Vergessene Sänge

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[Es ist das selige Bangen]

Es ist das selige Bangen,
Es ist das müde Umfangen,
Der Schauer im dämmernden Wald,
Der Winde schmeichelnd Umschlingen,
Wann vom grauen Gezweige das Singen
Der kleinen Stimmen erschallt.
O dies zarte Zirpen und Girren,
Dies junge Gezwitscher und Schwirren,
Klingt hold wie Gräser im Wind,
Als ob über blanken Kieseln
Mit heimlichem Rauschen und Rieseln
Das murmelnde Wasser verrinnt.
Die Seele, die lebt im Zagen
Der leise schlummernden Klagen,
Ist es die unsere? sag!
Die meine ja und die deine,
Die so mit stillem Geweine
Verhaucht im scheidenden Tag.

[Ich fühle im Murmeln verborgen]

[57]
Ich fühle im Murmeln verborgen
Die zarten, vergangenen Stimmen;
Im Scheine der Klänge verschwimmen
Blasse Liebe und künftiger Morgen.
Und mein Herz, meine Seele erzittern
Wie im zweiten Gesichte zu leben,
Und bang durch die Dämmerung schweben
Die erstorbenen Klänge der Zithern.
O den einsamen Tod nun zu sehen –
Wie schnell, bange Lieb', sind entschwunden
Dieses Lebens schwankende Stunden!
Ach! In dieser Schaukel vergehen!

[Es weint mein armes Herz]

[58]
Es weint mein armes Herz,
Wie auf die Stadt es regnet,
Ach, welch ein banger Schmerz
Durchdringt und quält mein Herz?
Wie rauscht so sanft der Regen
Auf Strasse und auf Dach.
Mein müdes Herz zu hegen
O, wie singt der Regen!
Es weint ohn' allen Grund
In meinem blut'gen Herzen.
Ward durch Verrat es wund?
Mein Leid ist ohne Grund.
Das ist das schwerste Leiden,
Zu wissen nicht warum.
Da Hass und Lieb' mich meiden –
Mein Herz muß so viel leiden.

[Ins ros'ge Abendgraun wie leises Klagen]

[59]
Ins ros'ge Abendgraun wie leises Klagen
Tönt das Klavier, geküsst von schmaler Hand.
Und wie mit schwachem, lindem Flügelschlagen
Hält eine alte Weise mich gebannt,
Die schmeichlerisch und zaghaft zu mir fand,
Im Raum, des Duft von ihr noch schien zu sagen.
Wie sanft die Wiege auf und nieder geht,
Die mild einlullt mein Herz, das seufzt und leidet!
Was willst du, Lied, das spielend mich umweht?
Was meinst du, Klang, der schwindet und vergeht,
Der nach dem Fenster hin verlöschend scheidet,
Das nach dem kleinen Garten offen steht?

[Der Bäume Schatten stirbt wie Rauch, wie blasser]

[60]
Der Bäume Schatten stirbt wie Rauch, wie blasser,
Im nebeltrüben Wasser,
Wann aus den Lüften tief versteckt im Laube
Süss klagt die Turteltaube.
Wie sehr gleicht, blasser Wandrer, deinem Bilde
Dies bleichende Gefilde.
Wie weint in den Gezweigen schwermuttrunken
Dein Hoffen, das versunken.

[Im trauernden Lande]

[61]
Im trauernden Lande,
Verwischt, ohne Grenzen
Sieht Schnee man erglänzen
Gleich scheinendem Sande.
Die Sterne versinken
Im kupfernen Äther.
Den Mond sah ich blinken,
Nun stirbt und vergeht er.
Die wogenden Eichen
Im Nebel, im grauen,
Wie Wolken zu schauen
In nächtlichen Reichen.
Die Sterne versinken
Im kupfernen Äther.
Den Mond sah ich blinken,
Nun stirbt und vergeht er.
Ihr Wölfe, ihr Krähen,
Ihr hungernden Horden!
Was bringt euch der Norden
Mit eisigem Wehen?
In trauerndem Lande,
Verwischt, ohne Grenzen,
Sieht Schnee man erglänzen
Gleich scheinendem Sande.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Verlaine, Paul-Marie. Vergessene Sänge. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-743E-4