[40] Das schlichte Lied

[41][43]

[Eh' bleicher Stern du gesunken]

Eh' bleicher Stern du gesunken,
Singen, wo Thymian blüht,
Freudetrunken
Tausend Wachteln ihr Lied.
Grüsse mit blassem Geflimmer
Mich, der dich liebend erkor,
Morgenschimmer
Rufet die Lerche empor.
Wende den Blick, den umschleiert
Jungen Tags Dämmerblau hält;
Prangend feiert
Weithin das reifende Feld.
Meine Gedanken lass selig
Fern überfliegen die Au,
Klar und fröhlich
Blinkt auf den Gräsern der Tau.
Eh' meines Traumes Wonne
Mir im Erwachen zerrann,
Schnell die Sonne
Leuchtet schon golden hinan.

[Vom Mondschein ist]

[43]
Vom Mondschein ist
Der Wald so blass.
Im ganzen Hain ist
Ein Flüstern, das
Vom Laubdach tönte:
O Vielersehnte!
Im tiefen Teiche
Bespiegeln lind
Sich schwarze Sträuche,
Es weint der Wind
In Weidenbäumen ...
Zeit ist zu träumen.
Ein zartes Schweigen
Scheint sanft und rein
Herabzusteigen
Vom Dämmerschein
Der Sternenrunde ...
Das ist die Stunde.

[Eine Fromme im Heiligenscheine]

[44]
Eine Fromme im Heiligenscheine,
Eine Edle in ihrem Gemach,
Was je nur von süsser Reine
Und liebender Anmut sprach.
Des Jagdhorns Goldklang im Holze
Ertönt so lockend und weit,
Vermählt mit dem zärtlichen Stolze
Der Frauen aus alter Zeit.
Das Lächeln sieghafter Schöne
Auf ihrem Antlitz erblüht,
Das weiss wie Gefieder der Schwäne
So frauenhaft kindlich erglüht.
Und Rosen und Lilien in reinem
Akkord holdselig vereint,
Das ist es, was mir in deinem
Karolingischen Namen erscheint.

[Bald weicht der Prüfung bitt'rer Schmerz]

[45]
Bald weicht der Prüfung bitt'rer Schmerz:
Der Zukunft lächle du, mein Herz.
Es fliehn die Tage voller Sehnen,
Wo ich betrübt war bis zu Tränen.
Nicht zähle mehr die lange Zeit,
Bald bist, o Seele, du befreit.
Die bitt'ren Worte, sie versanken,
Es flohn die finsteren Gedanken.
Mein Auge, das sie nicht mehr sieht,
Weil schmerzensvolle Pflicht mich schied,
Mein Ohr, in brennendem Begehren,
Der Stimme gold'nen Klang zu hören,
Mein ganzes Herz, mein ganzes Ich
Sehnt nach dem sel'gen Tage sich,
Wo, einzig Hoffen und Verlangen,
Ich die Geliebte werd' umfangen.

[Flieg zu ihr, mein Lied, mit leichten]

[46]
Flieg zu ihr, mein Lied, mit leichten
Schwingen und verkünde ihr,
Welch ein stilles, frohes Leuchten
In dem treuen Herzen mir.
Das mit heiligem Gefunkel
Aufhellt unsrer Liebe Nacht,
Misstraun, Furcht und banges Dunkel
Scheucht des Tages lichte Pracht.
Lang' von stummer Furcht bezwungen,
Hörst du? hat der heit're Sinn
Gleich der Lerche froh gesungen
Durch den klaren Himmel hin.
D'rum zu ihr den Flug genommen,
Dass von keinem Leid beschwert
Ich sie heisse hochwillkommen,
Sie, die endlich wiederkehrt.

[Der Schenken Lärm, der Schmutz der nächt'gen Stadt]

[47]
Der Schenken Lärm, der Schmutz der nächt'gen Stadt,
Welk sinkt von den Platanen Blatt um Blatt,
Ein alter Omnibus auf schlechten Federn
Quietscht schief und schwankend zwischen seinen Rädern
Mit grün' und roten Augen, die sich dreh'n,
Arbeiter, die zur Kneipe rauchend gehn,
Dem Schutzmann qualmend ins Gesicht den Knaster,
Die Dächer nass, Asphalt und glitschig Pflaster
Und Gossen, die der Regen schwellen liess,
Das ist mein Weg – mein Ziel das Paradies.

[Nicht wahr? Vom Zwang boshafter Toren frei]

[48]
Nicht wahr? Vom Zwang boshafter Toren frei,
Die uns gewiss um unser Glück beneiden,
Lass oft uns stolz sein, doch stets mild dabei.
Nicht wahr? Wir wandeln heiter und bescheiden
Den Pfad, den uns die Hoffnung lächelnd zeigt,
Gleichviel, ob man uns sehn mag oder meiden.
Einsam im Lieben, wie im Wald, der schweigt,
Sei'n unsre Herzen wie zwei Nachtigallen,
Die zärtlich singen, wann der Tag sich neigt.
Und was die Welt sagt, ob wir ihr gefallen,
Ob sie uns zürnt, gleichviel! Da ihre Hand
Ja schmeichelt oder Wunden schlägt uns allen.
Uns eint das teuerste und stärkste Band,
Froh lächelnd, dass zu nichts der Mut uns fehle.
Denn uns bewehrt ein Schwert aus Diamant.
Und unbekümmert, welchen Weg uns wähle
Das Los, lass gleichen Schrittes immerdar
Uns Hand in Hand gehn, mit der Kinderseele
Der Brust, die nichts als Liebe fühlt, nicht wahr?

[Ja, dann erglänzt ein heller Sommertag]

[49]
Ja, dann erglänzt ein heller Sommertag,
Es fühlt die ew'ge Sonne meine Freude,
Die dir in Atlas und in lichter Seide
Die liebe Schönheit noch verschönen mag.
Blau leuchtend wird der Himmel sich erheben
Gleich einem Zelt, an üpp'gen Falten reich,
Hoch über unsern Stirnen, welche bleich
Im bangen Glücke der Erwartung beben.
Sanft wird das Spiel des Abendwindes sein,
Der schmeichelnd dann in unsern Schleiern fächelt,
Der Liebesblick der Sterne aber lächelt
Den Gatten zu mit freundlich mildem Schein.

[Auf irren Pfaden ohne Ende]

[50]
Auf irren Pfaden ohne Ende
Schritt ich dahin in banger Qual,
Mich führten deine lieben Hände.
Ich sah am Horizont, dass fahl
Ein schwacher Schein der Hoffnung glimme,
Dein Auge war der Morgenstrahl.
Ermut'gend durch die Nacht, die schlimme,
Kam nur der eig'nen Schritte Klang:
Geh weiter! sagte deine Stimme.
Mein Herz, so düster und so bang,
Es weinte still in bitt'rem Leide,
Die Liebe, die den Sieg errang
Hat uns geeint in sel'ger Freude!

Notes
Aus »La Bonne Chanson«, Erstdruck der Sammlung: Paris (A. Lemerre) 1870. Hier in der Übers. v. Wolf v. Kalckreuth.
License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Verlaine, Paul-Marie. Das schlichte Lied. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-74C3-3