Ivan Sergeevič Turgenev
Faust

[Motto]

»Entbehren sollst du, sollst entbehren!
Das ist der ewige Gesang,
Der jedem an die Ohren klingt,
Den, unser ganzes Leben lang,
Uns heiser jede Stunde singt.«

6. Juni 1850

[7] Paul Alexandritsch B... an Simon
Nikolaitsch W...

Dorf M ..., 6. Juni 1850


Vor vier Tagen hier angekommen, liebster Freund, erfülle ich heute mein Versprechen, Dir zu schreiben. Seit dem Morgen rieselt ein feiner Regen herab, der mich im Zimmer hält; und außerdem verlangt mich sehr danach, ein wenig mit Dir zu plaudern. Da sitze ich nun wieder in meinem alten Nest, welches ich – ach, es ist traurig zu sagen – volle neun Jahre nicht gesehen habe. Was ist in diesen neun Jahren nicht alles vorgegangen! Ich selbst, wenn ich es so recht bedenke, komme mir wie ein ganz anderer Mensch vor. Ich bin in der Tat wie umgewandelt. Du erinnerst[7] Dich wohl des kleinen, dunklen Spiegels in unserem Gastzimmer, der noch von meiner Urgroßmutter herstammt und an den Ecken mit so wunderlichen Schnörkeln verziert ist, – Du pflegtest immer Betrachtungen anzustellen, was er vor und seit hundert Jahren gesehen haben müsse. Ich warf gleich nach meiner Ankunft einen Blick hinein und erschrak über mich selbst. Noch nie war es mir so jäh und lebhaft vor Augen getreten, wie ich gealtert bin und mich in der letzten Zeit verändert habe. Übrigens nicht ich allein bin älter geworden; mein schon lange baufälliges Häuschen droht völlig aus den Fugen zu gehen und zeigt nach allen Seiten eine bedenkliche Neigung zur Erde. Meine wackere Wassilewna, die Haushälterin (Du hast sie gewiß nicht vergessen, da Dir ihre eingemachten Früchte immer vortrefflich mundeten), ist ganz dürr und krumm geworden, ganz zusammengeschrumpft. Sie konnte vor Freude des Wiedersehens weder aufschreien noch weinen, sondern keuchte und hüstelte nur, sank erschöpft auf einen Stuhl nieder und streckte zitternd die welken Arme aus.

Der alte Terenti hält sich zwar noch stramm und rüstig aufrecht wie früher und setzt beim Gehen die Füße auswärts, trägt auch noch die gelben Nankinghosen und die knarrenden bockledernen Schuhe mit hohem Besatz und Schleifen, die er so oft mit Rührung ansah. Aber, großer Gott, wie schlottern jetzt diese Hosen um seine mageren Beine! Wie bleich ist sein Haar geworden, und wie faltig ist das Gesicht! Es war komisch, als er mit mir zu sprechen anfing und [8] ich ihn im Nebenzimmer Befehle erteilen hörte, und doch dauerte er mich; er hat alle seine Zähne verloren und kann kein Wort ohne Pfeifen und Zischen hervorbringen.

Dagegen hat sich der Garten merkwürdig verschönert. Du erinnerst Dich der Akazien, des Flieders, des Geißblatts, aller Bäumchen, die wir beide hier pflanzten – sie sind zu prächtigen Bäumen herangewachsen. Die Birken und die Ahornbäume, alles ist mächtig in die Höhe und Breite gegangen; besonders die Lindenallee ist wundervoll. Ich habe eine Vorliebe für diese Allee, für ihr sanftes und frisches Grün, für den feinen Duft, welchen sie verbreitet, für das Lichtgewebe, das sich durch die buschigen Zweige über den dunklen Boden hinzieht; Sand, wie Du weißt, gibt es hier nicht. Meine junge Lieblingseiche ist ein Baum von bedeutendem Umfang geworden. Gestern brachte ich ganze Stunden unter ihrem Schatten zu. Mir war es so wohl. Ringsum üppiger Rasen; über alles breitete sich ein goldenes Licht, es drang sogar in den Schatten; und was die Vögel sangen! Du hast hoffentlich nicht vergessen, daß die Vögel meine Leidenschaft sind. Die Tauben girrten, die Goldammer pfiff; der Fink ließ jeden Augenblick sein lustiges Lied wieder vernehmen, die eifersüchtigen Grasmücken wollten auch nicht stumm bleiben; von fern ertönte noch die klagende Weise des Kuckucks und der ungestüme Schrei des Grünspechts. Ich lauschte, in süße Träumerei versunken, diesen harmonischen Tönen und wurde nicht müde, sie zu hören. Auch ist nicht bloß [9] im Garten alles emporgewachsen; auf jedem Schritt begegne ich rüstigen Burschen, in welchen ich die kleinen Jungen von ehedem nicht wiedererkenne. Aus Deinem Liebling Hänschen ist ein mächtiger Hans geworden. Du warst damals besorgt um seine Gesundheit und prophezeitest ihm die Schwindsucht; wenn Du jetzt auf seine gewaltigen roten Hände [10] blicktest, die aus den engen Ärmeln seines Rockes hervorstrotzen, wie würdest Du staunen über die kräftigen Muskeln! Er hat einen Nacken wie ein Stier, und sein Kopf ist bekränzt mit krausem, blondem Haar – kurz, ein wahrer Herkules Farnese. Übrigens fand ich sein Gesicht weniger verändert als die anderen, nicht einmal viel voller ist es geworden, und das heitere, wie Du zu sagen pflegtest, gähnende Lächeln ist noch ganz dasselbe. Ich habe den Burschen zu meinem Kammerdiener gemacht; meinen letzten, den ich in Petersburg hatte, ließ ich in Moskau zurück. Er hatte es sehr darauf abgesehen, mich zu beschämen und mir seine Überlegenheit in residenzlichen Manieren fühlbar zu machen. Von meinen Jagdhunden fand ich keinen einzigen wieder. Nefka allein hat die anderen überlebt, doch erharrte auch er nicht meine Rückkehr wie Argos die des Odysseus. Es war seinem erlöschenden Blicke nicht vergönnt, den einstigen Herrn und Jagdgenossen wiederzusehen. Schafka aber ist gesund, bellt noch immer heiser, hat noch immer ein zerrissenes Ohr und Kletten im Schweife, wie es in der Ordnung ist.

Ich habe mich in Deinem ehemaligen Zimmer eingerichtet. Es ist allerdings sehr der Sonne ausgesetzt und wimmelt von Fliegen; aber man spürt hier weniger als in den anderen Zimmern den Geruch des alten Hauses. Seltsam, dieser scharfe, säuerliche, modrige Geruch wirkt mächtig auf meine Phantasie; nicht gerade unangenehm, im Gegenteil; aber er stimmt mich trüb und endlich melancholisch. Ebenso wie Du liebe[11] auch ich die alten bauchigen Kommoden mit Messingplättchen, die weißen Sessel mit ovalen Lehnen und geschweiften Füßen, die fliegenbesetzten Kristalllüster, kurzum jedes altväterliche Möbel; aber beständig dergleichen anzusehen, vermag ich nicht; es versetzt mich in einen Zustand beunruhigender Langeweile. Das Zimmer, welches ich bewohne, ist ganz einfach möbliert. Doch habe ich in der Ecke einen schmalen, langen Schrank stehenlassen mit Fächern und staubbedecktem grünem und blauem Glasgeschirr darauf, und an die Wand ließ ich jenes weibliche Bildnis in schwarzem Rahmen hängen – weißt Du noch? –, welches Du ein Porträt der Manon Lescaut nanntest. In den neun Jahren ist die Farbe dieser jungen Frau etwas trüb geworden, indes ihren Augen der sanfte, sinnige Ausdruck, wie ihren Lippen das leise melancholische Lächeln geblieben ist; und ihrer zarten Hand entfällt noch die halb zerpflückte Rose. Sehr amüsieren mich die Rollos an meinen Fenstern; sie waren einst grün, jetzt sind sie von der Sonne vergilbt. Die schwarzen Zeichnungen, womit sie ein erfindungsreicher Künstler ausgeschmückt hat, stellen einige Hauptszenen aus dem Einsiedler von d'Arlincourt vor: eine Entführungs- und Mordszene, alle möglichen Schrecken; und dabei ringsumher dieser tiefe, ununterbrochene Frieden, dieser sanfte Abglanz, der von den Rollos selbst auf die Decke fällt!

Seit meiner Ankunft erfreue ich mich einer vollständigen Seelenruhe. Ich habe keine Lust, etwas zu machen, noch jemand zu sehen; zu träumen habe ich[12] von nichts, zum Denken bin ich zu träg, nur zum Sinnen nicht. Denken und Sinnen, wie Du selbst recht gut weißt, sind zwei verschiedene Dinge.

Zuerst waren die Erinnerungen der Kindheit über mich gekommen. Bei jedem Schritt, den ich auf der heimatlichen Erde tat, bei jedem Gegenstand, den ich erblickte, stiegen sie in vollkommener Klarheit bis auf die geringfügigsten Einzelheiten vor meiner Seele auf; dann wechselten diese Erinnerungen mit andern, dann ... dann wandte ich mich leise ab von dem Vergangenen, und mir blieb nur eine Art angenehmer Abspannung, eine einschläfernde Schwere in dem Herzen zurück. Denke Dir, als ich so neulich auf dem Damm unter einem Baume saß, fing ich mit einemmal zu weinen an und würde trotz meiner vorgerückten Jahre noch lange geweint haben, hätte ich nicht eine alte Bäuerin bemerkt, welche mich neugierig betrachtete und dann, ohne das Gesicht von mir zu wenden, sich tief bückend, vorbeiging. Mir ist dieser Gemütszustand, die Tränen abgerechnet, sehr angenehm, und gern möchte ich ihn bis zum Zeitpunkt meiner Abreise, das heißt bis zum September, bewahren. Ich würde sehr übler Laune sein, wenn einer meiner Nachbarn mich aufsuchte; doch glaube ich, daß ich dies nicht zu befürchten habe, da meine nächsten Nachbarn immer noch weit genug von mir hausen. Du verstehst mich, davon bin ich überzeugt; Du weißt aus eigner Erfahrung, wie wohltätig oft diese Einsamkeit ist ... Ich bedarf ihrer jetzt nur zu sehr nach all meinen Wanderungen.

[13] Überdies kann ich mich nicht langweilen. Ich habe Bücher mitgebracht, und hier ist auch eine ansehnliche Bibliothek. Als ich gestern die staubigen Bücherschränke durchstöberte, fand ich mehrere interessante Werke, denen ich früher keine Aufmerksamkeit schenkte; unter andern eine handschriftliche Übersetzung von Voltaires »Candide« aus den siebziger Jahren; dann Journale aus derselben Zeit: »Le caméléon triomphant (Mirabeau); »Le paysan perverti« etc. Es fielen mir Kinderschriften in die Hand; sie hatten teils mir selbst, teils meinem Vater, meiner Großmutter und – denke nur – sogar meiner Urgroßmutter gehört. Auf einer ganz alten französischen Grammatik in buntem Einband steht mit großen Buchstaben »Ce livre appartient á Mlle. Eudoxie de Lavrine« und darunter die Jahreszahl 1741. Dann sah ich Bücher, die ich einst aus dem Ausland mitgebracht habe, darunter Goethes Faust. Dir ist vielleicht unbekannt, daß es eine Zeit gab, wo ich den Faust (natürlich den ersten Teil) Wort für Wort auswendig wußte und mich daran nicht satt lesen konnte. Doch andere Zeiten, anderer[14] Geschmack. In den letzten neun Jahren habe ich Goethe kaum wieder zur Hand genommen. Mit welchem unaussprechlichen Gefühl erblickte ich gestern das kleine, mir nur zu wohlbekannte Büchlein (die schlechte Ausgabe von 1828)! Ich steckte es zu mir, legte mich ins Bett und fing an zu lesen. Wie ergriffen war ich von der prächtigen ersten Szene! Die Erscheinung des Erdgeistes, seine Worte, die Dir wohl erinnerlich sind:


»In Lebensfluten, im Tatensturm
wall ich auf und ab«,

erregten in mir einen längst nicht mehr empfundenen Schauer der Begeisterung. Diese Lektüre erinnerte mich auf einmal an Berlin und mein Studentenleben, an Fräulein Clara Stich, das allerliebste Gretchen, an Seydelmann als Mephistopheles und an die Musik von Radziwill und an was alles noch! – – – Ich konnte lange nicht einschlafen. Meine Jugend stieg vor mir auf wie eine magische Erscheinung, ein neues Feuer durchglühte meine Adern, erweiterte mein Herz; etwas griff in dessen Saiten, und Wünsche brausten auf ...

Da hast Du die Träumereien, welchen sich Dein alter, bald vierzigjähriger Freund in seiner Einsamkeit hingegeben hat. Wenn jemand mich in dieser Gemütsverfassung belauscht hätte! Doch warum soll ich mich ihrer schämen? Nein, diese Art verschämter Furcht ist nur der Jugend eigen, und ich merke, daß ich alt werde. Weißt Du, woran ich es merke? Ich [15] suche jetzt vor mir selber die angenehmen Empfindungen zu vergrößern und die traurigen zu unterdrücken. In meiner Jugend verfuhr ich umgekehrt. Da gefiel ich mir in meiner Trauer, bewahrte sie wie einen Schatz und machte mir aus einer frohen Wallung fast ein Gewissen.

Trotz all meiner Lebenserfahrung scheint mir jedoch, Freund Horatio, es gebe noch etwas in der Welt, was ich nicht erfahren, und dieses Etwas möchte vielleicht das Wichtigste sein.

Doch wo bin ich hingeraten? Lebe wohl! Ein andermal mehr. Was treibst Du in Petersburg? Apropos, mein Koch Sawéli läßt Dich grüßen. Er ist auch gealtert und ein wenig dick und schwerfällig geworden, was ihn übrigens nicht hindert, mir noch gute Hühnersuppen mit Zwiebeln zu bereiten, wie auch Käsekuchen mit zierlichen Rändern und saure Suppen mit Gurken, das beliebte Steppengericht, wovon Du ein mal einen Pelz auf die Zunge bekamst, den Du vierundzwanzig Stunden nicht los wurdest. Nur seine Braten sind stets wie trockener Pappendeckel. Jetzt aber lebe wohl!

Dein P. B.

12. Juni 1850

[16] M ..., 12. Juni 1850


Ich habe Dir, teurer Freund, eine wichtige Neuigkeit mitzuteilen. Hör an! Gestern vor Tisch bekam ich Lust spazierenzugehen, und zwar nicht im Garten, sondern auf der Straße, die nach der Stadt führt. Ich wandere gern mit raschen Schritten, planlos auf einem Wege, der sich weit vor mir ausdehnt. Es ist einem dabei, als habe man ein Geschäft, eile irgendwohin. – Plötzlich sehe ich eine Kalesche mir entgegenfahren. Doch nicht zu mir? denke ich mit geheimem Schrecken ... Aber nein; in der Kalesche saß ein mir unbekannter, schnurrbärtiger Herr. Ich beruhigte mich. Allein wie der Unbekannte mir nahe kommt, heißt er auf einmal seinen Kutscher halten, [17] nimmt höflich seine Mütze ab und fragt mich noch höflicher, ob er nicht die Ehre habe, mit Herrn P. B. zu sprechen. Ich erwidere mit dem Mut eines Angeklagten auf der Verbrecherbank: »Der bin ich.« Dabei sehe ich den Herrn mit dem Schnurrbart an und denke: Gott, den muß ich schon irgendwo gesehen haben.

»Sie erkennen mich nicht?« ruft er, inzwischen aus dem Wagen steigend.

»Nein, mein Herr.«

»Und ich habe Sie gleich erkannt.«

Nun kam es heraus: es war Priemkoff, weißt Du, unser alter Studiengenosse. Ei! denkst Du in diesem Augenblick, was ist denn das für eine wichtige Nachricht! Priemkoff war, soviel ich mich erinnere, ein ziemlich hohler Bursche, weder bösartig noch dumm. Zugegeben, teurer Freund, aber höre weiter! »Ich war sehr erfreut zu hören«, sagte er, »daß Sie Ihr Gut wieder bezogen haben; denn ich wohne in Ihrer Nachbarschaft. Und ich bin es nicht allein, der sich darüber freut.«

»Erlauben Sie mir die Frage, wer noch die Liebenswürdigkeit hat, sich zu ...«

»Meine Frau!«

»Ihre Frau?«

»Ja, sie ist eine alte Bekannte von Ihnen.«

»Darf ich Sie bitten, mir zu erklären ...«

»Ich habe Fräulein Wera Elzoff geheiratet.«

»Wera Elzoff?« rief ich unwillkürlich aus.

Das, lieber Freund, das eben ist die wichtige Neuigkeit, [18] die ich gemeint habe. Aber damit Du auch begreifst, warum, muß ich Dir eine Episode aus meiner Vergangenheit, aus früher Vergangenheit, mitteilen.

Als ich im Jahre 1836 mit Dir die Universität verließ, war ich dreiundzwanzig Jahre alt ... Du tratest in den Staatsdienst, ich entschloß mich, wie Du weißt, nach Berlin zu reisen. Allein, da ich vor dem Oktober in Berlin nichts zu tun hatte, wollte ich den Sommer in Rußland auf dem Lande zubringen, zum letzten Male die Freude eines süßen Müßigganges auskosten, um dann ernstlich an die Arbeit zu gehen. Wie weit dieses letztere Vorhaben zur Ausführung kam, davon reden wir jetzt nicht. Aber wo den Sommer zubringen? fragte ich mich. Auf meine Güter mich zu begeben, hatte ich keine Lust. Mein Vater war kürzlich gestorben, an nahen Verwandten fehlte es mir; ich fürchtete die Einsamkeit, die Langeweile. In dieser Verlegenheit nahm ich mit Freuden die Einladung eines Vetters auf sein im Gouvernement Twer befindliches Gut an. Er war ein vermögender, braver Mann, lebte als großer Herr und bewohnte ein prächtiges Haus. Ich zog zu ihm. Er hatte eine zahlreiche Familie, zwei Söhne und fünf Töchter; außerdem war seine gastfreie Wohnung stets von Fremden überfüllt. Gäste kamen unaufhörlich – und doch hatte man kein Vergnügen. Die Tage gingen geräuschvoll dahin; es war unmöglich, einen Augenblick allein zu sein. Alles wurde gemeinschaftlich vorgenommen, alle sannen auf irgendein Mittel, sich zu zerstreuen, und alle waren des Abends schrecklich übermüdet. Diese Art von Leben [19] hatte etwas Abgeschmacktes. Ich nahm mir vor fortzugehen und wollte nur den Namenstag meines Vetters abwarten. Allein just an diesem Namenstag sah ich Wera Elzoff, und – ich blieb.

Wera war damals sechzehn Jahre alt. Sie lebte allein mit ihrer Mutter auf einem kleinen Besitztum, fünf Werst entfernt von meines Vetters Gut. Ihr Vater war, wie man sagte, ein ausgezeichneter Mann gewesen. Rasch zu dem Rang eines Obersten avanciert, würde er es ohne Zweifel noch weiter gebracht haben, wäre er nicht als noch junger Mann durch einen unglücklichen Zufall auf der Jagd von einem Kameraden erschossen worden. Er hinterließ Wera als Kind. Ihre Mutter war ebenfalls eine bedeutende Persönlichkeit, sehr belesen, sehr unterrichtet und mehrerer Sprachen mächtig. Mit ihrem Mann verband sie die innigste Liebe, obgleich sie sieben oder acht Jahre älter war als er. Er hatte sie aus dem väterlichen Hause entführt. Sie konnte sich niemals über seinen Verlust trösten, ging bis zu ihrem letzten Tag schwarz gekleidet und starb einige Zeit, nachdem sie ihre Tochter verheiratet hatte. Ich sehe sie noch vor mir mit ihrem ausdrucksvollen, schwermütigen Gesicht, ihrem dichten, ergrauenden Haar, ihren großen Augen mit dem strengen, etwas erloschenen Blick und ihrer geraden, feinen Nase. Ihr Vater hieß Ladanoff, war fünfzehn Jahre in Italien gewesen und hatte dort eine einfache Albanierin geheiratet, welche sich indes ihres Glückes nicht lange erfreute. Nachdem sie ihre einzige Tochter, Weras Mutter, zur Welt gebracht, wurde sie von[20] einem jungen Trasteveriner, ihrem ersten Bräutigam, dem sie Ladanoff entführt hatte, getötet. Diese Geschichte machte zu ihrer Zeit viel Aufsehen. Nach Rußland zurückgekehrt, schloß er sich in sein Arbeitszimmer ein, um nicht wieder herauszugehen. Er beschäftigte sich mit Chemie, Anatomie und kabbalistischen Studien, forschte dem Geheimnis nach, das menschliche Leben zu verlängern, bildete sich ein, daß man mit Geistern verkehren und die Toten zitieren könne ... Genug, seine Nachbarn betrachteten ihn als Hexenmeister. Er liebte seine Tochter außerordentlich und unterrichtete sie selbst in allem, aber daß sie sich von Elzoff hatte entführen lassen, vergab er ihr nicht. Weder sie noch ihr Mann durften ihm jemals unter die Augen kommen. Er prophezeite ihnen beiden ein unglückliches Leben und starb einsam.

Frau von Elzoff widmete nach ihres Mannes Tode ihre ganze Zeit der Erziehung der Tochter und sah fast keinen Menschen bei sich. Als ich die Bekanntschaft Weras machte, denke Dir, war sie noch in keiner Stadt, nicht einmal in der benachbarten Kreisstadt gewesen.

Wera unterschied sich von den gewöhnlichen russischen Fräulein, sie hatte ein ganz eigentümliches Gepräge. Gleich auf den ersten Blick überraschte mich die wunderbare Ruhe in all ihren Bewegungen und Reden. Sie schien sich um nichts zu bekümmern, noch zu beunruhigen, antwortete einfach und klug, hörte aufmerksam zu – und damit genug. Der Ausdruck ihres Gesichtes hatte die Offenheit und Reinheit eines [21] Kindes; er war etwas kalt und einförmig, ohne gerade nachdenklich zu sein. Lustig erschien sie selten und nicht wie andere Mädchen. Die Klarheit der unschuldvollen Seele, die liebenswürdiger ist als Lustigkeit, schimmerte in ihrem ganzen Wesen. Von mittlerem Wuchs, zart und anmutig, hatte sie feine, regelmäßige Züge, eine schöne glatte Stirn, goldig blondes Haar, eine gerade Nase wie die Mutter, ziemlich volle Lippen und dichte, nach oben gebogene Augenwimpern, unter denen hervor zwei schwarzgraue Augen fast zu sehr geradeaus blickten. Ihre Hände, obgleich klein, waren nicht eben schön; talentvolle Menschen haben keine solchen Hände. In der Tat besaß Wera auch kein besonderes Talent. Ihre Stimme klang wie die eines Kindes. Ich wurde beim Namensfest meines Vetters ihrer Mutter vorgestellt, und einige Tage darauf machte ich meinen ersten Besuch bei ihnen.

Frau von Elzoff war, wie ich Dir schon gesagt, eine ausgezeichnete Persönlichkeit, aber von ganz eigentümlichem Wesen, charaktervoll, beharrlich und konzentriert. Sie flößte mir Achtung, ja selbst eine gewisse Furcht ein. All ihr Tun war systematisch geordnet, und sie erzog ihre Tochter diesem Grundsatz gemäß, ohne übrigens deren Freiheit einzuschränken. Die Tochter liebte sie und hatte ein blindes Vertrauen zu ihr. Übergab ihr die Mutter ein Buch mit den Worten: »Die und die Seite lies nicht«, so hätte Wera lieber schon das vorhergehende Blatt übersprungen, und vollends auf die verbotene Seite warf sie keinen Blick mehr.

[22] Allein Frau von Elzoff hatte auch, wie die Franzosen sagen, ihre idées fixes, oder wie die Deutschen sagen, ihr Steckenpferd. So erfüllte sie z.B. eine tödliche Furcht vor allem, was die Phantasie aufregen konnte, und infolgedessen hatte ihre Tochter mit sechzehn Jahren noch keinen Roman, kein poetisches Werk gelesen. Hingegen konnte diese mit ihrer Kenntnis der Geschichte, Geographie und sogar Naturgeschichte mich selbst, den Kandidaten, der, wie Du Dich erinnern wirst, keiner der letzten war, ganz verblüffen. Eines Tages suchte ich das Gespräch mit Frau von Elzoff auf ihr Erziehungssystem zu lenken, was nicht leicht war, da sie sich im allgemeinen sehr zurückhaltend zeigte. Sie schüttelte den Kopf und sagte:

»Sie behaupten, daß das Lesen der Poeten eine nützliche und angenehme Beschäftigung sei; mir scheint, daß man sich früh im Leben entweder für das Angenehme oder für das Nützliche entscheiden und daß man an der getroffenen Wahl für immer festhalten muß. Auch ich wollte einst beides vereinigen ... Doch das ist unmöglich und führt entweder zum Verderben oder zur Albernheit.«

Ja, Weras Mutter war ein seltenes Wesen, recht schaffen und stolz, aber nicht ohne Fanatismus und eine Art Aberglauben. »Das Leben macht mich bange«, sagte sie einmal zu mir, und in der Tat hatte sie eine Bangigkeit vor dem Leben, vor dessen tiefinneren, geheimnisvollen Kräften, die bisweilen plötzlich hervorbrechen. Wehe dem, über den sie sich entladen! Und hatte die arme Frau nicht das Grausamste von ihnen [23] erfahren? Bedenke man den Tod ihrer Mutter, ihres Vaters, ihres Mannes! Welche Kette schrecklicher Ereignisse!

Ich sah sie auch niemals lächeln. Man kann sagen, sie hatte ihr Herz verschanzt und den Schlüssel zur Festung im Wasser versenkt. Nie mochte sie ihre Schmerzen in den Busen eines andern ergossen haben; alles barg sie tief in sich. So sehr hatte sie sich gewöhnt, ihre Empfindungen zu beherrschen, daß sie selbst gegen ihre heißgeliebte Tochter Äußerungen der Zärtlichkeit vermied. Sie küßte sie niemals in meiner Gegenwart, nannte sie niemals Werchen, sondern immer Wera. Ich erinnere mich, daß ich ihr einmal sagte, wir modernen Leute wären alle etwas anbrüchig, worauf sie erwiderte: »Das hat keinen Sinn, man muß entweder ganz zerbrechen oder sich ganz unangetastet halten.«

Es kamen wenig Leute zu Frau von Elzoff; ich aber besuchte sie recht häufig, da ich bemerkte, daß sie mir Wohlwollen schenkte und Wera mir jetzt gefiel. Mit ihr unterhielt ich mich; ich ging mit ihr spazieren. Die Gegenwart der Mutter störte uns nicht im mindesten. Das junge Mädchen selbst entfernte sich nicht gern von ihr, und ich meinerseits hatte keinen Grund, mit ihr allein sein zu wollen. Diese offenherzige Wera hatte die eigentümliche Gewohnheit, laut zu denken, und nachts im Schlafe plauderte sie zuweilen von dem, was sie im Laufe des Tages beschäftigt hatte. Einmal sagte sie zu mir, indem sie mich scharf dabei ansah und ihrer Gewohnheit nach das Kinn leicht auf die [24] Hand stützte: »Ich glaube, Herr B. ist ein recht guter Mann, aber verlassen kann man sich nicht auf ihn.«

Unsere Beziehungen zueinander waren rein freundschaftlich und harmlos. Nur einmal schien es mir, als bemerkte ich in der tiefsten Tiefe ihrer hellen Augen einen seltsamen Ausdruck von Zärtlichkeit; doch vielleicht täuschte ich mich.

Inzwischen vergingen Wochen und Monate; es war Zeit, an meine Abreise zu denken, und ich konnte zu keinem Entschlusse kommen. Ich erschrak bei dem Gedanken, dieses sanfte, junge Wesen zu verlassen, und Berlin hatte für mich keine Anziehungskraft mehr. Ich wagte mir selbst nicht zu bekennen, was in mir vorging; ja, ich verstand mich selbst nicht. Es war, als ob ein Nebel meine Seele verhüllte. Endlich wurde mir eines Morgens alles klar ... Warum weiter suchen? fragte ich mich; welchem Ziele soll ich nachjagen? Das Richtige ist doch schwer zu finden. Wäre es nicht besser, hierzubleiben, zu heiraten?

Sieh, so wenig erschreckte mich damals der Gedanke ans Heiraten – im Gegenteil, ich erfaßte ihn mit Freuden. Am selben Tage entdeckte ich meine Gefühle, nicht Wera, wie man denken sollte, sondern ihrer Mutter. Die alte Dame sah mich an.

»Nein, mein Freund«, sagte sie, »gehen Sie nach Berlin. Sie sind recht brav, aber der Mann für meine Tochter sind Sie nicht.«

Ich blickte errötend zu Boden, und – worüber Du noch mehr erstaunen wirst – ich gab im Grunde meines Herzens der Mutter sofort recht. In der folgenden[25] Woche reiste ich ab, und ich sah weder Frau von Elzoff noch ihre Tochter wieder.

Da hast Du, teurer Freund, die Erzählung meiner Abenteuer in aller Kürze – denn ich weiß, daß Du keinerlei Weitschweifigkeit magst ... In Berlin vergaß ich sehr bald die hübsche Wera. Doch ich will es nur bekennen, die plötzliche Nachricht von ihr hat mich in eine gewisse Aufregung versetzt. Sie hier zu wissen in meiner Nähe, als meine Nachbarin, sie in einigen Tagen wiederzusehen, das war mir so überraschend. Das Vergangene stand mit einemmal, wie aus dem Boden emporgestiegen, vor mir und drang so an mich heran ...

Priemkoff sagte mir bei unserem Begegnen, daß er mit seinem Besuch nur unsere ehemalige Bekanntschaft erneuern wollte und daß er hoffte, mich bald bei sich zu sehen. Er teilte mir mit, daß er in der Kavallerie gestanden und mit Leutnantsrang aus dem Dienst getreten sei. Er habe ein Landgut, acht Werst von dem meinigen entfernt, gekauft, und seine Absicht sei, sich der Landwirtschaft zu widmen. Von den drei Kindern, die er gehabt, sind zwei gestorben, ein kleines fünf jähriges Mädchen ist ihm geblieben.

»Und Ihre Frau Gemahlin erinnert sich meiner noch?« fragte ich ihn.

»Ja«, erwiderte er mit einem gewissen Zögern, »sie war freilich noch sehr jung, als Sie sie kannten; aber ihre Mutter lobte sie stets, und Sie wissen, wie teuer ihr jedes Wort der Verstorbenen ist.«

Hier fielen mir die Worte ein, die Frau von Elzoff an [26] mich gerichtet: »Sie sind der Mann nicht für meine Tochter«, und einen Seitenblick auf Priemkoff werfend, dachte ich: Also Du warst der Mann für sie!

Er blieb mehrere Stunden bei mir. Er ist ein angenehmer, netter Mann, der in bescheidenem Tone spricht und dabei so gutmütig dreinsieht. Man kann nicht anders, als ihn gern haben. Doch seine Geistesfähigkeiten sind seit der Zeit, wo wir ihn kennengelernt, nicht vorgeschritten. Besuchen werde ich ihn ganz bestimmt, vielleicht morgen schon. Ich bin außerdem begierig zu sehen, was aus Wera geworden ist.

Aber Du böser Mensch spottest meiner auf Deinem Direktionsbüro. Trotzdem will ich Dir berichten, welchen Eindruck sie bei mir hinterlassen wird. Lebe wohl!

Dein P. B.

16. Juni 1850

[27] M ..., 16. Juni 1850


Nun, mein Freund, ich bin bei ihr gewesen, ich habe sie gesehen! Vor allem muß ich Dir einen merkwürdigen Umstand mitteilen. Du magst es mir glauben oder nicht, Wera hat sich fast gar nicht verändert, in ihrem Aussehen wie in ihrer Gestalt. Als sie mir entgegenkam, konnte ich nur mit Mühe mein Erstaunen zurückhalten; ich sah vor mir das junge siebzehnjährige Mädchen, gerade wie ehemals. Nur den Augen fehlte der kindliche Ausdruck, den sie aber auch nie gehabt; sie waren in ihrer Jugend schon zu feurig für Kinderaugen. Sonst ist sie noch ganz wie damals: dieselbe Ruhe in Gang und Haltung, dieselbe Stimme, dieselbe glatte Stirn. Als hätte sie diese ganze Reihe von Jahren irgendwo unter einer Schneedecke zugebracht! ... Und sie ist jetzt achtundzwanzig Jahre alt und hat drei Kinder gehabt ... Unbegreiflich! Denke nicht etwa, daß ich aus Voreingenommenheit übertreibe. Im Gegenteil, diese »Wandellosigkeit« gefällt mir an ihr ganz und gar nicht.

Mit achtundzwanzig Jahren soll eine Frau und Mutter nicht mehr wie ein junges Mädchen aussehen; sie hat ja doch nicht umsonst gelebt.

Wera empfing mich sehr freundlich, und vollends ihr Mann war hocherfreut über meinen Besuch. Der gute Kerl scheint sich wirklich nur danach umzusehen, wo er sich an jemand attachieren kann. Sie haben ein recht bequemes und sauberes Wohnhaus. Auch die Toilette Weras war ganz mädchenhaft. Sie trug ein [28] weißes Kleid mit einem blauen Gürtel und eine feine goldene Kette um den Hals. Ihr Töchterchen ist allerliebst, sieht ihr aber nicht ähnlich und erinnert mehr an die Großmutter. Ein wohlgetroffenes Bild dieser seltsamen Frau hängt im Salon über dem Sofa. Es fiel mir gleich in die Augen, als ich eintrat; es schien streng und aufmerksam auf mich zu blicken.

Wera nahm ihren Lieblingsplatz auf dem Sofa unter dem Bild ein, ich setzte mich ihr gegenüber, und indem wir von der Vergangenheit redeten, konnte ich nicht umhin, oft die Augen zu der düsteren Gestalt der Mutter zu erheben. Du kannst Dir mein Erstaunen denken, wenn ich Dir sage, daß eingedenk der [29] Lehren ihrer Mutter Wera bis jetzt keinen einzigen Roman, kein einziges poetisches oder, wie sie sich ausdrückt, erdichtetes Werk gelesen hat. Eine solche Gleichgültigkeit gegen die edelsten Geistesgenüsse ärgert mich. Bei einer gescheiten und, soweit ich sie beurteilen kann, feinfühligen Frau ist das geradezu unverzeihlich.

»Also«, fragte ich sie, »haben Sie es sich zur Pflicht gemacht, niemals derartige Bücher zu lesen?«

»Nein«, erwiderte sie; »aber ich kam nicht dazu, ich hatte keine Zeit.«

»Keine Zeit? Ich staune. Aber Sie«, wandte ich mich an Priemkoff, »warum haben Sie Ihrer Frau nicht Geschmack für Literatur beigebracht?«

»Ich würde es sehr gern getan haben«, versetzte er, »indes ...«

Wera fiel ihm ins Wort.

»Stelle Dich doch nicht so an! Du bist selbst kein großer Liebhaber von Versen.«

»Von Versen, das ist richtig«, erwiderte Priemkoff, »aber Romane zum Beispiel ...«

»Wie verbringen Sie denn Ihre Abende«, fragte ich Wera, »spielen Sie Karten?«

»Zuweilen. Aber an Beschäftigung fehlt es uns ja nicht. Wir lesen auch. Es gibt außer Poesie noch eine ganze Anzahl vortrefflicher Bücher.«

»Was haben Sie nur gegen poetische Werke?«

»Ich habe nichts gegen sie; allein von klein auf ließ ich diese erdichteten Werke ungelesen. Meine Mutter wollte es so, und je älter ich werde, desto mehr überzeuge [30] ich mich, daß alles, was meine Mutter tat und sprach, heilige Wahrheit war.«

»Sehr wohl; aber ich kann Ihnen doch nicht beistimmen. Ich glaube, daß Sie gar keinen Grund haben, sich eines so reinen und berechtigten Genusses zu berauben. Sie verwerfen doch auch nicht die Musik, die Malerei; warum denn nur die Dichtkunst?«

»Ich verwerfe sie gar nicht, ich habe sie bis jetzt nur nicht kennengelernt, das ist alles.«

»Dann lassen Sie das meine Sache sein. Ihre Frau Mutter hat Ihnen doch wohl nicht für alle Zeit verboten, mit der schönen Literatur bekannt zu werden?«

»Durchaus nicht. Bei meiner Verheiratung nahm sie jedes Verbot zurück. Aber mir selbst kam es nicht in den Sinn, diese – wie nannten Sie sie doch gleich? – Romane zu lesen.«

Ich hörte ihr mit Befremden zu; das hatte ich nicht erwartet. Sie sah mich dabei ruhig an, so wie die Vögel blicken, wenn sie furchtlos sind.«

»Ich will Ihnen ein Buch bringen«, rief ich. Mir fiel gerade der Faust ein.

Wera stieß einen leisen Seufzer aus und sagte mit einer gewissen Ängstlichkeit:

»Ein Buch ... Doch nicht etwa von George Sand?«

»Ah, Sie haben also doch von dieser Dichterin gehört? Nun, und wenn es ein Buch von ihr wäre, was würde das schaden! Doch nein, ich bringe Ihnen einen anderen Autor. Sie haben doch Ihr Deutsch nicht vergessen?«

[31] »Nein.«

»Sie spricht es wie eine Deutsche«, fiel Priemkoff ein.

»Vortrefflich, nun, Sie sollen sehen, was ich Ihnen für ein wunderbares Buch mitbringe.«

»Schön, wir wollen sehen. Aber jetzt kommen Sie in den Garten, meine kleine Natalie hält es nicht länger aus.«

Sie setzte einen runden Strohhut auf, einen rechten Kinderhut, ganz wie der ihres Töchterchens, nur etwas größer. Ich ging neben ihr. In der frischen Luft, im Schatten der hohen Linden, kam mir ihr Gesicht noch lieblicher vor, besonders wenn sie das Köpfchen leicht [32] zurückbog, um unter dem Hutrand hervor zu mir aufzublicken. Ging Priemkoff nicht hinter uns her und hüpfte das kleine Mädchen nicht voraus, ich hätte mir einbilden können, ich sei noch der zweiundzwanzigjährige junge Mann, im Begriff, nach Berlin zu reisen. So lebhaft fühlte ich mich in jene Zeit zurückversetzt und das um so mehr, als auch der Garten, in dem wir uns jetzt befanden, dem der Frau von Elzoff sehr ähnlich sah. Ich konnte mich nicht enthalten, Wera diesen meinen Eindruck mitzuteilen.

»Alle sagen mir«, erwiderte sie, »daß ich mich äußerlich wenig verändert hätte. Ich bin übrigens auch in meinem Innern dieselbe geblieben.«

Wir näherten uns einem chinesischen Pavillon.

»Ein solches Häuschen«, bemerkte Wera, »hatten wir in Ossinowka nicht. Achten Sie nicht darauf, daß es so verwittert und baufällig aussieht; drinnen ist es recht hübsch und kühl.«

Wir traten ein; ich sah mich um.

»Wissen Sie«, sagte ich zu Wera, »hierher lassen Sie, wenn ich wiederkomme, einen Tisch und einige Stühle bringen. Hier ist es wirklich prächtig. Hier lese ich Ihnen Goethes Faust vor; nichts Geringeres will ich Ihnen vorlesen.«

»Jawohl, hier sind keine Fliegen«, bemerkte sie naiv.

»Und wann kommen Sie wieder?«

»Übermorgen.«

Plötzlich sprang die kleine Natalie, die zugleich mit uns eingetreten war, bleich und mit einem Schrei des Entsetzens zurück.

[33] »Was hast du?« fragte Wera.

»Ach, Mama! Sieh, sieh, das schreckliche Tier!« rief das Kind und zeigte auf eine ungeheure Spinne, die an der Wand heraufkroch.

»Warum fürchtest du dich?« fragte Wera. »Sie tut dir nichts.« Und ehe ich sie hindern konnte, nahm sie das widerwärtige Insekt, ließ es einen Augenblick auf ihrer Hand kriechen und warf es dann hinaus.

»Ei«, rief ich, »wie tapfer Sie sind!«

»Wieso tapfer? Das war keine von den giftigen Spinnen.«

»Ich sehe, die Naturgeschichte ist noch immer Ihre Stärke. Aber wahrlich, ich hätte das abscheuliche Insekt nicht angegriffen.«

»Man hat sich nicht davor zu fürchten«, wiederholte Wera. Natalie sah uns beide an und lachte.

»Wie ähnlich das Kind Ihrer Mutter sieht!« sagte ich.

»Jawohl«, entgegnete Wera mit einem Lächeln der Befriedigung, »das freut mich sehr. Gott gebe, daß sie ihr nicht allein von Gesicht ähnlich sei.«

Wir wurden zu Tisch gerufen, und nach dem Essen ging ich fort. Beiläufig bemerke ich für Dich, Du Feinschmecker, das Essen war sehr gut und schmackhaft. Morgen bringe ich ihnen den Faust. Wenn ich mit dem alten Goethe nur nicht durchfalle! Werde Dir alles ausführlich beschreiben.

Nun, was denkst Du von all diesen Begebenheiten? Gelt, daß sie auf mich einen zu lebhaften Eindruck gemacht hat, daß ich mich in sie verlieben könnte? Possen, Freundchen! Es ist Zeit, vernünftig zu werden. [34] Ich habe genug Torheiten begangen. Und ich bin nicht mehr in den Jahren, wo man das Leben von vorn anfängt. Übrigens sind mir auch solche Frauen nie gefährlich gewesen. Welche Frauen waren mir überhaupt gefährlich?


»Mein zitternd Herz beginnt voll Grämen
seiner Idole sich zu schämen.«

In jedem Falle freue ich mich über diese Nachbarschaft, freue mich der Gelegenheit, dieses gute, sanfte, kindliche Weib oft zu sehen. Was weiter kommt, erfährst Du seiner Zeit.

Dein P. B.

20. Juni 1850

[35] M ..., den 20. Juni 1850


Teurer Freund! Die Vorlesung, von welcher ich Dir berichtet, hat gestern stattgefunden, und wie es dabei zugegangen ist, will ich der Reihe nach erzählen. Vor allem drängt es mich, Dir zu sagen: der Erfolg übertraf alle Erwartung. Erfolg – das ist nicht einmal das rechte Wort. Doch höre!

Ich erschien zur Stunde des Diners. Wir saßen zu sechs am Tisch: Wera, ihr Gemahl, ihre Tochter, deren bleich und unbedeutend aussehende Gouvernante und ein alter Deutscher in kurzschößigem, zimtfarbigem Frack, sauber rasiert, bescheiden, rechtschaffenen Aussehens, mit treuherzigem Lächeln und zahnlosem Munde. Dieser alte Deutsche verbreitete einen starken Zichoriengeruch um sich – den unvermeidlichen Geruch aller alten Deutschen. Man stellte mir ihn vor: er heißt Schimmel und ist einige Werst von hier, im Haus des Fürsten Ch. Sprachlehrer. Wera, die ihn sehr gern zu haben scheint, hatte ihn aufgefordert, unserer Lektüre beizuwohnen. Wir gingen ziemlich spät zu Tisch und blieben lange sitzen. Nachher machten wir einen Spaziergang. Das Wetter war wundervoll. Der Morgen war etwas windig und regnerisch gewesen, am Abend jedoch klärte sich der Himmel wieder auf, und wir schlenderten gemeinschaftlich ins freie Feld hinaus. Über uns schwebte licht und hoch eine große rosige Wolke, umflattert von grauen Streifen. Hinter ihrem äußersten Rande zitterte, bald auftauchend, bald verschwindend, ein Sternlein hervor; ein wenig [36] weiter davon zeichnete sich scharf die weiße Mondsichel auf dem leicht geröteten Blau des Himmels ab. Ich machte Wera auf diese Wolke aufmerksam.

»Ja«, sagte sie, »das ist sehr hübsch; aber sehen Sie hierher!«

Ich sah mich um. Die untergehende Sonne verhüllend, erhob sich ein mächtiges dunkelblaues Gewölk. Es sah aus wie ein feuerspeiender Berg: der Gipfel eine breite Flammengarbe, ringsherum ein heller Saum von unheilkündendem Purpur, der an einer Stelle, gerade in der Mitte, die schwarze Masse durchbrach, wie hervorgeschleudert aus dem glühenden Schlund ...

»Das wird ein Unwetter geben«, sagte Priemkoff.

Doch ich komme ab von der Hauptsache. Ich vergaß, Dir in meinem letzten Brief zu sagen, daß ich es bereute, zu meiner Vorlesung Faust gewählt zu haben.

Schiller hätte sich weit mehr geeignet, wenn einmal mit deutscher Literatur der Anfang gemacht werden sollte. Vor allem hatte ich meine Bedenken wegen der ersten Szenen bis zur Bekanntschaft mit Gretchen, und auch in bezug auf Mephistopheles war ich nicht ganz ruhig. Allein ich stand einmal unter dem Einfluß des Faust, und keine andere Lektüre wäre mir so nach dem Herzen gewesen.

Als es dunkel wurde, versammelten wir uns in dem chinesischen Pavillon, der abends zuvor hergerichtet worden war. Gerade der Tür gegenüber vor dem Sofa stand ein runder Tisch mit einer Decke; rings umher Stühle und Lehnsessel. Auf dem Tisch brannte eine Lampe. Ich setzte mich aufs Sofa und nahm das [37] Buch zur Hand. Wera ließ sich nahe der Tür in einem Sessel nieder. Beim Schein der Lampe konnte man die vor dem Eingang des Pavillons sich leicht schaukelnden Zweige der Akazien erkennen, und von Zeit zu Zeit blies der Nachtwind frisch durch die geöffnete Tür. Priemkoff saß mir zunächst am Tische, neben[38] ihm der alte Deutsche. Die Gouvernante war mit Natalie im Hause geblieben. Vor dem Beginn meiner Vorlesung sprach ich einige erklärende Worte über die Faustlegende, über die Bedeutung des Mephistopheles, über den Dichtergenius Goethes, und bat, mich zu unterbrechen, wenn irgendeine Stelle des Gedichtes unklar erscheinen sollte. Dann räusperte ich mich ...

Priemkoff fragte, ob ich nicht ein Glas Zuckerwasser wünsche, und war, wie sich an allem merken ließ, sehr zufrieden mit sich selbst, daß er diese Frage an mich gerichtet hatte. Ich fing an zu lesen, ohne die Augen aufzuschlagen; mir war ängstlich zumute, mein Herz schlug heftig, meine Stimme zitterte. Der erste Ausruf entrang sich dem Deutschen; er war im Verlaufe der Lektüre der einzige, welcher die Stille unterbrach ... »Wunderbar! Erhaben!« wiederholte er, und fügte manchmal hinzu: »Aber das ist ein wenig stark.«

Priemkoff langweilte sich, wie mir schien, da er die deutsche Sprache nur oberflächlich versteht und selbst bekennt, daß er keine Verse mag ... Wer hieß ihn auch zuhören? Schon bei Tisch wollte ich ihm einen Wink geben, daß er bei der Vorlesung nicht zugegen zu sein brauche; aber ich fürchtete, ihn zu beleidigen.

Wera rührte sich nicht. Ein paarmal warf ich einen verstohlenen Blick auf sie; ihre Augen waren aufmerksam und fest auf mich gerichtet; sie sah bleich aus. Nach der ersten Begegnung Fausts mit Gretchen bog sie sich aus der Stuhllehne hervor, faltete die Hände auf dem Schoß und blieb bis zum Ende des[39] Stückes in dieser Stellung. Anfangs störte mich die Gleichgültigkeit Priemkoffs, bald aber vergaß ich ihn, wurde immer ernster und las mit Wärme und Hingerissenheit. – Ich las nur für Wera allein. Eine innere Stimme sagte mir, daß Faust einen lebhaften Eindruck auf sie machte. Als ich geendet (das Walpurgisnacht-Intermezzo sowie einiges aus der Hexenküchen-Szene übersprang ich), als das letzte »Heinrich!« erscholl, rief der Deutsche voll Rührung; »Gott, wie herrlich!« Priemkoff sprang erfreut auf; der arme Mann dankte mir seufzend für das Vergnügen, welches [40] ich ihm bereitet! ... Ich erwiderte nichts darauf und sah Wera an; ich war nur begierig zu hören, was sie sagen würde. Sie erhob sich, wankte der Tür zu, stand eine Weile auf der Schwelle und ging dann langsamen Schrittes hinaus in den Garten. Ich eilte ihr nach. Sie war mir einige Schritte voraus, und ich konnte in der Dunkelheit kaum ihr weißes Kleid unterscheiden.

»Nun«, rief ich ihr zu, »hat es Ihnen nicht gefallen?« Sie blieb stehen.

»Können Sie mir dieses Buch leihen?« entgegnete sie.

»Ich schenke es Ihnen, wenn Sie es haben wollen.«

»Ich danke Ihnen«, sagte sie und verschwand. Priemkoff und der Deutsche näherten sich mir.

»Es ist doch merkwürdig warm«, sagte Priemkoff, »sogar schwül. Aber wo ist denn meine Frau?«

»Ich glaube, sie ist ins Haus gegangen«, erwiderte ich.

»Ich dächte, wir könnten bald soupieren«, versetzte er. »Sie lesen so vortrefflich«, fügte er nach einer Weile hinzu.

»Ihrer Frau Gemahlin scheint Faust sehr gefallen zu haben«, bemerkte ich.

»Ohne Zweifel«, rief Priemkoff.

»Oh, ganz gewiß«, fiel Herr Schimmel ein.

Wir traten ins Haus.

»Wo ist meine Frau?« fragte Priemkoff das uns entgegenkommende Stubenmädchen.

»Gnädige Frau haben sich in ihr Schlafzimmer begeben.«

Priemkoff ging ins Schlafzimmer.

[41] Ich blieb mit Herrn Schimmel auf der Terrasse. Der Alte hob seine Augen zum Himmel.

»Wie viele Sterne!« murmelte er, eine Prise nehmend.

»Und alle diese Sterne sind Welten für sich!« fügte er hinzu, indem er eine zweite Prise nahm.

Ich hielt es nicht für nötig zu antworten und sah bloß schweigend zum Himmel auf. Ein geheimer Zweifel quälte mich ... Es schien mir, als blickten die Sterne so ernst auf uns hernieder.

Nach einigen Minuten kam Priemkoff zurück und bat uns in den Speisesaal.

Bald darauf erschien auch Wera. Wir setzten uns.

»Sehen Sie doch meine Frau an«, sagte mir Priemkoff.

Ich richtete meine Augen auf sie.

»Wie? Bemerken Sie nichts?«

Ich bemerkte allerdings eine Veränderung in ihrem Gesicht, gab jedoch – ich weiß nicht warum – zur Antwort: »Nein, ich sehe nichts.«

»Hat sie nicht gerötete Augen?« fuhr Priemkoff fort.

Ich schwieg.

»Denken Sie, als ich in ihr Zimmer trat, fand ich sie in Tränen. Das ist ihr lange nicht widerfahren. Wissen Sie, wann sie zuletzt geweint hat? Als wir unsere kleine Sascha verloren. Das haben Sie mit Ihrem Faust angerichtet«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

»Also sehen Sie jetzt ein«, wandte ich mich zu Wera, »daß ich recht hatte, als ...«

»Das hatte ich nicht erwartet«, unterbrach sie mich.

»Aber Gott weiß, ob Sie recht getan haben. Vielleicht [42] erlaubte mir meine Mutter nur darum nicht, solche Bücher zu lesen, weil sie wußte, daß ...«

Wera hielt inne.

»Was wußte sie?« wiederholte ich. »Sprechen Sie es aus!«

»Wozu? Ich schäme mich so schon. Wie konnte ich nur weinen? Wir wollen übrigens noch darüber reden; ich habe einiges nicht recht verstanden.«

»Warum haben Sie mich nicht gleich gefragt?«

»Die Worte habe ich alle verstanden und auch ihren Sinn, aber ...« Sie schwieg von neuem und wurde nachdenklich. In diesem Augenblick hörte man den Wind plötzlich durch das Laub der Bäume im Garten brausen. Vera fuhr zusammen und wandte sich nach dem offenen Fenster.

»Ich habe es ja gesagt, daß wir Gewitter bekommen«, rief Priemkoff. »Aber liebe Wera, was fährst du so zusammen? Sie sah ihn stillschweigend an. Der Widerschein eines matten, fernen Blitzes zuckte geheimnisvoll auf ihrem unbeweglichen Gesicht.

»Das macht alles der Faust«, versetzte Priemkoff.

»Nach dem Essen tun wir am besten, uns gleich aufs Ohr zu legen. Nicht wahr, Herr Schimmel?«

»Nach einem geistigen Genuß ist physische Erholung ebenso wohltätig als nützlich«, erwiderte der gute Deutsche und leerte ein Gläschen Likör.

Als das Souper beendet war, trennten wir uns. Beim Abschied drückte ich Wera die Hand; sie war kalt. Ich ging auf mein Zimmer und blieb lange am Fenster stehen, ehe ich mich auskleidete und zu Bett legte. [43] Priemkoffs Vorhersagung traf ein: das Gewitter zog herauf und entlud sich. Ich hörte, wie der Wind brauste, wie der Regen an die Bäume prasselte, sah, wie bei jedem Aufflackern des Blitzes die am See gelegene nahe Dorfkirche bald schwarz auf weißem Grunde, bald hell auf dunklem Grunde sich zeigte, bald wieder in der Finsternis verschwand ... Doch weitab davon schweiften meine Gedanken. Ich dachte an Wera, an das, was sie sagen würde, wenn sie selbst den Faust gelesen hätte, dachte an ihre Tränen, erinnerte mich der Aufmerksamkeit, mit welcher sie mir zugehört hatte.

Das Gewitter war längst vorüber; die Sterne erglänzten, alles war still. Ein mir unbekannter Vogel pfiff in verschiedenen Tonarten ein und dasselbe Lied. Sein einsamer, heller Gesang ertönte eigentümlich in der Stille der Nacht; ich ging noch immer nicht zu Bett.

Am anderen Morgen fand ich mich früher als alle im Salon ein. Vor dem Porträt der Frau von Elzoff stehenbleibend, sagte ich mit einem geheimen Triumph: »Nun habe ich doch noch deiner Tochter eines der von dir verbotenen Bücher vorgelesen!« Plötzlich war es mir ... Du hast gewiß bemerkt, daß die Porträts en face den Beschauer gleichmäßig anzublicken scheinen ... Diesmal aber kam es mir vor, als richtete Frau von Elzoff ihre Blicke vorwurfsvoll auf mich. Ich wandte mich ab, trat ans Fenster und erblickte Wera. Sie ging, einen Sonnenschirm in der Hand, ein weißes Tuch um den Kopf, im Garten spazieren. Ich eilte zu ihr, und wir begrüßten uns.

[44] »Die ganze Nacht habe ich nicht schlafen können«, sagte sie mir. »Ich habe Kopfweh. Ich wollte frische Luft schöpfen, vielleicht wird es besser.«

»Das wird doch nicht von der gestrigen Vorlesung sein?« fragte ich.

»Doch, doch. Ich bin an so etwas nicht gewöhnt. In Ihrem Buch sind Dinge, die ich nicht loswerden kann. Davon, glaube ich, brennt mir so der Kopf«, fügte sie, die Hand an die Stirn legend, hinzu.

»Das ist ja herrlich!« rief ich. »Nur fürchte ich fast, daß diese schlaflose Nacht und das Kopfweh Ihnen die Lust nehmen, mit dieser Art Lektüre fortzufahren.«

»Meinen Sie?« entgegnete Wera und pflückte im Vorbeigehen einen Zweig vom wilden Jasmin ab. »Gott weiß! Mir scheint, daß, wer diesen Weg einmal eingeschlagen hat, nicht mehr zurück kann.«

Dann warf sie die abgepflückte Blume wieder fort.

»Kommen Sie«, sprach sie weiter, »setzen wir uns ein wenig in diese Laube, und bitte, ehe ich nicht selbst davon zu reden anfange, bringen Sie mich nicht wieder auf ... dieses Buch.«

Sie sagte »dieses Buch«, als scheute sie sich, den Namen Faust auszusprechen.

Wir traten in die Laube und setzten uns.

»Meinetwegen«, sagte ich, »ich will nicht mehr vom Faust mit Ihnen reden; aber erlauben Sie mir, Ihnen Glück zu wünschen und Ihnen zu sagen, daß ich Sie beneide.«

»Sie mich beneiden?«

[45] »Ja, weil ich weiß, wie ich Sie jetzt kenne, was Ihnen bei Ihrem Gemüt noch für Genüsse bevorstehen. Es gibt außer Goethe noch große Dichter: einen Shakespeare, Schiller; und auch unseren Puschkin darf ich nennen ... Mit ihm müssen Sie auch bekannt werden.« Sie schwieg und zeichnete mit der Spitze ihres Sonnenschirmes in dem Sand.

Oh, mein teurer Freund, wenn Du sie hättest sehen können, wie holdselig sie in diesem Augenblick war! Fast durchsichtig bleich, sanft vorgebeugt, ein wenig[46] ermüdet, innerlich erschüttert und doch so klar wie der Himmel! Ich sprach lange, dann verstummte ich – und saß so schweigend da und blickte sie an. Sie sah nicht auf, fuhr fort, mit dem Schirm im Sande zu zeichnen und das Gezeichnete wieder zu verwischen.

Plötzlich vernahmen wir den raschen Schritt eines Kindes, und die kleine Natalie sprang in die Laube herein. Ihre Mutter erhob sich hastig, und ich war erstaunt über die lebhafte Zärtlichkeit, mit welcher sie ihre Tochter umarmte. Das ist sonst gar nicht ihre Art. Nun kam auch Priemkoff. Herr Schimmel, das gewissenhafte Kind mit grauen Haaren, war schon vor Tagesanbruch abgereist, um keine Lektion zu versäumen.

Wir gingen zum Tee.

Doch ich habe mich müde geschrieben; es ist Zeit, meinen Brief zu schließen. Er muß Dir recht wirr vorkommen. Ich komme mir selbst wirr vor. Mir ist so eigen. Ich weiß nicht, was ich habe. Immer schwebt mir das Gartenzimmer vor mit den nackten Wänden, die brennende Lampe, die offene Tür, durch welche die frische Nachtluft eindringt, und dort an der Tür das lauschende, jugendliche Gesicht, das leichte, weiße Gewand ... Jetzt begreife ich, warum ich sie heiraten wollte. Damals, vor meiner Reise nach Berlin, war ich nicht so dumm, wie ich bis jetzt geglaubt hatte.

Ja, mein teurer Simon, Dein Freund ist in einer seltsamen Geistesverfassung. Ich denke, das geht vorüber, und wenn es nicht vorübergeht ... nun, so mag's[47] sein! Ich bin darum doch sehr zufrieden. Erstens habe ich einen wundervollen Abend verlebt, und dann, wenn diese Seele erweckt würde, durch mich, wer kann mir darüber einen Vorwurf machen? Die alte Elzoff hängt an der Wand und kann nicht reden. Die wunderliche Alte! Mir sind nicht alle Lebensumstände bekannt; aber das eine weiß ich, daß sie aus ihrem väterlichen Hause entfloh. Sie hatte nicht umsonst eine Italienerin zur Mutter. Ei, sie wollte ihre Tochter assekurieren. Laß sehen ...

Ich lege die Feder aus der Hand. Unbarmherziger Spötter, denke, was Du willst, aber spotte nicht in Deinen Briefen. Wir sind alte Freunde und müssen gegenseitig Nachsicht haben.

Lebe wohl!

Dein P. B.

26. Juli 1850

[48] M ..., den 26. Juli 1850


Es ist lange her, daß ich Dir geschrieben habe, mein lieber Simon: über einen Monat schon, wenn ich nicht irre. Ich hätte Dir so viel zu sagen gehabt, aber ich war träge und muß Dir gestehen, daß ich während der ganzen Zeit nur wenig an Dich gedacht habe. Ich sah aus Deinem letzten Brief, daß Du in bezug auf mich unbegründete – wenigstens nicht ganz begründete Vermutungen hast. Du glaubst, ich schwärme für Wera, da bist Du im Irrtum. Ich besuche sie oft, das ist wahr, und sie gefällt mir außerordentlich ... Wem würde sie auch nicht gefallen? Ich möchte Dich einmal an meiner Stelle sehen. Welch ein wunderbares Geschöpf! Eine blitzschnelle Fassungsgabe bei kindlicher Unerfahrenheit; ein klares, gesundes Urteil und ein angeborener Schönheitssinn; ein unausgesetztes Streben nach Wahrheit, nach allem Hohen, und das vollkommenste Verständnis, sogar der lasterhaften wie der lächerlichen Dinge, und über alles das gebreitet wie weiße Engelsfittiche weibliche Anmut und Reinheit. Was soll ich Dir noch sagen! Ich habe diesen ganzen Monat viel mit ihr gelesen und geplaudert. Das Lesen mit ihr verschafft mir einen noch nie empfundenen Genuß; es tut mir gleichsam unbekannte Regionen auf. In lauten Enthusiasmus gerät sie nicht; alles Geräuschvolle ist ihr fremd. Wenn ihr etwas gefiel, so leuchtet sanft ihr ganzes Wesen, und ihr Gesicht nimmt einen so edlen Ausdruck an, einen Ausdruck von Güte – jawohl, von inniger Güte. Lüge [49] hat Wera nie gekannt; sie ist von klein auf an Wahrheit gewöhnt, atmet nur Wahrheit. Daher kommt es, daß auch in der Poesie nur das Wahre ihr natürlich erscheint; das findet sie gleich und ohne Mühe heraus wie ein wohlbekanntes Gesicht ... Ein großer Vorzug, ein seltenes Glück! Und man muß es der Mutter zum Lobe nachsagen, das hat sie ihr zu danken. Wie oft dachte ich beim Anblick Weras, Goethe spricht doch wahr:


»Ein guter Mensch in seinem dunkeln Drange
ist sich des rechten Weges wohl bewußt.«

Das eine nur ärgert mich, daß Priemkoff immer um uns beschäftigt ist. (Ich bitte Dich, mach keine dummen Späße über dieses Geständnis, entweihe mit keinem unwürdigen Gedanken unsere reine Freundschaft.) Dieser Mensch ist ebensowenig imstande, Poesie zu verstehen, wie ich, die Flöte zu blasen; und trotzdem will er immer dabeisein und tut, als wolle er gleich seiner Frau sich unterrichten lassen. Zuweilen stellt auch Wera meine Geduld auf eine harte Probe. Mit einemmal will sie nichts von Poesie wissen, will nichts lesen, von nichts sprechen; setzt sich hin und stickt oder schäkert mit der kleinen Natalie, macht sich mit der Haushälterin zu schaffen, läuft in die Küche oder sieht, die Arme aufstemmend, unverwandt zum Fenster hinaus; oder es fällt ihr gar ein, mit der Wärterin Karten zu spielen.

Ich habe die Beobachtung gemacht, daß man in solchem Falle sie gewähren lassen muß, bis sie selbst[50] kommt, ein Gespräch anfängt oder ein Buch in die Hand nimmt. Sie hat viel Selbständigkeit, was mich sehr freut. In unserer Jugend – weißt Du noch? – begegnete es uns oft, irgendein junges Mädchen unsere eignen Worte nachsprechen zu hören, und dieses Echo begeisterte uns, riß uns gar zu Huldigungen hin, bis wir auf einmal merkten, was dahinter war. Aber Wera – nein! Sie hat ihr Köpfchen für sich, sie nimmt nichts auf Treu und Glauben an und läßt sich durch keine Autorität einschüchtern. Sie wird nicht gerade streiten, aber auch nicht nachgeben. Wir haben uns öfter über Faust unterhalten; aber merkwürdigerweise spricht sie von Gretchen selbst nie ein Wort, sondern hört nur, was ich darüber sage. Mephistopheles erschreckt sie nicht als Teufel, sondern mehr durch etwas, »was in der Natur jedes Menschen liegen könne«.

Das sind ihre eigenen Worte.

Ich habe ihr klarmachen wollen, daß dieses »Etwas« von uns Reflexion genannt würde; aber sie verstand dieses Wort Reflexion nicht in dem Sinne, wie es die Deutschen gebrauchen, sie kennt nur die französische »réflexion« und ist gewohnt, diese als etwas sehr Nützliches zu betrachten. Wunderbares Verhältnis zwischen uns! In gewisser Hinsicht kann ich sagen, daß ich einen großen Einfluß auf sie übe und sie gleichsam erziehe; aber auch sie ändert mich, ohne es selbst zu merken, in vielem zu meinem Vorteil. So verdanke ich es ihr zum Beispiel, daß ich neulich entdeckt habe, welch eine Masse von konventionellem [51] und rhetorischem Beiwerk sich in vielen berühmten poetischen Schöpfungen findet. Was sie kalt läßt, das ist in meinen Augen schon verdächtig. Ja, ich habe ein besseres, geläutertes Urteil durch sie gewonnen. Ihr nahezustehen, mit ihr zu verkehren und nicht ein anderer zu werden, ist unmöglich.

Wohin soll dies alles nun aber führen? wirst Du fragen. Wahrhaftig, ich denke, zu weiter nichts. Ich verbringe die Zeit bis zum September aufs angenehmste, dann reise ich ab ... Die ersten Monate darauf wird mir das Leben höchst trübe und langweilig vorkommen, dann aber wird die Gewohnheit darüber hinweghelfen.

Ich weiß, wie gefährlich jedes Verhältnis zwischen einem Manne und einer jungen Frau ist, wie unmerklich da ein Gefühl in das andere übergeht, und ich würde mich mit aller Kraft losreißen, wenn ich nicht innegeworden wäre, daß wir beide, Wera und ich, vollkommen ruhig sind.

Einmal allerdings fiel etwas Seltsames zwischen uns vor. Ich weiß nicht, wie es kam, ich erinnere mich nur, daß wir Puschkins »Onegin« zusammen lasen. Da küßte ich ihr die Hand. Sie rückte leise weg und heftete einen Blick auf mich; einen Blick wie den ihrigen habe ich noch bei niemandem gesehen: darin lag Nachdenken und Aufmerksamkeit und eine gewisse Strenge ... Plötzlich errötete sie, stand auf und ging davon. An dem Tage glückte es mir nicht mehr, mit ihr allein zu sein. Sie wich mir aus. Und vier volle Stunden spielte sie Karten mit ihrem Manne, der [52] Gouvernante und der Wärterin. Am andern Morgen forderte sie mich auf, mit ihr in den Garten zu gehen. Wir spazierten bis an den See. Plötzlich flüsterte sie, ohne sich zu mir umzuwenden: »Ich bitte, tun Sie das nie wieder!« Und gleich darauf fing sie an, mir von etwas zu erzählen ... Ich war beschämt.

Ich will es nur gestehen, daß ihr Bild mir nicht mehr aus dem Sinne kommt, und fast schreibe ich Dir diesen Brief nur, um von ihr reden zu können.

Doch ich höre Pferdegetrappel; mein Wagen fährt vor. Ich eile zu ihr. Mein Kutscher fragt nicht mehr, wohin er fahren soll; sobald ich mich in den Wagen setze, fährt er geradewegs zu Priemkoffs. Zwei Werst[53] vom Dorfe, da, wo der Weg sich plötzlich wendet, blickt hinter dem Birkenwäldchen ihr Haus hervor ... Es wird mir jedesmal freudig ums Herz, wenn ich nur ihre Fenster aus der Ferne schimmern sehe. Der alte, harmlose Herr Schimmel, der von Zeit zu Zeit hinkommt, sagt nicht ohne Grund in seiner sittig-feierlichen Ausdrucksweise, indem er auf Weras Wohnung hindeutet: »Das ist die Stätte des Friedens!« Wirklich hat sich in diesem Haus der Engel des Friedens niedergelassen.

Tiutschew singt:


»Deck mich mit deinem Flügel zu,
besänftige die wilde Pein –
Es zieht durch deinen Schatten Ruh'
in die entzückte Seele ein ...«

Doch genug; sonst denkst Du Gott weiß was davon. Nächstens schreibe ich wieder ... Was aber werde ich Dir das nächste Mal zu schreiben haben? – Adieu! – Apropos: sie sagt niemals einfach »Adieu«, sondern immer: »Nun, Adieu.« Das gefällt mir außerordentlich.

Dein P. B.


P. S. Ich erinnere mich nicht, ob ich es Dir gesagt habe: sie weiß, daß ich einmal um sie angehalten habe.

10. August 1850

[54] M ..., den 10. August


Gestehe nur, Du erwartest heute von mir einen Brief voller Verzweiflung oder voll Entzücken. Weit gefehlt! Dieser Brief wird sein wie alle. Es ist nichts Neues vorgefallen, und wie mir scheint, kann auch nichts vorfallen. Vor einigen Tagen machten wir eine Spazierfahrt auf dem See. Ich will sie Dir beschreiben. Wir waren zu dritt: sie, ich und Schimmel. Ich begreife nicht, welches Vergnügen sie daran haben kann, diesen alten Deutschen so oft einzuladen. Man sagt, daß die Fürstin Ch. mit ihm unzufrieden sei, weil er anfange, seine Stunden zu vernachlässigen. Übrigens war er diesmal sehr unterhaltend. Priemkoff konnte uns nicht begleiten, da er an Kopfweh litt. Das Wetter war herrlich, lustig; große, phantastisch-zerrissene, weiße Wolken am blauen Himmel, überall Glanz, heiterer Lärm im Gehölz; am Ufer das Anschlagen und Plätschern des Wassers; auf den schlängelnden, goldglitzernden Wellen Frische und Sonnenschein!

Anfangs ruderten wir, Schimmel und ich, dann zogen wir das Segel auf, und so ging's im Fluge davon. Der Schnabel unseres Bootes durchschnitt die Flut, und hinterher zog sich mit Zischen eine schäumende Furche. Wera führte mit sicherer Hand das Steuer und lachte jedesmal, wenn das Wasser ihr ins Gesicht spritzte. Ihre Locken quollen unter einem Tuch, das um ihren Kopf geschlungen war, hervor und flatterten leicht im Winde. Ich lag hingekauert auf dem [55] Boden des Schiffes, beinahe zu ihren Füßen. Schimmel zündete seine Pfeife an, rauchte und begann mit angenehmer Baßstimme zu singen. Zuerst sang er das alte Lied: »Freut euch des Lebens«, dann die Arie aus der Zauberflöte, dann eine Romanze »Das ABC der Liebe«. In dieser Romanze wird das ganze Alphabet – natürlich mit angemessenen Sprüchlein – durchgegangen: von »ABCD – Wenn ich dich seh« bis »UVWX – Mach einen Knicks«. Schimmel sang alle Verse mit gefühlvollem Ausdruck, und Du hättest nur sehen sollen, wie schelmisch drollig er bei dem Worte »Knicks« mit dem linken Auge blinzelte. Wera konnte sich nicht enthalten, ihm lächelnd mit dem Finger zu drohen ... Ich bemerkte: Wie mir schiene, müsse Herr Schimmel in seinen jungen Jahren ein lustiges Bürschchen gewesen sein.

»O ja, ich konnte schon meinen Mann stehen«, erwiderte er mit würdigem Selbstgefühl, indem er die Asche aus seiner Pfeife klopfte. »Als ich Student war, o ho ho!«

Weiter sprach er nichts, aber in diesem »O ho ho!« lag eine vielsagende Beredsamkeit. Wera bat ihn, irgendein Studentenlied zu singen, und sogleich stimmte er an:


»Knaster, den gelben,
hat uns Apoll präpariert« usw.,

wobei er jedoch im Refrain etwas detonierte. Er war sehr in Zug gekommen. Inzwischen hatte sich der Wind recht erhoben, die Wellen gingen hoch, das[56] Boot kam ins Schaukeln; die Schwalben streiften dicht neben uns über dem Wasser hin. Wir zogen das Segel ein und begannen zu lavieren. Plötzlich schlug der Wind heftig um, es gelang uns nicht, den jähen Stoß zu parieren – eine Woge schlug über Bord, und wir hatten viel Wasser im Boot. Bei dieser Gelegenheit entwickelte der alte Deutsche eine wahrhaft jugendliche Kraft und Gewandtheit. Er riß den Strick aus meiner Hand und stellte das Segel kunstgerecht mit den Worten: »So macht man's in Cuxhaven.«

Wera mochte erschrocken sein, denn sie wurde bleich; doch, ihrer Gewohnheit treu, sagte sie kein Wort. Sie [57] hob ihr Kleid etwas auf und setzte die Füße auf einen Querbalken. Mir fielen plötzlich die Verse Goethes ein; seit einiger Zeit bin ich ganz erfüllt von ihm:


»Auf der Welle blinken
tausend schwebende Sterne –«,
und ich deklamierte laut das ganze Lied. Als ich an den Vers kam:

»Aug', mein Aug', was sinkst du nieder?«,


erhob Wera sanft ihre Augen – ich saß tiefer als sie, so daß ihr Blick auf mich herabfiel – und sah lange in die Weite, beim Wehen des Windes unwillkürlich blinzelnd.

Ein feiner Regen begann zu tropfen und warf Bläschen auf dem See. Ich bot ihr meinen Paletot an, sie hing ihn um ihre Schultern. Wir gelangten ans Ufer, und ich reichte ihr den Arm, um sie nach Hause zu geleiten. Ich hatte das Bedürfnis, mich über so manches gegen sie auszusprechen, doch ich schwieg. Ich erinnere mich nur, sie gefragt zu haben, warum sie in ihrem Salon stets unter dem Porträt der Frau von Elzoff sitze wie ein Vogel unter den Fittichen seiner Mutter. »Ihr Vergleich ist sehr richtig«, erwiderte sie, »ich möchte nie ohne diese schützenden Flügel sein.«

»Warum wollen Sie Ihre Freiheit nicht genießen?« fragte ich wieder. Sie antwortete nicht.

Ich weiß eigentlich nicht, warum ich Dir von dieser Spazierfahrt erzählt habe. Vielleicht darum, weil sie[58] für mich eines der wonnigsten Ereignisse in den letztverflossenen Tagen war, obgleich es, genau betrachtet, doch gar kein Ereignis zu nennen ist. Aber mir war so selig, so stillvergnügt und leicht ums Herz, daß Tränen, milde, süße Tränen mir unaufhaltsam in die Augen drangen.

Und denke Dir: als ich am andern Morgen dem Boskett zuschritt, hörte ich eine angenehme, wohlklingende Frauenstimme das Lied »Freut euch des Lebens!« singen. Ich näherte mich; es war Wera. »Bravo!« rief ich, »ich habe gar nicht gewußt, daß Sie eine so herrliche Stimme haben.«

Sie errötete und schwieg. Sie besitzt wirklich eine wunderhübsche Sopranstimme. Aber ich bin überzeugt, daß sie keine Ahnung davon hatte. Welche Schätze mögen noch unbewußt in ihr schlummern! Sie kennt sich selbst nicht. Aber ist eine solche Frau in unserer Zeit nicht ein wahres Wunder?


12. August


Wir hatten gestern eine seltsame Unterredung, indem wir auf Geistererscheinungen zu sprechen kamen. Wera glaubt daran und behauptet, gute Gründe dafür zu haben. Priemkoff, der auch zugegen war, senkte die Augen und nickte mit dem Kopfe wie zur Bestätigung ihrer Worte.

Ich richtete einige Fragen an sie, bemerkte aber bald, daß der Gegenstand ihr unangenehm war. Wir fingen an, über die Einbildung und die Macht, welche sie [59] über uns ausübt, zu reden. Ich erzählte, daß ich in meiner Jugend viel von Glück träumte, wie die meisten, die im Leben keines haben oder gehabt haben. Unter anderen Träumen war einer, der mich besonders entzückte: mit einer geliebten Frau einige Wochen in Venedig zu verleben. Ich dachte mir das so oft und so lebhaft aus, besonders nachts, daß ich ein vollständiges Bild davon gewann, welches ich nach Belieben vor mich hinzaubern konnte, – ich brauchte nur die Augen zu schließen. Folgendes malte ich mir aus. Eine linde, mondhelle Nacht voll Duft ... Du meinst vielleicht von Orangen? Nein, von Vanille und Kaktus; dazu einen weiten Wasserspiegel, eine große, von Olivenbäumen überwachsene Insel; auf der Insel, hart am Ufer, ein gemütliches Marmorhaus mit offenen Fenstern. Musik ertönt, Gott weiß, woher. Das Licht einer halbverhängten Lampe drinnen wirft einen sanften Schein auf die Zweige der dunkeln Bäume. Von der Brüstung eines der Fenster wallt eine Samtdecke mit Goldfransen hernieder bis zum Wasserspiegel. Auf diese Decke gelehnt, sitzen nebeneinander er und sie und schauen hinaus nach dem fern auftauchenden Venedig. Und alles das schwebte mir so deutlich vor, als ob ich es mit eigenen Augen gesehen hätte.

Wera hörte meinen Phantasien zu und sagte: auch sie habe oft Träumereien, doch ganz anderer Art. So träume sie sich in die Wüsten Afrikas neben irgendeinen kühnen Reisenden, oder sie folge den Spuren Franklins auf dem Eismeer und stelle sich lebhaft alle[60] Entbehrungen, alle Strapazen vor, mit denen sie zu kämpfen habe ...

»Du hast zuviel Reisebeschreibungen gelesen«, sagte ihr Mann.

»Kann sein«, erwiderte sie. »Aber wenn man einmal träumen will, was hat man nur davon, Unmögliches zu träumen?«

»Und warum nicht?« rief ich. »Warum das arme Unmögliche verdammen?«

»Ich habe mich falsch ausgedrückt«, erwiderte sie. »Ich wollte sagen: was hat man nur davon, Träumereien von unserem persönlichen Glück nachzuhängen? Damit erreichen wir's doch nicht – also wozu ihm nachjagen? Es ist mit der menschlichen Glückseligkeit wie mit der Gesundheit: wir besitzen sie, solange wir nicht daran denken.«

Diese Worte setzten mich in Erstaunen. Diese Frau hat eine große Seele, glaub es mir ...

Von Venedig kamen wir auf Italien und die Italiener zu sprechen. Priemkoff ging hinaus, und ich blieb mit Wera allein.

»Auch in Ihren Adern fließt italienisches Blut«, bemerkte ich.

»Ja«, erwiderte sie. »Soll ich Ihnen das Porträt meiner Großmutter zeigen?«

»Sie werden mich sehr verbinden.«

Sie ging in ihr Kabinett und brachte ein großes goldenes Medaillon mit heraus.

Sie öffnete es, und ich erblickte darin zwei ausgezeichnete Miniaturbilder: von ihrem Großvater und ihrer [61] Großmutter, jener Albanierin. Beim Großvater Weras fiel mir die Ähnlichkeit mit Frau von Elzoff, seiner Tochter, auf; nur kamen mir in der weißen Wolke von Puder seine Züge noch strenger und schärfer vor, und aus seinen kleinen gelblichen Augen zuckte finsterer Trotz. Aber welch ein Antlitz hatte die Italienerin! Üppig, offen wie eine voll blühende Rose, mit großen, feuchten Augen und selbstzufrieden lächelnden, frischroten Lippen; die feinen beweglichen Nasenflügel schienen noch wie nach feurigen Küssen zu zittern, die bräunlichen Wangen glühten nur so von Jugend, Gesundheit und weiblicher Kraft. Diese Stirne war, Gott sei Dank, von des Gedankens Blässe nicht angekränkelt! ... Sie war dargestellt in ihrer albanesischen Tracht; der Künstler hatte in ihr pechschwarzes, bläulichschimmerndes Haar einen Rebenzweig geschlungen. Dieser bacchische Schmuck paßte ganz vortrefflich zu dem Ausdruck ihres Gesichtes. Und weißt Du, an wen dieses Gesicht mich erinnert? An unsere Manon Lescaut in dem schwarzen Rahmen. Was aber das Merkwürdige ist: es schien mir bei längerer Betrachtung des Porträts, daß auch Weras Gesicht trotz der Grundverschiedenheit der Umrisse eine gewisse Ähnlichkeit damit im Lächeln und im Blick habe – – –

Ja, ich wiederhole es: weder sie selbst noch irgend jemand auf der Welt kennt alles, was in ihr schlummert ...

Noch etwas! Frau von Elzoff hat einige Tage vor Weras Vermählung ihre ganze Lebensgeschichte, den[62] Tod ihrer Mutter usw. – wahrscheinlich zu didaktischem Zwecke – ihr erzählt. Auf Wera machte einen ganz besonderen Eindruck das, was sie von ihrem Großvater, jenem geheimnisvollen Herrn Ladanoff, erfuhr. Ob etwa daher ihr Glaube an Geistererscheinungen rührt? Es ist seltsam, daß gerade diese so reine und lichte Seele die finstere, unterirdische Welt fürchtet und daran glaubt ...

Doch wozu schreibe ich Dir alles das? Übrigens, da ich es einmal auf das Papier geworfen habe, mag es auch an Dich abgehen.

Dein P. B.

22. August 1850

[63] M ..., den 22. August


Es sind zehn Tage, daß ich Dir nicht geschrieben habe ... Ach, mein Freund, ich kann es nicht mehr bergen, ich muß Dir sagen, wie schwer mir zumute ist, wie ich sie liebe! ... Du kannst Dir denken, mit welchem schmerzlichen Beben ich dieses verhängnisvolle Wort niederschreibe. Ich bin kein Knabe mehr und auch kein Jüngling; ich bin nicht mehr in dem Alter, wo es fast unmöglich ist, andere, und so leicht ist, sich selbst zu täuschen. Ich weiß und sehe alles klar. Ich weiß, daß ich bald ein Vierziger bin, daß Wera eines anderen Frau ist und ihren Mann liebt; ich weiß sehr wohl, daß ich von dem unseligen Gefühl, welches mich ergriffen hat, nicht als heimliche Qualen und ein schließliches Aufzehren meiner Lebenskräfte zu erwarten habe. – Das alles weiß ich und hoffe und verlange nichts; und doch schafft mir diese Ergebung keine Erleichterung.

Schon seit einem Monat bemerkte ich, daß meine Neigung für Wera immer mehr und mehr zunahm, ich war beunruhigt und erfreut zugleich darüber ... Allein konnte ich mir denken, daß ich abermals von einer der Leidenschaften beherrscht würde, die gleich der Jugend verschwinden, ohne wiederzukehren. Doch was sage ich! So habe ich nie geliebt, nein, nie! Manon Lescaut Frétillon war einst mein Idol. Solche Idole sind leicht zerbrochen. Erst jetzt weiß ich, was es heißt: ein Weib lieben. Ich schäme mich fast, so zu sprechen, aber es ist einmal so. Ich schäme mich ...

[64] Die Liebe ist nur Egoismus, und in meinem Alter ist der Egoismus nicht mehr verzeihlich. Mit siebenunddreißig Jahren ist es nicht mehr erlaubt, für sich allein zu leben; da muß man sich nützlich machen, einen Zweck haben, sich einem Beruf widmen, eine Pflicht erfüllen.

Auch ich hatte begonnen, mich ernstlich zu beschäftigen ... Doch meine guten Vorsätze sind verweht wie Spreu im Winde! Jetzt fällt mir ein, was ich Dir in meinem ersten Briefe sagte: ich sprach davon, daß mir ein gewisses Etwas fehle, was ich noch nie empfunden – und wie jählings ist die Versuchung nun über mich gekommen!

Da stehe ich, gedankenlos in die Zukunft starrend: ein dichter Schleier verhüllt sie meinem Auge; mein Herz ist schwer und traurig. Äußerlich suche ich vor anderen und vor mir selbst Ruhe zu bewahren – ich weiß mich wohl zu halten, ich betrage mich nicht wie ein Kind; aber an meiner innersten Seele nagt der Wurm bei Tag und Nacht. Wie soll das enden?

Bisher war ich nur fern von ihr betrübt und unruhig; ihre Nähe genügte, mich zu besänftigen ... Jetzt bin ich auch in ihrer Gegenwart nicht ruhig – und das erschreckt mich.

Oh, mein Freund, wie hart es ist, sich seiner Tränen schämen und sie verbergen zu müssen! Der Jugend allein ist es erlaubt zu weinen, ihr allein geziemen die Tränen ...

Ich vermag diesen Brief nicht durchzulesen; er hat sich meinem Herzen wie ein Seufzer entrungen, und ich [65] kann nichts hinzufügen, nichts erzählen ... Laß mir nur Zeit! Ich werde mich fassen, wieder zu mir kommen und wie ein Mann zu Dir reden; jetzt aber möchte ich mein Haupt an Deine Brust lehnen und ...

O Mephistopheles! Auch Du kannst mir nicht helfen. Ich habe absichtlich innegehalten, absichtlich die ironische Ader in mir gereizt, mich selbst daran gemahnt, wie lächerlich und fad mir alle diese Liebesklagen und Herzensergießungen in einem Jahre oder wohl gar schon in einem halben Jahre erscheinen würden ... Doch Mephistopheles ist ohnmächtig, und der Stachel seines Witzes ist stumpf geworden.


Leb wohl!

Dein P. B.

8. September 1850

[66] M ..., 8. September 1850


Mein teurer Freund!


Du hast Dir meinen letzten Brief zu sehr zu Herzen genommen. Du weißt, wie ich immer geneigt war, meine Empfindungen zu übertreiben. Es macht sich das unwillkürlich bei mir; ich habe etwas Weibliches in meiner Natur. Mit den Jahren wird das gewiß schon vergehen. Doch ich bekenne mit Seufzen, bis zur Stunde habe ich diese Schwäche noch nicht überwinden können. Indes, beruhige Dich! Ich will den Eindruck nicht verleugnen, den Wera auf mich gemacht hat; allein ich wiederhole Dir, in alledem liegt durchaus nichts Ungewöhnliches. Du willst hierherkommen, schreibst Du – das sollst Du ja nicht. Eine Reise von tausend Werst zu machen, Gott weiß weshalb, das wäre unsinnig. Aber ich bin Dir von Herzen dankbar für diesen neuen Beweis Deiner Freundschaft, und glaube mir, ich werde Dir das nie vergessen. Deine Reise hierher ist auch schon deshalb unstatthaft, da ich selbst beabsichtige, demnächst nach Petersburg zu gehen. Wenn ich neben Dir auf dem Sofa sitzen werde, will ich Dir vieles erzählen; jetzt mag ich wahrlich nicht. Ich wäre imstande, wieder allerlei wirres Zeug zu schwatzen. Vor meiner Abreise schreibe ich Dir noch einmal. Also auf baldiges Wiedersehen! Bleibe gesund und munter und beunruhige Dich nicht allzusehr über das Schicksal


Deines treu ergebenen P. B.

10. März 1853

[67] P ... wo, 10. März 1853


Ich habe Deinen Brief lange unbeantwortet gelassen, diese letzten Tage aber immerfort an Dich gedacht. Ich fühlte, daß keine müßige Neugier ihn diktiert habe, sondern aufrichtige freundschaftliche Teilnahme; dennoch schwankte ich, ob ich Deinem Rat folgen, Deinen Wunsch erfüllen sollte. Endlich habe ich mich entschlossen und will Dir alles erzählen. Ob meine Beichte mir das Herz erleichtern wird, wie Du meinst, weiß ich nicht; aber es scheint mir, daß ich kein Recht habe, Dir etwas zu verhehlen, was mein Leben auf immer völlig umgewandelt hat; daß dies eine Unterlassungssünde gegen Dich sein würde ... Ach! eine noch größere Sünde gegen die unvergeßliche liebe Seele, wenn ich unser trauriges Geheimnis nicht dem einzigen Herzen anvertraute, welches mir noch teuer ist. Du allein auf der Welt außer mir erinnerst Dich vielleicht noch Weras, und Du beurteilst sie nicht leichtfertig und falsch; das kann ich nicht ertragen. Darum sollst Du alles wissen. Ach! dies alles ließe sich in zwei Worten sagen. Was zwischen uns vorgefallen, kam jählings über uns wie ein Blitz, und wie der Blitz brachte es Tod und Verderben ...

Seit jener Zeit, wo ich sie verloren, seit jener Zeit, wo ich mich in diese Einöde geflüchtet, die ich bis an mein Lebensende nicht mehr verlassen werde, sind mehr als zwei Jahre hingegangen, und alles ist noch so klar in meinem Gedächtnis, meine Wunden sind noch so frisch, mein Gram noch so bitter ... Doch ich will nicht klagen. [68] Bei andern mag das Klagen, das den Schmerz aufregt, ihn zugleich lindern; bei mir nicht. Ich will nur erzählen.

Erinnerst Du Dich meines letzten Briefes – jenes Briefes, in welchem ich Deine Befürchtungen zu zerstreuen suchte – und Deiner beabsichtigten Reise zu mir widerriet? Du trautest nicht der gezwungenen Ungeniertheit seines Tones, glaubtest nicht an unser baldiges Wiedersehen – Du hattest recht! Am Vorabend desselben Tages, an dem ich Dir schrieb, hatte ich erfahren, daß ich geliebt wurde.

Indem ich diese Worte niederschreibe, fühle ich tief, wie schwer es mir sein wird, meine Erzählung zu vollenden. Der unablässige Gedanke an ihren Tod wird mit doppelter Gewalt mich martern; diese Erinnerungen werden mir das Herz verbrennen ... Doch ich will mich zu bemeistern suchen und lieber aufhören zu schreiben, als ein Wort zuviel zu sagen.

Nun höre zunächst, wie ich erfuhr, daß mich Wera liebte. Vor allem muß ich Dir versichern – und Du wirst es mir glauben – daß ich bis zu dem erwähnten Tage nicht die leiseste Ahnung davon hatte. Allerdings fand ich sie gegen ihre frühere Gewohnheit zuweilen nachdenklich, zerstreut, begriff aber nicht, woher das kam. Da endlich eines Tages, es war der 7. September – ein denkwürdiger Tag für mich! – begab sich folgendes: Du weißt, wie ich sie liebte und wie es mir das Herz abdrückte. Ich ging um wie ein Schatten, und es litt mich nirgends. Ich wollte zu Hause bleiben, hielt es aber nicht aus und eilte zu ihr. Ich fand sie [69] allein in ihrem Kabinett. Priemkoff war nicht zu Hause, er war auf die Jagd gegangen. Als ich mich Wera näherte, sah sie mich starr an, ohne meinen Gruß zu erwidern. Sie saß beim Fenster, auf ihrem Schoße lag ein Buch, welches ich sogleich erkannte: es war mein Faust. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck von Ermüdung. Ich setzte mich ihr gegenüber. Sie bat mich, ihr die Szene vorzulesen, wo Gretchen die Frage an Faust richtet, ob er an Gott glaube. Ich nahm das Buch und fing an zu lesen. Als ich geendet hatte, sah ich sie an. Sie hatte den Kopf auf die Lehne des Sessels zurückgebeugt und, die Hände auf die Brust gekreuzt, blickte sie unverwandt auf mich.

Mir begann – ich weiß nicht warum – das Herz mächtig zu schlagen.

»Was haben Sie aus mir gemacht!« sprach sie langsamen Tones.

»Wieso?« fragte ich bestürzt.

»Was haben Sie aus mir gemacht?« wiederholte sie.

»Sie wollen sagen«, entgegnete ich, »warum ich Sie veranlaßt habe, solche Bücher zu lesen?«

Sie erhob sich schweigend und verließ das Zimmer.

Mein Auge folgte ihr.

In der Tür blieb sie stehen und wandte sich wieder um zu mir.

»Ich liebe Sie«, sagte sie. »Nun wissen Sie, was Sie aus mir gemacht haben.«

Das Blut stieg mir zu Kopfe ...

»Ich liebe Sie, ich bin in Sie verliebt«, wiederholte Wera.

[70] Sie ging und schloß die Tür hinter sich.

Ich werde Dir nicht zu schildern versuchen, was damals in mir vorging. Ich erinnere mich nur, daß ich in den Garten stürzte, mich ins Dickicht verlor, an einen Baum lehnte und so stehen blieb – wie lange, weiß ich nicht mehr. Ich war wie erstarrt, aber zugleich ergoß sich ein unbeschreibliches Wonnegefühl über mein Herz ... Nein, dergleichen läßt sich nicht beschreiben. Die [71] Stimme Priemkoffs weckte mich plötzlich aus meiner Betäubung. Man hatte ihm meine Ankunft melden lassen, er war von der Jagd umgekehrt und suchte mich. Er war erstaunt, mich ohne Hut im Garten zu finden und führte mich ins Haus zurück.

»Meine Frau ist im Salon«, sagte er; »gehen wir zu ihr.«

Du kannst Dir vorstellen, mit welchen Gefühlen ich die Schwelle des Salons betrat.

Wera saß in einer Ecke, mit einer Stickerei beschäftigt. Ich sah ein paarmal verstohlen nach ihr hin; zu meiner Verwunderung schien sie ruhig. In dem, was sie sprach, im Ton ihrer Stimme war keine Aufregung bemerkbar. Endlich faßte ich sie offen ins Auge. Unsere Blicke begegneten sich ... Sie errötete ein wenig und beugte sich über ihren Stickrahmen. Ich beobachtete sie aufmerksam. Sie war wie mit sich uneins, ein unfrohes Lächeln zuckte hin und wieder um ihre Lippen. Priemkoff entfernte sich. Plötzlich erhob sie das Haupt und fragte mich laut: »Was gedenken Sie nun zu tun?«

Diese Frage verwirrte mich, doch rasch erwiderte ich mit gepreßter Stimme:

»Ich gedenke zu handeln als ein rechtschaffener Mann und Sie zu verlassen, weil ... weil ich Sie liebe, Wera Nikolajewna, wie Sie sicher schonlange bemerkt haben werden.«

Sie beugte sich wieder über ihren Stickrahmen und versank in Nachdenken.

»Ich muß mit Ihnen reden«, sagte sie. »Kommen Sie [72] heute abend nach dem Tee in den Pavillon, wo Sie den Faust gelesen haben.«

Sie sagte das so vernehmlich, daß ich jetzt noch nicht begreife, wie Priemkoff, der in demselben Augenblick ins Zimmer trat, nichts davon hörte.

Langsam, ermüdend langsam schlich dieser Tag dahin. Wera blickte zuweilen um sich mit einem Ausdruck, als ob sie fragen wollte: Träum' ich oder wach' ich? Aber zu gleicher Zeit offenbarte ihr Gesicht feste Entschlossenheit.

Ich konnte gar nicht wieder zu mir selbst kommen. Wera liebte mich! Diese Worte durchkreisten unaufhörlich mein armes Gehirn; aber ich verstand sie nicht – ich verstand mich selbst nicht, noch die geliebte Frau. Ich wagte einem so unerwarteten, einem so bewältigenden Glücke nicht zu trauen. Mit Anstrengung rief ich mir das Vergangene ins Gedächtnis zurück und sah aus und sprach ebenfalls wie ein Träumender ...

Nach dem Tee, als ich mir schon den Kopf zerbrach, wie ich mich am besten aus dem Hause wegstehlen könne, erklärte sie selbst plötzlich, daß sie spazierengehen wolle, und forderte mich auf, sie zu begleiten. Ich erhob mich, nahm meinen Hut und folgte ihr. Ich wagte nicht zu reden, ja, ich atmete kaum. Ich wartete auf das erste Wort von ihr, wartete auf eine Erklärung; aber sie schwieg. Schweigend kamen wir nach dem chinesischen Pavillon, schweigend traten wir ein, und dort – bis zu diesem Augenblick weiß ich nicht, noch kann ich begreifen, wie es zuging – dort fanden [73] wir uns plötzlich in den Armen des andern. Irgendeine geheimnisvolle, unsichtbare Macht hatte mich zu ihr gedrängt – sie zu mir.

Ihr Gesicht mit den zurückfallenden Locken beschien der letzte Schimmer des Tages; es leuchtete auf von einem Lächeln seliger Selbstvergessenheit – und unsere Lippen preßten sich in einem Kuß zusammen ...

Dieser Kuß war der erste und letzte.

Wera riß sich plötzlich aus meinen Armen los, und mit einem Ausdruck des Entsetzens in den weitgeöffneten Augen schwankte sie zurück.

»Sehen Sie doch!« sagte sie mit bebender Stimme.

»Sehen Sie denn nichts?«

Ich wandte mich rasch um.

»Ich sehe nichts. Sehen Sie etwas?«

»Jetzt nicht mehr, aber ich sah ...«

Sie atmete tief und langsam auf.

»Wen denn, was denn?«

»Meine Mutter!« hauchte sie zitternd.

Auch ich erbebte, wie von Frost durchrieselt. Es wurde mir bange ums Herz wie einem Verbrecher. Und war ich nicht ein Verbrecher in diesem Augenblick?

»Hören Sie auf!« versetzte ich, »was soll das? Sagen Sie mir lieber ...«

»Nein, um Gottes willen, nein!« unterbrach sie mich, mit beiden Händen an den Kopf greifend. »Das ist Wahnsinn ... Ich verliere den Verstand ... Damit ist nicht zu scherzen ... Das ist der Tod ... Leben Sie wohl!«

Ich ergriff ihre Hand.

[74] »Um des Himmels willen, bleiben Sie noch einen Augenblick!« rief ich in unwillkürlicher Aufregung. Ich wußte nicht, was ich sprach, und hielt mich kaum noch aufrecht.

[75] »Um des Himmels willen, das ist zu grausam ...«

Sie heftete die Augen auf mich; dann sprach sie hastig:

»Morgen, morgen abend, heute nicht. Ich bitte Sie ... heute fahren Sie nach Hause ... morgen abend kommen Sie zum Gartenpförtchen dort beim See. Ich werde dort sein, ich werde kommen ... Ich schwöre Dir, daß ich kommen werde!« wiederholte sie mit einem Ausdruck von Hingerissenheit, und ihre Augen glänzten ... »Niemand soll mich abhalten, ich schwöre es! Dann werde ich Dir alles sagen, nur heute laß mich ...«

Und ehe ich noch ein Wort erwidern konnte, war sie verschwunden. In tiefinnerster Erschütterung blieb ich zurück. Mein Kopf wirbelte. Durch die rasende Wonne, von der mein ganzes Wesen erfüllt war, stahl sich ein Gefühl der Bangigkeit.

Ich blickte um mich. Es kam mir unheimlich vor in dem dumpfen, feuchten Zimmer mit der niedrigen Wölbung und den dunkeln Wänden. Ich verließ den Pavillon und ging mit schweren Schritten dem Hause zu.

Wera erwartete mich auf der Terrasse; doch wie ich mich näherte, verschwand sie im Haus und zog sich sofort in ihr Schlafgemach zurück. Ich fuhr nach Hause. Wie ich die Nacht und den folgenden Tag bis zum Abend verbrachte, läßt sich unmöglich schildern. Ich weiß nur, daß ich auf dem Gesichte dalag, es in beide Hände bergend, Weras seliges Lächeln vor dem Kuß mir zurückrief und flüsterte: »Da ist sie endlich!«

Es fielen mir auch die Worte ein, die Wera mir von ihrer Mutter mitgeteilt. Diese hatte einmal zu ihr gesagt: [76] »Du bist wie Eis: solange das nicht schmilzt, ist es fest wie Stein; aber einmal geschmolzen, bleibt keine Spur davon.«

Noch etwas kam mir ins Gedächtnis: wie ich mich eines Tages mit Wera unterhielt über das, was tieferes Verständnis, was Talent heißt. »Ich habe«, sagte sie, »nur ein Talent; zu schweigen bis zum letzten Augenblick.« Damals verstand ich nichts davon.

Aber was bedeutete ihr Schrecken? fragte ich mich selbst ... Kann sie wirklich ihre Mutter gesehen haben? Das war ein Spiel der Phantasie, nichts weiter, dachte ich, und aufs neue überließ ich mich dem beklemmenden Gefühl der Erwartung. Am selben Tage schrieb ich Dir – es ist mir eine peinliche Erinnerung – jenen schlau durchdachten Brief.

Abends, noch vor Sonnenuntergang, stand ich etwa fünfzig Schritte weit von dem Gartenpförtchen in dem hohen und dichten Gebüsch am Ufer des Sees. Ich hatte den ganzen Weg zu Fuß gemacht. Und zu meiner Schande muß ich Dir gestehen, daß Furcht, eine wahrhaft kindliche Furcht, meine Brust durchschauerte, mich förmlich zittern machte; aber Reue empfand ich nicht. Versteckt in dem Gebüsch, spähte ich unaufhörlich nach dem Pförtchen: es war und blieb geschlossen.

Schon ging die Sonne unter, es wurde spät. Schon stiegen die Sterne am Himmel auf, und Dunkelheit trat ein. Niemand zeigte sich. Ich wurde wie vom Fieber geschüttelt. Schon war die Nacht völlig hereingebrochen. Länger konnte ich es nicht aushalten. Vorsichtig verließ [77] ich mein Versteck und näherte mich dem Pförtchen. Alles war still im Garten. Ich rief mit leiser Stimme: »Wera!«, rief zum zweiten-, zum drittenmal ... Keine Antwort. Eine halbe Stunde verfloß, eine ganze Stunde; inzwischen war es ganz finster geworden. Das Warten erschöpfte mich. Da zog ich das Pförtchen an, öffnete es, und auf den Zehen, leise, wie ein Dieb, näherte ich mich dem Hause. Ich blieb im Schatten der Linden stehen. Im Hause waren fast alle Fenster erleuchtet; in den Zimmern sah ich Leute auf[78] und ab gehen. Dies verwunderte mich. Meine Uhr, so weit ich beim trüben Schimmer der Sterne erkennen konnte, zeigte halb zwölf. Plötzlich hörte ich ein Geräusch hinter dem Hause, ein Wagen rasselte aus dem Hofe.

Da ist ohne Zweifel Besuch gewesen, dachte ich. Hiernach jede Hoffnung aufgebend, Wera noch zu sehen, verließ ich den Garten und kehrte eiligen Schrittes nach Hause zurück. Es war eine dunkle Septembernacht, aber warm und still. Das Gefühl, welches mich beherrschte – es war weniger Verdruß als Kummer –, legte sich nach und nach. Und ich kam in meiner Wohnung an, etwas ermüdet vom raschen Gang, aber beruhigt durch die Stille der Nacht, in glücklicher und fast heiterer Stimmung. Ich ging in mein Schlafzimmer, entließ meinen Kammerdiener Timotheus, warf mich unausgekleidet aufs Bett und versank in Nachdenken.

Anfangs waren es freudige Träumereien, denen ich mich hingab; bald aber trat eine seltsame Veränderung ein. Unwillkürlich kam eine unbeschreibliche Bangigkeit, eine tiefe, nagende Unruhe über mich. Ich konnte den Grund davon nicht begreifen; aber es wurde mir immer peinlicher und drückender, als ob irgendein nahes Unheil mich bedrohte, als ob irgendein liebes Wesen in diesem Augenblick litte und mich zu Hilfe riefe.

Auf dem Tische brannte die Wachskerze mit schwacher, unbeweglicher Flamme; die Uhr tickte gemessen und einförmig. Ich stützte den Kopf auf die Hand und ließ [79] die Blicke im Halbdunkel meines einsamen Zimmers umherschweifen. Ich dachte an die Geliebte, und ein tiefes Weh ging mir durch die Seele. Alles, worüber ich mich so gefreut hatte, erschien mir jetzt in seinem wahren Lichte: als ein Unglück, als unentrinnbares Verderben. Mit jedem Augenblick wuchs meine Angst; ich konnte nicht länger liegenbleiben, und plötzlich war es mir wieder, als ob jemand mit flehender Stimme mich rief ... Zitternd hob ich den Kopf in die Höhe ... Richtig, ich hatte mich nicht getäuscht! Von fernher erscholl ein klagender Ruf und widerhallte leise dröhnend an den dunkeln Fensterscheiben. Es wurde mir unheimlich; ich sprang aus dem Bette und öffnete das Fenster. Ein deutlicher Weheruf drang ins Zimmer und schwirrte gleichsam über mir. Schaudernd vor Entsetzen vernahm ich seine letzten, aushallenden Schwingungen.

Es klang, wie wenn jemand in der Ferne unter dem Messer seines Mörders um Schonung flehte. War es der Schrei einer Eule im Wald oder das Stöhnen irgendeines anderen Geschöpfes? – Ich gab mir damals keine Rechenschaft darüber, und unwillkürlich stieß ich die Worte aus:

»Wera! Wera! Bist du es, die mich ruft?«

Meine Stimme erweckte Timotheus. Verwundert und schlaftrunken erschien er vor mir.

Ich sammelte mich wieder, trank ein Glas kaltes Wasser und ging in ein anderes Zimmer; aber Schlaf kam nicht in meine Augen. Mein Herz pochte krankhaft, wenn auch nicht schnell. Ich konnte mich nicht mehr [80] Träumen von Glück überlassen; ich wagte nicht mehr daran zu glauben.

Am folgenden Morgen begab ich mich zu Priemkoff. Er trat mir mit besorgtem Gesicht entgegen.

»Meine Frau ist krank«, sagte er; »sie liegt im Bett. Ich habe einen Arzt holen lassen.«

»Was ist mit ihr?«

»Ich begreife es nicht. Gestern abend war sie in den Garten gegangen, und plötzlich kehrte sie um, ganz außer sich vor Entsetzen. Ihre Kammerfrau eilte nach mir. Ich komme, frage meine Frau: was hast du? Sie antwortete nichts; und von dem Augenblick liegt sie danieder. In der Nacht fing sie an zu phantasieren.[81] Gott weiß, was sie alles da vorgebracht hat. Auch von Ihnen sprach sie. Die Kammerfrau erzählte mir eine wunderbare Geschichte. Meiner Wera sei im Garten ihre verstorbene Mutter erschienen; es sei ihr vorgekommen, als ginge diese mit ausgebreiteten Armen ihr entgegen.«

Du kannst Dir vorstellen, was ich bei diesen Worten empfand.

»Das ist freilich dummes Zeug«, fuhr Priemkoff fort, »indes muß ich bekennen, daß meine Frau in ähnlicher Art schon merkwürdige Dinge erlebt hat.«

»Aber sagen Sie, ist Ihre Frau ernsthaft krank?«

»Jawohl, sehr krank; sie hatte eine böse Nacht. Jetzt schläft sie ein wenig.«

»Und was sagt der Arzt?«

»Der Arzt sagt, die Krankheit habe noch keinen bestimmten Charakter angenommen ...«


12. März


Ich kann nicht so fortfahren, wie ich angefangen habe, teurer Freund. Das greift mich zu sehr an und reißt meine Wunden zu schmerzhaft auf. Die Krankheit – um mich der Worte des Arztes zu bedienen – nahm einen bestimmten Charakter an, und Wera starb an dieser Krankheit. Zwei Wochen nach dem verhängnisvollen Tage unseres kurzen Stelldicheins war sie nicht mehr unter den Lebenden. Ich habe sie noch einmal vor ihrem Ende gesehen. Das ist die grausamste meiner Erinnerungen. Ich hatte schon von dem [82] Arzte gehört, daß keine Hoffnung war, Spätabends, als im Hause schon alles sich hingelegt, stahl ich mich an die Tür ihres Schlafzimmers, um einen letzten Blick auf sie zu werfen. Da lag sie im Bette mit geschlossenen Augen, ganz abgemagert, die Wangen fieberhaft gerötet. Wie versteinert stand ich vor ihr. Auf einmal öffnete sie die Augen, heftete sie auf mich, sah mich starr an, und zu meinem Schrecken richtete sie [83] sich plötzlich empor, streckte ihre abgemagerte Hand aus und sprach die Worte Gretchens:


»Was will der an dem heiligen Ort?
Er will mich?«

Sie sprach das mit einer so grauenvoll klingenden Stimme, daß ich entsetzt davonlief. Fast während der ganzen Zeit ihrer Krankheit phantasierte sie von Faust und von ihrer Mutter, welche sie bald Martha, bald Gretchens Mutter nannte.

Wera starb. – Ich war bei ihrer Beerdigung zugegen. Seit der Zeit habe ich alles aufgegeben und mich auf immer hier niedergelassen.

Bedenke nun alles, was ich Dir erzählt habe, denke an sie, an dieses so schnell untergegangene, herrliche Wesen. Wie dies geschah, wie dieses wunderbare Eingreifen eines Toten in die Geschicke der Lebenden zu erklären ist, weiß ich nicht und werde ich nie wissen. Aber Du mußt zugeben, daß es keine bloße hypochondrische Grille war – wie Du Dich ausdrücktest –, was mich bewog, mich aus der Gesellschaft zurückzuziehen. Ich bin nicht mehr, wie Du mich früher gekannt hast. Ich glaube jetzt an vieles, woran ich früher nicht geglaubt. Ich dachte diese ganze Zeit so viel nach über dieses unglückliche Weib – beinahe hätte ich gesagt Mädchen –, über ihren Ursprung und über das geheimnisvolle Spiel des Schicksals, welches wir in unserer Blindheit den blinden Zufall nennen. Wer weiß, wieviel Aussaat auf Erden jeder Mensch hinterläßt, die bestimmt ist, erst nach seinem [84] Tode aufzugehen? Wer kann sagen, welche geheime Kette das Schicksal eines Menschen mit dem seiner Kinder, seiner Enkel verknüpft und wie seine Leidenschaften in ihnen wieder auftauchen und sie für seine Verirrungen büßen? Wir sollen uns alle demütigen und unser Haupt beugen vor der unbekannten Macht, die über uns waltet.

Ja, Wera ist zugrunde gegangen, und ich lebe.

Ich erinnere mich noch aus meiner Kindheit, daß wir in unserem Hause eine schöne Vase aus durchsichtigem Alabaster hatten. Kein Fleckchen schändete ihre jungfräuliche Reinheit. Eines Tages, da ich allein war, fing ich an, den Sockel zu schütteln, auf dem sie stand ... Plötzlich fiel die Vase herunter und zerbrach in Scherben. Ich erstarrte vor Schrecken und stand regungslos vor den Trümmern.

Mein Vater trat herein, erblickte mich und sagte: »Siehe, was du getan hast! Unsere herrliche Vase haben wir nicht mehr, die ist durch nichts mehr herzustellen.« Ich schluchzte.

Ich glaubte ein Verbrechen begangen zu haben.

[85] Zum Manne erwachsen – habe ich leichtsinnig ein Gefäß zerschlagen, tausendmal wertvoller als jenes!

Vergebens rede ich mir vor, daß ich eine solche Lösung nicht erwarten konnte, daß sie in ihrer Plötzlichkeit mich selbst überraschte, daß ich keine Ahnung gehabt, was Wera für ein Wesen war. Sie hatte wirklich zu schweigen verstanden bis zum letzten Augenblick. An mir war es, sie zu fliehen, sobald ich inne wurde, daß ich sie liebte, daß ich eine verheiratete Frau liebte ...

Aber ich blieb, und nun liegt das herrliche Geschöpf zerbrochen in Scherben, und ich blicke in stummer Verzweiflung auf das Werk meiner Hände.

Ja, Frau von Elzoff hat eifersüchtig ihre Tochter bewacht, sie behütet bis ans Ende und beim ersten unvorsichtigen Schritte zu sich in das Grab gezogen.

Laß mich am Schluß Dir noch sagen: eine Überzeugung habe ich aus den Erfahrungen und Prüfungen meiner letzten Jahre gewonnen. Das Leben ist kein Scherz und kein Spiel, das Leben ist auch kein Genuß ... Das Leben ist eine schwere Arbeit. Entsagung, beständige [86] Entsagung – das ist sein geheimer Sinn, das ist sein Rätselwort. Nicht auf Verwirklichung seiner Lieblingsgedanken und Ideale, und wären sie noch so erhaben, sondern nur auf Erfüllung seiner Pflicht soll der Mensch bedacht sein. Wer sich die eisernen Fesseln der Pflicht nicht anlegt, wird nimmer ohne Straucheln das Ende seiner Laufbahn erreichen. In der Jugend denken wir: je freier, je besser, je weiter gelangt man. Der Jugend mag es erlaubt sein, so zu denken. Aber wem einmal das rauhe Antlitz der Wahrheit ins Auge geblickt, der schäme sich, an Täuschungen sich zu ergötzen.

Leb wohl! Ehedem würde ich hinzugefügt haben: sei glücklich; jetzt sage ich Dir: Bestrebe Dich zu leben, es ist nicht so leicht, wie man glaubt. Gedenke meiner, nicht in Stunden der Trauer, aber in Stunden des Zweifels, und bewahre in Deinem Herzen das Bild Weras in seiner ganzen makellosen Reinheit ...

Noch einmal: Leb wohl!

Dein P. B. [87]

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TextGrid Repository (2012). Turgenev, Ivan Sergeeviç. Erzählung. Faust. Erzählung in neun Briefen. Faust. Erzählung in neun Briefen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-6E7E-7