicht nur das Mitmachen einer eleganten Mode ist; denn es wird ja in unseren Kreisen täglich mehr und mehr als bon ton betrachtet, sich recht kirchlich zu zeigen – nach dem von oben gegebenen Beispiel.

[313] Hier in Grumitz leben wir drei Frauen äußerst still und freuen uns nur der sommerlichen Natur – »es ist die Zeit der Rosenpracht«. Wir drei, sagte ich. Cajetane Ranegg ist nämlich mein Gast. Ich bin ihr unendlich dankbar dafür, denn ihre Gesellschaft ist für meine traurige Sylvia eine Wohltat, ein wahrer Segen. Cajetane ist jung – und obwohl sie auch einen Herzenskummer hat – heiterer, sonniger Gemütsart. Das ist ein Umgang, der für meine Rekonvaleszentin doch viel ersprießlicher ist, als der einer selber leidenden und wahrlich recht gedrückten alten Frau.

Nicht, daß ich mich gar so alt fühlte ... Aber in den Augen junger Leute ... Es muß ein Naturgesetz sein, daß der Jugend wieder nur Jugend als vollgültig erscheint. –

Ob meine Freundin Ranegg damit einverstanden ist, daß ihre Tochter hierher kam und sich der meinen so sehr angeschlossen hat, weiß ich nicht. Die Scheidung, die Duellaffäre, die auf Bressers Tod folgende »Nervenkrankheit«: alles das sind Dinge, die einer so korrekten Frau wie Gräfin Ranegg gewiß Skrupel einflößen; dagegen ist diese Frau doch auch wieder viel zu weitherzig, um etwa ihrer Tochter verbieten zu wollen, uns beide mit ihrer lieben Nähe zu trösten. Auch mir ist Cajetane eine wahre Aufrichtung. Ich liebe sie einfach. Und sie mich – das fühl' ich genau. Wenn ich auch weiß, daß ich ihr nur per procura teuer bin, das tut nichts. Im Gegenteil: ich bin ihr dankbar für das, was sie für meinen Sohn empfindet. Ich kann mit ihr über seine Pläne sprechen – sie folgt mit liebevollstem Verständnis. Von ihm erscheint ihr alles erhaben und schön. Vielleicht würde sie, wenn er das Gegenteil von dem verträte, was er vertritt, dies ebenso bewundern – ich weiß es nicht; aber es tut mir wohl, zu wissen, daß für meinen einsamen Rudolf ein so liebendes Herz schlägt ... Wer weiß, wenn ihn einst die Einsamkeit, die Heimlosigkeit [314] drückt, so wird er – – Lachen Sie mich nicht aus, Kolnos, daß ich mich so als Heiratsstifterin entpuppe ... man kann nicht ungestraft so glücklich in der Ehe gewesen sein, wie ich es war – genug, dieser Brief ist ungebührlich lang geworden. Auf Wiedersehen – ich rechne auf Ihren Besuch.

[315]

XXXIV

Rudolf hatte sich von den Erschütterungen wieder erholt, die er durch den unliebsamen Wirtshausabend und wenige Tage darauf durch die unglücklichen Ereignisse im Hause Delnitzky erlitten hatte. Nun war seine Schwester wieder auf dem Wege der Genesung, und manche erhebende Eindrücke und Erfahrungen auf sozialem Gebiet hatten die deprimierenden Eindrücke jener Wiener Vorstadtepisode wett gemacht. Daß in einer Kampf- und Übergangsepoche, wie die, in der er lebte, zwei Weltanschauungen – mehr noch, zwei Weltordnungen miteinander ringen, an manchen Orten und durch einige Zeit die rückständige Sache Siege feiert, das darf einen, der auf der andern Seite kämpft, nicht entmutigen; das darf ihn vor allem den Blick nicht trüben für die Siegesanzeichen im eigenen Lager. Es kommt nur darauf an, wohin man den aufmerksamen Blick wendet. Und in letzter Zeit hatte Rudolf Gelegenheit gesucht und gefunden, die lichtvollen Phasen der sozialen Entwicklung zu beobachten und sich mit den Dingen und Personen zu beschäftigen, die dem Eintritt einer neuen Ära vorarbeiten.

Was auf der anderen Seite noch so stark vorherrscht: das Elend in den unteren Schichten – Unwissenheit und Lasterhaftigkeit – verteilt in allen Schichten, – die aufgestachelten Verfolgungsgelüste der Nationen und Rassen, die Verherrlichung des Gewaltprinzips in den machthabenden Sphären – das alles übersah er nicht. Doch er fühlte darüber hinweg den Hauch des neuen Geistes. Des Geistes, der berufen war, diese Dinge zu [316] überwinden. Sie gelten ja nicht mehr allgemein als unabänderliche Tatsachen, mit denen man sich abfinden muß, sondern als zu lösende Probleme und allenthalben waren Kräfte an der Arbeit, die Lösungen herbeizuführen. Bewußte Kräfte neben den unbewußten.

Der alte Jammer war noch lange nicht gebannt, aber die Kulturmenschheit hat ihm sozusagen gekündigt, ihm das Dienstverhältnis aufgesagt.

Was Rudolf am meisten anspornte und in gehobene Stimmung versetzte, war der persönliche Verkehr mit Gesinnungsgenossen. Darin fand er den positiven Trost, daß eine ganze Phalanx von Geistern demselben Ziele zusteuert, das er winken sah; er war also kein vereinzelter Träumer, kein allzuverfrühter Herold. Schon lange hatte er mit den Führern der verschiedenen fortschreitenden Ideen in brieflichem Verkehr gestanden; jetzt hatte er sie selber aufgesucht, um im lebendigem Gedanken- und Gefühlsaustausch mit ihnen die eigene Zuversicht zu stärken. Er war nach Berlin gefahren, um sich Moritz von Egidy vorzustellen, und hatte sich dort nicht nur an den öffentlichen – von einer Zuhörerschaft von Tausenden bejubelten Vorträgen, sondern auch an dem intimen Umgang des herrlichen Menschen erlabt.

Er eilte dann nach England. Das war nicht nur eine Wallfahrt zu Herbert Spencer, dessen Werke die Grundlagen zu seinem eigenen Denken gebildet, sondern dieses freieste Land Europas, mit seiner Immunität gegen den festländischen Militarismus, erschien ihm als der eigentliche Hort des Friedensgedankens, wie es ja tatsächlich, neben den Vereinigten Staaten Nordamerikas, die Wiege des Friedensgedankens ist. Wenn auch dort wie überall eine Jingopartei existierte und die großen Massen noch nicht von der Idee eines gesicherten Weltfriedens durchdrungen waren, so bot England damals die sonst nirgends existierende Tatsache, daß die Regierung – in der Person ihres zum viertenmal als solchen fungierenden [317] Premier – das Prinzip des Völkerschiedsgerichts vertrat. Daß wenige Jahre später gerade in diesem Lande der Kriegsgeist am heftigsten aufflackern, die Gladstones Prinzipien gründlich abgeschworen würden – das sah Rudolf freilich nicht voraus.

Auch zu dem »grand old man« wallfahrtete er. Als er ihn besuchte, war ein Freund des Meisters in dessen Arbeitszimmer anwesend: Unterhausmitglied Philip Stanhope – jüngerer Bruder Lord Chersterfields – auch ein Friedenskämpfer und Mitglied der Interparlamentarischen Union. Das Gespräch fiel auf die nächste Konferenz dieser Union, die in diesem Jahre – 1894 – im Saale der ersten Kammer der holländischen Generalstaaten zusammen treten sollte.

»Ich habe meinem Freund Stanhope eine Mission für diese Konferenz gegeben,« sagte Gladstone. »Schon im Vorjahre,« fügte er hinzu, »habe ich im Parlament es ausgesprochen – anläßlich des Antrages Cremers und Sir John Lubbocks einen ständigen Schiedsgerichtsvertrag mit den Vereinigten Staaten abzuschließen. Ich habe den Antrag unterstützt; habe aber hinzugesetzt, daß so wertvoll die abgegebenen Erklärungen zu gunsten der Arbitrage und gegen die übertriebenen Rüstungen auch seien, es noch ein anderes Mittel gibt, vorzugehen, auf welches ich einen besonderen Wert lege, das ist: die Gründung eines Tribunals zu provozieren – eines Zentral-Tribunals Europas, eines hohen Rats der Mächte. Mein Freund Stanhope wird diese Idee vor der Konferenz weiter ausführen.«

Im folgenden September wohnte Rudolf im Haag dieser Konferenz bei, nicht als Teilnehmer, sondern als Zuhörer.

Zu Punkt drei der Tagesordnung: »Vorbereitung eines Organisationsplanes eines internationalen Schiedsgerichtstribunals« führte der Referent, Mr. Stanhope, Gladstones Worte über das »europäische Zentral-[318] Tribunal«, über den »hohen Rat der Mächte« an und fuhr fort:


»Unsere Aufgabe ist es nun, diese Forderung mutig vor die Regierungen zu bringen. Alles, was bis jetzt an sogenanntem Völkerrechte besteht, ist ohne eigentliche Grundlage gewesen, auf Zufälle, auf Präzedenzfälle, auf Entscheidungen von Fürsten aufgebaut. Daher ist das Völkerrecht diejenige Wissenschaft, welche die wenigsten Fortschritte gemacht – eine widerspruchsvolle Anhäufung von vaguen Paperassen. Zwei große Notwendigkeiten liegen vor den zivilisierten Völkern: Ein internationales Tribunal und ein Kodex, der dem modernen Geist entspricht und sich elastisch den neuen Fortschritten fügen könnte. Damit wäre der Triumph der Kultur erreicht und die verbrecherische Zuflucht zum Massentotschlag abgeschnitten. Wie die Dinge heute stehen, werden in jedem Parlament neue Militärkredite gefordert und wir werden von der Presse zur Bewilligung gepeitscht. Anders wäre es, wenn wir antworten könnten: Die Gefahren, gegen die die verlangten Rüstungen uns schützen sollen, würden durch das von uns verlangte Tribunal beseitigt. Darum soll ein Projekt ausgearbeitet werden, das wir den Regierungen vorlegen könnten.«


Mit großer Genugtuung hörte Rudolf diesen Worten zu. So war denn die Bewegung vom Gebiet der Theorie in die Wege der Praxis geleitet. Gespannt folgte er der an Stanhopes Antrag sich knüpfenden Diskussion. Vorerst der allen großen Initiativen gegenüber – wie es scheint – unvermeidliche Hemmversuch: »Es sei für die Mitglieder der Konferenz nötig,« sagte ein Opponent, »nur greifbare, ausführbare Anträge zum Beschluß zu erheben, welche in den verschiedenen Parlamenten mit einiger Wahrscheinlichkeit der Annahme vorgelegt werden [319] könnten; nun würde aber Herr von Caprivi sicher nie den Vorschlag eines internationalen Tribunales in Erwägung ziehen, – auch müsse man vermeiden, durch derlei Pläne den Fluch der Lächerlichkeit auf sich zu ziehen; die Gegner seien nur allzusehr geneigt, die Konferenzbesucher als Träumer zu verspotten.«

»Ach,« bemerkte Rudolf halblaut zu seinem Galerienachbar: »Die Rücksicht auf das Lachen der Toren würde alles Vorschreiten der Weisheit hindern.«

Dem Opponenten wird aber entgegen getreten.Houseau de Lehaie spricht für die Vorlage und sagt, daß angesichts so großer Gesinnungen wie die soeben hier entwickelten, angesichts der Begründung einer Sache durch Männer wie Stanhope und Gladstone das Wort »lächerlich« überhaupt nicht mehr ausgesprochen werden darf. – Lauter Beifall. – Noch ein zweiter erhebt sich für den Vorschlag: der ehrwürdige Frederic Passy. »Gegen ein anderes vorhin angewendetes Wort will ich protestieren,« sagte er – »das Wort nie. Es ist noch gar kein großer Fortschritt, gar nichts neues überhaupt zur Geltung gekommen, von dem nicht anfänglich behauptet worden wäre, es könne nie geschehen. Daß z.B. Parlamentarier aus allen Ländern zusammentreten, um über Weltfrieden zu verhandeln, daß sie dies im Sitzungssaale der ersten Kammer eines monarchischen Staates tun werden ... wie viele hätten auf die Frage, wann solches sich zutragen könne, nicht geantwortet: Nie!«

Den Verlauf dieser Verhandlung hatte Rudolf stenographiert und seiner Mutter geschickt. Er schrieb dazu:

»Hier hast Du etwas für Dein ›Protokoll‹. Hätte Tilling das erlebt! Der Plan wird ausgearbeitet und an alle Regierungen verschickt werden. Nach und nach inkarniert sich doch das Wort. Diesmal stammt es ja von einem Regierungsleiter. Ein Beweis, daß auch schon in den Regionen, wo man kann, der Wille erwacht, der bisher nur in den Regionen, wo man wünscht, [320] ein dunkles, verlachtes Dasein führte. – Freilich gerade jetzt tobt im fernen Osten wieder ein grausamer Krieg (hast Du die haarsträubenden Chroniken aus Port Arthur gelesen?) – würde Europa da doch Einhalt gebieten! ... Aber war es nicht Europa, das den Chinesen und den Japanern das Kriegshandwerk gelehrt und sie mit den modernsten Waffen ausgerüstet hat! Das alte System treibt eben überall noch seine Früchte. Doch das neue bereitet sich unablässig vor – für die Massen unsichtbar, für uns Kundige sichtbar vor.«

Die geplante Vortragsreise, die durch das Unglück seiner Schwester, die ihn nach Wien zurückberufen hatte, unterblieben war, hatte Rudolf später dennoch ausgeführt. Ob er dadurch viele Adepten gemacht, war ihm zweifelhaft, daß er sich aber in seinen Ansichten gefestigt und seinen Gedankenhorizont erweitert hatte, dessen war er sich deutlich bewußt.

Neben der lebendigen Anregung, die er in der persönlichen Berührung mit den führenden Geistern unter den Zeitgenossen fand, vertiefte er sich auch in deren Schriften und verfolgte überhaupt alles, was von neuen wissenschaftlichen und dichterischen Erscheinungen die Welt bewegte. Dennoch: bei all diesem leidenschaftlichen Interesse an dem Gang der Welt, bei dem Eifer, mit dem er selber suchte, zur allgemeinen Kulturarbeit sein Scherflein beizutragen, erfaßte ihn manchmal ein Gefühl von Einsamkeit und Lebensleere. Das waren Anfälle, die zuerst nur selten sich einstellten und schnell verflogen, dann aber in immer kürzeren Zwischenräumen wiederkehrten und immer länger anhielten. Es war, wenn es kam, eine dumpfe, beengte, schwermütige Stimmung – etwas aussichts- und hoffnungsloses – ganz und gar heimatloses. – Der Anspruch an persönliches Glück, der sich in jedem Geschöpfe regt (auch beim entsagungsvollsten Asketen, der ja die ewige Seligkeit erstrebt), der machte sich fühlbar durch unbestimmtes Sehnen, durch quälende Selbstvorwürfe. [321] Als ob ein zweites Ich in ihm wäre, das dem andern bitter zurief: Wag gibst Du alles für die undankbare Mitwelt hin – wie sorgst Du für die ungeborenen Geschlechter, und wie vergissest Du dabei mich und meine Rechte ... bin ich denn der Garniemand?

Am besten wurde Rudolf den inneren Nörgler los, wenn er sich unter Mitstrebende mengte. Und so folgte er gern der Einladung, der interparlamentarischen Konferenz beizuwohnen, welche im August 1895 in Brüssel tagte, und wo das Projekt, das in der vorherigen Konferenz angeregt worden, fertig vorgelegt werden sollte.

Zum ersten Male war in dieser Körperschaft das Königreich Ungarn vertreten und zwar, in glänzendster Weise, durch seinen berühmtesten Schriftsteller: Maurus Jokai und seinen größten politischen Redner: Graf Albert Apponyi.

Der Entwurf zur Einsetzung und Organisation eines ständigen internationalen Schiedsgerichtshofes – aufgesetzt vom belgischen Senator Chevalier Descamps – fand die Genehmigung der Konferenz und dessen Versendung an alle Regierungen ward beschlossen.

Eben wollte Rudolf dieses Ergebnis, das ihm sehr verheißungsvoll schien, seiner Mutter schreiben, als er ein Telegramm aus Grumitz erhielt, des Inhalts:

»Komme sofort. Mutter sehr krank. Sylvia.«


Mit dem nächsten Zuge fuhr er heimwärts. Die Depesche hatte ihm einen schmerzlichen Schlag versetzt; er argwöhnte, daß das Wort »sehr krank« nur eine schonende Vorbereitung auf das schon eingetroffene Schlimmste war.

Wie sehr er an seiner Mutter hing, das empfand er jetzt, da er sie verloren wähnte, mit doppelter Klarheit. Einsam hatte er sich oft gefühlt, in letzter Zeit? ... Nun begriff er erst, daß die wahre Vereinsamung erst [322] dann sein Los sein würde, wenn diese Vertraute, mehr noch, diese Eingeberin seines Strebens ihm entrissen wäre.

Wenn er sie nur noch am Leben fände? ... Wenn er ihr doch noch einmal sagen könnte, wie teuer sie ihm war, und ihr zuschwören, daß er weiter arbeiten wolle an Tillings Mission ...

Es war eine traurige, bange Reise. Manchmal klammerte er sich an den Gedanken, daß sie ja wieder gesund werden und noch lange leben könne; dann aber sah er sie wieder im Sarge liegen, in die Gruft versenkt – –


Als er in die Endstation einfuhr, von wo noch eine halbstündige Wagenfahrt nach Grumitz lag, war seine Bangigkeit aufs höchste gesteigert, denn hier mußte er schon erfahren, ob die Schloßherrin noch lebte oder nicht.

Er sprang aus dem Waggon – da stand schon ein Grumitzer Diener.

»Wie geht es?« fragte er atemlos.

»Besser, gräfliche Gnaden, besser ... Vorgestern war's der Frau Baronin recht schlecht – aber jetzt, sagt der Doktor, ist's wieder viel besser – bitt', der Wagen ist da.«

Erleichterten Herzens und voll erneuter Hoffnung, daß dieser Besserung volle Genesung folgen werde, schwang sich Rudolf auf das bereitstehende Kutschierwägelchen und nahm selber die Zügel zur Hand.

Es war ein prächtiger Sommermittag, warm, sonnig und duftig. Der Weg führte an weiten Feldern vorbei, durch einen hochstämmigen Wald, und hinter diesem kam das Schloß in Sicht, zu dem eine lange Kastanienallee führte.

In der Allee kamen zwei Frauengestalten dem Wagen entgegen. Rudolf hielt an, warf die Zügel dem Diener zu und sprang vom Bock – schon von weitem hatte er die beiden erkannt: Sylvia und Cajetane.

[323] Daß letztere in Grumitz sei, hatte er nicht gewußt, und er empfand es als eine angenehme Überraschung, sie zu sehen.

Sylvia fiel dem Bruder um den Hals:

»Gott sei Dank, Rudi – es geht viel, viel besser ... sie ist wieder auf. Aber vorgestern, als ich telegraphierte, glaubten wir, es sei das Ende – nicht wahr, Cajetane?«

Das junge Mädchen nickte bejahend und reichte nun Rudolf die Hand. Es war eine kühle und bebende Hand.

»Ja,« sagte sie, »es war eine fürchterliche Stunde.«

Sie gingen nun eilend zum Schloß. Dabei ließ Rudolf sich erzählen, was vorgefallen. Es war ein Herzkrampf gewesen; schon der dritte oder vierte seit ein paar Monaten, doch während die früheren ganz leichter Art gewesen, hatte dieser letzte die bedrohliche Form eines Erstickungsanfalles gezeigt.

»Aber was sagt der Doktor?«

»Daß man mit einem Herzübel – bei richtiger Schonung und Behandlung – achtzig Jahre alt werden kann. Das sagte nämlich der Arzt, den wir aus Wien riefen; der hiesige, der den Anfall gesehen, war sehr erschrocken, und auf seine Weisung hin habe ich Dir telegraphiert.«

Sylvia, während sie sprach, hatte sich in Rudolf eingehängt. Jetzt erst bemerkte er, wie elend die junge Frau aussah, blaß und abgemagert, und welch rührender Schmerzenszug auf ihrem – dabei doch immer – schönen Gesichte lag.

»Bist Du auch krank, Sylvia?« fragte er teilnahmsvoll.

»Nein, nur unglücklich.«

»Kannst Du Dich nicht trösten?«

»Nie.«

Rudolf schwieg. Er wollte den banalen Trost nicht vorbringen, daß die Zeit solche Wunden heilt. Wer einen teuern Gram nährt, empfindet solche Trostversuche [324] beinah als Beleidigung, das wußte er, da gab es nichts anderes, als in der Tat die Zeit wirken zu lassen – die große Zerstörerin, die ja alles verlöscht – zum Glück auch das Unglücklichsein.

»Weißt Du,« sagte Sylvia nach einer Weile, »wer es am besten versteht – ich will nicht sagen, mich zu trösten, aber mein Leid zu teilen, zu verklaren, oder gar auf Augenblicke vergessen zu machen? Hier, unsere liebe Caji –«

Sie waren vor dem Schloßtor angelangt.

»Komm, jetzt führe ich Dich zu unserer Mutter – sie erwartet Dich.«

[325]

XXXV

Martha Tilling hatte ihr Ruhebett zur offenen Balkontür schieben lassen, und hier lag sie, mit Kissen unter dem Kopf und einer Decke über dem Schoß. Von ihrem letzten Anfalle war ihr eine große Mattigkeit geblieben, und trotz der Sonnenwärme fröstelte es sie.

Rudolf trat herein und eilte auf das Lager zu:

»Mutter! Liebste!«

Er hatte sich neben sie gekniet und sie drückte seinen Kopf an ihre Brust.

»Mein Rudolf ... wie freu' ich mich, daß Du da bist ... und daß ich – nicht fort bin.«

»Du wirst bald wieder ganz gesund sein.«

»Möglich ... Wollen's hoffen ... obgleich – – nein, fürchterlich wäre es mir gewesen, wenn ich so plötzlich, ohne Dich noch einmal zu sehen ... das war mir das Schmerzlichste bei meinem Anfall – wie ich glaubte, daß es schon aus sei und Du so weit weg ...«

»Jetzt bleibe ich bei Dir, bis zu Deiner vollen Genesung –«

»Oder bis zu meinem – nein, denken wir nicht daran ... ich bin so froh, daß Du gekommen bist. Wir werden uns ja so viel zu erzählen haben.«

Als Rudolf einige Stunden später sich in seinem Zimmer umgezogen hatte und in das Speisezimmer zum Diner hinabging, fand er da außer Sylvia und Cajetane den Grafen Kolnos, der seit einigen Wochen Marthas Gast in Grumitz war. Der junge Mann empfand eine aufrichtige Freude, den älteren Freund hier zu treffen; [326] auch wußte er, wie seine Mutter Kolnos schätzte und daß es ihr lieb sein werde, während ihrer Rekonvaleszenz dessen Gesellschaft zu genießen. Er war fest überzeugt, daß sie bald wieder hergestellt sein würde. Die Angst, sie nicht mehr zu finden, war so schmerzlich gewesen, daß die darauf folgende Freude eine umso intensivere war und nun keine neue Angst mehr aufkommen ließ; – die Nähe des schönen Mädchens – der Schreiberin der anonymen Briefe, das wußte er längst – trug auch dazu bei, seine Stimmung zu heben; und in wirklich froher Laune nahm er an der kleinen Tafelrunde Platz. Vergessen und verscheucht alle seine eigenen Kampfsorgen – nur ein eigentümliches Gefühl von Herzensbehaglichkeit.

Dieses Grumitzer Speisezimmer, wie weckte das auch so freundliche Kindheitserinnerungen in ihm! Es war noch alles so wie vor dreißig Jahren: dieselben Bilder Frucht und Wildstücke – an den Wänden; dieselbe große silberzeuggeschmückte Kredenz aus geschnitztem Eichenholz – diese unheimlichen Vögel Greif mit den herabhängenden Flügeln und wie zum Schnappen offenen Schnäbeln, die hatten ihm stets einen ganz besonderen Eindruck gemacht – und wie einem manchmal eine schwache Erinnerung an einen Duft, an einen Geschmack durchzuckt, so durchzuckte ihn jetzt eine Mahnung an jene damals so starke Vogel-Greif-Sensation; und andere Bilder daneben; wenn der kleine Junge zum Dessert hereingeführt wurde, da nahm ihn Großpapa Althaus auf den Schoß und gab ihm eine Frucht oder ein Bonbon; er sah noch den struppigen weißen Schnurrbart, den lose aufgeknöpften blauen Generalsrock ...

Alle diese Vergangenheits-Erinnerungen erhöhten die Behaglichkeit seiner Stimmung und in heiterem Tone begann er mit den anderen zu plaudern. Aber er fand keinen Widerhall. Auf ihren Gesichtern lag ein düsterer Schatten. Sie antworteten ihm einsilbig und in gedämpftem Ton. Von Sylvia wunderte ihn dieses Gebaren [327] nicht – sie trug ja schwer an ihrer Trauer, aber was bedrückte Kolnos und Cajetane? Sollte die Gefahr doch nicht behoben sein – wußten sie etwa von einer hoffnungslosen Prognose des Arztes?

»Warum seid Ihr so traurig?« fragte er. »Der Zustand unserer Kranken ist doch nicht mehr furchterregend?«

Kolnos seufzte: »Die unmittelbare Gefahr scheint gehoben,« antwortete er, »aber –«

»Aber was?«

»Es war ein fürchterlicher Moment vorgestern – und das kann sich wiederholen – –«

Jetzt war Rudolfs momentane frohe Laune wieder verflogen. Er war sich neuerdings bewußt, daß diesem Hause der Engel des Todes schon gar nahe gewesen; hatte er doch vor wenigen Stunden selber gefürchtet, ihn hier zu finden ...

Und mit diesem Stimmungswechsel tauchten jetzt auch andere Erinnerungsbilder aus seiner Grumitzer Kinderzeit in ihm auf ... nichts mehr von Spielen und Festen, sondern jene Sterbewoche des Kriegsjahres 1866, aus der sich eine Kette von Angst- und Schreckensszenen in sein Gedächtnis gegraben hatte ...

Der Rest des Mahles verlief ziemlich schweigsam. Gleich nach dem Essen entfernte sich Sylvia, um bei der Mutter nachzusehen.

»Bring' uns Nachricht,« sagte ihr Rudolf, »und frage sie, ob jemand von uns ihr heute noch Gesellschaft leisten soll.«

Nach einer Weile kam eine Kammerjungfer und richtete aus:

»Frau Gräfin Sylvia läßt sagen, daß es der Frau Baronin viel besser ist, daß sie aber schon zu Bett gegangen und schlafen will – heute also niemand mehr sehen will. Frau Gräfin Sylvia bleibt bei ihr.«

[328] Das Mädchen wandte sich zum Gehen. Cajetane rief ihr nach:

»Sagen Sie der Gräfin Sylvia, daß ich sie in der Nachtwache ablösen werde.«

»Sehr wohl, Komteß. Ich hab' so schon, wie gestern und vorgestern, im Nebenzimmer für Komteß ein Bett aufgeschlagen.«

»Wie gut Sie mit meiner Mutter sind, Cajetane –«

»Weil ich sie liebe.«

Nach diesen Worten wurde das junge Mädchen feuerrot; es fiel ihm ein, daß man beim gesprochenen Wort nicht unterscheiden kann, ob das »sie« mit kleinem oder großem Anfangsbuchstaben gedacht sei, und rasch verbesserte es sich: »Weil ich die Baronin Tilling liebe.«

Eine Welle von Zärtlichkeit erwärmte Rudolfs Herz. Er richtete einen dankbaren Blick auf sie und drückte ihr stumm die Hand.

Sie entfernte sich bald und die beiden Männer blieben allein. »Ein liebes Geschöpf,« sagte Kolnos, nachdem sich die Tür hinter Cajetane geschlossen. »Ich weiß, welcher Trost ihre Anwesenheit hier im Hause ist ... Und sie beweist Charakterstärke, indem sie hier bleibt. Täglich erhält sie Briefe von zu Hause, wohin man sie zurückruft: die Ihren sind gar nicht damit einverstanden, daß sie so lange fortbleibt, und so manches andere ... Aber sie läßt sich nicht irre machen. Komm, ich schlage vor, daß wir unsere Zigarren draußen rauchen; es ist ja ein gar so wundervoller Abend.«

Die Fenstertüren des Speisesaals führten auf eine Terrasse, vor welcher das Blumenparterre des Parkes lag. Kolnos und Rudolf traten hinaus und ließen sich da in zwei Schaukelstühle nieder. Die Luft war warm; am mondlosen Himmel wimmelte es von funkelnden Sternen. Ein Duft von Violen und Heliothrop strich von den Beeten herauf. Allerlei Nachtgeflüster war vernehmbar: raschelndes Laub, das Tropfen einer Fontäne, [329] ein ferner Unkenchor und nahes Grillenzirpen; manchmal das Anschlagen eines Hundes vom Dorfe her und aus dem Schlosse, dessen Fenster meist offen standen, hin und wieder die gedämpften Töne verrichteter Hausarbeit: das Schließen von Türen, Stimmen, Schritte.

Aus den Fenstern des oberen Stockes, da, wo Marthas Zimmer lagen, drang ein Schein durch die Jalousien. Kolnos schaute hinauf:

»Es ist noch Licht bei ihr,« sagte er. Dann nach einer Weile: »Hier auf der Terrasse saßen wir – sie und ich – vor einigen Tagen noch beisammen, und ich mußte ihr von meiner letzten Reise erzählen. Es war vielleicht meine letzte ... ich bin schon zu alt, um mich in fremden Zonen herumzutreiben.«

»Wo bist Du diesmal gewesen?«

»Ach, lassen wir das ... Mich drängt es, Dir etwas anderes zu erzählen – etwas, was weiter zurückliegt und was mir in diesen letzten Tagen, am Lager Deiner Mutter, das ich für ein Sterbelager hielt, wieder vor die Seele getreten ist, so deutlich und lebendig – so –«

»Was war es?« fragte Rudolf, da Kolnos bewegt inne hielt.

»Die Erinnerung an meine letzte tiefe Leidenschaft. Du sollst es wissen, Rudolf – ich habe Martha Tilling aus ganzer Seele geliebt.«

»Du? ... Meine Mutter?« rief der junge Mann erschüttert. »Und sie?«

»Sie? Ach, Du kennst sie ja: sie hat dem Toten die Treue gewahrt. Ich werde Dir einmal den Brief lesen lassen, worin sie das Angebot meiner Hand zurückgewiesen hat.«

»Wann war denn das? Daß ich niemals eine Ahnung hatte ...«

»In der Mitte der siebziger Jahre – sie war damals fünfunddreißig Jahre alt – in der Vollentfaltung ihrer Schönheit. Wir hatten eine Zeitlang [330] korrespondiert anläßlich einer Gedichtsammlung, die ich veröffentlicht hatte und worin sie einige Strophen gegen den Krieg gefunden. Dann besuchte ich sie ... die Innigkeit des Kultus, den sie dem verlorenen, auf so tragische Weise verlorenen Gatten weihte, hielt mich davor zurück, meiner erwachenden Leidenschaft Ausdruck zu geben. Aber wir verstanden uns in vielen Dingen so gut ... stundenlang konnten wir miteinander sprechen über Gott und die Welt. Ich fühlte, wie in ihr Herz eine warme Freundschaft für mich einzog und da – nach einem weiteren Jahre – wagte ich, sie zu bitten, die Meine zu werden ... Ich hätte es nicht tun sollen – ich hätte verstehen sollen, daß ich Unmögliches wollte –«

»Ja – ich kann es mir auch nicht vorstellen, daß meine Mutter ihrem – heute noch – Betrauerten jemals einen Nachfolger hätte geben können.«

»Für mich war ihre Antwort – ihr sanftes, wehmütiges aber unverbrüchliches Nein ein harter Schlag. Damals unternahm ich meine erste große überseeische Reise, die mich drei Jahre von Europa fernhielt.«

»Und kamst geheilt zurück? Ja, Zeit und Abwesenheit sind souveräne Mittel gegen Liebesschmerz.«

»Nicht immer,« versetze Kolnos kopfschüttelnd. »Du siehst es an Deiner Mutter selber. Ich habe Linderung gefunden. Meine Leidenschaft hat sich in Freundschaft verwandelt und jetzt – Na, jetzt sind wir ja beide alt – und die Freundschaft ist auf beiden Seiten echt und treu. Ich kann Dir nicht sagen, wie ich erschrak, als ihr so schlecht war ... sie zu verlieren, das Unglück wäre –«

»Reden wir nicht davon,« unterbrach Rudolf. »Ich hoffe fest, daß sie wieder gesund wird.«

Die beiden Männer blieben noch länger als eine Stunde im Gespräch; Rudolf erzählte von seinen jüngsten Unternehmungen und Erfahrungen und daran knüpfend, [331] besprachen sie übereinstimmend des jungen Mannes weitere Aktionspläne.

Es war zehn Uhr und Kolnos zog sich auf sein Zimmer zurück. Rudolf blieb noch eine Weile, in Gedanken versunken, auf der Terrasse sitzen. Dann stieg er die Treppe zum Garten hinab; er wollte noch einen kurzen Rundgang in den duftenden Laubgängen machen.

Unterdessen war Cajetane Ranegg gleichfalls – von einer anderen Seite – in den Garten gekommen; die herrliche Nacht hatte sie herausgelockt. In ihrem Zimmer war sie von großer Unruhe gequält worden. Das Zusammentreffen mit dem so heftig geliebten Mann hatte sie aufs tiefste erschüttert. Wie sie ihn heute kennen gelernt – als liebevollen, um das Leben der Mutter so zärtlich besorgten Sohn – war er ihr noch teurer geworden. Morgen wollte sie abreisen ... Sie mußte ihn fliehen, wenn sie sich nicht verraten sollte. Vielleicht wußte er schon, wie es um sie stand. Die anonymen Briefe hatte er wohl durchschaut – und dennoch war er kalt geblieben; sie hatte also nichts zu hoffen und ihr Stolz verbot ihr, sich dem Verdacht auszusetzen, daß sie ihn doch zu erobern trachtete. – Also fort von Grumitz.

Dieser Entschluß verursachte ihr Schmerz – aber sie war das ihrer Würde schuldig ... Der Violenduft der schönen Sommernacht erschien ihr wie der Ausdruck ihres Schmerzes. Gerade wie Musik dasselbe zu sagen scheint – nur in verstärktem Maße – was in der Stimme des bewegten Hörers liegt, so sprechen mitunter auch Düfte nach, was die Seele des Atmenden erfüllt: Sehnsucht, Zärtlichkeit, Trauer.

Um die Biegung eines dunklen Weges stießen die beiden Lustwandelnden aneinander.

»O, Cajetane – – noch auf?«

Ihr Herz schlug heftig:

»Ja – ich ... ich – es ist eine so schöne Nacht ...«

»Wundervoll ...«

[332] Er schob ihren Arm unter den seinen, als ob es ganz selbstverständlich war, daß sie nun miteinander weiter promenieren sollten. Ein Glücksschauer durchrieselte das junge Mädchen, dennoch hielt ihre Wehmut an, denn sie wußte ja doch, daß sie hoffnungslos liebte.

Rudolf begann von seiner Mutter zu sprechen. Das war doch die Frage, die ihn jetzt am meisten erfüllte: würde das Übel überwunden werden oder nicht? Und das Bewußtsein, daß das Mädchen an seiner Seite von treuer Anhänglichkeit an die Kranke beseelt war, machte sie ihm lieb und wert – mehr noch als die Kenntnis ihrer Schwärmerei für ihn. Aber auch diese war ihm süß: geliebt von ihr – zum ersten Male, seit er Cajetane kannte, ergriff ihn dieser Gedanke mit einer dankbaren weichen Rührung. Er drückte ihren Arm an sich und blieb stehen.

»Liebe Cajetane,« sagte er innig. Es war ihm ganz warm ums Herz.

Aber nein: falsche Hoffnungen durfte er ihr nicht machen. Gewaltsam riß er sich aus der zärtlichen Stimmung heraus, und wieder weitergehend sagte er in veränderten Ton:

»Wir müssen jetzt ins Haus zurück ... ich will noch einmal oben nachfragen. Und Sie? ... Bleiben Sie noch draußen?«

Sie ließ seinen Arm los.

»Ja, ich bleibe noch ... Gute Nacht.«

»Also auf morgen.«

Er schüttelte ihr die Hand und entfernte sich rasch.

Cajetane wandte sich um und verlor sich in die dunklen Laubgänge. Der Violenduft war jetzt noch viel beredter als zuvor. Das kurze Erlebnis hatte die Stärke ihrer Gefühle verdoppelt: doppelt verliebt und – im Gegensatz zu der kurzen Seligkeit, die seine plötzliche Wärme erweckt und seine darauf folgende Kälte so schnell verscheuchte – doppelt unglücklich.

[333] Martha verbrachte eine gute, ruhige Nacht. Am folgenden Tag fühlte sie sich so gekräftigt, daß sie ausgehen wollte; das gab aber der Arzt nicht zu; sie durfte sich nicht anstrengen.

Um zwei Uhr nahm sie am Mittagessen im Speisezimmer teil; das Mahl wurde begangen wie eine Genesungsfeier. Cajetane aber fehlte dabei; sie war am selben Mittag nach Raneggburg zu ihren Eltern zurückgekehrt.

Als Rudolf von dieser Abreise erfuhr, war er unangenehm betroffen; doch die Freude über die sichtliche Besserung seiner geliebten Kranken ließ die Mißstimmung nicht aufkommen. Die Idee, nächste Tage in Raneggsburg einen Besuch abzustatten, flog ihm durch den Sinn ... Er fragte:

»Warum ist sie so plötzlich abgereist? Ist etwas geschehen?«

»Oh, ihre Mutter begehrte schon lange nach ihr – sie sollte schon vor einigen Tagen fort und blieb nur wegen meiner Erkrankung ... und da ich jetzt wieder wohl bin – –« sagte Martha laut, leise fügte sie aber hinzu: »Sie flieht Dich.«

Im Laufe des Nachmittags besuchte Rudolf seine Mutter auf ihrem Zimmer. Sie war allein.

Wieder lag sie auf der Chaiselongue, denn es hatte sie plötzlich eine große Mattigkeit befallen und ein leiser Schmerz in der Herzgegend hatte sie daran gemahnt, daß der überstandene Anfall sich über kurz oder lang wiederholen könnte.

»Nun, wie geht's?« rief Rudolf eintretend, in munterem Ton.

»Ach, leidlich ... Schön, daß Du kommst – ich habe Dir viel zu sagen.«

»Strenge Dich nur nicht an mit Reden.«

Er schob einen anderen Sessel herbei und setzte sich seitlich zu Füßen der Chaiselongue.

[334] »Ich möchte sprechen,« begann Martha, »von dem, was nach meinem Tode –«

»Nein, nein, das verbitte ich mir,« unterbrach Rudolf ungestüm. »Du bist wieder gesund – ans Sterben brauchst Du nicht zu denken – und ich will nichts davon hören.«

Martha faltete die Hände.

»Sei doch vernünftig!« bat sie. »Du kannst Dir nicht vorstellen, wie quälend mir jener Moment war, den ich für das Ende hielt – weil Du nicht an meiner Seite warst und ich Dir nicht alles sagen und von Dir nicht hören konnte, was wir zwei uns zum Abschied zu sagen hätten ... damit also solche Qual nicht wiederkomme, lasse uns die gegenwärtige Stunde benützen, in der Du bei mir bist und in der ich die Kraft habe, zu sprechen. Du wirst ja wieder von hier abreisen: auch Dir wird es eine Genugtuung sein – falls mir etwas geschieht – daß wir nicht auseinander gerissen worden, ohne uns gesagt zu haben, was zu sagen war. Also reden wir jetzt, als wäre es meine letzte Stunde ... es ist ja nur eine Fiktion ... der Schmerz fällt weg, aber die Feierlichkeit soll bleiben ... Wir sind doch zwei vernünftige Menschen, Rudolf – wir wissen, daß der Tod, wenn er einmal angeklopft hat, bald wirklich zu kommen pflegt ... schüttele nicht den Kopf – es ist so ... Und wir wissen auch, daß sein Kommen oder Wegbleiben nicht dadurch bestimmt wird, ob man von ihm spricht oder nicht. Wir beiden haben schon schlimmeren Todesfällen ins Gesicht geschaut, mein armer Sohn, als es der meine wäre! Ich habe meine Laufbahn vollbracht ... es ist Abend – ich fürchte mich nicht vor der Nacht.«

Sie nahm vom nebenstehenden Tischchen ein mit Limonade gefülltes Glas und tat einen tiefen Zug.

»So sprich, Mutter, ich höre,« sagte Rudolf ehrerbietig.

»Ich bitte Dich – es ist meine letzte höchste Bitte – [335] laß niemals nach in dem Werk, das Du begonnen hast ... Wenn Du viele Enttäuschungen erlebst – wenn Du auch wahrnimmst, daß der eingeschlagene Weg nicht der richtige war, versuche einen anderen, nur das Ziel verliere nicht aus den Augen – es handelt sich ja um so Großes, so unausdenkbar Großes, um nichts Geringeres, als das Glück – das Edelglück – der Welt, an Stelle ihres Elends.«

»Ich verstehe Dich,« schaltete er ein.

Bei den letzten Worten, die sie mit vor innerer Erregung bebender Stimme gesprochen, hatte sie sich ein wenig erhoben. Jetzt lehnte sie sich wieder ganz zurück und fuhr in ruhigerem Tone fort:

»Man sollte meinen, wenn man diese Welt verläßt, daß es einem gleichgültig sein müßte, wie die Zukunft der künftigen Geschlechter sich entwickelt. Das ist aber nicht der Fall, wenigstens nicht bei mir. Die Sehnsucht nach besseren Zeiten für unsere Enkel – wenn ich ja auch keine Enkel habe – brennt mir hier auf meinem Totenbette ...« – Rudolf machte eine Bewegung – »es ist ja nur Fiktion – brennt mir ebenso heiß auf der Seele, wie in der Zeit jugendlicher Lebenskraft, da man noch hoffen konnte, jene Zukunft selber zu erleben. Das muß ein Naturtrieb sein, diese Sorge um ein Jenseits des eigenen Lebens; und auf das Vorhandensein dieses Triebes stütze ich meinen Unsterblichkeitsglauben.«

»Das tun die Gläubigen auch, die auf einen Himmel hoffen.«

»Ja, die erhoffen aber diesen Himmel für ihr eigenes Ich – außerhalb der Erde und außerhalb der Menschen. Solchen ist gewöhnlich auch die Zukunft der Gesellschaft ganz gleichgültig und sie arbeiten nichts dafür. Ich aber glaube an ein allgemeines – nicht individuelles – ewiges Leben, ein Leben, an dem wir alle gleich teilhaftig sind. Stets enthält die Welt ein bewußtes, leidendes, [336] genießendes, höherstrebendes Ich – gleichviel, ob die einzelnen Erscheinungen davon hier und dort gestorben oder noch nicht geboren sind ... Aber lassen wir das – um mich Dir verständlich zu machen, müßte ich lange sprechen, und ich muß Dir ja anderes sagen.«

»Ich glaube doch zu wissen, was Du meinst. Zum Beispiel: eine große, lodernde Flamme; die einzelnen Funken zerstieben, andere entzünden sich – es ist aber dasselbe Feuer und brennt weiter.«

Martha nickte:

»Und soll nicht nur weiter brennen, sondern immer lichter und immer heißer, damit jeder einzelne Funke, der sich neu entzündet, desto fröhlicher sprühen kann ... Und so wird das kommende Jahrhundert die krieglose, die elendlose Zeit bringen, und die das herbeiführen helfen, erfüllen das Gesetz ... die allein sind auf dem richtigen Wege – mögen sich ihnen tausend Hindernisse entgegenstemmen, mögen sie verkannt, verspottet – vernichtet werden, ihre Arbeit baut das Kommende auf. Überdauern sie den Ansturm der Gegenkräfte, so können sie ihren Sieg noch sehen. Dir, Rudolf, kann es beschieden sein, Du bist noch jung.«

»Ich sehe schon heute, Mutter, daß jener Bau sich zu erheben beginnt, zu dem ich einzelne – verschwindend kleine – Steinchen trage und so lange ich lebe, tragen werde. Laß mich die Feierlichkeit dieser Fiktion, daß Du eine Sterbende seist, benützen, um den unverbrüchlichen Eid zu leisten, daß ich in dem begonnenen Kampfe niemals erlahmen werde, daß keine Lockungen und keine Trübsale mich vermögen sollen, von meiner Aufgabe abzulassen. Ich gestehe, daß ich manchmal verzagte ... in ähnlichen Augenblicken werde ich an die gegenwärtige Stunde denken, an diese feierliche Erneuerung meines Fahneneides.«

Bei den Worten: »daß Du eine Sterbende feist« hatte er sich auf ein Knie herabgleiten lassen und Marthas [337] herabhängende Hand erfaßt. Zum Schluß drückte er einen Kuß darauf und setzte sich wieder auf seinen vorigen Platz.

»Danke, mein Kind. Und noch eins: glaube nicht, daß ich – eine Art weiblicher Abraham – meinen Sohn einem fremden Wohl opfern will. Ich sehe im Gegenteil, daß Dir die höchste Genugtuung winkt, wenn Du Dich dem Geist der wachsenden Kultur verbündest, wenn Du – geschehe was wolle – ausharrst als Streiter der Güte. ›Die Zukunft gehört der Güte‹ – das Wort stammt von Tilling – aber damit die Güte zur Eroberin werde, zur Welteroberin, dazu braucht sie ihre kraftvollen Helden. Mögest Du ein solcher sein! Dabei aber sollst Du nicht – ich sagte es schon – hingeopfert werden. Die Arbeit am Glück anderer schließt das eigene Glück nicht aus.«

»Tilling war glücklich,« sagte Rudolf nachdenklich.

»Ja – und auch ich. Weißt Du, Rudolf, Du solltest – – doch nein, ich will nicht etwa diese Stunde mißbrauchen, um Dir etwas aufzuzwingen, wozu Dein eigenes Herz Dich nicht drängt ... aber wenn Du Dich einmal einsam fühlst ... Oder, sag' mir's offen: hast Du irgend eine Liebe, die –«

»Nein, ich bin frei – und ich verstehe, wo Du hinauswillst ... Cajetane ... Was meintest Du – bei Tisch – als Du sagtest, sie hätte mich geflohen?«

»Es ist so. Sie ahnt, daß Du von ihrer Liebe weißt, und dabei weiß sie, daß Du nicht an sie denkst – also meidet sie Deine Nähe, aus Stolz und aus Furcht – – Sie liebt und bewundert Dich so sehr, daß sie ganz aufgehen würde in Dein Tun und Streben ... davon ist ihr nichts mehr fremd. Nicht nur, daß sie alles auswendig weiß, was Du geschrieben und gesprochen – alle Berichte über Deine Vorträge besitzt sie – sie ist auch durch meine Schule gegangen. Ich habe sie in unsere Ideale eingeweiht – Du hast auf der ganzen Welt keine [338] verständnisvollere und begeistertere Anhängerin als sie, Rudolf. Doch genug – ich darf in dieser Stunde nicht einen Druck auf Deine Entschließungen über – wenigstens in dieser Richtung nicht. Da habe ich noch eine andre sterbende Bitte an Dich: Nimm Dich unserer Sylvia an – sei ihr Stütze! Sie wird sich erholen – aber jetzt darf man sie ihrem Grübeln nicht überlassen. Nimm Dich ihrer an.«

»Ich verspreche es.«

»So und jetzt« – Martha erhob sich wieder in sitzende Lage – »jetzt kehre ich wieder zu den Lebenden, den vielleicht noch lange Lebenden zurück. Die Fiktion ist vorüber. Ich will gesund werden.«

Rudolf umarmte sie:

»Das hoffe ich zuversichtlich, Mutter!«


Am nächsten Tage, als Mutter und Sohn wieder allein waren, kamen sie auf die Gegenstände zurück, die gestern in der fiktiven Sterbestunde besprochen worden – diesmal aber ohne Pathos, in familiärem Ton.

»Ich fühle mich heute wirklich viel besser,« sagte Martha, »vielleicht wird's noch ganz gut.«

»Aber gewiß!«

»Weißt Du, obgleich ich das Sterben nicht fürchte, das Leben ist mir doch noch lieb. Es ist – abgesehen von seinen Freuden, die ja mit seinen Sorgen abwechseln – an sich doch so interessant. Wenigstens fünf Jahre wollte ich noch leben.«

»Warum gerade fünf?«

»Weil da ein neues Jahrhundert eintritt, und die Menschen dann vielleicht –«

»Ach, das hoffe ich nicht,« unterbrach Rudolf kopfschüttelnd. »Die Natur macht keine Sprünge – die Zivilisation auch nicht. Sag' mir, Mutter, um von näherliegenden Dingen zu reden: Du wolltest mir keinen[339] bindenden Wunsch aussprechen inbezug auf – – auf –« Er stockte.

»Nun?«

»Auf Cajetane – sag', würdest Du es wünschen? ...«

»O, wie sehr!«

»Warum?«

»Schon, damit sich Dein Adel fortpflanzt –«

»Mein Adel? Darauf legst Du Wert? Nun aber ich dem Majorat entsagt habe –«

»Mißversteh' mich nicht. Nicht an den gräflich Dotzkyschen Adel denke ich – sondern an Deinen Rang als Edelmensch. Auch dieses Wort stammt von Tilling, erinnerst Du Dich? – Und so wie Du den Rang von Tilling übernommen, so könntest Du ihn einst einem Sohn übertragen. Den Stamm derer fortsetzen, die den Mut haben, das Rechte, das sie sehen, auch zu ergreifen – Du würdest ja Deine Kinder danach erziehen.«

»Schon wieder denkst Du an ferne Generationen? – Einstweilen trachte ich erziehend auf meine Zeitgenossen zu wirken – die mich hören und die mich lesen, und vor allem auf mich selber. Ich fühle, daß ich in einemfort mich entwickle und daß ich noch sehr viel zu lernen und an mir zu formen habe. Man muß beständig auf seine innere Stimme horchen – man muß trachten, sein inneres Wesen von allen äußeren Hindernissen zu befreien –«

»Man darf kein Kompromißmensch sein, willst Du sagen?«

Die Unterhaltung wurde durch das Hinzukommen von Kolnos und Sylvia unterbrochen.

Kolnos überbrachte die eben eingelangten Postsachen und setzte sich damit zu Martha, um ihr, wie es in den letzten Wochen zur Gewohnheit geworden, aus den Zeitungen vorzulesen.

[340] Rudolf benützte das, um seine Schwester in eine andre Ecke des Zimmers zu führen.

»Komm, Sylvia, laß uns ein wenig plaudern; wir haben eigentlich garnicht Gelegenheit gehabt – ich wollte, daß Du mir Dein Herz ausschüttest.«

Unterdessen sah Martha ihre Briefe durch. Sie gab zwei davon Kolnos.

»Lesen Sie mir das vor, es wird Sie interessieren.«

Er las:


»Krasnoje Poljana, den – –.


Auf die Gefahr hin, liebe Baronin, Sie zu langweilen, indem ich wiederhole, was ich so oft in meinen Schriften, und ich glaube, auch Ihnen schon gesagt habe, kann ich mich nicht enthalten, es noch einmal auszusprechen: je älter ich werde und je mehr ich über die Frage des Krieges nachsinne, desto mehr bin ich überzeugt, daß die einzige Lösung der Frage in der Weigerung der Bürger läge, Soldaten zu werden. So lange jeder Mann im Alter von 20, 21 Jahren seine Religion – nicht nur das Christentum, sondern auch das mosaische Gebot ›Du sollst nicht töten‹ – abschwören und versprechen muß, alle niederzuschießen, die sein Chef ihm befiehlt – auch die Brüder und Eltern –, solange wird der Krieg dauern und wird immer grausamer werden. Auf daß der Krieg verschwinde, tut nur das eine not: Die Wiederherstellung der wahren Religion und damit der menschlichen Würde. Man muß den Leuten zeigen, daß sie selber es sind, die das Leid des Krieges hervorbringen, indem sie den Menschen mehr gehorchen, als Gott.

Leo Tolstoi.«


»Was sagen Sie dazu?« fragte Martha, »halten Sie das von Tolstoi angegebene Mittel wirklich für das einzige?«

»Ich glaube überhaupt nicht an einzige Mittel,«[341] antwortete Kolnos. »Eine so tausendfach verschlungene Sache, wie eine alte Institution es ist, die muß auch von tausend verschiedenen Seiten angegriffen werden, um zu weichen. Und dann, wer kann den einzelnen – anderen – zwingen hinzugehen und als Märtyrer zu sterben? – Auch die Sklaverei ist nicht dadurch aufgehoben worden, daß die Sklaven sich widersetzten ...«

Darauf las Kolnos den zweiten Brief:


»Aulestad, Norwegen.


Sie fragen mich, wie ich mir die Zukunft der Friedenssache denke? Immer im Bilde des Sonnenaufgangs. Für uns Nordländer kann der Sonnenaufgang so viel mehr bedeuten als für Südländer – bisweilen erwartet und begrüßt wie ein Wunder. Die Finsternis war so erdrückend lang, die Stille unheimlich, die erste Glut über den Felsenspitzen so trügerisch ... Es dauert und dauert und wächst, aber – keine Sonne! Auch wenn der Himmel schon hoffnungsvoll erstrahlt – noch immer keine Sonne! Und es ist kalt – eigentlich kälter als früher, denn die Phantasie ist ungeduldig geworden.

Da, auf einmal wie ein Blitz mitten in unsere Betrachtung hinein die so lange verkündete Majestät selber! So stark, so bezwingend, daß die Augen sie nicht ertragen. Wir wenden den Blick zur Landschaft, die schon lange beseelt war, ohne daß wir es merkten, – in die Luft, die schon lange erhellt war, ohne daß wir es wahrnahmen. Alles, alles, bis hinab in die Tiefen und bis hinauf in die Höhen ist besonnt, klar, vollendet – von Wärme erfüllt, von Tönen durchzogen ...

So, meine ich, geschieht es uns. Wir merken in unserer Sehnsucht nicht, was sich vollzieht – wie nahe schon die große Sonne des Weltfriedens ist. Es kommt etwas, das es bringt, wie ein Wunder. Aber [342] es ist kein Wunder, wir sehen nur nicht in unserer Ungeduld, wie alles dafür vorbereitet war.

Ihnen, liebe Frau, viele Grüße

Björnstjerne Björnson.«


Unterdessen hatte Rudolf seine Schwester neben sich auf ein kleines Sofa setzen lassen. Er schaute sie voll besorgter Teilnahme an. Sie war so blaß, und die zarten Züge gar so schmal. –

»Nun, sag', wirst Du mir nicht wieder aufblühen? Du bist kaum achtundzwanzig – was kann Dir das Leben noch alles bieten!«

»Nichts.« Und nach einer kleinen Pause: »Hast Du den toten Stern gelesen, Rudolf?«

»Ja. Aber so denke doch nicht immer an den Verlorenen. Ich weiß, daß Dich ein harter Schlag getroffen hat.«

»Ach wäre mein Unglück nur reuelos ...«

»Reulos? Das bist Du nicht?«

»Das bin ich nicht ...«

»Meine arme Schwester, also doch?«

»Was doch?«

»Du warst seine – seine Gel –«

Sie unterbrach ihn mit heftiger Gebärde.

»Nein, nein ... das ist's ja eben – das nie genossene, das nie geschenkte Glück. Man soll zum Glücke nicht ›später‹ sagen – später kann eins von uns gestorben sein – das schrieb er mir in seinem letzten Brief ... Und so kam es auch – später war er gestorben!«

Rudolf drückte ihr mitfühlend die Hand.

»Ach so!« –

Nach einer Weile versetzte er:

»Du darfst Dich Deinem Kummer nicht so standhaft hingeben, Sylvia. Nimm Du Dir nicht als Beispiel die unverbrüchliche Totentreue unserer Mutter. Du hast kein [343] gleiches Recht dazu. Wenn man jahrelang mit einem geliebten Wesen verbunden, wenn man mit ihm eins gewesen, Glück und Unglück geteilt, – die Seelen mit allen Gedanken und Wünschen verflochten, dann nur ist das lebenslängliche Nachtrauern erlaubt. Aber Du und Hugo? – Glaubst Du, wenn er Dich verloren hätte, Dich, die er nie besessen – hätte da nicht schon nach kurzer Zeit eine neue Liebe seinen Dichtersinn erfüllt?«

»Du tust mir weh, Rudolf.«

»Verzeih – eine rettende Hand muß manchmal rauh zugreifen –«

»Mir geht Cajetane ab – die hatte eine gar zarte Art, mit meiner wunden Seele umzugehen ... Daß sie so plötzlich abgereist ist, macht mich böse – auf Dich!«

»Warum auf mich? Hab' ich Deine Freundin verjagt?«

»O, Du weißt ganz gut ...«

Ja, er wußte. Und ein Wunsch, daß die Geflohene da wäre, erfaßte ihn. Am liebsten hätte er zu Sylvia gesagt: »Schreib' ihr, daß sie wiederkomme.« Aber er hielt sich zurück.

[344]

XXXVI

Mitternacht. Martha war mehrere Tage so wohl und kräftig gewesen, daß sie selber und auch ihre Umgebung es nicht mehr für nötig befunden, daß jemand bei ihr wache, und sie war allein in ihrem Schlafzimmer.

Sie fand aber keinen Schlaf und auch keine Ruhe. Eine eigene Beklemmung schnürte ihr die Kehle zu und eine eigene Bangigkeit beschlich ihr Gemüt. Sie machte Licht und setzte sich im Bette auf. Die liegende Stellung hielt sie nicht aus.

Sollte sie der nebenan schlafenden Jungfer klingeln? Nein – wozu? – sie brauchte ja nichts. Nur Luft. Die konnte sie sich selber verschaffen, wenn sie das Fenster öffnete; würde sie zu diesem Zweck die Jungfer rufen, so gäbe das gleich Alarm – es hieße: ein neuer Erstickungsanfall und das ganze Haus liefe zusammen.

Sie schlüpfte in ihre Pantoffel und in einen auf dem Sessel neben dem Bett liegenden weiten, weichen Schlafrock und ging sachten Schrittes zu dem Fenster, dessen Flügel sie aufschlug.

Eine frische, nach Sommerregen duftende Luft kam hereingeströmt. Man hörte das Klatschen der dichtfallenden Tropfen auf das Laub und das Rieseln aus einer Dachrinne. Martha atmete in tiefen Zügen die feuchte kühle Luft ein und die Brustbeklemmung wich; die Gemütsbangigkeit aber blieb – verstärkte sich sogar zur Traurigkeit. Die Dunkelheit, das eintönige Geplätscher und selbst der starke Regengeruch hatten etwas so melancholisches[345] ... Ach nein, die Melancholische war sie selber – nicht die feuchte Sommernacht – und jetzt wußte sie auch – woher ihre Augen sich mit Tränen füllten, was die Ursache ihres Bangens war: der Gedanke an das Gestorben-, das Begrabensein ...

Sie machte das Fenster wieder zu, nahm das Licht und ging durch die offenstehende Tür in ihr anstoßendes Schreibzimmer, da wo alle ihre geliebten Reliquien waren und wo an allen Ecken und Enden die Andenken und Bilder Tillings standen und hingen. Hier wollte sie nun recht gründlich an den Tod denken – hier Abschied nehmen von ihren Erinnerungen und Abschied von sich selber.

Sie warf sich in den Lehnstuhl vor dem Schreibtisch und rückte das Licht so, daß sein Schein auf die große, gemalte Photographie Tillings fiel, die in einem Rahmen auf dem Tische stand. Das liebe Antlitz schien sie anzublicken.

»Mein Friedrich!« Langsam und heiß rannen die zwei Tränen, die ihr ins Auge getreten waren, über die Wangen herab.

Dann aber weinte sie nicht mehr. Nicht um zu trauern hatte sie sich hierher gesetzt; denken wollte sie; sich noch einmal vergegenwärtigen, was sie in der fingierten Todesstunde mit ihrem Sohn gesprochen; ob sie denn auch alles Wesentliche gesagt! – Nein, lange nicht alles. Was auch immer im Leben sie gesprochen oder geschrieben über die große Sache, die ihr auf dem Herzen lag, stets war ein Rest geblieben; stets war das am heftigsten Empfundene, das am klarsten Erkannte nicht ausgedrückt worden.

Vorhin, im Dunkeln, als sie im Bette lag und ein krampfhaftes Zusammenziehen ihres Herzens sie aus halbem Schlafe aufgeweckt, da war ihr mit einem einzigen Gedanken ein volles Verständnis aufgeblitzt für den ganzen Jammer der sich gegenseitig bedrohenden Menschheit [346] und gleichzeitig für die Erhabenheit des Ziels, solchen Jammer zu verscheuchen, für die einfache Erreichbarkeit des Ziels – so intensiv schmerzlich, was den Jammer, so freudig hell, was die Rettung betrifft – daß sie wähnte, jetzt und jetzt müsse sie auch die Formel finden ... aber während sie darnach mit den Gedankenfühlern tastete, war der ganze Bewußtseinszustand entschwunden. Jetzt, wo sie so dasaß, versuchte sie, sich ihn zurückzurufen – vergebens, andere Gedanken drängten sich heran: Sylvia, Cajetane – und mit aller Gewalt, wie immer, wenn sie so seelisch erregt war, eine Flut von Erinnerungen an ihren Verlorenen – aneinandergereiht alle die Bilder der an Glück und Schmerz so reichen Ehezeit ... Würde es sich süßer, leichter sterben, wenn er noch da wäre? Wenn sie in der letzten Stunde den Kopf an seine Brust lehnen könnte? Die arme, vor mehr als zwanzig Jahren zerschossene, längst verweste Brust ... Jetzt war die Reihe des Verwesens an ihr – zurück ins All, die getrennten Atome. Bei dem Gedanken »All« – es ist ja doch nur ein anderes Wort für Gott – durchrieselte sie ein Andachtsschauer. So blieb sie versunken; wenn sie auch um nichts bat – es war ein Beten.

Dann nahm sie Tillings Bild in die Hand. Daß sie beide einst so glücklich gewesen, daß sie einander so geliebt, das war eine unvertilgbare Wirklichkeit. Unvertilgbar auch die Idee, deren Hut er ihr übergeben, und die sie nun in die Hut ihres Sohnes gelegt. Wieder strengte sie sich an, eine geeignete Wortformel zu finden, in der sich jene Ideen einkapseln ließen, wie kostbare Tropfen Lebenselixiers in ein goldenes Fläschchen –

Draußen regnete es immer heftiger. Es hatte sich nun auch ein Wind erhoben, der den Guß an die Scheiben peitschte und sich pfeifend in die Kamine warf. Die klagenden Töne rissen Martha aus ihrem Sinnen heraus und verstärkten ihr Bangigkeitsgefühl ... Sollte sie doch rufen? Ihre Kinder würden ja herbeieilen, sie [347] zu beruhigen, zu trösten, ihre lieben, aber ach – so wenig glücklichen Kinder ... Nein, wozu ihren Schlaf stören, ihnen überflüssig Angst bereiten?

Die moralische Bangigkeit ging wieder in physische Beklemmung über. Ein heftiger Schmerz in der Herzgegend steigerte sich zu Atemnot und lautes Stöhnen entrang sich ihrer Brust.

Die Jungfer, die durch das Heulen des Windes schon früher erwacht war und unter der Tür den Lichtschein sah, hörte jetzt dieses Stöhnen und eilte ihrer Herrin zu Hilfe. Sie fand sie nach Atem ringend und nun geschah, was Martha so gern vermieden hätte, das Haus ward alarmiert.

Der Anfall dauerte aber nicht lange; bald lag Martha ganz ruhig atmend und schmerzbefreit auf ihrem Bett, das ihre Kinder und die anderen umstanden.

Der herbeigeholte Arzt des Ortes bat, man möge nach dem Wiener Professor telegraphieren und es wurde ein reitender Bote nach der Station gesprengt. Ebenso hatte Sylvia – einem gegebenen Versprechen gemäß – sofort an Cajetane eine Depesche geschickt.

Nach einer Stunde schlief Martha ein.

Schlief ein und erwachte nicht wieder. Ein Herzschlag hatte ihrem Leben ein sanftes Ende gemacht.


Mit demselben Zuge, als der Wiener Arzt, war am folgenden Nachmittag Cajetane Ranegg in Grumitz angekommen. Schon auf der Station erfuhren beide, daß alles vorüber sei.

Schluchzend betrat das junge Mädchen das Sterbezimmer und stürzte auf das Lager der Toten, an dessen [348] Seite Rudolf kniete. Sylvia saß in einiger Entfernung, das Gesicht in den Händen vergraben.

Rudolf stand auf und trat auf Cajetane zu. Ein Strom von Zärtlichkeit überflutete sein wundes Herz; er umschlang ihre Gestalt und weinte an ihrer Achsel.

»Sie hat Dich unendlich lieb gehabt, Cajetane,« sagte er.

Daß er mit diesem »Du« und mit dieser Umarmung sich verlobte, das fühlte er. Doch er fühlte es wie einen lindernden Trost, wie die Erreichung eines Hafens. – –

Am nächsten Abend – bei der Toten wachten Sylvia und Kolnos – ging das Brautpaar in denselben Laubgängen auf und nieder, wie neulich am Vorabend von Cajetanes Abreise.

Wieder dufteten die Violen so stark, aber diesmal hauchten sie dem jungen Mädchen ganz andere Dinge zu als neulich. Es mischte sich – was freilich Halluzination war – der Geruch der Wachskerzen dazu, die zu Häupten und zu Füßen der Aufgebahrten brannten – und so erzählten die Violen von unverhofftem Liebesglück und von düsterer Totenklage.

So wie damals schob er ihren Arm unter den seinen.

»Wir haben einen Lieblingswunsch der Verlorenen erfüllt, Cajetane,« sagte er.

Sie erschrak.

»Wie? – Vielleicht nur deshalb? ... Nur um ihren letzten Willen zu erfüllen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Sie hat nichts befohlen. Sie wußte nur, was mir frommt. Doch: eines hat sie mir auferlegt und habe ich ihr zugeschworen: meinem Lebenswerke treu zu bleiben. Bist Du darauf gefaßt, Kind, daß es gilt, mir Vertraute, Kameradin zu sein?«

»Ja, das will ich.«

»Weißt Du, daß Du da verzichten mußt auf Deine[349] ganze gewohnte Umgebung, auf den Beifall der Deinen, auf die Gemeinschaft mit ihnen?«

»Ja, das weiß ich.«

»Du wirst mir folgen müssen in andere Länder – und, wer weiß, nicht nur als freiwillige Reise – es ist ja alles möglich: vielleicht verkennt und verfolgt man mich und weist mich aus.«

»Alles will ich mit Dir teilen: auch die Verbannung, auch das Gefängnis – selbst den Tod.«

Er blieb stehen.

»Vielleicht den Sieg, Geliebte,« sagte er und drückte sie an sein Herz.


Harmannsdorf, Jänner 1901 – März 1902.

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TextGrid Repository (2012). Suttner, Bertha von. Romane. Martha's Kinder. Martha's Kinder. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-39A0-F