Friederike Helene Unger
Julchen Grünthal

Erster Theil

An den Herrn Hofrath und Doctor Heim in Berlin
An den Herrn Hofrath und Doctor Heim
in Berlin.

Mein innigst verehrter Freund.


Daß ich lebe, und Kraft und Muth zur Arbeit habe, dank' ich Ihnen, mein ewig werther Freund. Sie retteten erst mir, und dann meinem Gatten das Leben, und Ihr erheiternder Freundes-Zuspruch; wirkte auf uns wieder Auflebende, wie die Frühlingssonne auf Siechende. Schon dazumal sann ich auf ein Denkmal meiner Verehrung und tief empfundnen Dankbarkeit, das dauernder wäre, als verhallende Worte. Und nun wage ichs, Ihnen dies Buch zu widmen, mit welchem ich deutscher Biederkeit ein Ehrendenkmal zu setzen gedenke. Es ist Ihrer nicht würdig; aber nehmen Sie's dennoch mit der freundlichen Nachsicht auf, an welche Sie mich gewöhnt [1] haben, und erlauben mir, mit dem altdeutschen Reime zu sagen:


Die Gab' ist klein, Dein' Verdienst' sind groß,
Das Meer empfängt auch Bäch' in seinem Schooß.
Kurz, und ohne künstliche Wendung nenn' ich mich, Ihre mit inniger wahrer Verehrung

ergebene Freundin Die Verfasserin. [2]

Vorbericht

Die günstige Aufnahme, welche der erste Theil von Julchen Grünthal gefunden hat, mußte für die Verfasserin ein lebhafter Antrieb seyn, nicht nur das angefangene Werkchen fortzusetzen und zu vollenden, sondern auch das, was davon schon herausgegeben war, so sehr als möglich zu verbessern. Der Umstand, daß es einer fremden, ihr ganz unbekannten Hand gefallen hatte, einen zweiten Theil zu schreiben und drucken zu lassen, bestätigte sie noch in ihrem Vorsatz.

Sie hat jetzt ihren Entschluß ausgeführt, und überreicht denen, die sich für Julchens Schicksal schon interessirt haben, oder noch interessiren wollen, einevöllige Umarbeitung des ersten [3] Theils, und einen ganz neuen zweiten und letzten Theil, worin die Ereignisse der Familie Grünthal so weit erzählt werden, als sie ihr bekannt geworden sind.

Sie bittet nun für das Ganze um dieselbe Nachsicht, welche man schon der ersten Hälfte desselben in einer unvollkommnern Gestalt geschenkt hat. Sie hofft diese Nachsicht zuversichtlich bei jedem zu finden, der sich den wahren Gesichtspunkt der Beurtheilung nicht verschieben und sich erinnern will, daß sie nicht für Gelehrte, sondern zunächst für ihr eignes Geschlecht, für ihre Mitbürgerinnen schrieb, zu deren Veredlung mitwirken zu können der angelegentlichste Wunsch ihres Herzens ist.


Berlin, im September 1797.

[4]
Julchen Grünthal

[5] [7]Nur muthig durchgesetzt, lieber Seelmann; Ihres Kindes Wohlfahrt hängt davon ab, sagte der Amtmann, indem er seine Pfeife an seinem Absatz ausklopfte, und so hastig aufsprang, daß Sultan knurrend gegen die Thüre fuhr. – Sie sind böse, Frau Predigerin, das sehe ich an den Falten ihres kleinen Mündchens; aber Sie werden mir wieder gut seyn, das weiß ich, wenn Sie überlegt haben, daß ich aus dem Antriebe wahrer Freundschaft Ihren Plan bestreite, setzte Grünthal ruhiger hinzu, und stopfte ein neues Pfeifchen. Aber du lieber Himmel, sagte die Frau Predigerin mit süßsaurer Miene, warum sollte denn Lottchen nicht in einer Pension erzogen werden? Können wir [7] doch, Gottlob! etwas an unser einziges Kind wenden. – Wie! sollte Lottchen nicht unter Ihrer eignen Aufsicht gut werden, wenn sie Ihrem Beispiele folgt? Ist sie nicht was sie werden muß, wenn sie eine fleißige, fromme Gattinn und Hausmutter ist? Und sollte sie denn das bei einer sorgfältigern Verstandesausbildung, die sie in Berlin erhalten würde, nicht auch werden können? – Da hört man es, daß Sie Berlin und die belobten und ausposaunten Pensionsanstalten, darin und umher, noch nicht kennen. Nicht einmal als Freund, sondern nur als gewöhnlich ehrlicher Mann gesprochen, rathe ich Ihnen, Ihr unschuldiges, harmloses Dorflämmchen bei sich zu behalten. Hätte ich mein armes, armes Mädchen nicht dahin, leider! wohl recht dahin, gegeben, (er sagte dies mit schwer zurückgehaltnen Thränen,) so wär' auch ich noch ein glücklicher Gatte und Vater! [8] Das liebe Mädchen da, die Lotte zu retten, werde ich mich entschließen müssen, Ihnen meine ganze traurige Geschichte zu erzählen.

Der Prediger und dessen Frau äußerten ein großes Verlangen, sie zu hören. Dunkel haben wir davon gehört, sagte Madame Seelmann; aber Sie werden sich uns verbinden, wenn Sie uns die wahren Umstände derselben mittheilen.

Wenn Sie Muth haben, sich der Geschwätzigkeit eines Alten, der mitunter gern von sich selbst spricht, auszusetzen, so bin ich von Herzen dazu bereit. Wir erinnern uns so gern der Freuden, die wir in unsrer gegenwärtigen Lage vermissen. – Grünthal setzte sich in dem großen ledernen Backenstuhl zurecht, und begann also:

Ich habe in Halle Jura studirt, und gedachte raschen Schrittes auf den Geheimenrath, [9] und wenns Glück gut wäre, auf den Präsidenten los zu gehen; aber ein paar blaue klare Augen verrückten mir den ganzen eitlen Plan. In meinem vierundzwanzigsten Jahre ward ich Justiziarius in H. Der dortige Amtmann Burg nahm mich beinahe väterlich in seinem Hause auf, auch nannte er mich Sohn. An einem schönen Morgen fiel es mir mit einemmal auf, daß seine einzige Tochter schöne blaue Augen, frische rosigte Wangen, und ein gutes liebes Herz hatte, und es schoß mir aufs Herz, daß ich durch dieses wackre Mädchen wohl im Ernst sein Sohn werden könne. Je öfter ich ihr in die dunkelblauen Augen kuckte, je wahrscheinlicher wurde es mir. Ich fing an mich mit Lieschen in mancherlei rührende Situationen des Hausstandes zu versetzen; bei diesen Träumereien wurde mir das Mädchen immer lieber, und endlich so lieb, daß [10] ich nicht mehr ohne sie leben konnte. Eines Abends in der Heuerndte kam ich, in süßen Liebesträumen vertieft, die Wiese her geschlendert, dachte mir dies und das, wenn es so oder so wäre; darüber wurde es spät, die Sonne war unter-, der Mond aufgegangen. Die trauliche Dämmerung wirkte allmächtig auf mein empfängliches Herz; die Natur war in ihrer lieblichsten Gestalt, um mich her Wiesenduft, der Mond ruhte über krausen Silberwölkchen, und im Westen dämmerte noch das letzte erlöschende Purpurroth. Mein Herz ward ungewöhnlich weich. Soll ich denn die liebliche Milde von alle dem allein, und immer nur allein genießen, jeden großen herzerhebenden Gedanken in mich verschließen? Soll nie eine verwandte Seele den Schöpfer der Natur mit mir feiern? Lieschen, ja gewiß das liebe Lieschen ist diese verwandte Seele. Guter Gott! gieb [11] mir dieses fromme Mädchen zu meiner Gefährtinn durch dies Leben! Und der Entschluß, ernstlich um sie zu werben, stand fest und deutlich vor mir. Ich eilte in den Amtsgarten, und fand sie da in den Erbsenbeeten, mit einem Körbchen am Arm. Lieschen, lassen Sie alles stehen, hub ich an, und kommen Sie mit mir. Sie sah mich verwundernd an, setzte ihr Körbchen mit Schooten nieder, trocknete die Hände an ihrer Schürze und folgte mir. Ich führte sie in eine Laube, aus der man ins freie Feld sehen konnte. Sehn Sie doch, meine Liebe, wie herrlich das alles um uns her ist! – Ja wohl, aber – das wußte ich schon längst, sagte sie lächelnd, und forschte in meinem Auge. – Lachen Sie nicht, Lieschen, ich wollte Ihnen sagen, daß ich das nicht mehr länger allein genießen kann. – Erst sagen Sie mir aufrichtig, haben Sie mich [12] lieb? – Sie wurde hochroth, und sagte dann stockend und angenehm verschämt: Warum sollte ich Sie nicht lieb haben, Sie sind ja ein recht guter Mann? – Nun, Lieschen, und wollten Sie wohl dem guten Mann Ihr liebes frommes Herz schenken? Sehen Sie das wars, was ich Ihnen zu sagen hatte. – Sie wand blöde ihre Hand aus der meinigen.

»Sprechen Sie mit meinem Vater; er will ich soll keinen andern als einen Landwirth nehmen.« – Wenn ich nun einer würde, nähmen Sie mich dann gern? – Ich habe Sie immer herzlich lieb gehabt, sagte sie mit gesenktem Blick, in welchem Thränen glänzten, und werde nie einen Menschen so lieb haben als Sie. – Lieschen, wenn das nicht Ihr Ernst ist, und ich fasse Sie beim Wort? – O ja, Herr Grünthal, der liebe Gott weiß es, daß ich Ihnen gleich gut[13] ward, als Sie zu uns kamen, und wenn mein Vater einwilligt, so habe ich was ich mir längst im Stillen gewünscht habe, setzte sie jungfräulich blöde hinzu. Ich war wie im Himmel als sie diese Worte sprach, und mir erlaubte den ersten ehrfurchtsvollen Kuß von ihren Lippen zu nehmen. Ehrfurchtsvoll war er gewiß, denn ich hatte tiefen Respekt für die helle Unschuld dieses hübschen Mädchens, die sich übrigens nicht auf Einfalt gründete, ob sie schon nur ein schlichtes Landmädchen war.

Von ihr eilte ich zu dem Vater. Wie ich einlenken sollte, um die Heirath aufs Tapet zu bringen, hatte ich nicht überlegt; der Alte brachte mich aber zufällig selbst ins rechte Geleis. Ich stockte und stammelte darauf alles hin, was er wissen sollte. Er hörte freundlich zu, nickte manchmal bedeutend dazwischen; endlich sagte er gutmüthig [14] lächelnd: und wovon will denn der junge Herr das Mädchen ernähren? denn auf Grasung kann er doch Weib und Kind nicht schicken. Da saß ich, spielte verlegen an den Bändern seines vor mir liegenden Tobaksbeutels, und schwieg mäuschenstill. – Ja, so sind wir jungen Brausköpfe! in den Romanen geht das alles, da regnets Gold und Erbschaften! Aber in der wirklichen Welt, ja da haperts; Weib und Kind wollen essen und gekleidet seyn. Er weidete sich eine Weile an meiner Verlegenheit, endlich aber rückte er mit seiner Meinung heraus, und es wurde bald alles richtig. Er trat mir einige Vorwerke ab; ich sollte unter seiner Aufsicht die Landwirthschaft gründlich lernen. Ich war mit Allem himmelhoch zufrieden, und so gab ich jeden lüsternen Blick auf Geheimenrath und Präsident willig auf für die frohe Aussicht auf harmloses [15] häusliches Glück, das in einer wonnigen Zukunft so reizend vor mir lag.

Nach sechs Wochen waren wir Mann und Weib. Die Flitterzeit war ein Himmel. Ich war so ganz nach meiner eignen Art glücklich. Wir blüheten auf, und breiteten uns aus wie ein Baum an den Wasserbächen, beteten und arbeiteten, und der gute Gott gab das Gedeihen. Im ersten Jahr schenkte mir Lieschen einen Sohn, im zweiten noch einen, zwei Jahre nachher eine Tochter, und damit wars Basta! Bald darauf starb mein Schwiegervater; ich übernahm nun das ganze Amt. Zwar nahm nun die Wirthschaft den größten Theil meiner Zeit weg; doch strengte ich alle meine Kräfte an, auch etwas für die Bildung meiner Kinder zu thun. Als die Knaben der weiblichen Pflege entwuchsen, nahm ich einen gescheuten Hofmeister an, den ich freilich etwas [16] ansehnlicher als den Großknecht bezahlte; dafür aber hatte ich an ihm einen Freund, der grade in meine Absichten mit den Kindern eintrat, und mein angefangnes Werk weder verächtlich tadelte, noch ganz andere Wege mit ihnen einschlug. Der älteste äußerte früh einen entschiednen Hang zur Landökonomie; und Fritz, das liebe Johannesgesicht, war von der Mutter zum geistlichen Stande bestimmt. Die Tochter, Julchen, – o lieber Freunde, wenn je ein Vater mit einigem Rechte auf sein Kind sich etwas zu gute thun konnte, war ich es. Ihre schöne Natur bedurfte nur einer liebreichen Hülfe, sich zu entwickeln; jede weibliche Tugend lag im zarten Keime vor mir, und brach an dem warmen Vaterherzen zur lieblichsten Blüthe auf. Sie wissen, lieben Freunde, wie glücklich uns Eltern das macht, wenn die Natur [17] uns wohlwollend den Weg vorzeichnet. Bis in ihr zehntes Jahr war ich ihr einziger Lehrer gewesen, denn mir war bange, so vernünftig der Hofmeister auch war, er möchte mir in ihre junge Seele allerlei hineinkünsteln, was nicht hineingehörte, und allerlei Erziehungsmethoden an ihr versuchen, wie das jungen Gelehrten so an der Art ist; auch war es mir schon dazumal sehr einleuchtend, daß es um die Bildung, welche junge Männer den Mädchen geben, so eine ganz eigne Sache sey. Wenn sie so ein liebes zartes Knöspchen vor sich haben, gerathen sie gewöhnlich in gar poetische Stimmung, idealisiren, träumen von Einfachheit der guten alten Vorwelt, und zuletzt kömmt aus ihrer bildenden Hand das Mädchen entweder als burschikoser Wildfang, oder als ein idealisirendes, excentrisches, nervenschwaches Wesen. Überdem lasse ich es mir nicht ausreden, [18] daß unter der Leitung eines jungen Mannes, der, ohne es selbst zu ahnen, dem Mädchen zu gefallen sucht, – denn so will es die Natur, der Instinkt, – lassen Sie mich das so nennen, was der Sprachgebrauch mit einem deutlichern Namen bezeichnet, – das Mädchen zu früh erwärmt und entwickelt wird. Belege zu meiner Behauptung giebt das Buch da! – Grünthal zeigte auf Ewalds Rosenmunde, die im Strickkörbchen der Frau Pastorin lagen. – Diese lachte, warf das Köpfchen in die Höhe, unterbrach aber Grünthal nicht, und er fuhr fort:

Vielleicht irre ich in meiner Überzeugung; allein der systematische Unterricht in Wissenschaften bei dem andern und schwächern Geschlecht hat mir nie zu Sinne gewollt; der anmaßende Ton der von ihrer Überlegenheit träumenden Weiber ekelt jeden, der Gefühl für prunklose weibliche Würde hat, von [19] Herzen an. Es mag denn auch wohl Weiber geben, denen Vielwissen und Gelehrtseyn frommt, – nun, meinetwegen! Ich denke mir immer, unter tausend Weiberköpfen giebt's kaum einen, der fest genug organisirt ist, um die Schätze tieferes Wissens aufzufassen. Genug, ich hatte mir meiner Tochter wahrscheinlichste künftige Bestimmung zum Ziel gestellt. Zu dieser sie zu bilden, war mir ein gar liebes Geschäft; denn ich dachte mir: sie wäre was sie seyn müsse, wenn sie eine kluge, fromme Hausfrau würde, der es nicht an Verstand und Bildung fehlte, einem gescheuten Manne das Leben zu versüßen, und in ihren Kindern dem Staate nützliche Bürger zu erziehen. Ich ließ mich allenthalben, wo es nur thunlich war, von dem lieben Kinde begleiten, erklärte ihr auf eine ungelehrte Weise, was uns Bemerkenswerthes auf unsern kleinen [20] Wanderungen aufstieß; machte ihr junges Gemüth sehr früh auf die Wunder der Natur aufmerksam, und zögerte nicht, ihre Seele empfänglich für die erhabnen Begriffe von dem Urheber der sie umgebenden Schönheiten zu machen. Noch ehe sie die Worte deutlich aussprechen konnte, lehrte ich sie so zu ihrem Schöpfer sprechen, wie sie zu mir sprach; ich flößte ihrer jungen Seele Liebe und Vertrauen ein, und war bemüht, diese Richtung des Herzens zu dem Geber alles Guten bei ihr zur Fertigkeit zu erheben, damit es ihr einst kein vereinzelter Begriff seyn sollte. Ich ließ sie auch, was die neuere Pädagogik immer dagegen einwenden mag, sich früh mit einigen herzlichen Sprüchen der Bibel bekannt machen. Freilich gab ich ihr eben nicht die Geschichte von der keuschen Susanne und das hohe Lied zuerst in die Hände; aber die Geschichte der Schöpfung [21] gab ich ihr so, wie die alte ehrwürdige Urkunde sie uns giebt; denn was sollte ich ihr sagen, wenn sie nun darauf bestand zu erfahren, wie der schöne Wald, die Wiese, wo sie ihre Blümchen pflückte, und die Vögel, die ihr so viel Freude ins Herz sangen, – wie dies alles entstanden sey? Sollte ich ihr nun Büffons oder Lamettrie's System, oder Silberschlags Geogonie vorsagen? Moses Erzählung paßt so sehr für das Kindesalter des einzelnen Menschen, wie sie für die Begriffe des Kindesalters der Welt überhaupt erfunden zu seyn scheint. Wäre meine arme unglückliche Tochter nicht nachher unter Menschen gerathen, die ihre Begriffe verwirrten und sie ihr lächerlich machten, so wäre diese meine erste Bildung ihrer Religiosität, ihren künftigen Fortschritten in vernünftiger Berichtigung ihrer Begriffe wahrlich kein Hinderniß gewesen.

[22] In meinen geschäftslosen Stunden brachte ich ihr gesprächsweise vaterländische und fremde Geschichte bei, und sie begriff bald den Zusammenhang des Ganzen. Die Karte von Deutschland war ihr so geläufig, daß sie mir zu meiner innigsten Freude sogleich von der Lage jedes Ortes und Landes Rechenschaft geben konnte. Schreiben und Rechnen lehrte sie der Hofmeister. In den übrigen Stunden beschäftigte die Mutter sie mit kleinen häuslichen, ihren Kräften angemeßnen Geschäften, und ich war sehr froh darüber; denn diesen schönen Ordnungsgeist, diese uns Männern so gesegnete Gabe der lieben Weiber, in Kleinigkeiten zu leben und zu weben, diese leichte Empfänglichkeit mit dem Kleinen und Geringen froh und zufrieden zu seyn, lernen Töchter nur von guten Müttern. Wenn ich ein schlottriges Mädchen oder Weib sehe, die es zu klein dünkt, ihre hohen [23] Geistesgaben im Kleinen zu üben oder anzuwenden, so denk ich mir immer ein Mann oder Bruder hat sie erzogen.

Indeß war es meiner lieben guten Frau immer ein Dorn im Herzen, daß ein so reizendes Mädchen, wie unsre Tochter war, nur ländlich erzogen würde, nicht Tanzen, nicht Musik, nicht Französisch lernen sollte! Von dem letztern hatte sie zwar mit ihren Brüdern genug gelernt, um ein leichtes Buch verstehen zu können. Das war aber meinem armen Weibe nicht genug, die es sich selbst zu einem großen Mangel anzurechnen pflegte, daß sie diese Sprache nur verstand, nicht sprach, obschon in ihrem ganzen unschuldigen Leben kein einziger Fall eingetreten ist, wo sie sich durch dieses Nichtkönnen gedrückt gefühlt hätte. Julchen sollte ihrem Wunsche nach französisch plaudern können, wie eine galante Stadtjungfer. [24] Auf dem Klavier ließ ich sie durch einen geschickten Organisten unterrichten; sie war nicht ohne Talent dazu, und sang mit süßer schmeichelnder Stimme meine und der Mutter Lieblingsstückchen, wenn ich auf meinen alten verstimmten Klavier trommelte. Eine Hauptsängerinn braucht sie eben nicht zu werden, sagte ich: auch liegt in ihrer Haltung und dem regelmäßig schönen Körperbau eine natürliche Grazie, die mir kein Tanzmeister zur Unnatur umschaffen soll. Sehr gern hätte meine Frau eine Französinn ins Haus genommen; aber bei diesem Anliegen blieb ich taub. Wie? dafür, daß ich irgend ein armes Waisenmädchen von der Zucht ihrer Aufseherinnen, oder aus sonst einer Noth errettet, und sie in das Wohlseyn meines Hausstandes als Mitgenossinn aufgenommen hätte, sollte ich mich einen sot allemand nennen lassen? wie diese Dinger, wenn sie sich [25] anfangen zu fühlen, wohl zu thun pflegen. Und dann so soll mir mein Julchen, das ehrliche deutsche Blut, durchaus keine schwadronirende Deutschfranzösinn, diese niedrigste aller niedrigen Abarten, werden. So dachte ich damals. Wollte Gott! ich hätte Muth zum Durchsetzen bewiesen.

Mein Mädchen war nun dreizehn Jahr geworden, und so gut und lieblich, daß ihr Anblick uns Eltern recht im Herzen wohl that. Ich habe von je her das Erndtefest zu einem allgemeinen Freudentage für meine Dorfgenossen bestimmt, und ihnen jede frohe Unterhaltung gestattet, wozu ich nach allen Kräften beitrug. Woran ließ ich aber stets ein frommes Dankfest gehen, dessen Einrichtung Sie, mein lieber Pastor, selbst gebilligt haben. Julchen, als ein herangewachsenes Mädchen, war diesmal die Königinn des Tages, und brachte [26] den Kranz. Von einem Hügel sahen meine Frau und ich den frohen Zug ankommen. Julchen ging zwischen ihren Brüdern, ebenfalls ein paar frische blauäugige rothwangige deutsche Jungen. Julchens schneeweißes Kleid prangte mit hellgrünen Bändern, und Kopf und Brust mit Blumen, wie der einfache Landgarten sie gab. Ihre langen blonden Locken spielten im Winde. Nie, nie sah ich ein holderes Geschöpf! Auf ihrer blendenden Stirn und in dem dunkelblauen Auge saß Verstand, und in dem liebreizenden Munde Wohlwollen und Herzensgüte. Mein inniges Wohlgefallen an meinen schönen guten Kindern zerfloß in heißes Dankgebet; Thränen strömten über meine Backen, und nie wurde wohl das kräftige Lied: Nun danket alle Gott! mit herzerhebenderm Gefühle gesungen. Mein Weib stand an meine Schulter gelehnt, auch sie war sanft gerührt. [27] O mein Weib, sagt' ich, und drückte sie innigst an mein Herz, sieh unsre Kinder! Danke mit mir Gott für diesen reichen Segen! »Ja, bester Mann, sagte sie, mich küssend, ist es nicht Jammer, – ja, nun muß es heraus, – ist es nicht Jammer und Schade, daß dieser Engel von Tochter hier auf dem Dorfe vergraben bleiben soll?« – Wasser dämpft nicht schneller Glut, als jetzt meine Freude durch die unvorsichtige Äußerung meiner Frau gedämpft wurde. Warum Jammer und Schade? sagte ich wehmüthig, und ließ kalt mein Weib aus meinen Armen gleiten. Dies Gespräch wurde durch die Annäherung von Landleuten unterbrochen, und – mit meinem Vergnügen war es aus. Ich sah mein Julchen so traurig an, als ob sie mir gewaltsam entrissen werden könnte. Meiner Frau konnte ich in einigen Wochen, des einfältigen Jammer und Schade [28] wegen, nicht recht freundlich ins Gesicht sehen.

Und dennoch wäre alles gut geblieben, hätte uns nicht ein feindseliger Dämon einen neuen Forstmeister ins Dorf gebracht. Er war ein Edelmann und hatte eine gnädige Frau und gnädige Fräulein Töchter. Diese waren in Berlin in einer französischen Pensionsschule verbildet worden, schämten sich nun ihrer deutschpommerschen Namen, und nannten sich ma soeur Julie, und ma soeur Adelaide, den derbdeutschen Vater, der kaum ahnete, daß es noch andre Franzosen in der Welt gäbe, als die er als Kornet bei Rosbach hatte schlagen helfen, mon cher père; sie sangen Liederchen aus den Etiennes aux Dames, putzten und zupften sich den ganzen Tag vor dem Spiegel, und behohnlächelten jedesmal in der Kirche den ländlichen Aufzug meiner Frau und Tochter, die[29] dann ganz trostlos zu Hause zu kommen pflegte, obschon sie ihre Jahre hindurch geschonten Kleider, alle nach der Reihe vorführte, die dann wohl freilich durch ihre Eingezogenheit nicht an Eleganz gewonnen hatten, und also dem Endzwecke meiner guten Frau, sich ein wenig sehen zu lassen, schlecht entsprachen. Es half alles nichts; jedes Stück wurde belacht und bekrittelt. Endlich erhielten wir den hochadlichen Besuch in unsrer Wohnung, als die Familie mit allen Adlichen, fünf Meilen im Umkreise, fertig war. Die unbehülfliche gnädige Frau fand in der Gegend allesinsupportable, brachte allerlei kleine nippes zum Vorschein, die sie von ihrer Mutter hatte, welche Hofdame an einem kleinen Hofe, und respektive intime Freundinn Sr. Durchlaucht des Fürsten gewesen war, sprach von großen Gesellschaften, in welchen sie zu Berlin hatte seyn [30] müssen, die so unverantwortlich gemischt gewesen wären, daß sie den plattitudes der krassen Bürgerlichen beständig ausgesetzt gewesen sey, es wär' entsetzlich, wie sich dort der Adel im bürgerlichen Umgange herabsetze; daher denn diese rohe Race sich anfange einzubilden, sie könne es endlich durch die Erziehung dem Adel wohl gleich thun! Man könne wohl populär seyn, aber sich doch mit dem Bürger nicht gemein machen. Meiner Frau Zupfen und Fußtreten unterm Tisch, und ihr bittendes Gesicht, bändigte einigermaßen den Geist, der aus mir reden wollte; doch entfuhren mir einige Kernsprüche, die ich der albernen adlichen Frau scharf ans Herz legte. Diese thaten gut; die Dame lenkte ein, und verfiel nun auf das Kapitel der Moden. Zu meinem Schrecken und Ärger verleideten sie nun meiner Frau jedes ihrer [31] Kleidungsstücke, so daß meine armen Frauenzimmer ganz beschämt da saßen, als wären sie nur im Kostüme der alten Mutter Eva gewesen. »Sie können sich ja dergleichen Kleinigkeiten leicht aus Berlin kommen lassen.« O freilich, fiel ich etwas derb in den Text, der Verwalter kann, wenn ich ihn mit Wolle oder Korn hinschicke, das Korn gleich gegen Hüte und Kopfputz, und die Wolle gegen Kleiderflor umsetzen. Das geht recht gut. Und kommt denn der Pachttermin, je nun Lieschen, so bieten wir der Kammer – je was denn? – alten Flor? – an. Meiner Frau, der das plötzlich einleuchtete, trat eine Thräne ins Auge, der ich leider nie zu wiederstehen vermochte, und ich verließ das Zimmer.

Seit dem Tage ging mein Elend eigentlich an. Meine Frau sah beständig mißmüthig. auf mich. Meine herzlichste Liebkosung [32] erwiederte sie verdrossen, oder durch ein: geh' nur, du böser Mann, du hast mich doch nicht lieb, würdest du sonst nicht mehr für deine Kinder thun? – Die Natur hat Julchen mit allem, was ein Mädchen zur lieblichsten Blume macht, reichlich ausgestattet. Wir haben gethan was uns oblag, wir haben nichts von dem was sie gegeben hat, verkünstelt, sagt ich dann wohl. – Freilich ist Julchen von Natur sehr angenehm, aber sie hat doch kein Air, wie die Forstmeisterinn sagte, wendete mir dann mein Lieschen ein. »Du bist wunderlich Liese, hat unsre Tochter nicht Verstand und ein gutes Herz?« – Antwortete ich härter, so fiel sie mir weinend um den Hals: nur auf zwei, zwei kurze Jahre sollt' ich Julchen nach Berlin lassen. Noch wollte ich nicht darauf hören; endlich kam es gar heraus, daß die gnädige Frau deshalb schon nach Berlin an eine sogenannte[33] Erzieherinn geschrieben hätte. Ich ergrimmte, schalt, und – ward wieder gut; des ewigen Streitens und Ankämpfens gegen die Lieblingsideen geliebter Personen wird das Herz bald müde. Ohnedem sind die Weiber (mit ihrer Erlaubniß Frau Pastorinn) schwach wie die neugebornen Kinder, wenn sie gegen irgend eine ihrer Neigungen kämpfen sollen: aber gilts eine Lieblingsidee durchzusetzen, o dann ist keine Löwinn beherzter, und keine Amazoninn unternehmender.

Ich nahm Julchen bei Seite, um ihre eignen Wünsche über diese Angelegenheit auszuforschen. Sie äußerte zwar viel Gehorsam gegen mich; aber ich sah leicht, daß die Mutter ihrem biegsamen Herzen schon die ihr selbst gefällige Richtung gegeben hatte. Ihrem jungen unerfahrnen Sinne war Berlin in die glänzendsten Perspektive gestellt; [34] sie selbst sah sich schon dort im Geist als eine vielgeltende Erscheinung; das hatte der Fräulein frivoles Geschwätz bewirkt. Überdem fand ich, daß meine Frau der verächtlichen Begegnung dieser gnädigen Gänselein zu viel Gewicht bei ihr gegeben hatte. Dies beugte vollends meinen Muth. »Auch du wieder mich, meine Tochter?« – Kurz nach einigen Wochen, die unter häuslichem Zwist verflossen waren, kam die Nachricht, daß Madame la Porte sich gefallen ließe, gegen ein Kostgeld von 200 Rthl., die Maitres ungerechnet, meine Tochter in ihre Pension aufzunehmen, wo sie zugestutzt und zu einem Caquet abgerichtet werden sollte, daß sie hoffentlich in ihrem Leben nicht weiter gebraucht haben würde. Mein Weib hatte das alles, um sichrer zu gehen, durch ihre adlichen Gönnerinn, in der Stille betrieben. »Also willst du denn doch deine Tochter Preis [35] geben?« sagt' ich zu ihr, als sie mir diese Nachricht, freilich etwas schüchtern, überbrachte, weil sie einem Sturm' entgegen sah. Wie? Preis geben? sagte sie sehr weise, wobei ihr gutmüthiges Gesicht sich zwang, schlau auszusehen; ich liebe Julchen wie mein Leben, aber ich sehe weiter als du mein Kind. Es würde dir denn doch wohl recht lieb seyn, wenn ich eine bessere Erziehung gehabt hätte? – Nie, nie wärst du mein Weib geworden, wärest du gewesen, was man aus Julchen machen wird. – Du erschreckst mich; was werden sie denn aus ihr machen? – Eine Närrinn, die weder für die Stadt, noch für das Land, wo sie mit ihrer sanften Einfalt hingehört, mehr taugt; – und du wirst es zu verantworten haben. Mein armes Weib weinte bitter; so stark hatte ich noch nicht geredet, und der alte Narr, Grünthal, ließ sich durch diese Thränen [36] weich machen, gab wieder nach, ward aufs neue mit Vorstellungen bestürmt, überstimmt, und – Gott weiß wie? unwillkührlich fortgerissen, so, daß ich endlich wie ein müdegejagter Hirsch kraftloß mich zum Ziel legte.

Den bittern Unmuth meines Herzens zu zerstreuen, eilte ich zu unserm Pfarrer; er war noch ein junger Mann, aber ganz nach meinem Herzen, – deutsch und bieder, ohne jene anstößige Roheit, wodurch unsre jungen Schriftsteller und manche Theaterdichter, den ehrlichen Deutschen zu bezeichnen denken. Er war mir gut, und darum klagt' ich ihm mein Leid. Und muß es denn nun eben eine französische Kostschule seyn? sagte er freundlich; muß es Berlin und ein fremdes Haus seyn, das ihrer liebenswürdigen Tochter Bildung vollenden soll, so giebt es ja deutsche Erziehungsanstalten jeglicher Art, [37] worin alles, und mehr noch als in den französischen gelehrt wird. Sehen sie hier die öffentlichen Ankündigungen; sie haben die Wahl. Wollen sie, so schreib ich an einen Freund, auf den ich mich verlassen kann.

Ich willigte ein, und betrieb nun ebenfalls meine Sache im stillen, bis die Antworten gekommen und wieder geschrieben, und wieder gekommen waren; dann erst offenbarte ich den neuen weisen Plan meiner Frau, die dies und das daran zu erinnern hatte, unter andern, daß ihre ganze Freude mit dem Französischen nun vorbei sey, daß Julchen es künftig dem albernen schnipschen Fräulein gleich thun könne; nun würde doch wieder nur etwas ganz gewöhnlich Bürgerliches herauskommen. Ich unterdrückte die Antwort, die mir schon auf den Lippen schwebte, und wollte mich meines Sieges über die französische Jugendbildnerinn nicht zu sehr überheben.

[38] Von nun an wurden die Anstalten zu Julchens Abreise eifrig betrieben. Bei jedem Stück, daß mit auf Reisen ging, ward die Gnädige zu Rathe gezogen, nach deren Angabe die Sonntagskleider in Hauskleider verwandelt wurden. Die rechten Siegs- und Triumphröcke sollten in Berlin, von feinem Modezeug nach neuesten Schnitt gemacht werden; dagegen konnte ich vernünftiger Weise nichts einwenden, denn es ist Pedanterie gegen Mode und Geschlechtsgebrauch zu Felde zu ziehen, sobald beides nur nicht die Sittlichkeit, den Vermögenszustand und den Rang, den die Person in der Gesellschaft hat, überschreitet. Auch weiß ich daß man dem Geiste der Zeit etwas nachsehen muß. Die siechen versessenen Fräulein rümpften die Nasen, daß Julchen zu einer Deutschen ins Haus sollte: doch würde auch diese eine horrible Arbeit haben, Julchen zu [39] degourdiren; ein Ausdruck, dessen sich wahrscheinlich die Französinn bediente, als sie diese im Grunde nicht üblen Mädchen entpommerte.

Ich sah dem Unwesen still wehmüthig zu. Der erste Julius, der zur Abreise bestimmte Tag, rückte immer näher, und unsre kleinen, sonst so frohen Mahlzeiten, wurden immer düstrer und früher abgebrochen. Sah Julchen meine mühsam zurückgehaltnen Thränen, so sank sie auf meine Hände, und zerfloß in Traurigkeit. »Mein lieber, lieber Vater, wie soll ich ohne sie leben! Was kann mir einen solchen Vater ersetzen! Ich werde es nicht ertragen!« – rief sie dann von Schluchzen unterbrochen aus. »Behalte Gott im Herzen, mein ewig theures Kind, und sein Segen begleitet dich überall!«

Doch ich eile zu dem letzten traurigen Abend vor ihrer Abreise. Tröstend war mir [40] die Bemerkung, daß sie den Tag nicht in kindischer Unbehaglichkeit, sondern vernünftig gerührt zubrachte. Wie mein Herz unter der Last seines Grames arbeitete, und meiner Frau erkünstelte Standhaftigkeit wie Wachs zusammen schmolz, werden Sie sich leicht vorstellen. Indeß die Mutter noch mancherlei im Hause besorgte, ging ich mit Julchen aufs Feld. Eine Zeitlang schlenderten wir schweigend neben einander; sie sah mit auffallender Rührung alle sie umgebenden Gegenstände an, um sie gleichsam ihrem Andenken auf ewig einzuprägen. Ihre Thränen floßen nun unverhalten, ich aber hütete mich, diesen heilsamen Strom überfließenden Gefühls zu hemmen. So erreichten wir grade die Anhöhe, von der wir Julchen als Kranzträgerinn am Erndtefest hatten ankommen sehen. Eben sank die Sonne hinter den gegenüberliegenden Wald. Gott! wenn, [41] ach! wenn wird mir die Sonne hier wieder untergehen! schluchzte sie, indem sie sich kindlich an mich schmiegte. Liebes Kind, – erwiederte ich, indem ich sie zärtlich an mein bekümmertes Herz drückte, – liebes Kind, die Trennung soll nur kurz seyn, du hast sie zwar selbst gewollt, arme Tochter, ich weiß es; ich hoffe du wirst dich bald aus der erstickenden Stadtluft hinwegsehnen. Denke dir indeß lebendig Gottes Auge über dir, und deines Vaters Herz bei dir. Morgen um diese Zeit bist du dorthin, schon weit, weit von uns weg. Dann gedenke, wenn die Sonne untergeht, deines betrübten Vaters, dessen Sonne nun vielleicht auf immer untergegangen seyn wird. – O wolle doch das Gott nicht, mein theurer ehrwürdiger Vater! Was kann ich thun, diese Liebe zu vergelten? rief sie tief erschüttert. – Ich fuhr wehmüthig fort: Hier auf diesem Hügel werd [42] ich stehen, und für meine entfernte Tochter beten; und du, meine fromme Tochter, bete für deinen einsam zurückgelaßnen Vater. Ich habe deinem Herzen, so viel in meinen Kräften stand, fromme Gesinnungen und Redlichkeit gegeben; diese laß dich vor der herzlosen Frivolität der Stadtfrauen bewahren. Überlaß dich nicht dem Müßiggange der Großstädterinnen, er gereicht ihnen zum Fall, und gebiert jene unleidliche Rastlosigkeit, der nirgend wohl ist. Als ein vorzüglich gutes Stärkungsmittel empfehl ich dir, alle deine Gedanken und Empfindungen, über die dir auffallenden Gegenstände, in ein Tagbuch aufzufassen. Solltest du gleich dadurch in Ängstlichkeit und Peinlichkeit verfallen, so ist dies deiner Moralität heilbringender, als gedankenleere Sorglosigkeit. Ein solches Tagebuch wird dir die Stelle eines Freundes, wenn ich sagen darf, eines personificirten [43] Gewissens vertreten. Und dann gewähre mir zuweilen den Trost der Mittheilung dieses Tagebuchs. Fürchte nicht den Richter in mir zu finden, mein Herz vertritt das deinige zu nachdrücklich, als daß du zu fürchten hättest.

Im Angesicht des allgegenwärtigen Vaters der Menschen, gelobte sie mir Treue und Gehorsam; ich segnete die liebe mit überströmenden Vaterherzen. Ihr Blick durchlief noch einmal die Gegend, die sich allmählich im Schatten verlor, und wir kehrten still und ernst zu unsrer Wohnung zurück.

Meine gute Frau erzwang eine Heiterkeit, die nicht aus ihrem Herzen kam, und sah nach den überstandenen Schmerzen der Trennung, in eine freudige Zukunft; ihre Augen strahlten wirklich von Vergnügen, wenn sie sich unsre Tochter, mit allen Colifichets [44] der Stadt umgeben, dachte; eine Vorstellung bei der mir die Thränen in die Augen traten, weil sie mir den Gesichtspunkt verrückte, aus welchem ich mit so viel Wohlgefallen auf mein Kind sahe.

Es war ausgemacht, daß meine Frau Julchen nach Berlin begleiten sollte, um sie der Erzieherinn selbst zu treuen Händen zu übergeben, und zugleich meinen Fritz auf ein dortiges Gymnasium zu bringen. Sich von zwei so lieben Kindern zugleich trennen zu müssen, thut dem Vaterherzen weh. Der Abschiedsmorgen war schwer; meine Kinder hingen weinend an mir, und als der Knecht vorfuhr, schrie Julchen laut auf. Ich küßte sie und meinen guten Jungen schweigend, und dann trug die Mutter sie halb ohnmächtig in den Wagen. »Bleibt fromm, und haltet euch recht, liebste Kinder! Leb wohl, Weib! mags dich nie gereuen, Julchen [45] von mir gerissen zu haben!« sagte ich, warf mich auf mein Pferd, das schon gesattelt da stand, sah noch den Wagen, worin alles saß was mir auf Erden lieb war, den Hügel herabrollen, und ließ dann mein Pferd den Weg einschlagen, den es nehmen wollte; denn begleiten mocht' ich sie nicht, das macht den Abschied zwiefach schwer.

Grünthal fand jetzt, als er nach der Uhr sah, daß er schon einen Theil der Nacht verplaudert hatte, wünschte dem geistlichen Ehepaar eine gute Nacht, und versprach die Fortsetzung seiner Erzählung auf den Freitag. – Sie werden, denk ich, den Zweck Ihrer Erzählung wohl bei mir wenigstens erreichen, lieber Amtmann, sagte Seelmann, denn ich habe mich sehr lebhaft in die Trennungsstunde von einem lieben Kinde versetzt, und möchte diese meinem Herzen schwerlich zumuthen. Nein, Lottchen bleibt [46] bei uns. Gut, gut, sagte die Frau Pastorinn, als hätte sie damit gemeint, kommt Zeit, kommt Rath. Erst aber untersuchen wir die Richtigkeit der Vorurtheile unsers Freundes. – Vorurtheile! Wollte Gott es wäre weiter nichts gewesen! Nun, Sie werden ja hören, erwiederte der Amtmann, empfahl sich und rollte mit seinem Kaleschchen dahin.


Grünthal ließ sich an dem dazu festgesetzten Abend nicht lange erwarten. Er kam noch vor Abend zu seinen Freunden, und versprach, daß wenn er heut mit seiner Erzählung nicht fertig würde, er künftig alles, was ihm noch auf den Herzen bliebe, aufschreiben wolle, um es seinen Freunden so mitzutheilen. Der Pastor besorgte das gesellige Pfeifchen, die Pastorinn nahm das [47] Strickzeug zur Hand, und Grünthal setzte sich, als er endlich sein Auditorium in Ruhe sah, in den beliebten Armstuhl, und begann seine Erzählung von neuem.

Meine Kinder sind nun abgereist; das wissen Sie. Mein Haus war mir seitdem wie ein Grab, alles öde und überall bei jedem Tritte hohltönender Nachhall. Kein Essen schmeckte mir; ich vermißte meinen ehemaligen glücklichen Hausstand aller Orten. Indeß meine Frau in Berlin war, brachte ich meine unbesetzten Stunden mehrentheils bei Eichen, unserm Prediger zu. Diesem jungen würdigen Manne durfte ich zu ganzen Stunden von meinen Kindern vorschwatzen, ohne zu besorgen daß er es lästig finden würde. Wenn ich trauerte, tröstete er mich damit, daß die Anstalt, worin Julchen gethan würde, einen entschiednen guten Ruf habe, daß Männer von Gewicht sie öffentlich empfohlen [48] hätten. Den meisten Nachdruck seiner Beruhigungsgründe legte er darauf, daß zu meiner Tochter Bildung ein so fester Grund gelegt sey, und die Eindrücke der ersten Kinderjahre nie ganz ausgelöscht werden könnten.

Nach vierzehn ewig langen Tagen kam endlich meine Frau wieder. Mir blutete von neuem das Herz, als ich sie ohne unsre Kinder sah; sie aber war fröhlich und guter Dinge, und voll von dem Glanze der Residenz, deren Anblick sie sich schon längst im Stillen gewünscht hatte. Sie hörte nicht auf von den prächtigen Equipagen, von dem Hofe, den sie nicht gesehen, von Soupees, denen sie nicht beigewohnt hatte, zu erzählen: ihr armes Köpfchen, das auf ihrem Dorfe dergleichen Herrlichkeiten auch nicht einmal geahnet hatte, war durch die Überraschung ganz davon eingenommen. Darüber [49] aber hatte das arme gute Weib, was uns näher anging, nur beiläufig bemerkt. So viel wußte sie wohl, daß über die Artigkeit der Frau Räthin Brennfeld, (das ist die Frau Erzieherinn) in der Welt nichts ging. Überhaupt, meinte sie, sey es nicht so ordinair, wie sie es sich vorgestellt hatte, da sie hörte, daß es nur eine Deutsche wäre. (Das sprach der Geist der Gnädigen im Dorfe aus ihr.) Denn wahr und gewiß, liebes Männchen, sagte sie lobpreisend, es sind Fräulein, ja sogar eine Comtesse dort in der Pension, die sich gegen unser Julchen gar nicht hochmüthig betrugen. – Desto schlimmer, desto schlimmer, sagte ich den Kopf schüttelnd. – Du glaubst mir nur nicht, lieber Mann, weil du dagegen eingenommen bist, fuhr meine Frau sehr freundlich fort; da lies Julchens Brief, den sie mir an dich mitgegeben hat. – Rasch erbrach [50] ich ihn; er enthielt Zusicherungen der heiligsten Kindesliebe. Zu der Madame aber, hieß es darin, könne sie freilich noch kein Herz fassen, das werde sich aber wohl geben.

Mir schien das alles nun freilich nicht so lieb und gut, wie meinem armen Weibe, dem nur die sauber lakirte und polirte Außenseite ins Auge stach. Zu allem Unglück hatte Mad Brennfeld es höflich gefunden, sich dem Vater, ihrer neuen Zöglingin schriftlich zu empfehlen, und zwar in einem Briefe, den meine Frau gradezu für entsetzlich schön und gelehrt erklärte, weil sie ihn durchaus nicht verstand. Das lag aber nicht an dem recht guten schlichten Verstande meiner Frau, sondern an dem ungereimtesten Galimathias, der nur je aus der Feder einer Pretiösen geflossen war. Sie wollte sich einst – so hieß es unter andern [51] darin, – noch mündlich mit mir über die Grundsätze besprechen, nach welchen Mamsell Grünthal erzogen werden sollte. Rousseaus Methode habe zwar einiges Gute; dann aber müßten freilich die Kinder noch nicht verbildet seyn. Mein Julchen, das ganz schlichte Kind, verbildet! Allein es sey wohl besser, wir gingen das ganze Revisionswerk durch, das sey wie eine Musterkarte zu betrachten, wo man für alle Naturen das Aussuchen habe u.s.w.

Nun flog mir so eine Ahnung von einer femme savante durch die Seele, daß mir ordentlich die Haut griselte. Gott im Himmel, wenn die grade Seele meiner Tochter so verschroben werden sollte! Wenn sie gegen die Früchte meiner sorgsamen Aufsicht, kauderwelsches Geschwätz eintauschte, sinnleere Phrasen auskramen, und mit hoch tönendem Schall um sich werfen lernte [52] Wenn sie mir dort ihren gesunden Verstand und guten Urtheilsvermögen verkrüppeln! Nein! nein! kein Jahr soll Julchen dort zubringen; vielleicht rette ich sie dann noch. Weil sie nun doch einmal da ist, soll sie von einem anerkannt würdigen Geistlichen, der das glaubt und thut, was er lehrt, Religionsunterricht bekommen, obschon ich dazu keinen würdigern, als unsern Eiche, wüßte; und darnach soll mich auf Erden nichts abhalten, sie mir wieder zu holen. Meine Frau ließ mich reden, wie das so eine Kriegslist der Weiber ist, wenn sie ihre Zeit abzusehen im Schilde führen. O die Weiber! die Weiber! – Sie hat mich gegen meine beßre Überzeugung von meinem Vorhaben abzulenken gewußt.

Nach acht Tagen kamen Briefe von meinen Kindern. Mein Sohn war, das sah ich, zweckmäßig in einer respektablen öffentlichen [53] Lehranstalt untergebracht, und wohnte bei einem seiner sehr vernünftigen Lehrer. Sein Brief gereichte zu meiner großen Beruhigung; denn das ich die Söhne nicht bis ins reife Alter unter meinem schützenden Fittig haben würde, hatte ich mir längst gesagt. Aber Julchens Brief – hier ist er, ich habe ihn zu mir gesteckt. – Der Amtmann faltete einen Brief auseinander, worauf noch Spuren von Thränen sichtbar waren. Er las:


»Ach meine geliebten Eltern! Ich werde die Trennung von Ihnen wohl nie ertragen lernen, denn noch sind meine Augen immer naß. Es wird mir, denk' ich, gar nicht möglich seyn, ohne Sie zu leben. So lange die liebe Mutter noch hier war, ging alles gut, nun sie aber fort ist, weiß ich gar nicht an wen ich mich halten soll. – Die Leute sind hier gar nicht so treuherzig[54] wie bei uns. – Als ich den ersten Morgen hier erwachte, war mir, als hätte mir das alles nur geträumt, und ich wußte nicht gleich wo ich war. Es war erst vier Uhr als ich erwachte, ganz so wie ich in Lindenau gewohnt war; hier im Hause war aber noch alles wie im ersten Schlafe, und ich hatte nicht das Herz, mich zu bewegen. Ganz leise schlich ich ans Fenster; das geht aber auf ein schmutziges Dach, und ich konnte nur die Sonne sehen, wie sie oben die Schornsteine auf dem engen Hofraume beschien; mehr konnte ich von dem schönen Morgen nicht genießen. Lieber Gott! wie werde ich mich je an diese traurige Einschränkung gewöhnen können! Alle meine Stubengefährtinnen schliefen noch sehr fest. Ich kniete hin und wollte beten; aber, mein liebster Vater, es wollten keine Worte kommen, mein Herz war zu voll, ich konnte[55] nichts als heftig weinen, und da wurde es kein rechtes Gebet. Dann schlug es fünf; da dacht' ich daran, wie ich noch vor kurzem meinem lieben Vater den Thee und das Wachslicht hinein trug, wie er mich dann segnete und ich ihm die Hand küßte, wenn er mich sein liebstes Kind hieß! Ach! jetzt denkt er gewiß an seine arme abwesende, – bald hätt' ich gesagt verstoßne – Tochter. In trübe Gedanken vertiefte ich mich bis sieben Uhr, und noch regte sich keine Seele. Endlich wagte ich es, und wollte mich ankleiden, denn ich schämte mich, vor diesen fremden Leuten unangekleidet zu erscheinen. Bei der Bewegung, die ich machte, stieß ich unglücklicherweise an einen Tisch; über das Geräusch erwachten sie, und waren sehr böse, daß ich sie gestört hatte. Aber, sagte ich, es ist ja schon über sieben! Auf ihrem Dorfe mag [56] das freilich schon horribel spät seyn, sagte die eine, und die Comtesse brummte etwas, wovon ich nichts verstand, als das Wort, gemeines Volk.

Jetzt kam ein recht freches Stubenmädchen herein, und sagte: Monsieur Magot ist da, er hat nicht lange Zeit. Ich erschrack, und dachte nicht anders, als daß schon so früh ein Besuch käme; aber aus den Antworten der Fräulein merkte ich wohl, daß es der Haarkräuseler seyn müßte. Drauf fuhren die Langschläferinnen in die Kleider, und dabei mußt ich wieder an Sie, meine liebe Mutter, denken; denn ich sah wie unglücklich die Fräulein waren, keine liebe Mütter zu haben; in der Eil, mit der sie die Kleider überwarfen, rissen sie Bänder und Schleifen ab, steckten die Röcke mit Stecknadeln zu, zogen Strümpfe mit großen Löcher an, die dann ein seidner [57] bebänderter Schuh zudecken mußte. Als sie kaum, kaum bedeckt waren, trat Monsieur Magot herein. Ich schämte mich, weil ich noch nicht ganz angekleidet war, und zog mich in den finstersten Winkel des Zimmers zu rück. Aber meine Gefährtinnen waren durch die Gewohnheit schon dreister als ich, denn sie saßen mit ganz bloßer Brust, und ließen sich das nicht anfechten. Magot sah nicht aus wie ein Mensch, der andre bedient; ich habe eine so schöne Mannsperson noch gar nicht gesehen. Er wußte den Fräulein viel Höfliches und dabei auch Spaßhaftes vorzusagen, und da eben die andren nicht hinsahen, warf er der, die er grade frisirte, einen Brief in den offnen Busen, so daß mir das Gesicht vor Schaam ordentlich brannte. Von meinem Vetter, sagte sie ganz gelassen, als sie bemerkte, daß ich es [58] gesehen hatte. Das sind doch gewiß alles recht sonderbare Gewohnheiten hier zu Lande. Mir gefallen unsre aber doch besser. – Nachher wurden wir zum Frühstück gerufen. Ma chere Madame stellte sich in den Kreis, den wir um sie schlossen, und die sous-gouvernante die ganz taub ist, und der Schwäche wegen sitzen mußte, las einige französische Gebete, die aber, da sie zahnlos ist, ganz unvernehmlich waren. Sie unterbrach sich oft, um durch Mienen anzuzeigen, welche Eleve sich grade halten sollte. Die Größern lachten, und gaben sich allerlei schalkhafte Winke. Ich aber mußte wieder weinen; denn mir fielen unsre lindenauischen Morgenandachten ein, wie fromm unser treuherziges Gesinde um Sie herumstand, und auf Ihre rührenden Worte so merkte, als wollten sie sie auswendig lernen. Dabei war mir immer so, als ob [59] ich dem lieben Gott das alles selbst sagte, und ihm so herzlich für Alles dankte, wie Ihnen! – Während des Gebets hatte Madame mich einigemal sehr scharf angesehen. Mir klopfte das Herz vor Bangigkeit, was es doch nur seyn würde; denn in Wahrheit, ich fürchte mich noch vor all diesen fremden Leuten. Kaum hatte MadamePoulet (so heißt die französische Lehrerinn) ainsi soit il, Amen! gesagt, (denn so enden alle diese Gebete), so fragte sie mich, ob ich so wie ich da wäre, in die Kirche zu gehen gedächte? Ich wurde roth, und sagte: Das wäre mein bestes Kleid. Sie meinte, an sich wär' es eben so übel nicht; es wäre nur die Frage, ob die Fräulein so mit mir gehen würden. Und dann die Haare! das ist doch gar zu dorfmäßig. Magot mag sie ihr verschneiden und auflocken, sagte Mad. Brennfeld nachläßig, [60] das wird ihren Vater jährlich etwa 20 Rthl. mehr kosten. Erwähnen sie's, wenn sie an ihn schreiben. Für heut mags einmal gut seyn. Nun nahmen wir das Frühstück ein, wobei Madame still für sich las. Ist das Thee oder Kaffee? fragte ich die Pensionairinn neben mir. Wie boshaft! sagte diese leise, Kaffee ists; ich versichre sie, recht guter Kaffee, sie werden ihn noch anders zu trinken bekommen. Ach meine gute nahrhafte Milchsuppe in Lindenau! dacht' ich wieder.

Um neun Uhr wurden wir in die Kirche geführt, und zwar durch die Untergouvernante in eine französische zur Übung der Sprache. O mein Gott, wie fremd blieb das alles meinen Herzen! Wenn ich in unsre kleine reinliche Dorfkirche trat, und die lieben Landleute stimmten so ein herzliches Lied an, überlief mich's recht, [61] wie ein heiliger Schauder. In diesem französischen Gesinge war gar nichts dem Ähnliches. Eine schleppende Melodie, die aus einer Strophe in die andre hinein, durch fatale Nasentöne gezogen wurde. Dann der Inhalt, der ein Psalm war, in welchem David über Dog den Edomiten klagt, und um Sieg bittet, da er von Saul verfolgt wird. Ich wußte mir davon nichts auf meinen Zustand anzuwenden, und sang nicht mit; denn ich weiß ja von keiner Verfolgung, – sie müßte denn noch etwa kommen. Ich las während dessen in meinem Gesangbuche, das Sie, lieber Vater, mir zu Weyhnachten geschenkt haben. Mad. Poulet ließ mir aber durch eine unsrer Kleinen zuflüstern, das sey indecent, und ich sah nun meiner Nachbarinn ins Buch; aber gesungen habe ich nicht. Als der Prediger auf die Kanzel trat, ja Väterchen, [62] das war nun wohl nicht recht, aber – da kam mir das Lachen an. Er schien mir nicht viel älter als Bruder Fritz, und sah grade so aus, als wenn der sich der lieben Mutter schwarze Schürze umhing, und uns vorpredigte. Ich habe gar nicht gewußt, daß man auch so junge Prediger hat. – Und wenn ich auch recht ordentlich französisch verstünde, hätte ich von diesem doch kein Wort verstanden, so unerhört geschwind sprach er, und gebehrdete sich dabei so, als ob er mit jemand zankte. Er hatte ein weißes Schnupftuch, das breitete er über die Kanzel hinaus, als ob er an seinem Schreibtische allein wäre: und wenn er sich verschnaufte, welches ihm bei seinen heftigen Gebehrden wohl Noth thun mochte, nahm er Tabak wie bei Freunden. Das mag aber wohl nur mir, die an den Ernst, – man nennt das ja [63] wohl Würde, lieber Vater? mit der ich immer predigen hörte, gewöhnt ist, – so sonderbar vorkommen; denn es schien sonst Niemanden aufzufallen, es waren sogar einige gerührt. Ich begreife gar nicht, wie einen das Französische rühren kann; es kommt mir nur immer wie Spaß vor. Nun mit einemmal wars Amen und aus. Dann wieder ein Dankpsalm für erhaltnen Sieg; und nun froh und freudig auf den Kirchhof geeilt, wo der Prediger, der ein Neveu der Gouvernante ist, schon unserer wartete: Eine der größern Fräulein nekte ihn mit seiner Predigt, aber er war der erste, der sich darüber lustig machte; überhaupt war er ganz so schäkernd und spaßhaft, wie der Friseur. Das ging den ganzen Weg so fort, denn er ging mit dem ganzen Zuge junger Mädchen zu Hause. Mit den Vornehmsten unter uns, that er [64] sehr schön, küßte ihnen auch mitunter die Hände; mir aber begegnete er wie einem kleinen Kinde, obgleich er doch wohl selbst kaum aus den Kinderjahren ist. Nachher bat ich Madame Brennfeld, mich in eine deutsche Kirche gehen zu lassen, damit ich alles, was vorkäme, verstehen könnte; sie schlug es mir aber ab, und sagte, ich würde es schon verstehen lernen, ich müßte mich in der Sprache vervollkommnen, und dazu würde das Hören französischer Predigten viel beitragen.

Den Mittag und Nachmittag fuhren die jungen Damen eine hier, die andre dorthin; sie waren so schön und so geputzt, als ich in meinem Leben noch niemand gesehen habe. Ich und die andern welche zu Hause geblieben waren, wurden von der alten Französinn auf die Promenade geführt. Das ist aber ein erbärmliches [65] Vergnügen, liebe Eltern; darum nennen sie's auch wohl eine Promenade, damit man sich bei dem Worte Spatziergang, nicht etwa betrüge, und Vergnügen erwarte. Wir wurden in einer staubigen Allee auf- und abgetrieben. Keine darf stillstehen, oder sich umsehen, denn das ist wider den Wohlstand. Da ist an kein Vergnügen zu denken, und es vergeht einem auch wohl, wenn man in seinem besten Staate, der recht geschont und vor Flecken bewahrt werden soll, eine halbe Meile auf dem Steinpflaster gegangen ist, ehe man aus der ungeheuren großen Stadt hinaus kömmt. Einige von uns drückten die neuen Schuhe so, daß sie fast ohnmächtig wurden. Dabei liefen die armen Mädchen immer, damit ich zurück bleiben sollte; denn sie schämten sich meiner, weil ich nicht nach der hiesigen Mode angezogen [66] war: sie jammerten mich recht, so trübselig sahen sie aus.

Der Anblick so vieler wohlgekleideten Menschen war mir wohl neu, aber ganz und gar nicht angenehm. Wie gern wäre ich dafür auf unsrer schönen Wiese im Birkengrunde gewesen, und hätte in meinem leinenen Röckchen, mit meinen Brüdern und Schulzens Louischen getanzt. So aber habe ich meinen armen Fritz noch nicht einmal gesehen. Ach Gott! wie das alles so fatal und gezwungen ist! Mit seinem Bruder an einem Orte zu wohnen, und ihn nicht einmal zu sehen! Nehmen Sie mich ja recht bald aus dem fatalen Orte weg, der mich so mißvergnügt macht! Liebe Eltern, Sie können mirs glauben, ich habe hier noch nicht ein einzigesmal recht von Herzen gelacht. Ich küße Ihnen[67] kindlich die Hände, geliebte Eltern, und bin zeitlebens

Ihre

gehorsame zärtliche Tochter

Juliane


Dieser Brief, fuhr Grünthal fort, indem er denselben mit sichtlicher Rührung wieder in seinen Umschlag legte, muß Sie überzeugen, was für eine liebe, zarte, unverdorbene Pflanze ich in dies Berlinische Treibhaus gegeben hatte. Freilich hatte ich das arme kleine Ding, nur in der beschränkten Sphäre unsers sehr einfachen häuslichen Lebens gesehen. In unserm Herzen schlummern, so lange wir einsam leben, tausend Triebe und Neigungen, und erwachen vielleicht nie, wenn das Geräusch der großen Welt oder des vornehmen Lebens sie nicht weckt. Der, welcher sich deswegen aus [68] irgend einem abgesonderten Orte ein Weib zur Gefährtinn seines Lebens holt, weil sie still erzogen ward, verfehlt gemeinhin seinen Zweck. Ein welterfahrner Mann hat mir gesagt, daß es darum in katholischen Ländern der guten Ehen sehr wenige gebe, weil da die meisten Frauenzimmer in Klöstern erzogen werden. Das still erzogne Mädchen mußte eingezogen seyn, weil es die Eltern dazu zwangen; man versetze sie aber nur auf einen größern Schauplatz, und ihre verborgnen Anlagen werden sich so schnell entwickeln, daß selbst der Kenner sie sehr bald nicht mehr aus der bunten Maskerade wird heraus finden können. Sie mißverstehen mich doch nicht, lieben Freunde? unterbrach sich Grünthal, – ich meine so: daß sichs nicht schickt, wenn der Orangebaum ins Kohlbeet, und die Kohlpflanze ins künstliche Treibhaus gebracht wird. Jedem ist seine Sphäre bestimmt: dem Orangebaum [69] künstliche Behandlung, und der Kohlpflanze Gottes freie Luft.

Und weiter preise ich die Eltern seelig, die, in mannichfaltigen Verhältnissen, den geheimsten Keim eines Hanges den Seelen ihrer Kinder entlocken können! Im Kreise stiller häuslicher und ländlicher Freuden, hätte meine Tochter ihre Bestimmung sicher nicht verfehlt, denn zu diesem ihrem wahrscheinlichsten Berufe hatte ich sie zu bilden gesucht. – Mögen großstädtische Eltern ihre Töchter für großstädtische Verhältnisse bilden! – Einigermaßen beruhigte mich ihr Brief; allein es blieben noch immer Gründe genug zu traurigen Besorgnissen, und ich fühlte nun die Lücken, die ich in ihrer Ausbildung gelassen hatte, sehr schmerzlich.

Meine Frau begriff nicht, daß das Mädchen nicht über alles, was sie sahe und hörte, entzückt war. »Sie muß sich das [70] Kritteln über ihre Vorgesetzten abgewöhnen, sagte sie, ich werde an sie schreiben.« Sie that es, und ich kam durch den Postschein dahinter, daß sie ihr außer den Vorwürfen, noch eine nicht ganz kleine Summe in Golde, überschickt hatte. »Was soll das, mein Kind? fragt' ich verdrießlich.« Lieber Mann, sagte die arme Ertappte, werde nur nicht böse! Julchen kann in Berlin doch nicht so einfach wie in Lindenau einhergehen. Sie wird das Geld an hundert Stellen brauchen. Es thut einem doch wehe, wenn man hört, daß sein Kind zurückgesetzt wird! Haben wirs doch, Gottlob! dazu. Du kannst mir die kleine Tändelei mit dem einzigen Mädchen, immer erlauben! Diese kleine Tändelei hatte indeß doch die nicht unbedeutende Folge, daß die Tochter im folgenden Brief, schon so fest wie ihre arme unerfahrne Mutter überzeugt war, [71] man habe ohne Modezuschnitt jeglicher Art keine recht eigentliche Existenz. Sie schämte sich der saubern einfachen Kleider, die wir ihr mitgegeben hatten, weil keine Stickerei drin war, und nannte eine Reihe ausländischer Namen von Zeugen her, worin sie wohl gekleidet seyn möchte. Mir thaten davon die Ohren wehe. Der Mutter aber funkelten die Augen, da sie den Brief las, bei dem ich in Wehmuth hätte zerfließen mögen. So wie auch das chere mère ihr im Herzen wohl that, daß sie wie ein Kind dabei kicherte. Unserm rechtschaffnen Pfarrer Eiche wagte ich nicht die schnellen Fortschritte des Mädchens mitzutheilen, weil ich mir innerlich vielleicht selbst noch schmeichelte, daß ich ihr wohl zu viel thun möchte, und auch gern meiner Frau schonen wollte. Also blieb mir nur der Trost, an Julchen diesen Brief zu schreiben.

[72] »Ja, mein liebstes Kind! noch vermisse ich dich und unsern Fritz allenthalben. Oft denk' ich, wenn in der Frühe meine Thür aufgeht, mein Julchen bringt den Thee und bietet mir freundlich einen guten Morgen: denn du gute Tochter warst freilich immer freundlich, das kann ich sagen. Da ich aber selbst in unsre Trennung gewilligt habe, obschon ich jetzt nicht begreife, wie das zugegangen ist, muß ich mich wohl beruhigen. Ich habe noch kein Tagebuch von dir erhalten, wohl aber Briefe, die mich mit recht traurigen Besorgnissen erfüllen. Zwar verarge ich es deiner Jugend und Unerfahrenheit nicht, daß du nach der Mode, und deiner gegenwärtigen Lage gemäß, gekleidet zu seyn wünschest, und deshalb bestätige ich das Geschenk deiner Mutter. Wende es immerhin zur Tändelei an, wenn du glaubst, daß es recht sey, [73] eine Summe zu vergeuden, von der eine arme Familie ein Jahr lang leben könnte. Verschleudre es zu Putz, in welchem du dich vielleicht schon künftigen Monat, ohne dich lächerlich zu machen, nicht mehr wirst zeigen können. – Hüte dich die Schranken deines Vermögens und deiner wahrscheinlichen Bestimmung zu überschreiten. Ich muß dir sagen, daß du nicht reich bist, und zur vornehmen Klasse gehört eines Amtmanns Tochter auch nicht, wovon du dich um so mehr überzeugen wirst, wenn du dich erinnerst, daß sonst allenthalben ein Amtmann nur der Pachter heißt. Das ist aber auch eine von den Inkonvenienzen der Kostschulen, daß die geringere Klasse dort mit der vornehmern über einen Leisten geschlagen wird, und alle mit einem und demselben Firniß überzogen werden. Das wird auch dein Fall seyn, mein liebes Kind, [74] wenn du zu unbesonnen der Mode fröhnst. Sie ist eine nimmersatte Hyäne; die besten Frauenzimmer sind oft, ehe sie es glaubten, von diesem Ungeheuer ergriffen worden. Meine liebe, lies doch das dritte Kapitel der ersten Epistel Petri; beherzige besonders den 3. u. 4. Vers: Welcher Geschmuck soll nicht auswendig seyn mit Haarflechten und Goldumhängen oder Kleiderumlegen; sondern der verborgne Mensch des Herzens, unverrückt mit stillen sanften Geiste, das ist köstlich vor Gott. Mein Töchterchen! du wirst hoffentlich diese Ermahnung, darum, daß ein Apostel sie giebt, niemals zu altvätrisch finden; sie paßt für jegliches Zeitalter, für das jetzige aber ganz besonders.

Auch ist es mir nicht lieb, daß du die gute ländliche Sitte des Frühaufstehens, [75] mit dem schädlichen Langschlafen vertauschen mußt. Du sollst ein Kämmerchen für dich allein haben, und kostete es auch mehr als vier Friseurs. Denke nur, mein Julchen, wie viel du weniger lebst, wenn von jedem Tage drei Stunden abgehen! Fühlst du nicht jetzt schon, daß du dich um die Freuden der Erholungsstunden bringst? Denn bei so verkürzten Tagen wirst du schwerlich noch Stunden zu deiner Erholung aussetzen können. Die lange üble Gewohnheit hat die Stadtdamen freilich dahin gebracht, daß sie alle ihre Tage zu Festtagen machen können, ohne die geringste Unruhe im Herzen dabei zu empfinden. Du bist, Gottlob! so nicht erzogen, meine Tochter. Du hast früh gelernt, dich vor dieser trostlosen Vergessenheit deiner Bestimmung zu hüten. Es ist dir aus übelverstandner Schamhaftigkeit nicht verschwiegen [76] worden, daß auch du zu den Pflichten der Gattin und Mutter bestimmt bist. Sey dessen fleißig eingedenk, und versäume keine Gelegenheit, das zu lernen, was zu diesem Endzwecke führt. Aber die Vielwisserei (du wirst mich verstehen) fliehe wie die Unwissenheit. Die kluge Frau von Lambert sagt in dem Rath, den sie ihrer Tochter giebt: mais songés que les filles doivent avoir sur les sciences une pudeur presque aussi tendre, que sur les vices.

In allem, was die Stadt Plaisirs nennt, empfehle ich dir eine besondre Nüchternheit. Du würdest dir durch den Genuß geräuschvoller Vergnügen, den Geschmack an den einfachen Freuden der schönen Natur verderben, zu welchen man doch zu seiner Zeit wieder zurückkehren muß. Deinem Geschlecht insonderheit stehen Jahre bevor, wo die Männer von euren Personen [77] sagen: sie gefallen uns nicht; und in welchen öffentliche Lustbarkeiten, euren schmucklosen Gesichtern nicht mehr anstehen. Dann findet ihr den sichersten Trost in den Armen der treuen Freundinn Natur, die eure Eitelkeit durch keinen empfindlichen Contrast beleidigt. Diese Bemerkung wird dir allerdings im funfzehnten Jahre etwas zu früh angebracht scheinen. Jetzt ahnest du auch jene Zukunft noch nicht, aber, Kind! du wirst einst dieser Worte gedenken. Die goldne Jugend verfliegt pfeilschnell, und wehe dem, der nicht zeitig genug an ihre Hinfälligkeit dachte.

Ich bin ernster geworden als ich es wollte. Beruhige mich, und schicke mir bald dein versprochenes Tagebuch zu, damit ich mich mit meinen Augen überzeuge, daß du meiner Liebe werth bist.«

Mein gutes braves Weib, (denn das [78] war sie mir doch bei allen ihren kleinen Fehlern und Vorurtheilen) meinte: ich würde unsere Tochter durch dergleichen Ermahnungen nur immer schüchterner machen. Bei einem jungen Mädchen sey die Eitelkeit natürlich, und gäbe sich von selbst, sobald die Veranlassungen dazu nicht mehr vorhanden wären. – Nach einiger Zeit erhielt ich Julchens Tagebuch. Hier ist es unverändert.


Den 12. August.

Mein lieber Vater wünscht, ich soll frühe aufstehen, wie in Lindenau; ja, wenn er nur wüßte, er würde es selbst sehen, daß es hier gar nicht angeht! Wir gehen vor zwölf Uhr nicht zu Bette. Gestern Abend zum Beispiel haben wir mit dem jungen Prediger, dem Neveu der Gouvernante, allerlei witzige Pfänderspiele gespielt. Erst war ich [79] blöde, und wollte mich von keinem Manne küßen lassen. Überdem weiß ich ja wohl, was mein Vater von dergleichen hält. Die andern aber sagten, das wäre Ziererei, ich wäre eine kleine Landpute. Das ärgerte mich; ich zwang mich ein wenig, und da ging es recht gut. Ich war so lustig wie die andern, und wurde ordentlich übermüthig, wie sie sagten. Das brachte mir nun gleich den Vortheil, daß Fräulein Mariane von Lindenfels mich du nannte, und recht familiär mit mir that; nun werdens die andern auch wohl thun, denn Mariane ist die älteste und schon Braut.

Beim Schlafengehen war mir, von allem Lachen und Schäkern der Kopf so wüst und hohl, daß ich schlechterdings nichts Ernsthaftes denken, viel weniger aus dem Herzen beten konnte; ich gestehe, [80] daß ich daher nur flüchtig ein Abendgebet las, wobei mich aber die lustigen Mädchen unaufhörlich neckten und dazwischen trallerten. Nachher konnte ich nicht einschlafen; mich dünkte ich hätte Böses gethan, und mir war wie beklommen ums Herz. Noch ängstlicher wurde mir, als mir plötzlich einfiel, mein verehrungswürdiger Vater möchte wohl um eben die Zeit, da ich um Pfänder spielte, für mich gebetet haben; denn das thut der liebe gute Vater gewiß immer. Ich seufzte so, daß es Fräulein Mariane hörte, und mich fragte, was mir wäre? – ich schäme mich zu sagen, was sie vermuthete, warum ich geseufzt habe; sie ist so leichtfertig; darauf gestand ichs ihr. Ach Närrchen, sagte sie; wenn dir sonst nichts ist! Desto besser, wenn der Vater für dich betet; du wirst hier bei uns so das[81] Beten bald satt kriegen; solche Pedantereien schicken sich nur für das langweilige Dorfleben. – Mich schauderte recht bei solchen Reden. Lieber Vater, die Stadtleute sehen wohl nur von Außen so hübsch aus?


Heute am 13. erwachte ich so spät, und war so dämisch, daß ich wieder keinen Augenblick zu irgend einem ernsthaften Gedanken fand. Die Maitres kamen, und ich habe die erste Tanzstunde bekommen; aber o weh! ich dachte immer ich sey gut genug gewachsen, Monsieur Belair schüttelte mich aber so zusammen und riß mir die Schultern so zurück, daß ich vor Schreck und Schmerz laut aufschrie. Die Füße wurden mir dabei in einem sogenannten Fußbrett so auswärts gedreht, daß ich sicher glaubte, sie wären[82] mir verrenkt. Ach und die Reverenze! Denken Sie nur, die Damen machen keine Kniesenkung mehr, sondern grade so einen Bückling, als wenn unsers Meyers Christel in die Stube trat, den ich immer nachzumachen pflegte. Das erstemal als ich so einen vor dem Tanzmeister übte, machte ich in Gedanken einen Kratzfuß dazu; da entstand ein gräulich Gelächter. Ach, mir vergeht fast die Geduld, ehe ich alle die hiesigen Manieren inne haben werde.

Am Abend tanzten wir erst, und dann laß ich Madame Brennfeld etwas aus einem Buche vor, dasLessings Fragmente heißt. Ich verstand zwar nicht viel davon; Madame aber ist entsetzlich gelehrt, und wie mir Mariane sagt, eine Philosophin. Zuweilen soll ihr Vetter, ein junger Kandidat, herkommen, [83] dann disputiren sie beide über allerlei Materien aus der Religion. Das sey aber entsetzlich ennüyant, sagt Mariane. Der Kandidat soll übrigens ein hübscher Junge seyn, wäre er nur nicht so ein Pedant, meint das Fräulein.


Den 14.

Ich habe meine Trägheit diesmal glücklich überwunden, und bin um fünf Uhr aufgestanden. Ich wußte aber nichts mit mir anzufangen, denn hier, wo nur alles mit Zwang geschieht, habe ich an nichts eine rechte Freude; darum macht mir auch mein bischen Klavierspielen kein Vergnügen mehr. Da soll ich immer Sonaten und Bachsche Sachen spielen, von denen ich nichts verstehe. Zuweilen, wenn es niemand hört, spiele ich meine alten Stückchen, der lieben [84] Mutter Lieblingslieder, und alles was mein Vater gern zu hören pflegte; dann weine ich dabei, bis mir das Herz leicht wird. Die Arbeit welche wir machen, kömmt mir auch gar nicht wie Arbeit vor. Es werden Börsen gestrickt, und allerlei Sächelchen gestickt, die man gar nicht braucht. Ach! wenn die Stunden aus sind, wird uns die Zeit immer entsetzlich lang. Madame ist dann immer in ihrem Kabinet und schreibt oder liest; wir sehen denn alle aus den Fenstern ob nichts Neues auf der Straße ist, oder schicken das Hausmädchen nach einem Kuchenladen, und schmausen dann wie auf einer Kindtaufe. Das schmeckt uns denn auch, weil wir uns bei Tische von den behenden Gerichtchen selten recht satt essen können, und das Butterbrod Abends gar dünne und mager ist, [85] immer vortreflich. Madame Brennfeld sagt zwar, so recht mit Apetit essen sey so animalisch, und Bier oder Wein trinken, errege Sinnlichkeit. Kann seyn; aber wenn wir nur einmal über so eine Lindenauische Schüssel kämen, sie sollte unserm schlaffen Magen recht gut thun. – Die Tage kommen mir hier länger vor, als auf dem Lande; da waren sie mir oft zu kurz, und ich erwartete den folgenden Tag mit Ungeduld, um die angefangne Arbeit vollenden zu können.


Den 15.

Ach Gott! wie bin ich innerlich beschämt! Ich suchte einige Blumen und Bänder für meine Haare, und da fiel mir das neue Testament in die Hände, das die gute Mama hineinlegte, und zwar noch ganz so eingewickelt. Ich ward, [86] so allein ich war, brennend roth im Gesicht, daß ich die theure Sorgfalt der guten Mutter so schlecht belohnt hatte! Denn ich darf nicht läugnen, daß ich an dies liebe Buch hier noch gar nicht gedacht habe. Nun, ich will alles nachholen, wenns die andern nur nicht sehen, die necken einen dann, besonders Mariane, die immer französische Bücher in ihr Bette versteckt. Das mögen freilich wohl die rechten seyn, wenn sie so geheim damit thun muß. Sie sagt, ihr Bruder, der ein Kornet ist, gäbe sie ihr.


Wie gefällt Ihnen das, Pasterchen? unterbrach sich der Amtmann, und wischte sich den Angstschweiß ab. Es ist lange her, aber Gott weiß, das Herz im Leibe wendet sich mir bei solchen Schlechtigkeiten um. – Nun weiter.


[87] Nachmittags sind wir in Charlottenburger Garten gewesen. Hätten doch meine lieben Eltern das gesehen; so schön, so prächtig! Ach, was war da Amtmanns Julchen für ein armes kleines Licht. Es thut doch dem Herzen weh, überall und überall die Geringste zu sein! Davon habe ich in Lindenau nichts erfahren. Freilich war ich da immer unter meines Gleichen oder Geringern. Mein Bruder ist mir auch mit einem seiner Lehrer begegnet. Ach! wie der arme Fritz so steif gegen die andern aussah. Meine Gefährtinnen lachten über ihn, da habe ich recht weinen müssen. Wenn es ihm der liebe Vater doch schriebe, daß er sich ein wenig mehr nach seinen Mitschülern richtete, den Zopf nicht so dicht an dem Kopfe, und die Locken nicht so geklebt trüge. Freilich [88] ists mir manchmal ordentlich, als ob er so ehrlicher aussähe als die andern.

Zuletzt als wir uns ganz müde gesehen und gelaufen hatten, fuhren wir auf Bauernwagen zurück. Mir hüpfte recht das Herz vor Freude, als ich den Korbwagen bestieg. Wenn es so nach Lindenau ginge, dacht' ich, und doch wars auch als wäre mir bei der Vorstellung ein wenig bange. Vom Thor an gingen wir durch die Lindenallee zu Hause. Da stand ein Mann mit einem Raritätenkasten, der Kaiser und Könige auf seine eigne Art reden ließ. Mit einemmal aber hieß es: »da werden sie sehen den Herrn Christum am Kreuz!« und alles lachte und belustigte sich daran. Mein Gott, ich habe das schon so oft bemerkt, daß sich die Leute hier nicht so recht viel aus dem Herrn Christus machen. Das [89] sagen auch meine Mitschülerinnen, sogar unser Hausgesinde; wenn sie unter einander sprechen, und bei diesen Spöttersinn erlaubt man auch noch, daß diese heilige Geschichte so öffentlich prostituirt wird? Mir traten Thränen in die Augen, und ich ließ meinen Unwillen darüber merken; da wurde ich ausgelacht, und selbst Madame Brennfeld sagte, es wäre recht gut für mich, ich sollte nur bei meinen ländlichen Ideen bleiben. Wenn meine Vernunft mehr Fortschritte gemacht haben würde, wäre mir das Weiterforschen unverwehrt. Mir wird ganz bange, lieber Vater! Bei solchen Reden scheine ich mir so einsam, als wäre ich unter einer fremden Nation, oder unter Juden, die meines Glaubens nur spotteten.


[90] Den 16ten.

Ach! ich bin recht entsetzlich erschrokken! Ich und alle Pensionnairen sind zu einem Ball, bei dem Vater der Fräulein Lindenfels, eingeladen; er will ihren Geburtstag feiern. Ein Ball! in meinem Leben habe ich nicht geglaubt, auf einen Ball zu kammen. Es muß etwas erstaunlich Schönes seyn, denn sie sind Alle ganz außer sich. Ich würde mich auch noch mehr darüber freuen, wenn ich gewiß wüßte, daß mein lieber Vater es gern sähe. Wenn er doch recht ausdrücklich beföhle, wie ich mich in gewissen Fällen verhalten soll! Ich vermag es nicht, zu läugnen, daß ich den morgenden Tag kaum erwarten kann; und die Ungewißheit, ob ich recht thue mich zu freuen, ist mir ordentlich zur Last, so daß ich die Andern beneide, wie die sich [91] so ungestört ihrem Entzücken überlassen. Mit den Lehrstunden sieht es heute schlimm aus; keine hat Gedanken dazu. Wir wollen früh zu Bette gehen, damit es bald wieder Tag wird.


Den 19ten.

Drei Tage habe ich Dich nicht angesehen, Du mein ehrliches Tagebuch! Jetzt will ich alles nachholen, und so thun, als ob ich meinen lieben Eltern selbst erzählte, wie mir auf dem Balle zu Muthe gewesen ist. Von meinen Gedanken und Empfindungen werde ich aber wenig Rechenschaft ablegen können, denn in meinem Kopfe ging alles bunt durch einander. So viel erinnre ich mich wohl, daß bei dem Schönen auch viel Nichtschönes ist, was man von fern nicht entdeckt. Erst hatte ich mich gefreut, wie ich geputzt seyn, und mir das so hübsch [92] lassen werde; aber als ich neben den andern stand, kam ich mir ganz schlecht vor: besonders als Madame sagte, mir würde immer ein je ne scais quoi fehlen, das ich doch für mein Leben gern hätte, wenn ich nur erst recht wüßte, was es wäre. Wenn ich also das je ne scais quoi nicht ertappe, hilft mir alle die Marter im Fußbrett, alle das Schmerzliche Auseinanderrecken in der Tanzstunde nichts. Ich fühlte mich so gedemüthigt und niedergeschlagen, daß ich nun schon lieber zu Hause geblieben wäre; um so mehr, da die adelichen Mitschülerinnen heute ganz fremd gegen mich thaten, und sich unter einander schon immer im Voraus ma chère fröle, und michMamsell Grünthal nannten.

Meine lieben Eltern haben mich gelehrt, ich solle mich allenthalben mit anständiger [93] Freimüthigkeit betragen, ein tugendhaftes Gemüth scheue nur Gott. Das sagte ich mir oft vor, mich dreist zu machen; aber als ich in die große vornehme Gesellschaft trat, war Muth und alles hin: ich wünschte mich weit weg. Die Kniee wollten unter mir einsinken; und darum war es mir auch schon ganz recht, daß Madame Brennfeld dem alten Baron Lindenfels nur ihre adlichen Kostgängerinnen vorstellte, und ihm die Titel ihrer Eltern hernannte; mich aber gar nicht bemerken ließ. »Und wer ist denn dies schöne Kind?« fragte der Baron, indem er, mit dickgeschwollenen Beinen, durch ein großes Augenglas mich bekuckend, an mich heranrutschte. Ich schlug die Augen nieder, als Madame mit einem recht widrigen Tone sagte: »Es ist eines gewissen Amtmanns [94] Tochter aus Lindenau; ihr Vater ist sehr reich, und hat mich inständigst gebeten, sie unter meine Zöglinge aufzunehmen.« »Also ein Töchterchen vom Lande?« sagte der alte Herr, recht häßlich grinsend, wobei er mich immer noch durch seine Gläser anschielte; dabei sah er recht gräulich aus, und wollte sogar mich in die Backen kneipen. Ich trat zurück, und dachte: so was leide ich von einem Fürsten nicht! »Kleiner schüchterner Narr,« fletschte darauf der Alte, und fragte: »Sie ist wohl noch nicht lange hier?« – Ach, ich war so verdrüßlich, daß Madame mir leise sagte: »Mon dieu, quel visage! Prenez garde à ce que vous faites, Julie

Des Fräuleins Tante, eine bejahrte aber sehr munter gekleidete Dame, machte die Wirthin. Es ist vielleicht nicht [95] ganz recht, daß ich Anmerkungen zu machen mir herausnehme; allein ich kann mich nicht enthalten, einer Sache zu erwähnen, wogegen mein ganzes Herz sich empört, wie Madame immer zu sagen pflegt. Einst sprach mein lieber Vater über weibliche Kleinheiten, und rügte die Bitterkeit, mit der die Frauenzimmer oft Abwesende behandeln. Da meinte meine sanfte, immer gütige Mutter: so häßliche Gemüther gebe es schwerlich, wie der Verfasser, aus dem der Vater uns vorlas, sie schilderte. Hier ist, was ich selbst mit angehört habe. Die Tante sagte, als alle im Kreise um sie saßten, und sie den Thee machte, auf eine lustigseynsollende Art: (aber sie sah recht garstig dazu aus) wir werden heut etwas von der komischen Art haben; eine Repräsentation in aller Form. Meines [96] Bruders Agent, der Rath M.., wird heut seine junge Gemahlin (auf dieses Wort legte sie einen besondern Nachdruck) vorstellen. – »So?« sagten verschiedene alte Damen zugleich; »und wer ist sie, wenn man fragen darf?« – Eines ehrbaren Handwerkers Tochter; ich glaube Steinmetz oder Kupferstecher war der Vater. Er hat bei dem Bau im neuen Schlosse viel verdient. Sie nannte ihn, ich habe aber den Namen nicht behalten. Darauf sagte eine angenehme Dame von mittlern Jahren: »O, das ist ja der berühmte Bildhauer! Da freue ich mich, dessen Tochter zu sehen;« aber die vornehme Erzählerin bemerkte es kaum, und fragte: ist Bildhauer und Steinmetz nicht einerlei Handwerk? – dann fuhr sie fort: »sie soll eben nicht häßlich aussehen; hat [97] sich auch als Frau Räthin schön herausstaffirt. Nun, der Rath mußte wohl aufs Geld sehen; er war ein armer Schlucker, und wenn mein Bruder ihm nicht fortgeholfen hätte« – – »Ich erinnere mich – fiel hier eine ganz alte verzerrte Oberstin ein – wenn ich nicht irre, ist bei dem Mädchen 'mal so etwas passirt; so etwas Kleines, von einem Offizier. – – Ja, wenn die Bürgermädchen ein bischen gut aussehen, so wird so viel Aufsehens gemacht, indeß manches Fräulein aus dem besten Hause sizzen bleibt.« – Mariane winkte mir boshaft zu, und blickte auf ihre Tante; ich fand das alles nicht hübsch, und sah wo anders hin. – »Neveu, fuhr die Tante fort, indem sie einem jungen Offizier eine Tasse reichte, ich dächte, Sie gäben uns die Farce, den jungen Ehemann [98] ein wenig eifersüchtig zu machen.« Ehe der Neveu antworten konnte, flog die Thür auf, und der Rath trat mit einem wirklich schönen jungen Frauenzimmer herein. So eben sprachen wir von Ihnen, meine charmante Räthin, schrie das alte Fräulein, und ihre Augen funkelten so, als wenn unser schwarzer Mausekater im Dunkeln sitzt; dabei eilte sie ihr mit offnen Armen entgegen. (Wie konnten diese guten Leute es sich wohl träumen lassen, daß sie einen Augenblick vorher so jämmerlich waren zerrissen worden?) »Ich achte es für ein Glück, daß es mir vergönnt ist, der Gesellschaft ein so würdiges Paar vorzustellen.« Die alte Dame, die von dem Kleinen gesagt hatte, mußte sich doch noch schämen können; denn sie sah aus wie das böse Gewissen, [99] und als die Reihe an sie kam, die junge Frau zu küssen, blickte sie seitwärts. – Gewiß, die junge Frau betrug sich weder lächerlich, noch auf irgend eine Art unschicklich; auch war sie bei weitem die Schönste und am besten Gebildetste in der ganzen Gesellschaft.

Bald nachher fingen sie an zu tanzen. Menuet's tanzten nur einige bejahrte Herren und Damen, und die jungen Tänzer standen schon Paarweise bereit, ihre muntern Tänze anzufangen. Diese begannen denn auch so rasch, daß sie bald, wie die Bindermädchen hinter den Mähern, glühten. Einige Stundenlang tanzten die Adlichen erst nur unter sich; mir fing an die Zeit lang zu werden, obschon ich im Grunde froh war, daß man mich vergaß. Mir fiel ein, was mein Vater einst zur Mutter sagte, [100] als die Forstmeisterin sich so impertinent in unserm eigenen Hause aufführte: »Bleib' bei Deinen Genossen, so wirst Du nicht verstoßen.« Das hat, glaub' ich, Luther einmal gesagt.

Als ich mich des Tanzens schon begeben hatte, die Fräulein aber nicht mehr recht fort konnten, kam Marianens Bruder, und zog mich aus meinem Winkel hervor. Die junge Räthin hatte es abgeschlagen, weil sie heute gar nicht tanzen würde. Jetzt verging mir vor Blödigkeit beinahe Hören und Sehen. Ich habe noch nie anders, als einige Menuets auf meiner Cousine Hochzeit, getanzt, und dazu munterte mich mein lieber Vater selbst auf. Die starr auf mich gerichteten Blicke meines Mittänzers brachten mich vollends aus der Fassung, und [101] ich wußte nicht wohin? mit meinen Augen. Fräulein Mariane lachte mich entsetzlich aus; sieh' meinem Bruder nur immer ins Auge, sagte sie, er ist ein guter lieber Junge: nicht wahr, Louis? Der Kornet küßte ihr und mir die Hand mit recht ungezwungener Art, und sagte mir auch viel Schönes, wie gut ich es gemacht hätte. Da ward ich etwas dreister; und nachdem mir Mariane warmen Punsch zu trinken gegeben hatte, verlor sich meine Schüchternheit ganz, so daß ich es sogar wagte, mich in eine Quadrille einzulassen. Hier glaube ich, etwas von der Ursache bemerkt zu haben, weshalb mein lieber Vater oft sagte, er möchte mich lieber auf dem Krankenbette, als in dem Taumel eines wilden Tanzes sehen. Es ist ganz unmöglich, bei der betäubenden Bewegung, durch welche [102] man schwindlich wird, genau auf sich Acht zu haben, und sich der Dreistigkeit mancher zudringlichen Mannspersonen zu entziehen. Ich schämte mich recht über die vertrauten Stellungen, die man gegen seinen Mittänzer annehmen muß; unglücklicher Weise fiel mir gerade in dem Augenblicke ein, als ich vor den jungen Offizier hintrat, recht keck balanzirte, und mich ein wenig zu zieren bemühte: »wie, wenn jetzt Dein guter Vater, und der sittsamste aller Männer, unser Pfarrer Eiche, hereinträten, wie würd ich ihnen wohl in der Stellung erscheinen?« Ich sah in dem Augenblicke, als ich so dachte, gewiß recht einfältig und weinerlich aus, als ich darauf meinem Moitie in die Arme eilte, und dahinschwebte, indem er mich im betäubenden Kreisel wie davon trug. Ich[103] machte mir allerlei ängstliche Vorstellungen. Der Zustand kann nicht beschrieben werden; es war mir wohl und wehe, und ich fand mich so erhitzt, daß ich wohl nicht bei vollem deutlichen Bewußtseyn war, als ich mich, ohne es selbst gleich zu merken, an meinen Tänzer schmiegte. Dieser Rausch, denn so war es, würde vielleicht länger angehalten haben, wäre der Kornet nicht so dreist geworden, unter dem Vorwande. an meine Blumen zu riechen, einen Kuß auf meine Brust zu drücken. Ich war höchst beleidigt, und sprach in einem recht aufgebrachten Tone, was alles, weiß ich nicht mehr. Da kam Madame Brennfeld dazu, und fragte was es gäbe? Der Kornet erzählte den Vorgang auf eine lustige Weise, und Madame, statt es ihm zu verweisen, sagte zu mir: »Mon dieu,[104] Julie, que cela sent le village! N'apprendrez vous donc jamais, ce que c'est qu'un badinage?« Wär' ich doch nur zu Hause bei der tauben Französin geblieben! sie ist wenigstens gutmüthig, und beschämt einen nicht vor den Leuten. Der ganze Ball war so einen Verdruß nicht werth. Das soll mir nicht wieder begegnen.

Das hieß doch aber im Ernst, seine Zeit verschleudert! einen Tag um die Anstalten zum Ball, Haarkräuseln und hundert Kleinigkeiten zu machen; dann der Ball selbst, und den dritten Tag das Dämischseyn. Aber so ermüdet ich war, schwebte mir doch, ich möchte sagen um so lebhafter, die Musik und das ganze bunte Gewirr vor, und, wie mich dünkt, in weit schönerer Gestalt, als es wirklich gewesen war. Selbst wenn ich mich [105] zwang, etwas vorzunehmen, kamen diese Vorstellungen immer, so zu sagen, von selbst wieder, und so warm, daß mir das Herz recht davon wallte. Einigemal fiel mir s ein, ob unsere kleinen Familienfeste, die wir manchmal mit unsern Nachbarn feierten, mir auch wohl solche Bewegungen zurückgelassen hätten. An meine guten Eltern dacht' ich zwar wohl mit Liebe, aber – – ich habe es ja dem guten Vater versprochen, immer alles aufrichtig zu sagen; und da darf ich es nicht läugnen, daß wenn ich mir das Landleben gegen diese Stadtvergnügen dachte, sie mir einförmig, ja ich möchte beinahe sagen recht armselig, vorkamen. Das jammerte mich dann wieder, und ich bat es den guten Landleuten ab. Ich hoffe, ein Brief von meinen Eltern wird mich beruhigen, und diese gar zu lebhaften Eindrücke wieder verwischen.


[106] Den 21sten.

Das geht! Aus einer Lust in die andre! An dieser Freude wird mein Vater gewiß nichts auszusetzen haben; er, der selbst Musik über alles liebt! Ich bin in einem Konzert gewesen. Madame Brennfeld erwartete eine gelehrte Gesellschaft, die sie gern ungestört genießen wollte; darum erlaubte sie uns allen, einigen hier, andern dort hinzugehen. Ich fuhr, zu meinem unaussprechlichen Vergnügen, mit Fräulein Mariane und ihrem Vater, dem alten Baron, ins Konzert. Sie gaben Erwin und Elmire, da hätte mein Vater die Arie: »Ihr verblühtet, süße Rosen, etc.« von der Mama einmal beruhigt wurde, als sie ein starkes Fieber hatte, hören sollen! Wenn es wahr ist, daß die Seligen musiziren, so muß es gewiß in solchen [107] Tönen seyn; und ich möchte, für mein Leben gern, einen Mann sehen, der sich solche himmlische Melodien ausdenken kann. Ich war ganz außer mir, und wußte gar nicht mehr, wo ich, noch mit wem ich war. Alles andere kam mir so recht schaal vor. Mich dünkt, Musik macht ordentlich fromm und andächtig. Mein Herz war so weich wie Wachs, und es gingen schnell allerlei rührende Vorstellungen durch meine Seele, die zwar keinen recht bestimmten Gegenstand hatten, aber ich war doch gewiß zu allem Guten aufgelegt.

Allein auch dieses Vergnügen ging nicht ohne alle Unannehmlichkeit ab. Unterweges, als wir hinfuhren, war das Fräulein sehr freundlich gegen mich; auch der alte Herr fragte mich so gutmüthig nach allerlei Dingen, von Lindenau, [108] von meinen Eltern, etc., und schien mit meinen Kenntnissen recht zufrieden zu seyn. Sobald wir in den Konzertsaal getreten waren, sah sich Vater und Tochter aber gar nicht mehr nach mir um, und ich war in Todesängsten, daß ich sie in dem Gedränge verlieren würde; denn mich an den alten Herrn zu halten, hatte ich nicht das Herz. Endlich erreichte ich sie doch, als sie sich eben in der vordersten Reihe gesetzt hatten, und setzte mich neben Marianen. Mir war es so recht Bedürfniß, mit jemanden mein Vergnügen zu theilen; aber wenn ich sie anredete, sah sie gerade immer wo anders hin, oder rief einen von den vor uns stehenden Herren heran. Ein ältlicher Mann, der wohl sehr vornehm seyn mußte, denn er trug ein Ordensband, fragte sie, wer das schöne Mädchen neben [109] ihr sei? ob es zu ihrer Gesellschaft gehöre? Ich weiß nicht wer sie ist, antwortete sie ohne Anstoß. Da dacht' ich, er könne mich auch wohl nicht gemeint haben, und ich schämte mich, daß ich das Wort schön auf mich gezogen hatte. Allein nach dem Konzert, da sie der alte Herr, den sie Excellenz nannte, herausführte, ließ sie mich auf gut Glück zurück, ohne sich nur ein einzigesmal nach mir umzusehen. Ich drängte mich in der Angst mit Gewalt durch, kam aber doch zu spät, denn eben rollte der Wagen fort. Da stand ich nun weinend, in Angst und Verwirrung, als plötzlich, wie ein Engel, mir Marianens Bruder erschien, und mich dadurch, daß er mich zu Hause führte, aus der größten Verlegenheit riß, in der ich in meinem Leben gewesen bin. Mariane war schon lange vor mir [110] angekommen, und hatte es der Madame geklagt, daß ich mich gar nicht zu ihr gehalten hätte; sie hätte sich Mühe genug um mich gegeben, aber mit solchen kleinen Landputen sei nichts anzufangen. Madame schalt mich, in Ausdrücken, die ich nie von ihr zu hören vermuthet hätte, ja ich möchte sagen, sie habe mich geschimpft, denn dummes Thier kann doch wohl gewiß für geschimpft gelten. Ich sei der Ehre nicht werth, sagte sie, die mir ein Fräulein von solchem Stande erwiesen habe. Zuletzt kam es noch darauf hinaus, daß ich förmlich abbitten mußte! O wie wehe that mir diese schreiende Ungerechtigkeit; eine solche Behandlung habe ich noch nie erfahren. Ich litt alles ganz still, hielt es aber, als wir allein waren, Marianen vor. Sie umarmte mich, weinte, und bat, ich [111] solle es ihr nur diesmal verzeihen, sie würde mir gelegentlich sagen, warum sie so habe handeln müssen. Die Madame könne ich bald versöhnen; sie sei entsetzlich geizig, und wenn ich ein Stück Zeug zum Geschenk für sie hätte, habe ich alle Freiheit, zu thun, was ich wolle. Ich erschrak, und sagte, daß ich es nimmermehr wagen würde, ihr etwas anzubieten. – Ach, warum nicht? antwortete das Fräulein lachend, an die zierlichen Sentenzen, womit sie um sich wirft, muß man sich nicht kehren; es ist eine ganz gemeine Seele! Gieb den schwarzen Taffet her, den Dir die Mutter geschenkt hat; er ist zum Mantel. Sie riß ihn mir weg, und fort war sie damit. Sie hatte ihn ihr wirklich in meinem Namen gebracht; dafür nannte sie mich ein gutes liebes Kind.

[112] Nun muß ich schließen. Morgen gehst du, ehrliches Päckchen, nach dem lieben Lindenau. Ach, tausend Grüße für die besten Eltern! Mein Bruder wird mit dieser Gelegenheit auch schreiben; er hat mich besuchen wollen, als ich eben im Konzert war. Ich küsse meinen lieben Eltern die theuren Hände, u.s.w.


Lieber Amtmann, begann in der Pause, die jetzt Grünthal machte, die Frau Pastorin, ich gestehe Ihnen gern, daß in dem allen viel Abschreckendes für Eltern liegt, die ihre Kinder außer dem Hause wollen erziehen lassen. Aber sagen Sie nur, wie sollen die Kinder Französisch, und was sonst noch zur feinen Ausbildung gehört, lernen? denn heutiges Tages gehört doch das Französische zu den ganz unentbehrlichen Dingen. Unentbehrlich? rief der Amtmann; nennen [113] Sie mir unter hundert Frauenzimmerndrei, denen es unentbehrlich wäre! Sie verstehen es, aber wozu? ich will nicht ehrlich seyn, wo sie seit dem Pensionsleben fünf Worte in dieser Sprache von sich gegeben haben. Der Bücher, des Lesens wegen? Haben wir denn etwa der deutschen Bücher, und der gewiß guten Übersetzungen nicht genug? Als ich noch Student war, kam ich einst zu einer Frau Professorin, die im Rufe der Gelehrsamkeit stand. Sie las in einer englischen Ausgabe, von Thomsons Jahrszeiten; ich gab zu erkennen, daß ich es nicht im Original gelesen hätte; so, sagte sie, also hat man das auch deutsch? Wer hier die Pedanterie nicht mit Händen greift, muß Handschuhe von englischen Sohlleder tragen.

Gesetzt nun, die französische Sprache wäre, wie Sie glauben, unentbehrlich, giebt [114] es denn gar keine Mittel, diesen Talisman an sich zu bringen, als das unseligste, die Töchter deshalb auf Jahre, die gerade die gefahrvollsten sind, der mütterlichen Aufsicht zu entziehen? Und sollen denn die Töchter ihre, vielleicht ganz alltäglichen Gedanken, durchaus in einer andern als der lieben Muttersprache auszudrücken wissen; so setze man gewisse leere Stunden dazu aus, und nehme einen rechtschaffenen Lehrer an, der ihnen dann in einem halben Jahre das beibringt, was sie sonst oft mit Aufopferung ihres ganzen moralischen Karakters in vielen Jahren entweder gar nicht, oder doch sehr unvollkommen lernen. Überdem, wie lernen sie es in den kostspieligen Instituten? Ich weiß der Beispiele genug, wo nach den eigentlichen Lehrjahren doch durch einen Sprachlehrer nachgeholfen werden mußte. Hierzu kommt: daß, wo ein Frauenzimmer die Sprache [115] lehrt, dieses nur immer unvollständig geschehen kann; denn welche spricht ihre Sprache nach Regeln? – Den französischen Sprachlehrer lasse ich indeß nur für große Städte zu, wo diese Sprache oft ein Mittel werden kann, ehrlich durch die Welt zu kommen. Schickt aber ein Mann vom Lande oder aus einer kleinen Provinzstadt seine Mädchen nach der Residenz, und opfert seinen besten Erwerb auf, um sich ein Zierpüppchen zurechtdrechseln zu lassen, das in seinem Haushalte nachher zu nichts taugt, als die Köpfe zu verwirren, so ist er was ich war, – wozu ich mich beschwatzen ließ, – ein Narr! – Und wenn nun auch unter hunderten Drei vernünftig bleiben, und einen zweckmäßigen Gebrauch von dem Erlernten zu machen wissen, sollen denn, um der drei willen, sieben und neunzig verdorben werden? Überdem, was erwächst nicht für Nachtheil aus der [116] unseligen Vermischung der Stände in den Pensionen? Es liegt in der Natur der Sache, daß der Geringere sich nach dem, den er für vornehmer hält, bildet. – Dies thun Erwachsene, wie sollten es Kinder nicht thun? Gehen sie in die erste die beste französische Schule, oder in das französirte Institut einer teutschen Erzieherin, da finden sie Gräfinnen, Fräulein, Geheimerathstöchter, und so hinunter und herauf, durch alle Klassen des bürgerlichen Lebens. Die Tochter des Handwerksmannes wird eben so gemodelt, wie das Fräulein. Für diese Klasse mag das schon gut seyn, allein, was fängt die Handwerkerstochter nun mit dem Zeuge an? Bei ihres Gleichen findet sie keinen Mann von ähnlichem Modeschnitt; sie sieht sich unter den Söhnen des Landes um, ob ihr einer anstehe. Ist sie reich, so findet sie einen, so brüstet sie sich mit dem Titel desselben,[117] staffirt sich modisch heraus, und bringt nun in ihren Kotterieen alles an, was sie noch von der französischen Schule wie am Schnürchen hat; sie erzieht Kinder, denen sie den verstimmten Ton von Jugend an vorsingt, und so geht's aus Generation in Generation, wenn nicht ein Trübsalswind die bösen Dünste vertreibt; und das kann bei der üppigen Lebensweise kaum fehlen. Muß eine solche verbildete Bürgerstochter sich, ihrer Glücksumstände wegen, mit einem Handwerker, wie ihr Vater war, begnügen, so verbittert sie ihm das Leben, oder achtet auf die Schmeicheleien eines Galans, der sich ihres ehelichen Mißverhältnisses bedient, sie zu verführen.

Grünthal sprach so eifrig, daß er nicht merkte, wie schläfrig seine Zuhörer waren, bis die Pastorin das Signal zum Aufbruch durch ein unverhaltenes Gähnen gab. Grünthal [118] verstand es, und ging; war aber so voll von seinem Gegenstande, daß er sich zu Hause noch hinsetzte, und seine Geschichte schriftlich fortzusetzen anfing.


Ich erhielt Julchens Tagebuch, oder wie ich es sonst nennen soll, da meine Frau sich eben nicht zu Hause befand. Wie mir dabei zu Muth war, kann sich nur der vorstellen, dessen liebste Hoffnungen schon getäuscht wurden. Kaum ein Vierteljahr aus dem väterlichen Hause, und schon mehr als die ersten Spuren offenbarer Verirrung! O der armen zerbrechlichen Menschheit! Mein gutes Weib kam, und ich mußte wohl sehr wild aussehen, denn sie erblaßte, und fragte zitternd: was mir widerfahren sei? Da, lies nur, sagt' ich; hier ist was von Julchen. – [119] Doch nichts Schlimmes? Nicht viel besser als schlimm, antwortete ich, indem ich ihr den Brief hinreichte. – Sie las, und warf sich, da sie gelesen hatte, mir um den Hals. Bester Mann, sagte sie sanft weinend, mache mir keine Vorwürfe; ich habe es, weiß Gott, herzlich gut gemeint. Sieh' nur, Männchen, wir müssen der Madame schreiben, daß sie Julchen besser in Acht nehmen soll. – Das kann keine Fremde; das kannst Du nur und ich, wir, die ihr junges Herz geformt haben, und es wie unser eigenes kennen, – rief ich, so angegriffen, daß meine Frau für nöthig fand, mir zur Beruhigung, wie sie glaubte, zu sagen, ich solle doch auch billig seyn, und bemerken, wie tugendhaft unser Kind sei; wie böse sie geworden, da der Kornet zu dreist wurde. Was kannst Du – sagte sie – von so einem rechtschaffenen Gemüthe besorgen? – Sie soll mir [120] aber mit keinem Kornet tanzen! rief ich, so aufgebracht, daß mein Weib leichenblaß ward. – Und überhaupt, da kennst Du Dein Geschlecht sehr wenig, wenn Du nicht voraussetzest, daß dieser Tanz und diese Stellungen, und das ganze süße Geschwätz des jungen Menschen ihr nicht ganz vorzüglich wieder einfallen werden. Das sind eben die Szenen, die sich ihrer Einbildungskraft immer verschönert wieder darstellen; das sind die Vergnügen, gegen welche ihr das Landleben armselig erscheint. Ein großer Kenner des menschlichen Herzens, Cervantes, setzte ich hinzu, läßt den Sancho sagen: »Wenn ein Jüngling einem Mädchen nur ein einzigmal sagt: ich liebe Dich, so flüstert der Teufel es ihr wohl hundertmal ins Ohr, bis sie über und über in Liebe auflodert.«

»Großer Gott!« seufzte meine Frau erschrocken, und faltete ihre Hände. Hinterher [121] sagte sie ganz sanft: »Nun wohl, Männchen, wenn das Jahr aus ist, nehmen wir sie wieder in das Haus. Gesetzt nun aber, sie machte in der Stadt ihr Glück?« Liebe Frau, davon träume nicht; unter den Adlichen, die das arme Mädchen verächtlich behandeln? Denkst Du denn überhaupt, daß die jungen Mädchen, die von einer Lustparthie zur andern forttaumeln, je ein vernünftiges Glück machen können, und daß ein gescheuter Mann sich seine Gefährtin auf dem Ball aus dem leichtfüßigen Haufen wählen wird? – Tanzen ist doch aber an sich eine recht unschuldige Sache, sagte meine Frau in einem so friedlichen Tone, daß sie mir ihre ganze unschuldig verbrachte Jugend darlegte. An sich, da hast Du recht, mein liebes gutes Lieschen, und wie Du getanzt hast. Das geschah bei sittlichen Familienfesten; da tanztest Du eine ehrbare [122] Menuet, und wenn's rasch ging, war's ein feierlicher Polonoisengang, bei welchem Deine Lebensgeister in ihren stillen Pulsen blieben. So mußt Du Dir aber die Pickeniks in den Städten nicht vorstellen; da ist ein zusammengeraffter Haufen oft sehr leichtsinniger Männer, von denen der beste oft nicht werth ist, den Handschuh eines rechtlichen Frauenzimmers zu berühren. Hier aber hat er sich für sein Geld das Recht erkauft, sich so lustig zu machen, als es die Umstände nur immer zulassen, und die Mädchen, welche sich zu dieser Lustbarkeit einfanden, nach Belieben wacker herumzuschwenken. Da werden rasche, wilde, ja tolle Tänze getanzt, welche die Sinnlichkeit unfehlbar auf regen. Wie steht es da um die jungfräuliche Würde, mit der ein Mädchen die Zudringlichkeit dreister Männer zurückweisen soll? und hat sich das Mädchen nicht schon zum Theil [123] ihres Rechts, sie einzuschränken, dadurch begeben, daß sie sich in eine solche Versammlung wagt? – Du wirst vielleicht denken: sind doch Mütter und Aufseher dabei! Mein liebes Kind, die Mütter gingen der l'Hombreparthie wegen, die sie dort finden, mit; und wenn sie solo-tout und sechs Matador in der Hand haben, so mag indeß die Tochter sich dem Ersten dem Besten überlassen. – Von solchen Tänzen, sagte meine Frau, habe ich freilich keinen Begriff; ich gab ihn ihr, so gut sich das thun ließ, und zeigte ihr den Takt und die Stellungen, die in den neuesten Tänzen vorkommen. Das mochte sich nun freilich in meinem nicht ganz makellosen Schlafrocke, und mit der großen Troddelmütze ganz wunderlich ausnehmen; denn sie gerieth in ein so unmäßiges Gelächter, daß es schlechterdings unthunlich war, wieder auf etwas Ernsthaftes einzulenken.

[124] Bald darauf beantwortete ich meiner Tochter Tagebuch nach dem vollen Eindruck meiner Mißbilligung. Ich machte den Leichtsinn verächtlich, mit dem sie alle die bessern Eindrücke der Erziehung, die sie im elterlichen Hause empfangen, von den glänzenden Marionettenspiel der vornehmen Welt bei sich verdrängen ließ, warnte sie nachdrücklich vor den vor nehmen Freundschaften, über deren Unzuverlässigkeit sie nun schon einige bedeutende Erfahrungen gemacht hatte; denn es ist immer Hundert gegen Eins zu wetten, daß es für bürgerliche Personen in adlichen Gesellschaften selten ohne Demüthigung abgeht, ob ich schon, zur Steuer der Wahrheit, hinzusetzen muß, daß sich der Brandenburgische Adel durch Humanität auszeichnet, weil er für ächte Geistesbildung Sinn, und das trefliche Beispiel der ersten Personen im Lande[125] vor Augen hat. Allein nach meinen Begriffen ist die Gleichheit, in mehr als einer Rücksicht, Erforderniß zur Freundschaft; der adeliche Freund kann Jahre lang den freundlichsten Umgang mit mir pflegen; plötzlich tritt ein Vornehmerer dazwischen, und der bürgerliche Freund wird verläugnet.

Zugleich schrieb ich an die philosophische Bonne, ersuchte sie in den höflichsten Ausdrücken, meine Tochter, die nie auf Reichthum zu rechnen habe, nur bürgerlich leben zu lassen, und sie, so viel möglich, für diese ehrenvolle Klasse zu bilden! Ich hätte freilich so meine ganz eigenen Grundsätze in Ansehung öffentlicher Lustbarkeiten, und fügte schließlich, zur Unterstützung meiner ganz gehorsamen Bitte, ein Fäßchen Butter, und was sich sonst noch so an Küchenpräsenten transportiren ließ, dem Briefe bei.

Dies that seine gehörige Wirkung; ich [126] erhielt bald darauf die verbindlichste Antwort, daß sie sich meine Absichten ganz gern gefallen ließe. Übrigens sei es aber grundschade, Julchen wäre für eine höhere Sphäre geschaffen; viele ihrer Anlagen hätten sich zum Erstaunen schnell entwickelt, ich würde sie kaum wieder kennen. – Zuletzt denn noch ein künstlich gedrechselter Dank für die excellente Butter, und eine verblümte Aufforderung, bei so guten Dispositionen zu verharren, welches sich meine gutmüthige Frau nicht umsonst gesagt seyn ließ. Fragte ich nach diesem und jenem, so lautete die Antwort: »Liebes Männchen, das habe ich Julchens Madame geschickt.« Dafür wurde denn die treuherzige Mutter immer mit einem Lobspruche auf das gute Betragen der Tochter erquickt. Auch hatte das Mädchen wirklich so erstaunlich profitirt, daß ich sie hin und wieder schon auf mancher [127] kleinen Unaufrichtigkeit ertappte. Nach und nach bekam sie eine ordentliche Fertigkeit – ich will nicht sagen zu lügen – aber dem, was ich nicht wissen sollte, auszuweichen. Dies betrübte mich recht herzlich, und ich war entschlossen, sie, trotz alles Widerspruchs, auf Ostern nach Hause zu nehmen. So lange ich lebe ists mir aber so gut noch nicht geworden, die Umstände regieren zu können; sie haben mich immer, ohne mein Zuthun, da- und dorthin geschoben. So ging mir's denn auch hier.

Einst an einem schönen Morgen kam unser Pastor Eiche zu mir. Ich sah es seinem offnen Gesichte bald an, daß er etwas auf dem Herzen hatte; es wollte sich irgend eine wichtige Mittheilung davon losarbeiten. Für's erste kam es heraus, daß er, ganz ohne sein Mitwirken, einen Ruf nach Berlin bekommen hatte. Zweitens [128] erfuhr ich denn auch noch das, lange so sorgfältig verschlossene Geheimniß, daß er Julchen liebe, und sie zu heirathen wünsche, wenn sie alt genug seyn würde, und wenn sie, wie sich das von selbst verstände, ihm nicht abgeneigt wäre. Das wird sie nicht, rief ich, freudig ihn an mein Herz drückend; wenn sie nicht ganz zur Thörin wird, kann sie das nicht! Aber wie? holen wir das Mädchen gleich her? – Ich würde dann leider! der Freude, sie zu sehn, bald verlustig werden: denn ich trete bald an, es ist kein Wittwenjahr zu bestehen, antwortete er, über meinen Eifer lächelnd. – Nun, Pastor, da ist was zu lachen! Meines Bedünkens wäre dies das Natürlichste. – Mein lieber Freund, ich erwarte von Ihrer gesunden Überlegung, daß Sie keinen raschen Schritt, in Ansehung des liebenswürdigen Mädchens, thun werden, deren Herzen meine [129] Sache ganz zu eigener Entscheidung überlassen werden muß. Sie muß von unserm Plane auch nicht die fernste Ahnung haben; es würde ihrem jugendlichen Sinne einen harten Zwang auflegen, sie würde sich in den Willen eines so guten Vaters aus Gehorsam fügen, und, – halten Sie mir diese kleine Eitelkeit zu gute, – ich möchte gern mit Zustimmung ihres eigenen Gefühls gewählt werden, ihre Liebe und Achtung mir verdienen, wenn ihre Vernunft Reife genug wird erhalten haben, um auch ein Wort zu meinem Besten mitzureden. Wie so manches gute Mädchen warf sich einem Manne, den es nicht liebte, in die Arme, weil es keinen andern kannte, und lernte dann zu spät den kennen, dem es mit ganzer Seele angehangen haben würde! – Wenn nun aber das Mädchen in der Stadt eitel wird, und ihr Herz verplempert? rief ich ungeduldig; [130] denn, die Wahrheit zu sagen, auf solche Subtilitäten habe ich mich niemals eingelassen, – wie meine eigne Heirathsgeschichte das bezeugt. – So verliere ich ein Gut, worauf ich mein wahrscheinliches künftiges Glück berechnet habe; wenn Julchen aber mit einem Andern so recht nach ihrem Herzen glücklich wäre, würde ich, wie das Pflicht und Nothwendigkeit ist, zu resigniren wissen. – Beinahe wäre ich böse auf ihn geworden, weil mir das zu vernünftig vorkam; und ich hätte gewiß etwas Übereiltes gesagt, hätte er nicht mit dem sanftesten Ton, der je aus einem männlichen Munde kam, hinzugesetzt: »Lassen Sie in Berlin sich ihre Talente ausbilden; sie wird eine desto liebenswürdigere Gesellschafterin für den Glücklichen, den sie einst wählt. In drei Monaten reise ich ja selbst hinüber, und ich verspreche mir viel von dem Vergnügen, ihr [131] Zutrauen zu gewinnen, und dadurch in den Stand gesetzt zu werden, über ihre Bildung mit zu wachen.«

Jetzt leuchtete es mir plötzlich ein, weshalb er es gern sah, daß das Mädchen in der Stadt bliebe. Die Freude, und der frohe Blick in die Zukunft, die in meinen Augen alles wieder gut machte, hatte die üblen Eindrücke gegen die Pension bei mir verwischt; denn ich muß es nur gestehn, wenn es meine Freunde noch nicht selbst bemerkt haben sollten, daß ich mich, wie alle Schwächlinge, leicht von plötzlichen und augenblicklichen Eindrücken lenken lasse. Dabei kam es mir auch selbst beinahe so vor, als ob zur Bildung einer Stadtpfarrerin, noch dazu in dem superfeinen Berlin, etwas mehr gehöre, als ich meiner Tochter auf dem Lande zu verschaffen im Stande wäre: worin ich aber ganz Unrecht hatte; denn ich habe nachher [132] wohl eingesehen, daß mein armes Kind mit dem, was es bei mir gelernt hatte, gewiß nicht unvortheilhaft gegen viele andre würde abgestochen haben.

Indeß nahm ich mir vor, ihre Neigungen auszuforschen. Ich schrieb deshalb an Madame Brennfeld, ob sie mir meine Tochter zu Weihnachten wohl zukommen lassen wolle? Wie mich das verdroß, daß ich mich in die Nothwendigkeit gesetzt hatte, von einer Fremden Vaterfreuden zu erbetteln! Ich erhielt bald eine bejahende Antwort, daß nicht allein Julchen, sondern auch die Frau Erzieherin selbst, nebst einem Schwarm kleiner gnädigen Gänselein entschlossen wären, während des Festes meine arme Landhütte mit ihrer hohen Gegenwart zu beehren.

Das war mir nun äußerst fatal; denn ich wollte meinen Fritz auch holen lassen, [133] und einmal wieder ein Weihnachtsfest nach der alten Weise feiern. Ich mußte indeß süß dazu aussehen, so sauer mir's auch ankam, und war im Grunde doch seelenvergnügt, weil ich gewiß hoffte, Eiche würde mein Schwiegersohn werden. »Ei, Mann, so lustig habe ich Dich ja in mancher Zeit nicht gesehen! was giebts denn?« fragte mein Weib. – Lieschen, studiere Du nur fleißig in Deinem Kochbuche; aufs Fest bekommen wir vornehme Gäste. – Nachdem ich sie eine Weile hatte herumrathen lassen, überraschte ich sie mit der Nachricht: Julchen käme herunter. Die ehrliche Seele weinte laut vor Vergnügen, und küßte mich wohl hundertmal in der Freude ihres Herzens. Bei der Gelegenheit mußte ich mir alle Gewalt anthun, daß ich nicht mit meinem Geheimniß, nämlich Eichens Absichten auf Julchen, herausplatzte, so sehr war mein [134] Herz im Zuge, sich zu ergießen. Noch zur rechten Zeit besann ich mich; denn was die Mutter wußte, wurde der Tochter immer warm mitgetheilt, und dies würde meinen Lieblingsplan zerstört haben. Die jungen Äffchen pflegen zuweilen in ihrem jugendlichen Übermuthe einen ehrlichen Mann wohl vor den Kopf zu stoßen, weil diese und jene von den hundert meine Lieben sie damit aufzieht.

Je näher Weihnachten heranrückte, je lustiger wurden wir, und waren am letzten Advent beinahe ausgelassen. Meine Frau war bei ihren Zurüstungen so flink und munter, wie ein Mädchen, das sich vor seinem Liebhaber sehen läßt. Ich pfiff oder trallerte, wo ich ging und stand. Eiche nahm stillschweigend Theil an unserer frohen Erwartung, und es müßte einem Dritten einen sonderbaren Anblick gewährt haben, zu sehn, [135] wie wir alten Narren uns gebehrdeten. Endlich erlebten wir die erwünschte Woche; ich ließ meine große Reisekalesche vom Hühnermist säubern, und meinen Gürgen sich recht stattlich ausputzen, damit die feinen Stadtdamen an dem ländlichen Aufzuge nicht zu viel Ärgerniß nehmen möchten, gab ein Reitpferd für meinen Fritz mit, und predigte es dem ehrlichen Dorfkutscher hundertmal ein, er solle ja hübsch behutsam fahren. Meine Frau gab ihm so viel Pelze und Fußkörbe mit, als ob die Reise nach Nova-Zembla ginge.

Mein Fritz kam einen Tag früher, als die Frauenzimmer, an. Der Junge war in dem halben Jahre beinahe einen Kopf gewachsen, seine Seele war tadellos, wie ich ihn von mir gelassen hatte; aber er hatte sich bei einer Schrittschuhparthie eine Heiserkeit zugezogen, die von Folgen zu seyn [136] drohete, wie einige einsichtsvolle Ärzte geurtheilt hatten, und es war zweifelhaft, ob er je wieder Stimme bekommen würde. – Das war ein herber Schlag für die Mutter, die ihren süßen Jungen schon im Geist die Lindenauische Kanzel besteigen sah, und das Kanzellied zur Antrittspredigt bereits ausgesucht hatte. Über alle Beschreibung aber entsetzte sie sich, als der junge Mensch mich ganz pathetisch anredete: »Lieber Vater, die Güte, mit der Sie eingewilligt haben, mich nach meiner Neigung studieren zu lassen, läßt mich der festen Zuversicht seyn, daß Sie es ebenfalls billigen werden, wenn ich bei dem Voraussehn, daß ich nun bei dem Verlust meiner Stimme weder zum Prediger, noch zum Schulmanne tauge, eine andere Laufbahn einschlage, auf der ich ebenfalls ein nützlicher Mensch werden kann. Ich hätte große Lust, irgend ein Handwerk zu [137] erlernen; ich habe viele Gewerbe kennen gelernt, allen aber ziehe ich das Tischlerhandwerk vor, und dies um so mehr, weil ich es schon so ziemlich weit im Zeichnen gebracht habe.« – Ich kriegte den braven Jungen beim Kopf, und herzte und küßte ihn, denn er hatte mir wie aus der Seele gesprochen. »Von ganzem Herzen meinen Segen dazu! werde ein so wackrer Mann, als Dein Großvater war, der eben dies Gewerbe mit Ehren trieb.« – Daß die Mutter so ganz still dazu schwieg, wunderte mich; aber nun war das Entsetzen an mir, als ich sie, todtenblaß und alle Gesichtszüge starr, da sitzen sah. »Um Gotteswillen, Mutterchen, was ist Dir?« – »Ach Gott!« stammelte sie, »ich .. kann ... mich ... ja nicht ... so geschwind ... fa ... fassen; der Schlag hat mich überwältigt! Das war meine liebste Hoffnung!« – »Liebes Herzensweib, der [138] redliche, fleißige Handwerker ernährt sich und noch viele Andre, indeß der Pfarrer sich von Andern muß ernähren lassen. Der fleißige Professionist ist ein glücklicher, unabhängiger Mann. Vielleicht, wenn der alte Amtmann längst zu seinen Vätern versammelt ist, pflegt dieser Meister Tischler Deines Alters.« – Fritz stürzte gerührt auf ihre Hände: »Mutter, ja, liebste Mutter, Sie sollen gewiß Freude an mir erleben; alles, was ich erwerbe, soll Ihnen gehören, und – ich will gewiß kein Stümper werden!« – Ihr quält mich grausam, sagte das beinahe überwältigte Mutterherz, das im Begriff war, sich den Thränen ihres Herzblattes zu ergeben, aber doch noch, zum letzten Versuch, fragte: ob er denn nicht glaubte, predigen zu können, wenn die Kirche recht klein, z.B. wie unsere Lindenauische wäre, wo ihn die Leute von Kindheit an gekannt [139] hätten? – »Nein, liebste Mutter, auch selbst in dem kleinsten Saale würde mir die Anstrengung Lungengeschwüre zuziehen, versicherte mir einer der geschicktesten Ärzte.« – Wäre der junge Mensch listig gewesen, er hätte nicht vernünftiger einlenken, und mehr zum Vortheil seiner Sache sagen können; denn dem widerstand ihre Zärtlichkeit nicht. Nun denn, in Gottes Namen, wenn Du meinst, daß es zu Deinem Glücke ist, – hieß es. – Recht so, Mutterchen; Konsistorialrath wird nun wohl Dein Fritz nicht, aber gewiß ein so ehrenvoller Bürger, als einer in Deutschland. – Sie bat, wir möchten ihr nur Zeit lassen, sich von der ersten Bestürzung zu erholen, dann würde sie sich wohl allmählig ganz mit der Vorstellung aussöhnen; und das war denn auch nicht mehr als billig.

Nun hielt ich mich aber nicht länger, [140] ich mußte dem Bruder nach seiner Schwester fragen. »O Vater, die ist noch mehr gewachsen als ich, und Sie finden sie nicht mehr aus dem Stadtmädchen heraus. Ich bin einigemal dort gewesen, aber die schnippischen Mädchen neckten mich immer; und ein junger Prediger, der unter ihnen herumschäkerte, versuchte beständig seinen Witz an mir, darum bin ich nicht wieder hingegangen.« – Braver Junge! sagt' ich, Du denkst wie Dein Vater! was er aber von Julchen gesagt hatte, ging mir doch im Kopfe herum. Bei jedem Wagen, den ich in der Ferne entdeckte, schlug mir hörbar das Herz. Gegen Abend endlich wehete mir ein Luftstoß ein verworrnes Getöse von pfeifenden Stimmen zu. Das waren sie denn, und bald nachher kam auch der Wagen zum Vorschein.

Sobald mich Julchen ansichtig wurde, [141] riß sie hastig den Schlag auf, sprang herab, und schweigend stürzte sie in meine Arme. Wer vermag Empfindungen zu beschreiben! Also nur so viel: ich drückte mein innigst geliebtes Kind an mein Herz, und kehrte mich an die ganze Welt nicht. Die Duenna und den mitgekommenen Schwarm bewillkommte ich erst in meiner Wohnung, unterdeß Julchen der Mutter am Herzen lag. Diesen ersten Abend war mein Herz so froh und so sorgenfrei, daß ich an keine Bemerkung, noch an irgend etwas, wodurch meine Freude hätte gestört werden können, dachte. Sogar das gelbe hagere naseweise Gesicht der Frau Erzieherin schien mir ganz hübsch, und sie selbst ein liebes gutes Weib zu seyn, dem man nicht Liebe und Ehre genug erweisen könne. FräuleinLindenfels war mitgekommen, ihre Cousine, die Forstmeisterin, zu besuchen, und hatte sich gleich dahin [142] begeben. Die drei andern waren kleine sieche Stadtmädchen, die von der schweren Reise, wie kranke Vögel, dasaßen, und nickten und pipten, bis meine Frau einer jeden ihr Kämmerlein anwies.

Nun erst, als wir mit unserer Tochter allein gelassen waren, bemerkt' ich, daß sie nicht mehr so offen und zwanglos mit uns umging, wie ehedem. Es verdroß mich, daß sie sich nicht, wie ich's erwartet hatte, nach allen alten Bekannten auf dem Lande, bis auf Hund und Katze, erkundigte, sondern, vollgepfropft von Stadtneuigkeiten, mich mit lauter fremden und vornehmen Namen unterhielt. Da war alles so ex cellent; wir hatten ganz und gar keine Idee, wie herrlich oder göttlich diese oder jene Lapperci war. Ihre Beschreibungen übertrieben in Allem; wenn ihr der Zwirn riß, so machte sie dasganz erstaunend unglücklich; [143] fiel eine Masche, so verzweifelte sie ganz und gar. Mögen doch die lebhaftern Franzosen tout-à-fait désolé seyn, wo wir uns höchstens nur ein wenig ärgern, oder désespéré werden, wo wir kaum trübe blicken! Uns kältere Deutsche kleidet der pretiöse Ton nicht; er liegt nicht in unserm Karakter, nicht im Genius unsrer energischen Sprache. Ich unterdrückte jedoch jeden Tadel, der mir oft entwischen wollte, theils, um der entzückten Mutter die Freude nicht zu verderben, die mit einer Art von Ehrfurcht die Tochter betrachtete, theils auch, um Julchen nicht zurückhaltend zu machen, wodurch ich meine Hauptabsicht verfehlt haben würde. So oft aber ein solcher, mir in der Seele widerstehender Ausdruck vorkam, blieb mir's gleichsam in der Kehle stecken; ich hustete oder räusperte.

Spät erst führte die Mutter Julchen in [144] ihre ehemalige Schlafkammer. Ich eilte zu Bette, und stellte mich, da meine Frau wiederkam, als schliefe ich schon, um ihrem Sagen und Fragen, was ich von der Tochter hielte? auszuweichen. Sie versuchte mit Husten – »Männchen, schläfst Du schon?« – ob ich schliefe; ich hielt mich aber ganz still, und so schloß sich der erste Abend.

Hier sei meinen Freunden ein Ruhepunkt vergönnt; ist ihnen die Fortsetzung nicht zu langweilig, so wird sie nächstens erscheinen.


am folgenden Morgen stand ich und meine Frau, wie gewöhnlich, sehr früh auf; aber bei unsern Stadtdamen war noch tiefe Nacht. Ich hustete ein paarmal scharf genug vor Julchens Thür; – alles mäuschenstill. Endlich wurde mir die Zeit zu lang; [145] ich steckte den Kopf hinein, und fragte: »Mein Kind, willst Du denn noch nicht aufstehen?« – »Ist es denn schon so sehr spät?« – rief sie, wie aus dem ersten Schlafe aufgeschreckt. – »So spät, daß Deine gute Mutter schon seit drei Stunden auf den Beinen ist.« – »Ach, sie stehen auch hier gewaltig früh auf!« – rief sie gähnend, und streckte träge die Hand nach ihren Kleidern aus. – Mein Gott! brummte ich für mich, indem ich mich entfernte. Sonst hatte ich immer die Freude, besonders an den Festtagen, daß meine Kinder mir, wenn ich aufstand, schon schmuck und festlich angezogen, entgegeneilten; wie ist das alles nun so anders! Das Frühstück stand da; Julchen ließ sich ein paarmal rufen, ehe sie erschien. Fritz, der diesen Auftrag auszurichten hatte, kam ganz niedergeschlagen zurück; sie hatte den armen Jungen angefahren, als er zum zweitenmal sie [146] erinnerte, und gemeint, wenn man sich so ohne Friseur quälen müsse, ginge das nicht schneller. Endlich erschien das Püppchen in einem zierlichen und gezierten Morgenanzug, ganz die ungekünstelte Kunst, die unsre Damen mit dem so beliebteneinfach zu bezeichnen pflegen. Bald nach ihr erschienen nun auch die andern; alle sehr nachlässig, und einige sogar – locker. Ich halte es für Pedanterie, an allem, was Mode und Zeitgebrauch heischt, tadeln zu wollen, besonders wenn sie, so wie jetzt, sich immer mehr und mehr einem bessern Ideale nähern; aber tadelswerth hat mich jederzeit das leichtsinnige Wechseln derselben gedünkt; dieses allein hat schon manchen ehrlichen Mann um Haus und Hof, und um Ehre obendrein gebracht. Ich verbiß meinen Unwillen, wenn ich auf meine Frage nach diesem oder jenem Kleidungsstücke meiner Tochter zur Antwort [147] erhielt: »Das war ja schon aus der Mode.« Ich scheute mich nun, nach meiner Tochter Frömmigkeit und Sittsamkeit zu fragen, vielleicht hätte die Antwort auch gelautet: »Mein Herr, die sind ja längst aus der Mode.« – Nach dem Frühstück beschäftigten sich meine Damen mit dem, was man in der Kunstsprache Toilette machen heißt. Ich dachte in allem Ernst, Julchen hätte sich wieder ins Bett gelegt, weil sie gar nicht wieder zum Vorschein kam. Freilich mochte sie bei der kopfbrechenden Arbeit mein wiederholter starker Stiefelgang vor ihrer Thür vorbei in Angst gesetzt haben. Sie erschien endlich ganz erhitzt, und in so feinen durchsichtigen Kleidern, daß ich eine Wielandsche Grazie vor mir zu sehn glaubte. Ich läugne nicht, daß der griechische Schnitt des Rocks des Mädchens Gestalt ungemein verschönerte; nur [148] Schade, Schade, daß unser so ganz ungriechisches Klima diese an sich so schöne Tracht wieder zum Unsinn macht, und nichts als Gicht und Rheuma nach sich ziehen kann!

Es war nicht ganz Scherz, als ich Julchen, gar zierlich ihre Hand auf meinen Rockzipfel gelegt, zum Kanapee führte. Ihre Schönheit und Grazie hatten mich dummen Dorfkerl seltsam überrascht; ich neigte mich beinahe unwillkührlich vor meinem eigenen Fleisch und Blut. Das arme Kind aber nahm's für Satyre, und die Thränen traten ihr bei meiner Galanterie in die Augen. Ich fand nicht für gut, ihr ihren Irrthum zu benehmen; allein die Mutter, der die Augen vor Entzücken funkelten, war weniger zurückhaltend, und drückte ihr Wohlgefallen in den stärksten Worten aus. Da gab sich mein armes Putchen ein Ansehen, und nannte der Mutter so viel Moden und [149] Modenamen her, sprach so kunstfertig vom Journal des Luxus und der Moden, daß meine Frau, vor höchster Bewundrung, gar nicht wieder zur Sprache kam. Dagegen nahm ich das Wort, und schüttete aus, was mir so lange schon gegen dieses unvaterländische Buch, ich meine dieses Luxusjournal, auf dem Herzen liegt. Daß es so lange besteht, und länger als so manche würdige Zeitschriften, ist zwar allerdings ein Zeichen, daß es seinen Saamen in sehr empfänglichen Boden ausstreut; welches besonders an solchen Orten der Fall ist, wo die erforderlichen Nippes und Zeuge gleich bei der Hand sind. Ich kann es auf Ehre betheuern, daß ich, in Leipzig besonders, Väter und Männer bittere Beschwerden über dieses Buch habe führen hören. Sobald es in dem Buchladen angekommen ist, sieht man die Schneider, mit dem magischen Büchelchen [150] unter m Arm, wie wild hin und her laufen. Kleider, die kaum acht Tage seit ihrer letzten monatlichen Umschaffung im Schrank hingen, werden aufs neue geändert; wenn man nun den beständigen Arbeitslohn für alle Kleider, neben der Gabe der Schneider, aus Vielem wenig zu machen, in Rechnung bringt, so muß ein Hausvater ja wohl den pommeranzenfarbenen Hausfeind mit Schrecken ankommen sehen.

Nach und nach hatten nun auch die andern Damen ihre Toilettengeschäfte beendigt. Die Erzieherin erschien, völlig so jugendlich angethan wie ihre Zöglinge. Hier gab es ekelerregende Nuditäten, wie sie die ländliche Sittsamkeit, selbst bei säugenden Müttern, unserm Blicke vorenthält. Fräulein Mariane bezeichnete durch ihren Anzug die verwegenste Üppigkeit, ganz wie sie sich zu [151] ihrem kühnen Blicke und ihrer festen unweiblichen Stimme schickte. Ich zitterte, wenn dieses kühne Geschöpf meiner Tochter mit der, in ihrem Verhältnisse liegenden Vertraulichkeit begegnete, und mit Schrecken bemerkte ich, daß Julchen eben an diesem verführerischen Mädchen vorzugsweise hing. Madame Brennfeld nahm bald Gelegenheit, mich zu fragen, ob, und wo ich studiert habe? Als ich Halle nannte, fragte sie mich mit großer Geläufigkeit nach allen, durch philosophische Schriften bekannten Professoren; gab Beifall, tadelte, hieß diesen tief, jenen seicht, mit einer Anmaßung, wie sie mir noch nie bei einem Weibe vorgekommen war. Wenig gewohnt, mit Weibern der Art mich zu unterhalten, hätte ich mich beinahe durch die pomphaften Ausdrücke und scientifischen Worte verblüffen lassen, wäre es mir nicht durch einige ihrer Urtheile, die [152] mir noch aus einer gewissen gelehrten Zeitung ganz frisch im Gedächtnisse hafteten, einleuchtend geworden, wo der Weisheitsquell, aus welchem diese Dame schöpfte, anzutreffen sei. Bei näherer Untersuchung war es mir auch nicht schwer, zu entdecken, daß sie nie selbst urtheilte, sondern, bei ihrem guten Gedächtnisse, bloß buchstäblich nachbetete; und wo die gelehrte Zeitung ihre Urtheilskraft im Stiche ließ, hatte sie gewiß ihr Vetter, der Kandidat, inspirirt. So seicht indeß dieser Weiberkopf auch war, schien es ihr doch Herabwürdigung für sie zu seyn, daß sie sich mit einem simpeln Landmanne über litterarische Gegenstände unterhielt, und auf meine gute Frau sah sie nun vollends wie auf ein tief unter ihr stehendes Wesen herab. Sobald ich dies merkte, brach ich ab, und brachte sie auf die, mir bei weitem wichtigere Materie, von meiner Tochter Ausbildung. [153] Ja, es ist wahr, Herr Amtmann, – sagte sie, sich gewaltig hebend, – ich habe es Ihnen ja versprochen, wegen des Plans zu Julchens Erziehung mit Ihnen zu Rathe zu gehn. – Ach, werthe Madame, fiel ich ihr ins Wort, zu einem Erziehungsplan ist es bei Julchen in der That zu spät; ihre eigentliche Erziehung ist vollbracht. Das Gebäude war aufgeführt, ehe ich sie Ihren Händen übergab; meine Frau wünschte nur noch einigen Putz und Stukkatur daran zu sehen. – – Gut, gut, Herr Amtmann; darauf verstehen wir uns besser, als sonst irgend jemand. Ich werde für alles, was ihre Verfeinerung befördert, sorgen. – Ich wollte, Sie sagten Veredlung, Madame. Nur daß die feine Politur nicht ganz das Originalgepräge mit fortnehme. Dieses habe ich immer sorgfältig bei einem jeden meiner Kinder sichtbar zu erhalten gesucht; ich [154] habe sie, so früh es nur anging, selbstständige Wesen seyn lassen, habe sie nie gezwungen, ja zu sagen, wo ihr Herz nein sagte, habe ihnen Widerspruch gegen die elterlichen Meinungen erlaubt; denn ich habe mir nie eingebildet, daß sich die väterliche Autorität über den Geist mei ner Kinder erstreckte, und immer fest an dem Glauben gehangen, daß es in England deshalb so viel Originalität der Karaktere gebe, weil die Kinder früh wie Menschen behandelt, und nicht alle auf einer Drehbank zu gleichförmigen Marionetten gedrechselt werden. – Wir müssen uns indeß doch nach den einmal eingeführten Gebräuchen richten, wenn wir uns nicht lächerlich machen wollen, entgegnete die Madame. – In so fern sie vernunftmäßig, und dem Bedürfnisse jedes Individuums angemessen sind. – Aber wir entfernen uns zu sehr von unserm Zwecke; [155] ich war willens, mit Ihnen über den Religionsunterricht meiner Tochter zu sprechen. – Wohl, Herr Amtmann! Wenn es denn nun einmal so seyn muß, daß der große Haufen eine positive Religion hat, so wünschte ich wohl, daß die Mamsell Tochter – – »Bei den einfachen Begriffen bliebe, die ich ihr beigebracht habe!« fiel ich ihr hastig ins Wort. Ich habe sie die Religion Jesu früh an sich selbst und ihrem Nebenmenschen durch Liebe und That ausüben lassen; sie weiß bereits, daß es Dogmen und Unterscheidungslehren ihrer Konfession giebt, sie soll sie erfahren, und wenn ihr Verstand reifer wird, mag sie darüber nachdenken und weiter forschen. Sollte sie aber nie den hierzu erforderlichen Grad der Gesetztheit erreichen, je nun, so wandle sie schlicht und einfach ihren Weg, und thue nach dem Glauben, den sie von ihren Vätern empfangen hat. Was [156] vor ihr Millionen Trost gewährte, wird auch diese zarte weibliche Natur nicht im Stiche lassen. Diese Religion, die in unsern Tagen so undankbar verlästert wird, hat sich so entschieden in den Schwachen mächtig bewiesen, daß ich meiner Tochter keine kräftigere Stütze anrathen kann, als die Ehrfurcht für sie. Ich vermag nicht, ächte Weiblichkeit von Frömmigkeit zu trennen, und ich gestehe Ihnen, daß der empörende dreiste Blick der jetzigen jungen Mädchen mir immer ein Herz zu bezeichnen scheint, das sich keine Fertigkeit erworben hat, sich dem höchsten Wesen im Gebete zu nahen; kurz, ein vermessenes Geschöpf, das sich nie vor seinem Schöpfer gedemüthigt hat.

Madame hatte mich nur so lange sprechen lassen, um eine Rede zu komponiren, worin sie mir bewies, daß ich von dem allen nichts verstände; daß ich, als ein Landwirth, [157] dem es mehr obläge, guten Dünger zu machen, als Erziehungsplane zu erdenken, nichts davon verstehn könne; sie dürfe, als die Tochter eines Gelehrten, schon ein wenig mitreden; sie habeRousseau gelesen, und, wie sie sich schmeichle, den Kant nicht fruchtlos studiert. Nun kamen die großen Worte »Moral-Prinzip, Kritik der Vernunft,« u.s.w., wie am Schnürchen; bei der Gelegenheit nannte sie sich selbst einigemal eine Freidenkerin, und dankte dem Himmel, daß sie sich von allem religiösen System losgerissen habe, und nun wie ein ausgescheuertes Gefäß sei. – Sie brachte dies alles in einem so hochfahrenden Tone vor, daß ich sehr froh war, als die jungen Mädchen sie um Erlaubniß baten, der Frau Amtmannin die letzte Komödie, die sie aufgeführt, zu rezitiren. »Gott behüte!« entfuhr mir's; »auch Komödie wird gespielt! – [158] Spielt denn meine arme Tochter da auch mit?« – »Noch ist Mamsell Julchen nicht so weit!« sagte eine Kleine sehr geziert.

»Gebe Gott, daß sie nie so weit komme!« erwiederte ich mit einem Stoßseufzer. – Was könnten Sie gegen kleine theatralische Übungen einzuwenden haben? Herr Amtmann! – fragte Madame sehr suffisant. – Durch nichts erwerben junge Damen mehr Grazie und Anstand, sich zu präsentiren.

Den jungen Berlinerinnen, die sich unaufhörlich und überall präsentiren, mag es Bedürfniß geworden seyn, es mit Anstand und Grazie zu thun, damit diese Alltagsvögel, deren Gesichter durch das stete Präsentiren allen Reiz der Neuheit verlieren, doch etwas zum Ersatz auszubieten haben. Aber für was tauschen diese Komödienspielerinnen diesen Anstand wohl ein? Zu einer Zeit, wo sie einen Vorrath von [159] Begriffen und Kenntnissen einsammeln sollten, in einem Alter, wo jede Minute kostbar ist, lernen sie Rollen auswendig, und verderben sich den Geschmack an jedem ernsthafteren Geschäft. Sie üben sich, Karaktere darzustellen, die nicht ihre eigenen sind; sie regen ihre Phantasie unnatürlich auf, und erfüllen sie mit Bildern einer idealischen Welt, wogegen die wirkliche, in die sie nun bald eintreten sollen, nicht immer zu ihrem Vortheile erscheint. Endlich noch werden sie unausstehlich eitel und pretiös. Die Schauspielkunst ist ein Bedürfniß unserer Zeit und Sitten geworden. Auch ich verehre hier in meinem Lindenau die ausübende Kunst und den talentvollen Künstler von ganzem Herzen, ohne eben zu wünschen, daß meine Tochter ein Talent erwerbe, von dem sie nie Gebrauch machen wird, oder soll. Julchen – indem ich meine Tochter bei der Hand nahm –[160] versprich mir, daß Du nie eine Rolle übernehmen, daß Du Deine Veredlung auf andern Wegen suchen wirst. Das liebe Kind wurde ganz weich, und sagte: »gewiß, lieber Vater, ich will alles, was Sie gern sehen!« und die andern Mädchen sahen mich an, als dächten sie: »das ist ein harter, tyrannischer Vater.« Auch hatte Mariane es nicht hehl, wofür sie mich ansah. Ich ließ das gut seyn, brach das Gespräch ab, und lief mit meinem Sohne in der Gegend umher, für die, wie ich leider! bemerkte, mein Julchen keinen Sinn mehr hatte.

Bei meiner Zurückkunft sah ich sogleich, daß Julchen geweint hatte. Wie? Thränen im väterlichen Hause? Thränen statt der Freude des Wiedersehens? – Ich forschte, was es war, und es kam heraus, die Mutter hatte der Tochter das Leid geklagt, daß Fritz ein ordinärer Spießbürger werden wollte. [161] »Das werden Sie denn doch in Ewigkeit nicht zugeben!« sagte die Tochter gar altklug. Ich schalt nicht, gab mir auch nicht große Mühe, das eitle Ding zu belehren, sondern sagte kalt: Dein Großvater war eben ein solcher Spießbürger, ein Tischler; Dein Eltervater, ein Bäcker; und viele Deiner Verwandten sind ehrenvolle und geachtete Bürger. Dein Vetter, der Geheimerath in W .., sitzt auf der Festung. Der Großonkel, Kapitän, ist wegen falschen Spiels kassirt. Der Vetter, Superintendent, wurde eines häßlichen Verbrechens halber abgesetzt. Seine Kinder bettelten und stahlen. Fritz wird ein Tischler, wird recht thun, und niemand scheuen; richte Dich so ein, daß er sich seiner Schwester nicht zu schämen braucht. Julchen erschrak über meinen Ernst, küßte mir schmeichelnd die Hand, und wollte noch etwas sagen; indem ging die Thür auf, [162] und die Gäste, die zu Mittag geladen waren, erschienen.

Dies waren nun keine andern, als meine adlichen Dorfgenossen und mein lieber Pastor Eiche. Sobald die Duenna einen Gelehrten witterte, nahm sie weiter keine Notiz von mir armen Laien, sondern bestürmte den guten Mann mit Fragen: ob er dieses oder jenes neue Buch gelesen habe? brach die Gelegenheit vom Zaun, eine Abhandlung über die Juden zu halten, und ob diese im Staate zu dulden seien? bei welcher Gelegenheit sie mit ihrer Aufklärung und Toleranz zu prunken gedachte. Sie wurde äußerst entrüstet, als ich plumperweise äußerte, die Modewelt beweise ihre Toleranz vorzüglich darin, daß sie sich den gutgarnirten Tisch und Keller der reichen jüdischen Häuser gefallen ließe; und der jüngere und galante Theil suche den Umgang romanhafter [163] und excentrischer Israelitinnen theils aus Finanzspekulation, theils, um ohne Kopfanstrengung Beweise seiner hellen Denkart zu geben. Der Forstmeister, der keinen andern Juden kannte, als den, der ihn zur Zeit seiner Fähndrichswürde geprellt hatte, wurde höchst erbittert, und gerieth mit der gelehrten Duenna in einen Streit, der weder von seiner feinen Lebensart noch von ihrer Sanftmuth Beweise gab.

Indeß dieses Paar wüthend auf einander losging, und dabei des Weines nicht schonte, suchte Fräulein von Lindenfels den rühmlichen Entwurf auszuführen, sich mit den sanften sittsamen Eiche eine Lust zu machen, die darin bestand, daß sie ihm eine ganze Armade ihrer Reize entgegenstellte, und ihr Netz auswarf, um, wie Julchen es nachher berichtete, die platte Landparthie dadurch einigermaßen pikant zu machen. Dieses Fräulein [164] war der Liebling der Erzieherin, weil sie zu den geforderten Geschenken das meiste Vermögen hatte; bei der gewöhnlichen Abend-Whistparthie ihr Nadelgeld, ohne scheel zu sehen, an die Madame verlor; nicht bemerkte, wenn Madame ihren Eleven, bei dem starken Kostgelde, elenden Kaffee gab, und, um die Triebräder der Maschine nicht in zu schnellen Umlauf zu setzen, ihnen Bier und ein Glas Wein versagte, womit sie den animalischen Theil ihres Menschseyns aber, in ihrem Boudoir, pünktlich zu stärken pflegte. Die Heuchlerin! Mariane war ein vorzüglich schönes Mädchen, lebhaft und witzig; ihre schönen schwarzen Augen wußte sie mit fürchterlicher Bedeutung zu gebrauchen. Ihr Witz war boshaft; ihr Verstand auf Kleinigkeiten und Modelektüre geschärft; ihr Anzug und ganzer Anstand üppig und dreist. Der arme Eiche, der ihr gegenübersaß,[165] wußte nicht wohin? mit seinem bescheidenen Blicke, wenn sie mit ihm sprach; faßte sie ihn mit ihren brennenden Augen, so sank das seinige beschämt, und fuhr wieder erschrocken von ihrem frech entblößten Busen zurück, den auch nicht die dünnste Hülle einschränkte.

Was läßt wohl ein Mädchen von sich denken, dessen unsittlicher Anzug selbst Männern eine Schamröthe abnöthigt? das Stirn genug hat, die Blicke dreister Jünglinge nicht etwa bloß zu ertragen, sondern durch Stellung und Blick zu noch größern Frechheiten zu reizen? Mariane that alles, was grobe Sinnlichkeit erregen, aber rechtschaffne Männerherzen gegen sie empören mußte. Eiche wendete sich verächtlich von ihr, indeß sie ihn, als einen unempfindlichen Pedanten, fahren ließ, und nun auch aus Rache derb auf das insipide Landleben schmähte. Sie [166] wiegte sich nachlässig mit ihrem Stuhl, unsrer gar nicht achtend, und fragte wohl zehnmal die Madame: »machen wir nicht bald unsre Parthie?« – Gleich nach Tische rasteten die Damen auch nicht, bis sie die Karten in den Händen hatten. Ich war neugierig, was meine Tochter machen würde; und da entging es meiner Beobachtung nicht, daß die Mutter den Geldschrank aufschloß, und der Tochter Dukaten aufzählte. Wozu das, Mutterchen? Julchen kann unmöglich schon all' das Geld, das Du ihr schicktest, ausgegeben haben. Oder hast Du, Kind? – Julchen erröthete, und es kam heraus, daß sie es im Spiel an Madame und ihre Mitschülerinnen verloren hatte. – »Julchen! Geld, wovon mein Meier, und jeder, der hier im Schweiß seines Angesichts sein Brod ißt, mit Weib und Kind ein Jahrlang sich reichlich ernährt haben könnten? O, hat er [167] auch Dich schon ergriffen, der Herz und Geist tödtende Spieldämon! Nun, dann fahre wohl sittliches Gefühl, und alles, was das Weib zum Weibe stempelt! Diese Gier, dieses Erpichtseyn aufs Spiel macht die Weiber unausstehlich, und richtet die Familien zu Grunde. Die Immoralität weiblicher Spielsucht springt so stark in die Augen, daß ich kein Wort darüber zu verlieren nöthig habe.« – Julchen wendete ein, sie spiele nur der Madame zu Liebe, und diese habe es überhaupt für nöthig erachtet, sie mit den gangbaren Spielen bekannt zu machen, weil man ohne diese jetzt eine Null in Gesellschaften sei. Ich ließ das hingehen, weil ich nicht gern mit meiner Herzenstochter, von der ich noch viel Freude erwartete, zürnte. Auch die Mutter redete für das Beste ihres Kindes, und entfernte sich bald darauf mit demselben in ein andres Zimmer.

[168] Indeß nahm ich Eichen auf die Seite, und fragte ihn um seine offenherzige Meinung von Julchen. Er sah sie schon halb mit Bräutigamsaugen, das heißt, er bemerkte nur die rosenfarbene Seite. Überall Vollkommenheit, sich entfaltende Geistesblüthen, liebenswürdige Offenheit, und noch gar schöne Dinge, die ihn zum glücklichsten Manne machen würden. So verschönernd war zwar meine Brille nicht; allein es that mir doch im Herzen wohl, Julchen loben zu hören, und ich fing an, mich selbst für zu strenge und partheiisch zu halten. Nun fragte ich ihn, ob es nicht besser sei, dem jungen Dinge etwas von seinen Absichten merken zu lassen? er aber bestand darauf, ihr Herz müsse sich noch einige Jahre überlassen bleiben; indeß wolle er sie nach und nach daran gewöhnen, ihn als ihren treusten Freund anzusehn. Denn, – setzte er hinzu, – er [169] wolle die theure Gefährtin seines Lebens keiner Überraschung des Herzens, auch keinem flüchtigen Eindrucke der Einbildungskraft zu danken haben. – Alles schön und gut, Freund, sagte ich; wenn nun aber die Mädchen nicht so vernünftig behandelt seyn wollen? Läßt man ihnen Zeit zu überlegen, so – kurz, sie überlegen eigentlich nichts, sondern handeln nach momentanen Eindrückken, die sie uns als Früchte ihrer Vernunft verkaufen; und wenn der Reiz des Neuen und Ungewohnten für sie dahin ist, so – – genug, mich ahnet's, das Mädchen wird uns Sprünge machen! Sie wird Romane und Gedichte lesen, Komödien sehen, von ewiger glühender Liebe, von interessanten Verwicklungen und Hindernissen, die den Genuß würzen, und von dergleichen schwatzen hören; wird bunte, geschniegelte Herrchen kennen lernen; und dann, fürcht' ich, wird der [170] schlichte schwarze Rock, der, verzeihen Sie's, ohnedem nicht mehr sonderlich hoch im Cours steht, mit der schlichten vernünftigen Liebe, die sogleich vom heirathen spricht, den gewünschten Eindruck nicht machen. – »Lieber Grünthal,« sagte er mir freundlich die Hand drückend, »wollen Sie mir denn in nichts meinen Willen lassen? Ich werde in Berlin über Julchens fernern Unterricht selbst mit wachen können; sie wird mir auf väterliche Empfehlung ihr Zutrauen schenken, ich werde ihr ein treuer Bruder seyn. Sollte ich denn nicht ihre Liebe verdienen können?« Er machte mir nun seinen Entwurf so anschaulich, daß ich selbst glaubte, meine Tochter könne für unsre Absicht nirgends besser als in Berlin, sobald er nur da seyn würde, aufgehoben seyn; als ob das alles so am Schnürchen ginge, als ob die Mädchen immer gutem Rathe folgten, zumal wenn er [171] grade ihre Lieblingsideen bestreitet! Es wurde nun auch noch verabredet, daß ich an meine Nichte, Karoline Falk, schreiben, und sie recht herzlich bitten sollte, die Mitaufsicht über meine Tochter zu übernehmen. Diese Nichte war in Berlin an einen Mann, der in einer guten Bedienung stand, verheirathet. Ihn kannte ich wenig, sie aber als eine Person, die ihrem Geschlechte Ehre machte. Sie war es auch, die Julchens Religionsunterricht bei einem würdigen Geistlichen besorgte, welches mir einen Stein vom väterlichen Herzen gewälzt hatte.

Diese Unterredung stimmte mich so gut, daß ich den übrigen Theil des Abends mit leidlichem Anstande der faden Unterhaltung beiwohnte. Freilich war's kein Schatten von dem Vergnügen, das mir dieser Besuch meiner Tochter eigentlich gewähren sollte; doch, genug von diesem Tage! Der folgende [172] verstrich eben so unter seelenlosen Geräusch in des Forstmeisters Hause; nur bemerkte ich mehr noch, als vorher, daß Julchen mit der mir so fürchterlichen Mariane innigst vertraut war, worüber ich in neue Besorgnisse gerieth, um so mehr, da Mariane Julchen bedeutend drohete: sie wolle es ihrem Bruder, dem Kornet, sagen, wenn sie so viel nach dem Pedanten (das war, mit Ehren zu melden, mein armer Eiche) hinüberkukte. Ich nahm den Abend Julchen ernsthaft vor; sie entschuldigte sich aber so kunstlos mit Marianens übergroßer Lustigkeit, daß ich mich nur zu leicht beruhigen ließ.

So verstrichen die Tage, auf deren Genuß ich mich so innigst gefreut hatte, in einem ununterbrochenen Wirbel von Faseleien und Kleinigkeiten. Er war so ansteckend, daß keiner von uns an ein herzliches Gespräch [173] denken konnte. Bald wollten die Damen Schlitten fahren, bald da-, bald dorthin; das war eine Rastlosigkeit, ein beständiges Abwechseln der Zeitvertreibe, und dennoch genossen sie nie des Augenblicks, sondern sehnten sich nach dem, was erst noch kommen sollte. Bei jedem Schritt den wir thaten, bekam sowohl die tiefgelahrte Erzieherin als ihre Untergebnen Anlaß, ihre grobe Unwissenheit über jeden Gegenstand des gemeinen Lebens an den Tag zu legen. Z.B., die großsprechende Lindenfels hatte in ihrem Leben noch nicht daran gedacht, woher die Wolle käme; sie war außer sich vor Verwundrung, daß die einfältigen Schafe doch so nützlich wären! – Von der Baumwolle habe ihr maître de géographie ihr gesagt, sie wüchse en Italie an sehr hohen Bäumen. Wenn ich dem Äffchen dann erklärte, wie es mit diesem oder jenem zuginge, [174] nahm Madame Brennfeld, der es ohnedem zu geringfügig war, sich davon zu unterhalten, mir die Worte aus dem Munde, setzte mit kalten, nachlässigen Tone die Erklärung fort, und sagte gewöhnlich das Gegentheil von dem, was ich zu sagen hatte. Aber ihre Selbstgenügsamkeit ließ sich nicht irre machen; über den einfachen Mechanismus des Pfluges sprach sie ein Langes und Breites, und als es zur Sache kam, hielt sie die Egge für den Pflug. –

Sultan, der alte respektable Haushund, sprang Julchen freudig entgegen, als er sie ansichtig wurde. Er war, so zu sagen, ihr Milchbruder; denn bei ihrer Geburt hatte er der Mutter den Überfluß an erster Kindesnahrung abgesogen. Sie erwiederte seine Liebkosung, wie seine lang bewährte Treue es verdiente. »Fi, Julie,« – rief Madame, indem sie selbst mit allen ihren jungen Gänschen, [175] voll Grausen, zurücksprang; – »Fi! wer wollte sich mit einem Hunde abgeben! Überhaupt finde ich nichts fader, als diese abgeschmackte Neigung gegen Thiere. Ich glaube, Julie hat ihren Hänfling lieber als uns alle. Ich sage ihr so oft« – sagte sie, sich gegen mich wendend, – »daß man seine Zeit wohl besser anwenden könne, als sie mit Thieren zu vertändeln.« – (Ja, dacht' ich, z.B. man kann in der Zeit einige Robbers Whist spielen!) – Laut sagt' ich: nun, das freut mich doch, daß Julchens Sinn für diese kleinen schuldlosen Freuden noch nicht abgestumpft ist! Was das Fade betrifft, so kann man Friedrich den Zweiten, der sich viel mit Hunden abgab, wohl eben nicht beschuldigen, daß er so gar fade gewesen sei. Wenn Julchen nicht so viel Zeit auf Spiel oder zweckloses Umherstreifen verschwendet, wird sie immer Zeit genug behalten, [176] dieser kleinen unschuldigen Neigung nachzuhängen, für die ich ihr kleines Mädchenherz recht geflissentlich gebildet habe, damit keine der zarten Neigungen, die der Schöpfer in die Seele des Weibes legte, unentwickelt bliebe. Und wie so manches holde Blümchen mehr streut dies auf ihre Pfade hin! Wohl meiner Tochter, so lange sie noch mit Vögelchen und Hunden tändelt! Leider wird der Aufenthalt in der Stadt wahrscheinlich die Zeit früher herbeiführen, wo sie diese Spielzeuge mit weniger unschuldigen und kostspieligern vertauschen wird! – –

Diese ganze Apostrophe diente zu nichts, als die Madame zu überzeugen, ich sei ein einfältiger Landtropf, dem es nicht der Mühe werth sei, die Schätze ihres besseren Erkenntnisses zu eröffnen. Da es des Tages nur zu viel Auftritte der Art gab, war ich beinahe [177] froh, als sich das plappernde hirnlose Völkchen zum Abschied anschickte. Ich ermahnte noch vorher meine Tochter mit väterlichem Ernst, sich fest an das, was ich sie gelehrt hatte, zu halten, und sich nie von dem Modeton, der nach einer gemißbrauchten Jugend ein freudenleeres Alter gebiert, hinreißen zu lassen. Laß es, sagt' ich, mich nie bereuen, daß ich mir meine Einwilligung habe abschwatzen lassen. Wär' es nach mir gegangen, wir verlebten hier noch stille, frohe Tage mit einander. Julchen war nicht ungerührt, aber doch fühlt' es mein, auf die Liebe dieser Tochter eifersüchtiges, Herz, daß sie uns nicht mehr so ungern verließ. Die scharfäugige Erzieherin hatte sich bei meiner Frau besonders beliebt zu machen, und, als wahre, schlaue Kennerin, ihre Schmeicheleien an dem rechten Orte anzubringen gewußt. Auch hat sicherlich jedes[178] Lob, das sie den Talenten der Tochter mit freigebiger Zunge spendete, ihr ein Fäßchen Butter, ein Stückchen Leinen, ein Dunenbett, oder sonst ein Kontingent zur Wirthschaft eingebracht. Sie schied mit übertriebenen Freundschaftsversicherungen. Sie war sohöchst unglücklich, uns schon verlassen zu müssen, und auch wieder so sehr glücklich, unsre interessante Bekanntschaft gemacht zu haben; dann machte sie wieder das Abschiednehmen so unglücklich, und bald darauf war sie so glücklich, sich mit der Hoffnung, uns bald in der Stadt zu sehen, trösten zu können. – So ging es in einem Athem fort. Julchen wollte noch einmal kindlich an mein Herz eilen; aber ihre Mariane rief: »Komm, Liebe! was machst Du Dir das Herz schwer?« Julchen folgte ihrem Ruf, stieg in den Wagen, warf mir noch einen Kuß, ganz im neuesten Styl, zu, [179] und hin rollte der Wagen. Ich sah ihm wehmüthig nach, raffte mich zusammen, und ging an meine, indeß ziemlich gehäufte Arbeit; ein Rath, den ich jedem gebe, dem es Ernst ist, sich zusammenzunehmen.

Bis jetzt war die Bildung und Erziehung meiner Kinder meine größte Sorge, und mein Hausstand beinahe ununterbrochen glücklich gewesen; unsre stillen genügsamen Herzen hatten auch den bösen Tag für gut genommen, weil der Herr beide werden läßt. Jetzt sollten wir auch Menschentücke erfahren. Meine Frau war von einer ihrer alten Tanten zur Erbin eingesetzt worden; ein anderer Verwandter protestirte dagegen, und da mir nun die Erwerbung dieses Vermögens ganz rechtmäßig schien, hielt ich's, meiner Kinder wegen, für Pflicht, mein Recht zu behaupten. Auf diese Art wurde ich in einen weitläuftigen und kostspieligen Prozeß [180] verwickelt. Meine gute, gar zu empfindliche Frau nahm sich diesen Vorgang, und den Verdruß, der mir daraus erwuchs, so zu Herzen, daß sie in eine Schwermuth fiel, die ich weder durch vernünftige Vorstellungen, noch durch Liebkosungen zerstreuen konnte. Der Prozeß erforderte viel Reisen nach der .... schen Regierung; das nahm Zeit weg, und meine Wirthschaft litt sichtbar darunter. – Ich sah mich genöthigt, eine Wirthschafterin ins Haus zu nehmen, die aber höchst unredlich haushielt. Sie verführte das Gesinde, und das unbestechbare verläumdete sie. Julchen war noch zu jung und ungeübt, einer so schweren Wirthschaft vorzustehen. Mein Prozeß wurde immer verwickelter, und meine Frau immer kränker. Der Arzt, den ich kommen ließ, schüttelte den Kopf; es war die Auszehrung. Ihre Gemüthskräfte waren so abgestumpft, [181] daß sie auch nicht einmal nach ihren Kindern verlangte. Ich sah die Redliche vergehen, und verging vor Schmerz beinahe mit ihr. Mein theilnehmender Freund Eiche war schon, seit Ostern, in seine neue Stadtpfarre eingezogen. Seine Stelle bei uns war mit einem jungen Manne besetzt, der den Bauern für sein Leben gern Freiheit und Gleichheit gepredigt, und die französische Vernunftreligion gelehrt hätte, wäre die liebe Obrigkeit und der Landrath nur nicht gewesen, der die Kantons fleißig bereisete. Marat war sein Heiliger, und Robespierre mordete noch nicht genug. Oft ging er bei Wind und Wetter dem Zeitungsboten Meilen Weges entgegen. Meinethalben mochte er, wenn er mir nur auch meinen Sinn verstattet hätte; aber dieser Enragé schlug oft in seinem revolutionnairen Eifer mit der Faust auf den Tisch, und weckte meine arme[182] Kranke, wenn sie in heißersehnten Schlummer gesunken war. Das schreckte mich von seinem ungelenkigen Umgange so ab, daß ich mich verläugnen ließ, wenn er mit neuen Zeitungen angesprengt kam. Es fehlte mir also durchaus an einem theilnehmenden Freunde, da mein Leiden zu schwer wurde, als daß ich's allein ertragen konnte. Jetzt fühlte ich's, wie wohl dem Menschen ist, wenn er sich den Gedanken an Gott nicht zu fremd hat werden lassen; wenn Kreuz und Noth hereinbricht, ist die ununterstützte Vernunft eine zerbrechliche Stütze! Zwar sang ich keine Danklieder, als mein frommes Weib an meinem Herzen verschied; auch vermocht' ich nicht, so gleich zu sagen: was Gott thut, das ist wohl gethan; aber mein Herz verschloß sich nicht widerspenstig den Tröstungen der Religion, die ich, in ihrer ganzen Kraft, auf meine Seele wirken ließ.

[183] Meine Freunde werden hier dem schwergebeugten Herzen gern einen Ruhepunkt verstatten. Wer eines solchen Weibes ohne innige Rührung gedenken kann, war nicht werth, an ihrer Seite zu leben. Ich habe ihrer kleinen Schwächen und Eitelkeiten erwähnen müssen, in so fern sie dem Schicksale meiner Tochter eine Richtung gaben, die nicht diejenige war, welche ich ihm zu geben wünschte. Aber sträflich wär's, gedächte ich nicht auch ihrer ungeheuchelten Frömmigkeit, ihres reinen, unbefleckten Lebens, ihrer Treue in Erfüllung aller häuslichen Tugenden, und der unverbrüchlichen, zärtlichen Liebe gegen mich. In diesem allen konnte sie ein Vorbild ihres Geschlechts genannt werden. Und was war sie mir dennoch durch ihren hellen Sinn für jede Art von wirthschaftlicher Ordnung! In allen Fächern des Hauswesens hinterließ sie Denkmäler [184] ihres Fleißes und Ordnungsgeistes. Sie verstand in einem hohen Grade, Wohlthätigkeit mit vernünftiger Sparsamkeit zu verbinden; eine Tugend, ich meine diese letzte, der wir Männer nicht immer mit der gehörigen Achtung begegnen, weil sie mit unsern, im ehelosen Stande angenommenen Gewohnheiten oft im Widerspruche steht. Wir übersehen im Unmuthe oft, wie viel wir von dem Wohlstande und der Bequemlichkeit, die sie um uns her verbreitet, ihr zu verdanken haben. Diesen Vorwurf habe ich freilich nicht auf mich geladen; denn ich fühlte in einem hohen Grade, was die Verbindung mit diesem würdigen weiblichen Wesen seit meinem Justiziariat aus mir gemacht hatte. Die Entwicklung so mancher guten, mir selbst unbewußten Anlage, den Sinn für häusliche Ordnung und alles das, worin uns das weibliche Geschlecht so weit überlegen [185] ist, verdanke ich der treflichen harmlosen Seele, über deren Aschenhügel noch am späten Abend meines Lebens manche Thräne hinfließen wird.


Der Tod meiner Frau gab meiner damaligen Empfindungsart eine ganz entgegengesetzte Richtung. Meine liebsten Zeitvertreibe wurden mir gleichgültig, und selbst das sonst immer rege Gefühl für meiner Kinder Wohl schien darunter zu leiden. In Ansehung meiner Tochter beruhigte ich mich eine Zeitlang gänzlich mit den Nachrichten, die sie mir selber von sich gab, und die Eiche mehrentheils bestätigte. Es ging aber dem redlichen Manne, wie es vielen jungen und auch wohl alten Gelehrten geht, es fehlte ihm an Weltkenntniß und hinreichenden [186] Erfahrungen, die besonders ein Geistlicher nur selten zu erlangen Gelegenheit hat.Eiche sah und urtheilte mit dem partheiischen Blicke der Zuneigung; sein wohlwollendes Herz ließ ihn nur die gute Seite erblicken, wie ich schon an ihm gewohnt war, und wodurch er mein strengeres Urtheil zur Partheilichkeit hinneigte. Ich nahm mir von Zeit zu Zeit vor, nach Berlin zu reisen, und selbst zu sehen; es kamen mir aber so mancherlei Hindernisse in den Weg, daß gegen anderthalb Jahr verstrichen, ehe ich meinen Vorsatz ausführen konnte. In dieser Zwischenzeit verlor ich meinen Prozeß, und ließ meinem, noch immer wunden Herzen eine zweite Ehe aufschwatzen. Ein reiches Mädchen nahm die Stelle meiner geliebten Frau, zwar nicht in meinem Herzen, doch aber in meiner Haushaltung ein. Nur der offenbare Verfall alles dessen, was die geliebte [187] Selige, durch so redliche Anstrengung eingerichtet hatte, bewog mich zu dem mir selbst so fatalen Entschlusse, meine Kinder Stiefkinder werden zu lassen. Meine zweite Frau hatte die alltäglichsten Vorurtheile gegen Stiefkinder und war gegen die ihrigen, die sie noch nicht einmal kannte, schon so eingenommen, daß ich keines von den Dreien zur Hochzeit einladen durfte. Von Julchen erhielt ich bei dieser Gelegenheit einen kalten abgezirkelten Brief, der mein eingeschlummertes Gefühl aufs lebhafteste erweckte und mit Bitterkeit erfüllte. Von meinem Herzenskinde vermochte ich das nicht zu ertragen, nun wollte und mußte ich nach Berlin, so bald die Erndte vorbei seyn würde. Das stete »Gut und Gut seyn lassen« des gar zu gutmüthigen Eiche fing an mir verdächtig zu werden. Julchens Briefe bewiesen mir nur zu sichtlich, daß[188] eine bedeutende Veränderung mit ihr vorgegangen seyn mußte. Ihre einfache ungezwungne Schreibart war so merklich von einer aufgeregten Phantasie zu den hochfliegenden Ausdruck gewisser Romane hinaufgeschroben, daß ich das Mädchen nothwendig für eben so verändert, wie ihre Briefe, halten mußte. Die Fortschritte ihrer sogenannten feinern Ausbildung, und die Wirkung der Pensionserziehung nicht aus den Augen zu verlieren, werde ich alles, wo sie selbst spricht, wie es der Zeitfolge nach hieher gehört, beilegen.

Zuerst die Fragmente ihres Tagebuches, wie sie es zu verschiednen Zeiten über ihr Herz gehalten hat.


Vom März.

Ich nähere mich der heiligsten und ehrwürdigsten Handlung meines Lebens. [189] In kurzem werde ich mein Glaubensbekenntniß ablegen. O daß meine immer und immer gleich geliebte Mutter das nicht erlebt hat! Wie würde ihre fromme Seele zu der meinigen gesprochen haben! Sie würde mich sanft über die Leere, die ich mit Schrecken in meiner Seele erblicke, getröstet haben! So war es sonst nicht. Ach ich lohne die treue Sorgfalt meines rechtschafnen Vaters nicht wie ich sollte; das bekenne ich mir wehmüthig! Wie innig erhob sich sonst mein Herz, wenn ich in kindlicher Einfalt betete! Wie dankte ich Gott für jeden einfachen Genuß meines stillen harmlosen Lebens. Ach nein, nein, so ist es nicht mehr. In dem ewig umtreibenden Kreise abwechselnder Zeitvertreibe bleibt das Herz fürchterlich leer. Mein verengtes Herz ist ein Tummelplatz kleinlicher Leidenschaften [190] geworden. Es ist mir augenscheinlich gewiß, daß das Kartenspiel zur Verunedlung meines Herzens am stärksten mitgewirkt hat. Auch nicht die kleinste Kraft ist mir geblieben, mich zu meinem Schöpfer im Gebet zu erheben. Ich sinke gleich wieder kraftlos und erschlafft zu Boden, wenn ich auch auf einen Augenblick Muth gefaßt habe, den Versuch zu wagen. Dann habe ich mir wohl das Herplappern einiger Formulare, aus welchem unsre sogenannte häusliche Andacht besteht, als Gebete angerechnet. Wie kalt blieb das Herz! Aber es muß, es soll anders werden, und dazu wird die heilige Handlung mich stärken.


Am Charfreitags-Abend.

Noch schwimmt meine Seele in den erhabenen seligen Gefühlen, von welchen [191] ich, in dem wichtigen Augenblicke, da ich das heilige Abendmahl genoß, bis zur Erschöpfung überwältigt wurde. Der Himmel ging in meiner Seele auf! Gott! Gott! sollte ich je aus diesem seligen Zustande wieder in jene trostlose Lauigkeit zurücksinken können? Nein, stark und fest ist mein Entschluß, nur Gott und das Gute will ich lieben! Sähe mein lieber Vater in mein Herz, Freudenthränen würde er weinen! Wie entsetzlich leichtsinnig ist doch diese Mariane! Wie sie meine Rührung verspottete! Wie unheilig war ihre Neckerei über das, was sie Bigotterie nannte! O mein Gott, du Heiligster! sieh mich vor dir in den Staub geworfen, und nimm das Opfer meines Herzens gnädig an! Nie, nie soll es sich wieder den leichten lockenden Tönen meiner Gespielinnen öffnen. Nur [192] zu oft ließ es sich hinreißen! Dies Tagebuch, das ich schon manchmal auf meines Vaters dringende Bitte über mich hielt, soll mir das heilige Band seyn, daß mich an meinen jetzt gefaßten Vorsatz und Entschluß knüpft.


In diesem Tone der größten Exaltation, fuhr sie acht Tage lang fort. Die feierliche Handlung hatte auf ihre Imagination so lebhaft gewirkt, daß sie sich in ihrer Moralität, auf welche ihr würdiger Religionslehrer sie aufmerksam gemacht hatte, hinlänglich gegründet zu seyn dünkte. Sie hielt sich in allem Ernst über die sie umgebenden Thorheiten erhaben. Wie es aber den bloßen Empfindungschristen mehrentheils geht, das Köpfchen kühlte sich nach und [193] nach wieder ab, und es erfolgte in dem Tagebuche, welches ein heiliges Band zwischen ihr und ihrem Schöpfer seyn sollte, eine traurige Lücke. Und das mußte so seyn, wenn ich den Einfluß mit in Anschlag bringe, welchen der strafbare Leichtsinn ihrer Aufseher sowohl als ihrer Gespielinnen, auf das junge unerfahrne Mädchenherz natürlich haben mußte. Ich erfuhr nachher durch besondre Veranlassung, daß die philosophische Madame Brennfeld nebst ihrem philosophirenden Vetter, dem Kandidaten, Julchen zur Gesellschaft mit zum Abendmahl gegangen sei, weil das junge Ding so viel Muthlosigkeit gezeigt hatte. Vor- und nachher hatte der Herr Kandidat seine, vom Doktor Bahrdt geschöpfte, Weisheit ausgekramt, und der lieben Jugend insonderheit die Auferstehungslehre nach Bahrdtischen Grundsätzen erklärt, [194] bei welcher Gelegenheit Madame Brennfeld ihnen weidlich vom höchsten Moralprinzip und kategorischen Imperativ, wovon sie nicht das geringste verstand, vorperorirt hatte. Diese schönen, gemißbrauchten Ausdrücke erdachte wohl der edle Weise nicht, um sie atheistischen Weibern zur Losung dienen zu lassen.

Im August schrieb sie wieder an dem Buche:


Mein Vater (bemerken Sie, lieber Seelmann, sonst hatte sie mir immer zärtliche Beinamen gegeben; hier hieß es schon schlechtweg »mein Vater«) wird mich vielleicht in diesem Herbste besuchen. – Was ist das? Was ist denn in der Vorstellung, das mich erbeben macht? Freude ist dies nicht; denn was weiß Freude von Furcht? – Mein Vater wird kommen, und nach dem Zustande [195] meines Herzens forschen. Er sieht so scharf, beobachtet so genau, wird die unverhaltene Offenherzigkeit von mir fordern, die er sonst an mir zu loben pflegte; und diese verliert sich doch so leicht, wenn man sich nicht mehr täglich sicht. Zwar thue ich wohl nichts böses, aber der Vater fordert so viel, und in meinen Jahren kann man doch nicht so ernsthaft an Gott denken, und sich mit diesen erhabenen Gedanken beschäftigen, wie ein Mann in den seinigen. In meiner Lage ist es nicht möglich, sich an regelmäßige Andachtsübungen zu binden. Der Morgen ist so kurz, daß er kaum zu den Lektionen zureicht, und des Abends ist man zu schläfrig, oder von den mancherlei Gegenständen, die man um und neben sich hat, zu zerstreut, um sich zum ernsthaften Nachdenken zu sammeln, oder das [196] Herz zum Gebet erheben zu können. Als ich Madame Brennfeld neulich meine Bekümmernisse darüber mittheilte, beruhigte sie mich dadurch, daß sie mir aus einem Buche vorlas, das Gebet sei überflüssig, es gehe alles seinen einmal von Ewigkeit her bestimmten Gang, Gott verändere, unsrer Bitten wegen, nichts an seinen weisen Planen. Auffallend war's mir schon immer, daß mir ohne Gebet dasselbe Gute widerfährt, dessen ich genoß, als ich noch regelmäßig und andächtig betete. Doch genoß ich damals, ich kann's nicht läugnen, eine Ruhe, eine Zuversicht, ich war so gut, so menschenfreundlich, und ging mir's nicht ganz nach meinem Herzen, dann betete ich, und die Zuversicht, daß Gott mir helfen werde, machte mich immer recht froh in meinem Gemüth. Aber das ist nun freilich [197] leider! vorbei. Ich wollte doch, daß ich in meinem Leben den häßlichen Kandidaten nicht gesehn hätte! So oft ich mich zu träge zum Gebet fühlte, wiederholte ich mir was Madame las; doch wollte ich noch, zu meiner bessern Beruhigung, mich bei dem Vetter der Madame Raths erholen. Der lachte aber, der leichtsinnige Mensch, und sagte: ein hübsches Mädchen müsse sich den Kopf nicht mit dergleichen zerbrechen, das verderbe den Teint. Seitdem nannte er mich immer seine kleine Philosophin. Mein Vater empfahl mir die Freundschaft des Predigers Eiche. Ich gestehe, daß ich die Rechtschaffenheit dieses Mannes verehre; und ich würde allerdings mehr Zutrauen zu ihm gefaßt haben, hätte mich die liebe lose Mariane nicht mit ihm aufgezogen. Auch scheint mir sein Leben so streng, [198] und er ist so ängstlich gewissenhaft, daß ich armes, schwaches Mädchen in seinen Augen gar zu fehlerhaft erscheinen würde. Lieber Himmel, die Zeit der Jugend ist ohnedies flüchtig genug! sollte es denn so unrecht seyn, sie zu genießen? – –


Den 24sten.

Guter Gott! Was ich mir auch sagen mag, und so gern ich mich betäuben möchte, so fühle ich doch im Innersten, ich fühle es recht bitter, daß etwas in mir liegt, womit ich nicht werde bestehen können, wenn mein Vater mich zur Rechenschaft auffordert! Mein Vater! sage ich? – Ach! wenn's der nur wäre! aber eine Stimme, tief in meinem Innersten, ruft mir zu: »Du bist nicht, was Du seyn sollst! wiege Dich nicht in betäubenden Schlummer ein!« Was Madame [199] und ihr Vetter; der Geistliche, auch sagen mögen, es giebt so eine Stimme. Wer sie nur seyn mag? Gestern war ich seit langer Zeit zum erstenmal wieder mit der Cousine Falk in der deutschen Kirche. In der französischen, in die uns Madame Poulet zur Sprachübung hineintreibt, bin ich gar nicht andächtig; die Sprache kommt mir nicht so feierlich vor, die Gesänge erbauen mich nicht, und die geschwind gesagte Predigt verstehe ich nicht. Darüber habe ich mich beinahe schon gewöhnt, die Kirche als einen öffentlichen Ort zu betrachten, wo wir unsern Putz auslegen, um ihn sehen zu lassen. Wie wurde ich nun durch das schöne Lied von Gellert plötzlich getroffen: »Nach einer Prüfung kurzer Tage,« u.s.w., und dann Eichens Predigt, über die Rechenschaft, die wir von dem Gebrauch [200] unsrer Zeit werden ablegen müssen. Jeder Zug traf besonders mich, und es war mir, als wäre allein unter allen Zuhörern ich der ungerechte Haushalter. Meine Thränen flossen reichlich; denn ich versetzte mich zurück in die Tage meiner kindlichen Unbefangenheit, wenn Eiche in unsrer Lindenauischen Kirche so sanft und herzlich wie zu Brüdern und Schwestern sprach. Damals war ich eine treue fleißige Haushälterin, unter dem Schutz und Schirm meiner liebenden Eltern! – Ich verlor mich ganz in diesen Betrachtungen. Auf einmal wurde ich den Kornet Lindenfels gewahr; er hatte seine Augen starr auf mich geheftet, und flüsterte mir im Vorbeigehen zu: »Heilige Juliane, bitte für uns!« Ich kam aus meiner ernsthaften Fassung, es durchlief mich wie ein Feuer, meine Gedanken [201] lenkten sich auf so fremde und entgegengesetzte Gegenstände, daß ich nur noch dem Körper nach in der Kirche blieb, und das letzte Lied gedankenlos mitsang.

Nach der Predigt war Eiche bei der Cousine. Seine Güte beugte mich diesmal; ich wagte es kaum, ihn anzusehen. – Er kann Dir in der Seele lesen, – dacht' ich, und das peinigte mich so, daß ich mich nicht lange aufhielt, sondern unter einem Vorwande zu Hause ging. Da fand ich den leichtfertigen Kornet, der den ganzen Auftritt schon erzählt hatte. Madame Brennfeld lächelte, und sagte: »Ihrer Jugend kann man wohl den Irrwahn zu gute halten; ihr guter Kopf läßt mich hoffen, daß sie einst selbst denken, und etwas mehr als bloß empfinden wird. Ihr Kopf ist noch ganz unphilosophisch dunkel, und mit verworrnen [202] Prinzipien angefüllt.« Der Kornet hörte nicht drauf, und klimperte auf dem Klavier: »Vive le vin, vive l'amour,« etc. Nun ich wieder allein bin, fühle ich, daß ich nicht verdiente, ausgelacht zu werden. Die Leute haben aber so etwas Überredendes: Madame mit ihrer Gelehrsamkeit wohl eben nicht; aber Lindenfels mit seinen brennend schwarzen Augen, die einem immer ins Herz blitzen, so daß ich oft meine eignen und gewiß nicht schlechtern Einsichten verläugnen kann.


Späterhin bekam ich noch einige Briefe von Julchen, über ganz allgemeine Gegenstände, und in einem kalten, zurückhaltenden Tone abgefaßt. Dagegen empörte sich mein ganzes Vaterherz. Der Erwerb in der Wirthschaft [203] durfte mir nicht wichtiger, als die Wohlfahrt meines Kindes seyn, und ich flog nach Berlin, ehe die brennenden Augen des Kornets mein armes Julchen ganz verzehrten. Ich stieg bei Karolinen ab; sie nahm mich kindlich auf; ihr Mann war eben nicht zugegen. Nach der ersten Bewillkommung bat ich sie, mir jemanden zu geben, der mich zu meiner Tochter führte. Sie bestand darauf, ich solle Julchen nicht so plötzlich überraschen; sie könnte zu heftig erschrecken. – Erschrecken? Vor ihrem Vater? sagt' ich. Hat sie nicht Ursach sich zu freuen, so mag sie immerhin erschrecken! – Ich ließ nicht ab, bis Karoline mir ihren Bedienten mitgab. Nun ging's an ein Traben aus einer Straße in die andre; ich dachte, der Kerl hätte mich zum besten, wenn er aus einer meilenlangen Straße in eine noch längere einlenkte. Was um und neben mir vorbeirauschte, [204] hüpfte und stolperte, bemerkte ich nur flüchtig. Mein ganzer Sinn stand auf den Empfang gerichtet, den ich zu erwarten hatte. »Hier ist es,« sagte jetzt der Bediente, und zeigte auf eine schöne Treppe, die wir hinauf mußten. Mir schlug bangahnend das Herz. So rasch ich gelaufen war, so langsam und bedächtlich stieg ich die Stufen hinan, und befand mich endlich zwischen zwei Stubenthüren, vor denen ich, wie ein furchtsamer Schulknabe stand, unentschlossen, an welche ich klopfen sollte. Endlich wählte ich die, vor welcher es wie Bisam und Moschus roch. Auf mein leises, bescheidenes Klopfen erschien ein keckes, freches Hausmädchen; sie betrachtete mich von oben bis unten, und fragte trotzig: zu wem ich wolle? Als ich Mamsell Grünthal nannte, bekam ich zur Antwort: »Die ist nicht zu Hause!« und husch flog die Thür wieder [205] ins Schloß. Die kecke Berlinische Jungfer stand mir nicht weiter Rede; und ich hätte noch lange warten, oder unverrichteter Sache abziehen müssen, wäre nicht ein kleiner leichtfüßiger Hase, in einer bunten Jacke, vor mir vorbeigehuscht; er trallerte sich aus vollem Halse ein Stückchen, holte aus seiner Tasche einen Drücker, schloß auf, und schlüpfte in die Thür hinein, vor der ich, blöde wie ein Bettler, stand. Betroffen genug, rief ich ihm nach, mich einzulassen. »He! was sukt her ihr?« rief die Fratze zur Thür hinaus, ohne mich anzusehn. Dies war der Tanzmeister, der die Äffchen mit Grade kokettiren lehrte. Er war indeß so höflich, mich anzumelden, und so wurde ich doch wenigstens in das Vorzimmer eingelassen. Die Frau Prinzipalin sei nicht zu Hause; hätte ich aber etwas zu suchen, so könne ich mein Gewerbe bei der Sousgouvernante anbringen, [206] hieß es. Mit unsäglicher Mühe bedeutete ich der alten harthörigen Frau wer ich wäre, und was ich wollte? Sie verstand zehnmal unrecht, und schon riß das letzte Fädchen meiner Geduld. Endlich entschlüpfte ein kleines schlaues Ding dem Tanzmeister, und schrie der alten Frau aus Leibeskräften ins Ohr: ich sei der Monsieur Amtmann, Juliettes Papa, und wolle diese sprechen (solch' buntschäckiges, verstümmeltes Französisch ist in diesen Treibhäusern einheimisch). »Juliette?« – sagte die Alte betreten – »mais vous savez, qu'elle n'y est pas!« Wo ist sie denn? schrie ich, als stände ich auf dem Wollmarkt. »Sie is gegange sik promenir,« antwortete die Alte, auf deren grundehrlichem Gesicht ich die gesagte Unwahrheit sehr deutlich sah. – Das ist mir sehr unangenehm: ich werde sie also wohl erwarten müssen; – sagt' ich verdrüßlich. »O, da würden Sie [207] lange warten müssen!« versetzte die Kleine, die schon wieder vor dem Tanzmeister zappelte, »sie wird spät wiederkommen.« – Sie wissen also wo sie ist, Fräulein? – »Ich weiß es recht gut,« sagte das Ding vertraut; »sie haben mir aber verboten, es wiederzusagen.« – Meine Bestürzung stieg aufs höchste. Endlich drang ich es dem Kätzchen ab, daß Julchen von Marianen zu einen Pickenik abgeholt sei, Mariane sei jetzt bei ihrem Vater, und würde in der andern Woche den Herrn von K ... heirathen; der heutige Pickenik werde in dem **** schen Garten gehalten. Kann ich da wohl hingehn? – fragte ich das Kind. – »O freilich, es kann ja ein jeder hin; es ist ein öffentliches Haus.« – Schnell entschloß ich mich, hinzugehen, und meine leichtsinnige Tochter eine Zeitlang unbemerkt zu beobachten. »Da zeigt Sie jedes Kind hin!« sagte [208] die Kleine, die sich ein boshaftes Fest daraus zu machen schien, Julchen in Verlegenheit zu setzen. Ich ließ mich nach den **** schen Garten hinbringen, und folgte meinem Führer gewiß mit schwerem Herzen. Unter dem Gewühl der aus- und eingehenden Bedienten war es leicht, mich unbemerkt in den Garten zu schleichen, und mich, dem Tanzsaale gegenüber, in eine Laube zu setzen. Julchen, mein stilles, sanftes Julchen, hier, in einem öffentlichen Hause, verstrickt in wilde Tänze! – diese Vorstellung preßte mir Thränen ab. Wer ist die Gesellschaft, die da tanzt? fragte ich einen Marqueur. »Das weiß der Himmel,« – antwortete der Mensch, – »wie es mit den Pickenik's ist; alles bunt durch einander, Juden und Christen, wer bezahlen kann, und einen guten Rock auf dem Leibe hat!« Kennt Er aber gar keinen von dieser Gesellschaft? – »Ein [209] Paar junge Offiziere kenn' ich nur zu gut; sonst, glaub' ich, sind kaum sechs dabei, die einander kennen mögen.« – Jedes seiner Worte war mir ein Stich ins Herz. Wenn ich mir dagegen meine Tochter in ihrer ehemaligen liebenswürdigen Unschuld dachte! – unter diesem bunten Haufen! – Jetzt ging die Thür auf; ich verschlang den Anblick, so widrig er mir auch war. Es kamen Kerlchen zum Vorschein, Kerlchen, lieber Seelmann, die kaum noch das Leben zu haben schienen. Dieser fatale Saal sah viel eher einem geöffneten Krankenhause ähnlich, aus dem die armen Siechlinge herausschlichen, sich an Gottes Sonne zu wärmen, als einem Orte der Freude. Es gingen viele aus und ein, alte und junge Knaben, geschminkte und fahle Gesichter; aber meine Tochter kam immer noch nicht zum Vorschein. Schon glaubte ich, die kleine Pensionsschlange habe mir [210] etwas aufgebunden, als plötzlich die Musik aus einem englischen Tanz in einen wilden Walzer fiel. Nun flog Paar für Paar vor der offnen Thür vorbei; Fräulein Lindenfels mit einem kleinen schwarzbraunen Pigmäen, den ich sogleich für einen jungen Juden erkannte, dessen sittlicher Ruf eben nicht fein war; hinter ihr tummelte sich – ach Gott! es war – – es war wirklich meine Tochter! – Ein junger Kavallerieoffizier hatte sie fest umschlungen, und schwenkte sie in kleinen schnellen Kreisen herum. Eins verschlang des andern Blicke: Auge an Auge, Mund an Mund; der junge Lecker mußte die Glut ihrer brennenden Wange fühlen. Ich sprang bei dem Anblick, wie von einer Schlange berührt, auf, wollte sie dem Milchbart aus den Armen reißen, und was weiß ich, was ich in der ersten Bestürzung alles wollte. Indeß ich noch unschlüssig da stand, [211] war der Tanz zu Ende, und nun kam Paar für Paar herausgeschlendert, und vertheilte sich in die Gänge. Meine Tochter kam mit ihrem Tänzer zuletzt. Ich trat in meine Laube zurück, die schmerzliche Beobachtung fortzusetzen, und meine Hitze sich abkühlen zu lassen. Nachdem sie die Allee einigemal auf- und abgegangen waren, führte der Offizier Julchen in die Laube dicht neben mir. »Aber sagen Sie mir, englisches Mädchen,« (so redete er sie an, indem er ihre Hand lange an seine Lippen drückte, welches sie nicht hinderte) »warum antworten Sie auf meine Briefe nicht? Ich hoffe, der schurkische Magot wird sie doch richtig bestellt haben?« – Julchen schwieg, machte ein läppisch Gesicht, und sah schweigend auf ihren Fächer. – »O so sprechen Sie doch ein Wort! Wenn werden Sie doch endlich diese entstellende Blödigkeit ablegen?« – Gottlob, [212] Gottlob! mir wälzte sich ein Stein vom Herzen, daß sie noch blöde war. Gottlob, Gottlob! rief ich beinahe unwillkührlich. – »Herr von Lindenfels,« stammelte sie endlich, »ich schreibe nie an eine Mannsperson. Ihre Briefe habe ich bekommen; ich würde sie aber nicht angenommen haben, hätte Magot sie mir nicht in Beiseyn von Madame gegeben. Sie würde sie gesehn haben, wenn irgend ein Wortwechsel dabei vorgefallen wäre.« – »Und was wäre das für ein Unglück gewesen?« fragte Marianens Bruder, – denn der war er – »Glauben Sie's mir, meine Beste, ich wäre reich, hätte ich so viel hundert Dukaten, als süße Briefchen von Friseurs und Tanzmeistern in Pensionen praktisirt werden! Ich stehe dafür, daß ihre weise Duenna wohl selbst zuweilen ein Auge zudrückt, wenn nur die Zufuhr nicht ausbleibt.« – »Fi donc, wer wird so arg [213] sprechen!« sagte Mamsell Grünthal, albern geziert, und begleitete diese Worte mit einem Fächerschlage. Der Bube verstand die Aufforderung, die das unerfahrne Mädchen, ohne es vielleicht zu wollen, in diese Bewegung legte; er wurde dreister und zudringlich. – Nun ist es Zeit, dacht' ich, stieß, was mir im Wege stand, um, riß mich durch das Laub, das sie von mir trennte, und stand, ohne noch zu wissen was ich sagen oder beginnen würde, vor Julchen. Dem jungen Herrn war diese Unterbrechung sehr ungelegen, er sprang auf, und suchte mich zurückzudrängen; ich aber war angewurzelt, wie eine Eiche. »Es ist mein Vater!« – schrie meine Tochter, die starr und betäubt sitzen blieb, dann aber doch in meine unwillkührlich geöffneten Arme stürzte. Ich weinte und schluchzte wie ein Kind, nicht achtend, wie das Bürschchen sich so breit machte. – [214] »Unglückliches Kind! verdienst Du's, daß ich Dich mit dieser Inbrunst an mein Herz drücke?« – Julchen antwortete mit keiner Sylbe, und hielt sich beide Hände vor die Augen. – »Gott hat gewollt, daß Dein Vater in diesem Augenblicke zu Deiner Rettung herbeieilte!« – Das Mädchen war immer noch einer Ohnmacht nahe. Indeß hatte der Herr Kornet sich aus dem Staube gemacht, wahrscheinlich um der Gesellschaft von dieser Wundererscheinung Nachricht zu geben. Während der Zeit war ich wieder in so fern zur Besonnenheit ge kommen, daß ich überlegte: jedes Aufsehn würde dem guten Namen meiner Tochter nachtheilig seyn; ich tröstete sie also mit Liebkosungen, bis sie sich erholte. Aber mir in die Augen zu sehen, wagte sie nicht. Nun kam nach und nach die übrige Gesellschaft herbei. Mariane überhäufte mich mit Vorwürfen, wobei[215] sie mich ganz vertraulich Du nannte. »Bist Du toll, Alter? Deine Tochter so auf den Tod zu erschrecken! Glaube mir, Deine Galanterie schmeckt nach der Amtsstube! Armes, armes Julchen! Und der Louis ist vor Schreck wohl gar davon geflogen?« – So ging's in einem Athem fort, indeß Julchens vermeinte Ohnmacht wohl funfzig Riechfläschchen in Bewegung gebracht hatte. Sie stand wie im Platzregen; die jungen Herren wollten durchaus das Verdienst ihrer Herstellung haben. Ich stellte mich dabei ganz munter und lustig, machte so tiefe Bücklinge und Kratzfüße, entschuldigte mein unverhofftes Eindringen wider meine eigene Erwartung so manierlich und kaltblütig, daß die Gesellschaft, nachdem einige junge Herren, die vielleicht die Unternehmer des Pickenik's seyn mochten, die Köpfe zusammengesteckt hatten, endlich ganz herablassend beschloß, [216] (wahrscheinlich meiner schönen Tochter zu Liebe) mich an dem Feste Theil nehmen zu lassen. Ich nahm das Anerbieten an, sowohl aus Schonung für meine Tochter, als auch, um einen Begriff von dem Tone der Gesellschaft zu bekommen, der mich dann schnell zu der Überzeugung führte, daß der ein Narr ist, der diesen sogenannten Lustbarkeiten eine der ächten Freuden des Lebens, oder auch nur seine häusliche Bequemlichkeit aufopfert. Es wurde auch kein gescheutes Wort, kein einziger, auch nur einigermaßen witziger Einfall vorgebracht; gar nichts, das des Belachens werth gewesen wäre. Wer einen sogenannten Scherz, der nur Persiflage war, vorbrachte, mußte seinen Einfall auch zuerst belachen; dann erst stimmten wohl einige aus Höflichkeit, wenn der Witzling eine betitelte Person war, mit ein. Bei den Zweideutigkeiten, deren gar [217] viele mit unter liefen, waren es allemal die Damen, die durch helles Gelächter ihrem Scharfsinne, auf Kosten ihrer Schamhaftigkeit, ein Kompliment machten. – Sie erinnern sich der Zeiten, lieber Pastor, da die jungen Männer durch Schön- und Süßseyn, durch verunglücktes Kopiren des Werther, und anderer, minder treflichen Romane dieser Periode, bei vernünftigen Frauenzimmern Ekel erregten. Seit der Zeit ist das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, die Ritterromane und Schauspiele haben Ton und Manier so derb, so zufahrend und zurückschrekkend gemacht, daß ich die Mädchen bedauren würde, wenn auch sie sich nicht der zarten Weiblichkeit entschlagen hätten, und etwas affektirten, das Deutschheit seyn soll; wie denn leider! so viel Mißgriffe in dieser Hinsicht gemacht werden, und Rohheit oft für Deutschheit gelten muß. Daß dieser [218] dem Zeitalter gar nicht harmonische Ton noch gehört wird, der schon lange zu unsern Sitten nicht mehr stimmt, veranlassen die Dichter, welche die eisernen Männer der vergangenen Jahrhunderte durch ihre Dichtung so verschönert und oft zwitterartig darstellen, welche die Gediegenheit der vorigen Zeit, mit der Kultur und Urbanität der jetzigen gepaart, in ein liebenswürdiges Gemälde bringen, das denn freilich Nachbildner reizt. Ein Berlichingen, ein Wittelsbach erhebt die Schwingen ihrer Phantasie; ein Richelieu, ein Orleans schmeichelt ihrer Sinnlichkeit. Und welchem Vorbilde folgen sie? Beiden; jenem in der Derbheit, diesem in der Sinnlichkeit. Wie steht es da aber um die Weiber, die solchen Männern gefallen wollen? Lieber Seelmann, ich meine den großen Haufen; denn vielleicht giebt es an keinem Orte in der Welt so viel ehrenvolle Ausnahmen, [219] als in Berlin. Aber für jemanden, der sein Kind diesem wogenden Meere anvertrauen soll, ist's denn doch über alles schwer, den Klippen oder Untiefen auszuweichen.

Nach Verlauf einer Stunde hatte ich das alles satt und übersatt. Mariane, als sie sah daß ich mich mit Julchen entfernen wollte, nahm mich schmeichelnd bei Seite, und strich mir die Backen. »Liebes Väterchen, Du sagst doch der Frau Sirach (sie meinte die Erzieherin) nicht, daß Julchen hier mit mir gewesen ist?« – fragte sie sehr naïv. Tröstend war mir's, zu hören, daß Madame Brennfeld an diesem Unfuge unschuldig, und von den Mädchen hintergangen war. Mariane hatte vorgegeben, sie führe mit Julchen nach einem nahgelegenen Lustschlosse; das war in so fern unschuldig, obgleich Marianens Führung nie unschuldig seyn konnte.

[220] Jetzt nahm ich mein Töchterchen unter'm Arm, und schlich unbemerkt mit ihr aus dem Garten. Draußen stand ein Wagen; ich stieg mit ihr hinein, und hieß dem Kutscher, zu Falk's hinzufahren. Wir saßen einander gegenüber, und sprachen kein Wort. Mir schwebten Vorwürfe auf den Lippen, aber sie jagte sie durch Thränenströme immer wieder in mich zurück. Ihre Seelenangst, womit sie offenbar kämpfte, war mir unerträglich; ich sah bald zu dem einen, bald zu dem andern Kutschenschlage hinaus, und war bemüht, mich gegen ihre Thränen zu verhärten. »Liebster Vater,« schluchzte sie endlich hervor, und griff nach meiner Hand. Ich machte ein strenges Gesicht, und verweigerte sie ihr; sie zog die ihrige zitternd zurück, wurde blässer, und es war wieder still. – »Liebster« – begann sie noch einmal, beide Hände ringend. Was willst Du, Juliane? [221] sagte ich mit fester, ernster Stimme. »Können Sie mir verzeihen, mein Vater? Können Sie mich noch lieb haben?« – Wenn Du selbst Dir List und unwürdiges Beneh men verzeihen, wenn Du es vergessen kannst, daß Du mich und Deine Aufseherinnen hintergehst, so will ich's zu vergessen suchen, daß Du der Liebling meines Herzens gewesen bist. – Während dieses, meinem Herzen so schmerzlichen Dialogs waren wir vor Karolinens Wohnung angekommen. – Julchen weinte laut und trostlos; ich sprach ihr einigen Muth ein, denn sie jammerte mich innigst, und beschloß, den Vorgang niemanden merken zu lassen. Karoline bewillkommte uns, wie ich's an ihr gewohnt war, mit unendlicher Gutmüthigkeit; als sie Julchen aber so gebeugt und niedergeschlagen sah, erwähnte sie, zu des Mädchens großer Pein, daß sie mir's wohl abgerathen habe, [222] Julchen nicht zu überraschen. Die große Freude habe auch ihre Schrecken; denn sie glaubte nicht anders, als meine Tochter sei vor Freude und Überraschung so bewegt. – Falk, Karolinens Mann, gefiel mir nur halb; er schien mir auch ein schwankendes, karakterloses Wesen zu seyn. Karoline liebte ihn zärtlich, und ich hätte es keinem gerathen, gegen ihren Karl etwas einzuwenden. Nun wurde Eiche eingeladen, und so blieb Julchens Niedergeschlagenheit unter dem lauten Jubel des Wiedersehens ziemlich unbemerkt.

Gegen zehn Uhr brachte ich meine Tochter nach Hause. Das schon erwähnte schnippische Hausmädchen kam uns entgegen, und entschuldigte Madame Brennfeld damit, daß sie schon schliefe; flüsterte aber Julchen laut genug zu, daß ich's hören konnte: »der Vetter ist drinn, und lieset noch.« Ich legte [223] meiner Tochter, zur guten Nacht, noch Verschiednes an's Herz. Thränen waren ihre einzige Antwort, als ob sie jede andere Sprache verlernt hätte. Nun ging ich in mein Nachtquartier, zu Falk's, zurück. Daß die Eindrücke des vergangenen Tages jede Anwandlung von Schlaf fern von mir hielten, wird man, ohne mein Erwähnen, leicht glauben.

Ein nicht aufzuschiebendes Geschäft fordert meine Gegenwart, ich behalte mir daher die Fortsetzung auf gelegnere Zeit vor.


Sie erfolgte diesmal in mündlicher Unterredung in Seelmanns Pfarrhause. »Der Herr Amtmann blieben da, wo Sie Ihre Tochter von dem Pickenik holten,« fing die Frau Seelmann das Gespräch an. – Ganz[224] recht, antwortete Grünthal, ich blieb bei dem – – Pickenik. Hier entfuhr ihm ein unartiger Fluch, den die Frau des Pastors mit einem eben so nachdrücklichen »Gott behüte uns!« erwiederte. – Ich habe Ihnen gesagt, daß ich die Nacht über in Falk's Hause kein Auge zuthat. Morgens war ich der Erste im Hause, weckte Karolinen, entdeckte ihr beim Frühstück alles, was mir auf dem Herzen lag, und verschwieg ihr auch Eichens Absichten auf Julchen nicht. Die ehrliche Seele weinte mit mir, vertheidigte doch aber Julchen aus allen Kräften. »Der Grund ist noch gut,« sagte sie; »was Sie beunruhigt, sind üppige Auswüchse, durch die Unart ihrer Mitschülerinnen hervorgebracht. Dies ist allenthalben der Fall, wo in dergleichen Anstalten viele junge lebhafte Menschen in enger Verbindung leben.« Freilich, freilich sitzt da der Knoten; aber was ist zu [225] thun? Wie helfen wir dem Übel ab? –Falk meinte, das Beste sei: der sorglosen Erzieherin den Kopf tüchtig zu waschen, und Julchen in eine andere Pension zu bringen. Nein, sagte Karoline, Julchens guter Name würde darunter leiden, wenn sie so plötzlich wegkäme. Und was würde dabei gewonnen werden? Die Mängel, welche der Onkel mit so vielem Rechte zu Herzen nimmt, sind nicht der Brennfeldischen Anstalt allein eigen, sie liegen in der Sache selbst. Mir ist kein Beispiel bekannt, daß ein Frauenzimmer ein solches Institut aus Gefühl ihres innern Berufs zum Erziehungsgeschäft errichtet hätte; es ist bei ihnen nur Erwerbssache. Zwar giebt es hier Anstalten, wo beide Absichten so glücklich verbunden sind, daß man versucht wird, Liebe zur Sache für die Haupttriebfeder zu halten; diese sind aber leider! mehr für das erste Geschlecht, als für das [226] unsre errichtet. Und Frauenzimmer, welche den ehrwürdigen Namen Erzieherin oder Institutrize ganz unrechtmäßig usurpiren, unternehmen es, der Jugend etwas geben zu wollen, was ihnen selbst fehlt: Bildung und Erziehung. Die fehlenden Talente hoffen sie durch einen Schwarm von Lehrmeistern zu ersetzen; unter diesen wählen sie alsdann die wohlfeilsten, wobei denn natürlich die Wahl, in Absicht des moralischen Werthes dieser Menschen, nicht sehr strenge seyn kann. Meine Schwester wurde nach unsrer Eltern Absterben von dem Vormund in eine Pension gethan, wo die Frau Prinzipalin an dem ganzen Erziehungsgeschäft keinen andern Antheil nahm, als daß sie der Jugend einigen Unterricht im Putzmachen gab, wobei sie den armen jungen Mädchen, wenn es ihnen nicht gerieth, manche Ohrfeige zutheilte. Überhaupt stehen die [227] meisten ihrem Berufe mit dem größten Widerwillen vor; er ist nur traurige Nothwendigkeit. Wehe der Jugend, wenn die Erzieherin eine Kinderfeindin ist, und mit Ekel ans Werk geht. Bei der immer zunehmenden Menge der Erziehungsanstalten kann es einige geben, die weniger von den allgemeinen Mängeln haben; es können, auf den Rath einsichtsvoller Männer, bessere Lehrer gewählt worden seyn; die Erzieherin selbst kann ein würdiges Subjekt seyn: aber wie so selten verstehen Gelehrte den wahren Werth eines Weibes zu würdigen! Wie so oft gilt ihnen Geschwätz für innern Gehalt; Worte für That; ein wenig Manier für Wesen; Lektüre für Selbstdenken! Ach, und diesen Irrthum müssen Tausende büßen, die einer, durch ihre Außenseite gefallenden, Frau in die Hände fallen! Wenn die Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft es auch nothwendig [228] macht, daß die Söhne außer dem elterlichen Hause die Quellen der Kenntnisse aufsuchen und benutzen müssen, so sollten doch die zärteren Blumen nicht so früh vom mütterlichen Boden hinweg in fremde, kalte Erde verpflanzt werden. Wie viel Liebe und Wohlthaten fordert ihre Pflege? und wer kann Liebe verkaufen, oder mit Gelde bezahlen? – Was soll ich aber mit Julchen anfangen? fragt' ich Karolinen, die von dem Eifer, womit sie perorirt hatte, recht roth geworden war; denn vieles und langes Reden lag nicht in ihrer sanften, stillen Natur. – »Stimmt mein lieber Mann hierin mit mir überein,« sagte sie, ihrem Karl zärtlich die Hand drückend, »so wohnt Julchen bei mir, bis sie heirathet. Indeß übt sie sich in der Stadtwirthschaft, und kann in Ruhe und Stille ihre Lehrstunden abwarten. Wir wollen ein Herz und eine Seele seyn, wenn Sie [229] mir nur das liebe Mädchen anvertrauen, lieber Onkel.« – »Den Augenblick sollen Sie sie haben, Nichte! Ob ich Sie Ihnen anvertraue? Ei, mit Leib und Seele soll sie Ihnen gehören!« rief ich, so freudig, daß die Stube wiederhallte; denn ich sah's Falk an den Augen an, daß er den Vorschlag genehmigte. »Liebes Onkelchen,« fiel mir die altkluge Karoline in's Wort, »nicht so rasch! Julchen muß ihr volles Jahr dort bleiben; ihr guter Name muß sich jetzt, da sie im Begriff ist in die Welt zu treten, zu dem bilden, was er bleiben soll.«

In meinem Kopfe ging's jetzt herum, ob ich nicht besser thäte, Julchen ohne alle Umstände nach Lindenau zu nehmen? aber, ach Gott! wie hätte es da um den lieben Hausfrieden gestanden! Meine Frau zitterte vor Ärger, wenn sie nur das Wort Stieftochter hörte. Julchen, glaubte sie, hätte von der [230] Stadt gewiß schon so viel weg, daß sie eine Staatsdame geworden wäre, und in unsern Haushalt sich nicht schicken würde. Überdem war meine Frau ihrer Niederkunft nahe, und da machte ich mir ein Gewissen, ihr in irgend einer Sache entgegen zu seyn. In der Lage mußte ich mir allerdings den Vorschlag, als den besten, gefallen lassen.

Als nun alles dahin Gehörige fein ordentlich verabredet war, eilte ich zu Eichen, ihm diesen Plan mitzutheilen. Er nahm ihn mit aller Freude eines vernünftigen Mannes auf, der nun der Erfüllung seines Wunsches entgegensieht. Um Julchens Vermögensumstände hatte er mich nie gefragt, obobgleich die seinigen nicht die besten waren, und sein Einkommen größtentheils von den guten Gesinnungen seiner Gemeine abhing. Wir rechneten auf die Genügsamkeit meiner Tochter und Karolinens guten Rath. Mit [231] Verabredungen der Art hatten wir eine gute Stunde hingebracht, und ich mich in eine Zukunft versetzt, bei der ich mir Pickenik und alles übrige Herzweh aus dem Sinne schlug. Dann umarmte ich meinen künftigen Schwiegersohn, und eilte mit erheitertem Gemüth zu Julchen.

Ich ging da ohne alle Umstände in die Lektionsstube. Der Herr Kandidat, der die jungen Damen mit sehr vieler Artigkeit Christenthum, Geschichte, Naturhistorie, Erdbeschreibung, Logik, Deutsch, Anfangsgründe der Geometrie, Briefstyl, und beiher auch etwas Englisch lehrte, war so eben dabei, den Kindern den eigentlichen Sitz der Denkkraft zu beschreiben. Er hatte, wie's aus den griechischen und lateinischen Benennungen klar war, chirurgische und medizinische Kollegia gehört, und wurde, da meine Gegenwart ihn nun noch aufmunterte, so entsetzlich[232] gelehrt, nannte jede Puls- und jede Schlagader bei ihrem anatomischen Namen, daß die Mädchen ein Schauer überfiel, und sie ihn baten, für diesmal lieber ihre Briefe durchzusehn. Julchen hatte zum Briefthema bekommen: »Danksagung an eine Fürstin, die der Briefschreiberin ein Geschenk gemacht hatte.« Die Briefe waren steif und geziert; dennoch fand sie der Herr Kandidat, bis auf die Fehler gegen die Rechtschreibung, vortrefflich. Mir wurde siedend heiß, als er Julchens Brief zur Durchsicht nahm; denn sie schrieb wahrlich! in ihrem zwölften Jahre besser, als er je geschrieben hatte. Er fand ihren netten natürlichen Brief trivial, aber doch nicht ganz schlecht. Nun gab er den kleinen Mädchen auf, wobei achtjährige waren, einen Aufsatz über den Stolz auszuarbeiten. Lieber Seelmann, kleinen Kindern, über den[233] Stolz! Denken Sie doch, welchen Nutzen diese sinnleeren Übungen für Kinder haben konnten! – –

Nach diesem erschien der Klaviermeister, ein kleines luftiges Männchen, in schöngewesenen Kleidern und schmutziger Wäsche. Er warf sich nachlässig neben Julchen auf einen Stuhl vor dem Klaviere, ließ sie eine Weile ein schweres Bachisches Konzert hacken, wobei dem armen Mädchen die Schweißtropfen von der Stirn flossen, tändelte indeß mit Julchens herabhängenden Locken, oder spielte mit dem kleinen Hunde, und sang passagenweise aus voller Kehle mit. Durch das schwere Allegretto mußte Julchen sich allein, ohne seine Hülfe, durchklappern; denn der Musikmeister hatte sich indeß in ein weitläuftiges Gespräch mit einem der jungen Mädchen über das gestrige Konzert eingelassen. Julchens stümperhaftes Spielen tönte [234] ihm wahrscheinlich zu unangenehm in sein musikalisches Gehör; er ließ abbrechen, und akkompagnirte dafür eine sehr schwere Bravourarie, bei deren Gesang Julchen eigentlich nur zeigte was sienicht vermochte, und bei der ich zehnmal dachte: schade um ihre schönen natürlichen Anlagen, um die Herzlichkeit die sie, schon als erste Anfängerin, in kleine Lieder von Reichard zu legen wußte. – Zu meinem Trost war diese Stunde gewiß keine 60 Minuten lang. Ich hatte sie bewundernswürdig schnell überstanden; allein das heißt nun Unterricht in der Musik, den wir armen Eltern so theuer bezahlen! – Mit der Zeichenstunde hatte es, wie ich nachher erfuhr, eben dieselbe Bewandtniß. Den Mädchen, welche der junge Zeichner besonders wohl wollte (das waren denn immer die hübschesten), mahlte er die Zeichnungen aus, und die kleinen Lügnerinnen [235] schickten sie dann den erstaunten Eltern als eigene Arbeit zum Neujahrsgeschenk. So steht es im Grunde mit allem Unterricht in solchen Schulen; und dafür geben und entbehren alte unbemittelte Eltern alles, was sie nur aufbringen können, damit ihre Töchter etwas rechtes lernen sollen!

Seelmann lächelte, und sagte, indem er seine Frau schalkhaft ansah: »Nehmen Sie sich in Acht, lieber Grünthal, meine Frau ist zwar nicht in Berlin, aber doch in einer Stadtpension erzogen.« – »Ja, Herr Amtmann, das bin ich!« fiel die Frau Pastorin ihrem Herrn ins Wort, – indem sie ihr artiges Köpfchen trotzig in die Höhe warf, – »und ich denke, mein Mann hat noch nicht Ursache gehabt, auf die Pensionen zu schmähen. Nicht wahr, Männchen?« – Seelmann war ein höflicher Mann, er wich der Antwort aus; auch ließ ihm Grünthal nicht [236] Zeit, denn er antworte hastig: »Kann seyn, kann seyn, daß nicht alle gleich in die Augen fallende Ursachen haben, so wie ich, die Pensionen zur Hölle zu wünschen. Aber die Hand aufs Herz, Frauchen, wie viel haben Sie noch von den Pensionskünsten behalten? und welche finden Sie auf Ihre häusliche Verfassung als Frau und Mutter anwendbar? Macht es Ihren Mann oder Sie glücklicher, daß Sie vordem einmal kleine Strichelchen mit Bleifeder aufs Papier krizzelten? Den ächten Kunstsinn nehme ich allemal ehrfurchtsvoll aus; und dieser wird auch wahrlich! durch alle Schwierigkeiten späterer und häuslicher Verhältnisse sich Bahn brechen: allein diese kleinen Talente, die nicht von den Fingerspitzen zu Kopf und Herzen dringen, und, bei erster Veranlassung, gegen hundert andre kleine weibliche Eitelkeiten vertauscht werden, achte ich für [237] wahren Zeitverlust.« – »Ei, Herr Grünthal,« sagte die Pastorin innerlich aufgebracht, »es scheint, als ob Sie Küche und Kinderstube für die angebohrne Sphäre meines Geschlechts hielten!« – Vielleicht hätte ich darin nicht so ganz unrecht, antwortete der Amtmann in eben dem Tone; aber Sie müssen es ja schon aus der Erziehung, die ich meiner Tochter zu geben suchte, gesehen haben, daß ich ihre Tugend und das Gefühl ihrer Pflichten nicht auf Unwissenheit gründen wollte. Ich erkenne dankbar die Mühe, die Ihr, von mir gewiß innigst verehrtes Geschlecht sich giebt, uns durch sittliche Ausbildung und Veredlung die Tage der irdischen Wohlfahrt mit Rosen zu bekränzen; ich verstehe den Werth der Tugend, deren Basis vernünftige Erkenntniß des Schönen und Guten ist, und fühle tief den Unterschied zwischen einer gebildeten Frau [238] und einer gelehrten Pedantin, die ich für das gelbe Fieber weiblicher und männlicher Gesellschaft halte. In eben dem Maße ekelt mich vor Roheit und grober Unwissenheit, der Mutter so manches Lasters, und des dümmsten Aberglaubens, wo weder gesunde Vernunft die Gefühle des Herzens veredelt, noch sie auf die edlern Gegenstände des Lebens hinlenkt. Diese Ausbildung wird aber nie die Frucht einer Pensionsschule seyn; und, aufrichtig gesagt, ich halte dafür, daß, je mehr dergleichen Anstalten ausposaunt werden, je mehr Vorwand giebt dies eitlen oder trägen Müttern, sich der Erziehung ihrer Kinder zu entledigen, um sie mit schweren Kosten einer Fremden aufzutragen, die es wenig oder gar nicht interessirt, ob die Kinder einschlagen, oder nicht; wenn nur übrigens, so lange sie unter ihrer Aufsicht sind, nichts Lautbares vorfällt, das ihrer [239] schönen lebendigen Nahrung schaden könnte. Unglücklicher Weise giebt es Fälle, in welchen die Pension das kleinere Übel ist, und wo eine wohlmeinende Erzieherin weniger Schaden stiftet, als eine schlechte Mutter, die ihren Kindern ein böses Beispiel giebt. Auch für Waisen ist die Pension oft der geringere Nachtheil. Diese einzelnen Fälle wiegen aber den Schaden bei weitem nicht auf, den die Pensionsanstalten im Ganzen stiften. Wenn Sie mir erlauben, meine Erzählung fortzuführen, werden Sie Ursache finden, die Bitterkeit zu entschuldigen, die vielleicht wider Willen mit einfließt.

Ich wohnte, wie ich schon erwähnt habe, einigen Lehrstunden bei. Es fiel mir besonders auf, daß keine von den Gouvernantinnen, deren doch drei waren, wenigstens der Form wegen zugegen war. Es ist wahr, von Zeit zu Zeit ging die alte taube Französin, [240] die den Kleinern das Buchstabiren beibrachte, durch das Zimmer; das trug aber mehr zur Störung als zur Ordnung bei. Bei dem Klaviermeister insonderheit schien ein wenig mehr Aufsicht nöthig zu seyn; er schielte mehr auf das Gesicht seiner Schülerinnen, als auf ihre Finger. Julchen gestand, daß er zuweilen so freche Histörchen vorbringe, daß sie die Stunden abbrechen müsse.

Die drei Gouvernantinnen hatten die Geschäfte auf folgende Art unter sich vertheilt: Madame Brennfeld, – als Prinzipalin, – hatte Einnahme und Ausgabe, theilte den Unterricht und die Lehrstunden nach ihrer Bequemlichkeit ein, spürte allenthalben nach den wohlfeilsten Lehrern umher, denen sie monatlich für alle Schülerinnen nur so viel bezahlte, als etwa zwei oder drei derselben dazu beitragen mußten. Sie besorgte ferner [241] die Berechnung mit den Eltern der Zöglinge, sammelte die Geschenke ein, und theilte, was ihr davon nicht anstand, ihren Mitarbeiterinnen zu. Sie selbst gab den Zöglingen einige Stunden in den kleinen Gesellschaftsunterhaltungen, welche sie Lebensphilosophie zu nennen beliebte. Ob sie die Kunst, Whist und l'Hombre zu spielen, mit dahin rechnete, weiß ich nicht gewiß. Auch ließ sie die größern Mädchen zuweilen aus französischen Büchern übersetzen, wozu sie mit einer besonderen ihr eigenen Gabe stets die unzweckmäßigsten wählte. Endlich, wenn sie nicht nothwendig mit dem Vetter Kandidat zu lesen und zu disputiren hatte, übernahm sie auch wohl die Mühe, Morgens und Abends mit den jungen Damen zu beten. Da sie aber von dieser geistlichen Übung nicht viel hielt, so ersparte sie sich die Ennuy dabei, und überließ sie gewöhnlich der dritten Aufseherin, [242] die ich bald werde auftreten lassen. Wohnte sie zuweilen, Anstandes wegen, diesen sogenannten Morgen- und Abendandachten bei, so musterte sie indeß die Kleidungen und Haltung der Schülerinnen, legte dieser die Locken anders, kämmte jener das Haar mehr in die Stirn; hier war der einen der Unterleib hereinzudrücken, dort einer andern die Schultern zurückzuziehen. Zur Erhaltung guter Andacht und Ordnung wurde unter den kleinern hier und da eine Ohrfeige oder ein Stoß in den Rücken, und eine grosse bête unter die bürgerlichen größern Mädchen ausgetheilt; denn die Adlichen hatten auch hier ihr Privilegium, ungeahndet arrogant zu seyn, nicht umsonst.

Die erste Untergouvernante war eine geborne Pariserin, stocktaub, und sprach nur einige Worte gebrochnes Deutsch. Ihr Amt war, die Kleinen französisch buchstabiren und [243] lesen zu lehren; sie zog sie aus und an, war, ihrer schadhaften Füße und ihrer unscheinbaren Kleidung wegen, der beständige Haushüter wenn alles ausflog, und die arme Lastträgerin, auf welche alles geworfen wurde, wenn es etwas zu verantworten gab.

Die dritte Figur war nur eine Art von Kammerjungfer, spielte aber doch bei der Bildung der Jugend eine wichtige Rolle: sie lehrte sie Putzmachen, oder vielmehr die Kunst, sich zu putzen. Überdies mußte sie, geschickt oder ungeschickt dazu, die Arbeiten übernehmen, die Madame Brennfeld nicht anrühren mochte. Sie war geschmeidig, wie dergleichen Personen, welche sich durch die Vertraulichkeit Vornehmerer ernähren, immer zu seyn pflegen. Sie ließ sich von den jungen Damen zu allerlei Dienstleistungen gebrauchen, sagte ihnen Schmeicheleien vor, und versicherte, dieser oder jener vornehme [244] Herr habe sich fast die Augen nach ihnen ausgesehen, u.s.w.

Noch hundert Kleinigkeiten der Art könnte ich Ihnen zu Rechtfertigung meiner Abneigung erzählen, besorgte ich nicht, Ihnen durch diese Weitläuftigkeit Langeweile zu machen. Also zu meinem Geschäft bei Madame Brennfeld. Ich sagte ihr, daß ich gesonnen wäre, nach einem halben Jahre meine Tochter nach Hause zu nehmen; auch bat ich, sie nicht zuviel ausgehn zu lassen, weil ich darin meine eignen Grillen hätte. Übrigens würde ich für die Mühe, die sie sich mit der Bildung meiner Tochter gegeben hätte, ewig dankbar seyn. Ihr Gesicht hatte sich zu Anfang meiner Anrede in hundert grämliche Falten gezogen, und ich war auf eine vulkanische Eruption gefaßt; aber bei dem Worte dankbar seyn ging mir plötzlich das helle Sonnenlicht [245] ihrer zwei fahlbraunen kleinen Augen auf. »Meine Tochter,« sagte sie, »wäre ein bezauberndes Mädchen; – in kurzem würde sie die Krone ihrer Eleven geworden seyn; – es sei ihr leid, sehr leid; – und wieder nicht leid, wenn sie bedächte« – – und was der Alltagssprüche mehr waren.

Nach diesem ging ich mit Julchen in ein besonderes Zimmer, und kündigte ihr meine Absicht mit ihr an, doch ohne ein Wort von Eichen zu sagen. Sie wurde blaß und zitterte, daß sie sich nicht aufrecht halten konnte; dann sagte sie mit gedämpfter Stimme etwas von Gehorsam und Folgsamkeit her, wobei ihr die heißesten Thränen über die Wangen liefen. – Was ist das? Mädchen! (fragt' ich) weißt Du noch, wie Du mich batest, Dich recht bald von diesem häßlichen, zwangvollen Orte wegzunehmen? O, Du bist ein verwahrlosetes Geschöpf! – [246] Geh', ich liebe Dich nicht mehr! – »Mein Vater, erbarmen Sie sich! Um Gotteswillen, nicht diese Härte! (sie streckte weinend ihre Hände nach mir hin) Ich will thun, was Sie mir befehlen; aber ich muß Zeit haben, mich zu fassen! Mein Herz ist ein so wunderliches, weiches Ding; ich gewöhne mich so leicht an etwas.« – – Du hängst Dich auch leicht an etwas; nicht wahr? – Zeige mir doch, wenn Du noch nicht alle Zucht aufgegeben hast, die Briefe, die der Friseur Dir heimlich zusteckt. – Nun wechselte auf ihrem Gesicht Todtenblässe mit dem höchsten Karmin ab; sie war unschlüssig, ob sie läugnen oder bekennen sollte. Mein Herz litt bei dieser Strenge kaum weniger als das ihrige. Liebe war in meinen Augen nie Verbrechen; aber hier war doch die Operation nothwendig, so schmerzvoll sie dem guten Kinde auch war. Als sie immer noch [247] anstand, sagte ich ganz erweicht: »Liebes Julchen, gieb sie mir.« Diesem Tone widerstand sie nicht; sie holte ein, über und über mit Vergißmeinnicht und Silhouetten verziertes, Taschenbuch hervor, und übergab es mir mit einer Bewegung, die ganz unzweideutig den tiefsten Schmerz ausdrückte. – »Hm! in so zierlichem Gewahrsam? Ein so ansehnliches Paquet?« – Ich schlug es aus einander, sah flüchtig hinein, und dann wieder auf das tief beschämte Mädchen. Und hier sage ich: wehe dem Herzen, das mit Wohlgefallen auf die Demüthigung eines armen, schwachen Mädchens blicken, und sich seiner ruhigern Stellung überheben kann! Wehe dem Vater oder der Mutter, die in solchen Momenten nur ihre Rechte fühlen; deren Gefühl kein Wörtchen für die arme Menschennatur spricht! Das gute Julchen hielt meine gewiß nicht strengen Blicke nicht [248] aus; sie sank auf einen Stuhl, und verbarg das Gesicht mit beiden Händen. Die Briefe waren so dumm und voll der fadesten Schmeicheleien, daß ich nur darüber erstaunte, wie das sonst so kluge Mädchen sie der geringsten Aufmerksamkeit gewürdigt hatte; aber die armen schwachen Geschöpfe sind so eitel, hören sich so gern schön nennen, daß sie einen achtjährigen Knaben liebgewinnen würden, der ihnen das vorsagte. Nachdem ich mich von dem Inhalte der Briefe hinreichend überzeugt hatte, gab ich sie ihr zurück, neugierig, was sie damit machen würde? denn es war mir aus allem deutlich genug geworden, daß der Bube ihr Herz gefangen hatte. Jetzt aber – o Gott, es war wohl zum letztenmale! – siegte noch der gute Grund, den ihre erste Erziehung in sie gelegt hatte; sie stürzte in meine Arme, und – ach! wer vermag's auszusprechen, wenn nach herben [249] Leiden Vaterfreude ihn erquickt! – ihre und meine Thränen vermischten sich, ich drückte sie innigst an mein Herz, und – verzieh.

Gestimmt zu den süßesten Regungen gingen wir nun beide zur Nichte, wo wir den Tag in stiller Heiterkeit zubrachten. Nachher stellte auch Eiche sich ein; mein volles Herz trieb mich unzählich oft an, seine und meiner Tochter Hände in einander zu legen, aber Eiche selber hielt mich durch die ehrerbietige Entfernung, in der er von dem Mädchen blieb, davon zurück.

Jetzt nahm ich auch gelegentlich eine Musterung mit meiner Tochter Kenntnissen vor, die mir, den Aufwand in Kleidern ungerechnet, 800 Thaler kosteten; aber ich bemerkte bald, daß sie, in mancher Rücksicht, wirklich zurückgegangen war. In ihrem Kopfe war ein Chaos von gar mancherlei; die Begriffe schwankten und schwammen durch einander; [250] ein Gegenstand des Wissens verdrängte den andern. Die Kaiser und Könige spukten ohne Zweck und Ordnung in ihrem Kopfe herum; mit der Naturgeschichte war es eben so, man hatte sie in den Stunden überladen, und sie litt offenbar an Indigestion. Dazu kamen noch die harten Brokken, die Madame Brennfeld ihr von ihren philosophischen Lesereien mit dem Vetter zugeworfen hatte, und die bei ihr eine völlige Zerrüttung aller gesunden Kräfte droheten. Das mußte nun alles erst wieder fort, ehe ihre moralische Genesung gewiß werden konnte; und dieses Stück Arbeit hatte ich schon in meinem Sinne ihrem künftigen Gatten zugetheilt. Mit ihrem Klavierspielen wollte es auch nicht fort. Die kleinern Sachen, wodurch so oft unsre häusliche Freude war erhöhet worden, hatte sie wegwerfen müssen, und nun spielte sie stümperhaft Sonaten und[251] Konzerte, daß einem die Ohren weh thaten. Mit ihrem Gesang hielt sie hinter'm Berge, weil's nicht virtuosenmäßig wäre. Gott! wie so oft waren wir überirdisch froh bei unserm und ihrem einfachen ländlichen Gezwitscher gewesen!

Gegen Abend, da wir recht lustig zu werden begannen, kam ein Bote von Hause, mit der Nachricht, daß meine Frau von einem todten Sohn entbunden sei. Sie vermisse mich sehr zur Unzeit im Hause, ließ sie mir sagen; ich mußte mich also geschwind aufmachen. Meiner Tochter hinterließ ich meinen herzlichsten Segen, übergab sie im Voraus der Falkschen Familie zur künftigen Hausgenossenschaft, führte sie auchEichen zu, der ihr mit einem herzlichen Handschlag zusagte, als ihr bester Freund für ihre Zufriedenheit sorgen zu helfen. »Du lieber, guter Mann!« dacht ich, »Dein Wille ist [252] unverbesserlich; aber Dein Herz, voll partheiischer Liebe, und Deine arglose, kein Übel ahnende Seele, sind nicht zu Wächtern gemacht!« – wie denn auch die Erfahrung bewiesen hat. Darauf warf ich mich mit nicht ganz leichtem Herzen in den Wagen, und rollte meinem Dorfe zu.

Jetzt knallte grade Gürge mit der Peitsche vor dem Pfarrhause, und erinnerte Grünthalen, daß es jetzt auch Zeit sei der Heimat zuzueilen. Der Amtmann brach für diesmal ab, und wünschte seinen Freunden eine gute Nacht.


Nun erhielten Seelmanns von Grünthal, zur Ergänzung der Begebenheiten, die Briefe nach ihrer Zeitfolge.


[253] (Ein Billet von Marianen an Julchen.)


»Ganz etwas Neues, mein Liebchen! Ich heirathe; – es ist unique! – aber nicht den Herrn Bräutigam, den Du die Ehre hast zu kennen: dem hab' ich in Gnaden seinen Abschied ertheilt. Denk' Dir den Biedermann von dreihundert Jahren her, der sich einfallen ließ, von Einschränkungen neuerfundener Bedürfnisse, von süßem Genuß häuslicher Glückseligkeit, wie er die Monotonie des Ehestandes zu nennen beliebt, und dergleichen altfränkischen Jargon mehr, mir vorzureden! Auf Ehre, der Mensch kann kein Edelmann seyn! – Sein Vater war sicher ein Gewürzkrämer, oder irgend ein Federkäuer. – Nein, mein häuslicher Herr Baron, ich bin des Zwanges herzlich müde, den mir mein übel disponirter Papa und seine fette Dulzinne in [254] Geldangelegenheiten auflegen. Chaqu'un à son tour.

Doch zum neuangeworbenen Promis. Du wirst Dich zu Tode lachen; denn es ist kein andrer, als der, ich denke sechszigjährige Herr von K .., über dessen Gurkengesicht und Spindelbeine wir so oft unser Späßchen hatten. Der Herr hat gütigst bemerkt, daß Fräulein Mariane schön und witzig ist, daß ein junges galantes Weib seinem baufälligen Ansehn ein Rélief geben würde, und darauf war denn Fräulein Mariane so großmüthig, sich seine wirklich fürstlichen Geschenke gefallen zu lassen; aber Juliette, der Ring war auch dabei. Der Ring! – Bei allem Muthe seufzt' ich doch. Wie? wenn das verwünschte Rundewig hieße? wenn die baufällige alte Burg auf festerem Grunde stände, als unser eins ihr zutraut? – Gut, gut, auch [255] dann giebts Mittel! Hör', Mädchen, heut' muß ich Dich sprechen; Du mußt wissen, wie ich den ersten Seladon losgeworden bin. Das Ding war komisch; und man wußte es einzukleiden, daß bei dem alten Papa alle Schuld auf ihn fällt. Julie, Du mußt kommen, Louis ist hier; der rothäugigen Schulmeisterin sag', Du gingest zur Muhme Sainte Beate: dieFalk meine ich. Mein Spindelfüßchen wird Dir sein Kompliment machen. Wenn der Geck nur nicht so verliebt thäte! Das verwünschte Deutschschreiben wird mir blutsauer! – A dieu, chère amie! Komm' hübsch bei Zeiten zu Deiner

Mariane v. L..«


(Julchens Antwort.)


»Wie glücklich sind Sie, Mariane! Ihre muntere Laune verläßt Sie auch bei den [256] ernsthaftesten Gelegenheiten nicht! Sie? Sie werden glücklich seyn; aber ich? ach! ich werde es nie werden! Der arme Baron! Seine Leiden gehen mir zu Herzen! Er hat Sie redlich geliebt! – Spotten Sie meiner Cousine nicht; wollte Gott ich wäre eine Betschwester, wie sie es ist! Sonst war ich auch wohl fromm; aber jetzt! – Wenn Sie wüßten, wenn ich Ihnen sagen dürfte – – doch ich komme immer wieder auf den Baron. Er dauert mich von Herzen! Kein Leiden geht über gekränkte Zärtlichkeit. Leben Sie wohl, mein Fräulein! Ich bin so ganz verstimmt, daß ich besser thue ich breche ab.

Julie Grünthal


Mariane beantwortete diesen Brief in dem muthwilligsten Tone; Julie (glaubte sie) hätte wahrscheinlich in einer alten Postille, [257] oder, noch ärger, wohl gar in der Bibel gelesen, daß ihr so weinerlich geworden sei. Es sei mehr als Narrheit, die besten Jahre mit Skrupeln zu verderben. Auch sie habe sich sonst wohl mit Grillen geplagt, und am kränkelnden Gewissen gelitten; sie habe sich aber nachher eines Bessern bedacht, und den alten Wust und Tand, der ihr noch von den Katechismusjahren angeklebt hätte, ausgefegt. Man müsse nichts halb seyn; entweder voller Genuß, oder gar keiner. »Sei ganz gut, oder ganz – böse? – nein, nur leichtsinnig«; hieß es. Überhaupt bestehe der Unterschied zwischen gut und böse nur in einem mehr oder weniger lebhaften Temperamente, das man sich am Ende doch nicht selbst gegeben habe. Zum Beschluß schickte sie noch eine nachdrückliche Ermahnung, die altväterischen, von der elterlichen Erziehung sich herschreibenden, Grillen aufzugeben, der [258] Jugend zu genießen, und ihr die Angelegenheiten ihres Herzens zu entdecken, die sie aber vielleicht schon recht gut wüßte. Julchens Antwort bezeichnet merkwürdige Fortschritte auf der Bahn des Leichtsinns, wie Sie selbst bemerken werden.

»Sie haben wohl recht, meine Beste. Ich quäle mich selbst, und ändre nichts damit. Mein Herz geht seinen Weg unaufhaltsam fort, wenn gleich die Vorurtheile meiner ersten Erziehung mir zuweilen wie Gespenster erscheinen, und meine Seele mit Schrecken erfüllen. Sollte das Sünde seyn, was der Schöpfer selbst mit glühenden Buchstaben in unsre weiblichen Herzen schrieb? War es denn Sünde, daß mein Vater meine Mutter liebte, ehe sie die Seinige wurde? Er ward glücklich; sollte denn ich es nicht auch werden können? – Warum hat er mir doch so ängstliche [259] Grundsätze beigebracht? sie martern mich, und stören mich in den süßesten Gefühlen meines Jugendlebens. Hätte ich immer die Einsichten gehabt, die ich jetzt erlangt habe, wie viel bittere Stunden zählt' ich weniger!«

(Zur Erlangung dieser Einsichten war ihr nicht sowohl Fräulein Mariane, als die alte unwissende taube Französin behülflich gewesen; denn da Madame Brennfeld es zu sehr unter ihrer philosophischen Würde hielt, sich mit solchen Kleinigkeiten zu befassen, als die Zeitverkürzungen junger Mädchen sind, hatte die alte Frau sich gern ihrer Jugend erinnert, indem sie mit ihren Untergebenen ihre Lieblingslesereien wieder einmal aus dem alten morschen Koffer, der alles war, was sie auf dieser Welt besaß, hervorholte. Diese bestanden nun in nichts anderm, als der Prinzessin von Kleve, dem glücklich gewordenen[260] Bauer von Mariveaux, den Denkwürdigkeiten eines Mannes von Stande, Crebillon's Schriften, und mehr dergleichen feuergebenden Romanen, welche die geheimsten Tiefen ihrer Empfindung durchwühlten, und in gährender Hitze zum Aufbrausen brachten.) Julchen fährt fort:

»Und doch, Mariane, wäre es vielleicht besser, ich wüßte von dem allen nichts. Mich grauet, wenn ich mir die einfachen, herzlosen Auftritte des häuslichen Lebens denke, wenn ich mir die niedrigen, elenden Geschäfte einer bürgerlichen Wirthschaft vorstelle, zu welchen ich wahrscheinlich bestimmt bin. Ich weiß nicht gewiß, was für Absichten mein Vater mit mir hat; aber etwas ahne ich davon, und ich wollte lieber sterben als es eingehen. – Mariane, ich stehe an, Ihnen mein Herz zu entdecken; aber es geht in sich selbst zu Grunde, wenn [261] es sich nicht einer treuen Freundin mittheilt. Unterstützen Sie mich mit Ihren Einsichten. Hier haben Sie, was mich quält.« – –

Nun folgt eine unendlich lange Zergliederung dersüßen, namenlosen Gefühle, welche ihr Herz durchschauert, als sie Marianens Bruder zuerst gesehen. Als sie auf dem ersten Balle den Walzer mit ihm getanzt, habe unnennbare Wonne durch ihr ganzes Wesen gezuckt. Sie schildert mit vieler Lebhaftigkeit und sehr romanhaft alle die Kämpfe, die es ihr gekostet; die sie nämlich hätte bestehen sollen, aber mit keinem Gedanken bestanden hat. Erst war sie zu schüchtern gewesen, seine, ihr durch den Friseur zugestellten, Briefe anzunehmen; dann, wenn sie wieder bedacht hätte, daß Andre, die besser geachtet würden, als sie, nicht so viel Umstände machten, hätte sie einen [262] raschen Entschluß gefaßt, und einen in der Eile angenommen und zu sich gesteckt. Dann sei es ihr doch vorgekommen, als wäre das nicht recht, und sie habe ihn uneröffnet zurückgeben wollen. Hundertmal habe sie ihn besehen, ach! und jeden Buchstaben, den die theure Hand aufgezeichnet, und jedesmal habe ihr armes Herzchen stärker geschlagen. Endlich, in einem fatalen Augenblicke, da sie sich den dachte, gegen den ihr Herz sie so unwillkührlich fortriß, ihn sich mit aller der Liebe, in all' seinen Reizen dachte, da tausend Vorstellungen dieser Art sich allmächtig vor ihrer Seele drängten, in einem solchen Moment zerknickte das Siegel (ganz von ohngefähr, wie sie betheuerte; – vermuthlich haben die Küsse es zerschmolzen), und nun tränkte sie ihr Herz tropfenweise mit allen den Süßigkeiten, mit welchen der verführerische Bube ihre müssige, weichliche, und [263] durch fade Romane empfänglich gewordene Seele vergiftete. – Sie ward von unwiderstehlicher Wonne berauscht, und wiederholte sich hundertmal die Worte, die ihrem Gefühle die schmeichelhaftesten waren. Von da an versank sie nun völlig in Unthätigkeit; sie fühlte sich zu jedem ernsthaften Geschäfte, so wenig es auch deren in solchen Schulen giebt, unaufgelegt. Dem ohngeachtet antwortete sie ihm zu der Zeit noch nicht; und sie hatte sogar noch so viel Gewalt über sich erhalten, daß sie den Herzgeliebten, wie wir bei der Pickeniksszene gehört haben, bat, sie ferner nicht so zu plagen. Meine Dazwischenkunft hatte den Strom ihrer Leidenschaft, der sie unaufhaltsam forttrieb, einigermaßen gehemmt; in meiner Gegenwart hatte sie kaum das Herz gehabt, ihrer Lieblingsidee nachzuhängen, so stark war die väterliche Gewalt; – sie fürchtete, ich könne [264] in ihrer Seele lesen. Als sie mir die Briefe herausgeben müssen, sei ihr gewesen, als trennte ich ihr Leib und Seele. In der ersten Angst habe sie alles gesagt, was ich von ihr zu wissen verlangt hätte; sobald ich aber Abschied von ihr genommen, und sie sich von den ersten Schmerzen der Trennung erholt gehabt, sei ihr Herz mit verdoppeltem Feuer zu seinen unterdrückten Gefühlen zurückgekehrt, und sie habe nicht ohne Schrecken bemerkt, daß des Vaters Entfernung ihrem Herzen Wohlthat gewesen sei. Louis ward wieder ohne Rückhalt ihr Taggedanke, und ihr Traum bei Nacht; sie spürte in dem Gesichte der Schwester jeden Zug, der dem Bruder gehörte, und konnte dann Stundenlang ihr Auge von Marianen nicht wegwenden, verlor sich in süßen Schwärmereien; – und was des verliebten Mädchengeschwätzes noch mehr war.

[265] Nun kam es aber zur Hauptsache, bei der sie nicht recht mit der Sprache herauswollte. Sie ging ganz kunstreich, nach Mädchenmanier, um den Berg herum, schickte eine feine Schutzschrift aller verliebten Thorheiten voran, und dann hinkte sie mit der Thatsache hinten nach.

»Am Montage war ich bei Falk's gewesen. Bei dem rührenden Anblick des Glücks, das Karoline in ihrer Liebe zu ihrem Karl findet, wurde mein Herz ungewöhnlich erweicht. Voll dieser Empfindungen kam ich nach Hause, und begab mich in das Kabinet neben der Lektionsstube. Der Mond dämmerte durch die Weinreben am Fenster. Ich warf mich auf einen Stuhl. Mein Herz war voll und gepreßt. Ich dachte nichts Bestimmtes; ein dunkles Sehnen stimmte mich zur Wehmuth. Thränen brachen unwillkührlich heroor; ich erschrak über [266] meinen Zustand, und die Thränen flossen noch häufiger. Sonst lenkte sich mein Herz in dem Zustande der Erweichung wie von selbst zum Urquell der Liebe; es erhob sich im Anschauen der Natur. Mein kleiner Gram oder meine kindischen Freuden ergossen sich so in Gebet, als ob ich an meiner Mutter Busen geschmiegt mit ihr spräche. O Mariane, gewiß, das war doch auch Glück! Reiner, unzuverkümmernder Genuß! Diesmal fiel mir kein Gedanke von dem allen ein. Ich faltete mechanisch die Hände, dachte, wie gern ich nur einen Blick der vorigen Zeit zurückrufen möchte; aber das war denn auch alles. Mein Herz strebte hinaus, aber nicht hinauf. Indeß wurde ich gerufen. Madame hatte ein neues Buch bekommen; ich sollte laut lesen, sagte sie, der Vetter könnte diesmal nicht kommen. Es war mir ärgerlich. Aber Mariane. [267] welch' ein Buch war das! Vermuthlich kennen Sie es, wenn gleich ich Neuling es nicht kenne; es heißt die neue Heloise. Jedes Wort war mir aus der Seele geschrieben, jedes schrieb sich glühend in mein Herz. Sogar Übereinkunft der Namen. Julie! – Die Stimme versagte mir zuweilen, wenn ich ihn aussprechen sollte! – Es war als hört' ich ihn jemand anders rufen. Ich versetzte mich leicht in Juliens Lage; und gewiß, ich glühte über und über. Wir lasen bis zwölf Uhr; und ich hätte, ohne müde zu werden, wieder bis zwölf Uhr gelesen. Jetzt zu Bette zu gehen, war mir unmöglich. Meine Seele war wie aufgelöset; tausend Bilder umschwammen mich. Ich war Julie, und – o Mariane, haben Sie Mitleiden mit mir; ich darf Ihnen nie wieder ins Gesicht sehen – meine Einbildungskraft war aufs höchste gespannt. [268] Ich setzte mich hin, und ergoß in einem Briefe an Ihren Bruder, meinen angebeteten, ewig geliebten Louis, mein glühendes, so mühsam verhaltenes Gefühl. Meine arme Vernunft trat auch nicht ein mal zu dem schwächsten Kampfe hervor. Fragen Sie nicht, was ich schrieb. Es war alles Herz, alles Feuer und Seele, was ich in vollen Strömen auf das Blatt vor mir goß; und nun ging ich, wie entledigt drükkender Bande, zu Bett. Meine Phantasie war aufs lieblichste angeregt. Ein sanfter Rosenschimmer umfloß mich, Nachtigallen sangen ein himmlisches Chor, und feierten die erste Liebe meines jungfräulichen Herzens. Ich schwärmte mit meiner Phantasie in der Laube, in welcher Julie ihrem St Preux feierlich den ersten Kuß gab; ich war – – o Mariane, hätte mein Vater, hätte Gott vor mir gestanden, das zauberische [269] Gewebe würde mich nicht weniger verstrickt haben! Ermattet von dem Feuer meiner Vorstellungen senkte sich ein leiser Schlummer auf meine Augenlieder. O diese Träume, Mariane! nie, nie kann die Wirklichkeit bezauberndere Momente herbeiführen! Unwillkührlich streckte ich meine Arme nach der geliebten Erscheinung aus. Nie wird eine solche Nacht mein sterbliches Daseyn wieder beglücken! Beim Erwachen standen die lieblichen Bilder noch ganz frisch vor meiner Seele; doch läugne ich nicht, ich erschrak, als ich den Brief fand, den ich geschrieben hatte; er sollte ihn lesen. O Gott! – Indem trat Magot ins Zimmer. Mein Muth, der schon im Sinken war, verließ mich nun vollends; nie werd' ich mich diesem fremden Menschen anvertrauen können! dacht' ich. Magot stand im Begriff zu gehen; noch war der [270] Brief in meiner Hand, die Thür ging auf, jemand aus dem Hause trat ins Zimmer, und rasch entschlossen flog der Brief in Magot's Hut. Er gab ein Zeichen, daß er mich verstehe. Ich schämte mich, und wandte mich schnell um, meine Röthe zu verbergen. –

Nun hat Louis den Brief, er und Sie werden mich verachten, und ich werde das elendeste Geschöpf auf Gottes Erde seyn.

Diesen Brief wird Ihnen Monsieur Belair zustellen. Lassen Sie mir ein paar Zeilen Antwort zukommen. O, wie beb' ich, sie zu erhalten! Mir wird das Gesicht vergehn, finde ich den Namen Louis; und finde ich ihn wieder nicht, so – – o, ich Ärmste! mir ist nicht zu helfen. Heute soll ich an meinen Vater schreiben; Gott weiß, wie ich das machen soll! Es ist, als [271] ob sich mein Herz vor ihm zurückzöge, seitdem er wieder verheirathet ist, u.s.w.«

Sie sehen, lieber Seelmann, wie mein armes Mädchen sich selbst täuschte, und ihre traurige Entfernung von dem Vaterherzen nicht in sich, sondern in meiner zweiten Heirath zu finden meinte. Ich erstaune, wo ich den Muth hernehme, Ihnen alle diese Umstände, die mein Herz so ganz zerbrochen haben, zu wiederholen. Marianens Antwort war völlig so, wie sie sich von einem so verzerrten Karakter erwarten läßt. Julchen, – schrieb sie, – würde sich durch ihre alberne Bedenklichkeiten noch völlig unglücklich machen; das wären die tristen (traurigen) Früchte der pedantischen Erziehung, die ihr Vater ihr, zu ihrem Unglück, gegeben hätte. Die würden ihr, wenn die feinste Berlinische Welt noch hundert Jahre an ihr bildete und deniaisirte, immer noch ankleben. Was [272] es denn nun für ein wundergroßes Unglück sei, einem hübschen Jungen gut zu seyn? Sie wollte wohl schwören, dies sei Julchens erste Liebe, so vieles Aufsehn mache sie davon, und so arkadisch drücke sie sich aus. So viel sie sich erinnre, sei sie schon in ihrem dreizehnten Jahre eperdüment in einen allerliebsten Fähndrich verliebt gewesen, dessen Schwester auch bei Madame Brennfeld in Pension gethan war. Damals wären viel junge Herren aus- und eingegangen; ein böser Dämon hätte aber einst den alten Eisenfresser, den Obristen von ..... hingeführt, dessen Tochter auch der Erzieherin anvertraut gewesen. Dieser Grobian habe einen so gewaltigen Lärmen über die Besuche der jungen Herren angefangen, daß die Madame, aus Furcht vor mehrern dergleichen Auftritten, sich auf einmal in die Philosophie geworfen habe. Sonst sei sie eben [273] keine Prüde gewesen; und der Herr Vetter wäre noch so ein Andenken der lieben vorigen Zeit. Julchen möchte mit den patriarchalischen langweiligen Begriffen von ehelicher Zärtlichkeit zu Hause bleiben. Karoline sei ihr deshalb entsetzlich zuwider. Heirath und Liebe reime sich grade, wie Eis und Sommerhitze; – und was der verderblichen Grundsätze mehr waren. Zuletzt lud sie Julchen dringend ein, zu ihr zu kommen. Sie solle ihren Schäfer in der blühendsten Laube finden, und die Nachtigallen sollten ihre Schüchternheit in Liebe auflösen, wenn sie mit dem ersten heiligen Kuß feierlich ihm den Sold der Minne geben würde.

Julchen hatte nun den ersten, viel kostenden, Schritt gethan; der zweite, den sie zu ihrem Verderben that, war der Besuch, welchen sie bei Marianen abstattete, und wozu sie von ihrer sogenannten Aufseherin um [274] so leichter Erlaubniß erhielt, da diese es kurz vor der nahen Verheirathung ihrer Lieblingin nicht noch am Ende mit ihr verderben wollte. Überdem erfuhr ja der grillenhafte alte Spießbürger, der Amtmann, nichts davon, wenn man nur in Worten fein strenge war, und die Wörter Moral und Moralität fleißig im Munde führte. Bei diesem unseligen Besuche wurde das arme verblendete Mädchen ganz zu den elenden Grundsätzen des Bruders und der Schwester hingerissen. Sie kamen über den Ort ihrer Zusammenkunft überein, verabredeten alle die Ränke, durch welche die Aufseherin und der arme leichtgläubige Vater hintergangen werden sollten; und wenn der Pfaffe (Eiche) sich d'rinn zu mischen gedächte, so sollten junge Offiziere, des Kornets Spießgesellen, dies durch irgend eine öffentliche Beleidigung rächen. So war denn alles Freude [275] und Lachen. Zu Hause nährte die arme Betrogne ihre Leidenschaft durch die fortgesetzte Lektüre des Rousseauschen Romans, vor welchem er junge Mädchen selbst warnt. Ich erhielt nur selten Briefe von ihr, und diese waren steif und kalt. Es fehlte nur noch, daß sie mich Herr Vater genannt hätte. – Mir wurde aufs neue bange um mein Julchen; denn ich konnte es mir ohngefähr vorstellen, wie lange die Grundsätze eines weichen Mädchenherzens gegen das unablässige Untergraben eines verführerischen geliebten Buben Stich halten würden. Ich theilte meiner Nichte meine Besorgnisse mit. Sie stillte sie wohl einigermaßen mit der Nachricht: daß meine Tochter wenig ausginge, und den Sonntag bei ihr zubrächte, wobei denn gemeiniglich auch HerrEiche sei; sie wollte aber bemerkt haben, daß Julchen diesem absichtlich mit der äußersten Kälte [276] begegne, wodurch der bescheidene Mann nur noch schüchterner in seinem Umgange mit ihr gemacht wäre. Fräulein Lindenfels sei jetzt, schrieb sie, auf einem der Güter ihres Bräutigams, wo sie mit ihm getraut werden sollte. Überdem rücke ja die Zeit immer näher, da Julchen ihre Hausgenossin würde. – Das war nun gut genug; und ich hätte mich auch vielleicht beruhigt, wäre nicht am darauf folgenden Posttage ein Brief von Madame Brennfeld eingelaufen, worin sie mir vorschlug, ihr Julchen ganz zu überlassen. Dieses talentvolle Mädchen, hieß es, wolle sich gern dem Erziehungsfache widmen, und sich unter ihrer Anweisung dazu bilden. Ihr Glück würde dadurch für die Zukunft gegründet. Mamsell Juliette sei ungemein liebenswürdig geworden. Sie habe ihr nicht so viel Empfänglichkeit für die feinern Sitten zugetraut; auch habe sie sich die Achtung [277] aller ihrer adlichen Zöglinge erworben. Ich warf, höchst aufgebracht, den närrischen Brief auf die Seite, und nahm ihn nur wieder, um noch stärker dagegen zu streiten. Julchens Brief war ein bloßes Nachbeten des einfältigen Zeuges; sie war aber doch nicht schlau genug, die Gründe gehörig zu bemänteln, um welcher willen sie den Vorschlag der chère madame so annehmlich fand. Ich setzte mich aber in der ersten Hitze hin, schlug beiden alles ab, und das in Ausdrükken, wie meine Mißbilligung sie mir eingab; wobei ich mich gern jeder Gefahr aussetzte, was die beleidigte Philosophin mir dagegen für Ehrentitel würde geben wollen. Meiner Tochter antwortete ich mit ungewohnter Strenge, so daß sie mich gewiß einen grausamen Vater genannt haben wird. Ich schrieb ihr, sie sollte keine Stunde über das bestimmte Vierteljahr in dem verwünschten [278] Hause bleiben, das mir so viel Herzleid gemacht hätte. Hierauf hat sie ihrer Herzensfreundin folgenden Brief geschrieben:

»Was soll aus mir werden, Mariane? Mein Vater begegnet mir grausam; unsern Plan verwirft er gänzlich. Mit ganzer Seele würde ich mir den unangenehmen Beruf einer Unterhofmeisterin haben gefallen lassen, weil der Lohn so unaussprechlich süß gewesen seyn würde. Wenn ich nun aber bei Falk's bin: ach, dann ist es beinahe ganz unmöglich, daß ich meinen Geliebten sprechen kann! Karoline ist so strenge, ihr werde ich mein Herz nie entdecken können; mir bleibt denn nur die Kirche übrig, und auch dahin wird die ehrliche Plagerin mit mir gehen. Ich hasse schon in Voraus alles, was mir im Wege steht. Zuweilen werde ich zu Madame Brennfeld gehen. Sie wird ihm gewiß erlauben, [279] sie zu besuchen; er ist ja Ihr Bruder, und dann weiß sie ja auch das zehntemal nicht, wer bei ihren Kostgängerinnen ist, wenn sie sich in die spekulativen Wissenschaften, wie sie sie nennt vertieft hat. – Aber Mariane, er wird mich vergessen, wenn er mich so selten sieht; Schwierigkeiten werden ihn abschrecken; er wird seine Julie verlassen! – –

Ihnen, Mariane, darf ich es wohl gestehn, daß ich oft, mitten im höchsten Rausch der Liebe, innerlich leide. Marternde Erinnrungen, o, wie verbittern sie mir jugendlichen Genuß! Sie werden darüber spötteln, Mariane; allein im Herzen sind Sie mir doch gewogen, und verstatten mir, um mein selbst willen, die Erleichtrung des Mittheilens.

Gestern suchte ich etwas unter meinen Papieren, Sie rathen wohl was? Da fiel mir [280] ein Brief meiner lieben seligen Mutter in die Hand; unwillkührlich drückte ich das theure Andenken an meine Lippen, und widerstand nicht dem Drange, es zu lesen, so sehr mich's ahnete, das es mich angreifen würde. ›Wir wenden alles an Dich, mein bestes Kind,‹ heißt es darin, ›damit Du uns einst Ehre und Freude machen sollst. Bleib' ja fromm und rechtschaffen; behalt' Gott im Herzen, wie Du es uns so heilig versprochen hast. Es würde mein Tod seyn, wenn Dein Vater mir mit Recht Vorwürfe machen könnte, daß ich an Deinen Aufenthalt in Berlin Schuld bin.‹ Ach Gott! wer so, wie ich, den sanften, herzeindringenden Ton ihrer Bitten kannte! O, ich kann, ich kann diese so einfachen, rührenden Worte nicht [281] wieder loswerden! Und dann noch die entsetzliche Vorstellung, daß ich ihr die Leiden ihrer letzten Tage vielleicht noch erschwert, daß ich ihre segnende Hand nicht an meinem Herzen gefühlt habe; o, Mariane! sie starb mit einem kummerbeschwerten Herzen, wozu ich Unglückliche vielleicht auch beigetragen hatte!

In eben dem Kästchen, worin der theure Brief lag, fand ich auch den Anfang eines Tagebuchs, das ich in verschiedenen Absäzzen, auf Anrathen meines Vaters, über mein Herz hielt. Mariane, es war nichts geringeres als ein feierlicher Bund, den ich, nach Anleitung des frommen Doddridge, mit Gott errichtet hatte. Ich habe eine feierliche Zusage, immer fromm und rechtschaffen zu seyn, aufgesetzt, und eben gestern war es ein Jahr, daß ich diese Zusage that. Ach, guter Gott, ich habe seitdem mit keiner [282] Sylbe wieder daran gedacht! Meine Andachtsbücher, mein Zollikofer, Hermes Handbuch der Religion, etc., alles liegt bestäubt da; mein Herz ist von allen frommen Empfindungen durchaus gesichtet, selbst kein äußeres Hülfsmittel. verschafft mir auch nur eine Minute andächtiger Rührung. Mein Herz ist wie versteinert. Beunruhigt über den peinlichen Zustand meines Innern, setzt' ich mich an's Klavier, und prüfte mein Herz mit dem Liede aus Rollens Liedersammlung: Wie ist mein Herz so fern von Dir, etc.; da kamen Thränen, mein Herz öffnete sich, und ich weinte bitterlich. Vorsätze dämmerten in meiner Seele auf; aber die Dämmrung wurde nicht Licht, eine trübe Wolke düstern Unmuths umhüllte sie, es folgte bald ein Zustand der Erschöpfung, und ich verfiel in Gedankenlosigkeit und Zerstreuung. Im [283] Nebenzimmer wurde gesprochen; ich trocknete meine Thränen, verschloß die Briefe, versteckte das andächtige Notenbuch, und begab mich zur muntern Gesellschaft. Unter dem frohen Geräusch der muthwilligen Scherze trat auch allmählig wieder das Bild des Geliebten in meiner Seele hervor. Die Gesellschaft ging erst spät aus einander; in meinem Kabinet erwarteten mich die schwermüthigen Vorstellungen, denen ich vorher entgangen war. Sie zu zerstreuen wollte ich an meinen geliebten Louis schreiben; aber es gelang mir durchaus nichts. Da ward ich unmuthig, und die ganze Welt war mir zuwider. Mein Vater hätte mich nicht hierher schicken, oder mich nicht mit strengen Begriffen von Eingezogenheit und dergleichen plagen sollen; das paßt zu meiner Lage gar nicht. Ach, Mariane, Sie mögen wohl recht haben, [284] entweder ganz gut, oder ganz dem Leichtsinne gelebt. O, diese Rückfälle, sie sind tödtlich! Noch wenige Jahre, und die Rosenzeit ist dahin! Jahre, ach Gott! eine Krankheit, ein bleichender Kummer, und dahin ist sie! Mariane, schelten Sie nicht, wenn ich Ihre frohen Augenblicke trübe; ich werde mich bemühen, heiterer zu schreiben. Für diesmal meinen Gruß und Kuß.«

Bald nachher schrieb sie wieder:

»Noch immer keine Sylbe von meiner neu vermählten Freundin! Haben Sie mich vergessen, Mariane? verdrängen interessantere, neuere Bekanntschaften die arme Julie? – Ihr Bruder ist auch noch nicht von seinem Urlaub zurück. Liebte er wie mein Herz ihn liebt, würde er dann so lange säumen? O, trösten, trösten Sie [285] mich! Sie, seine Schwester, sein schönes Ebenbild! Sie, meine Mariane! – ich darf Sie doch noch mit diesem vertraulichen Namen nennen? – Ach, ich leide viel! Meine Lage in diesem Hause wird immer unleidlicher; seitdem Madame den abschläglichen, unfreundlichen Brief von meinem Vater erhalten hat, läßt sie es mich entgelten. Ja, Mariane, nur Ihnen sag' ich's, sie hat mich mit den niedrigsten Namen geschimpft; – sie hat mich geschlagen, als ich mich sehr sanft wegen eines mir angedichteten Fehlers rechtfertigen wollte. Das Hausmädchen versichert mir, Madame sei eifersüchtig auf mich, weil der Vetter mir einige Artigkeiten gesagt hat. Fast sollte ich glauben, die Dörte habe recht. Er lobte die blendende Weiße meiner Haut, und nannte mich ein reines Maienblümchen. Bald nachher schimpfte die Madame auf meinen faden [286] weißen Teint, und rieth mir, die ungeheure Menge blonder Mähnen, wie sie mein Haar nannte, mir aus der Stirn zu schneiden; ich sähe einem Löwenpudel gleich, besonders mit meinen seelenlosen blauen Augen. – Dann lobte sie ihre Augen, Mariane, ihre pikante Physiognomie, und setzte hinzu: es sei ihr lieb, daß sie braune Augen habe, und kein schaales Blondinengesicht wäre. –

Auch fordert sie jetzt beinahe niedrige Dienstleistungen von mir, und giebt mir Tagaufgaben, die ich schlechterdings nicht bestehen kann. Mir einige Erleichterung zu verschaffen schenkte ich ihr das Tischgedeck, was mir meine liebe selige Mutter zuletzt schickte; aber wenn ich dergleichen Liebesproben nicht alle Tage geben kann, bin ich wenig gebessert. Unter dem Vorwande, mich in Wirthschaftsgeschäften zu üben, schafft sie eine Arbeiterin nach der [287] andern ab, und läßt mich deren Stelle vertreten. In Gesellschaft demüthigt sie mich damit, daß sie sagt: sie wolle sich nie wieder mit plumpen Landvolke abgeben; wenn man sich die undankbare Mühe gegeben hätte, ihre Kinder abzuhobeln, wären sie hinterdrein noch grob. Was der Amtmann für ein erzgemeiner Mensch sei, sähe man daraus, daß er seinen jüngsten Sohn bei einem Tischler in die Lehre gegeben hätte; sie schäme sich recht, wenn der Hobeljunker zu seiner Schwester käme. – Freilich sei der Junge wohl simpel, und tauge zu nichts Besserm; aber ihrem Hause solle man nicht zumuthen, solche Leute, die von allem Gefühl für feine Schicklichkeit entblößt seien, aufzunehmen. Ach, Mariane, wie mir zu Muth wurde, als diese Person, die mich eine Stunde vorher mit niedrigen Schimpfnamen belegt hatte, von Gefühl [288] für Schicklichkeit deklamirte!! – – Ach! ich sehne mich mit ganzer Seele aus dieser Hölle, in der man noch obendrein mit Hunger und Durst geplagt wird! Wohin ich aber möchte? weiß ich wahrlich nicht! – Sei's, wohin es wolle; nur wünschte ich, nicht in einer traurigen Entfernung von allem, was mir auf Erden theuer ist, schmachten zu müssen.«

Endlich antwortete Mariane:

»Um des Himmels willen, Liebe, quäle nicht auch mich noch mit Deinen trübseligen, schwärmerischen Grillen! Findest Du Dein Glück in dem andächtigen Gewinsel: gut, so winsele Du; aber mich verschone damit. Warum sollte man sich, wenn die Rosenzeit (wie Du sie nennst) da ist, und der Himmel schöne, gedeihliche Frühlingstage giebt, sie mit Vorstellungen und Besorgnissen [289] von Herbst und Winterstürmen verderben? Bist Du unzufrieden mit Deinen Herzensbuben? Laß ihn laufen; es giebt der Töffel mehr, die besser sind als et Legt die insolente Schulmeisterin Dir ihre üble Laune in den Weg, so lache sie aus und wirf ihr Deine Geschenke vor. Daß sie eifersüchtig über Dein wunderschönes Lärvchen ist, habe ich längst bemerkt. Du hast so ein süßes Idyllengesichtchen, das besonders den jungen gefühlvollen Theologen zuzusagen pflegt und bei welchem sie in eine elegischpoetische Stimmung gerathen; aber dergleichen verzeihen diese Sentenzenkrämerinnen nicht. Sie wird Dich mit ihren Orakelsprüchen bas plagen; doch hör' nicht d'rauf, sondern singe Dir eins, und kucke aus dem Fenster. Besser kann ich Dir nicht rathen. Mir geht es auch nicht nach Wunsch, aber so bald lasse ich [290] die Flügel nicht hängen. Doch eins muß ich Dir umständlich erzählen.

Als ich aus dem lustigen Stadtgewühl plötzlich in diese ländliche Einöde versetzt ward, wurde mir bei aller meiner Keckheit doch ein wenig bange um's Herz; denn was die Dichter auch über das Landleben so blumenreich phantasiren, mir ist ein Baum ein Baum, und die Strohhütte das traurigste Asyl auf Erden. Üble Laune ergriff mich wider meinen Willen, und der Herr von L.. wurde mir mit seiner bräutigamsmäßigen Zudringlichkeit unsäglich zuwider. Ich mußte meine ganze Politesse zusammennehmen, um ihn nicht bei jedem Worte, bei jeder Schmeichelei, womit er mich peinigte, anzufahren. In der Stadt, wo man von ganzen Schwärmen lieber Jungen umflattert wird, merkt man nicht so ganz die Lästigkeit eines solchen Amanten; [291] aber, mein Schatz, im einsamen Landschlosse, da! – Doch weiter. Der Hochzeittag kam immer näher heran; ich schwärmte ganze Tage mit meinem Kammerkätzchen und dem närrischen Franzmann, dem Friseur, herum. Dieser drollige Mensch vertrieb den Dämon übler Laune durch seine muntern Einfälle so ziemlich. Herr von L.. beklagte sich über meine Abwesenheit. Warum gehn Sie nicht auf die Jagd? sagt' ich; ich kann mich nicht einsperren lassen, das wußten Sie ja. Er küßte mit reumüthig die Hand, und bat um Erlaubniß, mich auf meinen kleinen Wanderungen begleiten zu dürfen. Das schlug ich gleich mit einem: ›wir müssen einander nicht geniren‹ ab, und der Mann war Narr genug, mit ekelhaft verliebten Gesten seine Beistimmung zu allem, was mir gefiele, zu geben. – Nun kamen nach und nach die Hochzeitgäste. Zuerst [292] mein schwerfälliger Herr Papa, der mir mit Moralen und Sittensprüchen entgegenkam, womit ich so frei war, ein wenig munter umzuspringen. Aber er ist doch gut; denn er nahm's von der besten Seite, und nannte mich, so wie er pflegt wenn er mir wohl will, une folle.

Und d'rauf der Hochzeittag, mein Kind. Meine Kleider hast Du gesehn. Ohne Eitelkeit, ich gefiel mir. Rosen und Myrthenfestons im silberglänzenden Flor. Leicht schwebte der Myrthenkranz auf meinem braunen lockigen Haar. Alles schön, nur der Bräutigam nicht; sein Haar dünn und beinahe schon ehrwürdig, sein Teint gelb und Oliven; doch Du kennst ihn ja. Wie viel Paar Strümpfe er mochte angezogen haben, um nur eine Art von Verhältniß zwischen Bein und Körper herauszubringen, kann ich nicht sagen. Ein Hochzeitgast [293] war des Bräutigams jüngster Bruder, ein schöner blonder Junge; einer von unsern Elegants. Hätte der bei der Trauung nicht mein vis-à-vis gemacht, und mich durch sein possenhaftes Mienenspiel aufgemuntert, ich glaube, mir wäre übel geworden; denn es ist bei dem allen doch ein fürchterlicher Auftritt. Die Fête nahm sich für eine Dorfgala nicht übel aus. – Nun hör', was weiter geschah: Kein Mensch außer meiner Nanette wußte um mein Vorhaben. Als man uns mit den gewöhnlichen steifen Zeremonien in die Brautkammer geführt hatte, ließ ich meinen alten Geck seine veraltete Zärtlichkeit herperoriren; dann trat ich mit schalkhaftem Lachen vor ihm hin, machte ihm meinen besten Kniks, und sagte: mein Herr von L.., wenn Sie geglaubt haben, sich eine nächtliche Gesellschafterin an mir zu erheirathen, so verstanden Sie [294] mich entweder unrecht, oder – ich habe mich sehr undeutlich erklärt. Dies Schlafzimmer ist das Ihrige, das meinige ist dort; nur eine Mauer trennt uns. Ich wünsche Ihnen angenehme Träume von Ihrer schönen Braut. Ich öffnete das Nebenzimmer, und ließ ihm mein Bette, meinen Nachttisch, und was sonst noch zum Schlafzimmer gehört, sehen. Ich ging, und warf meine Thür ins Schloß. Er verhielt sich ganz stille. Ich plauderte noch mit meiner Jungfer, und bald nachher, als ich sie entlassen hatte, dünkte es mich als hörte ich ihre Stimme in dem Zimmer meines Gemahls; es war mir sogar, als ob ich sie lachen und meinen Namen nennen hörte. – Zur Gewißheit habe ich indeß diesen Argwohn nicht gebracht; ich möchte die Närrin nicht gern erzürnen.

Die Folgen dieses Einfalles hatte ich [295] nicht genau berechnet; ich sah bloß das Ridiküle, das auf den jungen sechszigjährigen Ehemann fallen würde: aber der Schalk hatte seine Parthie sogleich ergriffen. Des Morgens beim Frühstück erzählte er der Gesellschaft den Vorgang, und so eingekleidet, daß er die Lacher auf seine Seite zog. Verlegner als ich war noch niemand gewesen! Diesen Abend wünschte er mir zuerst eine gute Nacht, und ging ganz freundlich in sein Schlafzimmer. – Der hämische Kerl! wie gleichgültig er meine Verachtung ertrug! – Schon gut, dacht' ich; es wird denn doch etwas zu erfinden seyn, das Dich verdrießt. Ich that schön mit seinen hübschen Bruder; aber auch das verschlug ihm nichts. So verhetzten wir uns acht Tage lang gegen einander, bis die Gesellschaft sich nach und nach verlor, und ich mit meinen zärtlichen Gatten allein [296] blieb. Nun wurde mir bange; das Heimweh stellte sich ein. Werden wir nicht auch in die Stadt zurückkehren, Herr von L..? fragte ich ganz freundlich. Ja, antwortete er eben so, morgen gedenk' ich abzugehen. Ich rüste mich also in möglichster Eile zur Abfahrt. Den Morgen beim Erwachen überreicht mir Nanette einen Brief vom heimtückischen Menschen; er war fort, und hatte mich zurückgelassen. Sein Brief enthielt folgendes: ›Da ich die Einsamkeit zu lieben schiene, so wolle er meinem Hange nicht entgegen seyn. Sein Landhaus stände mir zu Befehl, aber in seiner Stadtwohnung müsse er für jetzt meine Gegenwart verbitten; seine Umstände erlaubten nicht, daß ich ihm im ersten halben Jahre dahin folgen könne.‹ – Ich rasete, als ich dies schändliche Komplot entdeckte. Allein, auf einem einsamen Dorfe, keine andre Gesellschaft [297] als den Pfarrer, einen alten traurigen Mann, und seine alte knurrige Hälfte! Meine Nanette ist noch das einzige menschliche Wesen, das mich versteht; sie hat Welt, ist in Wien, Leipzig, und Gott weiß wo? herum gewesen; aber mein Friseur, Monsieur Leopold, ist auch in alle Welt gegangen, und hat den witzigen Einfall gehabt, meine Uhr und goldne Dose mitzunehmen. – Mag er, der luftige Franzose! Dergleichen Leute sind schwatzhaft, und sagen vielerlei, wenn ihnen zugesetzt wird.

Was fange ich nun an, mein Schatz? Setzt mir Herr von L.. ein gutes Jahrgeld aus, so ist meine Absicht erreicht. Ich habe an meinen gewesenen Bräutigam geschrieben, und ihm alles vergeben; (kannst Du mir nicht sagen, Julchen, was er gethan hat)? Ich habe ihn ersucht herzukommen; vielleicht kommt er. Lieber todt, [298] als so ohne Unterhaltung! – Ich nehme zehnmal ein Buch in die Hand, ich werfe mich zehnmal an den Flügel hin, aber das sind gar leidige Tröster. Die Tage kriechen wie Jahre. Von Louis seh' und hör' ich nichts; sein Urlaub ist zu Ende. Lebe wohl, gutes Kind! Ist Dir wohl, so heirathe in Deinem Leben nicht. Schreib' mir fleißig; ich verschlinge was mir aus der Stadt zukommt. A dieu, cher coeur.

Mariane.


N. S. Schick' mir doch die hochgepriesene Heloise. Bis jetzt habe ich mich nie an ein Buch gewagt, das mehr als fingerdick war. Schick' mir auch von den neuesten Hüten. Und Du, Kind, hüte Dich vor den andächtigen Rückfällen; Du ververbitterst Dir Dein Leben. Nenne mich doch Du. Schönheit adelt und macht alles [299] gleich, sagt ein alter Franzose. A dieu, à dieu, die Langeweile macht mich zur Briefstellerin. Je t'embrasse de tout mon coeur

Julchen fand das Benehmen ihrer Freundin gegen ihren Mann höchst witzig und lose. In allen Gesellschaften, sagte sie, würde davon, als von einer bonne plaisanterie gesprochen. Madame Brennfeld gedenke nie ohne Lachen des Auftritts in der Brautkammer. Mariane sei schon immer ein loser Schelm gewesen. Von Louis, schrieb sie ihr, sei noch keine Nachricht da. Der Urlaub sei seit drei Wochen verflossen. Es sei schon vom Regimente an den Großonkel, wo er sich aufhalten solle, geschrieben. Da wäre er gar nicht gewesen. Sie habe auch nun, vor Unruhe und Besorgniß, gar keine bleibende Stelle mehr; sie wanke rastlos umher. In vierzehn Tagen ziehe sie zur Cousine. [300] Es wäre ihr als ob sie in den Tod sollte; im Grunde sei ihr aber nirgends wohl. Was die andächtigen Rückfälle beträfe, so habe Mariane nicht unrecht. »Ich martere mich damit ab,« – schrieb sie, – »und kann mich doch, wenn mir's auch das Leben kostete, den Begriffen meiner ersten Erziehung nicht wieder anpassen. Erinnerungen, ja dieser werde ich mich wohl lebenslang nicht ganz entschlagen können; Szenen aus dem frühen Jugendleben bleiben für's ganze Leben theure Andenken. Vorige Woche fuhr ich mit Falk's auf das Land; Eiche war in der Gesellschaft. Das Dorf war freundlich und gut, wie mein Geburtsort. Wie frisch lebten da alle meine ersten Jugendgefühle in mir auf! wie gern hätte ich mich so meines Lebens wie damals erfreut! aber Gott weiß es, was für ein banges drückendes Gefühl sich den helleren Vorstellungen [301] entgegensetzte. Die lieblichste Erinnerung lösete sich in Seufzer auf. Ein Hügel, von dem man eine weite Aussicht hat, erinnerte mich besonders an die Stelle, auf der ich den letzten Abend vor meiner Abreise mit meinem Vater stand. Er segnete mich der gute Vater, und ich weinte an seinem Herzen. Wie so gar anders ist es nun! Karolinens sanftes, gefälliges Wesen erinnerte mich an die zärtlichste der Mütter. Ich würde mich in Vorstellungen der Art ganz verloren haben, hätte nicht Falk, welcher der angenehmste Mann von der Welt ist, den muntern Ton unter uns zu erhalten gesucht. Ich glaube, sein guter Humor wird viel zu meiner Zufriedenheit in seinem Hause beitragen.Eiche ist ein sehr rechtschaffner Mann, und ich glaube er ist auch schön, wenn man keinen andern kennt. Er ist aber so sehr zurückhaltend, [302] daß ich nie ein Herz zu ihm fassen kann. Er hat sicher noch keinem Mädchen die Hand geküßt. – Mit Andern verglichen, kommt er mir entsetzlich steif und trübsinnig vor. Mich wundert, daß er hier nicht ein wenig mehr Welt annimmt. Auch unter seinem Stande giebt es allerliebste lustige Männer. Freilich vergleiche ich alle mit einem mir theuren Ideal, und da verlieren selbst die besten. Das Kolorit der Liebe wohnt sonst nirgends in der Natur, und die Kunst erreicht es vollends nicht. – Indeß habe ich eine sonderbare Szene mit Eichen gehabt. Der Abend war so schön, die Lüfte weheten so lau, daß wir uns entschlossen, den Weg zurück zu gehen, und die Wagen nachfahren ließen. Der Mond schien auf einer düstern Thauwolke zu ruhen. Der ganze Himmel war mit falben krausen Wölkchen überstreut; zwischendurch flimmernde[303] Sterne. Unser Weg führte uns längs einer Wiese, laue Abendlüfte weheten uns den Duft des frisch gemäheten Grases zu; an der andern Seite war ein lichtgrünes, sanftwallendes Kornfeld. Die Stille war feierlich; nur eine Wachtel schlug von fern, und am Wege hier und da ein Heimchen. Mariane, öffnete Ihr Herz sich je dem Einflusse der lieblichen Abenddämmerung? – Mein Herz erlag unter der Herrlichkeit dieser Erscheinungen. Fromm und unheilig zugleich, betete ich. Ja, ich betete: ›Nur einen solchen Abend, o Gott, gieb mir am Arme des Geliebten!‹ Ich versank in die Fülle meiner Empfindungen, dachte mir meinen schönen heitern Jüngling, wie auch er vielleicht jetzt in den Mond sieht, und sich seine Julie denkt. Kaum bemerkt' ich meine Gesellschaft noch. Auch Eiche schien besondern Vorstellungen nachzuhängen; das ist indeß [304] bei ihm nichts ungewöhnliches: aber ich schauerte zusammen, als er meine Hand faßte, und sie leise aber innigst drückte. – Der Mond schien ihm ins Gesicht, da sah ich eine Thräne in seinem Auge zittern, und auch mir traten Thränen in die Augen. Er ergriff von neuem meine nicht widerstrebende Hand, und schien sie an sein Herz drükken zu wollen. Lachen Sie nicht über mich, Mariane; ich vergaß die Welt, dachte mir in einem süßen, täuschenden Moment den Geliebten, und erwiederte den Druck der Hand mit Wärme und Innigkeit. Nun fiel mein Irrthum mir aufs Herz, da mir der Mann mit unbeschreiblichem Ausdrucke ins Auge blickte. Ich zog meine Hand lebhaft zurück; und mochte wohl verstört ausgesehn haben, denn der Mann seufzte kläglich aus der Tiefe der Brust. Ich schwieg unmuthig, wendete mich von ihm, und erwartete Karolinen, [305] die etwas zurückgeblieben war. Die Unterhaltung ward wieder allgemeiner, und der Abend wurde noch ganz leidlich beschlossen.

Zu Hause ward ich sehr unfreundlich empfangen; Madame Brennfeld sagte, das späte Ausbleiben schicke sich nicht (es war noch nicht zehn Uhr, so genau pflegt sie es sonst nicht zu nehmen). Ich antwortete nicht, und dachte: die kurze Zeit will ich still seyn und dulden. Ich habe doch in ihrem Hause manche Freude genossen: ihr habe ich Sie zu verdanken; Ihnen den Geliebten. Sie hat Gefühle, die verworren in mir lagen, entwickeln helfen; sie hat mir Schätze des herrlichsten Geistesgenusses geöffnet, die ich in dem einförmigen Kreise der häuslichen Geschäfte und des trocknen Umganges mit meinen Verwandten nie kennen gelernt hätte. Wie hätte ich auf dem Lande von dieser [306] feinen Geistesbildung etwas ahnen können? – Sie haben ja meinen Vater gesehn. Ich unterstehe mich nicht, ihn zu tadeln; aber was ist er doch, bei all' seiner Rechtschaffenheit, für ein rüder Mann! – Nie ist's mir so einleuchtend gewesen, als da ich ihn zuletzt sah. Gott, wie unempfänglich jedem sanftern Eindruck! Ich war halb ohnmächtig, wenn er in so wenig gewählten Ausdrücken alle Einrichtungen unseres Instituts tadelte, und sie Wind und zwecklose Zeitverschleuderung nannte. In seinen Augen geht nun einmal nichts über eine gute Wirthin und Kindermutter. – Lieber Gott! ich denke das ist alles recht gut und schön zu seiner Zeit; aber da wäre unserm Geschlechte ein recht elendes Loos zu Theil geworden, wenn es bloß dem Manne Essen und Wäsche besorgen sollte, und sich mit den Kindern zu quälen hätte. Gott weiß, wie [307] mir, in der Rücksicht, vor dem Aufenthalte bei Falk's graut! Ich werde das vis-à-vis zweier Eheleute seyn, welche sich die interessanten Ereignisse ihrer häuslichen Einrichtung mittheilen: um wieviel Zeit die Köchin vom Markte gekommen ist? und ob die bunte oder die schwarze Henne legt? Karoline ist ein braves Weib, aber für eine so junge Frau ungemein ernsthaft; und wenn sie lieset, sind es ernste Bücher, die ein Kirchenrath lesen könnte, und die sie wie ein Magister beurtheilt. Künftig werde ich dabei sitzen, und wehmüthig in die frohe Zeit zurückblicken, die ich in dem bunten Kreise junger munterer Leute in stets abwechselnder Unterhaltung verlebte; in die Wonnezeit, da ich täglich einen süßen Beweis der Zärtlichkeit von dem Geliebtesten unter allen Menschen an meine Lippen drückte, u.s.w.«

[308] Wie gefällt Ihnen nun das Mädchen, lieber Seelmann, das sonst keinen bessern Mann kannte, als ihren nur zu schwachen, zärtlichen Vater, den sie nun einen rüden Menschen schilt, weil er sich einer sie verderbenden Neigung entgegensetzte? Ist's Ihnen jetzt anschaulich, Frau Nachbarin, daß der Pensionenwind die Köpfe schwindeln macht? Sie haben es gesehn, mein Mädchen war brav und gut, als ich sie der verwünschten Residenzbildung übergab; ich war selbst schwachköpfig genug, dem Grunde zu trauen. der durch ihre erste Erziehung in ihr gelegt war. Julchen war kein kleines Kind mehr, als ich sie in die Windmühle brachte, die Landmädchen in Stadtdamen methamorphosiren soll; auch hat sie sich etwas länger gehalten als manche andere, und doch zuweilen durch einen flüchtigen Rückblick vor dem gänzlichen Verflattern bewahrt. Die [309] erste gute Erziehung hielt die Wage noch eine Zeit herunter, bis die unselige Bekanntschaft mit dem Kornet, und verführerische, Sinnlichkeit erregende Bücher ihr einen so mächtigen Stoß gaben, daß sie gewaltsam in die Höhe schnellte. Die Bemerkung wird Ihnen, meine Freunde, nicht entgangen seyn, wie geschwind des Mädchens Styl sich gebildet hatte. Das that nun wahrscheinlich dieLiebe, die so oft aus Affen Menschen, und Menschen zu Affen macht. – Dieses hätte aber eben so gut im Dorfe als in der Stadt eintreten können. Setzen Sie indeß einmal den Fall, daß ein Mädchen, welches die allerersten Eindrücke außerhalb dem elterlichen Hause erhalten, und beinahe schon mit der Milch die Maximen der sogenannten verfeinerten Lebensart eingesogen hat; das man, ehe seine Begriffe sich noch entwickelten, seine wahren Empfindungen unter [310] einen Schwall ungefühlter Komplimente verstecken lehrte, und welches dann in eine solche, halb oder ganz französische Schulanstalt kam: und zeigen Sie mir unter hundert, so erzogenen Mädchen nur eines, ja nur eines, das eine gute Gattin und Mutter geworden wäre, so will ich sagen: geben Sie Ihre Tochter hin, vielleicht thut Gott ein Wunder, und bewahrt ihr Herz vor Eitelkeit. Denken Sie sich nur, daß die armen jungen Geschöpfe sich nie unterstehen dürfen, nach ihrem eigenen Gefühl zu sprechen; daß die Aufseherinnen nie einen eigenen Gedanken bei dem Kinde aufkommen lassen; daß die Gouvernante, wenn man ihren Zögling um etwas fragt, sogleich ins Wort fällt, ihren eigenen Witz anbringt, und ein Kompliment herleiert, welches das arme kleine Ding oft mit weinerlicher Stimme nachbetet. – Müssen dadurch nicht falsche Menschen gebildet [311] werden? und ging nicht auf diesem Wege die belobte deutsche Treuherzigkeit verloren? –

Aber wo gerathe ich hin! Doch Wahrheit steht immer am rechten Orte; und weil ich einmal dabei bin, Seitensprünge zu machen, so erlauben Sie mir, noch einen Mißbrauch zu rügen, der – mit Erlaubniß, Frau Pastorin, – ihrem ganzen Geschlechte als Erbübel eigen ist: ich meine die Schwachheit, einen ausgezeichneten Werth auf körperliche Vorzüge zu legen. In einem gesunden Leibe kann eine gesunde Seele wohnen. Sie thut's nicht überall und jederzeit, aber der Satz ist richtig; und daher ist alle Pflege, die auf Gesundheit des Körpers abzweckt, höchst vernünftig. Die weibliche Aufsicht geht indeß gemeinhin nur auf Schönheit aus, und das ist nicht recht. Schon in meinem Knabenalter fiel mir's besonders auf, daß[312] die lieben Weiberchen, sobald dies oder jenes Frauenzimmer genannt wurde, gleich mit der Frage d'rüber herfielen: »Ist sie hübsch? Ist sie gut gewachsen?« Ich habe nachher in allen Frauengesellschaften die nämliche Bemerkung zu machen Gelegenheit gehabt. Nie wird gefragt: ist sie sittsam? ist sie häuslich? hat sie weibliche Geschicklichkeiten? etc. – Ihr glaubt's nicht, liebe Weiberchen, welchen Eindruck das auf Eure Töchter von früher Jugend an macht. Natürlich denken sie: Schönheit, und alles, was diese geltend macht, sei des höchsten Bestrebens werth; um so mehr, wenn sie bemerken, daß gute liebe Mädchen, welche die Natur nicht begünstigte, oft sogar von ihren Eltern zurückgesetzt werden. Die Schönheit ist ein dankenswerthes Geschenk der Natur, doch aber nicht das erste und vorzüglichste; wozu sie freilich dann erhoben [313] wird, wenn die Menschen zu roh sind, moralischen Werth zu fühlen. – »Der Amtmann ist ein Schwätzer,« rief die Pastorin lachend, »die Schönheit wird doch ihren Werth behalten!« – Ganz gewiß, liebe Nachbarin, (entgegnete Grünthal) ihren Werth, aber nicht den Preis; und damit sei es für heute genug.


Ich hatte in langer Zeit nur drei oder vier Briefe von Julchen bekommen. Es war mir nicht möglich, ihr keine Vorwürfe deshalb zu machen, wobei mir Anspielungen auf den wahren Zustand ihres Herzens entfallen seyn mochten. Sie beantwortete dies in einem beleidigten Tone, der mich das sanfte, folgsame Mädchen gar nicht wieder erkennen ließ. Dabei entschuldigte sie sich [314] mit mancherlei Abhaltungen; sie verfertige z.B. allerlei kleine Andenken für ihre Hausgenossen, u.s.w., kurz, der Vater mußte gegen diese zurückstehen. Indeß hatte sie folgenden Brief von ihrer leichtsinnigen Freundin erhalten:

»Dein Brief, liebe Juliette, hat mich ungemein amüsirt. Hab' ich's Dir nicht schon lange gesagt: der Pfaffe hat ein Auge auf Dich? Um alles in der Welt, mein Schatz, werd' mir keine Priesterfrau! Hörst Du? werd's ja nicht! Das sind die Unausstehlichsten aller Unausstehlichen! – Du schickst Dich nicht dazu; denn Du bist in allem Ernst demüthig und bescheiden, verstehst Dich schlecht auf Geträtsche, und bist bei weitem nicht eitel und abgeschmackt genug, Dir auf fremdes Verdienst etwas zu gute zu thun. Ich habe einen wahren Gräuel an dem niedrigen Stolze dieser[315] Gattung. Das erlaube ich Dir allenfalls, Deinen Spaß mit dem frommen schüchternen Amanten zu haben. Wie erbärmlich! nicht einmal einen Handkuß bei seiner taubenartigen Schönen zu riskiren! Es versteht sich, daß Du mir nicht verschweigen mußt, wie weit er sich mit seinem gottseligen Herzchen hervor wagt; ich will Dir dann schon sagen, wie Du Dich zu benehmen hast. Gönne Dir immerhin die Lust; denn mit meinem Bruder mag's so nicht so ganz richtig seyn. Deine romanhafte Anhänglichkeit fällt ohnedem – nimm mir's nicht übel, Kind, – ein wenig ins Schäferliche; mit einem Worte: ins Ridiküle. Bei mehrerer Erfahrung wirst Du finden, daß in der Abwechslung der wahre Lebensgenuß liegt. – C'est un mariage, que de n'en aimer qu'un!

[316] Denk' doch! Der insolente Baron, mein verabschiedeter Bräutigam, beantwortet meine Einladung ganz kalt, und wünscht mir Glück zur neuen Verbindung. Der Unverschämte! meiner Rache entgeht er nicht. – Wäre ich so grillenhaft wie sonst jemand, so hätte ich nun schönen Stoff, in empfindsame Thränen auszubrechen. – Im Vertrauen, Julie, ich bin schon mehr als halb getröstet über den Unfall, der mir den Genuß der Stadt versagt; es giebt hier herum ganz hübsche Leute, man muß sich nur orientiren. Sag' das aber nicht weiter, damit es meiner dürren Hälfte nicht zu Ohren kommt, die ich posttäglich mit Klageliedern heimsuche. Schon hat er mir den Streich gespielt, mir, unter einem elenden Vorwande, den Postzug wegführen zu lassen. Nun fahre ich in meinem Whisky, oder lasse mich bei üblem Wetter in des [317] Pfarrers alter Kalesche mit ledernen Vorhängen herumrütteln.

Deine Heloise ist unleidlich. Tugend und Liebe, und Liebe und Tugend, das einem die Ohren weh thun! Hier ist sie zurück. Schick' mir Komödien von der sauersüßen Gattung, hörst Du? Was doch in aller Welt mit dem Louis seyn mag! A dieu, portez vous bien!

Mariane


(Julchen an Marianen.)


»Ich bin verloren, Mariane! Unglücklicher ist noch kein Mädchen in der Welt gewesen! Ihr Bruder ist fort. Man hat Nachricht, daß er sich, unter fremden Namen, in Hamburg aufhält, und daß er da mit den dänischen Werbern umgeht. O, es kommen entsetzliche Dinge heraus! Ich wage es kaum, seinen Namen zu nennen, [318] und doch müssen Sie alles erfahren! Seit vorgestern, da ich die unglückliche Nachricht erhielt, habe ich so viel geweint, daß mein Kopf ganz ausgetrocknet ist. Ich schreibe dies mit trocknen Augen; die Thränen sind versiegt.

Schon seit einiger Zeit fuhr ich immer zusammen, wenn ich Magot kommen sah. Es fehlte mir an Muth, ihn nach – o, wie nenn' ich ihn jetzt? – zu fragen, und doch wenn der Mensch fort war, und nichts von ihm gesagt hatte, war ich den ganzen Tag wehmüthig. So hofft' ich von einem Morgen zum andern. Vorgestern bemerkte ich, daß Magot mit der Madame angelegentlich sprach. Ich hörte einigemal den Kornet nennen, und sah, daß sich Madame entsetzte. Ich zitterte am ganzen Leibe. Beim Herausgehn nahm Magot seine Zeit so gut wahr, daß er mir einen Brief, oder [319] vielmehr ein Paquet, in die Hände spielte. Der Athem verging mir vor Schreck. In einer ganzen Stunde hatte ich keine Gelegenheit es zu erbrechen. Erst während der Klavierstunde schlich ich mich ins Kabinet. O, mein Gott, welch' ein Unglück! – ein Brief von einer fremden Hand, – alle meine Briefe an ihn, – ein Schattenriß, – eine rabenschwarze Locke, die doch von mir blondem Mädchen nicht seyn kann! – – Lesen Sie doch den beleidigenden Brief:


›An Mademoiselle Grünthal.


Liebenswürdigstes Mädchen! Der Mensch, den Sie mit Ihrer Liebe beglückten, ist derselben, wie er selbst gesteht, nie werth gewesen. Seine verzweiflungsvolle Lage hat ihn genöthiget, sich vom Regimente zu entfernen. Die ungeheure Verschwendung seiner Mätresse, der Figurantin [320] Annette, wogegen ihn die Freigebigkeit des reichen Judenmädchens nicht schadlos halten konnte, hat ihn bewogen, einen falschen Wechsel auf seinen Schwager v. L.. zu machen. Er würde der Festung schwerlich entgangen seyn, hätte er nicht das Weite gesucht. Ich habe die Ehre, Ihnen Ihre so angenehmen Briefe wieder zuzustellen; der Auditeur hat sie mir ungern ausgeliefert. Wenn ein treuerer Liebhaber Sie über den Verlust eines leichtsinnigen trösten kann, so schlage ich mich Ihnen vor. Schon lange war ich ein aufrichtiger Verehrer Ihrer Schönheit.

Der Lieutenant, Graf von ***.


N. S. Magot wird mich Ihnen näher bekannt machen, englisches Mädchen.‹

[321]

Fühlen Sie die entehrende Demüthigung, Mariane? Ich bin tief, tief an meiner Ehre gekränkt. Wie verabscheue ich ihn! ihn, mich, und alle, alle die dazu beitrugen, mich elend zu machen! Gott, wäre ich nur schon aus diesem Hause! Der Fußboden brennt unter mir! Könnt' ich mich in die Erde verkriechen! O! und habe ich ihn nicht so treu, so einzig geliebt? Mehr als mein Leben hätt' ich für ihn hingegeben; und er? eine liederliche Tänzerin, ein wollüstiges Judenmädchen neben mir! – Ein armes, unerfahrnes, liebevolles Mädchen so zu hintergehen! – Ich werde sterben, Mariane. Wünschen Sie mir's. Ich verachte ihn, und kann ihn doch nicht hassen. Arme Schwester, ich bedaure Sie! Gott beruhige Ihr Herz!«


[322] Mariane an Julchen.


»Das ist bei dem allen ein böser Streich von Louis! Wo es mich nicht geahnet hat! Hätte er nur auf v. L.. keine Schulden gemacht! Dieser Unhold wird's mich nun entgelten lassen. Es ist schlecht von meinem Bruder, das gesteh' ich. Sonst wundre ich mich, liebes Kind, daß Du wegen der kleinen Seitensprünge des losen Vogels so außer Dir bist. In der That, ich glaubte Du wüßtest das alles. Du hast sie auf den Pickenik gesehn, von welchen Dein Vater Dich heimholte. So auch sein Rachelchen, von der vermuthlich die rabenschwarze Locke ist, die, – ich muß wahrhaftig lachen, ich kann mir nicht helfen – drollig genug, grade in Deine Hände gerathen mußte. Ich rathe Dir, nimm es heut' zu Tage mit den Männern so genau nicht. Wir lassen sie machen, und Du [323] weißt, eine Höflichkeit ist der andern werth. Einmal, mein Schatz, mußte das Ding doch ein Ende nehmen. Bedenke selbst, was sollte, was konnte daraus werden? Du bist zwar ein sehr schönes Mädchen; aber ich brauche Dir nicht erst zu sagen, was makelloser Adel sagen will. Ich muß zwar selbst gestehn, daß der Louis ein arger Libertin ist; aber er bleibt dabei doch immer ein Edelmann, aus einem der ältesten Häuser, die sich nie mit Bürgerblut vermengt haben. Rein haben wir's erhalten, rein wollen wir's unsern Nachkommen übergeben. Sprechen die Leute über Dich? – Laß sie; sie können doch nicht sagen Du habest Dich gemein gemacht; es war doch immer ein Mann von Stande. Und dann so laß Dir zum Trost sagen: in Berlin genießen Mädchen und Weiber immer erst eines gewissen Respekts, wenn sie ein paar [324] Aufsehen erregende Abentheuer bestanden haben. Es ist wahrhaftig eine ordentliche Demüthigung, wenn gar nicht von einem gesprochen wird. Du kannst die Wahrheit meiner Behauptung darin bestätigt finden, daß der Graf von *** Dir Anträge macht. Was wüßte der von Julchen aus Lindenau, hätte mein Bruder Dich nicht en vogue gebracht? Übrigens sterben wirst und mußt Du nicht. O weh, wie viele Leichen würde es geben, wenn man von fehlgeschlagenen Liebeleien stürbe! – Übel disponirt hat mich indeß das Geschichtchen doch. Schreib mir bald, ob der Graf Dich getröstet hat. Adieu, armes Mädchen, leidende Schöne! Wie interessant Du seyn wirst! Geh', ich beneide Dich! bin aber doch Deine Freundin

Mariane


Nach diesem Vorfalle blieb meine Tochter noch ohngefähr acht Tage in der Pension, [325] und zog dann, unter tausend Thränen und krank an Leib und Seele, zu meiner Verwandtin. Karoline hatte ein Herz, das ganz zum Trost des ihrigen geschaffen zu seyn schien. Sie hatte zu Julchens Aufnahme alles mit der zärtlichsten Freundschaft und Aufmerksamkeit veranstaltet. Obgleich Julchen ihre sorgsame Liebe nicht mit der Offenherzigkeit lohnte, welche eine so rechtschaffene Freundin verdiente: so behandelte diese doch das herzkranke Mädchen mit aller der Schonung und Feinheit, welche ihr jetziger Gemüthszustand erforderlich machte; denn sie errieth nur zu gut die Ursache der tiefen Schwermuth, welche ihre Cousine mit zu ihr brachte, obgleich Julchen alles auf die lange, zur Anhänglichkeit gewordene, Gewöhnung an das Haus der Erzieherin schob. Ihrer Empfindlichkeit zu schonen, verhütete Karoline sogar, daß sie in den ersten vierzehn [326] Tagen Eichen zu sehn bekam. Sie war unablässig geschäftig, Zeitvertreibe und Zerstreuungen für sie zu erfinden, suchte sie nebenher in häusliche Arbeiten zu ziehen, und bei ihr den Geschmack an den Geschäften des häuslichen Lebens wieder zu wecken. Sie gab, wider ihre Gewohnheit, Besuche, veranstaltete kleine Lustbarkeiten und Fahrten aufs Land, und ließ sich durch die kalte, beinahe unfreundliche Art, mit der das Mädchen ihre Liebe aufnahm, im geringsten nicht abschrecken, in ihrem edlen Eifer fortzufahren. Sie erreichte aber ihre Absicht so wenig, daß das undankbare Mädchen vielmehr, verdrießlich darüber, folgendes an Marianen schrieb:

»Wenn ich's den Leuten nur sagen dürfte, wie sehr mich ihre Zudringlichkeit wartert! Es liegt ein recht peinigendes Gefühl darin, daß ich ihre Freundschaft nicht erwiedern [327] kann. Sie stellen meinetwegen allerlei sogenannte Lustbarkeiten an; aber, o wie steif und seelenleer! Mein Herz wird sich nie an den ungeheuren Abstand zwischen diesen Gesellschaften und jenen muntern, ungezwungenen gewöhnen können, deren Seele eine Mariane war, und ein – ach, daß er so liebenswürdig seyn mußte! – Da kommen denn die förmlichen deutschen Degenknöpfe, mit ihren Frau Gemahlinnen am Arm, und unterhalten die Damen mit Politik oder den Ereignissen bei der letzten l'Hombreparthie. Noch nie befand ich mich in einer so unangenehmen Lage. Es ist mir alles verdrießlich; es ekelt mich alles an; es kostet mir Überwindung, den Leuten auch nur höflich zu begegnen. Und wenn ich zuweilen ein einsames Stündchen erhasche, so kömmt die dienstfertige Karoline, und zeigt mir die [328] Herrlichkeiten, welche sie in ihrem Hauswesen vornimmt, oder verlangt gar ich soll ihr helfen. In der That, eine interessante Parthie! Ich möchte vergehen. Ihre Wirthlichkeit ist mir zuwider, ihr Hauswesen geht mich nichts an. Was will denn die Frau? Wäre sie doch lieber mürrisch; ihre immerwährende Heiterkeit ist mir ein wahres Hauskreuz. Die träge, stumpfe Seele!

Es sollte mir sehr leid thun, meine Beste, wenn Sie meine Unbehaglichkeit einem Rückfalle von Liebe zuschrieben. Ich verachte sein Andenken; aber er füllte meine Seele so ganz, er war mir ein langer zusammenhängender Gedanke, ein Begriff, auf den ich alles bezog. Und nun plötzlich so schmerzhaft abgerissen! Es ist als hätte ich aufgehört zu leben; ein Stillstand aller meiner Kräfte, eine entsetzliche Lücke, eine düstere Todtenstille herrscht in meiner Seele![329] Sein Bild war in meinem Herzen so lebendig, so feurig; er war mein zweites inneres Leben. Nun bin ich mir allein nicht mehr zum Leben genug! Wohl Ihnen, Mariane, daß Sie so leichtes Blut haben, und so frohen Herzens sind! Ich irre unstät umher, und suche ängstlich etwas, das die Gefühle der Vergangenheit in meiner Seele erneuen soll. Es wäre mir alles willkommen, wenn nur diese Stille, diese Öde nicht wäre. Einmal bin ich bei Madame Brennfeld gewesen, aber auch dort befriedigt mich nichts mehr. Ich bin aus dem liebenswürdigen Kranze hinweggepflückt, und habe aufgehört dort einheimisch zu seyn; ach! in dem Hause, das mir so lieb wie das väterliche, ja noch lieber geworden war!«

Dies sind die merkwürdigsten Stellen ihres Briefes, die den unlustigen widrigen Zustand [330] der Leere am deutlichsten bezeichnen, welcher auf die Erschütterung aller heftigen Leidenschaften zu folgen pflegt. Das übrige enthielt einige gelinde Vorwürfe über die Art, wie Mariane sie lehrte ihren Verlust zu ertragen. Mir meldete sie in ganz allgemeinen Ausdrücken, daß sie zu ihrer Cousine hingezogen und sehr gütig aufgenommen wäre, sich aber noch immer nicht an ihren jetzigen Aufenthalt gewöhnen könne. – Zuletzt empfahl sie sich unbekannter Weise ihrer Frau Stiefmutter, und verblieb meine gehorsame Tochter.

Ich hoffte indeß alles von Karolinens Verstande und trefflichem Herzen, auch von Eichens naher Bewerbung um Julchen. Ich dachte: wenn er ihrer Zuneigung gewiß ist, soll in anderthalb Jahren die Hochzeit seyn. Gern hätte ich die Heirath früher vollzogen gesehn; ich konnte es aber nicht [331] über mein Herz bringen, einem Manne, den ich ehrte und liebte, ein Mädchen, das vielleicht noch unter dem Einflusse einer unwürdigen Leidenschaft stand, zur Gattin und Mutter seiner Kinder zu geben. Überhaupt trug ich als ein ehrlicher Mann Bedenken, diese Heirath unter solchen Umständen befördern zu helfen; aber dann mahnte mich der Vater, die Tochter je eher je lieber der Gefahr zu entreißen. Karoline, der ich's zur heiligsten Pflicht gemacht hatte, mir stets ganz offenherzig Nachrichten von meiner Tochter zu geben, schrieb mir: sie müsse gestehn, daß es schwer sei, Julchens Herzen, bei ihrer geflissentlichen Zurückhaltung, beizukommen. Ehedem habe es wohl geschienen, als ob sie Eichen mit vorzüglicher Achtung begegne; jetzt aber betrage sie sich sehr sonderbar gegen ihn, nehme ihn auf einen gewissen leichten Fuß, und beantworte[332] seine zärtliche Aufmerksamkeit mit einer lustigen, nicht achtenden Art, die den trefflichen Mann, wie sie gewiß wüßte, in der Seele kränkte. Der gute Eiche selbst bestätigte Karolinens Nachricht, obgleich in den schonendsten, zärtlichsten Ausdrücken. Er beklagte sich sehr rührend, daß er ihr Vertrauen nicht gewinnen könne, und gedachte des Abends, dessen Julchen gegen Marianen erwähnt, wo sie ihm bei der Rückkehr vom Dorfe einen anscheinenden Beweis von Zuneigung gegeben hätte. Sein Herz habe aus diesem Augenblicke, dem ersten, in welchem er gewagt seine herzliche Neigung sprechen zu lassen, die süßeste Beruhigung geschöpft; jetzt meide sie ihn augenscheinlich, und es thue ihm weh, daß sie seine unverkennbare Zärtlichkeit mit leichtsinnigem Scherze, und in einem Tone, den er nicht zu verdienen glaube, erwiedre. Ich dachte: das [333] Mädchen ist albern. Die jungen Dinger bilden sich zuweilen ein, es kleide ihnen gut, wenn sie einen rechtschaffnen Mann quälen, und dadurch, daß sie ihre Liebhaber bei der Nase herumziehen, ihrer kleinen Person eine besondre Bedeutsamkeit geben. Möchten doch Erzieherinnen, die bei der Bildung ihrer Zöglinge ihre Zuflucht zu Romanen nehmen, ihnen den Karakter des Fräulein Biron zu beherzigen geben, damit sie sähen, welcher redlichen Offenheit sich dieser weibliche Engel befliß! Aber der Grandison wird jetzt verlacht, weil ihn niemand mehr kennt; einer betet dem andern mechanisch nach, und spottet eines Werkes, das ihm kaum durch Hörensagen bekannt ward. – Grandison wird verspottet, weil einige Narren ihn mißverstanden und mißbrauchten. Die hohen Urbilder haben des Kontrastes wegen, den sie so grell bemerkbar machen, [334] alle einerlei Schicksal; das Ehrwürdigste in der Wirklichkeit, wie das Idealische in der Dichtung. – Die Kunstrichter mögen Recht haben, wenn sie als solche sich gegen die Darstellung unerreichbarer Ideale der Tugend er klären; aber dem Menschenfreunde, der die Tugend gern so allgemein und so groß geehrt und geübt sähe als möglich, müssen sie ehrwürdig seyn. Jene wollen Künstler bilden, dieser Menschen zur Tugend und Glückseligkeit führen; und – glauben Sie mir – die Menschen bleiben immer unter dem Vorbilde, dem sie nachstreben, und ahmen an dem ehrwürdigen oft nur die Schwächen nach, die doch außer der Verbindung mit solchen Vorzügen nicht zu dulden wären. – Halten Sie mir doch diese gelegentliche Herzensergießung zu gute, ich bin bereit, wieder einzulenken.

Ich antwortete Eichen: er müsse sich [335] nicht abschrecken lassen, und – was ich mir heute noch nicht verzeihn kann – das Mädchen sei ihm gut, ich wisse es. Diese Versicherung vom Vater gab ihm Muth, seine Bewerbung um sie ernstlicher zu betreiben. Indeß wurde das Mädchen durch den Beifall, den ihre Schönheit in allen Gesellschaften erhielt, noch eitler und aufgeblasener, und begegnete ihrem würdigen Verehrer bald mit jugendlichem Übermuthe, bald mit kalter Sprödigkeit. Dies schrieb mir von Zeit zu Zeit Karoline, gegen welche sie eine fortwährende Zurückhaltung beobachtete; indeß freute sich das gute arglose Weib, daß Julchen in ihren Mann viel Vertrauen zu setzen schiene. »Er hätte« – schrieb sie – »sich alle Mühe gegeben, sie aufzuheitern, und ihr den Aufenthalt in ihrem Hause angenehm zu machen; es wäre ihm auch so ziemlich gelungen, und sie wäre gegen ihn weniger [336] kalt und zurückhaltend.« Die gute Seele setzte ein unbegränztes Vertrauen in alle die, denen sie gut war, und es hielt schwer, sie von den Fehlern solcher Personen zu überzeugen. Ihren Karl vergötterte sie beinahe, und ich hätte es keinem rathen wollen, auch nur den Schatten eines Fehlers an ihm zu entdecken. Sie hatte einen weit richtigern Verstand und beßres Urtheilsvermögen als er; aber ihre Bescheidenheit ging so weit, daß sie sich ohne Widerrede seinen Aussprüchen unterwarf. Bei dieser Stimmung hatte sie auch natürlich nichts dagegen, daß Falk es sich angelegen seyn ließ, der jungen Hausgenossin die Zeit zu vertreiben. Er führte sie beinahe täglich ins Schauspiel; denn wo auch nur eine Geige gestrichen wurde, da war er abonnirt. Er veranstaltete Lustbarkeiten, und führte Julchen in Gesellschaften ein, die keinen andern [337] Zweck des Lebens, keine andre Bestimmung kennen, als das Vergnügen, es sei von welcher Gattung es wolle. Durch Falk wurde die Gedankenlose mit allen Gesellschaftsspielen bekannt, und so, nicht aus Geldgeiz sondern aus Eitelkeit, eine leidenschaftliche Spielerin, die keinen Tag ohne Karten hinbringen konnte. Blieben sie einmal zu Hause, so lasen sie mit einander Gedichte, Romane und manches andere, was die Seele zur Üppigkeit hinneigt. Zur Abwechslung musicirten sie, sangen zärtliche Duetten, und die Lücken füllte eine Piketparthie. Dadurch gewöhnte sich das Mädchen, ihre redliche Freundin von all' ihren Planen auszuschließen, und sie für entbehrlich zu halten. Der Mann der Freundin war ihr zum angenehmen Lebensgenuß ja ganz allein nothwendig.

Karoline konnte unmöglich mit dieser Einrichtung zufrieden seyn. Sie äußerte [338] ihre Mißbilligung auf die sanfteste Art, stellte ihrem Manne vor, daß er der jungen Person vollends alle ernsthafte und ihrer Bestimmung entsprechende Thätigkeit verleide, und durch die unaufhörlichen Zerstreuungen Eichens Absichten auf Julchen Hindernisse in den Weg legte. Zuweilen wurde sie auch wohl böse, wenn Falk ihr im scheinbar scherzhaften Tone antwortete: was der Pedant mit dem hübschen Mädchen solle? die sei für ihn zu gut. Es fiel der ehrlichen Seele, der Karoline, wohl zu spät auf, daß es für eine Frau immer eine mißliche Lage ist, wenn der Mann stündlich Gelegenheit hat, neben ihr ein schönes Mädchen zu sehen, – ihre bloß häusliche Nettigkeit mit der raffinirten Zierlichkeit zu vergleichen, in der das junge Äffchen täglich erscheint, weil es kein wichtigeres Geschäft kennt, als auf neuen Putz zu sinnen. Karoline setzte ein [339] unbeschränktes Vertrauen in ihren Mann, das er keinesweges verdiente, und mir, bei einer übrigens so einsichtsvollen Frau, unbegreiflich ist. Mir gefiel der Mensch nicht; mein Gefühl war gegen ihn, ob ich gleich aus Gründen nichts gegen ihn einwenden konnte. Er war nach dem allgemeinen Begriff eine schöne Mannsperson von vollem, gesunden Wuchs, und stach gegen seine galanten Mitbrüder wenigstens so ab, wie der Vollmond gegen das letzte Viertel. – Denn lieber Seelmann, sähen Sie die armen Knochenmännerchen, wie matt und kraftlos die meisten von ihnen umherschleichen, es würde Ihnen weniger auffallen, wenn uns die Zeitungen verkündigen, dieses oder jenes nützliche Staatsmitglied sei noch vor dem vierzigsten Jahre an Entkräftung gestorben. – Sie wissen, wie viel Gelächter dies in den Provinzen erregt, wo noch deutsche Kraft wohnt.

[340] Ehe ich Julchens Brief anführe, der die Spuren trauriger Selbstvergessenheit immer deutlicher an sich trägt, muß ich ein Wort von Eichen sagen, um die thörigte Blindheit des irregeführten Mädchens in ein noch helleres Licht zu setzen.

Weil jedem Mädchen die Außenseite das wichtigste ist, so will ich bei dieser anfangen. Als der Rechtschaffene um Julchen warb, war er zwei und dreißig Jahr alt. Seine Größe übertraf etwas die gewöhnliche Mannslänge; sein Wuchs war schlank und zierlich; er trug seinen wohlgebildeten Körper wie ein feiner Weltmann, doch ohne in gesuchte Manieren zu fallen. Sein Gesicht war regelmäßig, sein Auge schön und seelenvoll. Bei ruhiger affektloser Stimmung war heitrer Ernst darin ausgedrückt; lächelte er, so war's das Lächeln der Vernunft und eines wohlwollenden Herzens; zuweilen [341] mischten sich Strahlen des feinsten Witzes ein, der aber nie in beißende, verwundende Laune ausartete. Nur seine Herzensfreunde kannten diese Seite an ihm. Er besaß mehr als einseitige Gelehrsamkeit; allein in Gesellschaften vermied er den wissenschaftlichen, und noch mehr den lehrenden Ton. Gegen Frauenzimmer war er zurückhaltend und bis zur Ängstlichkeit behutsam. Ich gestehe daß dies wenig zur Annehmlichkeit des geselligen Vergnügens beitrug; da es aber aus seiner Gewissenhaftigkeit entsprang, so wage ich nicht, es zu tadeln. Sein Herz war bis zur Weichheit empfindlich; aber nie sprach er von Gefühl, noch weniger prunkte er mit dem, was ihm ganz von Natur dem bessern Menschen angeeignet dünkte. Sie mit seinem vollen moralischen Werth bekannt zu machen, wäre zu weitläuftig. Nur noch dies, lieber Seelmann: er war einer Ihrer würdigsten Amtsbrüder, [342] und seiner ihn liebenden Gemeinde, was mein lieber Seelmann der seinigen ist.

So gut und edel war der Mann, den meine arme unbesonnene Tochter in ihrem jugendlichen Übermuthe abwies. Auf meine ihm gegebene Versicherung, das Mädchen sei ihm gut, war er, wie ich schon gesagt habe, in seiner Bewerbung um sie ernstlicher geworden; der Wunsch, über eine Sache, die ihm so sehr am Herzen lag, Gewißheit zu haben, war sehr natürlich. Er schrieb also mit dem vollsten Ausdruck der Liebe an meine Tochter, und trug es Karolinen auf, Julchen den Brief zu übergeben. Sie that es, und das arme verlorne Mädchen drückt sich im folgenden Briefe an Marianen höchst lieblos darüber aus.

»Ich würde glauben Sie wären gestorben, meine beste gnädige Frau, hätte ich nicht den Maskenhabit gesehen, welchen [343] Ihnen Madame Douillet überschicken soll; Sie leben also noch, und sind für's erste auch noch nicht Willens, an den Tod zu denken. Auch Ihr Gemahl scheint sich noch lange seines Lebens freuen zu wollen; er hat Annetten, bei deren Namen mich noch schaudert, eine schöne Equipage geschenkt, und wohnt mit ihr in einem Garten. Vielleicht ist Ihnen diese Nachricht nicht ganz angenehm, denn Sie werden nun wahrscheinlich wenig von der Stadt genießen. Ihr Herr Vater verhält sich sehr ruhig, weil das Podagra ihn an seinen Lehnstuhl fesselt, u.s.w.

Das sind freilich trübselige Dinge, aber dafür nun auch etwas Lustiges. Was Sie weißagten ist erfüllt. Seine Hochehrwürden, Herr Eiche, haben sich ganz förmlich als meinen – Liebhaber? o nein, dazu sind wir zu fromm! – als meinen [344] Freyer erklärt. Karoline hat mir einen Brief von ihm gegeben, der ein wahres Original in seiner Art ist. Er that mit zu wissen, daß er, von meinem Herrn Vater aufgemuntert (ich dächte doch, man fragte erst die Tochter, ob auch sie aufmuntern will), es wage, um meine Freundschaft – nur Freundschaft, wie genügsam! – und – um meine Hand zu bitten. – Sie sehen, die Heiligen machen nicht viele Umstände. – Dann folgt eine weitläuftige Berechnung aller Freuden, die unser Hausstand gewähren würde, – die mir Blödsichtigen aber gar nicht einleuchten. – Endlich – im Ernst, er ist bei allem dem entsetzlich kühn – erklärt er mit dürren Worten, wie ich mich, als Frau eines Geistlichen und als seine geliebte Hälfte, – oho! so weit sind wir, dem Himmel sei Dank! noch nicht; – zu betragen hätte. Er liebe[345] nämlich die Eingezogenheit, – gut, daß er's vorher sagt; ich liebe sie eben nicht – und er gestehe offenherzig: seine Umstände erforderten Häuslichkeit, – so heirathe der Mann lieber nicht – und verlangten eine billige Einschränkung eingebildeter Bedürfnisse. Doch – fügt er recht priestermäßig galant hinzu – dies würde er, in jeder Rücksicht, meinen Einsichten überlassen. – Aber was plage ich mich? hier ist die lesenswerthe Pièce selbst; allein ich erbitte sie mir zurück, mein Vater möchte sie sehn wollen.

Falk, wie er nun so ein drolliger allerliebster Mann ist, räth mir, ich soll Eichen einige Zeit in Ungewißheit hinhalten; das will ich auch, der komischen Auftritte wegen, die das geben muß. Karoline behandelt die Sache so ernsthaft, als wäre von ihr selbst die Rede. Als sie mir den [346] Brief gab, machte sie ein erstaunlich feierliches Gesicht. Zum Vorspiel umarmte sie mich so oft, weinte, und sah mir so fest in die Augen, daß ich wirklich zitterte, und glaubte mein Vater sei etwa todt, und das würde mir denn doch recht nahe gehen. Als ich mich nur erst überzeugt hatte was es war, fing ich laut an zu lachen. – Liebes Julchen, – sagte sie mit kläglichem Gesicht, – der Mann liebt Sie so innig und redlich, er verdient, daß Sie seinen ehrenvollen Antrag ernsthafter aufnehmen. Desto schlimmer für ihn, wenn er mich liebt! – antwortete ich, und lachte noch ausgelassener. Ihr Vater, – fuhr sie fort, – hat sein ganzes Herz auf diese Heirath gesetzt. Das hätte er nicht thun sollen! – fiel ich ihr, noch immer schäkernd, ins Wort. – Julchen, Julchen, sehen Sie doch den redlichsten der Männer,Eichen, nicht so [347] an, wie die jungen Gecken, die in Gesellschaften Sie umflattern! – Ich glaubte, sie hätte im Sinn mir Vorwürfe zu machen, und das bewog mich, ihr in einem beleidigten Ton zu sagen: es thue mir leid, wenn mein Vater sein Herz auf eine Sache gerichtet hätte, die mich nothwendig unglücklich machen müßte. – Unglücklich? Cousine, Sie bedenken nicht was Sie sagen! Wird es Sie nie gereuen? – Da kam mir der lose Einfall, daß man den steifen Freyer wohl für seine kecke Anmaßung ein wenig züchtigen könne. Ich zwang mich in einen recht treuherzigen Ton hinein, und bat Karolinen, man möchte mir Bedenkzeit verstatten. Karoline dankte mir so ehrlich, daß es mich beinahe gejammert hätte. Sie umarmte mich; und so endigte dieser feierliche Anwerbungsaktus wie er begonnen hatte, – mit einer Umarmung.

[348] Im Vertrauen kann ich's Ihnen wohl sagen, meine Liebe, ich glaube, die Frau wäre mich gern los. Ich habe schon bemerkt, daß sie still wird, wenn der Consin viel und freundlich mit mir spricht. Neulich sang ich mit ihm das göttliche Duett: Selmar, ich liebe Dich, etc.; von der Gewalt der Worte und der Musik ergriffen, verhallte unser Gesang, und lösete sich in ein leises Lispeln auf; seine Wange ruhete an meiner Wange, wir weinten die wonnigsten Thränen, und ohne daß wir es selbst wußten, hatte sich seine Hand um meinen Leib geschlungen. In diesem Moment der wunderbarsten Trunkenheit war unbemerkt Karoline hereingekommen. Falk sprang betroffen vom Stuhle auf, und ich sah, glaub' ich, entsetzlich einfältig vor mir auf die Noten hin. – Wie Du einen erschreckst! sagte Falk, Du schleichst so leise.[349] Er küßte ihr dabei flüchtig die Hand. Allerdings hätte er etwas klügeres sagen können; aber woher Geistesgegenwart nehmen, wenn man wie vom Traum erwacht? Ich bin gar nicht hereingeschlichen, sagte sie mit bebender Stimme, und sah leichenblaß aus; dann fiel sie ihm mit einer konvulsivischen Bewegung um den Hals, und entfernte sich schnell. Karl und ich blieben stumm und verwirrt zurück, und standen, wie Adam und Eva nach dem Sündenfalle mögen da gestanden haben. Endlich erholte sich Karl, und sagte zu mir, ich möchte seiner Frau doch nachgehen; sie sei so grillenhaft, daß sie sich wohl gar einbilden könne, uns liege daran, allein zu seyn. Ich that es. Sie hatte die Thür ihres Kabinets hinter sich verriegelt; aber durch den Vorhang der Glasthür, den der Zugwind verschoben hatte, sah ich daß sie vor einen Stuhl knieete, und betend die [350] Hände rang. – Ihr gutmüthiges Auge schwamm in Thränen. Dieser Anblick durchschauerte mein ganzes Wesen. Ich wünschte mich tausend Meilen weit entfernt; mein Herz zerfloß in Mitleid. Weinend eilte ich in mein Zimmer. Schrecklich war mir nachher der Augenblick unsrer Wiederzusammenkunft; ich bebte wie eine arme Sünderin, hatte den ganzen Abend hindurch nicht das Herz, die Augen aufzuschlagen, und so brachten wir alle drei einen höchst peinlichen Abend zu. Karoline bemühte sich, heiter zu scheinen; es gelang ihr aber schlecht: denn es brachen oft mitten in ihrem Gespräche Thränen aus ihren Augen. Nun scheute ich nichts so sehr, als mich allein mit ihr zu befinden; und doch war es unvermeidlich. Am folgenden Morgen, als Karl ausgegangen war, und wir mit unsrer Näharbeit neben einandersaßen, sah ich [351] ihr es an, daß etwas in ihr arbeitete, was sie gern los seyn wollte, wozu sie aber den Anfang nicht finden konnte. Endlich brach es mit einen Thränenstrom los. Sie weinte lange an meinem Busen, ehe sie ein vernehmliches Wort vorzubringen im Stande war. Cousine, – schluchzte sie endlich hervor, – ich wollte Sie nicht kränken; aber ich bin ein armes schwaches Weib, ich kann es nicht zurückhalten! – – Ich wollte in der ersten Verwirrung mich befremdet stellen. – Julchen, liebes Julchen, fuhr sie fort, Sie verstehn mich ganz sicher. Ich gestehe, es ist unverzeihliche Schwachheit; und billig hätte ich es Ihnen längst schon sagen sollen, daß ich einen Hang zur Eifersucht habe. – Sie sind so schön, mein Kind, wirklich, so ungemein schön, und ich habe nur meine Liebe und Treue dagegen aufzuweisen. Wenn Ihnen meine Ruhe [352] nicht ganz gleichgültig ist, so vermeiden Sie doch meinen Mann, so oft er allein ist. – Auftritte wie der gestrige – Gott weiß, wie weit ich entfernt bin Ihnen Vorwürfe zu machen, denn die Schuld muß wohl in mir selbst liegen; – aber solche Auftritte müssen unsre allerseitige Ruhe untergraben.

Ich verstummte, und wußte nichts dagegen zu sagen, nahm mir aber heilig vor, Karln in Zukunft aus dem Wege zu gehn. Karoline jammerte mich sehr, denn ich fühlte, daß Karl mich ihr vorziehn muß; als aber der erste lebendige Eindruck dieser Unterredung allmählig schwächer wurde, konnte ich's wieder nicht über mich gewinnen, ihm wehe zu thun. Soll er denn gestraft werden, wenn sein Herz unwillkührlichen Eindrücken, die zu nichts Bösem führen, nachgiebt? Schon einigemal hat er mich recht wehmüthig gefragt: was er mir zu [353] Leide gethan hätte? Wenn er wüßte, daß seine Frau an meiner Zurückhaltung Schuld sei, würde er es sie schon fühlen lassen. – Diese Lage der Sachen ist äußerst marternd. Sagen Sie mir, Mariane, was ich thun soll.«

Es ist beinahe unglaublich, daß mein armes Mädchen so schnell jede Stufe moralischer Verwilderung erreicht haben konnte. Bei einer erwachsenen und vollendeten Person würde es indeß mehr Ursache zum Erstaunen geben, als bei einer jungen empfänglichen Seele, deren Erwartungen besonders waren erregt worden, die in einer ihr unbekannten Zone vom Glanze des Neuen und Ungewohnten geblendet wurde. Und wäre dies alles nicht, so konnten Weichlichkeit und Müssiggang ohnmöglich ihres Zwecks verfehlen; denn dem, an wahre Thätigkeit gewöhnten, Mädchen mußten die kleinen [354] Spielereien der Mode gar nicht als Arbeit vorkommen, wie sie das auch zu Anfang selbst geäußert hatte. Daneben der Umgang mit schon verderbten Gespielen; das Lesen so manches wollustathmenden Buchs; und mehr als dies alles, die, alle Moral und religiöse Grundsätze zerstörenden, Mittheilungen ihrer freigeisterischen Lehrerin und ihres Vetters. Man denke sich ein zartes Gemüth, in dem der Keim einer biedern Gesinnung lag, welches eine Fertigkeit gewonnen hatte, all' sein Thun und Lassen an religiöse Gedanken zu knüpfen; ein Herz, das immer in Hinsicht auf seinen Schöpfer und allgegenwärtigen Wohlthäter empfand und handelte, geräth nun mit einemmal unter Menschen, von welchen es ganz das Gegentheil hört; Menschen, die unter dem Schein und mit den Floskeln höherer Geistesbildung ihre dorfmäßige Gewissenhaftigkeit lächerlich machen, [355] ihr eine Seelenstärke vorspiegeln, die das Gute aus reiner Liebe zum Guten, ohne Hinsicht künftiger Belohnung wolle, ihre Eitelkeit erregen, und ihr von selbstständigem Seyn vorschwatzen. Und das möchte noch hingehn, wenn sich nicht eine überwiegende Sinnlichkeit, eine Leidenschaft dazwischen gestellt hätte, welcher denn allerdings kein Begriff willkommner war, als der von selbstständiger Unabhängigkeit, der die altväterische Frömmigkeit im Wege stand, und die alles hinwegräumte, was ihren Ausbrüchen hinderlich seyn konnte. Wie so einfach und ruhig wäre des Mädchens Leben im väterlichen Hause dahin geflossen! Rein und voll Unschuld hätte ich sie der Liebe eines braven Mannes hingegeben, und meine gut erzogenen Enkel hätten meinen Grabhügel mit Rosen umpflanzt! Jetzt – – Grünthal verbarg sein Gesicht, und vermochte lange nicht, [356] weiter zu sprechen. Seelmann und seine Frau waren gerührt, und wagten es nicht, seinen Schmerz zu unterbrechen. Nach langem Schweigen gewann endlich der unglückliche Vater so viel über sich, daß er seine Erzählung wieder fortsetzen konnte.

Julchen bildete sich wirklich ein, es sei Herabwürdigung ihrer Reize, wenn ein Mann wie Eiche, dem blendendes Glück und volltönende Titel fehlten, der nicht in poetischen Phrasen sprach, sich einfallen ließe, sein Auge zu ihr zu erheben. In Gesellschaften war ihr mancher Unsinn vorgesagt worden, der ihrer Eitelkeit so wohl that; und das Mädchen, welches bis ins funfzehnte Jahr die Ehrlichkeit selbst war, hatte eine Fertigkeit erlangt, ihre wahre Herzensmeinung hinter leere Worte zu verstecken, und in ihren Antworten so vielseitig zu seyn, daß sie auf mehr als eine Art verstanden werden [357] konnten. Eine solche erhielt auch Eiche, und der ehrliche Mann war so wenig mit den Ränken kleiner weiblichen Seelen bekannt, daß er, was sie ihm sagte oder geschrieben hatte, ganz treuherzig für eine Einwilligung hielt, die sie, sittsam verschleiert, ihm zu verstehn gebe. Diesem zu Folge betrug er sich wie ein Liebhaber, der nun bald in die Rechte des Bräutigams treten wird. Sie hatte ihm ihr Stammbuch gegeben, – eine Mode, welche eben zu der Zeit Ton unter den jungen Mädchen war, – er gab es ihr bei dieser Gelegenheit zurück, und, statt sich durch ein Reimlein ihren albernen Freunden zuzugesellen, hatte er ein schönes feurigzärtliches Gedicht hineingelegt. Das gefiel dem eitlen Dinge; denn von ihren hirnlosen Verehrern konnte sie dergleichen nicht erwarten. Sie dankte ihm sogar schriftlich, in Ausdrücken, die ihm, im gegenwärtigen Verhältnisse [358] und bei seiner gänzlichen Unerfahrenheit in den krausbunten Mädchenlaunen, für Beweise ihrer Zuneigung galten.

Indeß vertraute sie es großen Kotterieen junger Mädchen, daß Eiche ihr einen Heirathsantrag gemacht hätte, Falk erzählte es dem Departement bei welchem er angestellt war, und Eichens Gedicht lief in Abschrift umher, ehe noch der redliche arglose Mann eine bestimmte Antwort erhalten hatte. Endlich bat er in den feinsten Ausdrücken um eine solche. Dies bewog Julchen, der Sache früher, als es ihr Wille war, ein Ende zu machen. Karoline bat sie aufs rührendste, nicht übereilt zu handeln; ich drang mit größter Zärtlichkeit darauf, daß sie uns alle durch einen vernünftigen Entschluß glücklich machen möchte; aber vergebens! – Sie gab Eichen einen förmlichen Korb, versicherte, wie die Mädchen denn [359] immerwortreich sind, wenn sie einen dummen Streich beschönigen wollen, sie schätze ihn ungemein hoch, sie würde untröstlich seyn, wenn er aufhörte sie mit seiner Freundschaft zu beglücken; aber in ein näheres Verhältniß mit ihm zu treten, sei ihr schlechterdings unmöglich. Warum? könne sie nicht sagen. – Wahrscheinlich weil sie es selbst nicht wußte. Mit diesem Gänsegeschnatter wurde einer der würdigsten Männer abgefertigt. Was die eitle Thörin und ihr elender Rathgeber gehofft hatten, geschah nicht. Sie glaubten, er solle nun noch lange winseln, flehen, und so des übermüthigen Geschöpfes Triumph recht vollständig machen; allein acht Tage nachher schrieb er mir mit einer Ruhe, die seiner würdig war: die liebliche Täuschung sei vorüber, – Julchen liebe ihn nicht, – die so lange freundlich genährte Hoffnung sei dahin, – sein Herz [360] fühle die Lücke, aber ihr Glück läge ihm mehr als sein eigenes auf der Seele; doch besorge er, sie sei nicht auf dem rechten Wege, es dauerhaft zu gründen. Jetzt wäre es ihm Pflicht, das theure Bild aus seinen Herzen zu verwischen. Heirathen würde er nun vielleicht nie. Diesen Entschluß müsse er um so eher fassen, da er durch einen Todesfall in seiner Familie zu Pflichten der Mittheilung aufgefordert würde. Er bat mich, ihn mit meiner Freundschaft zu trösten und zu unterstützen, wenn ich je Rückfälle einer unglücklichen Neigung bei ihm bemerken sollte, u.s.w.

Jede Zeile dieses Briefes grub sich in mein bluten des Herz wie mit Dolchstichen. Ich ärgerte mich, daß er die Sache so gleich aufgab, und beschuldigte ihn der Fühllosigkeit. Dann konnte ich ihn auch wieder meine Hochachtung nicht versagen, daß er sich [361] nicht wegwarf, nicht den verliebten Seufzer machte, und sich einen zweiten Korb holte; aber auf das Mädchen fiel mein ganzer Unwillen. Wohl ihr, daß ich sie nicht bei mir hatte! – Ich wollte sie mir holen, wollte sie mit Gewalt ihrem verführerischen Umgange entreißen, und sie durch anhaltende Thätigkeit zahm machen, möchte sie auch dabei zu Grunde gehn! In meinem Unwillen wünschte ich sogar, daß ihr, sie zur Närrin machendes, Gesicht durch irgend einen Unfall entstellt werden möchte. Unglücklicher Weise ließ ich gegen meine Frau etwas von Zuhausenehmung der Tochter fliegen; das zog mir ein anderes Ungewitter über den Hals, und ich, dessen Gefühl man schon so mürbe gemacht hatte, war endlich noch froh, daß nur alles beim alten blieb, und meine Frau wieder besänftigt wurde.

Die junge Dame in der Stadt bekam [362] einen derben Verweis; denn den mußte sie wenigstens haben, da sie mir einen Plan vereitelte, auf den die Freuden meiner alten Tage berechnet waren. Nun hielt sie's für nöthig, ihr thörichtes Benehmen in dieser Sache, allenthalben wo sie hinkam, zu beschönigen, und in Theegesellschaften rechtfertigen zu lassen. Hin und wieder fanden sich vernünftige Frauen, welche wenigstens die Art ihres Benehmens tadelswerth fanden; aber die Mädchen, selbst die jüngsten Gelbschnabel, hatten insgesammt Ursachen zur Vertheidigung ihres Mitgänschens anzuführen. »Er soll immer nach Taback aus dem Munde riechen,« sagte eine. »Er hat ihr im Leben noch nicht die Hand geküßt!« eine andere. »Ich weiß es aus zuverlässigen Nachrichten, daß sie neulich in einer Gesellschaft ihr Strickknäuel fallen ließ, wo er dabei saß, und sie sich selbst darnach bücken[363] mußte,« erzählte eine dritte. »Sie tanzt gern und gut, das müßte sie als Predigerfrau auch aufgeben,« lispelte eine vierte hinzu. Madame Brennfeld war der unmaßgeblichen Meinung: das Mädchen habe ganz recht; Eiche sei ein trübseliger Theologe, der über und über nach alter Orthodoxie rieche. Julchen habe doch nun schon hellere Begriffe bekommen, und könne daher mit ihm auf keine zufriedene Ehe rechnen.

Der armen Karoline widerfuhr die Kränkung, daß der Tadel den das Mädchen verdiente, zum Theil mit auf sie fiel; denn ihre Gutmüthigkeit duldete keine nachtheilige Urtheile über Julchen, so sehr sie selbst mit ihrem Betragen unzufrieden war, und so viel Achtung sie für Eichen hatte. Die Welt glaubte in ihr Julchens Rathgeberin und Vertraute zu sehn, und tadelte sie mit Bitterkeit; selbst diejenigen, die den Leichtsinn [364] meiner Tochter witzig fanden. So partheiisch und inkonsequent urtheilt meistens der große Haufen, dessen Meinung wir oft die Ruhe unsres Lebens aufopfern!

In der ersten Aufwallung war ich selbst unbillig genug, ihr Vorwürfe zu machen. Sie beantwortete sie sanft, und sagte: sie leide selbst viel dabei, und habe nun den Verdruß, daß Eiche ihr Haus meide, um Julchen nicht zu sehn. Über Julchen schrieb sie mir: sie wage es kaum, etwas Entscheidendes über ihren Karakter zu sagen; sie besorge aber in der That, daß sie nur durch herbe Prüfungen von der Bahn des Leichtsinnes und der Zerstreuung zurückgebracht werden könne. Doch Sie hören vielleicht lieber Karolinens eigene Worte; hier ist ihr Brief:

»Ich bin noch zu jung, und zu weich von Natur, als daß ich mir ein zurechtweisendes [365] Ansehn geben könnte, wenn ich vergebens bitte und rathe. Julchen will ihre natürlichen und erworbenen Talente nicht gern in der Abgezogenheit vergraben. Mein Mann führt sie in Konzerte und andre öffentliche Lustbarkeiten, und sie knüpft Bekanntschaften mancher Art, bei welchen sie nur auf die Stimme des Vergnügens horcht. Darunter sind einige junge Frauen, die sich schämen würden, wenn sie im Verdacht ehelicher Treue ständen, und, um sich recht fest in ihrem Rufe zu setzen, sich allenthalben mit den Männern andrer Frauen zeigen. – Gegenwärtig ist Julchen dabei, eine Rolle zu einem Schauspiel auf einem Privattheater zu lernen. Ich habe es ihr auszureden gesucht, indem ich Ihre Mißbilligung, lieber Onkel, ihr zu beherzigen gab. Sie sagte: es sei zu spät, zurückzutreten; ich möchte Ihnen nichts davon [366] schreiben, künftig solle es nicht wieder gegeschehn. So ganz darf ich es ihr nicht verargen, wenn sie nicht so eingezogen wie ich zu leben wünscht; denn ich fühle mich nicht stark genug, mit dem großen Strome zu schwimmen, und darf und will andern meinen Sinn nicht aufdringen. Indeß wäre zu wünschen, daß Julchen ihre Gesellschaften wenigstens mit mehr Auswahl aufsuchte. Mein Mann ist, denk' ich, in der That darin ein wenig wunderlich, und will sich nichts einreden lassen. Sonst war er gern zu Hause, und wir verlebten manchen schönen Abend bei einem guten Buche oder bei traulichen Gesprächen; jetzt hat er sich aber dadurch, daß Julchen Unterhaltung finden soll, so in Gesellschaften verwickelt, daß ich ihn wenig mehr sehe, viel weniger zum Gespräch mit ihm komme. Wäre unsre Ehe nur mit einer einzigen süßen Hoffnung [367] gesegnet, so würde diese das Band zwischen mir und meinem Karl fester knüpfen.« – –

Was das gute Weib mir nur wie durch einen Nebel zeigte, verstand ich erst, da die unselige Entwicklung nicht mehr zu hintertreiben war; was ich aber davon fassen konnte, brachte mich so außer Fassung, daß ich mich auf der Stelle entschloß, meine Tochter aus der Stadt zu holen, und sie bei meinen Schwiegereltern unterzubringen, weil meine Frau sie durchaus nicht um sich haben wollte. Die Anstalten zu meiner Abreise betrieb ich mit großem Eifer, ob ich mich gleich sehr krank fühlte, und Fieber und Krampf durch meine Nerven wühlten. Meine Frau widerrieth mir die Reise, sie sah mit Schrecken, wie bleich und schwankend ich umherging; aber ich dachte es durchzusetzen. Als ich den Wagen bestieg, fiel ich in Ohnmacht, und [368] als ich wieder daraus erwachte, rasete ich, und kannte keinen der Umstehenden. Die Krankheit nahm bald überhand, und dauerte bei zwei verschiedenen Rückfällen gegen vier Monate. Meine Söhne warteten und pflegten mich. Fritz, der ehrliche Tischler, wollte seine Schwester holen; wenn man aber das Mädchen nur nannte, wurde mein Zustand so heftig, daß es keiner wagte, mich sie sehn zu lassen. Gleich zu Anfange meiner Krankheit hatte sie folgenden Brief an Marianen geschrieben:

»Sie antworten mir nicht, beste Mariane! Was ist das? – Haben Sie mich vergessen, so muß ich Sie wohl an Ihre Juliette erinnern, und Ihnen einiges von ihrer gegenwärtigen Lage mittheilen.

Den verdrießlichen Freyer habe ich geschwinder abfertigen müssen, als ich wollte. Darüber ist mir mein Vater entsetzlich hart [369] begegnet, so daß ich, wenn ich die Eingebungen der Stiefmutter dazu nehme, glauben muß, er haßt mich. Diese Vorstellung hat für mein Herz eine wirklich versteinernde Kraft. Indeß würde ich mir doch in einem andern Falle Gewalt angethan haben, mich seinem Willen aufzuopfern; aber hier? – Lieber mag er mein Leben fordern, als diesen Beweis meines Gehorsams. Mein Herz ist in Ansehung dieses Mannes statt und kalt; er ist nicht der, der meine ganze Seele füllen kann. Seine Begriffe vom Einklange der Herzen und inniger Seelensympathie schmecken nach Theologie. Anwerben, und hinterdrein gleich heirathen! – Das ist ordentlich fürchterlich. Obendrein ist er so jämmerlich bescheiden, daß er blutroth werden konnte, wenn ihn von ohngefähr auch nur mein Handschuh berührte. – Unserm Geschlecht [370] kann diese strenge Sittsamkeit zuweilen zur Verschönerung dienen; aber einem Manne steht sie, in meinen Augen, gar nicht an, und setzt ihn herab. Nicht wahr, Liebe?

Ich wüßte wohl einen, den mein Herz mit innigster Liebe umfassen könnte, der meine ganze Seele füllen würde, hielten nicht unselige Bande – – ›Wie grausam das Geschick Seelen trennt, die es doch für einander geschaffen hat!‹ sagte Falk gestern bei einer gewissen Veranlassung. – Der Schöpfer sollte nicht hart und ungütig seyn, wenn er anders sich überhaupt um uns bekümmert. – Karoline ist eine fromme, andächtige Seele; gleich fährt ihr Herz ängstlich zurück, wenn sie Religionsspott ahnet: was sie nämlich so dafür hält. Falk ist nun einmal ein loser lieber Mann. Er zog sie letzthin mit ihrem frommen Eifer auf, und war so witzig, daß ich wider [371] Willen mitlachte. Da machte die Frau ein jämmerliches Gesicht über das andre, und rief mit einer an ihr ungewöhnlichen Stärke: ›Auch diese Gattung von Leichtsinn schon aufgenommen! O Julchen, möchte doch Gott Ihr Herz in seine Hand nehmen! Sie sind auf bösem, bösem Wege; Sie Arme!‹ – Ich kann nicht leugnen, daß mir ihr andringender Ton auffiel, und ich ihr, vielleicht etwas trotzig, zur Antwort gab: Das, Cousine, überlassen Sie nur getrost meinem eignen Gewissen; denn vermuthlich werde ich für mich selbst Rechenschaft geben müssen. Ich schämte mich ein wenig, als sie mir darauf die Hand freundlich mit den Worten darreichte: ›Nicht böse, liebes Mädchen; ich hatte nichts Arges im Sinn.‹ Das hat die gute Seele freilich niemals; aber dem ungeachtet stehn wir seit der Zeit auf einem feierlichen Fuße mit [372] einander, und, was mir sehr lästig ist, sie sieht mich zuweilen mit Thränen im Auge an. Dann zieht sich mein Herz wider Willen ängstlich zusammen, und es jammert mich die arme Frau. Das muß doch Hypochondrie seyn! Denken Sie nur, Mariane, des Morgens betet sie, oder ist doch zu andächtigen Betrachtungen eine halbe Stunde für sich. Um dies zu können, steht sie von allen im Hause am frühesten auf. Nach Tische läuft sie wieder in ihr Kabinet, und bleibt einige Minuten still für sich. Anfangs, als ich noch vertrauter mit ihr war, fragte ich sie: was sie nach Tische immer allein thäte? Sie gestand, daß sie sich einige Minuten sammle, und Gott um Muth und Kraft zur Erfüllung auch der schwersten Pflichten, zu welchen sie etwa aufgefordert werden könnte, bäte. Wird Ihnen Ihre Bitte gewährt? fragt' ich. ›Die [373] Vorstellung, daß der Urheber meines Daseyns um mich weiß, daß ich ihm mein Anliegen vortragen kann, giebt mir ein Bewußtseyn, das mir zum großen Segen wird. Ich weiß nicht, wie mein schwaches weibliches Herz manchen Kummer tragen würde, wenn mich der Gedanke an einen allsehenden Wohlthäter meiner armen Menschennatur nich stärkte.‹ – Sie rieth mir, mein Herz dem Gedanken an Gott ja nicht entfremden zu lassen. ›Die Religion, zu der wir uns bekennen, – fuhr sie fort, – ist ein fester Pfeiler, da hingegen die Philosophie, wie unsre Modedamen sie treiben, nur ein Spazierstöckchen ist. Bei guten, weit umfassenden Köpfen mag sie eine innere Kraft seyn, die ein wohlthätiges Licht auf dem Lebenswege verbreitet; aber bei mittelmäßigen und Weiberköpfen ist sie nur Behelf, sich den nähern Pflichten einer positiven [374] Religion zu entziehen.‹ – Sagen Sie selbst, Mariane, kann ein junger munterer Mann, wie Karl, mit einer solchen Andächtlerin, einer so ernsthaften Person, glücklich seyn? –

Meine Brüder melden mir, daß mein Vater krank ist. Gern wäre ich bei ihm; aber die ewigen Vorwürfe schrecken mich ab. Er mag wohl sagen: es ist alles eitel; er hat von allem gekostet. Und doch würde ich mich über seine Strenge wegsezzen, wenn meine Stiefmutter sich artiger gegen mich betrüge. Unmöglich kann ich ihr den ersten Besuch geben. Ich bin kein Kind mehr, und es ist wohl an ihr, mich aufzusuchen.

Mir fällt zuweilen ein, Sie könnten wohl krank seyn, und dann schaudre ich vor Schreck zusammen. Ich wäre untröstlich; auf den Flügeln der heißesten Liebe würde [375] ich zu meiner innigstgeliebten Mariane eilen! Reißen Sie mich doch je eher je lieber aus der Angst, u.s.w.«

Hören Sie wohl, lieben Freunde, wie Julchen sich über ihren todtkranken Vater ausdrückt? Wie sie die Abneigung gegen seine Warnungen und gegen ihre Pflicht mit einem kindisch-preciösen Wesen entschuldigt? wie sie ihr Herz geflissentlich gegen ihn verhärtet? wie warm hingegen, und mit welcher Herzlichkeit sie über Marianens muthmaßliche Krankheit spricht? Ein eigner karakteristischer Zug unsrer Zeit, die nahe liegenden Pflichten mit Füßen zu treten, und sich entferntere selbst zu schaffen, bei deren Erfüllung der Eitelkeit geschmeichelt wird; seine Freunde in Europa zu verstoßen, um in Amerika zum Wohl der Menschheit mitzuwirken. – Freilich muß man an diese heißen Freundschaften nicht immer glauben; [376] die aufgenommene Kraftsprache drückt sich oft etwas zu genialisch aus. Einige Dichter wollten es so, und die prosaische Welt findet sich im Nachlallen schön und schmuck. Aber es thut doch weh! – Auf der einen Seite ein todtkranker, so herzlicher, liebevoller Vater; auf der andern eine neugeknüpfte Bekanntschaft. Und welche Bekanntschaft? Guter Gott, ich dachte, ich hätte es vergessen! –

Grünthal seufzte tief, und ließ seinen Kopf schwermüthig in seine Hand sinken. – Nach einer Weile sagte er matt: hier ist Marianens Antwort.


»Ja, Juliette, ich bin krank, und zwar sehr ernstlich. Dieser Zustand ist mir äußerst neu. Mich wundert, daß Sie es nicht wissen; ich habe doch einen Arzt aus der Stadt holen lassen. Freilich, für die Stadt bin ich längst todt; sie ist eine leichtsinnige, [377] undankbare Freundin, im Wohlstande lächelt sie ihrem Anbeter zu, und bei Schmerz und Krankheit zieht sie sich zurück.

Das Schreiben fällt mir sehr schwer, auch hat der Arzt es mir verboten; aber es wäre schon ein herber Vorschmack des Todes, wenn ich mich nicht mehr mit der einzigen Freundin, gegen die ich mein Herz darf reden lassen, unterhalten sollte. Julchen, liebstes Julchen, Krankheit ist ein sehr nachdrücklicher Lehrer! Ich habe diesen so oft wiederholten Gemeinspruch nie recht verstanden; jetzt wird er mir in seiner ganzen fürchterlichen Bedeutung erklärt. Julchen, wenn ich dürfte, wenn es mich grade nicht zu schlecht kleidete, ich würd' Ihnen sagen: lassen Sie sich durch mein Beispiel warnen. Ach, ich achte der Lehre zu spät!

Dieser ernste Ton, der für diesmal nicht Persiflage ist, muß Sie erschrecken. – [378] Ach Julchen, in dieser Stunde, in der sich mein ganzer trostleerer Zustand fürchterlich deutlich mir vor die Seele drängt, kann ich nicht mehr Ich seyn. Wenn in einzelnen Minuten die Phantasie mir ihre bunten Bilder einer hellen Zukunft vorzaubert, dann spott' ich des Grabes, und versetze mich aufs neue in jene frohen Szenen, welchen ich meine Gesundheit aufopferte. Meine Lage ist sonderbar schwankend.


Nachmittag um 4 Uhr.

Was ich diesen Vormittag geschrieben habe, ist alles närrisches, melancholisches Zeug! Ich war so engbrüstig, und hutte viel Blut ausgeworfen, da wähnt ich mich schon an der schwarzen Pforte des Todes. Noch dazu war ich drei Tage hindurch ganz alleinge wesen, und hatte niemanden gesehen, als den alten Pfarrer, der wohl [379] glauben muß, es gehe mit mir zu Ende. Jetzt habe ich lieben Besuch aus der Nachbarschaft gehabt. – Ich ließ mir einen Spiegel geben. Gott behüte, wie seh' ich blaß und verfallen aus! Ist das die Schönheit, die uns so viel Werth geben soll? – Schick' mir geschwind ein Bonnet, eins, das verdeckt, ohne zu vergräßlichen. Hörst Du? Mit den Coeffüren will es nicht recht fort.

Nun wirst Du allerdings auch wissen wollen, was es mit mir gegeben hat, und wie ich in einen so ungewohnten Zustand gerathen bin. Hör' an, und merke Dir's. Das Maskenkleid hast Du gesehn, und wirst also errathen haben, daß es in meiner Nachbarschaft einen Ball geben sollte. Du hast keine Idee, welchen trefflichen Effekt meine Figur in dieser Kleidung machte. Ich gefiel mir, und gewiß auch andern. [380] Es war ungemein viel Gesellschaft da. Ich nahm mir vor, ohne Rückhalt zu wirken, alle die Landschönen weit hinter mir zu lassen, und es gelang mir auch über Erwartung. Du kennst mich wenn ich einmal an's Tanzen komme. Sie mußten mir alle weichen, und vergingen vor Neid; denn wie die Sonne zog ich alles an mich. Die übrigen saßen da wie abgelebte Jungfern, Verzweiflung in Haltung und Miene. Sie hätten mich jammern können, die armen Geschöpfe, wären sie nicht auch zu ihrer Zeit, wenn sie, ihrer Meinung nach. Geringere vor sich haben, unverschämt und arrogant.

Als eine Pause, ich weiß nicht wodurch? eintrat, sprang ich auf; mit dem Wesen, das Du kennst, riß ich mir einen aus dem Kreise meiner Bewunderer heraus, und kreiselte mit ihm im raschen Walzer, bis [381] die Wände um mich her tanzten, und das Bewußtseyn mir verging. Ich stürzte ohnmächtig hin, und erholte mich erst, als ein gewaltiger Blutsturz mir Luft machte. Es war ein grausenvoller Augenblick, Julchen, gräßlich! gräßlich! Tod und Verzweiflung schwebte vor mir, kalter Schweiß floß von der Stirn; die Augen dunkel; Gesaus und Geläut' vor den Ohren; in der Seele Schrecken des Todes. – – Ach Julchen, das kecke, das muthwillige Herz war ganz gebrochen! Fürchterlich, sich an's Grab hingetanzt zu haben! hier alles zurückzulassen, und nichts zu besitzen, was man dorthin mitnähme! O Julchen, Julchen, ich muß es aus dem Sinne haben, oder ich winsele wieder wie heut' früh! Doch dringt der Wunsch sich mir wider meinen Willen auf: wär' ich doch, was ich bei Dir wegspöttelte! Liebes Julchen, Sie waren ein frommes, [382] gutes Mädchen, als Sie zuerst zu uns kamen; Sie könnten es noch seyn, wenn Sie bei den Ihrigen geblieben wären. Ich habe leider! nie Eltern gekannt; sie übergaben mich von der Geburt an fremden gedungenen Händen, durch welche meine beiden ersten Lebensjahre verwahrloset wurden. Damals herrschte unter dem Adel mehr als jetzt die unselige französische Sitte, die Kinder außer dem Hause säugen zu lassen. Ich hatte meine Mutter kaum kennen gelernt, als sie mich wieder von sich stieß, und mich einer französischen Pension übergab. Man bemerkte bald, daß Unreinlichkeit und Hunger meiner physischen Ausbildung hinderlich wären, und nahm eine Französin in's Haus. Sie war ein hübsches, leichtsinniges Mädchen; meine Mutter glaubte Ursache zur Eifersucht zu haben, und hieß sie wandern. Ich blieb dann [383] eine Zeitlang den Domestiken überlassen, spielte mit den Knaben, die zu meinem Bruder kamen, und gab früh genug Gelegenheit zu Bemerkungen, welche den Vorsatz, mich in strengere Zucht zu geben, beschleunigten. Ach Julchen, zum erstenmale in meinem Leben dünkt mich, ich sollte besser seyn; die Leere in Kopf und Herzen ist fürchterlich! Wenn man nun so da liegt, und sich auf sich selbst verlassen soll! Ach, mein Julchen, komme ich wieder auf, und ich habe mich mit meinen Gemahl ausgesöhnt, – denn das habe ich dem Himmel angelobt, – so will ich gewiß selbst Mutter seyn, wenn ich Kinder habe! Da kommt der Arzt; ihn darf ich nicht sehn lassen daß ich schreibe.«


Der Prediger des Orts fügte diesem ununvollendeten Briefe folgendes Blatt bei:

[384] »Frau von L.. ist durch einen abermaligen heftigen Blutsturz außer Stand gesetzt worden, Ihnen, meine werthe Demoiselle, den Brief, von ihr selbst beendigt, zu überschicken. Sie hat es mir aufgetragen. Ich soll Sie zugleich ersuchen, ihr in ihrem wahrhaft trostlosen Zustande beizustehen. Ich trete dieser Bitte von ganzem Herzen bei. Ein unvorsichtiger Dienstfertiger hat ihr die Nachricht hinterbracht, daß sich ihr Bruder in H.. erschossen habe, als er der Obrigkeit in die Hände fiel, weil er einen beleidigten Ehemann, dessen Frau er verführt, im Duell getödtet hatte, und sich vor Schulden nicht mehr zu retten wußte. – Seit dieser Nachricht, hat der Arzt alle Hoffnung zum Aufkommen der gnädigen Frau aufgegeben. Gott erbarme sich der armen Dame! Sie ringt nach Trost, den ich ihr vergebens darreiche. Wie könnte [385] sie sich auch die frohen Hoffnungen einer Religion zueignen, die sie ihr ganzes Leben hindurch verlacht hat? Ihre Seele ist für kein frommes Gefühl empfänglich. Bei der sichtbaren Auflösung ihrer Kräfte schaudert sie trostlos in martervoller Ungewißheit zurück. Sie betet, und ängstigt sich dann, daß sie mit den Worten, die ich ihr vorsage, keinen Sinn verbinden kann. Nie, nie habe ich einem traurigeren Krankenlager beigewohnt. Mein Herz blutet in mir. Herr, geh' nicht ins Gericht mit ihr! Wer wird bestehn, wenn Du willst Sünde zurechnen? –

Vor einer Stunde rief sie mich an ihr Bette. Sie lag mit gefalteten Händen. Ich mußte mich zu ihr hinabneigen, denn ihre Stimme ist schwach und gebrochen. Lieber, guter Mann, – sagte sie, – ich glaube Ihnen, ich habe es sonst schon gehört, [386] daß die Religion kein leeres Wortgepränge ist. Daß ein Gott sei, glaubte ich immer; aber ich dachte ungern an ihn, und wenn es flüchtig geschah, so war es unter seltsamen verworrnen Begriffen. Ach, ich glaubte, es sei noch Zeit genug an ihn zu denken, wenn ich aufhörte jung zu seyn, wenn die Welt mich verließe! Jetzt, jetzt, lieber Mann, denke ich an Gott; aber seine Schrecken haben meine Seele ergriffen! Er wird mich verstoßen! Sagen Sie, sagen Sie, – rief sie fast brüllend, – wird er? Ich sagte ihr, was ich unter solchen Umständen für das Schicklichste hielt. Mein Herz war durch ihren dringenden Ton, in welchem wilde Verzweiflung lag, im Innersten zerrissen. Sie wagen es nicht, mir Gnade zu versprechen? – fing sie erschöpft an; – sagen Sie, sagen Sie's nur, ich bin verworfen! Sie weinte händeringend, und [387] versank dann in stilles Nachdenken. Bald nachher begann sie in einem Selbstgespräch mit erschöpfter Stimme: ach, daß ich von dem ärmsten Bauer geboren wäre! jetzt wäre ich gesund, und litte nicht diese Höllenqualen! Arme Grünthal, auch Dich zog ich mir nach! Die schreckliche entscheidende Stunde ist da! – rief sie nach einer Weile, richtete sich im Bette auf, und sah fürchterlich wild um sich; – betet, betet, alle, alle, alle! – Ich rief den Arzt, dem es gelang, sie zu beruhigen, und bald verlangte sie nach Ihnen und ihrem Gemahl. Von ihrem Vater will sie nicht hören; er hat, ihrer Aussage nach, an ihrem Elende Schuld. Jetzt hat sie Kaffee verlangt, und, – ach, daß ich's sagen muß! – sie spottet des Todes, und verbietet mir den Zutritt, weil, wie sie sagt, meine traurige Gegenwart sie auf Schreckbilder führt, und ihre Phantasie [388] verwildert. Sie würden sehr wohl thun, liebe Demoiselle, wenn Sie Ihre sterbende Freundin besuchten. Das Sterbebette derselben wird gewiß einen recht gesegneten Einfluß auf die Festigkeit Ihrer christlichen Gesinnungen haben, u.s.w.«

Julchen flog auf den ersten Wink zu ihr. Kaum nahm sie von Karolinen Abschied. Für mich hinterließ sie einen trockenen Zettel, der mir übergeben werden sollte, wenn ich anfinge mich zu bessern. Er enthielt nur Worte und Komplimente, die das Vaterherz von einer nur zu geliebten Tochter zu tief verwundeten, als daß ich sie wiederholen könnte. Herr von L.. weigerte sich standhaft, Marianen noch einmal zu sehen. Er würde sich vielleicht entschlossen haben, ihrer Bitte zu willfahren; – denn hassen konnte er so wenig als lieben, dazu sind diese Weltmenschen meist zu karakterlos, – aber [389] es wäre eine Unterbrechung seiner Freuden gewesen, hätte ihn vielleicht traurig machen, und einen störenden Rückblick auf sich selbst veranlassen können. Auf Erden war ihm nichts verhaßter, als Traurigkeit; und so versagte er der Person, die er so sehr geliebt hatte, den Trost, den er ihr schlechterdings schuldig war. Sie starb, ohne ein Wort der Versöhnung von ihm zu hören.

Nach einigen Monaten wich die Krankheit von mir, aber meine Nerven waren so geschwächt, daß ich nur wenige Personen um mich leiden konnte. Der leiseste Fußtritt schien mir zu hart, die bedächtlichste Bewegung zu jähe. Alle Vorstellungen der letzten Ereignisse vor meiner Krankheit waren wie weggewischt aus meiner Seele. Mit desto frischeren Farben mahlte dagegen meine Imagination die Bilder meines vormaligen glücklichern Zustandes mir vor, besonders die[390] Jähre meiner ersten Ehe. Mit kindischem Behagen hing ich an Kleinigkeiten, welche mir damals werth gewesen waren; ich konnte ein Glas, eine Tasse stundenlang betrachten, und eben so war auch das Bild meiner ehedem so guten und unschuldigen Tochter in mir aufgelebt. Ich führte mir selbst Veranlassungen herbei, wodurch ich Gelegenheit bekam, ihren Namen recht oft zu nennen. Schlummernd streckte ich meine Hände nach ihr aus, und fuhr auf, wenn ein Wagen kam, weil ich mir vorstellte, sie würde mich liebevoll überraschen wollen. In jedem Gesicht suchte ich Nachricht von ihr, und zürnte wie ein Kind, wenn ich mich getäuscht fand. Sehnsuchtsvoll war mein Auge unablässig auf die Thür gerichtet, wo ein Brief hereingebracht werden konnte. Endlich sagte meine Frau: es wäre gleich zu Anfange meiner Krankheit einer von ihr angekommen. [391] Es war der eiskalte, dessen ich schon erwähnt habe. Wie unbefriedigend für so heiße Erwartung! wie kalt und unkindlich sie über meinen Zustand spricht! wie gezirkelt und geziert! – Voll Widerwillen warf ich den Brief auf die Seite, nahm ihn hundertmal wieder vor, und suchte endlich im Umschlage, ob ich da nicht noch ein tröstlicher Wort fände. Mir entfuhren Klagen darüber in Gegenwart meiner Frau, so behutsam ich sonst auch darin gewesen war. »Es ist noch ein anderer Brief da,« sagte sie unbesonnen herausfahrend; »den soll ich Dir aber erst geben, wenn Du völlig genesen seyn wirst.« Von Julchen? rief ich, hastig gegen sie hinfahrend. »Ihre Hand ist es nicht,« sagte sie; »Du mußt Dich aber gedulden, denn es steht ausdrücklich auf dem Umschlage, daß Du den Inhalt nicht eher wissen darfst, bis Du völlig wieder hergestellt [392] bist.« Der Brief war auch wirklich in einen Umschlag an Fritz, und enthielt diese Weisung. Nun stellen Sie sich leicht vor, daß ich nicht eher Ruhe hatte, bis ich den traurigen Brief halb erbettelt und halb erscholten hatte. Ich erkannte sogleich Karolinens Hand. Mein Herz klopfte als wollte es aus seiner Höhle, und meine Hände zitterten so, daß ich das Siegel kaum erbrechen konnte. Hier ist er, seiner ganzen Länge nach:

»Bester Onkel! Sie werden hoffentlich weder den Entschluß, von dem ich Ihnen jetzt Nachricht geben will, noch die Empfindungen, die ihn veranlaßten, überspannt finden, wenn ich Ihnen eine treue Darstellung meiner, oder besser, unsrer Lage werde vorgelegt haben. Da Sie selbst mich sonst schon dieBesonnene-zu nennen pflegten, so werden Sie es jetzt meinen reifern Jahren nicht zutrauen, [393] daß ich mich durch einen raschen Entschluß um diesen Namen sollte bringen wollen. Doch Ihre Erwartung muß nun aufs höchste gespannt seyn; ich verschone Sie mit einer umständlichern Einleitung, und beginne mit der Geschichte der letzten Monate, die ich Ihnen – vielleicht aus strafbarer Weichlichkeit – verschwieg; welches ich mir aber aus Selbstgefälligkeit als kluge Schonung anrechnete. Ich hoffte durch eine lange Unterdrückung meines leidenden Gefühls das alte schicklichere Verhältniß wieder herzustellen, duldete und schwieg; da wurden aber meine Leiden größer, als meine Kräfte. Ich kämpfte manchen bittern Kampf, und warf mich endlich in meiner Noth dem allgütigen Tröster in die Arme. Die Überlegung, daß diese Leiden gewiß zu meiner Erziehung für einen vollkommnern Zustand nöthig seien, beruhigte mich nach und nach; [394] und das Ende aller meiner heimlichen Kämpfe, und, Gott gebe! auch meiner Leiden, war der Entschluß, der jetzt fest und unbeweglich vor meiner Seele steht: meine nun für's ganze Leben gekränkten Rechte einer Geliebtern abzutreten.«

Sie können sich vorstellen, lieben Freunde, unterbrach sich hier Grünthal, daß diese Vorrede, die mich auf etwas Außerordentliches und Unerwartetes vorbereiten sollte, mich fast vernichtete. Doch schlüpft' ich leise darüber weg, um nur das Wesentliche zu erfahren.

»Ich gestehe,« (fährt Karoline fort), »daß mir, als ich meiner Cousine mein Haus anbot, kein Schatten von einigem Mißtrauen gegen ihr Betragen und meines Mannes Grundsätze in die Seele kam. Ich glaubte an seine Liebe, weil ich die meinige zu ihm kannte. Vielleicht wäre ich auch nie aus dem süßen Traume geweckt worden, hätte [395] nicht mein Karl Gelegenheit gehabt, das, was er für mich fühlte, was er wohl selbst für Liebe hielt, mit der Leidenschaft zu vergleichen, die ihm der stündliche Anblick und Umgang mit einer jungen, vollkommen schönen Person einflößte. Und diese junge Person, mein Onkel, wollte gefallen

Hier schildert nun meine Nichte die Fortschritte der gegenseitigen Leidenschaft bei Beiden, wie sie solche hat bemerken können. – Der Brief ist lang; ich übergehe, was dir zum Theil schon selbst haben bemerken können, und einige lebhafte Auftritte, welche das Verhältniß anschaulich machen, die Sie in Julchens Briefe an Marianen gelesen haben.

»Gott weiß es,« – schreibt nun die Nichte weiter, – »daß mir nicht ein Wörtchen, nicht eine Klage, die Unmuth oder Bitterkeit verrieth, entfuhr. Ich duldete und [396] schwieg. Wenn etwas einem Vorwurfe ähnliches geschah, so war es lediglich meine sich immer gleichbleibende Liebe und Gefälligkeit im Umgange. Ich suchte keinen Vertrauten meines Kummers. Sie wissen, lieber Onkel, daß man dann sein Herz mit um so vollerm Vertrauen dem hingiebt, der allein aus der Angst erretten kann. Ihm übertrug ich meine Angelegenheit, ich wage nicht, zu sagen, mit Ergebung; denn wenn mein Mund dies Wort aussprach, widersprach mein empörtes Herz, und schauerte erschrocken bei der Vorstellung zurück, daß vielleicht mein ewiges Loos an der Trennung von dem Manne hängen könnte, den ich noch immer über alles liebte. – Ich gestehe daß Julchen wirklich zurückhaltender gegen meinen Mann schien, als ich sie einst mit tausend Thränen gebeten hatte, dem unsäglich Schwachen auszuweichen. Meine Lage wurde nur noch peinlicher; [397] denn nun ließ er mich Julchens scheinbare Zurückhaltung entgelten, und war herrisch und auffahrend. Sie vermochte nicht, seinen Trübblick aufzuheitern, sie näherten sich einander noch mehr, und von nun an wurde ihr Umgang von Tage zu Tage inniger. Mir begegneten sie mit kalter erkünstelter Höflichkeit, die mir in die Seele schnitt. Doch blieb ich unerschüttert fest dem Vorsatze treu: meines Mannes Herz durch keinen Vorwurf von mir zu entfernen, oder ihm durch mürrisches Wesen einen Vorwand wider mich zu geben. Ich weiß, daß meine arme Mutter durch sanfte Nachgiebigkeit und Geduld meines Vaters Herz sich wieder gewonnen hatte. Bei dem allen war ich mir und uns allen vor den Augen unsrer Bedienten, die für die Geheimnisse und Fehler ihrer Herrschaft nur zu scharfe Augen haben, eine Schonung und Behutsamkeit schuldig, [398] die meine Lage mir unendlich erschwerte. Dieser Zustand dauerte, bald trüber bald erheiterter, bis zu Julchens Abreise zur sterbenden Mariane. Den Abend vorher verschaffte mir ein unvergeßlicher Auftritt jene traurige Aufklärung über die Gesinnungen, auf die ich von Seiten meines Mannes jetzt nur noch zu rechnen hatte.

Ich war mit Anstalten zu Julchens Reise beschäftigt; denn ich nahm ihr immer gern ab, was sie ungern selbst that. Als ich damit fertig war, suchte ich sie, wegen noch einiger Verabredungen, in ihrem Zimmer auf. Ich fand sie nicht. Mein Hausmädchen sagte mit schlauem bedeutendem Blicke: ›Mamsell Grünthal ist bei dem Herrn; sie lesen wieder mit einander.‹ Ich unterdrückte den Unwillen, der in mir aufstieg, und ging, so gefaßt als es mir nur möglich war, dahin. In meines [399] Mannes Arbeitszimmer waren sie nicht; aber in dem anstoßenden Kabinette hörte ich ihre Stimmen, und, – ja, ich muß nur gestehn, daß ich es that, – ich blieb vor der Thür stehen. Sie lasen wirklich. Karl deklamirte ihr mit dem feurigsten Ausdrucke, in einer der Sache anpassenden Stellung, eine Szene aus Göthe's Stella vor. Sie kennen den verführerischen Reiz des Ausdrucks in diesem Stücke. – Wechselsweise las Karl und Julchen. Ich hatte vorher noch nie ihren Ton sich so bis zur höchsten Leidenschaft erheben hören. Sie saßen auf einem, der Thür gegenüberstehenden, Sopha, sich fest umschlingend. – O, mein Gott, wie wankte ich zurück! wie weh that dieser Anblick meinem armen Herzen, das den Leichtsinnigen nicht fassen konnte! Sollte ich nun hineindringen, die Falschen beschämen, oder den Ausgang dieses gefährlichen Auftritts abwarten? [400] Ich entschloß mich zum letztern. ›Wenn Karoline,‹ sagte der Liebhaber, ›eines solchen Opfers fähig wäre!‹ – ›Ach,‹ seufzte das liebetrunkene Mädchen lispelnd, ›das kann sie nicht! wo schlägt ein Herz, das sich zu einer solchen Selbstverläugnung groß genug fühlte?‹ – Sie schmiegte sich enger an ihn, ich sah's in einem verrätherischen Spiegel; und nun eine Stille, in der für mich Todesqual lag. ›Wenn ich nun Karolinen meine ganze Kälte, meine Abneigung mit ihr zu leben, meine glühende Liebe für mein göttliches Mädchen, etc. blicken ließe, auch dann sollte sie mich nicht loslassen können? glauben Sie es nicht, Liebste?‹ – ›Nein, nein, sie wird, sie kann es nicht!‹ – ›O, glauben Sie mir, Theuerste, das gute Weib liebt mich zu innig, als daß sie sich meinem wahren Glücke in den Weg stellen sollte. Ihre Begriffe von Edelmuth und [401] Heldentugend sind zu romantisch gespannt, als daß sie sich nicht zu dieser Höhe sollte erheben können.‹ – ›Ja, besonders wenn sie erst ein paarmal Betstunde gehalten hat!‹ sagte Julchen höchst bitter. – O, wahrlich, dies, dies verdiente ich nicht um sie! mein Onkel, dies verwundete mein Herz in seinem edelsten Theile! Ich erlag fast, und wie in weiter Ferne tönten mir die Versicherungen ihrer strafbaren Liebe ins Ohr. Ich vergoß die bittersten Thränen, die ich in meinem Leben geweint habe.

Es wird Sie in Erstaunen setzen, lieber Onkel, daß ich Muth genug hatte, einen solchen Auftritt auszuhalten. – Ungewöhnliche Vorfälle geben der Seele ungewöhnliche Kräfte, so wie auch die physischen Kräfte bei gewaltsamen Zumuthungen des Schicksals sich auf einen wirkenden Punkt konzentriren, und oft wundervolle Stärke äußern. [402] Ich würde aber schwerlich im Stande seyn, Ihnen die wild durch einanderlaufenden Vorstellungen und Entschlüsse dieses Momentes auseinanderzusetzen. Leidenschaften, stark, wie ich sie zuvor nie in mir bemerkt hatte, erhoben sich in meinem Innersten, und wurden von ganz entgegengesetzten verdrängt. Jetzt, da ich die ganze schmerzliche Szene noch einmal durchempfunden habe, fühl' ich hell und bestimmt, was zu der Zeit dunkel in mir aufstieg: daß ich mir weiter kein Glück in der Verbindung mit einem Manne versprechen dürfe, dessen Herz mich entschieden aufgegeben habe, und für eine Andere schlüge. Überraschung der Sinnlichkeit hätte ich der schwachen Menschlichkeit verziehen; aber einen durchdachten Plan! Ich sah eine Zukunft voll der bittersten Leiden und anhaltender Kämpfe voraus, wenn ich mich seinen Absichten widersetzte; alsoein Kampf, [403] für tausend, die ich vielleicht in der Folge nicht immer bestehn würde. Oder sollt' ich ruhig seiner Wiederkehr warten? zufrieden seyn mit dem Theile seines Herzens, welcher der Hausfrau bliebe, wenn irgend Krankheit oder Unfall ihn der Geliebten gleichgültig gemacht hätte? – Sein Glück ist mir theurer als mein eignes; ich will ihm das Opfer ruhig und freiwillig bringen. Er gehöre der Geliebteren. Ich wagte aber nicht, den im Tumulte so mannichfacher Leidenschaften gefaßten Entschluß auszuführen, bis er durch öfteres Beschauen und kaltes Betrachten zu besserer Reife gediehen war. Doch, er siegte in allen Prüfungen, und jetzt erwartete ich nur eine schickliche Gelegenheit, um ihn den Hauptpersonen mitzutheilen. Sie ereignete sich einige Wochen nach Julchens Abreise.

Mein Mann war nicht zu Hause, als ein Brief von Julchen an ihn ankam. Ich [404] unterlag der Versuchung, ihn zu lesen, nicht; denn nun stand es deutlich vor mir, daß ich ihn zur Ausführung des Plans nützen könne, der bis zum Erkranken meiner physischen Kräfte in mir arbeitete. Nach Tische pflegte mein Mann in seinem Zimmer zu arbeiten; ich ging zu ihm, gab ihm den Brief, und beobachtete ihn dabei so ruhig als möglich. Er ward über und über roth; es versetzte ihm den Athem, er zitterte, besah das Siegel, und legte ihn hin. ›Nun? es ist schon gut, Frauchen;‹ sagte er, und that als wolle er fortarbeiten. – Ich ging zur Thür, und blieb stehn. Er sah sich, gebückt wie er saß, nach mir um, und sagte etwas ungeduldig: ›Nun?‹ Ich sagte in einem vielleicht wankenden Tone, – denn seine Betroffenheit richtete meinen sinkenden Muth auf: – ich dachte, der Brief sei von Julchen, und da wüßt' ich doch gern, wie's ihr geht. ›Von [405] Julchen sollt' er seyn?‹ sagt' er, den Kopf schüttelnd, als hätt' er's nicht gleich gesehn; ›hm!‹ – – Erbrich ihn doch, lieber Karl, er ist gewiß von ihr. – Nun mußt' er wohl, aber nur mit flüchtigen Blicken durchlief er ihn; ich bin gewiß, er faßte kein Wort von dem Inhalte. Die Hände zitterten ihm; er erblaßte. Weiter wollt' ich die Rache nicht treiben; ich trat vor ihn hin, und da ich meiner Stimme Festigkeit genug zutraute, nahm ich seine Hand mit der wahrsten Gutmüthigkeit, und sah ihm mitleidig ins Auge, denn sein Zustand, in welchen ich mich ganz versetzte, ging mir tief zu Herzen. Dann sagt' ich: lieber, lieber Mann, glaubst Du, daß ich Dich mehr wie mein Leben, mehr wie mein irdisches Glück liebe? Ich schlang meinen Arm um ihn. Er sah mich verwundert an; die Frage: ›was das werden sollte?‹ schwebte auf seinen Lippen, doch fragte[406] nur sein Auge. Jetzt legte ich ihm unser verstimmtes Verhältniß rein und deutlich vor; er unterbrach mich nur selten, bewunderte zwischendurch, was er meine Großmuth nannte, vertheidigte sich nur schwach wenn ich seiner Leidenschaft erwähnte, und widersprach meinem Entschlusse, ihn der geliebtern Juliane abzutreten, grade nur so viel, daß er dann um so schicklicher zu einer Lobeserhebung meiner Seelengröße, und zu einem Dank, worin sich die glühendste Leidenschaft für meine Nebenbuhlerin ergoß, übergehen konnte. Ich läugne nicht, daß ich betroffen und höchst bewegt wurde, da er anfing die Trennung von der juristischen Seite zu betrachten, und unter einigen Punkten, welche sie erleichtern würden, auch den meiner schwächlichen Gesundheit anführte, die mich zur Bestimmung des Weibes, im weitern Umfange, unfähig machte; aber diese Bemerkung diente[407] zugleich, mich in meinem Entschlusse zu bestärken, da ich wohl einsah, daß ich jetzt noch freiwillig geben konnte, was man mir in der Folge herrisch abgefordert haben würde. Ich sah nur zu klar, daß ihm die Vorstellung der Trennung nicht mehr neu war; ich war ihm bloß zuvorgekommen. Ich überließ ihm, der Geliebtern das Resultat dieser peinlichen Unterredung zu melden; und übernahm es, sie zu ihrer Einwilligung zu bewegen. Da Ihre Liebe zu mir, mein Onkel, derselben im Wege stehen könnte, so betheure ich Ihnen heiligst, daß ich auf keinen möglichen Fall bei ihm bleiben werde. Auf Glück und häusliche Freuden müßte ich, bei meiner Art zu empfinden, für immer Verzicht thun. Meine Vermögensumstände lassen es ebenfalls zu. Ich will nicht unnütz in der Welt seyn; eine kleine Stadt in Ihrem Kreise soll mich aufnehmen, und ich will [408] junge Mädchen lehren, gute Frauen und Mütter zu werden. Ich will erziehen und bilden.

Unschicklich wär's auf jeden Fall, wenn Julchen jetzt in unserm Hause lebte; darum ist beschlossen, daß sie sich bis zur Entscheidung bei ihrer Madame Brennfeld aufhalten soll. Wenn Sie bedenken, daß sie nun mit einemmal den Gefahren entrissen wird, so muß das einen Stein von Ihrem Herzen wälzen. Der arme Eiche! wie wird sein ehrliches Herz von neuem bluten! – Man wird freilich in Gesellschaften diesen seltenen Fall beträtschen; aber irgend ein Wochenbett oder neues Schauspiel wird auch diese neue Mähr verdrängen. Ich füge noch hinzu – denn, erfahren müssen Sie's doch: – mein Mann hat geeilt, die Sache unwiderruflich zu machen. Die Scheidepunkte sind schon eingegeben. Gott stärke uns alle! etc.«

[409] Es fällt mir schwer, ja fast unmöglich, Ihnen den Eindruck zu schildern, den diese höchst unerwarteten Nachrichten und Äußerungen meiner Nichte auf mich machten. Gänzliche Betäubung, Stillstand, Hemmung aller meiner Seelenkräfte könnte ich meinen damaligen Zustand am füglichsten nennen. Diesem, und der vom hitzigen Fieber zurückgelassenen Abspannung meiner Nerven muß ich es wohl zuschreiben, daß ich an Falken, an Karolinen und meine Tochter in unbestimmten, der Stärke meiner Mißbilligung wenig entsprechenden, Ausdrücken schrieb, und mich leidend verhielt, weil ich nichts mehr abwenden zu können glaubte. Mein, in gesunden Tagen nicht unwirksamer, Geist war ohne Spannkraft, und ich gab es auf, dem immer zunehmenden Leichtsinne meiner Tochter entgegenzustreben. Sie hat Ehr' und Tugend aufgegeben, was wird ihr ferner [410] Kindespflicht seyn? – Ich gab stillschweigend zu, was ich nicht hindern konnte, und was sie, ohne mich zu fragen, gethan haben würden. Mein Unvermögen, über die verhaßte Sache mich deutlich auszulassen, war so groß, daß ich mich in meiner Antwort an Karolinen sogar ganz kurz faßte, und mich in nichts Bestimmtes einließ. Meine sonstige Empfindlichkeit war bis zum Stumpfsinn verhärtet. Das liebende Paar hatte sich auf gewaltigen Sturm meiner Seits gefaßt gehalten; nun geriethen beide in unnennbares Entzücken, da sie mich wider Erwarten so bereitwillig fanden, ihre feurigsten Wünsche zu befriedigen. So drückten sie sich in ihren Briefen an mich aus. Julchen hatte im Herzen immer nicht gezweifelt, daß ich aufrichtig ihr Glück wolle. Sie zierte sich unausstehlich, sprach vom unwiderstehlichen Drange gleichgestimmter Seelen, [411] von erstaunlichem Kummer, vielleicht betrübenzu müssen, und von der höchst traurigen Nothwendigkeit, der besten, edelsten Frau einen geliebten Mann zu rauben. – Meine Freunde, erlassen Sie mir eine zergliederte Erzählung meines Jammers. Ich eile über diesen Zeitpunkt leise hinweg; es ist der schmerzlichste Theil meiner Wunde. Diese, meinen Abscheu erregenden, Briefe beantwortete ich gar nicht. Die Scheidung ging bei Zustimmung der Partheien leicht vor sich. Indeß war Julchen von Marianen zurückgekommen. Das arme, von Grund aus verwahrlosete Geschöpf war den jammervollen Tod gestorben, der die unausbleibliche Folge schwankender Begriffe über die Zukunft, und eines tief verletzten Gewissens ist. In den Augenblicken, wo sie sich mit der Rückkehr ins Leben geschmeichelt hatte, waren ihre guten Entschlüsse und ihre [412] Reue über die Thorheiten ihres Lebens wieder in phantastische Träume eines bunten Welttaumels übergegangen, worauf sie noch rechnete. Der redliche Prediger, ihr Beistand, wurde hart angelassen, weil seine Gegenwart sie an den Tod erinnerte. Als sie aber fühlte daß ihr Herz brechen würde, rief sie ihn mit aller Kraft, deren sie noch fähig war, und umklammerte seine Hände, als ob er sie retten und für sie sprechen sollte. So starb die Unglückliche, mit Verzweiflung ringend; und Julchen hatte von diesem warnenden Sterbeauftritte weiter keinen Nutzen, als daß sie ihre Briefe an die Verstorbene zurückerhielt, eine Woche weinte, und dann wieder abreisete, um sich bei Madame Brennfeld so lange aufzuhalten, bis der Wohlstand verstatten würde, die unselige Verbindung zu vollziehen.

[413] Madame Brennfeld nahm ihre ehemalige Untergebene triumphirend und mit offnen Armen auf. Falk hatte sie schon von der anstößigen Geschichte unterrichtet, und sie hatte sich selbst erboten, die Demoiselle aufzunehmen, damit die Dehors gerettet würden; denn im Grunde (glaubte sie) käme doch alles nur auf die Meinung der Welt an, und ständen wir bei dieser gut, so sei unsre Wohlfahrt fest genug gegründet. Übrigens könne man es einem so liebenswürdigen Manne nicht verdenken, wenn er sich von der Himmelsstürmerin (Karolinen) lossagte. Diese Heiligen, die bei jedem Schritte zusähen, ob sie auch nicht fallen würden, wären ihr in der Seele zuwider. Julchen habe außerordentliche Fortschritte in dem Gebrauch ihrer Vernunft gemacht, und sie sei doch nun endlich ein selbstständiges Wesen geworden, das die traurige Anhänglichkeit an verjährte [414] Vorurtheile glücklich abgeschüttelt habe. – So ungefähr urtheilten auch die feinen Gesellschaften und Kliken. In andern tadelte man Karolinens Nachgiebigkeit, als strafwürdige Schwäche, die ein böses Beispiel gäbe. Nur der würdige Eiche und einige ganz vertraute Freunde bewunderten die Größe ihres Entschlusses, und ihre edle Beharrlichkeit, die um so rühmlicher war, da sie, ihres Mannes und ihrer Nebenbuhlerin zu schonen, alle diese schiefen Urtheile hinnahm, ohne ein Wort zu ihrer Rechtfertigung zu verlieren. In dieser unglücklichen Zeit erhielt ich viele Briefe von Eichen, in welchen er, bei dem redlichen Bestreben, mich zu trösten, mit großer Delikatesse über die traurige Angelegenheit sprach, die er freilich ohne Affektation nicht ganz mit Stillschweigen übergehn konnte; aber aus der Heiterkeit, die er vorgab und mir mitzutheilen[415] suchte, blickte ein tief angegriffenes Herz hervor. Ich fühlte es immer schmerzlicher, daß dieser Vortreffliche nicht mein Schwiegersohn geworden war.

Die Heirath, die ich mehr als den Tod verabscheute, ward durch einen Vorfall beschleunigt. Madame Brennfeld hatte in einem schwachen Augenblicke vergessen, daß ihr an der Meinung der Welt alles liegen müsse. Jetzt wurde sie von einem Vorfalle überrascht, der, so klein er war, doch gewaltig viel Lärmen machte. – Unverblümt: – sie genas eines kleinen Weltbürgers, den sie, zufolge ihres hellen vorurtheilfreien Geistes, der sich über die Fesseln hergebrachter Konvenienzen zu erheben wußte, mit herzlicher Freude aufnahm. – Nur der Umstand störte ihre Mutterfreude, daß der Ritter sich durchaus nicht zur Vaterschaft verstand, sondern sie einem jungen Israeliten zuschob,[416] welcher der Dame Logik und Anfangsgründe der Mathematik beigebracht hatte. Doch, auch über diese Verlegenheit schwang ihr fesselfreier Geist sich hinweg; war die Vaterschaft streitig, so war doch ihre Mutterschaft keinem Zweifel unterworfen. Sie freute sich der Frucht ihrer gelehrten Vorlesungen, erzog sie selbst ganz öffentlich, und ließ das Problem unaufgelöset.

Indeß war die Welt weniger tolerant, als die Dame vermuthet hatte. Sie, die für jedes Laster, jede Abweichung von dem Wege des Guten einen toleranten Spruch hatte, wurde jetzt mit unerbittlicher Härte verdammt, und die Eltern nahmen in möglichster Eile ihre Kinder zurück. Auch Falk, diesem tugendhaften Manne, gab dies einen erwünschten Vorwand; er eilte, sein Julchen zu holen, und, um den Wohlstand zu retten, ließ er sich, in Gegenwart einiger [417] Zeugen, sogleich mit ihr trauen, welches ihm gegen Erlegung einer namhaften Summe nicht verweigert wurde. Nun sollte ich hinterher meinen väterlichen Segen schicken. – Ach Gott! durft' ich ihnen denn fluchen? – Karoline hatte mit einer ehrwürdigen Seelengröße ihren Vorsatz ausgeführt; sie kam aber nicht zu mir, aus Besorgniß, dies würde nur unsern gemeinschaftlichen Gram nähren. Ich selbst wurde, ungeachtet des innern Kummers, den ich in keiner Stunde meines Lebens ganz vergaß, nach und nach wieder hergestellt. Meine Söhne, die trefflichen Jungen, thaten alles, um mir Ersatz für die verwahrlosete Tochter zu seyn; auch nahm ich mir ganz im Ernste vor, nun weiter nicht eigensinnig auf Freuden von der Seite her zu bestehen, sondern meine Söhne desto inniger an mich zu schließen. In meiner häuslichen Verfassung fanden sich auch mancherlei [418] Zerstreuungen. Eine von der Regierung niedergesetzte Kommission, die Ämter und Pachtungen zu untersuchen, nahm mir viel Zeit weg. Es vergingen anderthalb Jahre, in welchen ich bloß durch einen seltnen Briefwechsel Nachricht von den Turteltäubchen aus der Stadt bekam. Ein bei der Kommisson befindlicher Rath hatte mir zwar zu verstehn gegeben, daß Falk's Umstände die besten nicht wären; – – aber der Schlag war mir nichts desto weniger höchst unerwartet und betäubend, da ich das Ehepaar in den öffentlichen Blättern als Verschwender bekannt gemacht fand. Dieser Umstand entflammte meinen ganzen väterlichen Zorn aufs neue. Nun, (dacht' ich) wenn ich denn züchtigen soll, so sei es; ich will den Elenden sehn, und meine Vorwürfe sollen ihn bis aufs Blut martern. Ich warf mich aufs Pferd, ohne meiner Frau Bescheid über mein Vorhaben [419] zu geben. Ich trieb mein Thier bis zum Stürzen, eilte zur Stadt, und lief dann mit schwankenden Knieen und bebenden Lippen nach Falk's Wohnung. Auf dem Wege dahin ordnete ich die Vorwürfe, die ich dem schändlichen Menschen der Reihe nach machen wollte: Julchens zerstörtes Glück, meinen Frieden, alles, alles! – Ich fand alles verschlossen und versiegelt; es war niemand da, der mir Bescheid gegeben hätte. Schon wollt' ich wieder fort, als aus einer Hinterthür eine Matrone hervorkroch, und mich bat, in ihre Stube einzutreten. Ich hütete mich zu sagen, daß ich der Vater wäre; und so hörte ich denn Nachrichten, die den Kältesten und Gefühllosesten bis aufs Mark erschüttert haben müßten. Von der Hochzeit an war es ein Jubiliren; heute Ball, morgen Konzert, den dritten Tag Konversation, und die Zwischenzeiten wurden in den [420] Ressourçen vertrödelt. Die junge Madame war immer tiefer in diese Lebensart verwikkelt worden. Herr Falk äußerte Mißbilligung und Eifersucht; der Hausfriede war gebrochen und das Übel ärger geworden. Darauf habe Herr Falk ein schönes junges Mädchen ins Haus genommen, unter dem Vorwande: seine Frau brauche bei ihrer vornehmen Lebensart eine Kammerjungfer. Diese habe er gar prächtig gehalten. Dagegen habe Madame, um sich zu rächen, Besuche von einen vornehmen Russen angenommen, von diesem große Geschenke erhalten, wie denn überhaupt dessen Freigebigkeit die Wirthschaft noch eine Zeitlang zusammengehalten habe. Mit einemmale sei es aber stiller geworden; Falk verbrannte Schriften, die Madame hielt sich inne und weinte; es habe verlauten wollen, der Herr werde arretirt werden; indeß sei er in der Nacht mit [421] der hübschen Kammerjungfer verschwunden. Die Madame habe nicht viel Wesens daraus gemacht. Den Abend darnach, als schon alles versiegelt gewesen, und man stark vermuthete, die Dame werde mit ihrer Person für den Mann haften müssen, sei sie in einer Reisekutsche mit sechs Extrapostpferden weggefahren. Wohin? wisse niemand; doch wollten einige Nachbarn den Kammerdiener des Russen im Wagen gesehn haben.

Nur die Furcht, mich zu verrathen, hielt mich bei Anhörung dieser zermalmenden Erzählung aufrecht. Gott! Gott! meine arme tief gesunkene Tochter! – O, der heillosen Leichtgläubigkeit, die sich durch schwache und kurzsichtige Freunde hinhalten ließ, bis das Übel zu dieser fürchterlichen Größe anwuchs! Unerfahrner Eiche! Leichtgläubige Karoline! Doch Ihr meintet es gut; ich, ich allein [422] war der Narr, der von seinem Schooßkinde gern das Beste glaubte! Aber diese fürchterliche, diese alle meine Kräfte übersteigende Strafe verdiente der arme, schwache und liebevolle Vater doch nicht! O, mein Herz! mein Herz! – –

Aus der Alten, die mir diese Nachrichten mittheilte, brachte ich noch Tag und Stunde ihrer Abfahrt heraus. Ich lief, ich flog auf die Post, und erfuhr, daß um die bezeichnete Stunde der russische Fürst *** abgereiset war. Ich ging nicht lange mit mir zu Rathe, schrieb meiner Frau kurz weg: meine Angelegenheiten erforderten eine weite Reise; dann aber nahm ich Extrapost, und verfolgte ihre Spur bis in Liefland. Der Fürst hatte sich einige Tage bei einem Verwandten aufgehalten, und in Riga war ich ihnen schon nahe auf der Ferse. Durch einen zurückgelaßnen Jäger hatten sie erfahren, [423] daß ihnen jemand nachsetze, und aus der Beschreibung, die der Mensch von mir machte, mußte meine Tochter mich erkannt haben. In Riga ward mir im Posthause folgender Brief eingehändigt: – doch, lesen Sie ihn selbst, lieber Seelmann; er bricht mir immer noch das Herz.

Seelmann und seine Frau lasen den Brief stillschweigend. Grünthal verbarg indeß sein Gesicht, und schluchzte laut.

»Ich weiß, daß mein Vater mich einzuholen sucht. Was soll ihm eine Tochter, die seine Tochter nicht mehr seyn kann, da sie so entstellt ist? – Dem mit Recht erzürnten Vater auszuweichen, würde ich bis an's Ende der Welt flüchten. Tief im entferntesten Rußland werde ich meine Schande vergraben. – Des Vaters Strafe und seine Güte würden mich in gleichem Grade elend machen. – Ich bin ja nicht mehr[424] werth, von Vateraugen gesehn zu werden. Schande, Elend und Gewissenspein werden die Beleidigung aussöhnen; für mich ist auf ewig alles, alles verloren! – Ich wollte lieber sterben, als je wieder in dem ehemaligen Zirkel meines bessern und schuldlosern Lebens der Demüthigung und Verachtung preisgegeben seyn. O Lindenau! O du Grab meiner Mutter! – – Für mich ist alles dahin! – Dies ist das letzte Lebewohl, das die zerdrückte, vernichtete Tochter dem – ach! dem unaussprechlich unglücklichen Vater zuruft!

Juliane


Nach langer, ängstlicher Pause brach Grünthal, als er sprechen wollte, wieder in einen Strom von Thränen aus. Ich fand ihre Spur nicht wieder; ich habe nie erfahren – – sprach er aus tief beklommener [425] Brust. Leben Sie wohl, meine Freunde. – Er sprang ungestüm auf, und stürzte durch die Thür. Seelmann wollte ihm nach; aber er war schon zum Hofe hinaus, und sein Fußtritt schallte ihnen nur noch aus der Ferne zu. Er eilte in einer finstern regnigten Nacht allein und zu Fuß nach Hause.

[426]

[7] Zweiter Theil

Minna und ihre Freundin genossen nach einem schwülen Tage die Kühle des Abends, unter der Linde vor dem angenehmen Landhause, welches die Freundin bewohnte, und in dessen Nähe Minna ein mäßiges Gütchen besaß. Schweigend sahen beide in den Mond, der freundlich durch die schöne Akazie blickte, die ihnen gegenüber rauschte. Es wetterleuchtete in fernen grauen Streifwolken. Sie lauschten, ob ein Donner ihnen ein gefürchtetes Gewitter drohe; als plötzlich Minna's Löwenhündchen von ihrem Schooße stürzte und bellend in die Nachtviolenhecke fuhr. – Eine männliche Gestalt näherte sich, und sagte den beiden Erschreckten mit bescheidner Stimme: »meine gütigen Damen, [7] könnte wohl ein wandernder Handwerker hier ein Obdach gegen das heraufziehende Gewitter finden? Die Hitze des Tages hat mich ungewöhnlich ermattet; ich erreiche vor Mitternacht nicht mehr das nächste Städtchen, und das Wetter würde mich in dem Walde überfallen.«


Die Stimme des Bittenden nahm für ihn ein, und beide Frauen waren geneigt den Müden zu erquicken. Minna antwortete zuerst: meine Freundin ist hier selbst ein Gast; aber meine eigne Wohnung ist nicht fern, diese hat Obdach und bequeme Ruhestätte für jeden Rechtschaffnen. Gehe er dort links, mein Freund; sage er: ich schicke ihn; mein Mann wird ihn gewiß gastfreundlich aufnehmen.


Der Wanderer war indeß ihnen näher getreten, und der Mond schien ihm eben silberhell ins Gesicht. Ida, Minna's Freundin, [8] sah ihn an, und fuhr, wie vor Entsetzen, von ihrem Sitz auf. Minna erschrak, faßte ihre Hand und fand sie kalt und zitternd. – »Ida! um Gottes Willen! Ida, was ist Ihnen?« Nichts, gar nichts, – sie faßte nach dem vor ihr stehenden Glase voll Wasser. – Mir ist schon wieder wohl; – eine entfernte Ähnlichkeit dieses Mannes hat mich erschreckt, weil – weil sie mich erinnerte – – »Woran, Liebe, woran?« – rief die lebhafte Minna – O fragen Sie nicht, Theure! es ist vorüber; es war nichts; ein Schattenbild das mich erschreckte. – Der Reisende stand betroffen und in flehender Stellung da; es that ihm wehe die Frauen erschreckt zu haben. Er sagte nichts, bis Ida ihn fast blöde fragte: ich bitte, lieber Fremdling, wer ist er? – Hat er noch Eltern? – Ich bin, wie ich schon gesagt habe, ein reisender Professionist. Mein Leben [9] und meine Schicksale haben nichts besonders. Von meinen Eltern lebt nur noch mein alter Vater, den der Gram um eine pflichtvergeßne Tochter vor der Zeit zum stumpfen Greise machte. Jezt will ich heim gehen, sein Alter zu trösten. Ida war in stumme Wehmuth versunken; Minna lobte sein Vorhaben, und gab ihm Anweisung, wie er sich in ihre Wohnung einführen sollte, wohin sie bald folgen werde. Er ging; und jezt erst bemerkte sie, wie ihre Freundin bleich und in Thränen gebadet neben ihr saß. Auf ihre zärtliche Frage erhielt sie blos zur Antwort: Erinnerungen, Liebe, Erinnerungen, – sie fielen schwer auf mein Herz, als ich die Bildung dieses Menschen sah, der Ton seiner Stimme durchdrang mich. Aber nun fragen Sie nicht weiter; ich will verschmerzen und vergessen. – Schlafen Sie wohl, Theure, fuhr sie fort, [10] indem sie aufstand; morgen sehen wir uns wieder. – Nein, nicht so, meine Ida; so lasse ich Sie nicht. Ihr Herz drückt ein ungewöhnlicher Kummer; es ist mir nicht entgangen, wie oft eine Thräne unwillkührlich diese schönen Wangen hinabschleicht; verschließen Sie Ihr Herz nicht; gönnen Sie sich den Trost der Theilnahme, nirgends finden Sie sie wärmer, als in dem Busen Ihrer Minna. Leiden Sie nicht so allein, schöne Seele! – Schöne Seele! wiederholte Ida schmerzlich; ach! ich hätte es seyn können; ich – ich würde sprechen, wenn mir Muth gemacht würde. – Würde es Ihnen Muth geben, wenn ich zuerst spräche? antwortete Minna schmeichelnd. War Ihre frühere Jugend vielleicht nicht ganz tadelfrei? drücken Erinnerungen an die Vergangenheit dies arme Herz: so will ich mit Offenheit vorangehen. Sie sollen mich kennen lernen, damit [11] auch Ihr Herz sich öfne; wir werden ein froheres Dasein neben einander haben, wenn wir jede Falte unsrer Karaktere kennen. Morgen Abend beginnt meine einfache, aber in ihren Folgen für mich sehr bedeutende, Geschichte. Für heute leben Sie wohl, Ihr angegrifnes Herz bedarf der Ruhe. – Sie schieden voneinander, und gingen eine jede ihrer Wohnung zu.


Als am folgenden Tage die Sonne hinter den Wald gesunken war, und die Dämmerung eintrat, fanden sich unsre Freundinnen wieder unter der freundlichen wirthbaren Linde ein. Ida fragte sogleich mit sichtlicher Bewegung, was aus den Wanderer geworden wäre? Gern hätte sie ihn noch einmal gesehen. – Er zog heut früh mit der Sonne seine Straße, nachdem wir ihm gütlich gethan. Ihre Ursachen mögen seyn, welche [12] sie wollen, meine Ida, der junge Mann war interessant. Ja ich mögte sagen, ich hätte Züge an ihm entdeckt, in Auge und Mund – – Doch still, still, ihr Gesicht zeigt Besorgniß; kein Wort mehr davon. – Lassen Sie uns davon abbrechen, Minna. Sie bemerken richtig: dies Gespräch quält mich. Halten Sie lieber Ihr Versprechen; denn noch frag' ich mich oft: wer ist sie? warum ruht auf dem lieben Gesicht so oft ein Zug stiller Trauer? warum ist, wenn stiller Gram bei mir sich in unwillkührliche Thränen auflöst, die sympathetische Thräne sogleich bereit, aus ihrem klaren Auge hervorzuquellen? Minna, länger dulde ich Ihr Schweigen nicht; denn auch ich suche ein Herz, in welchem ich meinen Kummer niederlegen kann. Minna wurde unruhig; schweigend drückte sie der Freundin Hand. Jezt nicht, jezt nicht, Liebe; [13] was ich zu sagen habe, verträgt nicht dieses Licht. Wenn die grauere Dämmerung mich schützt, dann – – Ida lenkte klug das Gespräch auf die große Heerstraße des Alltagslebens hin, und erst als der Mond an den Gipfeln der Bäume dämmerte, begann Minna mit einem aus beklommener Brust hervorbrechenden Seufzer:

»Der liebenswürdige Sonderling von Genf schrieb seine Confessions, vermochte aber nicht ihre Bekanntwerdung bei seinem Leben zu ertragen. Ich stehe im Begrif weit beschämendere Bekenntnisse abzulegen: zwar nicht vor dem Publikum, aber die Beichte ist demohnerachtet immer ein Punkt, der große Ueberwindung kostet. Wo werd' ich Stimme, wo Kraft hernehmen, sie, selbst gegen eine liebende Freundin, auszusprechen? wo die Ehrlichkeit, da ohne Schminke zu erscheinen, wo die scheue Weiblichkeit sich gern [14] in sich selbst zurückschmiegt. Aber in einer heiligen einsamen Stunde habe ich es mir zur Pflicht gemacht, Ihnen mein Herz mit allen seinen Verirrungen darzulegen. Wie stark muß Ihre Liebe seyn, wenn sie mich dann noch ferner erträgt.

Sie wird, ja sie ist entschlossen zur entschiedensten Nachsicht! Ach, wem sollt' ich nicht nachsehen müssen! seufzte Ida gerührt, und legte ihre Hand auf Minna's gefaltete Hände. Diese trocknete einige Thränen, und begann:

Ich bin die Tochter des Bürgermeister Rosenau, in der angenehmen Provinzstadt A. Mein Vater war ein Mann von Kopf und Herz, und seine Berufsgeschäfte ließen ihn Muße genug, sich oft Tage hindurch seinem Lieblingsstudium, der Geschichte und den alten Klassikern, vorzüglich aber der neuen schönen Litteratur zu widmen. Diese [15] stand damals in ihrer schönsten Blüthe, und, wenn ich so sagen darf, im reinsten schäferlichen Schmucke; die Lesewelt war noch nicht so ekel aus Uebersättigung, und das Rezensionswesen machte noch nicht ein eignes, so überflüssig angebauetes Feld deutscher Schriftstellerei aus. Mein Vater sah mich gern meine Feierstunden mit Gesners Hirten vertändeln, und freute sich, wenn er mich mit Zacharia's Tageszeiten in die Gartenlaube eilen sah. Auch meine Mutter, die von ihrem Vater, dem Rektor B. in S., eine Art von gelehrter Erziehung, nach damaliger Weise, erhalten hatte, theilte meines Vaters Hang zu den Wissenschaften, und war innig froh, wenn er ihr nach vollendetem Tagwerke vorlas, wobei ich arbeitend zugegen war. Dadurch gewann ich unvermerkt an Geistesbildung, und zeichnete mich vor den andern jungen Mädchen des Orts [16] aus. Diese geistigen Unterhaltungen entzogen mich aber auf keine Weise unsrer stillen Häuslichkeit; ich arbeitete, so jung ich war; spann, nähere und strickte für meine Ältern und jüngere Geschwister, mit so innigem Behagen, als obs kein Buch in der Welt gegeben hätte; sah, wenn der Winter vorüber war, mit Verlangen nach den ersten Schwalben aus; weil dann die Gartenarbeiten anfingen, denen ich vorstehen sollte, wenn ich würde größer seyn. Und über den Spaß in der Erndte ging mir nichts, wenn der mit blanken Bändern und Blumen geputzte Schnitter ins Haus trat, und nach Ortssitte von den Mägden mit Wasser überschüttet wurde. – –

Hieraus können Sie schließen, daß die Lebensweise im älterlichen Hause höchst einfach und patriarchalisch war; – und noch blicke ich, mit herzlichem Wohlgefallen, in [17] diesen meinen ungetrübten Lebensfrühling zurück. Diese Einförmigkeit ist wohlthätig für junge unverwöhnte Herzen; sie bildet zum ausharrenden Wohlgefallen an den stillen Freuden des künftigen Hausstandes. Bei uns herrschte sie unverrückt; und nur an den Vorabenden solcher Tage, an welchen etwa der General des dort in Garnison stehenden Regimentes den Geburtstag des Königes, oder seiner Gemahlin feierte, fand eine Ausnahme statt. – Er pflegte die Notablen des Orts einzuladen. Das Vorlesen, Strikken und Spinnen fiel dann aus; und statt dessen kräuselte Mütterchen sich und ihrem ältesten Mädchen die Haare; schwefelte Flor, färbte alte Bänder, wusch seidne Strümpfe, lüftete die seidnen Kleider, oder stickte der Tochter ihres an, wenn sie herausgewachsen war. So gings in allen Häusern wo junge Mädchen waren; denn an einem solchen [18] Tage, von dem das ganze Jahr hindurch gesprochen wurde, da galts! Wir wähnten uns in unserm zusammengestoppelten Staate sehr geputzt, besonders wenns uns gelungen war, irgend einen Modeschnitt zu erhaschen. Das Fest selbst regte, trotz der großen Zurüstungen, nur die kleinlichsten Leidenschaften, der Eifersucht und des Kleiderneides auf. Man erboste, man haßte und verfolgte sich Jahre lang, wenn der General beim Auffordern zur ersten Menuet, nicht die strengste Rangordnung beobachtet hatte; die Vorgezogne brüstete sich so kindisch, als die Zurückgesetzte sich gedemüthigt fühlte. –

Eine solche Stimmung der Gemüther machte sie, schon ihrer Natur nach, für die Eindrücke zärtlicher Gefühle unempfänglich. Ob schon eine Menge junger Personen beiderlei Geschlechts zusammen kamen, hatte doch nie die Liebe sich ins Spiel gemischt. [19] Wort und Sache standen unter dem strengsten Bannfluch; denn die jungen Männer waren Edelleute, und die Mütter führten ihre Töchter mit der strengsten Warnung dahin: um die Welt, mit Keinem sich auch nur ins Gespräch einzulassen. Wie stumm, wie steif und kalt diese Lustbarkeiten ausfielen, wie scharf die Abstandslinie zwischen Adlichen und Bürgerlichen gezogen war, können sich nur die vorstellen, welche die Anmaßungen des Provinzadels, und die elende Kriecherei der Kleinstädter mit Augen gesehen haben. Die adlichen Herren Lieutenants und Fähndriche hielten sich in großer Ferne, und ließen sich nur dann erst herab, uns bürgerliche Töchter zum Tanz zu fordern, wenn auch das adliche Mädchen im Schnürkleidchen nicht mehr tanzen mochte.

Mich verdroß und störte das weiter nicht in meiner überirdischen Freude an diesen [20] Festen; ich nahm, ohne sie zu bemerken, jede Demüthigung des aroganten Dorf- und Regimentsadels unbekümmert hin. Wenn ich nur Gelegenheit hatte, meine Anzahl Menuets und Polonoisen abzutanzen, so war ich übrigens ganz unbekümmert, wie? und mit wem? dies geschah.

Den Genuß meiner jugendlichen Freuden unterbrach aber der Tod meines vortreflichen Vaters. Ich fühlte diesen Verlust so tief, als man so etwas im eilften Jahre zu fühlen im Stande ist, das heißt: ich weinte ungestüm, und wurde im Herzen halb getröstet, wenn ich mir die prunkenden Trauerkleider, die mich zur erwachsenen Person in meinen Augen erhoben, recht lebhaft dachte. Dann weinte ich wieder, wenn die gute Mutter weinte, und rührend über ihren Wittwen- und unsern Waisenstand sprach. Wenn ich aber hörte, daß wir nun unser [21] Haus und unsre Gärten, Felder und Wiesen verlieren würden, heulte ich, und war nur durch hartes Zureden zu beruhigen.

Aber es kam gar anders; diese schönen Dinge, an denen mein Herz hing, wurden nicht verkauft. Es ereignete sich etwas, das, wie ich es damals verstand, besser, in der That aber schlimmer war, als Garten-und Feldverlust, – ich bekam einen Stiefvater, der an Witz und übler Laune seines gleichen suchte. Doch das muß ich in der Ordnung erzählen.

Herr Moorheim, ein Rechtsgelehrter, folgte meinem Vater in der Justizbürgermeisterstelle. Er war ein treflicher Kopf; aber sein Herz? – nicht ein Schatten von dem Herzen meines Vaters. So bald er von Berlin im Städtchen angekommen war, erschien er bei uns. Meine Mutter war immer noch eine Frau, die gefallen konnte; in [22] ihrem lieblichen Gesichte wohnte ein Geist, der nicht veraltern läßt, und Friede und Wohlwollen auf der weißen ebnen Stirn. Sie gefiel ihm; er war galant, und hatte in der feinern Welt gelebt; er machte ihr förmlich den Hof; sie gab seiner Anwerbung Gehör, und, anderthalb Jahr nach meines armen Vaters Tode, wurde Moorheim mein Stiefvater.

Es fehlte wenig, daß mein Herz sich nicht von meiner Mutter abgewandt hätte. Ich war in meines Vaters Seele eifersüchtig; aber ich that ihr Unrecht. Sie hatte ihren Gatten nicht vergessen; es fehlte ihrem ruhigen Sinne nur an dem Grad von Wärme und lebhafter Vorstellungsgabe, die uns auch für nicht mehr anwesende Gegenstände befeuern. Sie war an einen gewissen Wirthschaftsschlendrian gewöhnt, in welchen sie, weil sie nun Leere fühlte, wieder einzutreten [23] wünschte. Doch wer fragt denn nach Gründen zu der alltäglichsten Sache von der Welt? Warum sollten die Wittwen sich ewigem Harm weihen, wenn die Wittwer schon in der tiefen Trauer den zweiten Bräutigams Ring tragen?

Da ich mir aber vorstellte, daß es meiner Mutter im Herzen bald gereuen würde, so söhnte ich mich wieder mit ihr aus, und mein Mitleid sowohl, als gemeinschaftliche Leiden, gaben meiner Liebe zu ihr neue Schwingen. Ach, Ida! was erfuhren wir von diesem herrischen Manne, diesem Hausdespoten! Es hieß bald an allen Orten: Herr Moorheim sei sehr hypochondrisch! Dies pflegt eine Rubrik zu seyn, die jede Ungezogenheit, jede Verwahrlosung des Herzens, jede Grobheit aufnehmen muß. Hat einer sich gewöhnt, den Eindrücken übler Laune nachzugeben, plagt er seine Hausgenossen [24] bis aufs Blut, so heist er hypochondrisch. Ist er übel gelaunt, und schämt sich die unbedeutende Ursach dazu anzugeben, so sagt er: ›ach! ich bin heut so hypochondrisch!‹ – So mein Stiefvater, der im Hause nie mit einem Zutrauen erweckenden Nahmen genannt wurde, sondern immer der Herr hieß. Nie ist der süße Vaternahmen gegen ihn über meine Lippen gekommen; wie denn auch er mich gegen meine Mutter nie anders als Deine Tochter zu nennen pflegte.

Ein übellauniger Hausgenosse gehört wahrlich zu den größern Trübsalen des Hausstandes. Wenn ihm aber noch der beissendste Witz zu Gebote steht, so ist kein Hauskreuz diesem zu vergleichen. Mein Stiefvater hatte Verstand wie ein Engel, und dieser gab ihm die Gewalt alle Herzen zu gewinnen. Aber er handelte unwandelbar [25] nach dem Despoten Grundsatz: die Untergebnen müssen nie wissen, wie sie mit ihremOberherrn daran sind. Diesem zu Folge, war kein Wetterhahn veränderlicher als er in seinem Betragen gegen uns. Abends scherzte er, und man widerstand der Annehmlichkeit seines Umganges mit Mühe. Am folgenden Morgen erschien er steif, feierlich, auffahrend bei Kleinigkeiten; alles an ihm verkündigte einen nahen Orkan. Zu Mittage schlich jedes still und ängstlich zu Tische, und stand ehrerbietig, bis der Herr uns mit kalter Höflichkeit gegrüßt hatte. Herr Moorheim schnitt Brodt; das Messer glitt von der harten Rinde ab: – Wo hat der Schurke Johann das Brodt geholt? Immer läßt sich der Tölpel altgebacknes in die Hand stecken. – Keiner wagte zu äussern, daß das Brodt nicht alt sei. Warum thut denn Niemand den Mund auf? zu sagen, [26] daß es nicht alt ist. – Ich glaube, das große Mädchen da verstehts nicht einmal. Es ist zu hart gebacken, und es zu zerarbeiten, gehört ein Hundsgebiß dazu – Indeß war die Suppe herumgegeben. – Immer und ewig Rindssuppe! weißt du denn gar nichts anders anzugeben, Louischen? – Ich meinte, Sie äßen sie am liebsten, entgegnete meine sanftmüthige Mutter. – Nun schlang er die Suppe kochend herunter. Die Suppe ist versalzen; oder nein! – indem er sie aus dem Munde auf den Teller zurücksprudelte – sie ist nicht genug gesalzen. Der Teufel! wo so eine große Tochter im Hause ist, sollte dergleichen nicht vorkommen. – Erlauben Sie, meine liebe Mutter hat selbst – – Husch! schüttete er das Wasser aus seinem Glase über den Tisch weg, mir ins Gesicht. Da saß ich, wie eine Flußgöttin, mit herabströmender [27] der Fluth von Kopf und Brust. Meine arme Mutter saß daneben, blaß und zitternd, und wagte es nicht ein Wort für mich einzulegen; und doch entging sie nicht dem Vorwurfe: ›Das arme Töchterchen jammert Dich wohl?‹

Ausbrüche so pöbelhafter Laune entwischten dem sonst klugen Manne sehr oft, und wurden, oft noch acht Tage nachher, durchgeknetet, bis ich nich mit verbißnem Ingrimm herabließ, wie er es verlangte, mich zu demüthigen, und kniend Abbitte zu thun. Dies gab dann meiner armen Mutter den Frieden wieder; wenn es dem Haustyrannen nicht gefiel, mich zu verstoßen und kniend liegen zu lassen. Aber ich wende mich von den empörenden Scenen hinweg, deren ich auch im Greisen Alter nie ruhig werde gedenken können.

Was in dem durchaus versäumten Karakter [28] dieses Mannes Andacht und Religion war, kann man sich leicht vorstellen. Als mein Vater sie uns durch sein Beispiel, nicht in Worten, sondern im Wesen lehrte, war die Gottesverehrung in unserm Hause eine erweckende, freudenvolle Sache, woran jeder gern Theil nahm, weil er sich durch sie froher und glücklicher fühlte, und einer noch froheren Zukunft entgegen zu leben glaubte. Auch meiner Mutter Gottesfurcht war heiter, und unsern kindischen Begriffen mit großer Klugheit angepaßt. So aber nicht mein Stiefvater. Sein Frommsein mußten alle Hausgenossen entgelten, denn sie sollten's nach seiner überspannten Weise seyn. Am liebsten schreckte er uns mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der die Missethat der Väter an den Kindern bis ins vierte Glied heimsucht. Diese altjüdischen Begriffe waren wie für das Schreckenssystem, [29] womit er über uns herrschte, ausdrücklich ausgesprochen. Eben so die schwermüthige Vorstellungsart der alten Theologie, von der Buße. Bei jeder Kommunionsfeier sollte Reue, Wehklagen und Zerknirschung über unsre Sünden auf jedem Gesicht bemerkbar seyn. Bei meiner ersten Kommunion sollte ich mich aller, im alten Kommunionbuche hergerechneten, Sünden anklagen, von welchen ich dazumal kaum den Sinn errieth. Sonntags las er viele Predigten, wenn wir vorher, höchst mißtönig und verstimmt, Lieder gesungen hatten, wobei jeder Vers neu intonirt werden mußte, weil wir wenigstens um eine Quinte tiefer fielen, und uns zuletzt in den tiefsten Baß verloren. Die Predigten wurden zwar aus den neueren berühmten Rednern ausgesucht; allein unser häusliche Gottesdienst begann erst, wenn längst der öffentliche vorbei war, und jedermann [30] schon zu seiner Sonntagserholung eilte. Wir jüngern Zuhörer hatten dann wenig Ohr und Herz dafür, wenn alles im Ort fröhlich umherschwirrte, wir noch immer leise umhertrippelten, und verdrossen den Augenblick erwarteten, wo es dem Herrn gefallen würde, seine profane Lektüre abzubrechen.

Durch diese Behandlung war es ihm gelungen, die Religion, welche bis dahin die freundliche Führerin meiner Kindheit und ersten Jugend gewesen war, in das traurigste und peinigendste Ding, das dem Menschen zu seiner Qual gegeben ist, zu verwandeln. Der Gott, den ich, wenn gleich unter höchst verworrenen Begriffen, als meinen eigentlichen Vater geehrt und geliebt hatte, war mir jezt ein immer strenger und zürnender Herrscher, der ganz menschlicher Weise, immer im Zorn aufzulodern pflegte, und [31] nur dann vom Schelten abließ, wenn das arme ohnmächtige Geschöpf tief zerknirscht und gedemüthigt vor ihm im Staube kroch. Diesen Jehovah, wie mein Stiefvater ihn am liebsten nannte, fürchtete ich so sehr, daß ich gewiß nichts versäumte, was die Menschen sehr menschlicher Weise seinen Dienst nennen. Sonntags wagte ich nicht eher ein profanes Buch in die Hand zu nehmen, bis ich das mürrische zänkische Wesen, welches ich Gott nannte, durch das Lesen einer Predigt, oder mit sonst etwas Geistlichem, abgefunden hatte.

Wer darf sich wundern, wenn eine solche Religion dem Menschen etwas ganz von ihm isolirtes ist? Denn wo ist eine Freude, ein Genuß, der sich mit dem Begrif eines immer finstern und scheltenden Wesens vereinigen ließ, eines Wesens, das im seinem Grimm endlich nur durch Blut zu besänftigen [32] war. Es ist schrecklich, dem Menschen zu verbittern, was ihn beglücken soll! – O, ich wurde so fromm, wahrlich! aus Angst so fromm, daß ich beinahe den Teufel mit angebetet hätte. Ich quälte mich ganz matt, wenn an Kommuniontagen mein jugendliches Herz nichts von jener geforderten Zerknirschung empfand, von jener Scheu, und dem Zittern, womit man sich dem Heiligthume nahen soll! Wie ich in Thränen zerfloß, und nur mit an mir selbst verzweifelnder Demuth die Hand nach den äußern Zeichen ausstreckte, – weil ich mich mit allen hererzählten Lastern behaftet glaubte, und mir die Verdammniß zuzuziehen fürchtete, wenn ich unwürdig genösse.

Glücklicher Weise waren diese Begriffe von der Art, daß man sie gar nicht aufs gewöhnliche Menschenleben übertragen konnte. Wenn dergleichen feierliche Handlungen überstanden [33] waren, legte ich das Ganze, wie eine drückende Last, bei Seite, und dachte nicht daran, bis etwa eine nahe Veranlassung sie mir wieder zu meinem Schrecken ins Gedächtniß brachte. Den Herrn Christum hatte ich lieb, weil ich in ihm einen Unglücksgefährten sah, der, so wie ich, unter dem Zorn des Vaters stand. Den heiligen Geist begriff ich nicht; doch kam er mir untergeordnet vor, und er war mir unter dem Bilde der Taube sehr lieb.

Die Lebensweise in unserm Hause war seit meines Vaters Tode gar nicht mehr dieselbe. Unsere Lesereien hatten eine andere Wendung bekommen. HerrMoorheim zwang uns seinen Geschmack auf, daher denn ein jeder gern für sich las. Mir waren bei der Gelegenheit, daß meines Vaters Bibliothek geordnet wurde, einige Bücher in die Hände gerathen, die der sorgsame Vater [34] weislich versteckt gehalten hatte. Freilich sollte niemand Gift in seine Vorrathskammer legen; – es war aber nun einmal da, und ich sog es mit langsamen Zügen ein. Ich erinnere mich nicht der Titel; es waren aber üppige französische Romane, die auf eine unglaubliche Art auf mich wirkten. – Mein Herz, – meine Sinnlichkeit entwikkelte sich mit Schnellkraft. Noch lange, ich behaupte es, hätte bei meiner nüchternen, arbeitsamen Lebensart jeder Trieb, mich unter den Söhnen des Landes umzusehn, ohne die Dazwischenkunft jener Bücher in mir geschlummert. Ich sah mich um; aber da war keiner dem ich es zutrauen konnte, die Hauptrolle eines Romans zu übernehmen. Die Bürgersöhne waren schlichte, biedere Menschen, still ihrem Berufe nachgehend. Die Offiziere der Garnison standen unter dem mütterlichen Bannstrahl. Es war Todsünde, [35] von einem gegrüßt zu werden; und nur hinter den rohrnen Fensterkörben wagten es die Töchter, sie mit verstohlnen Blicken zu mustern.

Als ein blühendes, schnell herangereiftes Mädchen stand ich nun auf dem schlüpfrigen Scheidewege, und man fing an, mich zu bemerken. Der uns gegenüber wohnende Lieutenant von Sonnenstern fing an, sein Auge auf mich zu richten, und ließ sich herab, um die Langeweile der Garnison zu verkürzen, einen Entwurf zu einem Roman mit des Bürgermeisters Minna zu machen, der mit beständigem Herübersehen und Komplimentiren hinter'm Rücken der Mutter begann. Bei dem ersten bedeutenden Blicke flog ich scheu zurück, glühte vor Scham, vielleicht auch vor Freude, die ich mir selbst noch nicht gestand, wie eine Purpurrose, und [36] wagte es nicht, der Mutter ins Auge zu blicken, wenn ich, zitternd vor Schrecken und mit verhaltenem Athem, vor sie hintrat. – Der erfahrne Paladin hatte des Mädchens Zurückziehen sehr richtig zu deuten verstanden; denn auch er spielte nun den scheuen Betroffnen, ließ sich seltener sehn, und bließ zärtliche Lieder auf der Flöte, wenn ich des Abends mit meinen jüngern Geschwistern vor der Thür saß. Welch' ein süßes Spiel war dies für meine nun schon aufs höchste gereizte Phantasie! Auch das liebste Buch fesselte mich nicht mehr; mit dem letzten Bissen, bei dem unfreundlichsten Wetter, stand ich zur bestimmten Stunde auf meinem Posten, oft nur, um bei Licht in seinem Zimmer seinen Schatten hin- und herwanken zu sehn. Ich erstaune, daß diese Rastlosigkeit meinen Eltern entging. Mir ist sie bei jedem jungen Mädchen oder Weibe ein untrügliches [37] Merkmal erregter Leidenschaft, oder doch irgend einer leidenschaftlichen Erwartung.

Der junge Nachbar verstand sich auch sehr gut auf diese Kennzeichen. Noch glüht meine Wange bei der Erinnerung an diese jugendliche Unbesonnenheit. Als ich eines Abends mit einem unsrer Dienstmädchen eine häusliche Besorgung hatte, steckte sie mir einen Brief in die Hand. – ›Vom hübschen Nachbar!‹ – sagte sie. Noch wachte der Keuschheitswächter, jungfräulicher Stolz, über mein Herz. Ich fuhr das Mädchen an, und wies den Brief zurück. Indem ließ sich die Mutter hören, und die erfahrne Magd ließ den Brief schnell in mein Busentuch schlüpfen.

Im Herzen war ich froh, denn ich glaubte daß der Brief nun ohne mein Zuthun mein geworden war. Ihn zu lesen, fand ich den ganzen Abend keinen Augenblick. Aber wie [38] nenn' ich das Gemisch von Empfindungen, die mich bald froh, bald bang durchschauerten? mein Gesicht bald brennend roth, bald todtenblaß, meinen Gang schwankend, und meine Glieder wie von Fieberfrost durchschüttert, machten? – Meine Mutter fragte: ob ich krank wäre? Ach nein, Krankheit war es nicht; es war der laute Puls der Liebe, der durch alle meine Nerven zuckte.

Die ersehnte Schlafstunde half mir nichts, denn ich schlief mit meinen Geschwistern zusammen. Ich legte den Brief als ich schlafen ging an mein lautklopfendes Herz. Die innere Unruhe verstattete mir keine Minute Schlaf. Mit der frühesten Morgendämmerung schlug ich leise, leise den Brief auseinander, den ich bei ruhigerer, uneingenommener Stimmung ganz unausstehlich schlecht gefunden haben würde; so aber überlas ich unzählichemal den unorthographischen, gekleksten [39] und schwülstigen Unsinn, ohne mich an die unschickliche Form des Äußeren, das grobe unbeschnittene Papier, die blasse ausgelaufne Tinte, so wenig, als an die Überschrift ›schönster Engel!‹ zu stoßen. – Nichts, nichts von diesem allen vermochte meine Freude an dem einzigen, nie wiederkehrenden Moment meiner Rosenzeit zu schwächen. Verargen Sie mir's nicht, meine Ida, daß ich, bei aller Mißbilligung der Sache an sich, jetzt noch mit frohklopfendem Herzen auf diesen Punkt meiner Existenz sehe, wo eine süße ahnungsvolle Dämmerung die Seele umfließt, wo rosige Gemälde lächelnd im Hintergrunde stehn, und zu hochgestimmten Phantasieen bezaubern. Gott! welche Seligkeit, wenn das junge weibliche Herz sein Daseyn zu ahnen beginnt, und sich, jungfräulich verschämt, vor sich selbst verbirgt! –

[40] Dieser extasirte Zustand dauerte nicht länger, als bis ich eine Zusammenkunft mit meinem Amoroso gehabt hatte. Diese war Abends vor der Thür. Ich wußte sie nicht einzuleiten, und benahm mich so linkisch dabei, daß es ein Wunder war, wenn mein Roman nicht das Mährchen der Stadt wurde.

Die Zusammenkunft war dem poetischen Schwunge meiner Imagination sehr ungünstig; denn es gab wahrlich! in der ganzen Provinz keinen prosaischern Junker, als den Lieutenant von Sonnenstern. Der einzige Brief, den ich ihm geschrieben hatte, wimmelte von Amor'n und Zephyretten, die damals nach der Lektüre von Gleim's und Jakobi's Briefen in meinem Gehirn noch obenauf schwammen. Sein herber bäurischer Styl stach seltsam dagegen ab. Die erste Anrede geschah mit ›mein Engel!‹; sie [41] wurde von einem schallenden Kusse, den er sich unterstand meinen Lippen aufzudrücken, und von einem quetschenden Händedrucke begleitet. Mein zartes Gefühl empörte sich; dies war keins von den Idealen Geßners, die sich meinem Herzen eingeprägt hatten. Ich brachte die Nacht schlaflos und mit Thränen zu. Durch ernsthafte Überlegungen stärkte ich mich in dem Entschlusse, diesen herabwürdigenden Handel abzubrechen, und mich meiner Mutter zu entdecken.

Zu eben der Zeit wurde ich in der Religion unterrichtet. Zufällig – nein, wohl nicht bloß zufällig, – sprach der Geistliche in einer bald darauf folgenden Stunde über Reinheit des Herzens und Sinnes, und der bestimmte Ausdruck: ›selig sind, die reines Herzens sind!‹ ergriff mich. Ich las damals gerade die Schriften der Frau le Prince de Beaumont, die, bei allen ihren [42] papistischen Grundsätzen, dennoch unendlich schätzbar sind. Sie bestärkten mich in dem Vorsatze, rechtschaffen zu seyn. Tiefer als alles Vorhergegangene beugte mich ein unverdienter Lobspruch, welchen meine nichts argwöhnende Mutter meiner jungfräulichen Sittsamkeit gab, Bei mehr Verhärtung im Unrecht hätte er mir wohl gethan; so aber fiel er mir, die ich nur Neulingin war, mit zermalmender Gewalt aufs Herz. Meine redliche Mutter sah mich leidend, hielt es für körperliche Unbehaglichkeit, redete mir freundlich zu, und schenkte mir zur Erheiterung eine ihrer Stickereien. Diese Güte brach mir das Herz, und ich klagte mich als die undankbarste aller Töchter an. Dieser Gemüthszustand lastete so entsetzlich auf mir, daß ich, trotz der Furcht vor dem Stiefvater, dennoch beschloß, mein Elend von mir zu werfen, und meiner Mutter alles zu entdecken.

[43] Sie erschrak zum Hinsinken, als ich, verstört und laut schluchzend, zu ihr kam, und erblaßte, als ich die Thür abschloß. – Zu ihren Füßen legte ich das demüthigende Bekenntniß ab. Noch seh' ich die Treffliche, Himmlischsanfte ihre Hände, die ich küssen wollte, zurückziehn, dann sie mir wieder entgegenreichen und auf meine Schultern stüzzen. Ihre Thränen flossen über meine Stirn. Sie vergab mir, die Unvergeßliche! Vielleicht hatte sie ein noch entehrenderes Bekenntniß gefürchtet. – ›Wie konnte meine gute Tochter, (sagte sie) meine Minna sich so vergessen? wie wird Herr Moorfeld erschrecken! wie soll ich's ihm nur vorbringen?‹ – Ach, freilich war das schrecklich; deutlich hatte ich mir die Folgen meines Geständnisses nicht gedacht, – und an den Stiefvater eigentlich gar nicht. – Jetzt schauderte ich, und fast reuete mich der Schritt. Aber die [44] gute Mutter wollte ja alles auf sich nehmen, alles ebnen und wieder gut machen. Sie befahl mir, mich ruhig zu verhalten, und den andern Morgen nicht eher zu erscheinen, bis sie ihren Gatten vorbereitet haben würde. Voll dieser bängsten aller Erwartungen schickte sie mich zu Bette. Im Herzen war ich leichter; durch das offene, freiwillige Geständniß hatte ich mich wieder bei mir selbst in einige Achtung gesetzt. Nun war ich muthig entschlossen, alles still hinzunehmen, wie auch immer der Ausgang seyn möchte. Diese Art, meinen Fehler zu büßen, schien mir Größe zu seyn. Meine Eitelkeit mischte sich ins Spiel.

Doch war's ein saurer Gang, als mich am folgenden Morgen meine Mutter nach stundenlangem Harren abrief. Gütig und Trost einsprechend unterstützte mich die fromme, vor innerer Angst und Beklemmung[45] schwankende Mutter. Als die Thür zu meines Stiefvaters Studierzimmer aufging, war ich ohne Athem. Ich sah sein strenges, strafendes Gesicht. Von Scham unwillkührlich getrieben floh ich hinter einen Vorhang, und verdeckte das Gesicht. ›Minna!‹ – sagte er mit leidlich gemilderter Stimme, – ›Sie haben sich schwer vergangen; aber ich verzeihe Ihnen. Sie haben mit der Ehre Ihrer Familie ein schändliches Spiel getrieben; aber Ihrem Unverstande verzeihe ich es. Wenn Sie schon jetzt so beschämt vor uns sich zeigen, wie werden Sie einst vor dem Richterstuhle des Weltrichters in Ihrer Armuth und Schande da stehn! Wie werden Sie zittern, wenn es heißen wird: Gehet hin zu meiner Linken! – Statt daß Sie sollten schaffen, selig zu werden mit Furcht und Zittern, bereiten Sie sich ihre eigene Hölle. Thun Sie Buße, und legen Sie Ihr [46] böses Wesen von sich.‹ – Ich knieete in der Angst mechanisch vor ihm hin, während er in demselben Tone fortfuhr. Endlich sagte er: ›Steh' auf, meine Tochter, Deine Sünden sind Dir vergeben!‹ – So pflegte er in alles, was er sprach und that, Schriftstellen einzumischen, und unschicklicher Weise seine widrige Person an die Stelle des höchsten Lehrers der Menschen zu setzen.

Als er dies gesagt hatte, glaubt' ich mich absolvirt, aber nein, er hatte nur diese, ihm passend scheinende Stelle anbringen wollen; denn nun wendete er sich zur Mutter, und sagte: ›Was meinst Du, Louischen, das wir thun?‹ Sie stand verlegen da, und ließ es auf ihn ankommen. ›Andere Eltern,‹ – fuhr er in einem rauhen Tone fort, – ›würden so ein ungerathnes Kind verstoßen; aber ich bin entschlossen, sie nach Berlin zu meiner Schwester, der Räthin Brennfeld, zu[47] geben.‹« »Brennfeld?« unterbrach Ida ihre Freundin. »Brennfeld? doch nicht die Erzieherin?« – »Eben die; das ist sie aber erst geworden, als ihr Mann sich von ihr schied.« Minna bemerkte nicht, wie sehr Ida bei diesem Namen erblaßte, und fuhr in ihrer Erzählung fort.

»Wie, mein Lieber?« – sagte meine kluge Mutter, – »Sie werden doch meine arme Minna nicht aus dem Hause stoßen, und Gelegenheit zu allerlei Gerüchten geben?« – »Nennst Du das verstoßen, Louischen, wenn sie die Ehre hat, Gesellschafterin meiner Schwester zu seyn, die ein treffliches und geehrtes Weib ist?« – »Das bestreite ich nicht, lieber Moorheim,« – erwiederte meine Mutter mit ihrer süßen, reinen Stimme; – »aber ich dächte, Minna verdiente jetzt auf ihr freiwilliges, edles Geständniß den Lohn des unbedingten Zutrauens. Von [48] jetzt an stehe ich für meine Tochter; und nun kein Wort mehr von ängstlicher Beschränkung. Das väterliche Haus sei ihr kein Jungfernzwinger. Zwang gebiert List. Ihr Herz mag wählen. Wir halten nach alter Art die Töchter, als würden sie zum strengsten Cö@bat erzogen. Weiß ich doch aus eigner Erfahrung, was Liebe zu einem edlen Manne der Moralität des Mädchens ist. Die Stunde, in der Minna's Herz sich einem würdigen Gatten ergiebt soll mir gesegnet seyn.« – »Du siehst sehr weit, Louischen; indeß bin ich in so fern Deiner Meinung, daß es zur Erleichterung ihrer Wahl gut seyn wird, wenn sie in meiner Schwester Hause mehrere Männer sieht. Wen soll sie hier im Städtchen wählen? Den Meister Böttcher, oder den Meister Fleischer? Es geht nicht; das siehst Du selbst, Überdem möchte ich einen zweiten Anfall verliebter [49] Laune, den das Mädchen etwa haben könnte, nicht so geduldig hinnehmen. Minna, Sie bereiten sich zur Reise, in acht Tagen bring' ich Sie hin.«

Was er in diesem Tone sprach, war unwiderruflich. Das wußte meine Mutter so gut als ich; Thränen drängten sich aus den Augen der Schweigenden, und sie winkte mir zu, nicht weiter mit fruchtlosen Bitten in ihn zu dringen. Es wäre auch vergeblich gewesen; denn er entließ uns, um auf der Stelle an seine Schwester zu schreiben.

Von diesem Augenblicke an war der Frohsinn meines Jugendlebens dahin; selbst in Gegenwart meiner so geliebten Mutter fühlte ich mich gedrückt. Zufälliger Ernst schien mir Strenge, und die sanfteste Zurechtweisung ein Vorwurf. Ich versagte mir jeden Genuß, um ihr Mißtrauen nicht zu erregen. O, Bewußtseyn, wie unläugbar bist Du der [50] Tod aller Lebensfreude! – »Minna!« rief hier Ida, »Minna, wozu diese Bemerkung? Sie machen mich elend, ohne es zu ahnen.« – Fällt meine Erzählung Ihnen schmerzlich, meine Ida? so breche ich ab; ich werde sie nicht unaufgefordert fortsetzen. Wohl, wohl, für heute denn: gute Nacht! – Die Freundinnen trennten sich, und gönnten einander die Ruhe, die auch dem Leser hier vielleicht nicht unwillkommen seyn wird.


Ida war am folgenden Abend heiter genug, ihre Freundin mit dem Scherz zur Fortsetzung ihrer Erzählung aufzufordern, daß sie dieselbe ihre Scheherazade nannte. Minna wußte genau, wo sie abgebrochen hatte, und fing folgendermaßen an: – Die auserlesenste Güte meiner Mutter [51] vermochte nichts über meinen Trübsinn; denn nach meines Stiefvaters schwermüthiger Vorstellungsart war die Unschuld und Reinheit meines Herzens unwiederbringlich verloren. Ich war jeder Wohlthat des Christenthums unwerth; nur durch eine Zerknirschung, die ich immer nicht hinreichend für die Größe meines Fehlers hielt, sollte ich können gereinigt werden. Mein Sinnen, wie ich diese hervorbringen wollte, gränzte nahe an Verstandeszerrüttung. Auch meine arme Mutter litt viel. Ihre stille, harmlose Seele erlag unter der Qual meines innern Gemüthszustandes, der ihr nicht entging. Der heftige, excentrische Moorfeld haranguirte bei allen Gelegenheiten mit einer an Verzückung gränzenden Spannung. Sie war von Herzen fromm; aber ihre feine, liebende Seele schätzte und verehrte Tugend und Rechtschaffenheit, ohne das Laster mit Leidenschaft hassen [52] zu können. Ihr Herz faßte keinen Haß, und ihre Religion war das Einfachste und Zweckmäßigste, was je eine menschliche Seele zur strengen Erfüllung aller Pflichten antrieb. Sie litt sichtlich, wenn ihr Gatte mit erschütternder Stimme und Gebehrde über religiöse Gegenstände sprach; und als er uns einst in dieser Manier eine Passionspredigt vom seligen Kramer vorgelesen hatte, klagte sie über Schwindel und Nervenschwäche.

Jetzt traf diese Heftigkeit ein geliebtes Kind, den lebendigen Abdruck eines, in ihrem stillen Herzen noch lebenden, geliebten Gatten. Unser Verhältniß wurde mit jedem Tage gespannter, so, daß es uns allen Wohlthat war, als ein Brief von der Räthin Brennfeld ankam, der mir Aufnahme in ihrem Hause zusicherte.

Meine kleine Reiseequipage war bald zusammengebracht. Die gute Mutter besorgte [53] alles; ich war ganz unthätig und wie betäubt. Noch einmal wagte die Arme mir das Wort zu reden, indem sie ihrem Gatten vorstellte, daß durch mein Verschwinden der Verläumdung freies Spiel gegeben würde. Dadurch erhielt sie so viel, daß er dem jungen Nachbar Lieutenant, der an dem ganzen Unwesen Schuld war, einen Besuch abstattete, ihm meine edle Offenheit rühmte, des Herrn Lieutenants Edelmuth ebenfalls in Anspruch nahm, und sich die Briefe ausbat, die er von mir erhalten hatte. Es war nur ein einziger, mit Lalage unterschrieben. Mein Stiefvater war redlich genug, ihn ungelesen in's Feuer zu werfen; im Herzen wünschte meine Eitelkeit aber, er möchte ihn lesen, denn ich war überzeugt, er würde über das Talent der Briefstellerin in Bewunderung ausbrechen.

Ich war ohne Fassung, als die Stunde [54] der Abreise schlug. Wer es kennt, was es heißt sich von geliebten Personen, von lieben Gewohnheiten loszureißen! – »Ach, wohl kenne ich das! O, es ist das Schmerzlichste! unbeschreiblich schmerzlich! Ja, Minna, ich kenne es, und denke mit zerrißnem Herzen zurück!« – sagte Ida, mit nassen Augen. Es war ein schöner Maitag, – fuhr Minna fort. Als ich zögerte und zitterte, und immer nicht vermochte, gab mir ein Blick meines Stiefvaters, der zu fragen schien, was daraus werden sollte? Kraft, mich loszureißen. Er setzte sich zu mir in den Wagen, und entriß mich einem Städtchen, das der Reisende kalt betritt und verläßt, mir aber eine Welt voll Seligkeit gewesen war.

Der Frühling hatte sich eben in seiner ganzen verherrlichten Gestalt entfaltet. Über die Fluren wallte ein mildes Grün; an allen Wegen war Blüthenduft und Vogelgesang. [55] Meinem armen, fast gebrochnen Herzen wäre eine freudenleere Einöde lieber gewesen, denn die mich umgebenden Schönheiten ließen mich eiskalt. Mein herrschendes Gefühl war Trennung von der Mutter, und Abscheu gegen den Ort meines künftigen Anfenthaltes. Mein Stiefvater fühlte menschlich genug, um mich einige Stunden mir selbst zu überlassen; sobald er aber bemerkte, daß die äußern Gegenstände wieder bei mir Eingang fanden, fing er ein Gespräch an, worin er mir hunderterlei Erinnerungen gab, wie ich mich nun in Zukunft zu betragen hätte; wie sehr meine kleinstädtischen Sitten abstechen würden; wie erbärmlich wenig ich gelernt hätte; – mein bischen Musik wäre dort kaum Geklimper; meinem Französisch fehle es an der rechten Aussprache; welche ungemeine Ehre es für mich sei, in den Kreis seiner Familie versetzt zu [56] werden; wie tiefe Ehrfurcht ich seiner Schwester, die eine vornehme und geehrte Person sei, erweisen müsse, wobei der Handkuß nicht vergessen wurde. Durch alle diese Vorspiegelungen suchte er in mir das demüthige Gefühl meiner Unbedeutsamkeit zu erwecken, und es gelang ihm nur zu gut. – Mein kleiner Ehrgeiz war empört; ich haßte im Voraus die Menschen, die mich so zu nichts machen würden, und verwünschte von ganzer Seele meinen künftigen Wohnort, als er sich mir unerwartet von einer Anhöhe darstellte. So nahe waren wir ihm schon.

Da lag nun vor mir, von der Abendsonne übergoldet, die schöne Königsstadt mit ihren hohen Thürmen und vielen tausend pralenden Dächern. Ich brach in einen Strom von Thränen aus, und machte meinem Herzen durch Äußerungen des heftigsten Widerwillens [57] Luft, die mein Reisegefährte mit leidlicher Geduld anhörte, und mit nur die Weisung gab, meine unverschämte Meinung für mich zu behalten, und ihm nicht den Genuß des ersten Wiedersehens der herrlichen Stadt zu verkümmern. Ich wurde stille, und darüber verwandelte sich selbst mein Unmuth in bange Erwartung, aber das ungewohnte Gewühl mißfiel mir, ich hatte damals noch keinen Sinn, Freude an dem Erwerbgeiste, dem Bestreben und der Indüstrie der Einwohner zu finden. An allen Ecken versperrten prächtige Equipagen unserm kleinstädtischen Fuhrwerk den Weg; denn unsre drei, mit weißleinenen Decken behangenen, Landtraber gingen gar breit auseinander. Hier geriethen sie zwischen Mehlfuhren, dort zwischen Holzhauer; dann fuhren sie nahe an Hökerbuden, so daß unser arme Christoph beinahe den Kopf verlor, und nun ganz toll und blind [58] hineinsprengte, so schnell die müden Klepper nur vermochten. So kamen wir endlich, nach manchem Zwiste mit Kutschern und Trägern, in der Abenddämmrung vor dem Hause des Rath Brennfeld an.

Mit lautem Herzklopfen betrat ich dieses Haus, im bangen Vorgefühl alles Ungemachs, das mich hier erwartete. Ein junges geschniegeltes Hausmädchen empfing uns, und berichtete mit affektirtem Schnarren: die Frau Räthin seien nicht zu Hause, würden aber unfehlbar zum Abendessen erwartet. »Meine Schwester vermuthete unsere Ankunft doch?« – fragte mein Stiefvater. »Ja; aber die Frau Räthin sind schon seit vierzehn Tagen beständig engagirt gewesen. Heute ist Thee dansant bei – – ich weiß nicht mehr wem? Sie konnten es nicht abschlagen.«

Das schnippische Mädchen musterte mich [59] von oben bis unten indem sie sprach, und als wir die Treppe hinaufgingen, hört' ich sie laut lachen, und der Köchin zurufen: »Die sieht verzweifelt kleinstädtisch aus!« – Dieser Pöbelwitz, den ich zu jeder andern Zeit nicht bemerkt haben würde, schlug mein gepreßtes Herz vollends nieder, und, kindisch genug, drückte ich mein kleines Hündchen an mich, indem ich ausrief: »Ach, arme Kolombine, wie wird's uns hier gehen!«

Das Wohnzimmer der Dame, in welches man uns eintreten ließ, war kalt und unfreundlich, und noch naß vom Scheuern, weshalb uns auch das Mädchen die Weisung gab, uns ja auf den von Leinwand gelegten Fußsteigen zu halten. In diesem unwirthbaren Zimmer sah man keine Spur einer weiblichen Niederlassung, außer einem mit Büchern bepackten Sopha, und einem mit Visitenkarten eingefaßten Spiegel.

[60] Mein Stiefvater schien über den seltsamen Empfang betroffen zu seyn. In der That machten wir, jeder auf seinem Leinwandstreifen dem andern gegenüberstehend, eine possierliche Gruppe; er, auf den Fußtritt seiner Schwester lauschend, ich, in mich gekehrt, meine Kolombine im Arm, den Blick vom gegenüberhängenden Spiegel abwendend, aus Furcht, die Figur zu erblicken, die im Hause schon Lachen erregt hatte.

Nach einer halben Stunde erschien zuerst Herr Brennfeld, ein Mann von mittlern Alter, dem Frieden und Vollgenuß im angenehmen Gesicht saß. Er hieß uns liebreich willkommen, und entschuldigte die Abwesenheit seiner Frau, so gut es anging. Der Ton seiner Unterhaltung war ungekünstelt, treuherzig und Zutrauen einflößend; ich glaubte meinen seligen Vater zu hören. Der gütige Mann gab mir Gelegenheit zu[61] sprechen, und hob dadurch ein Gewicht von meinem Herzen, welches in seiner stummen Verschlossenheit zum Zersprengen voll war.

Um Sie durch Weitläuftigkeiten nicht zu ermüden, eile ich zur Zuhausekunft der Frau Näthin, die erst nach einer guten Stunde erfolgte. Mir schlug das Herz, als ich auf der Treppe eine hohltönende weibliche Stimme fragen, oder vielmehr schreien hörte: »Wo ist mein Bruder? wo ist er?« Die Thür flog auf, und eine hagre Gestalt stürzte mit theatralischem Anstande dem Bruder in die Arme. Statt der Rührung empfand ich Widerwillen gegen diese Art, Freude auszudrücken; denn der Ton ihrer Stimme war nicht der Ton der Freude und schwesterlichen Liebe, er war rauh und unbiegsam, und es schien mir eine Lieblingsmelodie, der ein fremdartiger (heterogener, würde [62] Madame Brennfeld sagen) Text untergelegt wird. Nach dieser geräuschvollen Bewillkommung eilte sie mit offnen Armen auf mich zu: »Tochter meines Bruders, – schrie sie, – mein Herz heißt Dich willkommen!« Sie sagte noch mehr, was herzlich seyn sollte, an meinem Herzen aber eiskalt hinstreifte; denn ich hatte diese Wendungen erst ganz kürzlich irgendwo gelesen. Meine Antwort bestand in einigen unvernehmlichen Worten, und wohl einem Dutzend blöder Knikse, die ich in ehrerbietiger Ferne rasch hinter einander machte, und die zu nichts dienten, als meine Verlegenheit anzudeuten, welche durch den entsetzlichsten Verstoß meiner Kolombine gegen alle Lebensart, aufs höchste getrieben wurde. Sie hatte sich den Bewillkommungstumult zu Nutzen gemacht, und, trotz des frischgescheuerten Fußbodens, gethan als ob sie zu Hause wäre. Ich war erstarrt vor [63] Schrecken, und kam aus aller Fassung, als die Dame mit fürchterlichem Kreischen schrie: »O pfui! was ist das für ein Hund?« – Sie erklärte kurz und rund heraus: Hunde dulde sie in ihrem Hause nicht, öffnete die Thür, und scheuchte die widerbellende Kolombine mit dem Schnupftuche hinaus. Ich stammelte etwas zur Entschuldigung, aber kein Mensch verstand es. Der gütige Hausherr bemitleidete meine Verlegenheit, öffnete leise die Thür, das kleine Thier schlüpfte ungesehn herein, und schmiegte sich reumüthig an meine Füße.

Mein Stiefvater hatte versichert, daß seine Schwester das unnütze Geschöpf loswerden solle, weil er mir befehlen würde, es sogleich abzuschaffen. Ich seufzte tief. So unbedeutend an sich dieser Vorfall ist, so war er mir ein klarer Beweis, wie wenig Nachsicht und Schonung die kleinen unschuldigen [64] Neigungen meines Herzens in dieser Familie zu erwarten hatten.

Madame Brennfeld war hagerer Gestalt, mit schlangenartiger Biegsamkeit begabt; in der Sprache der feinen Welt nannte man sie degagirt. In ihrem damals noch jugendlichen Gesichte lag eine Härte, die mir gleich gar nicht zusagte. Sie galt im Ganzen für hübsch; bei genauerer Untersuchung fand man aber, daß es der feine, überlegt gewählte Putz war, der jeden Theil des Gesichts und der Gestalt in sein vortheilhaftestes Licht setzte. Ich habe dagegen nichts einzuwenden, auch nicht gegen das wenige Roth, welches sie auflegte, die bleichste Gesichtsfarbe zu heben; denn in meinen Augen hat Rothauflegen und Puder in die Haare streuen eine Absicht, und beides ist als Verschönerungsmittel gleichgültig, in so fern die Gesundheit nicht darunter leidet. In ihrer [65] Unterhaltung zeigte sie bald die Gelehrte, durch hochtönende Worte sowohl, als durch Citate von Autoren aus allen ihr bekannten Sprachen, der französischen, englischen und italienischen. Bei dem allen machte sie ihrem Bruder doch viel Herzleid, der gegen grammatikalische Unrichtigkeiten ein so empfindliches Ohr hatte, wie der Tonkünstler gegen falsche Töne. Er unterbrach sie bei jeder Phrase mit Bemerkungen, daß hier der Dativ und dort der Genitiv stehen müsse. So pries er auch ein Frauenzimmer als ganz trefflich, weil er sie noch nie auf einem Sprachfehler ertappt hatte.

Die Frau Räthin hätte sich gewiß weder ihres Bruders, noch viel weniger meinetwegen in Kosten der Unterhaltung gesetzt; denn ihr Bruder schien ihr in der kleinen Stadt verspießbürgert, und mir traute sie nicht einmal zu, daß ich Notiz von mehr [66] als meiner Muttersprache haben könne. – Ihr Aufwand von Redekunst und gelehrtem Prunk wurde eines jungen Herrn wegen gemacht, den sie aus der Theegesellschaft mitgebracht hatte. Sie stellte ihn ihrem Mann als den Baron von Löwenberg, den Neffen der Frau Ministerin, vor. Der Rath schien an dergleichen Vorstellungen gewöhnt zu seyn, und fand es nicht unbequem, wenn seine wortreiche Gattin die ganze Unterhaltung allein bestritt.

Der junge Mann war nicht uneben, jagte nach Witz, den er oft glücklich genug erhaschte, und da die Frau Räthin sich trefflich auf Eitelkeit verstand, so schmeichelte sie der seinigen sehr angenehm damit, daß sie ihn bat, von seinen Gedichten vorzulesen. Er hatte ein ganzes Volumen davon bei sich, und deklamirte sehr niedliche Sächelchen, die selbst mein Stiefvater, kein übler [67] Kenner, bis auf grammatikalische Richtigkeit recht hübsch fand; Madame aber rief einmal über das andere: »Gott, Gott, wie schön! o, excellent, exrellent! o, das müssen Sie mir geben, Baron; ich will es an J.. für sein Journal schicken.« Oder sind Sie Mitarbeiter einer Zeitschrift? – »Nein,« sagte der ganz Bescheidene, »mein Talent ist noch zu roh; und ich kann nicht leugnen, daß eine Rezension in dem jetzt üblichen Tone mir weher thun würde, als der Beifall mir wohl thun könnte.« – »O nicht doch, Baron,« fuhr die Räthin fort; »Ihre Bescheidenheit geht zu weit! Geben Sie mir's, geben Sie mir's! Morgen schreib' ich an J..; kein Rezensent soll Sie packen, ich steh' Ihnen dafür! Es kommt ja alles auf Konnexion und Anhang an, und diese kann ich Ihnen verschaffen.« – Sie bemächtigte sich seiner Papiere, und legte sie in die Rücklehne ihres Sophas.

[68] Bald trat noch ein junger Geistlicher ein, der sich ebenfalls als ein demüthiger Verehrer der Dame zeigte. Seine überschwengliche Redseligkeit schien ihr indeß wenig zu gefallen. Er sprach in zehn Minuten gewiß über dreißig verschiedene Materien; knisterte auch mit einem Manuscript, welches aber nicht Eingang fand, sondern auf die nächste gelehrte Zusammenkunft ausgesetzt wurde. Der junge Geistliche war auch ein Dichter; da ihn jedoch die Rezensenten erst kürzlich jämmerlich zerfleischt hatten, so mochte er vielleicht die wunden Stellen neuer Berührung nicht bloßstellen wollen. In diesem Fache überließ er dem Baron das Feld.

Zu meinem Troste erschien der Bediente, der uns zu Tische rief. Noch gedenke ich mit Widerwillen jener Abendmahlzeit, als der drückendsten, der ich je beiwohnte. Ich fühlte, daß ich in dieser Familie nie einheimisch [69] werden könne; der Ton derselben war mir durchaus fremd und mißfällig. An altdeutsche Fülle und Überfluß gewöhnt, bemerkt' ich allenthalben den kargen Zuschnitt, nebst dem lächerlichen Bestreben, es größern Häusern gleich zu thun. Der, immer auf meine Bedürfnisse aufmerksame, Rath Brennfeld bemerkte, daß ich meinem armen kleinen Thiere ein wenig Brod hinreichte; er schnitt sogleich Braten für dasselbe ab, welches aber Madame mit einem »Fi donc, mon cher, Sie werden doch nicht« – – mißfällig bemerkte.

Gegen Mitternacht hatte ein jeder die Freiheit, sich in sein Zimmer zu begeben. Auch der Raum, wohin man mich wies, hieß hier ein Zimmer. Wie ich überhaupt schon bemerkt hatte, daß es hier zum Tone gehörte, die gemeinsten Dinge mit schönen Namen zu putzen, so nannte man bei Tische [70] zähes Schmoorfleisch »à la daube,« gemein gekochte Krebse »à la dauphine,« einen, an der Treppe stehenden, baufälligen Kleiderschrank »eine Garderobe,« u.s.w. Dieses Zimmer denn also, welches mir zur Wohnung angewiesen wurde, war ein Gegenstück zu den Zimmern in der Bastille, und an der Beschaffenheit des darin befindlichen Mobiliars merkte ich bald, was ich in dieser Familie seyn würde.

Statt mich niederzulegen, setzte ich mich auf den einzigen alten Stuhl, der vorhanden war, und weinte bitterlich. In einem Nebenzimmer hörte ich meinen Stiefvater, auf und abgehend, mit lauter Stimme ein Abendlied singen. Diese bekannten Töne, die ich so oft, in Gegenwart meiner guten Mutter, gehört hatte, durchdrangen mein Innerstes aufs schärfste. So saß ich traurend, bald mich selbst, bald mein Hündchen[71] beklagend, bis das kurze Stümpfchen Licht, welches mir gegeben ward, ausgebrannt war, und ich im Finstern nach dem Bette tappte.

Und das wollen wir jetzt auch thun. Sie husten, meine Ida. Die Nacht ist kalt. Bis auf frohes Wiedersehn!


Der folgende Abend brachte die Freundinnen wieder zusammen, und Minna setzte ihre Erzählung also fort:

Die Frau Räthin, die ich am folgenden Tage sah, als sie um zehn Uhr aufgestanden war, schien mir eine ganz andre zu seyn, als die, der ich Abends zuvor eine gute Nacht gewünscht hätte. Sie zankte mit ihren Mägden; und als eine arme Frau ihr Handbesen verkaufte, drückte diese elegante Dame das arme Weib, um zwei Pfennige weniger [72] zu geben, bis aufs Mark. In Putz und Spiel schien sie nicht so karg zu seyn, wie ich häufig genug bemerkt habe.

Ich übergehe die unlustigen anderthalb Jahre, die ich in diesem Hause der Zwietracht und der Widerwärtigkeit verlebt habe, und erwähne nur noch einer Szene, wodurch Madame bis zu Thränen gedemüthigt wurde, und die mir unvergeßlich geblieben ist. Zu den Abendessen, welche sie ihre gelehrten Donnerstage hieß, fanden sich immer viele junge Herren, die Schöngeisterei trieben, ein. Ihr Liebling und erklärter Verehrer war ein junger Edelmann aus der Provinz, den sie so verstrickt hatte, daß er seinem Berufe nicht mehr oblag, und seine mehrste Zeit in behaglichem Müssiggange zubrachte. An einem schönen Donnerstage – Madame war so besonders guter Laune, daß sie sogar mich, der armen Lastträgerin, eine Stelle in der[73] gelehrten Zusammenkunft anwies, und mich das Fortepiano spielen ließ, – blieb der erwähnte junge Herr aus; schickte aber an Madame einen Brief von seiner Mutter an sie, der ihm als Einlage zugeschickt war. Das war ein Fund für die Übermüthige! – »Ha!« rief sie, »ein Brief von einer Landedelfrau! Das wird sehr amüsant seyn, ich versichere Sie! Lesen Sie, Baron, meine Augen sind mir zu lieb;« (indem sie einem jungen Herrn den Brief zureichte). Der Baron erbrach und las:

»Wohlgebohrne Frau! (wahrhaftig, eine vielversprechende Überschrift!) Meine Verwandte, die mit Ihnen an einem Orte sich befinden, haben mir einen hohen Begriff von Ihrem Verstande, (o! sehr gütig!) aber zugleich auch von Ihrem Talente, junge Männer – – (des Barons Stimme stockte; die Räthin rief: so lesen Sie doch!) [74] junge Männer von ihrer eigentlichen Bestimmung abzuziehen, beigebracht.« (Was will die Frau damit sagen?) »Sie haben meinem Sohne einen Ekel vor jeder ernsthaften Amtsbeschäftigung durch Tändelei und jede Modelektüre eingeflößt.« (Wie? ist sie toll? ist sie toll? Der Baron las unbarmherzig mit schallender Stimme weiter; denn er beeifersüchtelte den Abwesenden um ihre Gunst.) »Bedienen Sie sich doch der Gewalt, die Ihnen seine Weichlichkeit über ihn eingeräumt hat, und geben Sie ihn mir, geben Sie ihn seinen Pflichten zurück, dann können Sie auf den Dank einer Mutter rechnen, der es nichts gilt, daß ihr Sohn ein alter Edelmann ist; die aber untröstlich seyn würde, wenn er, uneingedenk seiner Bestimmung als nützlicher Staatsbürger, seine kostbare Zeit vertändelte. – Fährt er fort Ihre Ketten zu schleppen, [75] so werden seine Vormünder dafür sorgen, daß er, weit von Ihnen entfernt, in eine andre Laufbahn versetzt werde. Ich bitte dies zu beherzigen, und habe die Ehre etc.«

Das ging der Dame bitter ein; sie war einer Ohnmacht nahe, und hätte besonders mich gern mit den Augen getödtet, weil ich mich unterstand zugegen zu seyn. Ich saß da wie auf Kohlen, und wünschte mich weit weg. Mir traten Thränen in die Augen; denn es war wirklich schrecklich, diese stolze Frau so aufs Blut gedemüthigt zu sehen. Dieser Vorfall, – sollten Sie's glauben? Ida! – verschaffte mir die Verehrung eines Mannes, der nachher mein Gatte wurde. Er, dem es bekannt war, wie die Räthin mich zu mißhandeln pflegte, hatte mich beobachtet, ob ich triumphirend auf sie hinblicken würde; als er aber das Gegentheil sah, dachte er gut genug von meinem Herzen, [76] um mir das seinige nebst seiner Hand anzubieten.

Seit diesem unseligen Auftritte ließ es sich die Räthin immer deutlicher merken, wie sehr ich ihr zuwider sei, und wie gern sie mich los zu seyn wünsche. In dieser Rücksicht beförderte sie die Bewerbung des Rath Thalheim aufs eifrigste. Ich hatte nichts entgegenzusetzen, als daß mein Herz ihn gar nicht auszeichnete; er war mir, wie alle übrigen Männer in der Welt, gleichgültig. Von dieser Seite war ich völlig frei und unbefangen. Der Wunsch meiner redlichen Mutter, mich versorgt zu sehn, wurde durch meine Zustimmung aufs vollständigste erfüllt; denn Herr Thalheim hatte nicht nur ein einträgliches Amt, sondern auch eigenes Vermögen, und machte einen an ständigen Aufwand. Seine Person war nicht übel; sie streifte an die damalige Art von Eleganz, [77] für die ich einen ungemeinen Respekt hegte. Sein Verstand gefiel mir. Er war von der heitern Art, liebte Scherze und witzige Einfälle, brachte selbst welche vor, die immer zu gefallen pflegten, und, was das Beste und Liebste war, er hatte Geschmack genug gehabt, mich zu bemerken, und mich aus dem Druck' und Hungerelende meiner höchst untergeordneten Lage im Hause der Madame Brennfeld hervorzuziehen.

Sobald ich die Einwilligung meiner Mutter wußte, zögerte ich nicht mein Jawort zu geben; die Anstalten wurden eifrig betrieben, und meine gütige Mutter kam bald mit der schon fertigliegenden Ausstattung an. Sie war sehr zufrieden mit ihrem zukünftigen Schwiegersohne, und gab uns ihren Segen, als die priesterliche Hand uns zusammengefügt hatte.

Bis jetzt, meine Ida, haben Sie mich als [78] ein leidlich gutes Mädchen kennen gelernt; aber der zweite Akt meines Lebens! – ach, Ida, was für eine Erzählung steht Ihnen bevor! – – Die jugendliche Liebelei abgerechnet, die mir nicht ins Herz drang, war ich wohl ein gutes Mädchen: denn mir gefiel zwar die Liebe, die meinem Wesen Bedürfniß des Herzens schien;der Geliebte war es jedoch nicht, den ich eigentlich meinte. Ein Besserer würde mir besser gefallen haben; aber der, an dem ich meine Schwungkraft übte, war mir der Nächste, und lief mir in den Weg. Ach, ich fühlte mich so ganz geschaffen, durch Liebe zu beglücken, und beglückt zu seyn; aber ich sollte auf anderem Wege die Glückssonne finden, welche die zweite Hälfte meines Sommers erwärmt!

»Der zweite Akt, liebe Minna, der zweite Akt! Ich bin begierig, die Räthin Thalheim kennen zu lernen!« – rief Ida.

[79] Ich zog triumphirend in meines Gatten wohleingerichtetes Haus ein, und brüstete mich ein wenig, da verschiedene Domestiken mir als Frau Räthin huldigten. – In meiner bisherigen Unterdrückung war ich, außer dem gelehrten Häuflein bei Madame Brennfeld, wenig in fremde Familienzirkel gekommen; die Welt, in die mein Mann mich einführte, war mir also eine neue Erscheinung, so wie ich es ihr war. Ich meinerseits betrat sie mit großen Erwartungen; ob sie sich die Mühe gegeben, etwas von mir zu erwarten, – das weiß ich nicht.

Ich hatte meine neue Haushaltung mit dem festen Vorsatze betreten: im ganzen Umfange des Worts Hausfrau zu seyn. Diese Pflicht, dacht' ich, wird ja wohl mit Weltgenuß nicht unvereinbar seyn? – Ich will haushälterisch mit meiner Zeit umgehn, und mir nur dann erst Erholung verstatten, wenn [80] ich sie mir durch Fleiß und Häuslichkeit verdient habe. Ich ging alles Ernstes daran, jedes Fach des Hauswesens zu ordnen, jedem Dienstboten seine Bestimmung und Arbeit anzuweisen; aber ach! ich war bei weitem noch nicht mit meinen häuslichen Einrichtungen zu Stande gekommen, als ich dem Gebrauche fröhnen, und mich den Forderungen der Konvenienz hingeben mußte. Da rollte ich nun Tage lang durch die Straßen, und schickte an Familien, die mir sogar dem Namen nach fremd waren, Katten, mit meinem, ihnen wahrscheinlich sehr gleichgültigen, Namen. In meinem Zimmer fand ich ebenfalls den Spiegel mit mehr als hundert unbekannten Namen verbrämt. Ich hatte niemand kennen gelernt, und doch hieß das Bekanntschaft machen. Dies fand ich sehr langweilig. Durch die Gastgebote, die dem jungen Paare zu Ehren veranstaltet [81] wurden, hoffte ich nun meine Erwartungen von den Freuden des geselligen Lebens erfüllt zu sehen. In dieser Hinsicht unterwarf ich mich geduldig dem entsetzlichen Zwange einer dreistündigen Toilette, bei welcher ich nicht ohne Rührung an die Simplizität meiner Vaterstadt dachte. Mein schön gewählter Putz und mein ins Gehör fallender Titel schienen mich zu einigem Selbstvertrauen aufzumuntern, und ich trat mit einer Zuversicht, die mir sonst gefehlt haben würde, in den großen Zirkel ein. Allein du stolzer Muth, wie tief sankest Du in Dich selbst zurück! Ich fühlte mich in jeder Rücksicht verdunkelt; hier war mehr Eleganz in Kleidern und Putz, dort mehr Anstand und Grazie. Mehr als alles aber waren mir die, sich so zu sagen überbietenden, Titel verdrießlich. Ich fühlte, daß man, um wirklich etwas zu seyn, nichts seyn müsse. [82] In diesem Augenblicke hätte ich den Titel, auf den ich noch eine Stunde vorher so geprunkt hatte, der sich nun unter höherstrotzenden demüthig hinwegschlich, um eine Stecknadel hingegeben. Doch der längre Weltgebrauch hat mich nachher gegen diese Thorheit, durch leeren Schall schimmern zu wollen, so abgestumpft, daß ich mich hätte Excellenz betiteln hören können, ohne mir etwas dabei zu denken.

Die ganze Unterhaltung bei Tische lief auf Gemeinplätze hinaus; aber der artige Styl des Vortrags bestach mein Urtheil, und ich hielt es für ganz hübsch. Indeß fühlte ich recht gut, daß ich hätte mitsprechen können, aber ich wagte mich nicht hervor. Meiner Sprache fehlte die Geläufigkeit des Ausdrucks und der Wendungen; auch entging ihr das Gepränge gewisser Modewörter, ohne welche sie nur falsche oder abgesetzte [83] Münze ist. – Nach Tische, dacht' ich, wird's besser gehen; ich werde mich an ein weibliches Wesen anschließen, und vielleicht, vielleicht fügt's das gütige Verhängniß, daß ich eine Freundin finde, nach deren Genuß mein entgegenstrebendes Herz sich längst sehnt; denn immer war Freundschaft der goldene Traum meiner Jugend gewesen. Aber im Kaffeezimmer war ich um nichts gebessert; und wäre ich aus Indien gekommen, ich hätte ihnen nicht fremder seyn können. Sie sammelten sich in Gruppen, unterredeten sich von Lottchen und Kätchen, und hatten ihre Lokalspäße, ihre Lokalerinnerungen, als wär' ich gar nicht da gewesen. – Dies Gespräch war mir wie eine Vorlesung aus der chaldäischen Bibel. – Keine nahm Notiz von der Fremden; ich strickte daß mir der Schweiß von der Stirn rann. – Eine ältliche Frau schien meine unbehagliche Lage zu bemerken; [84] sie näherte sich mir, und that eine Frage nach meinem Geburtsort und Eltern, wie man sie einem Kinde thut. Plötzlich schoß nun das ganze Geschwader mit Fragen über mich her, deren Beantwortung gar kein Interesse für sie haben konnte; und dies dauerte ununterbrochen fort, bis die Damen ihre Parthieen machen sahen, mich plötzlich plantirten, – wie der Franzos es sehr ausdruckvoll nennt, – und nun mit wahres Gier über die Karten herfielen.

Die ältliche Frau, welche den Fragern die Bahn gebrochen hatte, blieb zu meiner Gesellschaft allein übrig. Sie war noch immer unersättlich in ihrer Wißbegierde, aber leider! war jetzt mein Mund wie versiegelt. Als dieser Abend nun auch überstanden war, bat ich meinen Mann, mich fernerhin nicht mehr so traurigem Vergnügen auszusetzen. Er fragte mich lachend: ob mir in meinem [85] Städtchen Gänsespiel, Tipp- und Sandhäufchenspiel besser gefallen habe? – Wir lachten wenigstens dabei aus frohem Herzen, niemand fühlte sich zurückgesetzt, und Jung und Alt waren froh ohne großen Aufwand, antwortete ich. – »Wenn Du nur erst den Ton gefaßt haben wirst, wird es schon besser gehen,« – meinte mein Mann.

Von dieser Zeit fing ich an auf den Ton auszugehn, und alles dafür zu halten, was von dem Gewohnten abstach. Das Geräusch der Kokette, womit sie Aller Augen auf sich zu ziehen suchte, die Pedanterie der Anspruchvollen, die mit studiertem Ausdruck ihre Belesenheit auskramte, jede Besonderheit hielt ich für das rechte. So wurde ich immer ungewisser in dem, was ich eigentlich seyn müßte; und erst lange nachher, als ich zu vergleichen Gelegenheit und Reife genug hatte, fand ich, daß ich einem Phantom [86] nachgejagt war; daß es in der karakterlosen Menge keinen bestimmten Ton giebt noch geben kann; das alles Beginnen und Treiben nur Konvenienz und Laune des Augenblicks ist, und daß auf schwankendem Grunde nie etwas Festes und Dauerndes aufgeführt werden kann.

Nach langem Umherschwirren und lästigem Selbstbewirthen wurden wir endlich zu einer Gesellschaft solcher Männer eingeladen, die ich aus ihren Schriften, gleich unsichtbaren wohlthätigen Gottheiten, verehrt hatte. Bei der Vorstellung, daß ich diese erhabnen Wesen jetzt in der Nähe von Angesicht zu Angesicht sehn würde, ergriff mich ein heiliger Schauer, mein Geist neigte sich ehrfurchtsvoll, und ich besorgte, mit meinen fünf Sinnen die Weisheit nicht auffassen zu können, die mir zu hören bevorstand. Ich ging, und hörte an dem Ausdruck: »wir [87] Rezensenten« – – sehr bald, wer die meisten dieser Herren waren. Da gedachte ich eines französischen Reimleins, was mein Vater einst bei einer sehr hämischen Rezension sagte:


»Haine de philosophe est un feu qui devore,
Haine de gazettier est mille fois pis encore

»Ich habe die Vorrede gelesen,« sagte einer, »das Buch soll nicht sonderlich seyn; ich werde es schön kappen!« – Dann ein anderer: »Haben Sie meine Rezension von dem – – in dem – – gelesen? Ich habe mir einen Spaß mit dem Verfasser gemacht. Das Ding ist eigentlich ganz gut; aber so einer – – muß nicht aufkommen. Hat der Mensch sich's nicht beikommen lassen, unser Journal zu bekritteln?« – Von einem liebenswürdigen [88] Dichter hieß es: »Er hat Verdienste, der Mensch; aber wer kennt ihn? Er ist ja zu keiner Seele gekommen, als er hier war.«

Die Frauen nahmen auch hier, so wie in den andern Gesellschaften, keine Kunde von der Unterhaltung der Männer, und flüsterten einander ihre kleinen Unbedeutsamkeiten zu. Ich verließ auch diesen Zirkel unbefriedigt, weil ich zu hohe Anforderungen gemacht hatte; aber diese Namen, dieser Ruf, berechtigten doch zu etwas mehr als dem Gewöhnlichem! Mein Mann nahm mir's übel, als ich meinen Widerwillen gegen den Rezensentenklub zu erkennen gab. »Sollte sich denn nirgends Genuß für meine achtzehnjährige Philosophin finden?« sagt' er verdrießlich. »Heut' führ' ich Dich in's Schauspiel; und gewährt Dir dieses nichts, so muß ich's wohl aufgeben, Dir Freuden[89] außer Deinem Hause zu verschaffen.« Der liebe Mann! Er fühlte nicht, daß eben darin der Mißgriff geschehen war. Wer Glück und Freuden außer seinem Hause zu suchen sich aufmacht, der umreise wie Anson und Cooke die Welt, er durchschaue Höfe und Palläste: er findet es nicht; denn er ließ es oft in seinen vier Wänden, auf einem armen Plätzchen am Kamin, in seinem schlechten Lehnstuhle zurück. Sie kennen gewiß die über alles liebenswürdige Allegorie: Bathmendi von Florian; sie ist ein schöner Kommentar über das, was ich jetzt sagte.

Ich rechne mir es nicht zum Verdienst an, daß ich im Schauspiele ein Vergnügen fand, das mich ganz an sich zog. Ifflands Jäger fesselten mich durch ihre Wahrheit und reine Natur, die ich kannte. Iffland ist der Stolz und die Ehre der Nation; seinen vielfachen Werth nicht fühlen wollen, [90] hieße sich selbst herabsetzen. Ich sah alles, was von ihm war, und von der Zeit an überließ ich mich diesem Vergnügen mit Leidenschaft. Mein Herz öffnete sich wieder sanfteren Eindrücken; die gesellschaftlichen Zerstreuungen, die nichtssagenden Unterhaltungen hatten es, wie mit einer Kruste von Eis, umgeben. Bei manchen Vorstellungen wurde ich weich; ich gedachte des Morgenroths der Liebe, die einst einem so unwürdigen Gegenstande in meinem Herzen aufging. Ach, mein Herz bedurfte der Liebe, wie die Blume des Thaues! Wenn mir der Himmel, so wie ich es gegenwärtig einsehe, Töchter zu erziehen gegeben hätte, ich würde dafür sorgen, sie mit hunderterlei kleinen Spielereien, zu der Zeit, wenn ihr Herz zu erwachen anfängt, zu umgeben; mit Hündchen, Hühnerchen, Täubchen, Blümchen, etc. Ich würde ihnen einen Garten einräumen, den sie im eigentlichen [91] Verstande bearbeiten müßten; ich würde sie durch kleine Tändeleien, die das Herz beschäftigen, hinzuhalten suchen, um dem Drange, zu lieben, den Rang abzulaufen. Denn, wenn dieser hervortritt, liegt gewiß die Sinnlichkeit im Hinterhalte, und springt, gleich einer gereizten Schlange, in dem ersten unverhoften Augenblicke hervor, den bei rascher Jugend ein Tanz, ein Glas Wein, ein von ungefähr ins Ohr gefallenes schlüpfriges Wort herbeiführen kann. Ida, ich überhebe mich nicht, weil ich in dem ersten Versuche nicht fiel; eine Zusammenkunft unter Gottes freiem Himmel, – ein Liebhaber, dessen Plumpheit meinem Gefühle widerstand! – wer weiß, was schon damals aus dem unbesonnenen Mädchen geworden wäre, wenn die Mißverhältnisse nicht so gar grell ins Auge gefallen wären. – Ich war überdem zur Schamhaftigkeit erzogen, und hatte aus [92] Geßners Idyllen mein erstes Ideal von Liebe geschöpft.

Ich kehre zu meinen Bekenntnissen zurück. Das Schauspiel fesselte mich so, daß ich gleichsam in eine idealische Welt versetzt war. Meine Phantasie hatte einen so lebhaften Schwung bekommen, daß mir die kältern Verhältnisse meines Hausstandes zum Ekel wurden. Der ruhige, bloß freundschaftliche Umgang mit meinem Manne schien mir träge Abspannung zu seyn; mich grauete vor aller häuslichen Beschäftigung; ich verrichtete sie obenhin und mit Widerwillen. Das Leben im Hause war mir ein bloßer Mittelstand, welchen ich ertrug, in so fern et Zubereitung zu der bessern Existenz im Schauspielhause war.

Anfänglich lächelte mein Mann, wenn er meine Extase über alles, was auf Schauspiel Bezug hatte, bemerkte. Ach, möchten [93] ihm doch diese Anzeigen, wie leidenschaftlich ich jede Zerstreuung ergriff, für die mein lebhafter Sinn so empfänglich war, nicht entgangen seyn! Und dennoch drängten sich mir mitten im Rausch der Freude an meinen Lieblingszeitvertreib unwillkührliche Erinnerungen an solche Abende stillen häuslichen Glückes auf, wo, wenn ich fleißig und flink gearbeitet hatte, die Mutter zum Vater sprach: »Sieh', Väterchen, wie unsere Minna wacker und schmuck ist! Sie wird einst eine brave Hausfrau seyn. Sie macht uns Freude, und soll auch Freude durch uns haben.« Diese Erinnerungen peinigten mich, besserten aber nichts. Zerstreuung und Zeitvertreib gehörten nun schon zu meinen Daseyn; ich wollte nur amüsirt seyn. Dies war die Losung aller Weiber meiner Bekanntschaft! Ich ließ nicht ab, bis die Geburt meines Sohnes mich zwang, meine Residenz [94] im Hause zu nehmen, wobei ich zugleich zu einer Thätigkeit gezwungen war, die Bezug auf meinen Zustand hatte.

Ein Gewitter, das sich durch schreckliche Blitze verkündigte, unterbrach die Freundinnen; sie kamen erst nach vielen Abenden wieder auf ihrem schönen heimlichen Plätzchen zusammen.


»Wir verließen Sie neulich im Kindbett. – Wie vermochten Sie damals diese Einsamkeit zu ertragen?« – fragte Ida.

Die Leiden meines neuen Standes – fuhr Minna fort, – wirkten allerdings einige Rückkehr zu mir selbst. Nach meinen, in dem Städtchen, oder vielmehr vom Stiefvater mir eingebläueten, Begriffen nahm ich mir vor: den strengen Herrn wieder gut zu ma chen, und geistliche Bücher zu lesen. [95] Deshalb nahm ich meine Zuflucht zu meines Mannes Bibliothek. Was mir geistliche Bücher zu seyn schienen, waren grade solche, worin eben alles, was ich glaubte, bestritten wurde. Nie hatte ich auch nur die Möglichkeit geahnet, daß gewisse Sätze, und was mir Wahrheit war, einigem Zweifel unterworfen sei. Und hier waren es nicht bescheidene Zweifel, die der wahrheitsuchende Forscher aufwarf, sondern frecher Spott und beißender Witz. Bei dem ersten Blick darauf dachte ich, die Erde müsse mich verschlingen, oder Feuerregen auf mich fallen; aber die Neugier brannte lichterloh, ich las, und nährte mich unglücklicher Weise mit einem Gifte, das nachher meine besten Lebenssäfte aufzehrte. Dann bemächtigte ich mich des Systeme de la nature; mein armer, schwacher Kopf hatte keine Widerlegung zur Hand, ich nahm blindlings an, was ich mit [96] so wahrscheinlichen Gründen behauptet fand, und was man mir als Religion mitgegeben hatte, hielt auch nicht einen Augenblick dagegen Stand. Mein Mann schalt, als er meine Lesereien untersuchte; aber er that nichts, dem Gifte entgegenzuwirken. Und hiermit war's denn ausgemacht, was künftig aus mir werden konnte, wie ich immer tiefer sinken sollte, da der Grund untergraben war. Zum Unglück war der Arzt, der mich besuchte, ein äußerst freidenkender Mann; er sah was ich las, widerlegte zwar in einzelnen Stellen das verruchte Natursystem: was er aber billigte und noch hinzusetzte, wirkte stärker auf mich, als was ich gelesen hatte. Den Arzt verehrte ich gränzenlos; seine Äußerungen wurden mir gefährlich. – Er, der mir nachher wohl that, ahnete nicht, wie viel seine freigeisterischen Meinungen zu meinem Falle beigetragen hatten.

[97] Als die Wochenstube von überflüssigen Wärterinnen und Besuchen gereiniget war, und ich dem ruhigern Nachdenken überlassen blieb, dachte ich ernstlich über den Beruf nach, den mir jetzt die Natur angewiesen hatte. Ich sollte ein Wesen zum Menschen, zum nützlichen Mitgliede der Gesellschaft bilden! Wie sollt' ich das anfangen? – den Weg einschlagen, den meine braven Eltern gegangen waren? Ganz gut: meine Brüder waren liebe, gute und viel versprechende Knaben; aber diese Erziehungsmethode war zu altmodisch, ich setzte mich dadurch der Nachrede und dem Verdachte der Unwissenheit aus: also etwas Neues und Auffallendes. Ich durchblätterte alles, was ich von pädagogischen Schriften auftreiben konnte, und das System, welches ich zuletzt gelesen hatte, schien mir immer das anwendbarste zu seyn. Mit meinem graden Menschensinn [98] sah ich wohl ein, daß die meisten neuern Pädagogen die Unarten der Kinder in Schutz nehmen; daß an die Stelle der alten Pedanterie Ungezogenheit und Grobheit getreten ist; daß, bei dem unmerklichsten Mißgriffe, die bezweckte Freimüthigkeit in Ungebundenheit und Insolenz ausartet, bei der die Mütter unaufhörlich in Verlegenheit gerathen; daß, um die Kinder früh zu Menschen zu machen, sie zu zeitig aufhören, das, wozu sie ihr physischer und moralischer Zustand bestimmt, Kinder zu bleiben; daß die unverständige Wichtigkeit, die jetzt den Kindern gegeben wird, eine Generation von unausstehlichen Egoisten bildet, die, weil ihre Eltern alles auf sie Beziehung nehmen ließen, sich dann einbilden, das Sonnensystem sei ihretwegen da, und die Welt müsse sich nach ihnen bequemen, wie Mama und die Kindermuhme thaten; daß es unrecht sei, [99] den Kindern immer merken zu lassen, wie in der Eltern Hause alles ihretwegen so und nicht anders sei. Ihretwegen, ja, nur ihretwegen wird mancher Aufwand gemacht, ihretwegen werden die Wohnungen so oder anders geordnet, ihre kindischen Reden werden ganzen Gesellschaften wie Orakelsprüche wiederholt; und das alles, weil der alte Bürger von Genf einst gesagt hat: die Mütter sollen Mütter seyn. – Ja, hätte er den Müttern seine Hände auflegen und seinen Geist mittheilen können! Was fruchtet es, daß die Mütter ihre kleinen Äffchen unaufhörlich verhätscheln? Lieben etwa jetzt Kinder die Eltern mehr als ehedem? Ach! die öffentlichen Blätter beweisen es nicht, worin oft trostlose Eltern die ungezähmten, entlaufnen Söhne flehentlich einladen, nur wiederzukehren, und in rührenden Ausdrücken dem Flüchtlinge die erwartete Nachsicht und Verzeihung betheuren!

[100] Die Pädagogik machte mich unsinnig; denn ich wollte durchaus nicht dem schlichten, graden Menschensinne, sondern einem erdachten System folgen. Bevor ich mich aber zu irgend einem bestimmt hatte, war auch der Grund zum Verziehen des Kindes schon unabänderlich gelegt; denn, statt auszuüben was ich wußte, las ich, um zu lernen was ich nicht wußte. Fragte ich meinen Mann um Rath, so hieß es: »Thu', was Du willst!« Er gestand seine Unkunde in dem Fache, und war mit meinem guten Willen so befriedigt, daß er zu fragen vergaß, ob sich meine Erziehungskunst über die Gränzen des guten Willens erstrecke?

Die ungewohnte Regelmäßigkeit, die sich während dieser Ereignisse gleichsam von selbst im Hauswesen eingefunden hatte, machte meinem Manne Langeweile, und scheuchte ihn fort. Er besuchte täglich eine Gesellschaft, [101] in welcher ihn der l' Hombretisch bis um Mitternacht festhielt. So fand ich mich, da seine Gesellschaft mir am unentbehrlichsten war, allein gelassen, und vernachlässigt, wie ich es nannte. »Habe ich das um Dich verdient?« sagte ich einst im Unmuthe, als ich ihn bis gegen den Morgen erwartet hatte. »Ich kann mich nicht so einschränken!« antwortete er un willig; »warum gehst Du nicht mit? Meinst Du, es sei etwas Verdienstliches, ewig im Hause zu hocken? oder erwartest Du, ich werde Dir diese Trägheit, die hier gern im Gewande der weisen Zurückgezogenheit erschiene, als Tugend anrechnen? Du bist eine Grillenfängerin; kein Mensch steht Dir an. Wer so delikat seyn wollte, müßte in eine Einöde fliehen. Man erträgt die Schlechten der Guten wegen; und wo lebt der Mensch, der nicht eine Seite hätte, von der er mißfallen würde, wenn [102] man diese zuerst an ihm erblickte? Minna, laß uns ertragen, damit wir wieder ertragen werden!« Diese weisen Sprüche überzeugten mich in so weit, daß ich nur noch einwendete das Kind könne nicht ohne mich seyn. »O, das dreivierteljährige Kind,« – antwortete er, – »bedarf Deiner noch nicht. Es ist ein kleines Thier, das Deiner nicht achtet, wenn ein Andrer seine physischen Bedürfnisse befriedigt.« Er hat recht! dacht' ich wider beßres Wissen und Gewissen, entwöhnte mein Kind, überließ es einem jungen wollüstigen Kindermädchen, und begleitete meinen Mann Tag für Tag in seine Gesellschaft. Anfangs sagte sie mir wenig zu; denn da Alle spielten, so war ich ihnen sehr unbedeutend. Die Langeweile, welche mir das machte, brachte mich dahin, daß ich einige der gangbarsten Spiele lernte; ich begriff sie leicht, und der lebhafte Geschmack, [103] den ich dieser neuerworbenen Geschicklichkeit abgewann, wurde bald zur unbesiegbaren Leidenschaft.

In meinem Hause ging es während dieser täglichen Auswanderungen kraus und bunt durch einander. Die Domestiken, welche es sehr gut wußten, daß ihre Frau zu gewissen Stunden abwesend war, machten ebenfalls ihre Parthieen in und außer dem Hause, spannen Liebeshändel an, und belogen und betrogen mich an allen Ecken. – Meinem Kinde wurde ich fremd, der Knabe war mir abgeneigt; denn wenn das arme verwahrlosete Geschöpf weinte, wurde es mit der Mama bedroht. »Sie kömmt, sie soll Dich schon strafen!« hieß es; und dadurch war ihm Mama so sehr zum Popanz geworden, daß es sich ängstlich verbarg, sobald es nur meine Stimme hörte.

Das rührte mich aber nicht, wie es wohl [104] gesollt hätte. Die neue interessante Leidenschaft besaß mich ganz, und es schmeichelte meiner Eitelkeit, daß ich nun mit so leichter Mühe die scharmante Frau aller derer war, die so gefällig waren, mir mein Geld abzugewinnen; denn vermuthlich spielte ich schlecht, weil ich überall, wo ich spielte, baares Geld war. Eine Zeitlang nahm mein Mann dies ganz gut auf; hatte er aber selbst namhafte Summen verloren, so hieß es: Du solltest Dich doch etwas mehr in Acht nehmen. Ich that es nicht, weil ich dachte, er, der größre Summen aufs Spiel setzt, sollte sich noch mehr in Acht nehmen. Durch diesen Widerstand wurde meine Spiellust bald Spielwuth. Mein Nadelgeld, wofür ich mir Putz und Kleider anschaffen sollte, reichte nicht mehr aus, und ich borgte von dem zur Haushaltung bestimmten Gelde. Anfangs ersetzte ich's gewissenhaft; dann nahm ich's weniger [105] genau, ob ich gleich noch vor mir selbst erröthete, wenn ich für manchen Einkauf größere Summen in das Wirthschaftsbuch eintrug, als sie gekostet hatten. Da aber alle diese geringen Behelfe nicht mehr hinreichten, sprach ich unsern Hausarzt um eine Summe an, und gab einen edlen Gebrauch derselben vor. Der Blick, mit welchem der edle Mann mir das Geld hinreichte, drang mir tief in die Seele. »Er hat in Deinem Herzen gelesen,« sagt' ich mir; »er kennt Dich, sieht Dich so schlecht, als Du Dir selbst erscheinst.« So, meine Ida, lag das bessere Ich mit dem hingerissenen, vom Strudel ergriffenen in stetem, erschöpfenden Kampfe. Aber das Bessere siegte so selten, daß ich vielmehr, immer muthloser zum vergeblich unternommenen Kampf, von einer Stufe der Verderbtheit zur andern herabsank. Zu den Zügen, die mir noch heiß auf der Seele [106] brennen, gehört einer, bei dessen Erinnerung ich noch erschrocken zurückfahre, weil er das Verderben eines Menschen nach sich zog.

Das schöne baare blanke Geld, welches mir mein Mann gab, um den Domestiken ihren Lohn auszuzahlen, jammerte mich, und ich hatte von ganz gut renommirten Frauen gehört, daß sie ihren Mädchen, statt der versprochnen Münze, alte abgelegte Kleider gaben. Das schien mir nachahmungswürdig; ich sichtete meinen Kleidervorrath, fand viel Veraltetes, legte es in bester Gestalt auf Stühlen aus, machte unmäßige Preise, und rief meine Mädchen herein. Die jüngste, ein eitles, thörichtes Ding, haschte gierig nach dem modischen Plunder, ließ sich jeden Preis gefallen, und die Frau Räthin strich richtig die blanken Thaler ein. Bald nachher strotzte sie in dem zusammengestoppelten Flitterstaate, und ich beging nun noch die [107] zweite unverzeihliche Schwachheit, es ihr nachzugeben, daß sie unter dem Vorwande, den Schneiderlohn zu ersparen, die Kleider in dem Schnitte trug, wie ich sie getragen hatte. Das nicht übel aussehende Mädchen fing an, von den Männern bemerkt zu werden, und ein rosaseidenes Jäckchen trug ihr manches reichliche Trinkgeld, und manchen verstohlnen Kuß beim Hinausleuchten ein. So durch Liebkosungen gereizt, ergab sie sich bald den gröbern sinnlichen Ausschweifungen. Ich schaffte sie ab, ein Bekannter meines Mannes unterhielt sie; aber bald überschritt ihre Lüderlichkeit alle Gränzen, und nach nicht gar langer Zeit beschloß sie ihr Leben im öffentlichen Krankenhause.

Ein zweites Wochenbett, worin ich meine Tochter gebahr, war mir eine unangenehme Unterbrechung meiner Lebensweise. Ich nahm eine Amme, um geschwinder loszukommen. [108] Diese war von einem heimlichen Übel angegriffen; sie theilte es meinem armen Wurme so sehr mit, daß das unschuldige Kind unheilbar schlimme Augen und einen Fehler am Nasenbeine bekam, wodurch es die schnüffelnde widrige Sprache erhalten hat, deren Laute mich oft aus meiner süßesten Ruhe aufschrecken, und mir meine Verbrechen vorrücken.

Noch war es nicht zu spät umzukehren, hätte mein Mann nur ein Fünkchen Glauben an stille häusliche Zufriedenheit gehabt. Kam die gewohnte Stunde zur Abendgesellschaft, so war's als würden wir mit einem Schlage beide elektrisirt. War zu dieser Zeit jemand bei uns, so wurde es auffallend und lächerlich, unsre Zerstreuung zu bemerken, zu sehn, wie wir einander winkten, und die Sprache nur dann erst wiederfanden, wenn der Gast Miene machte, gehn zu wollen.

[109] Wenn Sie, meine Ida, mich zu fragen scheinen: »Wie konnte ein liebendes, herzliches Mädchen so schnell ein kopf- und herzloses Weib werden?« – so kann ich Ihnen nur antworten: »ich weiß es selbst nicht!« Wie wahr ist es doch, was ein bekannter Schriftsteller von uns sagt: »Das Mädchen hat keinen Karakter; das Weib entwickelt ihn mit schneller Fertigkeit!« Sollte es aber nicht ein Fehler der gewöhnlichen Mädchenerziehung seyn, daß man den Begriff von Tugend uns zu sehr vereinzelt, und beinahe die Keuschheit ausschließend darunter versteht? Diese an sich so schöne, so göttliche Tugend muß dann oft bei wahren Hausdämonen für den Mangel aller übrigen schadlos halten. Mich dünkt, es war Anna von Bretagne, die böse und geizig, aber sehr keusch war, von welcher ihr Gemahl sagte: »ich wollte, sie wäre etwas weniger keusch!«

[110] Und, – was soll ich's bergen? – mein Ideal von einer glücklichen Ehe war unerfüllt geblieben. Die Basis aller meiner guten Anlagen war immer Liebe gewesen; zwar kindliche, aber dennoch immer Liebe! Auch meinem Gatten hätte ich gern aus vollem Herzen Liebe gegeben, wäre sie nur seinem Herzen werth gewesen. Ach! Liebe will Gegenliebe; sie will empfunden, gewürdigt, erwiedert seyn! Ihm war aber die Liebe, – an welcher sein Herz nicht Theil nahm, – zur Gewohnheit, zu einem Zeremoniel geworden, wobei er kalt blieb, und womit er mein heißes Gefühl zur kalten Gefühllosigkeit herabstimmte. In meinem Herzen blieb eine Leere, welche auszufüllen ich mich dunkel sehnte. Noch erlaubte ich mir auch nicht das fernste Hindrängen zum andern Geschlecht; allein Erfahrung hat mich beinahe überzeugt, daß die unzählichen Gelegenheiten [111] des Beieinanderseyns beider Geschlechter, und der vertrauliche Ton, der daraus entsteht, das Band der Ehen locker machen. Auf alle Temperamente wirkt es freilich nicht gleich stark; aber mich dünkt, Mann und Weib gewöhnen sich gegenseitig leicht einander als entbehrlich betrachten. Die süße Gewohnheit, sich alles zu seyn, wird geschwächt; der Reiz des häuslichen Lebens verliert unmerklich gegen die gesellschaftliche Mannichfaltigkeit. Warum wäre sonst in den vornehmern Klassen eine glückliche Ehe eine so seltene Erscheinung? Bei dem ganz gemeinen Manne ist thierische Roheit ein Hinderniß.

Allein man sehe nur, mit welchen Prätensionen die Modefrauen in Gesellschaften erscheinen! Jede zeigt sich so liebenswürdig, so sonntagsmäßig! Die schönsten Seiten werden im schönsten Lichte producirt! Dagegen [112] erscheint die Hausfrau mürrisch; sie muß sich mit den Leuten ärgern; sie läßt waschen, oder die Köchin hat das Essen verdorben; oder – noch schlimmer – die Frau fordert Geld; die Kinder brauchen Kleider; welches Gesicht wird nun dem Manne besser behagen, das Sonntags- oder Alltagsgesicht? Eben so die Frau. Die fremden Männer bemerken ihre Schwächen nicht, weil sie nicht interessirt sind, sie aufzusuchen. Alle Weiber sind ihnen scharmant, und keiner wird es je an Eicisbeen fehlen, sobald sie bestimmt merken läßt, sie sei nicht abgeneigt, Aufwartung anzunehmen.

Aber Ida, der Vollmond steht hoch über uns; es muß über Mitternacht seyn! Ich sehe, es ist Ihnen jetzt Bedürfniß zu ruhen, und nicht zu hören.


[113] Ida hatte sich diesen Abend zuerst unter dem lieben traulichen Baume eingefunden; sie sang zur Mandoline in sanften zärtlichen Accenten das rührende Mathisonsche Lied: »Wenn bei des Vollmond's Dämmerlichte,« etc. Ihr Blick hing bethränt an dem Monde. Es war sichtbar, daß schwerer Kummer, Erinnerung oder ahnendes Vorgefühl an ihrem Herzen nagten. Minna hatte der schönen Stimme gelauscht; küßte dann freundlich die Thränen von ihrer Wange, nahm die Mandoline, und sang ihrer Lieben die Abendempfindungen von Schlegel: »Hinaus, mein Blick, hinaus in's Thal!« etc. – Ida horchte auf die beruhigenden Töne; ihre Stimmung ging in sanfte Heiterkeit über, und die Unterredung wurde bald auf den eigentlichen Gegenstand ihrer Zusammenkunft geführt.

»Sie haben mir,« fing Ida an, »etwas [114] zu denken gegeben, als Sie sagten: die Folge der häufigen geselligen Zerstreuungen sei Lockerwerden, oder vielleicht gar Auflösung ehelicher Bande. Wenn dem so ist, so möchte man den Erfinder des Kartenspiels segnen; denn meines Bedünkens trennt es wenigstens die Herzen, und macht sie den zärtlichen Gefühlen unzugänglich. Habe ich recht, Minna?«

Was soll ich sagen? Vielleicht gedeiht ächte, hingebende Liebe nie im Geräusch der großen Welt, und eine Liebe, wie der Mann und das Weib der Zerstreuung sie fühlen, ist bloßes Bedürfniß der Langenweile. Eine solche findet auch am Spieltische statt. Ein von ganzer Seele liebender Mann würde der jetzigen Mode zu leben ein seltnes Schauspiel gewähren, und sich in den Augen der persiflirenden Menge zum Narrenhause qualificiren; kaum duldet man ihn ja noch in [115] Romanen oder auf der Bühne. Geßners Hirtenwelt ist uns vorübergegangen, und die Manier des Empfindens mit der Zeit verschwunden, da jeder Jüngling sich durch einen blauen Frak und gelbe Weste zum Werther zu stempeln glaubte. Das Kind ist mit dem Bade ausgeschüttet; Wir Deutschen lieben die grellen Abstiche.

Es wird alles gut gehn, sagte Ida; sehn Sie nur unverwandt auf die größere Masse des Guten und Besseren hin. Wir sind fortgerückt. Ungern ließe ich mir die herzerhebende Vorstellung von Menschenglück durch fortschreitende Vervollkommnung rauben. – Diese Betrachtungen haben uns aber himmelweit von Ihrer Erzählung abgebracht; ich bitte um die Fortsetzung.

Ich gehe willig Ihren Bemerkungen nach, – entgegnete Minna, – weil ich Sie gern so lange als möglich von dem Zeitpunkte [116] meines Lebens zurückhalte, der mich so unaussprechlich erniedrigt darstellt. Der Schluß unserer gestrigen Unterredung hat Sie vermuthlich auf das vorbereitet, was ich zu sagen habe.

Unsre fortwährende zerstreute Lebensart erforderte einen Aufwand, der vermuthlich meines Mannes Einkünfte übersteigen mochte. Er fuhr gleichwohl fort, täglich zu spielen, und verlor Summen, deren Größe ich selten erfuhr. Das veranlaßte Einschränkungen im Hauswesen, die mir lästig fielen, weil sie mich zu mehrerer Thätigkeit aufforderten. Wenn mir mein Mann, nach zehnmal vergeblichem Fordern, das Geld, seine elend versorgten Kinder zu kleiden, mürrisch hinwarf, so mußten mir wohl die schönen Dukaten einfallen, die das l'Hombrehinwegraffte. Wurde ich unmuthig genug, eine solche Bemerkung laut werden zu lassen, so bekam ich den Vorwurf [117] zehnfach zurück. Durch solche Auftritte entstand Kälte, dann Abneigung, und zuletzt etwas, das dem Hasse ganz nahe kam. – Wehe, wehe dem Weibe, das Abneigung gegen den Gefährten seines Lebens einzugestehen wagt! Sie hat den ersten Schritt auf dem Irrwege gethan.

Jungen Weibern fehlt es nie an spähenden Beobachtern, deren Scharfblicke das eheliche Verhältniß nicht entgeht. Sobald Kälte eintritt, fangen die galanten Kaper an zu kreuzen, und mehrentheils ist ihnen ein solches Weib eine gute Prise.

Schon längst war mir's heimlich aufgefallen, daß meine sehr artige Figur und jugendliche Frischheit so wenig Sensation erregte, indeß Weiber von ganz gemeinem Ansehn es durch die Kunstgriffe der Toilette dahin brachten, für schön zu gelten, und Liebhaber an sich zu ziehn. Bei der jetzigen Lage [118] meines Herzens verdroß es mich, und ohne daß ich mir's gestand, erlaubte ich mir nach und nach einen freiern, ins Auge fallendern Anzug. Es wirkte; man fand mich anziehend, und wunderte sich, es so spät bemerkt zu haben. Der gute Erfolg gab mir Muth und Erfindungskraft, meine Außenseite durch alle Modebehelfe zu heben. Ich glaubte indeß bloß mein unschuldiges Spiel mit den Männern zu haben; aber sie hatten ihr Spiel mit mir, und ich lief ins Netz, als ich es noch kaum ahnete.

Ein junger Mann, von schönem Äußern und schwarzer Seele, war mir auf allen meinen Irrwegen unbemerkt nachgeschlichen. – Ihm, dem Weiberkenner, war die Revolution in meinem Putze nicht entgangen, und er hatte ihre Bedeutung richtig zu entzieffern verstanden. Nicht auf einmal, sondern wie der Tyger sich seinem Raube nähert, näherte [119] er sich mir. Der Listige! Zuerst schien er nur aus Freundschaft für meinen Mann sich für mich mehr als für Andere zu interessiren. Beim Spiel war er immer mit von meiner Parthie. Er schmeichelte meinem Hunde, und fand die Unarten meiner Kinder allerliebst witzig. Durch hundert kleine Aufmerksamkeiten kam er mir näher, und immer näher. Im Scherz, aber nur ganz im Scherz, gab er mir zu verstehn: mein Mann mache einer gewissen Dame die Cour; doch gab er sich das Ansehn, es zurücknehmen zu wollen, sobald er sah, daß ein Funken Eifersucht in meinem Herzen gefangen hatte. Dadurch wäre ihm aber um ein Haar sein ganzer Plan vereitelt worden; denn es schien sich in meinem Herzen die eingeschläferte Liebe zum Manne wieder zu regen, der Wunsch, mir aufs neue seine Zuneigung zu gewinnen, glomm noch einmal auf, und hätte dieser[120] pflichtvolle Gedanke gerade einen freundlichen Punkt seines Betragens gegen mich getroffen, so war alles gut, und ich gerettet. Aber er war unfreundlich, ließ mich hart an, und der unselige Gedanke fiel mir aufs Herz: »Er entläßt Dich Deiner Pflicht; Du darfst, Du mußt Dich rächen!« Ich machte es mir von nun an zum Geschäft, ihn genau zu beobachten, und es schien mir wirklich, als ob er einer hübschen Frau, die eben nicht im Rufe der Frömmigkeit stand, nicht abgeneigt sei. Wenn er sie anredete, hatte sein Ton etwas weiches durchdrungenes, welches mir die wahren Accente der Liebe zu seyn schienen; in seinen Reden gegen mich war er hart, trocken und herrisch. Diese Entdeckung wirkte sehr unglücklich auf mich. Ich gab ihn auf, und erniedrigte mich zu der verächtlichen Klasse solcher Weiber, die sich Liebhaber erlauben. – [121] Die Räthin Brennfeld hatte einst in einem Anfalle munterer Laune den Spruch hingeworfen: eine Frau könne einen Liebhaber haben, das müßten die Mädchen sich aber nicht herausnehmen wollen. – So wenig mir ihre Sentenzen sonst des Aufbehaltens werth geschienen, hatte doch diese, wie mit schwarzer Schrift, unvertilgbar in mir gehaftet. Es gab noch Augenblicke, wo ich zusammenschreckte, wenn ich mir's lebhaft dachte, in welchen Orden ich eingetreten war. Mein demüthigendes Selbstgefühl wies mir nun einen sehr niedrigen Platz in der Gesellschaft an; und meine stolzen Anmaßungen würden in Selbstverachtung zusammengesunken seyn, hätte mich nicht unverdiente Achtung, die man mir jetzt, eben jetzt bewies, ja selbst die tausend kleinen Aufmerksamkeiten, mit denen man mir entgegenkam, und die zu sagen schienen: »jetzt ist sie worden wie unser [122] eine!« aus meinem Versinken wieder heraufgezogen. Nachher habe ich diese Menschen selbst bitter verachtet, und es für einen Raub an der besseren Menschheit gehalten, wenn verächtliche Personen gleich den achtbaren aufgenommen werden. Es ist höchst unrecht, zweierlei Genuß an sich reißen zu wollen; die geheime verbotne Frucht, und die öffentliche gute Meinung.

Aber der Zustand der innern Selbstverachtung peinigte mich doch oft aufs schmerzlichste. Ein liebkosendes Wort, selbst die Benennung Mutter von meinen Kindern, ein Brief von meiner nun sehr kränklichen Mutter, erschütterten mich gewaltsam. Dann hätte ich mich in meines Herzens Beklommenheit gern an ein höheres Wesen gewendet, die brennende Unruhe durch Gebet und Hingebung gelindert; aber der Bösewicht, der meine Ehre zu Schanden machte, hatte mich [123] nach und nach durch atheistische Meinungen vollends um allen Glauben und Hoffnung gebracht. Auch der Glaube an mich selbst war dahingegeben; die Rückkehr war mir beinahe moralisch unmöglich gemacht.

Ein schwacher Überrest von Ehrgefühl oder Stolz hatte mich abgehalten, meine Domestiken zu Vertrauten meines Liebeshandels zu machen. Der hereinbrechende Winter erschwerte unsre Zusammenkünfte. Mein Verderber gab darüber viel Traurens vor. Als ich in ihn drang, mir seine Meinung über unsre Zusammenkunft zu sagen, gab er zu verstehn: uns sei geholfen, wenn ich ihn hinreichend liebe, mich über einige kleine Vorurtheile hinwegzusetzen. Ich machte mich anheischig, ihn jeden Beweis meiner Zuneigung zu geben, den er nur fordern würde; und so geschah es, daß ich mich zu Zusammenkünften in einer abgelegenen Straße bei [124] einem, solchem Unwesen gewidmeten, Weibe bereden ließ.

Die Elende, die sich für Geld zu einem so niedrigen Gewerbe hergab, bediente ihre Gäste mit theuren Leckerbissen, die nicht abgelehnt werden durften, wenn das Siegel ihrer Verschwiegenheit halten sollte. Diesen Aufwand zu bestreiten, reichte der Finanzbestand meines – ach, daß ich ihn Verführer nennen dürfte! – nicht zu. Er ließ es, mit gewissen Winken begleitet, merken, die ich nur zu geschwind verstand. Ach Ida! auch hier muß ich es wiederholen: der Mensch sinkt von einer Stufe des Verderbens zur andern, sobald er seine Moralität nicht an ein religiöses Interesse knüpft, oder die Ahnung der bürgerlichen Gesetze zu fürchten hat! Die Tugend, die sich durch sich selbst belohnt, mag starken, denkenden Köpfen, oder kalten, leidenschaftlosen Temperamenten [125] gelingen; aber den Menschen, die so zu Tausenden auf der breiten Heerstraße des Daseyns dahertreten, die dem Eindrucke des Augenblicks nachgeben, ist sie nicht gewährt. Ich hatte eine lohnende sowohl als eine strafende Zukunft bespötteln und bezweifeln hören; jetzt war mir's bequem, sie wenigstens für ungewiß zu halten. Niemand sah mich, niemand konnte es erfahren; ich wurde, – ach, Gott erbarme sich! – da ich auf der imfamirenden Bahn nun schon nicht mehr, ohne mich der Schande auszusetzen, umkehren konnte, eineDiebin! ich bestahl meines Mannes Kasse! – Sie werden blaß, Ida! die Dämmrung hindert mich nicht, es zu bemerken. – Ida antwortete mit Thränen: »Ich bedaure Sie von ganzer Seele! Es hat einst jemand gesagt: ›man erkennt die Geliebte in dem Liebhaber.‹ Ein tugendhafter Mann hätte Sie zum Engel erhoben.[126] Wir sind so wachsartig, daß wir unvermerkt die Gestalt des Geliebten annehmen.«

Sie setzen das Unmögliche, Ida; erwiederte Minna. Ein besserer Mann würde nicht sein strafbares Auge auf seines Freundes Weib geworfen haben. Aber lassen Sie mich leise über diese noch immer schmerzhafte Narbe meines Gewissens wegeilen. – Wir lebten von diesem Blutgelde – es war aus einer Depositenkasse von Kindergeldern, – herrlich, aber wahrlich!nicht in Freuden; denn so oft ich die unselige Schwelle betrat, bemächtigte sich ein entschiedner Trübsinn meiner Seele, der beinahe Verzweiflung wurde, als ich einst bemerkte, daß ich nicht die einzige Frauensperson sei, welche dieses Haus in verbotener Absicht besuchte. Eine Figur, verhüllt in einen Florschleier, schlüpfte bei einer Glasthür vorüber. Das Kleid, die Leibbinde und den farbigen Handschuh [127] hatte ich gestern noch in einer Gesellschaft gesehn; es war die einzige Tochter eines angesehenen Mannes, die hier mit einem Figuranten aus der Oper zusammenkam. Tief, ungemessen tief beugte mich die Vorstellung, daß ich mich in einem öffentlichen, dem Laster geweiheten Hause befand! Aber die schreckliche Entwicklung lag mir nicht mehr fern.

Einst ging ich, um kein Aufsehn zu machen, in einem schlichten Anzuge früher in das unselige Haus. Die Domina führte mich in ein unteres, mir unbekanntes Zimmer, weil, wie es hieß, das gewöhnliche vom Reinigen naß sei. Mit klopfendem Herzen ging ich, im Vorgefühl der mir bevorstehenden Katastrophe, auf und nieder. Ich blieb lange allein, bis sich hörbar ein männlicher Tritt der Thür nahete. »Hier in diesem Zimmer find' ich sie?« hört' ich die, mir nur zu gut bekannte, Stimme meines Mannes [128] fragen. Schrecken, Angst und Schaam trieben mich wie ein Blitz in den entlegensten Winkel der Stube. Die Thür flog – wie es mir vorkam wurde sie wüthend aufgerissen – hastig auf, und ich hörte meinen Mann das ihn hereinlassende Mädchen zehnmal in einem Athem fragen: »aber wo, wo ist sie denn?« Da ich nicht einen Augenblick zweifelte daß ich gemeint sei, so stürzte ich aus dem mich übel verbergenden Winkel hervor, stieß ein kläglich-wimmerndes Geschrei aus, und fiel über einen mitten im Zimmer stehenden Stuhl mit ihm zugleich zur Erde. Durch das Poltern meines Falles herbeigezogen, kam die Wirthin mit Licht herein. Wer vermag wohl den jetzigen Auftritt zu schildern? Bei mehr Besonnenheit, oder weniger scheuem Gewissen, hätten wir uns gegenseitig täuschen und vorgeben können: einer suche den andern; aber so entdeckte[129] sich's bald, daß auch mein Mann in der unrühmlichen Absicht hier war, seine Dame zu sehen, dieselbe, auf die mein Liebhaber mir Argwohn beigebracht hatte. Die Verwechslung der Zimmer war Zufall, und war durch des kleinen Dienstmädchens Unwissenheit geschehen, wodurch ganz natürlich diese Entwicklung herbeigeführt wurde.

Mein Mann stand vor mir, in ungewisser Haltung und mit Verlegenheit im Gesicht. »So ganz ohne Muth? Sie sind eine erbärmliche Sünderin, Madame!« sagte er bitter; »was werden Sie jetzt beschließen?« – So übel ihm, dem nicht minder Strafbaren, dieser Ton auch anstand, drang er doch tief in mein zermalmtes Herz. Weit von allem Trotze entfernt, rief ich, weinend und vor ihm hinknieend: »Ich beschließe, hier nicht eher aufzustehen, bis ich Deine Vergebung erflehet habe, bis Du mein [130] reuiges Herz wieder aufnimmst.« – Darauf war er nicht gefaßt gewesen. Ich küßte seine mir dargereichten Hände, benetzte sie mit Thränen, und rief, glaub' ich: »Verstößest Du mich jetzt nicht, so soll mein, ganzes künftiges Leben Dir ein fortwährender Beweis meiner Liebe und Treue seyn.« – Er war erschüttert aber nicht erweicht, doch sagte er ziemlich milde: »Komm, Minna, keine Szenen an diesem Orte; vor solchen Zeugen müssen wir nicht handeln.« Er sagte der Wirthin einige Worte, und schleppte mich mit sich fort, denn gehen konnte ich im buchstäblichen Sinne des Worts nicht.

Dieses Bekenntniß ist mir über alle Beschreibung schwer geworden. Ich fühle mich nicht im Stande, heute mehr zu sagen; meine Kräfte sind alle von dieser entsetzlichen Erzählung erschöpft. Ach Ida, möcht' ich jetzt einen Blick in Ihr Herz wagen dürfen! – [131] Mußte denn ich, ich selbst die schöne Täuschung, die Sie an mich band, zerstören?

»Die Minna, welche ich liebe, ist nicht mehr die Gefallene; nein, das schöne Antlitz der edelsten Menschheit ist ganz wieder in ihr hergestellt! Diesen Glauben an Ihre wieder in die alten Rechte eingetretene Würde sollen Sie selbst mir nicht rauben können!« sagte Ida schwärmerisch. »Doch, kein Wort weiter; Sie bedürfen Schonung und Ruhe.«


Das tête-à tête, – fing Minna am folgenden Abend ihre Erzählung an, – welches mir mit meinem an seiner Ehre gekränkten Manne bevorstand, erforderte einen Muth, zu dem meine gebeugten Kräfte sich nicht erheben konnten, obgleich seine eigene unrühmliche Absicht mich hätte aufrecht halten [132] können. Als ich in sein Zimmer trat, war ich einer Ohnmacht nahe: er aber schien seine Fassung in meiner Ohnmacht zu finden, behandelte mich vor den Domestiken wie eine Kranke, ließ mich auskleiden, mir Thee geben, und schien so sanft und verzeihend, daß mir endlich wieder ein Fünkchen Muth aufging, und ich seine Hand an meine Lippen zu drücken wagte. Er entzog sie mir nicht; als ich aber über den bewußten Vorfall sprechen wollte, rief er: »Still! keine Sylbe vom Vergangenen! wir bedürfen beide besonderer Nachsicht, und haben viel, sehr viel gut zu machen. Verhalt' Dich ruhig, die Zeit verwischt viel.«

Das, wodurch die brennende Wunde meines Gewissens Linderung erhalten sollte, wäre mir zur andern Zeit ein entsetzliches Übel gewesen. Ich verfiel nämlich in ein hitziges Fieber, welches lange anhielt, und [133] wogegen meine ganze Jugendkraft kaum das Gegengewicht halten konnte. Ich besserte mich sehr langsam, und erst nach einigen gefährlichen Rückfällen. Da wurde ich mit Vergnügen gewahr, daß mein Mann nur dann von meinem Lager wich, wenn dringende Geschäfte ihn abriefen. Daher vergaß ich leicht, daß auch er gefehlt hatte, und nun sah ich nur noch die Größe meines Vergehens. Doch, Dank sei es der zerrüttenden Gewalt des Fiebers, es erschien mir jetzt schon mehr in einer matten Dämmrung; mein Entschluß war aber fest und unwandelbar, daß, sobald meine Kräfte mich hielten, ich meinem Manne die abscheuliche Größe meines Verbrechens ganz gestehn wollte. Durch Worte, die mir während der Fieberhitze entfuhren, hatte er es schon zum Theil argwöhnen können. An einem heitern Morgen, wo ich zuerst außer dem Bette war, nahm er meine Hand, und [134] fragte mich in einem, gar keine Erwartung erregenden Tone: ob ich wohl je aus Versehn Geld aus seiner Kasse genommen habe? er wäre vielleicht nicht sorgfältig genug gewesen, diese Gelder von seiner Privatkasse abzusondern; da sei es möglich, daß, wenn ich von dem meinigen zu nehmen geglaubt habe, aus Versehn – – Ich hüllte voll Entsetzen mein Gesicht in ein Tuch; glühende Scham überzog das kranke, bleiche Gesicht. »Du weißt es also? – Auch diese Schmach!« – Ja, ich Elende! ja – – »Wie viel? wie oft?« fragte er. Ich nannte die nicht kleine Summe. Er entfärbte sich. »Großer Gott!« seufzte er, »Minna, bist Du stark genug, es zu hören? doch, erfahren mußt Du es ohnehin bald. Wir haben auch hier beide gesündigt; wir haben aus einem unrechtmäßigen Fond den Aufwand unsrer unerlaubten Freuden bestritten. Das trügliche [135] Lotto sollte mich retten, hofft' ich, und es beförderte meinen Sturz. Ich gebe mich, ich bin verloren! Rette Deine Mitgift.« – Keinen Heller! nicht einen, so weit es nur immer zum Ersatz zureichen mag: rief ich standhaft zusammengenommen. In diesem kritischen Moment zeigte sich mir in der Ferne ein großes Mittel, mich wieder zu einiger Würde und einigem Verdienste um meinen Mann zu erheben; ich fühlte Muth und Entschlossenheit, mit zu tragen und mit zu leiden. Was steht uns bevor? was müssen wir thun? rief ich stark und entschieden. – »Dieses Haus räumen, Minna, und es mit allem was es enthält, den Defekt zu decken, hingeben. Mich wird man, bis zur ausgemachten Sache, festsetzen und kassiren. Dann werden wir uns klein, sehr in's Kleine zusammenziehen müssen, und ich werde, wenn mir besondere Gnade widerfährt, vielleicht [136] einen kleinen Dienst bekommen, vielleicht auch nicht.« – Und ich, fiel ich ein, werde arbeiten, und werde Dich, den ich zu Grunde richten half, und unsre Kinder nicht im Unglücke vergehen lassen. War ich doch, ehe ich Dein Weib wurde, der Arbeit gewohnt. Es giebt eine Vorsehung. Sie wollte mich mit Milde führen; ich achtete ihrer nicht, und nun kommen mir die Heerlinge, von denen die Bibel spricht, welche mir die Zähne stumpfen werden. – Mein Mann erstaunte über die Kraft, die er mir gar nicht zugetraut hatte; aber ich fühlte, daß der Beifall meines eignen Herzens mir noch mehr werth war, denn nur ich wußte genau, daß ich nicht thatenleere Worte hinprunkte.

Es traf alles genau so ein, wie mein Mann gesagt hatte. Uns widerfuhr das strengste Recht. Auf Mitleiden durften wir nicht rechnen; denn er hatte die Schwachheit [137] gehabt, seine Revisoren und viele Adelige oft zu bewirthen. Eben diese waren es, die das Schwert mit Schärfe über uns schwangen. »Es konnte nicht anders kommen,« hieß es; »auf des Mannes Tisch kam Rheinwein, wie der König ihn kaum hat. Das Kleine wurde vergrößert, und das Mittelmäßige zum Übermäßigen erhoben. Die Frau war ebenfalls eine Närrin; sie trug Federputz und Brillanten, wie eine Adliche. Solche krasse Bürgerliche wollen es dadurch der vornehmern Klasse gleichthun, und es hat doch weder Art noch Geschick. Es geschieht ihnen ganz recht.« – So sprachen die, welche wahrlich nicht scheel sahen, als der edle Rheinwein ihnen in unsern Gläsern zublinkte. Wie liebkosend hatten jene Herren oft die Hand geküßt, an welcher der beneidete Brillant einst schimmerte! und nun waren. sie emsig, die Sinkenden noch tiefer [138] in den Staub zu drücken. Doch, glücklicher Weise war unser noch übriggebliebenes Vermögen zur Erstattung hinreichend; mein Mann kam mit Kassation, ohne Verhaftung, durch. Wir lebten nun in einer Beschränkung, die nahe an Dürftigkeit gränzte. Er schrieb Noten, und las Korrekturen für einen Buchdrucker. Ich nähete, wusch Flor, Putz und seidene Strümpfe, wobei mir manches Kleid unter die Hände kam, das ich ehedem zu verdunkeln mich bestrebt hatte.

Jetzt wurde ich auch mit Entsetzen gewahr, wie sehr meine armen Kinder durch meinen Leichtsinn verwahrloset waren, und dies war's eigentlich, was mich bei unsrer Armuth tief in den Staub beugte. Die Folgen dieser Verwahrlosung konnte ich gar nicht berechnen. Meinen Sohn hatte ich, ehe er noch ein Jahr alt war, einem jungen, und, wie es sich zeigte, liederlichem [139] Mädchen überlassen. Dieses Geschöpf hatte den Hang zum Naschen in ihm erregt, um diese Untugend zu ihren Absichten zu benuzzen; sie war auch bald ganz sicher, daß Fritz nichts verrieth, wenn sie ihn mit einem Törtchen oder Äpfelchen den Mund versiegelt hatte. Als er größer und fähiger wurde, gebrauchten ihn die Mägde, mich auszuspähen, und zu erfahren, wenn ich ausgehen und wie lange ich wegbleiben würde. Mein Fritz hatte das Gewerbe des Spionirens so gut inne, daß er mir immer gegen seine Gönnerinnen, welches die Mädchen zu seyn schienen, mit dem treuherzigsten Gesicht allerlei vorbrachte, um ihnen meine Beschlüsse über sie hinterbringen zu können. Schrecklicher aber noch als diese Falschheit war der Hang zur gröbsten Sinnlichkeit, womit die wollüstigen Dirnen ihn angesteckt hatten. Die weibliche Bescheidenheit verbietet [140] mir, umständlicher davon zu sprechen. Er wurde bläulich, bleich, schwankend, Hals und Rücken krümmten sich unangenehm vorwärts hin, die Stimme ward heiser und unrein. Ein guter Arzt hielt diesen Zustand für nicht natürlich; er forschte, und entdeckte zu spät, daß dies Symptome heimlicher Ausschweifungen waren. – Der Knabe wurde schwachsichtig, die Gedächtnißkraft war ganz erloschen; er zehrte sich allmählig ab, und sein Tod befreite mich zwar von einem redenden Beweise meiner Strafwürdigkeit, allein hier im Innern ist der Wurm, der nicht stirbt, und das Feuer, das nicht erlischt.

Nach dem Tode meines unglücklichen Kindes fiel ich in einen Zustand von Gemüthsschwäche, die mich für jeden Eindruck äußerst empfänglich machte. Unter so großen Leiden hatte meine Seele eine gewisse Schwungkraft erhalten, durch welche sie über sich[141] selbst erhoben wurde; aber sie wollte unter den täglich sich wiederholenden Neckereien des Schicksals erliegen. Was mir sonst Religion gewesen war, das schwankende, unzureichende Gefühl, das Christenthum des weichen weiblichen Herzens war im Winde des Modelebens zerflattert; was ich mir an dessen Stelle anvernünfteln wollte, hatte keine Lebenskraft. Ich haschte nach allem, was mir eine Art von Trost gewähren sollte, und verfiel oft auf unwürdige, abergläubische Kindereien.

So ließ ich mich einst von dem kleinen Dienstmädchen (denn nun hielt ich keine stattliche Jungfern mehr) bereden, eine Wahrsagerin kommen zu lassen, die aus Karten und Kaffee die Zukunft in bunten lustigen Bildern zu sehen vorgiebt. Das Weib, welches ich in meines Mannes Abwesenheit zu mir kommen ließ, war eine der listigsten und [142] gewandtesten ihrer Gattung; und ich schämte mich schon weniger dieser Schwäche, als ich hörte, daß ich sie mit vielen vor nehmen Frauen gemein hatte, welche sie heimlich bei sich einführen ließen. Wie sehr irren doch diejenigen, welche über zu viele Aufklärung schreien, und immer besorgen, sie werde im großen Haufen zu weit um sich greifen! So lange dieser noch so wenig von den ihn umgebenden Naturkräften kennt, kann die abergläubische Trägheit und Dummheit nur ganz unbekümmert auf ihrem weichen Polster schlummern. Mitten in einer, wegen ihrer Aufklärung beinahe berüchtigten, Stadt treibt diese Betrügerin ihr Gewerbe so öffentlich und mit solchem Erfolg, daß sie bei Veränderung ihrer Wohnung ihre Adressen umherschickt. In ihrer Wohnung wird sie so von der leichtgläubigen Dummheit belagert, daß sie nur immer sechs Personen auf einmal [143] vorlassen kann. Mir weißagte sie viel Gutes in einer hellen Zukunft; ich glaubte es freilich nicht, hörte aber doch gern von einer frohen Aussicht sprechen, und fing an auf diese Phantasieen Luftschlösser zu gründen, wodurch ich mir einige trübe Stunden erhellte.

Eines Abends kam mein Mann ungewöhnlich heiter von dem Buchdrucker, dem er Korrekturen gebracht hatte, zurück. Ich sah ihn forschend an. »Liebes Weib,« – rief er mir so munter, wie er lange nicht gewesen war, zu, – »es hat sich ein helles Wölkchen an unserm Horizonte gezeigt. In der Buchdruckerei traf ich den Sekretär des *** von ****; er sagte mir: es sei eine Stelle bei dem ** schen Departemente offen, die sein Herr vielleicht nicht abgeneigt seyn würde mir zu geben, nur müßte ich schriftlich deswegen einkommen.« Daß bei diesen [144] Worten ein Sonnenblick sich in meine verdüsterte Seele stahl, ist begreiflich. Dieser Abend wurde uns ein Fest, desgleichen wir lange nicht gehabt hatten, und wogegen die üppigen Freuden unsrer vorigen Lebensweise nur Trauertage waren. Ich bereitete ein Lieblingsessen meines Mannes, und er war eben reich genug, dem kleinen Mahle eine Flasche Wein beifügen zu können. Der nun schon ungewohnt gewordene Trank erhöhte unsre Lebensgeister so, daß wir ordentlich wetteiferten, wer von uns die beste Zukunft ausmahlen würde. Auch gelobten wir uns heilig, daß, wenn uns wirklich einst noch das Glück wieder lächeln sollte, wir es mäßig und in nüchterner Häuslichkeit, in einem kleinen Kreise geprüfter Freunde genießen wollten. Ach, unser geträumtes Glück bestand nur in diesem einzigen frohen Abend!

[145] In der ersten langentbehrten freudigen Aufwallung unsrer Herzen hatten wir es freilich nicht bedacht, daß dem alles vermögenden großen Manne nur durch seine rechte Hand, den Rath ***, beizukommen war, und daß dessen Vermittlung und Vorwort nur durch Aufopferungen zu erhalten war, zu welchen unsre Armuth nichts herzugeben hatte. Sehr niedergeschlagen kam mein Mann von dem Versuche, den er auf des Mannes kieselhartes Herz gemacht hatte, zurück. »Minna,« – sagte er, – »wir werden nicht durchkommen; dem Menschen ist nur durch Bestechung beizukommen; so unrühmlich wollen wir den Bissen, den wir uns mit unsern Händen noch erarbeiten können, nicht erlangen.« – Ich war seiner Meinung, so ungern ich die geliebte Hoffnung aufgab. Über die Niederträchtigkeit der Menschen wagte ich nicht zu klagen,[146] weil wir uns unsern Fall wahrlich! nicht durch unsre Rechtlichkeit zugezogen hatten.

Still und bekümmert verstrich uns dieser Tag. »Eine mühselige Korrektur!« – seufzte mein Mann einigemale 'bei seiner Arbeit. »Der Nähnadelverdienst ist's nicht minder!« – antwortete ich, mit ebenfalls beklemmtem Herzen. – »Denke daran, daß wir unser Gutes genossen haben, Minna.« – »Ach freilich, freilich, mein Lieber! wiewohl nur eine kurze Zeit.« – »Wir haben unsren guten Tagen selbst ein Ende gemacht, Minna.« – »O, das ist die tief einschneidende Seite meines Grams; und dann: daß ich ihn nicht mit dem kindlichen, hingebenden Zutrauen auf Vorsicht und Menschheit tragen kann! Den Glauben raubte mir frecher Witz. Die spottende, leichtsinnige Welt spielte mir tändelnd einen festen, haltbaren Stab aus der Hand, und gab mir [147] dagegen ein dünnes, zerbrechliches Röhrchen, das nun, da die Stürme des Lebens über mich gehen, zerknickt. Ich schämte mich meiner Katechismusreligion wie eines kleinstädtischen Kleidungsstückes, wußte aber nichts an ihre Stelle zu setzen; denn die kühnen Äußerungen, welchen man in den mehrsten Gesellschaften ausgesetzt ist, hatten zwar bei mir eingerissen, aber Bonmots sind kein Ersatz. Ich blieb einer düstern, unbestimmten Zweifelsucht preisgegeben, die mich in einzelnen Augenblicken, gleich einem plötzlichen Schreck, angriff. Dies war aber zu vorübergehend, als daß es hätte bis zur Unruhe steigen können. Und, wie denn bei dem gewöhnlichen Menschenschlage die Religion ein isolirtes, mit dem Thun und Wesen derselben in keiner Verbindung stehendes, Ding ist, so kamen auch mir diese ernstern Stunden, so lange wir im Wohlstande waren, [148] ziemlich selten; aber da der Sonnenschein der guten Tage vorübergegangen war, empfand ich mit Schrecken, wie viel ich an dem eingebüßt hatte, was mir in frühern Tagen die Religion galt.«

Still für mich stellte ich diese Betrachtungen an, und brach dann noch einmal in die Worte aus: »O, daß ich diese Stadt und diese Menschen nie mit Augen gesehen hätte!« – »Minna,« sagte mein Gatte, »laß uns nicht ungerecht seyn! Laß uns nicht diese gute Stadt anklagen, weil wir sie mißbrauchten! Vielleicht giebt es wenig große Städte, die so viele öffentliche und Privattugenden aufzuweisen haben; aber sie zu finden, muß man freilich nicht den Weg einschlagen, den wir wählten. Die Trefflichen und Guten lauern nicht am breiten Wege der üppigen Freuden, daß der Vorübertaumelnde sie wild an sich reiße. Im[149] stillen Kreise geräuschloser Freuden wirken sie im Verborgenen, und nehmen den Suchenden mit entgegenkommender Güte auf. Wir rangen nach Betäubung, nicht nach Glück. Jene wurde uns eine Zeitlang gewährt, und dieses, – mein Herz sagt mir's, – werden wir noch finden, sobald wir ernstlich wollen. Mein Rausch ist auf immer vorüber. Die Jahre und die Veranlassung zum ernsten Nachdenken sind da; überlege auch Du, meine arme Minna, mit Nüchternheit. Es wird noch wieder gut; das ahne ich sehr deutlich.« – Er legte die Feder hin, kleidete sich an, und verließ mich, ohne weiter zu sprechen.

Dieser Tag war einer der bittersten meines Lebens. Ob schon unsre Lage sich im Wesentlichen um nichts verschlimmert hatte, so war ich doch um eine Hoffnung ärmer geworden, und damit war jede, schon mehr [150] als halb verharschte, Wunde aufs schmerzlichste wieder bei mir aufgerissen. Ich legte unmuthig meine Arbeit zur Seite, die mich ungewöhnlich anekelte, und überließ mich einem unmäßigen Schmerze, der in Thränenströme überfloß, so daß ich, ganz in mich versenkt, es kaum bemerkte, als mein Dienstmädchen sehr angelegentlich einen Herrn anmeldete, der mich sogleich zu sprechen wünsche. Wer er war? wußte sie nicht; aber ein recht hübscher und freigebiger Herr wäre es: denn er hatte dem jungen Mädchen einen harten Thaler geschenkt, daß sie ihn nur recht schnell melden sollte. Unerwarteter als dieser Vorfall konnte mir nichts begegnen; denn mit unserm Wohlstande waren Herren und Damen verschwunden, welche ehedem die fröhliche Lockpfeife der Tischfreuden herbeigeflötet hatte. Noch ehe ich Zeit gewann, mein ärmliches Zimmer ein wenig in Ordnung [151] zu bringen, trat ein ältlicher, wohlbeleibter Mann, in einen Überrock gehüllt, zu mir herein. Sein hellfarbiges, breites Gesicht verkündigte den Vollgenuß der Tischfreuden; die starren, unbiegsamen Gesichtsmuskeln, und der offene Mund, der nicht mehr in sein Charnier schließen wollte, den häufigen Genuß starker Weine. Dieser lebendige Kommentar zum Begriff von Fleischeslust und hoffärtigem Leben stellte sich mir als den Rath *** vor, als den, von welchem meines Mannes Anstellung abhing. Er trat so dicht, mit etwas mehr als Freundlichkeit, an mich heran, daß ich einige Schritte zurücktreten mußte; und als ich zu einiger Fassung gekommen war, nahm er vertraulich meine Hand, und führte mich zu einem Sitz, nahm aber den seinigen so dicht neben mir, daß wir unbequem saßen. – »Ihr Herr Gemahl ist bei mir gewesen,« – hob er in einem, von Fett schnarchenden, [152] Tone an; – »er bewirbt sich um einen Posten, zu dessen Ertheilung ich in der That mitwirken kann. Jetzt will ich mich durch diesen Besuch, den ich mir die Ehre gebe Ihnen zu machen, überzeugen, ob seine Lage in der That so dringend ist, und ob seine schöne Frau ihn und sich genug liebt, um zu seiner Beförderung mit beitragen zu wollen.« Und wie kann ich das? mein Herr Rath! (fragt' ich). Ich bin bereit, so schwer es auch seyn möchte. – »O, gar nichts Schweres, schönstes Weibchen! Es kommt nur darauf an, daß Sie einem Manne, auf den Ihre Reize einen unauslöschlichen Eindruck gemacht haben, etwas gütig begegnen.« – Mit diesen Worten legte er beinahe die ganze Last seines Körpers auf meinen Schooß, um meine Hand, so wie sie da lag, zu küssen. Ich sprang unwillig auf. Er wollte mich mit Gewalt auf meinem Sitze festhalten.[153] – »Nicht so zornig, meine Allerliebste! (fuhr er fort) Sind Sie nur ein wenig gütig, ein wenig ertragend, – so erhält Ihr Mann weit mehr, als er zu bitten sich je unterfangen wird.«

Bei einem solchen Vorfalle mich gehörig zu betragen, fehlte es mir an Gegenwart des Geistes. Ich drückte mich in aller Stärke meines Verdrusses aus. Zuerst kroch er wie ein gemißhandelter Pudel; zuletzt aber wurde auch er aufgebracht, und spielte auf meine unglückliche Begebenheit an, die, wie er sagte, ihm Muth gemacht hatte, auf ähnliche Gefälligkeit gegen ihn zu rechnen.

Diese Äußerung erregte mir den bittersten Schmerz. Ich hatte gehofft ich sei vergessen, und jetzt sah ich deutlich, daß meine Vergehen noch in regem Andenken standen. O, nie, nie wird des Guten so lange und lebhaft. gedacht! – Indeß gelang es mir[154] doch, den frechen Menschen durch mein festes Benehmen zu überzeugen, er habe sich in meinem Karakter geirrt. Nach langem verdrießlichen Wortwechsel ließ er sich herab, mich um Stillschweigen auch gegen meinen Mann zu ersuchen; er fühlte nicht, der Undelikate, wie viel mir selbst daran lag, daß mein Mann durch nichts an diese kränkenden Umstände erinnert werden möchte! Zuletzt, als er mich einigermaßen gefaßt sah, ließ er noch verlauten: entgegen wolle er meinem Manne nicht wirken; aber der Sekretär bei dem großen Manne, auf den es doch am eigentlichsten ankomme, befördere keine Bittschrift, die mit leerer Hand überreicht würde. – Ich nahm diese Weisung ziemlich mürrisch an. Nachdem er noch viel Unwesentliches zur Sache gesagt hatte, empfahl sich der Herr Rath, der mir von seiner Niedrigkeit so redende Beweise gegeben, [155] obschon er in der Welt unter der allgemeinen Benennung eines rechtschaffenen Mannes bekannt war.

Bald nachher kam mein Mann in sehr düsterer Stimmung nach Hause. Ich sagte ihm, wer bei mir gewesen war, und erwähnte, als Zweck dieses Besuches, der Nachricht, die den Sekretär betraf. »Also auch ein Schurke!« sagte mein Mann bitter. »Und wir sollen darum, daß sie's überall sind, kummervoll darben? Mein Freund, der Buchhändler, sagte mir eben: nehmen Sie doch, als ein erfahrner Mann, die Welt, wie sie ist; wir werden sie nicht reformiren, wohl aber untergehen, wenn wir nicht mit dem Strome schwimmen. – So sei es, Minna! Laß uns, was wir aus dem verschuldeten Schiffbruche retteten, was wir für den Nothfall hinlegten, laß es uns einpacken. Dies sei der Nothfall, für den wir's aufbewahrten! [156] Der Elende, der für Geld hilft, mag's auf seine Lumpenseele nehmen.«

Ein Ring, eine Dose, nebst einigem Silbergeschirr, die Pathengeschenke meiner Tochter, wurden in eine modische Tabatière, mit 30 Dukaten gefüllt, umgeschaffen. Meine Hände zitterten beim Einpacken, nicht darum, weil es das Allerletzte war, was wir aufzubringen vermochten, und einem Raube an meiner Tochter glich, sondern, weil ich mir dachte: das ist Bestechung! O pfui, des schändlichen Weges! Wie? wenn der Mann nicht ganz so schlecht ist, und schleudert's uns verächtlich zurück! Ist der nicht auch schlecht, der die Frechheit hat, Bestechung anzubieten? – Diese meine Besorgniß war vergebens. Die Antwort auf die Bittschrift erfolgte sehr schnell, ohne jedoch des beigefügten Opfers zu erwähnen. »Die Sache,« hieß es, »solle nächstens zum Vortrage [157] kommen. Ihro Excellenz wären ganz geneigt, einer würdigen Familie wieder aufzuhelfen,« u.s.w.

Nun wiegten wir uns aufs neue in Träumen süßer Hoffnung; die hellere Zukunft schien uns näher gerückt; wir waren wie neu belebt. Die Arbeit ging rasch und flink von statten, und wir sprachen viel und oft von dem sehnlichst erwarteten Ausgange der Bittschrift, welcher bald genug erfolgte. Mein Mann wurde durch einige Zeilen zum Sekretär gefordert. Lesen, ankleiden und wegeilen war das Werk einiger Minuten. Ich blieb, bebend vor Furcht und Hoffnung, zurück, und lief unthätig umher; denn um die Welt hätte ich keine Arbeit anrühren können. Ich wankte bald zum Fenster, bald zur Treppe, dem Manne die Nachricht, noch ehe er spräche, aus dem Gesichte zu lesen. Er kam, und ich las sie wirklich von Weitem[158] schon auf seinem blassen, Unglück weißagenden Gesichte. Mit Worten wagte ich es nicht, ihn zu fragen; auch hatte meine Brust nicht Athem genug zu reden. Endlich, nach bangem, minutenlangen Schweigen, in welchen er noch immer nach Fassung strebte, fing er mit mattem, erschöpften Tone an: »Minna, nun ist wohl alles vorbei! Der Minister wollte helfen; nachdem aber der Rath ***, eben der, welcher uns diesen Weg angerathen hat, bei ihm gewesen war, ließ er den Sekretär hereinrufen, und überhäufte ihn mit Vorwürfen, daß er ein solches Subjekt zu empfehlen gewagt habe; einen Menschen, der Kindergelder angegriffen, und sich durch seine und seines liederlichen Weibes Tollheiten zu Grunde gerichtet habe. ›Dergleichen unterstehn Sie sich in Zukunft nicht mehr!‹ hat er höchst entrüstet hinzugesetzt. Mit diesem Bescheid ist unser Schicksal auf immer entschieden, arme Minna!«

[159] Auch dieses war einer von den entscheidenden Momenten des Lebens, wo zuweilen die Seele durch einen raschen Entschuß sich aus dem Abgrunde emporschwingt. Ich umarmte meinen Mann leidenschaftlich, indem ich zu ihm sagte: »Ich folge Dir bis in den Tod; Dein Loos sei das meinige! – nur laß uns diese Welt, die uns ausstößt, nachdem sie unsern Lebenssaft mit aufzehrte, laß uns diese elenden Menschen meiden! – Ihre Nähe ist Schmach!« – »Aber wohin? wohin wenden wir uns, armes Weib, das ich mit in mein Schicksal verwickelte?« – »Aufs Land, zu einfachen Menschen, zur einfachsten Lebensart; in ihr liegt ganz gewiß das Glück, welches wir unsinniger Weise im Strudel der Üppigkeit suchten.« Ich gedachte in diesem Augenblicke eines Gartens, den ich mit meiner Tochter und einem Dienstmädchen bearbeiten wollte. Es waren wahrscheinlich [160] Ideen meiner ersten Jugend, die in mir auflebten. Der Einfall war im Grunde unreif, aber die Stimmung des Augenblicks rechtfertigte ihn. Auch das möge ihn entschuldigen, daß mein Mann ohne Bedenken zustimmte, und sogleich alle Anstalten machte, ihn ins Werk zu richten.

Allein ein Herzleid sollte uns doch noch widerfahren, ehe wir von dannen schieden. Ich war gegen Abend ausgegangen, um einige Kleinigkeiten anzuschaffen, und war nicht lange ausgeblieben. Bei meiner Zurückkunft fand ich meinen Mann in ausnehmender Bewegung; er fuhr ungestüm auf mich los, einen Brief in der Hand haltend. »Weißt Du davon? Minna!« (fragte er); »weißt Du um diese Schandthat?« – »Wie? was hast Du? Ich begreife Dich nicht!« – »Nicht? so lies!« – Er reichte mir ein Billet hin; es war vom Rath ***, [161] der mir erklärte, daß er, zu meinem Besten, die Sache wegen meines Mannes Versorgung habe hintertreiben müssen; er könne das nicht der Feder anvertrauen, bäte mich aber, beikommende Kleinigkeit als einen geringen Ersatz vor der Hand anzunehmen, bis ich ihm erlaube, in wesentlichern Dingen seine achtungsvolle Werthschätzung an den Tag zu legen. – Diese Kleinigkeit waren 50 Dukaten. Ich vertheidigte mich gar nicht bei meinem Manne; er mußte sehn und fühlen, daß ich unschuldig war. Jetzt gestand ich ihm auch die Anträge des Raths, die ich ihm, aus Schonung für uns beide, verschwiegen hatte. Allerdings war es unrecht, hier zu schweigen; denn ich würde durch die Entdekkung der ehrlosen Absichten jenes Herrn den Versuch verhütet haben, welcher meinem Gatten eine so schimpfliche Zurückweisung zuzog. Jetzt war's offenbar: der Rath wollte daß [162] wir das letzte aufopfern sollten, um nachher durch Dürftigkeit gezwungen zu seyn, seinen beleidigenden Anträgen Gehör zu geben. – Das Päckchen und den Brief hatte er meinem Dienstmädchen selbst gegeben, und diese hatte es aus Bosheit oder Dummheit, ich hielt's für das erste, meinem Manne eingehändigt.

Da der Mann sich in seinem Billet genannt hatte, so schickten wir Brief und Päckchen mit einem, der Sache angemessenen, Schreiben an ihn zurück. Wir haben nachher nie wieder seinen Namen gehört, als da sein, im sechs und vierzigsten Lebensjahre an Entkräftung erfolgter, Tod in den öffentlichen Blättern bekannt gemacht wurde.

Nun waren wir endlich frei, und leicht genug, unsern Weg nach der neuerwählten Heimat anzutreten. Unser Gepäck war klein, unser Geldvorrath gering; aber freudiger [163] konnten wir uns nicht auf den Weg machen, wäre für uns auch das größte Gut zu erwarten gewesen. So wohl thut dem Herzen das Selbsterwählte! Unsre gute Stimmung wankte selbst nicht bei dem niederschlagenden Anblicke des verfallenen Wohnhäuschens und der schmutzigen Ärmlichkeit des Ganzen; denn die Überzeugung, daß hier Zufriedenheit bei uns wohnen würde, war aus uns selbst geschöpft.

Wir legten frisch die Hände ans Werk. Ich miethete ein Mädchen aus dem Dorfe. Mein Mann pflückte und schüttelte das Obst, ich und meine kleine Tochter lasen es auf, und suchten es aus; mein Dienstmädchen trug es zu Markte. Dies wechselte mit Arbeiten, die unsrer Weichlichkeit freilich etwas härter fielen; aber der gute Wille half, und es ging. Jetzt kamen mir meine, in der frühen Jugend erworbenen, wirthschaftlichen [164] Geschicklichkeiten zu statten; ich war unermüdet, sie auszuüben, und das Gedeihen unsres Fleißes war so sichtlich, daß unser Muth dadurch immer mehr wuchs. Das harmlose, gute Landvolk um uns her, das, wie es sich ausdrückt, seinem Gotte in der Einfalt seines Herzens dient, belebte die Erinnerung jener Zeit, wo auch ich kindlich an meinen Schöpfer gedacht hatte, aufs neue; aber aus eignen Kräften vermocht' ich nicht, mich in die Gefühle meiner zarten Jugend zurückzusetzen. Die Vorsehung wollte indeß, daß ich es sollte; sie veranstaltete die Dazwischenkunft eines Mannes, dessen Andenken mir ewig gesegnet bleiben wird.

An unsre kleine Besitzung, die wir in Pacht genommen hatten, gränzte die eines Mannes, eines Weisen, für den meine Dankbarkeit noch keine bezeichnende Benennung gefunden hat. Auch er hatte sich von den[165] Stürmen des Lebens, aber mit unverwundetem Gewissen und unvergeudetem Vermögen hieher zurückgezogen. Der Tod seiner eben so trefflichen Gattin hatte ihm die Einsamkeit zum Bedürfniß gemacht. Er durfte sich auf seine eigne Gesellschaft verlassen; denn er brachte einen reichen Schatz in seinem Innern mit. Sein gesunder Kopf war mit Kenntnissen aller Art bereichert. Mit seinem schönen Herzen stand er sich eben so gut. Sein Umgang wurde für jeden, den er damit beehrte, eine Wohlthat. Die Landleute, die nicht recht wußten wer er war, nannten ihn den klugen Herrn; die Frauen aber sagten immer von ihm: der gute Herr. Die Kinder standen, wenn er sich zeigte, ehrfurchtsvoll, und nahmen ihre Mützen ab; er beschenkte sie, und erlaubte daß sein alter Bedienter, Gottfried, ihnen etwas erzählen, und sie belehren durfte, wobei sie stricken [166] oder spinnen mußten. Der Unthätige war von dieser Unterhaltung ausgeschlossen, und das achteten sie für eine entsetzliche Schande. Doch ich will ja nur gedenken, was der kluge und gute Herr uns wurde. Er hatte von uns gehört; unser Entschluß, uns auf uns selbst zu verlassen, hatte ihn für uns eingenommen; er sah uns; wir waren so glücklich, ihm zu gefallen; auch unsre Einrichtungen hatten seinen Beifall. Er kam nun öfterer zu uns, arbeitete mit uns, und nie ging er, ohne uns irgend einen guten anwendbaren Rath oder eine ausführbare Angabe hinterlassen zu haben; immer fühlten wir unsern Muth gestärkt, und der Wunsch, ihn recht bald wieder zu sehen, blieb beständig bei uns rege.

Sein scharfer Blick hatte leicht meine schwankenden Begriffe von dem, was mir das Wichtigste seyn mußte, erspäht. Ich [167] jammerte ihn; er gab sich die Mühe, meine Kenntnisse und das zu prüfen, was mich hinderte, mich einer freudigen Gottesverehrung hinzugeben. Sein Tadel war ohne Bitterkeit, und sein Mitleiden beleidigte nicht. Er räumte mit ausharrender Geduld in meinem Kopfe auf; fegte alles hinaus, was schlechte Früchte tragen konnte; lehrte mich einen Gott kennen, der eben der war, den meine frommen Eltern so treu und freudig verehrten. Mit meinem Manne ließ er sich in gelehrte Untersuchungen ein, welchen ich indeß auch die Freiheit hatte beizuwohnen. Der einfachere Unterricht war für mich, und auch bei meiner Tochter gründete er eine Kenntniß von Gott, die tausendmal mehr als Katechismusunterricht werth war. Ich will Sie, meine Ida, nicht mit dem Detail seiner Unterredungen ermüden; aber das Resultat war: daß er uns zu glücklichen Menschen [168] umbildete, die mit heitrem Auge in die Zukunft blicken durften. Auch im Anfange unsrer Haushaltung unterstützte er unsre Dürftigkeit doch jederzeit so schonend, daß wir nur den Wohlthäter erriethen, und ihm nie mit Worten danken konnten.

Die strenge Arbeitsamkeit, zu der unsre Armuth uns verpflichtete, befestigte meine Gesundheit. Ich blühete, so zu sagen, von Neuem wieder auf; denn das ewigbewährte Rezept gegen die Üppigkeit, Armuth, hatte auch bei uns seine Dienste gethan. Auch mein Mann und meine Tochter genossen einer Stärke der Gesundheit, von der sie bis dahin durch sich selbst keinen Begriff gehabt hatten. In unsern Mußestunden, deren wir aber nur wenige hatten, lasen wir aus dem Büchervorrathe unseres Freundes; da ich mich aber in allem Ernst vor dem Bücherlesen fürchtete, so schränkte [169] ich mich größtentheils auf Spaldings schätzbare Schriften ein. Der sanfte Geist, der darin athmet, that meinem Herzen unendlich wohl. Doch las ich auch wirthschaftliche Schriften, Naturhistorie, Physik, etc. und unser Freund brachte mir einige praktische botanische Kenntnisse bei.

Unser kleines Hauswesen gedieh so gut, daß wir uns in kurzer Zeit schon nach Erweiterung des Raumes, den wir inne hatten, umsahen. Uns war so wohl, wir dachten so wenig an die Welt, die wir, oder vielmehr die uns verlassen hatte, zurück, daß es uns beinahe eine schmerzliche Nachricht war, als meines Mannes Tante starb, und uns eine gute Erbschaft hinterließ. Die Eingeschränktheit hatte uns in steter Spannung und Thätigkeit erhalten; ich fürchtete jetzt den Wohlstand wie eine Hyäne. Allein wohl mir! meines Mannes Gefühl war gereinigt, [170] wie das meinige. Er hob die Erbschaft, brachte nur so viel Zeit, als eben zu diesem Geschäfte erforderlich war, außer dem kleinen Bezirke unsrer Zufriedenheit zu, baute uns nachher unsre Hütte bequemer und anständiger auf, kaufte das Land, das wir nur in Pacht gehabt hatten, und das ist nun eben das Häuschen, in welchem Sie, meine Ida, Ihrer Freundin so einfach und so überaus glücklich ihre Tage verrinnen sehen! – Der kluge, gute Herr, dem wir unsre bessere Existenz verdanken, ruht dort unter den beiden Linden, über welchen die vergoldete Kirchthurmfahne hervorragt. Ich gehe den Hügel, der seine theure Asche deckt, nie vorüber, ohne meine Tochter dabei verweilen zu lassen, das Andenken dieses unsres Heiligen zu segnen, und mir den Spruch zu wiederholen, den ich oft von seinen werthen Lippen gehört habe: »Wo Tugend und [171] Arbeitsamkeit herrschen, da wohnt auch das Glück


Minna schwieg als sie ihre Erzählung geendigt hatte, und Ida saß tief in sich versenkt, mit zurückgelehntem Kopfe. – Also Armuth und strenge Arbeitsamkeit wurde Ihnen der Weg zum Glücke! Gut, das braucht man ja nur zu wollen! Arbeiten, o ja, arbeiten ist sehr gut! Nüchternheit reinigt die Seele, sagt man. – So redete sie in abgebrochnen Sätzen, als wenn sie allein wäre. Minna erschrak, und schlug ihren Arm liebend um der Freundin Nacken. – Was bewegt Sie so sonderbar, meine Liebe? meine Erzählung hat Sie empört. Nicht wahr? Sie sinnen, wie Sie nur ein Herz von sich entfernen wollen, das Ihrer Liebe nicht immer werth war. – O nein, nein! rief Ida, und[172] brach in Thränen aus; ich sann, ich gestehe es Ihnen, ich sann, wie ich dem Versprechen, Sie mit mir bekannt zu machen, wenigstens noch auf einige Zeit ausweichen könnte, und da erschrak ich, daß das Ende Ihrer Begebenheiten mich ereilt hatte, ohne daß ich vorbereitet war. Und nun, Minna, hat mich der Schluß derselben, Ihr Edelmuth, die Größe Ihrer Beharrlichkeit, Ihre Entschlüsse, das alles hat mich vernichtet; ich habe Ihnen größere Fehler, und weniger Muth, sie gut zu machen, mitzutheilen. O, erlassen Sie mir die bittere Aufgabe! nur noch auf einige Zeit erlassen Sie sie mir! Sie sollen alles hören; aber mich sogleich neben Sie, die Gute und Edlere, zu stellen, das vermag meine Eigenliebe nicht. Ich bin klein, sehr klein, wie Sie sehen; aber ich war nicht immer so arm, so muthlos. Einst, – ach, es war eine schöne Zeit! – durft' ich mit freiem [173] Blick um mich schauen; doch das ist lange her, und seitdem – – – Hier trat der Verwalter des Edelhofes, den Ida seit einiger Zeit bewohnte, zu ihnen. Er redete Ida an: »Madame, es thut mir recht leid, daß ich Ihnen etwas sagen muß, das Ihnen unangenehm seyn wird; Sie sind ohnehin immer so traurig. Ich gehe schon seit gestern mit dem Gedanken um, wie ich's Ihnen vorbringen soll. Nun, da eben die Madame bei Ihnen ist, kann die Sie trösten; die ist ja immer so lustig wie ein Finkenmännchen.« – Diese Einleitung machte einen sichtbar unangenehmen Eindruck auf die Frauen. Ida hatte nicht den Muth, zu fragen, was das für eine Nachricht sei. Minna drängte den Mann, daß er damit herausrücken mußte. »Ja,« fing er langsam stammelnd an, »als der gnädige Herr nach Mecklenburg ging, ließ er mich kommen, und[174] sagte: ›Hör' Er mal, Schulz, ich reise zu meinem Bruder, der ist krank, und werde bis zum Oktober wegbleiben. Da steht nun das Haus und alle die Wirthschaft allein. Es ist Schade, daß kein Mensch in der Blumenzeit hier seyn soll. Findet sich jemand, nämlich ordentliche, rechtliche Menschen, so kann Er die Zimmer da unten zum Sommerplaisir vermiethen thun, und das Geld soll Seine seyn. Weil Er mir immer ordentlich gedient hat, so ist's billig, daß ich mich bei allen Gelegenheiten dankbar gegen Ihn beweisen thue. Ich hab's Ihm nicht vergessen, Alter, wie Er mich bei Torgau aus dem Getümmel trug.‹ – Denn sehen Sie nur, unser Herr war damals Kornet, und das Pferd wurde ihm unter'm Leibe todtgeschossen, und er bekam eine Wunde, sehen Sie nur, justement hier ging sie ihm vorbei, die Kugel.« – – Gut, gut! fiel ihm Minna ungeduldig [175] ins Wort; die Nachricht, lieber Herr Schulz, die Nachricht! – »Ja, daß ich Sie nicht zu lange aufhalte. Der Abend ist ein wenig frisch; um diese Zeit ist es immer so, ich weiß, als ich noch ein kleiner Junge war« – – War Er ein lieber, munterer Knabe, nicht wahr? und wurde leicht ungeduldig, nicht wahr? – rief Minna noch ungeduldiger. – »Herr Jemine, unser einer kann ja nicht so fix mit der Sprache heraus!« fuhr der Alte langsam fort. »Nu, was ich sagen wollte, da sagte ich denn: wenn der gnädige Herr es erlauben thut, so wüßt' ich wohl jemand, dem mit dem Sommerplaisirchen gedient wäre. Da hat mir mein Schwager geschrieben, wenn sich hier herum so etwas fände, bei ihm in Orte hielte sich – that er mir schreiben – eine Dame auf, von der kein Mensch wüßte, wo sie her gestoben und geflogen wäre. Es müßte wohl so eine Mätresse [176] seyn. Er für sein Theil früge nicht darnach; sie wäre hübsch und fein, und bezahlte auch gut: bei ihm lebte sie still und ordentlich; nur daß sie manchmal so rappelköpfisch wäre, daß sie stundenlang weinen thäte, und über Papieren säße. – Weiter, mein Freund: ich höre, er meint mich, – sagte Ida; – ja, geweint habe ich viel, mich drückt ein schwerer Kummer, das ist wahr. – Na, darum jammerte es mich auch; und ich dachte, ich wollt's Ihnen zuwenden, weil der Schwager doch schrieb, Sie bezahlten auch ordentlich. Meine Alte brummte auch wohl, und sagte, ich würde wohl allerlei in's Haus schleppen, ich könne die alten Soldatenstückchen noch immer nicht vergessen. Aber, mein Seel'! noch hat's mich nicht gereut, Sie sind eine gute liebe Madame. Nur schade, daß die Freude so bald ein Ende nehmen soll; da schreibt nun der gnädige Herr:[177] – er las den Brief: ›Mein lieber Schulz, wenn das Heu herein ist, so sorge er doch – nun das dient Ihnen nicht zu wissen. – Und – ja wo ist es denn nun? – Von wegen der Wohnung, sorge er, daß sie geräumt wird. Es sei denn, daß die fremde Dame sich mit dem kleinen Gartenhause, auf dem Berge behelfen wolle. Denn ich bringe einen alten Freund mit, den ich in der untern grünen Stube gern einquartieren möchte.‹ – Da war's heraus, Madamchen. Nun thun Sie, was Sie wollen. Morgen oder Übermorgen kommt die Herrschaft. – Das Gartenhäuschen ist wohl hübsch. Eine, zwei – ja warten Sie mal; ein, zwei Stuben und zwei Kammern. Der Kamin ist geräumig genug zum kochen. Und ne Aussicht, potz tausend! man sieht bis in andrer Herren Land.«

Ida, welche etwas schreckliches besorgt [178] hatte, sagte mit erleichtertem Herzen: ich nehme es an, lieber Schulz; mir liegt daran, noch eine Weile in dieser Gegend zu bleiben, wo ich eine so liebe Freundinn gefunden habe, und wo ich den Ausgang meiner Angelegenheiten abwarten will. – Sein Herr ist also wohl ein recht braver Herr? ist er verheirathet? – O er ist ein scharmanter lieber recht gemeiner Herr; ob schon ein großer Generals Sohn, und so alt von Adel, daß es bald gar nicht mehr wahr ist; so ist er doch gar nicht großmüthig, wie die andern Herren vom Adel, die da immer denken, unser einer wäre von andern Koth zusammengesezt. Denn sieht er wohl, lieber Schulz, – sagt' er oft, – ich bin aus der Mutter Schooß gekommen, wie mein Knecht, und muß meine alten Knochen dahinlegen, wie er; was sollt' ich mich denn überheben, wenn meine Vorfahren brave Kerls waren? [179] Und seine Dame, ob schon sie nicht von Adel ist, so thut sie auch nicht so dicke thun, wie wohl andre, die in der Welt zu was kommen. Sie ist eine fromme demüthige Dame, die nicht hoch 'raus will, und man immer sich mit der Armuth abgeben thut: da thut sie die Kinder dies und das lehren; o unsre Mädchen sind auch weit und breit berühmt, daß sie sich so gut können mit Kindern behelfen; das lehrt sie alles die gnädige Frau. Die Madame Nachbarn wird wohl schon davon wissen.

Sie hat einen ungemeinen Ruf, sagte Minna; ich kenne sie selbst noch nicht, aber meine Auguste hat ihre Bekanntschaft schon gemacht, und erhebt sie bis in den Himmel, wegen ihrer Güte. Allein, damit wir doch endlich etwas beschließen, liebe Ida, Sie müssen also das grüne Zimmer, des alten Hausfreundes wegen, der mit kommt, räumen. [180] Schade! das Zimmer ist so traulich, und die Rosen und Weinreben, die in's Fenster kucken. – Wollen Sie das Berghäuschen nicht beziehen, so habe ich noch zwei Gaststuben. Einen liebern Gast dürften Sie schwerlich je aufzunehmen haben. Nun, Ida? schlagen Sie ein? – Nein, Minna, das Berghäuschen soll's seyn. Ich bin Ihnen dann näher, ohne Ihnen lästig zu seyn. Herr Schulz, morgen früh beziehe ich es. Dann mag Ihr Herr kommen, ich werde mich freuen, den braven Mann kennen zu lernen. – Gut, sagte Minna; mein Mann verreiset vor Tages Anbruch: ich werde bei Ihnen seyn, und Ihnen beim Umziehen helfen. Die erste Mahlzeit auf dem Berge bereite ich, und verzehre sie in ihrer lieben Gesellschaft. Für heute ist's Zeit aufzubrechen. Herr Schulz, Sie bringen mich durch den Küchen Garten, so komme ich um zehn Minuten [181] früher an. Auf diese Weise befreiete sie Ida von dem redseligen Alten. Und so schieden sie für diesesmal.


Ida bezog die kleine freundliche Wohnung auf dem Berge, und genoß in Gesellschaft der treuen Freundin, der schönen weiten Aussicht, als sie eine Reise Equipage in dem Edelhofe ankommen sahen. Ida schauerte zusammen, ohne sich Rechenschaft geben zu können, was die ankommende Familie des Herrn von Auerfelde auf ihr Gefühl zu wirken habe. Die Entfernung war zu groß, als daß sie etwas anders, als zwei Herren und zwei Frauenzimmer, welche ausstiegen, hätte bemerken können. Bald erschien einer der Herren im Hofe, besah die Wirthschafts Gebäude, und kam den Garten hinab, bis auf [182] eine kleine Strecke von dem Orte, wo die Frauen saßen, die den Fremden nun ganz deutlich erkannten. – Allmächtiger Gott! was ist das? rief Ida erblassend, und mit den Augen auf die Stelle hinstarrend, wo der Fremde stund, der sie aber nicht zu bemerken schien. Minna, so lebhaft sie auch der Freundin zu Hülfe eilte, kam doch zu spät, um sie aufzufassen; sie war schon ohnmächtig von dem Stuhl herabgesunken. Indeß hatte der Fremde sich von der andern Seite entfernt, und wir eilen die Veranlassung dieses Vorfalles in einem Briefe mitzutheilen, welchen Madame Thalheim an ihren abwesenden Mann schrieb.


Liebster Mann!


»Du wünschtest, ich möchte Dir schreiben. Ich würde Dir gar nichts zu sagen haben, als daß die große englische Henne ihre Küchelchen [183] glücklich ausgebracht, und der Wind Deine Nelken abgeschlagen, und noch sonst manches, das wir mit eigner Hand zogen, verwüstet hat, hätten sich hier in Kleedorf auf dem Edelhofe, nicht wunderliche Dinge zugetragen; recht so wie in den Romanen, oder Komödien, wo die Väter und Onkel, eben so zur rechten Zeit aufzutreten pflegen. Die Ida hat – doch ich muß Dir das in der Ordnung erzählen. Als Du abgereiset warst, mein Lieber, übergab ich Augusten die Aussicht des Hauses, und ging zu Ida, die nun nicht Ida mehr ist. Ich fand sie schon in ihrer neuen Wohnung eingerichtet; und wir überließen uns dem Vergnügen, das jede neue Situation uns Weibern zu gewähren pflegt. Wir schauten in die weite


Aussicht umher, und stritten um die Lage der Örter. Nein: das ist Ruheim, nein: das ist nicht Ruheim, das ist Vogelfelde [184] u.s.w., als eine schnell anfahrende Reisekutsche unsre Aufmerksamkeit auf sich zog. Das ist der Edelmann, sagt' ich so zufällig hastig, daß Ida zusammenfuhr, und die üble Gewohnheit, sie durch meinen vorlauten Ton zu erschrecken, schalt. Er war wirklich der Gutsherr, sie stiegen im Edelhofe ab; der Herr, der alte Freund, die Dame, und ein untergeordnetes Frauenzimmer, wie ich an den schmieg- und biegsamen Wesen bemerkte. Das war gut, und wir sprachen von etwas anderm. Nach einer Weile erschien im Hofe der Herr, der nicht der Gutsherr war; er sah, und ging, und kam endlich den Gang herunter, bis nahe zu uns hin. Ich erkannte einen hübsch aussehenden, nicht jungen Mann, der mir weiter nicht bemerkenswerth schien. Aber Ida sah mehr, sie that einen kläglichen Schrei, faltete die Hände vorwärts hingegestreckt, [185] und sank zu Boden. Der Vorfall entsetzte mich um so mehr, da Niemand zur Hülfe in der Nähe war, und der Fremde, der uns gar nicht bemerkt hatte, schon in einen Seitenweg eingelenkt hatte. Diesmal that mir die Gewohnheit, mein Wasserglas überall neben mir zu haben, gut; ich besprengte die Ohnmächtige, und nach einigen heftigen Zuckungen der Brust, erholte sie sich. Ida, meine Ida, wie war Ihnen? Ach ach! die Erscheinung dort unten. O! der Fremde! ach Minna, Minna, verbergen sie mich; Lassen Sie uns von hier eilen: er muß mich jezt noch nicht sehen. – Wer? wer soll Sie nicht sehen? – Sie bückte sich an mich heran, und sagte mit verstörtem Blick: – der Fremde war mein Vater, der Amtmann Grünthal: er wars gewiß. Kommen sie nur geschwind, kommen Sie, daß er mich nicht sieht. Sie [186] ergriff mich, und schwankte nach dem Hause hin. Meine Bestürzung machte, daß ich ihr stillschweigend folgte. Sie sank erschöpft in einen Stuhl, und rang nach Luft; ich half so gut ich konnte, ohne sie mit Fragen zu quälen, so sehr mich selbst die Neugier quälte.

Nachdem wir über eine Stunde so zugebracht hatten, erlangte sie etwas mehr Fassung. Ich äußerte, sie könne auch wohl irren; es gebe täuschende Ähnlichkeiten. O nein! nein! er ist's, erwiederte sie: ich habe es nicht aus dem Herzen gelassen, das liebe redliche Gesicht, das so freundlich war, und ach! jezt mir so schrecklich ist! Ich suche ihn, aber so plözlich, so überraschend, wollt' ich ihn nicht finden. Erst wollt' ich sein Herz erforschen. Ach! er wird es mir auf immer verschlossen haben. Und doch, war er nicht selbst da noch Vater, als die [187] Unglückliche, pflichtvergessene vor ihm floh? – Sie erzählte mir in wenig Worten ihre Geschichte, daß sie vom Lande, in die Kostschule der Räthin Brennfeld gekommen, dort von einer adlichen Kostgängerin zum Leichtsinn verführt worden, dann vom aufgebrachten Vater zu einer Verwandtin gethan, deren Mann sie von derselben abwendig machte, so daß er sich von ihr schied, und sie heirathete. Drauf sei die romanhafte Liebe bald erkaltet; der Mann habe bankrott gemacht, sei mit einem Mädchen durchgegangen, und sie die Unglückliche, habe der Schmeichelei eines russischen Fürsten Gehör gegeben, und sei diesem nach Rußland gefolgt. Nach mancherlei Schicksalen sei sie wieder nach Deutschland verschlagen, und hier in die Gegend gekommen, um sich dem Vater nach und nach zu nähern. Aber so schnell, so unversöhnt, [188] ohne alle Vermittlung, wage sie es nicht, vor ihm zu erscheinen.

Was nun erfolgte, wirst Du Dir, mein Lieber, leicht denken. Eine Bitte, um meine Vermittlung. Nach einigem Bedenken übernahm ich's; denn sie jammerte mich von Herzen; und wir mischen uns ja für unser Leben gern in fremde Händel. Je intrikater, je lieber!

Das erste was ich in der Sache that, war daß ich mich bei dem Verwalter erkundigte, wer der mitgekommene Fremde sei? Es war richtig der Amtmann Grünthal. Nun ging ich einigemal in dem Garten umher, mich zu dem nicht leichten Geschäfte zu sammeln. Als ich mich hinlänglich vorbereitet glaubte, schickte ich den alten Freund Schulz ab, mich bei Herrn Grünthal zu melden. Ich wurde angenommen, und in das untere Zimmer geführt, das Ida, nun [189] Julchen, bis dahin bewohnt hatte. Mir schlug das Herz wie damals, als ich vor meinem Stiefvater, nach einer gewissen Begebenheit, die ich in meinem Ehrendenkmal nicht angesührt zu haben wünschte, erscheinen mußte. Herr Grünthal kam mir entgegen, freundlich, doch so wie man jemanden aufnimmt, von dem man nicht weiß, wie er uns stimmen wird. Er ist ein Mann, in den ersten der funfzig, von gradem deutschen Anstande, mehr hager als fett; auf sein regelmäßiges Gesicht hat der Gram, wie es scheint, tiefe Falten eingefurcht; eine ähnliche Bildung habe ich, denk' ich, schon auf mancher Gemme gesehen. Sein Ernst hatte nichts abschreckendes, und ich athmete wieder freier, als er mich mit einer reinen Tenor Stimme um mein Gewerbe fragte. Sie sind eine von den Damen des Hügels? fragte er freundlich. Ich bin [190] keine Bewohnerin desselben, sondern gehöre auf dem nahe Vorwerk zu Hause, wo ich schlechtweg eine Bäurin bin. Aber die Bewohnerin des Hügels, welche Sie aus diesem Zim mer vertrieben haben, schickt mich an Sie ab; – o, unterbrach er mich galant, dann ist's ja an mir, an sie abzuschicken, oder wenn sie's erlaubt, ihr aufzuwarten, daß ich ihr meine Entschuldigung mache. – Ach Herr Grünthal, was die Entschuldigungen betrift, so fürcht' ich, Sie haben viel bei ihr zu entschuldigen. Es ist die Absicht meiner Sendung. – Er stuzte. Wie käme ich dazu? ich habe nicht die Ehre sie zu kennen. – Sie hat Sie ehedem sehr wohl gekannt. Sie haben in zärtlichem Verhältnisse mit ihr gestanden, sie hat sich schwer an Ihnen versündigt, und sehnt sich jezt, Ihnen ein reuiges Herz zu Füßen zu legen. – Wie, wie, stammelte er außer [191] Fassung. Versündigt hat sich an mir Niemand, als, – o nein! nein! das ist nicht, das kann nicht sein! Madame Sie halten mich auf der Folter: wenn Sie nicht meine unglückliche Tochter meinen, – er brach in eine Fluth von Thränen aus; wenn Sie die nicht meinen, so kann Ihr Gewerbe nicht an mich gerichtet sein. – Und wenn sie es nun wäre? was dürfte sie hoffen? – O hüten Sie sich, Madame, in einer so schrecklich angreifenden Sache, meiner zu spotten, reden Sie, ohne Umstände. – Es ist Ihre Tochter. – O Gott, o Gott! schrie er, und stürzte zur Thüre: wo, wo haben Sie sie? – Sie ist nicht hier; – aber ganz nahe – Sie müssen Sie mir nicht vorenthalten, – rief er, indem er mich ungestüm nach sich zog, und an sein Herz drückte, daß ich es merklich fühlte. Dann ließ er mich plözlich loß, – und [192] sagte: – nein, nein! ich darf sie nicht sehen. Sie würde meiner Schwäche nur spotten. Konnte sie doch so manches Jahr hindurch, den Vater trostlos sich härmen lassen; was kümmert's sie, ob er verzeiht, oder nicht? Sie hat ja vornehme Beschützer, die ihr den Vater ersetzen. – O Herr Grünthal, werden Sie nicht bitter; Ihre Tochter ist allein, ist hülf- und schutzlos. Der Gram, die Sehnsucht reibt ihre Lebenskräfte auf. Sie müssen, Siewerden verzeihen. – Kennen auch Sie mich schon so gut? – Hat sie Ihnen denn schon gesagt? – Sie hat mir nichts gesagt, als daß sie Ursach hat zu verzweifeln; und doch ohne Sie versöhnt zu haben, nicht leben kann. – Er stand still in sich gekehrt, unentschlossen und wiederholte für sich: nein, nein, verzweifeln soll sie nicht. Dann war er wieder still. – Herr Grünthal, fing [193] ich wieder an, was soll ich meiner Freundin für eine Antwort bringen? Er schreckte auf, faßte hastig meine Hand, und sagte: – nun so kommen Sie, kommen Sie denn, ich bin von Herzen bereit. Doch! sollte die Verzeihung suchende nicht zum Vater kommen? – O pfui pfui, Herz an Herz, und wenn's Liebe seyn soll, dann ohne Rückhalt! Kommen Sie. – Er riß mich fort. Ich hatte Mühe, seinen von der feurigsten Bewegung angetriebenen Schritten zu folgen.

Er flog voran, indem ich mir fast die Lunge zersprengte ihm zuzurufen, mit dieser Hast, und diesem Überraschen könne er seiner Tochter den Tod bringen. Die Eil war ohnedem vergeblich; denn es hatte sich indeß etwas ereignet, das uns beide gleich unvermuthet und schreckhaft überraschte. – Ida, nicht doch, – Julchen, hatte, von banger Erwartung gefoltert, meine Zurückkunft [194] nicht ruhig in ihrem Zimmer erwarten können. Sie war mir gefolgt, und hatte mich wahrscheinlich in einer Laube des Gartens erwarten wollen. Dort fanden wir sie zu den Füßen der Frau von Auerfeld ohnmächtig, und diese Frau zitternd und in Thränen gebadet. Ich verzage, lieber Wilhelm, Dir ein anschauliches Bild von dieser, in ihrer Art, einzigen Szene entwerfen zu können. Grünthal schoß an mir vorbei, indem er unartikulirte Töne ausstieß, die mir durch Mark und Bein drangen. Mir war um des Mannes Verstand bange. Er riß die ohnmächtige Tochter auf, nahm sie wie ein Kind in den Arm, küßte und überströmte sie mit seinen Thränen ohne zu sprechen, oder Notiz von uns Umstehenden zu nehmen. Julchen öffnete die Augen, schrie auf, als sie sich in ihres Vaters Armen fand, und umklammerte ihn konvulsivisch. [195] Lieber Onkel, sagte die Frau von Auerfelde mit lieblicher Stimme, Sie werden beide der Gewalt dieser Eindrücke unterliegen. Still, Karoline! weißt Du, wie dem Vater war, als er den verlohrnen, den reuigen Sohn wieder umarmte? – Als nach einer Weile die Tochter zu sich kam, rief sie noch immer, den Vater fest umklammernd: Vater, Vater, auch Karoline nimmt mich wieder an; sie vergiebt mir, – Liebstes Mühmchen, antwortete die herzige Frau, laß das Vergangne uns vergangen seyn. Mein heißester Wunsch war, dich wieder zu finden; nur der alten Liebe wollen wir uns erinnern. Julchen riß sich vom Vater los, und stürzte zu den Füßen der liebreichen Frau hin, und legte angetrieben, man sah's deutlich, angetrieben von tiefer zerknirschender Demuth, ihr Gesicht in den Staub hin. – Frau von Auerfeld [196] vermochte den Anblick kaum zu ertragen, sie winkte dem Vater, daß er die Tochter aufheben möchte; der es dann mit einer Bewegung that, die ich nie vergessen werde. Julchen, mein Kind, mein armes Kind, hast Du so vor deinem Schöpfer in den Staub dich gebückt, so ist die Schuld bei dem Barmherzigen getilgt, und wir müssen Dir die Hände zur herzlichen Versöhnung reichen. Sieh nur, Julchen, wie Du der armen Karoline das Herz brichst. Liebe Nichte, Ihnen ist ohne dies schon nicht wohl. Schonen Sie sich. Lassen Sie mich, ja lassen Sie mich die Freude allein tragen. In diesem Augenblick beneide ich jeden, mit dem ich Julchen theilen muß. Karoline, gehen Sie jezt zu Ihrem Gemahl, und bereiten ihn vor, wen er zu erwarten hat. Die arme Karoline war für diese angreifende Szene zu schwach geworden; ihr war [197] so übel, daß ich ihr meine Unterstützung anbot, sie nach ihrer Wohnung zu führen Als wir uns entfernten, hörte ich, daß Julchen wieder Worte gewann, und in liebkosenden Tönen mit dem Vater sprach.

Da mein Brief zu einer solchen Länge herangewachsen ist, breche ich hier ab; künftig lernst Du den Gutsherrn kennen. – Auguste küßt Dir kindlich die Hände; ich umarme Dich zärtlichst und bin ewig die Deine.

Wilhelmine


Minna zur Fortsetzung.


»Deine Abwesenheit, mein Lieber, macht mich zur gewaltigen Schreiberin. Verzögert sich Deine Zurückkunft, so fürcht' ich gar ein Buch zur Welt zu bringen. Ich stelle mir vor, daß Dich die Geschichten, die hier zu Lande vorgehen, sehr interessiren, [198] und da Du Ida immer gern leiden mochtest, wirst Du gern hören, was weiter aus ihr wird. Ich gehe also frisch an's Werk.

Ich bin, wenn Du Dich erinnerst, noch mit der Dame auf dem Wege nach ihrer Wohnung. Sie fragte beim Eintritt in das Haus, wo ihr Mann wäre? Der Herr Oberst sind in ihrem Zimmer und schreiben, sagte der Jäger. Sie war so matt, daß sie ein Glas Wasser foderte. Sie sehen mich in einiger Verlegenheit, fing sie an, als sie sich etwas erholt hatte: – mein Mann ist groß und gut, aber er hat seine eigne Arten. Von dem armen verirrten Julchen wollt' er nie hören, weil er meinem Onkel so sehr gut ist; er wird ihr den Kummer schwerlich verzeihen können, den sie seinem Freunde gemacht hat. – Ich gestehe, daß mir selber bange wurde, wie [199] das gehen würde. Jezt erschien der Oberst; ein Baumgroßer Mann, von Kraft und Wesen ein ächter alter Deutscher. Du willst mich sprechen, liebe Frau? Er ward mich gewahr, und machte mir, als er meinen Namen hörte, ein verbindliches Kompliment. Aber – es giebt hier etwas, Liebchen? Dir ist nicht wohl? ich bitte Madame, ich bitte um eine Erklärung. – Karoline faßte seine Hände, und drückte sie innig an ihre Brust. Lieber, lieber Mann! jezt muß ich Deine ganze Liebe und Nachsicht in Anspruch nehmen. – Er umfaßte die kleine zart geformte Frau so kraftvoll, daß mir bange wurde. Allerliebste Karoline, wie kannst Du Nachsicht brauchen? ich will ja was Du willst. Bist Du doch die Beste von der Welt. Aber – was ist geschehen? – Lieber Mann, wir haben einen Gast bekommen. – Ist er Dein Gast,[200] Liebe, so soll er mir von Herzen lieb seyn. – Mein Gast, eigentlich aber meines Onkels Besuch. – Je nun, was des Oheims ist, ist unser, und unseres ist des Oheims, das ist Eins. – Ach lieber Mann! was sollen die Umschweife bei einem Herzen, wie das Deinige? Des Onkels Tochter, die arme Verlohrne ist wieder da. – Was! rief er mehr erstaunt als erfreut; Die ist es? hat der Dame beliebt, einmal wieder aufzutauchen? Hm hm? – O sprich nicht so lieber Auerfelde. Dein Herz sagt anders. – Nein, beim Teufel, in meinem Herzen steht sie auf dem schwarzen Register. So einem Vater, wie der Grünthal ist, zu entlaufen. Ich vergeb's der Landstreicherin in meinem Leben nicht: hol mich der Teufel, wo ich's ihr vergebe. – Liebster Mann, sagte nun Karoline ihm sanft schmeichelnd, der Onkel hat ihr aber schon verziehen. – [201] Hat er, die alte Nachtmütze? so soll ich auch wohl? nicht wahr? – Du würdest mich unaussprechlich glücklich machen. Sieh nur, Lieber, die Vorsehung hat ja alles so zum Besten gelenkt. – Ja, da hat die Vorsehung freilich ein sauber Stück Arbeit gehabt, die dummen Streiche wieder gut zu machen. – Lieber Auerfelde, ich wäre nicht Deine glückliche Gattin. – Ah Frau! Weib! willst Du mich so bestechen? Darum brauchte sie aber nicht in alle Welt zu gehen. Nein! nein! mit der Vorsehung, die mit zum schlechten gewirkt haben soll, kommt ihr mir nicht durch. – So sieh die Arme doch nur erst. – Ah! Du denkst das nette Gesichtchen, und die Thränen in den blanken Augen, werden bei dem Alten das Beste thun. Kann seyn. Dagegen hat's hier (er berührte sein Herz) immer nicht so recht Stich gehalten. Nun so mag sie kommen.[202] – Aber lieber Mann, versprich mir, sie gütig aufzunehmen. – Ich werde thun, was ich kann; heucheln kann ich nicht. Schlecht bleibt schlecht; und wenn's auch in der Familie geschieht. – So sieh Sie doch nur erst! – Ach! und wenn sie so schön wäre, wie unsere Kronprinzessin, und wäre nicht so edel, rechtschaffen und liebenswürdig wie diese, so sollt ihr mir nichts einreden. –

Während dieser Debatten hatte Grünthal sich dem Hause mit der Tochter genähert, er stekte den Kopf zur Thür hinein, und fragte mit freundlichem Gesicht, welchem etwas eingemischt war, was ich Blödigkeit nennen möchte: nun wie stehts? darf ich sie Ihnen bringen, Neffe? Des Obersten Antwort fing mit einem bedenklichen, je nun! an, welches seine Frau mit einem Kuß, und einem, ich bitte, mein [203] Lieber! unterbrach. Indem trat Grünthal mit Julchen in's Zimmer, Ihre Haltung mußte durchaus Mitleiden erregen, sie stuzte, als sie den Obersten sahe, dessen kolossalische Gestalt mit beitragen mochte, sie, in ihrem Zustande von Schwäche zu erschüttern. Als sie einige Schritte im Zimmer gemacht hatte, blieb sie ungewiß stehen; in flehender etwas vorwärts geneigter Stellung, den Kopf nach der linken Schulter mit abwärts gewendetem Gesicht, gelehnt. Das gewaltsam unterdrückte Weinen brach in lautes Schluchsen aus. Die Oberstin eilte ihr entgegen, faßte schmeichelnd ihre Hand, und führte sie vor dem Obersten hin, der nun nicht ferner widerstrebend sie umfaßte, und mit der edelsten Gutmüthigkeit sagte: Da widerstehe ein Andrer! Von Herzen willkommen in der Freundschaft. Von nun an Vetter und Mühmchen! Da Sie von [204] selbst wiederkommen, müssen Sie doch auch gut seyn wollen: nicht wahr? Sie ergrif seine Hand und wollte sie küssen; er aber umarmte sie noch einmal. Grünthal sah schweigend dem Auftritte zu, und wischte sich die Augen.

Als die erste lärmende Bewillkommung überstanden war, gelangten alle wieder zu ruhiger Fassung. Wir sezten uns im Kreise, Grünthal hatte die Hand seiner Tochter in der Seinigen liegen, als ob sie ihn noch einmal wieder genommen werden könnte. Nicht wahr? sagte er einmal – heut darf ich nach nichts fragen? Wir sind noch alle zu voll, zu froh! – Sie sollen alles erfahren, liebster Vater, antwortete Julchen: so weh es thut, sich selbst anzuklagen, fügte sie leise hinzu, so haben Sie doch ein zu entschiedenes Recht, alles zu wissen. – Einmal entwischte es mir, sie Ida zu nennen: [205] Wie? was war das? nicht Julchen? nicht mehr Julchen? ach, sagte sie erröthend, als ich unglücklich, und weit von Ihnen war, konnte ich die Laute eines Namens nicht ertragen, den mein Vater oft so zärtlich ausgesprochen hatte. Ich war eifersüchtig auf den Namen, der mich an glücklichere, unschuldsvolle Tage erinnerte. Ich legte ihn zurück, bis ein Tag wie dieser ihn mir wiedergeben konnte. Grünthal lauschte mit Wohlgefallen auf Ihre Stimme, als ob er den Tönen einer entfernten Musik horchte. Der ehrliche Mann that so schmuk und festlich, als wenn sein Hochzeitstag wäre.

Die Frau von Auerfelde war so erschöpft und angegriffen, daß der Oberste auf frühen Abschied und Trennung drang. Uns, mit den starken Nerven, sagte er, wird's freilich nichts anhaben; aber da die Armen,[206] mit den zarten seidenen Fäserchen; – entlaß sie, Grünthal. Oheim, Ihr übertreibts. Die Frauen werden uns erkranken. Sieh nur meine arme Lina; sie schwebt nur noch. Diese Rede des biedern Obersten wirkte. Eine Stunde nach dem Abendessen begab sich ein jeder zur Ruh. Julchen für diesmal noch nach dem Hügel, und ich verlangte nach unsrer kleinen Heimath entlassen zu werden, wo ich jezt nach Mitternacht noch sitze, Dir diese Ereignisse mitzutheilen. Morgen früh bin ich wieder hinbeschieden. Da Auguste sich so thätig der Wirthschaft annimmt, so kann ich einige kurze Abwesenheiten wagen. Leb' wohl, Du Lieber, und gedenke Deiner

Wilhelmine T


Fortsetzung.


»Wir versammelten uns zum Frühstück in der Jasmin Laube, in der ich so manche [207] glückliche Stunde mit Ida zubrachte Ach wie so lieb und werth die ersten Eindrücke sind, nie, nie werd' ich den theuren Namen Ida, unter welchem sie mir zuerst bekannt wurde, ohne freudige Schauer aussprechen! Die Gesellschaft fand sich bald zusammen. Julchen war durch die Ruhe der Nacht zu einer bessern Fassung gelangt. Grünthal sah ihr recht scharf in die Augen, und sagte dann, mit dem Finger auf die Augen zeigend: Da sizt Gott Lob! noch recht viel vom ehemaligen Julchen aus Lindenau. – Die Augen schwollen ihr bei dieser Anrede; sie drückte seine Hand an ihr Herz und antwortete: auch hier, lieber Vater! Ihr Julchen wird aus dem gereinigten Sinn und Willen wieder hervorgehen. Bei dieser Gelegenheit machte sie eine Bewegung mit der Hand, wodurch ihm ein prächtiger Brilliant in die Augen[208] fiel, den sie zu tragen pflegte. Sein Blick wurde wie mit einer düstern Wolke bezogen, und mit Unwillen in Ton und Gebärde fragte er: hattest Du das schon, als Du noch – als Du noch – er wußte sich nicht auszudrücken. Sie verstand ihn vollkommen, und indem sie tief beschämt den Ring abzog, stammelte sie ein: Nein! Er faßte sich, und erwiederte schnell, gut; das gehört den armen abgebrannten Nachbarn. – Und auch dieses, sezte sie hinzu, indem sie noch ein Kleinod, welches sie am Halse trug, hinzufügte. – Julchen, thu mir den Gefallen, wenn Du wieder unter uns leben willst, – dies sagte er ihr halb leise, – bringe nichtsfremdes mit, Du verstehst mich. Du sollst mit allem, was Dir fehlt, reichlich versorgt werden. Sie bückte sich auf seine Hand und küßte sie dankbar.

Mühmchen, fing der Oberst an, daß [209] wir nicht wieder in den gestrigen Ton fallen, hätte ich große Lust, Ihnen zu erzählen, wie meine würdige Lina zu dem alten Degenknopf gekommen ist, den sie mit ihrer Hand beehrt hat. Lina soll ich? Karoline sagte, sie wollten sich in die Erzählung theilen, wenn's ihm beliebe. Gut, – sagte er, – so mache ich den Anfang.

Ich war Kommandeur des Regimentes, welches in in Garnison liegt. Meine Lebensart war die eines Garçon, der gutes Leben und wenig zu thun hat, ich schlief, ging auf die Parade, nahm einen Schnaps in der Apotheke, wenn die Wachparade abgeführt war, ging in mein Quartier, blätterte in Büchern und Landkarten, aß mit den Offizieren meiner Eskadron, schlief dann wieder, ließ den Braunen satteln, ging mit meinem Tiras auf die Jagd, aß wieder und ging zu Bette. Diese Lebensweise [210] war bis auf die Exercierzeit, die etwas mehr Strapaze, und weniger Schlaf gewährte, so unabänderlich einförmig, wie der Küchenzettel im Kloster. Man wird derselben so gewohnt, daß eine Abänderung zur Anstrengung ungeübter Kräfte wird; denn endlich wird einem der buntgefiederte Hahn des Nachbars, und die weiße Kuh der Frau Gevatterin, das, was in der großen Welt ein Stutzer, und eine neue Maitresse ist.

Einst erscholl im Örtchen plözlich die Nachricht, es sei eine fremde Dame angekommen. Sie beziehe ein Haus und Garten in der Vorstadt, und so reich sie auch sei, würde sie doch aus wohlthätigem Hange, eine Erziehungsanstalt errichten. Da war nun mit einem Male eine neue Erscheinung, auf die nicht nur alle Augen des Örtchens, sondern der umliegenden Gegend [211] gerichtet waren. Wer ist sie? von wo ist sie? wie sieht sie aus? ist sie alt oder jung? und die Antworten lauteten immer nur, sie soll so oder so seyn; denn noch hatte Niemand die liebe Lina gesehen. Als dies so eine Zeitlang gewährt hatte, erkaltete die thätige Neugier, und es war nur noch die Rede von ihr, wie etwa von der weißen Frau: sie soll umgehen, aber keiner hat sie gesehen. Indeß wirkte die Gute doch schon wohlthätig im Stillen. Sie hatte Mädchen, das heißt, junge Bürgertöchter zu sich genommen, welche sie unentgeldlich in Arbeiten unterrichtete; und zu Kindermädchen bildete. Man fand die Sache lächerlich, – nimm mir's nicht übel, Lina, – sie lachten Dich aus, als ob einen das gelehrt zu werden brauchte. Zum Spaße versuchte die Gräfin von P. nach einem Jahr, ein Mädchen aus dieser Anstalt zu nehmen, und [212] schrie nun über Wunder. Das Mädchen hatte die Qualitäten einer Gouvernante. Jezt wurde übertrieben, und alles wollte von diesen Mädchen haben. Indes hatte sich meine gute Lina die Wittwe des Rektors, und die verwittwete Stadtschreiberin beigesellt, welche sie so reichlich unterstützte, daß auch diese unentgeltlich mitarbeiteten, das heißt: daß die Bürgerschaft nichts bezahlte; und nun nahm alt und jung Theil an diesem Unterricht, der die wohlthätige Absicht hatte, Erzieherinnen für die erste Kindheit zu bilden. Die Sache fing an so viel Aufsehen zu machen, daß ein jeder die wundersame Frau kennen zu lernen wünschte. Da sie sehr eingezogen lebte, und außer ihren Zöglingen niemanden sah, war es nicht leicht, diesen Vorzug zu erlangen; der mir aber einst unverhoft zu Theil wurde. Ich kam von der Jagd, und eben vor dem Gartenhause, [213] das ich so oft vergebens umgangen und umritten war, wurde mein Pferd vor einem Karren mit Kraut scheu, und drängte mich so heftig gegen die Mauer des Hauses, daß ich durch eine starke Quetschung genöthigt wurde, abzusitzen, und durch meinen Jäger um Erlaubniß bat, mich in ein unteres Zimmer führen lassen zu dürfen, bis er mir einen Wagen bringen würde. Dies war nicht abzuschlagen. Ich wurde in ein niedlich aufgeputztes Zimmer geführt, wo ich eine junge Frau in das reinste Weiß gekleidet fand, die mich mit allem Anstande einer feinen Weltfrau bewillkommte. Die Schmerzen meiner Quetschung hinderten mich, den reinen und unbefangenen Blick, aus dem heitersten blauen Auge, und den edlen, wohlwollenden Zug des Mundes zu bemerken. Das kann die Frau des Hauses nicht sein, dacht' ich, denn dem Begriffe von[214] Erzieherin hatte sich bei mir immer eine dunkle Vorstellung von Strenge beigemischt, welche ich nicht davon trennen konnte. Ihre Unterhaltung gewährte mir eine Erquikkung, bei der ich völlig vergaß, weswegen ich eigentlich herein gekommen war, und ich hätte den Jäger prügeln können, der mit dem Wagen so bald ankam. Beim Weggehen warf ich einen Blick in den Garten, stellte mich, als ob er mir besonders gefiele, und nahm daher Gelegenheit um Erlaubniß zu bitten, zuweilen darin ansprechen zu dürfen. Meine gute Lina erlaubte es sehr verbindlich, doch mit dem nicht ganz in mein Krämchen paßenden Nachsatz, wenn sie gleich nicht immer die Ehre haben würde mich willkommen zu heißen, so stehe doch der Garten zu meinem Befehl.

Mein Kopf, und wie mirs beinahe vorkam, mein Herz war voll von dem, was [215] ich gesehen und gehört hatte. Die fremde Dame schwebte mir unaufhörlich auf der Zunge; aber wenn sie herunter wollte, schickte ich sie immer wieder in mein Herz zurück; denn kein Unheiliger, kein Adjutant oder Subaltern, sollte ihren Namen hören. Am andern Morgen sobald es der Wohlstand erlaubte, schickte ich meinen Jäger, mit einem Danksagungs-Komplimente an sie ab; denn so viel Galanterie hatte ich noch von meinem Pagenstande ronservirt, obschon sie diesesmal grade aus dem Herzen kam. Der Jäger brachte mir mit dem artigsten Gegengruß, einen schönen, blühenden Rosenstock mit, welchen sie dem Kranken schenkte. Seit meinem Lieutenantsstande war ich nicht eigentlich wieder verliebt gewesen: und jetzt wunderte ich mich nicht wenig, daß dem alten Knaben mit einem Mal das Herz wieder aufging. Ich fragte [216] dem Jäger rück- und vorwärts ab, was er gesehn und gehört hatte, und immer blieb noch ein Umstand, den ich nicht recht begreifen konnte. Es kostete mir Zwang, abzubrechen, aber wie gut ich nun dem Kerl war, kann ich nicht beschreiben; auch hatte ich den ganzen Tag seine Dienste nöthig, und behielt ihn um mich. Ob ich nicht mit dem Rosenstocke geheime Unterredungen gehalten habe, kann ich nicht gewiß sagen. Das liebe Geschenk zog ein Gegengeschenk, einen kleinen Rehbock für die Küche, nach sich. Auf diesen folgten die ersten grünen Erbsen, die eine liebe Hand selbst gelegt hatte, und die dem noch immer Leidenden wohl thun würden. Gegen den Balsam, der für mich in diesen Erbsen lag, ist Hirschels Wundersalz mit allen Goldtinkturen der Alchymisten nur Kindertand. Die Tischgänger hätte ich erwürgt, wenn sie's gewagt [217] hätten, nur eine davon anzurühren. Das ging volle sechs Wochen so seinen Gang. Unser Regimentschirurgus hatte die glückliche Gabe, aus kleinen unbedeutenden Übeln große zu machen; auch bei mir war's ihm gelungen. Mein erster Ausgang verzögerte sich bis zum Herbst. Wohin er gerichtet war? versteht sich von selbst. Ich ließ mich melden, wurde angenommen, und fand nun die allerliebste häusliche Frau in einem leichten weißen Röckchen mit ihren Zöglingen beim Obsteinsammeln. Ich hatte noch von meiner Mutter her eine Freude an häuslichen, besonders an ländlichen Frauen. Diese Tugend an der Dame meines Herzens zu entdecken, war eine ungemeine Erhöhung der Achtung, die mir ihr gebildeter und grader Verstand eingeflößt hatte. Ihre Kenntnisse, ihre solide Belesenheit, waren mir nicht entgangen; [218] ich hatte Respekt ohne jene besondre Furcht und Abneigung, die ich immer vor den Drätensionen belesener Weiber empfunden hatte. Dies alles, was ich so lange gesucht, und noch nie in dem Grade bei einer Person vereinigt gefunden hatte, bei einem allerliebsten guten Gesicht, das gerade nach meinem Geschmack schön war, wirkte gar wunderlich auf das alte Soldatenherz. Ich kam und ging, kam wieder, und dachte doch dabei. Du kommst zu oft, oder Du gehst zu bald. Das Ding brachte mich aus meiner Tramontane, und ich merkte bald. daß es so nicht bleiben konnte. Heirathen? hm! da werden Dich die jungen Lassen, die geschniegelten Offizierchen, auslachen. – Aber wie denn? Abschied nehmen? da ist aber wieder das Vaterland! Und kann dem Vaterlande denn nur mit dem Degen in der Faust gedient werden? Ist der Nährstand [219] nicht so wohl, und mehr noch Stütze des Staats, als der Wehrstand? Habe ich als Gutsbesitzer nicht Pflichten auf mir? Ich werde im Militär vielleicht einem Fähigern Platz machen. So lange es einen so zahlreichen unbegüterten Adel giebt, wird's dem Staate nie an Offizieren fehlen. Der Landadel kann vielen und bleibenden Nutzen stiften; er kann auf Generationen wirken. Eine Landedelfrau, wie meine Herzensdame! Ei, das geht, das muß gehn! Georg, meine neue Uniform! die neue Feder auf den Hut! Der alte Oberste machte sich blank und schmuck; die braune Blesse mit der Revüeschabracke wurde vorgeführt, bestiegen, und so im anständigen Schritt in die Vorstadt. Angemeldet. Madame sei nicht recht wohl; sie bäte sich die Ehre auf ein andermal aus. O weh! eine so wohl geordnete Anrede steht einem [220] nicht alle Tage zu Gebote; die soll so für nichts und wieder nichts ausgedacht seyn? – Noch einmal hinein, Georg! nur um fünf Minuten Gehör! Es wurde gewährt, und nun klopfte dem alten Narren das Herz. Was nun folgt, solltest Du, liebe Line, erzählen; wie ich mich benahm, wie ich sprach; nur würdest. Du zu bescheiden seyn, und den alten Reuter zu gut durchkommen lassen.

Kurz, die Audienz nahm ihren Anfang mit Komplimenten, und endigte mit einer förmlichen Erklärung. – Linchen saß da, ganz überrascht, aber doch nicht, wie ich gefürchtet hatte, unwillig. Und nun die Antwort auf meine Anfrage! Das zarte Stimmchen räusperte und stockte, fing an, und brach ab. Ich saß wie am Bratenfeuer. Endlich kam es heraus: gegen meine Person und Karakter könne sie vernünftiger [221] Weise nichts einwenden, (ich muß hier bemerken, daß Karoline sich unbemerkt entfernt hatte, als der Oberste an diese Stelle seiner Erzählung kam); allein mir sei es vielleicht unbekannt, daß sie eine geschiedne Frau sei, (hier wurde Julchen blaß, und zitterte). Zwar könne diese Scheidung ihren Karakter nicht beflecken; die Welt sei aber immer geneigt, geschiedne Frauen ungünstig zu beurtheilen, (man sah, daß Julchen gern entschlüpft wäre), und diese Urtheile könnten dem Herrn Obersten nachtheilig für die Ehre seines Hauses, und die Ruhe seines Lebens werden. Überdem sei die Familie von Auerfelde von altem stiftsmäßigen Adel, und sie fühle sich nicht stark genug, die Geringschätzung dieser Familie auszuhalten, der sie zuverlässig von irgend einem Theil derselben ausgesetzt seyn würde. Sie gestände freimüthig: sie liebe den Adel [222] nicht, und nach jetzigen Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft halte sie ihn für eine Herabwürdigung der Menschheit, und für einen Eingriff in ihre bessern Rechte. Diese Äußerung meiner Lieben hätte mich schier verdrossen, wenn ihre Erklärung nicht gleich hinterher gefolgt wäre: es thäte ihr jederzeit in der Seele des vernünftigen und bessern Edelmannes wehe, wenn ihm alle seine natürlichen und erworbenen Fähigkeitten die Achtung nicht verschaffen könnten, in der ihn der große Haufen wegen der Zufälligkeit der Geburt halte. Dem wakkern und klugen Manne müsse dann sein Adel und die Konvenienzen zur Last fallen. Nun fand ich wieder, daß sie recht, und ich im Herzen schon lange eben so gedacht hatte, nur daß ich's nicht in so netter Ordnung entwickeln konnte. Überlegen Sie, Herr Oberst, was ich Ihnen in Absicht meiner [223] Meinung über den Adel gesagt habe, und ich werde es Ihnen gar nicht übel nehmen, wenn ich Sie, wenigstens in diesem Gewerbe, nicht wiedersehe. Ich habe, setzte sie noch hinzu, Verwandte, deren Urtheil mir nicht gleichgültig ist, und die hierin völlig meiner Meinung sind; noch mehr: ich lasse mein ganzes Schicksal von der Meinung meines Oheims abhängen. Damit meinte sie hier den alten Freund Grünthal. Ja, Du Alter! (indem er ihn beim Kopf nahm, und auf altdeutsche Art küßte, daß es wiederhallte); Du hast mir schöne Sprünge gemacht! Ich muß es nur sagen, er hatte eine ganz andre Mariage für seine Nichte im Kopfe. He? war's nicht so? Sie sollte die Frau eines Pfarrers werden; aber der geistliche Herr laborirte glücklicher Weise noch an einer fehlgeschlagenen Liebe, und hatte noch einen mächtigen Korb zu [224] verdauen. War's nicht so? Alter! so rede doch! Grünthal sah seine Tochter bekümmert an, und sagte dann: ja, ja, es war so was daran; aber erzählen Sie nur fort, Neffe. Ich hab's wahrhaftig nicht böse gemeint! – Nun, das weiß ich, das weiß ich! – Auf die Einwürfe gegen meinen Adel war ich nicht gefaßt gewesen; denn ich hatte es schier vergessen, daß mir so etwas anhing. Wenn man in der Welt eine Weile mitgelaufen ist, und in allen Ständen so viel Gutes und Edles gewaht wird, und dann auch wieder Edelleute findet, die wie das liebe Vieh sind: so muß man's ja wohl endlich vergessen, daß es leider! solche Unterscheidungsprivilegien giebt, die an einer bloßen Zufälligkeit kleben. Indeß that mir das, was die liebe Line gesagt hatte, im Herzen weh. Ich empfahl mich auf ihr eignes Begehren für diesesmal, und [225] nahm mir vor, die Sache ordentlicher durchzuarbeiten, mehr ihret- als meinetwegen. Ich läugne nicht, daß mir manches aufs Herz fiel; unter andern mein Vetter, der verstorbene Minister in Gotha, der sich's noch auf seinem Krankenlager berühmte, daß in seinem langen Leben kein Bürgerlicher über seine Schwelle gekommen sei; ferner: daß es ein Kind aus meiner Familie war, welches einem großen Arzt die Hand zu geben sich weigerte, und als der Arzt nach der Ursache dieses Eigensinns forschte, zur Antwort gab: Mama hat mir's verboten, ich soll keinem Bürgerlichen die Hand geben; vom Arzt aber zur Antwort erhielt: sag Deiner Mutter, sie wäre nicht recht klug. So rührt leider! auch aus meiner Familie die Anekdote eines Fräulein von B .. her, die auf einem Ball mit einem Hrn Schmidt, dem Hofmeister des jungen Grafen von L..,[226] tanzte. Mitten im Tanz fällt's ihr ein, ihren Mittänzer um Namen und Stand zu fragen. Als er sich nennt, läßt sie ihn stehen, mit dem Bedeuten, sie habe ihrer Mutter versprochen, mit keinem Bürgerlichen zu tanzen. Aber, mein Cousinchen wurde übel bezahlt. Herr Schmidt, der Hofmeister, klagt es seinem jungen Grafen, der es über sich nimmt, seinen Freund zu rächen. Er fordert das Fräulein auf, das sich denn neben der gräflichen Moitie gar gütlich that. Mitten im Tanz fragt der Graf: wen er die Ehre habe zum Tanz aufzuführen. Das Putchen nennt sich, und wirft sich in die Brust. Ja, da muß ich tausendmal um Verzeihung bitten, erwiedert Graf L.., ich habe meinem Vater versprochen, mit keiner andern als mit einer Gräfin zu tanzen, und das Fräulein sah sich plantirt, wie sie dem Bürgerlichen gethan [227] hatte. Endlich, so war's ja meine liebe Großtante, die Gräfin S .., gewesen, welche, als einst einer ihrer Enkel einer Bäurin, die ihn bediente, mit der Gabel nach den Augen stach, und diese sich zurückzog, meinte: es sei wenig daran gelegen, ob solch' eine Kanaille Augen hätte, oder nicht; solch' Pack müsse es sich für Ehre halten, wenn vornehme Kinder mit ihm scherzten. – Diese und noch mehr ähnliche Züge meiner ahnenstolzen Familie fielen mir schwer aufs Herz, da ich in noch langsamern Schritte, als ich gekommen war, heimritt. Ich kam gar unfreundlich bei mir an, kramte in meinen Papieren, fand mein Wappen, meinen Stammbaum, besah mir die Quartiere: – bei Dir hat's ein Ende! – dacht' ich. Mag's! es muß doch einmal ein Ende nehmen! Und was hilft's allen denen, die da ruhen, daß ihre Quartiere [228] voll waren? und wenn Du so weit bist wie diese, was wird's dann seyn, ob neben Dir unter'm Leichensteine eine Hochgebohrne, Hochwohl- oder Hochedelgebohrne ruht? – Ein andres mag's gewesen seyn, zur Zeit des Faustrechts, da es noch keinen gebildeten und wohlhabenden Mittelstand gab; ja, da war es vielleicht der Verfassung des Adels angemessen, keine Leibeigne oder auch nur Freigelaßne zu heirathen; aber wo liegt jetzt etwas Wesentliches in der Sache, seitdem Erziehung die bemittelten Stände gleich gemacht hat? – Die Unterscheidungslinie der beiden Stände liegt jetzt in den Vorurtheilen, welche die Abneigung nur unterhalten und fortpflanzen. Und bin ich nicht Mannes genug, diesen Vorurtheilen Trotz zu bieten? Habe ich kein Verdienst um mein Vaterland, als meine Geburt? Soll ich diesem Wahne [229] das Glück und die Freude meiner alten Tage opfern? – Nein, daraus wird nichts! Frau Line muß aber auch nicht eigensinnig das Glück eines nicht unwürdigen Mannes einer Abneigung aufopfern, die in einzelnen Fällen auch zum Vorurtheile herabsinkt. Ich schreibe gradezu an den Onkel; wenn er ein Mann ist, wird er auch Vorurtheile zu besiegen wissen. Onkel, sprich! wie gefiel Dir mein Brief? – Er enthielt Äußerungen eines Mannes, von dem mir mein Herz sagte, daß ich ihn sehr lieb gewinnen würde; und daß die Liebe in dem Herzen eines Obersten, – die in unserem Dienste keine junge Lecker zu seyn pflegen, – kein vorübergehendes Flämmchen seyn werde, konnte ich mir auch vernünftiger Weise sagen. Und, Kinder, war's denn nicht für den Karakter des Mannes ein entschiedner guter Zug, daß er so stilles Verdienst aufzufinden [230] und zu würdigen Sinn und Gefühl genug hatte? – Freilich, der Adel wollte mir nicht recht zu Sinn; aber wenn der Mann sonst so gut ist, wie er zu seyn scheint, wer wollte ihm das zurechnen, woran er nicht Schuld hat! Das schrieb ich Ihnen, Neffe, und schrieb's auch der Nichte; denn mein Projekt, sie mit einem gewissenEiche zu verplempern, war mir schon an des Mannes festem Sinne gescheitert. – Nun denn, fuhr der Oberste fort, sobald ich des Onkels Brief mit der Einlage an Linen in Händen hatte, zog ich damit triumphirend in die Vorstadt. Die gute, liebe Frau wurde gar verlegen und roth, als ich ihr mein Kreditiv überreichte; sie hatte nicht bedacht, daß ein alter preußischer Soldat eine Belagerung nicht so leicht aufhebt. Sie las, und schien ihren Augen kaum zu trauen, als sie des Oheims förmliche [231] Einwilligung, oder vielmehr Billigung, sah. Das Köpfchen sank in die kleine Patschhand. – Lieber Herr Oberst, Sie sind nicht edel, wenn Sie mich so in die Enge treiben! Ich muß von Herzen mit Ihnen sprechen: ich war verheirathet, ich liebte den Mann wie meine Seele; und sollte es nicht in mir gelegen haben, daß ich mir seine Liebe nicht erhalten konnte? Wie? wenn die Fehler, die Schwächen, welche damals meinem Glücke im Wege standen, die Sie noch nicht an mir kennen, wenn die auch jetzt Ihrem Glücke, Ihrem Karakter und Temperamente entgegenständen? Und dann so müsse sie es mir gestehen, daß ihr das Schicksal eines Mannes, mit dem sie so lange im freundlichen Wahn gegenseitiger Liebe gelebt habe, nie gleichgültig werden könne; sie würde nie einen Schritt thun, ihrem Schicksale eine bestimmte [232] Wendung zu geben, bis sie von seiner gegenwärtigen Lage unterrichtet sei. Ich mußte dieses ihr Zartgefühl billigen, und die Bürgschaft meines eignen Glücks in diesen liebenden Eigenschaften ihrer Seele finden. – Aber dann, wenn ich diesen Forderungen Ihres schönen Herzens werde Genüge geleistet haben, was darf ich dann hoffen? Werden die Jahre, die ich vor Ihnen voraus habe, kein Hinderniß seyn? – Lieber Oberst, altern denn die Seelen auch? Ihr Gleichmuth, Ihr fleckenloses Gewissen – gestatten Sie mir den altväterischen Ausdruck – Ihre feste Gesundheit, der Sie nicht durch eine Lebensart Trotz bieten, die in Ihrem Stande keine Seltenheit ist; alles dieses läßt mich mit Zuversicht voraussetzen, daß Ihnen kein mürrisches, abschrekkendes Alter bevorsteht. Ich bin zwar jung, aber durch Schicksale und Beschäftigung[233] vor der Zeit zum Ernst der mittlern Jahre gediehen. Von der Seite hätten sich unsre Karaktere genähert. Sie lieben muntern Scherz, ich hasse ihn nicht; und wenn mir vielleicht das Talent fehlt, selbst anziehend zu scherzen, so bin ich doch gern bei Personen, die es besitzen. Es bleibt mir weiter keine Einwendung, als Ihre Geburt und Ihre Familie. – Während dieser Unterhaltung hatte sich die Liebe, bei aller ihrer Bedächtlichkeit, doch in so fern verschnappt, daß sie sich so ein ganz klein wenig nach meinen Sitten und Karakter erkundigt hatte. Das gab mir einen Muth, den alles, was sie sagte, mir nicht hatte geben können, und ich beantwortete ihre Einwürfe mit einer Forçe und Gründlichkeit, die mir wohl der liebe Gott eingeben mußte; denn das liebste Weib gab nach, und nun blieb nur noch die Auskunft wegen [234] ihres Ungetreuen. (Grünthal sah Julchen sehr unruhig werden; er faßte ihre Hand mit Rührung, und sagte zum Obersten: lieber Neffe, diesen Theil Ihrer Erzählung erlassen wir Ihnen für jetzt; sagen Sie uns nur, wie es kam, als Sie mit Allem in's Reine waren). Der Oberste schlug sich drollig an die Stirn, und rief: alter Dummkopf, daß Du auch auf nichts merkst! Seyn Sie außer Sorgen, Mühmchen! Julchen erröthete, daß ihr die Augen übergingen; sie neigte sich auf ihres Vaters Hände, und blieb einige Minuten in dieser Stellung. – Indeß war auch Karoline wieder hereingekommen. Als sie vernahm, wie weit ihr Mann in seiner Erzählung gekommen war, sagte sie: ›nun ist's an mir, Heinrich; was jetzt folgt, gehört in mein Departement, denn beim Brautwesen und Hochzeitfeiern gehören wir zu Hause.‹

[235] Als der liebe Mann hier mich aus allen meinen Verschanzungen herausgetrieben hatte, und seine persönliche Trefflichkeit (hier wurde der alte Herr ordentlich ein wenig roth, und verneigte sich recht galant gegen seine Line) mich über den Übelstand ungleicher Heirathen weggehoben hatte, willigte ich mit dankbarem Herzen ein. Mein großmüthiger Bräutigam überschüttete mich nicht nur mit Geschenken, sondern erlaubte auch, daß ich einen beträchtlichen Theil meines Vermögens der, nun ohne mich bestehenden, Einrichtung einer Bildungsschule für Erzieherinnen kleiner Kinder und junger Dienstmädchen geben durfte. Überhaupt gab er mir Anlaß, seinen Karakter täglich inniger zu schätzen, und ich ergreife gern diese Gelegenheit, im Angesicht mehrerer Personen, deren Urtheil mir etwas gilt, zu erklären, daß mein zweiter [236] Brautstand reicher an ächten Freuden war, als der erste. Anfänglich dachte ich es nicht ohne Schmerz, daß ein wackerer Krieger meinetwegen eine Laufbahn verließ, die er mit Auszeichnung und Ehre gegangen war; aber seine Gründe für das Landleben leuchteten mir ein, denn durch den Tod seines ältern Bruders, dessen Güter an ihn gefallen waren, hatten die Pflichten gegen seine neuen Unterthanen einen größern Wirkungskreis erhalten. Er forderte und erhielt einen ehrenvollen Abschied. Es hat meinem Glücke keinen geringen Zusatz gegeben, daß sein edler Bruder und seine verdienstvolle Schwester seine Wahl gebilligt haben. – Nun mag die Schwester Else in ihrem Stifte die Nase rümpfen, liebe Line, uns thut's nichts! nicht wahr?« – fiel der Oberste seiner Gemahlin ins Wort. »Es würde mir angenehm gewesen [237] seyn, antwortete sie, wenn von keinem Mitgliede Mißbilligung statt gefunden hätte. Unsre Heirath feierten wir so still, als es unsrer beiderseitigen Abneigung gegen öffentliches Gepränge angemessen war. Unsäglich froh machte es uns, daß hier mein lieber, guter Oheim Vaterstelle bei mir vertrat, und nicht nur Hochzeitkleider, sondern auch Hochzeitlaune mit zu uns brachte. – Und ich darf sagen, daß es immer einer der schönsten Tage meines Lebens war, als ich diese zwei edelsten und theuersten Herzen einen schönen dauernden Bund schließen sah, der sich auf Anerkennung ähnlicher Redlichkeit und deutscher Treue gründete. Seitdem ist mein Leben eine Kette von ungestörtem, freudigen Lebensgenuß gewesen, der nun durch die Ankunft einer so lieben Verwandtin um ein Beträchtliches erhöhet ist; denn ich setze voraus, daß uns [238] von nun an nichts mehr trennen wird, daß der Onkel, Julchen und alles was mir werth ist, hier die Dame (sie meinte meine Wenigkeit) mit eingeschlossen, nur eine Familie ausmachen wird, und daß die junge Muhme das Häuschen auf dem Hügel von ihren Verwandten wird annehmen wollen,« – »die sich eine Freude daraus machen, es ihr zum Eigenthum auf ewige Zeiten zu überlassen,« – fiel der Oberste treuherzig ein. Julchen verneigte sich schweigend, und sagte nach einer Weile: »über meinem Verhängnisse ruht noch eine düstre Wolke; ich fühle, daß ich Ihnen jetzt die Erzählung meiner Verirrungen schuldig bin. Ich habe von Zeit zu Zeit daran gearbeitet, sie schriftlich aufzusetzen, um mir, auf den heißersehnten Fall der Wiedervereinigung, die Angst des mündlichen Selbstbekenntnisses zu ersparen. Sie sollen es erhalten, und es alsdann dieser [239] edlen Freundin, meiner Minna, der ich es schuldig bin, mittheilen, oder, wenn Sie wollen, mit ihr durchgehen; nur vermag ich nicht zu ertragen, daß es in meiner Gegenwart geschehe. – Sie wurde von Allen herzlich umarmt, und mit Nachsicht getröstet. Lieber Wilhelm, wenn alle Reuigen so aufgenommen würden, wäre es ein ordentliches Verdienst um die Menschen, zu fehlen, damit ihr Edelmuth ans Licht käme. Doch, ich habe meine Probe überstanden, und ich hoffe auch bestanden. Unsre Liebe ist befestigt, meine Auguste wird gut, was bleibt mir noch für ein Glück zu wünschen? Ich erwarte jetzt mit Sehnsucht Deine gesunde Rückkehr, um Dich in die ehrenwerthe Gesellschaft einzuführen. Lebe wohl! Ewig Deine

Wilhelmine


[240] Der Amtmann Grünthal an den Prediger Eiche.


»Ja, liebster Freund, Sie haben wohl recht, wenn Sie voraussetzen, daß die Freude meinem alten, von Gram geschwächten Kopfe zu stark seyn dürfte! Die erste Freude war groß, übergroß, und ich glaube, daß ich mich dabei nicht ganz so benommen habe, wie es ein gescheuter Mann und ein tief gekränkter Vater gesollt hätte; aber es ist mir mein ganzes Leben hindurch nicht gegeben gewesen, in solchen Momenten abzuwägen, und meine Empfindungen unter Zucht und Scheere zu halten. Ich habe es freilich der Wiederkehrenden leicht, wohl gar zu leicht gemacht; aber die andern haben's ja auch um nichts gescheuter angefangen. Hat nicht Karoline, die am schwersten beleidigt ist, ihr gleich beim ersten Anblick [241] verziehen, und sie geherzt und geküßt, als wäre gar nichts von der Art vorgefallen? Der alte Oberste, der so streng auf Pflicht und Ehre hält, hat er sie nicht auch wie eine Tochter vom Hause aufgenommen? Aber Sie hätten sie auch sehen sollen! Schön wie ein Engel, und gebeugt von Reue und Schaam. Wie sie ihr Engelsgesichtchen vor Karolinen in den Staub legte, und kein Auge zu ihr aufzuheben vermochte! – Könnten Sie es doch über sich erhalten, sie zu sehen! – Was sie zu werden versprach, ist nichts, gegen das, was sie geworden ist. Es ist für mich ein ordentliches Glück, daß sie gefallen ist, ich würde sonst am Ende wahrhaftig! zu viel Respekt vor ihr haben; aber, wenn mir denn wieder einfällt, daß ich ihr keinen Namen zu geben weiß, o dann, dann seh' ich sie wehmüthig an, und fühle mich geneigt, [242] mir, allein mir alle Schuld beizumessen! Meine schwache Nachgiebigkeit bereitete ihr den Fall; und wenn es mir denn einfällt, was jetzt aus ihr werden soll? – wie in diesem irdischen Zustande nun weiter an kein wahres inneres Glück mehr für sie zu denken ist; wie das zerstörende Bewußtseyn sie noch am liebevollen Herzen der Ihrigen verfolgt; wie sie, im Schooße der Liebe und Freundschaft selbst, am meisten verzagen muß; wie jede Liebkosung sie martert; wie jeder noch so unbefangene Rückblick ihrer Lieben ihr Thränen ablockt; – lieber Eiche, die Freude des Wiedersehens, glauben Sie mir, hat alle Bitterkeit des Kummers, wenn nicht etwa Zeit und Gewohnheit ihren wohlthätigen Einfluß auf uns beweisen. Wir könnten hier ein paradiesisches Leben führen, in einer solchen Gegend, unter diesen[243] Menschen, in so günstiger Glückslage! – Karoline ist alles, was eine Frau seyn muß; und es scheint mir oft, als habe es so seyn müssen, wie alles gewesen ist, damit jede ihrer schönen Anlagen sich entwickeln konnte. Der Oberste betet sie, ihrer Tugenden wegen, an; kein Fürstenstamm, sagt er mir oft, hätte ihm eine solche Gattin zu geben vermocht. Die Gutsbewohner nennen sie Mutter, und sie verdient es. Sie hat sich die Geschichte des Dörfchens Traubenheim zum Muster genommen, und führt aus, was hier zu Lande ausführbar und anwendbar ist. Wahrlich, wen Gott lieb hat, dem giebt er solch' ein Weib! – – Sie schafft mit Kopf und Händen; ihr Mann geht ihr treu zur Seite, und spart keinen Aufwand, ihre edle Thätigkeit zu unterstützen. Wie der elende Mensch, den Falk mein' ich, wie der dieses Kleinod verkannt [244] hat! Seinen Namen nur zu nennen, ist mir fatal; und doch muß ich zu der traurigen Nothwendigkeit schreiten, ihn in öffentlichen Blättern zitiren zu lassen, damit die Unglückliche an dieser unseligen Fessel nicht durch's ganze Leben zu schleppen habe. Den letztern Nachrichten zufolge, ist er von Hamburg, wo er eine Zeit lang, auf Kosten eines angesehenen Handelshauses, figurirt hat, nach Amerika, dem letzten Freihaven aller Taugnichtse, gegangen, und ist nun Schulmeister in German Town. – Er hat Karolinen in einem zurückgelaßnen Briefe gebeten, ihn wie einen Gestorbenen anzusehen. Wegen der armen Verirrten sagt er: alle Schuld läge auf ihm; er habe sich in sie, beim ersten Anblick, verliebt, und gleich den Vorsatz gefaßt, sie zu verstricken; sie habe seinen Lockungen nicht widerstehen können; man müsse in der Familie [245] es ihrer Unerfahrenheit nicht zu hoch anrechnen. Was nachher erfolgt sei, käme ebenfalls auf Rechnung seines Leichtsinnes, und des bösen Beispieles, welches sie an ihm gehabt. Er selbst habe dem Russen Anleitung gegeben, sich ihrer Eitelkeit zu ihrem Fall zu bedienen; das habe ihm die Reisekosten und den ersten Aufwand in Hamburg bestreiten helfen. O, der Verruchte! er hat sein eignes Weib verkuppelt! meine Tochter! und doch bittet er: ich solle ihm meinen Fluch nicht über's Meer nachschikken! Ach freilich, freilich wär's unrecht! und dann so heißt es ja: ›Vergieb uns unsre Schuld, so wie wir vergeben unsern Schuldnern.‹ O, du allergesegnetste Religion, wie veredelst Du unsre arme gebrechliche Menschennatur! Denn, sagen Sie, Eiche, liegt es nicht klar in unsrer Menschennatur, diesen Menschen zu hassen, und bis an's Ende der Welt zu verfolgen?

[246] Bereiten Sie sich, mein Freund, nächstens meiner armen Tochter Begebenheiten und Bekenntnisse zu erhalten. Sie hat in verschiedenen Absätzen daran geschrieben. Nahe wird es Ihnen gehen, mein Lieber, diese Glorie der Unschuld ihrem Bilde entnommen zu sehn. Für diese Welt ist sie dahin; aber das Unglück, die Angst der bittersten Reue, hat ihren Sinn und Willen gereinigt. Sie soll fortschreiten auf dem Wege der Rechtschaffenheit, und so weiß werden, wie sie gewesen ist. Ach, Lieber, sie ist sehr weich und demüthig! wo man sie nur anrührt schmerzt es ihr; jede Erwähnung einer bessern Tugend, als die ihrige gewesen ist, betrübt sie aufs empfindlichste. Da werden Sie sich vorstellen, daß an Vorwürfe nicht zu denken ist. Ich gedenke mir den Apostel Paulus, wie er vor dem Festus und der Drusilla von der Gerechtigkeit[247] und Keuschheit redete, und da durch schwerer ihre Herzen traf, als wenn er gesagt hätte: Du bist der Ungerechte! Du bist die Unkeusche! Indem er ihr Selbstgefühl beleidigte, hätte er sie aufgebracht, aber der kluge Mann sprach von den entgegengesetzten Tugenden. Das soll mir ein Vorbild seyn. Aber meine arme Juliane ist doch bei weitem keine Drusilla!

Ich gehe jetzt zu ihr, sie wird mir ihre wehmüthigen Aufsätze geben, und ich werde in Schmerz versenkt werden. Leben Sie wohl, und gedenken Ihres jammernden Freundes

Grünthal


Julchen an ihren Vater.


»Mein Herz wird schwach, und mein Muth verläßt mich, wenn ich an diese traurige Arbeit gehe. Wer vermag sein Innerstes [248] mit festem Blick zu beschauen, wenn er so fehlte wie ich? Ich schaudre bei jedem neuen Beginnen, und verzage an meinen Kräften. Ja, wahrlich! wenn ich's beschaue, so ist meine beste Tugend wie ein beflecktes Gewand, wie die Schrift sich ausdrückt. Ich weiß keine Worte für meine Thorheit; Thorheit? o, wär' es die nur! es war gottloser Hochverrath an meiner bessern Überzeugung. Das weiß, das fühl' ich im Innersten. Wenn gleich selbstgefällige Eigenliebe mir heimlich zuflüsterte: Dein Vater legte den Grund durch seine Nachgiebigkeit, Karoline riß Dich durch ihre romanhafte Aufopferung in den Abgrund; – so kann ich es mir doch nicht läugnen, daß bei jedem Schritte, denn ich im Labyrinthe meiner Verirrungen forttaumelte, eine innere Stimme, – mag sie das Gewissen oder anders heißen, – daß diese[249] Stimme mir unablässig zurief: steh' still! geh' nicht weiter! auf Deinem Wege lauern Sünde und Verderben; aber die übertäubende Eitelkeit fand den Sieg der Schönheit größer und lockender, als das stille Bewußtseyn der Selbstüberwindung. Ach Bewußtseyn, wie hast Du Dich gerächt! wie in jeder Minute mir Trost und Beruhigung geraubt! wie jede erheiternde Aussicht in Dunkel gehüllt! wie jede neuaufkeimende Blüthe meines Herzens zerknickt! O, Du starker Rächer, wie hast Du die Quellen auch meiner besseren Freuden getrübt, wenn Du mir den Spiegel vorhieltest, und mir zuriefst: Du verdienst das nicht! Du bist eine Ehe – – – O nein, mein Vater, wenn Sie je dies Blatt in die theuren Hände nehmen, wenn die Flüchtige Sie nicht mordete, so sprechen Sie das harte, entehrende Wort nicht aus! Karoline, [250] die Sanfte, die Fromme, die Christin, hat mir verziehen; ihr holdseliger Mund wird die Unglückliche nicht mit dieser entsetzlichen Benennung brandmarken! Ach, und doch – – –

Ich wollte die Begebenheiten der Unglücklichen, nicht ihre Gefühle, die Martern ihrer Seele, erzählen. Diese folgten jenen mit entfetzlicher Eile auf dem Fuße nach. Jene habe ich, wie mir's vorkommt, nicht erlebt, sondern ich bin von einer fremden unwiderstehlichen Gewalt durch ein Labyrinth durchgerissen; meine Besinnung ist übertäubt; ich kann nicht sagen, wie mir in jedem einzelnen Falle zu Muthe gewesen ist. Von dem Augenblicke an, da der unselige Knoten unwiderruflich zusammengezogen war, da ich von dem Herzen des gütigsten Vaters mich losgerissen hatte, ergriff mich ein Taumel, dessen Betäubung [251] mir wohl that; denn die Rückkehr auf mich selbst machte mich halb unsinnig. Die romanhafte idealische Liebe zerflatterte, wie sie entstanden war; wir sahen uns gegenseitig in unsrer wahren Gestalt, und heimliche Verachtung trat an die Stelle dessen, was wir Liebe genannt hatten. Mein innerer Friede war zerstört; in meinem Hause war die Hölle, ich floh es, und suchte das Glück da, wo kein Vernünftiger es gefunden hat. Meine häufigen Abwesenheiten veranlaßten, daß ich nur spät erst die Bemerkung machte, wie der, dessen Namen ich nun führte, seine Liebe einer Nebenbuhlerin zuwandte, und daß mein Kammermädchen diese Nebenbuhlerin war. – Ich fühlte mich gedemüthigt, ohne die Beleidigung so zu empfinden, wie ich in jedem andern Verhältnisse gethan haben würde. So hatte ich ihn geraubt, so wurde er [252] mir wieder geraubt. Nur die Arroganz des Mädchens, welches mir vorgezogen wurde, that mir weh; doch wagt' ich nicht, mich zu beklagen, weil ich eine vorwurfsvolle Antwort besorgte. Diesem häuslichen Verdrusse gesellte sich noch der Geldmangel bei, der mich zu Einschränkungen nöthigte, auf die ich nicht gerechnet hatte, indeß Babet (so hieß das Mädchen) im Überflusse strotzte. Ich machte bald, auf Anrathen einer meiner Bekanntinnen, Versuche, meine Finanzumstände durch das Lotto zu verbessern, und gerieth dadurch in ein Labyrinth von Geldverlegenheiten, aus welchem mich nur neue Vergehungen erretten konnten.

In eben diesem, für mich so kritischen Zeitpunkte wurde in der Gesellschaft, die ich am häufigsten besuchte, weil sie, die Wahrheit zu sagen, aus jungen Weibern [253] meines Gelichters bestand, ein junger russischer Kavalier, der Fürst Demetrius , eingeführt. Er zeichnete mich bald vor den andern aus, und es entstand ein Wettstreit unter den Weibern um seine Eroberung. Ich that damals in Wahrheit keinen Schritt, ihn für mich zu gewinnen; doch wage ich nicht, diese Unthätigkeit Pflichtgefühl zu nennen, weil der, welchem ich Pflichten schuldig war, sie mir, wie ich glaubte, durch seine Untreue erlassen hatte. Der Fürst war von dem Tage seiner ersten Erscheinung an meine Parthie beim Spieltische; er spielte galant, und machte den Zerstreuten. Der tägliche Gewinnst im Spiel machte meine häusliche Lage bequemer; ich bezahlte Schulden, und war nun um so leidenschaftlicher eine Spielerin. – Dem Fürsten entging dies nicht. Er verlor beständig; anfangs kleidete er diese [254] Freigebigkeit mit äußerster Delikatesse ein, allein vielleicht glaubte er in der Folge, sich dieser Schonung überheben zu können, als er fand, daß ich um zu gewinnen spielte. In meinem Hause veranlaßten die Summen, durch welche ich einen beträchtlichen Aufwand bestritt, auch nie die entfernteste Neugier, und – o, des elenden Behelfs' – damit entschuldigte ich meinen entehrenden Eigennutz gegen mich selbst.

Aufgemuntert durch diese entferntern Versuche, bemühte sich der Fürst, nach und nach seinen Absichten näher zu kommen. Auf einer Redoute war er mein Führer; dies erregte Neid, und ich fand mich geschmeichelt. Unter dem Schutz der Maske wurde er kühner, und ich nachgiebiger. Er sprach von Liebe, und ich setzte ihm nur Zweifel daran entgegen. Er betheuerte, und ich hörte ihn an. Er schlug [255] eine Entfernung von der Gesellschaft vor, nach seinem oder einem andern Hause, das weiß ich nicht. Diesesmal noch stand mir mein guter Genius zur Seite; ich verwarf den Vorschlag mit Abscheu, und der Fürst zog sich in die Gränzen der Ehrerbietung zurück, weil er die Zeit mit Zuverlässigkeit berechnen konnte, wo ich mich ihm selbst überliefern würde.

Meine häusliche Verfassung wurde von da an sichtlich immer mißlicher; man spielte in Gesellschaften darauf an, und gab mir Winke, die ich damals mir nicht erklären konnte. Meinen Hausgenossen sah ich zu selten, um Unruhe an ihm zu bemerken; doch fand ich eines Tages, daß er sehr thätig seine Schreibereien durchsuchte, und große Pakete im Kamin verbrannte. Ich fragte um die Ursache, und erhielt zur Antwort: es sind alte Scharteken, für die man, wenn [256] sie sich anhäuften, endlich einen zu großen Raum haben müßte. Das war mir genug; ich forschte nicht weiter, kleidete mich an, und ging zum Thee. Meine Erscheinung erregte Verwunderung; man fragte mit bedeutenden Winken und Flüstern: wie mein Mann sich befinde? ob er zu Hause, ob er allein sei? Meine Bejahung schien zu befremden; Einiger Blicke ruhten schadenfroh, andrer mitleidig auf mir, dessen erinnerte ich mich nachher. Ich setzte mich zum Spiel; der Fürst war, wie gewöhnlich, von meiner Parthie. Er begleitete mich in seiner Equipage zu Hause, und es fiel mir auf, das er meinem Bedienten etwas Heimliches sagte, welches mir dieser aber abläugnete, als ich mich darnach erkundigte. – In dem Arbeitszimmer des Hausherrn war noch Licht; ich ging zu Bette, wie ich das immer that, und schlief [257] auch wie gewöhnlich ein, ohne die Anwesenheit meines Stubengefährten abzuwarten. Ich stellte an diesem Abend, wider meine Gewohnheit, einige Betrachtungen über meine seltsame Lage an, und weil sie mich auf sehr traurige führen mußte, brach ich ab, und bemühte mich, einzuschlafen. – Es gelang mir sehr schnell; aber durch die ungewohnte Anstrengung des ernsthaften Denkens war mein Blut erhitzt, und meine Phantasie sonderbar rege geworden. Im Traum sah ich ein bedeutendes Bild der Schicksale, welchen ich mich entgegenstürzte. In einem dunklen Kerker erschien mir eine häßliche aber glänzende Gestalt, mit abentheuerlichen Verzierungen behangen; sie reichte mir die Hand, ich ergriff sie be gierig, und plötzlich erhob sie sich mit mir zu einer steilen Anhöhe, welche mit einer spiegelglatten Fläche umgeben war. Uber derselben [258] schwebten Gestalten, worunter ich meinen theuren Vater und meine Brüder am deutlichsten erkannte. Wie mein Blick sich auf sie heftete, verloren sie sich in einen matten Schimmer weit und immer weiter hin; die glänzende Gestalt neben mir hatte sich indeß in einen häßlichen braunen gestaltlosen Klumpen verwandelt, auf welchem von dem, was er zuvor gewesen, nur noch die bunten Verzierungen sichtbar geblieben waren. Im äußersten Schrecken griff ich darnach; da fühlt' ich mich von einer entsetzlichen Faust ergriffen, und von der Höhe herab auf die schlüpfrige Fläche hingeworfen. Aus der hellen Dämmrung ging meines Vaters Gestalt wieder hervor; aber ich vermochte es nicht, ihr näher zu kommen, weil meine Füße auf der ungewohnten Glätte ausgleiteten. Ich warf mich trostlos auf den Boden, [259] die väterliche Gestalt war mir ganz nahe, ergriff mich, und plötzlich saß ich neben ihr in einer duftenden Laube. Nun umflatterten mich bunte Traumgestalten, der feste Schlaf ging in leisen Morgenschlummer über, und dieser wurde durch das Rufen meines Namens abgebrochen. Ich erschrak, eine alte Frau, die im Hinterhause wohnte, in meinem Zimmer zu sehen. – Nehmen Sie mir's nicht übel, daß ich mich so dreist zudränge, – fing sie an; – die Zim mer stehen alle offen, es möchte ein Fremder hereinkommen. – Wo sind denn meine Leute? – Seit 4 Uhr, da der Herr abreisete, habe ich keine Seele wieder gesehn. – Voll Entsetzen sprang ich auf; eine Ahnung flog durch meine Seele; ich warf in möglichster Eile Kleider über, indem trat Fürst Demetrius G ins Zimmer. Er sah bekümmert aus; und [260] da er mich eben in der größten Bestürzung fand, so fragte er: Sie wissen also schon? – – Ich weiß nichts, gar nichts. – Der Kassendefekt ist heraus; heute sollte er arretirt werden. Er hat sich mir entdeckt. Durch einen angemessenen Vorschuß habe ich ihn in den Stand gesetzt, für seine Sicherheit zu sorgen, und habe ihm mein Ehrenwort gegeben, es auch für die Ihrige zu thun. Es ist ausgemacht, daß, wenn Sie nicht schnelle Maßregeln ergreifen, man sich Ihrer statt seiner bemächtigen wird. – In der entsetzlichsten Betäubung stürzte ich ihm zu Füßen; ich glaube, daß ich seine Hände geküßt habe, denn er wurde mächtig ergriffen, sank bei mir nieder, umfaßte mich mit den heiligsten Betheurungen, und schwur, mein Schicksal sei an seine Seele gebunden; er übernehme es, mein Loos zum allerglücklichsten zu machen; seine [261] überschwengliche Liebe setze ihn über jede andre Betrachtung hinweg; ich verdiene nicht nur eine Fürstin zu seyn, sondern auf einen Thron erhoben zu werden. – Soll ich es sagen, daß ich mit Wohlgefallen auf seine Reden achtete? daß mir der Gedanke auch nicht einfiel, mich in der Noth zum natürlichsten Asyl, zu meinem Vater zu flüchten? – Ach, die lockenden Töne der Verführung schlichen sich so süß in mein Herz, und es war gewonnen, ehe die Vernunft aus ihrem langen Schlummer erwachte! – Aber wohin? mein Fürst! – Wohin? meine Göttliche! Wo Ihr Demetrius ist, da ist Ihr Asyl; kann es für die Geliebteste ein andres geben? Aber lassen Sie uns die Zeit benutzen! Ich bestelle Pferde. Nehmen Sie nur die ersten Nothwendigkeiten mit, bei meiner Mutter sollen Sie mit allem versorgt werden.

[262] Ich würde unrecht thun, wenn ich sagte ich hätte überlegt. Nein, ich überlegte, ich dachte mir nichts deutlich; auch kann ich nicht sagen, daß mich die Liebe verführte. Der Fürst ist jung und liebenswürdig; aber nie sah ich in ihm den Mann, dem mein Herz sich hätte ergeben mögen, nur meine Eitelkeit flüsterte mir zu: er zieht Dich den andern vor, er ist ein Fürst, und kann Dich zu sich hinaufziehen. Die Noth des Augenblicks, Gefängniß, Armuth und Verachtung standen in gräßlichen Gestalten vor mir. An der Hand des Fürsten winkten mir Reichthum und Wohlleben, und der Müssiggang, dem ich mich besonders im letzten Abschnitte meines Lebens geweihet hatte, stand in der Perspektive. Auch keinen einzigen Augenblick stand ich an, das Anerbieten des Fürsten anzunehmen. Auf die Einwendung, die der Wohlstand, doch nur[263] ganz leise, machte, antwortete ich: er bringt Dich ja zu seiner Mutter! unter welcher Gestalt? untersuchte ich nicht.

Mir blieb auch wenig Zeit zur Unentschlüssigkeit und Untersuchung übrig. Ein junger Mensch, dem ich einiges Gute erwiesen hatte, schickte mir einen Zettel, worin es hieß: Retten Sie sich sobald Sie können. Diesen Abend werden Sie an der Stelle Ihres Mannes, für den Sie mit Ihrer Habe haften sollen, arretirt. Ich nutzte den Wink, und spornte meine Thätigkeit zur Eile. – Nun erst vermißte ich Jungfer Babette, meine besten Kleider, und einige Juweelen; ich war aber bei diesem Verlust ganz gleichgültig, bei der Mutter des Fürsten sollte ich ja mit allem versorgt werden. Um 4 Uhr Nachmittags erwartete ich, zur Reise gerüstet, meinen Begleiter. Um 5 Uhr erschien sein Kammerdiener [264] in einer Miethkutsche, und brachte mich an den Ort, wo sein Herr mit den Postpferden auf mich wartete. Fühllos verließ ich das Haus, worin ich durch ein schweres Vergehen Frau geworden, und mein innerer Zustand eine aneinanderhängende Marter gewesen war. Mit einem andern Herzen wandte ich der Stadt den Rücken, worin sich eine zweite Periode meines Lebens angesponnen, und nun so über alle Erwartung schrecklich entwickelt hatte. Als ich, an der Seite des Fürsten, mich im Freien fühlte, ergriff mich der Gedanke: was hast Du vor? wie ein gieriges Raubthier. Ich verbarg mein Gesicht, und konnte dem Manne nicht ins Auge blicken, dessen Willkühr ich nun so unbedingt mich übergeben hatte. Wir fuhren durch das nämliche Thor, in welches meine brave Mutter mich hereingebracht hatte. Mein Elend zu verstärken,[265] erkannte ich jeden Baum, jeden Feldweg wieder, wie ich ihn mir beim ersten lebhaften Anschauen gemerkt hatte. Stumm, und in den tiefsten Schmerz versenkt, saß ich da; mein Reisegefährte bot seinen ganzen Witz auf, mich aus mir selbst herauszuziehen, aber er erhielt nichts, als endlich die dringende Bitte, mich zurückzubringen. Wie? wohin wollen Sie? fragte er besorgt; soll ich Sie ihren Verfolgern ausliefern? trauen Sie meinem Ehrenworte nicht? sollt' ich die, die meine ganze Seele liebt, nicht ehrenwerth halten? – Die Frage: was werd' ich Ihnen, was Ihrer Mutter seyn? schwebte mir auf den Lippen, aber die Furcht, jetzt schon aus meinem Wahne gerissen zu werden, hielt sie zurück. Und dann: er sah so gut, so ehrlich aus; seine Bedienten bezeigten mir Ehrfurcht bis zur Demuth; ich hoffte, die Äußerung, [266] daß ich seine Gemahlin werden wurde, sollte ihm entwischen; aber noch immer hatte er sich nicht bestimmt erklärt. Ich war nicht schlau genug, die Veranlassung herbeizuführen; doch als er in mich drang, ihm die Ursache meiner Betrübniß zu entdecken, sagt' ich listig genug: aber, Fürst, ich bin die Frau eines andern, wie kann ich bei Ihnen mit Anstand seyn? – Wenn dieser Andre mir seine Rechte gegen ein Equivalent abtritt, sind Sie dann nicht die meinige? Die Gesetze meiner Kirche achten die Verpflichtungen, welche Ihnen die Ihrige auflegt, für ungültig. Unsrer Liebe steht nichts im Wege, meine Ida! (denn von nun an war ich Ida. Juliane, Julchen! – o, der theure Mund, der dies sprach! – der Name soll unentweiht bis auf bessere Tage ruhen). Da ich diese unbestimmte Äußerung des Fürsten für eine [267] Art von Erklärung gelten ließ, so beruhigte ich mich; ich wurde erträglich, bis es Nacht wurde, und die Dunkelheit mir Gelegenheit gab, von den äußern Gegenständen ab-, und in mich selbst hereinzugehen. Der Traum der vorigen Nacht ruhete, gleich einer schweren Last, auf mir, und ein Theil desselben ging schon in buchstäbliche Erfüllung. Die glänzende Gestalt, mit Ehrenzeichen behangen, reichte mir die Hand, mich aus dem Kerker zu befreien. Auch sie wird's seyn, die mich mit eiserner Kraft in den Abgrund schleudert. Im Hintergrunde stand der Vater, aber ein schwer beleidigter zürnender Vater, und Brüder, die mich verachten mußten. Wie übermüthig hatte ich oft auf den Bruder, der jetzt ein Handwerksgenosse war, herabgesehn! Wie konnte nun er, der Fleißige, der Rechtliche, auf seine Schwester herabblicken? Wie mußte [268] es ihm bei seinen Genossen zum Vorwurf gereichen, wenn es hieß: sie ist mit einen Russen durchgegangen! – Als dessen Frau? – Nein, als seine – – – O, mein Gott, wie erniedrigend war einem jeden von uns das Wort Mätresse! Des redlichen, aller Orten geachteten Amtmanns Tochter ist nun zur Mätresse eines Fremden herabgesunken! Diese und ähnliche nagende Betrachtungen zerrütteten meine Gesundheit, und ich sah mit thränenschwerem Auge, blaß und erschöpft, den Morgen anbrechen. Der Fürst war mir nun zuwider; ich sah ihn im Nachtkleide, von allen Orden und Ehrenzeichen entblößt, im schlichten Reiserock, mit ungeordnetem Haarputz; er erschien mir wie ein gemeiner Mensch, der sich mit seinen Bedienten verwechseln ließ. Es ist ein Jammer, daß wir oft unsre Ehre und das Glück der Unsrigen von [269] einem Stückchen Bande, einem Sterne oder Kreuze abhängen lassen! Wäre mir der Fürst früher in so unscheinbarer Gestalt genaht, ich wäre schwerlich in seine Hände gerathen; daß es wirklich so war, wird nachher deutlicher werden.

Wir fuhren drei Tage Tag und Nacht, und rasteten endlich in einem Dorfe in Hinterpommern. Es war an einem Sonntage. Die Gemeinde stand in ihrem festlichen Anzuge, und erwartete den Prediger. Der Gottesdienst begann, und, angetrieben von einem unwiderstehlichen Gefühl, mischt' ich mich unter den Haufen, der zum Gotteshause wallte, und ging mit hinein. Der Gesang erschütterte mich; lange schon hatte ich keiner öffentlichen Versammlung beigewohnt, und nun unter diesen Umständen! Ich zerfloß in Wehmuth. Der bejahrte, ehrwürdige Prediger sprach mit Kraft und[270] Nachdruck über den Text: ›Es wird mehr Freude im Himmel seyn über einen Sünder, der Buße thut, als über neun und neunzig Gerechte.‹ Mancher gute Entschluß stieg in meiner Seele auf, und einmal flüsterte mein guter Engel mir zu: ›Kehre um, noch bist Du unentweiht!‹ – Aber wer wird's glauben? und zu wem soll ich gehn? – Jetzt trat der Fürst, der mich gesucht hatte, in die Kirche, von seinen Bedienten umgeben, in Anstand und Miene den vornehmen Mann, wenigstens mit dem angethan, was diesen Leuten das Bewußtseyn ihrer Überlegenheit giebt, und meine eitle Seele wurde wieder ganz leer von guten Gedanken. Seine Zärtlichkeit wirkte allmählig auf mein Herz, und – o, der Schande! – ich wurde von da an ruhig, und immer ruhiger, bis wir hinter Riga kamen, wo ich erfuhr, daß mein unglücklicher [271] Vater mir auf der Spur sei. Hier warf ich mich dem Fürsten zu Füßen, und flehte, mich in die Arme meines Vaters zurückzugeben. Ich sprach mit dem Ungestüm einer Wahnsinnigen. Der Fürst schloß mich in seine Arme; meine Ida, – sagte er, – meine Einzige, womit verdiene ich ein so unzerstörbares Mißtrauen? Noch lange sind wir nicht am Ziel unsrer Reise; nur wenige Zeit werde ich meinen Freunden in Petersburg schenken, dann aber erwartet uns in einer entfernteren Gegend meine Mutter, bei der meine Ida schon durch die empfehlende Eigenschaft, eine Deutsche zu seyn, eine freundliche Aufnahme finden wird. – Als was? Fürst! fragt' ich unruhig. Er stand einen Augenblick an. – Ida findet gewiß eine mütterliche Aufnahme, fuhr er fort; sie wird geliebt werwerden, wo sie nur aufgenommen seyn will.[272] – Prinz, schicken Sie mich zu meinem Vater, noch ist nicht alles verloren; da er mich sucht, will er mich nicht verstoßen! – Der Fürst sagte galante Gemeinplätze, und befahl heimlich seinen Leuten, mich streng zu beobachten. Sie thaten es so sehr, daß ich keinen Schritt nach einem Glase Wasser thun durfte, ohne von einigen um mein Geschäft befragt zu werden.

Der Jäger, ein Stockrusse, sah mich weinen. Was weinst Du? sagte er in gebrochenem Deutsch; Du wirst hoch, sehr hoch kommen! Wenn Du Fürstin bist, da weinst Du nicht mehr. – Diese einfachen, herzlich gesprochnen Worte beruhigten mich in so weit, daß ich einen Brief an meinen unglücklichen Vater schrieb, der in Riga im Posthause abgegeben wurde. Mein Schmerz beim letzten Abschied, den ich ihm bot, gränzte nahe an Stumpfheit; er hatte die Höhe, [273] welche das Herz zu fassen und zu tragen vermag, überstiegen, und nun war alles öde und abgestorben in meiner Seele. Ich gab mich, ich gab alles verloren, und achtete es nun nicht mehr der Mühe werth, durch Selbstthätigkeit eine Änderung meines Schicksals zu bewirken. Sobald ich das ewige Lebewohl an den würdigsten der Väter versiegelt hatte, sah ich mich als eine Gestorbene an, die nun der Vergeltung entgegeneilt. Das Andenken an meinen Vater hatte die Bilder meiner ersten unbefangnen Jugendjahre aufs lebhafteste in mir erneuert. Wenn ich die Grade der Verschlechterung betrachtete, die ich – einst Julchen aus Lindenau, nun die erlogne Ida eines russischen Fürsten – durchlaufen war, schien ich mir nicht mehr dasselbe Wesen; am wenigsten schien mir Rückkehr möglich, seitdem ich mich unter einen fremden Himmel, [274] und unter ein so sehr fremdes Volk versetzt sah. Ich überließ mich nun dem waltenden Verhängnisse, wie ich es nannte, und folgte dem Fürsten still und ergeben, als wir die Reise fortsetzten.

Von Riga bis Petersburg unterließ er nichts, was die feurigste Liebe zur Beruhigung der Geliebten zu ersinnen vermag; nur auf positive Erklärung ließ er sich nie ein, so vielen Muth ich auch nachher bekam, sie herbeizuführen. Endlich erklärte er sich, daß er in Petersburg meinem Schicksale eine günstige Wendung zu geben gedenke; ich solle mich auf seine Ehre, mehr aber noch auf seine Liebe verlassen.

Die unendliche Mannichfaltigkeit der Gegenstände zerstreute mich wider Willen. Mehr als alles zog mich der unaussprechliche Reiz der russischen Sommernächte an. Der sanfte Schimmer der kaum untergetauchten [275] Sonne röthet den Horizont, und verschönert die Gegenstände. Die Erwartung der kommenden Nacht täuscht sich selbst, und man sieht sich durch eine angenehme Überraschung um den Schlaf gebracht, wenn die ersten Strahlen der Sonne schon wieder die Gipfel der Bäume vergolden. Alle Erscheinungen um mich her erregten meine Neugier und Erwartung. Gestalten, wie ich sie noch nie sah, wandelten um mich her, eine fremde Sprache, ein fremder Boden; fast überlief mich ein Grausen, wenn ich die fremdartigen Gesichter sah, aber allenthalben stießen wir auf frohe, singende Menschen, die in Stellung und Gebehrde Demuth äußerten, ohne von harten Sklavensinn niedergedrückt zu scheinen. Mein Reisegefährte machte mich auf alles aufmerksam und erklärte es mir, aber wie viel er mich auch von Petersburg's Pracht hatte [276] erwarten lassen, wurde ich doch zum höchsten Erstaunen hingerissen, als ich die Größe und Pracht dieser bewundernswürdigen Stadt sah. Der Pallast des Fürsten lag im Admiralitätstheile, und sein Inneres entsprach der ungemeinen Pracht seiner Außenseite. Allein ein unbekanntes Grausen befiel mich, als ich, die ich immer jemand von meinem Geschlechte um nich gehabt hatte, mich unter ein ganzes volles Haus von Männern versetzt sah. Unter dem zahlreichen Hausgesinde hatte ich nur zwei Mädchen bemerkt, eine dicke geschminkte Russin, und eine Kalmuckin zur gröbsten Hausarbeit. Mir wies der Haushofmeister prächtige Zimmer an, und ich begriff aus seiner Pantomime, daß die Fürstin sie bewohne, wenn sie sich in Petersburg aufhalte.

Es war mir unmöglich, mich in dieser Pracht einheimisch zu fühlen; ich starrte [277] darauf hin, ohne sie mir anzueignen. Der Gedanke: was bin ich in diesem Pallaste? fiel mir abermals zentnerschwer aufs Herz. Der Fürst besuchte mich in meinem Zimmer; er bemerkte meinen Mißmuth, und weil er mich errieth, ließ er mich nicht zu Worte kommen. – Ich verstehe die Thränen in diesen lieblichen Augen, sie sollen mir nicht lange mehr Vorwürfe machen. Aber Ida, darf ich auf keinen, nicht einen Beweis Ihrer Zuneigung rechnen? hält dieses schöne Herz auch nicht einmal mich einer Täuschung werth? – Mein Prinz, wenn Sie zu der Wohlthat, mich aus den Händen der Gläubiger meines Mannes gerettet zu haben, auch die noch hinzufügen: mir eine, meinem Stande angemeßne, Bestimmung festzusetzen, so rechnen Sie auf das dankbarste aller Herzen. – Ida, wenn Sie mich lieben, so ist Ihr Loos auf immer [278] festgesetzt. – Ich war schwach genug, eine hoffnungerregende Antwort zu geben, und nun – o der Angst! – konnte nur mein noch wacher Schutzgeist mich von seiner Zudringlichkeit und meiner erregten Sinnlichkeit erretten. Ich wage es nicht, irgend etwas zu meiner Enschuldigung anzuführen. Ich rang gegen die Wuth seiner Umarmungen; aber sein Arm umschlang mich mit einer Kraft, der ich nicht widerstehen konnte. Ich sank vom Widerstreben matt zu Boden, und fiel gegen die Ecke des Sopha's so hart, daß im Augenblicke mein Kleid und der Fußteppich mit Blut überströmt waren. Der Prinz hob mich auf, jammerte, und rief nach Hülfe; mein Kopf war gefährlich verwundet; ich fiel in Ohnmacht, und als ich wieder zu mich kam, sah ich mich mit fremden Gesichtern umgeben. Ganz besonders fiel mir ein altes [279] ehrwürdiges, mit weißem Barte, auf. Der Mann sah mich freundlich an, sprach aber kein Wort. Als ich ihn um etwas fragen wollte, legte er mir den Finger auf den Mund, und sagte gebrochen Deutsch: ›Fieber haben, nicht reden.‹ – Diese alte Gestalt war mir zum besondern Trost, weil ich keine Person meines Geschlechts zu meiner Bedienung um mich sah. Der Fürst trat herein, und sagte zu dem Alten freundlich: bist Du da, Michael Popoff? Ich vernahm nun, daß es ein russischer Priester sei, der bei den Hausoffizianten einen Kapellan abgab. Michael verließ mein Bette nicht; und als er mir erlaubte zu sprechen, fragte er freundlich: wer bist Du? Mädchen oder Frau? – Frau! – sagt' ich beherzt; fühlte aber meine Wange sich röthen. – Warst Du gut, ehe Du in dieses Haus kamst? (er sprach alles gebrochen [280] Deutsch), Was willst Du hier werden? Frau! – Ich antwortete nicht; mein Blick sank beschämt von dem ehrwürdigen Gesicht auf meine Decke, – Wird die Fürstin Dich sehen? – Die Fürstin? die Mutter des Fürsten? – Nicht Mutter! Frau, Gemahlin! – Er stand auf, und zeigte auf ein schönes weibliches Bild, welches ich für ein Ideal gehalten hatte. Verstört, aufgeschreckt rief ich aus: wie? ist der Fürst vermählt? – Ja, mit Eudoxia, aus dem Hause 'P ... – Gott, Gott! darum die Ungewißheit, das Zögern, sich zu erklären! Was bin ich nun? o, gräßlich! gräßlich! – Weib, hast Du einen Vater? – fragte Michael. – O schweig', alter ehrwürdiger Mann, mein Fall in diesen Abgrund wird ihn umgebracht haben! – Ich fiel in eine Raserei, die Wunde fing aufs neue an zu bluten, und Michael bat mich um sein Leben [281] willen, ihn nicht zu verrathen. Ich wurde etwas ruhiger, als er mir versprach, mein Vermittler zu werden, und mich in eine anständigere Lage zu bringen.

Bald nachher erschien der Prinz. Ich zwang mich, wenigstens still zu seyn. Nachdem ich eine Zeitlang geschwiegen hatte, zeigte ich auf das Portrait, und fragte: wer ist dies himmlische Gesicht? – Ein Ideal, Ida; was geht das Sie an? Sie sind tausendmal schöner. – Geht das Bild auch Sie nicht an? Prinz! – Er wurde roth. Ida, – stammelte er nach einigem Schweigen, ich sehe, ich bin verrathen; meine Verwandten haben mir eine Gemahlin aufgedrungen, die mich unglücklicher Weise bis zur höchsten Leidenschaft liebt. Dieser zu entgehn, verließ ich mein Vaterland, und gab alle Ansprüche auf Ehrenstellen auf, zu welchen mein Rang und Vermögen mich [282] berechtigten; ich durchreisete die südlichen Länder, kein Weib zog mich an sich, bis ich in Ihrem Berlin fand, wonach sich mein Herz so lange gesehnt hatte. Ida, nun opfern Sie mein Glück nicht einem Hirngespinnste auf! Was ist das nun, daß Eudoxia für diese Welt mein Weib ist? Mag sie immer die Theilhaberin meines Ranges und Vermögens seyn, mein Herz habe ich nur für die reizende Ida! – Ich überschüttete ihn mit Vorwürfen, die er endlich, hofmännisch freundlich, damit beantwortete, daß er mich daran erinnerte, wie er kein Zwangsmittel und sehr wenig Überredung angewandt habe, mich zur Reise zu bewegen. Tief beschämt und erschüttert, wie ich es seyn mußte, verließ er mich, und der alte Priester trat an seine Stelle. Mein Zustand, meine bittern Thränen gingen ihm zu Herzen; er fragte zutraulich: ist es Dein [283] Ernst, daß Du nicht werden willst eine – – – O ja, ja, ehrwürdiger Mann, wie Du mich auch retten willst, ich gehe alles ein. – Gut, so warte noch drei Tage; Deine Krankheit wird Deine Rettung eyn. Aber vor allen Dingen danke Gott, danke ihm, wie Du gelernt hast mit ihm zu sprechen; er und der heilige Nikolas werden Dich beschirmen.

Der Wink des Alten fiel brennend in meine Seele. – Ach, wenn ich beten könnte! aber wie kalt, wie durchaus entfremdet ist mein Herz diesen frommen Empfindungen! – Als ich allein war, falteten sich meine Hände von selbst, die beklemmte Brust arbeitete heiße Seufzer hervor, mein bethräntes Auge richtete sich zum Himmel, und ich wünschte mit unbeschreiblicher Angst, daß Gott mich hören, und mich erretten möchte. War dies Gebet, so ist nie ein brünstigeres emporgestiegen.

[284] Mein Herz war erleichtert, als der Prinz ins Zimmer trat. Er bemerkte meine ruhigere Stimmung mit Zufriedenheit, und wartete nicht, bis ich die vorhin abgebrochne Materie wieder aufnahm, sondern fing selbst an davon zu sprechen. – Ida, ein rasches Wort hat Sie vorhin beleidigt. Ich wollte das nicht; da wir aber in der Entwicklung so weit gekommen sind, muß ich als ein Mann von Ehre sprechen. Ich liebe Sie unaussprechlich, Ihre Schönheit, Ihre Anmuth muß Ihnen das sagen; aber ich will Sie nicht verderben. Ob es immer in meiner Gewalt stehn würde, dem raschen jugendlichen Feuer zu gebieten, wenn so viele anziehende Reize mich umgaukeln, darf ich nicht versprechen. Ida, ich darf Ihnen nicht verschweigen, daß Michael Popoff nachdrücklich für Sie gesprochen hat; er hat meinem schlummernden Sinne für [285] Güte und Rechtschaffenheit eine neue scharfe Richtung gegeben. Ich schlage Ihnen das Haus der Fürstin Eudoxia zum Asyl vor. Sie ist eine gutes, ein tugendhaftes Weib; Sie sollen vor ihr, als die verlaßne Frau eines unglücklichen Mannes, erscheinen, der Sie mir empfohlen hat. Sie dürfen nicht erröthen, Ida; Sie kommen rein und unentweiht aus meinen Händen. Ich werde Sie immer noch anbeten, aber nur selten sehen; in diesen Augen ist zu viel Gefahr für mich. –

Mit ganzem Herzen stimmte ich in den Vorschlag des Prinzen. Sein Edelmuth überwältigte mich; nie war er in meinen Augen so liebenswürdig erschienen, und – daß ich alles sage, – in der tiefsten Falte meines Herzens regte sich etwas, das einem Unmuthe über diese freiwillige Entsagung glich. Mein Dank war so feurig, [286] daß er dem Prinzen beinahe den edlen Sieg über sich selbst aus den Händen gerissen hätte. Popoff erschien, und die Unterredung nahm eine ruhigere Wendung.

Nach drei Tagen, in welchen ich den Prinzen nur auf kurze Augenblicke, Popoff aber beständig um mich hatte, verkündigte mir ein Getöse und Pferdetritte im Hofe des Pallastes die Ankunft der Fürstin. Ich kleidete mich anständig, und erwartete jeden Augenblick, daß sich etwas ereignen werden; allein es blieb diesen Tag und Abend still, selbst der alte Priester ließ sich nicht sehen. Erst spät nach Mitternacht wurde es ruhig im Pallaste. Ich blieb auf, und brachte den übrigen kurzen Theil der Nacht am Fenster zu. In diesen wollüstig-angenehmen Nächten verliert sich zwar in den Petersburger Straßen die geräuschvolle Thätigkeit, wird aber nicht, wie in Berlin, zur [287] todten, bangen Stille. Überall hört man den Fußtritt von Spaziergängern, die sich häufig von Musik begleiten lassen. Auf der Newa und auf allen Kanälen schwimmen Schaluppen, von welchen der einfache melodische Gesang der Matrosen ertönt. Ich überließ mich, zum erstenmal seit langer Zeit, einer freundlich-winkenden Hoffnung besserer, unschuldvoller Tage. Die Fürstin dachte ich mir unter mannichfaltigen, lieblichen Gestalten; aber ach! wohin ich den Blick wendete, war Anstrengung und Arbeitsamkeit die unerläßliche Bedingung besserer Zeiten! Was konnte ich für Talente aufweisen? was für Geschicklichkeiten hatte ich mir erworben? Keine einzige, die mich über den Troß gemeiner Bedienten erheben konnte! O, weh mir, wie habe ich die goldnen Tage der Muße mit Armseligkeiten verschleudert! Ich fühlte es [288] tief in der Seele, daß ich nur in die niedrigere Region einer kleinen Haushaltung gehörte; daß es etwas Leichtes gewesen war, unter den lustigen Weibern, mit welchen ich meine Zeit vertändelt hatte, einen Platz zu behaupten, die sich außer dem Whisttische und Putzladen in armer Unbedeutsamkeit verlieren. Diese Betrachtungen waren eben nicht geschickt, mich zu einer Zusammenkunft mit meiner künftigen Beschützerin gehörig vorzubereiten. Indeß war es Tag geworden; der Kammerdiener brachte mir Frühstück; ich wagte keine Frage an ihn. Bald nach ihm erschien Popoff. Sein freundliches Auge verkündigte mir lauter Gutes. Du wirst es gut haben, wenn Du willst, sprach er; Eudoxia will Dich haben, wenn Du ihr gefällst. – Ach Gott! wie muß ich seyn, wenn ich ihr gefallen soll? – Sie ist den Deutschen [289] gut. Aber, meine Tochter, etwas muß ich Dir sagen: bei ihr lebt ein Weib, das ihre Erzieherin war; sie ist eine jähzornige Französin; bitte den heiligen Christ, daß er Dir's eingiebt, wie Du das Herz dieses Weibes gewinnen mögest. – Mir sank der Muth, die Tage der Unbefangenheit waren dahin, und die Last des entkräftenden Bewußtseyns lag schwer auf mir. – Was Dir auch begegnen möge, jede Erniedrigung wirst Du verdient haben! – Ich wies mir den niedrigsten Platz an, und wagte keine Klage, kein Murren. Der redliche Popoff verwies mir meine Niedergeschlagenheit. – Du bist nicht gut und dankbar, meine Tochter, sagte er; hat Gott nicht Wunder zu Deiner Errettung gethan? Willst Du darum verzagen, weil er so gütig ist? Sammle Dich! in kurzem wirst Du vorgelassen; ich bleibe Dir zur Seite. [290] Es war gut, daß er das sagte, sonst wäre ich umgesunken, als der Kammerdiener der Prinzessin erschien, um mich abzuholen.

Popoff begleitete mich. Ich wurde durch eine lange Reihe Gemächer geführt, deren Pracht mir imponirte. In einem der letztern fand ich die Prinzessin auf einem Sopha; eine ältliche, in Braun gehüllte, Gestalt vor ihr, bediente sie mit Chokolade. Die Fürstin sah ihrem idealischen Bilde vollkommen ähnlich. Eine schöne Spitzenhaube beschattete zum Theil das reizende Gesicht; ein großes, flatterndes, hinten aufgestecktes, buntseidenes Tuch gab ihr ein fremdes, höchst reizendes Ansehn, wozu ein, im orientalischen Geschmack gesticktes und geschnittenes, weites Gewand noch mehr beitrug. Am Eingang verneigte ich mich ehrerbietig, wie ich es auf dem Theater gesehn hatte. Popoff hielt mich, und führte [291] mich ihr näher. Sie streckte eine wunderschöne Hand nach mir aus, und hieß mich in angenehmen Französisch näher kommen. Meine Haltung mochte unter diesen Umständen noch weniger Festigkeit als gewöhnlich haben; denn die braune Französin am Tisch merkte an, daß sie wetten wolle, ich sei nur eine Deutsche.Cet air, ce maintien, cette timidité, – sagte sie leise zur Fürstin, – zeigten sehr deutlich, zu welcher Nation ich gehöre. Was die Gebieterin antwortete, verstand ich nicht ganz; aber ich unterschied, zu meinem Trost, die beruhigenden Worte: très-aimable, und diese gaben mir Muth, mich gegen ihr Gewand hinzuneigen; sie reichte mir aber gütig die Hand zum Kuß. Ich ergriff sie, und küßte sie mit einer Innigkeit, die, so wie sie aus meinem Herzen kam, in das ihrige drang. Sie sah mich mit Wohlgefallen an, und [292] sagte etwas auf russisch zu Popoff, der es mit dem Lächeln der Zuneigung anhörte.

Allein jetzt wurde der Auftritt bänglicher für mein Herz. Die schöne Frau erkundigte sich nach meinem Vaterlande, meinen Eltern, meinen Verbindungen, und endlich – was ich mit großer Herzensbeklemmung erwartet hatte – um mein Verhältniß zum Fürsten. Ich entfernte mich in meinen Antworten, so wenig es sich thun ließ ohne anstößig zu werden, von der reinen Wahrheit. Als ich auf die Frage: ob ich noch Eltern habe? wehmüthig meinen Vater nannte, hieß sie mich mitleidig: arme Kleine; als ich aber auf die Erkundigung, ob ich mit dem Fürsten zusammen in einer Kutsche gereiset sei, Ja antwortete, umwölkte sich das schöne Auge, und sie sagte mit kleinmüthigem Tone zur Lebrün etwas, wovon ich nur das trop belle verstand. [293] Das röthete meine Wangen, und eine bittre Thräne des Bewußtseyns stieg in mein Auge. Ich sah traurig auf meinen ehrlichen alten Begleiter, und gab schon alles verloren. Er sprach russisch, und die Prinzessin sah mich wieder an. Was kann ich, was muß ich für Sie thun, mein Kind, (sagte sie) wenn Ihnen geholfen seyn soll? Ich begreife, daß Ihre Schönheit und Jugend nicht schutzlos bleiben kann. – Mein guter Genius, oder vielmehr das dringende Bedürfniß meines Herzens, gab mir ein, vor ihr hinzuknieen, und mit Inbrunst um Aufnahme unter ihre Frauen, und Schutz von ihr, zu flehen. Popoff nickte mir freundlich seine Billigung zu, und ich hatte zur glücklichen Stunde gesprochen; die edle Frau küßte mich liebreich auf die Stirn, und gewährte warum ich bat. Jetzt entrunzelte auch die saueräugige Gouvernante [294] ihre gelbe Stirn, und fragte mich mit offenbar neidischem Tone, was ich denn arbeiten könne? meine Landsmänninnen hätten gewöhnlich gar wenig aufzuweisen; ein wenig Stricken? ein wenig caquet? n' est ce pas? setzte sie in einer mehr boshaften als scherzenden Manier hinzu. Sie hatte leider! recht. Das gütevolle Herz der Fürstin sah meine Verlegenheit, und sagte schnell einfallend: Sie werden doch lesen können, mein Kind? Sie werden mir bei meinen kleinen Arbeiten vorlesen; meine arme Lebrün leidet ohnehin an den Augen. Freilich, erwiederte diese, werde ich nachgrade eine unnütze Dienerin meiner gnädigen Fürstin. – O, das nicht, liebe Lebrün, Du wirst meinem dankbaren Herzen nie entbehrlich seyn! Diese junge Person wird in ihren Funktionen von Dir abhängen; Deine Zurechtweisungen werden ihr nützlich seyn. – [295] Madame Lebrün ließ sich nach diesem Beruhigungsmittel herab, mich zu umarmen, und meiner Wange von dem überflüssigen Taback, der an ihrer Hakennase hing, mitzutheilen, und – nun war ich angenommen. Von diesem Augenblicke an nannte mich die Fürstin Du; mir wurde ein Gemach neben der Lebrün angewiesen, welches ich sogleich in Besitz nahm.

Popoff, der ehrwürdige Priester, weinte Freudenthränen, als ihm sein schönes Werk gelungen war. Er segnete und küßte mich beim Abschiede, und ermahnte mich, dem heiligen Christ und meinem Schöpfer für mein Glück zu danken. Als er von mir ging, schenkte er mir ein schönes Kreuz, und befestigte es an meinem Halse, indem er sagte: gedenke Deines Erlösers, meine Tochter; aber bedenke auch, daß nicht immer Wunder zu Deiner Errettung geschehen werden. Damit verließ er mich.

[296] Die Prinzessin hatte eine schätzbare Sammlung deutscher Klassiker aus allen Fächern. Es war mein Amt, ihr daraus vorzulesen. Sie liebte unsre Sprache, und drückte sich gut darin aus. Ihre Mutter war eine Liefländerin gewesen. Sobald das erste deutsche Wort gelesen wurde, pflegte die Lebrün mit solchen Zeichen des Widerwillens und Ekels das Zimmer zu verlassen, als ob eine, Grausen und Abscheu erregende, Operation vorgenommen würde. Die gute Fürstin bemerkte es zu ihrer Belustigung, und fand es drollig, wenn die übelgelaunte Französin ce fichu allemand! sagte.

Ich hatte nun schon eine ganze Woche mein Amt versehen, und täglich mehrere Stunden vorgelesen, aber noch immer hatte ich nicht bemerkt, daß der Fürst auch nur ein einzigesmal seine Gemahlin gesehn hätte. [297] Sie fing an, merklich zerstreut zu werden; ich mußte oft eine Stelle mehrere male lesen. Wenn ich kam, fand ich sie weinend; ihr schönes Herz erlag unter irgend einem geheimen Kummer. Einst fand ich sie schreibend; indem sie siegelte, fielen Thränen auf den Brief herab; sie wollte sie trocknen, besann sich aber, und sagte: er soll sie sehn! Der traurige Brief war an den kaltsinnigen Gemahl gerichtet. Der Kammerdiener, der ihn überbracht hatte, brachte zur Antwort: Se Erlaucht würden noch diesen Vormittag aufwarten. – Die arme Dame gerieth in eine seltsame Bewegung, die sich erst in Thränenströmen Luft machte, und dann in eine wehmüthige, rührende Freude überging. Arme Eudoxia! rief sie einigemal wie aus der Tiefe ihres Grams. Sie wollte Toilette machen, unterließ es aber wieder, und brachte bloß etwas mehr Nachlässigkeit [298] in ihren Morgenanzug. Als ich ihre Befehle erwartete, ob ich gehen oder bleiben sollte, sagte sie: Du gehst; nein, Du sollst bleiben; doch, es ist besser Du gehst. – Dann lehnte sie ihren Kopf auf meine Schulter, und sagte daß es mir ins Herz schnitt: nicht wahr, Ida, ich jammere Dich? Als sie mich weinen sah, sagte sie gütig: Du bist eine sehr gute Seele, ich habe Dich recht lieb; aber – setzte sie zärtlich und halb scherzhaft hinzu – hier bleiben darfst Du doch nicht, wenn mein Gemahl da ist. Diese letzten Worte hörte die Lebrün, und sagte französisch: es sei besser, ich bliebe, so würde man doch sehn – – – Die Fürstin billigte den Rath, und ich blieb. Aber mit welchem Aufruhr in meinem Innern, das mußte mein verstörtes Gesicht sagen; denn die Lebrün sah mich unverwandt durch ihre Brille an, und schüttelte bedenklich den Kopf.

[299] Ich hatte nicht Zeit, mich recht zu sassen, denn in dem Augenblicke sprangen die Flügelthüren auf, und der Prinz erschien in größter Gala. Er eilte auf seine Gemahlin zu, küßte der halb Ohnmächtigen die Stirn, und dann die Hände, wobei er einige russische Worte sagte. Sie sprach keinen Laut, ihre zitternden Füße versagten die Dienste, und Demetrius führte sie mehr galant als zärtlich zum Sopha, wo er dann seinen Platz ihr gegenüber nahm. Jetzt watschelte die Französin an ihn heran, und bückte sich auf seine Hand. Sie haben uns lange verlassen, Monseigneur, – sagte sie; – aber das schöne Geschenk, was Sie uns von Ihren Reisen zurückgebracht haben, Monseigneur! – (sie deutete hämisch auf mich hin; ich versank, und wagte nicht aufzublicken). Indeß hatte sich die Fürstin wieder erholt, ihr edles Herz fühlte meine [300] Angst, und sie unterbrach den boshaften Ausfall ihrer Gouvernantin dadurch, daß sie dem Fürsten für die schöne Gabe dankte, die er ihr in mir gegeben hätte. Ich schöpfte wieder Athem. Die Worte des Fürsten machten zwar seinem Verstande und Weltklugheit Ehre; aber seine Blicke, seine Bewegungen, der Ton seiner Rede, waren so unzweideutig, so ganz der Ausdruck eines unwillkührlich hervorbrechenden Gefühls, daß der Fürstin kein Zweifel über unser Verhältniß auf der Reise bleiben konnte. Und ach, so muß ich denn mein Herz in seiner ganzen Schwäche darstellen! – ich härme mich, ich schäme mich dieses Momentes: aber es ist so; ich darf es nicht läugnen, da mein Vorsatz, gut zu werden, so unverrückt vor meiner Seele steht. Der ganze Zauber der Liebe umwand in diesem Augenblicke mein Herz. Schon beim Eintritt [301] des Fürsten waren mir die Bewegungen desselben verdächtig gewesen; jetzt fiel die ganze Gewalt meiner sonderbaren Lage auf mich. Der Zwang, unter welchem ich ihn sah, seine unverkennbare Leidenschaft, sein edler Kampf; – nie, nie hatte ich ihn so gesehen. Jetzt erschien er mir, mit allem Glanze seines Standes umgeben, leidend, und – meinetwegen! – Gesegnet sei die Vorsehung, die mich vor mir selbst rettete! denn nie war ein gefährlicherer Feind in meinem Innern gegen mich aufgetreten.

Ich wagte aufzublicken, und der Fürstin ins Auge zu sehen. Sie zwang sich sichtlich, Thränen zurückzuhalten; das Zucken ihrer niedlichen Lippe, die aufgespannte Stirn, alles zeugte davon. Sie hatte eben ihr Auge aufmerksam auf mich geheftet; aus ihrem Blicke sprach tiefe Bekümmerniß, [302] von mir wendete sie es langsam auf den Gemahl, und da vermochte sie die erleichternde Thräne nicht länger zurückzuhalten. Sie reichte im losbrechenden Gefühl eine ihrer schönen Hände ihm hin, und rief mit unbeschreiblichem Ausdruck: Prinz! Demetrius! Ihre Stimme verhallte süß: der Prinz widerstand nicht; er fiel auf ein Knie vor ihr nieder, küßte ihre Hände, und schnell, ohne ein Wort zu sprechen, verließ er das Zimmer. Unglücklicher Weise war der Fürstin der Blick nicht entgangen, mit dem er schied, und der nur für mich gewesen war. Sie wendete sich plötzlich zu mir, und auch meine unsägliche Verwirrung entging ihr nicht; denn jetzt rief sie erschöpft: es ist zu viel! nein, nein, länger trage ich das nicht! – Die Französin trat herein; als sie ihre Gebieterin so bewegt fand, errieth sie die Ursache, ergriff ziemlich unsanft [303] meine Hand, und führte mich ins Nebenzimmer, wo sie mich meinen sorgenvollen Betrachtungen überließ; sie selbst aber eilte zur Fürstin zurück, und rief noch zur Thür hinaus: daß niemand uns störe!

Ohne mich unbescheiden der Thür zu nähern, hörte ich die Gebieterin in einem wehmüthig-klagenden, und die Französin in einem heftigen, fast möcht' ich sagen gebietenden Tone sprechen. Es ahnete mich; das Resultat dieser Unterredung mußte mich betreffen; krampfhafte Angst umnebelte beinahe meine Sinnen. Wie heiß wünschte ich, diesen Pallast der Sorgen nie betreten zu haben! – Nach einer halben Stunde öffnete sich die Thür wieder; die Prinzessin befiehlt, Sie sollen zu ihr kommen! sagte Madame Lebrün gebieterisch; sie selbst ging zu einer andern Thür hinaus. Ich nahete mich langsam dem Zimmer, wo mir jetzt, [304] wie ich mir vorstellte, mein Urtheil gesprochen werden sollte. – Ich fand die schöne Frau auf dem Sopha liegend, den Kopf sorgenschwer in die Hand gestützt, mit der andern reichte sie mir einen Theil von Göthe's Schriften hin. – Da lies, mein Kind, sagte sie; ich brauche Fassung. Ich gehorchte mit ungewisser Stimme, sah aber wohl, daß sie nach Ruhe rang; denn über eine Weile sagte sie: auch das thut's nicht! – Ich hielt inne. Einigemal fing sie an: sag' mir doch, liebe Ida, – – – dann schwieg sie wieder, als schäme sie sich gleichwohl eine Schwäche zu bekennen. – Sag mir doch, – fing sie wieder an; – ich hielt mit Lesen inne. – Warst Du denn ganz allein mit dem Fürsten, als Du mit ihm reisetest? – Der menschliche Fürst erlaubte seinem Kammerdiener Françon, uns im Wagen gegenüber zu sitzen. – Immer? [305] immer? den ganzen langen Weg über? – Ja, gnädigste Fürstin. – Ich war röther, als ich sonst in meinem Leben gewesen bin; sie sah bedenklich aus. – Und Du warst so hübsch! – fuhr sie fort, wie für sich. – Ich schlug die Augen nieder. – Der Fürst kannte Deinen Gatten? – Ja, gnädigste Frau. – Und Dein Gatte verließ Dich? – Er wurde unglücklich durch Leichtsinn. – Und – als ob sie Kräfte zu dem, was sie sagen wollte, zusammennähme, – und der Fürst liebte Dich nicht? – Sie wollte mir scharf ins Auge blicken, aber ihre Stimme bebte, und ihr schönes Auge sank auf ihren Busen hin. – Des Fürsten Edelmuth war seiner würdig; er rettete meinen Mann, und hatte ihm meine Befreiung versprochen. Er hat sie großmüthig ausgeführt, da er mich der Trefflichsten aller Fürstinnen übergab. – Schmeichlerin! – [306] Aber – – – Was, aber? dacht' ich erschüttert. – Aber hat der Fürst Dir nie von Liebe vorgesagt? – Es wäre Anmaßung, diesem Worte mehr Bedeutung zu geben, als es im Weltgebrauche hat, wenn Männer von Ton und Rang es gegen Geringere aussprechen. – Du weichst mir aus, Ida! die Blicke des Fürsten redeten bestimmter. Du verkennst mich, Ida! (sie zeigte auf ihr Herz). Hier liegt etwas, das die Schwächen Anderer rechtfertiget; aber sag' mir nur, Kind, ist der Fürst nicht höchst liebenswürdig? – Er ist edel und liebenswürdig, groß und gut. – Du sprichst aus meiner Seele; zum Andenken dieses Augenblicks trage dies. – Sie zog einen schönen Ring vom Finger, und steckte ihn selbst an den meinigen. Ich bückte mich, ihre Hand zu küssen; da fiel das Kreuz von Popoff aus meinem Busen in meine [307] Hand, und mit ihm fielen mir seine Worte aufs Herz. Ich fühlte meine Errettung, und gelobte mir heilig, selbst thätig zu seyn, ohne Wunder zu erwarten.

Jetzt kamen die Frauen der Fürstin, und kleidrten sie an; ich begab mich in mein Zimmer, und diesen und den folgenden Tag fiel weiter nichts vor.

Es schien mir am dritten Tage von übler Vorbedeutung zu seyn, daß Madame Lebrün mir schon früh sagen ließ, sie werde in meinem Zimmer frühstücken. Sie erschien mit einer Freundlichkeit, die ihr nicht natürlich war, und die mich auf etwas besonderes vorzubereiten schien. Nach dem Frühstücke fragte sie mich um Verschiednes aus meinem vorigen Leben, hielt sich besonders bei dem Umstande auf, daß ich eine verlaßne Frau sei, holte noch weiter aus, und dann lenkte sie plötzlich wieder mit der [308] Äußerung ein: daß die Fürstin mich gern versorgt sehn würde, wenn sich eine Parthie fände. – Gott! will denn jetzt schon die Fürstin mich los seyn? Unter ihrem Schutze habe ich mich für versorgt gehalten! – Sie würden es seyn, wenn nicht gewisse Besorgnisse – – gewisse Blicke – – – Sie verstehn mich wohl. – Sollte der Geschmack von der schönsten Rose auf eine gemeine Feldblume fallen können? – Man hat Beispiele. Denken Sie indeß auf den Vorschlag, den Ihnen die Fürstin wegen einer Heirath macht. – Ich gab zu verstehen: ich glaube, der Vorschlag komme von ihr selbst. – So? das ist also mein Dank! O, mein Kind, man fürchtet sich nicht so geschwind vor jedem Dinge, das ins Haus geschneit kommt! Alte Dienste und geprüfte Treue vergißt man nicht um jeden Fremdling, der, wer weiß woher? [309] kommt. Sagen Sie mir doch, warum ich Sie gern los seyn sollte? Hm! mich verdrängt keiner; am wenigsten certaines gens, (gewisse Leute), die Monseigneur empfiehlt. Als die Alte mich tief genug gekränkt und gedehmüthigt sah, schien ihr Stolz befriedigt zu seyn, und sie sprach gelinder. Es hätte sich wirklich eine Parthie gefunden, welche die Fürstin für mich zu machen wünsche: ein junger hübscher reicher Mann, der mein Landsmann sei. Sie müsse nur sagen, daß er mir heute Abend vorgestellt werden sollte. Ich könne ihn doch wenigstens sehen, denn sonst müsse die Fürstin meine Weigerung auf eine gewisse Rechnung setzen. – – Mir ist nicht bange ihn zu sehn, Madame; wenn er hört, daß ich verheirathet bin, wird er nicht mein zweiter Mann seyn wollen. – Verheirathet? Hoho! ein entlaufner Mann ist kein [310] Mann! Das ist plaisant! Und dafür sind die öffentlichen Blätter; zitirt und geschieden, das ist bald gemacht! Damit ich's kurz mache: auf dem jetzigen Fuße bleiben Sie nicht länger bei der Fürstin. Soll die Gute sich zu Tode härmen?

Die Französin betrieb ihr Werk so emsig, daß sie gegen Abend wirklich einen Mann bei mir einführte; (ich darf nicht übergehn, zu sagen, daß sie mich den Tag über offenbar absichtlich von dem Zimmer der Fürstin abgehalten hatte, unter dem Vorwande: diese Dame sei an den Hof gegangen). Der Mann ging strotzend, in schönen Kleidern, welche wie die abgelegte Garderobe eines Vornehmen aussahen; seine Haltung stand im auffallendsten Kontraste mit seinem Anzuge, welcher durchaus seinem Stande nicht zu entsprechen schien. Er fragte seine Führerin sogleich etwas [311] ungeschickt: ist das die Madame? Sie bejahete es, nöthigte ihn, ohne mein Zuthun, zum Sitzen, und fing an, von seiner neuen Equipage mit ihm zu sprechen; offenbar, um mir eine hohe Meinung von ihrem Schützlinge beizubringen. Während dieser Unterhaltung strickte ich; denn jene hatten sich's ebenfalls so ganz bequem gemacht. – Wie geht's im Klub? – fragte die Lebrün. Ach, antwortete er, es ist für mich jetziger Weile eine böse Zeit! Ich verlor gestern drei Robber nach einander, und da waren dreißig Rubel heidi, als wenn man sie weggepustet hätte. Nach ähnlichem, hin und wieder geredeten, Geschwätz wendete er sich an mich: Die Madame sind aus Berlin? – Wenigstens aus der Gegend. – Also wohl vom Lande? der Herr Papa war vielleicht ein Prediger? – Nein, mein Herr, ein Amtmann. – Ja, das Berlin [312] ist auch ein schöner Ort. Meine Eltern wohnten in der Fischerstraße, und hatten hernach ihr Häuschen im Vogtlande. Sie hatten ihr gutes Auskommen; aber wir Kinder richteten unsern Sinn immer aufs Ausland, und nun bin ich ein Russe geworden. Wo unser einer sein Stückchen Brod hat, da ist man zu Hause. – Sie haben wohl Recht, mein Herr, in dem schönen Petersburg und unter seinen guten Einwohnern kann man Berlin wohl vergessen. – Na, ich höre schon, die Madame verlangt auch nicht wieder zu Hause. Ja, wenn's einem vollends nicht sonderlich an 'nem Orte gegangen ist! – – Ich wurde roth, und fühlte meine Stirnader anschwellen. – Der Herr Liebste war ein königlicher Bedienter? – Er diente dem Staate bei einer Kasse. – Und ist? – Auf Reisen gegangen, sagt' ich hastig, das Folgende [313] abzuschneiden. – Ja, ja! sagte er dumm lachend, als wollte er zu verstehn geben, er wisse es besser. – Ich stand, oder sprang vielmehr auf; und als er mich beleidigt sah, bat er auf eine tölpische Art um Verzeihung, und platzte nun mit der eigentlichen Absicht seines Besuches heraus, weil ihm bange wurde, ich möchte ihm entwischen. Er stelle sich vor, daß eine Person in meinen Umständen nicht viel Wesens machen werde; er habe sein reichliches Brod, und beschäftige in der Zeit der Hoffêten über zwanzig Gesellen; er wolle eben nicht prahlen, aber er tausche mit keinem Berlinischen Kriegsrathe; – ich solle mich bedenken; – es sei doch hart, andrer Leute Brod zu essen; eigner Heerd sei Geldes werth, u.s.w. – Ich stand stumm, versteinert, voll Schmerz und Reue; war es so weit mit mir gekommen? O, ehrwürdiger Eiche, [314] wie schwer wurdest Du jetzt gerächt! – – Madame Lebrün sah mich gleichgültig an, und sagte dann störrisch: Herr Große, wir wollen der Madame Zeit zum Überlegen lassen; in zwei Tagen geht die Fürstin nach den Gütern zurück, und ich verspreche Ihnen, während dieser Intervalle soll die Sache abgethan werden. – Herr Große, der Schneider, machte einen linkischen Bückling, und ich blieb allein; allein, in einem Augenblicke der entsetzlichsten Zerrüttung aller meiner Gemüthskräfte! – Ich sah kein Mittel, mich der Fürstin zu nähern, wenn die boshafte Französin mich von ihr entfernt wissen wollte. In zwei Tagen schon verreisete sie. Dem Fürsten mich zu entdecken, war gefährlich; Michael Popoff hatte ich lange nicht gesehen. Gott, welche Verwirrung! in einem fremden Lande! In der fürchterlichsten Angst meiner Seele [315] knieete ich vor meinen Stuhl hin, und das Kreuz erinnerte mich abermals an die Worte meines ehrwürdigen Alten; ich blickte sehnsuchtsvoll zum Himmel auf, und ergriff die Feder, um einige Zeilen an Popoff zu schreiben. Ich bat hn dringend, zu meiner ner Rettung herbeizueilen. Wie ich ihm dies Billet zustellen würde? wußte ich nicht. Jetzt hörte ich den Ofenheizer auf dem Gange; er war ein Kosake, mit der ehrlichsten Bildung; konnte aber kein Deutsch. ich nannte ihm den Namen Michael Popoff, er verstand mich, ich reichte ihm meinen Zettel, und zeigte ihm das Kreuz: er sollte um diesen willen mir helfen. Der ehrliche Mensch fiel demüthig auf seine Kniee, küßte die Erde, verrichtete eilig seine Arbeit, und eilte dann mit dem Zettel fort. Ich war voll Angst, wie das ablaufen würde. Nach einer Stunde kam der brave Priester selbst.

[316] Er redete mich bekümmert an, und fragte: was ist Dir, meine Tochter? Ich erzählte ihm weitläuftig den Vorgang der letzten Tage; mein Gespräch mit der Fürstin, bis auf den Abschied des Meister Große. Der Fürst darf es nicht erfahren, – sagte er; – aber die Fürstin mußt Du sehen. Sie wird von Czarskojeselo zurückerwartet. Ich werde sie erst sprechen, und Dich dann zu ihr führen. Mit diesen Worten verließ mich mein guter Engel. Beruhigter erwartete ich nun den Ausgang.

Spät, als ich nichts mehr hoffte, kam der ehrwürdige Mann zurück, und rief mir die frohe Nachricht entgegen, daß ich sogleich zur Fürstin kommen sollte. Ich folgte seiner Anweisung mit klopfendem Herzen. Die Fürstin saß halb entkleidet, und winkte mich liebreich an sich heran. – Du bist bekümmert? Tochter! O, Du mußt [317] nicht weinen! (mir waren Thränen in's Auge gestiegen); nein, nein, ich war heute so glücklich! so unbeschreiblich glücklich! meine arme Kleine, Du sollst nicht weinen. – Aber so erzähle mir doch. – Ich sah schüchtern um mich her. – Nein, nein, sagte sie lachend; sie hört Dich nicht. – Sprich, sprich wie es aus Deiner Seele kommt. – Ich knieete neben dem Sopha, und sprach ganz nach dem Eindrucke der Kränkung, die mir widerfahren war. Die Prinzessin hörte mich geduldig an, und sagte einigemal: armes Kind! Ach freilich! – brach sie endlich mit Rührung aus, – es ist schrecklich! Demetrius und der Schneider! – Ich fiel zusammen, als ich sie so sprechen hörte. – Es ist kein Vorwurf, Liebe, (fuhr sie fort); ich kann das jetzt ruhiger sagen, da mir ein schöneres Glück aufgeht. Ida, bald hab' ich gesiegt! meine[318] Liebe, meine Beharrlichkeit wird das schönste der Herzen überwinden. O, es ist ein Himmel, wenn die Liebe mir aus diesem strahlenden Auge lächelt! Ida, vollende, mach' mich ganz glücklich. – Ich? meine Fürstin! mein Leben – – Nichts vom Leben, Du sollst nicht sinken, um mich auf den Thron seines Herzens zu heben; aber sehen, sehen muß er diese himmelsüßen Reize nicht mehr! Jetzt nichts mehr. – Sie schellte, ihre Frauen erschienen, sie ließ sich ein zierliches Nachtkleid anlegen, und war nun unwiderstehlich schön.

Nach der Abendtafel befahl sie mir, ihr zu folgen. Die Lebrün war krank; ein Schälchen zu viel hatte ihr einen Krampf zugezogen. Wir bestiegen eine kleine Schaluppe auf dem Nevakanal; es begann ein Genuß für mich, dessen ich mich nie ohne Rührung erinnern werde. In dieser unbeschreiblich [319] lieblichen Dämmrung einer solchen Sommernacht hörte man das taktmäßige Plätschern der herumrudernden Schaluppen, von welchen froher Volksgesang, zuweilen auch der majestätische Ton der russischen Jagdmusik erklang. Eudoxia saß in süßem Schlummer versenkt; ich wagte es nicht, diese heitre Stille ihrer Seele zu unterbrechen. Sie winkte ihren Jägern, mit der Waldmusik zu schweigen, ließ sich die Mandoline reichen, und sang eine russische, sehr schmelzende Arie. Liebe und Bewundrung durchschauerte mein Herz gegen diese unvergleichliche Frau. Wie schön mußte diese Natur seyn, daß eine Lebrün nichts darin verderben konnte! – Nach dieser gefühlvollen Szene folgte eine Stille, während welcher ich mich ehrerbietig zurückzog; denn ich sah ihre Seele tief bewegt, und in sich beschäftigt. Wie aus einem [320] Schlummer erwacht, rief sie mich; ich mußte dicht neben ihr sitzen, und sie lispelte mir zu, indem sie ihre sanfte Hand auf meine Schulter stützte: Ida, ich sehe, Du liebst mich; Dein Herz steht in Deinen Augen. Es ist mir hohes Bedürfniß, ein fühlendes weibliches Herz an meiner Seite zu haben; aber um Dein, um mein und um noch eines Dritten willen, es kann nicht seyn! ich muß Dich aufgeben! Erschrick nicht, meine Arme; ich baue mein Glück nicht auf Deinen Untergang. Ich habe eine Jugendfreundin in Deutschland, die Herzogin von ; ihr Gemahl vernachläßigt sie; Du sollst ihr Trost seyn. Ich schicke Dich zu ihr; Popoff begleitet Dich. Ich statte Dich aus, und Du bleibst, wenn gleich fern von mir, meinem Herzen stets theuer. –

[321] Ich willigte ein; mir blieb keine Wahl. Das süße Wort Deutschland war wie der schönste Wohllaut mir in's Ohr gefallen. Ich fühlte mich erleichtert, und doch beklommen, wenn ich mir die Trennung von diesem Engel dachte. Noch verstrichen vierzehn Tage unter ausharrender Liebe und Freundlichkeit von Seiten der Prinzessin, und herzlicher, dankbarer Ergebenheit von der meinigen. Selbst die Lebrün kam mir mit Freundschaft entgegen, sobald es ihr gewiß war, daß ich reisen würde. Nur einmal noch sah ich den Fürsten. Er trat unerwartet ins Zimmer seiner Gemahlin; sie war froh bestürzt, und sah mit einiger Unruhe auf mich hin. Ich war im Begriff, mich zu entfernen: der Fürst konnte das nicht geschehen lassen, ohne etwas zu sagen; es wäre Affektation gewesen zu schweigen. Es thut mir leid, sagte er, wenn ich [322] jemand von einer so schönen Stelle vertreibe; er zeigte galant auf den Platz, den er, seiner Gemahlin gegenüber, eingenommen hatte. Die Fürstin nahm diese Gelegenheit wahr, ihm zu sagen, daß ich sie in Kurzem verlassen würde. Die Probe war stark; aber er bestand sie, und erkundigte sich mit fester Stimme, wohin ich zu gehn gedächte? und warum ich ein andres Haus dem Schutze der Fürstin vorzöge? Er hoffe allerdings, daß meine Angelegenheiten in Berlin unterdeß eine günstigere Wendung genommen haben würden. – Darauf hab' ich nicht zu rechnen, – sagte ich; das übrige beantwortete die Fürstin mit der ihr eigenthümlichen Klugheit. Der Prinz sagte, sich verneigend, einige russische Worte, worüber sie sehr vergnügt schien; und als er sie bald darauf verließ, fiel sie mir entzückt um den Hals. Ich danke Dir, – rief sie [323] freudig, – ich danke Dir, daß Du ihn mir wiedergiebst! O Ida, wie kannst Du meinen heldenmüthigen Demetrius aufgeben! – Meine theuerste, gnädigste Frau, seyn Sie nicht ungerecht gegen sich selbst; dies Gesicht neben diesem! – Dies sprach ich mit inniger Überzeugung. Ich verlor mich gegen die strahlenden Reize dieser Frau, wie ein gemeines Blümchen am Wege gegen die prachtvolle Lilie, oder die schönste Rose. Die Wolken des Kummers waren nun von der schönen Stirn verschwunden, und ihre Reize gingen mit neuer, anziehender Kraft hervor.

Dies war die letzte Zusammenkunft, welche ich mit dem Fürsten gehabt habe. Ich habe ihn nicht wieder gesehen. Die Fürstin besorgte mütterlich meine Ausstattung, wie sie es nannte, beschenkte mich mit Kostbarkeiten von hohem Werthe, worunter [324] ihr Bild mir unschätzbar ist; und damit meine künftige Existenz gesichert sei, setzte mir die Gütige zweihundert Rubel jährliche Pension aus, die ich, so lange ich lebe, unter allen Lagen, worin ich noch kommen kann, von einem Berliner Banquier hebe.

Den Abschied aus diesem Hause überhebe ich mich zu beschreiben. Ich schied wie von meinem eignen Herzen, als ich ihre Hand zum letztenmal an meinen Lippen fühlte. Da ich schon ihr Zimmer, aufgelöset in Thränen, verlassen wollte, hielt sie mich noch zurück; sie öffnete ein Kästchen, und überreichte mir ein Miniatürgemälde des Fürsten. Sie müssen ihn nicht vergessen, den Edlen, – sagte sie. Alexander war nicht tugendhafter, als er die Gemahlin des Darius zurückschickte! Sein Bild und das meinige müssen ungetrennt [325] in Ihrem Herzen leben! – Dieser Zug ihrer großen Seele überwältigte mich. Ich sank auf meine Kniee, was ich sagte, weiß ich nicht mehr; aber sie fühlte sich mächtig ergriffen, warf mir einen Kuß zu, und verschwand, innigst erschüttert, in ihr Kabinet.

Popoff, welcher diesem Auftritte beiwohnte, flossen die alten Augen über; er schob mich sanft zur Thür hinaus, und einige Stunden nachher traten wir unsere Reise an. Sie ging über Warschau, durch einen Theil von Preußen, die Neumark, u.s.w. Sobald ich mich den Gränzen meines Vaterlandes näherte, erwachte mein Herz zum Dankgefühl für so manche Rettung. O, mein Vater! ich vernahm, daß Sie lebten; daß Sie Ihre ungehorsame Tochter aufgegeben hätten; daß meine besseren Brüder die Flüchtige Ihrem Herzen tausendfach ersetzten! – O, was hört' ich [326] nicht alles, wobei ich weinte und schwieg! Seitdem ich den theuren Vater verlassen hatte, war Weinen mein Loos gewesen, und der Quell meiner Thränen war jetzt beinahe versiegt.

Wir setzten unsre Reise ununterbrochen fort, hielten uns nur auf, den Pferden die nöthige Erholung zu geben, und so kamen wir ohne merkwürdige Ereignisse in , an dem kleinen Hofe der Fürstin von an. Sie war durch Briefe der Prinzessin Eudoxia benachrichtigt, und günstig für mich eingenommen worden. Ganz das Gegentheil hatten aber diese Empfehlungen für mich bei ihrem Hofstaate bewirkt, insonderheit bei den Kammerfrauen, unter welchen mir eine Stelle angewiesen wurde. Sie haßten mich schon vorher, hatten sich vorgenommen, der Neueingetretnen das Leben sauer zu machen, und sie haben redlich [327] Wort gehalten. Ich wurde in die Garderobe geführt, und bald kamen, unter mancherlei Vorwand, hohe und niedre Hofdiener und Dienerinnen, mich zu mustern. – Was Hagedorn irgendwo sagt, daß nichts verwegner, stolzer und kühner, als großer Herren kleine Diener sind, fand ich hier sehr genau bestätigt. Noch hatte ich den ehrlichen Vater Popoff an meiner Seite. Sein befurchtes Gesicht und schneeweißer Bart machten hier einen seltsamen Kontrast gegen die flachen, nichtssagenden Physiognomieen. – Nachdem ich einige Stunden zur Schau gesessen, und manche unbescheidene Frage beantwortet hatte, wurde ich zur Fürstin abgerufen. Ich ging mit unbekümmerten Herzen, denn hier flößte mir nichts Scheu oder Ehrerbietung ein; auch fühlte ich, daß mir die Aufnahme der Gebieterin dieser leichten Menschen gleichgültig [328] seyn würde. Ich fand sie nach vollendeter Toilette im üppigsten Morgenkleide. Sie war sehr schön; aber eine auffallende Ähnlichkeit mit Marianen von Lindenfels, deren verderbender Umgang meinem Betragen eine so entschieden unglückliche Richtung gab, erschreckte mich; eben der Blick, eben das Spiel muthwilliger schwarzer Augen, nur die Stimme war weicher und weiblicher. Ihre Freundlichkeit hätte verführerisch seyn können, wäre mein Herz nicht verwöhnt gewesen, und hätte es nicht verglichen. Da verlor sich aber die Anwesende in den tiefsten Schatten, neben der strahlenden Glorie der himmlischen Eudoxia. – Ich gefiel, ohne gefallen zu wollen; denn die Fürstin gefiel sich bei einer genauen Zergliederung meiner Gestalt und Bildung, wobei ich mehr als einmal roth wurde. Mit meinen kleinen Talenten war [329] sie ebenfalls zufrieden. Von ihrer Freundin, der Fürstin Eudoxia, war ihr nichts wichtig, als ob sie noch so schön sei? ob das Feuer ihrer Augen noch unvermindert, und der weiße Busen fest und rund wäre?

Diese Audienz endigte damit, daß ich zur Vorleserin bestätigt, und auf den Hofetat unter den Kammerfrauen aufgeführt wurde. Sobald diese es erfuhren, erstickten sie mich mit Liebkosungen und Umarmungen. Die Fürstin fand den Namen Ida süß und romantisch, und alle fanden es so, und nannten mich die schöne Ida. Was mir vor Augen geschah, hätte mich vergnügen sollen, aber ich war von Herzen betrübt; denn mein väterlicher Freund, Michael Poposf, hatte mich verlassen, und es war vorauszusetzen, daß ihn meine Augen nie wiedersehen würden. Da erst ekelte mich die Freundlichkeit der mir so fremden [330] Race recht sehr an; es war nichts von dem natürlichen, liberalen und frohen Wesen der Pallastbewohner in Petersburg; selbst die herbe Natur der Lebrün war mir lieber, als das Lachen dieser, zum Lachen immer offnen, Mäuler. Die Fürstin war gütig, zu gütig gegen mich; aber dieser Güte fehlte das Herzliche und Rührende von Eudoxia's holdem Wesen. Oft las ich noch spät nach der Abendtafel, wenn die Fürstin sich schon zur Ruhe gelegt hatte; sie selbst suchte die Stücke aus, welche ich lesen mußte, und ich gestehe, daß es immer solche waren, welche die geheimsten Tiefen der Sinnlichkeit aufregten. Dann mußte ich mich ganz nahe zu ihr setzen, sie schlang ihren Arm fest um mich, und ließ ihre Finger sich so verirren, daß ich Fassung und Stimme verlor. Sie schmiegte ihr Gesicht an meinen Busen, und ließ sich [331] zu Küssen herab, welche sie erwiedert haben wollte; aber, ich weiß nicht welch' eine unüberwindliche Abneigung sich dann meiner bemächtigte, so daß ich mich zuletzt mit Angst und Schaudern dem Lesekabinette näherte.

Unter ähnlichen Beschäftigungen und dem einförmigen Wogen des Hofgeräusches vergingen sechs Monate. Die Gunst der Fürstin und der Neid der andern nahmen zu. Ich fand meine Lage so widrig, daß ich schon mehr als einmal meinen Abschied fordern wollte, als ein unerwarteter Vorfall ihn mir plötzlich verschaffte. Die Fürstin war einige Tage kränklich, oder vielmehr in einem schmachtenden Zustande gewesen, wobei sie über Krämpfe klagte. Ich durfte ihr Zimmer und ihren Sopha keinen Augenblick, auch bei Nacht nicht, verlassen. Sie ruhete in meinem Arm, und ihr Benehmen [332] wurde mir immer räthselhafter. Sie hing oft lange mit wollüstigen Küssen an meinen Lippen, welche sie Rosenlippen nannte; mein Halstuch lösete sie unter dem Vorwande auf, daß es sie drücke, wenn sie an mir ruhe, und bald war ihr dieses, bald jenes meiner Kleidungsstücke zu ihrer Bequemlichkeit im Wege. – Ich wünsche einen dichten Vorhang über die Begebenheit, und über die Schrecken des letzten Augenblicks, der mich auf ewig von ihr trennte, ziehen zu können; – ein Augenblick, wo die letzte und schwächste der Schranken durchbrach, die ihre strafbare Sinnlichkeit gehalten hatte. Sie stürmte wie ein gewaltiger Strom auf mich los; empörte Sinnlichkeit des ungestümsten Mannes kann nicht gewaltsamer seyn! Ich rang, stieß die Wahnwitzige zurück, und sank betäubt, oder vielmehr ohnmächtig, zu Boden hin. [333] Da hörte ich sie ihre Glocke anziehen, die aufwartende Kammerfrau erschien, und die aufgebrachte Dame befahl, man solle mich wegschaffen, ich habe sie im konvulsivischen Anfalle erdroßeln wollen. – Die letzten Worte vernahm ich, ungeachtet meiner Betäubung, sehr deutlich; o nein! nein! rief ich unvorsichtiger Weise, indem ich mich aufrichtete. Kaum hörte die Fürstin meine Stimme, welches sie vermuthlich besorgen ließ, ich würde mich deutlicher erklären, so schrie sie, gleich einer Wüthenden, man möchte eilen, mich fortzuschaffen, sie fürchte den Anblick des Wahnwitzes. Die dienstfertige, innerlich höchst erfreute, Kammerfrau machte mit kummervoller Miene Anstalt, mich fortbringen zu lassen; aber ich ersparte dem armen Dinge die Mühe, und ging ganz fest nach dem Entresol, wo meine Kammern waren. Bald nachher erschien [334] der Leibarzt, legte mir besondre Fragen vor, und schien verwundert, daß ich nicht irre redete. Er war so fest von der Wahrheit der fürstlichen Aussage überzeugt, daß er, als ich sagte, ich habe längst schon gewünscht, diesen Hof zu verlassen, sehr weise meinte: ach, nun merke er; ich habe mich also irre gestellt! Was für verschrobene Menschen sind diese Hofschranzen größtentheils! Ich hatte Mühe, mich ihm verständlich zu machen, ohne die Fürstin zu kompromittiren. Er verordnete mir zum Schein ein kühlendes Tränkchen, und dieser Tag, der so fatal für mich angefangen, endete mit der frohen Aussicht, nun bald im vollen Genusse der Freiheit zu seyn, mich meinem Vaterlande wieder zu nähern, und mich um die Verzeihung meines geliebten Vaters zu bewerben. Der Hofmarschall hatte schnell meinen Abschied ausgefertigt, [335] und in der kleinen winzigen Stadt und am Hofe selbst ging die Rede: ich habe im Zimmer der Fürstin ein Kind bekommen. Einige wollten sogar den derben Knaben schreien gehört haben. – Die diensthabende Kammerfrau affektirte ein geheimnißvolles Wesen darüber, und bestätigte dadurch die Sage.

Ich brachte seit langer Zeit die erste, recht ruhige und vergnügte Nacht zu. Am frühen Morgen kam der Leibarzt, und bot mir zur Abreise die Gesellschaft seiner Frau an, die ins Bad reisete. Ich bedachte mich nicht lange, packte mit frohem Sinne meine Effekten zusammen, und fuhr ab, ohne die Fürstin noch einmal zu sehn. Ihretwegen hatte ich darum angehalten, aber ihre Weigerung war mit sehr angenehm; denn ich würde mich ihr nicht ohne Schaudern und Abscheu genähert haben. Wie so ganz [336] anders verließ ich den Engel Eudoxia! nie, nie wird das Bild dieser Tugend aus meinem dankbaren Herzen weichen!

Von dem Örtchen, welches ich vorzugsweise vor der Hand zu meinem Aufenthalt wählte, erinnerte ich mich, in meiner Kindheit viel Gutes gehört zu haben. Die Vorsehung selbst hat mich in diese Gegend geführt, wo ich meine edle Verwandtin, und den über alles, alles theuren Vater so unverhofft angetroffen habe! Will er, der allerbeste und treuste, mich neben sich leben lassen, so soll jeder Augenblick meines Lebens seiner Pflege und Erheiterung geweihet seyn! Vielleicht duldet er mich! Die Großmuth der tugendhaften Russin setzt mich in die glückliche Lage, niemanden mit meiner Versorgung beschwerlich fallen zu dürfen. Wenn meine redliche Verwandte es vergessen können, daß mein Leichtsinn jede [337] Freude des Lebens ihnen raubte, daß ich strasbar wurde, um mir ein Glück auf seichtem Grunde zu bauen, daß jeder Schein wider mich war, daß ich einer strafbaren Neigung nachhing, und der beßren Frau den Mann raubte; daß ich einem fremden Manne in ferne Gegenden auf seinen leisesten Wink folgte; daß ich, am Rande des Abgrunds, dem eitlen Gedanken, er könne mich zu seiner Gemahlin erheben, nachgab; wenn dies alles vergessen werden kann; ich meine, wenn Andre dies vergessen könnten, so giebt es noch ein Glück für mich, in so fern das marternde Bewußtseyn der Fehlenden sie es genießen läßt.

Während ich dieses Heft übergeben habe, während es gelesen wird, wird mein Herz in Ungewißheit verzagen. Aber meine edle Minna wird mich vertreten; sie wird die [338] Urtheile mildern, wo sie hart über mich ergehen. Aber o mein Herz, sey still! Hast Du nicht am Herzen der verzeihenden Karoline, am Herzen des versöhnten Vaters geschlagen? Sey still, demüthig, und hoffe! –«


Grünthal an Eiche.


»Und nun, mein lieber Freund, wenn ich je in Ihrem Herzen zu lesen wünschte, so wäre es jetzt! Unwille, oder Mitleid? freilich, freilich; – – die Szene in Petersburg, mit dem Demetrius – sie ist ganz stark; aber doch, mir hat die Haut geschauert, ehe sie fiel, und sich den Kopf zerschlug. – Ich dachte wahrhaftig, sie würde ganz anders fallen. Es war ein glücklicher Fall, der sie wieder zu sich brachte. Eiche! Ich rede in der Freude meines Herzens! Wenn Sie könnten: [339] wenn Sie nichts verschworen hätten! Aber nein, nein! es geht nicht, es geht freilich nicht, Sie haben Recht; wären Sie nicht in einem Amte, wo Sie so hell und rein strahlen müssen, so ging's noch eher. Lesen Sie dies lieber nicht; ich will Sie nicht beleidigt haben. Antworten Sie mir auch darauf nicht. Ich könnt' es nicht ertragen. Die Freude hat mich toll und laut gemacht; aber wir sind alle nicht um ein Haar anders; der Oberst wie wir Verwandte, die fremde Frau da, die Minna, wie der Oberst. Hören Sie, ich bin so jung geworden, als wär' ich mein Sohn. Aber Sie sollten sie auch sehen, und hören. – Das muß man der Welt lassen, sie versteht ihre Leute zu dressiren – was wir gemein gegen sie aussehen! Und wie das Gesichtchen so ein edles Gepräge bekommen hat. Doch Sie werden sie schon [340] einmal sehen; ob ich gleich nicht glaube, daß sie Ihnen ins Gesicht wird blicken können; denn ehe man sichs versieht, weint sie, und klagt sich an. Ich glaube, wenn der Hagel meine Kornfelder zerschlagen hätte, würde sie sich dessen anklagen.

Bei dem Allen sind wir noch unentschlossen, wie wir leben wollen. Der Neffe und die Nichte wollen uns nicht lassen, und auch mir ists, als müßt ich hier bleiben, wo sie mir wiedergegeben ist. Da hat ihr der Neffe ein Haus und Garten geschenkt. Er sagt, sie sey im Grunde doch die unmittelbare Ursach, daß er seine Lina habe. – Nicht weit von uns wohnt die Frau Minna, die einen ganz gescheuten Mann haben soll. Mein Sohn, der Amtmann, ist auch nur ein vier Meilen von hier; nur dem armen Fritz, dem Tischler, kann ich nicht zumuthen, daß er Särge [341] für Bauern mache. Wer hätte gedacht, daß der Himmel mir einst so noch wieder lachen würde! Aber Sie haben mir wohl mit Recht immer gesagt: ›Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut.‹

Die jungen Leute rufen nach dem Alten; ich verlasse Sie, weil mir so wohl ist, daß ich mich ausjauchzen muß! Gott grüße und bewahre Sie.

Ihr

Grünthal


Eiche an Grünthal.


»Gott Lob, daß Ihnen wohl ist, mein Freund! Ihre Freude verbreitet einen heitern Schein über meine Tage; wie Ihr Kummer auch die meinigen trübte! Ich werde Sie so bald noch nicht sehen, weil mein Kollege verreiset ist; aber sobald er zurückkehrt, komme ich zu Ihnen, um mich [342] ein Paar Tage mit Ihnen zu freuen. Doch muß ich zuvor wissen, ob meine Gegenwart auch niemanden unangenehm seyn könnte. In diesem Fall würde ich mir auch dieses schönste aller Vergnügen versagen, noch einmal mit meinem alten Freunde einige frohe Tage auf dem Lande zu verbringen; denn in Zukunft, mein Freund, werden neue Verpflichtungen mich an meinem Wohnort festhalten. Die Tochter meines Kollegen willigt ein, mein kleines Loos mit mir zu theilen. Ein gutes mildes Herz, und ein sehr gebildeter Verstand, der ihr einen zuverlässigen Karakter gab, lassen mich auf eine heitre Zukunft rechnen. Sie gönnen es mir von Herzen, mein Lieber, das weiß ich. –

Gestern hatte ich einen Vorfall, der mich sehr sonderbar bewegt hat. Mein Aufwärter meldete eine Frau mit einem [343] Kinde bei mir an, welche sich wegen Armengelder meldete. Ich ließ sie vor: mit einer Art von alter Vertraulichkeit drängte sie sich zu mir; ihr schlechter Anzug hätte sie mir unkenntlich gemacht, wenn nicht der alte Schwall von Worten mit die Madam Brennfeld verrathen hätte. Sie schalt sehr bitter die Intoleranz der Menschen, welche sie ausgestoßen hatten, nach dem Beweiß, den sie von ihrer eigenen toleranten Denkart gegeben hatte. Sie habe den Vater ihres Kindes heirathen wollen, aber da sie standhaft darauf bestanden, er müsse ein Jude bleiben, habe kein Geistlicher sie trauen wollen. Nun sey ihre Kostschule auseinander gegangen. Ihr Liebhaber habe sich mit einer jungen reichen Person seiner Nation verheirathet, und ihr Vetter, der Kandidat, sey in einer entfernten Provinz versorgt, habe die Philosophie [344] aufgegeben, und sey nun von ganzem Herzen bigotter Priester. Ihre Lage sey traurig: aber sie rechne auf Unterstützung, weil ihre Verdienste um den Staat, in Bildung einer künftigen Generation, auffallend genug wären. Man könne sie nicht abweisen, wenn sie Pension fordre; indeß wolle sie sich mit dem dürftigen Antheil, den ich ihr reichen könne, begnügen Ich hatte nichts zu vertheilen, und gab ihr aus meinen Mitteln; sie nahm es mit ihrem bekannten Übermuthe an; und that, als ob sie Wohlthat erwiese, indem sie Wohlthat empfing. – Ich hoffe nicht, daß ich diese unangenehme Erinnerung öfter sehen werde: sie ist mir ein Vorwurf meiner unbesonnenen Leichtgläubigkeit. –

Etwas Angenehmeres hoffe ich Ihnen in diesem dicken Pack von Ihrem guten Sohne Fritz zu überschicken; fällt Ihre [345] Antwort günstig, das ist bejahend, aus; so ist er nächstens bei Ihnen, und holt Sie alle zur Hochzeit ab. Wie auch alles gehe, so rechnen Sie immer auf einen Freund, der in frohen und trüben Tagen ganz Ihr eigner war und bleiben wird.

Eiche


Fritz Grünthal an seinen Vater.


Liebster Vater!

»Mein letzter Brief aus Neuwied benachrichtigte Sie, daß ich nächstens meine Rückreise aus Neuwied nach Berlin antreten würde. Der Abschied von einem Orte, und von Personen, bei welchen mir so mannichfaches Gute wiederfahren ist, war nicht leicht Auf meiner Heimreise wiederfuhr mir etwas Seltsames, lieber Vater. Nach einem heißen Tage zog ein Gewitter auf, und ich übernachtete auf einem Edelhofe, [346] wo ich eine Dame traf, die meiner verlornen Schwester so ähnlich sah, so ähnlich! daß ich wetten wollte, sie sey es selbst gewesen; nur, daß sie mir größer, schöner und stärker vorkam, und ihre Stimme voller und wohllautender war. Die Dame erschrak, als sie mich sah und sprechen hörte, und schaffte mich fort; so daß eine Freundin mich für die Nacht aufnahm. Ich hatte nicht das Herz, mich näher zu erkundigen; denn, war es Julchen, so schien es, als ob sie sich meiner schämte; und dann würde ich mich ihrer ebenfalls schämen. Aber, lieber Vater, das thun Sie denn doch, und erkundigen sich in der Gegend, wer die Person ist, welche diese auffallende Ähnlichkeit an sich trägt? Es ist der Mühe werth, sie zu sehen.

Hier in Berlin bin ich wieder in meine alte [347] Werkstatt gegangen. Der gute Meister ist vor einem Jahre gestorben, und ich bin bei seiner Wittwe in Arbeit. Das ist eine herzensgute liebe Frau, wie Sie gleich hören werden. Der Erziehung und des Beispiels eingedenk, welches Beides ich von meinem ehrenwerthen Vater im Herzen trage, bin ich immer still und ordentlich gewesen, habe mich guter Arbeit beflissen, und bin Sonntags, wenn ich Zeit hatte, indes die Andern schwärmten, zu unsern Herrn Eiche gegangen; der mir dann dieses oder jenes gute Buch mitgab, woraus ich Abends, beim Feierabend, dem Meister und seiner Frau vorlas. Sie sahens gern, weil ich nichts damit versäumte, und die Andern oft damit vom Saus und Trunk abhielt. Da zeichneten mich die guten Menschen aus, und hielten mich wie ihr Kind; und ich habe oft Gott gedankt, daß [348] mein Entschluß, mich diesem Gewerbe zu widmen, unter so biedre Menschen mich versetzt hat, wenn gleich ihr Gepräge ein wenig scharf und eckig ist: so weiß man dagegen auch, was man an ihnen hat.

Wie ich nun zurückkam, fand ich die Meisterin als Wittwe wieder. Sie nahm mich freundlich bei sich auf, und übergab mir, gegen erhöhten Lohn, die Besorgung ihrer Geschäfte. Ich habe sie mit Fleiß und Treue betrieben; und es schien ein Seegen auf allem, was ich unternahm, zu ruhen. Vor einigen Tagen – es war eben ein Sonntag – ließ die Frau Hermannin mich zu sich rufen, und hieß mich neben sich setzen. Ich habs sonst nie gethan, denn ich respektire sie wie eine Mutter; sie redete mich so an. Mein lieber Monsieur Grünthal, Sie werden sich nicht wenig über das wundern, was ich Ihnen [349] zu veroffenbaren habe. – Ich vermerke, daß ich verfalle. – Ich bin nun ein und sechszig Jahr alt; und der liebe Gott kann bald ein Ende mit mir machen; obschon ich mich, dem Himmel sey Dank, noch ganz gut befinde. Mein Mann seeliger, hat mir ein großes Vermögen hinterlassen, welches er durch seinen Fleiß erworben hat. Nun säh' ich gern, – und wenn ers wissen könnte, würde er es auch gern sehen, – wenn das schwere Geld wieder an einen fleißigen Mann käme. Ich habe zwar Verwandte, das ist aber alles reiches und üppiges Volk; Leute vom Handwerksstande, die alle Tage dazu schaffen. Und wieder die andern – der Herr Vetter Hofrath da, ja, lieber Gott! für den waren wir immer viel zu schlecht; über seine Schwelle durfte mein Mann seeliger nicht kommen. So wollt ich Ihnen vorschlagen, [350] Monsieur Grünthal, ob Sie mich ehelichen wollen? damit Ihnen ohne Einrede mein Vermögen zu Theil werden könnte. Verstehen Sie mich nicht unrecht, und halten mich nicht für eine alte verliebte Schwester; über solche Schwachheit ist man, in meinen Jahren, hinweg. Sie sollen mein Sohn, und ich Ihre Mutter seyn; nur bloß daß der Priester den Seegen über uns spricht. Sie können hier im Hause wohnen, wo Sie wollen, und ich bleibe in meiner Verfassung. Nur das müssen Sie mir versprechen, daß Sie meine alten Tage nicht zum Besten haben wollen, und sich vor der Welt so stellen, als ob wir wie Mann und Frau lebten. Ich werde Ihnen auch nicht im Wege stehen, wenn Sie in Zucht und Ehren nach einem jungen Mädchen sehen, auch nicht drum zanken, wie die alten Frauen wohl zu thun [351] pflegen. Nein; Sie sollen sehen, wie es bei mir gemeint ist. Sobald wir getraut sind, mach' ich mein Testament; und Sie können mit dem lieben Gut schalten und walten, wie's Ihnen gefällt. Denn da Sie so überaus feine und künstliche Werke schaffen können, wird's was großes mit Ihnen werden, wenn Sie Auslage machen, und Ihr Werk im Großen treiben können. Nun, lieber Monsieur Grünthal, habe ich Ihnen weiter nichts zu sagen; antworten Sie mir nicht gleich; sondern nehmen Sie die Sache in Überlegung, und fragen Sie die Ihrigen, und Ihren würdigen Beichtvater um Rath. Hiermit Gott befohlen auf heute!

Meine Bestürzung war groß, lieber Vater, aber auch meine Dankbarkeit. Ich kann mein Leben darauf lassen, daß die respektable Frau es so meint, wie sie es [352] sagt. So lange ich sie kenne, ist ihr Wandel still und ehrbar, fromm und wohlthätig: ich habe ihren rechtschaffnen Gang oft im Stillen bemerkt, und mich gefreut, daß noch so viel Tugend in dieser übel berufnen Stadt ist. Überhaupt möcht' ich sagen, daß, so weit ich Gelegenheit gehabt habe, Bemerkungen zu machen, in dieser Klasse des Bürgerstandes, noch viel ächte Rechtschaffenheit, und viel, oft recht erhabne Tugend, ist; freilich ist ihr Gepräge altmodisch und schwerfällig, aber sie hat eine Zuverlässigkeit, von der die feinre Welt schon gar keine Ahnung mehr hat.

Ich bitte mir also Ihren Willen aus, mein lieber Vater, nach welchem ich unbedingt handeln werde. Herr Eiche hat mir im Voraus seinen Seegen gegeben, hat sich aber, wie er mir sagt, enthalten, Ihnen umständlich darüber zu schreiben, weil [353] er Ihre gute Meinung nicht bestechen wollte. Eine schöne Aussicht gewährt es mir, wenn ich durch ein so gutes Vermögen, welches ich durch Arbeitsamkeit noch vermehren würde, im Stande wäre, meinem über alles geliebten Vater ein ruhiges sorgenloses Alter zu verschaffen, und wenn es der Himmel gäbe, daß meine arme Schwester sich wieder fände, auch dieser ein anständiges bequemes Leben zu bereiten!

Mißbilligt aber mein bester Vater den ganzen Entwurf, so bin ich gewiß, daß er die verneinende Antwort so einkleiden wird, daß ich sie der gradsinnigen Frau mittheilen kann. Es würde ihr wackres Herz tief verwunden, wenn sie glaubte, ihr Vorschlag habe irgend eine lächerliche Seite. – Nehmen Sie mirs nicht ungütig, lieber Vater, daß ich so zutraulich und ganz schlicht weg schreibe; unser einer geht grade [354] durch; und derbe Arbeit gibt derben Sinn. Ich verehre und liebe Sie von ganzem Herzen, und bin Ihr gehorsamer Sohn.

Friedrich Grünthal


Grünthal an seinen Fritz.


»Da! da! Hier! nimm meinen Seegen, und herzliche Einwilligung; was denkst Du, Junge? Ich sollte eine lächerliche Seite an dem Benehmen der würdigen Frau auffinden? die meinem lieben Fritz so wohl will? Nein, mein gutes Kind! ich habe noch Glauben an Menschentugend, und ehre, wie Du weißt, die erwerbende und producirende Klasse von ganzem Herzen. Bringe Deiner neuen guten Mutter mein herzliches Ja! und Liebe und Dank daneben. – So giebt's denn aller Orten für mich Fried' und Freude, nach so mancher kummervollen Stunde. Komm zu [355] uns; da sollst Du die Dame sehen, die Julchen so ähnlich ist; als ob sie's selbst wäre, Komm und sieh! – Dann ziehen wir mit Dir, und jubiliren, feiern die Hochzeit, und ich tanze mit Deiner Braut den Ehrentanz. – Hiemit gehab Dich wohl.


Dein guter Vater.

Grünthal.


Fritz ließ sich die Einladung nicht zweimal sagen, er schnürte seinen Reisebündel, und kam auf des Obersten Gute an. Der überraschende Anblick der Schwester machte einen seltsamen Eindruck auf den gutmüthigen Menschen. Erst wagte er sich nicht an sie heran. weil sie ihm zu vornehm vorkam; aber Julchen stürzte ihm um den Hals, Schwester und Bruder blieben sich nicht länger fremd, und wurden, wie in den ersten goldnen Tagen der Kindheit, wieder ein Herz und eine Seele. Grünthal blieb [356] in einem ununterbrochenem lauten Jubel; und wünschte immer ums dritte Wort, daß sein Lieschen das noch erlebt haben möchte. Die Familie war nun, bis auf den jungen Amtmann Grünthal, beieinander, und Minna und ihr Mann, der von seiner Geschäftsreise zurückkam, wurden als werthe Mitglieder derselben angesehen.

Noch vor der Erndte reisten sie alle nach Berlin, Fritzens Hochzeit beizuwohnen. Eiche war mit seiner würdigen jungen Frau dabei, und verrichtete die Trauung. Daß er verheirathet war, milderte Julchens Verlegenheit in seiner Gegenwart. Der Oberst ließ sich's nicht nehmen, mit seinen alten steifen Reiterbeinen die Braut-Menuet zu tanzen: der alte Grünthal aber hielt's mit dem Kehraus, und sang dabei nach alter Sitte, wie er's sich vorgesetzt hatte:


Als der Großvater die Großmutter nahm,
Da ward der Großvater ein Bräutigam!

[357] Als die Freudentage der Hochzeit vorüber waren, reiste die ganze Familie, das neuverheirathete Paar nicht ausgeschlossen, nach dem Gute des Obersten zurück, wo der alte Herr sich so nach seiner eignen Weise eine Freude ersonnen hatte. Er hatte eine der geseegnetsten Erndten gehabt, und davon wollte er das Fest recht feierlich begehen. Seine Lina und sein alter Georg standen ihm bei der Veranstaltung treulich bei. Grünthal war wie im Himmel, daß er wieder im Kreis der Seinigen ein solches Fest begehen sollte!

Der schöne Tag brach an; ein heitrer wolkenfreier Himmel, und allenthalben heitre wolkenfreie Stirnen! Das Alter war zur Freude gestimmt, wie die Jugend. Grünthal sang von früh an, was er von Sommer- und Erndteliedern wußte: und ihm war's recht im Herzen wohl. Als die [358] Feierlichkeit beginnen sollte, führten der Oberst und Lina den alten Grünthal und seines Sohnes Frau auf eine Anhöhe, nicht weit vom Edelhofe. Von ferne tönte eine gute ländliche Musik. Grünthal schöpfte kaum Athem, um keinen der ihm so theuren Laute zu verlieren; sein Blick war erwartend nach der Gegend hin gerichtet, von wo sie kommen sollten. Der schöne ländliche Aufzug erschien; und – o der Wonne! – Julchen als Erndtekönigin, wie ehemals, in weißem Kleide mit hellgrünen Bändern, geschmückt mit Blumen, wie der ländliche Garten sie gab; sie ging zwischen ihren Brüdern wie ehemals, und trug den Kranz. Der Zug nahete sich dem Hügel; er umschloß die Alten, indem der herzerhebende Kirchengesang: Nun danket alle Gott! angestimmt wurde. Grünthals Herz erlag der Allgewalt dieser Gefühle und Erinnerungen! Er [359] brach in lautes Weinen aus; streckte die Arme, wie zu einer Umarmung, empor, und rief schluchzend: o, mein gutes Lieschen! Sieh herab, hier sind sie alle. Gott! Gott! Heiligster, Gütigster, ich danke Dir! – Seine drei Kinder flogen an sein Herz; alle Umstehenden nahmen Theil, und kein Auge blieb trocken!

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TextGrid Repository (2012). Unger, Friederike Helene. Romane. Julchen Grünthal. Julchen Grünthal. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-7250-6