Jules Verne
Reise durch die Sonnenwelt


»Hier meine Karte! - Und hier die meine!« (S. 6.)

1. Theil

1. Capitel
Erstes Capitel.
Der Graf: Hier meine Karte! Der Kapitän: Und hier die meine!
»Nein, Kapitän, es convenirt mir nicht, Ihnen den Platz zu räumen!
– Bedaure, Herr Graf, Ihre Prätensionen werden [5] aber die meinigen nicht verringern.
[5] – Gewiß nicht?
– Gewiß nicht.
– Ich mache Sie indessen darauf aufmerksam, daß der Zeit nach mir der Vorrang gebührt.
– Und ich antworte Ihnen hierauf, daß die Anciennetät allein keinerlei Recht begründen kann.
– Ich werde Sie zu zwingen wissen, mir den Platz zu räumen.
– Das glaube ich nicht, Herr Graf.
– Ich denke, so ein Hieb mit dem Degen ...
– Nicht mehr, als ein Pistolenschuß ...
– Hier meine Karte!
– Und hier die meine!«
Nach diesen Schlag auf Schlag hervorgestoßenen Worten wechselten die beiden Gegner ihre Karten.
Auf der einen las man:

Hector Servadac.

Kapitän im Generalstabe.


Auf der anderen:

Graf Wassili Timascheff.

An Bord der Goëlette Dobryna.


»Wo und wann treffen meine Secundanten die Ihrigen? fragte Graf Timascheff, bevor sich Beide trennten.

– Heute um zwei Uhr, wenn es Ihnen beliebt, im Generalstabsamte, erwiderte Hector Servadac.

– In Mostagenem?

– Zu dienen.«

Nach diesen Worten grüßten sich Kapitän Servadac und Graf Timascheff kalt, aber höflich.

Als sie schon im Fortgehen waren, machte Graf Timascheff noch eine Bemerkung.

»Kapitän, sagte er, ich glaube, es ist besser, über den wahren Grund unseres Rencontres zu schweigen.

– Ganz meine Meinung, antwortete Servadac.

[6] – Es wird kein Name genannt!

– Keiner.

– Nun, aber der Vorwand?

– Der Vorwand ....? Nun, sagen wir eine musikalische Discussion, wenn das Ihnen recht ist, Herr Graf.

– Gewiß, erwiderte Graf Timascheff; ich habe z.B. Wagner's Partei genommen, das entspräche ganz meinen Anschauungen.

– Und ich die Rossini's, das harmonirte mit den meinigen!« entgegnete lächelnd Kapitän Servadac.

Nach diesen Worten grüßten sich der Stabsofficier und Graf Timascheff noch einmal und gingen auseinander.

Die eben geschilderte, mit einer Herausforderung endende Scene spielte um die Mittagszeit am äußersten Ende eines kleinen Caps der algierischen Küste zwischen Tenez und Mostagenem, etwa drei Kilometer von der Mündung des Cheliff. Jenes Cap erhob sich gegen zwanzig Meter aus dem Meere; an seinem Fuße erstarben die blauen Wellen des Mittelmeeres und leckten an den von Eisenoxyd gerötheten Felsen des Ufers. Die Sonne, deren schräge Strahlen sonst an jedem vorspringenden Punkt der Küste sich flimmernd widerspiegelten, war jetzt hinter einem dichten Wolkenschleier verborgen. Ein undurchdringlicher Nebel lagerte über Land und Meer. Unerklärlicher Weise hüllten diese Nebelmassen schon seit länger als zwei Monaten die ganze Erdkugel ein und legten der Communication zwischen den verschiedenen Erdtheilen recht empfindliche Hindernisse in den Weg. Indeß, hiergegen war nichts zu thun.

Als Graf Wassili Timascheff den Stabsofficier verließ, lenkte er seine Schritte nach einem Boote mit vier Ruderern, das ihn in einer der kleinen Buchten des Ufers erwartete. Sobald er darin Platz genommen, stieß das leichte Fahrzeug ab und legte an einer Goëlette an, welche in der Entfernung weniger Kabellängen verankert lag.


Mit großem Ernste vernahmen die beiden Officiere ... (S. 9.)

Kapitän Servadac rief durch einen kurzen Pfiff einen Soldaten herbei, der gegen zwanzig Schritte hinter ihm gewartet hatte. Schweigend führte der Soldat ein prächtiges arabisches Pferd heran. Der Kapitän sprang gewandt in den Sattel und wandte sich, von seiner ebenso gut berittenen Ordonnanz begleitet, auf Mostagenem zu.

[7] Es war Mittag, als die beiden Reiter den Cheliff auf der erst unlängst von den Genietruppen geschlagenen Brücke passirten, und genau 1 3/4 Uhr, als ihre schaumbedeckten Rosse durch das Thor von Maskara stürmten, eine der fünf Pforten, welche die crenelirten Umfassungsmauern der Stadt enthalten.

Jener Zeit zählte Mostagenem ziemlich 15.000 Einwohner, darunter gegen 3000 Franzosen. Es bildete von jeher eine wichtige Arrondissements-[8] Hauptstadt der Provinz Oran und war nicht minder von Bedeutung in militärischer Hinsicht. Hier fabricirte man noch verschiedene Nahrungsmittel für das Ausland neben kostbaren Geweben, zierlichen Mattengeflechten und Artikeln aus Maroquin. Der Export nach Frankreich bestand in Getreide, Baumwolle, Wolle, Thieren, Feigen und Weintrauben. Zur Zeit, in der unsere Erzählung spielt, hätte man aber vergeblich den alten Ankerplatz gesucht, auf dem sich ehedem die Schiffe vor den gefährlichen West- und Nordwestwinden nicht zu halten vermochten. Mostagenem besaß jetzt einen wohlgeschützten Hafen, welcher der Verwerthung der reichen Producte der Mina und des unteren Cheliff ungemein förderlich war.

Dank diesem sicheren Zufluchtsorte, konnte es die Goëlette Dobryna wagen, an einer Küste zu überwintern, welche sonst fast nirgends einen Schutz gewährte. Hier flatterte schon seit zwei Monaten an ihrer Gaffel die russische Flagge und am Top des Großmastes der Wimpel der Yacht Club de France mit dem unterscheidenden Zeichen: M. C. W. T.

Kapitän Servadac eilte, sobald er in die Stadt kam, nach dem Militärquartier von Matmore. Dort begegnete er einem Officier vom 2. Tirailleur- und einem Kapitän vom 8. Artillerie-Regimente – zwei Kameraden, auf welche er sich verlassen konnte.

Mit großem Ernste vernahmen die beiden Officiere das Verlangen Hector Servadac's, ihm bei dem bevorstehenden Ehrenhandel als Zeugen zu dienen; aber sie lächelten, als ihr Freund ihnen als wirkliche Ursache dieses Zweikampfes eine musikalische Discussion angab, die zwischen ihm und Graf Timascheff stattgefunden habe.

»Vielleicht ließe sich das beilegen? äußerte der Commandant der Tirailleure.

– Das darf selbst nicht versucht werden, entgegnete Hector Servadac schnell.

– Einige unwesentliche Zugeständnisse ..... fuhr der Artillerie-Kapitän fort.

– Zwischen Wagner und Rossini ist keine Annäherung möglich, erwiderte ernsthaft der Stabsofficier. Beide sind Originale. Uebrigens ist Rossini in diesem Falle der Beleidigte. Dieser Narr, der Wagner, hat über Rossini verschiedene Albernheiten geschrieben; ich will Rossini rächen.

[9] – Im schlimmsten Falle, meinte der Commandant, ist ein Degenhieb nicht allemal tödtlich.

– Vorzüglich, wenn man, wie ich, entschlossen ist, einen solchen gar nicht zu erhalten!« bestätigte Hector Servadac.

Nach dieser Antwort hatten die beiden Officiere nichts Anderes zu thun, als sich nach dem Generalstabsgebäude zu begeben, woselbst sie, genau um zwei Uhr, die Secundanten Graf Timascheff's treffen sollten.

Es sei hier die Bemerkung eingeschoben, daß der Commandant der Tirailleure und der Kapitän der Artillerie sich von ihrem Kameraden keineswegs hatten dupiren lassen. Doch, was war in Wirklichkeit der Grund, der ihm die Waffen in die Hand drückte? Sie ahnten ihn vielleicht, hatten aber nichts Besseres zu thun, als jenen Vorwand gelten zu lassen, den es Kapitän Servadac gefallen hatte, ihnen mitzutheilen.

Zwei Stunden später waren sie zurück, nachdem sie die Zeugen des Grafen getroffen und mit ihnen die Einzelheiten des Duells verabredet hatten. Graf Timascheff, Adjutant des Kaisers von Rußland, wie so viele Russen, welche sich im Auslande aufhalten, hatte sich für den Degen, die Waffe des Soldaten, entschieden Beide Gegner sollten sich nächsten Tages, am 1. Januar Morgens neun Uhr, an einer drei Kilometer von der Mündung des Cheliff entfernten Stelle treffen.

»Also morgen, mit soldatischer Pünktlichkeit! sagte der Commandant.

– Sogar mit größter Pünktlichkeit!« versicherte Hector Servadac.

Kräftig drückten die beiden Officiere die Hand ihres Freundes und begaben sich nach dem Café Zulma, um dort ihre gewohnte Partie Piquet zu spielen.

Kapitän Servadac dagegen drehte wieder um und verließ eiligst die Stadt.

Seit etwa vierzehn Tagen befand sich Hector Servadac nicht in seiner gewöhnlichen Wohnung in dem Waffenplatze. Betraut mit einer topographischen Aufnahme, hauste er jetzt in einem Gourbi (arabische Hütte) an der Küste von Mostagenem, etwa acht Kilometer vom Cheliff, wo ihm nur seine gewöhnliche Ordonnanz Gesellschaft leistete. Es war daselbst nicht gar zu reizend und jeder Andere, als der Kapitän des Generalstabes, würde sein Exil auf diesem abscheulichen Posten mehr für eine Strafe angesehen haben.

[10] Er machte sich also in der Richtung nach seinem Gourbi auf den Weg und quälte sich mit einigen Reimen ab, die er sich Mühe gab, in die etwas veraltete Form eines Rondeaus einzufügen. Dieses beabsichtigte Rondeau – es ist ja unnütz, es verheimlichen zu wollen – war für eine junge Witwe bestimmt, die er heimzuführen gedachte; jetzt suchte er ihr dichterisch zu beweisen, daß, wenn man in seiner Lage sei, eine der höchsten Achtung würdige Person zu lieben, dieses »auf die einfachste Weise von der Welt« geschehen müsse. Ob diese Aphorisme viel Wahrheit enthalte oder nicht, darüber grämte sich Kapitän Servadac nicht im Mindesten; er reimte eben, um Verse zu machen.

»Ja, ja! murmelte er, während die Ordonnanz schweigsam an seiner Seite dahin trottete, ein tiefgefühltes Rondeau verfehlt nie seinen Zweck. Sie sind rar, diese Rondeaus, hier an der Küste Algiers, und das meinige wird deshalb hoffentlich eine desto bessere Aufnahme finden!«

Und der Dichter-Kapitän begann folgendermaßen:


Bei Gott! Wenn innig liebt der Mann,
Ist es voll Einfachheit ...

»Ja wohl! Einfach, d.h. ehrlich, sowohl dem winkenden Ehebunde, als auch mir gegenüber, der so zu Ihnen spricht ... Ja, zum Teufel, das reimt sich aber nicht! Die fatalen Reime auf ›an‹ sind doch recht unbequem. Eine sonderbare Idee, daß ich mein Rondeau gerade so anfangen mußte. He! Ben-Zouf!«

Ben-Zouf war die Ordonnanz des Kapitän Servadac.

»Herr Kapitän, erwiderte Ben-Zouf.

– Hast Du wohl manchmal Verse gemacht?

– Nein, Herr Kapitän, aber ich habe welche machen sehen.

– Von wem?

– Nun, in der Bude einer Hellseherin, eines Abends, bei einem Feste auf dem Montmartre.

– Und hast Du sie wohl noch im Kopfe?

– Gewiß, hören Sie, Herr Kapitän:


Herein! Das höchste Glück hier blüht,
's reut Keinem, der's probirt.
Denn die ihr liebt, hier Jeder sieht,
Und die geliebt er wird!

[11] – Mordio, Deine Verse sind aber abscheulich!

– Das kommt daher, weil ihnen die Begleitung einer Flöte fehlt, mein Kapitän! Sonst wären sie gewiß so gut wie viele andere.

– Schweig still, Ben-Zouf! rief Hector Servadac, schweig still. Jetzt finde ich eben den dritten und vierten Reim!


Bei Gott! Wenn innig liebt der Mann,
Ist's voller Einfachheit ....
Vertrau' Dich mehr der Liebe an,
Als selbst dem Eid!«

Weiter vermochte den Kapitän Servadac aber nicht die größte poetische Anstrengung vorwärts zu bringen, und als er gegen sechs Uhr seinen Gourbi erreichte, stand er noch immer bei seinem ersten Quatrain.

2. Capitel
Zweites Capitel.
In welchem Kapitän Servadac und seine Ordonnanz Ben-Zouf körperlich und geistig photographirt werden.

In der Officiersliste des Kriegsministeriums für jenes Jahr, von dem wir sprechen, konnte man lesen:

»Servadac (Hector), geb. am 19. Juli 18.. in St. Trelody, Canton und Arrondissement Lespare, Departement der Gironde.

Vermögensverhältnisse: 1200 Francs Rente.

Dienstzeit: 14 Jahre, 3 Monate, 5 Tage.

Specialisirung des Dienstes und etwaiger Feldzüge: Schule von St.-Cyr: 2 Jahre. Schule für praktische Ausbildung: 2 Jahre. Beim 87. Linienregimente: 2 Jahre. Beim 3 Jägerregimente: 2 Jahre. In Algier: 7 Jahre. Feldzug in Sudan. Feldzug in Japan.

Rang: Kapitän des Generalstabes in Mostagenem.

Decorationen: Ritter der Ehrenlegion am 13. März 18..«

Hector Servadac zählte dreißig Jahre. Eine Waise, ohne Familie, fast ohne Vermögen, ehrgeizig, etwas Tollkopf, voll Mutterwitz, immer bereit zum [12] Angriff wie zur schlagenden Vertheidigung, edelmüthig, tapfer, offenbar ein Schützling des Gottes der Schlachten, dem er freilich manche Angst machte für einen Sprößling seiner Heimat nicht gerade ein Schwätzer, zwanzig Monate genährt von einer kräftigen Winzerin, ein leibhaftiger Abkömmling jener Helden, welche zur Zeit der kriegerischen Großthaten blühten – das war, nach geistiger Seite, unser Kapitän Servadac, einer jener liebenswürdigen Leutchen, welche die Natur schon zu Außerordentlichem bestimmt zu haben scheint, und an deren Wiege die Fee der Abenteuer und die des glücklichen Erfolges Pathenstelle vertraten.

Aeußerlich repräsentirte Hector Servadac einen hübschen Officier: 5 Fuß 6 Zoll groß, schlank und graziös, natürliche dunkle Locken, schöne Hände und proportionirte Füße, wohlgepflegter Schnurrbart, blaue Augen mit offenem Blicke, mit einem Worte, geschaffen zu gefallen, und gefallend, ohne sich darauf besonders etwas einzubilden.

Wir müssen zugeben, daß Hector Servadac, der es übrigens offen eingestand, nicht klüger war, als eben nothwendig. »Wir treiben keine Thorheiten!« sagen gern die Officiere der Artillerie. Bei Hector Servadac war das nicht der Fall. Zu mancher Tollheit aufgelegt, war er von Natur Flaneur und schreckenerregender Poet; bei seiner leichten Auffassungsgabe und der Gewandtheit, sich Alles ohne Anstrengung zu assimiliren, hatte er seine Vorschule doch mit so gutem Erfolge absolvirt, daß er in den Generalstab Eintritt fand. Er zeichnete ziemlich gut, saß bewunderungswürdig zu Pferde, ja selbst der sonst unübertroffene Springer der Manège von St.-Cyr, der Nachfolger des weitberühmten Onkel Tom, hatte in ihm seinen Meister gefunden. Seine Dienstzeugnisse meldeten, daß er mehrmals in den Tagesbefehlen erwähnt worden war – jedenfalls nur ein Act der Gerechtigkeit.

Man erzählte sich folgenden Zug von ihm:

In einem Laufgraben führte er einmal eine Abtheilung Jäger zu Fuß. An einer Stelle hatte die von Geschossen durchwühlte Schulterwehr vor dem Graben nachgegeben und bot den Soldaten keine hinreichende Deckung mehr gegen den Kugelregen. Jene zauderten vorüber zu marschiren. Da stieg Kapitän Servadac aus dem Graben herauf und legte sich quer vor die Bresche, welche er gerade mit seinem Leibe ausfüllte.

»Nun, marsch vorüber!« commandirte er.

[13] Die Compagnie zog inmitten des heftigsten Gewehrfeuers vorbei; der muthige Stabsofficier blieb unverletzt.

Seit seinem Austritt aus der Schule für praktische Ausbildung diente Hector Servadac, mit Ausnahme der beiden Feldzüge in Sudan und Japan, ununterbrochen in Algier. Zur Zeit functionirte er als Officier beim Stabe der Subdivision von Mostagenem. Betraut mit mehreren topographischen Aufnahmen der Küstenstrecke zwischen Tenez und der Mündung des Cheliff, bewohnte er den erwähnten Gourbi, der ihm wohl oder übel Obdach gewährte. Er war indeß nicht der Mann, sich wegen Kleinigkeiten graue Haare wachsen zu lassen. Er liebte es, in der freien Gotteslust und derjenigen Freiheit zu leben, die einem Officier eben nachgelassen ist. Bald mühte er sich zu Fuß durch den Sand der flachen Ufer, bald strich er zu Pferde über andere Küstenstrecken, jedenfalls beeilte er sich aber nicht über die Maßen mit der ihm zugetheilten Arbeit.

Dieses so gut wie unabhängige Leben sagte ihm besonders zu. Dazu nahm ihn seine Beschäftigung nicht so unausgesetzt in Anspruch, daß es ihm nicht möglich geworden wäre, wöchentlich zwei- oder dreimal die Eisenbahn zu benützen, um entweder zu den Empfangsabenden des Generals in Oran oder bei den Festlichkeiten des Gouverneurs in Algier zu erscheinen.

Bei einer solchen Veranlassung sah er zum ersten Male auch Madame von L..., der jenes prächtige Rondeau, von welchem freilich nur die ersten vier Zeilen das Licht der Welt erblickt hatten, gewidmet werden sollte. Jene junge, schöne, sehr zurückhaltende, ja vielleicht etwas hochmüthig stolze Frau, die Witwe eines Obersten, bemerkte die ihr dargebrachten Huldigungen entweder wirklich nicht oder wollte sie nicht beachten. Auch Kapitän Servadac hatte sich noch zu keiner Erklärung ermuthigt gefühlt, trotz seiner Kenntniß mehrerer Rivalen, zu denen, wie der Leser nun wohl errieth, auch jener Graf Timascheff gehörte. Eben diese Wettbewerbung hatte den beiden Gegnern jetzt, ohne daß die junge Frau davon das Geringste ahnte, die Waffen in die Hände gegeben. Wie uns bekannt, war ihr Name bei dieser Affaire auch völlig außer dem Spiele geblieben.

Mit Hector Servadac hauste in dem Gourbi dessen Ordonnanz, Ben-Zouf.

Dieser Ben-Zouf war dem Officier, bei dem er die Ehre hatte, als »Bursche« zu dienen, mit Leib und Seele ergeben. Zwischen der Stellung eines Adjutanten beim General-Gouverneur von Algier und der einer [14] Ordonnanz bei Kapitän Servadac wäre ihm die Wahl nie schwer geworden. Wenn er aber in Bezug auf seine Person jedes Ehrgeizes ermangelte, so war das doch ganz anders bezüglich seines Officiers, und jeden Morgen unterwarf er die Uniform seines Herrn der sorgsamsten, eingehendsten Musterung.

Sein Name Ben-Zouf könnte zu der Annahme verleiten, daß dessen Träger ein Landesabkömmling aus Algier wäre. Nicht im mindesten. Es war jenes nur ein Zuname. Warum nannte man den Burschen, der ursprünglich Laurent hieß, aber Zouf? – Warum Ben, da er doch aus Paris und noch dazu vom Montmartre stammte? Das ist so eine jener Sprachanomalien, wel che auch die gelehrtesten Etymologen niemals zu ergründen vermögen.

Ben-Zouf entsproß nun nicht allein dem Quartier Montmartre, sondern speciell dem berühmten Erdhügel dieses Namens, da er seiner Zeit zwischen dem Solferinothurm und der Galette-Mühle das Licht der Welt erblickte. Hatte man aber das Glück, unter solchen exceptionellen Verhältnissen geboren zu werden, so erscheint eine rückhaltslose Bewunderung seines Geburtshügels, neben dem in der Welt nichts Großartiges mehr existirt, nur zu natürlich. Auch in den Augen des Officiersburschen galt der Montmartre als der einzige ernsthafte Berg in der Welt und das Quartier dieses Namens setzte sich für seine Anschauung aus allen Weltwundern zusammen. Ben-Zouf war auch gereist. Hörte man ihn reden, so hatte er in jedem beliebigen Lande nur lauter Montmartres gesehen, die vielleicht etwas höher sein mochten, aber jedenfalls minder pittoresk waren, als sein Berg in der Heimat. Besitzt der Montmartre nicht thatsächlich eine Kirche, die der Kathedrale von Burgos die Wage hält? Nicht Marmorbrüche, die denen des Penthelicon nicht nachgeben? Eine Wasserfläche, welche das Mittelmeer zur Eifersucht reizt? Eine Mühle, welche nicht nur gemeines Mehl, sondern auch die weitberühmten Brotkuchen liefert? Den Solferinothurm, der wahrhaftig gerader steht, als jener Thurm in Pisa?


Ben-Zouf.

Einen Rest von Wäldern, die beim Einfalle der Kelten gewiß noch jungfräuliche Wälder zu nennen waren? Und endlich einen Berg, ja, einen wirklichen, leibhaftigen Berg, den nur Neid und Mißgunst durch den entehrenden Namen »Erdhaufen« zu erniedrigen versuchen konnten? Ben-Zouf hätte sich eher in Stücke hacken lassen, ehe er zugegeben hätte, daß dieser »Berg« nicht 5000 Meter hoch wäre.

[15] Wo auf dem weiten Erdboden könnte man so viele Wunder auf einen einzigen Punkt vereinigt wieder finden?

»Nirgends, nirgends!« behauptete Ben-Zouf gegenüber Jedem, der seine Ansichten etwas übertrieben fand.

Bei dieser gewiß unschuldigen Manie beherrschte Ben-Zouf nur eine Sehnsucht, einmal nach dem Montmartre zurückzukehren, um seine Tage auf [16] dem Erdhügel zu schließen, auf dem sie einst einmal begonnen hatten – natürlich mit seinem Kapitän, das verstand sich von selbst. Auch Hector Servadac's Ohren hallten unausgesetzt wieder von den unvergleichlichen Wundern des XVIII. Arrondissements von Paris und wurden ihm allmälig zum Schrecken.

Indeß, Ben-Zouf zweifelte niemals an der endlichen Bekehrung seines Herrn und beharrte bei dem Entschlusse, jenen nun und nimmer zu verlassen. Seine Dienstzeit war abgelaufen. Er hatte schon zweimal den Abschied erhalten und wollte im Alter von achtundzwanzig Jahren den Dienst verlassen, ein einfacher berittener Jäger erster Klasse vom 8. Regiment, als er zur Ordonnanz Hector Servadac's erhoben wurde. Er zog mit seinem Herrn in's Feld. Er schlug sich mehrmals an seiner Seite, und zwar mit solcher Auszeichnung, daß ihm ein Kreuz verliehen werden sollte; er schlug das aber aus, um als Ordonnanz bei seinem Kapitän bleiben zu können. Rettete Hector Servadac in Japan einst Ben-Zouf das Leben, so vergalt ihm Ben-Zouf diesen Liebesdienst in dem Feldzuge von Sudan. Das sind Sachen, welche sich nun und nimmermehr vergessen lassen.

Kurz, das ist der Grund, weshalb Ben-Zouf dem Dienste bei seinem Stabsofficier zwei »durch und durch gehärtete« Arme widmete; eine durch alle Klimate erprobte Gesundheit von Eisen; eine physische Kraft, die ihm gewiß das Prädicat »das Bollwerk des Montmartre« erworben hätte, und endlich ein Herz, das Alles wagte, und eine Ergebenheit, die Alles ausführte.

Hier sei auch erwähnt, daß, wenn Ben-Zouf auch nicht für einen Dichter, wie sein Herr, gelten konnte, er doch eine lebendige Encyklopädie darstellte, eine unerschöpfliche Buchsammlung aller unsinnigen Redensarten und aller Possenstreiche des Soldatenhandwerks. Nach dieser Seite besiegte er leicht Jedermann, da sein wunderbares Gedächtniß ihm die Witze und Spottreden gleich dutzendweise lieferte.

Kapitän Servadac kannte den Werth seines Mannes. Er schätzte ihn und sah seiner Montmartre-Manie durch die Finger, da sie der ungetrübte Humor der Ordonnanz meist erträglicher erscheinen ließ; bei Gelegenheit wußte er ihm auch Sachen zu sagen, die den Diener nur noch unlösbarer an den Herrn zu fesseln pflegen.

Eines Tages, als Ben-Zouf so recht gemüthlich im Sattel saß und sein Steckenpferd weidlich im XVIII. Arrondissement herumtummelte, begann der Kapitän:

[17] »Weißt Du wohl, Ben-Zouf wenn der Montmartre nur 4705 Meter höher wäre, daß er dann sogar den Montblanc erreichte?«

Bei dieser Bemerkung schossen des ehrlichen Burschen Augen zwei Blitze der innigsten Befriedigung und von dem Tage ab verschmolzen der heimatliche Erdhügel und der Kapitän in seinem Herzen zu einer anbetungswürdigen Vorstellung.

3. Capitel
Drittes Capitel.
Worin man sieht, wie die dichterische Begeisterung Kapitän Servadac's durch einen fatalen Stoß unterbrachen wird.

Ein Gourbi ist nichts Anderes als eine aus Rüststangen erbaute und mit Stroh, das die Eingeborenen »Driß« nennen, gedeckte Hütte. Etwas mehr als ein arabisches Zelt, bleibt eine solche Wohnung doch weit hinter einem Haus aus Bruch- oder Backsteinen zurück.

Der von Kapitän Servadac bewohnte Gourbi bestand Alles in Allem aus einem einzigen Zimmer, das seinen Gästen kaum den nothdürftigsten Raum gewährt hätte, wenn er nicht mit einem verlassenen, aus Steinen errichteten Wachthause zusammengehangen hätte, das Ben-Zouf und die beiden Pferde beherbergte. Früher diente dieses Wachthaus einer Genieabtheilung und enthielt noch einige Werkzeuge, wie Hacken, Aexte, Schaufeln u.s.w.

Von Comfort konnte in dem Gourbi natürlich keine Rede sein, er bildete ja auch nur einen provisorischen Zufluchtsort. In Bezug auf Nahrung und Wohnung waren übrigens weder der Kapitän noch seine Ordonnanz besonders wählerisch.

»Mit ein wenig Philosophie und einem guten Magen ist man überall gut aufgehoben!« wiederholte Hector Servadac gern.

Mit der Philosophie stand's bei ihm aber wie mit dem Geld beim Gascogner, der immer etwas in der Börse hat, und was den Magen betraf, [18] so hätte das ganze Wasser der Garonne durch den des Kapitäns laufen können, ohne ihn nur einen Augenblick zu belästigen.

Ben-Zouf, wenn wir einmal die Metempsychose gelten lassen, mußte in seinem früheren Leben ein Strauß gewesen sein, von dem er sich noch jene phänomenalen Eingeweide bewahrt hatte, welche Kieselsteine ebenso leicht verdauen wie Hühnerpasteten.

Die beiden Einsiedler in dem Gourbi waren übrigens mit Vorräthen für einen Monat wohlversorgt; eine Cisterne lieferte ihnen Trinkwasser in Ueberfluß, die Dachsparren des Stalles strotzten voll Futter und dazu konnte die überaus fruchtbare Ebene zwischen Tenez und Mostagenem mit den reichen Gegenden der Mitidja wetteifern. Das Wild war hier nicht gar so selten, und einem Officier des Stabes ist es niemals verboten, bei seinen Streifzügen eine Jagdflinte mitzuführen, wenn er nur seine Winkelmeßinstrumente und das Zeichenbrett nicht vergißt.

Als Kapitän Servadac nach dem Gourbi zurückgekehrt war, aß er mit einem Appetite, den die Promenade fast zum Heißhunger ausgebildet hatte. Ben-Zouf verstand sich ausgezeichnet auf die Verwaltung der Küche. Aus seiner Hand konnten geschmacklose Gerichte gar nicht hervorgehen. Er salzte, würzte und pfefferte militärisch. Aber, wie gesagt, er sorgte auch für zwei Magen, welche der schärfsten Gewürze spotteten und über die die Gastralgie keine Herrschaft hatte.

Nach dem Essen, und während seine Ordonnanz die Reste der Mahlzeit sorgfältig in seinem »Unterleibsschranke« unterzubringen suchte, verließ Kapitän Servadac den Gourbi, um frische Luft zu schöpfen, und promenirte rauchend am Rande der Küste.

Die Nacht sank herab. Schon seit einer Stunde war die Sonne verschwunden hinter den dichten Wolken und unter dem Horizonte, der die Ebene in der Richtung nach dem Cheliff zu scharf abgrenzte. Der Himmel bot einen eigenthümlichen Anblick, den kein Beobachter kosmischer Erscheinungen ohne Erstaunen wahrgenommen hätte. Gegen Norden nämlich, wo es schon so dunkel war, daß sich der Gesichtskreis etwa bis auf ein halbes Kilometer einengte, zitterte ein röthlicher Lichtschein auf den oberen Dunstschichten der Atmosphäre. Man entdeckte weder regelmäßige Streifen, noch eine deutliche Lichtstrahlung von einem gemeinsamen Mittelpunkte aus. Nichts ließ also etwa ein Nordlicht vermuthen, dessen prächtige Erscheinung übrigens fast [19] ausschließlich nur unter dem Himmel höherer Breitengrade sichtbar wird. Ein Meteorolog wäre also gewiß in Verlegenheit gekommen, zu sagen, von welchem Phänomen diese herrliche Beleuchtung der letzten Nacht des Jahres herrührte.

Kapitän Servadac war aber kein Meteorolog von Fach. Man darf annehmen, daß er seit dem Verlassen der Schule seine Nase wohl niemals wieder in das Lehrbuch der Kosmographie gesteckt hatte. Gerade diesen Abend war er auch keineswegs in der Stimmung, die Himmelskugel mit besonderer Aufmerksamkeit zu betrachten. Er flanirte und rauchte. Dachte er vielleicht allein an das Rencontre, das ihn morgen Früh mit Graf Timascheff zusammenführen sollte? Wenn ein solcher Gedanke manchmal sein Hirn durchkreuzte, so geschah es gewiß nicht, um ihn mehr als nöthig gegen den Grafen einzunehmen. Die beiden Gegner fühlten in der That keinen Haß gegeneinander, trotzdem sie Rivalen waren. Es handelte sich hierbei ja nur darum, einer Situation ein Ende zu machen, bei der Einer von Zweien allemal zu viel ist. Hector Servadac hielt Graf Timascheff gewiß für einen Ehrenmann und der Graf seinerseits konnte für den Officier nur die höchste Achtung haben.

Um acht Uhr Abends kehrte Kapitän Servadac zurück in das einzige Zimmer des Gourbi, das neben seinem Feldbette einen kleinen Arbeitstisch auf Stellhölzern und einige Koffer enthielt, die den Dienst von Schränken verrichteten. Die nöthigen Küchenarbeiten besorgte die Ordonnanz nicht in dem Gourbi, sondern in dem benachbarten Wachthause, und dort schlief der brave Bursche auch, wie er sagte, den »Schlaf des Gerechten!« Das hinderte ihn aber nicht, volle zwölf Stunden zu schlafen, und auch darüber hinaus wäre er noch eine Wette mit einem Murmelthiere eingegangen.

Kapitän Servadac, der gar nicht solche Eile hatte, zu schlummern, setzte sich an den mit seinen Instrumenten bedeckten Tisch. Mechanisch ergriff er mit der einen Hand den rothen und blauen Stift und mit der anderen den Reductionszirkel. Dann begann er auf dem Pauspapier vor sich verschieden gefärbte ungleiche Linien zu ziehen, welche einer strengen topographischen Aufnahme nicht im Geringsten ähnlich sahen.

Unterdessen wartete Ben-Zouf, der noch keinen Befehl erhalten hatte, sich schlafen zu legen, in einer Ecke, und versuchte zu schlafen, was ihm nur die sonderbare Aufgeregtheit seines Kapitäns sehr erschwerte.

[20] In der That hatte nicht der Stabsofficier, sondern der gascognesche Poet an dem Arbeitstische Platz genommen. Ja! Hector Servadac quälte sich auf die beste Art und Weise. Er bearbeitete mit aller Kraft dieses Rondeau, das sich so ungeheuer bitten ließ. Focht er wohl mit dem Zirkel, um seinen Versen eine genaue mathematische Form zu sichern? Verwandte er einen mehrfarbigen Stift, um den rebellischen Reimen mehr Abwechslung zu geben? Fast hätte man das glauben können. Doch, wie dem auch sei, es war eine sauere Arbeit.

»Ei, zum Kuckuck! rief er, was mußte ich auch diese Form eines Quatrain wählen, die mich zwingt, die Reime, wie die Flüchtlinge in einer Schlacht, immer wieder vorzuführen? Aber bei allen Teufeln, ich werde kämpfen! Man soll nicht sagen, daß ein französischer Officier vor einigen Reimen Reißaus genommen hätte. Ein einzelner Vers, der gleicht etwa einem Bataillon! Die erste Compagnie hat schon Feuer gegeben! – Er wollte sagen, das erste Quatrain. – Nun, vorwärts die anderen!«

Die bis auf's Messer verfolgten Reime schienen endlich zu gehorchen, denn bald entstand eine rothe und eine blaue Linie auf dem Papier:


Was nützt das schöne Reden all',
Das sich Vertrauen stiehlt! ...

»Was Teufel quält sich nur mein Kapitän? fragte sich Ben-Zouf, der sich hin und her drehte. Da ficht er nun schon eine Stunde herum, wie ein Gelbschnabel, der vom halbjährigen Urlaub zurückkehrt.«

Hector Servadac durchmaß den Gourbi, eine willenlose Beute seiner dichterischen Begeisterung:


Wenn bei der leeren Worte Schwall
Das Herz nichts fühlt?

»Es steht fest, er macht Verse, sagte sich Ben-Zouf, indem er sich in seine Ecke zurückzog. Ja, das ist ein geräuschvolles Geschäft, da ist nicht an Schlafen zu denken.«

Er ließ ein dumpfes Knurren hören.

»He, Ben-Zouf, was hast Du denn? fragte Hector Servadac.

– Nichts, mein Kapitän, mich drückt nur der Alp!

– Der Teufel soll Dich holen!

[21] – Wäre mir schon recht, und zwar gleich auf der Stelle, murmelte Ben-Zouf, vorzüglich wenn der Gottseibeiuns keine Verse macht!

– Dieser Esel hat mich im schönsten Fluß unterbrochen! wetterte der Kapitän. Ben-Zouf!

– Hier, Herr Kapitän! versetzte die Ordonnanz, und erhob sich, die eine Hand an der Mütze, die andere an der Hosennaht!

– Muckse nicht, Ben-Zouf! Muckse nicht, ich bin eben bei der glücklichen Vollendung meines Rondeau!«

Und mit begeisterter Stimme und den Gesticulationen eines großen Poeten fügte Hector Servadac hinzu:


O, glaub' mir, meine Lieb' ist echt,
Ich ruf Dir's ehrlich zu,
Daß ich Dich liebe heiß und recht,
Und für .....

Das letzte Wort war noch nicht gesprochen, als Kapitän Servadac und Ben-Zouf mit unerhörter Gewalt zu Boden geworfen wurden.

4. Capitel
Viertes Capitel.
Welches dem Leser Gelegenheit giebt, die Ausrufungs- und Fragezeichen beliebig zu vermehren.

Wie kam es, daß der Horizont sich eben jetzt so auffallend und plötzlich verändert hatte, daß auch das geübte Auge eines Seemanns die Kreislinie nicht hätte erkennen können, in der sonst Himmel und Wasser verschmolzen? Warum thürmte das Meer jetzt seine Wogen auf eine Höhe empor, welche die Gelehrten bis dahin nie für möglich gehalten hätten?

Auf welche Weise entstand bei dem Krachen des zerreißenden Bodens ein solcher Höllenlärm mit den verschiedensten Geräuschen, mit dem Knirschen der gewaltsamen Verschiebung der Rippen der Erdkugel, mit dem Rauschen des bis auf ungeahnte Tiefen aufgewühlten Wassers, mit dem Pfeifen der Luftmassen, die in eine Cyklone hineingerissen schienen?

[22] Woher dieser außergewöhnliche Glanz am Himmel, der die Strahlung eines Nordlichtes beiweitem übertraf, ein Glanz, der das ganze Firmament einnahm und vorübergehend die Sterne jeder Größe verlöschte?

Wie kam es, daß das für einen Augenblick scheinbar entleerte Mittelmeer sich ebenso plötzlich wieder mit entsetzlich wild empörten Wogen füllte?

Warum schien die Scheibe des Mondes sich unverhältnißmäßig zu vergrößern, als habe das Gestirn der Nacht sich der Erde in wenig Secunden von 48.000 Meilen auf 5000 Meilen genähert?

Woher erschien das neue, ungeheure, flammende Sphäroïd am Firmamente, das sich bald hinter der dichten Wolkenschicht verlor?

Welch' außerordentliche Erscheinung lag überhaupt dieser Umwälzung zu Grunde, welche die Tiefen der Erde, des Meeres, den Himmel und den ganzen Weltraum erschütterte?

Wer hätte es sagen können?

War auf der Erdkugel denn noch ein Bewohner übrig, um auf diese Fragen zu antworten?

5. Capitel
Fünftes Capitel.
In welchem von der Abänderung einiger physikalischer Gesetzte die Rede ist, ohne daß man den Grund dafür anzugeben weiß.

Alles in Allem schien mit dem algierischen Küstenstriche, der im Westen durch das rechte Ufer des Cheliff und im Norden durch das Mittelmeer begrenzt ist, keine Veränderung vor sich gegangen zu sein. Trotz des fürchterlichen Stoßes zeigte sich weder an dieser fruchtbaren, nur hier und da etwas wellenförmigen Ebene, noch an der unregelmäßigen Uferlinie etwas besonders Auffälliges in der äußeren Erscheinung. Auch das steinerne Wachthaus hatte bei seiner festen Verbindung der einzelnen Mauertheile hinreichend Widerstand geleistet, der Gourbi freilich lag platt auf dem Boden wie ein Kartenhaus, das ein Kind umblies, und seine beiden Bewohner waren unter den mit dem Strohdach bedeckten Trümmern vergraben.

[23] Erst zwei Stunden nach der Katastrophe kam Kapitän Servadac wieder zu sich. Er hatte natürlich einige Mühe, seine Gedanken zu sammeln, die ersten Worte aber, welche über seine Lippen kamen – wen könnte das Wunder nehmen – waren die letzten Silben des berühmten Rondeau, bei denen er auf eine so ungewöhnliche Weise gestört worden war:


»Es steht fest, er macht Verse!« sagte sich Ben-Zouf. (S. 21.)

.... heiß und recht,
Und für .....

[24] Erst nach diesen fragte er sich: »Was zum Teufel ist denn geschehen?«

Die Antwort auf diese an sich selbst gerichtete Frage fiel ihm freilich schwer. Er bohrte mit den Armen nach oben; es gelang ihm, die Strohdecke zu durchbrechen und den Kopf durch das zusammengestürzte Dach zu drängen.


»Hier!« antwortete Ben-Zouf. (S. 26.)

Kapitän Servadac sah sich verwundert um.

[25] »Der Gourbi umgeworfen! sagte er. Da wird eine Trombe über die Küste gestürmt sein!«

Er schwieg. Er fühlte keine Verrenkung, überhaupt keine Wunde.

»Mordio, und mein Bursche?«

Er arbeitete sich in die Höhe und rief:

»Ben-Zouf!«

Bei der Stimme des Kapitän wühlte sich ein zweiter Kopf durch das Strohdach.

»Hier!« antwortete Ben-Zouf.

Es schien, als habe die Ordonnanz nur auf den Appell gewartet, um auf Soldatenart anzutreten.

»Hast Du eine Idee davon, was vorgefallen ist, Ben-Zouf? fragte Hector Servadac.

– Mir sieht es aus, mein Kapitän, als wären wir nahe an der letzten Parade gewesen.

– Ei was, eine Trombe war es, Ben-Zouf, eine einfache Trombe.

– Nun, meinetwegen eine Trombe! erwiderte philosophisch die Ordonnanz. Nichts Wichtiges gebrochen, Herr Kapitän?

– Nichts, Ben-Zouf.«

Bald waren Beide auf den Füßen; sie räumten den Trümmerhaufen des Gourbi zusammen und fanden die Instrumente, Werkzeuge, Waffen und alles Uebrige so ziemlich intact wieder. Jetzt fragte der Stabsofficier:

»Um wie viel Uhr mag es wohl sein?

– Mindestens um acht Uhr, erwiderte Ben-Zouf, indem er die Sonne betrachtete, welche schon ziemlich hoch über dem Horizonte stand.

– Um acht Uhr?

– Mindestens, Herr Kapitän.

– Wäre das möglich?

– Ja, wir werden aufbrechen müssen.

– Aufbrechen? Wohin?

– Nun, nach unserem Rendezvous.

– Welches Rendezvous?

– Ei, das Rencontre mit dem Grafen ....

– Mordio, rief der Kapitän, das hätte ich fast vergessen!«

Er zog seine Uhr.

[26] »Was sagst Du, Ben-Zouf? Du bist ein Narr, es ist kaum zwei Uhr.

– Zwei Uhr Früh oder zwei Uhr Nachmittag?« entgegnete Ben-Zouf, der immer nach der Sonne sah.

Hector Servadac hielt die Uhr an's Ohr.

»Sie geht, sagte er.

– Und die Sonne auch, bemerkte die Ordonnanz.

– Wahrhaftig, nach der Höhe über dem Horizont zu urtheilen ... ah, bei allen Weinbergen Medocs ....

– Was ist Ihnen, Herr Kapitän?

– Es muß ja um acht Uhr Abends sein?

– Abends?

– Gewiß, die Sonne steht im Westen, sie ist offenbar beim Niedergehen.

– Im Untergehen, nein, nein, mein Kapitän, antwortete Ben-Zouf; sie steht jetzt auf, wie ein Conscribirter beim Morgenschuß. Da sehen Sie, während wir sprechen, ist sie schon höher gestiegen.

– So geht die Sonne also jetzt im Westen auf, murmelte Servadac. Ach was, das ist ja unmöglich!«

Immerhin war die Thatsache nicht wegzuleugnen. Das Strahlengestirn stieg scheinbar über den Wellen des Cheliff auf und beschrieb seinen Bogen über dem westlichen Horizonte, den es früher erst Nachmittags durchmessen hatte.

Hector Servadac sah nun wohl ein, daß ein absolut unerhörtes und ebenso unerklärliches Ereigniß, wenn auch nicht die Lage der Sonne in der siderischen Welt, so doch die Richtung der Erdrotation um ihre Achse verändert habe.

Es war zum Verstandverlieren. Konnte das Unmögliche zur Wahrheit werden? Hätte Kapitän Servadac eines der Mitglieder des Längenvermessungsbureaus bei der Hand gehabt, er würde einige Aufklärung zu erlangen gesucht haben. Da er ganz auf sich allein angewiesen war, so tröstete er sich mit den Worten:

»Meiner Treu, die ganze Sache geht im Grunde nur die Astronomen an, ich werde ja in acht Tagen sehen, was sie in den Zeitungen darüber veröffentlichen.«

Ohne sich noch unnöthig lange bei der Untersuchung des Grundes dieser seltsamen Erscheinung aufzuhalten, rief er nach seiner Ordonnanz.

[27] »Nun vorwärts! Was hier auch passirt ist und ob die ganze Erde und Himmelsmechanik in Unordnung gerathen ist, jedenfalls muß ich der Erste am Platze sein, um Graf Timascheff die Ehre zu erweisen ...

– Ihm den Degen durch den Leib zu bohren!« vervollständigte Ben-Zouf den Satz.

Wären Hector Servadac und seine Ordonnanz besonders aufgelegt gewesen, auf die physischen Veränderungen zu achten, die in dieser Nacht vom 31. December zum 1. Januar mit ihnen so plötzlich vorgegangen waren, nachdem sie doch die Modification in der scheinbaren Bewegung der Sonne constatirt hatten, ihr Erstaunen wäre sicher noch mehr gewachsen. Um zuerst von ihnen selbst zu sprechen, so fühlten sie sich etwas beengt, mußten häufiger Athem holen, wie es den Bergsteigern zu ergehen pflegt, so als sei die umgebende Luft minder dicht und folglich auch minder reich an Sauerstoff; dazu erschien ihre Stimme sehr schwach. Entweder also waren sie über Nacht halb taub geworden oder sie mußten annehmen, daß die Luft plötzlich eine Verminderung ihrer Leitungsfähigkeit für Schallwellen erfahren habe.

Diese physikalischen Veränderungen bekümmerten im gegenwärtigen Augenblicke aber weder Kapitän Servadac noch Ben-Zouf und Beide trabten auf den Cheliff zu, wobei sie dem Wege auf dem steilen Ufer folgten.

Auch das gestern noch sehr dunstige Wetter zeigte sich wesentlich verändert. Ein eigenthümlich gefärbter Himmel, der sich schnell mit niedrigen Wolken bedeckte, versteckte bald die Sonne, so daß das Auge ihren Lauf nicht mehr verfolgen konnte. Es drohte ein wahrer sündfluthlicher Regen, wenn nicht ein gewaltiges Gewitter, doch gelangten diese Dunstmassen nicht zur Condensation und schlugen sich also auch nicht nieder.

Zum ersten Male an dieser Küste schien das Meer ganz und gar verlassen. Kein Segel, keine Rauchsäule war auf dem bläulichen Wasser oder an dem grauen Himmel zu sehen. Der Horizont selbst – beruhte das nur auf optischer Täuschung – schien sich ungemein verengert zu haben, und zwar der über dem Meere ebenso, wie der, welcher nach der anderen Seite die Ebene begrenzte. Die ungeheuren Fernsichten waren gleichsam verschwunden, so als ob die Convexität der Erdkugel sehr stark zugenommen habe.

Kapitän Servadac und Ben-Zouf gingen schnell dahin, ohne ein Wort zu wechseln, und mußten bald die fünf Kilometer zurückgelegt haben, die den Gourbi von dem Platze des Stelldicheins trennten. Beide hätten an diesem [28] Morgen empfinden müssen, daß sie physiologisch ganz anders organisirt waren. Ohne sich besondere Rechenschaft zu geben, fühlten sie sich körperlich so leicht, als ob sie Flügel an den Füßen trügen. Die Ordonnanz mochte ihre Gedanken etwa dahin zusammengefaßt haben, daß heute Alles »serm und flott« gehe.

»Nicht zu vergessen, murmelte er, daß wir heute nicht einmal eine ordentliche Ration zu uns genommen haben.«

Es muß anerkannt werden, daß ein derartiges Versehen bei dem braven Soldaten sonst nicht vorzukommen pflegte.

Da ließ sich ein recht widerliches Gebell zur Linken des Fußweges hören. Fast gleichzeitig sprang ein Schakal aus einer dichten Gruppe Mastixbäume. Das Thier gehörte einer besonderen Art der afrikanischen Fauna an, deren Fell regelmäßige schwarze Flecken und einen ebenso gefärbten Streifen an der Vorderseite der Beine hat.

Der Schakal kann gefährlich werden, wenn er in der Nacht in Heerden auf Raub auszieht. Einzeln ist er nicht mehr zu fürchten als ein Hund. Ben-Zouf war gewiß nicht der Mann, sich von jenem ängstigen zu lassen, aber Ben-Zouf liebte auch die Schakals nicht – wahrscheinlich weil sie nicht mit einer besonderen Art in der Fauna des Montmartre vertreten waren.

Von dem Dickicht aus lief das Thier auf einen Felsen zu, der mindestens zehn Meter Höhe haben mochte. Mit offenbarer Unruhe betrachtete es die beiden Wanderer. Ben-Zouf that, als ob er auf dasselbe anlegte, auf welche drohende Haltung das Thier zum größten Erstaunen des Kapitäns und seiner Ordonnanz mit einem einzigen Satz auf die Höhe des Felsens sprang.

»Das nenn' ich einen Springer! rief Ben-Zouf, die Bestie schnellte sich mindestens dreißig Fuß in die Höhe.

– Wahrhaftig, antwortete Kapitän Servadac tiefsinnend, einen solchen Sprung hab' ich niemals fertig gebracht!«

Der Schakal setzte sich auf dem Gipfel des Felsens nieder und stierte die Beiden mit glotzenden Augen an. Ben-Zouf erhob einen Stein, um ihn zu vertreiben.

Der Stein war sehr groß und doch wog er in der Hand der Ordonnanz scheinbar nicht mehr als ein Stück Bimsstein.

[29] »Verdammter Schakal, sagte Ben-Zouf, dieser Stein schadet ihm auch nicht mehr als ein Käsekeulchen! Doch warum in aller Welt ist der so groß und doch so leicht?«

Da er indeß nichts Anderes zur Hand hatte, schleuderte er genanntes Käsekeulchen mit aller Kraft fort.

Er traf den Schakal nicht. Jedenfalls genügten dem klugen Thiere aber Ben-Zouf's nichts Gutes verheißende Bewegungen um sich aus dem Staube zu ma chen. Schnell verschwand er wieder hinter anderen Bäumen und entfloh mit solchen riesigen Sprüngen, wie man sie höchstens einem Känguruh aus Gummielasticum zugetraut hätte. Statt sein Ziel zu treffen, beschrieb der Stein einen sehr flachen Bogen zum größten Erstaunen Ben-Zouf's, der ihn etwa fünfhundert Schritt hinter dem Felsen niederfallen sah.

»Vermaledeiter Beduine! rief er; aber warte, ich werfe nun blos noch mit vierpfündigen Kanonenkugeln!«

Ben-Zouf befand sich einige Schritte vor seinem Herrn dicht an einem mit Wasser gefüllten, gegen zehn Fuß breiten Graben, den sie überschreiten mußten. Er nahm einen Anlauf und sprang darüber, daß es einem Gymnastiker zur Ehre gereicht hätte.

»Halt, halt, Ben-Zouf, wo willst Du hin? Was fällt Dir denn ein? Du wirst Dir die Rippen zerbrechen, Du Waghals!« Kapitän Servadac stieß diese Worte hervor, weil er seine Ordonnanz eben etwa vierzig Fuß hoch in der Luft schweben sah.

Bei dem Gedanken an den gefährlichen Fall Ben-Zouf's versuchte nun auch Hector Servadac über den Graben zu springen; sein Aufwand von Muskelkraft schnellte auch ihn selbst zu einer Höhe von wenigstens dreißig Fuß. Er kreuzte beim Aufspringen Ben-Zouf, der eben im Herabfallen war. Später sank auch er in Folge der Gravitationsgesetze wieder mit wachsender Schnelligkeit nach dem Erdboden zurück, doch ohne einen heftigeren Stoß zu empfinden, als ob er etwa vier bis fünf Fuß hoch gesprungen wäre.

»Alle Wetter, Herr Kapitän, rief da Ben-Zouf hell auflachend, wir sind ja zu leibhaftigen Clowns geworden!«

Nach einigem Nachsinnen trat Hector Servadac näher an seine Ordonnanz heran und legte dem Soldaten die Hand auf die Schulter.

[30] »Fliege mir nicht davon, Ben-Zouf, begann er, und sieh mich aufmerksam an. Ich bin noch nicht ganz wach; wecke mich, stich mich, wenn es sein muß. Wir sind entweder Narren oder wir träumen.

– Thatsache ist, Herr Kapitän, antwortete Ben-Zouf, daß so etwas noch nirgends anders vorgekommen ist als im Lande der Träume; wenn ich mich im Traume z.B. für eine Schwalbe hielt und über den Montmartre wegflog, so leicht, als ob ich über mein Käppi spränge. Die ganze Geschichte geht nicht mit natürlichen Dingen zu. Uns ist etwas passirt, aber etwas, was noch keiner lebenden Seele vorgekommen ist. Ist das etwa eine besondere Eigenthümlichkeit der Küste von Algier?«

Hector Servadac war in dumpfes Sinnen versunken.

»Das ist zum Verrücktwerden! fuhr er auf. Wir schlafen ja nicht, wir träumen doch nicht ...«

Doch, er war nicht der Mann, sich eine halbe Ewigkeit mit diesem unter den gegebenen Verhältnissen ohnehin schwer löslichen Probleme herumzuschlagen.

»Nun, so mag meinetwegen geschehen was da will! rief er, entschlossen, sich über nichts mehr zu wundern.

– Recht, mein Kapitän, bekräftigte Ben-Zouf, vor allen Dingen wollen wir die Sache mit Graf Timascheff in Ordnung bringen.«

Jenseit des Grabens breitete sich eine mäßig große Wiese mit weichem Grase aus. Verschiedene, vor etwa fünfzig Jahren angepflanzte Bäume, Eichen, Palmen, Johannisbrotbäume, Sycomoren, dazwischen verschiedene Aloës und über Alle hinausragend, einige ungeheure Eukalypten, bildeten einen herrlichen Rahmen um dieselbe.

Hier war der verabredete Platz, auf dem der Ehrenhandel der beiden Gegner zum Austrag kommen sollte.

Hector Servadac ließ die Blicke über die Wiese schweifen.

»Mordio, rief er, da er Niemand sah, wir sind also doch die Ersten beim Rendezvous.

– Oder vielleicht die Letzten! versetzte Ben-Zouf.

– Was, die Letzten ? – Noch ist es nicht neun Uhr, versicherte Kapitän Servadac, der seine Uhr beim Aufbruch aus dem Gourbi nach der Sonne gestellt hatte.

– Herr Kapitän, fragte da die Ordonnanz, sehen Sie dort durch die Wolken jene weißliche Kugel?


Der Schakal setzte sich auf dem Gipfel des Felsens nieder. (S. 29.)

– Gewiß, antwortete der Kapitän, der eine in Dunst verhüllte Scheibe erblickte, welche jetzt im Zenith stand.

– Nun gut, fuhr Ben-Zouf fort, diese Kugel kann [31] nur die Sonne oder höchstens deren Stellvertreter sein.

– Die Sonne im Zenith – Mitte Januar und im neununddreißigsten Grade der Breite? rief Hector Servadac.


Er kreuzte beim Aufspringen Ben-Zouf, der eben im Herabfallen war. (S. 30.)

– Sie ist es, Herr Kapitän, sie zeigt Mittag, wenn Sie erlauben. Es scheint, sie hat's sehr eilig heute und ich wette mein Käppi gegen eine Schüssel Brei, daß [32] sie in drei Stunden schon untergegangen sein wird.«

Die Arme gekreuzt, blieb Hector Servadac einige Minuten unbeweglich stehen. Dann drehte er sich einmal ganz um sich selbst, um alle Punkte des Horizontes in's Auge fassen zu können, und sagte:

[33] »Die Gesetze der Schwere verändert, die Himmelsgegenden verwechselt, die Dauer des Tages um fünfzig Procent verkürzt ... das könnte freilich mein Zusammentreffen mit Graf Timascheff unbestimmt lange verzögern. Zum Teufel, es ist doch mein Gehirn nicht und auch nicht das Ben-Zouf's, die jetzt außer Rand und Band wären?«

Der gleichgiltige Ben-Zouf, dem auch die außerordentlichste kosmische Erscheinung keinen Ausruf der Verwunderung entlockt hätte, sah seinen Officier sehr seelenruhig an.

»Ben-Zouf? sagte dieser.

– Herr Kapitän?

– Du siehst hier Niemand.

– Ich sehe Niemand. Der Russe ist wieder weg.

– Angenommen, er wäre zurückgekehrt, so wären doch meine Secundanten hier geblieben oder bei meinem Ausbleiben nach dem Gourbi gekommen.

– Das stimmt allerdings, Herr Kapitän.

– Ich schließe daraus also, daß sie überhaupt nicht hier waren.

– Und wenn sie wirklich nicht kommen? ...

– Daß sie jedenfalls nicht haben kommen können. Was den Grafen Timascheff ...«

Statt den Satz zu vollenden, näherte sich Kapitän Servadac dem felsigen, das Meer überragenden Ufer und schaute hinaus, ob die Goëlette Dobryna vielleicht nahe der Küste vor Anker läge. Es war ja möglich, daß Graf Timascheff zu Wasser nach dem Orte des Stelldicheins kam, wie es auch gestern der Fall war.

Die Wasserfläche war leer, auch bemerkte Hector Servadac jetzt, daß dieselbe trotz der unzweifelhaften Windstille ungemein bewegt erschien, so als ob das Wasser lange über dem Feuer im Sieden erhalten wäre. Sicherlich vermochte die Goëlette gegen diesen Seegang nur sehr schwer Stand zu halten.

Zu seinem größten Erstaunen sah er auch jetzt zum ersten Male, wie sich die Kreislinie, an der sich Himmel und Wasser scheinbar berührten, so auffallend verengert hatte.

Für einen auf dem Kamme des hohen Ufers befindlichen Beobachter hätte der Gesichtskreis in der That einen Halbmesser von 40 Kilometern (5 1/3 geogr. Meilen) haben müssen. Hier schloß er schon mit höchstens [34] 10 Kilometern ab, als habe sich das Volumen der Erdkugel binnen wenigen Stunden beträchtlich vermindert.

»Das ist Alles doch gar zu sonderbar!« sagte der Stabsofficier.

Inzwischen hatte Ben-Zouf, ein ebenso fertiger Kletterer wie der gewandteste Vierhänder, den Wipfel einer Eukalypte erstiegen. Von diesem hohen Punkte aus übersah er die Umgebung sowohl in der Richtung nach Tenez und Mostagenem, als nach der Südseite zu. Als er herabgestiegen, meldete er seinem Kapitän, daß die ganze übersehbare Fläche vollkommen öde erscheine.

»Wir wollen nach dem Cheliff gehen, sagte Hector Servadac. Der Fluß wird uns über unsere Lage aufklären.

– Also an den Cheliff!« antwortete Ben-Zouf.

Höchstens drei Kilometer lagen zwischen der Wiese und dem Flusse, den der Kapitän überschreiten wollte, um sich bis Mostagenem zu begeben. Er mußte eilen, um die Stadt noch vor Untergang der Sonne zu erreichen. Durch den dichten Wolkenschleier sah er, wie sie sich rasch senkte und – ein neues Wunder zu den früheren – statt den schrägen Bogen zu beschreiben, wie er der Breitenlage Algiers entsprochen hätte, bewegte sie sich fast lothrecht gegen den Horizont.

Unterwegs überlegte sich Kapitän Servadac noch mehrfach diese verschiedenen Sonderbarkeiten. Wenn durch ein wahrhaft unerhörtes Ereigniß die Achsendrehung der Erde verändert erschien; wenn man in Anbetracht der durch den Zenith wandelnden Sonne zu der Annahme kam, daß die Küste Algiers nach jenseit des Aequators versetzt worden sei, so schien es doch wiederum, als habe die Convexität der Erdrinde, wenigstens in diesem Theile Afrikas, keine nennenswerthe Veränderung erlitten. Das Ufer bildete noch wie zuvor eine Reihe von steilen und flachen sandigen Strecken, sowie von nackten, rothen, scheinbar eisenhaltigen Felsen. Soweit der Blick reichte, entdeckte er an der Küste keine neue Gestaltung. Ebenso verhielt es sich zur Linken, nach Süden zu, wenigstens nach der Himmelsgegend hin, welche Hector Servadac noch den Süden nannte, obwohl die Lage der beiden Cardinalpunkte des Himmels offenbar gewechselt hatte – denn augenblicklich wenigstens konnte man sich nicht verhehlen, daß sie direct vertauscht erschienen. In einer Entfernung von etwa drei Stunden erhoben sich die ersten Anfänge des [35] Gebirges Merjejah und zeichnete sich die Linie ihrer Gipfel in gewohnter Form am Firmamente ab.

»Mordio, rief Kapitän Servadac, ich bin doch begierig zu hören, was sie in Mostagenem von dem ganzen Zauber denken! Was wird der Kriegsminister sagen, wenn er per Telegramm erfährt, daß seine Kolonie Afrika in ihrer physikalischen Lage plötzlich so eingreifend umgewandelt ist, wie es nach der moralischen Seite noch niemals hat gelingen wollen?

– Die Kolonie Afrika, erwiderte Ben-Zouf, kommt einfach in Polizeiarrest.

– Und daß die Himmelsgegenden mit den militärischen Reglements in schreiendem Widerspruch stehen.

– Die Himmelsgegenden werden in eine Strafcompagnie versetzt.

– Und daß die Sonne im Monat Januar mich gerade auf den Kopf trifft.

– Einen Officier zu beleidigen! Die Sonne wird standrechtlich erschossen!«

O, Ben-Zouf war sattelfest in dem Capitel der Disciplin.

Hector Servadac und er beeilten sich nach Möglichkeit. Unterstützt durch ihre geringe specifische Schwere, die ihnen schon zur zweiten Natur geworden war, ebenso wie sie die verdünntere, das Athmen beschleunigende Luft gewöhnt waren, liefen sie schneller als Hafen, sprangen sie wie Gemsen. Sie folgten gar nicht mehr dem Fußpfade auf dem Kamme des Ufers, dessen Windungen ihren Weg verlängert hätten. Sie drangen in kürzester Richtung vorwärts, mit Vogelflügeln, wie man in der alten Welt – mit Bienenflügeln, wie man in der neuen Welt sagt. Eine Hecke – sie hüpften darüber; ein Bach – sie überschritten ihn mit einem Satze; – eine Reihe Bäume – sie sprangen mit gleichen Füßen darüber hinweg; ein Hügel – sie passirten ihn im Fluge Unter den gegebenen Verhältnissen hätte der Montmartre Ben-Zouf nur einen Schritt gekostet. Beide hatten nur die eine Befürchtung, sie möchten zu große Bogen in vertikaler Richtung machen, da sie doch horizontal vorwärts wollten. In der That berührten sie kaum den Erdboden, der für sie nur als Schwungbrett mit unbegrenzter Elasticität diente.

Endlich ward das Ufer des Cheliff sichtbar und mit wenigen Sprüngen standen Kapitän Servadac und seine Ordonnanz an dessen rechter Seite.

Doch hier mußten sie Halt machen. Die Brücke war verschwunden.

[36] »Keine Brücke mehr! rief Kapitän Servadac. Hier hat's also eine Ueberschwemmung gegeben, so eine kleine Wiederholung der Sündfluth.

– Bah!« machte sich Ben-Zouf bemerkbar.

Und doch war hier das Staunen am rechten Orte. Der Cheliff als solcher existirte nicht mehr. Sein linkes Ufer war spurlos verschwunden Das rechte, früher der Rand eines fruchtbaren Landes, bildete jetzt eine Seeküste. Im Westen vertrat ein tobendes Wasser, statt der murmelnden, friedlichen Wellen, von blauer, statt der früheren gelben Farbe, bis auf Sehweite sein freundliches Bett. Ein Meer schien den Fluß verdrängt zu haben. Hier endete vorläufig die Gegend, welche früher das Territorium von Mostagenem bildete.

Hector Servadac wollte Klarheit. Er ging bis dicht an's Ufer, schöpfte etwas Wasser mit der Hand und führte diese zum Munde ...

»Salzig! rief er. In wenigen Stunden hat das Meer den ganzen Westen von Algier verschlungen.

– Dann, Herr Kapitän, meinte Ben-Zouf, wird das etwas länger dauern als eine gewöhnliche Ueberschwemmung.

– Das ist die verkehrte Welt! erwiderte kopfschüttelnd der Stabsofficier; und die Umwälzung kann wahrhaft unberechenbare Folgen haben. Was mag aus meinen Freunden, meinen Kameraden geworden sein?«

Ben-Zouf hatte Hector Servadac noch nie so erregt gesehen. Er suchte also sein Gesicht mit dem des Anderen in Einklang zu bringen, obgleich er für seine Person noch keine so rechte Vorstellung von dem hatte, was hier vorgegangen sei. Auch hätte er schon als Philosoph seine Partei genommen, wenn er sich nicht »militärisch« verpflichtet gefühlt hätte, die Empfindungen seines Kapitäns zu theilen.

Das neu entstandene, vom rechten Ufer des Cheliff gebildete Ufer verlief an leicht gerundeter Linie von Norden nach Süden. Es schien nicht, als habe die Erdrevolution, deren Schauplatz dieser Theil Afrikas war, dasselbe besonders berührt. Noch immer entsprach es auf den ersten Blick mit seinen Gruppen großer Bäume, seinem launenhaft abgeschnittenen Ufer und dem grünen Teppich der benachbarten Wiesen der früheren topographischen Aufnahme. Nur bildete es jetzt, statt der einen Wand eines Flußbettes, die Küste eines unbekannten Meeres.

[37] Kaum gelang es aber dem Kapitän Servadac, der jetzt sehr ernst geworden war, die eingreifenden Veränderungen genauer in's Auge zu fassen. Als die Sonne im Osten den Horizont erreicht hatte, versank sie unter diesen so schnell wie eine Kanonenkugel im Meere. Wäre man am 21. März oder 21. September unter den Tropen gewesen, zur Zeit, wo die Sonne die Ekliptik schneidet, der Uebergang vom Tage zur Nacht hätte sich nicht schneller vollziehen können. Keine Dämmerung begleitete diesen Abend und voraussichtlich fehlte auch das Morgenroth dem anderen Tage. Himmel, Erde und Meer, Alles ward fast augenblicklich in tiefer Finsterniß begraben.

6. Capitel
Sechstes Capitel.
Welches den Leser veranlaßt, Kapitän Servadac beim ersten Ausfluge in sein neues Gebiet zu begleiten.

Erinnert man sich des abenteuerlustigen Charakters unseres Kapitän Servadac, so begreift man auch leicht, daß er sich angesichts so ganz außergewöhnlicher Ereignisse doch keineswegs bestürzt zeigte. Nur wollte er, da er weniger indifferent als Ben-Zouf beanlagt war, gern die letzte Ursache der Dinge kennen lernen. Die Folgen berührten ihn weit weniger, wenn die Ursache einer Erscheinung ihm klar vor Augen lag. Die Aussicht, von einer Kanonenkugel zerrissen zu werden, hätte ihm keinen Kummer gemacht von dem Augenblicke an, da er wußte, nach welchen Gesetzen der Ballistik und in welcher Flugbahn sie gerade die Mitte der Brust treffen mußte. Das war so seine Art, die Dinge in der Welt anzusehen. Ohne sich also weiter, als sein Temperament das zuließ, um die Consequenzen des vorliegenden Phänomens zu kümmern, dachte er an nichts Anderes als an die Ergründung der Ursache desselben.

»Donnerwetter! rief er, als es so plötzlich Nacht wurde, das muß man hier bei vollem Tageslichte sehen ... in der Voraussetzung, daß es überhaupt [38] wie der mehr oder weniger hell wird, denn mich soll doch der erste beste Wolf verschlingen, wenn ich weiß, wo die Sonne hingekommen ist.

– Herr Kapitän, begann da Ben-Zouf ohne Ihnen Vorschriften machen zu wollen, was beginnen wir aber nun?

– Wir bleiben vorläufig an Ort und Stelle und morgen, wenn's überhaupt ein morgen giebt, kehren wir nach dem Gourbi zurück, nachdem wir die Küste im Westen und Süden in Augenschein genommen haben. Das Wichtigste ist, zu wissen, wo und woran wir sind, so lange wir uns nicht über das ganze wunderbare Ereigniß Rechenschaft geben können. Dann nach Untersuchung der Küste im Westen und Süden ...

– Wenn es überhaupt noch eine Küste giebt! fiel Ben-Zouf ein.

– Und wenn noch ein Süden vorhanden ist! vervollständigte Kapitän Servadac.

– Also kann man nun schlafen?

– Ja wohl, wer das fertig bringt!«

Fußend auf diese Autorisation, verkroch sich Ben-Zouf, dessen Gleichmuth auch so viel wunderbare Ereignisse nicht zu erschüttern vermochten, in einer Ausbuchtung des Ufers, legte die Hand über die Augen und schlief den Schlaf des Nichtswissers, der manchmal noch tiefer ist als der des Gerechten.

Kapitän Servadac dagegen irrte an der Küste des neuen Meeres umher und quälte sich mit unzählbaren Fragen ab, die vor seinem inneren Auge schwirrten.

Welche Wichtigkeit mochte zunächst der ganzen Katastrophe beizulegen sein? Beschränkte sie sich nur auf einen gewissen Theil Afrikas? Waren Algier, Oran und Mostagenem, jene so nahe bei einander liegenden Städte, jetzt von einander gerissen worden? Sollte Hector Servadac glauben, daß seine Freunde und Kameraden von der Subdivision zugleich mit den zahlreichen Einwohnern der Küste jetzt verschlungen waren, oder daß das durch irgend eine Erderschütterung aufgewühlte Mittelmeer nur diesen Theil des algierischen Gebietes neben der Mündung des Cheliff überdeckt habe? Diese Annahme würde zwar das Verschwinden des Flusses bis zu einer gewissen Grenze erklären, verbreitete aber über die anderen kosmischen Erscheinungen keinerlei Licht.

Eine andere Hypothese. War vielleicht anzunehmen, das afrikanische Küstengebiet sei plötzlich unter die Aequatorialzone versetzt worden? Damit [39] erklärte sich sowohl der neue, von der Sonne beschriebene Tagesbogen, als auch das totale Fehlen der Dämmerung, wiederum aber nicht, warum die Tage jetzt nur zwölf Stunden lang zu sein schienen, noch wie es zuging, daß die Sonne jetzt im Westen auf- und im Osten unterging.


Im Westen vertrat ein tobendes Wasser ... (S. 37.)

»Nichtsdestoweniger steht es fest, wiederholte sich Hector Servadac mehrmals, daß wir heute nur sechs Stunden lang Tag hatten und daß die Cardinalpunkte des Himmels jetzt Steven gegen Steven gewechselt haben, wie der Seemann sagen würde, mindestens bezüglich des Sonnen-Auf- und Unterganges. Nun, wir werden ja morgen sehen, wenn die Sonne wiederkommt – ja wenn sie überhaupt wieder kommt!« Kapitän Servadac war sehr mißtrauisch geworden.


Hector Servadac rüttelte ihn ohne Umstände munter (S. 43.)

Wirklich, abscheulicher Weise blieb der Himmel bedeckt und das Firmament zeigte nicht seine gewöhnliche Illumination durch die Sterne. Obwohl wenig [40] [42]bewandert in der Kosmographie, kannte Hector Servadac doch die hauptsächlichsten Sternbilder. Er hätte also sehen müssen, ob der Polarstern an seiner Stelle war, oder ob ein anderer Stern diese eingenommen habe, was unwiderleglich bewiesen hätte, daß die Erdkugel um eine neue Achse und vielleicht in entgegengesetztem Sinne rotirte, wodurch sich über viele Erscheinungen Licht verbreitet hätte. Aber keine Oeffnung entstand in den Wolken, welche dick genug schienen, um eine ganze Sündfluth zu enthalten, kein Sternlein zeigte sich dem Auge des verzweifelten Beobachters.

Auf den Mond war jetzt nicht zu hoffen, denn zu dieser Zeit des Monats war gerade Neumond und jener mußte also zugleich mit der Sonne unter dem Horizonte verschwunden sein.

Wer mißt aber das Erstaunen Hector Servadac's, als er nach anderthalbstündiger Promenade am Horizonte einen hellen Schein bemerkte, der auch den Rand der Wolken beleuchtete.

»Der Mond! rief er. Doch nein, der kann es ja nicht sein. Sollte die keusche Diana auch ihrerseits Thorheiten machen und im Westen aufstehen? Nein, der Mond ist das nicht, er könnte kein so intensives Licht verbreiten, er müßte sich denn der Erde ganz über die Maßen genähert haben.«

In der That erglänzte das Licht dieses Gestirns, mochte es nun sein, welches es wollte, so stark, daß es den Schirm von Dünsten durchbrach und sich eine halbe Tageshelle über die Umgebung verbreitete.

»Sollte es wohl die Sonne sein, fragte sich der Officier. Aber sie ist ja kaum seit zehn Minuten im Osten verschwunden! Doch wenn es weder der Mond noch die Sonne ist, was ist es dann? Eine ungeheure Feuerkugel vielleicht? Ei, tausend Teufel, wollen denn diese verwünschten Wolken niemals zerreißen?«

Dann begann er mit einem Rückblick auf seine Vergangenheit:

»Es wäre doch wohl besser gewesen, ich hätte einen Theil der manchmal so thöricht verschwendeten Zeit darauf verwendet, etwas Astronomie zu treiben. Wer weiß? Vielleicht ist alles das, worüber ich mir hier den Kopf zerbreche, etwas ganz Einfaches?«

Die Geheimnisse dieses neuen Himmels blieben in undurchdringliches Dunkel gehüllt. Der enorme Lichtschein, der offenbar von einer hellglänzenden Scheibe mit ungeheuren Dimensionen ausging, strömte etwa eine Stunde lang [42] auf die obere Fläche der Wolkendecke nieder. Nachher aber – wiederum eine erstaunliche Seltsamkeit – schien die Scheibe, statt einen Bogen zu beschreiben, wie jedes andere, den Gesetzen der Himmelsmechanik folgende Gestirn, statt nach dem entgegengesetzten Horizonte hinabzusinken, sich in einer zur Ebene des Aequators perpendiculären Linie zu entfernen und das dem Auge so angenehme Halbdunkel, welches in der Atmosphäre schimmerte, mit sich fortzunehmen.

Alles versank wieder in Dunkelheit und das Gehirn des Kapitän Servadac war davon nicht ausgeschlossen. Der Kapitän wußte sich nach keiner Seite Rath. Die elementarsten Regeln der Mechanik waren hier verletzt, die Himmelskugel glich einer Uhr, in der die Feder außer Ordnung gekommen ist; die Planeten entzogen sich den Gesetzen der Gravitation und es lag somit gar kein Grund für die Annahme vor, daß die Sonne jemals wieder über irgend einen Punkt des Erdhorizontes aufsteigen werde.

Drei Stunden später jedoch ward das Tagesgestirn ohne vermittelnde Dämmerung im Westen wieder sichtbar; das Morgenlicht erhellte die Wolkenbank, der Tag folgte wieder auf die Nacht und Kapitän Servadac überzeugte sich durch Vergleichung seiner Uhr, daß die Nacht genau sechs Stunden gedauert hatte.

Sechs Stunden reichten für Ben-Zouf freilich nicht aus; der unerschrockene Schläfer mußte geweckt werden.

Hector Servadac rüttelte ihn ohne Umstände munter.

»Allons, steh' auf, und vorwärts! rief er.

– Ah, Herr Kapitän! antwortete Ben-Zouf, sich die Augen reibend, mir scheint, ich habe meine Ration noch nicht. Ich war doch eben erst im Einschlafen.

– Du hast die ganze Nacht verträumt.

– Eine Nacht! das wäre ...

– Ja, freilich nur eine Nacht von sechs Stunden, aber Du wirst Dich an solche Nächte gewöhnen müssen.

– Das wird auch noch geschehen.

– Vorwärts denn, es ist keine Zeit zu verlieren. Wir wollen schnellstens nach dem Gourbi zurückkehren und sehen, was aus den Pferden geworden ist und was sie über das Alles denken.

[43] – Sie werden sich wundern, antwortete die Ordonnanz, daß ich sie seit gestern nicht gefüttert habe. Ich werde ihnen dafür eine ordentliche Mahlzeit vorsetzen.

– Schon gut, aber mach's nur schnell ab und sobald sie gesattelt sind, beginnen wir unsere Recognoscirung. Mindestens müssen wir doch in Erfahrung bringen, was aus den anderen Theilen Algiers geworden ist.

– Und dann?

– Und dann – nun, sollten wir Mostagenem im Süden nicht erreichen können, so werden wir uns im Osten bis Tenez durchschlagen.«

Kapitän Servadac und seine Ordonnanz folgten wieder dem Fußwege längs der Küste, um nach dem Gourbi zu gelangen. Da sie einen tüchtigen Appetit verspürten, so machten sie sich kein Gewissen daraus, unterwegs Feigen, Datteln und Orangen zu pflücken, die ihnen eben handrecht hingen. Auf diesem jetzt gänzlich verlassenen Theil des Territoriums, aus dem neuere Anpflanzungen einen reichen, ausgedehnten Fruchtgarten gemacht hatten, brauchten sie deshalb keinen Proceß zu fürchten.

Anderthalb Stunden nach ihrem Aufbruche von der Küste, dem früheren rechten Ufer des Cheliff, erreichten sie den Gourbi, wo sich Alles in der früheren Ordnung vorfand. Unzweifelhaft war während ihrer Abwesenheit kein Mensch hier gewesen und schien der östliche Theil des Landes ebenso wüst und verlassen zu sein, wie der westliche, durch den sie eben gekommen waren.

Schnell wurden alle kleinen Vorbereitungen zum Aufbruch getroffen. Etwas Zwieback und conservirtes Wild brachte Ben-Zouf in einer Reisetasche unter. Für Getränke hatten sie nicht zu sorgen, da sich zahlreiche klare Bäche durch die Ebene schlängelten. Diese früheren Nebenarme eines Flusses bildeten jetzt selbst Flüsse und mündeten unmittelbar in das Mittelmeer.

Zephyr – das Pferd des Kapitän Servadac – und Galette (eine Reminiscenz an den Montmartre) – der Zelter Ben-Zouf's – wurden im Handumdrehen gesattelt. Die beiden Reiter saßen auf und galoppirten nach dem Cheliff zu.

Hatten sie selbst aber vorher schon die Folgen der verminderten Schwerkraft verspürt, war ihnen ihre Muskelkraft mindestens verfünffacht erschienen, so unterlagen auch die Pferde jetzt in demselben Verhältnisse den auffallendsten physikalischen Veränderungen. Das waren keine einfachen Vierfüßler [44] mehr. Als wirkliche Hippogryphe berührten sie kaum den Boden. Glücklicher Weise saßen Hector Servadac und Ben-Zouf so sicher im Sattel, daß sie den Thieren die Zügel schießen ließen und sie eher noch antrieben, als zu zähmen suchten.

In zwanzig Minuten waren die acht Kilometer vom Gourbi nach der Cheliff-Mündung durchflogen, von wo aus die Pferde in langsamerem Tempo nach Südosten, längs des früheren rechten Flußufers dahin trabten.

Das Ufergelände hatte auch jetzt sein früheres Aussehen bewahrt. Das entgegengesetzte nur war, wie wir wissen, plötzlich verschwunden, und an seine Stelle ein weiter Meereshorizont getreten. Folglich mußte, mindestens bis auf die Entfernung dieses scheinbaren Horizontes, dieser ganze Theil der vor Mostagenem gelegenen Provinz Oran in der Nacht vom 31. December zum 1. Januar untergegangen und überfluthet worden sein.

Kapitän Servadac kannte das von ihm persönlich vermessene Terrain sehr genau. In Erinnerung der früher ausgeführten Triangulation fiel es ihm nicht schwer, sich in jeder Richtung genau zu orientiren. In seiner Absicht lag es, nach Besichtigung des möglich größten Theiles der betroffenen Landstrecke einen Rapport zu erstatten, den er zu adressiren gedachte an ... ja, an wen, das wußte er selbst noch nicht.

Im Laufe der vier noch übrigen Tagesstunden legten die Reiter von der Mündung des Cheliff ab etwa noch fünfunddreißig Kilometer zurück. Mit einbrechender Nacht lagerten sie sich an einer kleinen Bucht des früheren Flusses, der gegenüber noch gestern ein linksseitiger Nebenfluß, die jetzt in dem neuen Meere aufgegangene Mina, seine Wellen ergoß.

Während dieser Excursion war man, was ja nicht Wunder nehmen kann, keiner lebenden Seele begegnet.

Ben-Zouf machte ein Nachtlager zurecht, so gut es eben ging, die Pferde wurden angebunden und konnten nach Belieben das fette Gras des Ufers abweiden. Die Nacht verstrich ohne Zwischenfall.

Am nächsten Tage, dem 2. Januar, d.h. zu dem Zeitpunkte, wo nach dem alten Erdenkalender erst die Nacht vom 1. zum 2. Januar beginnen sollte, bestiegen Kapitän Servadac und seine Ordonnanz wieder die Pferde und setzten die Untersuchung des Ufergebietes fort. Mit der Sonne aufbrechend, legten sie während der sechs Stunden des Tages eine Strecke von siebzig Kilometern zurück.

[45] Die Grenze des Landes bildete fort und fort das frühere rechte Ufer des Flusses. Nur etwa zwanzig Kilometer von der Mündungsstelle der Mina war ein beträchtlicher Theil des Ufers verschwunden und mit ihm ein Vorort von Surkelmittu sammt seinen achthundert Einwohnern. Und wer weiß, ob die größeren, am Cheliff belegenen Städte Algiers, wie Mazagran, Mostagenem, Orleansville, nicht dasselbe Schicksal theilten?

Nach Umgehung der kleinen, durch den Abbruch des Ufers entstandenen Bai kehrte Hector Servadac wieder nach dem Flußrande zurück und betrat diesen gerade der Stelle gegenüber, wo die gemischte Gemeinde Ammi-Mussa, das alte Khamis der Beni-Uragh, liegen mußte. Es fand sich aber keine Spur von diesem Kreis-Hauptorte, nicht einmal von dem 1126 Meter hohen Pic von Mankura, vor dessen Fuße jenes Städtchen erbaut war.

An diesem Abend rasteten unsere beiden Forscher an einem Winkel der ihr neues Gebiet von dieser Seite scharf abgrenzte. Diese Stelle entsprach ungefähr dem Punkte, wo sich der bedeutende Flecken Memounturroy, von dem kein Restchen übrig schien, hätte finden müssen.

»Und ich hatte darauf gerechnet, heute Abend in Orleansville zu speisen und zu übernachten, sagte der Kapitän, während er das dunkle, vor seinen Augen ausgedehnte Meer betrachtete.

– Unmöglich, Herr Kapitän, erwiderte Ben-Zouf, im Falle wir nicht zu Schiff dahin gelangen können.

– Weißt Du, Ben-Zouf, daß wir Beide ganz besonderes Glück haben?

– Recht gut, Herr Kapitän, das ist unsere alte Gewohnheit! Sie werden sehen, daß wir auch Mittel finden, dieses Meer zu überschreiten und an der Seite von Mostagenem daran spazieren zu gehen.

– Hm, wenn wir uns, wie zu hoffen ist, auf einer Art Halbinsel befinden so möchten wir uns eher aus Tenez neuere Nachrichten holen ...

– Oder solche dahin bringen!« bemerkte sehr verständig Ben-Zouf.

Beim Wiedererscheinen der Sonne, sechs Stunden später, konnte Kapitän Servadac die Formation des Landes genauer überblicken.

Von der Stelle des letzten Nachtlagers aus verlief das Küstengebiet ziemlich genau von Süden nach Norden. Es endete dasselbe hier mit keinem natürlichen Ufer, wie an anderen Stellen mit dem des Cheliff. Ein frisch entstandener Bruch begrenzte die weite Ebene. An dieser Ecke fehlte, wie erwähnt, der Flecken Memounturroy. Ben-Zouf vermochte auch nach[46] Besteigung eines etwas landeinwärts gelegenen Hügels jenseit des Meereshorizontes nichts Weiteres zu erblicken. Kein Land war in Sicht. Folglich auch Orleansville nicht, das von hier aus gegen zehn Kilometer südwestlich lag.

Kapitän Servadac und sein Begleiter verließen ihre Lagerstätte und folgten der neuen Küste durch quer übereinander geworfenes Land, wild zerrissene Felsstücke, halb entwurzelte und nach dem Wasser überhängende Bäume, unter welchen sich auch einige uralte Olivenbäume befanden, deren wunderbar gekrümmter Stamm wie mit der Axt abgehauen erschien.

Nur langsam drangen die beiden Reiter weiter vor, da das buchten- und landzungenreiche Ufer sie zu manchem Umwege nöthigte. So hatten sie bei Sonnenuntergang nach einer Tour von etwa fünfunddreißig Kilometern erst den Fuß der Berge von Dj Merjejah erreicht, welche vor der Katastrophe nach dieser Seite zu die Kette des Kleinen Atlas abschlossen.

Hier zeigte sich die Gebirgskette gewaltsam abgeschnitten und erhob sich nur noch in einzelnen Bergspitzen längs des Ufers.

Nachdem sie am anderen Morgen eines der tiefen Zwischenthäler zu Pferde durchzogen hatten, erstiegen Hector Servadac und Ben-Zouf einen der höchsten Gipfel und gewannen dadurch eine Totalübersicht über diesen beschränkten Theil des algierischen Gebietes, dessen einzige Bewohner sie zu sein schienen.

Da setzte sich die neue Küste vom Fuße der Merjejah-Berge fort bis zu den entfernten Ufern des Mittelländischen Meeres, und zwar in einer Gesammtlänge von etwa dreißig Kilometern. Keine Landenge verband dieses Gebiet mit dem verschwundenen Districte von Tenez.


Als wirkliche Hippogryphe berührten sie kaum den Boden. (S. 45.)

Die beiden Reiter recognoscirten also nicht eine Halbinsel, wie sie noch immer gehofft hatten, sondern eine wirkliche Insel. Mit Hilfe seines hohen Beobachtungspunktes mußte Kapitän Servadac zu seinem großen Schrecken constatiren, daß ihn das Meer von allen Seiten umfluthete und er, so weit auch sein Blick jetzt reichte, nirgends sonst Land entdecken konnte.

Diese vor Kurzem aus dem Boden Algiers heraus geschnittene Insel entsprach der Form nach etwa einem unregelmäßigen Viereck, beinahe einem Dreieck, dessen Seiten folgende Verhältnisse zeigten: 120 Kilometer an dem früheren Ufer des Cheliff, 35 Kilometer von Süden nach Norden aufsteigend zur Kette des Kleinen Atlas; 30 Kilometer einer schief nach dem Meere [47] verlaufenden Linie und 100 Kilometer längs der alten Küste des Mittelländischen Meeres. Alles in Allem ein Umfang von 285 Kilometern.

»Sehr schön, aber wozu das nun?

– Bah! Wozu sollte es denn nicht sein? meinte Ben-Zouf. Das ist so, weil es eben so ist! Wenn es der ewige Vater so gewollt hat, wird man sich eben drein fügen müssen.«

[48] Sie stiegen wieder von dem Berge herab und holten die Pferde, welche sich ruhig an dem saftigen Grase gütlich thaten. Denselben Tag ritten sie noch bis zu dem Ufer des Mittelmeeres, ohne eine Spur des kleinen Städtchens Montenotte zu finden, das wie Tenez verschwunden, und von dem auch kein Trümmerhaufen eines Hauses zu entdecken war.


Das Instrument zeigte nur sechsundsechzig Grad. (S. 52.)

Am anderen Tage, dem 5. Januar, streiften sie in forcirtem Marsch längs der Küste des Mittelmeeres hin. Das Ufer desselben war nicht so vollständig ver [49] schont geblieben, als der Stabsofficier dachte, denn es fehlten hier vier Flecken, Callaat-Chimah, Agmiß, Marabut und Pointe-Basse.

Die Landvorsprünge, auf welchen dieselben lagen, hatten dem Stoße nicht zu widerstehen vermocht und sich von dem übrigen Lande getrennt. Nebenbei mußten sich unsere Wanderer überzeugen, daß ihre Insel außer ihnen selbst keine Bewohner habe, während die Fauna noch durch einige Wiederkäuer Vertretung fand, welche auf der Ebene umherschweiften.

Kapitän Servadac und seine Ordonnanz hatten zu dieser Reise um ihre Insel fünf der neuen Tage, in Wirklichkeit also zweiundeinhalb frühere Erdentage gebraucht. Sechzig Stunden nach dem Aufbruch kehrten sie wieder zum Gourbi zurück.

»Und nun, Herr Kapitän? begann Ben-Zouf.

– Nun, Ben-Zouf?

– ... sind Sie General-Gouverneur von Algier!

– Von Algier ohne Einwohner!

– Was? Werde ich denn gar nicht gezählt?

– Gewiß, Du bist also ...

– Die Bevölkerung, Herr Kapitän, die Einwohnerschaft.

– Und mein Rondeau? murmelte der Kapitän, als er sich niederlegte, diese Mühe hätt' ich mir wohl auch ersparen können.«

7. Capitel
Siebentes Capitel.
In welchem sich Ben-Zouf über einige Vernachlässigungseitens des General-Gouverneurs zu klagen berechtigt glaubt.

Zehn Minuten später lagen der General-Gouverneur und die »Bevölkerung« in tiefem Schlafe, und zwar in einem Raume des Wachthauses, da der Gourbi aus seinen Ruinen noch nicht wieder erstanden war. Den Schlummer des Officiers störte freilich immer noch ein wenig der Gedanke, daß es ihm trotz [50] Constatirung so zahlreicher neuartiger Thatsachen nicht gelingen wollte, deren letzte veranlassende Ursache zu ergründen. Ohne eben gerade Kosmograph zu sein, erinnerte er sich bei einiger Anstrengung seines Gedächtnisses doch gewisser Grundgesetze, die er schon gänzlich vergessen zu haben glaubte. Er überlegte, ob nicht eine plötzliche Veränderung der Neigung der Erdachse zur Ekliptik alle jene Erscheinungen hervorrufen könne. Erklärte eine solche Veränderung aber auch den Ortswechsel der Meere und etwa den der Cardinalpunkte des Horizontes, so konnte sie doch weder eine Verkürzung der Tage, noch eine Verminderung der Schwerkraft auf der Oberfläche der Erdkugel zur Folge haben. Hector Servadac mußte diese Hypothese bald fallen lassen – was ihn nicht wenig wurmte, da er, wie man zu sagen pflegt, mit seinem Latein nun so ziemlich zu Ende war. Höchst wahrscheinlich schloß die Reihe der Ueberraschungen jetzt noch nicht ab und dann konnte ihn ja eine weitere fremdartige Erscheinung vielleicht auf den rechten Weg führen.

Am nächsten Morgen beschäftigte Ben-Zouf zunächst die Bereitung eines kräftigen Frühstücks. Zum Kuckuck, der Mensch muß sich doch einmal stärken! Und er, er hatte ja Hunger für drei Millionen Algierer. Jetzt oder nie war es an der Zeit, mit einem Dutzend Eiern fertig zu werden, welche die Erdrevolution, die »das Land zerbrach«, doch verschont hatte. Mit einer nicht zu kleinen Schüssel Kuskussu, für deren Zubereitung die Ordonnanz den Meistertitel ehrlich verdiente, versprach das eine köstliche Mahlzeit.

Der Kochofen fand sich ja im Wachthause vor, die Casserolen glänzten, als kämen sie eben aus des Kupferschmieds Händen, und frisches Wasser stand zur Hand in einem großen Alkazara, dessen poröses Material durch Verdunstung den Inhalt sehr kühl erhält. Durch drei Minuten langes Eintauchen in siedendes Wasser hoffte Ben-Zouf schmackhafte, halbweiche Eier zu gewinnen.

Sofort zündete er also Feuer an und trällerte dazu wie gewöhnlich den Refrain eines Soldatenliedchens:


»Giebt es denn Salz?
Fehlt's nicht an Schmalz
Fleisch hast Du wohl
Im Casserol?«

Auf und ab gehend, beobachtete Kapitän Servadac neugierigen Blickes diese culinarischen Vorbereitungen. In der Erwartung neuer Erscheinungen, [51] welche ihn seiner Ungewißheit entreißen könnten, achtete er gespannt auf Alles, was vor seinen Augen vorging, ob der Ofen wohl seine Schuldigkeit thun, ob die jetzt modificirte Luft ihm den nöthigen Sauerstoff zuführen werde u. dergl.

Ja, der Ofen kam in Gang; mit hörbarem Blasen half Ben-Zouf etwas nach und bald schlug eine helle Flamme aus den mit Reisig gemischten Kohlen. Hier war also nichts Uebernatürliches zu sehen.

Die Casserole ward auf das Feuer gesetzt, mit Wasser gefüllt, und Ben-Zouf wartete, bis es in's Sieden kam, um die Eier hineinzulegen, die ihm so leicht vorkamen, als wären sie hohl.

Das Gefäß befand sich kaum zwei Minuten im Ofen, als das Wasser schon kochte.

»Alle Teufel, das Feuer macht jetzt aber eine tüchtige Hitze, rief Ben-Zouf.

– Das Feuer heizt nicht mehr als sonst, erwiderte Kapitän Servadac nach einigem Nachdenken, doch das Wasser siedet schneller.«

Er ergriff ein Centesimal-Thermometer, das noch an der Wand hing, und tauchte es in das wallende Wasser.

Das Instrument zeigte nur sechsundsechzig Grad.

»Recht hübsch! sagte der Officier, jetzt kocht das Wasser schon bei sechsundsechzig Grad statt sonst bei hundert!

– Und dann, Herr Kapitän?

– Dann, Ben-Zouf, rathe ich Dir, Deine Eier getrost eine Viertelstunde in der Casserole zu lassen, und auch dann werden sie kaum gekocht sein.

– Aber hart?

– Nein, mein Freund, höchstens dürften sie dann so weit gesotten sein, um unser Brot mit Eierschnittchen belegen zu können.«

Die Ursache dieser Erscheinung lag offenbar in einer Höhenabnahme der Atmosphärenschichten, was auch schon mit der beobachteten Verringerung der Dichtigkeit der Luft übereinstimmte. Hierin täuschte sich Kapitän Servadac nicht. Die Luftsäule über der Erdoberfläche hatte ungefähr um ein Viertel abgenommen und aus demselben Grunde kochte auch das unter einem geringeren Drucke stehende Wasser schon bei niedrigeren Wärmegraden.

Dieselbe Erscheinung würde sich auf einem etwa 10,000 Meter hohen Berge gezeigt haben, und wäre Kapitän Servadac im Besitze eines Barometers [52] gewesen, so hätte er die Abnahme der Luftschwere nachzuweisen vermocht. Aus eben der Ursache leitete sich ferner bei ihm und Ben-Zouf die Abschwächung der Stimme, die lebhaftere Athmung her, ebenso wie die hohe Spannung in den Blutgefäßen, an welche sie sich schon gewöhnt hatten.

»Und doch, sagte er zu sich selbst, ich kann doch unmöglich annehmen, daß unser Aufenthaltsort zu einer solchen Höhe emporgehoben worden wäre, denn dort sieht man ja das Meer, dessen Brandung sich an dem steilen Ufer bricht.«

Trotz Hector Servadac's richtiger Schlußfolgerungen war er doch nicht im Stande, die Ursache jener Phänomene zu erklären. Inde ira.

In Folge des längeren Verweilens im Wasser erschienen die Eier wirklich nahezu gekocht. Dasselbe war mit dem Kuskussu der Fall. Ben-Zouf überzeugte sich sehr bald, daß er seine Küchenverrichtungen in Zukunft einfach eine Stunde früher beginnen müsse, und setzte seinem Herrn die Speisen vor.

Als dieser nun trotz seiner wechselnden Empfindungen mit größtem Appetite aß, begann Ben-Zouf, der jedes Gespräch mit einer unbestimmten Frage einzuleiten liebte:

»Und nun, Herr Kapitän?

– Nun, Ben-Zouf? erwiderte der Officier, nach der ebenso unabänderlichen Gewohnheit seiner Ordonnanz zu antworten.

– Was werden wir nun beginnen?

– Ei, wir werden warten.

– Warten? Auf was?

– Bis Jemand uns abholt.

– Auf dem Seewege?

– Natürlich, da wir vorläufig auf einer Insel campiren.

– Sie meinen also, Herr Kapitän, daß die Kameraden ...

– Ich denke, oder vielmehr ich hoffe, daß die Verwüstungen der unerklärlichen Katastrophe auf vereinzelte Punkte der algierischen Küste beschränkt geblieben sind und unsere Kameraden sich demnach wohl und gesund befinden.

– Ja, freilich, Herr Kapitän, das wollen wir hoffen.

– Es unterliegt ferner keinem Zweifel, daß der General-Gouverneur in Folge dieser Vorgänge gewisse Maßregeln anordnen wird. Er muß z.B. [53] von Algier aus nothwendig ein Fahrzeug aussenden, um das jetzige Ufer zu untersuchen, und ich hoffe auch, daß er unser nicht ganz vergessen habe. Hab' also Acht auf das Meer, Ben-Zouf, wenn ein Schiff in Sicht kommt, müssen wir ihm Signale geben.

– Doch, wenn sich keines sehen läßt?

– Dann bauen wir selbst ein solches und fahren zu Denen, die nicht zu uns kamen.

– Recht schön, Herr Kapitän. Sie sind also auch Seemann?

– Seemann ist man immer, wenn es sein muß!« erwiderte mit unerschütterlicher Ruhe der Stabsofficier.

Wir wissen nun, warum Ben-Zouf im Laufe der nächsten Tage fast unausgesetzt mit einem Fernrohr vor den Augen den Horizont musterte. Kein Segel erschien aber im Gesichtsfelde seines Glases.

»Verdammter Kabyle! rief er, Seine Excellenz der Herr General-Gouverneur scheint uns einigermaßen zu vernachlässigen!«

Am 6. Januar hatte sich die Situation der beiden Insulaner nach keiner Seite geändert. Mit diesem sechsten Januar ist übrigens das wahre Datum, d.h. dasjenige des irdischen Kalenders bezeichnet, bevor die Erdentage noch zwölf Stunden von ihren vierundzwanzig verloren hatten.

Kapitän Servadac zog es nicht ohne Grund, und vorzüglich um klarer zu bleiben, vor, nach der gewohnten Methode zu rechnen. Wenn die Sonne also auch schon zwölfmal über dem Horizonte der Insel auf- und untergegangen war, so zählte er vom 1. Januar um Mitternacht, dem Anfange des bürgerlichen Jahres, doch bis jetzt erst sechs Tage. Es liegt auf der Hand, daß eine Pendeluhr ihm in Folge der verminderten Schwerkraft nur falsche Zeit hätte weisen können; eine Federuhr aber unterliegt nicht den Gesetzen der allgemeinen Anziehung und, die Güte der Uhr Hector Servadac's vorausgesetzt, mußte diese trotz der Störung der physikalischen Ordnung aller Dinge dennoch regelmäßig weiter gehen. Das war aber unter gegenwärtigen Verhältnissen wirklich der Fall.

»Potz Wetter, Herr Kapitän, ließ sich da Ben-Zouf, der in der schönen Literatur etwas bewandert war, vernehmen, mir scheint, Sie spielen hier ganz die Rolle des Robinson und ich die Freitag's! Bin ich nicht etwa schon zum Neger geworden?

[54] – Nein, Ben-Zouf, sagte Kapitän Servadac, bis jetzt bist Du noch immer hübsch – dunkelweiß.

– Ein weißer Freitag ist zwar nur ein halber, versetzte Ben-Zouf, es ist mir aber doch lieber so!«

Als sich auch am 6. Januar nichts zeigte, beschloß der Kapitän, wie es alle Robinson's zu thun pflegen, die vegetabilischen und animalischen Hilfsquellen seines Landes zu untersuchen.

Die Insel Gourbi – diesen Namen legte man ihr bei – hatte eine Oberfläche von etwa 3000 Quadratkilometer, d.h. von ungefähr 300,000 Hectaren. Ochsen, Kühe, Ziegen und Schafe fanden sich in großer Menge, ihre Anzahl konnte jedoch nicht sicher festgestellt werden. Wild gab es in Ueberfluß, ohne daß man zu befürchten brauchte, daß es entfliehen könnte. An Cerealien fehlte es nicht. Drei Monate später mußte die Korn-, Reis- und Maisernte beginnen. Alles in Allem schien die nöthige Nahrung für den Gouverneur, die Bevölkerung und die beiden Pferde mehr als gesichert. Selbst wenn die Insel noch weitere Einwohner erhielt, konnte sich kein Mangel fühlbar machen.

Vom 6. bis zum 13. Januar regnete es in Strömen. Fortwährend erschien der Himmel mit dicken Wolken bedeckt, welche trotz der stattfindenden Condensation nicht merkbar abnahmen. Dazwischen traten einige tüchtige Gewitter auf – eine in dieser Jahreszeit sehr seltene meteorologische Erscheinung. Hector Servadac beobachtete dabei auch sehr bald, daß die Temperatur ganz abnormer Weise in raschem Steigen begriffen war. Welch' ein wunderbar frühzeitiger Sommer, der schon im Januar begann! Noch mehr. Jene Temperaturzunahme war nicht nur eine sehr constante, sondern auch eine entschieden progressive, so als ob die Erdkugel sich der Sonne regelmäßig und fortwährend näherte.

Mit der Wärme der Luft stieg gleichzeitig die Intensität des Lichtes und ohne den dichten Wolkenschleier zwischen dem Himmel und der Insel hätte die Bestrahlung der Sonne die irdischen Gegenstände in ganz ungewohnter Weise hell beleuchten müssen. Zu seinem größten Leidwesen konnte Hector Servadac niemals die Sonne, den Mond, die Sterne oder irgend einen anderen Punkt des Himmels beobachten, der ihm, wenn jene Nebelmassen sich verzogen, doch eine weitere Aufklärung geben mußte.


Ben-Zouf mit einem Fernrohr vor den Augen ... (S. 54.)

Ben-Zouf versuchte zwar einige Male, seinen Herrn darüber zu beruhigen, indem er auch ihm [55] jene Resignation empfahl, die ihm bis zur Indifferenz eigen war; er kam damit jedoch so übel an, daß er kein Wort mehr davon zu äußern wagte und sich begnügte, seine Wachtdienste zu erfüllen.


»Nein, nein, das ist nimmermehr der Mond!« erklärte Hector Servadac. (S. 59.)

Trotz Regen, Sturm und Ungewitter bezog er Tag und Nacht seinen Posten auf einem Felsen am Ufer und gönnte sich nur wenige Stunden Schlaf. Aber vergeblich durchirrten seine Augen den leeren Horizont. Welches Schiff übrigens hätte diesem [56] abscheulichen Wetter mit seinen wilden Böen zu widerstehen vermocht? Das Meer wälzte seine Wogen zu einer wahrhaft ungeheuren Höhe und der Orkan heulte dazu mit ganz unvergleichlicher Wuth. Selbst in der zweiten Schöpfungsperiode, als die ersten, vorher durch die innere Erdwärme in Dampfform erhaltenen Wasser sündfluthartig auf die junge Erde niederstürzten, konnten diese Processe sich nicht mit größerer Intensität abspielen.

[57] Am 13. hörte die Sündfluth wie durch Zauber plötzlich auf.

In der Nacht vom 13. zum 14. Januar verscheuchten die letzten Ausläufer des Sturmes den Rest der Wolken. Sobald Hector Servadac, der sechs Tage lang in dem Wachthause eingesperrt gewesen war, bemerkte, daß Regen und Wind nachließen, begab er sich in's Freie. Er eilte nach dem Ufer, um auch seine Blicke forschend hinaus schweifen zu lassen. Was sollte er nun in den Sternen lesen? Zeigte sich vielleicht jene große, in der Nacht vom 31. December zum 1. Januar gesehene Scheibe einmal wieder? Würde das Geheimniß seiner Bestimmung nun enträthselt werden?

Der Himmel strahlte in schönstem Glanze. Kein Nebel verhüllte die Sternbilder. Das Firmament lag einer ungeheuren Himmelskarte gleich vor ihm ausgebreitet, und da und dort sah man leichte Nebelflecke mit bloßem Auge, die sonst ein Astronom ohne Fernrohr nicht zu entdecken im Stande gewesen wäre.

Die erste Sorge des Officiers war es, den Polarstern in's Auge zu fassen, denn hierin lag seine größte Stärke.

Er fand ihn, aber sehr tief am Horizonte, und es schien als stelle jener nicht mehr den Angelpunkt für die Umdrehung des ganzen Sternensystems dar. Mit anderen Worten, die unendlich verlängerte Erdachse traf nicht mehr den Punkt des Firmamentes, den jener Stern sonst einnahm. Wirklich hatte er schon nach einer Stunde seinen Stand merkbar verändert und neigte sich mehr und mehr dem Horizonte zu, als gehörte er zu einem Sternbilde des Thierkreises. Jetzt galt es, das Gestirn aufzufinden, das etwa an dessen Stelle getreten wäre, also den Punkt, welchen die verlängerte Erdachse nun durchschnitt. Dieser Beobachtung widmete sich Hector Servadac mehrere Stunden lang. Der neue Polarstern mußte ebenso unbeweglich erscheinen wie früher der alte; um ihn allein mußte sich die scheinbar tägliche Revolution des gesammten Sternenheeres vollziehen.

Kapitän Servadac erkannte bald, daß ein dem nördlichen Horizonte sehr nahe stehender Stern diese Bedingung der Unbeweglichkeit erfüllte und allein unter allen übrigen stationär erschien.

Dieser Stern war die Wega in der Leier – derselbe übrigens, der in Folge des Fortschreitens der Nachtgleichen in 12,000 Jahren wirklich die Rolle des Polarsternes zu übernehmen bestimmt ist. Da in vierzehn Tagen aber 12,000 Jahre doch unmöglich verflossen waren, so blieb nur die [58] Annahme übrig, daß die Erdachse eine plötzliche Veränderung ihrer Richtung erlitten haben müsse.

»Und nicht die Achsenrichtung allein, schloß der Kapitän weiter, ist jetzt eine andere, sondern das Mittelmeer muß auch in die Nähe des Aequators versetzt sein, da jener Stern von hier aus dem Horizonte so nahe zu stehen scheint.«

Er versank in tiefes Sinnen, während seine Blicke vom großen Bären, der jetzt ein Sternbild des Thierkreises darstellte und dessen Schwanz gar nicht mehr zu sehen war, nach jenen neuen Sternen der südlichen Hemisphäre schweiften, die sich zum ersten Male vor seinen Augen erhoben.

Ein Ausruf Ben-Zouf's erinnerte ihn erst wieder an die Erde.

»Der Mond! rief die Ordonnanz.

– Der Mond!

– Ja, ja, der Mond!« wiederholte Ben-Zouf, hoch erfreut, den »Begleiter der irdischen Nächte«, wie die Dichter sagen, wiederzusehen.

In der That zeigte sich eine Scheibe an der, dem jetzt von der Sonne eingenommenen Punkte entgegengesetzten Stelle.

War das der Mond oder einer der kleineren Planeten, der in Folge der Annäherung vielleicht nur größer erschien?

Kapitän Servadac wäre sehr in Verlegenheit gewesen, sich hierüber auszusprechen. Er holte ein starkes Fernrohr, dessen er sich bei seinen geodätischen Arbeiten gewöhnlich zu bedienen pflegte, und richtete es nach dem Gestirn.

»Wenn das der Mond ist, sagte er dann, so muß er sich beträchtlich von uns entfernt haben. Ich schätze die Distanz bis zu ihm nicht auf Tausende, sondern auf Millionen von Meilen!«

Nach genauer Beobachtung glaubte er behaupten zu können, daß das der Mond nicht sei. Er fand auf der beleuchteten Scheibe nicht jene Abwechselung von Licht und Schatten, welche ihr einige Aehnlichkeit mit einem Menschenantlitz verleihen; nichts von den Ebenen und Bergen des Mondes, noch von dem bekannten Stern von Streifen, die rings um den berühmten Berg Tycho ausstrahlen.

»Nein, nein, das ist nimmermehr der Mond! erklärte er.

– Ja, warum denn nicht? fragte Ben-Zouf, der von seiner vermeintlichen Entdeckung nicht so leicht abzubringen war.

[59] – Weil jenes Gestirn daselbst noch einen kleinen Mond, der ihm als Satellit dient, besitzt.«

Wirklich zeigte sich ein kleiner leuchtender Punkt, etwa ähnlich den Satelliten des Jupiter in mittelstarken Teleskopen anzusehen, in dem Gesichtsfelde des Rohres.

»Wenn das der Mond aber nicht ist, was ist's denn dann? rief Kapitän Servadac und stampfte mit dem Fuße. Die Venus ist es nicht und Merkur ist es nicht, denn diese haben keine Satelliten. Unzweifelhaft aber handelt es sich hier nur um einen Planeten innerhalb der Bahn der Erde, da er die Sonne bei ihrer scheinbaren Bewegung begleitet.

– Zum Teufel, wenn es Venus und Merkur nicht ist, so kann es aber nur der Mond sein, und wenn es der Mond ist, wo, zum Kuckuck, hat er jenen Satelliten hergestohlen?«

8. Capitel
Achtes Capitel.
Worin die Rede ist von der Venus und dem Merkur, welche zu Steinen des Anstoßes zu werden drohen.

Bald stieg die Sonne wieder auf und das ungezählte Heer der Sterne verschwand vor ihrem mächtigen Glanze. Jetzt war's mit dem Beobachten zu Ende. Bei geeignetem Zustande der Atmosphäre sollte die Fortsetzung in der nächsten Nacht folgen.

Von der Scheibe, welche früher durch die Wolkendecke schimmerte, keine Spur. Sie war entweder in Folge einer ungeheuren Entfernung oder der Richtung ihres regellosen Laufes dem Blicke vollkommen verschwunden.

Die Witterung ließ sich wieder prächtig an. Der nach dem früheren Westen umgesprungene Wind hatte sich fast vollständig gelegt. Mit tadelloser Pünktlichkeit ging die Sonne über ihrem neuen Horizonte auf und an dem entgegengesetzten unter. Tage und Nächte währten mathematisch genau je sechs Stunden lang, woraus der Schluß folgte, daß die Sonne sich [60] nicht von dem neuen Aequator entfernte, dessen Kreisbogen über die Insel Gourbi lief.

Gleichzeitig stieg die Temperatur fortwährend. Kapitän Servadac las mehrmals täglich das in seinem Zimmer angebrachte Thermometer ab und fand am 15. Januar, daß es im Schatten 50° C. (= 40° R.) zeigte.

Da der Gourbi auch jetzt noch in Ruinen lag, so versteht es sich von selbst, daß Kapitän Servadac und Ben-Zouf das größte Zimmer des Wachthauses möglichst wohnlich in Stand gesetzt hatten. Erst boten dessen Mauern ihnen einen besseren Schutz gegen die wahrhaft diluvianischen Regengüsse, jetzt wehrten sie erfolgreicher dem Eindringen der versengenden Tageshitze. Letztere ward nach und nach wirklich unerträglich, vorzüglich da kein Wölkchen mehr den entsetzlichen Sonnenbrand auffing, und gewiß brütete weder über dem Senegal noch über den Aequatorialgebieten Afrikas jemals vorher eine solche verzehrende Gluth. Wenn diese Temperatur anhielt, mußte alle Vegetation der Insel in kürzester Zeit verkohlen.

Treu seinen Principien, gab Ben-Zouf sich alle Mühe, von dieser abnormen Hitze gar nicht belästigt zu erscheinen; der Schweiß aber, der ihm in Strömen herab rann, strafte ihn Lügen. Er hatte trotz der Abmahnungen seines Kapitäns seinen Wachtdienst auf dem Uferfelsen nicht einstellen wollen. Dort ließ er sich, auf dem Auslug nach dem wie ein Teich so stillen und ganz verlassenen Mittelmeere, gewissensruhig braten. Er mußte wohl eine doppelte Haut und mit einer Außenwand verblendete Hirnschale haben, um die lothrechten Strahlen der Mittagssonne überhaupt aushalten zu können.

Eines Tages machte Kapitän Servadac ihm gegenüber eine derartige Bemerkung.

»Na, Du bist doch wohl unter den Tropen geboren?

– Ei nein, Herr Kapitän, direct auf dem Montmartre, und da ist's manchmal eben so!«

Darüber, daß auf Ben-Zouf's Leib- und Lieblingshügel eine eben solche Hitze herrschen könne wie in den Aequatorgegenden, war mit ihm gar nicht zu discutiren.

Die außergewöhnliche Temperatur mußte natürlich auch auf die Producte der Insel Gourbi ihren sichtbaren Einfluß äußern. Auch die Natur empfand ja die Folgen jenes schroffen klimatischen Wechsels. Binnen wenig Tagen schoß der Saft der Bäume bis in deren letzte Zweige in die Höhe, die [61] Knospen sprangen, die Blätter entfalteten sich die Blumen erblühten und die Früchte erschienen. Nicht anders stand es mit den Cerealien. Korn- und Maisähren wuchsen vor den Augen und die Wiesen bedeckten sich mit einem üppigen grünen Teppich. Heu-, Getreide- und Fruchternte fielen in ein und dieselbe Periode; Sommer und Herbst flossen zu einer einzigen Jahreszeit zusammen.

Warum hatte Kapitän Servadac auch sich nicht eingehender mit Kosmographie beschäftigt? Er hätte sich dann Folgendes sagen müssen.

»Wenn die Neigung der Erdachse eine andere wurde und, worauf Alles hinzudeuten scheint, einen rechten Winkel mit der Ekliptik bildet, so müssen die Verhältnisse jetzt ganz denen auf dem Jupiter entsprechen. Es kann auf der Erdkugel keine Jahreszeiten mehr, sondern nur noch Zonen eines ewigen Frühlings, Sommers, Herbstes und Winters geben.«

Er hätte aber ohne Zweifel auch noch hinzugefügt:

»Aber bei allen Rebenhügeln der Gascogne, welcher Ursache verdanken (?) wir diese Veränderung?«

Die sich gleichsam selbst übereilende Saison machte den Kapitän und seine Ordonnanz doch einigermaßen bedenklich. Für so viel gleichzeitige Arbeiten mußten ja die helfenden Arme fehlen, selbst wenn »die ganze Bevölkerung« der Insel aufgeboten wurde. Dazu hinderte auch die brennende Sonne ein unausgesetztes Arbeiten auf den Feldern. Jedenfalls drohte noch keine Gefahr im Verzuge. Neben den sehr reichlichen Vorräthen des Gourbi lag die Hoffnung nahe, daß bei dem jetzt ruhigen und prachtvollen Wetter ein Schiff in Sicht der Insel passiren werde. Gerade dieser Theil des Mittelländischen Meeres ist ja sehr stark besucht. Hier verkehren die Regierungsschiffe, welche den Dienst längs des Landes haben, neben Küstenfahrern von allen Nationalitäten, welche in lebhafter Verbindung mit den kleineren Seeplätzen stehen.

Ein solches Raisonnement war gewiß ganz begründet, aber aus einem oder dem anderen Grunde erschien leider kein Segel auf dem Meere, und Ben-Zouf hätte sich ganz vergeblich auf dem calcinirten Uferfelsen schmoren lassen, wenn ihm nicht ein improvisirter Sonnenschirm einigermaßen als Schutz diente.

Während dieser Zeit versuchte Kapitän Servadac, leider ziemlich vergeblich, seine alten Erinnerungen aus Colleg und Schule wieder aufzufrischen.

[62] Er vertiefte sich in kopfzerbrechende Rechnungen, um bezüglich der neuen Verhältnisse des Erdsphäroïds in's Reine zu kommen, aber freilich ohne besonderes Resultat. Dabei hätte er sich doch auch sagen müssen, daß neben jener Veränderung der Erdrotation um die Achse des Planeten auch dessen Bahn um die Sonne jedenfalls nicht dieselbe geblieben sein könne und sich damit die Länge des Jahres, entweder durch eine Zunahme oder durch eine Verminderung derselben, verändert zeigen müsse.

Allem Anscheine nach näherte sich die Erde der Sonne. Ihre Bahn war offenbar eine andere geworden; damit stimmte nicht nur die auffallende Erhöhung der Temperatur überein, sondern auch noch andere Erscheinungen hätten Kapitän Servadac darüber belehren müssen, daß die Erdkugel sich dem Centrum der Attraction in unserem Planetensystem nähere.

In der That maß der Durchmesser der Sonnenscheibe das Doppelte von früher, vorausgesetzt, daß man jene vor diesen außergewöhnlichen Ereignissen mit unbewaffnetem Auge betrachtete. Ein Beobachter auf der Oberfläche der Venus, d.h. in einer mittleren Entfernung von etwa 12 1/2 Millionen Meilen von der Sonne, hätte letztere ungefähr in derselben Größe wahrgenommen. Hieraus ließ sich folgern, daß jetzt die Erde statt durchschnittlich 20 Millionen Meilen nur noch deren 12 1/2 Millionen von dem Centralkörper abstehen könne. Nun wurde es von hohem Interesse, zu wissen, ob diese Entfernung nicht noch weiter abnehmen werde, in welchem Falle ja die Befürchtung entstand, daß die Erdkugel in Folge einer Störung des Gleichgewichtes zwischen den sie beherrschenden anziehenden und abstoßenden Kräften bis zur Sonnenoberfläche selbst gerissen werden könne, was natürlich ihrem totalen Untergange gleich zu achten war.

Wenn die anhaltend schönen Tage jetzt die Beobachtung des Himmelsgewölbes begünstigten, so unterstützten die nicht minder schönen Nächte Kapitän Servadac sehr wesentlich bei seinen Betrachtungen der prächtigen Sternenwelt. Fixsterne und Planeten präsentirten sich da wie Glieder eines ungeheuren Alphabetes – nur daß er dieses so wenig zu entziffern vermochte, machte ihm so manchen Kummer.


Er vertiefte sich in kopfzerbrechende Rechnungen. (S. 63)

Die Fixsterne mußten ihm selbstverständlich zwar unter denselben Größen- und relativen Entfernungsverhältnissen erscheinen. Man weiß ja, daß die Sonne, welche mit einer Schnelligkeit von 36 Millionen Meilen im Jahre nach dem Sternbilde des Hercules zueilt, noch keine bemerkenswerthen Veränderungen der scheinbaren Stellung der Fixsterne [63] hervorgebracht hat. Dasselbe ist der Fall mit dem Arctur, der sich mit einer Geschwindigkeit von über elf Meilen in der Secunde, d.i. dreimal so schnell als die Erde, durch den Weltraum bewegt.

Boten aber auch die Fixsterne keine Anhaltepunkte zur Lösung der betreffenden Räthsel, so stand es doch anders bezüglich der Planeten, wenigstens derjenigen, deren Bahn innerhalb der Erdbahn gelegen ist.

[64] Dieser Bedingung entsprechen zwei, die Venus und der Merkur. Die erstere kreist um die Sonne in einer mittleren Entfernung von 16 Millionen Meilen, der letztere in einer solchen von 9 Millionen. Die Bahn der Venus umschließt also die des Merkur, die Erdbahn aber die anderen beide. Nach langer Beobachtung und anstrengendem Grübeln kam Kapitän Servadac auch zu dem Resultate, daß die Quantität der Wärme und des Lichtes, welche die Erde jetzt thatsächlich empfing, etwa der gleich kam, welche die Venus von der Sonne erhielt, d.h. das Doppelte der früher die Erde treffenden Menge. Sein daraus gezogener Schluß, daß sich die Erdkugel der Sonne merklich genähert haben müsse, wurde nur bestätigt durch den jetzigen Anblick der Venus, die, wenn sie als Morgen- oder Abendstern aus den Strahlen der Sonne hervortritt, auch die Bewunderung der Indifferentesten wachruft.

Phosphorus oder Lucifer, Hesperus oder Vesper, wie ihn die Alten nannten, der Abendstern, der Morgen- oder der Hundsstern – niemals hat ein anderes Gestirn, mit Ausnahme vielleicht des Mondes, so viel Namen erhalten – kurz, die Venus zeigte sich dem Auge des Kapitän Servadac unter der Form einer relativ ungeheuren Scheibe. Sie erschien wie ein kleiner Mond und man konnte ihre Phasen mit bloßem Auge recht gut beobachten. Bald voll, bald in der Quadratur, immer waren alle Theile derselben sichtbar. Wenn sie zu- oder abnahm, sah man deutlich, daß die Strahlen der Sonne auch noch bis nach solchen Punkten hindrangen, für welche jene eigentlich schon untergegangen sein mußte; ein Beweis, daß die Venus eine Atmosphäre besaß, da sich diese Erscheinungen der Refraction an ihrer Oberfläche zeigten. Einige neben dem Lichtrande hervorragende helle Stellen gehörten eben so vielen hohen Bergen an, denen Schröter mit Recht eine den Montblanc etwa zehnfach übersteigende Höhe zuschreibt, indem diese etwa den 144. Theil des Durchmessers des Planeten erreicht. 1

Kapitän Servadac glaubte zu dieser Zeit annehmen zu dürfen, daß die Venus sich nur gegen eine Million Meilen von der Erde entfernt befand, und theilte seine Muthmaßung auch Ben-Zouf mit.

»Nun, Herr Kapitän, erwiderte die Ordonnanz, ich dächte, das wäre recht hübsch, so eine Million Meilen Entfernung zwischen zwei Planeten.

[65] – Für zwei Armeen im Felde wäre das wohl eine Strecke, antwortete Kapitän Servadac, aber für zwei Planeten ist es so gut wie nichts!

– Und was kann da geschehen?

– Der Teufel, wir werden auf die Venus fallen.

– Nun, was ist das weiter, Herr Kapitän? Ist denn daselbst auch Luft zu finden?

– Ja wohl.

– Und Wasser?

– Gewiß.

– Nun gut, so besuchen wir einmal Frau Venus.

– Aber der Stoß bei der Ankunft wird entsetzlich werden, denn die beiden Planeten scheinen sich in entgegengesetztem Sinne zu bewegen, und da ihre Massen so ziemlich gleich sind, muß die Collision für den einen und den anderen wahrhaft furchtbar ausfallen.

– Ei, zwei Züge, weiter nichts, zwei Züge, die auf einander fahren! entgegnete Ben-Zouf mit einer Ruhe, die den Kapitän nahezu außer sich brachte.

– Ja wohl, zwei Züge, Tölpel! rief Hector Servadac, aber zwei solche, welche tausendmal so schnell dahin fliegen wie die Courierzüge, wodurch einer der Planeten, wenn nicht alle zwei gewaltsam aus ihrer Bahn geschleudert werden, und dann magst Du sehen, was von Deinem Erdenkloß von Montmartre noch übrig ist!«

Das war Ben-Zouf ein Stich in's Herz. Er preßte die Lippen aufeinander und ballte die Fäuste, aber er bezwang sich und nach einigen Augenblicken, als er den »Erdkloß« glücklich hinuntergewürgt hatte, sagte er ruhig:

»Herr Kapitän! Hier stehe ich. Befehlen Sie! Wenn es ein Mittel giebt diesen Zusammenstoß zu verhindern ...

– Es giebt keines, Dummkopf – geh zum Teufel!«

Auf diese Antwort hin verließ Ben-Zouf verletzt den Platz und sprach kein weiteres Wort.

Im Laufe der nächsten Tage verminderte sich die Entfernung zwischen den beiden Planeten noch mehr und offenbar mußte die Erde in Folge der Lage ihrer neuen Bahn die der Venus schneiden. Gleichzeitig hatte sie sich auch dem Merkur merkbar genähert. Dieser Planet, der mit bloßem Auge [66] nur selten, und zwar nur dann sichtbar ist, wenn er sich in der größten östlichen oder westlichen Abweichung von der Sonne befindet, strahlte jetzt in vollem Glanze. Seine, den Mondphasen ganz analogen Veränderungen, seine Brechung der Strahlen der Sonne, welche ihm siebenmal mehr Licht und Wärme zusendet als der Erde, seine heißen und kalten Zonen, welche in Folge der starken Neigung seiner Umdrehungsachse fast durcheinander fallen, seine Aequatorgegenden und die bis neunzehn Kilometer hohen Berge – Alles erhöhte das Interesse an der Beobachtung dieser leuchtenden Scheibe, der die Alten den Namen die »Glänzende« gaben.

Doch vom Merkur drohte ja noch keine unmittelbare Gefahr. Am 18. Januar war die Distanz zwischen den beiden anderen Planeten etwa auf eine halbe Million Meilen reducirt. Die Lichtintensität der Venus warf schon einen deutlichen Schatten hinter die irdischen Gegenstände. Man konnte auf jener bereits Wolken entdecken und schien die mit Dünsten überladene Atmosphäre die Scheibe mit zebra-ähnlichen Streifen zu überziehen. Man sah die sieben Flecke, welche, wie Bianchini ganz richtig angenommen hat, wirklich unter sich zusammenhängenden Meeren angehören. Endlich war der Planet auch bei hellem Tageslichte zu sehen, was dem Kapitän Servadac jedenfalls weit weniger schmeichelte als seinerzeit dem General Bonaparte, als er, noch unter dem Directorium, die Venus am hellen Mittag sah und sie nicht ungern als »seinen Stern« bezeichnen hörte.

Am 20. Januar hatte die »reglementmäßig« den beiden Gestirnen vorgeschriebene Distanz noch weiter abgenommen.

»In welcher Angst mögen jetzt unsere Kameraden von der afrikanischen Armee schweben, unsere Freunde in Frankreich und überhaupt alle Bewohner beider Continente? fragte sich wiederholt Kapitän Servadac. Wie viele Artikel darüber werden jetzt die Zeitungen füllen? Welche andächtige Menge in den Kirchen! Jetzt wird man das Ende der Welt kommen glauben! Ich denke auch, Gott sei mir gnädig, daß es noch nie so nahe war! Und ich, ich erstaune darüber, daß kein Schiff in Sicht der Insel erscheinen will, um uns Verlassene abzuholen. Hat denn der General-Gouverneur, hat der Kriegsminister jetzt die Zeit, um an uns zu denken? Vor Verlauf von zwei Tagen wird die Erde in Millionen Stückchen zertrümmert sein, welche dann ganz nach Belieben im Weltraume umherirren.«

Es sollte aber anders kommen.

[67] Von diesem Tage ab schienen sich die beiden einander drohenden Gestirne nach und nach zu entfernen. Zum Glück fielen die Bahnen der Erde und die der Venus nicht vollständig zusammen, so daß es nicht zur Collision kam.

Ben-Zouf stieß einen Seufzer des guten Zutrauens aus, als sein Kapitän ihm die frohe Botschaft mittheilte.

Am 25. Januar war die Distanz schon groß genug, um in dieser Hinsicht jede Furcht zu verscheuchen.

»Nun wohl, sagte Kapitän Servadac, diese Annäherung hat uns wenigstens dazu gedient, zu zeigen, daß die Venus keinen Mond besitzt!«

Wirklich hatten Dominique Cassini, Short, Montaigne des Limoges, Montbarron und einige andere Astronomen ganz im Ernste an das Vorhandensein eines solchen Satelliten geglaubt.

»Es ist wirklich fatal, scherzte Hector Servadac, diesen kleinen Mond hätten wir vielleicht im Vorüberfliegen abfangen können und besäßen dann zwei solche Begleiter. Aber zum Kuckuck, ich komme doch nie dazu, eine Erklärung für diese Umänderung der ganzen Himmelsmechanik zu finden.

– Herr Kapitän? ließ sich da Ben-Zouf vernehmen.

– Was willst Du?

– Giebt es nicht in Paris am Ende des Luxembourg ein Haus mit einer großen Haube auf dem Kopfe?

– Das Observatorium?

– Ja freilich. Ist es denn nicht die Sache der Herren, die in diesem Haubenhause wohnen, alles das zu erklären?

– Ohne Zweifel.

– Nun, so wollen wir den Ausspruch der Herren ruhig abwarten, Herr Kapitän, und uns als Philosophen fügen.

– Ei, Ben-Zouf, weißt Du denn überhaupt, was man unter einem Philosophen versteht?

– Gewiß, weil ich Soldat bin.

– Nun was denn?

– Sich dem Schicksal zu unterwerfen, wenn man es zu ändern nicht im Stande ist, und das ist ganz unser Fall.«

[68] Hector Servadac gab seiner Ordonnanz keine weitere Antwort, man darf aber wohl mit Recht vermuthen, daß er vorläufig wenigstens darauf verzichtete, das zu erklären, was für ihn doch unerklärlich blieb.

Da trat ganz unerwartet ein Ereigniß ein, welches von sehr weitreichenden Folgen sein konnte.

Am 27. Januar gegen neun Uhr Morgens kam Ben-Zouf ganz seelenruhig nach dem Wachthause, um den Officier aufzusuchen.

»Herr Kapitän? begann er, als ob gar nichts passirt sei.

– Was giebt's? antwortete Kapitän Servadac.

– Ein Schiff!

– Tölpel! das sagt der Mensch so ruhig, als meldete er, daß die Suppe servirt sei.

– Ei, ei, wir sind ja Philosophen!« entgegnete Ben-Zouf.

Fußnoten

1 Die höchsten Berge der Erde erreichen nur den 740. Theil ihres Durchmessers.

9. Capitel
Neuntes Capitel.
In welchem Kapitän Servadac eine Reihe Fragen stellt, die ohne Antwort bleiben.

Hector Servadac war hinaus geeilt, so schnell er konnte, um den gewöhnlich zur Umschau dienenden Uferfelsen zu erreichen.

Ein Fahrzeug segelte in Sicht der Insel, das unterlag keinem Zweifel, nur trennten es noch mindestens zehn Kilometer von der Küste, so daß man bei der starken Convexität der Erde, welche den Gesichtskreis beschränkte, jetzt nur die Spitze eines Mastes sehen konnte.

Obwohl der Rumpf des betreffenden Schiffes noch lange Zeit verborgen blieb, verrieth doch der schon sichtbare Theil der Takelage, welcher Klasse von Fahrzeugen jenes angehörte. Offenbar war es nämlich eine Goëlette und zwei Stunden nach Ben-Zouf's Meldung von ihrem Erscheinen wurde sie auch in allen Theilen sichtbar.

Unausgesetzt betrachtete Kapitän Servadac den Segler mit dem Fernrohre.

[69] »Die Dobryna! rief er aus.

– Die Dobryna? wiederholte Ben-Zouf zweifelnd. Das kann sie nicht sein, man sieht ja keinen Rauch.

– Sie geht nur unter Segel, versicherte Kapitän Servadac, aber es ist und bleibt doch die Goëlette des Grafen Timascheff.«

Es war in der That die Dobryna, und wenn sich auch der Graf selbst an Bord befand, so führte ein überaus merkwürdiger Zufall die beiden Nebenbuhler wieder zusammen.

Selbstverständlich sah Kapitän Servadac in dem Manne, den die Goëlette jetzt nach der Insel trug, nur noch seines Gleichen und keinen Gegner mehr, ja, er gedachte jetzt mit keiner Silbe weder seines unterbrochenen Ehrenhandels mit dem Grafen, noch auch der Ursachen zu demselben. Alle Verhältnisse lagen ja so geändert, daß er das lebhafteste Verlangen fühlte, Graf Timascheff zu sehen und sich mit ihm über so viele außerordentliche Ereignisse auszusprechen. Während einer Abwesenheit von siebenundzwanzig Tagen hatte die Dobryna ja recht wohl die benachbarten Küsten Algeriens, vielleicht auch Spanien, Italien, Frankreich, überhaupt die Anländer des so plötzlich veränderten Mittelmeeres besuchen können, und folglich durfte man von ihr Nachrichten über alle jene Ländergebiete erwarten, von denen die Insel Gourbi jetzt abgeschnitten war. Hector Servadac hoffte also nicht nur Näheres über den Umfang der beispiellosen Katastrophe zu erfahren, sondern vielleicht auch deren Ursache kennen zu lernen.

»Wo soll die Goëlette aber jetzt, da die Cheliff- Mündung nicht mehr existirt, an's Land gehen? fragte Ben-Zouf.

– Sie wird gar nicht anlegen, antwortete der Kapitän. Der Graf sendet gewiß nur ein Boot an's Ufer, um uns abzuholen.«

Die Dobryna näherte sich, wenn auch nur langsam, denn sie hatte Gegenwind und konnte nur durch ganz scharfes Segeln am Winde Fahrt machen. Es mochte auffallen, daß sie ihre Dampfkraft unbenutzt ließ, denn gewiß war man an Bord begierig zu erfahren, welche Insel sich da am Horizonte erhob. Möglicher Weise fehlte es der Dobryna etwas an Brennmaterial und sie bediente sich nur ihres Segelwerkes, um jenes zu schonen. Zum Glück hielt sich die Witterung, trotz verdächtiger Streifen von Windwolken am Himmel, recht gut, die Brise günstig, das Meer verhältnißmäßig [70] ruhig, und so kam die Goëlette ohne widrigen Seegang ziemlich gut von der Stelle.

Hector Servadac zweifelte keinen Augenblick, daß die Dobryna die ihr auftauchende Küste nicht anzulaufen trachte. Graf Timascheff mußte sich für weit verschlagen halten; denn wo er den Anblick des afrikanischen Festlandes erwartete, traf er nur auf eine Insel. Konnte er nicht befürchten, an dieser ihm neuen Küste keinen passenden Platz zu finden, wo sein Schiff sicher ankerte? Vielleicht that Kapitän Servadac wohl daran, einen Ankerplatz zu suchen und nach Auffindung eines solchen ihn der Goëlette, wenn sie zögern sollte, näher zu kommen, durch Signale zu bezeichnen.

Bald lag es außer Zweifel, daß die Dobryna auf die frühere Mündung des Cheliff zu hielt. Kapitän Servadac's Entschluß war nun schnell gefaßt. Zephyr und Galette wurden gesattelt und flogen bald, mit ihren Reitern auf dem Rücken, nach dem Westende der Insel.

Zwanzig Minuten später stiegen der Stabsofficier und seine Ordonnanz aus dem Bügel und untersuchten so weit als thunlich diesen Theil des Ufers.

Hector Servadac fand bald, daß sich hinter jener Landspitze, und von ihr geschützt, eine kleine Bucht ausbreitete, welche einem Schiffe von mittlerem Tonnengehalte recht gut als Hafen dienen konnte. Gegen die offene See schloß die kleine Wasserfläche eine Reihe großer Klippen ab, durch welche ein schmaler Kanal als Einfahrt diente. Auch bei schwerem Wetter mußte dieser Schlupfwinkel ziemlich ruhig bleiben. Wie erstaunte aber Hector Servadac, als er bei näherer Betrachtung der Uferfelsen an diesen die Spuren einer vorausgegangenen, durch lange Linien zurückgebliebener Varecbüschel bezeichneten Hochfluth entdeckte.

»Was zum Teufel! rief er, jetzt hat also das Mittelmeer wirkliche Gezeiten?«

Ganz entschieden machte sich hier in der That das Steigen und Fallen des Wassers bemerkbar, und zwar in ganz beträchtlichem Maße – eine neue Sonderbarkeit neben den vielen anderen, denn bisher beobachtete man Ebbe und Fluth im Mittelmeer nur in ganz geringen Andeutungen.


Ein Haus mit einer großen Haube auf dem Kopfe. (S. 68.)

Dabei zeigte sich, daß die Fluthhöhe, seit ihrem stärksten Ansteigen, welches ohne Zweifel auf die Nähe der enormen Scheibe in der Nacht vom 31. December zum 1. Januar zurückzuführen war, sich immer weiter vermindert [71] hatte, und sich jetzt in den bescheidenen, vor Eintritt der Katastrophe gewöhnlichen Verhältnissen bewegte.


Kapitän Servadac eilte ihm entgegen. (S. 73.)

Kapitän Servadac hielt sich aber nicht lange mit dieser Erscheinung auf, sondern wandte seine ganze Aufmerksamkeit nur der Dobryna zu.

Die Goëlette befand sich jetzt nur zwei bis drei Kilometer vom Ufer. Die ihr geltenden Signale mußten am Bord bemerkt und verstanden werden. Wirklich änderte sie ein wenig ihren Cours und zog die Obermarssegel ein.

[72] Bald trug sie nur noch die Groß- und einige Stag-und Klüversegel, um dem Steuer schneller nachzugeben. Endlich umschiffte sie die Spitze der Insel und drang, indem sie gegen den ihr vom Stabsofficier bezeichneten Durchfahrtskanal manövrirte, kühn in denselben ein. Einige Minuten später griff der Anker in den sandigen Grund der Bucht, ein Boot ward flott gemacht und Graf Timascheff betrat das Ufer.

Kapitän Servadac eilte ihm entgegen.

[73] »Herr Graf, rief der Stabsofficier, vor jeder anderen Auseinandersetzung, was in aller Welt ist geschehen?«

Graf Timascheff, eine sehr kühle Natur, deren unbesiegbares Phlegma mit der quecksilbernen Lebhaftigkeit des Franzosen auffallend contrastirte, verneigte sich ein wenig und antwortete mit dem allen Russen eigenthümlichen Accent:

»Herr Kapitän, erlauben Sie mir, Ihnen vor allem Anderen zu bemerken, daß ich nicht die Ehre zu haben hoffte, Sie hier wieder zu sehen. Ich verließ Sie auf einem Continente und finde Sie auf einer Insel ...

– Ohne daß ich von der Stelle gekommen bin.

– Ich weiß es, Herr Kapitän, und bitte auch mein Ausbleiben von dem besprochenen Rendezvous zu entschuldigen, indeß ...

– O, Herr Graf, fiel ihm da Kapitän Servadac in's Wort, davon können wir, wenn es Ihnen beliebt, später sprechen.

– Ich stehe Ihnen stets zu Diensten.

– So wie ich Ihnen. Jetzt lassen Sie mich nur die Frage wiederholen: Was, was ist geschehen?

– Das wollte ich Sie fragen, Herr Kapitän.

– Wie? Sie wüßten nichts?

– Gar nichts!

– Und vermögen mir also keine Auskunft zu geben, welches unerhörte Ereigniß diesen Theil Afrikas in eine Insel verwandelte?

– Leider vermag ich das nicht.

– Noch wie weit sich die Wirkungen dieser Katastrophe erstreckten?

– Davon weiß ich nicht mehr als Sie, Herr Kapitän.

– Aber mindestens können Sie mir über den nördlichen Theil des Mittelländischen Meeres Aufschluß geben ...

– Ja, giebt es denn noch ein Mittelmeer? unterbrach Graf Timascheff Kapitän Servadac's Erkundigungen.

– Das müssen Sie doch besser wissen als ich, Herr Graf, da Sie es ja eben befahren haben.

– Ich habe es nicht befahren.

– Sie hätten sich an keinem Punkte der Küste aufgehalten?

[74] – Nicht einen Tag, nicht eine Stunde lang, ja, ich habe überhaupt kein Land zu Gesicht bekommen.«

Stumm vor Erstaunen, starrte der Stabsofficier den Russen an.

»Aber mindestens, Herr Graf, nahm er das Gespräch wieder auf, beobachteten Sie doch, daß seit dem 1. Januar Osten und Westen vertauscht sind?

– Ja.

– Daß die Länge des Tages nur noch sechs Stunden beträgt?

– So ist es.

– Daß die Intensität der Schwere abgenommen hat?

– Ganz recht.

– Daß wir unseren Mond verloren?

– Wie Sie sagen.

– Daß wir beinahe auf die Venus gestoßen wären?

– Einverstanden.

– Und daß folglich die Bewegungen der Erde um sich selbst und um die Sonne eine Aenderung erlitten haben?

– Das steht unzweifelhaft fest.

– Verzeihen Sie mein Erstaunen, Herr Graf, fügte Kapitän Servadac hinzu. Ich glaubte nicht, Ihnen etwas mittheilen zu müssen, sondern hoffte, viel Neues von Ihnen zu erfahren.

– Ich weiß nichts weiter, Herr Kapitän, als daß meine Goëlette, als ich mich in der Nacht vom 31. December zum 1. Januar auf dem Meere unterwegs zu unserem Stelldichein befand, von einer enormen Woge zu einer ganz unberechenbaren Höhe empor geschleudert ward. Die Elemente dünkten mir durch irgend eine kosmische Erscheinung, deren Ursache jeder Erklärung spottet, direct durcheinander gewürfelt. Seit diesem Augenblicke sind wir, der Unterstützung unserer etwas havarirten Maschine entbehrend, auf's Gerathewohl und auf Gnade und Ungnade dem entsetzlichen Sturme überliefert, welcher einige Tage hindurch wüthete, weiter gesegelt. Ein Wunder ist es, daß die Dobryna nicht in Stücke ging, und der Wahrscheinlichkeit, daß sie sich bei jener fürchterlichen Cyklone im Centrum derselben befand, schreibe ich es zu, daß sie trotz alledem nicht so sehr weit verschlagen wurde. Land haben wir freilich nicht wieder gefunden, und Ihre Insel ist das erste, welches uns zu Gesicht kam.

[75] – Dann erscheint es aber geboten, Herr Graf, bemerkte Kapitän Servadac, wieder in See zu gehen, das Mittelmeer zu durchsegeln und nachzuforschen, wie weit sich die Verwüstungen jener Katastrophe erstrecken.

– Das ist meine Absicht.

– Werden Sie mir gestatten, mit an Bord zu gehen, Herr Graf?

– Gewiß, Herr Kapitän, selbst zum Zwecke einer Weltumseglung, wenn es nöthig wäre.

– O, es handelt sich nur um eine Rundfahrt auf dem Mittelmeere.

– Wer steht uns dafür ein, versetzte kopfschüttelnd Graf Timascheff, daß eine Fahrt um das Mittelmeer jetzt nicht gleichbedeutend mit einer Fahrt um die Erde ist?«

Kapitän Servadac wurde nachdenklich und gab keine Antwort.

Jedenfalls gab es keinen anderen Ausweg als den eben beschlossenen, nämlich das afrikanische Ufer ab- oder vielmehr aufzusuchen, in der Stadt Algier Nachrichten über den noch verbliebenen Rest der bewohnten Erde einzuholen, und, im Falle die ganze übrige Südküste des Mittelmeeres untergegangen wäre, sich nach Norden zu wenden und mit den anwohnenden Völkern Europas in Verbindung zu setzen.

Vor Allem mußten die Havarien an der Maschine der Dobryna ausgebessert werden. Im Innern des Kessels waren mehrere Flammenrohre gesprungen, durch welche das Wasser einen Weg nach dem Feuerroste fand, so daß man jenen vor Ausführung dieser Reparaturen absolut nicht heizen konnte. Nur unter Segel zu gehen, das erschien einestheils zu langsam und anderentheils schwierig, wenn das Meer zu unruhig und der Wind conträr werden sollte. Da nun die auf einem Stapelplatze der Levante verproviantirte Dobryna noch für zwei Monate Kohlen in ihren Behältern führte, so empfahl es sich, lieber unter Benützung dieses Materials schnell zu reisen, selbst auf die Gefahr hin, sich im ersten besten Hafen wieder nach Ersatz umsehen zu müssen.

Nach dieser Seite war man sehr bald einig.

Auch die Havarien konnten glücklicher Weise schnell ausgebessert werden. Unter den Vorräthen der Goëlette befand sich eine Anzahl Reserverohre, welche an Stelle der nun unbrauchbaren eingesetzt wurden. Drei Tage nach der Ankunft an der Insel Gourbi war der Kessel der Dobryna wieder im Stande, Dampf zu halten.

[76] Während seines Aufenthaltes auf der Insel berichtete Hector Servadac dem Grafen Timascheff Alles, was er bezüglich seines engbegrenzten Gebietes wahrgenommen hatte. Beide streiften zu Pferde noch einmal längs der neuen Ufer hin und glaubten sich nach dieser Besichtigung berechtigt, die Veranlassung zu allen jenen Vorkommnissen außerhalb dieses Theiles Afrikas zu suchen.

Am 31. Januar war die Goëlette zur Abfahrt bereit. In der Sonnenwelt schien keine neuere Veränderung eingetreten zu sein. Die Thermometer verkündeten allerdings eine geringe Erniedrigung der Temperatur, welche sich einen Monat über außerordentlich hoch gehalten hatte. Sollte man daraus schließen, daß die Bewegung der Erde um die Sonne in einer neuen Kurve vor sich gehe? Vor Ablauf einiger Tage ließ sich hierüber nichts Bestimmtes sagen.

Die Witterung blieb beständig schön, obwohl sich einige Dünste in der Luft ansammelten und die Barometersäule etwas herabsank. Das war aber kein durchschlagender Grund, die Abreise der Dobryna zu verzögern.

Nun bestand blos noch die Frage, ob Ben-Zouf seinen Kapitän begleiten solle oder nicht. Neben manchen anderen zwang ihn besonders ein Grund, auf der Insel zurück zu bleiben. Man konnte nämlich die beiden Pferde auf der hierzu nicht eingerichteten Goëlette unmöglich mit einschiffen und Ben-Zouf hätte sich niemals von Zephyr und Galette-vorzüglich von der letzteren – trennen können. Die nothwendige Ueberwachung des neuen Landes, die Möglichkeit, daß hier auch andere Fremde landen könnten, die Sorge für einen Theil der Heerden, welche man sich nicht ganz selbst überlassen konnte, da sie im Nothfall die einzige Hilfsquelle der überlebenden Inselbewohner bildeten u.s.w. – alles das gab den Ausschlag, die Ordonnanz zurück zu lassen, so daß sich Kapitän Servadac, wenn auch ungern, endlich der Nothwendigkeit fügte. Eine Gefahr brachte das Verlassenbleiben auf der Insel für den wackeren Burschen ja nicht mit sich. Nach Einsichtnahme von dem neuen Zustande der Dinge wollten Alle zurückkehren und im günstigen Falle Ben-Zouf abholen und heimführen.

Am 31. Januar nahm Ben-Zouf, etwas bewegt, wie es der Anstand erfordert, und »bekleidet mit allen Machtvollkommenheiten des Gouverneurs« von Kapitän Servadac Abschied. Er legte diesem noch an's Herz, für den [77] Fall, daß er bis zum Montmartre kommen sollte, sich ja zu überzeugen, ob dieser etwa auch durch irgend ein kosmisches Ereigniß von seiner Stelle gerückt sei – und bald schwamm die Dobryna, welche mit Hilfe ihrer Schraube die kleine Bucht verließ, lustig auf dem offenen, weiten Meere.

10. Capitel
Zehntes Capitel.
Worin man mit dem Fernrohr vor dem Auge und der Sonde in der Hand einige Spuren der Provinz Algier wieder zu finden sucht.

Die auf den Werften der Insel Wight bewundernswerth solid gebaute Dobryna war ein Schiff von 200 Tonnen, das zu einer solchen Rundfahrt mehr als ausreichend erschien. Weder Columbus noch Magellan besaßen so große und verläßliche Fahrzeuge, als sie sich über den Atlantischen und den Pacifischen Ocean hinaus wagten. Dazu barg die Dobryna in der Kombüse Lebensmittel für mehrere Monate, weshalb sie leicht auch rings um das ganze Mittelmeer fahren konnte, ohne unterwegs Proviant einnehmen zu müssen. Hier sei auch bemerkt, daß es sich als unnöthig erwies, bei der Insel Gourbi die Menge des Ballastes zu vergrößern.

Wenn die Goëlette auch seit der Katastrophe, ebenso wie alle materiellen Gegenstände, wesentlich weniger wog, so war doch auch das Wasser um ebensoviel leichter und folglich minder tragfähig geworden. Bei dem Gleichbleiben des Verhältnisses beider Gewichte segelte die Dobryna also auch jetzt unter den nämlichen nautischen Bedingungen.

Graf Timascheff selbst war nicht Seemann. Die Führung, wenn auch nicht das Commando der Goëlette, lag in Lieutenant Prokop's Händen.

Dieser Lieutenant, ein Mann von dreißig Jahren, war als Sohn eines lange vor dem berühmten Ukas des Kaisers Alexander freigelassenen Leibeigenen auf einem Gute des Grafen geboren und hing aus Dankbarkeit, ebenso wie aus Freundschaft, mit Leib und Seele an seinem früheren Herrn. Am [78] Bord verschiedener Kriegs- und Handelsschiffe zum ausgezeichneten Seemann ausgebildet, trat er mit dem Lieutenantspatent in der Tasche auf der Dobryna ein. An Bord dieser Goëlette verlebte Graf Timascheff den größten Theil des Jahres auf Seereisen, kreuzte während des Winters hier- und dorthin über das Mittelmeer und besuchte im Sommer die Meere des Nordens.

Lieutenant Prokop war, auch außerhalb seines eigentlichen Faches, ein sehr unterrichteter Mann. Er machte Graf Timascheff, ebenso wie sich selbst, dadurch alle Ehre, daß er sich eine seines hohen Gönners vollkommen würdige Ausbildung erworben hatte. Besseren Händen konnte die Dobryna gar nicht anvertraut werden. Auch die Mannschaft verdiente alles Lob. Sie bestand aus dem Mechaniker Tiglew, den vier Matrosen Niegoch, Tolstoy, Etkef und Panofka, und dem Koche Mochel, lauter Söhne von Zinsbauern des Grafen, der auch auf dem Meere den Traditionen der großen russischen Familien treu blieb. Die Seeleute ließen sich wegen der Störung der physikalischen Weltordnung kein graues Haar wachsen, sobald sie wußten, daß ihr angeborener Herr dasselbe Los mit ihnen theilte.

Lieutenant Prokop war freilich sehr unruhig und sagte sich, daß mit Graf Timascheff im Grunde dasselbe der Fall sei.

Die Dobryna steuerte unter Dampf und Segel den Cours West-Ost und mußte bei dem sehr günstigen Winde ohne Zweifel mindestens elf Knoten in der Stunde zurücklegen, wenn die hohen Wellen nicht jeden Augenblick diese Schnelligkeit »gebrochen« hätten.

Obwohl der aus Westen – jetzt dem neuen Osten – herwehende Wind höchstens den Namen einer guten Brise verdiente, so ging das Meer, wenn auch nicht übermäßig hoch, doch ziemlich beträchtlich. Die Ursache ist leicht einzusehen. Die in Folge der verminderten Attraction der Masse der Erde weit leichteren Wassermoleküle erhoben sich durch einen einfachen Effect der Oscillation zu ganz enormer Höhe. Arago, der das Maximum der Elevation für die höchsten Wogen zu sieben bis acht Meter ansetzte, würde sie hier zu seiner größten Verwunderung bis zu fünfzig und sechzig Fuß haben ansteigen sehen. Und das waren noch nicht einmal Brandungswellen, die gegeneinander stoßend oft hoch aufspringen, sondern lang gestreckte Wasserberge, welche die Goëlette bisweilen mit einer Niveaudifferenz von zwanzig Metern hoben und senkten.


Lieutenant Prokop.

Die seit der Abnahme der Schwerkraft ebenfalls verhältnißmäßig [79] leichtere Dobryna tanzte ordentlich auf und nieder, und wenn Kapitän Servadac zur Seekrankheit inclinirt hätte, wäre er unter diesen Verhält nissen gewiß ganz jämmerlich gequält worden.


Kapitän Servadac richtete die wild aufflammenden Augen über das Meer. (S. 84)

Uebrigens traten diese Niveauunterschiede auch nicht so schnell und stoßend auf, da sie nur von einer Art sehr gestreckter hohler See herrührten. Die Goëlette arbeitete dabei nicht mehr, als ob sie gegen die im Allgemeinen so [80] kurzen und harten Wellen des Mittelmeeres kämpfte. Das einzige Unbequeme des jetzigen Zustandes der Dinge lag vor Allem in der verminderten Fahrgeschwindigkeit des Schiffes.

In einer Entfernung von zwei bis drei Kilometern folgte die Dobryna einer Linie, welche etwa der algierischen Küste entsprechen mußte. Nach Süden hin zeigte sich kein Land. Obwohl Lieutenant Prokop nicht im Stande [81] war, den wirklichen Ort der Goëlette durch Planetenbeobachtungen zu ermitteln, da die gegenseitigen Stellungen jener Sterne gestört waren, und obwohl er also kein Besteck machen, d.h. die geographische Länge und Breite durch Berechnung des Höhenstandes der Sonne über dem Horizonte nicht bestimmen konnte, und die Resultate einer solchen Berechnung überdies nur nutzlos in die vor dem neuen kosmographischen System bearbeiteten Karten eingetragen worden wären, so ließ sich der Cours der Dobryna doch mit annähernder Genauigkeit bestimmen. Einestheils reichte für diese beschränkte Seefahrt hierzu die mittels der Logleine zu erlangende Schätzung des durchlaufenen Weges aus, anderentheils sicherten ihn die ganz genauen Angaben des Compasses.

Glücklicher Weise zeigte letzterer keinen Augenblick eine Störung oder Mißweisung Die kosmischen Phänomene blieben ohne Einfluß auf die Magnet nadel, welche den magnetischen Nordpol noch immer in derselben Richtung, zweiundzwanzig und einen halben Grad vom nördlichen Pole der Welt, markirte. Waren also Ost und West eines an die Stelle des anderen getreten, so hatten doch Nord und Süd ihre Stellung unter den Cardinalpunkten des Horizontes unverrückt beibehalten. Auch ohne die, wenigstens vorläufig unmögliche Benutzung des Sextanten konnte man sich also mit den Angaben des Compasses und der Logleine begnügen.

Im Laufe des ersten Reisetages erklärte Lieutenant Prokop, der in diesen Dingen natürlich mehr Kenntnisse hatte als der französische Stabs officier, in Gegenwart des Grafen Timascheff diese verschiedenen Einzelheiten. Er sprach, wie die Russen meistens, vollkommen französisch. Die Unterhaltung wendete sich erklärlicher Weise den Erscheinungen zu, deren letzte Ursache dem Lieutenant Prokop freilich ebenso unbekannt war wie unserem Kapitän. Vorzüglich handelte es sich dabei um die neue Bahn, welche die Erdkugel seit dem ersten Januar eingeschlagen hatte.

»Es liegt auf der Hand, Kapitän, sagte Lieutenant Prokop, daß die Erde, welche eine uns unbekannte Ursache der Sonne nicht unbedeutend genähert, ihre alte Bahn um jene nicht mehr beschreibt.

– Davon bin ich fest überzeugt, erwiderte Kapitän Servadac; doch jetzt ist es von besonderem Interesse, zu wissen, ob wir nach Durchschneidung der Bahn der Venus auch noch die des Merkur passiren werden.

– Um zum Schluß auf die Sonne zu stürzen und dort elend zu Grunde zu gehen, setzte Graf Timascheff hinzu.

[82] – Das wäre demnach ein Fallen, ein entsetzliches Fallen! rief Kapitän Servadac.

– Nein, nein, bemerkte da Lieutenant Prokop, ich glaube versichern zu können, daß die Erde augenblicklich nicht von einem solchen Sturze bedroht ist. Sie bewegt sich nicht geradlinig nach der Sonne, sondern beschreibt unzweifelhaft eine neue Bahn rund um dieselbe.

– Kannst Du für diese Hypothese Beweise beibringen? fragte Graf Timascheff.

– Ja, Vater, erwiderte Lieutenant Prokop, und einen Beweis, der Dich überzeugen wird. Wenn die Erdkugel nämlich im Fallen begriffen wäre, so stände auch die endliche Katastrophe sehr nahe bevor und wir müßten dem Centrum der Attraction schon sehr nahe sein. Wenn es ein Fallen wäre, so müßte die Tangentialkraft, welche in Verbindung mit der Anziehungskraft der Sonne die Planeten in ihre elliptischen Bahnen um letztere zwingt, augenblicklich aufgehoben worden sein, und unter dieser Bedingung würde die Erde nur vierundsechzig und einen halben Tag brauchen, um auf die Sonne zu fallen.

– Und Sie folgern aus dem Allen? ... fragte Kapitän Servadac.

– Daß wir eben sicher nicht im Fallen sind, erklärte Lieutenant Prokop. Bedenken Sie, daß die Erdbahn schon einen ganzen Monat geändert und die Erdkugel doch noch kaum an der Venus vorüber gekommen ist. Sie hat sich in diesem Zeitraume der Sonne also nur um sechs Millionen von den etwa zwanzig Millionen Meilen, dem Halbmesser der Erdbahn, genähert. Wir haben also alle Ursache, die jetzige Bewegung der Erde nicht als ein Fallen aufzufassen. Gewiß ist das ein Glück zu nennen. Uebrigens glaube ich sogar, daß wir uns wieder von der Sonne zu entfernen anfangen, denn die Temperatur hat sich allmälig vermindert und die Hitze auf der Insel Gourbi erscheint nicht bedeutender, als sie es auch in Algier sein würde, wenn dieses noch unter dem sechsunddreißigsten Breitengrade läge.

– Ihre Schlußfolgerungen sind ohne Zweifel richtig, Lieutenant, stimmte Kapitän Servadac diesen Ausführungen bei. Nein, die Erde ist nicht auf die Sonne zu gestürzt worden, sondern kreist noch immer um diese.

– Nicht minder sichtbar ist aber, fügte Lieutenant Prokop hinzu, daß in Folge der Umwälzung, nach deren Grunde wir vergeblich forschen, das [83] Mittelmeer sammt dem anliegenden Küstenstriche Afrikas plötzlich in die äquatoriale Zone versetzt wurde.

– Wenn es noch afrikanische Küstenländer giebt, sagte Kapitän Servadac.

– Und überhaupt noch ein Mittelmeer!« vervollständigte Graf Timascheff.

Wie viele Fragen tauchten da wohl auf! Jedenfalls schien es zur Zeit fest zu stehen, daß die Erde sich nach und nach von der Sonne entfernte und daß ein Fall auf das Centrum der Attraction nicht zu befürchten sei.

Was war aber von jenem afrikanischen Continente übrig, dessen Reste die Goëlette zu entdecken suchte?

Vierundzwanzig Stunden nach der Abfahrt von der Insel hatte die Dobryna offenbar die Punkte passirt, an denen längs der Küste Algiers Tenez, Cherchell, Koleah und Sidi-Ferruch liegen mußten, ohne daß eine dieser Städte auch mittels des Fernrohres zu entdecken gewesen wäre. Unbegrenzt wälzte das Meer auch da seine Wogen hin, wo ihnen sonst der Festlandswall ein Halt! gebot.

Bezüglich des von der Dobryna gesteuerten Courses konnte Lieutenant Prokop sich nicht wohl täuschen. Unter Berücksichtigung der Compaßangaben, der ziemlich gleichbleibenden Richtung der Winde, ferner der mittels Log bestimmten Schnelligkeit der Goëlette und der gleichzeitig wirklich durchlaufenen Strecke, konnte er an diesem Tage annehmen, daß das Schiff sich unter 36°47' der Breite und 20°44' östlicher Länge von Ferro, d.h. an der Stelle befinde, wo die Hauptstadt Algiers zu suchen war.

Die Stadt Algier aber, ebenso wie Tenez, Cherchell, Koleah und Sidi-Ferruch, war ebenfalls in der Tiefe verschwunden.

Mit gerunzelter Stirne und zusammengepreßten Lippen richtete Kapitän Servadac die wild aufflammenden Augen über das Meer, welches sich über den unbegrenzten Horizont hinaus erstreckte. Alle Erinnerungen seines Lebens tauchten wieder in ihm auf. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Hier, an der Stelle der Stadt Algier, in der er einst mehrere Jahre verlebte, traten die Bilder seiner Freunde, die nun nicht mehr waren, vor seine Seele. Sein Gedanke schweifte weiter nach der Heimat, nach Frankreich. Er fragte sich, ob die furchtbare Erdrevolution nicht auch dort verheerend aufgetreten sein möge. Dann suchte er in der Tiefe des Wassers einige Spuren der verschlungenen Hauptstadt zu entdecken.

[84] »Nein, rief er verzweifelt, eine solche Katastrophe ist doch reinweg unmöglich! Eine Stadt verschwindet doch nicht im Handumdrehen mit Mann und Maus! Es müßten doch wenigstens einige Trümmer umherschwimmen. Von der Casbah, von dem hundertfünfzig Fuß hohen Fort Empereur würde doch eine Spitze das Wasser überragen! Und wenn nicht ganz Afrika tief in die Eingeweide der Erde verschlungen wurde, müssen wir doch einige Spuren desselben wieder finden!«

Es erschien in der That auffallend, daß kein Trümmerstück auf dem Meere schwamm, kein entwurzelter oder gebrochener Baum, dessen Aeste doch fortgetrieben wären, keine Planke von den vielen Fahrzeugen in der prächtigen, zwanzig Kilometer langen Bai, die sich noch vor einem Monat zwischen Cap Matifou und der Landspitze Pescade ausdehnte.

Wenn das Auge aber nur über die Meeresoberfläche Aufschluß gab, konnte man dann nicht eine Sonde benutzen und mit deren Hilfe irgend ein Ueberbleibsel der auf so sonderbare Weise verschwundenen Stadt zu erlangen suchen?

Graf Timascheff, der Kapitän Servadac's Gemüth von jedem Zweifel entlasten wollte, gab Befehl zu sondiren. Das Bleigewicht sank in die Tiefe.

Zur größten Verwunderung Aller und vorzüglich zum größten Erstaunen Lieutenant Prokop's wies die Sonde einen Grund von fast constantem Niveau und nur in fünf bis sechs Faden Tiefe nach. Zwei Stunden lang ward diese Sonde über eine weite Strecke dahin geschleppt und verrieth dabei doch niemals nur andeutungsweise jene Niveauunterschiede, wie sie jene, wie Algier, in amphitheatralischer Form erbaute Stadt hätte darbieten müssen. Sollte man nun auch noch annehmen, daß die Wogen mit Eintritt der Katastrophe auch die ganze Umgebung der Hauptstadt Algiers eingeebnet hätten?

Das war doch etwas zu unwahrscheinlich.

Der Meeresboden selbst bestand weder aus Felsen, noch aus Schlamm, weder aus Sand, noch aus Muscheldetritus. Die Sonde lieferte nur einen durch sein lebhaft goldiges Schimmern ausgezeichneten Metallstaub, dessen eigentliche Natur für jetzt nicht weiter zu bestimmen war. Jedenfalls entsprach der Befund sehr wenig den im Mittelmeere durch Sondirungen gewöhnlich erlangten Resultaten.

[85] »Da sehen Sie, Lieutenant, sagte Hector Servadac, wir sind entfernter von der Küste Algiers, als Sie glauben.

– Wenn wir weit davon weg wären, entgegnete kopfschüttelnd der Angeredete, so würden wir nicht fünf Faden Tiefe, wohl aber zwei- bis dreihundert finden.

– Nun dann? ... fragte Graf Timascheff.

– Ich weiß nicht, was ich hiervon denken soll.

– Herr Graf, begann da Kapitän Servadac, ich wage die Bitte, Ihr Schiff gefälligst nach Süden gehen zu lassen, um dort vielleicht zu finden, was wir hier vergeblich suchen!«

Graf Timascheff wechselte einige Worte mit dem Lieutenant Prokop, und da die Witterung günstig erschien, ward der Beschluß gefaßt, die Dobryna etwa sechsunddreißig Stunden lang nach Süden steuern zu lassen.

Hector Servadac dankte seinem Wirthe, der dem Untersteuermann Befehl gab, den neuen Cours einzuhalten.

Mit größter Sorgfalt wurde nun im Laufe der nächsten sechsunddreißig Stunden das Fahrwasser untersucht. Man begnügte sich dabei nicht allein mit der Sondirung des verdächtigen Meeres, das noch immer bei vier bis fünf Faden Tiefe einen durchweg ebenen Boden zeigte, sondern schleppte über letzteren auch eiserne Schaufeln hin, welche indessen weder einen bearbeiteten Stein, noch ein Stückchen Metall, einen abgebrochenen Zweig oder eine einzige Wasserpflanze, noch eines jener zahllosen Seethiere zu Tage förderten, die sonst auf dem Meeresgrunde zu nisten pflegen. Welcher Erdboden vertrat also jetzt wohl die Stelle des früheren Grundes im Mittelländischen Meere?

Die Dobryna segelte bis zum 36. Grade der Breite. Die Eintragung in die an Bord vorhandenen Karten ergab unzweifelhaft, daß das Schiff sich zur Zeit über dem vormaligen Sahel, einem Bergrücken, der das Meer von der gesegneten Mitidja-Ebene scheidet, und zwar genau an dem Punkte befand, wo sich früher die höchste Spitze desselben, die Bouzareah, bis auf vierhundert Meter erhob. Nach der Ueberfluthung des umgebenden Landes hätte doch dieser Gipfel die Fläche des Oceans als Eiland überragen müssen!

Weiterhin dampfend, gelangte die Dobryna über Douera, den Hauptort der Sahelberge, hinaus, passirte Boussavic, die Stadt mit den breiten, von Platanen beschatteten Straßen, und ließ auch Blidah hinter sich, von dessen [86] den Qued-el-Kebir um vierhundert Meter überragendem Fort nicht eine Spur aufzufinden war.

Lieutenant Prokop, der sich auf dieses unbekannte Meer allzuweit hinaus zu wagen fürchtete, schlug zwar vor, wieder einen nördlichen oder wenigstens östlichen Cours zu nehmen; auf Kapitän Servadac's dringendes Ersuchen ward indeß die Richtung nach Süden vorläufig noch beibehalten.

So setzte man diese Entdeckungsreise fort bis zu den Bergen von Mouzaia mit ihren sagenhaften Grotten, welche früher den Kabylen als Zuflucht dienten, wo ehemals Johannesbrot- und Nesselbäume und Eichen aller Art grünten, während Löwen, Hyänen und Schakale hier ihre Lager hatten. Der höchste Berggipfel, der sich noch vor sechs Wochen zwischen Bou-Roumi und Chiffa erhob, hätte sich eigentlich weit über die Fluthen erheben müssen, denn er erreichte eine Höhe von nahe sechzehnhundert Meter! ... Aber nichts, gar nichts war zu sehen, weder an der Stelle selbst, noch am Horizonte, wo sich Himmel und Wasser vermählten.

Man sah sich also gezwungen, nach Norden umzukehren, und bald schaukelte die Goëlette wieder auf den Wogen des früheren Mittelmeeres, ohne eine Spur des Landes wieder gefunden zu haben, das ehedem die Provinz Algier bildete.

11. Capitel
Elftes Capitel.
Kapitän Servadac entdeckt ein von der Katastrophe verschontes Eiland – freilich nur ein Grab.

Es unterlag keinem weiteren Zweifel, daß ein sehr großer Theil der Kolonie Afrika untergegangen war. Offenbar handelte es sich hier um mehr, als das bloße Verschwinden einiger Landstrecken unter dem Wasser. Es schien vielmehr, als hätten sich die gierig geöffneten Eingeweide der Erde über einem ganzen Lande wieder geschlossen. In der That waren ja die ganzen Felsenrücken der Provinz spurlos verschwunden und ein neuer, aus unbekannten [87] Substanzen bestehender Boden vertrat jetzt die Stelle des früheren sandigen Grundes, auf dem das Meer sonst ruhte.

Die Ursache dieser unerhört entsetzlichen Zerstörung entging auch jetzt noch den Fahrgästen der Dobryna. Jetzt galt es diesen nur, die letzte Grenze jener Verwüstung aufzufinden.

Nach reiflicher Ueberlegung kam man dahin überein, mit der Goëlette weiter nach Osten, längs der Linie zu segeln, welche früher die Küste des [88] afrikanischen Festlandes an dem jetzt scheinbar unbegrenzten Meere bildete. Die Fahrt bot keine besonderen Schwierigkeiten und so benutzte man gern die Chancen der jetzt so freundlichen Witterung und des günstigen Windes.


»Herr Graf, begann Kapitän Servadac, ich wage die Bitte ...« (S. 86.)

Aber auch während dieser Reise längs der Küste vom Cap Matifou bis zur Grenze von Tunis fand man durchaus keinen Ueberrest von früher, weder die amphitheatralisch angelegte Seestadt Dellys, noch am Horizonte eine Andeutung der Jura-Kette, trotzdem deren höchster Gipfel bis auf zweitausenddreihundert Meter anstieg; weder die Stadt Bougie, noch die steilen Abhänge des Gouraya, den Berg Adrar, Didjela, die Berge Kleinkabyliens, den Triton der Alten, jene Gruppe von sieben Landvorsprüngen mit einer Erhebung bis zu elfhundert Meter; weder Collo, den alten Hafen von Konstantine, noch Stora, den neuen Hafen von Philippeville, noch auch Bona, das über seinem Golfe von vierzig Kilometer Oeffnung thronte. Man sah nichts mehr, weder vom Cap de Garde, noch vom Cap Rose, weder von dem First der Berge von Edough noch von den sandigen Dünen der Küste, weder von Mafrag, noch von dem durch die ausgedehnte Industrie seiner Korallenarbeiter berühmten Calle, und wurde eine Sonde auch zum hundertsten Male auf den Grund hinabgesenkt, nie, niemals brachte sie ein Exemplar der prächtigen Wasserthiere des Mittelmeeres mit empor.

Graf Timascheff beschloß nun, der Linie zu folgen, welche sich vordem von der tunesischen Küste nach dem Cap Blanc, d.h. nach dem nördlichsten Punkte Afrikas hinzog. An dieser engsten Stelle des Meeres zwischen dem afrikanischen Festlande und Sicilien konnte jenes vielleicht einige bemerkenswerthe Erscheinungen bieten.

Die Dobryna hielt sich also in der Richtung des siebenunddreißigsten Breitengrades und passirte am 7. Februar den siebenundzwanzigsten Grad östlicher Länge.

Der Grund aber, welcher Graf Timascheff in Uebereinstimmung mit Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop zur Einhaltung dieser Linie bestimmte, lag in Folgendem:

Zu eben jener Zeit war – nachdem man diese Unternehmung schon längere Jahre fast aufgegeben hatte – in Folge französischen Einflusses das Meer der Sahara geschaffen worden. Dieses großartige Werk, eigentlich nur eine Zurückerstattung des ausgedehnten Bassins des Tritonsees, das einst das Schiff der Argonauten trug, hatte die klimatischen Verhältnisse der Umgebung [89] sehr günstig verändert und den Verkehr zwischen Sudan und Europa in die Hände Frankreichs gegeben.

Welchen Einfluß hatte nun die Wiederauferstehung dieses alten Meeres auf den jetzigen Zustand der Dinge geäußert? Das sollte zunächst in Erfahrung gebracht werden.

In der Höhe des Golfes von Gabes, auf dem vierunddreißigsten Grade der Breite, ließ jetzt ein breiter Kanal die Fluthen des Mittelmeeres in die tiefe Bodendepression der Bezirke von Kebir, Garsa u.a.m. einströmen. Die zwanzig Kilometer nördlich von Gabes und genau an der Stelle gelegene Landenge, nach der hin eine Bai des Tritonsees der alten Welt sich bis nahe an das Meer erstreckte, war durchstochen worden, und die Wasser wälzten sich nun in ihr früheres Bett, aus dem sie vor Zeiten aus Mangel eines hinreichenden Zuflusses unter der glühenden Sonne Libyens durch Verdunstung entwichen waren.

Konnte nicht an der Stelle dieses Durchstiches gerade der Bruch stattgefunden haben, dem man das Verschwinden eines beträchtlichen Theiles Afrikas zuschreiben mußte?

Durfte man nicht glauben, die Dobryna werde etwa nach Ueberschreitung des vierunddreißigsten Parallelkreises die Küste von Tripolis wieder finden, welche der Weiterausbreitung der Zerstörung widerstanden haben mochte?

»Wenn wir an diesem Punkte, bemerkte Lieutenant Prokop sehr richtig, nach Süden hin immer noch ein unbegrenztes Meer antreffen, so bleibt uns dann nichts übrig, als nach Europa zurückzukehren, und uns dort die Lösung des Räthsels zu holen, welches hier unlösbar erscheint.«

Ohne jede Rücksicht auf Kohlenersparniß setzte die Dobryna unter Dampf ihren Weg nach Cap Blanc zu fort, ohne die zwischenliegenden Cap Nero und Cap Serrat zu Gesicht zu bekommen. Auf der Höhe von Bizerte, einer reizenden Stadt von völlig orientalischem Charakter, sah man weder den lieblichen See, der sich jenseit der engeren Hafeneinfahrt ausbreitet, noch ihre von prächtigen Palmen beschatteten Marabouts. Die Sonde wies unter dem auch hier sehr durchsichtigen Wasser unverändert den flachen, leeren Meeresboden nach, der allüberall die Wassermassen des Mittelmeeres trug.

[90] Um das Cap Blanc, oder richtiger um die Stelle, wo sich jenes vor fünf Wochen noch befand, fuhr man am 7. Februar. Die Goëlette durchschnitt also jetzt das Wasser, welches etwa der Bai von Tunis entsprach. Von dem ganzen prächtigen Golf war aber keine Spur mehr vorhanden, ebensowenig weder von der amphitheatralisch gebauten Stadt, noch von dem Fort des Arsenals, weder von dem benachbarten la Goulette, noch von den beiden Bergspitzen des Bou-Kournein. Auch das Cap Bon, diese nach Sicilien am weitesten vorgeschobene Spitze Afrikas, erschien sammt dem Festlande in den Eingeweiden der Erde verschwunden.

Vor all' diesen so außerordentlichen Ereignissen stieg der Grund des Mittelmeeres hier in einer sehr steilen Böschung zu einem langen, schmalen Satteldache an. Die Erde erhob sich gleichsam zu einem Rückgrat, welches sich in die libysche Meerenge hinausdrängte und über dem durchschnittlich nur siebzehn Meter Wasser standen. Vielleicht verband dieser Strang vor Zeiten sogar das Cap Bon mit dem am weitesten vorspringenden Cap Furina auf der Insel Sicilien, ein ähnliches Verhältniß, wie man es zweifellos für Ceuta und Gibraltar nachgewiesen hat.

Lieutenant Prokop, ein Seemann, der das Mittelmeer bis in alle Einzelheiten kannte, war natürlich auch hiervon unterrichtet. Es gab das übrigens Gelegenheit, zu prüfen, ob der Boden des Mittelmeeres zwischen Afrika und Sicilien neuerdings eine Veränderung erlitten hätte, oder ob jener unterseeische Bergkamm der libyschen Enge noch jetzt existirte.

Graf Timascheff, Kapitän Servadac und der Lieutenant wohnten alle Drei den vorzunehmenden Sondirungen bei. Ein auf den Rüsten des Focksegels sitzender Matrose senkte das Bleigewicht in die Tiefe.

»Wie viel Faden? fragte Lieutenant Prokop.

– Fünf, antwortete der Matrose.

– Und die Oberfläche des Bodens?

– Ganz eben.«

Jetzt sollte die Größe der Bodensenkung zu beiden Seiten des submarinen Kammes bestimmt werden. Die Dobryna dampfte langsam, je eine halbe Meile nach rechts und nach links von der ersten Stelle, um daselbst Sondirungen auszuführen.

Immer und überall fünf Faden! Ein unveränderlich ebener Grund! Die Bergkette zwischen Cap Bon und Cap Furina existirte nicht mehr. Es [91] lag auf der Hand, daß die stattgefundene Umwälzung eine durchgehende Nivellirung des Mittelmeer-Grundes hervorgebracht hatte. Dabei bestand der letztere immer wieder aus jenem metallischen Staube von unbekannter Art. Nirgends fanden sich Schwämme, Meerasseln, Haarsterne, Quallen, Wasserpflanzen oder Muscheln, welche sonst in Menge die unterseeischen Felsen bedeckten.

Die Dobryna drehte nach Süden bei und setzte ihre Entdeckungsreise weiter fort.

Unter den Eigenthümlichkeiten dieser Seefahrt verdient auch der Umstand Erwähnung, daß das Meer sich vollständig verlassen erwies. Kein einziges Fahrzeug kam zu Gesicht, das die Goëlette um aufklärende Nachrichten hätte ansprechen können. Die Dobryna schien allein durch diese Wasserwüste zu segeln, und es fragte sich im Gefühle der trostlosen Isolirung Jeder, ob die Goëlette jetzt nicht vielleicht der einzige bewohnte Punkt des Erdenrundes sein möge, eine neue Arche Noah, welche die letzten Ueberlebenden nach der entsetzlichen Katastrophe, die einzigen athmenden Wesen der Erde trug!

Am 9. Februar segelte die Dobryna genau über der Stadt Didon, dem alten Byrsa, welche jetzt noch gründlicher zerstört war, als seiner Zeit das punische Karthago durch Scipio und das römische durch den. Gassaniden Hassan.

Als an diesem Abend die Sonne am östlichen Horizonte unterging, stand Kapitän Servadac in Gedanken versunken, gelehnt an das Backbord der Goëlette. Sein Blick irrte über den Himmel, wo einzelne Sterne durch einen leichten Dunstschleier schimmerten, und über das Meer, dessen Wogen sich mit der einschlafenden Brise glätteten.

Da, als er sich zufällig längs des Schiffes nach dem südlichen Horizonte wandte, empfand sein Auge eine Art schwachen Lichteindruckes. Erst glaubte er das nur von einer optischen Täuschung herleiten zu sollen und sah deshalb noch einmal aufmerksamer nach der betreffenden Stelle.

Wirklich flimmerte da ein entferntes Licht, das auch ein hinzugerufener Matrose deutlich erkannte.

Sofort erhielten Graf Timascheff und Lieutenant Prokop Nachricht von dieser Entdeckung.

»Ist das ein Land? ... fragte Kapitän Servadac.

[92] – Sollten es nicht vielmehr die Nachtlaternen eines Schiffes sein? meinte Graf Timascheff.

– Binnen einer Stunde werden wir ja wissen, woran wir sind! rief Kapitän Servadac.

– Kapitän, das werden wir erst morgen erfahren, erklärte Lieutenant Prokop.

– Du steuerst also nicht auf das Licht zu? fragte ihn verwundert der Graf.

– Nein, Vater, ich denke vielmehr gegen zu brassen und den Tag abzuwarten. Wenn sich dort eine Küste befände, wage ich nicht, des Nachts auf dem unbekannten Wasser zu fahren.«

Der Graf machte ein Zeichen der Zustimmung, die Dobryna braßte, um auf der Stelle zu bleiben, und ruhig sank die Nacht über das weite Meer.

Eine Nacht von sechs Stunden währt zwar nicht lange, und doch schien diese eine Ewigkeit anzudauern. Aus Furcht, der schwache Lichtschein möchte verschwinden, verließ Kapitän Servadac das Verdeck lieber gar nicht. Aber jener glänzte ruhig weiter, etwa wie ein Leuchtfeuer zweiter Klasse in der größten Gesichtsweite.

»Und immer an derselben Stelle, bemerkte Lieutenant Prokop. Daraus ist mit größter Wahrscheinlichkeit zu schließen, daß wir ein Land vor uns haben und nicht ein Schiff.«

Mit Tagesanbruch richteten sich alle an Bord vorhandenen Fernrohre nach der Stelle, an der in vergangener Nacht der Lichtschein flimmerte. Der letztere erbleichte mit dem helleren Tage, an seiner Stelle aber erschien, etwa sechs Meilen von der Dobryna, ein eigenthümlich geformter Felsen, den man wohl für ein verlorenes Eiland mitten in dem wüsten Meere ansehen konnte.

»Das ist nur ein Felsen, behauptete Graf Timascheff, oder vielmehr der Gipfel eines untergegangenen Berges.«

Immerhin schien es wichtig, diesen Felsen näher zu untersuchen, denn er bildete ein gefährliches Riff, vor dem in Zukunft sich zu hüten die Schiffe alle Ursache hatten. Man hielt also auf das bezeichnete Eiland zu und drei Viertelstunden später befand sich die Dobryna nur noch zwei Kabellängen davon entfernt.

[93] Das Eiland bestand aus einem nackten, dürren und steilen Hügel, der sich kaum vierzig Fuß über das Wasser erhob. Keinerlei Felsengeröll lag in der Umgebung, was den Glauben erregte, daß derselbe sich unter dem Einfluß jenes unerklärten Phänomens langsam gesenkt haben müsse, bis er einen neuen Stützpunkt fand, der ihn in der jetzigen Höhe über dem Wasser hielt.

»Doch auf dem Eiland befindet sich eine Wohnstätte! rief Kapitän Servadac, der mit dem Fernrohr vor den Augen jeden Punkt desselben musterte. Vielleicht auch noch ein Lebender ...«

Diese Hypothese des Kapitäns begleitete Lieutenant Prokop mit einem sehr bezeichnenden Kopfschütteln. Das Eiland schien vollkommen öde zu sein und auch ein Kanonenschuß von der Goëlette lockte keinen Bewohner desselben an das Ufer.

Freilich erhob sich am höchsten Punkte des Eilandes eine Art Steingemäuer, das einige Aehnlichkeit mit einem arabischen Marabout zeigte.

Das große Boot der Dobryna wurde flott gemacht. Graf Timascheff, Kapitän Servadac nebst Lieutenant Prokop nahmen darin Platz und vier kräftige Matrosen handhabten die Ruder.

Bald darauf betraten die Männer das Land und kletterten ohne langes Besinnen den steilen Abhang hinauf nach dem Marabout.

Dort wurden sie zuerst durch eine Umfassungsmauer aufgehalten, welche mit antikem Schmuckwerk, wie Basen, Säulen, Statuen und kleinen Monolithen, aber ohne alle Ordnung und jeden kunsthistorischen Werth, besetzt war.

Graf Timascheff umschritt mit seinen zwei Begleitern diese Mauer und gelangte an eine enge, geöffnete Pforte, durch welche Alle eintraten.

Eine zweite, ebenfalls offene Thür, vermittelte den Zugang nach dem Innern des Marabout. Auch hier waren die Mauern mit arabischen, aber werthlosen Sculpturen bedeckt.

In der Mitte des einzigen Raumes dieses Marabout erhob sich ein sehr einfaches Grab. Darüber hing eine ungeheure silberne Lampe mit einem noch vorhandenen Oelvorrath von mehreren Litern und sehr langem, auch jetzt brennendem Dochte.

Das Licht von dieser Lampe war es, das im Laufe der letzten Nacht Kapitän Servadac's Auge getroffen hatte.

[94] Der Marabout erwies sich unbewohnt. Sein Wächter – wenn er überhaupt einen solchen gehabt – mochte im Augenblick der Katastrophe entflohen sein. Seitdem diente er einigen Seeraben als Zuflucht, welche beim Eintritt der Männer in raschem Fluge nach Süden zu entflohen.

In einem Winkel des Grabes lag ein altes Gebetbuch. Dieses in französischer Sprache gedruckte Buch war für den Gottesdienst zum Gedenktage am 25. August aufgeschlagen.

In Kapitän Servadac's Kopfe stieg plötzlich ein Gedanke auf.

Der Punkt des Mittelmeeres, den das Eiland einnahm, das jetzt mitten im offenen Meere isolirte Grabmal, die in dem Buche aufgeschlagene Seite, Alles wies ihn darauf hin, an welcher Stelle er sich mit seinen Begleitern befand.

»Das Grab des heiligen Ludwig, meine Herren!« sagte er.

In der That verstarb hier einst jener König von Frankreich. Seit mehr als sechs Jahrhunderten ehrte dasselbe der fromme Sinn vieler Franzosen.

Kapitän Servadac verneigte sich vor der geheiligten Stätte und seine beiden Begleiter ahmten ihm andächtig nach.

Die hier über dem Grabe eines Heiligen brennende Lampe war jetzt vielleicht der einzige Leuchtthurm, der über dem ganzen Mittelmeere glänzte, und wie bald sollte auch dieser verlöschen.

Die drei Männer verließen den Marabout und den öden Felsen. Das Boot führte sie an Bord zurück, und nach Süden steuernd verlor die Dobryna bald das Grab Ludwig IX. aus den Augen, den einzigen Punkt der Provinz Tunis, den die unerklärliche Katastrophe verschont zu haben schien.


Sie gelangten an eine enge, geöffnete Pforte. (S. 94.)
[95]
12. Capitel
Zwölftes Capitel.
In welchem der Lieutenant Prokop, nachdem er also Seeman seine Schuldigkeit gethan, sich in den Wissen Gottes ergiebt.

Die erschreckten Seeraben hatten bei der Flucht aus dem Marabout ihren Flug nach Süden zu gerichtet; woraus sich wohl annehmen ließ, es [96] möchte in dieser Himmelsgegend ein nicht zu entferntes Land zu finden sein. An diese Hoffnung klammerten sich die Insassen der Dobryna.

Einige Stunden nach dem Verlassen des Eilandes schwamm die Goëlette auf diesem neuen Meere, das die ganze Halbinsel Dakhul, welche früher die Bai von Tunis und den Golf von H'Amamat trennte, in geringer Tiefe überdeckte.

[97] Zwei Tage später erreichte sie, nach vergeblicher Aufsuchung der tunesischen Küste von Sahel, den vierunddreißigsten Breitengrad, der hier den Golf von Gabes durchschneiden mußte.

Keine Spur war indessen übrig von der Stelle, an der sechs Wochen vorher der Kanal des Meeres der Sahara mündete, und unabsehbar breitete sich die Wasserfläche nach Westen hin aus.

Inzwischen erscholl am 11. Februar auf's Neue der Ruf »Land!« aus dem Takelwerk der Goëlette, und es zeigte sich eine Küste da, wo man eine solche nach geographischer Voraussetzung nicht erwartet hätte.


»Das Grab des heiligen Ludwig, meine Herren!« sagte der Kapitän. (S. 95.)

In der That, das konnte die Küste von Tripolis nicht sein, welche im Allgemeinen niedrig und aus größerer Entfernung schwer zu erkennen ist. Uebrigens lag diese Küstenstrecke auch zwei Grade südlicher.

Das neue, sehr zerrissene Land erstreckte sich weit von Osten nach Westen und schloß den Horizont im Süden gänzlich ab. Zur Linken theilte es den Golf von Gabes in zwei Theile und verbarg dem Blicke die Insel Derba, welche dessen äußerste Spitze bildet.

Das Land wurde auf den Schiffskarten sorgfältig eingetragen und es legte die Vermuthung nahe, daß das Sahara-Meer durch den neuen Continent ziemlich eingeengt worden sein möge.

»Nachdem wir also, begann Kapitän Servadac, bis hierher das Mittelmeer befahren haben, wo wir ein Festland voraussetzen mußten, begegnen wir hier einem Lande, wo wir nur das Meer erwarten durften.

– Und dabei sieht man auf dieser Wasserfläche, fügte Lieutenant Prokop hinzu, weder maltesische Tartanen, noch levantische Chebecs, welche sich sonst hier in großer Anzahl finden.

– Wir werden zunächst, nahm Graf Timascheff das Wort, eine Entscheidung darüber treffen müssen, ob wir dieser Küste nach Osten oder Westen hin folgen.

– Mit Ihrer Erlaubniß nach Westen, Herr Graf, fiel schnell der französische Officier ein, damit ich wenigstens weiß, ob jenseits des Cheliff wirklich nichts von der Kolonie Algier übrig geblieben ist. Im Vorbeifahren könnten wir dann meinen auf der Insel Gourbi zurückgelassenen Gefährten mit aufnehmen und bis Gibraltar segeln, um dort von Europa Neuigkeiten zu erfahren.

[98] – Kapitän Servadac, erwiderte Graf Timascheff mit gewohntem ruhigen Antlitz, die Goëlette steht zu Ihrer Verfügung. Prokop, ertheile darnach Deine Befehle.

– Dagegen möchte ich mir doch, sagte der Lieutenant nach einigem Nachdenken, eine Bemerkung erlauben.

– Rede.

– Der Wind weht von Westen und scheint aufzufrischen, antwortete Prokop, wir werden zwar mit dem Dampf allein, aber doch nur schwierig gegen denselben aufkommen. Gehen wir dagegen mit Segel und Dampfkraft nach Osten, so müssen wir binnen wenig Tagen die Küste Egyptens erreichen und werden dort, in Alexandria oder an jeder anderen Stelle, dieselbe Aufklärung finden können, die uns etwa Gibraltar verspricht.

– Sie hören selbst, Kapitän?« sagte Graf Timascheff zu Hector Servadac gewendet.

Trotz seines Wunsches, nach der Provinz Oran zu gelangen und Ben-Zouf wieder zu sehen, erkannte er doch die Richtigkeit der Bemerkung des Lieutenant Prokop an. Die westliche Brise frischte auf und die Dobryna konnte im Kampfe gegen dieselbe nur wenig Fahrt machen, wogegen sie mit dem Winde im Rücken die egyptische Küste schnell erreichen mußte.

Das Schiff ward nach Osten gewendet. Der Wind drohte steif zu werden. Glücklicher Weise wälzten sich die Wogen in derselben Richtung, wie die Goëlette selbst steuerte, und überstürzten sich nicht heftig.

Seit ungefähr vierzehn Tagen beobachtete man mit Sicherheit, daß die Temperatur, welche auffallend zurückgegangen war, nur ein Mittel von fünfzehn bis zwanzig Grad über dem Nullpunkt des Thermometers ergab. Diese wachsende Abnahme rührte von einer sehr natürlichen Ursache her, nämlich von der zunehmenden Entfernung der Erdkugel in ihrer neuen Bahn. In dieser Hinsicht konnte es keinen Zweifel geben. Nachdem sich die Erde dem Centrum ihrer Attraction so weit genähert hatte, daß sie bis über die Bahn der Venus hinaus kam, entfernte sie sich jetzt allmälig und nahm augenblicklich eine viel weiter entlegene Stelle ein, als je früher in ihrem Verhältniß zur Sonne. Etwa am 1. Februar schien sie wieder 23 Millionen Meilen von derselben abzustehen, also ebensoweit wie am 1. Januar, und seit dieser Zeit mochte sie noch um ein Viertel entfernter stehen. Es erhellte das nicht allein aus der Abnahme der Temperatur, sondern auch aus dem Anblick der jetzt [99] offenbar verkleinerten Sonnenscheibe, welche vom Mars aus dem Auge des Beobachters ungefähr in ähnlicher Größe erschienen wäre. Daraus ließ sich demnach schließen, daß die Erde die Bahn dieses Planeten erreicht habe, der ihr übrigens auch in physischer Hinsicht sehr ähnlich ist. Schließlich führte das Alles zu der Annahme, daß die neue von der Erde innerhalb des Sonnensystems durchlaufene Bahn eine sehr verlängerte Ellipse bilden mußte.

Um diese kosmische Erscheinung kümmerten sich die Insassen der Dobryna zur Zeit freilich blutwenig. Sie beunruhigten sich nicht wegen der veränderten Bewegung des Erdballs in seiner Bahn, sondern hatten nur ein Auge für die auf der Oberfläche desselben vorgegangenen Umwälzungen, deren Bedeutung sie noch gar nicht begriffen.

In einer Entfernung von zwei Meilen folgte die Goëlette also dem neuen Ufersaume, an dem jedes Schiff unrettbar verloren gewesen wäre, das im Sturm nicht von demselben abkommen konnte.

Die Küste des neuen Continentes bot in der That nirgends einen Hafen. Von ihrem Grunde an, den die von der offenen See hereintreibenden Wogen peitschten, erhob sie sich steil bis auf zwei- bis dreihundert Fuß Höhe. Dieser untere, wie eine Courtinenmauer glatte Theil bot auf keiner Stelle einen Vorsprung, auf dem der Fuß hätte haften können. Am oberen Kamme erschien sie wie bedeckt mit einem Walde von Spitzen, Obelisken und kleinen Pyramiden. Man hätte eine enorme Concretion vor sich zu haben geglaubt, deren Krystallisationen eine Höhe von tausend Fuß erreichten.

Das Alles aber war noch nicht das Sonderbarste an diesen gigantischen Felsenmassen. Am meisten erstaunten die Fahrgäste der Dobryna darüber, daß dieselben überhaupt »ganz neu« waren. Die atmosphärischen Einflüsse schienen noch nirgends weder die Reinheit der scharfen Kämme, noch die glatten Linien oder die Farben der Substanz alterirt zu haben. Das Ganze hob sich gegen den Himmel mit einer überraschenden Sauberkeit der Zeichnung ab. Alle Felsblöcke, welche die Gebirgsmasse bildeten, glänzten so frisch, als seien sie eben aus den Händen des Gießers hervorgegangen. Ihr metallischer, goldig-irisirender Schein erinnerte etwa an den der Pyriten. Es entstand nun die Frage ob ein einziges, vielleicht dem von den Sonden herausgebrachten Staube ähnliches Metall diesen Gebirgswall zusammensetzte, den plutonische Kräfte aus dem Wasser emporgedrängt hatten.

[100] Zur Unterstützung der ersteren bot sich auch noch eine zweite Beobachtung. Gewöhnlich zeigen die Felsen, wo es auch immer sei, selbst bei entschiedenster Dürre, doch einzelne schmale Furchen, in denen das durch Condensation der Dünste entstehende Wasser je nach der Formation der Gesteine herabrinnt. Außerdem giebt es keine einzige noch so isolirte Klippe, welche nicht wenigstens einige Moose und vereinzelte magere Gebüsche trüge. Hier aber zeigte sich nicht der geringste krystallene Faden, nicht das dürftigste Grün. Kein Vogel belebte diese traurige Einöde. Nichts lebte hier, nichts bewegte sich, weder ein Wesen aus dem Pflanzen- noch aus dem Thierreiche.

Die Besatzung der Dobryna brauchte sich also gar nicht zu wundern, daß die Albatrosse, Seemöven und Felsentauben eine Zuflucht auf der Goëlette suchten. Das Geflügel war nicht einmal durch einen Flintenschuß zu vertreiben und blieb Tag und Nacht auf den Raaen sitzen. Wurden einige Krümchen Nahrung auf das Verdeck verstreut, so stürzten die Vögel heißhungrig darüber her und verschlangen Alles mit großer Gier. Wenn man sie so verhungert sah, mußte man wohl zu der Ansicht kommen, daß hier kein Punkt der Nachbarschaft ihnen irgend welche Nahrungsmittel liefern könne, jedenfalls nicht die vorliegende Küste, da sie der Pflanzen und des Wassers ganz entbehrte.

Solcher Art war das sonderbare Ufer, dem die Dobryna mehrere Tage lang folgte. Manchmal änderte sich sein Profil und erschien auf die Länge einiger Kilometer als ein einziger scharfer Kamm, so glatt, als sei er sein abgehobelt. Dann traten wiederum jene großen prismatischen Lamellen auf, die in unlösbarem Gewirr aufstrebten. Nirgends breitete sich aber am Fuße dieses steilen Ufers ein sandiger Strand oder ein kieselbedeckter Landstreifen aus, noch sah man eine Kette von Rissen, welche sonst so häufig in dem tiefsten Wasser verstreut sind. Kaum öffnete sich hier und da eine enge Spalte. Kein Wasserlauf war zu entdecken, an dem ein Schiff sich hätte mit neuem Vorrath versehen können – überall nur offene Rheden, die nach drei Seiten hin jedem Winde frei lagen.

Nach einer Fahrt von etwa vierhundert Kilometer längs dieser Küste ward die Dobryna plötzlich durch eine scharfe Biegung derselben aufgehalten. Lieutenant Prokop, der Stunde für Stunde die Lage des neuen Continentes ruf der Karte nachgetragen hatte, erklärte, daß sie jetzt in der Richtung von Norden nach Süden verlaufe. Hier erschien das Mittelmeer, etwa entsprechend [101] dem 22. Meridian, also abgeschlossen. Erstreckte sich diese Sperrung nun bis nach Italien oder Sicilien? Das mußte ja bald entschieden sein, und wenn es der Fall war, so erschien das große Bassin, dessen Wellen Europa, Asien und Afrika bespülten, um fast die Hälfte seiner Ausdehnung verkleinert.

Die Goëlette drehte, in der Absicht, jeden Punkt dieser neuen Küste zu untersuchen, nach Norden bei und dampfte in der Richtung auf Europa zu. Nach einigen weiteren hundert Kilometern mußte sie in die Gegend von Malta kommen, wenn diese alte Insel, welche nacheinander die Phönicier, die Karthager, die Sicilier, Römer, Vandalen, Griechen, Araber und die Malteserritter besaßen, von der Katastrophe verschont geblieben war. Man fand aber nichts, und als die Sonde am 14. Februar an der von Malta eingenommenen Stelle herabgesenkt wurde, brachte sie wiederum nur jenen metallischen Staub herauf, der jetzt den Boden des Mittelmeeres bildete und dessen Natur noch immer unbekannt blieb.

»Die Zerstörungen reichen also bis weit über das Festland Afrikas hinaus, bemerkte Graf Timascheff.

– Ja, antwortete Lieutenant Prokop, und wir können die Grenze derselben jetzt unmöglich bestimmen!

– Was ist nun aber Ihre Absicht, Vater? Nach welchem Theile Europas soll die Dobryna gehen?

– Nach Sicilien nach Italien, nach Frankreich, ganz gleich, dahin, wo wir endlich hören können ...

– Wenn die Dobryna nicht die einzigen Ueberlebenden der Erdkugel trägt!« fiel ihm mit ernstem Tone Graf Timascheff in's Wort.

Kapitän Servadac schwieg still, denn seine traurigen Ahnungen waren mit denen des Grafen Timascheff ganz identisch. Das Schiff ward gewendet und passirte bald die Stelle, wo sich der Breitengrad und der Meridian der verschwundenen Insel kreuzten.

Die Küste erstreckte sich immer gleichmäßig von Süden nach Norden und unterbrach jede Verbindung mit dem Golf von Sydra, der früheren großen Syrte, die sich ehedem bis nach Egypten ausdehnte. Ebenso wenig konnte man weiter im Norden, jetzt voraussichtlich mehr nach Griechenland und den Häfen des türkischen Reiches gelangen. Damit mußten dann auch der griechische Archipel, die Dardanellen, das Marmara-Meer, der Bosporus, [102] das Schwarze Meer und die diesen benachbarten Landstrecken Rußlands verschlossen sein.

Der Goëlette stand für später also nur ein einziger Weg offen, d.h. der nach Westen, um auf diese Weise die nördlichen Küstenländer des Mittelmeeres zu erreichen.

Im Laufe des 16. Februar versuchten die Reisenden jene Richtung einzuschlagen. Aber als ob die Elemente sich gegen sie verschworen hätten, vereinigten sich Wind und Wellen, um sie von diesem Wege zurückzuhalten. Bald entfesselte sich ein furchtbarer Sturm, der es einem Fahrzeuge von nur zweihundert Tonnen überhaupt schwer machte, die See zu halten. Die Gefahr wuchs aber noch mehr, da es der Wind gegen die Küste trieb.

Lieutenant Prokop war höchst unruhig. Er hatte alle Segel einnehmen und die Marsstengen niederholen lassen, vermochte aber durch die Kraft der Maschine allein nicht gegen das schwere Wetter aufzukommen.

Die enormen Wellen warfen die Goëlette wohl hundert Fuß hoch empor und schleuderten sie ebenso tief in die Abgründe, welche sich zwischen den Wogen öffneten. Ost arbeitete die Schraube nur noch in der Luft und verlor also ihre Wirkung gänzlich. Obwohl die Dampfspannung bis auf das irgend zulässige Maximum gesteigert wurde, so verlor die Goëlette doch an Weg gegen den wüthenden Orkan.

In welchem Hafen konnte sie nun Schutz suchen? Die unzugängliche Küste bot ja keinen einzigen. Lieutenant Prokop konnte also in die unangenehme Verlegenheit gerathen, auf gut Glück gegen das Land anzufahren. Er überlegte diesen Ausweg. Was sollte indeß aus den Schiffbrüchigen werden, wenn es ihnen auch gelang, an diesem steilen Ufer Fuß zu fassen? Welche Hilfsquellen hatten sie in jenem offenbar ganz wüsten Lande zu erwarten? Wie konnten sie nach Erschöpfung ihrer Provision dieselbe erneuern? Durste man darauf hoffen, jenseit dieser unwirthlichen Mauer einen noch verschonten Theil des früheren Festlandes aufzufinden?

Die Dobryna kämpfte noch immer gegen den Sturm und ihre muthige und ergebene Mannschaft arbeitete mit wunderbar kaltem Blute. Kein einziger der Matrosen, welche unwandelbar den Kenntnissen und dem Geschick ihres Kapitäns vertrauten, verlor den Muth auch nur einen Augenblick. Die Maschine arbeitete dabei, daß man immer fürchten mußte, sie in Stücke gehen zu sehen. Dabei fühlte die Goëlette ihre Schraube gar nicht mehr, und da [103] sie ganz ohne Segel war, denn der Sturm zerriß auch den kleinsten Fetzen Leinwand, so ward sie unaufhaltsam gegen die Küste gedrängt.


Die Vögel stürzten heißhungrig darüber her. (S. 101.)

Die Mannschaft befand sich vollzählig auf dem Deck; jeder Mann sah klar, in welch' verzweifelte Lage der Sturm sie versetzt hatte. Das Land erhob sich nur etwa noch vier Meilen unter dem Winde und die Dobryna wich dahin mit einer Schnelligkeit ab, welche alle Hoffnung raubte.


Die Dobryna schoß, getrieben vom Winde, in den Hafen hinein, (S. 107.)

»Vater, sagte Lieutenant Prokop zu Graf Tima [104] scheff, die Kraft des Menschen hat ihre Grenzen; ich vermag der Abweichung, welche uns hinwegführt, nicht mehr zu widerstehen!

– Hast Du gethan, was Dir als Seemann zu thun möglich war? fragte Graf Timascheff, dessen Gesicht keinerlei Erregung zeigte.

– Alles, antwortete Lieutenant Prokop, doch vor Ablauf einer Stunde wird unsere Goëlette auf den Strand geworfen sein.

[105] – Vor Ablauf einer Stunde, sagte Graf Timascheff, und so laut, daß ihn Alle verstehen mußten, kann Gott uns auch gerettet haben!

– Nur wenn sich das Land dort öffnet, um der Dobryna die Durchfahrt zu ermöglichen!

– Wir sind in der Hand Dessen, der Alles vermag!« schloß Graf Timascheff, das Haupt entblößend.

Hector Servadac, der Lieutenant und die Matrosen ahmten ihm stillschweigend nach.

Als Prokop sich immer mehr überzeugte, daß ein Abkommen vom Lande unmöglich sei, traf er seine Maßregeln, um wenigstens unter den mindest ungünstigen Verhältnissen an's Ufer zu treiben. Er dachte auch schon daran, daß die Schiffbrüchigen, wenn einige Personen sich aus dem wüthenden Meere retten sollten, während der ersten Tage ihres Aufenthaltes auf dem neuen Festlande nicht ganz ohne Hilfsmittel wären, und ließ deshalb Kisten mit Lebensmitteln und Tonnen mit süßem Wasser auf das Verdeck schaffen, welche mit leeren Fässern zusammengebunden wurden, um auch nach der Zerstörung des Schiffes schwimmen zu können. Mit einem Worte, er ordnete Alles an, wie es dem Seemanne unter solchen Umständen geziemt.

In der That, er hatte keine Hoffnung, die Goëlette zu retten, denn die endlose Ufermauer zeigte nirgends eine Bucht, einen geschützten Einschnitt, in welche ein gefährdetes Schiff sich hätte flüchten können. Nur ein plötzlicher Umschlag des Windes, der die Dobryna vielleicht wieder nach der offenen See triebe, konnte ihr zum Heile dienen, wenn Gott nicht, wie Lieutenant Prokop gesagt hatte, durch ein Wunder diese Küste öffnete, um sie hindurch zu lassen.

Doch der Wind sprang nicht um, er sollte nicht umspringen.

Bald schwankte die Goëlette nur noch eine Meile von der Küste. Man sah das furchtbare Ufer von Minute zu Minute anwachsen, ja, es schien, als stürzte es sich selbst auf die Goëlette, um sie zu zertrümmern. Jetzt trieb das Schiff nur noch drei Kabellängen vor jener. Jedermann an Bord glaubte die letzte Stunde gekommen.

»Gott befohlen, Herr Graf Timascheff, sagte Kapitän Servadac und reichte seinem Gefährten die Hand.

– Ja, Gott befohlen!« erwiderte der Graf gen Himmel zeigend.

[106] Jetzt hob eine furchtbare Woge die Dobryna in die Höh' und drohte sie an den Felsen zu zerschellen.

Plötzlich erscholl eine laute Stimme.

»Hurtig, hurtig, Jungens! Hiß das große Focksegel! Hiß das Sturmsegel! Schnell!«

Prokop war es, der, auf dem Bordercastell der Dobryna stehend, diese Befehle ertheilte. So unerwartet sie kamen, so schnell wurden sie doch vollzogen, während der Lieutenant selbst nach dem Hintertheile lief und das Steuer ergriff.

Was beabsichtigte denn der Lieutenant? Offenbar wendete er das Schiff gerade auf die steile Küste zu.

»Achtung! rief er noch einmal, luv' an, hiß das Fockmarssegel!«

In diesem Augenblick erscholl ein Schrei ... aber kein Ausruf des Entsetzens war es, der sich den beklommenen Herzen der Armen entrang.

Zwischen zwei steilen Mauern zeigte sich ein etwa vierzig Fuß breiter Einschnitt der Felsenkette. Hier bot sich ein Hafen, wenn nicht eine Durchfahrt. Die Dobryna gehorchte der kräftigen Hand des Lieutenants Prokop und schoß, getrieben von Wind und Wellen, in den rettenden Hafen hinein! ... Vielleicht sollte sie nie wieder daraus entkommen!

13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
In dem die Rede ist vom Brigadier Murphy, Major Oliphant, Corporal Pim und einem Geschoß, das sich jenseit des Horizontes versiert.

»Wenn Sie erlauben, werde ich Ihren Läufer nehmen, sagte der Brigadier Murphy, der sich nach zweitägigem Zögern zu diesem allseitig überlegten Zuge entschloß.

– Gewiß erlaube ich, was ich doch nicht hindern kann!« erwiderte der Major Oliphant, ganz versunken in die Betrachtung des Schachbrettes.

Diese Worte fielen am Morgen des 17. Februars – alten Stils, d.h. des Kalenders, der vor sechs bis sieben Wochen die richtigen Zeitangaben [107] enthielt; doch verging der ganze Tag, ehe Major Oliphant auf jenen Zug Brigadier Murphy's durch einen Gegenzug antwortete.

Wir bemerken hierzu, daß erwähnte Schachpartie seit nun vier Monaten im Gang war und die beiden Gegner doch noch nicht mehr als zwanzig Züge gethan hatten. Beide gehörten übrigens zur Schule des berühmten Philidor, der die Bauern »die Seele des Spieles« nennt, und Niemanden für »stark« ansieht, der mit diesen nicht geschickt zu operiren weiß. So war auch bei vorliegender Partie noch kein Bauer leichtsinnig geopfert worden.

Ganz dem entsprechend, überließen der Brigadier Henage Finch Murphy und der Major John Temple Oliphant niemals etwas dem Zufalle, sondern handelten unter allen Umständen nur nach reiflichster Ueberlegung.

Brigadier Murphy und Major Oliphant waren zwei ehrenwerthe Officiere der englischen Armee, vom Geschick zusammen gewürfelt auf einer entlegenen Station, wo sie sich die drückende Langeweile durch Schachspielen zu verkürzen pflegten. Beide etwa vierzig Jahre alt, groß von Gestalt, Beide rothblond, das Gesicht verziert mit den schönsten Backenbärten der Welt, an deren unteren Ecken wieder ein langer Schnurrbart auslief, stets in Uniform, immer phlegmatisch, stolz auf ihre Nationalität als Engländer, und Alles von Natur mißachtend, was nicht englischen Ursprungs war, huldigten sie der Anschauung, daß der Angelsachse aus einem ganz besonderen Teige geknetet sei, der sich auch noch jetzt jeder chemischen Analyse entziehe. Diese Officiere waren vielleicht nur zwei geistlose Gliedermänner, aber doch solche, vor denen die Vögel Angst haben, und welche das ihnen anvertraute Feld untadelhaft vertheidigen. Die Engländer fühlen sich gewöhnlich überall zu Hause, selbst wenn das Schicksal sie Tausende von Meilen von der engeren Heimat verschlägt; bei ihren Kolonisationslatenten würden sie ohne Zweifel den Mond kolonisiren – sobald es ihnen möglich würde, daselbst die britische Flagge aufzupflanzen.

Die Umwälzung mit ihren auf einen Theil der Erdkugel so tief eingreifenden Veränderungen hatte stattgefunden, ohne weder bei Major Oliphant noch bei Brigadier Murphy ein besonderes Erstaunen zu erregen. Sie sahen sich nur plötzlich zugleich mit elf Mann auf einem Posten isolirt, den sie schon vor der Katastrophe inne hatten, während von dem ungeheuren Felsen [108] auf dem Tags vorher noch mehrere hundert Officiere und Soldaten kasernirten, nichts mehr übrig geblieben war als ihr beschränktes, vom Meere umspültes Eiland.

»Oho! begnügte sich damals der Major zu sagen, das ist ja eine sonderbare Geschichte.

– Wahrhaftig, eine sonderbare! hatte ihm einfach der Brigadier geantwortet.

– Aber noch lebt Alt-England!

– Jetzt und immerdar!

– Seine Schiffe werden uns auch wieder heimführen.

– Gewiß.

– So bleiben wir ruhig auf unserem Posten.

– Einverstanden.«

Uebrigens möchte es den beiden Officieren und den elf Mann etwas schwierig geworden sein, ihren Posten zu verlassen, selbst wenn sie es gewollt hätten, denn sie besaßen nur ein einfaches Boot. Heute noch Bewohner des Festlandes, morgen nebst ihren zehn Soldaten und dem Diener Kirke plötzlich Insulaner, erwarteten sie mit unerschütterlicher Geduld die Stunde, bis irgend ein Schiff ihnen Nachrichten vom Mutterlande bringen würde.

Die Verpflegung der wackeren Leute schien übrigens hinreichend gesichert. In unterirdischen Räumen des Eilandes fanden sich noch Vorräthe, dreizehn Magen – sogar dreizehn englische – mindestens sechs Monate lang zu sättigen. Wenn Pöckelfleisch, Ale und Brandy zur Hand sind, dann ist ja »all right«, wie sie sagen.

Wegen der eingetretenen physikalischen Veränderungen, des Wechsels der Himmelsgegenden zwischen Osten und Westen, der Verminderung der Schwere auf der Erdoberfläche, der Verkürzung der Tage und Nächte, der Abweichung der Umdrehungsachse, der neuen Bahn der Erde im Weltraume, hatten sich die beiden Officiere und ihre Mannschaften nach Constatirung jener Thatsachen nicht weiter beunruhigt. Der Brigadier und der Major stellten ihre durch den Stoß durcheinander geworfenen Schachfiguren wieder in Ordnung und nahmen phlegmatisch ihre endlose Partie wieder auf. Die jetzt weit leichteren Läufer, Springer oder Bauern standen nun wohl weniger sicher auf dem Schachbrette – vorzüglich die Könige und Königinnen, die ihrer [109] Größe wegen bei der geringsten Erschütterung umfielen; bei einiger Vorsicht gelangten Oliphant und Murphy indeß doch dazu, ihre kleine elfenbeinerne Armee hinreichend auf den Füßen zu erhalten.

Wie erwähnt, bekümmerten sich zwar auch die auf dem Eilande eingeschlossenen Soldaten nicht sonderlich um alle jene kosmischen Erscheinungen. Um wahr zu sein, muß hier jedoch hinzugefügt werden, daß unter jenen Veränderungen doch zwei zu Reclamationen ihrerseits Veranlassung gaben.

Drei Tage nach Eintritt der Katastrophe hatte Corporal Pim, als Wortführer und Dolmetscher für seine Leute, um eine Unterredung mit den beiden Officieren nachgesucht.

Diese Unterredung wurde zugestanden. Pim trat, gefolgt von neun Mann, in das Zimmer des Brigadier Murphy. Dort erwartete der Corporal, die Hand an der Mütze, welche, auf dem rechten Ohr sitzend, unter dem Kinn durch den Sturmriemen gehalten wurde, eng eingeschnürt in seine rothe Jacke und mit flatternd-weiten grünlichen Beinkleidern, die Genehmigung zu sprechen, von seinen Vorgesetzten.

Diese unterbrachen ihre Schachpartie.

»Was will der Corporal Pim? fragte Brigadier Murphy, indem er mit Würde den Kopf etwas erhob.

– Meinem Brigadier eine Bemerkung bezüglich des Soldes unterbreiten, antwortete der Gefragte, und meinem Major eine zweite bezüglich der Verpflegung.

– Der Corporal theile seine erste Bemerkung mit, erwiderte Murphy mit einer zustimmenden Geste.

– Diese bezieht sich also auf den Sold, Euer Gnaden, begann Corporal Pim. Wird jetzt, da die Tage nur noch halb so lang sind, auch der Sold um die Hälfte gekürzt werden?«

Auf diese unerwartete Frage dachte der Brigadier Murphy einen Augenblick lang nach, wobei einige zustimmende Bewegungen des Kopfes verriethen, daß er jene Bemerkung nach Zeit und Umständen ganz gerechtfertigt finde.

»Corporal Pim, sagte er dann, da der Sold bisher für den Zeitraum zwischen Aufgang und Untergang der Sonne berechnet worden ist, wie lang jener auch sei, so wird der Sold auch jetzt derselbe bleiben wie vorher. England ist reich genug, um seinen Ruhm und seine Soldaten zu bezahlen.«

[110] Eine liebenswürdige Art und Weise, anzudeuten, daß die Armee und der Ruhm Englands in Eins zusammenfallen.

»Hurrah!« riefen die zehn Mann, aber kaum mit mehr erhobener Stimme, als ob sie einfach »Ich danke!« gesagt hätten.

Corporal Pim wandte sich nun an Major Oliphant.

»Der Corporal theile seine zweite Bemerkung mit, sagte der Major mit einem Blick auf seinen Untergebenen.

– Diese bezieht sich auf die Verpflegung, Euer Gnaden, antwortete Corporal Pim. Werden wir jetzt, da die Tage nur sechs Stunden dauern, nur noch Anspruch auf zwei Mahlzeiten haben, statt wie früher auf vier?«

Der Major überlegte einen Augenblick und machte gegen Brigadier Murphy ein Zeichen, mit dem er offenbar andeuten wollte, daß Corporal Pim doch wirklich ein begabter, logischer Kopf sei.

»Corporal, erwiderte er, diese physischen Erscheinungen berühren die militärischen Reglements nach keiner Seite. Sie und Ihre Leute werden auch vier Mahlzeiten des Tages erhalten, in Zwischenräumen von je anderthalb Stunden. England ist reich genug, um sich den Gesetzen des Universums anzupassen, wenn das Reglement so etwas erheischt! fügte der Major mit einer leichten Verneigung gegen Brigadier Murphy hinzu, erfreut, die von seinem Vorgesetzten gebrauchte Phrase auf einen zweiten Fall haben anwenden zu können.

– Hurrah!« riefen die zehn Soldaten, indem sie diesen zweiten Ausdruck ihrer Zufriedenheit etwas mehr betonten.

Dann machten sie auf den Absätzen Kehrt und verließen, Corporal Pim an der Spitze, in militärischem Schritt das Zimmer der beiden Officiere, welche sofort ihre unterbrochene Partie wieder aufnahmen.


»Was will der Corporal Pim?« fragte Brigadier Murphy. (S. 110.)

Diese Engländer hatten ganz Recht, auf England zu zählen, denn England verläßt seine Kinder nie. Aber sicherlich war es zu dieser Zeit sehr beschäftigt, 1 und die übrigens so geduldig erwartete Hilfe erschien diesmal nicht. Vielleicht wußte man im Norden Europas gar nicht, was im Süden desselben geschehen war.


Einer von der Mannschaft brachte auf einem Karren ein Vollgeschoß. (S. 117.)

Jetzt waren neunundvierzig der alten Tage von [111] vierundzwanzig Stunden seit jener merkwürdigen Nacht vom 31. December zum 1. Januar verflossen und noch immer erschien kein englisches Schiff am Horizonte. Der von dem Eiland aus zu übersehende, sonst sehr stark befahrene Theil des Meeres blieb öde und leer. Officiere und Soldaten empfanden darüber indeß nicht die geringste Unruhe, nicht die leiseste Verwunderung, und folglich auch nicht die [112] Spur einer Anwandlung von Entmuthigung. Alle verrichteten ihren Dienst wie gewöhnlich und bezogen regelmäßig ihre Wache. Ebenso pünktlich nahmen der Brigadier und der Major der Garnison die Parade ab. Alle befanden sich sichtlich wohl bei einer Lebensweise, welche sie mästete, und wenn die beiden Officiere sich hüteten, im Essen und Trinken zu viel zu thun, so lag das darin, daß ihr Grad ihnen jedes zu starke Embonpoint verbot, welches sich nicht mit der Uniform vertragen hätte.

[113] Im Allgemeinen verbrachten die Engländer auf dem Eilande ihre Zeit recht angenehm. Die beiden, nach Charakter und Geschmacksrichtung einander sehr ähnlichen Officiere lebten in schönster Uebereinstimmung. Ein Engländer langweilt sich übrigens niemals, außer im eigenen Lande.

Was ihre verschwundenen Kameraden betraf, so bedauerten sie diese gewiß, aber doch mit einer ganz britischen Zurückhaltung. Wie sie vor der Katastrophe zusammen achtzehnhundertfünfundneunzig Mann und nach derselben nur noch dreizehn zählten, so lehrte ihnen eine einfache Subtraction, daß achtzehnhundertzweiundachtzig beim Appell fehlten, was in dem Rapport pflichtmäßig verzeichnet wurde.

Wir sagten, daß jenes von dreizehn Engländern bewohnte Eiland – der Ueberrest einer enormen Felsmasse, welche sich früher 2400 Meter über das Meer erhob – der einzige feste Punkt war, der in dieser Gegend das Wasser überragte. Das ist nicht vollständig richtig. In Wahrheit tauchte, gegen zwanzig Kilometer weiter südlich, noch ein zweiter ganz ähnlicher Felsen empor, der höchste Punkt eines Bergstockes, der früher den Pendant zu dem der Engländer bildete. Dieselbe Katastrophe hatte beide Stellen zu zwei kaum noch bewohnbaren Felsenresten reducirt.

War dieses zweite Eiland menschenleer oder diente es irgend einem Ueberlebenden als Zufluchtstätte? Diese Fragen legten sich die beiden englischen Officiere vor und besprachen sie gründlich zwischen zwei Zügen ihrer Partie. Sie hielten dieselbe sogar für wichtig genug, um vollständig geklärt zu werden, benutzten also eines Tages die günstige Witterung und bestiegen ihr Boot um den die beiden Eilande trennenden Meeresarm zu überschiffen; eine Excursion, von der sie erst nach sechsunddreißig Stunden zurückkehrten.

Trieb sie ein Gefühl von Nächstenliebe dazu, jenen Felsen zu besuchen? Hatten sie irgend ein anderes Interesse dabei? Sie sprachen sich über ihren Ausflug gegen Niemanden, nicht einmal gegen Corporal Pim aus. War das Eiland bewohnt? Der Corporal konnte davon nichts erfahren. Wie die beiden Officiere ganz allein abgefahren waren, so kamen sie auch allein zurück. Major Oliphant machte nur ein großes Couvert zurecht, dessen Adresse Brigadier Murphy schrieb, und es dann mit dem Siegel des 33. Regimentes verschloß, um es dem ersten Schiffe übergeben zu können, das in Sicht der Insel erscheinen würde. Dieses Couvert trug die Aufschrift:


[114] An Admiral Fairfax,

Erster Lord der Admiralität.


Vereinigtes Königreich Großbritannien.


Noch hatte sich aber kein Schiff gezeigt und der 18. Februar kam heran ohne Wiederanknüpfung der Verbindungen zwischen dem Eiland und den Behörden in der Hauptstadt.

Als Brigadier Murphy an diesem Tage erwachte, sprach er wie folgt zu Major Oliphant.

»Heute, begann er, ist ein Fest- und Freudentag für jedes echt englische Herz.

– Ein großer Festtag, erwiderte der Major.

– Ich bin nicht der Ansicht, fuhr der Brigadier fort, daß die eigenthümlichen Verhältnisse, in denen wir uns augenblicklich befinden, zwei Officiere und elf Mann von der Armee des Vereinigten Königreiches abhalten dürfen, einen königlichen Jahrestag gebührend zu feiern.

– Das denke ich auch nicht, antwortete Major Oliphant.

– Hat sich Ihre Majestät mit uns bis letzt noch nicht wieder in Verbindung gesetzt, so wird sie es eben noch nicht für angemessen gehalten haben.

– Gans gewiß.

– Ein Glas Portwein, Major Oliphant?

– Mit Vergnügen, Brigadier Murphy.«

Der, wie es scheint, ganz speciell für den englischen Consum reservirte Wein verschwand in den britischen Mundöffnungen, welche Spottvögel mit dem Namen der »Kartoffelfalle« bezeichnen, die man aber ebenso gut die »Flußschwinde des Portweins«, analog der »Flußschwinde der Rhône«, nennen könnte.

»Und nun, sagte der Brigadier, besorgen wir vorschriftsmäßig die übliche Ehrensalve.

– Ganz nach dem Reglement!« stimmte Major Oliphant bei.

Der Corporal Pim ward herbeigerufen und erschien, die Lippen noch feucht von dem nationalen Brandy.

[115] »Corporal Pim, begann der Brigadier, heute ist der 18. Februar, wenn wir, wie es die Pflicht jedes guten Engländers ist, nach dem früheren britischen Kalender rechnen.

– Gewiß, Euer Gnaden, antwortete der Corporal.

– Es ist der Geburtstag der Königin.«

Der Corporal salutirte militärisch.

»Corporal Pim, fuhr der Brigadier fort, sorgen Sie für die Ehrensalve von einundzwanzig Kanonenschüssen.

– Zu Befehl, Euer Gnaden.

– Ah, Corporal, fügte jener noch hinzu, achten Sie möglichst darauf, daß die Bedienungsmannschaft nicht zu hitzig und unvorsichtig handelt.

– So weit es in meinen Kräften steht!« erwiderte Corporal Pim, der sich nach dieser Seite nicht gar so weit verpflichten wollte.

Von den früheren, sehr zahlreichen Geschützen des Forts war nur ein großer Vorderlader, eine 27-Centimeter-Kanone, übrig geblieben, ein gewaltiges Geschütz, das man jetzt zum Salutschießen benutzen mußte, da sich ein kleineres, wie es sonst bei solchen Gelegenheiten gebraucht ward, nicht vorfand.

Corporal Pim commandirte die nöthigen Leute und begab sich nach dem gedeckten Reduit, das eine schräg durchgebrochene Schießscharte für jenes Monstregeschütz enthielt. Man brachte die nöthigen Cartouchen für die gebräuchlichen einundzwanzig Schuß herbei. Natürlich sollte nur blind geschossen werden.

Brigadier Murphy und Major Oliphant stellten sich in großer Uniform mit dem Federhute auf dem Kopfe ein, um der Feierlichkeit beizuwohnen.

Das Geschütz ward nach allen Regeln des »Manual des Artilleristen« geladen und das Freudenschießen nahm seinen Anfang.

Nach jedem Schuß wachte Corporal Pim, eingedenk der ihm gewordenen Ermahnung darüber, daß das Zündloch sorgfältig geschlossen wurde, um zu verhindern, daß ein sich zur Unzeit lösender Schuß die Arme der ladenden Bedienung nicht in Stücke reiße – ein Unfall, der bei öffentlichen Belustigungen nicht gar so selten vorkommt. Diesmal ging aber Alles glücklich vorüber.

Die dünnere Luft setzte übrigens den aus dem Kanonenrohre hervordringenden Pulvergasen einen weit geringeren Widerstand entgegen, so daß [116] auch die Detonationen minder laut ausfielen, als das vor sechs Wochen der Fall gewesen wäre; eine Beobachtung, welche den beiden Officieren gar nicht gefallen wollte. Jetzt hörte man nichts von jenem mächtigen Echo, das sonst, von den Höhlen und Ausbuchtungen der Felsen zurückgeworfen, den trockenen, scharfen Knall des Geschützes zum furchtbaren Donner verwandelte nichts von jenem majestätischen Rollen, wie es sich sonst durch die Elasticität der Luft bis in endlose Fernen verbreitete. Man begreift also, daß die Eigenliebe der Engländer in Folge des scheinbaren Mißlingens der Feier eines Jahrestages recht empfindlich verletzt wurde.

Zwanzig Schuß waren abgefeuert.

Als zum letzten Male geladen werden sollte, bedeutete Brigadier Murphy den Soldaten mit der Cartouche einzuhalten.

»Laden Sie eine Kugel, sagte er, ich bin doch begierig, die jetzige Tragweite des Geschützes kennen zu lernen.

– Das wäre zu versuchen, stimmte Major Oliphant bei. Haben Sie verstanden, Corporal?

– Zu Befehl, Euer Gnaden!« bestätigte Corporal Pim.

Einer von der Mannschaft brachte auf einem Karren ein Vollgeschoß im Gewichte von zweihundert Pfund herbei, welches ehedem auf die Entfernung von fünf Viertelmeilen geschleudert wurde. Folgte man der Flugbahn der Kugel mit einem Fernrohre, so mußte man dieselbe recht gut in das Meer einschlagen sehen, um daraus die Tragweite des gewaltigen Geschützes abnehmen zu können.

Die Kanone ward geladen und ihr zur Vergrößerung der Schußweite eine Elevation von 42° gegen den Horizont gegeben. Der Major commandirte »Feuer!«

»Beim heiligen Georg! rief der Brigadier aus.

– Beim heiligen Georg!« wiederholte der Major.

Die beiden Officiere standen mit offenem Munde da und vermochten kaum ihren Augen zu trauen.

In der That war es unmöglich, dem Geschosse zu folgen, auf welches die Anziehungskraft jetzt weit weniger wirkte als sonst auf der Oberfläche der Erde. Man konnte mit den Fernrohren nicht einmal dessen Einschlagen in das Meer beobachten.

»Weiter als zwei Meilen! meinte der Brigadier.

[117] – Gewiß, – viel weiter!« bestätigte der Major.

Aber, – war das eine Täuschung? – auf den Knall des englischen Geschützes schien eine schwache Detonation von der offenen See aus zu antworten.

Die beiden Officiere und alle Soldaten lauschten mit gespanntester Aufmerksamkeit.

Von derselben Gegend her hörte man nach einander noch drei weitere Detonationnen.

»Ein Schiff! rief der Brigadier erfreut, und wenn es ein solches ist, so kann es nur ein englisches Fahrzeug sein!«

Etwa eine halbe Stunde später tauchten die Masten eines Schiffes über dem Horizonte auf.

»Alt-England kommt zu uns! sagte der Brigadier mit dem Tone eines Mannes, der schon gewöhnt ist, seine Vorhersagungen in Erfüllung gehen zu sehen.

– Es hat den Donner unserer Kanone erkannt, fügte Major Oliphant hinzu.

– Wenn unsere Kugel nur nicht etwa das Schiff getroffen hat!« murmelte Corporal Pim halb für sich ...

Nach einer weiteren halben Stunde zeigte sich auch der Rumpf jenes Schiffes über dem Horizonte. Eine lange, zum Himmel aufsteigende Rauchsäule verrieth, daß es ein Dampfer war. Bald konnte man es als eine Dampf-Goëlette erkennen, deren Richtung ihre Absicht, das Eiland anzulaufen, unzweifelhaft erkennen ließ. Zwar flatterte eine Flagge an ihrem Top, doch war es vorläufig unmöglich, aus derselben die Nationalität zu erkennen.

Keinen Augenblick verloren Murphy und Oliphant die Goëlette aus den Augen um sofort deren Flagge zu begrüßen.

Plötzlich aber, wie durch eine automatische, völlig gleichzeitige Bewegung, senkten sich beide Arme, und voller Erstaunen sahen sich die beiden Officiere an.

»Die Flagge Rußlands!« sagten sie.

Wirklich flatterte ein weißes Flaggentuch mit dem blauen russischen Andreas-Kreuz darin an der Mastspitze der Goëlette.

[118]
Fußnoten

1 Erstaunt über die erfolgreiche Schöpfung des Sahara-Meeres durch den Kapitän Roudaire, und um gegen Frankreich nicht zurückzustehen, schuf England ein australisches Meer im Centrum des fünften Erdtheiles.

14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Welches eine gewisse Spannung der internationalen Verhältnisse erkennen läßt und auf ein geographisches Mißgeschick hinausläuft.

Der Dampfer näherte sich dem Eiland sehr schnell und die Engländer konnten am Heck desselben den Namen »Dobryna« erkennen.

Eine Felsenaushöhlung bildete im südlichen Theile des Eilandes eine kleine Bucht, welche kaum vier Fischerboote hätte aufnehmen können; die Goëlette fand daselbst jedoch einen hinreichenden Ankerplatz, der sogar recht sicher erschien, so lange der Süd- oder Ostwind nicht allzusehr auffrischte. Sie fuhr also hier hinein. Der Anker sank auf den Grund, und ein vierruderiges Boot, in dem Graf Timascheff und Hector Servadac saßen, stieß bald an das Ufer des Eilandes.

Stumm und steif erwartete sie der Brigadier Murphy und der Major Oliphant.

Vorschnell, wie ein Franzose von Natur, redete Hector Servadac die Beiden an.

»Ah, meine Herren, rief er, Gott sei Dank! Sie sind gleich uns dem Schicksal entgangen, und wir sind glücklich, zwei Unseresgleichen die Hand drücken zu können!«

Die englischen Officiere, welche sich nicht von der Stelle rührten, machten auch keinerlei Bemerkung.


»Herr Graf Wassili Timascheff!« sagte Servadac. (S. 120.)

»Aber ich bitte, fuhr Hector Servadac, der diese vornehme Zurückhaltung gar nicht zu bemerken schien, redselig fort, haben Sie Nachrichten von Frankreich, von Rußland, von England, von Europa? Bis wohin hat sich jene Umwälzung erstreckt? Stehen Sie in Verbindung mit Ihrer Heimat? Haben Sie ...

– Mit wem haben wir die Ehre zu sprechen? fragte da Brigadier Murphy, der sich in seiner ganzen Länge aufrichtete.


»Sagte der Herr Kapitän wirklich Korfu?« erwiderte Major Oliphant. (S. 125.)

– Richtig, antwortete Kapitän Servadac mit nicht mißzuverstehendem, mitleidigem Achselzucken, richtig, wir haben einander noch nicht vorgestellt.«

[119] Damit wandte er sich an seinen Begleiter, dessen russische Zugeknöpftheit dem kalten Empfange der britischen Officiere völlig die Wage hielt.

»Herr Graf Wassili Timascheff! sagte er.

– Major Sir John Temple Oliphant!« erwiderte der Brigadier, seinen Begleiter vorstellend.

Der Russe und der Engländer verneigten sich.

[120] »Herr Generalstabs-Kapitän Hector Servadac, sagte nun seinerseits Graf Timascheff.

– Brigadier Sir Henage Finch Murphy!« antwortete mit ernster Stimme Major Oliphant.

Neue Verbeugung der betreffenden Personen.

Den Gesetzen der Etiquette war nun Genüge geschehen; man konnte ungezwungen plaudern.

[121] Selbstverständlich bediente man sich der französischen Sprache, die auch den Engländern und Russen geläufig ist – ein Resultat, welches durch den Starrsinn und die durchschnittliche Ungebildetheit der Landsleute Kapitän Servadac's herbeigeführt worden ist, die sie verhindert, fremde Sprachen zu lernen.

Brigadier Murphy lud seine Gäste, denen Major Oliphant nachfolgte, durch eine Handbewegung ein und führte sie nach dem Zimmer, das er nebst seinem Collegen bewohnte. Dieses bestand in einer Art aus dem Felsen ausgehöhlten, aber keineswegs jedes Comforts entbehrenden Kasematte. Jeder nahm einen Sitz ein und die Unterhaltung konnte nun beginnen.

Hector Servadac, den so viele leere Förmlichkeiten verstimmt hatten, überließ das Wort meist dem Grafen Timascheff. Dieser begann, eingehend auf die Prätension der Engländer, vor geschehener gegenseitiger Vorstellung nichts gehört zu haben, noch einmal ab ovo.

»Meine Herren, sagte er, Sie wissen ohne Zweifel, daß sich in der Nacht vom 31. December zum 1. Januar eine Katastrophe ereignet hat, deren Ursache und Umfang wir noch nicht zu durchschauen vermochten. Sieht man das Restchen von Land, welches Sie bewohnen, also dieses Eiland, so liegt die Vermuthung nahe, daß auch Sie deren Wirkung sehr heftig empfunden haben werden.«

Die beiden englischen Officiere verneigten sich zustimmend.

»Mein Begleiter, der Kapitän Servadac, fuhr der Graf fort, hat selbst von diesem Ereigniß zu leiden gehabt. Er befand sich als Stabsofficier an der Küste Algeriens ...

– Das ist ja wohl eine französische Kolonie? fiel Major Oliphant halb die Augen schließend ein.

– Es giebt nichts, was durch und durch französischer wäre, antwortete Kapitän Servadac schnell, aber trocken.

– Es war nahe der Mündung des Cheliff, fuhr Graf Timascheff phlegmatisch fort. Dort verwandelte sich in jener Schreckensnacht ein Theil des afrikanischen Festlandes urplötzlich in eine Insel, während alles Uebrige vollkommen von der Erde verschwunden zu sein scheint.

– Ah, sagte Brigadier Murphy, dem die Nachricht nur diesen einzigen Ausruf entlockte.

[122] – Aber Sie, Herr Graf, mischte sich jetzt Major Oliphant ein, darf ich fragen, wo Sie sich während jener Nacht befanden?

– Auf dem Meere, mein Herr, am Bord meiner Goëlette, und ich betrachte es noch heute als ein Wunder, daß wir damals nicht mit Mann und Maus zu Grunde gingen.

– Wir gratuliren Ihnen noch heute, Herr Graf!« sagte verbindlich Brigadier Murphy.

Graf Timascheff nahm seinen Bericht wieder auf.

»Der Zufall führte mich nach der Küste Algeriens zurück, und ich war hocherfreut, auf der neuen Insel Kapitän Servadac wieder zu finden, und bei ihm seine Ordonnanz Ben-Zouf.

– Ben? ... fragte Major Oliphant noch einmal.

– Zouf! rief Hector Servadac tief aufathmend, als habe er sich durch ein ›Ouf!‹ erleichtern wollen.

– Da Kapitän Servadac, fuhr Graf Timascheff unbeirrt fort, dringend daran gelegen war, einige Nachrichten zu erhalten, so schiffte er sich an Bord der Dobryna ein, und wir wandten uns nach Osten, um zu sehen, was von der afrikanischen Kolonie noch übrig sei ... Wir fanden leider nichts!«

Brigadier Murphy bewegte ein wenig die Lippen, so, als hätte er sagen wollen, daß diese Kolonie, schon allein, weil sie französisch war, nicht von solidem Bestande sein könne. Hector Servadac erhob sich auch schon halb zur Erwiderung, aber er bezwang seinen Unmuth noch.

»Meine Herren, sagte Graf Timascheff, die Zerstörung ist eine ungeheure. Im ganzen östlichen Theile des Mittelmeeres trafen wir auf kein Ueberbleibsel von den früheren Ländern, weder von Algerien, noch von Tunis, einen Punkt ausgenommen, einen Felsen, der nahe bei Karthago das Wasser überragte, mit dem Grabe eines Königs von Frankreich ...

– Ich glaube Ludwig's IX.? sagte der Brigadier.

– Bekannter unter dem Namen des heiligen Ludwig, mein Herr!« warf Kapitän Servadac ein, den Brigadier Murphy mitleidig besänftigend anlächelte.

Dann erzählte Graf Timascheff weiter, daß die Goëlette nach Süden bis zur Höhe des Golfes von Gabes vorgedrungen sei; daß das Meer der Sahara nicht mehr existire – was die beiden Engländer schon deshalb, weil jenes eine Schöpfung Frankreichs gewesen, ganz natürlich zu finden schienen; [123] – daß vor dem Küstengebiete von Tripolis eine neue, fremdartig gebildete Uferwand emporgestiegen sei und diese etwa längs des einundzwanzigsten Meridians von Süden nach Norden ungefähr bis zur Höhe der Insel Malta verlaufe.

»Und diese englische Insel, beeilte sich Kapitän Servadac hinzuzufügen, also Malta, sammt Lavalette, seinen Forts, Soldaten, Officieren und dem Gouverneur ist Algerien in den Abgrund nachgefolgt.«

Einen Augenblick lang verdunkelte eine Wolke die Stirn der beiden Briten, aber bald und fast gleichzeitig verrieth ihr Gesicht nur noch den ausgesprochensten Zweifel an dem, was der französische Officier gesagt hatte.

»An einen derartigen absoluten Untergang ist doch nur schwer zu glauben, bemerkte Brigadier Murphy.

– Und warum? fragte Kapitän Servadac.

– Malta ist Eigenthum der britischen Krone, erwiderte Major Oliphant, und als solches ...

– Ist es ebenso spurlos verschwunden, als hätte es China angehört! unterbrach ihn der Stabsofficier.

– Vielleicht ist bei Ihren Aufnahmen während der Fahrt der Goëlette ein Fehler untergelaufen.

– Nein, meine Herren, versicherte Graf Timascheff, von einem Beobachtungsfehler kann hierbei nicht die Rede sein; hier gilt es, sich der nackten Wahrheit zu fügen. Die Zerstörung betrifft England gewiß in hervorragendem Maße, denn nicht nur die Insel Malta existirt nicht mehr, sondern es hat auch ein neuer Continent den östlichen Theil des Mittelmeeres überhaupt abgeschlossen. Ohne eine ganz schmale Durchfahrt, welche an einem einzigen Punkte dessen Küstenlinie unterbricht, hätten wir nimmermehr hierher zu Ihnen gelangen können. Es unterliegt also leider keinem Zweifel, daß, wenn Malta dem Untergange verfiel, auch nichts mehr vorhanden sein wird von den Ionischen Inseln, welche seit einigen Jahren wieder unter dem Protectorate Englands standen.

– Und mir scheint, fügte Kapitän Servadac hinzu, Ihr Chef, der Lord-Obercommissär, möchte nicht viel Ursache haben, sich wegen der Resultate jener Umwälzung zu beglückwünschen.

– Der Lord-Obercommissär ... unser Chef? ... antwortete Brigadier Murphy mit einer Miene, als verstehe er die Worte des Franzosen nicht.

[124] – Ja gewiß, fuhr Kapitän Servadac fort, nicht mehr Ursache, als Sie haben, sich zu dem Reste zu gratuliren, der Ihnen von Korfu geblieben ist.

– Korfu? ... erwiderte Major Oliphant. Sagte der Herr Kapitän wirklich Korfu?

– Gewiß, Kor–fu!« bestätigte Hector Servadac.

Die beiden Engländer standen vor Staunen einen Augenblick stumm und sahen sich fragend an, was sie von dem französischen Officier halten sollten; doch ihre Verwunderung steigerte sich noch, als Graf Timascheff zu wissen wünschte, ob sie entweder durch englische Schiffe oder mittels des submarinen Kabels Nachrichten aus England erhalten hätten.

»Nein, Herr Graf, belehrte ihn Brigadier Murphy, das Kabel ist gebrochen.

– So stehen Sie mit dem Festlande aber doch noch mittels der italienischen Telegraphenlinie in Verbindung?

– Der italienischen? fragte Major Oliphant verwundert. Sie wollten ohne Zweifel sagen, mittels der spanischen?

– Italienische oder spanische, fiel Kapitän Servadac ein, darauf kommt nicht viel an, meine Herren, wenn Ihnen nur überhaupt Kunde aus der Hauptstadt zugegangen ist.

– Noch sind wir ohne Nachricht, erklärte Brigadier Murphy, indessen flößt uns das keinerlei Unruhe ein, denn es kann nicht mehr lange währen ...

– Vorausgesetzt, daß es überhaupt noch eine Hauptstadt giebt! sagte Kapitän Servadac jetzt ernster.

– Keine Hauptstadt mehr?

– Gewiß, wenn es überhaupt kein England mehr giebt!

– Kein England mehr!«

Brigadier Murphy und Major Oliphant fuhren gleichzeitig in die Höhe, als würden sie von ein und derselben Feder empor geschnellt.

»Mir scheint, ließ sich Brigadier Murphy vernehmen, eher als England wüßte doch Frankreich ...

– Frankreich steht gesicherter, denn es bildet einen Theil des Continentes! fiel ihm Kapitän Servadac schon einigermaßen erregt in's Wort.

– Wie? Gesicherter als England? ...

– England ist zuletzt doch nur eine Insel und dazu von so zerrissener Gestaltung, daß es recht wohl ganz und gar zu Grunde gehen konnte!«

[125] Jetzt drohte ein unangenehmer Auftritt. Den beiden Briten schwoll der Kamm und Kapitän Servadac schien auch um keinen Fuß breit weichen zu wollen.

Graf Timascheff suchte die Gegner, welche sich wegen einer eitlen Nationalitätsfrage erhitzten, vergeblich zu beruhigen.

»Meine Herren, erklärte Kapitän Servadac sehr kühl, ich glaube, diese Auseinandersetzung dürfte nur gewinnen, wenn sie unter freiem Himmel weiter geführt würde. Hier sind Sie zu Hause, wenn es Ihnen gefällig wäre mit hinauszutreten? ...«

Hector Servadac verließ das Zimmer. Graf Timascheff nebst den beiden Engländern folgte ihm auf dem Fuße nach. Alle kamen auf einer offenen, den höchsten Punkt des Eilandes einnehmenden Stelle zusammen, welche Kapitän Servadac gleichsam für neutralen Boden hielt.

»Meine Herren, wandte sich Kapitän Servadac hier an die beiden Engländer, wenn Frankreich durch den Verlust Algeriens auch noch so empfindlich geschädigt wurde, so ist es doch immer noch in der Lage, jeder Provocation, von welcher Seite sie auch ausgehen möge, entgegen zu treten. Als französischer Officier habe ich die Ehre, mein Vaterland auf dieser Insel mit demselben Rechte zu repräsentiren, wie Sie, meine Herren, Großbritannien.

– Ganz einverstanden, antwortete Brigadier Murphy.

– Ich werde also niemals dulden ...

– So wenig wie ich! sagte Major Oliphant.

– Und da wir hier auf neutralem Boden stehen ...

– Auf neutralem? rief Brigadier Murphy. Sie befinden sich hier auf englischem Grund und Boden, mein Herr.

– Auf englischem?

– Gewiß, auf einem Boden, über dem die Flagge Englands weht!«

Der Brigadier zeigte bei diesen Worten nach dem Banner Großbritanniens, das auf dem höchsten Punkte des Eilands im Winde flatterte.

»Bah, sagte ironisch Kapitän Servadac, also deshalb, weil es Ihnen gefiel, diese Flagge nach der Katastrophe aufzupflanzen ...

– Sie wehte schon vorher an derselben Stelle.

– Als Zeichen des Protectorates, nicht des Besitzes.

– Des Protectorates? riefen beide Officiere gleichzeitig.

[126] – Meine Herren, fuhr Hector Servadac unbekümmert und mit dem Fuße stampfend fort, dieses Eiland ist Alles, was von dem Areale einer repräsentativen Republik übrig blieb, der gegenüber England nie etwas Anderes als das Recht der Protection zustand.

– Was? Eine Republik? erwiderte Brigadier Murphy, dessen Augen sich ganz über die Maßen weit öffneten.

– Und dazu, fiel Kapitän Servadac wieder ein, läßt sich dieses zehnmal verlorene und zehnmal wieder erlangte Protectionsrecht über die Ionischen Inseln noch vielfach bestreiten.

– Die Jonischen Inseln! rief Major Oliphant.

– Und hier auf Korfu ...

– Auf Korfu?«

Das Erstaunen der beiden Engländer sprach sich in deren Zügen so auffällig aus, daß Graf Timascheff trotz seiner Zurückhaltung und seiner Neigung, die Partie des Stabsofficiers zu nehmen, sich veranlaßt fühlte, beschwichtigend in das Gespräch einzugreifen. Er wollte sich eben an Brigadier Murphy wenden, als dieser schon mit weit ruhigerem Tone das Wort an ihn richtete.

»Mein Herr, begann er, ich kann Sie unmöglich länger in einem uns allerdings unerklärlichen Irrthume lassen. Sie stehen hier auf einem Boden, der seit 1704 englisch ist durch das Recht der Eroberung und des unbestrittenen Besitzes, ein Recht, welches der Vertrag von Utrecht ausdrücklich bestätigte. Wohl haben sowohl Frankreich als auch Spanien in den Jahren 1729, 1779 und 1782 England zu verdrängen gesucht, sie erzielten damit aber keinen Erfolg. Sie sind auf diesem Eiland, und wäre es noch so klein, also ebenso gut in England, als befänden Sie sich auf dem Trafalgar-Square in London.

– Wir wären demnach nicht in Korfu und nahe der früheren Hauptstadt der Ionischen Inseln? fragte Graf Timascheff im Tone des höchsten Erstaunens.

– Nein, meine Herren, das nicht, hier sind Sie in Gibraltar.«

Gibraltar! Wie ein Donnerschlag traf dieses Wort das Ohr des Grafen Timascheff und des Stabsofficiers. Sie glaubten in Korfu, am östlichen Ende des Mittelmeeres zu sein, und sahen sich nun in Gibraltar, am westlichen Eingange zu jenem, trotzdem die Dobryna auf ihrer Entdeckungsfahrt niemals den östlichen Cours geändert hatte.

[127] Hier trat also eine neue Thatsache hervor, deren Consequenzen man sich klar machen mußte. Graf Timascheff wollte eben hierauf eingehen, als ein Getöse seine Aufmerksamkeit ablenkte. Er drehte sich um und sah mit mißfälligem Erstaunen Mannschaften von seiner Dobryna im Streite mit englischen Soldaten.


»Sie befinden sich hier auf einem Boden, über dem die Flagge Englands weht!« (S. 126.)

Und die Ursache dieser Aufregung? Ganz einfach ein Wortwechsel zwischen dem Matrosen Panofka und dem Corporal Pim. Woher aber rührte dieser?

[128] Weil das aus der Kanone geschleuderte Geschoß einen Balken der Goëlette zertrümmert, und dabei Pa nofka's – Pfeife zerbrochen hatte, was freilich ohne eine kleine Schramme an der Nase, welche für eine russische Nase wohl etwas zu lang sein mochte, nicht abgegangen war.

Während also Graf Timascheff und Kapitän Servadac einige Mühe hatten, sich mit den englischen Officieren zu verständigen, drohte auch noch ein Handgemenge zwischen der Besatzung der Dobryna und der Garnison des Eilandes.

Natürlich vertrat Hector Servadac hierbei den Matrosen und zog sich hierdurch von Major Oliphant die Erklärung zu, daß England für seine Geschosse nicht verantwortlich sei; daß hier ein Fehler des russischen Matrosen vorliege; daß dieser Matrose sich an einem Punkte befunden habe, wo er, zur Zeit als die Kugel vorüber sauste, nicht hätte sein sollen, und daß die ganze Sache, wäre er ein Landsmann gewesen, gewiß gar nicht vorgekommen wäre, u. dergl. m.

Trotz seiner reservirten Haltung ward Graf Timascheff hierüber doch allmälig bös, und nach Austausch einiger nicht gar so freundlichen Worte mit den beiden Officieren, befahl er seinen Leuten, sich unverzüglich einzuschiffen.

»Wir werden uns noch treffen, meine Herren! verabschiedete sich Hector Servadac von den beiden Engländern.

– Wann es Ihnen beliebt!« erwiderte Major Oliphant.

Für jetzt erfüllte, gegenüber dieser neuen Erfahrung, nach der Gibraltar an der Stelle lag, wo man Korfu gesucht hätte, den Grafen Timascheff und Kapitän Servadac nur noch der eine Gedanke, einerseits Rußland, andererseits Frankreich wieder aufzusuchen.

Eben deshalb lichtete die Dobryna auch ohne Säumen die Anker, und zwei Stunden später sah man nichts mehr von dem, was von Gibraltar noch übrig geblieben war.

[129]
15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
In welchem man sich bemüht, eine Wahrheit zu entdecken, der man sich vielleicht nähert.

Gleich die ersten Stunden der Fahrt verwendete man darauf, die Consequenzen jener neuen und unerwarteten Thatsache zu besprechen. Gelang es ihnen dabei auch noch nicht, die volle Wahrheit zu ergründen, so durften der Graf, der Kapitän und Lieutenant Prokop doch hoffen, einen Schritt weiter in das Geheimniß ihrer sonderbaren Lage einzudringen.

Nun, und was wußten sie denn jetzt unzweifelhaft? Das Eine, daß die Dobryna, nachdem sie die Insel Gourbi unter 18° östlicher Länge verlassen, die neu entstandene Küste etwa unter 33° östlicher Länge angetroffen hatte. Es entsprach das also einer Entfernung von fünfzehn Längengraden. Rechnete man hierzu die Länge der Meerenge, auf welcher sie den neuen unbekannten Continent durchfahren hatten, zu etwa dreiundeinhalb Grad, dann noch die Strecke von deren östlichem Ausgange bis Gibraltar zu etwa vier Graden, und endlich den Raum zwischen Gibraltar und der Insel Gourbi zu ungefähr sieben Längengraden, so ergab das im Ganzen neunundzwanzig Grade.

Die Dobryna hätte demnach von ihrem Abfahrtspunkte an der Insel Gourbi bis ebendahin zurück, wobei sie genau demselben Breitengrade folgte oder mit anderen Worten eine vollständige Rundfahrt ausführte, annähernd neunundzwanzig Grade zurückzulegen gehabt.

Achtzig Kilometer auf einen Grad gerechnet, ergab das eine Summe von 2320 Kilometern.

Wenn die Insassen der Dobryna an Stelle Korfus und der Ionischen Inseln auf Gibraltar trafen, so sagte das, daß der ganze Rest der Erdkugel, im Umfange von 331 Längengraden, vollständig verschwunden war. Hätte man vor der Katastrophe in östlicher Richtung von Malta nach Gibraltar segeln wollen, so hätte man die zweite, östliche Hälfte des Mittelmeeres, den Kanal von Suez, das Rothe Meer, das Indische Meer, den Stillen Ocean, [130] das Cap Horn und nordöstlich hinauf das Atlantische Meer passiren müssen. Statt dieses ungeheuren Weges hatte eine neue Meerenge von zweihundertsechzig Kilometer Länge hingereicht, die Goëlette nach einem von Gibraltar etwa fünfzig Meilen entfernten Punkte zu führen.

Dieses Resultat ergaben die Berechnungen des Lieutenant Prokop, welche selbst unter Annahme der möglichen Fehler doch hinreichten, darauf weitere Schlüsse zu bauen.

»Da die Dobryna also, sagte Kapitän Servadac, fast nach ihrem Ausgangspunkte zurückgekehrt ist, ohne den Cours zu wechseln, so müßte man daraus folgern, daß das Sphäroïd der Erde nur noch einen Umfang von 2320 Kilometer hat.

– Ja wohl, stimmte Lieutenant Prokop zu. Sein Durchmesser verminderte sich damit auf nahezu 740 Kilometer, d.h. er wäre sechzehnmal kleiner als vor der Katastrophe, wo er 12.792 Kilometer betrug. Es unterliegt keinem Zweifel, daß wir eben eine Reise um den noch übrigen Rest der Erde zurückgelegt haben.

– Das würde allerdings mehrere der von uns beobachteten, so auffälligen Erscheinungen erklären, sagte Graf Timascheff. So muß z.B. die Schwere auf einem so außerordentlich verkleinerten Sphäroïd vermindert sein, ebenso leuchtet mir ein, daß die Rotation um seine Achse dadurch so beschleunigt wurde, daß die Zeit zwischen zwei Sonnenaufgängen nur noch zwölf Stunden beträgt. Bezüglich der neuen Kreisbahn, welche jenes um die Sonne beschreibt ...«

Graf Timascheff unterbrach sich, da es ihm nicht zu gelingen schien, diese Erscheinung aus seinem neuen Systeme herzuleiten.

»Nun, Herr Graf, fragte Kapitän Servadac, was die neue Kreisbahn betrifft? ...

– Was ist hierüber Deine Ansicht, Prokop? antwortete der Graf, sich an den Lieutenant wendend.

– Vater, erwiderte Prokop, zwei Möglichkeiten giebt es nicht, diese veränderte Bahn im Weltraume zu erklären; es giebt nur eine, nur eine einzige!

– Und diese wäre? fragte Kapitän Servadac lebhaft und schnell, als habe er eine Vorahnung der Antwort des Lieutenants.

– Sie beruht, fuhr Prokop fort, in der Annahme, daß sich ein Fragment der Erde unter Mitnahme eines Theiles der Atmosphäre losgelöst [131] hat und nun die Sonnenwelt in einer anderen Bahn umkreist, als die der Erdkugel war.«

Nach dieser so einleuchtend wahrscheinlichen Erklärung sahen sich Graf Timascheff, Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop eine Weile lang schweigend an. Im strengsten Sinne des Wortes angewurzelt, überdachten sie die unberechenbaren Folgen dieses neuen Zustandes der Dinge. Wenn sich nun wirklich ein ungeheures Stück von der Erdkugel losgelöst hatte, wohin trieb es wohl? Welche Bedeutung war der Excentricität der elliptischen Bahn zuzuschreiben, welcher jenes jetzt folgte? Bis zu welcher Entfernung von der Sonne würde es entführt werden? Welche Dauer mochte sein Lauf um das Centrum der Attraction haben? Sollte es gleich den Kometen Hunderte von Millionen Meilen hinausgeschleudert oder bald nach der Quelle des Lichtes und der Wärme zurückgeführt werden? Fiel die Ebene seiner Bahn wohl mit der Ekliptik zusammen und durfte man einige Hoffnung hegen, daß dieser losgelöste Theil sich einmal wieder mit der Erdkugel verbinden werde?

Kapitän Servadac war der Erste, der das Schweigen unterbrach und fast wider Willen ausrief:

»Zum Teufel, nein! Ihre Erklärung, Lieutenant Prokop, trifft zwar nach vielen Seiten zu, ist aber doch nicht annehmbar.

– Warum, Kapitän? fragte der Lieutenant. Sie scheint mir im Gegentheil jedem Einwurfe zu begegnen.

– Nein, nein, einer mindestens wird durch Ihre Hypothese nicht entkräftet.

– Und welcher wäre das? fragte Prokop.

– Nun, verstehen wir uns recht, sagte Kapitän Servadac. Sie bleiben bei der Ansicht stehen, daß ein Stück der Erdkugel, jetzt also ein neuer Asteroïd, der uns trägt und der das Mittelländische Meer von Gibraltar bis Malta umfaßt, durch die Sonnenwelt kreise?

– Das ist meine Ansicht.

– Nun, gut, Lieutenant; wie erklären Sie dann aber das Auftauchen jenes eigenthümlichen Continentes, der dieses Meer jetzt einrahmt, und speciell die Bildung seiner Küste? Würden wir auf einem Stück der Erdkugel hinweggeführt, so hätte dasselbe doch gewiß sein altes Granit- oder Kalkstein-Skelet behalten und könnte an der Oberfläche nicht jene mineralischen [132] Bestandtheile aufweisen, deren Zusammensetzung uns noch nicht einmal bekannt ist.«

Das war freilich ein gewichtiger Einwurf des Kapitän Servadac gegen die Theorie des Lieutenants. Man konnte wohl damit einverstanden sein, daß sich von der Erdkugel ein Fragment losgelöst habe, welches einen Theil der Atmosphäre und des Mittelmeeres entführte; konnte zugeben, daß dessen Bewegungen um sich selbst und in der Bahn um die Sonne nicht mit denen der Erde identisch seien; weshalb aber erhob sich an Stelle der fruchtbaren Ufer, welche das Mittelmeer sonst im Süden, Westen und Osten begrenzten, jetzt jene aller Vegetation entbehrende, steile Küstenmauer von so gänzlich unbekannter Natur?

Lieutenant Prokop vermochte diesen Einwurf nicht zu beantworten und tröstete sich nur mit der Hoffnung, daß die Zukunft noch Licht über bisher dunkle Punkte verbreiten werde. Jedenfalls veranlaßte ihn Kapitän Servadac's Einrede nicht, eine Hypothese aufzugeben, welches so vieles vorher Unerklärliche aufhellte. Die erste Ursache der ganzen Veränderung entging ihm freilich auch noch jetzt. Sollte man annehmen, daß eine expansive Wirkung centraler Kräfte ein solches Bruchstück aus der festen Erdrinde habe lösen und in den Weltraum hinausschleudern können? Das war doch sehr unwahrscheinlich. Wie viele Räthsel gab dieses großartige Problem zu lösen!

»Alles in Allem, sagte Kapitän Servadac zum Schlusse, kommt ja sehr wenig darauf an, auf einem neuen Gestirn durch die Sonnenwelt zu fliegen, wenn uns nur Frankreich begleitet.

– Frankreich ... und Rußland! fügte Graf Timascheff hinzu.

– Und Rußland!« wiederholte der Stabsofficier, der sich beeilte, die legitime Reclamation des Grafen anzuerkennen.

Wenn es aber wirklich nur ein Stück der Erdkugel war, das sich in einer neuen Ellipse um die Sonne bewegte, und wenn auch dieses Bruchstück eine Kugelgestalt hatte – wobei es nothwendiger Weise nur sehr beschränkte Dimensionen aufweisen konnte – mußte man dann nicht befürchten, daß ein Theil Frankreichs und mindestens der größte Theil Rußlands mit der alten Erde in Verbindung geblieben sei? Ebenso England, bezüglich dessen schon das sechs Wochen lang andauernde Ausbleiben aller Nachrichten und das Aufhören jeder Verbindung zwischen Gibraltar und dem Vereinigten Königreiche darauf hinzudeuten schien, daß weder zu Land noch zu Wasser, weder durch die Post [133] noch durch den Telegraphen eine Communication möglich sei. Wenn die Insel Gourbi wirklich, wie das fortwährende Gleichbleiben der Tage und Nächte vermuthen ließ – im Aequator des Asteroïden lag, so mußten die beiden Pole im Norden und Süden von der Insel gleichmäßig, und zwar so weit von einander entfernt sein, als der bei der Fahrt der Dobryna gefundene halbe Umfang, also 1160 Kilometer. Der Nordpol war also gegen 580 Kilometer nördlich von der Insel Gourbi, der Südpol ebenso weit südlich von derselben zu suchen. Bestimmte man diese Punkte auf der Karte, so fiel der Nordpol nicht über die Küste der Provence hinaus, der Südpol aber in die afrikanische Wüste etwa in den neunundzwanzigsten Grad der Breite.

Hatte nun Lieutenant Prokop wohl recht, auf der Annahme seines neuen Systemes zu beharren? War in der That ein so gewaltiges Stück von der Erdkugel abgerissen worden? Keiner vermochte das endgiltig zu entscheiden. Die Lösung des Problems gehörte der Zukunft, vielleicht erscheint aber doch die Annahme nicht zu kühn, daß Lieutenant Prokop, wenn er auch die volle Wahrheit noch nicht erkannte, ihr doch einen bedeutenden Schritt näher gekommen war.

Jenseit der engen Spalte, welche unsern Gibraltar die beiden äußersten Enden des Mittelmeeres verband, traf die Dobryna das herrlichste Wetter an. Der Wind begünstigte ihre Fahrt, und unter der doppelten Hilfe der Brise und des Dampfes kam sie desto schneller nach Norden vorwärts.

Wir sagten nach Norden, nicht nach Osten, denn das Küstengebiet Spaniens war, mindestens zwischen Gibraltar und Alicante, vollständig verschwunden. Weder Malaga, noch Almeria, das Cap von Gata oder das von Palos, noch auch Carthagena fanden sich an den Stellen ihrer geographischen Coordinaten. Das Meer hatte alle diese Theile der spanischen Halbinsel bedeckt, und die Goëlette mußte bis zur Höhe von Sevilla segeln, nicht um die Küste Andalusiens, sondern um eine ganz gleiche steile Uferwand zu treffen, wie jene jenseit Maltas.

Von diesem Punkte aus schnitt das Meer tief in das Land hinein und bildete einen spitzen Winkel, dessen Scheitel etwa Madrid einnehmen mußte. Dann verlief das Ufer wieder in der Richtung nach Süden, griff nun seinerseits in das alte Meeresbassin ein und verlängerte sich, einer drohenden Kralle ähnlich, oberhalb der Balearen.

[134] Als sich die Seefahrer, um etwaige Spuren dieser wichtigen Inseln aufzufinden, etwas von ihrer Route entfernten, machten sie einen ganz unerwarteten Fund.

Es war am 21. Februar acht Uhr Morgens, als einer der Matrosen, der am Vordertheile der Goëlette die Wache hatte, plötzlich ausrief:

»Eine Flasche im Meer!«

Diese Flasche konnte möglicher Weise ein werthvolles, auf den dermaligen Zustand der Dinge bezügliches Document enthalten.

Auf den Ruf des Matrosen waren Graf Timascheff, Hector Servadac, der Lieutenant und Alle nach dem Vordertheile geeilt. Die Goëlette manövrirte so, daß sie sich dem bezeichneten Gegenstande näherte, der denn auch bald aufgefischt und an Bord gehißt wurde.

Es war keine Flasche, sondern ein Leder-Etui, von der Art, wie man sie zur Aufbewahrung mittelgroßer Fernrohre zu benutzen pflegt. Der Deckeltheil zeigte sich sorgfältig mit Wachs verkittet, und wenn das Etui erst vor kurzer Zeit ausgeworfen war, so hatte das Wasser aller Wahrscheinlichkeit nach nicht hineindringen können.

Lieutenant Prokop musterte in Gegenwart des Grafen Timascheff und des Stabsofficiers aufmerksam das Etui. Kein Fabrikzeichen deutete auf seinen Ursprung. Das Wachs, mit dem es verschlossen war, zeigte sich unversehrt und hatte auch noch einen Petschaftabdruck deutlich bewahrt, auf dem man die Buchstaben P. R. erkannte. Der Behälter ward geöffnet und der Lieutenant zog aus ihm ein vom Wasser noch vollkommen verschontes Papier hervor, nur ein einfaches viereckiges Blättchen, das offenbar aus einem Notizbuche gerissen war und auf dem sich in großer, verkehrt geneigter Schrift, folgende mit Frage-und Ausrufungszeichen reich versehenen Worte fanden:


»Gallia???
Ab sole, au 15 févr., dist.: 59,000.000 l.!
Chemin parcouru de janv. au févr.:
82,000.000 l.
Va bene! All right! Parfait!!!«

Auf den Ruf des Matrosen waren Alle nach dem Vordertheile geeilt. (S. 135.)

(Deutsch: »Gallia???

Von der Sonne, am 15. Febr., Ents.:
[135] 35,400.000 Meilen!
Durchlaufener Weg vom Januar bis Februar:
49,200.000 M.
Geht gut! Ganz wohl! Vortrefflich!!!)

Was soll das bedeuten? fragte Graf Timascheff, als er das Blatt nach allen Seiten gewendet hatte.


Es war nur ein einfaches, viereckiges Blättchen. (S. 135.)

– Ich weiß es nicht, erwiderte Kapitän Servadac; nur Eines ist sicher, daß der Verfasser dieses Docu [136] mentes, wer es auch immer sei, am 15. Februar noch lebte, denn das Schriftstück trägt dieses Datum.

– Unzweifelhaft!« stimmte Graf Timascheff zu.

Das Document selbst war nicht unterzeichnet. Nichts deutete auf seinen Ursprungsort. Es fanden sich darin lateinische, italienische, englische und französische Worte, letztere in überwiegender Anzahl.

[137] »Eine Mystification kann das nicht wohl sein, meinte Kapitän Servadac. Es liegt auf der Hand, daß dieses Document auf die neue kosmographische Ordnung Bezug nimmt, deren Folgen auch wir empfinden. Das Etui, in dem es sich befand, gehörte irgend einem Beobachter an Bord eines Schiffes ...

– Nein, Kapitän, fiel ihm Lieutenant Prokop in's Wort, dann hätte es Jener in eine Flasche verschlossen, in der es besser als in dem Lederfutteral vor der Feuchtigkeit geschützt war. Ich glaube vielmehr, irgend ein Gelehrter, der allein auf einem verschonten Punkte einer Küste übrig geblieben ist, hat, um die Resultate seiner Beobachtungen bekannt zu geben, dazu diesen Behälter benutzt, der ihm augenblicklich vielleicht minder werthvoll erschien, als seine Flasche.

– Am Ende kommt darauf wenig an, sagte Graf Timascheff. Jetzt scheint es mir nutzbringender, den Inhalt dieses sonderbaren Documentes zu enträthseln, als sich über dessen Urheber den Kopf zu zerbrechen. Wir wollen es Wort für Wort vornehmen. Also zuerst, was bedeutet dieses Gallia?

– Ich kenne keinen größeren oder kleineren Planeten, der diesen Namen führte, bemerkte Kapitän Servadac.

– Kapitän, begann da der Lieutenant Prokop, erlauben Sie, bevor wir weiter gehen, eine Frage an Sie zu stellen.

– Mit Vergnügen.

– Sind Sie nicht der Meinung, daß gerade dieses Document meine letztere Hypothese zu unterstützen scheint, nach welcher ein Fragment der Erdkugel in den Weltraum hinausgeschleudert wäre?

– Ja ... vielleicht ... antwortete Hector Servadac ... obwohl der Einwurf bezüglich der sonderbaren Grundstoffe, aus der das Innere unseres Asteroïden gebildet ist, noch immer fortbesteht.

– In diesem Falle, fügte Graf Timascheff hinzu, hätte jener Gelehrte dem neuen Gestirn also den Namen ›Gallia‹ gegeben.

– Das scheint demnach ein französischer Gelehrter gewesen zu sein? bemerkte Lieutenant Prokop.

– Man könnte es glauben, bestätigte Kapitän Servadac. Beachten Sie, daß unter den achtzehn Worten des Documentes sich elf französische [138] Worte befinden gegenüber drei lateinischen, zwei italienischen und zwei englischen. Es deutet diese Mischung auch dar auf hin, daß besagter Gelehrter, in der Ungewißheit darüber, in welche Hände sein Document fallen werde, einzelne Worte verschiedener Sprachen verwendete, um desto sicherer verstanden zu werden.

– Gut, wir nehmen also an, Gallia sei der Name des neuen Asteroïden, der um die Sonne kreist, sagte Graf Timascheff, und gehen nun weiter zu den Worten: ›Von der Sonne, Entfernung am 15. Februar, fünfunddreißig und vier Zehntel Millionen Meilen.‹

– Das entspricht offenbar der Entfernung, erklärte Lieutenant Prokop, welche die Gallia von der Sonne trennte, als sie die Bahn des Mars durchschnitt.

– Gut, antwortete Graf Timascheff, das wäre also ein erster Punkt des Documentes, der mit unseren Beobachtungen übereinstimmt.

– Ganz genau, bekräftigte Lieutenant Prokop.

– ›Durchlaufener Weg vom Januar bis Februar,‹ fuhr Graf Timascheff lesend fort, ›neunundvierzig und zwei Zehntel Millionen Meilen.‹

– Es bezieht sich diese Angabe, sagte Hector Servadac, offenbar auf die von der Gallia in ihrer neuen Bahn durchmessene Strecke.

– Ganz gewiß, stimmte ihm Lieutenant Prokop bei, und zwar mußte die Umlaufsgeschwindigkeit, entsprechend den Keppler'schen Gesetzen, oder, was auf dasselbe hinauskommt, der in gleichen Zeiträumen durchlaufene Weg progressiv kleiner werden. Die höchste von uns beobachtete Temperatur fiel mit dem 15. Januar zusammen. Höchst wahrscheinlich befand sich die Gallia zu der Zeit in ihrem Perihel, d.h. in der geringsten Entfernung von der Sonne, und bewegte sich damals mit einer doppelten Geschwindigkeit gegenüber der der Erde, welche nur siebzehn Tausend zweihundertachtzig Meilen in der Stunde erreicht.

– Das klingt Alles sehr schön, ließ sich Kapitän Servadac vernehmen, leider verräth es uns nur nicht, bis zu welcher Entfernung von der Sonne sich die Gallia in ihrem Aphel bewegen wird, und was wir von der Zukunft zu hoffen oder zu fürchten haben.

– Nein, Kapitän, antwortete Lieutenant Prokop; doch mittels genauer Beobachtungen auf verschiedenen Punkten der Gallia-Bahn müssen wir mit [139] Hilfe der allgemein giltigen Gravitationsgesetze dahin gelangen, die Elemente dieser Bahn zu bestimmen ...

– Und folglich, fiel Kapitän Servadac ein, den Weg, den die Gallia in dem Sonnensysteme einhalten wird.

– In der That, äußerte sich Graf Timascheff, wenn die. Gallia ein Asteroïd ist, so unterliegt sie, wie alle beweglichen Körper, den Gesetzen der Mechanik, und die Sonne bestimmt ihre Bahn ebenso wie die der Planeten. Von dem Augenblicke an, als sich dieses Fragment von der Erde löste, fesselten es auch die unsichtbaren Ketten der allgemeinen Anziehungskraft und bestimmten genau seine spätere Flugbahn.

– Wenigstens so lange, setzte Lieutenant Prokop hinzu, als nicht später vielleicht ein anderer Himmelskörper störend in diese Bahn eingreift. Im Vergleich mit den übrigen Körpern des Himmelssystems ist die Gallia nur winzig klein, und die anderen Planeten könnten leicht einen merkbaren Einfluß darauf ausüben.

– Jedenfalls, meinte Kapitän Servadac, könnte die Gallia leicht einem unangenehmen Zusammenstoß ausgesetzt sein und dadurch von dem rechten Wege abweichen. Uebrigens, meine Herren, bedenken Sie, daß wir hier sprechen, als wären wir erwiesenermaßen Bewohner dieser Gallia. Wer beweist uns denn aber, daß diese Gallia nicht etwa der hundertsiebzigste, neuentdeckte kleine Planet ist?

– Nein, nein, erwiderte Lieutenant Prokop, davon kann nicht die Rede sein. Die teleskopischen Planeten bewegen sich alle nur in einer schmalen, zwischen der Bahn des Mars und des Jupiters belegenen Zone. Sie nähern sich in Folge dessen der Sonne niemals so sehr, wie die Gallia zur Zeit ihres Perihels. Diese Thatsache kann nicht angezweifelt werden, da das Document mit unseren eigenen Hypothesen hierin vollständig übereinstimmt.

– Leider fehlen uns, sagte Graf Timascheff, die zu jenen astronomischen Beobachtungen nothwendigen Instrumente, so daß wir die Bahnelemente unseres Asteroïden zu berechnen außer Stande sind.

– Wer weiß, meinte Hector Servadac, zuletzt wird vielleicht auch diese Schwierigkeit beseitigt.

– Was die letzten Worte des Documentes betrifft, fuhr Graf Timascheff fort, ›Va bene! All right! Parfait!!!‹ so bedeuten sie wohl gar nichts ...

[140] – Außer, daß der Verfasser, fiel Hector Servadac ein, damit hat ausdrücken wollen, wie entzückt er von dem neuen Zustande der Dinge sei, und daß er Alles wunderschön in dieser schönsten der Welten finde.«

16. Capitel
Sechzehntes Capitel.
In dem man sehen wird, wie Kapitän Servadac Alles in seiner Hand hält, was von einem großen Continente übrig blieb.

Nachdem die Dobryna das gewaltige Vorgebirge, welches ihr den Weg nach Norden sperrte, umschifft hatte, steuerte sie nach der Gegend, wo sich das Cap von Creus befinden mußte.

Fast Tag und Nacht sprachen die Reisenden von den außergewöhnlichen Umständen, in denen sie sich jetzt befanden. Der Name Gallia wiederholte sich bei ihren Unterhaltungen so häufig und unbewußt, daß er für sie allmälig den Werth eines geographischen Namens bekam, nämlich den des Asteroïden, der sie durch die Sonnenwelt entführte.

Trotzdem vergaßen sie niemals, daß ihnen die jetzt unabweisbare Aufgabe oblag, das neue Küstengebiet des Mittelmeeres zu erforschen. So folgte denn die Goëlette immer so nahe als möglich den neuen Grenzen dieses, wie es schien, einzigen Meeres der Gallia.

Die obere, also nördliche Küste jenes Vorgebirges, berührte die Stelle, welche an der iberischen Küste früher Barcelona einnahm; die Küste selbst war aber sammt jener bedeutenden Stadt verschwunden und lag jedenfalls unter den Fluthen begraben, welche unweit davon gegen das steile Ufer brandeten. Letzteres verlief von hier aus nach Nordosten und erreichte, genau an dem Punkte des Cap von Creus, wieder das frühere Meeresbassin.

Von diesem Cap von Creus war nichts mehr vorhanden.

Dicht an dieser Stelle begann die französische Grenze, und man wird sich leicht eine Vorstellung von Kapitän Servadac's Gefühlen machen können, [141] als er hier einen neuen Boden an der Stelle desjenigen seines Vaterlandes getreten sah. Noch vor der französischen Küste erhob sich eine unübersteigliche Wand, welche jeden Fernblick abschnitt. Steil wie eine lothrechte Mauer, gegen tausend Fuß hoch, nirgends eine ersteigbare Fläche bietend, ebenso öde, zerklüftet und »neu«, wie man sie schon am anderen Ende des Mittelmeeres angetroffen hatte, verlief dieses Küstengebirge längs derselben Parallele, welche sonst die reizenden Ufer des südlichen Frankreich einnahmen.

So nahe am Lande sich die Goëlette auch hielt, nichts von dem Küstengebiete des früheren Departements der östlichen Pyrenäen kam ihr zu Gesicht, weder Cap Bearn, noch Port-Vendres, weder die Mündung des Tech, noch die Lagune von St. Nazaire, so wenig, wie der Ausfluß des Tet oder die Lagune von Salces. An der Grenze des früher von Weihern und Inseln so pittoresk durchbrochenen Departements der Aude fand sich vom Arrondissement der Narbonne auch nicht ein Ueberbleibsel. Vom Cap d'Agde, an der Grenze des Departements Herault, bis zum Golf von Aigues-Mortes fand sich keine Spur, weder von Cette oder Frontignan, noch von jenem von den Wellen des Mittelmeeres umspülten Bogen des Arrondissements Nîmes, weder von den Kieselfeldern von Crau oder Camargue, noch von dem vielverzweigten Delta der Rhône-Mündungen. Martigues, verschwunden! Marseille, verschlungen! Man mußte fürchten, von dem europäischen Continent kein Stückchen Land mehr anzutreffen, das einst den Namen Frankreich getragen hatte.

Obwohl Hector Servadac sich schon auf Alles vorbereitet hatte, so stand er doch erstarrt der traurigen Wirklichkeit gegenüber. Er sah keine Spur mehr von den Ufern, die ihm von früher her so genau bekannt waren. Manchmal, wenn sich die Küstenwand leicht nach Norden wendete, hoffte er ein Restchen französischen Bodens zu sehen, der der Zerstörung entgangen wäre. Doch wenn sich eine solche Bucht auch weit hinein erstreckte, so zeigte sich doch nichts, was dem prächtigen Ufer der Provence angehört hätte. Wo das neue Ufer nicht mit der alten Meeresgrenze zusammenfiel, da überflutheten das Land die Wogen des veränderten Mittelmeeres, so daß Hector Servadac sich die Frage stellte, ob der einzige Ueberrest seines Vaterlandes nicht jener Fetzen des Gebietes von Algier sei, jene Insel Gourbi, nach welcher er werde zurückkehren müssen!

»Und doch, äußerte er wiederholt gegen Graf Timascheff, endet der Continent der Gallia nicht mit dieser unnahbaren Küste. Sein Nordpol liegt [142] über derselben hinaus! Was mag hinter dieser Mauer sein? Wir müssen es wissen, müssen uns überzeugen, ob es trotz der Erscheinungen, deren Zeugen wir waren, doch nicht vielleicht die Erdkugel ist, auf welcher wir wandeln, ob sie uns nicht auf einer neuen Bahn durch das Planetenreich trägt, ob dort hinter dieser Scheidewand nicht Frankreich, Rußland, vielleicht das ganze übrige Europa liegt. Sollten wir denn keinen flachen Strand antreffen, um einmal an dieser Küste zu landen? Giebt es kein Mittel, diese scheinbar unersteigliche Mauer zu erklimmen und nur einmal nach dem auszulugen, was sie unserem Blicke verbirgt? An's Land, wo es geht, in Gottes Namen, an's Land!«

Aber obwohl die Dobryna fortwährend fast die Küste streifte, zeigte sich doch nirgends eine Stelle, an der sie hätte anlaufen, nicht einmal eine Klippe, auf der die Besatzung hätte Fuß fassen können. Unverändert stieg der Uferwall steil, glatt, senkrecht bis zu einer Höhe von zwei- bis dreihundert Fuß auf und war oben mit einem sonderbaren Gewirr krystallinischer Lamellen gekrönt. Ueberall sah die neu aufgestiegene Umfassung des Mittelmeeres sich so ähnlich, als wäre sie in ein und derselben Form gegossen.

Mit voller Dampfkraft eilte die Dobryna nach Osten. Die Witterung hielt sich gut. Die merkbar abgekühlte Atmosphäre konnte nur weniger Wasserdünste aufnehmen. Nur da und dort bildeten sich einige leichte, fast durchsichtige Cyrrhusstreifen an dem azurnen Himmel. Tagsüber sandte die deutlich verkleinerte Sonnenscheibe nur blasse Strahlen herüber, welche allen Gegenständen ein unklares Relief verliehen. Während der Nacht aber funkelten die Sterne in außerordentlichem Glanze, während gewisse Planeten durch die zunehmende Entfernung verblaßten. So war es der Fall mit der Venus und dem Mars, sowie mit jenem unbekannten Weltkörper, der im Kreise der unteren oder inneren Planeten, der Sonne bald beim Auf-und bald beim Untergange vorausging. Dagegen nahm der Schimmer des ungeheuren Jupiter und des herrlichen Saturn sichtlich zu, da die Gallia sich diesen Planeten näherte, und Lieutenant Prokop zeigte auch den mit bloßen Augen sichtbaren Uranus, der sonst nur mittels Fernrohres zu erkennen ist. Die Gallia gravitirte also, indem sie sich noch immer vom Centrum der Attraction entfernte, jetzt quer durch das Planetensystem.

Am 24. Februar gelangte die Dobryna, nachdem sie der Bogenlinie gefolgt war, welche vor der Umwälzung die Küste des Departements Var [143] bildete; nachdem sie vergeblich nach Spuren der Hyerischen Inseln, der Halbinsel Saint-Tropez, der Levinischen Inseln, des Golfes von Cannes und des Golfes von Jouan geforscht hatte, nach der Höhe des Caps von Antibes.

Hier theilte zum größten Erstaunen, aber auch zur größten Freude der Reisenden ein enger Spalt von oben bis unten die steile Küste. Am Fuße desselben streckte sich längs des Meeres ein schmaler Strand hin, welchen ein Boot ohne Gefahr anlaufen konnte.

»Endlich werden wir an's Land gehen können!« rief Kapitän Servadac ganz außer sich vor Freude.

Bei dem Grafen Timascheff kostete es keine Mühe, die Einwilligung dazu zu erhalten, denn er sowohl wie Lieutenant Prokop brannten vor Begierde, das Land zu betreten. Wenn sie auf der Böschung dieses Einschnittes, scheinbar dem ausgewaschenen Bette eines Bergstromes, emporklommen, gelang es vielleicht, den Kamm des Uferwalls zu erreichen und dort einen erweiterten Gesichtskreis zu gewinnen, der ihnen, wenn nicht einen Blick über französisches Land, doch einen solchen über dieses bizarre Gebiet gewährte.

Um sieben Uhr Morgens betraten der Graf, der Kapitän und der Lieutenant das Ufer.

Zum ersten Male fanden sie hier einige Ueberreste der alten Erdrinde, wenige Kalksteine von gelb-grauer Farbe, wie sie vorzüglich an der Küste der Provence vorkommen. Dieser schmale Strand aber – offenbar ein Ueberbleibsel der alten Erdkugel – hatte kaum einige Quadratmeter Oberfläche, und so begaben sich die Forscher sofort nach der Rinne, längs welcher sie emporsteigen wollten.

Diese Rinne oder Spalte war ganz trocken und verrieth deutlich, daß hier niemals ein Bergstrom seine tosenden Wässer herabgestürzt habe. Die Felsenwände zeigten hier ebenso, wie an jeder anderen Stelle der Bergmasse, dieselbe lamellöse Structur, und schienen von den sonst so leicht bemerkbaren Einflüssen der Witterung noch so gut wie unberührt. Ein Geolog wäre wohl im Stande gewesen, diesem Gesteine seine richtige Stelle im lithologischen Systeme anzuweisen, aber weder Graf Timascheff, noch der Stabsofficier oder Lieutenant Prokop vermochten deren Natur zu erkennen.

Wenn dieser Hohlweg aber auch keine Spuren von Feuchtigkeit aus der jüngsten, oder aus älterer Zeit aufwies, so war doch leicht einzusehen, daß er [144] unter veränderten klimatischen Verhältnissen einst sehr beträchtlichen Wassermassen als Abfluß dienen werde.

Schon glänzten da und dort auf der Böschung beschränkte, mit Schnee bedeckte Stellen, welche nach oben immer ausgedehnter auftraten und die höchsten Punkte des Bergkammes in dicken Lagen überdeckten. Höchst wahrscheinlich lag auch das ganze Terrain hinter der Ufermauer unter einer gleichen Schnee-und Eisdecke begraben.


Mit Schnee bedeckte Stellen glänzten da und dort auf der Böschung. (S. 145.)

[145] »Das wären also die ersten Spuren von Süßwasser, die wir auf der Gallia entdecken, bemerkte Graf Timascheff.

– Ja wohl, antwortete Lieutenant Prokop, und weiter oben werden wir nicht nur Schnee-, sondern in Folge der zunehmenden Kälte auch Eisbildungen antreffen. Vergessen wir nicht, daß wir uns, wenn die Gallia eine sphäroïdale Gestalt besitzt, hier in der Nähe ihrer arktischen Gebiete befinden, welche die Sonnenstrahlen nur in sehr schräger Richtung treffen. Es kann daselbst, ebenso wie während des Sommers an den beiden Polen der Erde, niemals völlig Nacht werden, da die Sonne, in Folge der sehr geringen Neigung der Rotationsachse, den Aequator kaum verläßt; die Kälte muß dagegen sehr hohe Grade erreichen, vorzüglich wenn sich die Gallia beträchtlich von dem Centrum der Wärme, der Sonne, entfernen sollte.

– Haben wir nicht zu befürchten, Lieutenant, fragte Kapitän Servadac, daß diese Kälte dabei so sehr zunehmen wird, um die Existenz jedes lebenden Wesens zu vernichten?

– Nein, Kapitän, erwiderte Lieutenant Prokop. So weit wir uns auch von der Sonne entfernen mögen, niemals wird die Kälte unter die Temperatur des Weltraumes herabsinken können, d.h. unter die derjenigen Stellen, an denen nicht einmal mehr Luft vorhanden ist.

– Und diese Temperaturgrenzen sind? ...

– Etwa sechzig Grad (des hunderttheiligen Thermometers) unter Null, nach der Angabe eines Franzosen, des gelehrten Naturforschers Fourier.

– Sechzig Grad! rief Graf Timascheff, sechzig Grad unter Null! das ist aber eine Temperatur, welche selbst für Russen unerträglich werden dürfte.

– Aehnliche Kältegrade, fuhr Lieutenant Prokop fort, haben englische Seefahrer in den Polarmeeren schon angetroffen, und Parry hat, wenn ich nicht irre, auf der Insel Melville sechsundfünfzig Grad unter Null am Thermometer beobachtet.«

Die drei Wanderer standen einen Augenblick still, um Athem zu schöpfen, denn auch ihnen erschwerte, wie es Bergsteigern so häufig ergeht, die nach und nach sich verdünnende Luft das Aufsteigen mehr und mehr. Außerdem empfanden sie, ohne eine besonders große Höhe erreicht zu haben – sie mochten etwa 6-bis 700 Fuß emporgestiegen sein – eine sehr merkliche [146] Abnahme der Temperatur. Glücklicher Weise erleichterte ihnen die streifige Structur der mineralischen Substanz des Rinnenbettes das Gehen und so erreichten sie vom Strande aus in etwa anderthalb Stunden die Höhe des Bergkammes.

Dieses Küstengebirge überragte nicht nur das Meer nach Süden zu, sondern auch nach Norden die ganze, rasch abfallende Umgebung.

Kapitän Servadac konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken.

Frankreich war nicht mehr vorhanden! Unzählige Felsengebilde folgten einander bis zum entferntesten Horizonte. Von Schnee und Eis bedeckt, floß dieses Steinmeer zur einförmigen Wüste zusammen, in welcher man nichts als eine Anhäufung sechskantiger, regelmäßiger Prismen erkannte. Die ganze Gallia schien das Product einer mineralischen, gleichartigen und unbekannten Formation zu sein. Wenn der eigentliche Kamm des steilen Ufers, das jetzt den Rahmen des Mittelmeeres bildete, nicht diese Gleichartigkeit der höchsten Spitzen zeigte, so mochte das von irgend einer Ursache – vielleicht von derselben, der man überhaupt noch das Vorhandensein des Meeres verdankte-herrühren, welche bei Gelegenheit der großen Katastrophe die äußere Textur dieser Gebirgsmauer veränderte.

Doch wie dem auch sei, jedenfalls sah man in diesem Theile der Gallia kein Ueberbleibsel des europäischen Festlandes. Ueberall hatte die neue Substanz den alten Boden bedeckt. Hier fand sich nichts von der hügeligen Landschaft der Provence, nichts von den Orangen- und Citronengärten, deren röthlicher Humus sich stufenweise auf Schichten trocknen Gesteins ablagerte; nichts von den Olivenwäldern mit ihrem meergrünen Laube, noch von den großen Anpflanzungen von Pfeffer- und Nesselbäumen, Mimosen, Palmenarten und Eukalypten; nichts von den Gebüschen von Riesengeranien, über welche sich da und dort eine großblättrige Aloë erhob, von den Kalkfelsen des Uferlandes, oder endlich von den tiefer im Lande verlaufenden Bergzügen mit ihrer düster-ernsten Decke dunkler Coniferen.

Hier blühte kein vegetabilisches Leben, denn auch die genügsamsten Pflanzen der kalten Zone, selbst das unter dem Schnee wachsende isländische Moos, hätten auf diesem steinichten Boden nicht ausdauern können. Hier fehlte es an jedem Thierleben, denn kein Vogel, weder ein Wasserscheerer, noch Sturmvogel oder Taucherhuhn, hätte hier Nahrung auch nur für einen Tag gefunden.

[147] Hier herrschte das Steinreich mit all' seiner entsetzlichen Trostlosigkeit.

Kapitän Servadac erschien fast mehr erregt, als man von seinem sonst so sorglosen Charakter erwartet hätte. Unbeweglich betrachtete er von dem höchsten Punkte eines übereisten Felsens aus mit thränenfeuchten Augen das traurige Gefilde. Er vermochte gar nicht zu glauben, daß hier früher das schöne Frankreich gelegen habe.

»Nein, rief er, und abermals nein! Unsere Ortsaufnahmen sind falsch gewesen! Wir sind nicht in dem Breitengrade, der die Seealpen durchschneidet. Das Land, welches wir suchen, liegt dort noch weiter rückwärts. Eine Mauer ist aus dem Meere aufgestiegen – zugegeben; aber jenseit derselben finden wir noch europäischen Boden. Graf Timascheff, kommen Sie, wir wollen diese Eiswüste durchwandern, und forschen und suchen, weiter und immer weiter! ...«

Bei diesen Worten war Hector Servadac schon gegen zwanzig Schritt vorausgeeilt, um einen gangbaren Pfad durch dieses Labyrinth zu suchen.

Plötzlich hemmte er seine Schritte.

Sein Fuß stieß unter dem Schnee an einen offenbar bearbeiteten Stein. Seiner Form und Farbe nach konnte derselbe der neuen Bodenformation nicht angehören.

Kapitän Servadac hob ihn auf.

Es war ein Stück gelblicher Marmor, auf dem man noch einige eingravirte Buchstaben lesen konnte, unter anderem die Silbe: Vil ...

»Villa!« rief Kapitän Servadac, und ließ das Marmorstück fallen, das dabei in tausend Trümmer sprang.

Von dieser Villa, gewiß einer prächtigen Wohnung am Ende des Caps von Antibes, in der schönsten Lage der Welt, von diesem herrlichen Cap selbst, das wie ein grünender Zweig zwischen den Golf von Jouan und den von Nizza hinausragt, von dem entzückenden Panorama mit den Seealpen im Hintergrunde, das sich von den pittoresken Bergbildungen von Esterelle über Eza, Monaco, Roquebrunn, Menton und Vintimille bis nach dem italienischen Landvorsprung von Bordighere ausgedehnt – was war von dem Allen noch übrig? Nicht einmal jenes Stückchen Marmor, das eben in Staub zerfiel.

Kapitän Servadac konnte nicht mehr daran zweifeln, daß das Cap von Antibes im Innern dieses neuen Continentes verschwunden sei. Bewegungslos hing er seinen traurigen Gedanken nach.

[148] Da näherte sich ihm Graf Timascheff und sagte ernst.

»Kapitän, kennen Sie wohl die Devise der Familie Hope?

– Nein, Herr Graf, erwiderte Hector Servadac.

– Nun, sie lautet:

Orbe fracto, spes illaesa!

– Sie sagt das Gegentheil von dem verzweifelten Spruche Dante's. – Ja, Kapitän doch jetzt mag jener Wahlspruch der unsere sein!«

17. Capitel
Siebenzehntes Capitel.
Welches ganz treffend überschrieben werden könnte: Von demselben zu denselben.

Jetzt blieb den Seefahrern nichts weiter übrig, als nach der Insel Gourbi zurückzukehren. Dieses beschränkte Gebiet schien offenbar das einzige Stück des früheren Erdbodens zu sein, welches Diejenigen aufnehmen konnte die das neue Gestirn durch die Sonnenwelt führte.

»Nun, sagte sich Kapitän Servadac, es ist doch wenigstens ein Stück von Frankreich!«

Man besprach also die Rückkehr nach der Insel Gourbi, und schon sollte dieselbe beschlossen werden, als Lieutenant Prokop die Bemerkung machte, daß man die jetzigen Ufer des Mittelländischen Meeres noch nicht in ihrem ganzen Umfange aufgesucht habe.

»Wir haben im Norden, sagte er, von der früheren Stelle des Caps von Antibes noch den ganzen Küstenstrich bis zu jener schmalen Wasserstraße zu untersuchen, die nach dem Meerestheile westlich von Gibraltar führt, und im Süden die Ufer von dem Golf von Gabes ab bis zu der nämlichen Stelle. Im Süden sind wir zwar längs der alten afrikanischen Küste hin gesegelt, kennen aber die neue Grenze noch nicht. Wer weiß, ob uns nach Süden jeder Zugang abgeschlossen und ob nicht eine der fruchtbaren Oasen der Sahara der Vernichtung entgangen ist? Vielleicht haben Italien, Sicilien, [149] der Archipel der Balearen oder die großen Inseln des Mittelmeeres der Katastrophe widerstanden, und es scheint mir gerathen, uns darüber zunächst Aufklärung zu verschaffen.

– Deine Bemerkungen sind zutreffend, Prokop, sagte Graf Timascheff, es scheint auch mir unumgänglich nöthig, die hydrographische Aufnahme des neuen Meeresbassins zu vervollständigen.

– Ich füge mich gern, setzte Kapitän Servadac hinzu. Vor Allem müssen wir freilich wissen, ob es nothwendig ist, unsere Auskundschaftung vollkommen zu Ende zu führen, bevor wir nach der Insel Gourbi zurückkehren.

– Ich bin der Ansicht, bemerkte Lieutenant Prokop, wir benutzen die Dobryna noch so lange, als sie uns Dienste leisten kann.

– Was willst Du damit sagen? fragte Graf Timascheff.

– Nun, daß die Temperatur allmälig abnimmt, daß die Gallia eine Bahn einhält, die sie von der Sonne mehr und mehr entfernt, und daß sie bald einer ganz ungewöhnlichen Kälte ausgesetzt sein wird. Dann muß das Meer zufrieren und jede Beschiffung desselben unmöglich werden. Ihnen sind ja die Schwierigkeiten einer Reise über das Eis hinlänglich bekannt. Empfiehlt es sich also nicht, unsere Entdeckungsfahrt so lange fortzusetzen, als wir noch freies Wasser finden?

– Du hast recht, Prokop, bestätigte Graf Timascheff. Sehen wir zu, was von dem alten Continente übrig ist, und wurde irgend ein Stückchen von Europa verschont, schmachten irgendwo noch einige unglückliche Ueberlebende, denen wir Hilfe zu bringen vermöchten, so muß uns darüber Klarheit werden, bevor wir nach dem Ueberwinterungshafen zurückkehren.«

Gewiß war es ein Gefühl von Edelmuth, das Graf Timascheff unter diesen Verhältnissen leitete, vorzüglich an seines Gleichen zu denken. Doch wer weiß? dachte der nicht auch an sich selbst, der sich jetzt Anderer erinnerte? Zwischen den Personen, welche die Gallia durch den unendlichen Weltraum führte, konnte ja eine Verschiedenheit der Race oder der Nationalität nicht mehr Geltung haben. Sie bildeten ja die Repräsentanten ein und desselben Volkes, ja eigentlich derselben Familie, denn es mochten ihrer nur wenige Ueberlebende von der alten Erde noch vorhanden sein. Doch, wenn es deren noch gab, so mußten Alle zusammentreten, ihre Kräfte dem gemeinsamen[150] Wohle widmen und, sollte jede Hoffnung schwinden, einmal wieder nach der Erdkugel zu gelangen, auf dem neuen Gestirne eine neue Menschheit zu bilden und zu gründen suchen.

Am 25. Februar verließ die Goëlette den kleinen Schlupfhafen, in dem sie eine Zeit lang Zuflucht gesucht hatte. Längs des nördlichen Ufers dampfte sie mit voller Kraft nach Osten. Eine scharfe Brise machte die Kälte recht empfindlich. Das Thermometer hielt sich im Mittel auf zwei Grad unter Null. Glücklicher Weise erstarrt das Meer erst bei einer niedrigeren Temperatur als Süßwasser und bot also der Fahrt der Dobryna keinerlei Hindernisse. Immerhin mußte man jetzt eilen.

Die Nächte waren sehr schön. Wolken schienen sich in der nach und nach abgekühlten Atmosphäre nur schwerer bilden zu können. Am Himmel leuchteten die Sternbilder in unvergleichlicher Klarheit. Wie es Lieutenant Prokop als Seemann nur mit Bedauern sehen konnte, daß der Mond auf immer verschwunden war, so hätte sich dagegen ein Astronom, der die Räthsel der Sternenwelt zu lösen sucht, gewiß ob dieser ungetrübten Reinheit der Gallia-Nächte beglückwünscht.

Entbehrten nun die Insassen der Dobryna auch des Mondes, so wurde ihnen dafür gleichsam in Scheidemünze Ersatz. Zu jener Zeit fiel ein wahrhafter Hagel von Sternschnuppen – eine unendlich größere Anzahl, als die irdischen Beobachter während der August- und November-Perioden zu Gesicht bekommen. Wenn nach Olmsted's Berichten im Jahre 1833 am Horizonte von Boston 34,000 solcher Asteroïden auftauchten, so durfte man diese Zahl hier mindestens verzehnfachen.


Es war ein Stück gelblicher Marmor. (S. 148.)

Die Gallia durchschnitt offenbar den mit der Erdbahn nahezu concentrischen, aber außerhalb derselben gelegenen Ring dieser kleinen Weltkörper. Die leuchtenden Meteore schienen für das Auge des Beobachters etwa vom Algol, einem Sterne in dem Bilde des Perseus, auszugehen und entbrannten, in Folge ihrer ungeheuren Geschwindigkeit und der dadurch bedingten Reibung an der Atmosphäre der Gallia, in ganz außergewöhnlichem Glanze. Ein Bouquet von einer Million Raketen, das Meisterwerk eines Ruggieri, hätte mit der Pracht dieser Meteore noch immer keinen Vergleich ausgehalten. Die Küstenfelsen, deren metallische Oberfläche jene leuchtenden Körperchen wiederspiegelte, erschienen wie gebadet in Lichtglanz, und das Meer blendete die Augen, als fielen feurige Schlossen in dasselbe.

[151] Das Wunderschauspiel währte freilich nur vierundzwanzig Stunden, da sich die Gallia von der Sonne gar so schnell entfernte.

Am 26. Februar wurde die Dobryna in ihrem Wege nach Osten durch eine vorliegende Küste aufgehalten, welche sie etwa bis zur Südspitze des früheren Corsica von ihrem Course abzufallen nöthigte. Von Corsica selbst fand sich ebenfalls keine Spur. An der Stelle Bonifacios dehnte sich nur ein [152] ödes Meer aus. Am 27. aber wurde im Osten, einige Meilen unter dem Winde der Goëlette, ein Inselchen signalisirt, das man, wenn es seine Entstehung nicht einem ganz neuerlichen Processe verdankte, seiner Lage nach für die Nordspitze Sardiniens halten konnte.


Ein wahrhafter Hagel von Sternschnuppen. (S. 151.)

Die Dobryna dampfte auf das felsige Eiland zu. Ein Boot wurde herabgelassen. Bald schifften sich Graf Timascheff und Kapitän Servadac [153] an einer kleinen, grünen, etwa ein Hectar umfassenden Fläche aus. Da und dort erhoben sich einige Myrthen- und Mastixbäume, über welche noch einzelne alte Olivenbäume hinausragten. Uebrigens schien sie kein lebendes Wesen zu bergen.

Schon wollten die beiden Männer das Eiland verlassen, als die Stimme eines Thieres an ihr Ohr schlug und sie eine zwischen den Steinen umherkletternde Ziege bemerkten.

Es war das einzige Exemplar jener Hausziegen, welche mit Recht »des Armen Kühe« genannt werden; ein junges Thier, mit kleinen, regelmäßig gebogenen Hörnern, das, weit entfernt vor den Besuchern zu entfliehen, ihnen im Gegentheil entgegenlief, und durch seine Sprünge und sein Meckern dieselben einzuladen schien, ihm zu folgen.

»Diese Ziege lebt auf dem Eilande nicht allein! rief Hector Servadac. Wir wollen ihr nachgehen!«

Es geschah. Wenige hundert Schritte weiterhin gelangten Kapitän Servadac und Graf Timascheff zu einer Art Höhle, welche einige Mastixbäume fast ganz verdeckten.

Dort guckte ein Kind von sieben bis acht Jahren mit großen schwarzen Augen, das Haupt umschattet von reichem, nußbraunem Haar und reizend wie die lieblichen Gestalten von Murillo's Pinsel auf den Himmelfahrtsbildern, ohne zu große Scheu zu zeigen, durch die Zweige.

Nachdem es die beiden Wanderer wenige Augenblicke betrachtet hatte, wobei deren Erscheinung ihm mehr Erstaunen als Schrecken einzuflößen schien, erhob sich das kleine Mädchen und lief mit vorgestreckten Händen freundlich auf sie zu.

»Ihr seid nicht bös? sagte sie mit weicher, ebenso wohllautender Stimme, wie die italienische Mundart, welche sie sprach. Ihr werdet mir nichts thun? Ich brauche mich nicht zu fürchten?

– Nein, mein Kind, erwiderte der Graf auf italienisch, wir sind und wollen Dir nur Freunde sein!«

Er musterte einige Augenblicke das nette Mädchen.

»Wie heißt Du, Schätzchen? fragte er.

– Nina.

– Kannst Du uns sagen, wo wir sind, Nina?

[154] – Auf Madalena, antwortete die Kleine. Hier befand ich mich, als sich Alles wie mit einem Schlage veränderte.«

Madalena war eine Insel in der Nähe von Caprera, im Norden Sardiniens, das bei der grenzenlosen Zerstörung untergegangen war.

Einige Fragen, auf welche Nina sehr verständig antwortete, belehrten den Grafen Timascheff, daß jene auf der Insel allein sei, keine Eltern habe, und daß sie eben für einen Grundbesitzer hier eine Heerde Ziegen weidete, als im Augenblick der Katastrophe Alles um sie her verschwand, bis auf das kleine Fleckchen Erde, auf dem sie und Marzy, ihr Liebling, gerettet zurückblieben; daß sie sich zuerst gewaltig gefürchtet, dann aber beruhigt und Gott gedankt habe, daß sich die Erde nicht mehr bewegte. Darauf hatte sie sich, so gut es anging, mit ihrer Marzy einzurichten gesucht. Glücklicher Weise besaß sie einige Lebensmittel, welche bis jetzt ausgereicht hatten, während sie Tag für Tag darauf hoffte, daß ein Schiff kommen würde, sie abzuholen. Jetzt wünschte sie also nur, freilich nicht ohne ihre Ziege, mitgehen zu können, um so bald als möglich nach der Meierei, zu der sie gehörte, zurückzukehren.

»Nun, da hätten wir ja einen recht hübschen Bewohner der Gallia mehr!« sagte Kapitän Servadac, der das kleine Mädchen freundlich umarmte.

Eine halbe Stunde später waren Nina und Marzy an Bord der Goëlette untergebracht, wo Jeder, wie man sich denken kann, für den Empfang sein Bestes that. Man sah das Auffinden dieses Kindes für eine günstige Vorbedeutung an. Die im Allgemeinen sehr frommen und abergläubischen russischen Matrosen betrachteten sie wie eine Art guten Engel, und mehr als Einer gab sich Mühe, zu sehen, ob sie nicht auch Flügel habe. Vom ersten Tage ab nannten sie unter sich das Kind nur »die kleine Madonna«.

Binnen wenigen Stunden hatte die Dobryna Madalena aus dem Gesichte verloren und traf bei südöstlichem Course wieder auf das neue Ufer, welches etwa fünfzig Lieues (= 30 Meilen) vor der früheren italienischen Küste emporstieg. An Stelle der Halbinsel, von der sich keine Spur mehr fand, war also offenbar ein neuer Continent getreten. Unter dem Breitengrade von Rom schnitt indeß ein tiefer Golf bis jenseit der Stelle ein, welche die ewige Stadt etwa einnahm. Weiterhin berührte die neue Küste das frühere Meer erst in der Höhe von Calabrien wieder und verlief dann bis unter das Ende des früheren Landes. Aber nichts zeigte sich mehr von dem Leuchthurme zu Messina, nichts von Sicilien, nicht einmal mehr [155] der enorme Gipfel des Aetna, der sich früher doch 3350 Meter über das Meer erhob.

Sechzig Lieues (= 36 Meilen) südlicher fand die Dobryna jene Meerenge wieder, welche ihr damals während des Sturmes zur Rettung wurde und deren östliche Mündung sich nach dem Meere von Gibraltar zu öffnete.

Von hier aus bis zu dem Engpaß von Gabes hatten die Seefahrer die neue Begrenzung des Mittelmeeres schon aufgenommen. Da Lieutenant Prokop Veranlassung hatte, mit seiner Zeit zu geizen, durchschnitt er das Meer jetzt in gerader Linie bis zu dem Breitengrade, wo er auf die noch nicht besuchten Küsten des neuen Continentes stieß.

Man schrieb jetzt den 3. März.

Während das neue Ufer hier ungefähr Tunis begrenzte, verlief es weiterhin etwa in der Höhe von Constantine quer durch die Oase von Ziban. Dann erhob es sich im schroffen Winkel wieder bis zum zweiunddreißigsten Grade und bildete daselbst einen unregelmäßig aus den enormen mineralischen Massen ausgeschnittenen Meerbusen. Noch weiter erstreckte es sich in der Ausdehnung von nahezu dreißig Meilen durch die frühere algierische Sahara und näherte sich dabei im Süden der Insel Gourbi mit einer Spitze, welche für die natürliche Grenze Marokkos anzusehen gewesen wäre; wenn Marokko überhaupt noch vorhanden war.

Hier mußte man längs dieser Spitze nach Norden hinausfahren, um dieselbe zu doubliren. Auf dem Wege dahin aber wurden die Reisenden Zeugen einer vulkanischen Erscheinung, deren Vorkommen auf der Gallia sie hiermit zum ersten Male constatirten.

Ein feuerspeiender Berg bezeichnete jene Landspitze und erhob sich auf etwa dreitausend Fuß. Als erloschen war er nicht zu betrachten, denn über seinem Kopfe wälzten sich noch Rauchwolken dahin, wenn auch keine Flammen aufzulodern schienen.

»Die Gallia besitzt also auch ihr inneres Feuer! rief Kapitän Servadac, als der Vulkan durch die Schiffswache der Dobryna signalisirt wurde.

– Und warum nicht, Kapitän? antwortete Graf Timascheff, da die Gallia nichts als ein Bruchstück der alten Erdkugel darstellt, warum sollte sie nicht auch einen Theil von deren Centralfeuer mit sich fortgeführt haben, [156] wie sie einen Theil der Atmosphäre, der Meere und Continente derselben entführte?

– Leider nur einen sehr kleinen Theil, bemerkte Kapitän Servadac, doch hoffentlich einen hinreichend großen für die Bedürfnisse ihrer thatsächlichen Bevölkerung.

– Da fällt mir ein, fuhr Graf Timascheff fort, daß wir bei unserer Rundfahrt ja auch wieder nach Gibraltar kommen könnten, halten Sie es für rathsam, jene Engländer von dem neuen Zustand der Dinge und von den nothwendigen Folgen desselben zu unterrichten?

– Wozu? erwiderte Kapitän Servadac. Diese Herren wissen, wo die Insel Gourbi liegt und können dahin kommen, wenn es ihnen beliebt. Sie leiden ja keinen Mangel, sondern haben überreichliche Hilfsmittel, welche sie für lange Zeit sicherstellen. Höchstens zweiundsiebzig Meilen trennen ihr Eiland von unserer Insel, und wenn das Meer erst zugefroren ist, können sie zu uns gelangen, sobald sie nur wollen. Wir haben keine Veranlassung, ihren Empfang so sehr zu loben, und wenn sie hierher kommen, werden wir uns rächen ...

– Indem wir sie besser aufnehmen, als jene uns, hoffe ich, bemerkte Graf Timascheff.

– Ja, Sie haben recht, Herr Graf, antwortete Kapitän Servadac, denn in der That, hier giebt es jetzt weder Franzosen, noch Engländer oder Russen ...

– Oho, fiel ihm Graf Timascheff in's Wort, Engländer sind und bleiben in jedem Falle Engländer!

– Freilich, versetzte Hector Servadac, darin liegt gleichzeitig ihr Vorzug und ihr Fehler!«

In dieser Weise beschloß man sich also bezüglich der kleinen Besatzung von Gibraltar zu verhalten. Auch für den Fall, daß man sich dahin entschieden hätte, wiederholt eine Verbindung mit diesen Engländern anzuknüpfen, so wäre es vorläufig nicht einmal möglich gewesen, denn die Dobryna hätte nicht, ohne ernste Gefahr zu laufen, in die Nähe jenes Eilandes zurückkehren können.

In der That sank die Temperatur mehr und mehr. Nicht ohne Unruhe überzeugte sich Lieutenant Prokop, daß das Meer rings um die Goëlette bald werde zum Stehen kommen. Dabei entleerten sich bei dieser stets unter Dampf [157] fortgesetzten Reise die Kohlenbehälter mehr und mehr, so daß ein Mangel an Heizmaterial einzutreten drohte, wenn man dasselbe nicht einigermaßen schonte. Der Lieutenant entwickelte diese beiden gewiß triftigen Gründe, und so beschloß man unter Erwägung der zwingenden Umstände die Rundfahrt mit Erreichung jener vulkanischen Landspitze abzubrechen. Jenseit derselben fiel die Küste wieder nach Süden zu ab und verlor sich in einem unübersehbaren Meere. Es wäre eine Unklugheit gewesen, die Dobryna jetzt, wo es ihr an Brennmaterial zu fehlen begann, in einen Ocean zu führen, der jeden Augenblick fest werden konnte, was unzweifelhaft die verderblichsten Folgen haben mußte. Außerdem durfte man voraussetzen, in diesem ganzen Theile der Gallia, welcher der früheren afrikanischen Wüste entsprach, kein weiteres Land, als das bis jetzt bekannte, anzutreffen – einen Boden, dem Wasser und Humus vollständig fehlten und den keine Menschenarbeit jemals ertragfähig zu machen im Stande wäre. Es konnte also keinen Schaden bringen, die Nachforschungen für jetzt einzustellen, um sie später unter günstigeren Verhältnissen wieder aufzunehmen.

An diesem Tage, am 5. März, beschloß man also, daß die Dobryna nur zur Insel Gourbi, von der sie höchstens zwanzig Lieues (= 12 Meilen) trennten, zurückdampfen sollte.

»Mein armer Ben-Zouf! sagte Kapitän Servadac, der während dieser fünfwöchentlichen Reise häufig seines Gefährten gedacht hatte. Wenn ihm nur kein Unglück zugestoßen ist!«

Die kurze Ueberfahrt von der vulkanischen Landspitze bis zur Insel Gourbi wurde nur durch einen einzigen Zwischenfall unterbrochen. Man fand nämlich im Meere eine zweite Nachricht jenes geheimnißvollen Gelehrten, dem es ohne Zweifel gelungen war, die Elemente der Gallia-Bahn zu berechnen, und der ihrem Laufe Tag für Tag folgte.

Bei Sonnenaufgang entdeckte die Schiffswache einen Gegenstand im Wasser, den man bald auffischte. Dieses Mal ersetzte eine Conservebüchse die traditionelle Flasche, aber auch heute verschloß ein Siegel mit demselben Abdruck hermetisch die Oeffnung des Gefäßes.

»Von demselben an dieselben!« sagte Kapitän Servadac.

Das Gefäß ward sorgfältig geöffnet und man fand in ihm ein Document, dessen Inhalt lautete wie folgt:


[158] »Gallia(?)
Ab sole, am 1. März, Dist.: 87,000.000 L.!
(46,800.000 M.)
Durchlaufener Weg von Februar bis März:
59,000.000 L.! (34.500,000 M.)
Va bene! All right! Nil desperandum!

Entzückt!«


»Weder eine Adresse, noch sonst eine nähere Bezeichnung! rief Kapitän Servadac, man möchte wahrlich hierbei an eine fortgesetzte Mystification denken!

– Dann müßte diese Mystification freilich in sehr vielen Exemplaren ausgeführt werden, bemerkte Graf Timascheff, denn da wir schon ein zweites Mal ein solches Document auffanden, müßte dessen Verfasser seine Büchsen und Etuis über das Meer geradezu ausgesäet haben.

– Wer mag aber dieser hirnverbrannte Gelehrte sein, der nicht einmal daran denkt, seinen Aufenthalt anzugeben?

– Seinen Aufenthalt? Der ist im Grunde des Astrologenbrunnens! antwortete Graf Timascheff mit einer Anspielung auf die bekannte Fabel La Fontaine's.

– Das ist wohl möglich; doch wo ist dieser Brunnen?«

Diese Frage des Kapitän Servadac blieb vorläufig freilich unbeantwortet. Weilte der Urheber jenes Documentes auf irgend einem verlorenen Eilande, das der Dobryna nicht in Sicht gekommen war? Reiste er vielleicht an Bord eines Schiffes ebenso auf dem neuen Mittelmeer umher, wie die Goëlette dasselbe befahren hatte? – Niemand vermochte das zu sagen.

»Jedenfalls, äußerte der Lieutenant Prokop, wenn das Document ernsthaft gemeint ist – und allem Anscheine nach muß man das glauben – können wir daraus zwei wichtige Schlußfolgerungen ziehen. Die erste ist die, daß die Bewegungsgeschwindigkeit der Goëlette sich um dreiundzwanzig Millionen Lieues (= 13 4/5 Millionen Meilen) vermindert hat, da der vom Januar zum Februar durchlaufene Weg zweiundachtzig Millionen Lieues (= 49 1/5 Millionen Meilen) betrug, während die Bahnlänge vom Februar bis März nur noch neunundfünfzig Millionen Lieues erreicht.


Nina und ihre Ziege Marzy. (S. 155.)

Die zweite aber ist die, daß die Entfernung der Gallia von der Sonne, welche sich am 15. Februar auf neunundfünfzig Millionen Lieues (= 34 1/2 Millionen Meilen) [159] belief, am 1. März bis auf achtundsiebzig Millionen Lieues (= 46 4/5 Millionen Meilen) gestiegen, also um neunzehn Millionen Lieues (= 10 1/2 Millionen Meilen) gewachsen ist. Je weiter die Gallia sich demnach von der Sonne entfernt, desto mehr vermindert sich die Schnelligkeit ihrer Bewegung, was mit den Gesetzen der Himmelsmechanik vollständig übereinstimmt.

– Und daraus schließest Du, Prokop? fragte Graf Timascheff.


Sie unterhielten ein wohlgezieltes Gewehrfeuer. (S. 167.)

– Daß wir, wie ich schon früher aussprach, eine el [160] liptische Bahn verfolgen, deren Excentricität zu berechnen uns vor der Hand freilich unmöglich ist.

– Außerdem fällt mir auf, fuhr Graf Timascheff fort, daß der Urheber jener Schriftstücke sich wiederum des Namens ›Gallia‹ bedient. Ich schlage also vor, denselben definitiv für das neue Gestirn, welches uns trägt, anzunehmen und auch dieses Meer das ›Gallia-Meer‹ zu nennen.

[161] – Angenommen, erwiderte Lieutenant Prokop, ich werde es unter diesem Namen eintragen, sobald ich unsere neue Seekarte entwerfe.

– Ich für meinen Theil, ließ sich endlich Kapitän Servadac vernehmen, ich möchte eine dritte Bemerkung machen; mir scheint, jener wackere Mann ist mehr und mehr von den jetzigen Verhältnissen entzückt, und was auch kommen möge, immer und ewig werde ich mit ihm ausrufen: Nil desperandum!«

Einige Stunden später meldete die Schiffswache, daß die Insel Gourbi in Sicht sei.

18. Capitel
Achtzehntes Capitel.
Welches von dem Empfange des General-Gouverneurs der Insel Gourbi und den Vorkommnissen während seiner Abwesenheit handelt.

Die Goëlette hatte die Insel vom 31. Januar verlassen und kehrte zu ihr zurück am 5. März, nach einer Reise von fünfunddreißig Tagen – da das Erdenjahr ein Schaltjahr war. Diese fünfunddreißig Tage entsprachen siebenzig Gallia-Tagen, weil die Sonne während jenes Zeitraumes den Meridian der Insel ebenso viele Male passirte.

Hector Servadac fühlte sich innerlich erregt, als er sich diesem letzten, von der allgemeinen Zerstörung verschonten Restchen des algierischen Bodens näherte. Wiederholt hatte er sich während dieser langen Abwesenheit gefragt, ob er es wohl noch an derselben Stelle sammt dem treuen Ben-Zouf wiederfinden werde. Diese Zweifel erschienen nicht ungereimt, wenn man bedenkt, welch' eingreifende Veränderung die Oberfläche der Gallia durch jene unerhörten kosmischen Processe erlitten hatte.

Die Befürchtungen des Stabsofficiers sollten sich zum Glück aber nicht erfüllen. Die Insel Gourbi war vorhanden; ja – welch' eigenthümliche Erscheinung – noch vor der Ankunft im Hafen des Cheliff vermochte Hector Servadac eine sonderbare Wolke wahrzunehmen, welche nur etwa hundert [162] Fuß über dem Boden seines Gebietes schwebte. Als die Goëlette nur noch wenige Kabellängen von der Küste entfernt war, zeigte sich die erwähnte Wolke als eine sehr dichte Masse, welche automatisch in der Atmosphäre auf-und niederwogte. Kapitän Servadac erkannte auch sehr bald, daß es sich hier nicht um eine Anhäufung zur Bläschenform condensirter Dunstmassen, sondern um eine ungeheure Schaar von Vögeln handelte, welche sich, ähnlich den Häringszügen im Meere, dicht aneinander gedrängt hielten. Aus der Mitte dieser weit hingestreckten Wolke tönte ein betäubendes Geschrei, dem von unten her häufige Flintenschüsse antworteten.

Die Dobryna signalisirte ihre Ankunft durch einen Kanonenschuß und ging in dem kleinen Hafen des Cheliff vor Anker.

In diesem Augenblick lief ein Mann mit dem Gewehre in der Hand herbei und sprang auf die Felsen am Ufer.

Es war Ben-Zouf.

Erst blieb er unbeweglich, die Augen auf fünfzehn Schritt Entfernung fixirt, »soweit das die Organisation des Körpers zuläßt«, wie die Instructions-Unterofficiere sagen, mit aller gebührenden Ehrerbietung stehen. Der brave Soldat vermochte sich aber doch nicht ganz zu bezwingen, sondern eilte seinem Kapitän, der eben das Land betrat, entgegen und küßte ihm zärtlich die Hände.

Statt der sonst gewöhnlichen Bewillkommnungen, wie: »Welch' Glück, Sie wieder zu sehen ! – Ich wurde schon recht unruhig!« oder »O, wie lange blieben Sie weg!« u. dergl. rief Ben-Zouf vielmehr:

»O, diese Schurken! Diese Banditen! O, das ist gut, daß Sie kommen, mein Kapitän! Diese Diebe! Diese Piraten! Diese elenden Beduinen!«

»Aber was ist Dir denn, Ben-Zouf? fragte Hector Servadac, den diese grimmigen Ausrufe zu dem Glauben verleiteten, es sei eine Bande Araber in sein Gebiet eingebrochen.

– Nun, diese Satansvögel da oben! antwortete Ben-Zouf. Seit einem Monat schon verschwende ich mein Pulver gegen diese Räuber. Je mehr ich davon todt schieße, desto mehr kommen wieder. Ich sage Ihnen, wenn wir diese geschnäbelten und gefiederten Kabylen gewähren ließen, bald fänden wir kein Getreidekörnchen mehr auf der Insel!«

Graf Timascheff und Lieutenant Prokop, welche ebenfalls herzukamen, konnten mit Kapitän Servadac bestätigen, daß Ben-Zouf keineswegs übertrieb.

[163] Die reiche, während der großen Hitze im Januar, als die Gallia durch ihr Perihel ging, schnell gereifte Ernte wurde jetzt vielen Tausenden von Vögeln zur Beute. Nur ein kleines Ueberbleibsel derselben war dem gefräßigen Geflügel entgangen. Eigentlich sollte man freilich sagen, ein Ueberbleibsel dessen, was von der Ernte noch auf dem Halme stand, denn Ben-Zouf hatte während der Abwesenheit der Dobryna nicht gefeiert, wofür die zahlreichen Getreidefeime zeugten, welche da und dort auf den schon kahlen Feldern standen.

Die Schaar von Vögeln, welche den Zorn des Kapitänsburschen so hell auflodern machte, bestand aus allen denen, die die Gallia bei ihrer Losreißung von der Erde zufällig entführte. Natürlich hatten jene auf der Insel Gourbi Zuflucht gesucht, wo sie allein Felder, Wiesen und Süßwasser fanden – ein Beweis, daß kein anderer Theil des Asteroïdes ihnen Nahrung zu liefern vermochte. Freilich suchten sie jetzt auf Kosten der Inselbewohner zu leben, ein Unterfangen, dem man mit allen erdenklichen Mitteln entgegentreten mußte.

»Wir werden ihnen die Wege weisen, sagte Hector Servadac.

– Das hoffe ich, mein Kapitän, erwiderte Ben-Zouf. Doch sagen Sie mir, was ist aus unseren afrikanischen Kameraden geworden?

– Unsere afrikanischen Kameraden sind noch immer in Afrika, antwortete Hector Servadac.

– Die wackeren Soldaten!

– Gewiß; nur Afrika ist leider nicht mehr vorhanden, fügte Kapitän Servadac hinzu.

– Kein Afrika mehrt – Aber Frankreich? ...

– Frankreich! O, das liegt jetzt weit von uns, Ben-Zouf.

– Und mein Montmartre?«

Diese Frage lag ihm vorzüglich am Herzen. Mit kurzen Worten erklärte Kapitän Servadac seiner Ordonnanz, was geschehen sei, und daß der Montmartre und mit ihm Paris, mit Paris aber ganz Frankreich, mit diesem Europa und mit Europa überhaupt die ganze Erdkugel jetzt achtzig Millionen Lieues von der Gallia entfernt lägen, die Hoffnung auf eine Rückkehr dahin also nahezu aufzugeben sei.

»Ei was da! rief die Ordonnanz. Das wäre noch schöner! Laurent, genannt Ben-Zouf, vom Montmartre, und sollte den Montmartre nicht [164] wiedersehen! Dummheiten, mein Kapitän, bei aller Hochachtung für Sie, das sind Dummheiten!«

Dazu schüttelte Ben-Zouf mit dem Kopfe, wie ein Mann, den keine Macht der Erde eines Anderen zu belehren im Stande wäre.

»Recht so, erwiderte ihm Kapitän Servadac. Hoffe Du, so viel es Dir beliebt. Man soll niemals verzweifeln! Das ist offenbar auch der Wahlspruch unseres anonymen Correspondenten. Doch denken wir nun auch daran, uns auf der Insel Gourbi häuslich einzurichten, als sollten wir für immer hier bleiben.«

So im Gespräche hatte sich Hector Servadac, der dem Grafen Timascheff und dem Lieutenant Prokop vorausging, nach dem durch Ben-Zouf's Sorgfalt wieder in Stand gesetzten Gourbi begeben. Auch das Wachthaus war wieder hergestellt und Galette und Zephyr mit reichlicher Streu versorgt. Hier in dieser bescheidenen Hütte bot Hector Servadac seinen Gästen Unterkommen an, ebenso wie der kleinen, von ihrer Ziege begleiteten Nina. Unterwegs noch ergötzte sich Ben-Zouf an zwei herzhaften Küssen Nina's und Marzy's, welche ihm diese beiden zutraulichen Wesen aus gutem Herzen gegeben hatten.

Nun wurde im Gourbi sofort eine Berathung abgehalten, was wohl zunächst vorzunehmen sei.

Als brennendste Frage trat dabei vor allen die nach der zukünftigen Wohnung hervor. Wie sollte man sich auf der Insel einrichten, um der furchtbaren Kälte zu trotzen, welche die Gallia auf ihrer interplanetarischen Fahrt jedenfalls heimsuchen würde, und deren Dauer man gar nicht abzuschätzen wußte? Diese Zeitdauer hing offenbar von der Excentricität der von dem Asteroïden durchlaufenen Bahn ab, und es konnten vielleicht viele Jahre vergehen, bevor derselbe wieder in seine Sonnennähe zurückkehrte. Dazu besaß man keineswegs reichliche Vorräthe an Heizmaterial, Kohle z.B. gab es gar nicht, Bäume nur wenige, wohl aber die betrübende Aussicht, daß während der Periode der gewiß excessiven Kälte gar nichts wachsen werde. Was war zu thun? Wie konnte man sich vor diesem drohenden Verhängniß am besten schützen? Ein Ausweg mußte, und zwar in kürzester Frist, gefunden werden.

Die Ernährungsfrage der Kolonie bot weniger unmittelbare Schwierigkeiten; auch bezüglich des nothwendigen Getränkes war gewiß nichts zu [165] fürchten. Ueber die Ebene rannen ja mehrere Bäche, deren Wasser verschiedene Cisternen füllte. Durch andauernde Kälte mußte auch das Meer der Gallia gefrieren und trinkbares Wasser in Ueberfluß liefern, da Eis ja bekanntlich kein Körnchen Salz mehr enthält.

Die Nahrung im strengsten Sinne des Wortes, d.h. ein Vorrath an den zur Erhaltung des Lebens nothwendigen stickstoffhaltigen Materialien war für lange Zeit gesichert. Einestheils lieferten die Cerealien, welche nur der Einbringung harrten, andererseits die auf der Insel zerstreuten Heerden einen hinreichenden Vorrath. Während der Kälteperiode mußte das Land natürlich unfruchtbar bleiben und konnte an eine weitere Futterernte zur Ernährung der Hausthiere nicht gedacht werden. Dieser Umstand nöthigte zu gewissen Maßregeln, und wenn es gelang, die Dauer des Umlaufs der Gallia um das Centrum der Attraction festzustellen, so wollte man darnach die Zahl der während der Winterperiode zu haltenden Thiere berechnen.

Die eigentliche Bevölkerung der Gallia aber bestand, abgesehen von den dreizehn Engländern in Gibraltar, aus acht Russen, zwei Franzosen und einer kleinen Italienerin. Elf Bewohner hatte die Insel Gourbi also zu ernähren.

Nach Feststellung dieser Zahl durch Hector Servadac ließ sich aber plötzlich Ben-Zouf noch vernehmen.

»Nein, mein Kapitän, rief er, es thut mir leid, Ihnen widersprechen zu müssen. Ihre Rechnung stimmt noch nicht.

– Wieso?

– Ich muß Ihnen melden, daß wir dreiundzwanzig Einwohner sind!

– Hier auf der Insel?

– Ja wohl.

– Erkläre Dich näher, Ben-Zouf.

– Bis jetzt fand ich noch keine Gelegenheit, meinen Rapport abzustatten. Während Ihrer Abwesenheit hab' ich Tischgäste bekommen.

– Tischgäste?

– Freilich ... Doch, zur Sache, fuhr Ben-Zouf fort. Sehen Sie sich einmal um, und auch Sie, meine Herren Russen. Die Erntearbeiten sind gewiß schon weit vorgeschritten und dazu hätten doch meine zwei Arme beim besten Willen nicht genügt.

– Das sehe ich ein, bemerkte Lieutenant Prokop.

[166] – Kommen Sie Alle mit. Es ist nicht weit von hier. Nur zwei Kilometer. Doch die Gewehre wollen wir mitnehmen.

– Um uns zu vertheidigen? ... fragte Kapitän Servadac.

– Nicht gegen Menschen, beruhigte ihn Ben-Zouf, aber gegen die verwünschten Vögel.«

Neugierig erregt, folgten Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop der Ordonnanz, während sie die kleine Nina nebst ihrer Ziege im Gourbi zurückließen.

Unterwegs unterhielten Kapitän Servadac und seine Begleiter ein wohlgezieltes Gewehrfeuer gegen die Wolke von Vögeln, welche über ihnen hin und her schwebte. Letztere bestand aus Abertausenden wilder und langgeschwänzter Enten, Wasserschnepfen, Lerchen, Krähen, Schwalben und anderen, zu denen sich die Seevögel, wie Trauerenten, Sturmvögel, Möven, und von Federwild Wachteln, Rebhühner, Schnepfen und andere mischten. Kein Schuß ging fehl, zu Dutzenden fielen die Getroffenen. Es war keine Jagd, vielmehr die Ausrottung einer frechen Räuberbande.

Statt der nördlichen Küste der Insel zu folgen, schlug Ben-Zouf einen Weg quer über die Ebene ein.


Der Jude eilte ganz außer sich sofort auf den Stabsofficier zu. (S. 171.)

Nach zehn Minuten schon hatten, Dank ihres verminderten specifischen Gewichtes, Kapitän Servadac und seine Begleiter die zwei Kilometer, von denen Ben-Zouf vorher sprach, zurückgelegt, und erreichten damit ein umfängliches Dickicht von Sykomoren und Eukalypten, welches sich anmuthig längs des Fußes eines kleinen Hügels hin erstreckte. Hier machten sie Halt.

»O, diese Schurken! Diese Banditen! Diese Beduinen! rief Ben-Zouf den Boden stampfend.

– Meinst Du damit immer wieder die Vögel? fragte Kapitän Servadac.

– Ei nein, mein Kapitän! Ich rede von diesen vermaledeiten Faullenzern hier, die schon wieder ihre Arbeit im Stiche gelassen haben! Da, sehen Sie nur!«

Ben-Zouf wies bei diesen Worten auf verschiedene Sicheln, Sensen, Rechen und andere Werkzeuge und Geräthe, welche auf der Erde umher lagen.

»Nun, zum Kuckuck, Meister Ben-Zouf, wirst Du Dich bald erklären, um was es sich hier handelt? fragte Kapitän Servadac, dem allmälig die Geduld ausging.

[167] – Still, mein Kapitän, hören Sie, hören Sie! erwiderte Ben-Zouf. Nein, ich täuschte mich nicht.«

Bei schärferem Aufhorchen konnten Hector Servadac und seine beiden Gefährten eine singende Stimme, eine schnarrende Guitarre und tactmäßig klappernde Castagnetten hören.

»Spanier! rief Kapitän Servadac.

[168] – Und das ist noch gar nichts, sagte Ben-Zouf, die Leute schlagen ihre Castagnetten noch vor der Mündung einer Kanone!

– Aber was bedeutet das Alles? ...

– Hören Sie erst, jetzt kommt der Alte an die Reihe.«


Isaak Hakhabut.

Eine audere Stimme, welche nicht sang, ließ sich mit heftigen Vorwürfen [169] Kapitän Servadac verstand als geborner Gascogner hinlänglich spanisch. Nach einem Verse, welcher wie folgt:


Tu sandungo y cigarro,
Y una cana de Jerez,
Mi jamelgo y un trabuco,
Que mas gloria puede haver. 1

lautete, hörte man die andere scharfklingende Stimme wiederholt rufen:

»Mein Geld! mein Geld! Werd' ich endlich erhalten mein Geld, das Ihr mir schuldig seid, Ihr erbärmlichen Majos!«

Darauf erklang das Lied weiter:


Para Alcarrazas, Chiclana,
Para trigo, Trebujena,
Y para ninus bonitas,
San Lucar de Barrameda. 2

»Ja, Ihr sollt mir bezahlen meine Forderung, Ihr Spitzbuben! erscholl wieder jene Stimme unter dem Geräusch der Castagnetten. Ihr werdet sie mir zahlen bei dem Gotte Abraham's, Isaak's und Jakob's!

– Ei zum Teufel, das ist ja ein Jude! rief Kapitän Servadac.

– Ja, und was das Schlimmste ist, ein deutscher Jude.«

Gerade als die beiden Franzosen und die zwei Russen aber sich in das Baumdickicht begeben wollten, hielt sie ein merkwürdiges Schauspiel an dessen Rande zurück. Die Spanier begannen eben einen echt nationalen Fandango. Entsprechend ihrer Gewichtsabnahme, wie der aller auf der Gallia befindlichen Gegenstände, sprangen sie dabei wohl dreißig bis vierzig Fuß in die Höhe und wurden somit oberhalb der Bäume sichtbar, was einen unbeschreiblich komischen Anblick gewährte. Es waren ihrer drei muskulöse Majos, die einen alten Mann mit sich emporhoben, der sich sehr wider Willen in solch ungewohnte Höhe versetzt zu sehen schien. Man sah ihn erscheinen und verschwinden, wie es einst dem Sancho Pansa erging, als ihn die lustigen Tuchmacher von Segovia im Uebermuthe prellten.

[170] Hector Servadac, Graf Timascheff, Prokop und Ben-Zouf betraten neugierig das Gehölz und gelangten bald nach einer kleinen Lichtung. Dort wanden sich ein Guitarrespieler und ein Castagnettenschläger, welche am Boden lagen, vor Lachen und feuerten die Tänzer immer mehr und mehr an.

Beim Anblick Kapitän Servadac's und seiner Begleiter verstummten die Musiker plötzlich, und die Tänzer fielen, ihr unglückliches Opfer in der Mitte, sanft zur Erde nieder.

Athemlos und ganz außer sich eilte der Jude sofort auf den Stabsofficier zu und redete ihn jetzt französisch, doch mit sehr deutschthümelndem Dialect an.

»Ah, Herr General-Gouverneur! rief er, diese Schurken wollen mir stehlen mein Hab' und Gut. Aber beim ewigen Gott, Sie werden mir helfen zu meinem Rechte!«

Verwundert sah Kapitän Servadac auf Ben-Zouf, als wolle er diesen fragen, wie er zu dieser ehrenvollen Titulatur komme, und Letzterer schien durch eine bezeichnende Kopfbewegung zu antworten:

»Lassen Sie das nur gut sein, mein Kapitän; Sie sind letzt hier General-Gouverneur. Ich habe das einmal so arrangirt!«

Kapitän Servadac bedeutete dem Juden, zu schweigen, und dieser neigte ehrfurchtsvoll den Kopf und kreuzte die Arme über der Brust.

Jetzt konnte man ihn nach Belieben mustern.

Es war ein Mann von fünfzig Jahren, den man leicht für sechzig halten konnte. Klein und hager von Gestalt, mit lebhaften, aber falschen Augen, gebogener Nase, gelblich-rothem Barte, struppigem Haar, großen Füßen, langen, krallenartigen Händen, zeigte er ganz den Typus des deutschen Juden, der sich von allen anderen leicht unterscheidet. Das war der Wucherer mit dem Katzenbuckel und kalten Herzen, der Münzenkipper, der zusammenscharrende Geizhals von oben bis unten.

Silber hatte auf diesen Menschen ebensoviel Anziehungskraft wie der Magnet auf Eisen, und wenn es diesem Shylock gelungen wäre, sich auf die bekannte Weise von seinem Schuldner bezahlt zu machen, so hätte er dessen Fleisch gewiß noch einmal weiter verschachert. Obwohl von Geburt Israelit, spielte er in mohammedanischen Ländern den Mohammedaner und wäre Heide geworden, wenn ihm das »mehr abgeworfen« hätte.

[171] Dieser Jude nannte sich Isaak Hakhabut und stammte aus Köln, war also erst Preuße und in zweiter Linie Deutscher. Nach seiner Mittheilung gegen Kapitän Servadac befand er sich das ganze Jahr über in Handelsgeschäften auf der Reise, wobei er Küstenhandel längs der Umgebungen des Mittelmeeres betrieb. Sein Magazin – eine Tartane von zweihundert Tonnen, ein wahrhafter fliegender Krammladen – versorgte die Küstenorte mit tausenderlei verschiedenen Artikeln, von den Streichhölzchen an bis zu den bunten Bilderbogen aus Frankfurt oder Epinal.

Isaak Hakhabut hatte keinen anderen Wohnsitz als seine Tartane, die »Hansa«. Unbeweibt und kinderlos lebte er an Bord. Ein Obersteuermann und drei Mann Besatzung genügten zur Führung des leichten Fahrzeuges, welches bei seinen kurzen Küstenfahrten Algerien, Tunis, Egypten, die Türkei, Griechenland und alle Stapelplätze der Levante berührte. Mit Vorräthen an Kaffee, Zucker, Reis, Tabak, Pulver, Kleidungsstoffen u.s.w. reichlich versehen, verkaufte, vertauschte und trödelte Isaak Hakhabut überall mit größtem Eifer und gewann dabei ein gut Stück Geld.

Die Hansa ankerte zufällig in Ceuta, an der vorspringendsten Spitze Marokkos, als die Katastrophe eintrat. Der Obersteuermann und seine drei Leute befanden sich in der Nacht vom 31. December zum 1. Januar nicht an Bord und verschwanden damals spurlos, gleich so vielen Anderen. Der Leser erinnert sich aber, daß die äußersten Felsen von Ceuta, gegenüber Gibraltar, damals verschont blieben, wenn man sich unter den obwaltenden Verhältnissen dieses Ausdruckes bedienen darf; mit und auf ihnen blieben auch zehn Spanier übrig, welche nicht im entferntesten ahnten, was vorgegangen war.

Diese Spanier, andalusische Majos (d.s. Gebirgsbewohner Andalusiens mit bunter, phantastischer Tracht und verrufene Raufer), unwissend von Natur, träge aus Liebhaberei, aber immer bei der Hand, Naraja oder Guitarre zu spielen, von Profession Ackerbauer, hatten einen gewissen Negrete zum Anführer, dessen Kenntnisse die der Uebrigen nur deshalb ein wenig übertrafen, weil er früher etwas in der Welt umhergekommen war. Als sie sich auf dem Felsen von Ceuta allein sahen, kamen sie in nicht geringe Verlegenheit. Wohl war die Hansa sammt ihrem Besitzer zur Stelle, und sie hätten gewiß keine Gewissensbisse darüber empfunden, sich zur Heimfahrt dieses Schiffes zu bemächtigen, nur fand sich leider kein Seemann unter ihnen. Nun konnten sie selbstverständlich doch nicht ewig auf diesem Felseneilande bleiben, und so [172] zwangen sie nach Aufzehrung ihrer Vorräthe Hakhabut, sie an Bord seines Schiffes aufzunehmen.

Mittlerweile erhielt Negrete den Besuch der beiden englischen Officiere von Gibraltar, dessen im Vorhergehenden Erwähnung geschah. Was damals zwischen den Engländern und den Spaniern gesprochen wurde, wußte der Jude nicht. Jedenfalls veranlaßte Negrete in Folge dieses Besuches Hakhabut, unter Segel zu gehen, um ihn und seine Genossen nach dem nächsten Punkte der marokkanischen Küste überzuführen. Der Jude sah sich gezwungen, diesem Ansinnen zu entsprechen; bei seiner Gewohnheit aber, aus Allem Nutzen zu ziehen, stipulirte er mit den Spaniern einen Preis für die Ueberfahrt, den diese eben so schnell bewilligten, als sie fest entschlossen waren, keinen Real zu bezahlen.

Am 3. Februar segelte die Hansa ab. Bei dem herrschenden Westwinde war die Tartane leicht zu führen. Man brauchte eben nur den Wind in den Rücken derselben blasen zu lassen. So hatten die improvisirten Seeleute also nur die Segel aufzuziehen, um ohne ihr Wissen nach der einzigen Stelle der Erdkugel zu gelangen, welche ihnen noch eine Zuflucht zu bieten vermochte.

In Folge dessen bekam denn Ben-Zouf eines schönen Morgens ein Fahrzeug zu Gesicht, welches der Dobryna keineswegs ähnelte, und das der Wind ganz sanft in den Hafen des Cheliff, an der ehemaligen rechten Seite des Flusses, hineintrieb.

Ben-Zouf unterzog sich des Berichtes über die Geschichte des Juden unter der Hinweisung, daß die noch sehr wohl assortirte Ladung der Hansa den Bewohnern der Insel von größtem Nutzen sein werde. Jedenfalls würde man Mühe haben, sich mit Isaak Hakhabut auseinanderzusetzen; unter den gegebenen Verhältnissen erschien es jedoch gewiß nicht ungerechtfertigt, dessen Waarenvorräthe zum allgemeinen Besten zu requiriren, da er sie doch nicht verkaufen konnte.

»Bezüglich der Streitfrage zwischen dem Eigenthümer der Hansa und seiner Passagiere, fügte Ben-Zouf noch hinzu, habe ich die Verabredung getroffen, daß dieselben nach dem Ermessen Sr. Excellenz des Herrn General-Gouverneurs ›bei Gelegenheit der nächsten Inspectionsreise‹ ihre Erledigung finden sollte.«

Hector Servadac konnte bei Ben-Zouf's Bericht ein Lächeln nicht unterdrücken. Er versprach jedoch dem Juden Hakhabut, daß ihm Gerechtigkeit [173] werden solle, was endlich seine endlosen Beschwörungen »des Gottes Israel's, Abraham's und Jakob's« verstummen ließ.

»Wie könnten diese Leute aber überhaupt bezahlen? fragte Graf Timascheff, als der Jude zurückgetreten war.

– O, sie besitzen Geld, antwortete Ben-Zouf.

– Spanier ... Geld! erwiderte Graf Timascheff. Das ist kaum zu glauben.

– Und doch ist es an dem behauptete Ben-Zouf, ich sah mit eigenen Augen englische Münzen in ihren Händen.

– Aha, bemerkte Kapitän Servadac, der sich des Besuches der beiden englischen Officiere in Ceuta erinnerte. Doch immerhin. Das wird später geordnet werden. – Wissen Sie, Graf Timascheff, daß die Gallia jetzt sehr verschiedene Repräsentanten der Bewohnerschaft des alten Europa trägt?

– Gewiß, Kapitän, antwortete Graf Timascheff, auf diesem Bruchstücke der früheren Erdkugel wandeln jetzt die Nationalitäten Frankreichs, Rußlands, Italiens, Spaniens, Englands und Deutschlands. Letzteres freilich ist durch jenen Juden nicht gerade am glücklichsten vertreten.

– Darüber enthalte ich mich am liebsten jeden Urtheils!« bemerkte Kapitän Servadac.

Fußnoten

1 Deine Gunst und eine Cigarre, ein Glas Xeres, mein Roß und meine Büchse, was giebt's noch Besseres in der Welt. (Nach der Uebersetzung von Ch. Davillier.)

2 Bei den Alcarrazas, Chiclana, dem blühenden Weizen, Trebujena, den schönsten Mädchen, San Lucar de Barrameda.

19. Capitel
Neunzehntes Capitel.
In welchem Kapitän Servadac einstimmig als General-Gouverneur der Gallia anerkannt wird.

An Bord der Hansa waren, einen zwölfjährigen Knaben, der ebenfalls dem Verderben entging, mitgezählt, damals zehn Spanier gekommen. Ehrfurchtsvoll empfingen sie Denjenigen, den ihnen Ben-Zouf als den General-Gouverneur der Provinz bezeichnet hatte, und nahmen nach dessen Verlassen der Lichtung ihre Arbeiten wieder auf.

Kapitän Servadac und seine Begleiter, hinter ihnen in gebührender Entfernung Isaak Hakhabut, begaben sich nach dem Küstenpunkte, wo die Hansa ankerte.

[174] Die Situation war nun vollständig bekannt. Von der früheren Erde existirten außer der Insel Gourbi noch vier Eilande: Gibraltar im Besitze der Engländer; Ceuta, das die Spanier verlassen hatten; Madalena, wo man die kleine Italienerin auffand, und das Grabmal des heiligen Ludwig an der tunesischen Küste. Um diese Orte herum dehnte sich das Gallia-Meer, im Umfange etwa der Hälfte des alten Mittelmeeres, aus, um welches steile Felsenufer von unbekannter Substanz und Herkunft eine unübersteigliche Einrahmung bildeten.

Nur zwei von jenen Punkten waren bewohnt: der Felsen von Gibraltar, auf dem dreizehn für lange Jahre versorgte Engländer hausten, und die Insel Gourbi mit dreiundzwanzig Einwohnern, die sich von den eigenen Erzeugnissen ernähren mußten. Außerdem vegetirte jedenfalls auf irgend einem bislang nicht aufgefundenen Eilande ein weiterer Ueberlebender von der alten Erde, der geheimnißvolle Urheber der von der Dobryna während ihrer Rundfahrt aufgefangenen Notizen. Das neue Asteroïd besaß Alles in Allem demnach eine Bevölkerung von siebenunddreißig Seelen.

Angenommen, daß diese ganze kleine Gesellschaft sich einst auf der Insel Gourbi vereinigte, so mußte letztere mit ihren dreihundertfünfzig Hectaren fruchtbaren Bodens, wenn dieser gut angebaut und wirthschaftlich ausgenutzt wurde, recht wohl zur Bestreitung aller Bedürfnisse der Kolonie ausreichen. Eine Hauptfrage blieb es nur, zu wissen, wann besagter Boden wieder productionsfähig werden, oder mit anderen Worten, nach welchem Zeitraume die Gallia nicht mehr unter der furchtbaren Kälte des freien Weltraumes leiden und durch die erneute Annäherung zur Sonne ihre vegetative Kraft wieder erlangen würde.

Für die Bewohner der Gallia gab es also zwei Probleme zu lösen: 1. Folgte ihr Asteroïd überhaupt einer Curve, welche es jemals wieder dem Centrum des Lichtes näher zu führen versprach? 2. Wenn das der Fall war, welche Ellipse beschrieb diese Curve, d.h. nach welchem Zeitraume würde die Gallia nach Ueberschreitung ihres Aphels zur Sonne zurückkehren?

Leider vermochten die Bewohner der Gallia, denen es an allen Hilfsmitteln zu den hierbei nothwendigen astronomischen Beobachtungen mangelte, diese Probleme auf keine Weise zu lösen.

Für jetzt konnte man nur auf die augenblicklich vorhandenen Vorräthe zählen: die Provisionen der Dobryna, nämlich Zucker, Wein, Branntwein, [175] Conserven u. dergl., die für etwa zwei Monate ausreichen mochten und welche Graf Timascheff, ohne ein Wort zu verlieren, zum allgemeinen Besten abtrat, und die reiche Fracht der Hansa, welche der Jude Hakhabut früher oder später, mit oder gegen seinen Willen auszuliefern gezwungen sein würde, und endlich die Erzeugnisse des Pflanzen- und Thierreiches der Insel, die bei geregelter Ausnutzung der Bevölkerung auf lange Jahre hinaus die nöthige Nahrung gewährleisten mußten.

Kapitän Servadac, Graf Timascheff, Lieutenant Prokop und Ben-Zouf besprachen natürlich dieses wichtige Thema auf ihrem Wege nach dem Meere. Vorher noch aber wendete sich Graf Timascheff an den Stabsofficier mit folgenden Worten:

»Kapitän, Sie sind jenen Leuten einmal als Gene ral-Gouverneur vorgestellt worden, und ich denke, Sie sollten diese Stellung auch für die Zukunft beibehalten. Sie sind Franzose; wir befinden uns hier auf dem übrig gebliebenen Boden einer französischen Kolonie, und da jede Vereinigung von Menschen eines Vorstehers und Leiters bedarf, so erkläre ich hiermit, daß ich und meine Leute Sie von jetzt als solchen betrachten.

– Meiner Treu, Herr Graf, antwortete ohne Zögern Hector Servadac, ich füge mich den Verhältnissen und unterziehe mich der ganzen Verantwortlichkeit dieses Amtes. Ich bin dabei der guten Hoffnung, daß wir einander immer verstehen und unser Bestes im allgemeinen Interesse thun werden. Zum Teufel, das Schlimmste scheint mir doch überstanden und ich rechne darauf, daß wir auch später nicht umkommen, wären wir von Unseresgleichen auch für immer getrennt!«

Mit diesen Worten reichte Hector Servadac dem Grafen Timascheff die Hand. Dieser ergriff sie und neigte zustimmend leise den Kopf. Das war der erste Händedruck, den die beiden Männer seit ihrer Wiederbegegnung gewechselt hatten, während auch keine Anspielung auf ihre frühere Rivalität wieder vorgekommen war oder je verlauten sollte.

»Zunächst, begann Kapitän Servadac, haben wir uns über eine nicht ganz unwichtige Frage schlüssig zu machen. Sollen wir jene Spanier über unsere thatsächliche Lage aufklären?


Sie besuchten den schwimmenden Kramladen. (S. 179.)

– Ei nein, Herr Gouverneur, antwortete lebhaft Ben-Zouf. Diese Menschen sind von Natur zu weichlich. Wenn sie erführen, wie es um uns steht, würden sie verzweifeln und zu nichts mehr zu brauchen sein.

[176] – Dazu, bemerkte Lieutenant Prokop, erscheinen sie mir auch so unwissend, daß sie absolut nichts von dem begreifen würden, was man ihnen über kosmographische Verhältnisse mittheilte.

– Bah! fiel Kapitän Servadac ein, und wenn sie es begriffen, würden sie sich auch nicht besonders darum kümmern. Spanier sind, ganz wie die Orientalen, so ziemliche Fatalisten, und solche Leute lassen sich nicht allzuweit [177] aus dem Gleichgewicht bringen. Ein Lied zur Guitarre, ein Fandango und etwas Castagnettenklang, dann denken sie nicht viel an etwas Anderes. Was meinen Sie dazu, Graf Timascheff?

– Ich denke, antwortete der Gefragte, es ist besser, ihnen die Wahrheit zu sagen, wie ich es auch gegenüber meinen Leuten von der Dobryna gehalten habe.

– Das ist auch meine Ansicht, erklärte Kapitän Servadac, und ich glaube nicht, daß wir daran gut thun würden, Denjenigen bezüglich unserer Lage die Wahrheit vorzuenthalten, welche berufen sind, deren Gefahren zu theilen. So unwissend jene Spanier allen Anzeichen nach auch sein mögen, so müssen sie doch nothwendiger Weise mindestens einige der eingetretenen physikalischen Veränderungen wahrgenommen haben, wie z.B. die Verkürzung der Tage, den Wechsel in der Bewegung der Sonne und die Verminderung der Schwere. Sagen wir ihnen nun also auch, daß sie jetzt fern von der Erde durch den Weltraum geführt werden, und daß von jener nichts als diese Insel übrig geblieben ist.

– Nun gut, so wäre das also abgethan, ließ sich Ben-Zouf vernehmen. Wir sagen Alles! Fort mit der Geheimnißkrämerei! Aber weiden werd' ich mich an dem Anblicke des Juden, wenn er erfährt, daß er sich einige hundert Millionen Lieues weit von der alten Erdkugel befindet, wo ein Wucherer, wie er, so manchen Schuldner sitzen haben wird. Nun lauf' ihnen nach, mein Kerlchen, wenn Du es kannst!«

Isaak Hakhabut befand sich fünfzig Schritt weiter rückwärts, konnte von diesem Gespräche also kein Wort verstehen. Er lief Jenen halb vorgebeugt, greinend und den Gott Israel's anrufend nach; manchmal aber schossen seine Augen grelle Blitze und seine Lippen preßten sich aufeinander, so daß von dem Munde nichts als eine schmale Linie übrig blieb.

Ihm waren jene neuen physikalischen Erscheinungen nicht entgangen und mehr als einmal hatte er mit Ben-Zouf, dem er immer zu schmeicheln suchte, über dieselben gesprochen. Letzterer verhehlte allerdings seinen Widerwillen gegen diesen erbärmlichen Nachkommen Abraham's nicht im Geringsten. Auf alle drängenden Fragen Hakhabut's antwortete er immer nur mit einem ausweichenden Scherze. So erklärte er ihm wiederholt, daß ein Jude seines Schlages bei dem jetzigen Zustande der Dinge ja gar nichts zu verlieren habe, denn statt, wie jeder Sohn Israel's, hundert Jahre zu leben, werde [178] er es jetzt auf zweihundert bringen, wobei ihm bei der allgemeinen Verminderung der Schwere auch die Last seiner späteren Jahre gar nicht so unerträglich erscheinen könne. Wenn der Mond jetzt gestohlen worden sei, sagte er ihm ein andermal, so müsse das einem Geizhals seines Schlages sehr gleichgiltig sein, da er jedenfalls doch nichts darauf geborgt habe. Ferner versicherte er ihm, daß, wenn die Sonne jetzt an dem Punkte untergehe, wo sie sonst aufzugehen pflegte, so werde man eben ihr Ruhebett nach einer anderen Stelle geschafft haben – und tausend solche Albernheiten weiter. Wenn Isaak Hakhabut zu sehr in ihn drang, sagte er:

»Warte nur auf den General-Gouverneur, Altert Er weiß Alles und wird Dir Alles erklären!

– Und wird er auch in Schutz nehmen meine Waaren?

– Natürlich, Naphtali! Er wird sie weit eher confisciren, als Dir rauben lassen!«

Mit solchen wenig tröstlichen Antworten abgespeist, wartete der Jude, dem Ben-Zouf nach und nach alle ihm geläufigen israelitischen Namen beilegte, Tag für Tag auf die Ankunft des General-Gouverneurs.

Inzwischen waren Hector Servadac und seine Begleiter an das Ufer gekommen. Dort etwa in der Mitte der von der Inselküste gebildeten Hypothenuse lag die Hansa vor Anker. Hier schützten sie, bei der sonst ganz freien Lage, einige Felsen nur sehr unzulänglich, und jeder stärkere Westwind drohte die leichte Tartane an die Küste zu treiben und daselbst in kurzer Zeit zu zertrümmern. Offenbar durfte sie auf diesem Ankerplatze nicht verbleiben, sondern mußte je eher je lieber nach der Mündung des Cheliff neben die russische Goëlette verlegt werden.

Beim Wiedererblicken seiner Tartane hob der Jude mit seinen Klageliedern, und zwar so laut und von solchen Grimassen begleitet, von Neuem an, daß ihm Kapitän Servadac Schweigen gebieten mußte. Dann schiffte er sich, während Graf Timascheff und Ben-Zouf am Ufer zurückblieben, mit Lieutenant Prokop auf einem Boote der Hansa ein und besuchte diesen schwimmenden Kramladen.

Die Tartane erwies sich vollkommen wohl erhalten und demnach konnte auch ihre Ladung nach keiner Seite Schaden gelitten haben, wovon man sich übrigens leicht zu überzeugen vermochte. Hier im Raume der Hansa fanden sich Zuckerhüte zu Hunderten, Theekisten, Säcke mit Kaffee, Ballen mit [179] Tabak, Tönnchen mit Branntwein, Fässer voll Wein, geräucherte Häringe, allerlei Stoffe, Baumwolle, wollene Kleidungsstücke, ein Vorrath von Stiefeln für jeden Fuß und Mützen für jeden Kopf, Werkzeuge, Küchengeschirre, Porzellan- und Topfwaaren, Papier, Tintenflaschen, Packete mit Streichhölzchen, Hunderte von Kilos Salz, Pfeffer und andere Gewürze, eine Menge holländischer Käse, eine Sammlung Lütticher Almanachs – Alles in Allem Werthgegenstände für vielleicht hunderttausend Francs. Nur wenige Tage vor der Katastrophe hatte die Tartane in Marseille neue Vorräthe eingenommen, um diese von Ceuta bis nach Tripolis hin, d.h. überall da abzusetzen, wo der listige und verschlagene Isaak einen günstigen Markt zu finden hoffen durfte.

»Diese prächtige Ladung wird für uns eine reiche Fundgrube werden, sagte Kapitän Servadac.

– Mindestens, wenn der Eigenthümer deren Ausbeutung zugesteht, erwiderte achselzuckend Lieutenant Prokop.

– Ei, Lieutenant, was meinen Sie, daß der Jude mit diesen Reichthümern anfangen könne? Weiß er erst, daß er jetzt keine Franzosen, keine Marokkaner, keine Araber mehr übervortheilen kann, so wird er sich wohl oder übel fügen müssen.

– Das mag wohl sein, auf jeden Fall wird er aber Bezahlung fordern für seine Waaren.

– Nun gut, wir werden ihn bezahlen, Lieutenant, d.h. mit Wechseln auf die frühere Welt!

– Im schlimmsten Falle, Kapitän, fügte der Lieutenant hinzu, hätten Sie ein Recht zu Requisitionen.

– Nein, Lieutenant. Gerade weil dieser Mann ein Deutscher ist, möchte ich ihm auf andere Weise begegnen. Ich versichere Ihnen übrigens, daß er unserer bald mehr bedürfen wird als wir seiner. Sobald er weiß, daß er sich auf einem neuen Weltkörper befindet, ohne Hoffnung, nach dem alten zurückkehren zu können, wird er wohl mit sich reden lassen.

– Wie dem auch sei, antwortete Lieutenant Prokop, jedenfalls darf die Tartane nicht hier vor Anker liegen bleiben. Beim ersten schlechten Wetter müßte sie zu Grunde gehen und würde sie schwerlich dem Drange der Eismassen Widerstand leisten, wenn das Meer, was ja nicht mehr lange ausbleiben kann, zufriert.

[180] – Schön, Lieutenant; Sie und Ihre Leute werden sie also nach dem Hafen des Cheliff überführen.

– Und zwar schon morgen, Kapitän, versprach Lieutenant Prokop denn die Zeit drängt.«

Nach Aufnahme des Inventars verließen Kapitän Servadac und der Lieutenant die Hansa wieder. Man beschloß, daß die ganze kleine Kolonie sich im Wachtposten des Gourbi zusammenfinden solle, wohin sich auch die Spanier begeben sollten. Isaak Hakhabut wurde bedeutet, dem Gouverneur zu folgen, und gehorchte, nicht ohne einen sorgenvollen Blick nach seiner Tartane zurückzusenden.

Eine Stunde später fanden sich die zweiundzwanzig Bewohner der Insel in dem großen Zimmer des Wachthauses zusammen. Dort machte der junge Pablo zum ersten Male Bekanntschaft mit der kleinen Nina, welche sehr erfreut schien, in ihm einen Spielkameraden von passendem Alter zu finden.

Kapitän Servadac nahm das Wort und meldete, so daß er von dem Juden ebenso wie von den Spaniern verstanden werden konnte, daß er sie über die sehr ernsthafte Lage aufzuklären Willens sei, in der sie sich Alle befänden. Er fügte übrigens hinzu, daß er auf ihre Ergebung wie auf ihren Muth rechne und daß jetzt Alle für das allgemeine Beste arbeiten müßten.

Die Spanier hörten ruhig zu, ohne eine Antwort zu geben, da sie sich noch unklar waren, was man von ihnen erwartete. Negrete allein glaubte eine Bemerkung machen zu müssen, und wandte sich also an Kapitän Servadac.

»Herr Gouverneur, sagte er, bevor wir, ich und meine Gefährten, uns auf irgend welche Abmachungen einlassen, möchten wir wissen, wann es möglich sein wird, uns nach Spanien zurückzuführen.

– Sie nach Spanien zurückbringen, Herr General-Gouverneur! rief der Jude in gutem Französisch. Nicht eher, als bis sie meine Forderungen ausgeglichen haben. Diese Spitzbuben haben mir für die Person zwanzig Realen als Preis der Ueberfahrt auf der Hansa versprochen. Es sind ihrer Zehn, das ergiebt zweihundert Realen (etwa 35 Mark oder 17 1/2 Gulden), welche sie mir schulden, ich nehme Sie zum Zeugen ...

– Wirst Du schweigen, Mardoch! rief Ben-Zouf.

[181] – Ihr werdet bezahlt werden, sagte Kapitän Servadac.

– Das ist auch nicht mehr als recht, antwortete Isaak Hakhabut. Jedem seinen Lohn, und wenn der russische Herr mir will leihen zwei oder drei seiner Matrosen, um meine Tartane nach Algier zu bringen, so werde auch ich bezahlen ... ja, ich werde zahlen ... wenn Sie nicht verlangen gar zu viel von mir!

– Algier, rief Ben-Zouf, der nicht mehr an sich halten konnte, so wisse denn ...

– Laß mich den Leuten mittheilen, was sie noch nicht wissen, Ben-Zouf!« sagte Kapitän Servadac. Dann fuhr er in spanischer Sprache fort:

»Hört mich, meine Freunde. Ein Ereigniß, das wir noch nicht zu erklären vermögen, hat uns von Spanien, Italien, Frankreich, überhaupt von ganz Europa abgerissen! Von allen Continenten ist nichts mehr übrig, als die Insel, auf der Ihr Euch hier befindet. Wir sind nicht mehr auf der Erde, aber wahrscheinlich auf einem Bruchstücke der Erdkugel, das uns mit sich fortführt, so daß es vorläufig unmöglich ist, zu sagen, ob wir jemals die übrige Welt wiedersehen werden!«

Hatten die Spanier diese Erklärung des Kapitän Servadac verstanden? Das war mindestens zweifelhaft, denn selbst Negrete bat um eine Wiederholung dieser Worte.

Hector Servadac that sein Bestes, und so gelang es ihm unter Anwendung verschiedener, den unwissenden Spaniern geläufigerer Bilder ihnen ihre jetzige Lage klar zu machen. Nach einem kurzen Gespräche zwischen Negrete und seinen Genossen schien es jedenfalls, als ob sie die Sache mit einer gewissen Sorglosigkeit betrachteten.

Hakhabut seinerseits hörte Kapitän Servadac ruhig an und sagte kein Wort dazu; wohl aber verzogen sich seine Lippen, als suche er ein Lächeln zu unterdrücken.

Hector Servadac wendete sich noch direct an ihn, und fragte, ob er noch immer Willens sei, in See zu gehen und seine Tartane nach dem Hafen von Algier, von dem keine Spur mehr existirte, zu führen.

Isaak Hakhabut lachte, aber so, daß er von den Spaniern nicht gesehen werden konnte. Dann richtete er seine Worte in russischer Sprache an den Grafen Timascheff, um nur von diesem und seinen Leuten verstanden zu werden.

[182] »Das ist ja Alles nicht wahr, sagte er, und Seine Excellenz der Herr General-Gouverneur muß selbst darüber lachen!«

Mit schlecht verhehltem Mißmuthe drehte Graf Timascheff dem widerlichen Menschen den Rücken zu.

Isaak Hakhabut wendete sich dann an Kapitän Servadac und sagte zu ihm französisch:

»Diese Geschichtchen sind für jene Spanier ganz gut. Sie werden dadurch hier zurückgehalten. Für mich liegt die Sache aber anders!«

Dann näherte er sich der kleinen Nina und sagte zu ihr italienisch:

»Nicht wahr, mein Schätzchen, das ist Alles nicht wahr?«

Achselzuckend verließ er das Wachthaus.

»Ah, zum Teufel, sagte Ben-Zouf, der Kerl redet ja in allen Zungen.

– Ja wohl, Ben-Zouf, erwiderte Kapitän Servadac, aber ob er sich französisch, russisch, spanisch, italienisch oder deutsch ausdrückt, es spricht doch immer der Jude aus ihm!«

20. Capitel
Zwanzigstes Capitel.
Welches den Beweis liefert, daß man stets ein Sicht am Horizonte findet, wenn man nur ordentlich aufpaßt.

Am nächsten Tage, den 6. März, gab Kapitän Servadac, ohne sich weiter darum zu kümmern, ob Isaak Hakhabut ihm glaube oder nicht, Befehl, die Hansa nach dem Hafen des Cheliff zu schaffen. Der Jude unterließ jede Einwendung dagegen, da die Verlegung der Tartane seinem Interesse zu dienen schien. Immer hegte er aber die Hoffnung, heimlich zwei oder drei Matrosen auf seine Seite zu bringen, um nach Algier oder irgend einen anderen Küstenplatz zu gelangen.

Angesichts der bevorstehenden Ueberwinterung wurden die nothwendigen Arbeiten in Angriff genommen, wobei Alle durch ihre jetzt größere Muskelkraft[183] eine wesentliche Unterstützung erfuhren. An die Erscheinungen der verminderten Anziehungskraft hatten sie sich ebenso gewöhnt, wie an den geringeren Luftdruck, welcher ihre Athmung beschleunigte, ohne daß sie davon viel gewahr wurden.

Die Spanier und Russen gingen also eifrig an die Arbeit. Man begann zunächst damit, das Wachthaus für die Bedürfnisse der kleinen Kolonie in [184] Stand zu setzen, da dieses bis auf Weiteres zur allgemeinen Wohnung dienen sollte. Eigentlich bezogen es jetzt nur die Spanier, während die Russen auf der Goëlette blieben, wie der Jude an Bord seiner Tartane.


Kapitän Servadac nahm das Wort. (S. 181.)

Die Schiffe sowohl, wie jenes Steingebäude konnten indeß nur als provisorische Wohnstätten gelten. Wenn der Winter wirklich heranzog, mußte man einen wirksameren Schutz gegen die Kälte des interplanetarischen Raumes [185] zu finden suchen, einen Zufluchtsort, welcher von Natur etwas warm blieb, da in demselben wegen Mangels an Heizmaterial an eine Erhöhung der Temperatur nicht zu denken war.


Die Spanier und Russen gingen eifrig an die Arbeit. (S. 184.)

Einen hinreichenden Schutz konnten den Bewohnern der Insel Gourbi nur tiefe unterirdische Gänge gewähren. Wenn sich die Oberfläche der Gallia mit einer dicken Eiskruste bedeckte, so mußte diese als ein schlechter Wärmeleiter die Temperatur in der Tiefe auf einem erträglichen Grad erhalten. Dort würden Kapitän Servadac und seine Gefährten allerdings ein wahrhaftes Troglodytenleben führen, sie hatten aber bezüglich der Wohnung keine andere Wahl.

Zum Glück befanden sie sich nicht in derselben Lage wie die Forschungsreisenden oder Walfischfahrer in den Polarmeeren. Wenn diese zu überwintern gezwungen sind, fehlt ihnen meist der feste Boden unter den Füßen. Sie leben dann auf einem eisbedeckten Meere und sind nicht im Stande, in dessen Tiefe eine Zuflucht vor der Kälte zu suchen. Entweder verkriechen sie sich dann in ihre Schiffe oder errichten Blockhäuser von Holz und Schnee, sind aber in jedem Falle sehr ungenügend gegen die Einwirkung der Kälte geschützt.

Hier auf der Gallia dagegen bot sich ein fester Boden, und wenn sie sich ihre Winterwohnung einige hundert Fuß unter der Oberfläche aushöhlten, konnten die Bewohner der Gallia sicher sein, auch der strengsten Kälte ohne Beschwerde Trotz zu bieten.

Die Arbeiten wurden also sofort begonnen. Axt, Schaufel, Spaten und Werkzeuge der verschiedensten Art fehlten, wie wir wissen, im Gourbi nicht, und unter Leitung Ben-Zouf's als Werkführer gingen die spanischen Majos und die russischen Matrosen hurtig an's Werk.

Da sollten aber die Arbeiter und der Ingenieur Servadac eine unerwartete Enttäuschung erfahren.

Der zur Ausschachtung der Wohnung gewählte Ort lag rechts von dem Wachthause, wo der Erdboden in einer leichten Erhebung aufstieg. Am ersten Tage ging die Fortschaffung des Erdreiches ohne Schwierigkeiten vor sich. Als man aber eine Tiefe von etwa acht Fuß erreichte, stießen die Leute auf eine so harte Masse, daß ihre Werkzeuge derselben nicht das Geringste anhaben konnten.

[186] Ben-Zouf machte Hector Servadac und Graf Timascheff hiervon Meldung, und diese erkannten in der betreffenden Substanz sehr bald ganz dasselbe Material, welches ebensowohl die Küsten als auch den Untergrund des Gallia-Meeres bildete. Offenbar bestand aus ihr also auch die eigentliche Masse des ganz neuen Weltkörpers. Auf jeden Fall mangelte es an allen Mitteln, den Boden tief genug auszuhöhlen. Auch das gewöhnliche Schießpulver möchte kaum hingereicht haben, diese metallenen Unterlagen wirksam anzugreifen, welche bei ihrer Granithärte mindestens des Dynamits bedurft hätten, um sie zu sprengen.

»Zum Teufel, was mag das für ein Mineral sein? rief Kapitän Servadac, und wie kann ein Stück unserer alten Erdkugel dieses Material enthalten, das wir nicht einmal zu bezeichnen wissen?

– Wahrhaftig, es ist ganz unerklärlich, antwortete Graf Timascheff, doch wenn es uns nicht gelingt, eine Wohnung im Boden auszuhöhlen, so steht uns der Tod bald vor der Thür!«

In der That, beruhten die Zahlenangaben des aufgefangenen Documentes auf Wahrheit und vergrößerte sich nach den Gesetzen der Himmelsmechanik der Abstand der Gallia von der Sonne immer noch mehr, so mußte das Asteroïd von letzterer jetzt wenigstens hundert Millionen Lieues (= 60 Mill. Meilen) entfernt sein, d.h. fast genau dreimal so weit, als die Erde während ihres Apheliums von dem Centralkörper. Man begreift unschwer, in welchem Grade die Wärme und das Licht der Sonne unter diesen Verhältnissen abnehmen mußten. Freilich entfernte sich in Folge der Achsenstellung der Gallia, welche nahezu neunzig Grad erreichte, die Sonne niemals von ihrem Aequator, und die Insel Gourbi genoß diese Vortheile, weil sie unter der Parallele Null lag. Unter dieser Zone mußte demnach ein ewiger Sommer herrschen, aber trotz alledem konnte die große Entfernung von der Sonne deshalb nicht ausgeglichen werden und die Lufttemperatur nahm denn auch zusehends ab. Schon bildete sich zum großen Leidwesen des kleinen Mädchens Eis auf dem Felsen, und es konnte nicht mehr lange währen, bis das ganze Meer zufror.

Bei der später zu erwartenden Kälte, welche 60 Grad (des hunderttheiligen Thermometers) recht leicht noch übersteigen konnte, drohte aber Allen, wenn eine geeignete Wohnung nicht zu beschaffen war, sicher ein baldiger Tod. Für jetzt hielt sich das Thermometer im Mittel auf sechs Grad unter [187] Null, wobei der im Wachthause aufgestellte Ofen trotz reichlich zugeführten Brennmateriales doch nur eine mäßige Wärme verbreitete. Auf Holz, als Heizmaterial, war also nicht viel zu rechnen; es mußte jedenfalls eine andere Unterkunft aufgesucht werden, welche an sich Schutz gewährte gegen die Erniedrigung der Temperatur, bei der das Quecksilber, vielleicht gar der Alkohol der Thermometer zu gefrieren drohte.

Schon gegen die jetzige, ziemlich lebhafte Kälte erwiesen sich die beiden Schiffe, die Dobryna und die Hansa, als unzureichende Zufluchtsstätten, so daß man an ein dauerndes Bewohnen derselben gar nicht denken konnte. Wer vermochte übrigens vorauszusagen, was aus diesen beiden Fahrzeugen werden würde, wenn sich erst das Eis rings um sie in ungeheuren Massen aufthürmte?

Wären Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop die Männer dazu gewesen, leicht den Muth zu verlieren, jetzt hätten sie die beste Gelegenheit gehabt! In der That, was sollten sie ersinnen gegen die auffallende Härte des Bodenuntergrundes, die es ihnen unmöglich machte, sich in die Erde einzugraben?

Inzwischen gestalteten sich die Umstände immer drängender. Bei der zunehmenden Entfernung verkleinerte sich der scheinbare Durchmesser der Sonne immer mehr und mehr. Wenn sie den Zenith passirte, verbreiteten ihre lothrechten Strahlen zwar noch einige Wärme; während der Nacht dagegen machte sich die Kälte nun schon sehr empfindlich fühlbar.

Kapitän Servadac und Graf Timascheff durchstreiften mit Hilfe Zephyr's und Galette's die ganze Insel, um ein zweckmäßiges Unterkommen aufzufinden. Die beiden Pferde überwanden alle Hindernisse, als ob sie Flügel hätten. Vergebens! Man versuchte Sondirungen an der und jener Stelle; immer trafen dieselben schon in geringer Tiefe auf dieselbe stahlharte Schicht, so daß man auf eine unterirdische Wohnung verzichten mußte.

Wegen Mangels einer so erwünschten Erdhöhle wurde also beschlossen, im Wachthause zu verbleiben und dasselbe bestmöglich gegen die äußere Kälte zu schützen. Es erging demnach die Anordnung, alles trockene und grüne Holz, welches sich auf der Insel vorfand, aufzusammeln und die in der Ebene zerstreuten Bäume zu fällen. Jetzt galt es zu eilen. Alles ging denn auch unverzüglich an die Arbeit.

[188] Und dennoch – Kapitän Servadac und seine Gefährten erkannten das recht wohl – konnte Alles das nicht hinreichen. Das Brennmaterial drohte schnell genug zu Ende zu gehen. Im höchsten Grade beunruhigt, durchirrte der Stabsofficier, ohne seine Befürchtungen laut werden zu lassen, die Insel, und rief:

»Einen Gedanken! Einen Ausweg! Wer hilft hier!«

So wandte er sich auch eines Tages an Ben-Zouf.

»Alle Wetter! rief er, hast denn Du keinen vernünftigen Gedanken?

– Nein, mein Kapitän!« erwiderte trocken die Ordonnanz.

Dann fügte der Bursche hinzu:

»O, wären wir nur auf dem Montmartre! Da giebt es die schönsten Steinbrüche und Höhlen in Hülle und Fülle.

– Schwachkopf! versetzte Kapitän Servadac, wenn wir auf dem Montmartre wären, brauchte ich auch Deine Steinbrüche nicht!«

Inzwischen sollte die Natur den Kolonisten die unumgänglich nöthige Mithilfe gewähren, um gegen die Kälte des Weltraumes anzukämpfen. Auf folgende Art und Weise wurden sie darauf hingewiesen:

Am 10. März hatten Lieutenant Prokop und Kapitän Servadac die Südwestspitze der Insel besichtigt. Unterwegs sprachen sie von den schweren Gefahren der nächsten Zukunft, und zwar ziemlich lebhaft, da sie über die Mittel und Wege, jenen zu steuern, nicht ein und derselben Ansicht waren. Der Eine bestand hartnäckig darauf, eine geeignete, leider nirgends auffindbare Wohnung zu suchen, während der Andere daran dachte, in der jetzt benutzten nur eine neue Heizungsmethode einzuführen. Lieutenant Prokop vertrat die letztere Ansicht und suchte eben seine Gründe dafür darzulegen, als er plötzlich inmitten seiner Beweisführung inne hielt. Er stand gerade nach Süden zu gewendet und Kapitän Servadac sah nur, wie jener mit der Hand über die Augen strich, wie um deren Sehkraft zu schärfen, und dann mit gespannter Aufmerksamkeit hinausblickte.

»Nein, ich täusche mich nicht, rief er, dort unten sehe ich einen Lichtschein!

– Einen Lichtschein?

– Ja, da, in dieser Richtung.

– Wahrhaftig!« antwortete Kapitän Servadac, der jetzt ebenfalls den bezeichneten Punkt wahrnahm.

[189] Die Thatsache unterlag keinem Zweifel. Ueber dem südlichen Horizonte erhob sich ein erst mäßig, je dunkler es aber wurde, desto heller aufleuchtender Punkt.

»Sollte das ein Schiff sein? fragte Kapitän Servadac.

– Dann müßte es mindestens in Flammen stehen, antwortete Lieutenant Prokop, auf diese Entfernung und in solcher Höhe könnte kein Signallicht sichtbar sein.

– Uebrigens bleibt das Feuer an derselben Stelle, setzte Hector Servadac hinzu, und es dünkt mich sogar, als entwickle sich ein Widerschein an den Abendwolken.«

Eine kurze Zeit über beobachteten Beide die unerwartete Erscheinung. Da fielen dem Stabsofficier plötzlich die Schuppen von den Augen.

»Der Vulkan! rief er. Das ist der Vulkan, den wir bei der Rückkehr mit der Dobryna umschifft haben!«

Und wie inspirirt, setzte er hinzu:

»Lieutenant Prokop, dort liegt die gesuchte Wohnung. Dort sorgt die Natur allein für die Heizung des Hauses! Ja! Jene unerschöpfliche, glühende Lava, welche der Berg auswirft, werden wir für alle Bedürfnisse verwenden können. O, Lieutenant, der Himmel verläßt uns nicht. Kommen Sie, kommen Sie! Morgen müssen wir dort auf jener Küste sein und suchen, wenn es sein muß, die Wärme, d.h. das Leben, selbst bis in die Eingeweide der Gallia!«

Während Kapitän Servadac mit solch' enthusiastischer Ueberzeugung sprach, suchte sich Lieutenant Prokop über seine Erinnerungen klar zu werden. Das Vorhandensein des Vulkanes in der bezeichneten Richtung schien auch ihm unbestreitbar. Er erinnerte sich von der Rückfahrt der Dobryna her, daß ihm auf der Tour längs der südlichen Küste des Gallia-Meeres ein langgedehntes Vorgebirge den Weg verlegte und bis zur früheren Breite von Oran hinauf zu steuern nöthigte. Dort umschiffte man dann einen hohen, felsigen Berg mit rauchumlagertem Gipfel. Diesem Rauche war jedenfalls nun ein Ausbruch von Flammen und glühender Lava gefolgt, und eben dieser Ausbruch erleuchtete jetzt den Horizont im Süden und spiegelte sich an den Wolken wider.

»Sie haben recht, Kapitän, sagte darauf Lieutenant Prokop; ja, das ist jener Vulkan. Morgen werden wir ihn in Augenschein nehmen!«

[190] Hector Servadac und Lieutenant Prokop kehrten eiligst nach dem Gourbi zurück und theilten von ihrem beabsichtigten Ausfluge vorläufig nur dem Grafen Timascheff das Nöthige mit.

»Ich begleite Euch, erwiderte der Graf, natürlich steht die Dobryna dazu zur Disposition.

– Ich denke, wendete Lieutenant Prokop dagegen ein, die Goëlette kann ruhig im Hafen des Cheliff bleiben. Bei dem jetzigen schönen Wetter wird ihre Dampfschaluppe zu der Ueberfahrt von höchstens zwölf Meilen vollkommen ausreichen.

– Ordne Alles ganz nach Deinem Ermessen an, Prokop!« schloß Graf Timascheff.

Wie so viele jener verschwenderisch ausgestatteten Lust-Goëlelten, besaß auch die Dobryna eine sehr schnell fahrende Dampfschaluppe, deren Schraube durch einen kleinen, aber sehr vielen Dampf liefernden Kessel nach Oriolle'schem Systeme in Betrieb gesetzt wurde. Bei seiner Unbekanntschaft mit der Gestaltung des Ufers, nach welchem er gehen wollte, gab Lieutenant Prokop diesem kleinen, flachgehenden Fahrzeuge auch deshalb den Vorzug, weil es ihm den Besuch selbst der engsten Buchten der Küste gefahrlos zu ermöglichen versprach.

Am nächsten Tage, dem 11. März, wurde die Schaluppe also mit Kohlen versorgt, von denen sich etwa noch zehn Tonnen an Bord der Dobryna vorfanden. Dann dampfte das Schiffchen, mit dem Kapitän, dem Grafen und dem Lieutenant an Bord, zu Ben-Zouf's größter Verwunderung (denn man hatte ihn gar nicht mit in das Geheimniß gezogen) aus dem Hafen des Cheliff hinaus. Die Ordonnanz blieb dabei aber mit den Vollmachten des General-Gouverneurs auf der Insel zurück, was unserem Helden nicht wenig schmeichelte.

Das schnelle Schiff legte den neunzig Kilometer langen Weg zwischen der Insel und dem Landvorsprünge, auf welchem der Vulkan sich erhob, in weniger als drei Stunden zurück. Der Gipfel des hohen Vorgebirges erschien ganz in Flammen gehüllt. Die Eruption war offenbar eine sehr starke. Verband sich hier der Sauerstoff aus der von der Gallia mit fortgerissenen Atmosphäre mit den Auswurfstoffen des Vulkanherdes, um dieses imposante Flammenmeer zu ernähren, oder, was noch wahrscheinlicher war, besaß dieser [191] Vulkan, wie die feuerspeienden Berge des Mondes, eine ihm eigenthümliche Sauerstoffquelle?


Die beiden Pferde überwanden alle Hindernisse. (S. 188.)

Die Schaluppe dampfte längs der Küste hin, um einen geeigneten Landeplatz aufzusuchen.


Ueber dem südlichen Horizonte erhob sich ein heller, aufleuchtender Punkt, (S. 190.)

Nach halbstündiger Fahrt entdeckte man denn auch einen halbmondförmigen Felsenausschnitt, eine Art kleinen Hafen, der der Goëlette und der Tartane einen hinlänglichen Schutz zu bieten versprach, [192] wenn die Umstände deren Ueberführung hierher räthlicher scheinen lassen sollten.

Die Dampfschaluppe wurde festgelegt und ihre Passagiere landeten an dem gegenüber liegenden Ufer von dem, auf welchem der Lavastrom sich längs des Bergabhanges nach dem Meere hinabwälzte. Zu ihrer größten Befriedigung bemerkten Kapitän Servadac und seine Gefährten, wie sich die Temperatur [193] der Atmosphäre merklich steigerte, je näher sie kamen. Vielleicht sollte die Hoffnung des Stabsofficiers in Erfüllung gehen! Fand sich in dieser ungeheuren Bergmasse eine nur irgend bewohnbare Aushöhlung, so entgingen die Bewohner der Gallia vielleicht der am ernsthaftesten drohenden Gefahr.

Nun durchsuchten und durchstöberten sie alle Winkel und Spalten des Berges, erklommen die steilsten Abhänge, erkletterten die breiten Absätze und sprangen gleich flinken Gemsen, mit denen sie jetzt an specifischer Leichtigkeit wetteiferten, von einem Block zum anderen, ohne aber jemals einen anderen Boden anzutreffen, als jene in hexagonalen Prismen angeschossene Substanz, welche das einzige Mineral des Asteroïdes darzustellen schien.

Ihre Bemühungen sollten jedoch nicht vergeblich sein.

Hinter einer gewaltigen Felswand, deren Spitze gegen den Himmel pyramidenartig aufstieg, öffnete sich vor ihnen eine enge Galerie, richtiger ein langer, dunkler, in der Seite des Berges ausgehöhlter Schlauch. Ohne Zaudern traten sie durch seinen, etwa zwanzig Meter über der Meeresfläche gelegenen Eingang in denselben ein.

Kapitän Servadac und seine Gefährten mußten sich durch die tiefe Dunkelheit fast hindurchtasten, indem sie mit der Wand des Tunnels stets Fühlung behielten und mit den Füßen etwaige Vertiefungen des Bodens aufzuspüren suchten. An dem zunehmenden Grollen und Donnern erkannten sie, daß der Centralkamin des Vulkanes von hier nicht fern sein könne. Am meisten fürchteten sie aber, durch eine unpassirbare Erdwand ihre Untersuchung unterbrochen zu sehen.

Kapitän Servadac bewahrte sich jedoch ein wahrhaft unerschütterliches Vertrauen, das sich je länger je mehr auch des Grafen Timascheff und des Lieutenants Prokop bemächtigte.

»Vorwärts! Vorwärts! drängte er. Unter außergewöhnlichen Umständen gilt es auch, außerordentliche Hilfsmittel aufzusuchen. Das Feuer ist entfacht; der Ofen ist in der Nähe. Die Natur selbst liefert das Brennmaterial! Alle Teufel, wir werden uns billig eine warme Stube verschaffen!«

Die Lufttemperatur betrug jetzt mindestens fünfzehn Grad über Null. Legten die Männer hier die Hände dichter an die Wand, so fühlten sie, daß diese schon fast heiß war. Die den Berg bildende Felsmasse schien ein ebenso guter Wärmeleiter zu sein wie die Metalle.

[194] »Da sehen Sie es ja, wiederholte Hector Servadac mehrmals, da unten steckt eine leibhaftige Calorifere!«

Als die Wanderer noch weiter eindrangen, erhellte ein glänzender Lichtschein den bis dahin dunklen Schacht, und es zeigte sich eine große, blendend erleuchtete Höhle. Die Temperatur ihres Innern war zwar ziemlich hoch, aber doch erträglich.

Welcher Ursache verdankte wohl diese in der Gebirgsmasse ausgeschachtete Höhle ihren Glanz und ihre Wärme? Ganz einfach einem Lavastrome, der vor ihrer nach dem Meere zu weit offenstehenden Mündung herniederstürzte. Die Erscheinung erinnerte an die Wasserwand des Niagara, welche die berühmte Grotte der Winde mit einem feuchten, stahlgrünen Vorhange abschließt. Hier bestand dieser Vorhang nur nicht aus ungeheuren Wassermassen, sondern aus einem Flammenmeere, das vor der Höhlenöffnung lodernd herabfloß.

»O du hilfreicher Himmel! rief Kapitän Servadac, so viel hatte ich von dir ja gar nicht erbeten!«

21. Capitel
Einundzwanzigstes Capitel.
In welchem der Leser erfährt, welch' prächtige Ueberraschung die Natur eines schönen Tages den Bewohnern der Gallia bereitet.

Diese durchwärmte und hell erleuchtete Höhle bot der kleinen Welt der Gallia, welche darin untergebracht werden sollte, in der That eine prächtige Wohnung. Und nicht nur Hector Servadac nebst »seinen Unterthanen«, wie Ben-Zouf zu sagen liebte, fand hier hinlänglich Platz, sondern es mußten auch die beiden Pferde des Kapitäns, sowie eine ausreichende Zahl der nöthigen Hausthiere darin Schutz gegen die Kälte des Gallia-Winters finden, wenn dieser Winter überhaupt jemals ein Ende hatte.

Man erkannte sehr bald, daß diese ganze geräumige Höhle eigentlich aus den vereinigten Ausläufern zwanzig verschiedener Schächte bestand, die [195] sich weiter rückwärts in der Gesteinsmasse verzweigten und welche die erwärmte Luft in sehr hoher Temperatur durchstrich. Man hätte sagen können, daß die Wärme daselbst durch die mineralischen Poren des Berges hindurchschwitzte. Unter diesen dicken Gewölben mußten alle lebenden Wesen des neuen Weltkörpers, geschützt gegen jede Unbill eines polaren Klimas und gegen die Kälte des leeren Weltraumes, so tiefe Grade diese auch erreichen mochte, eine sichere Unterkunft finden, wenigstens so lange die Thätigkeit des Vulkans anhielt. In Bezug auf letztere Frage bemerkte Graf Timascheff aber ganz richtig, daß man doch während der Fahrt der Dobryna längs der Küste des neuen Meeres keinen weiteren feuerspeienden Berg angetroffen habe, und daß diese Eruption, wenn man hier nur die einzige Ausströmungsöffnung für das innere Feuer der Gallia vor sich habe, recht leicht Jahrhunderte hindurch andauern könne.

Jetzt galt es also, keinen Tag, nein, keine Stunde zu verlieren. So lange die Dobryna noch offenes Wasser fand, mußte man zunächst nach der Insel Gourbi zurückkehren, diese hurtig »ausräumen«, Menschen und Thiere ohne Säumen nach ihrer neuen Wohnstätte schaffen, daselbst Getreide, Feldfrüchte und Futterstoffe aufspeichern und sich endgiltig in »Warm-Land« häuslich einrichten – so nämlich nannte man, gewiß ganz treffend, diesen vulkanischen Theil des Vorgebirges.

Noch an demselben Tage kehrte die Schaluppe zur Insel Gourbi zurück und schon am nächstfolgenden begannen die nöthigen Arbeiten.

Es kam hier eine sehr lange Ueberwinterung in Frage, bei der man sich gegen alle Eventualitäten zu decken suchen mußte. Ja, eine schwierige, lange, vielleicht endlose Ueberwinterung mit ganz anderen Ge fahren und Mühseligkeiten, als sie die sechs Monate Nacht und Winter den Polarfahrern drohen. Wer vermochte in vorliegendem Falle vorauszusehen, wann die Gallia aus den Fesseln des Eises befreit werden würde? Wer konnte sagen, ob ihre Bahn überhaupt eine in sich zurücklaufende Curve beschrieb oder eine Ellipse, welche sie jemals nach der Sonne hin zurückführen würde?

Kapitän Servadac theilte nun den Uebrigen die gemachte glückliche Entdeckung mit. Der Name »Warm-Land« fand vorzüglich bei Nina und den Spaniern den ungetheiltesten Beifall und Alle dankten aus freudigem Herzen der Vorsehung, welche die Umstände für sie so glücklich gestaltete.

Während der drei folgenden Tage legte die Dobryna drei Reisen zurück. Bis zur Höhe der Schanzkleidung beladen, transportirte sie zuerst die Vorräthe [196] an Cerealien und Futtergewächsen, welche in den tiefen, zu Magazinen bestimmten Schächten abgelagert wurden. Am 15. März bevölkerten sich dann die Felsenstallungen mit Hausthieren, Ochsen, Kühen, Schafen und Schweinen, in der Anzahl von etwa einem halben Hundert Köpfen, deren Racen man erhalten wollte. Von den anderen, denen die Kälte ohnehin mit baldiger Vernichtung drohte, sollte eine möglichst große Menge erlegt werden, da die rauhe Witterung das Fleisch derselben ja beliebig lange zu conserviren versprach. Die Gallia-Bewohner mußten also einen mehr als ausreichenden Vorrath an Nahrungsmitteln, wenigstens mit Rücksicht auf ihre dermalige Anzahl, erlangen.

Die Frage wegen der nöthigen Getränke bot keine sonderliche Schwierigkeit. Freilich mußte man sich mit einfachem Süßwasser begnügen, dieses Wasser aber konnte niemals fehlen, weder im Sommer, wo es die Bäche und Cisternen der Insel Gourbi lieferten, noch im Winter, weil es dann die Kälte durch Gefrieren des Meerwassers erzeugte.

Während man auf der Insel in erwähnter Weise thätig war, beschäftigten sich Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop mit der inneren Einrichtung der neuen Wohnstätte auf Warm-Land. Man mußte sich beeilen, denn schon widerstand das Eis selbst zu Mittag den lothrechten Strahlen der Sonne, und unzweifelhaft erschien es doch vortheilhafter, den Seeweg zu benützen, so lange das Meer noch frei blieb, statt eines beschwerlichen Ueberganges über seine erstarrte Oberfläche.

Die Einrichtung der verschiedenen, in der Bergmasse des Vulkanes vorhandenen Aushöhlungen vollzog sich mit einsichtiger Benützung aller erreichbaren Vortheile. Wiederholte Nachsuchungen hatten zur Entdeckung noch mehrerer Gänge und Schächte geführt. Der ganze Berg glich einem riesenhaften Bienenstock mit einer ungeheuren Anzahl von Zellen. Die Bienen – d.h. hier die Kolonisten – mußten darin bequeme, ja mit hinreichendem Comfort ausgestattete Wohnungen finden. Zu Ehren des kleinen Mädchens nannte man das Ganze auf Grund jener inneren Anordnung den »Nina-Bau«.

Kapitän Servadac's und seiner Genossen erste Sorge war es nun, jene vulkanische, von der Natur so freigiebig gelieferte Wärme den Bedürfnissen des täglichen Lebens nutzbar zu machen. Durch Eröffnung neuer kleiner Rinnen für die feurig-flüssige Lava wurde ein hinreichender Theil nach geeigneten Stellen abgeleitet. Als die Küche aus der Dobryna auf diese Weise an gelegenem Orte eingerichtet war, erhielt sie also ihre Feuerung [197] durch die Lava, und Mochel, der Oberkoch der Goëlette, machte sich sehr bald mit dieser neuen Art von Herdfeuerung vertraut.

»He, meinte Ben-Zouf, wenn in der alten Welt jedes Haus so einen kleinen Vulkan als Wärmelieferanten haben könnte, der für seine Leistungen keinen Heller beansprucht, das wäre doch einmal ein Fortschritt!«

Die größte Höhle, jene Ausmündungsstelle, nach der die Schächte des Berginnern alle zusammenliefen, wurde zur gemeinsamen Wohnung bestimmt und mit den hauptsächlichsten Möbeln des Gourbi und der Dobryna ausgestattet. Die Segel der Goëlette waren abgenommen und nach dem Nina-Bau geschafft worden, wo sie zu den verschiedensten Zwecken dienen sollten. Selbstverständlich fand auch die mit russischen und französischen Werken reichlich ausgestattete Schiffsbibliothek in dem großen Wohnraume Aufnahme. Tische, Stühle, Lampen u.s.w. vervollständigten dessen Einrichtung, während die Wände mit den Seekarten der Dobryna geschmückt wurden.

Wir erwähnten schon, daß der Feuer-Vorhang, welcher vor der Oeffnung der Haupthöhle herabfiel, dieselbe gleichzeitig erwärmte und erleuchtete. Dieser Lava-Katarakt stürzte sich in ein kleines, von einem Kranze zusammenhängender Klippen umschlossenes Bassin, das mit dem Meere in keinerlei Verbindung zu stehen schien, letzteres stellte offenbar die Ausmündung eines sehr tiefen Schlundes dar, dessen Wasser durch die glühenden Auswurfsmassen ohne Zweifel auch dann noch im flüssigen Zustande erhalten werden mußte, wenn die Kälte auch das ganze übrige Gallia-Meer in Fesseln und Banden schlug. Eine zweite, im Hintergrunde und links von dem allgemeinen Wohnraume sich anschließende Höhle wurde zum Privatgemach für Kapitän Servadac und Graf Timascheff hergerichtet Der Lieutenant Prokop und Ben-Zouf bewohnten zusammen eine andere, sich zur Rechten anschließende Felsenkammer, und ganz im Hintergrunde des Hauptraumes fand sich auch noch ein freilich nur beschränktes Stübchen für die kleine Nina Die russischen Matrosen und die Spanier errichteten ihre Lagerstätten in den nach dem größeren Saale ausmündenden Gängen, für deren Erwärmung das Centralfeuer des Berges hinlänglich sorgte Diese Einzelräume zusammen bildeten den erwähnten »Nina-Bau«. Die kleine auf diese Weise untergebrachte Kolonie konnte nun ohne Zagen den langen, rauhen Winter erwarten, der sie im Berginnern von Warm-Land gefangen halten mußte. Hier konnte sie ungestraft jede beliebige Erniedrigung der Außentemperatur aushalten. Wie weit letztere herabgehen [198] konnte, im Falle die Gallia nur bis zur Bahn des Jupiter gelangen sollte, dafür giebt die Rechnung einen Anhalt, daß letztgenannter Planet nur noch den fünfundzwanzigsten Theil derjenigen Sonnenwärme erhält, welcher der Erde in ihrer Bahn zuströmt.

Was wurde denn aber während dieser Auszugsarbeiten, dieser fieberhaften Thätigkeit, welcher sich selbst die Spanier nicht entziehen konnten, aus Isaak Hakhabut, der starrsinnig am Ankerplatze der Insel Gourbi zurückblieb?

Immer ungläubig, trotz aller Beweise, welche man ihm aus Menschlichkeit darlegte, um sein Mißtrauen zu besiegen, harrte er an Bord seiner Tartane aus, wachte über seine Waarenvorräthe, wie der Geizhals über seine Schätze, murrte jetzt und jammerte dann, und spähte, freilich vergeblich, nach dem Horizonte hinaus, ob nicht ein anderes Schiff in Sicht der Insel erschiene. Die Anderen waren nun wenigstens, und Niemand beklagte sich darüber, von dem Anblick seiner abschreckenden Erscheinung vorläufig befreit. Der Jude hatte mit aller Bestimmtheit erklärt, er werde seine Waaren nur gegen coursfähige Münze ausliefern. In Folge dessen verbot Kapitän Servadac strengstens, ihm irgend etwas zu nehmen, aber gleichzeitig auch, ihm nur das Geringste abzukaufen. Man werde ja bald sehen, ob dieser Starrkopf nicht der zwingenden Nothwendigkeit und den thatsächlichen Verhältnissen, über die ihm bald die Augen aufgehen mußten, nachgeben werde.

Offenbar glaubte Isaak Hakhabut jetzt noch ganz und gar nicht an die merkwürdige und furchtbare Lage, in welche sich die kleine Kolonie versetzt sah. Seiner Meinung nach befand er sich noch immer auf der Erdkugel, von welcher ein unerhörtes Naturereigniß nur einige Theile verändert habe, und hoffte früher oder später Gelegenheit zu finden, die Insel Gourbi verlassen und seinen Handel längs der Küsten des Mittelmeeres wieder aufnehmen zu können. Bei seinem überall hervortretenden Mißtrauen bildete er sich ein, es bestehe gegen ihn ein Complot mit der Absicht, ihm seine Güter zu rauben. Er wollte sich nun einmal, wie er sagte, nicht zum Besten haben lassen, verwarf also jene Hypothese bezüglich eines ungeheuren, von der Erde losgerissenen und in den Weltraum hinausgeschleuderten Blockes, und wollte sich nicht plündern lassen, weshalb er sein Schiff Tag und Nacht bewachte.


Es zeigte sich eine große, blendend erleuchtete Höhle. (S. 195.)

Da aber bis jetzt Alles damit übereinstimmte, die Existenz eines neuen, durch die Sonnenwelt wandelnden und nur von den Engländern in Gibraltar und den Ansiedlern der Insel Gourbi bewohnten Gestirns vorauszusetzen, so mochte Isaak Hakhabut [199] sein altes, wie ein langgebrauchtes Ofenrohr geflicktes Fernrohr auf den Horizont richten, so viel er wollte, es zeigte sich doch kein Schiff, es traf kein Händler ein, der sein Geld gegen die Schätze der Hansa vertauscht hätte.

Dem Juden waren die Vorbereitungen für die projectirte Ueberwinterung nicht unbekannt geblieben. Seiner eingefleischten Gewohnheit nach wollte er zuerst überhaupt nicht daran glauben. Als er aber die häufigen nach Süden [200] gerichteten Fahrten der Dobryna und die Fortschaffung der Ernten und der Hausthiere sah, schloß er daraus nur, daß Kapitän Servadac und seine Gefährten im Begriff ständen, die Insel Gourbi zu verlassen.

Was drohte denn nun aus dem armen Hakhabut zu werden, wenn sich Alles bestätigte, was er jetzt hartnäckig leugnete? Nicht mehr auf dem Mittelländischen, sondern auf dem Gallia-Meere zu sein! Sein schönes, deutsches [201] Vaterland nicht wiederzusehen! In Tripolis und Tunis nicht mehr sein »Profitchen« zu machen! – O, das mußte sein Untergang sein!

Nun sah man ihn wohl häufiger die Tartane verlassen und sich dort an eine Gruppe Russen oder Spanier herandrängen, die ihn mit irgend einem schlechten Witze heimschickten. Er versuchte wohl auch Ben-Zouf zu kirren, indem er diesem einige Prisen Tabak anbot, welche die Ordonnanz »auf ergangenen Befehl« abschlug.


Ben-Zouf executirte eine im Elysium des Montmartre sehr beliebte Tanzpièce. (S. 205.)

»Nichts da, alter Zabulon, sagte er, nicht einmal eine Prise! Du bist im Bann, Du wirst Deine Vorräthe selbst essen und trinken, Deinen Tabak selbst aufschnupfen, Du ganz allein, alter Sardanapal!«

Als Isaak Hakhabut einsah, daß er von den »Heiligen« keine Aufklärung erlangen konnte, wandte er sich an deren »Gott« selbst und fragte eines Tages Kapitän Servadac, ob Alles, was man ihm vorher gesagt, auf Wahrheit beruhe, indem er sich versichert halte, daß ein französischer Officier einen armen Mann, wie ihn, nicht werde täuschen wollen.

»Zum Teufel, ja, das ist Alles wahr, antwortete Hector Servadac, dem ob solch' hartnäckigen Unglaubens die Geduld ausging, Ihr habt nur noch Eins zu thun, nämlich nach dem Nina-Bau überzusiedeln.

– Steh' mir bei der ewige Gott und der Mohamed! seufzte der Jude, der als halber Renegat beide Anrufungen vereinigte.

– Wollt Ihr drei oder vier Mann haben, die Hansa nach dem neuen Ankerplatz bei Warm-Land überzuführen?

– Ich möchte gehen nach Algier! erwiderte Hakhabut.

– Aber, ich wiederhole Euch, Algier existirt hier nicht mehr.

– Herrgott Israel's, wäre das möglich?

– Zum letzten Male also, wollt Ihr uns mit der Tartane nach Warm-Land folgen, wo wir zu überwintern denken?

– Erbarmen! Erbarmen! Das geht um mein Hab' und Gut.

– Ihr wollt nicht? Nun wohl, so schaffen wir die Hansa wider Euren Willen und ohne Euch nach einer sicheren Stelle.

– Wider meinen Willen, Herr Gouverneur?

– Gewiß, denn ich kann nicht zugeben, daß diese ganze kostbare Ladung durch Eure kurzsichtige Halsstarrigkeit zu Grunde gehe, ohne irgend Jemanden zu nützen.

– Das ist mein Untergang!

[202] – Er war es noch sicherer, wenn wir Euch gewähren ließen, antwortete Hector Servadac achselzuckend, und nun geht meinetwegen zum Teufel!«

Isaak Hakhabut kehrte nach seiner Tartane zurück, streckte die Arme gen Himmel und protestirte heulend gegen die unglaubliche Habgier der »schlechten Menschen«.

Am 20. März erreichten die letzten Arbeiten auf der Insel Gourbi ihr Ende. Man brauchte nur noch abzureisen. Das Thermometer war allmälig auf acht Grad unter Null gesunken. In der Cisterne verblieb kein Tropfen flüssigen Wassers mehr. Es ward demnach beschlossen, daß sich am folgenden Tage Alle auf der Dobryna einschiffen und die Insel verlassen sollten, um im Nina-Bau eine Zuflucht zu suchen. Ebenso kam man überein, die Tartane, trotz der wiederholten Proteste ihres Eigenthümers, dahin überzuführen. Lieutenant Prokop hatte ausdrücklich erklärt, die Hansa werde bei weiterem Verweilen im Hafen des Cheliff dem Drucke des Eises hinreichenden Widerstand nicht bieten können und folglich zu Grunde gehen. In jener Bucht von Warm-Land werde sie besser geschützt liegen und jedenfalls, selbst wenn ihr der Untergang drohe, werde man mindestens ihre Ladung zu bergen im Stande sein.

Bald nachdem die Goëlette also die Anker gelichtet, bewegte sich auch die Hansa trotz der Wehklagen und Proteste Isaak Hakhabut's vorwärts. Bier russische Matrosen nahmen auf dem Schiffe Platz, das nach Entfaltung seines Großmarssegels, »ein schwimmender Kramladen«, wie Ben-Zouf sagte, sich nach Süden wandte.

Die fortwährenden Schimpfereien des Juden während der Ueberfahrt, seine ewige Wiederholung, daß man wider seinen Willen handle, daß er gar Niemanden brauche und keinerlei Hilfe verlangt habe, lassen sich hier gar nicht wiedergeben. Er weinte, er klagte und wimmerte – wenigstens mit dem Munde – denn er konnte es nicht unterdrücken, daß seine kleinen grauen Augen dann und wann Blitze schleuderten durch die heuchlerischen Thränen. Als er aber nach drei Stunden in der Bucht von Warm-Land wohl befestigt lag und sich und seine Ladung in Sicherheit wußte, da hätte Jeder, der in seine Nähe kam, erstaunen müssen über die unzweideutige Befriedigung, die aus seinen Blicken sprach, und bei schärferer Aufmerksamkeit hätte er ihn murmeln hören können:

[203] »Umsonst! Gott, der Gerechte! Ueber die Schwachköpfe! Sie haben mich umsonst hierher gelootst.«

In diesen Worten offenbarte sich der ganze Charakter dieses Menschen. Umsonst! Man hatte ihm einen Dienst »umsonst« erwiesen.

Die Insel Gourbi war nun von Menschen endgiltig verlassen. Nichts verblieb mehr auf diesem letzten Reste einer ehemaligen Kolonie Frankreichs, außer dem Wild und Geflügel, das den Nachstellungen der Jäger noch entgangen und durch die zu erwartende Kälte dem baldigen Untergange verfallen war. Nachdem die Vögel irgend ein anderes, ihnen günstigeres Land in der Ferne gesucht hatten, waren sie zur Insel zurückgekehrt, ein Beweis, daß nirgends ein anderes Gebiet existirte, das sie hätte ernähren können.

An genanntem Tage nahmen Kapitän Servadac und seine Gefährten von ihrer neuen Wohnstätte feierlich Besitz. Die innere Einrichtung des Nina-Baues fand allgemeinen Beifall und Jeder wünschte sich Glück, ein so bequemes und vorzüglich so angenehm durchwärmtes Unterkommen gefunden zu haben. Nur Isaak Hakhabut theilte die Befriedigung der Uebrigen nicht. Er weigerte sich sogar, überhaupt in die Gänge des Bergstockes mit einzutreten, und verblieb an Bord seiner Tartane.

»Er fürchtet ohne Zweifel, Miethzins zahlen zu sollen, sagte Ben-Zouf. Doch immerhin. Bald wird er in's Winterlager getrieben werden, der alte Fuchs; die Kälte wird ihm schon sein Loch verleiden!«

Gegen Abend wurden die Kessel eingehängt und bald versammelte eine gute Mahlzeit, deren Gerichte über vulkanischem Feuer bereitet waren, die ganze kleine Welt in dem großen Saale. Mehrere Toaste, zu denen die Vorräthe der Dobryna an französischen Weinen den nöthigen Stoff lieferten, wurden dabei dem General-Gouverneur und seinem »Verwaltungsrathe« ausgebracht. Ben-Zouf bezog natürlich ein gutes Theil davon auf seine Person.

Es ging sehr lustig zu. Die Spanier vorzüglich wurden geradezu ausgelassen. Der eine holte die Guitarre hervor, ein Anderer die Castagnetten und Alle begannen im Chore zu singen. Ben-Zouf seinerseits gab das in der ganzen französischen Armee so bekannte »Lied des Zuaven« zum Besten, dessen Reiz freilich nur Der zu schätzen weiß, der es von einem Virtuosen, wie die Ordonnanz des Kapitän Servadac, vortragen hörte. Es lautete übrigens:


[204]
Misti goth dar dar tire lyre!
Flic! floc! flac! lirette, lira!
Far la rira,
Tour tala rire,
Tour la Ribaud,
Ricandeau,
Sans repos, répit, répit repos, ripette!
Si vous attrapez mon refrain,
Fameux vous étes. 1

Dann ward ein Ball improvisirt, gewiß der erste auf der Gallia. Die russischen Matrosen versuchten sich in einigen vaterländischen Tänzen, denen Alle selbst nach den bezaubernden Fandangos der Spanier, reichen Beifall zollten. Ben-Zouf executirte eine im Elysium des Montmartre sehr beliebte Tanzpièce mit solchem Geschicke und solcher Ausdauer, daß der liebenswürdige Choreograph die ernsthaftesten Complimente Negrete's erntete.

Um neun Uhr ging dieses Einzugsfest zu Ende. Jeder fühlte das Bedürfniß, frische Luft zu schöpfen, denn durch die Tänze und die schon vorher herrschende Temperatur war es im großen Saale etwas gar zu warm geworden.

Ben-Zouf ging den Anderen voraus durch jenen Hauptgang, der an der Küste von Warm-Land auslief. Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop folgten ihm langsameren Schrittes, als wiederholte Ausrufe von außerhalb sie zu größerer Eile an trieben. Sie hörten indessen, daß jene keine Ausrufe des Schreckens waren, sondern ein Freudengeschrei mit Hurrahs, welche in dieser trockenen und reinen Atmosphäre laut widerhallten.

Als Kapitän Servadac mit seinen beiden Begleitern den Ausgang der Galerie erreichte, sahen sie die Anderen alle auf dem Felsen zusammenstehen. Ben-Zouf wies mit der Hand gen Himmel und schien ganz außer sich zu sein.

»Ah, Herr General-Gouverneur! Hier, gnädiger Herr! rief er mit nicht wiederzugebender freudig erregter Stimme.

[205] – Nun, was giebt es? fragte Kapitän Servadac.

– Dort, dort, der Mond!« erwiderte Ben-Zouf.

In der That, da stieg der Mond auf aus den Nebeldünsten der Nacht und goß sein Licht zum ersten Male über die erstaunten Bewohner der Gallia.

Fußnoten

1 Deutsch nicht wiederzugeben, da der größte Theil aus sinnlosen Silben besteht.

Anm. d. Uebers.

22. Capitel
Zweiundzwanzigstes Capitel.
Welches mit einem kleinen Experimente aus der unterhaltenden Physik endigt.

Der Mond! Doch wenn das der Mond war, warum war er so lange verschwunden? Und wenn er jetzt zurückkehrte, woher kam er? Bisher hatte noch kein Satellit der Gallia auf ihrer Bahn um die Sonne das Geleite gegeben. Verließ die ungetreue Diana jetzt etwa gar die Erde, um bei dem neuen Gestirn in Dienst zu treten?

»Nein, das ist unmöglich, meinte Lieutenant Prokop. Die Erde steht mehrere Millionen Meilen von uns entfernt und ihr Mond gravitirt um sie gewiß noch ganz so wie früher.

– Ja, darüber wissen wir nichts, bemerkte Kapitän Servadac. Warum sollte der Mond nicht in letzterer Zeit in das Attractionsbereich der Gallia gekommen und deren Satellit geworden sein?

– Er müßte sich dann an unserem Horizonte schon gezeigt haben, mischte sich Graf Timascheff in das Gespräch, und wir hätten nicht erst drei Monate zu warten gebraucht, um ihn wieder zu Gesicht zu bekommen.

– Meiner Treu, antwortete Kapitän Servadac, es ist ja Alles, was uns widerfuhr, gar so merkwürdig und sonderbar.

– Herr Kapitän, erwiderte Lieutenant Prokop, die Hypothese, daß die Attraction der Gallia mächtig genug wäre, um die Erde ihres Satelliten zu berauben, ist absolut unzulässig.

– Zugegeben, Lieutenant, entgegnete Hector Servadac. Wer verbürgt Ihnen aber, daß dasselbe Ereigniß, welches uns von der Erde ablöste, nicht [206] gleichzeitig auch den Mond mit fortriß? Nach monatelangem Durchirren der Sonnenwelt sucht er sich nun an uns anzuschließen.

– Nein, Herr Kapitän, gewiß nicht, versicherte Lieutenant Prokop, und zwar aus einem ganz unwiderlegbaren Grunde.

– Und der wäre?

– Der, daß die Masse der Gallia eine weit geringere ist als die des Erdtrabanten. In Folge dessen müßte die Gallia eher dessen Mond werden, jener aber niemals der unsere.

– Ich stimme Ihnen gerne zu, Lieutenant, sagte Hector Servadac, wer aber vermag den Beweis zu führen, daß wir nicht wirklich den Mond des Mondes bewohnen und nur den Erdsatelliten auf einer neuen, ihm innerhalb der Planetenwelt zugewiesenen Bahn begleiten?

– Verlangen Sie von mir ernstlich eine Widerlegung dieser neuen Hypothese? fragte Lieutenant Prokop.

– Nein, erwiderte Kapitän Servadac lachend, denn es ist ja einleuchtend, daß unser Asteroïd als Unter-Satellit nicht wohl drei Monate nöthig haben könne, um etwa einen Halbkreis um die nicht erleuchtete Oberfläche des Mondes zu beschreiben, und letzterer müßte uns seit der allgemeinen Katastrophe wohl schon mehr als einmal erschienen sein.«

Während der Dauer dieser Unterhaltung stieg der Satellit der Gallia – mochte es nun ein Gestirn sein, welches es wollte – schnell am Horizonte empor, wodurch das letzte Argument des Kapitän Servadac eine unmittelbare Bestätigung fand. Man konnte jenen jetzt bequem beobachten. Schnell wurden die Fernrohre zur Stelle geschafft und sehr bald überzeugte man sich, daß man hier die alte Phöbe der irdischen Nächte bestimmt nicht vor sich habe.

Obwohl dieser Satellit nämlich der Gallia weit näher zu stehen schien, als der Mond jemals der Erde steht, so war er doch offenbar nur sehr klein, und mochte nur den zehnten Theil der Erdenmond-Oberfläche besitzen. Hier hatte man also nur einen sehr verkleinerten Mond vor sich, der das Licht der Sonne nur sehr schwach widerstrahlte und damit kaum dasjenige der Sterne achter Größe verdunkelt hätte. Er war übrigens im Westen, der augenblicklichen Stellung der Sonne gerade entgegengesetzt, aufgegangen, mußte jetzt also »voll« sein. Eine Verwechselung mit dem Monde war ganz unmöglich, Kapitän Servadac überzeugte sich bald von dem Nichtvorhandensein jener sogenannten [207] Meere, Rillen, Krater, Berge und aller anderen Einzelheiten, welche man auf den selenographischen Karten so deutlich sieht. Das war nicht das freundliche Gesicht der Schwester Apollo's, die nach den Einen jung und schön, nach Anderen alt und runzelig, die sublunarischen Sterblichen seit unzählbaren Jahrhunderten schon ruhigen Blickes beobachtet.

Hier handelt es sich also um einen ihnen eigenthümlichen Mond, wahrscheinlich, wie Graf Timascheff äußerte, um irgend einen der Asteroïden, den die Gallia bei ihrem Laufe durch die Zone der teleskopischen Planeten an sich gezogen hatte. Ob das freilich wirklich einer der jener Zeit katalogisirten hundertneunundsechzig kleinen Planeten war, konnte natürlich Niemand wissen, vielleicht gab die Zukunft hierüber Aufklärung. Es giebt in der That solche Asteroïden von so geringem Umfange, daß ein guter Fußgänger binnen vierundzwanzig Stunden um sie herum gelangen könnte. Ihre Masse erreichte in diesem Falle noch lange nicht die der Gallia, deren Attractionskraft demnach hingereicht haben würde, einen dieser Miniatur-Mikrokosmen an sich zu fesseln.

Die erste im Nina-Bau verbrachte Nacht verlief ohne Zwischenfall. Am anderen Tage wurde das gemeinsame Leben endgiltig organisirt. »Monseigneur, der General-Gouverneur«, wie Ben-Zouf sich emphatisch ausdrückte, duldete keinen Müßiggang, den Hector Servadac wirklich seiner Folgen wegen vor Allem fürchtete. Man regelte also die tägliche Beschäftigung mit möglichster Sorgsamkeit, da es an Arbeit ja nicht fehlte. Einen großen Theil derselben nahm die Sorge für die Hausthiere in Anspruch. Die Zubereitung conservirbarer Nahrungsmittel, der Fischfang, so lang ihn das offene Wasser noch gestattete, die bessere Einrichtung der Galerien, welche der Bequemlichkeit halber an manchen Stellen erweitert wurden, endlich tausenderlei unvorhergesehene Abhaltungen ließen die Arme niemals feiern.

Wir fügen hierbei ein, daß in der kleinen Kolonie das vollkommenste Einvernehmen herrschte. Russen und Spanier fanden sich in einander und begannen schon einige französische Worte, die officielle Sprache auf der Gallia, zu benutzen.

Pablo und Nina wurden die Schüler des Kapitän Servadac, der sie eifrig unterrichtete, während es Ben-Zouf oblag, für ihre Zerstreuung zu sorgen. Die Ordonnanz lehrte ihnen nicht nur französisch, sondern, was noch weit mehr sagen will, »parisisch« sprechen. Er versprach ihnen auch, sie [208] dereinst nach einer »am Fuße eines Berges erbauten Stadt« zu führen, die in der Welt nicht ihresgleichen habe und von der er die verlockendsten Schilderungen entwarf. Der Leser erräth, welche Stadt der enthusiastische Lehrmeister im Sinne hatte.


Die beiden Beobachter vermochten mittels Fernrohres zu erkennen ... (S. 211.)

Damals wurde auch eine gewisse Etiquetten-Frage gelöst.

Man erinnert sich, daß Ben-Zouf seinen Herrn als General-Gouverneur der Kolonie vorgestellt hatte. Er begnügte sich aber nicht, ihm diesen Titel zu [209] octroyiren, sondern er nannte ihn bei jeder Gelegenheit auch noch »Monseigneur«. Hector Servadac berührte das endlich unangenehm, so daß er seiner Ordonnanz aufgab, ihm diesen Ehrentitel nicht ferner beizulegen.

»Aber, Monseigneur? ... antwortete unverdrossen Ben-Zouf.

– Wirst Du schweigen, Kerl!

– Ja, Monseigneur!«

Da sich Hector Servadac gegen Ben-Zouf's Trotzköpfigkeit nicht anders zu helfen wußte, nahm er ihn eines Tages beiseite und sagte:

»Wirst Du endlich aufhören, mich Monseigneur zu nennen?

– Ganz wie es Ihnen beliebt, Monseigneur! antwortete Ben-Zouf.

– Weißt Du Querkopf denn, was Du thust, wenn Du mich so nennst?

– Nein, Monseigneur.

– Kennst Du nicht die Bedeutung dieses Wortes, das Du, wie es scheint, ohne Verstand im Munde führst?

– Nein, Monseigneur.

– Nun, dieses heißt im Lateinischen so viel wie: ›Mein Alter‹, und Du verletzest den Respect gegen Deinen Vorgesetzten, wenn Du mich ›Mein Alter‹ nennst.«

Seit dieser kleinen Lection verschwand wirklich der Titel Monseigneur aus Ben-Zouf's Wortschatze.

Die erwartete strenge Kälte war mit der zweiten Hälfte des März noch nicht eingetreten, so daß Hector Servadac und seine Gefährten sich auch noch nicht von der Außenwelt abzuschließen brauchten. Man unternahm sogar einige Ausflüge längs des Ufers und über den neuen Continent, wodurch man sich über das Gebiet im Umkreise von fünf bis sechs Kilometer nähere Kenntniß verschaffte. Ueberall aber bestand Warm-Land aus einer Felsenwüste ohne jede Spur von Vegetation. Da und dort deuteten einige gefrorene kleine Wasserläufe oder mit Schnee bedeckte Stellen das Vorhandensein des flüssigen Elementes auf seiner Oberfläche an. Wie lange Zeit mußte aber der Niederschlag atmosphärischer Dünste fortdauern, bevor diese in Gestalt eines Flusses sich ein Bett in diesem steinichten Boden auszuhöhlen und ihre Wellen nach dem Meere zu entsenden im Stande sein würden! Bildete diese ganze, von den Gallia-Bewohnern Warm-Land genannte, homogene Masse überhaupt einen Continent oder nur eine Insel, reichte sie vielleicht bis zum Südpole [210] hinab? Wer hätte das entscheiden mögen, da eine Expedition über diese metallischen Krystallisationen rein unmöglich erschien!

Kapitän Servadac und Graf Timascheff gelangten indeß eines Tages dazu, sich eine allgemeine Vorstellung ihrer Umgebungen zu verschaffen, als sie dieselben vom Gipfel des Vulkanes aus beobachteten. Dieser Berg erhob sich bekanntlich am Ende des Vorgebirges von Warm-Land und maß etwa neunhundert Meter über dem Meere. Er stellte einen enormen, sehr regelmäßigen und in der Form eines abgestumpften Kegels erscheinenden Block dar. An dem stumpfen Gipfel gähnte der enge Krater, durch den die Eruptionsmassen ausflossen, welche fortwährend ein Riesenhelmbusch von Dunstwolken krönte.

Nach der alten Erde versetzt, hätte man diesen Vulkan gewiß nur mit größter Mühe besteigen können. Seine steilen Abhänge und schlüpfrig-glatten schiefen Ebenen waren dazu angethan, auch die tollkühnsten Bergsteiger abzuschrecken. Jedenfalls wäre ein solcher Versuch mit den größten Schwierigkeiten verknüpft gewesen, ohne die Erreichung des letzten Zieles zu gewährleisten. Hier dagegen verrichteten Hector Servadac und Graf Timascheff, Dank der bedeutenden Verminderung der Schwere und der daraus resultirenden, relativen Zunahme ihrer Muskelkraft, wahrhafte Wunder von Gewandtheit und Kraft. Eine Gemse hätte nicht behender von einem Felsstücke zum anderen springen, ein Vogel nicht sicherer als sie auf dem schmalen Kamme des Abgrundes dahin gehen können. Kaum eine Stunde brauchten sie, um den Niveau-Unterschied von etwa dreitausend Fuß zwischen dem Fuß und dem Gipfel des Berges zu überwinden. Am Krater angelangt, fühlten sie sich nicht mehr ermüdet, als wären sie unter anderen Verhältnissen einen Kilometer weit gegangen. Offenbar bot das Bewohnen der Gallia neben verschiedenen Unbequemlichkeiten doch auch manches Angenehme.

Von der Höhe des Berges vermochten die beiden Beobachter mittels Fernrohres zu erkennen, daß das äußere Ansehen des Asteroïdes sich überall gleich blieb. Nach Norden zu dehnte sich das große Gallia-Meer mit spiegelglatter Ebene aus, denn der Wind schwieg vollständig, als ob die Luftgase durch die Kälte der höheren Schichten erstarrt wären. Ein kleiner, leicht durch den Nebel der Ferne schimmernder Punkt bezeichnete die Stelle der Insel Gourbi. Nach Osten und Westen zu erstreckte sich die wie immer leere, schweigsame Wasserfläche.

[211] Gegen Süden endlich verlor sich Warm-Land hinter den Grenzen des Horizontes. Dieser Ausläufer des Continentes schien ein großes Dreieck zu bilden, dessen eine Spitze der Vulkan einnahm, während die gegenüberliegende Basis unsichtbar blieb. Von dieser, alle kleinen Unebenheiten ausgleichenden Höhe aus zeigte es sich recht deutlich, daß dieses unbekannte Hinterland so gut wie ganz unwegsam war. Die Millionen schroff aufstrebender hexagonaler Lamellen hätten das Vorwärtskommen selbst eines einzelnen Fußgängers gewiß unmöglich gemacht.

»Einen Ballon oder Flügel! rief Kapitän Servadac, eines oder das andere brauchen wir, um dieses Territorium näher in Augenschein zu nehmen. Zum Kuckuck! Wir wandeln hier wahrhaftig auf einem nicht minder merkwürdigen chemischen Producte, als die, welche man in Museen unter Glasglocken aufzubewahren pflegt.

– Bemerken Sie auch, sagte Graf Timascheff, wie die Convexität der Gallia hier weit augenfälliger erscheint und wie kurz in Folge dessen die Entfernung zwischen uns und dem Horizonte ist?

– Gewiß, Graf Timascheff, antwortete Hector Servadac. Es ist dieselbe Erscheinung, nur in verstärktem Maße, welche mir schon von den höheren Uferfelsen aus auffiel. Für einen Beobachter, dessen Standpunkt sich etwa tausend Meter über der alten Erdoberfläche befände, würde sich der Horizont erst in weit größerer Ferne abschließen.

– Unsere Gallia ist doch im Vergleich mit dem Erdsphäroïd ein recht winziges Kügelchen, bemerkte Graf Timascheff.

– Ganz sicher, und dennoch reicht sie für ihre thatsächliche Bevölkerung vollkommen aus, trotzdem, daß der fruchtbare Theil derselben sich auf die dreihundertfünfzig Hectaren cultivirten Landes auf der Insel Gourbi beschränkt.

– Ja wohl, Kapitän, fruchtbar während zwei oder drei Sommermonaten und unfruchtbar während einer mehrtausendjährigen Winterzeit!

– Was klagen Sie? fragte Hector Servadac lächelnd. Es hat uns Keiner vor unserer Einschiffung auf der Gallia um Rath gefragt und wir werden wohl am besten thun, als Philosophen die Verhältnisse zu nehmen wie sie sind.

– Nicht allein als Philosophen, Kapitän, sondern auch als Dankverpflichtete gegen Den, dessen Hand die Lava dieses Vulkanes entzündete.

[212] Ohne diesen Feuerausbruch würden wir auf der Gallia gewiß sehr bald dem Tode des Erfrierens verfallen.

– Und ich hege die feste Hoffnung, Graf Timascheff, daß diese Feuer nicht verlöschen werden vor dem Ende ...

– Welchem Ende, Kapitän?

– Vor dem, das Gott gefällt! Er, nur Er allein kennt es ja!«

Kapitän Servadac und Graf Timascheff schickten sich nach einem letzten Blicke über das Land und das Meer zur Rückkehr an. Vorher schenkten sie nur dem Krater des Vulkanes noch ihre besondere Aufmerksamkeit. Sie überzeugten sich dabei zunächst, daß die ganze Eruption in wahrhaft merkwürdiger Ruhe vor sich ging. Es begleitete sie kein regelloses Krachen, kein betäubender Donner, der sonst gewöhnlich den Auswurf vulkanischer Massen kennzeichnet. Diese relative Ruhe mußte ihnen nothwendiger Weise auffallen. Die Lava schien nicht einmal im Sieden zu sein. Diese feurig-flüssigen Massen stiegen im Krater in gleichmäßiger Bewegung in die Höhe und flossen ganz ruhig ab wie ein friedlicher See, der seinen Wasserüberfluß durch eine Schleuse abgiebt. Der Krater glich – man verzeihe diesen Vergleich – nicht einem über hellem Feuer stehenden Kessel, dessen Wasser in wirbelnder Bewegung ist, sondern weit eher einer bis zum Rande gefüllten Cuvette, die sich ohne Gewalt und Geräusch entleert. Außer dieser Lava beobachtete man auch keinerlei andere Eruptionsmassen, kein Emporschleudern glühender Steine durch die Rauchwolkenkrone über dem Gipfel des Berges, keine Aschenbestandtheile unter jener, wodurch sich auch das gänzliche Fehlen von Bimssteinen, Obsidianen und anderen plutonischen Erzeugnissen, welche sonst die Umgebung der Vulkane zu bedecken pflegen, hinlänglich erklärte. Ebenso sah man auch nirgends einen sogenannten erratischen Block, da es auf dem Berge bis jetzt noch zu einer Gletscherbildung nicht gekommen war.

Diese Eigenthümlichkeit erschien Kapitän Servadac, wie er sagte, von guter Vorbedeutung und ließ eine unbegrenzte Dauer der vulkanischen Eruption vermuthen. Nach moralischen und physischen Gesetzen fehlt nur der Heftigkeit die Ausdauer. Die heftigsten Stürme, ebenso wie der blinde Jähzorn, währen niemals lange. Hier quoll dieser Feuerstrom mit solcher Regelmäßigkeit empor und floß mit solcher Ruhe ab, daß man eine so gut wie unerschöpfliche Quelle desselben annehmen mußte. Beim Anblicke der Niagarafälle, deren oberes Wasser so friedlich in seinem Trappsteinbeile gleitet, kommt [213] uns nie der Gedanke, daß sie jemals ein Ende haben könnten. Am Gipfel dieses Vulkanes hatte man dieselbe Empfindung und würde der Behauptung, daß die Lava nicht in Ewigkeit aus diesem Krater fließen könnte, gewiß ohne Bedenken widersprochen haben.

An diesem Tage trat auch eine Veränderung im physischen Zustande eines der Elemente der Gallia ein; wir bemerken aber im Voraus, daß die Bewohner des Asteroïden jene selbst herbeiführten.

Nach vollendeter Einrichtung der ganzen Kolonie auf Warm-Land und der gänzlichen Räumung der Insel Gourbi, erschien es von Vortheil, die Erstarrung der Oberfläche des Gallia-Meeres zu beschleunigen. Das Eis mußte ja die Communication mit der Insel erleichtern und den Jägern ein erweitertes Gebiet für ihre Ausflüge schaffen. Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop riefen also die ganze Bevölkerung nach einem Uferfelsen an der Spitze des Vorgebirges zusammen.

Trotz der sehr niedrigen Temperatur war das Meer noch eisfrei. Dieser Zustand rührte von dessen vollkommener Ruhe her, da nicht der leiseste Windhauch seine Oberfläche kräuselte. Es ist aber bekannt, daß das Wasser unter diesen Verhältnissen sich bis weit unter den Nullpunkt des Thermometers abkühlen kann, ohne zu gefrieren. Eine einzige schwache Erschütterung freilich genügt dann, um es sofort in Eiskrystallen anschießen zu lassen.

Auch die kleine Nina und Pablo fehlten bei dieser Zusammenkunft nicht.

»Würdest Du, mein Schätzchen, fragte Kapitän Servadac, wohl ein Stückchen Eis bis in's Meer werfen können?

– Ei freilich, antwortete das Kind, mein Freund Pablo würde es aber wohl weiter zu werfen vermögen.

– Versuch' es nur erst selbst!« fuhr Hector Servadac fort, indem er ein kleines Eisstückchen in Nina's Hände legte.

Dann setzte er hinzu:

»Gieb wohl Acht, Pablo! Du wirst jetzt sehen, welch' mächtige Zauberin unsere kleine Nina ist!«

Nina schwenkte einige Male den Arm und schleuderte das Eisstück fort, welches richtig in das ruhige Wasser fiel ...

Sofort entstand ein deutlich hörbares Knistern und Knirschen, das sich bis über die Grenzen des Horizontes hinaus verbreitete ...

Das Meer der Gallia erstarrte in seiner ganzen Ausdehnung!

[214]
23. Capitel
Dreiundzwanzigstes Capitel.
Welches von einem hochwichtigen Ereigniß handelt, das die ganze Kolonie in Aufregung versetzt.

Drei Stunden nach Sonnenuntergang erhob sich am 23. März der Mond am entgegengesetzten Horizonte und zeigte sich den Blicken der Gallia-Bewohner schon im letzten Viertel.

Binnen vier Tagen war dieser Satellit also vom Syzigium nach der Quadratur vorgeschritten, woraus sich eine etwa eine Woche lang andauernde Periode der Sichtbarkeit desselben oder ein Mondwechsel nach je fünfzehn bis sechzehn Tagen ableiten ließ. Für die Gallia erschienen also die Mondmonate ebenso wie die Sonnentage auf die Hälfte verkürzt.

Drei Tage später, am 26. März, trat der Mond in Conjunction zu der Sonne und entzog sich vorläufig der Beobachtung.

»Wird er denn wieder erscheinen?« fragte Ben-Zouf, der sich als dessen erster Entdecker sehr warm für den Satelliten interessirte.

Und wahrlich, nach so zahlreichen kosmischen Erscheinungen, deren Ursache noch jeder Erklärung trotzte, durfte man diese Bemerkung Ben-Zouf's nicht für eine ganz müßige halten.

Bei ganz heiterem Himmel und sehr trockener Atmosphäre sank das Thermometer am 26. bis auf zwölf Grad (C.) unter Null.


Nina schwenkte einige Male den Arm ... (S. 214)

In welcher Entfernung von der Sonne mochte sich die Gallia jetzt befinden? Welchen Weg hatte sie wohl seit dem Datum zurückgelegt, welches das letzte, aus dem Meere aufgefischte Document bezeichnete? Von den Gallia-Bewohnern hätte es Keiner zu sagen vermocht, denn die scheinbare, weitere Verkleinerung der Sonnenscheibe konnte nicht einmal einer annähernden Abschätzung als Unterlage dienen. Es war sehr bedauerlich, daß der anonyme Gelehrte dem Meere nicht neuere Notizen mit den Resultaten seiner letzten Beobachtungen anvertraut hatte. Ganz vorzüglich beklagte Kapitän Servadac, daß diese eigenthümliche Correspondenz mit einem Landsmann – denn er blieb dabei, daß jener ein solcher sei – nicht ferner stattfinden könne.

[215] »Uebrigens, äußerte er sich gegen seine Gefährten, ist es recht gut möglich, daß er seine Etuis- oder Büchsen-Briefsendungen auch weiter fortgesetzt hat, aber keine an der Insel Gourbi oder der Küste Warm-Lands angelangt ist. Jetzt nach Erstarrung des Meeres schwindet uns jede Hoffnung, einen ferneren Brief von diesem Originale zu erhalten.«

In der That war das Meer, wie der Leser weiß, vollkommen zugefroren. Dieser solide Zustand trat damals an die Stelle des flüssigen beim prächtigsten[216] Wetter, als nicht der geringste Wind das Wasser des Gallia-Meeres bewegte. In Folge davon fror dessen Oberfläche auch ganz glatt zu, wie die eines Sees oder des Bassins eines Schlittschuhläufer-Clubs. Keine Erhöhung, keine Blase, kein Spalt zeigte sich hier. Es war eine reine, flecken- und fehlerlose Eisfläche, wel che sich über Gesichtsweite hinaus erstreckte.


Kapitän Servadac that es bald seinem Lehrmeister gleich. (S. 218.)

Welch' gewaltiger Unterschied gegenüber dem gewöhnlichen Aussehen der erstarrten Polarmeere, vorzüglich dicht vor einer Packeismauer! Da sieht man[217] nichts als Eisberge, Spitzhügel, über einander gethürmte und ohne alle Unterstützung des Gleichgewichtes schwebend erhaltene Blöcke. Die Eisfelder stellen in der That nichts Anderes dar als eine Anhäufung regellos durcheinander geworfener Eisstücke; Trümmer, welche die strenge Kälte für eine Zeit lang in der wunderlichsten gegenseitigen Lage zusammenkittet; Eisberge mit leicht zerbrechlicher Basis, deren Gipfel die höchsten Masten der Walfischfahrer überragt.

In diesen arktischen und antarktischen Meeren ist nichts stabil, nichts unbeweglich; das Packeis ist eben nicht aus Bronce gegossen; ein Windstoß, eine Temperaturveränderung erzeugen dort häufig sehr auffällige Veränderungen des ganzen Bildes. Das Ganze gleicht fast einer Reihenfolge feenhafter Decorationen. Hier dagegen lag das Gallia-Meer bewegungslos in Fesseln und erschien noch ruhiger als im flüssigen Zustande, wo seine Oberfläche der Einwirkung des Windes unterlag. Die endlose weiße Fläche war ebener als die Plateaux der Sahara oder die Steppen Rußlands – gewiß wenigstens für sehr lange Zeit. Ueber diesen gleichsam gefangenen Meeresfluthen verstärkte sich der Eispanzer mit der zunehmenden Kälte und mußte seine Festigkeit bewahren bis zum Thauwetter – wenn ein solches jemals wieder eintrat.

Die Russen waren den Anblick der gefrorenen nördlichen Meere gewöhnt, welche sich als sehr unregelmäßig krystallisirte Flächen darstellen. Sie betrachteten dieses, einem Binnensee gleich ebene Gallia-Meer also mit großer Verwunderung, aber auch mit großer Befriedigung, denn die vollkommen glatte Eisfläche lud ja geradezu zum Schlittschuhlaufen ein. Die Dobryna besaß auch ein ganzes Sortiment Schlittschuhe, welche den Liebhabern dieses Vergnügens zur Verfügung gestellt wurden. Solche Liebhaber ließen nicht auf sich warten Die Russen unterrichteten die Spanier, und bei diesen schönen Tagen mit zwar lebhafter, aber doch erträglicher Kälte gab es auf der Gallia bald Niemanden mehr, der sich nicht in der Ausführung der elegantesten Curven übte. Die kleine Nina und der junge Pablo vollbrachten wahre Wunderwerke und wurden mit herzlichen Bravos überschüttet. Der zu jeder gymnastischen Uebung geschickte Kapitän Servadac that es bald seinem Lehrmeister, dem Grafen Timascheff, gleich, und auch Ben-Zouf machte Fortschritte, freilich war er schon mehrmals auf dem großen Bassin des Montmartre-Platzes – »und das gab einem Meere nichts nach« – Schlittschuh gelaufen.

[218] Diese an und für sich sehr heilsame Körperübung gewährte den Bewohnern von Warm-Land gleichzeitig eine nützliche Zerstreuung. Im Falle der Noth konnte man sich ihrer als schnellen Beförderungsmittels bedienen. Wirklich legte Lieutenant Prokop, allerdings der anerkannt vorzüglichste Schlittschuhläufer von Allen, die Strecke von Warm-Land bis zur Insel Gourbi, d.h. zehn Lieues oder sechs Meilen, mehrmals binnen zwei Stunden zurück.

»Das wird auf der Gallia also die Stelle der Eisenbahnen unserer Alten Welt einnehmen, sagte Kapitän Servadac. Uebrigens ist ja der Schlittschuh nichts als eine bewegliche, am Fuße des Fahrenden befestigte Schiene.«

Inzwischen fiel die Temperatur allmälig weiter und erreichte im Mittel fünfzehn bis sechzehn Grad unter Null. Gleichzeitig mit der Wärme verminderte sich auch das Licht, so als ob die Sonnenscheibe stets von dem Monde, wie bei einer partiellen Finsterniß, bedeckt wäre. Ueber alle Gegenstände war nur eine Art Zwielicht gegossen, was einen recht betrübenden Anblick gewährte und moralisch so niederschlagend wirkte, daß man alle Ursache hatte, dagegen anzukämpfen.

Wie sollten auch die von der Erdkugel Verbannten nicht an ihre Verlassenheit denken, da sie früher mitten im Strome des Menschenlebens existirt hatten? Wie hätten sie vergessen können, daß die schon so viele Millionen Meilen von der Gallia wandelnde Erde sich weiter und weiter von ihnen entfernte? Durften sie annehmen, jene überhaupt einmal wieder zu sehen, da dieser von ihr losgesprengte Block immer tiefer und tiefer in den interplanetarischen Weltraum eindrang? Jetzt sicherte sie sogar noch nichts davor, daß sie einst aus der Sphäre der Sonnenattraction heraustreten und sich nach dem Centrum der Anziehung einer anderen Sonne zu bewegen könnten.

Graf Timascheff, Lieutenant Prokop und Kapitän Servadac waren übrigens die einzigen Mitglieder der Gallia-Kolonie, welche sich eine solche Eventualität vorstellen konnten. Ihre Begleiter dagegen durchschauten die Geheimnisse und Gefahren der Zukunft nicht so weit und standen, fast ohne jede klare Vorstellung davon, nur unter dem Einflusse einer in den Annalen des Sonnensystems bis jetzt unerhörten Lage. Man mußte sich also entweder durch Arbeiten oder Vergnügungen zu zerstreuen suchen, und so bot jene [219] Uebung im Schlittschuhlaufen eine sehr glückliche Abwechslung gegen die Eintönigkeit der übrigen täglichen Arbeiten.

Wenn wir sagten, daß alle Bewohner von Warm-Land mehr oder weniger an jener gesundheitsfördernden Leibesübung theilnahmen, so erleidet das doch eine Ausnahme bezüglich Isaak Hakhabut's.

Trotz aller Rauheit der Temperatur war der Jude seit der Hierherfahrt von der Insel Gourbi noch nicht wieder zum Vorschein gekommen. Entsprechend Kapitän Servadac's Verbote, sich jedes Umganges mit ihm streng zu enthalten, hatte ihn auch Niemand auf der Hansa aufgesucht. Eine dünne Rauchsäule nur, welche aus dem Ofenrohre seiner Cabine aufstieg, verrieth noch seine Anwesenheit an Bord. Es kostete ihm das freilich seinen eigenen Vorrath an Heizmaterial, so gering dieser auch war, während ihm doch im Nina-Bau die vulkanische Wärme umsonst zur Verfügung stand. Er scheute aber sogar diese erhöhten Kosten nicht, um nur auf der Hansa bleiben zu können, statt das gemeinschaftliche Leben außerhalb der Tartane zu theilen. Wer hätte während seiner Abwesenheit denn die kostbare Ladung überwacht?

Uebrigens lagen die Tartane und die Goëlette so vorzüglich, daß sie auch der Unbill eines überlangen Winters widerstehen konnten. Lieutenant Prokop hatte auf die Sicherung der Schiffe die größte Sorgfalt verwendet. Fest vertäut in der geschützten Bucht und jetzt von dem starren Eispanzer umklammert, waren sie beide völlig unbeweglich. Man hatte auch die Vorsicht gebraucht, das Eis neben und unter ihrem Rumpfe schräg abzuhacken, so daß dieses nur am Kiel in directer Verbindung stand, ein Verfahren, welches die Ueberwinternden in arktischen Meeren stets einzuhalten pflegen. So sicherte man die Fahrzeuge vor der Pressung des Eises, die sie sonst leicht eindrückt. Hob sich das ganze Eisfeld, so mußten Goëlette und Tartane mit emporsteigen, bei etwa eintretendem Thauwetter aber ebenso in ihre Schwimmlinie langsam zurücksinken.

Das Gallia-Meer war jetzt also in seiner ganzen Ausdehnung zugefroren und hatte sich Lieutenant Prokop gelegentlich seines letzten Besuches der Insel Gourbi auch überzeugen können, daß auch nach Norden, Osten und Westen keine Grenzen des Eisfeldes zu sehen waren.

Eine einzige Stelle dieses ungeheuren Bassins blieb allein von dieser Erstarrung frei: jener Teich, wenn man so sagen darf, am Fuße der Hauptaushöhlung, in den sich ununterbrochen der glühende Lavastrom ergoß. Hier [220] blieb das Wasser in seinem Felsenrahmen stets vollkommen offen, und begannen sich da und dort unter dem Einflusse der strengen Kälte ja einige Eisnadeln zu bilden, so verzehrte sie das Feuer doch im nächsten Augenblicke wieder. Das Wasser zischte und verflüchtigte sich in Berührung mit der Lava und eine Art immerwährenden Siedens hielt seine Moleküle stets in wallender Bewegung. Dieser kleine Meerestheil hätte den Fischern wohl gestattet, ihrer Kunst mit einigem Erfolge nachzugehen. Aber, wie Ben-Zouf sagte, »die Fische darin waren zu hart gesotten, um anzubeißen!«

Mit den ersten Tagen des April änderte sich die Witterung; der Himmel bedeckte sich, ohne daß deshalb eine Steigerung der Temperatur stattfand. Der Thermometerfall stand hier eben nicht mit dem jeweiligen Zustande der Atmosphäre in Verbindung, noch auch mit der größeren oder geringeren Dunstmenge in derselben. Es verhielt sich mit der Gallia in der That nicht so, wie mit den Polarzonen der Erdkugel, welche nothwendig unter dem Einflusse des Atmosphärenzustandes stehen und deren Winter in Folge der von einem Compaßpunkte zum anderen springenden Luftströmungen doch gewisse Unterbrechungen aufweisen. Die Kälte des neuen Sphäroïdes vermochte keine fühlbaren thermometrischen Schwankungen zu veranlassen. Sie rührte in der Hauptsache ja nur von ihrer Entfernung von der Quelle alles Lichtes und aller Wärme her und mußte auch ferner zunehmen, bis sie die von Fourier als untere Temperaturgrenze des freien Weltraumes berechneten Grade erreichte.

Zu dieser Zeit entstand einmal auch ein wirklicher Sturm, ein Sturm zwar ohne Schnee oder Regen, während dessen Dauer aber der Wind mit fast unvergleichbarer Heftigkeit wüthete. Als er sich auf die Feuermassen stürzte, welche den Hauptsaal äußerlich abschlossen, brachte er daselbst höchst merkwürdige Wirkungen hervor. Dabei mußte man sich gegen die Lavatheile, die er nach innen blies, sorgsam schützen. Daß er das Feuer verlöschen sollte, daran war nicht im Entferntesten zu denken. Im Gegentheil steigerte der Orkan dadurch, daß er die Lava mit Sauerstoff sättigte, nur noch die Gluth, etwa wie ein ungeheurer Ventilator. Manchmal wuchs der Druck des Windes so sehr an, daß der flüssige Vorhang einen Augenblick zerriß und ein kalter Luftstrom in die Höhle eindrang; die Spalte schloß sich aber augenblicklich wieder, so daß man diese durchgreifende Lufterneuerung eher für günstig als für verderblich ansah.

[221] Am 4. April begann der neuerdings erworbene Mond sich in Gestalt eines zarten Halbmondes wieder neben der Irradiation der Sonne abzuheben. Er tauchte also nach einer Periode von etwa acht Tagen wieder auf, ganz wie man es seiner schon beobachteten Bewegung nach vermuthet hatte. Die mehr oder minder begründete Befürchtung, ihn niemals wieder zu sehen, ging also zu Ben-Zouf's besonderer Freude nicht in Erfüllung und der neue Satellit schien bestimmt, regelmäßig seine halbmonatliche Kreisbahn um die Gallia zu beschreiben.

In Folge des Verschwindens alles übrigen cultivirten Erdbodens hatten sich, wie wir wissen, alle in der Atmosphäre der Gallia mit entführten Vögel nach der Insel Gourbi geflüchtet. Dort hatte der angebaute Boden zu ihrer Ernährung während der schönen Tage wohl vollkommen hingereicht und so sah man sie damals auch in Schaaren von vielen Tausenden sich auf der Insel niederlassen.

Mit Eintritt der dauernden Kälte aber bedeckten sich die Felder dort sehr bald mit Schnee, der an der Oberfläche zu einer so harten Kruste zusammenfror, daß sie auch der kräftigste spitze Schnabel nicht mehr zu durchbrechen vermochte. Dieser Umstand veranlaßte wieder eine ganz allgemeine Auswanderung der Vögel, die sich nun, durch ihren Instinct geleitet, Warm-Land zum Wohnsitz erkoren.

Dieser Continent hatte ihnen zwar auch keine Nahrung zu bieten, aber er war doch bewohnt. Statt die Menschen zu fliehen, suchten die Vögel sich diesen vielmehr zu nähern. Aller täglich außerhalb der Galerien abgelagerte Abfall verschwand augenblicklich, doch es hätte ungeheurer Mengen desselben bedurft, um diese Tausende von Individuen jeder Art zu sättigen. Bald wagten sich, durch Kälte und Hunger getrieben, einige hundert Stück Geflügel in den engen Tunnel und erwählten sogar die inneren Räume des Nina-Baues zu ihrer Wohnung.

Man mußte bei der Unerträglichkeit dieses Zustandes also wieder daran denken, auf jene Jagd zu machen. Es bot das wiederum eine Ablenkung von den täglichen Arbeiten und die Jäger der kleinen Kolonie gingen denn auch fleißig an's Werk. Die Anzahl dieser Vögel war eine so bedeutende, daß ihr Einzug mehr einem massenhaften Ueberfall von Feinden glich. Sie waren so verhungert und in Folge dessen so gierig, daß sie den Leuten, welche im großen Saale aßen, fast die Fleischschnitte und Brotstückchen aus der Hand [222] rissen. Man verfolgte sie nun mit Steinwürfen, Stockschlägen, selbst mit Flintenschüssen, doch nur nach einer ganzen Reihe von Gefechten erreichte man es, sich dieser lästigen Gäste wenigstens theilweise zu entledigen, während man einige Pärchen zur Erhaltung der Race schonte.

Ben-Zouf spielte hierbei den Oberjägermeister. O, wie er sich da fühlte und wie er commandirte! Wieviel Soldatenkraftworte verschwendete er gegen die armen Vögel! Und wieviele verzehrte man im Laufe einiger Tage von den eßbaren Gattungen darunter, wie wilde und langgeschwänzte Enten, Rebhühner, Schnepfen, Beckassinen u.s.w. Es schien sogar, als ob die Jäger diesen Arten mit verdoppeltem Eifer nachstellten.

Nach und nach ward wieder Ordnung im Nina-Bau. Nur etwa hundert Eindringlinge nisteten noch in schwer zugänglichen Löchern des Felsens. Allmälig betrachteten sich diese Eindringlinge als rechtmäßige Besitzer und verwehrten Anderen selbst den Eingang. Es kam endlich scheinbar zu einem Waffenstillstand zwischen den um den Wohnsitz streitenden Theilen, und so überließ man durch schweigende Uebereinkunft den Hitzköpfen gern die Polizeiverwaltung der Bergwohnung. Und wie wußten sie diese zu handhaben! Jeder unglückliche Vogel, der sich gegen Recht und Privilegium in die Galerien verirrte, wurde von seinen unerbitterlichen Stammverwandten entweder fortgetrieben oder umgebracht.

Eines Tages, es war am 15. April, hörte man am Ausgange der Hauptgalerie Nina laut um Hilfe rufen.

Pablo erkannte ihre Stimme und überholte sogar Ben-Zouf, um seiner kleinen Freundin zu Hilfe zu eilen.


Nur mit einem Stocke bewehrt, stürzte er sich in den Kampf. (S. 223.)

»Komm! Komm schnell! rief Nina, sie werden mich tödten!«

Pablo sah, als er nahe genug war, etwa ein halbes Dutzend großer Seemöven das Mädchen wüthend umflattern. Nur mit einem Stocke bewehrt, stürzte er sich in den ungleichen Kampf, und es gelang ihm auch, die beutegierigen Seevögel zu verjagen, freilich nicht ohne daß er einige empfindliche Schnäbelhiebe davontrug.

»Was hast Du denn, Nina? fragte er.

– Da sieh, Pablo!« antwortete das kleine Mädchen, indem sie Jenem einen Vogel wies, den sie zärtlich an ihre Brust drückte.

Ben-Zouf kam jetzt auch hinzu und nahm den Vogel aus den Händen des Mädchens.

[223] »Das ist ja eine Taube!« rief er erfreut.

Es war in der That eine solche, und zwar eine Brieftaube, was ihre leicht bogenförmig geschweiften und am Ende abgestumpften Flügel bewiesen.

»Ah, rief plötzlich Ben-Zouf, bei allen Heiligen des Montmartre, sie trägt ein Beutelchen am Halse!«

[224] Bald darauf wurde die Taube Hector Servadac übergeben und Alle liefen in der gemeinschaftlichen Wohnung, neugierig und verwundert über den unerwarteten Ankömmling, zusammen.

»Da kommt ja Nachricht von unserem gelehrten Herrn, rief sogleich Hector Servadac. Nach geschlossener Schifffahrt benutzt er Vögel als Briefboten. Wenn er nur dieses Mal seinen Namen und seine Adresse angegeben hätte!«


Graf Timascheff zog den edelmüthigen Kapitän an seine Brust. (S. 233.)

[225] Der kleine Beutel war bei dem Kampfe der Taube gegen die Seemöven etwas zerrissen worden. Bei dessen Eröffnung fand man darin folgende kurze, lakonisch abgefaßte Notiz:


»Gallia.
Zurückgelegter Weg vom 1. März bis 1. April: 39,700.000 Lieues
(22 1/3 Millionen Meilen).
Entfernung von der Sonne: 110,000.000 Lieues (66 Millionen Meilen).
Im Vorübergange Nerina entführt.
Lebensmittel gehen bald aus und ...«

Der von den Schnäbeln der Möven zerrissene Rest der Depesche war nicht weiter lesbar.

»O, verteufeltes Pech! rief Hector Servadac. Hier standen gewiß noch Unterschrift, Datum und Ortsangabe! Heute ist auch der ganze Text in französischer Sprache abgefaßt und gewiß ist, der ihn schrieb, ein Franzose, und wir sind außer Stande, ihm zu Hilfe zu kommen!«

Graf Timascheff und Lieutenant Prokop kehrten noch einmal nach dem Platze zurück, an dem die Vögel sich herumgebissen hatten, in der stillen Hoffnung, noch ein abgerissenes Papierstückchen, einen Namen, eine Unterschrift oder irgend eine Hindeutung zu finden, die ihnen auf die Spur des unbekannten Unglücklichen helfen könnte ... ihre Bemühungen waren umsonst.

»Sollten wir denn niemals erfahren, wo sich dieser einzige Ueberlebende von der alten Erde aufhält? fragte Kapitän Servadac.

– Ei, rief da plötzlich die kleine Nina, Freund Zouf, sieh einmal hier!«

Mit diesen Worten zeigte sie Ben-Zouf die Taube hin, die sie immer sorgfältig in den Händen hielt.

Auf dem linken Flügel des Vogels sah man sehr deutlich einen Farbenstempel-Abdruck, in welchem nur ein einziges Wort, aber gerade dasjenige, dem die höchste Bedeutung zukam, zu lesen war; es lautete: »Formentera«.

[226]
24. Capitel
Vierundzwanzigstes Capitel.
In welchem dem Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop endlich die Lösung dieses kosmographischen Räthsels gelingt.

»Formentera!« riefen Graf Timascheff und Kapitän Servadac fast gleichzeitig aus.

Es war dies der Name einer kleinen Insel aus der Gruppe der Balearen im Mittelländischen Meere. Der Ort, an dem sich der Urheber jener wiederholt aufgefangenen Schriftstücke befand, ward hierdurch hinlänglich genau bezeichnet. Was trieb aber dieser Franzose daselbst und war er jetzt auch noch am Leben?

Von Formentera aus hatte jener Gelehrte offenbar die verschiedenen Notizen abgesandt, in welchen er nach einander die Positionen des von ihm »Gallia« genannten Bruchstückes der Erde angab.

Jedenfalls bewies das von der Taube überbrachte Document durch sein Datum des 1. April, daß Jener vor vierzehn Tagen dort noch anwesend war. Die letzte Depesche unterschied sich von den früheren vor Allem durch das Fehlen jedes Ausdrucks der Befriedigung des Verfassers. Sie schloß nicht mit »Va bene«, »All right« oder »Nil desperandum!« Dagegen enthielt die nur in französischen Ausdrücken abgefaßte Depesche mehr einen Hilferuf, da auf Formentera die Lebensmittel auszugehen anfingen.

Diese Bemerkungen äußerte Kapitän Servadac in kurzen Worten.

»Meine Freunde, setzte er hinzu, wir werden diesem Unglücklichen natürlich sofort zu Hilfe eilen ...

– Oder diesen Unglücklichen, verbesserte Graf Timascheff. Ich bin bereit, mit Ihnen aufzubrechen, Kapitän.

– Ganz sicher ist die Dobryna, bemerkte Lieutenant Prokop, nahe bei Formentera vorübergekommen, als wir nach der Balearengruppe suchten. Wenn wir dabei kein Land entdeckten, mag das daher rühren, daß nur ein sehr beschränktes Eiland, ganz wie in Gibraltar und Ceuta, von diesem Archipel übrig geblieben ist.

[227] – Und wäre es noch so klein, wir müssen es wiederfinden! entgegnete Kapitän Servadac. Wie weit mag es von Warm-Land bis Formentera sein, Lieutenant Prokop?

– Ungefähr hundertzwanzig Lieues (76 Meilen), Kapitän. Darf ich Sie aber fragen, wie Sie dahin gelangen wollen?

– Nun zu Fuß, natürlich, antwortete Hector Servadac, da das Meer nicht fahrbar ist; das heißt, auf unseren Schlittschuhen! Nicht wahr, Graf Timascheff?

– Reisen wir ab, Kapitän, sagte der Graf, der einer Frage der Humanität gegenüber niemals indifferent oder unentschlossen war.

– Vater, fiel da Lieutenant Prokop ein, ich möchte mir einen Einwurf erlauben, nicht um Sie an der Erfüllung einer Menschenpflicht zu hindern, sondern nur um deren Erfüllung auch zu sichern.

– Sprich, Prokop.

– Kapitän Servadac und Sie wollen diese Reise wagen. Die Kälte ist schon sehr streng geworden; das Thermometer zeigt zweiundzwanzig Grad unter Null und diese Temperatur wird bei der herrschenden steifen Brise aus Süd nahezu unerträglich. Angenommen, Sie legten zwölf Meilen täglich zurück, so wären sechs Tage nöthig, um Formentera zu erreichen. Dazu bedarf es eines Lebensmittelvorrathes, nicht allein für Sie selbst, sondern auch für Diejenigen, denen Sie zu Hilfe springen wollen ...

– Wir reisen mit dem Futtersack auf dem Rücken, wie zwei echte Soldaten, erwiderte schnell Kapitän Servadac, der nur die Schwierigkeit, nicht aber die Unmöglichkeit einer solchen waghalsigen Fahrt begriff.

– Zugegeben, antwortete Lieutenant Prokop sehr ruhig. Sie werden unterwegs aber nothwendiger Weise mehrmals ausruhen müssen. Das Eisfeld nun ist völlig eben; Sie werden keine Gelegenheit haben, etwa nach Art der Eskimos eine Hütte in einem Eisberge herzustellen ...

– Wir reisen Tag und Nacht weiter, Lieutenant, entgegnete Hector Servadac, und statt sechs Tage brauchen wir nur drei, nur zwei, um Formentera zu erreichen.

– Auch das mag sein, Kapitän Servadac. Ich will einmal – was übrigens so gut wie unmöglich ist – annehmen, Sie kämen in der kurzen Frist von zwei Tagen dort an. Was beginnen Sie mit den etwaigen Bewohnern des Eilandes, die vielleicht nahe daran sind, vor Hunger und Kälte umzukommen?

[228] Wollten Sie diese sterbend mitnehmen, so dürften Sie nur Leichname nach Warm-Land bringen.«

Lieutenant Prokop's Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Die Unmöglichkeit einer unter solchen Umständen unternommenen Schlittschuhreise leuchtete endlich Allen deutlich ein. Es lag auf der Hand, daß Kapitän Servadac und Graf Timascheff, denen auf dem ungeheuren Eisfelde kein schützendes Obdach winkte, zusammenbrechen würden, um nie wieder aufzustehen, wenn sie nur ein Schneesturm überfiel und unter seinen Flockenwirbeln begrub.

Nur Hector Servadac, den ein übertriebenes Gefühl von Edelmuth und der Gedanke an die Erfüllung einer Pflicht verblendete, verschloß sich noch jeder Einsicht. Er widersetzte sich trotzig den kühlen Vernunftgründen des Lieutenant Prokop. Sein getreuer Ben- Zouf unterstützte ihn eher noch darin, indem er sich bereit erklärte, mit dem Kapitän sofort seine Marschroute zu unterzeichnen, im Fall Graf Timascheff zögern sollte, mit abzureisen.

»Nun, Herr Graf? fragte Hector Servadac.

– Ich bin zu Allem, was Sie beschließen, bereit, Kapitän.

– Wir können Unseresgleichen unmöglich ohne Lebensmittel, ohne Obdach lassen!

– Nein, das dürfen wir nicht!« bestätigte Graf Timascheff.

Dann wendete er sich gegen Prokop.

»Giebt es kein anderes Mittel, Formentera zu erreichen, als das, welches Du verwirfst, sagte er, so werden wir uns doch dieses einzigen bedienen, Prokop, und Gott wird uns seinen Beistand leihen!«

In seine Gedanken vertieft, gab der Lieutenant auf diese Aeußerung des Grafen keine Antwort.

»O, hätten wir jetzt nur einen Schlitten! rief da Ben-Zouf.

– Ein Schlitten wäre wohl leicht genug herzustellen, antwortete Graf Timascheff, woher aber nehmen wir Hunde oder Rennthiere zu seiner Bespannung?

– Haben wir nicht unsere beiden Pferde, die man mit geeigneten Hufen für das Eis versehen könnte? rief Ben-Zouf.

– Sie würden diese strenge Kälte nicht aushalten und unterwegs stürzen, erwiderte der Graf.

– Einerlei, fiel Hector Servadac ein. Hier gilt kein Zaudern. Laßt uns einen Schlitten bauen ...

– Der wäre schon vorhanden, bemerkte Lieutenant Prokop.

[229] – Desto besser, so bespannen wir ihn ...

– Nein, Kapitän. Wir besitzen einen weit verläßlicheren und schneller fördernden Motor als Ihre Pferde, welche den Strapazen einer solchen Fahrt nicht widerstehen würden.

– Und das wäre? ... fragte Graf Timascheff.

– Nun, der Wind!« belehrte ihn Lieutenant Prokop.

Ja gewiß, der Wind! Die Amerikaner verstehen schon seit Langem, ihn für ihre Segelschlitten mit großem Vortheil zu benutzen. In den endlosen Prairien der Union wetteifern diese Vehikel mit den Eilzügen der Eisenbahnen und erreichen manchmal eine Schnelligkeit von fünfzig Metern in der Secunde oder hundertachtzig Kilometer (24 geogr. Meilen) in der Stunde. Eben jetzt wehte der Wind aus Süden recht frisch. Er konnte einem solchen Fahrzeuge wohl eine Schnelligkeit von sechs bis neun Meilen in der Stunde verleihen. Es erschien also möglich, in der Zeit zwischen zwei Sonnenaufgängen auf der Gallia die Balearen, oder richtiger das einzige Eiland zu erreichen welches der allgemeinen Zerstörung entgangen war.

Der Motor also stand zum Arbeiten bereit. Gut, Prokop hatte aber gesagt, auch der Schlitten sei zur Abfahrt fertig. Und wahrlich, war nicht der gegen zwölf Fuß lange und fünf bis sechs Personen fassende You-You (ein kleines Reserveboot) der Dobryna ein ganz ausgezeichneter Segelschlitten?

Genügte es nicht, diesem zwei falsche eiserne Kiele anzusetzen, welche ebenso die Seitenwände stützten, wie sie als Schlittschuheisen für das Fahrzeug dienten? Wie viel Zeit brauchte der Mechaniker der Goëlette wohl, um diese beiden Kufen herzurichten? Höchstens wenige Stunden. Mußte das leichte Boot über das vollkommen ebene Eisfeld, das kein Hinderniß, keine Erhöhung, keine in schiefe Lage gedrängten Schollen zeigte, mit dem Wind im Rücken nicht unvergleichlich schnell dahinfliegen? Dabei konnte man den You-You auch noch mit einem Bretterdache versehen und dieses mit starkem Leinen bedecken. So versprach es nicht nur Die zu schützen, die es bei der Hinfahrt steuerten, sondern auch Diejenigen, welche es bei der Rückfahrt mitbringen sollte. Ausgerüstet mit Pelzen, verschiedenen Nahrungsmitteln und Herzstärkungen, sowie mit einem kleinen, tragbaren, mittelst Spiritus zu heizenden Ofen müßte es die günstigsten Bedingungen vereinigen, um jenes Eiland zu erreichen und die überlebenden Bewohner Formenteras hierher zu führen.

[230] Etwas Besseres und Praktischeres war gar nicht zu ersinnen. Nur ein einziger Einwurf stand ihm entgegen.

Der Wind wehte jetzt günstig, um nach Norden zu segeln, doch wenn es dann darauf ankäme, nach Süden zu steuern ...

»Das thut nichts, erklärte Kapitän Servadac, jetzt denken wir nur an die Hinfahrt! Wie wir zurückkehren, wird sich später finden.«

Vermochte der You-You nun auch nicht so scharf gegen den Wind zu segeln, wie ein vom Steuerruder regiertes Boot, und mußte man auch annehmen, daß er bei etwaigem Wechsel des Windes ein wenig abwiche, so erlaubten ihm seine in das Eis etwas einschneidenden Kufen doch, auch bei Seitenwind noch zu segeln. Selbst wenn der Wind also zur Zeit der Rückfahrt nicht umschlagen sollte, so war es möglich, gleichsam zu laviren und auf diese Weise nach Süden vorwärts zu kommen. Doch davon konnte ja erst später die Rede sein.

Der Mechaniker der Dobryna ging, von einigen Matrosen unterstützt, sofort an's Werk. Gegen Abend war der You-You, der mit einer doppelten Armatur am Vordertheile aufgebogenen Eisens, einem leichten Dache in Form eines Roof (Deckschlasstätte der Schiffsmannschaft) und mit einem langen eisernen Bootsriemen versehen war, der ihn möglichst vor zu großer Abtrift bewahren sollte, zur Abfahrt bereit. Es versteht sich, daß man auch hinreichende Provision, Werkzeuge, Decken u. dgl. darin untergebracht hatte.


»Dort! Dort!« rief der Kapitän. (S. 236.)

Jetzt meldete sich aber Lieutenant Prokop, um an Graf Timascheff's Stelle neben Kapitän Servadac Platz zu nehmen. Einerseits durfte der You-You nur zwei Passagiere aufnehmen, wenn man etwa in die Lage käme, mehrere Personen mit sich zurückzuführen, andererseits verlangte die Handhabung des Segels und die Sicherung der einzuhaltenden Richtung die Hand und die Fachkenntniß eines Seemannes.

Graf Timascheff bestand zunächst zwar auf seinem Vorsatze, mußte sich aber Kapitän Servadac's dringendem Ersuchen, für ihn während seiner Abwesenheit als Stellvertreter zu fungiren, zuletzt doch fügen. Gewiß war die Reise eine gewagte zu nennen. Den Passagieren des You-You drohten tausenderlei Gefahren. Schon einem mäßigen Sturme konnte das schwache Gefährt ja kaum Stand halten, und sollte Kapitän Servadac vielleicht überhaupt nicht wiederkehren, so konnte nur Graf Timascheff der natürliche Chef der kleinen Kolonie sein. Er stimmte also endlich bei, zurückzubleiben.

[231] Seinen eigenen Platz hatte Kapitän Servadac ihm auch nicht abtreten wollen. Uzweifelhaft war der Hilfesuchende Franzose; ihm, als französischen Officier, kam es also zu, jenem beizuspringen und zu helfen.

Am 16. April schifften sich, wenn dieser Ausdruck hier erlaubt ist, Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop mit Tagesanbruch auf dem You-You ein. Sie sagten ihren Gefährten Lebewohl, deren Erregung nicht gering [232] war, als sie die Beiden fertig sahen, bei einer Kälte von fünfundzwanzig Grad in die grenzenlose, weiße Ebene hinauszugleiten.

Die russischen Matrosen und die Spanier, Alle wollten dem Kapitän und dem Lieutenant noch einmal die Hände drücken. Graf Timascheff zog den edelmüthigen Kapitän an seine Brust und umarmte seinen braven Prokop. Ein herzlicher Kuß der kleinen Nina, deren große Augen die hervorquellenden Thränen nur mühsam zurückhielten, beschloß diese rührende Abschiedsscene.


»Er lebt noch!« rief Lieutenant Prokop. (S. 237.)

[233] Einige Minuten später war der You-You, den seine Segel wie ein großer, mächtiger Flügel pfeilschnell entführten, schon jenseit des Horizontes verschwunden.

Das Segelwerk des You-You bestand aus einer Brigautine und einem Klüversegel. Diese wurden so eingestellt, um mit dem vollen Rückenwind fahren zu können. Die Geschwindigkeit des leichten Fahrzeugs war eine ganz erstaunliche und schätzten sie dieselbe zu mindestens zwölf Lieues (etwas über 7 geogr. Meilen) in der Stunde. Eine am hinteren Ende des Deckes ausgesparte Oeffnung gestattete Lieutenant Prokop, den wohl verhüllten Kopf nach außen zu stecken, ohne sich mehr als nöthig der Kälte auszusetzen, und mit Hilfe des Kompasses die gerade Linie nach Formentera einzuhalten.

Der You-You bewegte sich ungemein sanft vorwärts. Er zeigte nicht einmal jenes unangenehme Erzittern, welches man beim Fahren in den Waggons selbst der bestgebauten Eisenbahnen empfindet. Leichter auf der Oberfläche der Gallia, als er auf der der Erde gewesen wäre, glitt der You-You ohne Rollen und Stampfen dahin und gleichzeitig zehnmal so schnell, als es in seinem gewöhnlichen Elemente der Fall gewesen wäre. Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop glaubten manchmal in die Luft gehoben zu sein und von einem Aërostaten oberhalb des Eisfeldes dahin geführt zu werden. Und doch blieben sie stets auf dessen Fläche, deren oberste Schicht die eiserne Armatur des Segelschlittens pulverisirte, so daß eine endlose Wolke von Schneestaub hinter ihnen herzog.

Hier überzeugte man sich nun sehr bald davon, daß das Aussehen dieses gefrorenen Meeres überall dasselbe war. Kein athmendes Wesen belebte diese Einöde, die einen recht niederschlagenden Eindruck hervorbrachte. Dennoch fehlte dem meist eintönigen Bilde nicht ein gewisser poetischer Reiz, der auf beide Reisegefährten je nach ihrem Charakter verschieden einwirkte. Lieutenant Prokop beobachtete mehr als Mann der Wissenschaft, Kapitän Servadac als ein für alles Neue empfänglicher Künstler. Als die Sonne dann zur Ruhe ging, und ihre schräg auf den You-You fallenden Strahlen zur Linken desselben die langgezogenen Schatten seiner Segel zeichnete, und endlich die Nacht fast ohne Dämmerung den Tag verdrängte, da rückten die beiden Männer, wie von einer unwiderstehlichen Kraft getrieben, näher zu einander und drückten sich verständnißinnig die Hände.

Da seit dem vorhergehenden Tage Neumond war, wurde die Nacht vollkommen dunkel, nur die Sternbilder leuchteten desto herrlicher an dem schwarzen[234] Himmelsgewölbe. Beim Mangel eines Kompasses hätte Lieutenant Prokop sich ebenso leicht nach dem neuen Polarsterne richten können, der sehr nahe dem Horizonte glänzte. Man begreift ja leicht, daß, so groß auch die Entfernung zwischen Gallia und Sonne wurde, diese doch im Vergleich zu der unermeßbaren Entfernung der Fixsterne eine völlig verschwindende blieb.

Der jetzige Abstand der Gallia war schon ein sehr beträchtlicher. Die letztempfangene Notiz gab darüber deutliche Auskunft. Hiermit beschäftigten sich vor Allem Lieutenant Prokop's Gedanken, während Kapitän Servadac, einem anderen Ideengange folgend, nur an den oder die seiner Landsleute dachte, welchen er zu Hilfe eilte.

Entsprechend dem zweiten Kepler'schen Gesetze, hatte sich die Geschwindigkeit der Gallia in ihrer Bahn vom 1. März bis zum 1. April um zwanzig Millionen Lieues (= 12 Millionen Meilen) verringert. Ihr Abstand von der Sonne war in demselben Zeitraume um zweiunddreißig Millionen Lieues (= 19 1/5 Millionen Meilen) gewachsen. Sie befand sich demnach jetzt nahezu in der Mitte der teleskopischen Planeten, welche zwischen den Bahnen des Mars und des Jupiter kreisen. Hierdurch erklärte sich auch die Entführung jenes Satelliten, nach der letzten Nachricht, der Nerina, d.i. einer der erst jüngst entdeckten Planetoïden.

Die Gallia entfernte sich also nach einem ganz bestimmten Gesetze immer weiter von ihrem Mittelpunkte der Anziehung. Konnte man wohl hoffen, daß es dem Verfasser jener Documente gelingen werde, ihre Bahn zu berechnen und mit mathematischer Sicherheit den Zeitpunkt anzugeben, an dem das Asteroïd sein Aphelium erreichen würde, wenn es überhaupt eine elliptische Bahn beschrieb? Dieser Augenblick fiel dann mit dem größten Sonnenabstände zusammen, von da ab mußte sie sich dem Tagesgestirn wieder nähern. Dann ließ sich sowohl die Dauer des Gallia-Jahres, als auch die Anzahl der Tage desselben genau berechnen.

Lieutenant Prokop grübelte über alle diese beunruhigenden Probleme, als ihn der plötzliche Tagesanbruch überraschte. Kapitän Servadac und er beriethen sich. Da sie die seit ihrer Abfahrt in schnurgerader Linie zurückgelegte Entfernung auf mindestens sechzig Meilen schätzten, beschlossen sie, die Schnelligkeit des You-You zu vermindern. Die Segel wurden also etwas eingezogen und die beiden Männer sandten, trotz der bitteren Kälte, ihre Blicke, ruhig und sorgsam prüfend, über die weiße Ebene.

[235] Diese erwies sich noch immer vollkommen öde. Nicht ein Berg oder Felsen unterbrach ihre tadellose Gleichförmigkeit.

»Befinden wir uns nicht etwa im Westen von Formentera? fragte Kapitän Servadac, nachdem er die einschlägliche Karte gemustert.

– Das mag sein, antwortete Lieutenant Prokop, denn wie bei einer Seefahrt achtete ich auch jetzt darauf, mich unter dem Winde der Insel zu halten. Jetzt werden wir besser auf diese zusegeln können.

– O thun sie es, Lieutenant, drängte Kapitän Servadac, lassen Sie uns keine kostbare Minute verlieren!«

Der Cours des You-You wurde nach Nordosten verändert. Hector Servadac stand trotz des scharfen Windes immer auf dem Vordertheile. Alle seine Kräfte concentrirten sich in seinen Augen. Dabei suchte er in der Luft nicht etwa eine Rauchsäule zu entdecken, die ihm den Zufluchtsort des unglücklichen Gelehrten verriethe, dem es an Brennmaterial wahrscheinlich ebenso wie an Nahrungsmitteln fehlte. Nein! Er bemühte sich nur den Gipfel eines über das Eisfeld emporragenden Eilandes aufzufinden, das die immer gerade Linie des Horizontes unterbräche.

Plötzlich leuchtete Kapitän Servadac's Auge auf und er wies mit der Hand hinaus in die Ferne.

»Dort! Dort!« rief er.

Er zeigte dabei nach einer Art Holzgerüst, das sich von hier aus gesehen in der kreisförmigen Verbindungslinie zwischen Himmel und Eisfeld erhob.

Lieutenant Prokop ergriff das Fernrohr.

»Ja wahrlich, sagte er, da ... da ... das ist ein Holzthurm, der zum Zwecke irgend welcher geodätischen Arbeiten errichtet erscheint.«

Hier war kein Zweifel möglich. Die Segel wurden wieder völlig entfaltet und der You-You, der sich nur gegen sechs Kilometer von dem bezeichneten Punkte befand, schoß mit wunderbarer Schnelligkeit darauf zu.

Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop vermochten, von ihren Gefühlen überwältigt, kein Wort zu sprechen. Das Holzgerüst wuchs für ihre Augen zusehends und bald nahmen sie auch einen Haufen niedriger Felsen wahr, auf welchen jener Holzbau stand und die mit ihrem Fuße die weiße Ebene des Eisfeldes berührten.

Wie es Kapitän Servadac vermuthet, wirbelte hier keine Rauchsäule empor. Angesichts dieser überaus strengen Kälte schwand jede Illusion.

[236] Sicher war es nur noch ein Grab, auf das der You-You mit vollen Segeln zueilte.

Zehn Minuten später, etwa ein Kilometer vor dem Ziele, zog Lieutenant Prokop die Brigantine ein, da die einmal erlangte Schnelligkeit des Fahrzeuges hinreichen mußte, es bis nach den Felsen zu treiben.

Kapitän Servadac fühlte, wie die Beklommenheit seines Herzens unter der wachsenden Erwartung zunahm.

An der Spitze des Thurmes flatterte im Winde ein Stück blaues Fahnentuch ... das letzte Ueberbleibsel einer französischen Flagge.

Der You-You stieß gegen die ersten Felsenstücke. Das Eiland hatte kaum einen halben Kilometer an Umfang. Von Formentera, überhaupt von dem ganzen Archipel der Balearen, war keine weitere Spur zu sehen.

Am Fuße jenes Thurmes erhob sich auch eine unscheinbare, hölzerne Hütte mit dicht geschlossenen Fensterläden.

Mit Blitzeseile schwangen sich Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop auf die Felsen, erklommen die glatten Steine und erreichten die Hütte.

Mit wuchtigem Faustschlage donnerte Hector Servadac an ihre von innen verriegelte Thür.

Er rief. Keine Antwort.

»Hierher, Lieutenant!« sagte Kapitän Servadac.

Beide stemmten die Schultern ein und hoben die halb wurmstichige Thür aus den Angeln.

In dem einzigen Raume der Hütte herrschte tiefe Finsterniß und vollständige Ruhe.

Entweder hatte der letzte Inwohner das Gemach schon verlassen oder er war noch darin, aber – als Leiche.

Die Läden wurden aufgestoßen; es ward hell in dem Zimmer.

Auf dem Kaminherde fand sich nichts, außer etwas längst erkaltete Asche.

Da, in einer Ecke stand ein Bett; auf ihm lag ein menschlicher Körper.

Kapitän Servadac trat hinzu und unwillkürlich entrang sich ein Schrei seinen Lippen.

»Todt vor Kälte! todt vor Hunger!«

Lieutenant Prokop beugte sich über den Körper des Armen.

»Er lebt noch!« rief er.

[237] Schnell entkorkte er ein Fläschchen mit einer kräftigen Herzstärkung und wußte dem Sterbenden einige Tropfen derselben zwischen den Lippen einzuflößen.

Da ließ sich ein schwacher Seufzer vernehmen und bald darauf noch wenige kaum hörbar hingehauchte Worte.

»Gallia?

– Ja ... ja wohl! ... Gallia! ... antwortete Kapitän Servadac, das ist ...

– Das ist mein Komet, der meine, mein Komet!«

Nach diesen Worten sank der Halbtodte in tiefe Betäubung zurück, während Kapitän Servadac murmelte:

»Aber ich kenne doch diesen Mann! Wo in aller Welt bin ich ihm früher wohl begegnet?«

An Hilfe und Rettung vom Tode war in dieser Hütte, der es geradezu an Allem fehlte, von Anfang an nicht zu denken. Hector Servadac und Lieutenant Prokop kamen schnell zu einem Entschlusse. In wenigen Augenblicken wurde der Sterbende nebst seinen physikalischen und astronomischen Instrumenten, Kleidungsstücken, Büchern und einer alten Thür, die ihm als Rechentafel gedient hatte, in dem You-You untergebracht.

Der Wind war zum Glück um drei Viertel umgesprungen und fast günstig zu nennen. Man machte sich ihn zu Nutzen, setzte Segel bei und verließ das einzige von den Balearen übrig gebliebene Felseneiland.

Am 19. April, sechsunddreißig Stunden später, wurde der erstarrte Gelehrte, ohne daß er jemals ein Auge aufgethan oder den Mund geöffnet, hätte, im Hauptraume des Nina-Baues niedergelegt, wo die Kolonisten ihre kühnen Gefährten, auf deren Rückkehr sie schon sehnsüchtig harrten, mit lautschallendem Hurrah begrüßten.

[238]

2. Theil

1. Capitel
Erstes Capitel.
In welchem der sechsunddreißigste Bewohner des Gallia-Sphäroïdes ohne besondere Feierlichkeit vorgestellt wird.

Der sechsunddreißigste Bewohner der Gallia war endlich auf Warm-Land angekommen. Bisher blieben die einzigen, kaum verständlichen Worte aus seinem Munde jener Ausruf:

»Das ist mein Komet, der meine! Das ist mein Komet!«

Was bedeutete dieser Satz? Wollte er damit sagen, daß jene bisher unerklärte Thatsache, die Hinausschleuderung eines kolossalen Stückes der Erde in den Weltraum, von dem Stoße eines Kometen herzuleiten sei? Hatte das Erdsphäroïd also einen Zusammenstoß erlitten? Belegte der Einsiedler von Formentera mit dem Namen »Gallia« nun jenen veranlassenden Haarstern oder den in die Sonnenwelt hinausgeschleuderten Block selbst mit diesem Namen? Die Lösung dieser Frage war nur von dem Gelehrten selbst zu erwarten, der seinen Kometen so energisch reclamirt hatte.

Jedenfalls durfte man diesen Halbtodten als den Urheber jener kurzen Nachrichten betrachten, welche die Dobryna während der Reise aufgefischt hatte, ihn auch als den Astronomen, von welchem das durch die Brieftaube nach Warm-Land überbrachte Document herrührte. Nur er allein konnte Etui und Büchse in das Meer geworfen und die Freiheit jenem Vogel gegeben haben, [239] den sein Instinct nach dem einzigen bewohnbaren und wirklich bewohnten Punkt des neuen Asteroïdes geführt hatte. Der Gelehrte kannte also – daran war nicht mehr zu zweifeln – einige Elemente der Gallia. Ihm war es gelungen, deren zunehmende Entfernung von der Sonne zu messen und die Abnahme ihrer Tangential-Geschwindigkeit zu berechnen. Hatte er auch – und das blieb doch die Hauptfrage – die Natur ihrer Bahn bestimmt und ermittelt, ob diese eine Hyperbel, eine Parabel oder eine Ellipse bildete? Hatte er diese krumme Linie durch drei aufeinander folgende Beobachtungen der Gallia bestimmt? Wußte er, ob der neue Weltkörper sich in den erwünschten Verhältnissen befand, um einmal nach der Erde zurückzukehren, und auch in welcher Zeit das geschehen werde?

Das waren etwa die Fragen, die Graf Timascheff erst sich selbst, dann aber auch Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop vorlegte. Letzterer vermochte sie natürlich nicht zu beantworten. Auch sie hatten alle diese verschiedenen Hypothesen in's Auge gefaßt und während ihrer Rückfahrt allseitig erwogen, ohne doch zu einem Resultate zu kommen. Zum Unglück schien es nun, als hätten sie den einzigen Menschen, der die Lösung dieser Probleme besitzen mochte, nur als Leiche mit zurückgebracht! Wenn das der Fall war, so mußte man eben auf jede Hoffnung, die Zukunft der Gallia-Welt vorher zu erfahren, verzichten.

Jetzt galt es demnach vor allen Dingen, den Körper des Astronomen, welcher kein Lebenszeichen gab, wieder zu erwecken. Die mit allen Arzneimitteln reichlich ausgestattete Apotheke der Dobryna konnte ja gar keine bessere Verwendung finden, als zur Erreichung dieses Zieles zu verhelfen. Man ging also sofort an's Werk; vorzüglich auf Ben-Zouf's ermuthigende Zurufe:

»Vorwärts nur, mein Kapitän! Sie glauben gar nicht, was für ein zähes Leben solche Gelehrte haben!«

Nun begann man denn mit der Behandlung des Scheintodten, sowohl äußerlich durch so kräftiges Kneten, daß es einen Lebendigen fast umgebracht hätte, als auch innerlich durch so herzhafte Reizmittel, daß sie wohl einen Todten wieder erweckt hätten.

Ben-Zouf, den Negrete gelegentlich ablöste, wurde mit der äußerlichen Behandlung betraut, und man darf sicher sein, daß diese beiden handfesten Massirer ihre Arbeit gewissenhaft verrichteten.


Palmyrin Rosette.

Inzwischen fragte sich Hector Servadac vergeblich, wer dieser Franzose wohl sein möge, den er von Formentera mitgebracht, und in welchen Beziehungen er jemals zu ihm gestanden haben könne.

Er hätte ihn wohl wieder erkennen sollen; aber er hatte jenen nur in dem Lebensalter gesehen, das man nicht ohne Grund das »undankbare Alter« zu nennen [240] pflegt, was es in moralischem und physischem Sinne gleichmäßig ist.

[241] In der That war jener Gelehrte, der hier in dem großen Saale des Nina-Baues lag, niemand Anderer als Hector Servadac's alter Lehrer der Physik am Gymnasium Charlemagne.

Dieser Lehrer hieß Palmyrin Rosette. Er war ein Gelehrter durch und durch und vorzüglich bewandert in den Fächern der Mathematik. Schon in dem ersten Jahre hatte Hector Servadac von der untersten Classe das Gymnasium Charlemagne verlassen, um nach der Militärschule von Saint-Cyr überzusiedeln; seitdem hatten sich sein Lehrer und er niemals wieder gesehen und, so glaubten sie wenigstens, einander vollständig vergessen.

Als Schüler befleißigte sich Hector Servadac, wie wir wissen, der Studien eben nicht mit besonderem Eifer. Dafür aber spielte er, im Vereine mit einigen anderen Kameraden von dem nämlichen Schlage, dem armen Palmyrin Rosette gern die ärgsten Streiche.

Wer setzte damals dem destillirten Wasser im Laboratorium wiederholt einige Salzkörnchen zu, so daß es bei den Experimenten oft die unerwartetsten Reactionen hervorbrachte? Wer entnahm dem Gefäße des Barometers einen Tropfen Quecksilber, um es in schreienden Widerspruch mit dem Zustand der Atmosphäre zu setzen? Wer erwärmte das Thermometer immer einige Augenblicke vorher, bevor der Lehrer nach ihm sah? Wer steckte immer Abends Insecten zwischen Ocular und Objectiv der Fernröhre? Wer störte die Isolirung der Elektrisirmaschine, so daß sie keinen einzigen Funken gab? Wer machte endlich ein unsichtbares Loch in den Teller der Luftpumpe, so daß Palmyrin Rosette sich abmühen konnte, so viel er wollte, ohne einen luftleeren Raum erzeugen zu können?

Das waren so etwa die gewöhnlichen Unarten des Schülers Servadac und seiner ausgelassenen Gesellschaft.

Derlei Possenstreiche ergötzten aber die Schüler um so mehr, als der betreffende Professor ein Isegrimm erster Sorte war. Da gab es denn manchen Ausbruch von Zorn und Wuth, der die »alten Häuser« des Gymnasiums weidlich amüsirte.

Zwei Jahre nach Hector Servadac's Abgang vom Gymnasium verließ auch Palmyrin Rosette, der in sich mehr den Kosmographen als den Physiker fühlte, die Laufbahn als Lehrer, um sich ganz und gar den astronomischen Studien zu widmen. Er suchte eine Stellung bei der Sternwarte zu erhalten. Bei seinem unter den Gelehrten des Observatoriums bekannten griesgrämigen [242] Charakter aber blieben ihm die Pforten desselben verschlossen. Da er einiges Vermögen besaß, betrieb er nun, ohne officiellen Titel, Astronomie auf eigene Faust und machte sich ein besonderes Vergnügen daraus, die Arbeiten anderer Astronomen recht bitter zu kritisiren. Man verdankte ihm übrigens die Entdeckung der letzten drei teleskopischen Planeten und die Berechnung der Elemente des 123. Kometen des Katalogs. Professor Rosette und sein Schüler Servadac hatten sich aber, wie gesagt, vor jenem zufälligen Zusammentreffen auf dem Eilande Formentera niemals wieder getroffen. Nach Verlauf von zwölf Jahren durfte es also nicht Wunder nehmen, wenn Kapitän Servadac seinen alten Lehrer Rosette, vorzüglich bei dem Zustande, in welchem er ihn fand, nicht sofort wieder erkannte.

Als Ben-Zouf und Negrete den Gelehrten aus den Pelzen gewickelt hatten, die ihn vom Kopf bis zu den Füßen umhüllten, sahen sie sich gegenüber einem kleinen Manne von fünf Fuß zwei Zoll Länge, der jetzt offenbar abgemagert war, es aber auch schon von Natur zu sein schien, mit einem jener schön polirten Schädel, welche dem dicken Ende eines Straußeneies so auffallend ähneln, ohne jeden Bart, wenn man von dem Anflug eines solchen absah, der seit acht Tagen nicht rasirt sein mochte, mit langer, scharf gebogener Nase, auf der eine gewaltige Brille saß, die ja bei gewissen kurzsichtigen Personen einen integrirenden Bestandtheil des Individuums auszumachen scheint.

Unzweifelhaft war dieses Männchen sehr nervöser Natur. Man hätte ihn wohl mit einem Ruhmkorff'schen Inductor vergleichen können, dessen Drahtwindungen einen Nerven von mehreren Hectometern Länge darstellten, und in dem der Nervenstrom die Elektricität, und zwar in derselben Intensität, ersetzte. Mit einem Worte, die »Nervosität« – man verzeihe dieses hier etwas kühn gebrauchte Wort – war in dem Rosette'schen Inductor mit ebenso hoher Spannung aufgespeichert, wie die Elektricität in dem Ruhmkorff'schen.

So nervös der Professor auch sein mochte, so lag darin kein Grund, ihn ohneweiters aus dem Leben entwischen zu lassen. In einer Welt, welche nur fünfunddreißig Bewohner zählt, ist das Leben des Sechsunddreißigsten nicht zu verachten. Als der Scheintodte zum Theil entkleidet war, konnte man sich überzeugen, daß sein Herz, wenn auch nur schwach, doch jedenfalls noch schlug. Voraussichtlich mußte er also, bei der peinlichen Sorgfalt, welche ihm [243] gewidmet ward, auch wieder zum Bewußtsein kommen. Ben-Zouf knetete und frottirte den trockenen Körper wie eine alte Weinrebe, so daß man fürchten mußte, er werde Feuer fangen, und trällerte dazu, als putze er seinen Säbel zu einer Parade, den bekannten Refrain:


»Dem Tripel nur, Du Sohn des Ruhms,
Verdankt Dein Stahl den schönen Glanz.«

Endlich, nach zwanzig Minuten des unablässigen Reibens, entrang sich ein Seufzer den Lippen des Halbtodten, dem bald ein zweiter und ein dritter nachfolgten. Seine Augen öffneten sich ein wenig, schlossen sich wieder und öffneten sich dann weiter, offenbar völlig unklar über die Verhältnisse, in denen er sich wieder fand. Der bisher hermetisch geschlossene Mund ließ jetzt eine leichte Spalte zwischen den Lippen sehen. Er murmelte einige Worte, welche jedoch Niemand verstehen konnte. Palmyrin Rosette streckte die rechte Hand aus und erhob sie nach der Stirn, als suche er etwas, was da nicht zu finden war. Dann verzerrten sich seine Züge und das Gesicht röthete sich, als könnte er nur gleichzeitig mit einem Zornausbruch in's Leben zurückkehren, und er rief laut:

»Meine Brille! Wo ist meine Brille?«

Ben-Zouf suchte die verlangte Brille. Er fand sie glücklich wieder. Das monumentale Gestell war mit wahrhaft teleskopischen Gläsern ausgestattet. Während des Massirens war jene von den Schläfen abgefallen, auf welche sie doch fest angeschraubt schien, als verlief eine Achse derselben von einem Ohre zum anderen durch den Schädel des Gelehrten. Jetzt ward das Monstrum wieder auf der Adlernase, ihrem gewöhnlichen Sitze, angebracht, worauf noch ein neuer Seufzer, der aber in ein »Brumm, brumm« von guter Vorbedeutung ausging, nachfolgte.

Kapitän Servadac hatte sich über das Antlitz Palmyrin Rosette's geneigt, den er mit gespannter Aufmerksamkeit ansah. Gerade jetzt öffnete dieser die Augen vollständig. Ein lebhafter Blick schoß durch die dicken Linsen der Brille und mit höchst ärgerlicher Stimme rief der Gerettete:

»Schüler Servadac, fünfhundert Zeilen Strafarbeit bis morgen!«

Das waren die Worte, mit denen Palmyrin Rosette den Kapitän Servadac begrüßte.

[244] Gerade durch diese Sonderbarkeit des Anfangs einer Unterhaltung, welche offenbar auf eine plötzliche Erinnerung an die früheren Streiche Hector Servadaes zurückzuführen war, erkannte auch dieser, obwohl er buchstäblich zu träumen glaubte, seinen alten Lehrer der Physik vom Gymnasium Charlemagne wieder.

»Herr Palmyrin Rosette! rief er. Mein alter Lehrer hier mit Fleisch und Bein!

– Vorläufig mehr mit dem letzteren, bemerkte Ben-Zouf.

– Alle Wetter, das nenne ich ein eigenthümliches Zusammentreffen!« fügte Kapitän Servadac erstaunt hinzu.

Inzwischen war Palmyrin Rosette auf's Neue in eine Art Schlummer versunken, den man für passend hielt, zu respectiren.

»Beruhigen Sie sich, mein Kapitän, sagte Ben-Zouf. Er wird leben, ich stehe Ihnen dafür. Diese Leutchen bestehen ja fast nur aus Nerven. Ich habe noch weit ausgetrocknetere gesehen, welche noch viel weiter herkamen.

– Und woher denn, Ben-Zouf?

– Aus Egypten z.B., mein Kapitän, in einem hübschen eisenbeschlagenen Kasten.

– Das waren wohl Mumien, Dummkopf!

– Wie Sie sagen, Herr Kapitän!«

Da der Professor tief zu schlummern schien, schaffte man ihn nun in ein warmes Bett und mußte die Lösung der brennenden Fragen bezüglich seines Kometen wohl oder übel bis nach dem Erwachen des Gelehrten vertagen.

Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop – die Repräsentanten der Akademie der Wissenschaften unserer kleinen Kolonie – konnten sich, statt geduldig bis zum anderen Morgen zu warten, nicht enthalten, die allerunwahrscheinlichsten Hypothesen aufzustellen. Welcher Komet war es im Grunde, dem Palmyrin Rosette den Namen »Gallia« gegeben hatte? Bezog sich dieser Name nur auf das von der Erdkugel abgesprengte Stück? Galten jene in den einzelnen Notizen gefundenen Berechnungen der Entfernungen und Geschwindigkeiten nur für den Kometen Gallia oder für das neue Sphäroïd, das jetzt Hector Servadac und seine fünfunddreißig [245] Gefährten durch die Sonnenwelt trug? Sollten sich diese Ueberlebenden von der alten Et de als Bewohner jener Gallia ansehen oder nicht?

So lauteten etwa die Hauptfragen. Wer konnte aber dafür stehen, ob Alles, was sie mühsam ausgeklügelt, nicht jämmerlich zusammenfiel, wenn sich ihre Voraussetzung, sich auf einem von der Erdkugel abgerissenen Bruchstück zu befinden, unerwarteter Weise nicht bestätigen sollte?

»Nun, zerbrechen wir uns den Kopf nicht weiter, rief endlich Hector Servadac, Professor Rosette ist hier, um uns das Richtige zu sagen, und er wird es daran nicht fehlen lassen.«

Da Kapitän Servadac einmal auf Professor Rosette zu sprechen kam, so theilte er seinen Genossen Einiges über seinen früheren Lehrer mit, z.B. daß er ein Mann sei, mit dem sich nur schwer in gutem Einvernehmen leben lasse und der zu seinen Nächsten gewöhnlich in ziemlich gespanntem Verhältnisse stehe. Er schilderte ihnen denselben als ein unverbesserliches Original von größter Starrsinnigkeit und heftigem Temperamente, im Grunde aber als einen sehr braven Mann. Seiner Ansicht nach würde es am besten sein, seinen Unwillen immer ruhig austoben zu lassen, wie man etwa ein Unwetter unter Dach und Fach vorüberziehen lasse.

Nach Vollendung dieser kleinen biographischen Skizze durch Kapitän Servadac nahm Graf Timascheff das Wort und sagte:

»Halten Sie sich versichert, Kapitän, daß wir Alles thun werden, um mit Professor Rosette auf gutem Fuße zu bleiben. Durch die Mittheilungen seiner Beobachtungen wird er uns natürlich einen geographischen Dienst erweisen, doch halte ich das nur unter einer Bedingung für möglich.

– Und diese Bedingung wäre? fragte Kapitän Servadac.

– Nun die, daß er selbst wirklich der Verfasser jener von uns aufgefangenen Documente ist.

– Und daran könnten Sie zweifeln?

– Nein, Kapitän. Alle Wahrscheinlichkeiten sprechen ja gegen mich und ich erwähnte das nur, um keine ungünstige Hypothese unberücksichtigt zu lassen.

– Ei, wer sollte denn jene verschiedenen Notizen verfaßt haben, wenn nicht mein alter Lehrer? bemerkte Kapitän Servadac.

– Vielleicht doch ein anderer auf irgend einem anderen Punkte der Erde zurückgebliebener Astronom.

[246] – Das kann nicht wohl der Fall sein, fiel Lieutenant Prokop da ein, da nur jene Documente uns mit dem Namen ›Gallia‹ bekannt machten und Professor Rosette dasselbe Wort gleich zuerst aussprach.«

Auf diesen sehr richtigen Einwurf gab es wirklich keine Antwort, und es wurde unzweifelhaft, daß nur der Einsiedler von Formentera der Urheber jener Nachrichten sein könne. Was er auf jener Insel zu schaffen hatte, durfte man ja aus seinem eigenen Munde zu erfahren hoffen.

Zum Ueberfluß waren nicht nur seine Thür, sondern auch seine Bücher mitgenommen, und man hielt es für keine Indiscretion, dieselben einstweilen zu consultiren.

Es geschah.

Die Schriftzüge und Ziffern rührten offenbar von derselben Hand her, welche auch die Documente verfaßt hatte. Die Thür erwies sich vollständig bedeckt mit algebraischen Zeichen, die mittels Kreide geschrieben waren und welche man höchst sorgfältig zu bewahren suchte. Die Papiere bestanden in der Hauptsache aus losen Blättern mit mathematischen Figuren darauf. Hier kreuzten sich Hyperbeln, jene offenen Curven, darin beide Schenkel unendlich lang sind und sich immer weiter von einander entfernen; Parabeln, d.s. Curven, welche sich durch ihre zurückkehrende Form auszeichnen, deren Schenkel jedoch ebenfalls unendlich lang sind; endlich Ellipsen, d.s. immer in sich geschlossene Curven, wenn sie auch eine noch so verlängerte Form besitzen.


»Schüler Servadac, 500 Zeilen Strafarbeit bis morgen. (S. 244.)

Lieutenant Prokop bemerkte hierbei erläuternd, daß sich diese verschiedenen Bogen alle auf Kometenbahnen bezögen, welche parabolische, hyperbolische oder elliptische sein könnten, wodurch gleichzeitig gesagt ist, daß die in den beiden ersteren Fällen von der Erde aus beobachteten Kometen niemals nach unserem Horizonte zurückkehren können, während sie im dritten Falle periodisch und in mehr oder weniger größeren Zwischenräumen wieder erscheinen.


»Daß Sie mir die Thür öffnen, Herr Ben-Zouf!« (S. 253.)

Es lag also schon nach Einsichtnahme der Papiere und jener Thür auf der Hand, daß sich der Professor mit der Berechnung der Elemente eines Kometen beschäftigt habe; aus den verschiedenen, von ihm studirten Curven konnte man allerdings noch keine weiteren Schlüsse ziehen, da die Astronomen bei den Kometen von Anfang an stets eine parabolische Bahn voraussetzen.

[247] Aus Allem ging hervor, daß Palmyrin Rosette während seines Aufenthaltes auf Formentera ganz oder doch zum Theile die Elemente eines neuen Kometen berechnet habe, der im Kataloge noch nicht existirte.

Datirte diese Rechnung aber aus der Zeit vor oder nach der Katastrophe des 1. Januar? – Das konnte nur er allein wissen.

»Warten wir es ab, sagte Graf Timascheff.

[248] – Ich warte, aber ich brenne vor Verlangen, antwortete Kapitän Servadac, der seine Ungeduld kaum zu bemeistern vermochte. Ich gäbe einen Monat meines Lebens für jede Stunde, welche Professor Rosette weniger schliefe.

– Da könnten Sie doch leicht ein schlechtes Geschäft machen, Kapitän, sagte da Lieutenant Prokop.

– Wie, um das unserem Asteroïden noch bevorstehende Schicksal kennen zu lernen ...

[249] – Ich möchte Ihnen keine Illusionen rauben, Kapitän, erwiderte Lieutenant Prokop, doch selbst wenn der Professor über den Kometen Gallia noch so viel weiß, so ist damit noch nicht gesagt, daß er uns auch nur das Geringste über das Bruchstück, welches uns entführt, mittheilen können müsse. Steht überhaupt die Erscheinung des Kometen über dem Horizonte der Erde in irgend welchen Wechselbeziehungen zu der Fortschleuderung eines Fragmentes der Erdkugel in den Weltraum?

– Zum Teufel, natürlich! rief Kapitän Servadac. Der Zusammenhang ist ganz einleuchtend. Es liegt klar zu Tage, daß ...

– Daß ...? fragte Graf Timascheff, als hätte er schon die Antwort erwartet, welche der Andere eben geben wollte.

– Daß die Erde von einem Kometen einen Stoß erhalten und daß dieser die Ursache wurde, dem die Fortschleuderung des Stückes, welches uns trägt, zuzuschreiben ist!«

Auf diese, von Kapitän Servadac mit solcher Ueberzeugung ausgesprochene Hypothese, sahen sich Graf Timascheff und Lieutenant Prokop einige Augenblicke schweigend an. Trotz der Unwahrscheinlichkeit des Zusammentreffens der Erde mit einem Kometen, konnte man ein solches Ereigniß doch nicht geradezu unmöglich nennen. Ein Stoß dieser Art – ja, das lieferte die Erklärung zu den bis jetzt unerklärlichen Erscheinungen, das war die veranlassende Ursache jener so ganz außergewöhnlichen Folgen.

»Sie könnten wohl recht haben, Kapitän, antwortete Lieutenant Prokop, nachdem er sich die Frage von diesem Gesichtspunkte aus überlegt hatte, es ist nicht ganz abzuleugnen, daß es zu einem solchen Stoß kommen und dieser ein beträchtliches Stück der Erdkugel absprengen könnte. Nehmen wir diesen Fall an, so wäre die ungeheure Scheibe, welche wir in der Nacht nach der Katastrophe ja Alle gesehen haben, nichts Anderes gewesen als jener aus seiner Bahn abgelenkte Komet, dessen Schnelligkeit doch eine so große war, daß ihn die Erde im Centrum ihrer Attraction nicht festzuhalten vermochte.

– Das scheint mir wirklich die einzige Erklärung für jenes unbekannte Gestirn zu sein, wiederholte Kapitän Servadac.

– Somit hätten wir ja, sagte Graf Timascheff, eine neue, scheinbar recht annehmbare Hypothese Sie setzt unsere eigenen Beobachtungen mit denen des Professor Rosette in Uebereinstimmung. Den Namen ›Gallia‹ hätte er also dem Wandelstern beigelegt, durch den wir jenen Stoß erlitten.

[250] – Ohne Zweifel, Graf Timascheff.

– Sehr schön, Kapitän, und doch bleibt ein mir dunkler Punkt zu erklären übrig.

– Und welcher?

– Nun, daß sich der gelehrte Herr mehr mit dem Kometen beschäftigt zu haben scheint als mit dem Erdbruchstück, das ja auch ihn selbst in den Weltraum entführte.

– O, Graf Timascheff, antwortete Kapitän Servadac, Sie glauben gar nicht, welch sonderbare Käuze solche Fanatiker der Wissenschaft manchmal sind, und der meinige gehört unter die tollsten.

– Uebrigens, bemerkte Lieutenant Prokop, könnte die Berechnung der Elemente der Gallia recht wohl aus der Zeit vor dem Zusammentreffen herrühren. Der Professor wird den Kometen haben kommen sehen und beobachtete ihn gewiß schon vor der Katastrophe.«

Diese Andeutung Lieutenant Prokop's schien für sich selbst zu sprechen; jedenfalls vereinigten sich Alle in der Annahme der Hypothese Kapitän Servadac's. Nach dieser wäre also der ganze Sachverhalt folgender:

Ein die Ekliptik schneidender Komet war in der Nacht vom 31. December zum 1. Januar mit der Erde zusammengestoßen und hatte von dieser ein nicht unbeträchtliches Stück abgesprengt, welches nun selbstständig durch den interplanetarischen Weltraum gravitirte.

Wenn die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften auf der Gallia auch die volle Wahrheit noch nicht erkannten, so waren sie dieser doch bestimmt sehr nahe gekommen.

Nur Palmyrin Rosette war im Stande, das vorliegende Problem vollständig zu lösen.

[251]
2. Capitel
Zweites Capitel.
Dessen letzten Wort dem Leser lehrt, was er ohne Zweifel schon vorher errathen halte.

So verlief also der 19. April. Während ihre Vorgesetzten sich in dieser Weise besprachen, betrieben die Kolonisten ihre gewohnten Arbeiten. Das unerwartete Erscheinen des Professors auf der Scene der Gallia vermochte sie keineswegs besonders zu erregen. Die Spanier, bei ihrer natürlichen Sorglosigkeit, und die Russen, bei dem felsenfesten Vertrauen zu ihrem Herrn, beunruhigten sich weder über sichtbare Wirkungen, noch über deren Ursachen. Ob die Gallia jemals nach der Erde zurückkehrte, oder ob sie auf derselben leben, d.h. auch hier sterben sollten, das bekümmerte sie nicht im Geringsten. Auch während der folgenden Nacht ließen sie sich um keine Stunde Schlaf bringen und schlummerten wie Philosophen, welche nichts zu beunruhigen vermag.

Der zum Krankenwärter umgewandelte Ben-Zouf verließ das Lager des Professor Rosette nicht einen Augenblick. Er hatte die Sache zur seinigen gemacht und sich einmal in den Kopf gesetzt, jenen wieder auf die Füße zu bringen. Seine Ehre war hierbei im Spiele. Wie pflegte er ihn aber auch! Welch' gewaltige Quantitäten seiner Herzstärkungen flößte er ihm bei der geringsten Gelegenheit ein! Wie zählte er seine Seufzer! Wie lauschte er auf jedes Wort, das von seinen Lippen kam! Um wahr zu sein, müssen wir hier bemerken, daß der Name »Gallia« in Palmyrin Rosette's unruhigem Schlummer häufig, und bezüglich seiner Betonung von der einfachen Unruhe bis zum Zorne wechselnd, wiederkehrte. Träumte vielleicht der Professor, daß man ihm seinen Kometen stehlen, die Entdeckung der Gallia bestreiten, ihm die Priorität seiner Beobachtungen und Berechnungen ableugnen wollte? – Das konnte wohl sein. Palmyrin Rosette gehörte zu den Leuten, welche selbst im Schlafe wüthend werden.

Trotz seiner schärfsten Aufmerksamkeit gelang es dem Krankenwärter doch nicht, aus jenen unzusammenhängenden Worten etwas zu verstehen, [252] was das große Problem seiner Lösung näher gebracht hätte. Uebrigens schlief der Professor die ganze Nacht hindurch, anfänglich noch mit leisen Seufzern, später aber mit lautem Schnarchen von bester Vorbedeutung.

Als die Sonne sich schon über dem westlichen Horizonte der Gallia erhob, schlummerte Palmyrin Rosette noch immer, und Ben-Zouf erachtete es für angemessen, seine Ruhe nicht zu stören. Uebrigens wurde die Aufmerksamkeit der Ordonnanz gerade jetzt durch einen kleinen Zwischenfall abgeleitet.

Es klopfte nämlich Jemand wiederholt an die starke Thür, welche die Hauptgalerie des Nina-Baues abschloß. Diese Thür diente nicht etwa zur Abhaltung unliebsamer Besucher, sondern nur zum Schutz gegen die Kälte.

Ben-Zouf verließ seinen Pflegebefohlenen auf einen Augenblick; bald aber glaubte er, unrecht gehört zu haben, und kehrte wieder um, da er sich nicht als Portier betrachtete, und Andere da waren, welche, minder beschäftigt als er, den. Riegel entfernen konnten. Er verhielt sich also ganz still.

Im Nina-Bau lag Alles noch in tiefem Schlafe. Das Geräusch wiederholte sich. Offenbar rührte es von einem lebenden Wesen her, das mit irgend einem Instrumente gegen die Thür schlug.

»In drei Teufels Namen, das ist zu arg! fuhr Ben-Zouf auf. Wer zum Kuckuck mag das sein?«

Er ging nach der Hauptgalerie zu.

Bei dieser Thür angelangt, fragte er ärgerlich:

»Wer da?

– Ich bin's, erklang die Antwort mit süßlicher Stimme.

– Wer ist ›Ich‹?

– Isaak Hakhabut.

– Und was begehrt Ihr, Astaroth?

– Daß Sie mir die Thür öffnen, Herr Ben-Zouf.

– Was wollt Ihr hier? Eure Waaren verkaufen?

– Sie wissen ja, daß Niemand Luft hat, sie zu bezahlen.

– Nun, so scheert Euch zum Teufel!

– Mein Herr Ben-Zouf, fuhr der Jude in fast bittendem Tone fort, ich möchte Seine Excellenz den Herrn General-Gouverneur sprechen.

– Er schläft noch.

– Ich warte, bis er erwacht.

[253] – Gut, so wartet da, wo Ihr jetzt seid, Abimelech.«

Ben-Zouf wollte eben wieder nach seinem Posten zurückkehren, als Kapitän Servadac, den das Geräusch geweckt hatte, dazu kam.

»Was giebt's, Ben-Zouf?

– O, nichts, oder doch so gut wie nichts. Der Kerl, der Hakhabut ist draußen und will Sie sprechen.

– Nun gut, so öffne ihm, antwortete Hector Servadac. Ich muß doch erfahren, was ihn heute hierher führt.

– Jedenfalls nur sein eigenes Interesse.

– Oeffne die Thür, sag' ich Dir!«

Ben-Zouf gehorchte. Sofort drängte sich Isaak Hakhabut, in seinen alten, langen Ueberrock gehüllt, herein. Kapitän Servadac ging nach dem Hauptsaale und der Jude folgte ihm mit den devotesten Ehrenbezeigungen.

»Was wollt Ihr, fragte Kapitän Servadac und sah Isaak Hakhabut gerade in's Gesicht.

– O, Herr General-Gouverneur, wissen Sie denn seit einigen Stunden gar nichts Neues?

– Wie, Ihr denkt hier Neuigkeiten zu erfahren?

– Gewiß, Herr Gouverneur, und ich hoffe, Sie werden haben die Güte, sie mir mitzutheilen.

– Ich werde Euch gar nichts mittheilen können, Meister Isaak, denn ich weiß selbst nichts.

– Nun, es ist doch gekommen noch ein Mann gestern hierher nach Warm-Land? ...

– Also das wißt Ihr schon?

– Was sollt' ich's nicht, Herr Gouverneur? Von meiner armseligen Tartane aus hab' ich den You-You wegsegeln sehen auf eine weite Reise, und habe gesehen, daß er wieder gekommen ist. Mir schien, man lud daraus mit großer Vorsicht ...

– Nun, was oder wen?

– Nun, Herr Gouverneur, verhielt es sich nicht so, daß Sie gestern hätten aufgenommen hier einen Fremden? ...

– Der Euch bekannt wäre?

– O, das sage ich ja nicht, Herr Gouverneur, indeß, ich möchte ... ich wünschte ...

[254] – Was?

– Jenen Fremden zu sprechen, denn vielleicht kommt er ...

– Von wo?

– Von der nördlichen Küste des Mittelmeeres, und es wäre zu hoffen er brächte ...

– Nun, er brächte?

– Nachrichten aus Europa!« sagte der Jude mit einem bezeichnenden Blicke auf den Kapitän Servadac.

Der Starrkopf verweilte also, trotz dreiundeinhalbmonatlichen Aufenthaltes auf der Gallia, bei seinen früheren Ansichten. Bei seinem Temperament fiel es ihm gewiß schwerer als jedem Anderen, sich geistig als von der Erde getrennt anzusehen, obwohl er es buchstäblich war. Mußte er auch das Auftreten abnormer Erscheinungen zugestehen, wie die Verkürzung der Tage und Nächte, die Verkehrung der Hauptpunkte des Himmels bezüglich des Auf- und Unterganges der Sonne, so vollzog sich seiner Meinung nach das Alles eben auf der Erde selbst. Das Meer hier blieb für ihn immer noch das Mittelmeer. War auch ein Theil Afrikas durch irgend eine Katastrophe unzweifelhaft verschwunden, so existirte nach ihm doch das ganze Europa, einige hundert Meilen im Norden, unverändert weiter. Seine Bewohner lebten gewiß wie zuvor und auch er würde dort umherziehen, kaufen und verkaufen, mit einem Worte schachern können. Die Hansa würde in Ermanglung des afrikanischen Ufers den Küstenhandel längs des europäischen Ufers betreiben und bei diesem Tausche wahrscheinlich nichts einbüßen. Deshalb war Isaak Hakhabut spornstreichs herbeigeeilt, um im Nina-Bau Nachrichten von Europa zu erhalten.


»Nachrichten aus Europa!« sagte Isaak. (S. 255.)

Diesen Juden aufklären und seine starr festgehaltenen Ansichten brechen zu wollen, schien eine vergebliche Mühe. Kapitän Servadac dachte auch nicht im Geringsten daran, mit diesem Renegaten, der ihn anwiderte, neue Beziehungen anzuknüpfen, und begnügte sich, als Antwort auf dessen Gesuch nur mit den Achseln zu zucken.

Wer aber auch noch mehr als mit den Achseln zuckte, das war Ben-Zouf. Die Ordonnanz hatte das Begehren des Juden gehört und antwortete nun Isaak Hakhabut an Stelle des Kapitän Servadac, der ihm den Rücken zugekehrt hatte.


Ben-Zouf brachte das ersehnte Labsal. (S. 259.)

»Ich habe mich also nicht geirrt, fuhr der Jude mit [255] lebhafter erglänzenden Augen fort. Gestern ist ein Fremder hier angekommen?

– Ja wohl, antwortete Ben-Zouf.

– Lebend?

– Man hofft es.

– Und kann ich erfahren, Herr Ben-Zouf, von welchem Orte ist gekommen dieser Reisende?

[256] – Von den Balearen, belehrte ihn Ben-Zouf, der beobachten wollte, welche Wirkung das auf Isaak Hakhabut äußern würde.

– Von den Balearen! rief der Jude. O, das ist ein herrlicher Platz zum Handeln! Was hab' ich sonst dort gemacht für ein seines Geschäft! Die Hansa ist gar wohl bekannt auf jenen Inseln.

– Nur zu bekannt.

[257] – Sie liegen aber blos entfernt fünfzehn Meilen von der spanischen Küste, und jedenfalls wird der Herr Reisende bringen können Nachrichten von Europa.

– Gewiß, Manasse, er wird Euch so manches Interessante mittheilen können.

– Ist das wahr, Herr Ben-Zouf?

– Natürlich.

– Ich werde nicht ansehen ... fuhr der Jude zögernd fort ... nein ... gewiß ... ich bin zwar nur ein armer Mann ... ich werde nicht ansehen ein Paar Realen, um mit ihm sprechen zu können.

– Oho, Ihr werdet sie doch ansehen!

– Ja, das werde ich ... aber ich werde sie geben trotzdem, wenn ich ihn sprechen kann sogleich.

– Aha! ließ sich Ben-Zouf vernehmen. Leider ist unser Reisender sehr abgespannt und schläft jetzt noch.

– Aber wenn man ihn weckte ...

– Hakhabut, fiel da Kapitän Servadac ein, wenn Ihr Euch unterfangt, hier irgend Jemand zu wecken, so weis' ich Euch die Thür!

– Herr Gouverneur, entschuldigte sich der Jude im unterwürfigsten Tone, ich möchte ja nur wissen ...

– Ihr werdet Alles erfahren, unterbrach ihn Kapitän Servadac. Ich bestehe sogar darauf, daß Ihr zugegen seid, wenn unser neuer Gefährte seine Nachrichten aus Europa mittheilt.

– Und ich auch, Ezechiel, fügte Ben-Zouf hinzu, denn ich möchte Euer fröhliches Gesicht dabei sehen.«

Isaak Hakhabut brauchte nicht lange zu warten. Eben ließ sich die ungeduldig rufende Stimme Palmyrin Rosette's vernehmen.

Bei diesem Rufe eilten Alle nach dem Lager des Professors, Kapitän Servadac ebenso wie Graf Timascheff, Lieutenant Prokop und Ben-Zouf, dessen kräftige Hand Mühe hatte, den Juden Hakhabut etwas zurückzuhalten.

Der Professor war offenbar nur erst halb munter und rief, wahrscheinlich unter der Nachwirkung eines Traumes: »He, Joseph! den Kerl soll der Teufel holen! Wirst Du bald kommen, Joseph!«

Dieser Joseph war gewiß der Diener Palmyrin Rosette's; erscheinen konnte er ohne Zweifel deshalb nicht, weil er wohl noch die alte Welt bewohnte.

[258] Der Stoß der Gallia hatte auch die Wirkung gehabt, plötzlich, und wohl für immer, Herrn und Diener zu trennen.

Inzwischen erwachte der Professor vollständig und rief von Neuem:

»Joseph! Vermaledeiter Joseph! Wo ist meine Thür?

– Hier, erwiderte Ben-Zouf, Ihre Thür ist sorgfältig verwahrt.«

Palmyrin Rosette öffnete die Augen weiter und sah die Ordonnanz stirnrunzelnd scharf an.

»Du bist Joseph? fragte er.

– Zu dienen, Herr Palmyrin, erwiderte seelenruhig Ben-Zouf.

– Schön, Joseph, fuhr der Professor fort, meinen Kaffee, aber schnell!

– Den gewünschten Kaffee!« rief Ben-Zouf nach der Küche eilend.

Unterdessen half Kapitän Servadac Palmyrin Rosette sich halb empor zu richten.

»Verehrtester Professor, begann er, Sie haben also Ihren alten Schüler von der Charlemagne wieder erkannt?

– Gewiß, Servadac, gewiß! bestätigte Palmyrin Rosette. Ich hoffe, Sie werden sich binnen zwölf Jahren etwas geändert haben?

– Von oben bis unten, erwiderte Kapitän Servadac lachend.

– Schön, das ist gut! sagte Palmyrin Rosette. Aber meinen Kaffee möcht' ich haben. Ohne Kaffee keine klaren Gedanken, und diese braucht man heutzutage nothwendig.«

Zum Glück brachte Ben-Zouf eben das ersehnte Labsal – eine große Tasse schwarzen, dampfenden Kaffees.

Palmyrin Rosette leerte diese, erhob sich vollends, verließ das Lager, trat in den Hauptraum der Wohnung ein, sah sich zerstreut ein wenig um und ließ sich endlich in einen der besten Lehnstühle aus dem Salon der Dobryna nieder.

Dann ging der Professor, wenn auch mit etwas sauertöpfischem Gesicht, aber doch mit einem Tone, der an das »all right«, »va bene« und »nil desperandum« seiner Nachrichtsblätter erinnerte, auf die brennende Frage ein.

»Nun, meine Herren, was denken Sie von der Gallia?«

Kapitän Servadac wollte darauf vor Allem selbst die Frage stellen, was diese Gallia sei, als sich Isaak Hakhabut vordrängte.

[259] Beim Anblicke des Juden runzelten sich des Professors Augenbrauen von Neuem und er rief mit dem Tone eines Mannes, der sich durch eine unziemliche Begegnung beleidigt fühlt:

»Und was hat das zu bedeuten?

– Lassen Sie sich den da nicht kümmern!« erwiderte Ben-Zouf, während der Gelehrte Isaak Hakhabut mit der Hand abzuwehren suchte.

Es war aber weder leicht, den Juden zurück zu halten, noch ihn am Sprechen zu verhindern. Er nahm immer und immer wieder einen Anlauf, ohne der anderen Anwesenden zu achten.

»Mein Herr, sagte er, im Namen des Gottes Abraham's, Isaak's und Jakob's, geben Sie uns Nachricht von Europa!«

Palmyrin Rosette sprang, wie von einer Feder emporgeschnellt, aus seinem Sessel auf.

»Nachrichten von Europa! rief er. Er will Nachrichten von Europa haben!

– Ja ... ja ... antwortete der Jude, der sich an den Lehnsessel des Professors klammerte, um dem ihn zurückdrängenden Ben-Zouf zu widerstehen.

– Und wozu das? fuhr Palmyrin Rosette fort.

– Um dahin zurückzukehren.

– Dahin zurückkehren! – Welches Datum haben wir doch heute? fragte der Professor nach seinem früheren Schüler gewendet.

– Den zwanzigsten April, antwortete Kapitän Servadac.

– Gut; also heute am zwanzigsten April, erklärte Palmyrin Rosette, dessen Stirn sich wie von leichtem Nachdenken furchte, heute ist Europa nahezu dreiundsiebzig Millionen Meilen von uns entfernt!«

Isaak Hakhabut sank zusammen, als hätte man ihm das Herz aus dem Leibe gerissen.

»Ah, wie mir scheint, weiß man hier noch nichts? fragte Palmyrin Rosette.

– Einiges doch!« antwortete Kapitän Servadac.

Mit kurzen Worten theilte er dem Professor Alles mit. Er erzählte, was sich seit der Nacht des 31. Decembers zugetragen, wie die Dobryna eine Entdeckungsreise unternommen und aufgefunden habe, was noch von den alten Continenten übrig war, nämlich einige Punkte von Tunis, Sardinien, Gibraltar [260] und Formentera; ferner daß seine Documente in drei Fällen in ihre Hände gekommen seien, und endlich, daß man die Insel Gourbi verlassen, um nach Warm-Land überzusiedeln und den alten Wachtposten gegen den Nina-Bau zu vertauschen.

Palmyrin Rosette hatte diesem Berichte nicht ohne einige Zeichen von Ungeduld zugehört. Als Kapitän Servadac geendet hatte, fragte er:

»Nun, meine Herren, wo glauben Sie sich denn augenblicklich zu befinden?

– Auf einem neuen Asteroïden, der durch die Sonnenwelt kreist, erwiderte Kapitän Servadac.

– Und dieser neue Asteroïd wäre Ihrer Ansicht nach? ...

– Ein ungeheures Bruchstück, das aus der Erde gerissen ward.

– Herausgerissen, ah so, herausgerissen! Ein Fragment der Erdkugel! Und durch wen, durch was herausgerissen?

– Durch den Anprall eines Kometen, dem Sie, lieber Professor, den Namen ›Gallia‹ gegeben haben.

– Nun, Sie irren sich doch, meine Herren, erklärte Palmyrin Rosette aufstehend. Die Sache verhält sich noch weit besser!

– Noch weit besser! wiederholte lebhaft Lieutenant Prokop.

– Gewiß, fuhr der Professor fort, gewiß. Es ist ganz richtig, daß ein bisher unbekannter Komet in der Nacht vom 31. December zum 1. Januar, um zwei Uhr siebenundvierzig Minuten und fünfunddreißig Secunden die Erde getroffen hat, aber er hat sie dabei sozusagen nur gestreift und die kleinen Bruchstückchen mit entführt, welche Sie bei Ihrer Entdeckungsfahrt auffanden.

– Und folglich, rief Kapitän Servadac, befinden wir uns ...

– Auf dem Gestirn, welches ich ›Gallia‹ genannt habe, antwortete Palmyrin Rosette triumphirenden Tones. Sie leben jetzt auf meinem Kometen!«

[261]
3. Capitel
Drittes Capitel.
Einige Variationen über das längst bekannte Thema von den Kometen und anderen Wanderern der Sonnenwelt.

Wenn Professor Palmyrin Rosette einen Vortrag über Kometographie hielt, so definirte er, in Uebereinstimmung mit den hervorragendsten Astronomen, die Kometen folgendermaßen:

»Gestirne mit einem leuchtenden Centralpunkte, dem sogenannten Kerne, mit einer Nebelhülle, welche man auch als Strahlenkranz bezeichnet, und einem schwächer leuchtenden Anhängsel, dem Schweife, wobei diese Gestirne in Folge der großen Excentricität ihrer Bahn für die Bewohner der Erde nur zeitweilig und im Vergleich zur Dauer ihres Umlaufes nur sehr kurze Zeit sichtbar sind.«

Palmyrin Rosette unterließ es auch niemals, hinzuzusetzen, daß seine Definition eine vollkommen treffende sei – freilich mit den Ausnahmefällen, daß diese Gestirne wohl auch ohne Kern und Schweif und ohne Nebelhülle auftreten könnten und dennoch als Kometen zu betrachten seien.

Auch setzte er, nach Arago, stets noch hinzu, daß ein solches Gestirn, um den Ehrennamen eines Kometen zu verdienen, noch: 1. eine eigene Bewegung besitzen und 2. eine sehr verlängerte Ellipse beschreiben müsse, in welcher es sich so weit entferne, um von der Erde und der Sonne aus unsichtbar zu werden. Bei Erfüllung jener ersten Bedingung konnte dann ein solcher Wandelstern nicht mehr mit einem Fixsterne und bei Erfüllung der zweiten auch nicht mit einem Planeten verwechselt werden. War es dann endlich nicht unter die Klasse der Meteore zu bringen, so mußte ein solches Gestirn, das weder ein Fixstern noch Planet war, nothwendig ein Komet sein.

Wenn Professor Palmyrin Rosette in der Art von seinem bequemen Lehnstuhl aus docirte, wiegte er sich immer in dem Glauben, einmal noch von einem Kometen fortgerissen und durch die Sonnenwelt geführt zu sehen.

[262] Unentwegt bewahrte er für diese behaarten oder unbehaarten Gestirne eine ausgesprochene Vorliebe. Ahnte er vielleicht voraus, was ihm die Zukunft wirklich gewähren sollte? In der Kometographie war er, wie man sich leicht denken kann, denn auch ganz besonders sattelfest. Nach dem Zusammenstoße hatte er auf Formentera gewiß nur das Eine schmerzlich vermißt, keinen Zuhörerkreis um sich zu haben; denn in diesem Falle hätte er bestimmt sofort einen Eilcursus über die Kometen begonnen und sein Lieblingsthema in folgender Ordnung abgehandelt:


1. Wie groß ist die Zahl der Planeten im Weltraume?

2. Welche sind die periodischen Kometen, d.h. die, welche nach einer gewissen Zeit wiederkehren, und welche sind die nichtperiodischen?

3. Wie verhält es sich mit der Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes zwischen der Erde und irgend einem jener Kometen?

4. Was würde die Folge eines solchen Stoßes sein, je nachdem der betreffende Komet einen harten Kern besäße oder nicht?


Mit der Beantwortung dieser vier Fragen hätte Palmyrin Rosette gewiß auch die anspruchsvollsten seiner Zuhörer befriedigt.

Eben das wollen wir an seiner Stelle in diesem Capitel versuchen.

Also die erste Frage lautete: Wie groß ist die Zahl der Planeten im Weltraume?

Keppler nahm an, die Kometen am Himmel seien ebenso zahlreich wie die Fische im Wasser.

Arago hat, unter Zugrundelegung derjenigen dieser Gestirne, welche zwischen Merkur und Sonne gravitiren, die Zahl der übrigen, welche den Raum unseres Sonnensystems berühren, auf siebzehn Millionen berechnet.

Lambert nimmt allein bis zum Saturn, also innerhalb eines Rayons von etwa zweihundertneunzehn Millionen Meilen, deren gegen fünfhundert Millionen an.

Andere Berechnungen ergeben gar vierundsiebzig Millionen Milliarden dieser Himmelskörper.


»Sie leben auf meinem Kometen!« (S. 261.)

Die Wahrheit ist, daß man nichts Bestimmtes über die Anzahl der Haarsterne weiß, daß man sie niemals gezählt hat und niemals wird zählen können, aber daß sie jedenfalls sehr zahlreich vorhanden sind. Um den Vergleich Keppler's zu verdeutlichen und zu erweitern, könnte man sagen, daß ein auf [263] der Sonnenoberfläche stehender Fischer seine Angel gar nicht auswerfen könnte, ohne einen Kometen zu fangen.


Der weitberühmte Herschel vermochte ihn zu verfolgen (S. 267.)

Und das ist noch nicht Alles. Eine große Anzahl schweift durch das Universum, welche sich dem Einflusse der Sonne vollständig entzieht. Es giebt darunter viele so weit und so regellos umherirrende Gestirne, daß sie scheinbar ganz nach ihrem Belieben von einem Attractions-Centrum zu einem [264] anderen übergehen. Sie vertauschen unsere Sonnen- (d.h. unsere specielle Fixstern-) Welt mit bedauerlicher Leichtigkeit gegen eine andere, wobei am Horizonte der Erde solche erscheinen, welche man früher hier niemals erblickte, während andere dafür auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Um aber nur von denen zu sprechen, die unserem Sonnensysteme zweifellos angehören, haben diese wenigstens eine unveränderlich vorherbestimmte[265] Bahn, wodurch ein Zusammenstoß entweder zwischen ihnen selbst oder mit der Erde zur Unmöglichkeit würde? – Leider nein! Ihre Bahnen sind fremden Einflüssen nicht ganz und gar entzogen. Aus Ellipsen können dieselben zu Parabeln oder Hyperbeln werden.

Um nun vom Jupiter zu reden, so ist dieser Planet der hervorragendste »Ordnungsstörer« der Bahnen vieler Weltkörper. Nach der Beobachtung der Astronomen scheint er vorzüglich auf der Heerstraße der Kometen zu wandeln und übt auf die schwächlichen Weltkörper oft einen verderbendrohenden Einfluß, der sich freilich durch seine mächtige Anziehungskraft er klärt.

Das ist also in groben Zügen die Kometenwelt, welche Millionen zu ihr gehörender Gestirne zählt. –

Die zweite Frage. Welche sind die periodischen Kometen und welche die nichtperiodischen?

Durchblättert man die astronomischen Jahrbücher, so finden sich zwischen fünf- und sechshundert Kometen, welche zu verschiedenen Zeiten der Gegenstand eingehender Untersuchung geworden sind. Hierunter sind aber nur vierzig, deren Umlaufszeiten genau bekannt sind.

Diese vierzig Gestirne zerfallen wiederum in periodische und nichtperiodische Kometen. Die ersteren erscheinen für die Erde in mehr oder weniger langen, aber fast ganz regelmäßigen Zeiträumen wieder. Die anderen entfernen sich von der Sonne in wahrhaft unmeßbare Weiten.

Unter den periodischen Kometen kennt man zehn mit sogenannter »kurzer Umlaufszeit«, deren Bewegungen mit äußerster Genauigkeit berechnet sind. Es sind das die Kometen Halley's, Encke's, Gambart's, Faye's, Brörsen's, d'Arrest's, Tuttle's, Winnecke's, de Vico's und Tempel's.

Einige Worte über die Geschichte derselben dürften hier nicht am unrechten Orte sein, denn einer derselben befand sich einmal in demselben Verhältnisse zur Erde, wie unlängst der Komet Gallia.

Der Halley'sche Komet ist schon am längsten bekannt. Man nimmt an, daß er in den Jahren 134 und 52 v. Chr., und dann 400, 855, 930, 1006, 1230, 1305, 1380, 1456, 1531, 1607, 1682, 1759 und 1835 sichtbar war.

Er bewegt sich von Osten nach Westen, d.h. in umgekehrter Richtung wie die Planeten um die Sonne. Der Zeitraum zwischen zwei Erscheinungen desselben beträgt fünfundsiebzig bis sechsundsiebzig Jahre, je nachdem er auf [266] seiner Bahn durch die Nähe des Jupiter oder Saturnus mehr oder weniger gestört wurde, wodurch eine Verzögerung bis zu sechshundert Tagen entstehen kann. Der weitberühmte Herschel befand sich zur Zeit seines Erscheinens im Jahre 1835 am Cap der guten Hoffnung, und damit in günstigeren Verhältnissen als die Astronomen der nördlichen Halbkugel der Erde, so daß er den Kometen bis zum März 1836 zu verfolgen vermochte, zu welcher Zeit er, wegen allzu großer Entfernung von der Erde, unsichtbar wurde. Zur Zeit seines Perihels nähert sich der Halley'sche Komet der Sonne bis auf 13 1/5 Millionen Meilen, also bis auf eine geringere Entfernung als die der Venus – was bezüglich der Gallia ganz ebenso der Fall gewesen zu sein schien. Zur Zeit seines Aphels entfernt er sich bis auf 780 Millionen Meilen, d.i. über die Kreisbahn des Neptun hinaus.

Der Encke'sche Komet ist derjenige, welcher seinen Umlauf im kürzesten Zeitraume vollendet, denn er braucht dazu im Mittel nur 1203 Erdentage, also weniger als drei und ein halbes Jahr. Er bewegt sich in directer Richtung von Westen nach Osten. Zuerst entdeckt am 26. November 1818, erkannte man doch nach Berechnung seiner Bahnelemente, daß er mit einem schon im Jahre 1805 gesehenen identisch sei. Wie es die Astronomen schon damals voraussagten, erschien er in den Jahren 1822, 1825, 1829, 1832, 1835, 1838, 1842, 1845, 1848, 1852 u.s.w. regelmäßig wieder, und hat überhaupt niemals ermangelt, zur bestimmten Zeit über dem Horizonte der Erde sichtbar zu werden, wobei seine Umlaufszeit sich merkwürdiger Weise jedesmal um 6 Stunden verkürzte, ein Umstand, welcher trotz Encke's eigener und Bessel's späterer Hypothese noch keine allgemein angenommene Erklärung gefunden hat. Seine Bahn liegt noch innerhalb der des Jupiter. Er entfernt sich von der Sonne somit nicht weiter als höchstens 93 1/2 Millionen Meilen, und nähert sich ihr bis 7.8 Millionen Meilen, d.h. mehr als der Merkur. Wie schon durch die Verminderung der Umlaufszeit angedeutet, vermindert sich die große Achse seiner elliptischen Bahn allmälig, und verkleinert sich demnach seine mittlere Entfernung von der Sonne. Es ist folglich gar nicht unwahrscheinlich, daß der Encke'sche Komet endlich in die Sonne stürzt, die ihn jedenfalls absorbiren wird, im Fall er nicht schon vorher durch die mit der Annäherung an dieselbe steigende Hitze verflüchtigt wurde.

Der Gambart'sche oder Biela'sche Komet ward in den Jahren 1772, 1789, 1795 und 1805 schon beobachtet, seine Bahnelemente aber erst am [267] 28. Februar 1826 genau bestimmt. Auch er besitzt eine directe Bewegung. Seine Umlaufszeit beträgt 2410 Tage, also fast sieben Jahre. Zur Zeit seines Perihels kommt er an der Sonne in der Entfernung von 19,626,000 Meilen, also ein wenig näher als die Erde vorüber, und entweicht bei seinem Aphel bis auf 141,222,000 Meilen, also bis jenseit der Bahn des Jupiter. Eine merkwürdige Erscheinung bot dieser Himmelskörper im Jahre 1846. Er erschien über dem Erdhorizonte in zwei Theilen; er hatte sich also unterwegs, jedenfalls unter dem Einflusse eigener, innerer Kräfte, getrennt. Die beiden Theile bewegten sich gemeinschaftlich, aber mit einem Zwischenraume von 36,000 Meilen weiter: im Jahre 1852 betrug diese Entfernung schon 350,000 Meilen. Zuletzt wurde der Biela'sche Komet – ob vollständig in Auflösung begriffen, ist noch nicht festgestellt – am 28. November 1872 als ein unerhört starker Sternschnuppenfall beobachtet. Die Erde ist an jenem Tage also wahrscheinlich durch jenen Haarstern hindurchgegangen.

Faye's Komet, mit directer Bewegung, wurde zuerst am 22. November 1843 bemerkt. Auf die Berechnung seiner Elemente gründete man die Vorhersage, daß er 1850 und 1851, nach siebenundeinhalb Jahren oder 2718 Tagen, wieder erscheinen würde. Diese Prophezeiung ging in Erfüllung: das Gestirn zeigte sich zur damals bestimmten und für später berechneten Zeit, wobei es in 38,790,000 Meilen Entfernung seine Sonnennähe passirte, dem Centralsterne also nicht ganz so nahe kam wie der Mars, und sich dann bis auf 135,936,000 Meilen, d.i. weiter als der Jupiter, von ihm entfernte.

Brörsen's Komet wurde am 26. Februar 1846 in Kiel entdeckt. Er vollendet, in directer Bewegung, seinen Kreislauf binnen circa fünfundeinhalb Jahren oder 2042 Tagen. Sein Perihel-Abstand beträgt 14,768,400 Meilen; seine Aphel-Entfernung 129,600,000 Meilen.

Was die anderen Kometen mit kurzer Umlaufszeit betrifft, so vollendet der von d'Arrest seine Bahn binnen etwa sechsundeinhalb Jahren, und schweifte derselbe 1862 gegen 6,500,000 Meilen jenseit des Jupiter; der von Tuttle beschreibt seine Ellipse in dreizehn und zwei drittel Jahren; jener von Winnecke in fünfundeinhalb Jahren; der Tempel'sche Komet fast in derselben Zeit, dagegen scheint sich der de Vicosche in ungemessene Himmelsfernen verloren zu haben. Die letztgenannten Haarsterne wurden noch nicht so eingehend untersucht wie die ersten fünf.

[268] Wir hätten nun noch die Kometen von »mittlerer oder langer Umlaufszeit« anzuführen, von denen vierzig mehr oder weniger eingehend studirt worden sind.

Der von 1556, der sogenannte »Komet Karl's V.«, wurde zwar 1860 erwartet, ist aber nicht erschienen.

Den von Newton 1680 beobachteten Haarstern, welcher nach Whiston durch zu große Annäherung an die Erde deren Untergang herbeiführen sollte, müßte man im Jahre 619 und 43 v. Chr. gesehen haben, später 531 und 1116. Seine Umlaufszeit beträgt gegen fünfhundertfünfundsiebzig Jahre und streift er in seinem Perihel so dicht an der Sonne vorüber, daß er von derselben eine achtundzwanzigtausendmal stärkere Wärme erhält als die Erde, d.h. zweitausendmal die Hitze des schmelzenden Eisens!

Der Komet von 1586 ließ sich, der Lebhaftigkeit seines Glanzes nach, mit einem Fixsterne erster Größe vergleichen.

Der Komet von 1811, der seinen Namen (»das Kometenjahr«) dem Jahre seines Erscheinens gegeben, besaß einen Ring (Kern) von 103,000 Meilen Durchmesser, eine Nebelhülle von 270,000 Meilen und einen Schweif von 27 Millionen Meilen Länge.

Der Komet von 1843, den man mit dem von 1668, 1494 und 1317 identificiren zu sollen glaubte, wurde von Cassini beobachtet, doch stimmen die Astronomen bezüglich seiner Revolutionsperiode keineswegs überein. Er geht an der Sonne in einer Entfernung von nur 7200 Meilen und mit einer Schnelligkeit von 8000 Meilen in der Secunde vorüber. Die Wärme, welche er dabei empfängt, gleicht derjenigen, welche 87,000 Sonnen der Erde in ihrem mittleren Abstande zustrahlen würden. Sein Schweif war sogar am hellen Tage sichtbar.

Der Donati'sche Komet, der seiner Zeit zwischen den Sternbildern des nördlichen Himmels in so lebhaftem Glanze schimmerte, hatte eine etwa siebenhundertmal geringere Masse als die Erde.

Der mit heller leuchtenden Strahlenbüscheln geschmückte Komet von 1861 glich einer ungeheuren, phantastischen Muschel.

Der Komet von 1864, dessen Umlaufszeit nicht weniger als 280,000 Jahre beträgt, verliert sich also sozusagen im Weltraume.

Die dritte Frage: Wie verhält es sich mit der Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes zwischen der Erde und irgend einem jener Kometen?

[269] Wenn man die Bahnen der Planeten und die der Kometen auf Papier zeichnet, so schneiden sich dieselben an vielen Punkten. In der Wirklichkeit liegt das aber anders. Die Ebenen dieser Bahnen stehen gegen die Ekliptik, d.i. die Kreisbahnebene der Erde, in sehr verschiedenen Winkeln geneigt. Kann es nun aber trotz dieser »Vorsichtsmaßregeln« des Schöpfers, bei der ungeheuren Anzahl der Kometen nicht einmal vorkommen, daß einer derselben gegen die Erde anstößt?

Hier die Antwort:

Die Erde verläßt, wie bekannt, niemals die Ebene der Ekliptik, und die von ihr um die Sonne beschriebene Bahn liegt in jedem Punkt in dieser Ebene.

Was muß also zusammentreffen, damit ein Komet gegen die Erde stoßen könne:


1. Dieser Komet muß ihr in der Ebene der Ekliptik begegnen.

2. Die Stelle, welche der Komet schneidet, muß dieselbe sein, an welcher sich die Erde eben befindet.

3. Die Entfernung zwischen den Mittelpunkten der beiden Gestirne muß kleiner sein als die Summe ihrer Halbmesser.


Können nun diese drei Bedingungen erfüllt werden und in Folge dessen einen Zusammenstoß herbeiführen?

Als man diese Frage einst Arago vorlegte, antwortete er:

»Die Wahrscheinlichkeitsrechnung liefert uns die Unterlagen, die Chancen eines solchen Zusammentreffens abzuschätzen, und zwar lehrt sie, daß man bei dem Auftreten eines bisher unbekannten Kometen 280 Millionen gegen 1 wetten kann, daß derselbe die Erde nicht treffe.«

Laplace leugnete die Möglichkeit eines solchen Zusammenstoßes nicht vollständig und beschreibt dessen Folgen in seiner »Darstellung des Weltsystemes«.

Sind die Aussichten nun hinreichend beruhigend? Darüber wird Jeder je nach seinem Temperamente urtheilen. Es verdient hierbei übrigens bemerkt zu werden, daß die Berechnung des berühmten Astronomen auf zwei Elemente basirt ist, welche unendlich verschieden sein können. Er verlangt nämlich: 1. daß der Komet in seinem Perihel der Sonne näher sei als die Erde, und 2. daß der Durchmesser dieses Kometen (-kernes) dem halben Radius der Erde mindestens gleichkomme.

[270] Bei diesem Exempel handelt es sich also nur um den Zusammenstoß zwischen einem Kometenkerne und der Erdkugel. Wollte man auch ein Zusammentreffen mit der Nebelhülle in Betracht ziehen, so müßte man jene Zahl um das Zehnfache vermindern, also entweder 280 Millionen gegen 10, oder 28 Millionen gegen 1 dafür einsetzen.

Bleiben wir zunächst bei Arago's Auseinandersetzung stehen, so sagt er weiter:

»Nehmen wir einmal an, daß ein die Erde treffender Komet das Leben des ganzen Menschengeschlechtes vernichtete; dann wäre die Todesgefahr für das einzelne Individuum bei der Erscheinung eines unbekannten Kometen ebenso groß, als befände sich in einer Urne eine einzige weiße Kugel unter 280 Millionen anderen Kugeln, und seine Verurtheilung zum Tode würde davon abhängig gemacht, daß diese einzige weiße Kugel bei der ersten Ziehung zum Vorschein käme!«

Aus Allem geht immerhin hervor, daß die Möglichkeit des Zusammenstoßes eines Kometen mit der Erde nicht unbedingt auszuschließen ist.

Ist ein solches Ereigniß schon jemals dagewesen?

Nein, behaupten die Astronomen, weil »seit die Erde sich um ihre unveränderte Achse dreht, sagt Arago, man mit aller Sicherheit darauf schließen kann, daß sie keinen Stoß von einem Kometen erlitten habe. In Folge eines solchen Stoßes wäre plötzlich eine andere Rotationsachse an Stelle der jetzigen Hauptachse getreten, und die Zonen der Erde hätten nach und nach entstandene Veränderungen aufweisen müssen, für welche aber keinerlei Beweise beizubringen sind. Die Constanz der irdischen Zonen spricht also dafür, daß unser Planet seit seiner Entstehung durch keinen Kometen getroffen worden ist.. Auch kann man nicht, wie es mehrere Gelehrte wollten, jene etwa hundert Meter unter die Meeresoberfläche betragende Senkung des Caspischen Beckens etwa von dem Anprall eines Kometen herleiten«.

Daß also kein solcher Zusammenstoß stattgefunden, scheint sicher zu sein aber hätte denn jemals einer stattfinden können?

Diese Frage erinnert unwillkürlich an den Gambart'schen Kometen.


Der Donati'sche Komet leuchtete mit hellen Strahlenbüscheln. (S. 269.)

Als derselbe im Jahre 1832 erschien, erfüllte er die Welt mit einem gewissen Entsetzen. In Folge einer sonderbaren kosmographischen Coïncidenz schneidet die Bahn dieses Kometen fast diejenige der Erde. Am 29. October, kurz vor Mitternacht, mußte derselbe sehr nahe an einem Punkte der Erdbahn [271] vorbeikommen. Würde die Erde zu derselben Zeit sich ebenda befinden? Wenn das der Fall war, so mußte ein Zusammenstoß stattfinden, denn die Länge des Kometen-Radius betrug nach Olber's das Fünffache des Erd-Radius und eine Strecke der Erdbahn war von seiner Nebelhülle bedeckt.

Glücklicher Weise gelangte die Erde nach diesem Punkte ihrer Bahn erst einen Monat später, am 30. November, und als sie daselbst mit der ihr [272] eigenen Geschwindigkeit von 46,400 Meilen im Tage vorüberkam, war der Komet von ihr schon gegen 13 Millionen Meilen entfernt.

Recht schön; doch wäre sie an diesem Punkte einen Monat früher, oder der Komet einen Monat später eingetroffen, so hätte ein Zusammenstoß stattgefunden. Wäre das möglich gewesen? Unzweifelhaft, denn wenn man auch gar nicht anzunehmen braucht, daß irgend ein fremder Einfluß die Rotation des Erdsphäroïdes hätte beschleunigen können, so wird doch Niemand bestreiten, daß der Lauf eines Kometen nicht verzögert werden könnte, da diese Gestirne auf ihrer Bahn bekanntermaßen oft ganz gewaltige Störungen erleiden.

Wenn ein solcher Stoß in der Vergangenheit also nicht stattgehabt hatte, so spricht doch nichts dagegen, daß es hätte der Fall sein können.

Uebrigens war der in Rede stehende Gambart'sche (Biela'sche) Komet im Jahre 1805 schon einmal zehnmal näher, d.h. in einer Entfernung von nur 1,200,000 Meilen, bei der Erde vorübergegangen. Bei der Unbekanntschaft mit diesem Verhältniß rief jene Constellation damals aber keinerlei Besorgniß hervor. Nicht ganz so verhielt es sich mit dem Kometen von 1843, denn man fürchtete, daß die Erde ganz und gar von dessen Schweif verhüllt und unsere Atmosphäre vielleicht zum Athmen untauglich würde.

Die vierte Frage: Was würde die Folge eines solchen Stoßes sein, je nachdem der betreffende Komet einen harten Kern besäße oder nicht?

Die Einen dieser weit im Weltraume umherschweifenden Gestirne haben nämlich in der That einen Kern, der den Anderen abgeht.

Fehlt den Kometen ein solcher Kern, so erweisen sie sich aus einem so zarten Nebel bestehend, daß man durch denselben selbst Fixsterne zehnter Größe wahrzunehmen vermochte. Hierdurch erklärt sich auch der nicht seltene Wechsel in der Form dieser Himmelskörper und die Schwierigkeit, sie allemal sicher wieder zu erkennen. Dieselbe überaus seine Materie bildet auch ihren Schweif. Letzterer erscheint fast nur als eine unter dem Einflusse der Sonnenwärme entstehende Ausdünstung aus dem Kerne, resp. der Nebelhülle.

Ein Beweis hierfür liegt darin, daß dieser Schweif, sei es in der Form einer seinen Feder oder in der eines mehrtheiligen Fächers, sich erst dann auszubilden beginnt, wenn die Kometen nur noch 18 Millionen Meilen, also weniger als die Erde, von der Sonne entfernt sind. Daneben [273] beobachtet man jedoch auch, daß gewisse, vielleicht dichtere, massenreichere und gegen hohe Temperaturgrade widerstandsfähigere Kometen kein Anhängsel dieser Art zeigen.

Im Falle ein Zusammenstoß der Erde mit einem Kometen ohne Kern einmal stattfände, könnte von einem Stoße im eigentlichen Sinne des Wortes nicht wohl die Rede sein. Der Astronom Faye behauptete, ein Spinnengewebe würde einer Büchsenkugel mehr Widerstand darbieten als ein Kometennebel. Wenn die Stoffe, welche Nebelhülle und Schweif bilden, nicht an sich gesundheitsgefährlich sind, so wäre bei einem solchen Vorkommniß gar nichts zu fürchten. Dagegen scheint zweierlei nicht ganz außer Acht zu lassen: entweder daß diese Materien glühend wären und vielleicht die ganze Erdoberfläche in Brand setzten, oder daß sie unserer Atmosphäre nicht athembare Gase zuführten. Letztere Eventualität ist allerdings nur schwer denkbar. Nach Babinet besitzt die Erdatmosphäre gegenüber jenen kometarischen Nebeln unzweifelhaft eine so überwiegende Dichtigkeit, so zart sie in den höchsten Schichten auch sein mag, daß sie jenen Nebel am Eindringen hindern würde. Nach Newton's Behauptung wäre die Zartheit dieser Kometendünste eine so große, daß, wenn ein Komet mit einem Radius von 219 Millionen Meilen bis zum Dichtigkeitsgrade der Erdatmosphäre condensirt würde, er in einem Würfel von fünfundzwanzig Millimeter Seite hinreichend Platz fände.

Von den einfachen Kometennebeln wäre also im Fall eines Zusammenstoßes so gut wie nichts zu fürchten. Wie möchte sich die Sachlage aber gestalten, wenn ein solcher Haarstern einen harten Kern besäße?

Zuerst die Frage: Giebt es überhaupt solche Kerne? Man wird hierauf antworten, daß das der Fall sein müsse, wenn der Komet einen hinreichenden Concentrationsgrad erlangt hat, um aus dem gasförmigen in den festen Zustand überzugehen. Tritt er dann zwischen einen Stern und einen Beobachter auf der Erde, so verdeckt er den ersteren.

Im Jahre 480 v. Chr., zur Zeit des Xerxes, soll die Sonne, nach Anaxagoras, durch einen Kometen verfinstert worden sein. Ebenso beobachtete Dion, einige Tage vor dem Tode des Augustus, eine ähnliche Finsterniß, welche vom Monde bestimmt nicht herrühren konnte, da sich dieser an dem betreffenden Tage in Opposition zur Sonne befand.

Die Komelographen erklären diese beiden Zeugnisse jedoch, und wohl nicht mit Unrecht, für werthlos. Dagegen setzen zwei neuere Beobachtungen [274] die Existenz solcher Kometenkerne außer Zweifel. In der That verdunkelten die Kometen von 1774 und 1828 Fixsterne achter Größe. Ebenso wurde seiner Zeit durch directe Beobachtungen nachgewiesen daß die Haarsterne von 1402, 1532 und 1744 harte Kerne besaßen. Für den Kometen von 1843 ist ein solcher noch zweifelloser nachgewiesen, da man das Gestirn am hellen Tage ohne Hilfe eines Instrumentes nahe bei der Sonne wahrnehmen konnte.

Es existiren nun nicht allein feste Kerne in gewissen Kometenköpfen, sondern man hat jene sogar gemessen. So kennt man Durchmesser solcher von 6 1/2 und 7 Meilen bei den Kometen von 1798 und 1805 (Biela), bis zu 1920 Meilen, bei dem von 1843. Der Kern des letzteren überträfe an Größe also selbst die Erdkugel, so daß im Fall eines Zusammenstoßes der Vortheil vielleicht auf der Seite des Kometen bliebe.

Bezüglich der schon gemessenen Nebelhüllen hat man festgestellt, daß deren Durchmesser zwischen 4320 und 270,000 Meilen wechselt.

Wir schließen das Vorhergehende (mit Arago) also in folgende Sätze zusammen:

Es existiren oder können doch existiren:


1. Kometen ohne Kern.

2. Kometen mit einem jedenfalls durchscheinenden Kerne.

3. Kometen mit hellerem Glanze, als dem der Planeten, welche wahrscheinlich einen festen und undurchsichtigen Kern besitzen.


Um nun zu untersuchen, welcher Art die Folgen eines Zusammenstoßes der Erde mit einem jener Gestirne sein würden, so ist im Voraus zu bemerken, daß, selbst im Falle eines nicht ganz directen Stoßes, gewiß sehr eingreifende Erscheinungen eintreten müßten.

Schon der sehr nahe Vorübergang eines Kometen von hinreichender Masse würde nicht ohne Gefahr sein. Bei einer im Verhältniß zu der der Erde verschwindenden Masse wäre nichts zu fürchten. So hat z.B. der Komet von 1770, der in einer Entfernung von nur 360,000 Meilen an der Erde vorüberzog, die Dauer des Erdenjahres auch nicht um eine Secunde verändert, während der Einfluß der Erde die Revolution des Kometen um zwei Tage verzögerte.

Wenn ein Komet aber bei annähernder Gleichheit der Massen in der Entfernung von 33,000 Meilen an der Erde vorbeikäme, so würde er die [275] Dauer des Jahres um sechzehn Stunden fünf Minuten verlängern und die Schieflage der Ekliptik um zwei Grad verändern. Vielleicht singe er uns dabei sogar den Mond weg.

Welches würden nun aber die Folgen eines directen Stoßes sein? Versuchen wir, sie im Folgenden darzulegen.

Entweder würde der Komet, im Fall er den Erdball nur streifte, auf demselben einen Theil von sich zurücklassen, oder er risse – wie das mit der Gallia der Fall war – verschiedene Stücke der Erde los, oder endlich er fügte sich der Erdkugel gänzlich ein, um auf derselben etwa einen neuen Continent darzustellen.

In jedem dieser Fälle könnte die Tangentialgeschwindigkeit der Erde plötzlich aufgehoben werden. Alle Wesen, Bäume, Häuser u.s.w. würden in der Schnelligkeit von 4.8 Meilen in der Secunde, welche sie vor dem Stoße hatten, weiter geschleudert werden. Die Meere müßten aus ihren natürlichen Bassins hervorbrechen, um Alles zu vernichten. Die noch feurig-flüssigen Bestandtheile des Erdinnern würden durch den Gegenstoß nach der verhältnißmäßig dünnen, festen Kruste unseres Planeten drängen und nach außen durchzubrechen suchen. In Folge der Veränderung der bisherigen Erdachse träte ein neuer Aequator an Stelle des früheren. Endlich könnte die Bahngeschwindigkeit der Erde wohl auch ganz gehemmt werden, wodurch unser Planet, wenn die Anziehungskraft der Sonne durch keine Tangentialkraft mehr aufgehoben würde, in gerader Linie nach dem Centralgestirn zu stürzen und nach einer Fallzeit von 64 1/2 Tagen von letzterem absorbirt werden würde.

Oder es würde sich, unter Berücksichtigung der neueren Wärmetheorie, nach der die Wärme nichts anderes ist als eine modificirte Bewegung, die plötzlich unterbrochene Geschwindigkeit unseres Sphäroïden mechanisch in Wärme umsetzen. Unter einer bis zu mehreren Millionen Graden gesteigerten Temperatur würde sich dann die Erde schon binnen wenigen Secunden verflüchtigen.

Indeß, um diese kurze Aufzählung solcher nicht wünschenswerthen Aussichten abzuschließen, der Zusammenstoß zwischen der Erde und einem Kometen hat nur die Wahrscheinlichkeit von 281,000,000 gegen 1 für sich.

»Das ist ganz richtig, äußerte später Palmyrin Rosette, doch wir, wir haben die eine weiße Kugel gezogen.«

[276]
4. Capitel
Viertes Capitel.
In welchem man Palmyrin Rosette so entzückt über das ihm zugefallene Schicksal sehen wird, daß das allerlei zu denken giebt.

»Mein Komet!« das waren des Professors letzte Worte gewesen. Dann runzelte er die Stirn und fixirte seine Zuhörer, als könne Einer derselben den Gedanken haben, ihm seine Eigenthumsrechte auf die Gallia streitig zu machen. Vielleicht fragte er sich auch, mit welchem Rechte sich die ihn umstehenden Eindringlinge auf seinem Gebiete niedergelassen hatten.

Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop verharrten in tiefstem Schweigen. Jetzt kannten sie die ganze Wahrheit, der sie schon recht nahe gekommen waren. Man erinnert sich der nach verschiedenen Erörterungen allmälig angenommenen Hypothesen: zunächst bezüglich der Veränderung der Rotationsachse der Erde und der Vertauschung der beiden Cardinalpunkte des Himmels; dann der Ansicht, daß ein Fragment des Erdsphäroïdes von diesem abgesprengt und in den Weltraum hinausgeschleudert worden sei; endlich daß ein unbekannter Komet die Erde gestreift, einige Theile derselben losgerissen habe und sie nun vielleicht bis zur Fixsternwelt hinaus entführe.

Die Vergangenheit kannte man. Die Gegenwart hatte man vor Augen. Was würde nun die Zukunft bringen? Hatte dieses Original eines Gelehrten es vorausgesehen? Hector Servadac und seine Gefährten zauderten, diese Frage an ihn zu richten.

Palmyrin Rosette legte »die volle Amtsmiene« an und schien nur darauf zu warten, daß ihm die in dem allgemeinen Saale versammelten Fremden unter aller Form vorgestellt würden.

Hector Servadac bequemte sich zu dieser Ceremonie, um den mißtrauischen und mürrischen Gelehrten nicht zu reizen.

»Herr Graf Timascheff! sagte er, seinen Begleiter vorstellend.

[277] – Seien Sie mir willkommen, Herr Graf, antwortete Palmyrin Rosette mit jener wohlwollenden Herablassung des Herrn, der sich ganz zu Hause fühlt.

– Herr Professor, ließ sich der Graf vernehmen, es lag im Grunde keineswegs in meiner Absicht, daß ich auf Ihren Kometen gekommen bin, doch schulde ich Ihnen deshalb nicht geringeren Dank für Ihre gastfreundliche Aufnahme.«

Hector Servadac fühlte die Ironie dieser Worte und sagte lächelnd:

»Der Lieutenant Prokop, Befehlshaber der Goëlette Dobryna, auf welcher wir eine Rundfahrt um die Gallia ausgeführt haben.

– Eine Umschiffung? ... rief der Professor lebhaft.

– Gewiß, eine volle Weltumseglung!« bestätigte Kapitän Servadac.

Dann fuhr er weiter fort:

»Ben-Zouf, meine Ordon ...

– Adjutant des General-Gouverneurs der Gallia!« fiel Ben-Zouf schnell ein, der diese beiden Aemter weder sich, noch seinem Kapitän streitig machen lassen wollte.

Einer nach dem Anderen wurden sodann die russischen Matrosen, die Spanier, der junge Pablo und die kleine Nina vorgestellt, welch' Letztere der Professor durch seine Riesenbrille anstarrte wie ein Knecht Ruprecht, der die Kinder nicht leiden mag.

Isaak Hakhabut trat selbst vor und sagte:

»Herr Astronom, eine Frage, nur eine einzige, aber sie ist mir von der größten Wichtigkeit ... Wann können wir hoffen, zurückzukehren? ...

– Ah, antwortete der Professor, wer spricht da schon von Rückkehr, da wir kaum erst abgefahren sind?«

Nach geschehener Vorstellung ersuchte Hector Servadac Palmyrin Rosette, seine Geschichte zu erzählen.

Dieselbe lautete in kurzen Worten:

Um die Bogenmessung des Meridians von Paris prüfen und bestätigen zu lassen, ernannte die französische Regierung eine wissenschaftliche Commission, zu welcher Palmyrin Rosette, seiner bekannten Unverträglichkeit wegen, nicht mit hinzugezogen wurde.

Wegen seiner Ausschließung erbittert, beschloß der Professor auf eigene Hand an die Arbeit zu gehen. In der Voraussetzung, daß die ersten [278] geodätischen Aufnahmen Ungenauigkeiten enthielten, nahm er sich vor, den äußersten Theil des Netzes, der die Insel Formentera mit der spanischen Küste durch ein Dreieck von 24 Meilen längster Seite verband, nachzumessen. Derselben Arbeit hatten sich vor ihm Arago und Biot mit größter Sorgsamkeit unterzogen.

Palmyrin Rosette verließ also Paris. Er begab sich nach den Balearen, errichtete sein Observatorium auf dem höchsten Gipfel jener Insel und traf Anstalt, mit seinem Diener Joseph daselbst als Eremit zu wohnen, während einer seiner bewährten Gehilfen, den er zu diesem Zwecke mitnahm, auf einem erhöhten Küstenpunkte Spaniens eine Reverbère so anbrachte, daß deren reflectirtes Licht auf Formentera mittels Fernrohrs zu beobachten war. Einige Bücher, die nöthigen Instrumente und Lebensmittel auf zwei Monate bildeten das ganze Material, eines großen Himmelsfernrohres nicht zu vergessen, von dem sich Palmyrin Rosette niemals trennte, und das schon mehr einen Theil seines eigenen Ichs auszumachen schien. Es kam das von der Vorliebe des früheren Lehrers der Charlemagne her, die Tiefen des Himmels in der Hoffnung zu durchstöbern, daß ihm noch einmal eine Entdeckung gelingen werde, welche seinem Namen die Unsterblichkeit sicherte. Das war so seine fixe Idee.

Palmyrin Rosette's Arbeit erforderte vor Allem eine unermüdliche Geduld. Nacht für Nacht mußte er das von seinem Gehilfen auf der spanischen Küste unterhaltene Feuer im Auge behalten, um sein Dreieck richtig zu bestimmen, auch hatte er keineswegs vergessen, daß Arago und Biot einundsechzig Tage gebraucht hatten, dieses Resultat zu erreichen. Unglücklicher Weise lagerte damals, wie früher erwähnt, ein außerordentlich dichter Nebel nicht allein über der Küste Spaniens, sondern überhaupt fast über der ganzen Erdkugel.

Gerade in der Umgebung der Balearen entstanden zu wiederholten Malen Lichtungen von kurzem Bestande in diesem Nebelmeer. Es galt also, mit größter Gewissenhaftigkeit auf dem Beobachtungspunkte auszuharren, woneben Palmyrin Rosette allerdings sich nicht immer enthalten konnte, einige forschende Blicke nach dem Firmamente zu richten, denn er beschäftigte sich gleichzeitig mit der Revision derjenigen Abtheilung der Himmelskarten, welche das Sternbild der Zwillinge enthielt.

Mit unbewaffnetem Auge betrachtet, zeigt dieses Sternbild höchstens sechs Sterne; ein Teleskop von siebenundzwanzig Centimeter Ocular-Durchmesser[279] steigert die Zahl aber auf mehr als sechstausend. Palmyrin Rosette besaß leider einen Reflector von dieser Größe nicht und half sich also, so gut es eben anging, mit seinem astronomischen Fernrohre.


»Herr Graf Timascheff!« sagte Hector Servadac. (S. 277.)

Als er nun eines Tages beschäftigt war, die Tiefen des Himmels in der Constellation der Zwillinge zu controliren, glaubte er einen neuen, glänzenden Punkt zu erkennen, den keine Himmelskarte aufwies. Ohne Zweifel [280] war das ein in die Kataloge noch nicht aufgenommener Stern.


Er glaubte einen glänzenden Punkt zu erkennen, den keine Himmelskarte aufwies. (S. 230.)

Durch wiederholte Beobachtung im Laufe mehrerer Nächte überzeugte sich der Professor, daß jenes Gestirn seinen Ort bezüglich der anderen Fixsterne ungewöhnlich schnell veränderte. Hatte er hier einen neuen kleinen Planeten vor sich, den der Gott der Astronomen ihm zusandte? Sollte ihm endlich die längst geahnte wissenschaftlich wichtige Entdeckung gelingen?

[281] Palmyrin Rosette verdoppelte seine Aufmerksamkeit; bald lehrte ihn die zunehmende Geschwindigkeit des Gestirns, daß er hier einen Kometen vor sich habe. Binnen Kurzem ward dessen Nebelhülle sichtbar, und es entwickelte sich der Schweif, als den Kometen nur noch achtzehn Millionen Meilen von der Sonne trennten.

Von diesem Augenblick verblaßte unseres Gelehrten Interesse an seiner Triangulation vollständig. Ohne Zweifel unterhielt der Gehilfe Palmyrin Rosette's an der Festlandsküste mit unverminderter Gewissenhaftigkeit seine Signalfeuer, aber ebenso sicher wandte Palmyrin Rosette kein Auge mehr nach jener Richtung hin. Objective und Oculare besaß er nur noch für den neuen Haarstern, den er studiren und benennen wollte. Er vegetirte nur noch in jenem Eckchen des Himmels, in dem die Zwillinge leuchten.

Beabsichtigt man die Elemente eines Kometen zu berechnen, so beginnt man stets damit, eine parabolische Bahn desselben vorauszusetzen. Dieser Weg bietet die günstigsten Erfolge. Die Kometen erscheinen nämlich im Allgemeinen erst in der Nähe ihres Perihels, d.h. nahe ihrer kürzesten Entfernung von der Sonne, welche in dem einen Brennpunkte ihrer Bahn steht. In diesem Theile einer solchen Curve ist nun der Unterschied zwischen Ellipse und Parabel, wenn diese einen gemeinschaftlichen Brennpunkt haben, fast gleich Null, denn die Parabel ist nichts als eine Ellipse mit unendlich langer großer Achse.

Palmyrin Rosette basirte seine Berechnungen also auf die Hypothese einer parabolischen Curve und ging hiermit nicht fehl.

Um einen Kreis mathematisch zu bestimmen, bedarf es der Angabe dreier Punkte seiner Peripherie; ganz ebenso muß man, zur Bestimmung der Elemente eines Kometen, denselben in drei verschiedenen Positionen beobachten. Erst dann vermag man die Linie festzustellen, der er im Weltraume folgen wird, was man mit dem Ausdrucke, »seine Ephemeriden« bestimmen, bezeichnet.

Palmyrin Rosette begnügte sich nicht mit drei Positionen. Unter Benutzung jeder Gelegenheit, wenn der Nebel in seinem Zenith einmal zerriß, beobachtete er die gerade Aufsteigung und die Declination (Abweichung) seines Objectes wohl zehn-, zwanzig- und dreißigmal und erhielt mit größter Genauigkeit die fünf Elemente des neuen Kometen, der sich mit besorgnißerregender Schnelligkeit fortbewegte.

[282] Als Beobachtungsresultate erhielt er nämlich.


1. Die Neigung der betreffenden Kometenbahn gegen die Ekliptik, d.h. gegen die Ebene, in welcher die Kreisbahn der Erde um die Sonne liegt. Gewöhnlich ist der Winkel zwischen diesen beiden Ebenen ein ziemlich großer, wodurch sich, wie bekannt, die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes mit der Erde wesentlich vermindert. Im vorliegenden Falle fielen diese Ebenen freilich zusammen.

2. Die Bestimmung des aufsteigenden Knotens des Kometen, d.h. seine Länge in der Ekliptik, oder mit anderen Worten, der Punkt, an dem der Haarstern die Erdbahn schneiden mußte.


Aus diesen beiden Elementen ließ sich die Lage der Bahn des Kometen im Weltraume ableiten.


3. Die Richtung der großen Achse der Bahn. Sie wurde erhalten durch Berechnung der Länge des Perihels des Kometen, und gelangte Palmyrin Rosette hierdurch zur näheren Bestimmung der parabolischen Curve innerhalb ihrer schon bekannten Ebene.

4. Den Perihel-Abstand des Kometen, d.h. die Entfernung zwischen ihm und der Sonne, wenn er dieser am nächsten stehen würde – eine Rechnung, welche zuletzt genau die Form der Parabel ergab, deren Brennpunkt nothwendiger Weise die Sonne einnahm.

5. Endlich die Richtung der Bewegung des Kometen. Diese Bewegung: erwies sich gegenüber den Planeten als eine retrograde, d.h. er bewegte sich von Osten nach Westen 1 zu.


Nach Kenntnißnahme dieser fünf Elemente berechnete Palmyrin Rosette das Datum, an welchem der Komet durch sein Perihel gehen würde. Als er dann zu seiner größten Freude constatiren konnte, daß er einen bisher unbekannten Kometen vor sich habe, taufte er ihn auf den Namen »Gallia«, nachdem er vorher ein wenig zwischen den Benennungen »Palmyra« und »Rosette« geschwankt hatte, und ging nun an's Werk, über den Neuling Bericht zu erstatten.

Man kommt nun auf die Frage, ob der Professor auch die Möglichkeit eines Zusammenstoßes zwischen Erde und Gallia vorausgesehen habe.

[283] Sicherlich; und nicht nur die Möglichkeit, sondern die Gewißheit eines solchen.

Wenn man ihn nur »entzückt« genannt hätte über diese Aussicht, so bliebe dieser Ausdruck noch weit hinter der Wahrheit zurück. Der Gelehrte verfiel in ein wirkliches astronomisches Delirium darüber, daß die Erde in der Nacht vom 31. December zum 1. Januar einen Stoß erleiden und der Anprall um so heftiger sein werde, weil die beiden Himmelskörper in entgegengesetzter Richtung auf einander zueilten.

Jeder Andere würde Formentera voller Entsetzen verlassen haben. Er blieb ruhig auf seinem Posten. Er verließ seine Insel nicht nur nicht, sondern enthielt sich auch jeder Veröffentlichung seiner Entdeckung. Aus den Tagesblättern wußte er, daß auf beiden Continenten jede Beobachtung durch dichte Nebelmassen unmöglich war, sowie daß keine andere Sternwarte die Annäherung dieses Kometen erwähnt hatte – Grund genug für ihn, zu glauben, daß er bis jetzt allein jenen Haarstern im Weltraume aufgefunden habe.

So verhielt es sich in der That, und dieser Umstand ersparte der übrigen Erde den entsetzlichen Schrecken, der sich ihrer Bewohner bei der Kenntniß jener drohenden Gefahr bemächtigt haben würde.

Palmyrin Rosette war und blieb also der Einzige, der es wußte, daß bald ein Zusammenstoß stattfinden müsse zwischen der Erde und jenem Kometen, den ihn der heitere Himmel der Balearen sehen ließ, während er sich im Uebrigen den Blicken der Astronomen verbarg.

Der Professor harrte also auf Formentera aus, und das mit um so größerer Hartnäckigkeit, als der Haarstern die Erde seinen Berechnungen nach im Süden von Algier treffen mußte. Diesem Ereigniß wollte er beiwohnen, denn bei dem harten Kerne des Kometen »mußte es dabei sehr merkwürdig zugehen«.

Der Stoß erfolgte in der uns schon bekannten Art und Weise. Für Palmyrin Rosette hatte er zunächst die Folge, ihn urplötzlich von seinem Diener Joseph zu trennen. Als er aus langer Betäubung wieder erwachte, sah er sich allein auf einem Eiland, dem einzigen Ueberbleibsel vom Archipel der Balearen.

So lautete die Geschichte des Professors, die er mit vielen Ausrufungen spickte und mit so drohendem Runzeln der Augenbrauen begleitete, [284] wie es der Kreis seiner wohlwollenden Zuhörer schwerlich verdiente Er schloß, wie folgt:

»Hochwichtige Veränderungen waren eingetreten, wie die Ortsveränderung der Cardinalpunkte des Himmels und die Verminderung der Schwerkraft. Ich, meine Herren, lebte dabei nur nicht wie Sie in der Täuschung, mich noch auf dem Erdsphäroïd zu befinden. Nein! die Erde gravitirte durch den Weltraum weiter in Begleitung des ihr immer treu gebliebenen Mondes und folgte ihrer früheren Bahn, welche durch den Stoß keine Veränderung erlitt. Der Komet hatte sie ja so zu sagen nur gestreift und ihr die wenigen, verhältnißmäßig unbedeutenden Theile ihrer Oberfläche entrissen, welche Sie nach und nach wieder gefunden haben. Es ist demnach Alles sehr glücklich abgegangen und wir haben keinerlei Ursache zu klagen. Wir konnten ja entweder zermalmt werden durch den Anprall des Kometen, oder die Erde konnte letzteren fest an sich halten; in keinem Falle genössen wir den beneidenswerthen Vorzug, jetzt durch die Sonnenwelt zu fliegen.«

Palmyrin Rosette sprach das Alles mit einer solchen Befriedigung aus, daß an einen Widerspruch gar nicht zu denken war. Nur Ben-Zouf wagte unkluger Weise seine Meinung dahin zu äußern, »daß, wenn der Komet statt auf jenen Theil Afrikas gegen den Montmartre gestoßen wäre, dieser Berg gewiß hinreichenden Widerstand geleistet hätte und dann ...«

»Der Montmartre! rief Palmyrin Rosette, der Zwerg von Montmartre-Hügel wäre in Staub verwandelt worden wie ein gewöhnlicher Maulwurfshaufen, dem er ja gleicht!

– Einem Maulwurfshaufen! rief nun seinerseits Ben-Zouf auf's Tiefste verletzt. Mein heimatlicher Hügel hätte Ihr Kometen-Bröckchen im Fluge gehascht und sich dasselbe wie einen Käppi aufgesetzt!«

Um dieser nur kurzen, aber unzweckmäßigen Discussion ein Ende zu machen, befahl Hector Servadac Ben-Zouf zu schweigen, und theilte dem Professor des Näheren mit, welch' eigenthümliche Ideen seine Ordonnanz über die Festigkeit des Montmartre-Hügels habe.

Der Zwischenfall erschien also »auf Ordre« erledigt, doch konnte der Soldat niemals Palmyrin Rosette verzeihen, daß dieser so wegwerfend über seinen heimatlichen Berg gesprochen hatte.

Jetzt hätte man gern erfahren, ob Palmyrin Rosette auch nach dem Zusammenstoße im Stande gewesen sei, seine astronomischen Beobachtungen [285] fortzusetzen, und welcher Art die Resultate derselben bezüglich der Zukunft des Kometen sein möchten.

Mit aller, dem griesgrämigen Temperamente des Professors gegenüber nothwendigen Zurückhaltung stellte Lieutenant Prokop die zweifache Frage nach dem Wege, dem die Gallia jetzt im Weltraume folgte, und nach der Dauer ihrer Umlaufszeit um die Sonne.

»Ja, mein Herr, ließ sich Palmyrin Rosette vernehmen, ich hatte die Bahn meines Kometen zwar vor der Collision bestimmt, mußte nach derselben die Berechnungen jedoch auf's Neue vornehmen.

– Und warum das, Herr Professor? fragte Lieutenant Prokop etwas erstaunt über diese Erklärung.

– Weil auf der einen Seite die Erde durch jenen Zusammenstoß nicht aus ihrer Bahn gelenkt wurde, das auf der anderen aber mit der Gallia-Bahn der Fall war.

– Diese Bahn ist durch den Stoß eine andere geworden?

– Das wage ich bestimmt zu behaupten, erwiderte Palmyrin Rosette, vorausgesetzt daß meinen Beobachtungen nach dem Zusammentreffen nicht die nöthige Genauigkeit mangelt.

– Sie haben für diese Bahn also neue Elemente erhalten? fragte Lieutenant Prokop lebhaft.

– Ja wohl, bestätigte Palmyrin Rosette ohne Zögern.

– Nun, so wissen Sie auch ...

– Was ich weiß, mein Herr, beschränkt sich auf Folgendes: Die Gallia traf auf die Erde in ihrem aufsteigenden Knoten in der Nacht vom 31. December zum 1. Januar um zwei Uhr siebenundvierzig Minuten fünfunddreißig sechs Zehntel Secunden des Morgens; am 10. Januar durchschnitt sie die Bahn der Venus, erreichte ihr Perihel am 15. Januar, hierauf zum zweiten Male die Bahn der Venus, durchschnitt die Erdbahn im absteigenden Knoten am 1. Februar, die Bahn des Mars am 13. und gelangte am 10. März in die Zone der teleskopischen Planeten, legte sich die Nerina als Satelliten zu ...

– Lauter Umstände, welche auch uns bekannt sind, lieber Professor, unterbrach ihn Hector Servadac, da wir das Glück hatten, Ihre Notizen darüber aufzufangen. Leider enthielten diese niemals Ihre Unterschrift oder die Angabe des Ortes, von dem sie herrührten.

[286] – Wie? Konnte Jemand darüber unklar sein, daß ich deren Verfasser war? rief der Professor voller Selbstgefühl; ich, der sie hundertweise in's Meer warf, ich, der Professor Palmyrin Rosette?

– O nein, das sicherlich nicht!« erwiderte ernsthaft Graf Timascheff.

Ueber die Zukunft der Gallia hatte man freilich noch immer nichts erfahren. Palmyrin Rosette schien mit einer diesbezüglichen Auskunft absichtlich zurückzuhalten. Lieutenant Prokop wollte seine Anfragen schon in bestimmterer Form wiederholen, Hector Servadac kam ihm jedoch zuvor, da er es für wichtiger hielt, seinen originellen alten Lehrer nicht zu drängen.

»Ah, lieber Professor, begann er, würden Sie uns wohl gefälligst erklären, wie es zuging, daß wir bei einem so fürchterlichen Stoße nicht weit übler weggekommen sind?

– O, das ist sehr erklärlich.

– Und meinen Sie, daß die Erde, abgesehen von dem entführten, nur wenige Quadratmeilen großen Terrain, nicht weiter gelitten und sich unter Anderem ihre Rotationsachse nicht plötzlich geändert hat?

– Das glaube ich nicht, Kapitän Servadac, erwiderte Palmyrin Rosette; hören Sie meine Gründe dafür. Die Erde bewegte sich damals mit einer Geschwindigkeit von 17,280 Meilen in der Stunde; die Gallia mit einer solchen von 34,200 in der gleichen Zeit. Es liegt hier also der Fall vor, als ob ein Eisenbahnzug mit der Schnelligkeit von nahezu 51,600 Meilen in der Stunde gegen ein Hinderniß liefe. Der Komet wirkte demnach, in Folge der außerordentlichen Härte seines Kernes, wie eine aus großer Nähe gegen eine Fensterscheibe abgeschossene Gewehrkugel, sie durchschlug die getroffene seichte Erdrinde, ohne etwas Weiteres zu zertrümmern.

– Wahrhaftig, meinte Hector Servadac, so könnte die Sache wohl zugegangen sein ...


Als er aus langer Betäubung wieder erwachte, sah er sich allein. (S. 284.)

– So mußte sie zugehen, fuhr der Professor sehr zuversichtlich fort, und das um so mehr, als die Erde nur in schiefer Richtung getroffen ward. Wäre die Gallia in normaler Richtung auf die Erdkugel gestürzt, so wäre sie auch unter den entsetzlichsten Verwüstungen tief in dieselbe eingedrungen und hätte sogar den Montmartre-Hügel vernichtet, wenn er in ihrem Wege lag.

– Mein Herr! ... rief Ben-Zouf, der sich jetzt direct und ohne seine Schuld angegriffen fühlte.

– Still, Ben-Zouf!« sagte Kapitän Servadac.

[287] Eben jetzt näherte sich Isaak Hakhabut, der sich von dem thatsächlichen Zustande der Dinge nachgerade überzeugt haben mochte, Palmyrin Rosette, und fragte diesen in einem Tone der äußersten Unruhe:

»Herr Professor, werden wir überhaupt nach der Erde zurückkommen, und wann wird das geschehen?

– Sie haben wohl große Eile? erwiderte Palmyrin Rosette.

[288] – Erlauben Sie, mein Herr, die von diesem Juden gestellten Fragen in etwas wissenschaftlicherer Form an Sie zu richten, mischte sich Lieutenant Prokop ein.

– Thun Sie es.

– Sie erwähnten, daß die frühere Bahn der Gallia eine Störung erlitten habe?

– Unzweifelhaft.

– Bildet nun die neue Bahn, die jetzige Curve des Kometen, eine Hyperbel, so daß dieser in ungemessene Fernen des Weltraumes hinaus entführt wird und jede Hoffnung auf eine dereinstige Rückkehr schwindet?

– Nein, gewiß nicht! antwortete Palmyrin Rosette.

– Jene Bahn wäre demnach eine elliptische geworden?

– Wie Sie sagen.

– Und ihre Ebene läge auch ferner in der der Erdbahn?

– Vollständig.

– Die Gallia repräsentirte demnach einen periodischen Kometen?

– Gewiß, und zwar einen solchen von kurzer Umlaufszeit, da ihre Revolution um die Sonne, unter Berücksichtigung der ihr von Jupiter, Saturn und Mars drohenden Störungen, genau zwei Jahre dauert.

– Dann wären aber, rief Lieutenant Prokop, alle Aussichten vorhanden, daß sie der Erde, genau zwei Jahre nach dem ersten Zusammenstoß, an derselben Stelle wieder begegnete?

– In der That, mein Herr, das steht zu befürchten.

– Zu befürchten? rief Kapitän Servadac erstaunt.

– Ja wohl, meine Herren, antwortete Palmyrin Rosette mit dem Fuße stampfend. Wir sind eben da, wo wir sind, und wenn es von mir abhinge, so dürfte die Gallia niemals wieder zur Erde zurückkehren!«

[289]
Fußnoten

1 Unter 252 Kometen zählt man 123 mit rechtläufiger (directer) und 129 mit rückläufiger (retrograder) Bewegung im Vergleich zu der aller Planeten.

5. Capitel
Fünftes Capitel.
In dem der Schüler Servadac von Professor Palmyrin Rosette recht übel behandelt wird.

Jetzt war also für unsere Grübler, diese Hypothesenschmiede, Alles klar, Alles enthüllt. Sie wurden von einem Kometen durch die grenzenlose Sonnenwelt entführt. Nach jenem Stoße war es die Erde gewesen, welche Hector Servadac durch den dichten Wolkenschleier im Weltraume verschwinden sah. Die Erdkugel hatte damals ebenso jene einzige und ganz außerordentliche Fluth des Gallia-Meeres verursacht.

Indessen, dieser Komet sollte ja doch – wenigstens nach der Behauptung des Professors – zur Erde zurückkehren. Ob seine Berechnungen wohl verläßlich genug sein mochten, um diese Rückkehr zweifellos sicher zu stellen? Man wird zugeben müssen, daß die Bewohner der Gallia bezüglich dieses Punktes nicht völlig beruhigt sein konnten.

Die nächstfolgenden Tage benutzte man zur häuslichen Einrichtung des neuen Ankömmlings. Dieser gehörte glücklicher Weise zu den Leuten, welche nicht viele besondere Ansprüche an das Leben stellen und sich leicht jeder Lage anbequemen. Da er Tag und Nacht nur in den Himmeln, unter den Sternen lebte und den im Weltraume umherschweifenden Himmelskörpern nachspürte, so machte er sich um Wohnung und Nahrung – höchstens den Kaffee ausgenommen – blutwenig Sorge. Es schien fast, als entginge die sinnreiche innere Ausstattung des Nina-Baues, welcher sich die Kolonisten rühmten, gänzlich seiner Beachtung.

Kapitän Servadac gedachte seinem alten Lehrer das beste der vorhandenen Zimmer anzubieten. Dieser aber schlug das, offenbar wenig geneigt, das allgemeine Leben zu theilen, rundweg ab. Was er bedurfte, war ein möglichst frei und abgetrennt belegenes Observatorium, wo er sich ungestört seinen astronomischen Beobachtungen widmen konnte.

Hector Servadac und Lieutenant Prokop bemühten sich also, ein ihm zusagendes Unterkommen auszumitteln, was ihnen auch ganz nach Wunsch [290] gelang. In der Seitenwand der vulkanischen Bergmasse entdeckten sie etwa hundert Fuß über der Hauptaushöhlung, ein beschränktes Plätzchen, welches jedoch hinreichen mußte, einen Beobachter und dessen Instrumente aufzunehmen. Es bot den nöthigen Platz für ein Bett, einige Möbel, für Tisch, Lehnstuhl, Schrank, natürlich auch für das unumgängliche Fernrohr, welches eine seine Handhabung möglichst erleichternde Aufstellung erhielt. Ein schwacher Lavastrom, den man hierher ableitete, genügte zur Erwärmung des kleinen Raumes.

Hier also richtete der Professor sich häuslich ein, verzehrte die Mahlzeiten, die man ihm zu bestimmter Stunde brachte, hier schlief er, übrigens möglichst wenig, rechnete während des Tages, beobachtete während der Nacht und betheiligte sich also fast gar nicht an dem Leben der Uebrigen. Alles in Allem erschien es auch am gerathensten, ihn in Anbetracht seiner eigenthümlichen Gewohnheiten sich selbst zu überlassen.

Die Kälte wurde allmälig sehr lebhaft. Das Thermometer zeigte im Mittel stets dreißig Centigrade unter Null. Das Quecksilber schwankte in seinem Rohre hier niemals auf und ab, wie in den unbeständigeren Klimaten der Erde, sondern es fiel nur langsam, aber stetig. Dieses Sinken mußte andauern, bis die niedrigsten Temperaturgrade des Weltraumes erreicht waren, da auf eine Zunahme ja nicht eher zu rechnen war, als bis die Gallia sich in ihrer elliptischen Bahn der Sonne wieder näherte.

Wenn die Quecksilbersäule im Thermometer aber niemals merkbar oscillirte, so rührte das von dem Fehlen jedes Windes her, der die Atmosphäre der Gallia bewegt hätte. Die Kolonisten befanden sich also unter ganz ausnahmsweisen klimatischen Verhältnissen. Kein Luftmolekül rührte sich von seiner Stelle. Alles, was gasförmig oder tropfbar flüssig war auf der Oberfläche des Kometen, schien vor Kälte er starrt. Niemals kam es zu einem Gewitter, einem Platzregen, oder zeigten sich Dünste, weder am Zenith noch am Horizonte. Ebenso fehlten also jene feuchten Nebel und der trockene Höhenrauch, welche die Polarzonen des Erdsphäroïdes nicht selten einhüllen. Der Himmel bewahrte sich eine unveränderte und unveränderliche Klarheit, wobei der Tag von den Strahlen der Sonne, die Nacht von denen der Sterne erglänzte, ohne daß die eine mehr Wärme zu spenden schien, als die anderen.

Hierzu ist wohl zu bemerken, daß diese excessive Temperatur in der freien Luft doch recht wohl zu ertragen war. Denn nur die heftig bewegte [291] kalte Luft, der scharfe, schneidende Wind, die ungesunden Nebel, die fürchterlichen Schneewirbel – das ist es, dem sich die in den arktischen Regionen Ueberwinternden deshalb nicht ungestraft aussetzen dürfen, weil dadurch die Lungen so zu sagen ausgetrocknet und zur Erfüllung ihrer physiologischen Functionen untauglich werden. Hierin ist die Ursache zu suchen, die das Leben der Polarfahrer so häufig und ernstlich bedroht. Während der Perioden der Ruhe aber wenn die Atmosphäre nicht erregt ist, können sie, sei es auf der Insel Melville, wie Parrey, oder jenseit des 81. Breitengrades, wie Kane, ja, noch über den von dem unerschrockenen Hall und den Naturforschern der »Polaris« erreichten Grenzen, der Kälte, und wenn sie noch so intensiv wäre, recht wohl trotzen. Sobald sie nur geeignete Kleidung und hinreichende Nahrung haben, setzen sie sich bei Windstille der stärksten Temperatur-Erniedrigung aus, und haben das selbst gewagt, wenn die Alkoholthermometer sechzig Grad unter Null zeigten.

Die Kolonisten von Warm-Land befanden sich also unter den günstigsten Verhältnissen gegenüber der Kälte des leeren Weltraumes.

An Pelzwerk aus den Vorräthen der Goëlette und an selbst zugerichteten Fellen litten sie ja keinen Mangel. Ihre Nahrung war stoffreich und gesund. Die Ruhe der Atmosphäre gestattete ihnen gleichzeitig, trotz der sehr starken Erniedrigung der Temperatur, nach Belieben ein- und auszugehen.

Der General-Gouverneur der Gallia achtete übrigens mit besonderer Sorgfalt darauf, daß Alle stets entsprechend warm gekleidet und ordentlich ernährt blieben. Gesundheitsfördernde Uebungen waren nicht nur vorgeschrieben, sondern wurden auch täglich gewissenhaft ausgeführt. Nichts geschah außerhalb des Programmes für das gemeinschaftliche Leben. Weder der junge Pablo noch die kleine Nina bildeten eine Ausnahme von dieser Regel. Halb vermummt in ihren Pelzen, ähnelten diese liebenswürdigen Wesen fast graziöseren Eskimos, wenn sie am Ufer von Warm-Land Schlittschuh liefen. Pablo zeigte sich immer besorgt um seine Gespielin. Er nahm an ihren Vergnügungen theil und unterstützte sie, wenn sie einmal ermüdete. Beide benahmen sich eben, wie Kinder ihres Alters zu thun pflegen.

Und was wurde aus Isaak Hakhabut?

Nach seiner ungeschickten Interpellation Palmyrin Rosette's war er ganz bestürzt nach seiner Tartane zurückgekehrt. In den bisherigen Vorstellungen des Juden vollzog sich nun eine wesentliche Veränderung. Jene eingehenden [292] und bestimmten Angaben des Professors konnte er wohl nicht bezweifeln und bezweifelte er auch nicht mehr. Er wußte es jetzt, daß ein umherirrender Komet ihn durch den Weltraum führte, Millionen Meilen hinweg von der Erdkugel, auf der er so viele und so gute »Geschäftchen« gemacht hatte!

Wenn er sich jetzt betrachtete, der sechsunddreißigste Bewohner der Gallia, sollte man wohl annehmen, daß diese, jeder menschlichen Voraussicht spottende Lage seine Gedanken und seinen Charakter einigermaßen beeinflußt und zu einer gewissen Einkehr in sich selbst bestimmt haben müßte, daß bessere Gefühle in ihm zum Durchbruch gekommen wären gegen die wenigen, welche Gottes Gnade noch an seiner Seite gelassen hatte, um sie nicht ferner nur als Ziel seiner Habsucht zu betrachten.

Leider war dem nicht so. Hätte sich Isaak Hakhabut geändert, so wäre er ja nicht mehr das Musterexemplar dessen gewesen, was der Mensch werden kann, der immer nur an sich selbst denkt. Im Gegentheil, seine Sinnesart verhärtete sich eher noch mehr; er dachte nur an das Eine: die gegebene Lage bis zum Aeußersten auszunutzen. Den Kapitän Servadac kannte er längst viel zu gut, um sicher zu sein, daß ihm von keiner Seite werde ein Unrecht geschehen dürfen; er wußte sein Heil unter den Schutz eines französischen Officiers gestellt, und daß ihm, von höherer Gewalt abgesehen, gewiß keine Schädigung drohe. Da der Eintritt einer höheren Gewalt nicht zu erwarten stand, so schmiedete Isaak Hakhabut seine Pläne für die nächste Zukunft in folgender Weise:

Waren die Aussichten auf eine Rückkehr nach der Erde auch nur gering, so durften sie doch nicht völlig aus dem Auge gelassen werden. Englisches und russisches Gold und Silber fehlten nun der kleinen Kolonie keineswegs, einen eigentlichen Werth erlangte es aber natürlich erst, wenn es wieder auf der alten Erde in Umlauf kommen konnte. Es galt also jetzt, den ganzen Münzenvorrath der Gallia zusammenzuscharren. Isaak Hakhabut's Interesse lief demnach darauf hinaus, seine Waaren vor der Rückkehr an den Mann zu bringen, da sie schon ihrer Seltenheit wegen auf der Gallia in noch höherem Werthe stehen mußten als auf der Erde – aber damit zu warten, bis in Folge der nicht abweisbaren Bedürfnisse der Kolonie die Nachfrage das Angebot übersteigen werde. Dann mußte eine merkliche Preissteigerung eintreten und ein guter Gewinn gesichert sein. Hakhabut's Losung hieß also: Verkaufen, aber abwarten, um besser zu verkaufen.

[293] Das waren etwa die Gedanken, mit denen der Jude sich in der engen Cabine der Hansa beschäftigte. Jedenfalls war man dabei seines widerwärtigen Anblicks enthoben, worüber sich Niemand beklagen konnte.

Während des Monats April belief sich der von der Gallia zurückgelegte Weg auf 23 1/2 Millionen Meilen und der Abstand von der Sonne am Ende des Monats auf 66 Millionen Meilen. Der Professor hatte sehr genaue Ephemeriden entworfen, auf welchen die elliptische Bahn des Kometen verzeichnet stand. Vierundzwanzig ungleich große Abtheilungen dieser Curve stellten die vierundzwanzig Monate des Gallia-Jahres dar. Diese Abtheilungen veranschaulichten also den allmonatlich durchlaufenen oder zu durchlaufenden Weg. Die ersten zwölf Segmente der Curve nahmen bis zum Punkte des Aphels an Länge ab – ganz entsprechend einem der drei Kepler'schen Gesetze jenseit dieses Punktes wuchsen diese Abtheilungen wieder je nach der Annäherung an das Perihel der Bahn.

Eines Tages – es war am 12. Mai – legte der Professor dem Kapitän Servadac, Grafen Timascheff und Lieutenant Prokop seine Arbeit vor, welch' Letztere dieselbe mit leicht begreiflichem Interesse betrachteten. Die vollständige Bahnlinie der Gallia lag vor ihren Augen, und sie erkannten, daß sich dieselbe bis etwas über die Bahn des Jupiter hinaus erstreckte. Die jeden Monat zurückgelegten Strecken, sowie die Abstände von der Sonne waren auch in Zahlen ausgedrückt. Hier zeigte sich Alles ganz klar, und sobald Palmyrin Rosette sich nicht geirrt hatte, wenn die Gallia ihre Revolution wirklich genau in zwei Jahren vollendete, so mußte sie auch der Erde an der Stelle des ersten Zusammenstoßes wieder begegnen, da letztere in derselben Zeit zweimal ihre Bahn um die Sonne vollendet haben mußte. Von welchen Folgen aber würde der neue Zusammenstoß begleitet sein? Man wagte kaum darüber nachzudenken.

Wenn man auch über die unbedingte Verläßlichkeit der Palmyrin Rosette'schen Arbeit vielleicht einige Zweifel hegte, so erschien es doch gerathen, diese nicht sichtbar werden zu lassen.

»Die Gallia wird demnach, sagte Hector Servadac, im Laufe des Monats Mai nur 18,240,000 Meilen durchfliegen und sich von der Sonne bis auf 83,400,000 Meilen entfernen?

– Ganz richtig, bestätigte der Professor.

[294] – Wir haben also die Zone der teleskopischen Planeten schon überschritten? fügte Graf Timascheff hinzu.

– Urtheilen Sie selbst, Herr Graf, erwiderte Palmyrin Rosette, ich habe die Zone jener Planeten hier eingezeichnet.

– Und der Komet wird also, fragte Hector Servadac weiter, gerade ein Jahr nach dem Passiren des Perihels an seinem Aphel anlangen?

– Gewiß.

– Am nächsten 15. Januar?

– Natürlich, am 15. Januar ... und doch, nein! rief der Professor. Warum sagen Sie am 15. Januar, Kapitän Servadac?

– Weil der Zeitraum vom 15. Januar bis wieder zu demselben Datum ein Jahr oder, anders ausgedrückt, zwölf Monate umfaßt.

– Zwölf Erdenmonate, ja! versetzte der Professor, nicht aber zwölf Gallia-Monate!«

Lieutenant Prokop konnte sich bei diesem unerwarteten Ausspruche eines Lächelns nicht erwehren.

»Sie lachen da, Herr Lieutenant, wandte sich der Professor an diesen, und warum lachen Sie denn?

– O, Herr Professor, nur deshalb, weil ich sehe, daß Sie den Erdenkalender reformiren wollen.

– Ich will nichts Anderes, mein Herr, als logisch sein!

– Ja wohl, wir wollen logisch verfahren, lieber Professor, rief Hector Servadac dazwischen, immer nur logisch!

– Geben Sie zunächst zu, fragte Palmyrin Rosette in trockenstem Docententone, daß die Gallia zwei Jahre nach Passirung ihres Perihels wieder bei demselben eintreffen wird?


Sie ähnelten graziösen Eskimos. (S. 292.)

– Ohne Widerrede.

– Stellt diese Periode von zwei Jahren, während welcher unser Komet seine Revolution um die Sonne beendet, nicht das Gallia-Jahr vor?

– Gewiß.

– Muß nicht dieses Jahr, so wie jedes beliebige andere, in zwölf Monate getheilt werden?

– Wenn Sie es so wollen, lieber Professor ...


Eines Tages legte der Professor seine Arbeit vor. (S. 294.)

– Hier handelt es sich nicht darum, ob ich will ...

[295] – Nein, nein, es ist richtig, in zwölf Monate! sagte Hector Servadac nachgebend.

– Und wie viele Tage werden diese Monate zählen?

– Nun, sechzig Tage, da diese um die Hälfte kürzer geworden sind.

– Kapitän Servadac, entgegnete der Professor streng, überlegen Sie erst, was sie sagen ...

[296] – Aber ich denke, ich gehe damit vollständig auf Ihr System ein, antwortete Hector Servadac.

– Keineswegs.

– Nun, so erklären Sie mir ...

– Nichts einfacher als das! fiel ihm Palmyrin Rosette in's Wort, wobei er etwas mitleidig und wegwerfend die Achseln zuckte. Jeder Gallia-Monat umfaßt doch zwei irdische Monate, nicht wahr?

[297] – Ohne Zweifel, da das Gallia-Jahr zwei Erdenjahre währt.

– Zwei Monate enthalten auf der Erde aber sechzig Tage?

– Richtig, sechzig Tage.

– Und folglich? ... fragte Graf Timascheff zu Palmyrin Rosette gewendet.

– Wenn zwei Monate auf der Erde sechzig Tage zählen, so ergiebt das hundertzwanzig Gallia-Tage, da die Dauer eines Tages auf der Gallia nur zwölf Stunden beträgt. Verstanden?

– Vollkommen, Herr Professor, antwortete Graf Timascheff. Doch fürchten Sie nicht, daß dieser Kalender leicht verwirrend wirken werde?

– Verwirrend! rief der Professor, schon seit dem 1. Januar zähle ich nicht mehr anders!

– Unsere Monate würden folglich, fragte Hector Servadac, mindestens hundertzwanzig Tage zählen?

– Was finden Sie Schlimmes dabei?

– O, gar nichts, lieber Professor. Anstatt also jetzt im Mai zu leben, haben wir nun erst März?

– So ist es, meine Herren; wir haben den zweihundertsechsundsechzigsten Gallia-Tag, der dem hundertdreiunddreißigsten auf der Erde entspricht. Heute ist demnach der 12. Gallia-März und nach weiteren sechzig Tagen ...

– Werden wir den 72. März zählen! rief Hector Servadac. Bravo! Nur immer logisch!«

Palmyrin Rosette sah aus, als fragte er sich, ob sein früherer Schüler sich nicht etwa über ihn lustig mache; doch, da es schon etwas spät geworden war, verließen die drei Besucher das Observatorium ohne weitere Auseinandersetzung.

Der Professor hatte also den Kalender für die Gallia festgestellt. Jedenfalls – und das sei hier im Voraus bemerkt – bediente er sich desselben nur allein und Niemand verstand ihn, wenn er etwa vom 48. April oder vom 118. Mai sprach.

Inzwischen kam der Monat Juni – nach dem alten Kalender – heran, während welches die Gallia nur 161/2 Millionen Meilen Weg zurücklegen und sich bis auf 93 Millionen Meilen Weg von der Sonne entfernen sollte. Die Temperatur nahm zwar noch weiter ab, doch die Atmosphäre [298] blieb ebenso rein, ebenso ruhig wie bisher. Das Leben auf der Gallia ging mit vollendeter Regelmäßigkeit, um nicht zu sagen Monotonie, vor sich. Diese Monotonie zu stören, bedurfte es nichts Geringeren, als jener närrischen, nervösen, launenhaften, ja zänkischen Persönlichkeit Palmyrin Rosette's. Wenn er sich einmal herabließ, seine Beobachtungen zu unterbrechen und in der gemeinsamen Wohnung zu erscheinen, so war ein neuer Auftritt immer bald zu erwarten.

Die Unterhaltung bewegte sich dann regelmäßig um das Thema, daß Hector Servadac und seine Gefährten, so groß auch die Gefahren eines neuen Zusammentreffens mit der Erde sein mochten, sich doch auf dessen einstigen Eintritt freuten. Das genügte, den Professor in Harnisch zu bringen, da dieser von einer Rückkehr am liebsten gar nichts hören wollte, und seine Studien auf der Gallia fortsetzte, als sollte er hier ewig leben.

Eines Tages – am 27. Juni – platzte Palmyrin Rosette wie eine Bombe in den Hauptsaal hinein. Hector Servadac, Lieutenant Prokop, Graf Timascheff und Ben-Zouf befanden sich eben in demselben.

»Lieutenant Prokop, rief er, beantworten Sie mir ohne Umwege und ohne von der Sache abzuschweifen, was ich Sie fragen werde.

– Ich bin es gar nicht gewöhnt – entgegnete Lieutenant Prokop.

– Gut, schon gut, schnitt ihm Palmyrin Rosette jedes weitere Wort ab, als habe er einen Gymnasiasten vor sich. Antworten Sie also: Haben Sie – ja oder nein! – mit der Goëlette die Gallia auf ihrem Aequator oder doch längs eines der größten Kreise umschifft?

– Ja, Herr Professor, antwortete Lieutenant Prokop, den Graf Timascheff durch ein Zeichen verständigt hatte, sich dem schrecklichen Professor zu fügen.

– Gut, sagte der Letztere. Haben Sie bei dieser Entdeckungsreise auch den von der Dobryna durchlaufenen Weg gemessen?

– Wenigstens annähernd, erwiderte Prokop, das heißt mit Hilfe des Loog und des Kompasses, nicht aber durch Beobachtung der Sonnen- und Sternhöhen, die zu berechnen uns unmöglich war.

– Und was haben Sie gefunden?

– Für den Umfang der Gallia etwa 2300 Kilometer, wonach ihr Durchmesser also 740 Kilometer betragen müßte.

[299] – Ja ... antwortete Palmyrin Rosette halb für sich, dieser Durchmesser wäre also sechzehnmal kleiner als der der Erde, welcher zu 12,792 Kilometer angenommen wird.«

Kapitän Servadac und seine beiden Gefährten sahen den Professor an, ohne noch zu wissen, wo er hinaus wolle.

»Schön, fuhr Palmyrin Rosette fort; zur Vollendung meiner Studien über die Gallia muß ich nun noch deren Oberfläche, Volumen, Masse, Dichtigkeit und die Intensität der Schwerkraft auf derselben wissen.

– Was die Oberfläche und das Volumen betrifft, bemerkte Lieutenant Prokop, so sind diese ja, da uns der Durchmesser der Gallia bekannt ist, ganz leicht zu finden.

– Habe ich denn gesagt, daß das schwierig wäre? rief der Professor. Solche Rechnungen führte ich schon aus, als ich zur Welt kam.

– Oho! knurrte Ben-Zouf, der nur auf die Gelegenheit wartete, den Verächter des Montmartre zu ärgern.

– Schüler Servadac, sagte Palmyrin Rosette, nachdem er Ben-Zouf einen Augenblick strafend betrachtet hatte, nehmen Sie Ihre Feder. Da Sie den Umfang eines größten Kreises der Gallia kennen, so sagen Sie mir, wie groß deren Oberfläche ist.

– Sofort, Herr Rosette, antwortete Hector Servadac, der sich einmal als guter Schüler benehmen wollte. Wir haben 2323 Kilometer, den Umfang der Gallia, mit 740, ihrem Durchmesser zu multipliciren. (Hierdurch wird nur ein annähernd richtiges Resultat erzielt.)

– Ja, ja, beeilen Sie sich nur! drängte der Professor. Das müßte schon fertig sein. Nun?

– Ich erhalte da, antwortete Hector Servadac, als Product 1,719,020 Quadrat-Kilometer für die Oberfläche der Gallia.

– Das wäre demnach eine zweihundertsiebenundneunzigmal kleinere Oberfläche als die der Erde, welche 510 Millionen Quadrat-Kilometer enthält.

– Pah!« machte Ben-Zouf und schnitt dabei ein Gesicht, welches seine Verachtung dieses Kometen des Professors ausdrücken sollte.

Ein funkelnder Blitz aus den Augen des Gelehrten strafte ihn.

»Nun, fuhr der Professor allmälig warm werdend fort, was beträgt also das Volumen der Gallia?

[300] – Das Volumen? ... erwiderte Hector Servadac zögernd.

– Schüler Servadac, können Sie denn nicht mehr das Volumen einer Kugel, deren Oberfläche gegeben ist, berechnen?

– Doch, Herr Rosette ... aber Sie lassen den Menschen ja gar nicht einmal aufathmen.

– Bei der Beschäftigung mit Mathematik ist gar nichts aufzuathmen, mein Herr, da athmet man so gut wie gar nicht.«

Alle Anwesenden mußten ihren ganzen Ernst zusammen nehmen, um nicht laut aufzulachen.

»Wird es denn endlich? fragte der Professor. Der Kubikinhalt einer Kugel ist ...

– Gleich dem Producte aus deren Oberfläche ... antwortete Hector Servadac halb auf's Gerathewohl, multiplicirt mit ...

– Mit dem dritten Theile des Radius, mein Herr! polterte Palmyrin Rosette heraus, mit dem dritten Theil des Radius. Sind Sie nun fertig?

– Ziemlich! Der dritte Theil des Gallia-Halbmessers beträgt hundertdreiundzwanzig drei Zehntel, drei Hundertstel, drei Tausendtel, drei Zehntau ...

– Drei, drei, drei, drei Xtel ... setzte Ben-Zouf die Aufzählung durch alle Stufen der Tonleiter weiter fort.

– Ruhe! rief der Professor, der nun ernsthaft böse wurde. Begnügen Sie sich mit den ersten beiden Decimalen und vernachlässigen Sie die übrigen.

– Ich thue es schon.

– Nun also?

– Das Product aus 1,719,020 mit 123,33 ergiebt 211,439,460 Kubik-Kilometer.

– Das ist demnach das Volumen meines Kometen! In der That, er kann sich schon sehen lassen!

– Gewiß, bemerkte Lieutenant Prokop, doch dieses Volumen ist immer noch 5166mal kleiner als das der Erde, welches in runden Zahlen ...

– Eine Trillion zweiundachtzig Milliarden und achthunderteinundvierzig Millionen Kubik-Kilometer beträgt, das weiß ich wohl, mein Herr, unterbrach ihn Palmyrin Rosette.

[301] – Und folglich, setzte Lieutenant Prokop hinzu, erreicht das Volumen der Gallia noch lange nicht das des Mondes, welches den neunundvierzigsten Theil des Erdvolumens darstellt.

– Wer hat davon überhaupt eine Sylbe gesprochen? warf der in seiner Eigenliebe verletzte Gelehrte ein.

– Also, fuhr Lieutenant Prokop unerbittlich weiter fort, kann die Gallia von der Erde aus nicht mehr sichtbar sein als ein Stern siebenter Größe, das heißt, sie ist jetzt mit bloßem Auge gar nicht mehr zu erkennen.

– Alle Wetter, rief Ben-Zouf, das ist mir ein hübscher Komet! Und auf diesem Krümelchen laufen wir herum!

– Ruhe! rief Palmyrin Rosette ganz außer sich.

– Ein kleines Nüßchen, eine Kichererbse, ein Senfkörnchen! fuhr Ben-Zouf fort, um sich doch einmal an dem Gelehrten zu rächen.

– Schweig, Ben-Zouf! befahl ihm auch Kapitän Servadac.

– Ein Stecknadelkopf! Noch mehr, das Nichts von einem Nichtse!

– Alle Wetter, wirst Du still sein?«

Ben-Zouf bemerkte, daß sein Kapitän ernstlich böse wurde, er räumte also das Gemach, rief durch das hellste Lachen aber alle Echos der vulkanischen Bergwand wach.

Es war die höchste Zeit gewesen, daß er ging. Palmyrin war nahe daran gewesen, alle Rücksichten zu vergessen, und brauchte längere Zeit, um sich einigermaßen zu beruhigen. Seine Empfindlichkeit bezüglich des Kometen glich eben ganz der Ben-Zouf's bezüglich des Montmartre. Jeder vertheidigte seinen Schützling mit eifersüchtiger Hartnäckigkeit.

Endlich fand der Professor die Sprache wieder und wandte sich an seine Schüler, oder vielmehr an seine Zuhörer wie folgt:

»Wir kennen nun, meine Herren, begann er, Durchmesser, Umfang, Oberfläche und Volumen der Gallia. Das ist wohl etwas, aber noch nicht Alles. Ich muß nun durch directe Messung noch deren Masse und Dichtigkeit, sowie die Intensität der Schwerkraft auf ihrer Oberfläche zu bestimmen suchen.

– Das dürfte wohl schwierig werden, meinte' Graf Timascheff.

– Thut nichts. Ich brauche dazu nur zu wissen, wieviel mein Komet wiegt.

[302] – Die Lösung dieses Problems, bemerkte Lieutenant Prokop, erscheint mir etwas erschwert durch den Umstand, daß wir die Natur der Substanz, aus welcher die Gallia besteht, ganz und gar nicht kennen.

– Ah, Sie kennen diesen Stoff also nicht? erwiderte der Professor.

– Nein, antwortete Graf Timascheff, und wenn Sie uns in dieser Hinsicht aufzuklären vermöchten ...

– O, meine Herren, was geht mich das an? sagte Palmyrin Rosette. Ich werde meine Fragen auch ohnedem zu lösen wissen.

– Wenn Sie es wünschen, lieber Professor, stehen wir jederzeit zu Ihrer Verfügung, erklärte Kapitän Servadac.

– Noch habe ich einen Monat lang Beobachtungen anzustellen und Rechnungen auszuführen, antwortete Palmyrin Rosette abweisend, und Sie werden sich, denke ich, gedulden, bis ich zu Ende bin!

– Aber, Herr Professor, entgegnete Graf Timascheff zuvorkommend, wir warten selbstverständlich so lange es Ihnen beliebt.

– Und selbst noch etwas länger, setzte Kapitän Servadac hinzu, der diesen Scherz nicht zurückhalten konnte.

– Nun wohl, schloß Palmyrin Rosette, so stellen Sie sich nach Ablauf eines Monats, also am kommenden 62. April wieder ein.«

Dieses Datum entsprach dem 31. Juli des Erdenkalenders.

6. Capitel
Sechstes Capitel.
Worin man sich überzeugen wird, daß Palmyrin Rosette alle Ursache hatte, das Material der Kolonie lückenhaft zu nennen.

Inzwischen kreiste die Gallia unter dem Einflusse der Anziehungskraft der Sonne ruhig durch die Planetenräume weiter. Bisher erlitt ihre Bewegung von keiner Seite her eine Störung. Der Planet Nerina, den sie sich bei Durchschreitung der Asteroïden-Zone geraubt, blieb ihr treu und vollendete gewissenhaft seinen halbmonatlichen Umlauf. Es gewann den Anschein, als sollte das ganze Gallia-Jahr ohne jede Störung verlaufen.

[303] Die Hauptsorge unserer unfreiwilligen Bewohner der Gallia betraf jedoch immer noch die Frage, ob jene zur Erde zurückkehren werde. Hatte sich der Astronom in seinen Berechnungen nicht getäuscht? Durste man die Bestimmung der neuen Bahn des Kometen und die der Dauer seiner Umlaufszeit für verläßlich ansehen?

[304] Palmyrin Rosette's argwöhnische Natur, die bei den unschuldigsten Fragen nach versteckten Ursachen suchte, erlaubte es nicht, den Wunsch nach einer wiederholten Durchsicht seiner Arbeiten gegen ihn zu äußern.


»Bei der Beschäftigung mit Mathematik ist gar nichts aufzuathmen, mein Herr!« (S. 301.)

Hector Servadac, Graf Timascheff und Prokop konnten sich bezüglich dieses Punktes also noch immer nicht beruhigen. Den übrigen Kolonisten [305] ging die ganze Sache gar nicht besonders zu Herzen. Welche Ergebung zeigten sie! Welch' praktische Philosophie! Die Spanier vorzüglich, in ihrer Heimat arme Teufel, waren in ihrem Leben noch niemals so glücklich gewesen. Negrete und seine Gefährten hatten sich noch nie in so günstigen Verhältnissen befunden.


»Hast Du noch Eltern, Nina?« fragte Pablo. (S. 306.)

Was kümmerte sie die Bahn, welcher die Gallia folgte? Warum sollten sie sich darüber den Kopf zerbrechen, ob die Sonne sie im Kreise ihrer Anziehungskraft erhalten oder jene sich ihr entziehen würde, um durch fremde Himmelsräume zu schweifen? Sie sangen fröhlich und wohlgemuth, und wann konnte es solchen Majos je besser ergehen, als wenn ihre Lieder erklangen?

Die beiden allerglücklichsten Wesen der Kolonie waren aber ohne Zweifel der junge Pablo und die kleine Nina. Welch' unterhaltende Ausflüge machten sie mit einander durch die langen Galerien des Nina-Baues oder auf den Felsen des Ufers. Einmal liefen sie über Sehweite hinaus Schlittschuh auf der grenzenlosen Fläche des übereisten Meeres; ein andermal fischten sie am Rande der kleinen Lagune, welche der feurige Lavastrom flüssig erhielt. Alles geschah aber nicht auf Kosten der Unterrichtsstunden bei Hector Servadac. Sie wußten sich schon recht leidlich zu verständigen und jedenfalls verstanden sie sich.

Weshalb sollten sich der Knabe und das kleine Mädchen wegen der Zukunft beunruhigen? Warum die Vergangenheit bedauern?

Eines Tages begann Pablo:

»Hast Du noch Eltern, Nina?

– Nein, Pablo, antwortete Nina, ich bin ganz allein. Und Du?

– Ich bin auch ganz allein, Nina. – Und was triebst Du früher da unten?

– Ich hütete meine Ziegen, Pablo.

– Und ich, erklärte der junge Knabe, ich lief Tag und Nacht vor den Pferden der Postwagen her.

– Doch jetzt sind wir nicht mehr allein, Pablo.

– Nein, liebe Nina, jetzt gewiß nicht.

– Der Gouverneur ist unser Papa und der Graf und der Lieutenant sind unsere Onkels.

– Und Ben-Zouf ist unser Kamerad, vervollständigte Pablo.

[306] – Die anderen Alle sind so lieb und gut gegen uns, setzte Nina hinzu. Man verwöhnt uns, Pablo; wohlan, wir wollen uns nicht verwöhnen lassen. Sie müssen mit uns immer zufrieden sein ... immer!

– Du bist so artig, Nina, daß man gezwungen ist, es an Deiner Seite auch zu sein.

– Ich bin Deine Schwester und Du bist mein Bruder! sagte Nina ernsthaft.

– Ja wohl, Du hast recht!« antwortete Pablo.

Die Freundlichkeit und das artige Wesen dieser beiden Kinder machten sie bei Allen beliebt. Jeder verschwendete an sie Schmeichelworte und Liebkosungen, von denen auch Marzy, die Ziege, ihren Antheil erhielt. Kapitän Servadac und Graf Timascheff empfanden für sie eine aufrichtige, fast väterliche Zuneigung. Warum sollten sich jene zurücksehnen, Pablo nach den glühenden Ebenen Andalusiens oder Nina nach den dürren Felsen Siciliens? Ihnen schien es, als ob sie der neuen Welt schon von jeher angehört hätten.

Der Juli kam heran. Während dieses Monats hatte die Gallia nur 13 2/10 Millionen Meilen in ihrer Bahn zu durchlaufen, während die Entfernung von der Sonne auf etwas über 103 Millionen Meilen anwuchs. Jetzt gravitirte sie also etwa vier und ein halbmal entfernter als die Erde von dem Centrum der Attraction, indeß die Geschwindigkeiten beider Himmelskörper nahezu die gleichen waren. Die mittlere Geschwindigkeit der Erde in ihrer elliptischen Bahn beträgt nämlich 12 6/10 Millionen Meilen im Monat, oder 17,280 Meilen in der Stunde.

Am 62. Gallia-April erhielt Kapitän Servadac ein lakonisches Briefchen von dem Professor. Palmyrin Rosette gedachte mit diesem Tage die nöthigen Operationen vorzunehmen, um die Masse und Dichtigkeit seines Kometen und die Intensität der Schwerkraft an dessen Oberfläche zu ergründen.

Hector Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop ließen es sich angelegen sein, die ihnen bewilligte Zusammenkunft nicht zu verfehlen. Die vorzunehmenden Experimente interessirten sie freilich in weit geringerem Grade als den Professor, und hätten sie weit lieber erfahren, woraus die metallische Substanz, welche die ganze Gallia zu bilden schien, eigentlich bestehe.

Schon am Morgen hatte Palmyrin Rosette Alle um sich versammelt.

[307] Er schien noch bei erträglich guter Laune zu sein; indessen fing der Tag jetzt eben erst an.

Jedermann weiß, was man unter der Intensität der Schwerkraft versteht. Es ist das die Anziehungskraft, welche die Erde auf einen Körper von gewisser Masse ausübt, und man erinnert sich, wie auffallend diese anziehende Kraft auf der Gallia vermindert war – eine Erscheinung, welche sich nothwendiger Weise auch in der scheinbaren Zunahme der Muskelkraft der Kometenbewohner äußerte. Nur das richtige Verhältniß dieser Ab-, resp. Zunahme war bisher unbekannt.

Die Masse wird dargestellt durch die Quantität der Materie, welche einen Körper bildet, und diese Masse findet durch das Gewicht des Körpers ihren Ausdruck. Die Dichtigkeit dagegen ist die Quantität der Materie, welche ein Körper von gegebenem Volumen enthält.

Die erste zu lösende Frage bezog sich also auf die Intensität der Schwerkraft an der Oberfläche der Gallia.

Die zweite Frage lautete: Wie viel beträgt die Quantität der in der Gallia enthaltenen Materie, oder mit anderen Worten, wie groß ist ihre Masse und folglich ihr Gewicht?

Die dritte Frage: wie groß ist die Quantität der in der Gallia enthaltenen Materie gegenüber ihrem Volumen, oder mit anderen Worten, wie groß ist ihre Dichtigkeit?

»Heute, meine Herren, begann der Professor, wollen wir nun die Bestimmung der verschiedenen Elemente unseres Kometen vornehmen. Sobald wir die Intensität der Schwerkraft an seiner Oberfläche, seine Masse und Dichtigkeit durch directe Messung kennen lernen, giebt es für uns keine weiteren Geheimnisse. Wir wollen also, kurz ausgedrückt, die Gallia wägen.«

Bei Palmyrin Rosette's letzten Worten war Ben-Zouf in den Saal getreten. Er entfernte sich sofort wieder und kam erst nach einiger Zeit zurück und meldete spöttelnd:

»Ich kann das ganze Hauptmagazin umwühlen, ohne eine Waage zu finden, und übrigens wüßte ich auch gar nicht, wo wir eine solche aufhängen sollten!«

Ben-Zouf sah dabei hinaus ins Freie, als suche er einen passenden Nagel am Himmel.

[308] Ein Blick des Professors und eine nicht mißzuverstehende Bewegung Hector Servadac's brachten diese lose Zunge zum Schweigen.

»Zunächst, meine Herren, fuhr Palmyrin Rosette fort, muß ich wissen, wie viel ein irdisches Kilogramm auf der Gallia wiegt. In Folge der geringeren Masse der letzteren ist auch ihre Anziehungskraft eine geringere, und nothwendiger Weise wiegt also jeder Gegenstand auf ihrer Oberfläche entsprechend weniger als auf der der Erde. Eben diesen Unterschied zwischen beiden Gewichten müssen wir kennen zu lernen suchen.

– Ganz recht, bemerkte Lieutenant Prokop, doch würde eine gewöhnliche Balkenwaage, selbst wenn wir eine solche besäßen, zu dieser Bestimmung nicht dienen können, da ihre beiden Schalen von der Anziehungskraft der Gallia gleichmäßig beeinflußt würden und den Unterschied zwischen dem Gallia-Gewicht und dem Erden-Gewicht nicht sichtbar machen könnten.

– In der That, fügte Graf Timascheff hinzu, ein Kilogrammgewichtsstück z.B. würde ebenso viel an Schwere verlieren wie der damit zu wägende Gegenstand und ...

– Wenn Sie glauben, meine Herren, fiel Palmyrin Rosette ein, dieser Auseinandersetzungen zu meiner persönlichen Instruction zu bedürfen, so verlieren Sie die Zeit unnütz, und ich ersuche Sie, mich in meiner physikalischen Vorlesung nicht weiter zu unterbrechen.«

Der Professor fühlte sich heute mehr als je auf dem Katheder.

»Besitzen wir eine Schnellwaage und ein Kilogrammgewicht? fragte er, damit wäre alles Nöthige besorgt. Eine Schnellwaage zeigt das daran gehängte Gewicht entweder durch eine Stahllamelle oder eine Feder an, welche durch ihre Biegsamkeit und Spannkraft functioniren. Hänge ich ein Kilogrammgewicht an meine Schnellwaage, so wird diese mir genau anzeigen, wie viel dasselbe auf der Gallia wiegt.

Ich erfahre damit also den Unterschied zwischen der Anziehungskraft der Erde und der der Gallia. Ich wiederhole also meine Frage: Besitzen Sie eine Schnellwaage?«

Palmyrin Rosette's Zuhörer sahen sich fragend an. Dann wendete sich Hector Servadac an Ben-Zouf, der das ganze Material der Kolonie gründlich kannte.

»Wir besitzen weder eine Schnellwaage noch ein Kilogewicht!« erklärte dieser.

[309] Der Professor drückte sein Mißfallen über diesen Mangel dadurch aus, daß er mit dem Fuße heftig auf den Boden stampfte.

»Ich glaube aber zu wissen, fuhr Ben-Zouf fort, wo sich eine Schnellwaage, vielleicht auch ein Gewichtsstück, finden dürfte.

– Wo?

– In der Tartane des Juden.

– Das hättest Du gleich sagen können, Schwachkopf! sagte der Professor mit verächtlichem Achselzucken.

– Natürlich werden wir sie sofort holen lassen, erklärte Kapitän Servadac.

– Ich gehe schon, versetzte Ben-Zouf.

– Ich werde Dich begleiten, fuhr Hector Servadac fort, denn Hakhabut dürfte wahrscheinlich Schwierigkeiten erheben, wenn es sich darum handelt, etwas herzuleihen.

– Begeben wir uns Alle zusammen nach der Tartane, meinte Graf Timascheff. Wir können ja einmal sehen, wie der Jude sich in der Hansa eingerichtet hat.«

Dieser Vorschlag wurde angenommen, doch als Alle sich anschickten, zu gehen, sagte der Professor:

»Graf Timascheff, könnte mir nicht einer Ihrer Leute aus der Felsenmasse der Bergwand einen Würfel von genau einem Decimeter Seite herstellen?

– Das wird meinem Mechaniker nicht schwer fallen, antwortete der Gefragte, freilich unter der Bedingung, daß man ihm ein Maß liefert, um die genaue Länge abnehmen zu können.

– Sollten Sie hier ebensowenig ein Metermaß wie eine Schnellwaage besitzen?« rief Palmyrin Rosette.

In der That fand sich im Hauptmagazin das verlangte Maß nicht vor, wie Ben-Zouf zu seiner Beschämung gestehen mußte.

»Indessen, fügte er hinzu, wäre es doch möglich, daß sich eines an Bord der Hansa fände.

– So gehen wir dahin!« erwiderte Palmyrin Rosette und verschwand schnellen Schrittes in der langen Hauptgalerie.

Die Uebrigen folgten. Bald darauf erschienen Hector Servadac, Graf Timascheff, Prokop und Ben-Zouf auf dem das Ufer überragenden Felsen.

[310] Sie stiegen hinab bis zum Strande und wendeten sich nach der engen Bucht, welche die Dobryna und die Hansa in ihrem Eispanzer gefangen hielt.

Obwohl die Temperatur außerordentlich niedrig war – fünfunddreißig Grad unter Null – konnten sie derselben doch, Dank ihrer guten Kleidung und Verhüllung durch dichte Pelzüberröcke und dicke Mützen, ohne größere Beschwerde trotzen. Daß Bart, Augenbrauen und Wimpern der Männer sich unverzüglich mit seinen Eiskrystallen bedeckten, rührte nur her von dem Gefrieren des Wasserdunstes ihres Athems in der kalten Luft. Ihr Gesicht mit den weißen, seinen, spitzen Eisnadeln, welche ihnen eine gewisse Aehnlichkeit mit Stacheligeln verliehen, machte fast einen komischen Eindruck. Das Antlitz des Professors, der bei seiner kleinen Figur schon mehr einem jungen Bären glich, sah jetzt freilich noch abschreckender aus als sonst.

Es war um acht Uhr Morgens. Die Sonne stieg schnell nach dem Zenith zu empor. Ihre durch die ungeheure Entfernung auffallend verkleinerte Scheibe bot etwa den Anblick des Vollmondes bei dessen Culmination. Die Strahlen derselben gelangten hierher ohne fühlbare Wärme zu spenden und verbreiteten auch nur ein wesentlich geschwächtes Licht. Alle Uferfelsen am Fuße des Vulkanes und auch dessen Hauptmassen selbst zeigten noch die makellose Weiße der letzten Schneefälle aus der Zeit, wo sich noch feuchte Dünste in der Atmosphäre der Gallia sammelten. Weiter rückwärts, bis hinauf zu dem rauchenden Gipfel des Kegels, der die ganze Umgebung beherrschte, breitete sich der ungeheure blendende Teppich aus, den keine Fußspur unterbrach. Am nördlichen Abhange floß die Lava-Cascade hinunter.

Dort wich der Schnee dem glühenden Strome, der launenhaft jeder Einsenkung folgend, sich bis zur Oeffnung der Haupthöhle hinabwälzte, von wo aus er senkrecht in's Meer hinabstürzte.

Ueber dieser Höhle, etwa in der Höhe von hundertfünfzig Fuß, gewahrte man an der Bergwand eine dunkle Oeffnung, über der sich ein Arm des vulkanischen Stromes gabelförmig theilte. Aus dieser heraus ragte das Rohr eines astronomischen Teleskopes. Hier war das Observatorium Palmyrin Rosette's.

Auch der Strand erschien völlig weiß und verschmolz ohne sichtbare Grenzlinie mit dem gefrorenen Meere. Als Gegensatz zu diesen weiß blendenden Flächen färbte den Himmel ein dunkles, mattes Blau. Auf dem Strande sah man die Fußspuren der Kolonisten, welche hier täglich zu verkehren [311] pflegten, entweder um Eis zu holen, durch dessen Schmelzung das nöthige Süßwasser gewonnen wurde, oder auch um dem Vergnügen des Schlittschuhlaufens nachzugehen.


Bald darauf erschienen sie auf dem das Ufer überragenden Felsen. (S. 310.)

Die von den Schlittschuhen in die harte Fläche eingeritzten Linien kreuzten sich hier vielfach, ähnlich wie die Kreise, welche Wasserinsecten auf den Teichen hervorzubringen pflegen.

Vom Ufer aus verlief auch eine Spur von Tritten nach der Hansa zu. Diese rührten noch von Isaak Hakhabut aus der Zeit vor dem letzten [312] Schneefalle her.


»Meister Isaak,« begann der Kapitän ... (S. 317.)

Die aufgeworfenen Ränder rings um diese Fußabdrücke hatten unter dem Einflusse der außerordentlichen Kälte die Härte der Bronze gewonnen.

Zwischen den letzten Ausläufern der Bergmasse und der Bucht, in welcher die beiden Schiffe überwinterten, betrug die Entfernung etwa einen halben Kilometer.

[313] An der Bucht angelangt, machte Lieutenant Prokop darauf aufmerksam, wie sich die Schwimmlinie der Hansa und der Dobryna zunehmend gehoben habe. Die Tartane und die Goëlette überragten die Fläche des Meeres jetzt mindestens um zwanzig Fuß.

»Das ist eine merkwürdige Erscheinung, sagte Kapitän Servadac.

– Leider eine ebenso beunruhigende als merkwürdige, antwortete Lieutenant Prokop. Es spricht das für die enorme Wirkung des Frostes unter dem Rumpfe der Schiffe, wo das Wasser nur eine geringe Tiefe hat. Nach und nach verdickte sich hier die Eismasse und drängt Alles, was sie trägt, mit unwiderstehlicher Kraft in die Höhe.

– Dieser Proceß wird aber seine Grenze finden? bemerkte Graf Timascheff.

– Das weiß ich nicht, Vater, erwiderte Lieutenant Prokop, denn die Kälte hat ihr Maximum wohl noch nicht erreicht.

– Wie ich bestimmt hoffe, fiel der Professor ein. Es verlohnte sich wahrlich nicht der Mühe, hundertzwanzig Millionen Meilen weit von der Sonne wegzufliegen, um nur eine Kälte gleich der an den Erdpolen anzutreffen.

– Sie sind sehr freundlich, Herr Professor, antwortete Lieutenant Prokop. Zum Glück überschreitet die Kälte im Weltraume niemals sechzig bis siebzig Grad, was, dächt' ich, wohl schon annehmbar wäre.

– Ei, was da, warf Hector Servadac dazwischen, eine Kälte ohne Wind, ist Kälte ohne Schnupfen; wir werden also den ganzen Winter über nicht einmal niesen!«

Inzwischen theilte Lieutenant Prokop dem Grafen Timascheff die Befürchtungen mit, welche ihm die Lage der Goëlette einflößte. Bei der noch fortdauernden Arbeit der Kälte erschien es nicht unmöglich, daß die Dobryna auf eine sehr beträchtliche Höhe gehoben würde. Dann war aber bei eintretendem Thauwetter eine Katastrophe derselben Art zu befürchten, wie sie so häufig die Schiffe der in den arktischen Meeren überwinternden Walfischfänger zu Grunde richten. Doch, was sollte man dagegen thun?

Die kleine Gesellschaft erreichte jetzt die in ihrer Eisschale gefesselte Hansa. Auf Stufen, welche Isaak Hakhabut erst neuerdings in die Schollen geschnitten hatte, gelangte man ziemlich bequem an Bord. Was würde der Besitzer des Schiffes aber beginnen, wenn seine Tartane vielleicht [314] hundert Fuß in die Luft empor gedrängt wurde? Doch – das war ja seine Sache.

Ein leichter bläulicher Rauch wirbelte aus einem Kupferrohre auf, welches über die auf dem Deck des Schiffes aufgehäuften Schneemassen hinausragte. Der Geizhals verwendete sein Brennmaterial mit äußerster Sparsamkeit, das sah man auf den ersten Blick, und doch mochte er unter der Kälte nicht allzusehr leiden, denn die Eismassen rings um die Tartane bildeten sowohl an und für sich schlechte Wärmeleiter, als sie auch im Innern eine erträgliche Temperatur erhalten mußten.

»Heda! Nebukadnezar!« rief Ben-Zouf.

7. Capitel
Siebentes Capitel.
In dem man sehen wird, daß der Jude eine herrliche Gelegenheit findet, sein Geld zu 1800 Procent auszuleihen.

Auf diesen Ruf öffnete sich die Thür der Treppendecke am Hintertheil und Isaak Hakhabut wurde zur Hälfte sichtbar.

»Was ist los? rief er bestürzt. Was soll ich? Hier ist Niemand. Ich habe weder etwas zu verborgen, noch zu verkaufen!«

Mit diesen gastfreundlichen Worten empfing er seine Besucher.

»Gemach, Meister Hakhabut! antwortete Kapitän Servadac mit gebieterischer Stimme. Haltet Ihr uns etwa für Diebe?

– Ah, Sie sind es, Herr General-Gouverneur, lenkte der Jude ein, ohne jedoch herauszutreten.

– Natürlich, bestätigte Ben-Zouf, der jetzt auf dem Decke der Tartane erschien. Du solltest Dich durch diesen Besuch hoch geehrt fühlen. Allons, heraus aus dem Loche!«

Isaak Hakhabut entschloß sich, mühsam aus der Treppenöffnung herauszukommen, behielt aber die Thür in der Hand, um im Falle der Noth schleunig den Rückzug antreten zu können.

[315] »Was wünschen Sie? fragte er.

– Ein wenig mit Euch zu plaudern, Meister Isaak, erwiderte der Kapitän. Da es hier aber empfindlich kalt ist, werdet Ihr uns in Eurer Cabine wohl eine Viertelstunde gastfreundlich aufnehmen.

– Wie? Sie wollen bei mir eintreten? rief der Jude, der sich gar nicht zu verhehlen bemühte, wie verdächtig ihm dieser Besuch erschien.

– Das ist unsere Absicht, antwortete der Kapitän, der, gefolgt von seinen Gefährten, jetzt die letzten Stufen erkletterte.

– Ich kann Ihnen nichts anbieten, jammerte der Jude. Ich bin nur ein armer Mann.

– Da fängt er wieder seine alte Litanei an! polterte Ben-Zouf heraus. Marsch, Elias, Platz machen!«

Dabei nahm die Ordonnanz Hakhabut am Kragen und schob ihn ohne Umstände zur Seite. Dann öffnete er die Thür zur Schiffstreppe.

Noch bevor sie eintraten, sagte Kapitän Servadac:

»Hört wohl, Hakhabut, wir kommen nicht, um Euch wider Willen etwas von Eurem Hab und Gut zu nehmen. Ich wiederhole hiermit, daß ich, wenn die Noth und das allgemeine Interesse es erfordern, nicht zaudern werde, es zu thun, das heißt, Eure Waare zum allgemeinen Besten zu expropriiren ... natürlich gegen Zahlung des europäischen Marktpreises.

– Des europäischen Marktpreises, brummte Isaak Hakhabut in den Bart. Nein, nach dem Marktpreise auf der Gallia, und den werde ich selbst bestimmen!«

Hector Servadac und seine Begleiter waren inzwischen nach der Cabine der Hansa hinabgestiegen. Diese bot nur einen sehr beschränkten Raum, da der größte Theil des Schiffsinnern für die Ladung reservirt zu sein schien. In einer Ecke erhob sich ein kleiner gußeiserner Ofen, in welchem sich zwei Stückchen Kohle bemühten, nicht allzu schnell zu verbrennen. Jenem gegenüber befand sich eine Art Matratzenrahmen, der als Bett diente. Den Hintergrund nahm ein Schrank mit wohlverschlossener Thür ein. Einige Schemel, ein Holztisch von zweifelhafter Sauberkeit und die unumgänglich nothwendigen Küchengeräthe vervollständigten die Ausstattung. Das Ganze bot, wie man sieht, blutwenig Comfort, war aber seines Besitzers vollkommen würdig.

[316] Ben-Zouf's erste Sorge nach dem Betreten der Cabine bestand darin, in den Ofen einige Stücke Kohle nachzuschütten, eine Vorsicht, welche die niedrige Temperatur des Raumes vollkommen rechtfertigte. Isaak Hakhabut, der lieber seine eigenen Knochen verbrannt hätte, wenn er solche zum Wechseln besessen, heulte und jammerte zwar über diese Vergeudung seines Brennmateriales, doch kümmerte sich Niemand um seine Einreden. Ben-Zouf faßte neben dem Ofen Posto und bemühte sich, den Brand bestens anzufachen. Die Gäste setzten sich, so gut es eben anging, und überließen es dem Kapitän Servadac, den Zweck ihres Hierseins auseinander zu setzen.

Isaak Hakhabut stand, seine hakenförmigen Hände fest ineinander geschlagen, in einer Ecke und glich fast einem armen Sünder, der sein Urtheil erwartet.

»Meister Isaak, begann der Kapitän Servadac, wir sind einfach hierher gekommen, Euch um eine Gefälligkeit zu ersuchen.

– Eine Gefälligkeit? ...

– Die das allgemeine Beste betrifft.

– Ich habe aber kein gemeinschaftliches Interesse ...

– Hört nur erst, Hakhabut, und jammert nicht vorher. Es handelt sich nicht darum, Euch das Fell über die Ohren zu ziehen.

– Von mir zu verlangen eine Gefälligkeit! Von mir, einem armen, beklagenswerthen Manne ... heulte der Jude.

– Es betrifft nämlich Folgendes!« fuhr Hector Servadac fort, als hätte er Hakhabut's Wehklagen gar nicht gehört.

Durch diese umständliche Einleitung setzte er sich der Gefahr aus, Isaak Hakhabut glauben zu machen, daß man ihm sein ganzes Eigenthum abnehmen wolle.

»Mit einem Worte, Meister Isaak, erklärte Kapitän Servadac, wir bedürfen eine Schnellwaage. Könnt Ihr uns eine Schnellwaage leihen?

– Eine Schnellwaage! rief der Jude, so, als hätte Jemand Tausende von Francs von ihm leihen wollen. Sie sagen eine Schnellwaage? ...

– Ja, eine Schnellwaage zum Wiegen! wiederholte Palmyrin Rosette, dem so viel Umstände die Geduld raubten.

– Besitzt Ihr denn keine Schnellwaage? fragte auch Lieutenant Prokop.

– Gewiß hat er eine! versicherte Ben-Zouf.

[317] – In der That ... ja ... ich glaube wenigstens ... antwortete Hakhabut stockend, um sich nach keiner Seite zu binden.

– Nun also, Meister Isaak, wollt Ihr die außerordentliche Gefälligkeit haben, uns diese Schnellwaage zu leihen?

– Zu leihen? Herr General-Gouverneur, Sie wollten sie von mir leihen ...

– Auf einen Tag, fiel der Professor ein, nur auf einen Tag, Jude. Ihr werdet Eure Schnellwaage auch wieder zurückerhalten.

– Das ist aber ein sehr empfindliches Instrument, mein lieber Herr, erwiderte Isaak Hakhabut. Kann doch zerspringen die Feder bei dieser großen Kälte! ...

– O, dieser erbärmliche Kerl! rief Palmyrin Rosette.

– Dann soll vielleicht auch gewogen werden etwas zu Schweres.

– Denkst Du, wir wollen einen Berg d'rauf wiegen, Ephraim? spottete Ben-Zouf.

– O, mehr als einen Berg! erklärte Palmyrin Rosette ernsthaft. Wir wollen die ganze Gallia wiegen!

– Erbarmen! Erbarmen!« winselte der Jude, dessen erheuchelte Klagen seinen eigentlichen Zweck deutlich genug verriethen.

Kapitän Servadac mußte von Neuem vermitteln.

»Meister Hakhabut, sagte er, wir brauchen die Waage, um höchstens ein Kilogramm damit zu wiegen.

– Ein ganzes Kilogramm? Herrgott Israels!

– Und auch dieses Gewicht wird sich in Folge der schwächeren Anziehungskraft der Gallia noch wesentlich vermindern. Ihr habt also für Eure Schnellwaage nichts zu fürchten.

– Ich glaub's, Herr General-Gouverneur, ich glaub's, antwortete der Jude, aber leihen ... eine Schnellwaage leihen! ...

– Nun, wenn Ihr darauf nicht eingeht, sagte da Graf Timascheff, wollt Ihr sie vielleicht verkaufen?

– Verkaufen? wendete der Jude auch gegen diesen Vorschlag ein, meine Waage verkaufen! Doch wenn ich sie verkauft hätte, womit sollte ich wiegen meine Waaren? Ich habe keine andere Waage! Ich besitze nur das eine arme, kleine, sehr empfindliche und sehr genaue Instrument, und das soll ich hergeben!«

[318] Ben-Zouf begriff es gar nicht, daß sein Kapitän den widerwärtigen Alten, der sich ihm so widerwillig zeigte, nicht gleich beim Schopfe nahm. Hector Servadac schien sich aber damit zu belustigen, an dem Juden alle Künste der Ueberredung zu versuchen.

»Nun also, Meister Isaak, sagte er, ohne im Geringsten heftig zu werden, ich sehe wohl, daß Ihr nicht zustimmen werdet, uns jene Waage zu leihen ...

– Ach, kann ich's denn, Herr General-Gouverneur?

– Noch sie zu verkaufen?

– Verkaufen? Niemals!

– Gut, wollt Ihr sie uns vermiethen?«

Isaak Hakhabut's Augen flammten auf wie glühende Kohlen.

»Würden Sie auch für jeden Schaden haften? fragte er.

– Ja.

– Und deponiren auch ein Unterpfand, welches im Falle der Beschädigung mir gehört?

– Ja wohl.

– Wie viel?

– Hundert Francs für ein Instrument, das zwanzig werth ist. Reicht das?

– Kaum ... Herr Gouverneur ... kaum, bedenken Sie, daß diese Schnellwaage die einzige ist in unserer neuen Welt. Doch, es sei, zahlen Sie diese hundert Francs in Gold?

– In blanken Goldstücken.

– Und Sie wollten mir abmiethen diese Waage, welche ich so nöthig brauche, abmiethen für einen Tag?

– Nur für einen Tag.

– Und der Miethpreis? ...

– Wir zahlen zwanzig Francs für den einen Tag, sagte Graf Timascheff. Paßt Euch das?

– Ach ... ich kann nicht hart sein! ... murmelte der Jude die Hände faltend. Man muß sich zu begnügen wissen.«

Der Handel war also, offenbar zur größten Befriedigung des Juden, abgeschlossen. Zwanzig Francs Miethgeld, hundert Francs Caution für Beschädigung, Alles in gutem französischen oder russischen Golde. Wahrlich, [319] Isaak Hakhabut hätte sein Recht der Erstgeburt nicht für ein Linsengericht hingegeben, die Linsen wären denn Perlen gewesen.

Nach einem verdächtig prüfenden Blicke ringsumher verließ der Jude die Cabine, um die Waage zu holen.

»Ein schrecklicher Mensch! sagte Graf Timascheff.

– Gewiß, antwortete Hector Servadac, ein Muster seiner Art.«

Gleich darauf trat Isaak Hakhabut wieder ein und brachte das verlangte Instrument, das er sorgfältig im Arme trug.

Es bestand aus einer Federwaage mit Haken zum Anhängen der zu wägenden Gegenstände. Eine über einem Gradbogen bewegliche Nadel zeigte das betreffende Gewicht an. Diese Angaben waren also, wie Palmyrin Rosette vorher erklärt hatte, unabhängig von der Schwerkraft, wie groß diese auch sein mochte. Eingetheilt für irdische Wägungen, mußte dies Instrument auf der Erde für jeden ein Kilo schweren Gegenstand auch tausend Gramm anzeigen. Wie viel würde es aber für denselben Gegenstand auf der Gallia markiren? Das wird der Leser später erfahren.

Hundertzwanzig Francs in Gold wurden dem Juden hingezählt, dessen Hände sich wie der Deckel einer Casette über dem kostbaren Metalle schlossen. Ben-Zouf erhielt die Schnellwaage ausgehändigt und die Besucher der Hansa schickten sich an, die Cabine zu verlassen.

Eben jetzt erinnerte sich aber der Professor, daß ihm zu seinen Operationen noch ein nothwendiges Hilfsmittel fehle. Eine Schnellwaage nützte ihm ja nichts, wenn er daran nicht ein genau gemessenes Stück aus dem die Gallia bildenden Metalle anhängen konnte, etwa einen Würfel von einem Decimeter Seitenlänge.

»Halt, das ist noch nicht Alles, Jude! sagte Palmyrin Rosette stehen bleibend. Du mußt uns noch etwas leihen ...«

Isaak Hakhabut zitterte.

»Ein Metermaß und ein Kilogrammgewicht.

– O, lieber Herr, antwortete der Jude, das ist nicht möglich, ich bedauere sehr, ich wäre Ihnen so gern gefällig gewesen!«


»Ihr seid im Besitz von Silbermünzen!« rief der Professor. (S. 322.)

Jetzt sagte Isaak Hakhabut zweimal die Wahrheit, daß er weder ein Metermaß noch Gewichtsstücke an Bord hatte, und daß er bedauerte, sie nicht zu besitzen. Er hätte damit noch ein herrliches »Geschäftchen« machen können.

[320] Palmyrin Rosette sah seine Gefährten höchst ärgerlich an, als wollte er sie für diesen Mangel verantwortlich machen. Er war dazu wohl sehr berechtigt, denn ohne den gewünschten Maßstab sah er nicht ein, wie ein befriedigendes Resultat erlangt werden solle.

»Ich muß doch wohl sehen, wie ich mir ohne Maß und Gewicht helfe!« murmelte er und rieb sich dabei hinter den Ohren.

[321] Schnell stieg er die Treppe wieder hinaus. Seine Begleiter folgten ihm. Noch hatten sie das Verdeck der Tartane nicht erreicht, als sich aus der Cabine der Klang von Silbermünzen hören ließ.

Er rührte von Isaak Hakhabut her, der sein Gold in einem der Schubkästen des Schrankes verschloß.

Sofort kehrte der Professor um und eilte die Treppe wieder hinab. Alle folgten ihm, ohne zu wissen, was Palmyrin Rosette beabsichtige.

»Ihr seid im Besitz von Silbermünzen! rief er den Juden an und packte ihn am Aermel seines alten Kaftans.

– Ich ... Silber! ... antwortete Isaak Hakhabut erbleichend, als stände er einem Räuber gegenüber.

– Gewiß ... Silbermünzen! fuhr der Professor in lebhafter Erregung fort. Sind das französische Münzen? Sind es Fünffrancsstücke?

– Ja ... nein ...« erwiderte der Jude, der seiner Worte nicht mehr mächtig war.

Der Professor hatte sich schon dem Kasten genähert, den Isaak Hakhabut vergeblich zu schließen suchte. Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop verstanden zwar den ganzen Vorgang nach keiner Seite, wenn sie innerlich auch natürlich für den Professor Partei nahmen, und ließen vorerst dem Wortwechsel seinen Lauf, ohne sich selbst dabei zu betheiligen.

»Diese französischen Münzen brauch' ich aber einmal! rief Palmyrin Rosette.

– Nie, niemals! rief seinerseits der Jude, der sich geberdete, als wolle man ihm die Eingeweide herausreißen.

– Ich brauche sie, sag' ich Dir, und ich werde sie zu bekommen wissen!

– Eher laß' ich mich umbringen!« heulte Isaak Hakhabut.

Kapitän Servadac hielt es jetzt doch für angezeigt, vermittelnd einzuschreiten.

»Lieber Professor, sagte er lächelnd, erlauben Sie mir, diese Angelegenheit zu ordnen, ebenso wie die erstere.

– Ach, Herr Gouverneur, rief Isaak Hakhabut ganz bleich und entstellt, schützen Sie mich, schützen Sie mein Hab und Gut.

– Ruhe, Meister Isaak!« antwortete Kapitän Servadac.

[322] Er wandte sich hierauf an Palmyrin Rosette.

»Sie bedürfen, fragte er, einer gewissen Anzahl von Fünffrancsstücken zu Ihrer Arbeit?

– Ja, erwiderte der Professor, ich brauche deren vierzig.

– Zweihundert Francs, murmelte der Jude.

– Außerdem, fügte der Professor hinzu, zehn Zweifrancsstücke und zwanzig Fünfzigcentimesstücke.

– Noch einmal dreißig Francs! ließ sich eine klägliche Stimme vernehmen.

– Zusammen also zweihundertdreißig Francs? wiederholte Hector Servadac.

– Richtig, zweihundertdreißig Francs, bestätigte Palmyrin Rosette.

– Gut!« sagte Kapitän Servadac.

Er richtete das Wort nun an Graf Timascheff.

»Herr Graf, sagte er, haben Sie noch eine genügende Summe bei sich, um dem Juden für die Zwangsanleihe, die ich ihm auferlegen will, Garantie zu bieten?

– Meine Börse steht zu Ihrer Verfügung, Kapitän, antwortete Graf Timascheff, freilich habe ich augenblicklich nur noch Papierrubel bei mir ...

– Kein Papier! Kein Papier! wehrte sich Isaak Hakhabut. Papiergeld steht auf der Gallia nicht in Cours.

– Steht das Silber vielleicht besser? erwiderte Graf Timascheff sehr kühl und gelassen.

– Meister Isaak, sagte da Kapitän Servadac etwas ernster, Eure Jeremiaden haben mir bis jetzt die Laune noch nicht verdorben. Stellt meine Geduld aber nicht auf eine zu lange Probe. Werdet Ihr uns nun gern oder ungern die zweihundertdreißig Francs in Silber aushändigen?

– Diebe! Diebe!« schrie der Jude.

Er ward bei diesem Ruf aber sehr unsanft durch Ben-Zouf unterbrochen, dessen kräftige Hand ihm die Kehle zuschnürte.

»Laß ihn, Ben-Zouf, sagte Kapitän Servadac, laß ihn los. Er wird sich schon bequemen, uns zu willfahren.

– Niemals ... Niemals! ...

– Wie viel Interessen verlangt Ihr, Meister Isaak, für jenes Darlehen von zweihundertdreißig Francs?

[323] – Ein Darlehen! ... Es handelt sich nur um ein Darlehen! ... rief Isaak Hakhabut, dessen Augen plötzlich ganz anders zu leuchten begannen.

– Natürlich um ein einfaches Darlehensgeschäft ... was verlangt Ihr an Interessen?

– O, Herr General-Gouverneur, erwiderte der Jude süßlich, das Silber ist sehr schwer zu gewinnen, und vorzüglich ist es auf der Gallia heutzutage sehr selten ...

– Zum Kuckuck mit diesen unnützen Einreden! ... Wie viel beansprucht Ihr? unterbrach ihn Hector Servadac.

– Nun, Herr Gouverneur, antwortete Isaak Hakhabut, es scheint mir, daß zehn Francs Interessen ...

– Für den Tag?

– Ja freilich ... per Tag! ...«

Der Wucherer hatte seinen Satz noch nicht vollendet, als Graf Timascheff ein Päckchen Rubelscheine auf den Tisch warf. Der Jude ergriff sie hastig und begann die Billets mit großer Fingerfertigkeit zu zählen. Obwohl dieses Pfand nur aus Papier bestand, so schien es doch auch dem habgierigsten der Kinder Judä zu genügen.

Dem Professor wurden nun die verlangten französischen Münzsorten ausgeliefert und er steckte diese mit sichtbarer Befriedigung in die Tasche.

Der Jude dagegen – nun, der hatte sein Kapital einfach zu mehr als 1800 Procent Zinsen ausgeliehen. Wenn er in dieser Weise weitere Geschäfte machte, so mußte er auf der Gallia noch schneller ein großes Vermögen zusammenscharren, als es auf der Erde je möglich war.

Als Kapitän Servadac und seine Begleiter bald nachher die Tartane verlassen hatten, erklärte ihnen Palmyrin Rosette:

»Meine Herren, eine Summe von zweihundertdreißig Francs ist es nicht, die ich hier mitgenommen habe, sondern nur das einzige Hilfsmittel, um ein Kilogramm und ein Metermaß herzustellen.«

[324]
8. Capitel
Achtes Capitel.
In welchem der Professor und seine Schüler sich nur mit Sextillionen, Quintillionen und anderen Mehrheiten von Milliarden angeben.

Eine Viertelstunde später fanden sich die Besucher der Hansa in dem allgemeinen Wohnraum vereinigt, wo die letzten Worte des Professors ihre Erklärung finden sollten.

Auf Anordnung des Letzteren hatte Ben-Zouf verschiedene auf dem Tische stehende Gegenstände weggeräumt und hinlänglichen freien Platz geschaffen. Die von dem Juden Hakhabut entliehenen Silberstücke wurden nun auf den Tisch gelegt, und zwar sortirt nach ihrem Werthe, zwei Säulchen von je zwanzig Fünffrancsstücken, ein solches von zehn Zweifrancsstücken und noch eines von zwanzig Fünfzigcentimesstücken.

»Meine Herren, begann Palmyrin Rosette mit sichtlicher Selbstzufriedenheit, da Sie im Moment des Stoßes die Vorsicht außer Acht gelassen haben, ein Metermaß und ein Kilogrammgewicht von der alten Erde zu retten, mußte ich auf Mittel denken, diese beiden Objecte, welche mir zur Berechnung der Anziehung, Masse und Dichtigkeit meines Kometen unentbehrlich sind, auf andere Weise zu ersetzen.«

Diese Einleitung war sowohl etwas lang, als auch der Art, wie sie ein Redner meist vorauszuschicken pflegt, der seiner Sache und des beabsichtigten Eindruckes auf die Zuhörer sicher ist.

Weder Kapitän Servadac, noch Graf Timascheff oder Lieutenant Prokop erhoben Einspruch gegen diesen einzigen Vorwurf, den Palmyrin Rosette ihnen machte. Sie kannten ja seine beliebte Art und Weise.

»Ich habe mich, meine Herren, nahm der Professor wieder das Wort, zuvor überzeugt, daß diese verschiedenen Münzen ziemlich neu und weder durch den Gebrauch abgenutzt, noch etwa von dem Juden beschnitten waren. Sie befinden sich in der That in dem erwünschten Zustande, welcher meinen Operationen die nothwendige Genauigkeit sichert. Zunächst denke ich mich ihrer also zu bedienen, um sehr zuverlässig die Länge des irdischen Meters zu erhalten.«

[325] Hector Servadac und seine Gefährten durchschauten die Absicht des Professors schon, ehe er sie ausgesprochen hatte. Ben-Zouf freilich glotzte den Professor an, als sähe er einem Zauberkünstler zu, der in irgend einer Bude des Montmartre seine Künste produciren wollte.

Der Professor begründete aber seine erste Operation, zu welcher ihm der Gedanke urplötzlich kam, als er die Silbermünzen in Isaak Hakhabut's Geldkasten klingen hörte, auf Folgendes:

Die französischen Münzen sind streng nach dem Decimalsysteme ausgeprägt, nämlich 1. ein, zwei, fünf und zehn Centimes in Kupfer; 2. zwanzig und fünfzig Centimes, ein, zwei und fünf Francs in Silber; 3. fünf, zehn' zwanzig, fünfzig und hundert Francs in Gold.

Ueber dem Franc existiren also alle in die Decimalrechnung passenden Mehrheiten eines solchen; unter demselben alle entsprechenden Theile. Der Franc bildet den Maßstab.

Ueberdies – und hierauf fußte der Professor zunächst – sind diese verschiedenen Geldstücke genau kalibriri, und ihr durch das Gesetz bestimmt vorgeschriebener Durchmesser wird bei der Ausmünzung strengstens eingehalten. Um nur von den Stücken zu fünf und zwei Francs und von denen zu fünfzig Centimes zu sprechen, so zeigen die ersten einen Durchmesser von siebenunddreißig Millimetern, die zweiten einen solchen von siebenundzwanzig und die letzten von achtzehn Millimetern.

War es also nicht möglich, durch Nebeneinanderlegen einer gewissen Anzahl Stücke von verschiedenem Werthe ein genau zu bestimmendes Längenmaß zu erhalten, das mit den tausend Millimetern des irdischen Meters übereinstimmte?

Gewiß; der Professor wußte das recht gut und nahm deshalb von den mitgebrachten vierzig Fünffrancsstücken zehn, ferner die zehn Zweifrancsstücke, und die zwanzig Münzen zu fünfzig Centimes.

Er entwarf auf einem Blättchen Papier schnell folgende Berechnung, die er seinen Zuhörern zeigte:


10Stückzu5Francsà0m,037=0m,370

10Stückzu2Francsà0m,027=0m,270

20Stückzu50Cent.à0m,018=0m,360

Summa1m,000.


[326] »Sehr schön, lieber Professor, sagte Hector Servadac, wir hätten diese vierzig Geldstücke also nur so dicht an einander zu legen, daß eine gerade Linie alle Mittelpunkte derselben schneidet, um genau die Länge eines irdischen Meters zu erhalten.

– Alle Wetter, rief Ben-Zouf es ist doch hübsch, so gelehrt zu sein!

– Das nennt er schon gelehrt!« meinte Palmyrin Rosette achselzuckend.

Die zehn Fünffrancsstücke wurden also auf der Tischplatte so neben einander gelegt, daß eine gerade Linie ihre Mittelpunkte verband, hierauf die zehn Zweifrancsstücke und endlich die zwanzig Fünfzigcentimesstücke. Durch Einschnitte in den Tisch bezeichnete man sodann die beiden Enden dieser Linie.

»Hier, meine Herren, erklärte der Professor, haben Sie die genaue Größe des irdischen Meters.«

Bei dem Verfahren beobachtete man die peinlichste Genauigkeit. Mittels eines Zirkel wurde dieser Meter dann in zehn gleiche Theile getheilt und dadurch die Länge des Decimeters bestimmt. Ein nach diesem Maße zugeschnittenes Holzstäbchen erhielt der Mechaniker der Dobryna.

Letzterer, ein sehr geschickter Mann, hatte sich ein hinreichendes Stück der unbekannten Masse verschafft, welche den Vulkan bildete, und brauchte dieses blos rechtwinklig, jede Seite in der Länge eines Decimeters zuzuschneiden, um einen tadellosen Würfel zu erhalten, wie ihn Palmyrin Rosette gewünscht hatte.

Ein Metermaß war also geschaffen. Jetzt handelte es sich noch um ein Kilogrammgewicht.

Das erschien noch leichter ausführbar.

Die französischen Münzen haben nämlich nicht nur eine streng vorgeschriebene Größe, sondern auch ein sehr genau berechnetes Gewicht.

Die Fünffrancsstücke z.B. wiegen genau fünfundzwanzig Gramm, oder fünfmal das Gewicht eines Franc, welches fünf Gramm beträgt. 1

[327] Durch Zusammenhäufung von vierzig Fünffrancsstücken erhielt man also das Gewicht eines Kilogrammes.

Kapitän Servadac und seine Freunde sahen das ohne nähere Darlegung ein.


»Hier, meine Herren, haben Sie die Größe des irdischen Meters. (S. 327.)

»Ei, ei, sagte Ben-Zouf, ich merke wohl, daß es zu alledem nicht ausreicht, gelehrt zu sein, man muß auch ...

[328] – Nun, was denn? fragte Hector Servadac.

– Man muß auch ziemlich reich sein!«


Der Zeiger schwankte kurze Zeit hin und her. (S. 331)

Alle lachten herzlich über diese Bemerkung des wackeren Ben-Zouf.

Einige Stunden später ward der sehr sorgfältig bearbeitete Würfel fertig und von dem Mechaniker dem Professor ausgehändigt.

Palmyrin Rosette besaß nun ein Kilogrammgewicht, einen Würfel von einem Decimeter Seitenlänge und dazu eine Schnellwaage, befand sich also in [329] der Lage, die Anziehungskraft, Masse und Dichtigkeit seines Kometen berechnen zu können.

»Meine Herren, sagte er, ich muß Ihnen hierbei, im Fall, daß Sie es nicht kennten – oder vielmehr, daß es Ihnen wieder entfallen wäre – Newton's berühmtes Gesetz in's Gedächtniß zurückrufen, nach welchem die Anziehungskraft im geraden Verhältnisse zur Masse und im umgekehrten Verhältnisse des Quadrats der Entfernung steht. Ich ersuche Sie, diesen Lehrsatz immer im Auge zu behalten.«

Wie eifrig er docirte, der gelehrte Professor! Aber welch' folgsame Schüler hatte er auch vor sich!

»Hier sehen Sie, fuhr er fort, eine Anzahl von vierzig Fünffrancsstücken in diesem Beutelchen vereinigt. Dieselben würden auf der Erde genau ein Kilogramm wiegen. Befänden wir uns also auf genanntem Planeten und ich hinge das Säckchen an den Haken der Schnellwaage, so würde deren Zeiger genau auf 1 Kilogramm weisen. Ist das Ihnen klar?«

Bei diesen Worten heftete Palmyrin Rosette die Augen immer auf Ben-Zouf. Er ahmte hiermit Arago nach, der bei seinen Vorträgen stets Denjenigen unter den Zuhörern anzusehen pflegte, den er für den mindest Begabten hielt; schien es ihm dann, als habe ihn dieser Zuhörer verstanden, so hielt er sich von der Klarheit seiner Demonstration überzeugt. 2

In unserem Falle war nun Ben-Zouf zwar nicht gerade unbegabt zu nennen, dafür aber der Unwissendste, und das kam ja auf Eines hinaus.

Da Ben-Zouf von der Richtigkeit seiner Worte überzeugt schien, so setzte der Professor seinen Vortrag weiter fort.

»Diese vierzig Geldstücke, meine Herren, werde ich jetzt an dem Haken der Schnellwaage befestigen, und da ich auf der Gallia operire, werden wir erfahren, wieviel sie auf der Gallia wiegen.«

[330] Das Päckchen ward angehängt, der Zeiger schwankte kurze Zeit hin und her und stellte sich auf dem Kreisbogen auf 133 Gramm ein.

»Nun also, erklärte Palmyrin Rosette, was auf der Erde ein Kilogramm wiegt, wiegt auf der Gallia nur 133 Gramm, demnach etwa siebenmal weniger. Ist das klar?«

Ben-Zouf machte ein Zeichen der Zustimmung und der Professor docirte höchst ernsthaft weiter.

»Jetzt werden Sie auch begreifen, daß ich dieses Resultat wohl mit einer Federwaage, keineswegs aber mit einer gewöhnlichen Balkenwaage erhalten konnte. Die beiden Schalen, auf welche ich einerseits das Säckchen mit den Münzen und andererseits ein Kilogrammgewicht gelegt hätte, wären eben im Gleichgewicht geblieben, da das Gewicht beider vollkommen gleichmäßig vermindert sein mußte. Verstanden?

– Sogar von mir, meldete sich Ben-Zouf.

– Wenn sich hier nun das Gewicht eines Körpers siebenmal geringer herausstellt als auf der Erde, so ist auch daraus zu schließen, daß die Intensität der Schwerkraft eine siebenmal geringere sein wird.

– Ganz richtig! bestätigte Kapitän Servadac, über diesen Punkt wären wir also einig. Nun lassen Sie uns, lieber Professor, zur Bestimmung der Masse übergehen.

– Nein, erst zu der der Dichtigkeit, entgegnete Palmyrin Rosette.

– Da wir das Volumen der Gallia schon kennen, sagte Lieutenant Prokop, so ergiebt sich nach Bestimmung ihrer Dichtigkeit die Masse derselben allerdings fast von selbst.«

Die Bemerkung des Lieutenants war ganz richtig; es erübrigte nur noch die Berechnung der Dichtigkeit der Gallia.

Der Professor schickte sich dazu an. Er gebrauchte dazu den aus dem Bergmateriale geschnittenen Block, welcher genau einen Würfel von einem Decimeter Seite darstellte.

»Dieser Block, meine Herren, sagte er, besteht aus der bisher unbekannten Substanz, welche Sie bei Gelegenheit ihrer Rundfahrt überall an der Oberfläche unserer Gallia angetroffen haben. Es scheint wirklich, als sei mein Komet daraus einzig und allein gebildet. Das Uferland, der Vulkan, die inneren Terrains im Norden wie im Süden, bestehen durchweg aus diesem [331] Mineral, für welches Sie bei Ihrer Unkenntniß in der Geologie nicht einmal den Namen fanden.

– Leider; dagegen erführen wir so gern etwas über die Natur dieser Substanz, sagte Hector Servadac.

– Ich glaube zu dem Schlusse berechtigt zu sein, fuhr Palmyrin Rosette fort, daß die Gallia ganz allein aus diesem Stoffe besteht. Hier ist ein Kubik-Decimeter dieses Stoffes. Was würde derselbe auf der Erde wiegen? Er müßte genau siebenmal so viel wiegen als auf der Gallia, da, ich wiederhole es, die Anziehungskraft auf meinem Kometen gegenüber der auf der Erde um das Siebenfache vermindert ist. Haben Sie mich verstanden, Sie, der Sie mich mit weit offenen Augen ansehen.«

Die letzten Worte galten Ben-Zouf.

»Nein, gestand dieser offenherzig.

– Nun, ich mag meine Zeit nicht damit verlieren, Ihnen das besonders verständlich zu machen. Jene Herren sind sich über meine Worte klar, das genügt mir.

– Brummbär! murmelte Ben-Zouf.

– Wiegen wir also diesen Würfel, sagte der Professor. Es ist dasselbe, als hinge ich den Kometen selbst an den Waagenhaken.«

Das Stück Mineral ward an der Schnellwaage befestigt und der Zeiger stellte sich auf dem Gradbogen bei 1 Kilogramm 330 Gramm ein.

»Ein Kilo dreihundertdreißig Gramm multiplicirt mit Sieben, rief Palmyrin Rosette, ergiebt nahezu zehn Kilo. Da die Dichtigkeit der Erde etwa gleich Fünf ist, so erreicht die der Gallia die doppelte Ziffer. Ohne diesen Umstand, dieses hohe specifische Gewicht, würde die Schwerkraft auf meinem Kometen statt des siebenten Theiles der Anziehungskraft auf der Erde nur den fünfzehnten Theil derselben betragen.«

Man bemerkte leicht, daß der Professor diese Worte mit einem gewissen Stolze aussprach. Wenn die Erde seinen Kometen an Umfang übertraf, so übertraf dieser jene an Dichtigkeit, und er wäre auf einen Tausch zwischen beiden Weltkörpern sicher nicht eingegangen.

Nachdem jetzt also der Durchmesser, der Umfang, die Oberfläche, das Volumen, die Dichtigkeit der Gallia und die Intensität der Schwerkraft an ihrer Oberfläche festgestellt waren, blieb nur noch die Berechnung ihrer Masse, mit anderen Worten ihres eigentlichen Gewichtes, auszuführen übrig.

[332] Diese Rechnung war bald vollendet. Da ein Kubik-Decimeter des Gallia-Materiales bei der Wägung auf der Erde zehn Kilogramm gewogen hätte, so mußte das Gesammtgewicht der Gallia zehnmal so viel Kilogramm erreichen, als sie Kubik-Decimeter Masse enthielt. Da dieses Volumen, wie wir wissen, 211,433,460 Kubik-Kilometer betrug, so drückte sich die Anzahl der Kubik-Decimeter durch eine Zahl von einundzwanzig Ziffern aus; diese erreichte nämlich (wir schreiben die Zahl der Uebersichtlichkeit wegen hier nicht ausschließlich mit Ziffern) 211 Quintillionen 433 Quatrillionen und 460 Trillionen. Diese Zahl repräsentirte also in irdischen Kilogrammen die Masse oder das Eigengewicht der Gallia.

Es blieb letzteres demnach unter jenem der Erde um 4 Sextillionen 788 Quintillionen 570 Quatrillionen 540 Trillionen Kilogramm zurück.

»Wie viel wiegt denn eigentlich die Erde? fragte Ben-Zouf, dem diese Milliarden von Millionen den Kopf etwas verdrehten.

– Nun, weißt Du denn, was eine Milliarde bedeutet? fragte ihn Kapitän Servadac.

– So ungefähr, Herr Kapitän.

– So wisse denn, daß seit der Geburt Jesu Christi bis heute noch nicht eine Milliarde Minuten verstrichen ist, 3 und hättest Du seit jener Zeit eine Milliarde Francs Schulden und in jeder Minute einen Franc davon abgezahlt, so wärst Du heute noch nicht mit der Zahlung fertig!

– Einen Franc jede Minute! rief Ben-Zouf. Da hätte mich schon die erste Viertelstunde ruinirt! – Aber was wiegt denn eigentlich die Erde?

– Nun, 5175 Sextillionen Kilogramm, belehrte ihn Lieutenant Prokop, eine Zahl von fünfundzwanzig Ziffern.

– Und der Mond?

– Der Mond wiegt 72 Sextillionen Kilo.

– Mehr nicht? antwortete Ben-Zouf. Aber die Sonne? ...

– Wiegt 2 Nonillionen, antwortete der Professor, eine Zahl von einunddreißig Ziffern.

[333] – Zwei Nonillionen! rief Ben-Zouf, wahrscheinlich genau auf das Gramm?«

Palmyrin Rosette sah Ben-Zouf verächtlich über die Achsel an.

»Also wiegt jeder Gegenstand, fiel Hector Servadac ein, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, an der Oberfläche der Gallia siebenmal weniger als auf der Erde.

– Gewiß, erwiderte der Professor, unsere Muskelkraft ist hier also versiebenfacht, und wer auf der Erde hundert Kilo zu tragen vermochte, würde es hier auf siebenhundert bringen.

– Aha, deshalb springen wir hier auch siebenmal höher, bemerkte Ben-Zouf.

– Gans richtig, antwortete Lieutenant Prokop, und wäre die Masse der Gallia noch geringer, Ben-Zouf, so würdet Ihr noch höher in die Luft schnellen.

– Sogar über den ganzen Montmartre hinweg! setzte der Professor mit den Augen blinzelnd hinzu, um Ben-Zouf zu ärgern.

– Wie groß ist die Intensität der Schwerkraft aber auf den anderen Himmelskörpern? fragte Hector Servadac.

– Das haben Sie also glücklich vergessen! rief der Professor. Sie waren freilich immer nur ein ziemlich schlechter Schüler.

– Das muß ich zur eigenen Schande gestehen, antwortete Kapitän Servadac.

– Nun, so hören Sie. Die Erde gleich 1 gesetzt, so beträgt die Anziehung auf dem Monde 0,16; auf dem Jupiter 2,45; auf dem Mars 0,50; auf dem Merkur 1,15; auf der Venus 0,92, d.i. fast ebenso viel als auf der Erde; auf der Sonne 28; auf letzterer würde 1 irdisches Kilogramm also 28 Kilo schwer sein!

– Ferner, bemerkte Lieutenant Prokop dazu, würde ein Mensch mit einem dem unsrigen entsprechenden Körperbaue sich nach einem Falle nur schwer wieder aufrichten können, und eine Kanonenkugel könnte nur einige Dutzend Meter weit fliegen.

– Da wär' ja für feige Memmen ein herrliches Schlachtfeld, sagte Ben-Zouf.

– O nein, versetzte Kapitän Servadac, denn sie wären dort zu schwer, um ausreißen zu können.

[334] – Ei, plauderte Ben-Zouf weiter, da wir noch stärker wären und noch höher springen könnten so bedauere ich nur, daß die Gallia einst nicht noch etwas kleiner ausfiel, als sie es wirklich ist. Freilich hätte das seine Schwierigkeiten gehabt!«

Dieser Wunsch mußte nothwendig die Eigenliebe Palmyrin Rosette's, des Eigenthümers besagter Gallia, kränken und ihn zu einer tadelnden Gegenbemerkung herausfordern.

»Da hören Sie nur, rief er, ist der Kopf dieses Ignoranten nicht so schon leicht genug? Er mag sich nur in Acht nehmen, daß er ihm nicht einmal durch einen Windstoß entführt wird.

– Schon gut, schon gut, erwiderte Ben-Zouf, dann halte ich ihn eben mit beiden Händen fest.«

Palmyrin Rosette sah wohl ein, daß er dem zungenfertigen Ben-Zouf gegenüber doch nicht das letzte Wort behalten werde und wollte sich schon entfernen, als ihn Kapitän Servadac durch eine Handbewegung zurückhielt.

»Verzeihung, lieber Professor, sagte er, noch eine Frage. Ist Ihnen nicht bekannt, aus welcher Substanz unsere Gallia eigentlich besteht?

– Vielleicht doch, antwortete Palmyrin Rosette. Die Natur dieser Substanz ... ihre Dichtigkeit von 10... ich möchte fast behaupten ... Ah, das wäre etwas, den Ben-Zouf gründlich zu beschämen. Er wag' es nur noch einmal, seinen Maulwurfshaufen mit meinem Kometen vergleichen zu wollen!

– Was würden Sie zu behaupten wagen? fragte Kapitän Servadac.


Diese Substanz ist nichts Anderes als eine Verbindung von Tellur und Gold. (S. 335.)

– Daß diese Substanz nichts Anderes ist, fuhr der Professor unter scharfer Betonung jeder Silbe fort, als eine Verbindung von Tellur ...

– Puh, von Tellur ... rief Ben-Zouf.

– Von Tellur und Gold, ein Körper, der sich (z.B. im Schrifterz) auf der Erde nicht allzu selten findet, und da in dieser Verbindung siebzig Procent Tellur enthalten sind, so schätze ich ihren Goldgehalt auf dreißig Procent.

– Dreißig Procent! wiederholte Hector Servadac verwundert.

– Es ergäbe das, wenn man die specifischen Gewichte beider Körper, welche im Mittel zusammen dann Zehn ausmachen, in Anschlag bringt, genau die Zahl, welche die Dichtigkeit der Gallia repräsentirt.

– Ein Komet von Gold! rief Kapitän Servadac.

[335] – Der berühmte Maupertuis hielt das für leicht möglich, und die Gallia bestätigt seine Annahme.

– Wenn die Gallia aber, mischte sich Graf Timascheff in das Gespräch, einst auf die Erde zurückfällt, so wird sie alle bestehenden Münzverhältnisse plötzlich umstoßen, indem thatsächlich nur neunundzwanzig Milliarden und vierhundert Millionen (Francs) Gold in Umlauf sind.

[336] – Gewiß, antwortete Palmyrin Rosette, und da der Block von Tellurgold, welcher uns trägt, nach irdischem Gewichte 211 Quintillionen 433 Quatrillionen 460 Trillionen Kilogramm wiegt, so bringt er etwa 72 Quintillionen Kilogramm Gold nach der Erde. Da ferner ein Kilogramm Gold dreitausendfünfhundert Francs ergiebt, so entspricht das Ganze einer Summe von 246 Sextillionen Francs – eine Zahl von vierundzwanzig Ziffern.


Wie schön waren diese Gallia-Nächte! (S. 339.)

[337] – Sobald das aber eintritt, setzte Hector Servadac hinzu, wird der Preis des Goldes auf Null sinken, und es wird jenes mehr als jemals die Bezeichnung eines ›nutzlosen Metalles‹ verdienen.«

Die letzten Worte hatte der Professor nicht mehr gehört. Majestätisch verließ er nach seiner letzten Antwort den Wohnraum und begab sich nach seinem Observatorium.

»Zu was in aller Welt aber, fragte Ben-Zouf, nützen nur solche Berechnungen, die der gelehrte Bärenbeißer wie Taschenspieler-Kunststückchen zum Besten giebt?

– Häufig zu gar nichts, antwortete Kapitän Servadac, aber gerade das verleiht ihnen einen besonderen Reiz.«

Fußnoten

1 Gewichte der verschiedenen Münzen Frankreichs:

Gold: 100 Frcs. wiegen 32,25 Gr.; 50 Frcs. = 16,12 Gr.; 20 Frcs. = 6,45 Gr.; 10 Frcs. = 3,22 Gr.; 5 Frcs. = 1,61 Gr.

Silber: 5 Frcs. wiegen 25 Gr.; 2 Frcs. = 10 Gr.; 1 Frc. = 5 Gr.; 50 Cent. = 2,5 Gr.

Kupfer: 0,10 Frc. wiegt 10 Gr.; 0,05 Frcs. = 5 Gr.: 0,02 Frcs. = 2 Gr.; 0,01 Frc. = 1 Gr.

2 Hierzu folgendes Erlebniß, welches der berühmte Astronom gern erzählte.

Eines Tages trat in einen Salon, gerade als er von dieser seiner Gewohnheit gesprochen hatte, ein junger Mann ein, den er nicht kannte, der ihn aber doch recht bemerkbar begrüßte.

»Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen? fragte er.

– O, Herr Arago, Sie sollten mich wohl kennen, da ich Ihre Vorträge sehr fleißig besuche und Sie mich dabei ununterbrochen anzusehen belieben!«

3 Bis Ende des Jahres 1876 zählt man vom Anfang unserer Zeitrechnung an genau 986,679,360 Minuten; es fehlen demnach noch circa 13 1/3 Millionen Minuten, d.h. die erste Milliarde wird erst bald nach Anfang des nächsten Jahrhunderts erfüllt werden.

9. Capitel
Neuntes Capitel.
In dem einzig und allein vom Jupiter, dem großen Störenfried der Kometen, die Rede ist.

Palmyrin Rosette bemühte sich in der That nur im Interesse des abstracten Wissens. Er kannte die Ephemeriden seines Kometen, seine Bahn durch den interplanetarischen Weltraum, wie die Dauer seines Umlaufes um die Sonne. Das Uebrige, wie Masse, Dichtigkeit, Anziehungskraft und selbst der Metallwerth der Gallia, konnte nur ihn allein interessiren, nicht aber seine Gefährten, welche nur den Wunsch hegten, der Erde an der bezeichneten Stelle ihrer Bahn und zur berechneten Zeit wieder zu begegnen.

Man überließ also den Professor seinen rein wissenschaftlichen Arbeiten.

Der folgende Tag war der 1. August oder, um uns der Ausdrucksweise Palmyrin Rosette's zu bedienen, der 63. Gallia-April. Während dieses Monats mußte sich der Komet, indem er 9,000,000 Meilen in seiner Bahn zurücklegte, bis auf 118,200,000 Meilen von der Sonne entfernen. Er mußte noch 48,600,000 Meilen zurücklegen, um am 15. Januar sein Aphel zu erreichen. Von diesem Punkte aus begann er sich der Sonne wieder zu nähern.

[338] Dabei eilte die Gallia aber durch eine Welt von Wundern, die noch kein menschliches Auge so in der Nähe geschaut hatte.

Gewiß, der Professor that recht daran, sein Observatorium so gut wie gar nicht zu verlassen. Noch niemals ergötzte einen Astronomen – und ein Astronom ist mehr als ein Mensch, denn er lebt außerhalb der Erdenwelt – eine solche Augenweide. Wie schön waren diese Gallia-Nächte! Kein Windhauch, keine Wolke trübte deren Heiterkeit. Offen lag das große Buch des Firmamentes und leicht war seine Flammenschrift zu lesen.

Die glanzvolle Welt, der die Gallia zustrebte, war die Welt des Jupiter, des größten Planeten, den die Sonne im Kreise ihrer Anziehung gefesselt hält. Sieben Monate verflossen schon seit dem Zusammenstoße der Erde mit dem Kometen, und dieser eilte schnellen Laufes auf den prächtigen Planeten zu, der vor ihm schwebte. Heute am 1. August trennte die beiden Weltkörper nur eine Entfernung von 36 1/2 Millionen Meilen und bis zum 1. November mußten sie sich einander noch immer mehr nähern.

Lag in diesem Umstande wohl eine drohende Gefahr? Riskirte die Gallia nicht allzuviel, wenn sie so nahe dem Jupiter schwebte? Konnte die mächtige Anziehungskraft des Planeten, dessen Masse die ihrige so ungeheuer übertraf, nicht einen verderblichen Einfluß auf den schwachen Weltkörper äußern? Bei der Berechnung der Umlaufszeit der Gallia hatte der Professor sicherlich nicht nur die von dem Jupiter, sondern auch alle vom Saturn und Mars zu erwartenden Störungen in Betracht gezogen. Wenn er sich aber über die Größe derselben täuschte, wenn sein Komet eine stärkere Verzögerung erlitt, als er voraussetzte, was dann? Wenn etwa gar der schreckliche Jupiter, der ewige Verführer der Kometen ...

Kurz, wenn sich die Berechnungen des Astronomen nicht bewahrheiteten, so drohte der Gallia, nach Lieutenant Prokop's Auseinandersetzung, eine vierfache Gefahr:


1. Entweder stürzte die vom Jupiter unwiderstehlich angezogene Gallia auf diesen Planeten und ging dabei zu Grunde.

2. Oder sie wurde nur in dessen Attractionskreise festgebannt und dadurch zum Satelliten, vielleicht gar zu einem solchen zweiter Ordnung.

3. Oder sie schlug in Folge der Ableitung von ihrer bisherigen Bahn einen neuen Weg ein, um nie wieder zur Ekliptik zurückzukehren.

[339] 4. Oder endlich, sie traf, selbst wenn ihr Lauf nur um ein wenig verzögert ward, zu spät bei der Ekliptik ein, nachdem die Erde jenen Punkt schon passirt hatte.


Es ist einleuchtend, daß die Gallia-Bewohner bei dem Eintritte einer jeden dieser Möglichkeiten alle Aussichten verloren, jemals die Erdkugel wieder zu betreten.

Wir bemerken hier auch daß Palmyrin Rosette freilich von jenen vier Eventualitäten für sich nur zwei fürchtete. Ihm, dem abenteuerlustigen Astronomen, konnte es nicht genehm sein, wenn die Gallia etwa in das Verhältniß eines Mondes oder gar eines Nebenmondes der Jupiterwelt übertrat; wenn sie dagegen das Zusammentreffen mit der Erde verfehlte und selbstständig um die Sonne weiter gravitirte oder selbst durch den leeren Weltraum etwa auf die Nebelmassen der Milchstraße, zu deren System vielleicht alle sichtbaren Fixsterne gehören, zueilte, das wäre so nach seinem Geschmack gewesen.

Seine Begleiter mochte wohl der unwiderstehliche Wunsch beseelen, zurückzugelangen nach der schönen Erde, wo sie Angehörige und Freunde hinterlassen hatten; das war ja erklärlich; Palmyrin Rosette dagegen besaß keine Familie mehr und auch keine Freunde, da es ihm stets an Zeit mangelte, sich solche zu erwerben. Wie hätte ihm das auch bei dem Charakter, den wir an ihm kennen, je gelingen können? Da er sich nun einmal in der ganz ausnahmsweisen Lage befand, auf einem neuen Gestirn durch den Himmelsraum zu fliegen, so hätte er auch Alles darum gegeben, jenes nie wieder zu verlassen.

So verfloß denn ein Monat auf der einen Seite unter den Befürchtungen der Gallia-Bewohner, auf der anderen unter den Hoffnungen Palmyrin Rosette's. Am 1. September betrug die Entfernung zwischen der Gallia und dem Jupiter nur noch 22 3/4 Millionen Meilen, war also etwa gleich groß wie die zwischen Erde und Sonne. Am 15. schrumpfte sie schon auf 151/2 Millionen Meilen zusammen. Der Planet nahm dabei sichtlich an Größe zu und die Gallia schien nach demselben hin angezogen zu werden, so als hätte sich ihre elliptische Bahn unter dem Einflusse des Jupiter in eine geradlinige verwandelt.

In der That, es ist ein ungeheurer Planet, der hier den Lauf der Gallia zu stören drohte. Ein wirklich gefährlicher Stein des Anstoßes.

[340] Man weiß, seit Newton, daß die gegenseitige Anziehung der Körper im geraden Verhältnisse ihrer Massen und im umgekehrten des Quadrates der Entfernung steht. Die Masse des Jupiter aber ist eine sehr große, und die Entfernung, in welcher die Gallia an ihm vorüberkommen sollte, war eine ziemlich kleine.

Der Durchmesser dieses Riesen beträgt nämlich 21,474 Meilen, d.h. elfmal mehr als der der Erde, sein Umfang aber mißt 67,464 Meilen. Sein Volumen übertrifft das der Erde 1414 mal, d.h. es wären 1414 Erdkugeln nöthig, um ihn an Größe zu erreichen. Seine Masse ist 338mal beträchtlicher als die unseres Planeten; mit anderen Worten, er wiegt 338mal so viel wie die Erde, d.i. ziemlich zwei Octillionen Kilogramm – eine Zahl, welche mit Ziffern geschrieben achtundzwanzig Stellen hat. Wenn die aus seiner Masse und seinem Volumen berechnete Dichtigkeit desselben nur den vierten Theil von der der Erde erreicht und die des Wassers nur um ein Drittel übersteigt – woraus man sich zu folgern berechtigt glaubte, daß der ungeheure Planet vielleicht ganz, mindestens an seiner Oberfläche flüssig sei – so blieb seine Masse eben für die Gallia noch bedrohlich genug.

Zur Vervollständigung dieser physikalischen Notizen über den Jupiter diene hierbei, daß er seine Kreisbahn um die Sonne, nach Erdenzeit ausgedrückt, in elf Jahren, zehn Monaten, siebzehn Tagen, acht Stunden und zweiundvierzig Minuten durchläuft, bei einer Schnelligkeit von dreizehn Kilometer in der Secunde und einer Bahnlänge von nahe 728 Millionen Meilen; daß sich die Rotation um seine Achse in neun Stunden fünfundfünfzig Minuten vollzieht, die Dauer der Tage gegenüber den unserigen also eine wesentlich kürzere ist; daß sich demnach jeder Punkt des Aequators siebenundzwanzigmal schneller fortbewegt als ein Aequatorpunkt der Erde, wodurch jeder seiner Pole eine Abplattung von 465 Meilen erlitt; daß die Achse des Planeten fast rechtwinkelig auf seiner Bahnebene steht, woraus wiederum folgt, daß Tage und Nächte fortwährend annähernd gleich lang sind und von einem Wechsel der Jahreszeiten kaum die Rede sein kann, da die Sonne stets nahezu in der Ebene des Aequators bleibt; endlich, daß die Intensität des Lichtes und der Wärme, welche der Planet empfängt, nur den fünfundzwanzigsten Theil des Lichtes und der Wärme an der Erdoberfläche ausmacht, denn der Jupiter beschreibt eine Bahn, welche ihn im Minimum 113, im Maximum gar 124 Millionen Meilen von der Sonne entfernt hält.

[341] Es erübrigt noch von den vier Monden zu reden, welche bald über einem Horizont vereinigt, bald getrennt, die Jupiter-Nächte gewiß prachtvoll beleuchten.

Von diesen vier Satelliten umkreist der eine den Jupiter etwa in derselben Entfernung wie der Mond die Erde. Ein zweiter ist ein wenig kleiner als unser Gestirn der Nacht. Alle vollenden ihre Revolution aber weit schneller als unser Mond; der erste binnen einem Tage, achtzehn Stunden und achtundzwanzig Minuten; der zweite binnen drei Tagen, dreizehn Stunden und vierzehn Minuten; der dritte braucht dazu sieben Tage, drei Stunden und dreiundvierzig Minuten; der vierte endlich sechzehn Tage, sechzehn Stunden und zweiunddreißig Minuten. Der letzte kreist in einer Entfernung von 279,000 Meilen von der Oberfläche um den Hauptplaneten.

Bekanntlich gelang es zuerst durch die Beobachtung dieser Satelliten, deren Bewegung ganz zuverlässig bekannt war, die Geschwindigkeit des Lichtes zu bestimmen. Jene eignen sich gleichzeitig zur Bestimmung eines gesuchten Längengrades auf der Erde.

»Man kann sich demnach den Jupiter, sagte Lieutenant Prokop eines Tages, als eine ungeheure Uhr vorstellen, dessen Satelliten die Zeiger bilden, und welche die Zeit mit größter Genauigkeit mißt.

– Für meine Tasche wäre das Uehrchen freilich etwas zu groß, bemerkte Ben-Zouf.

– Wenn unsere Uhren, setzte Lieutenant Prokop hinzu, höchstens drei Zeiger zu haben pflegen, so hat diese hier deren vier ...

– Und wir wollen Acht geben, daß sie nicht bald gar einen fünften erhält!« sagte Kapitän Servadac, anspielend auf die der Gallia drohende Gefahr, unter das Satellitensystem des Jupiter gezogen zu werden.

Wie man leicht begreifen wird, bildete diese sich tagtäglich vergrößernde besondere Planetenwelt jetzt fast das einzige Thema der Unterhaltung zwischen Kapitän Servadac und seinen Gefährten. Sie vermochten ihre Augen nicht mehr von diesem Ziele abzuwenden, ihre Gedanken nicht mehr auf ein anderes Object zu richten.

Eines Tages führte das Gespräch auf die Frage nach dem Alter der verschiedenen, um die Sonne kreisenden Planeten, welche Frage Lieutenant [342] Prokop gar nicht besser beantworten konnte als durch Vorlesung einer einschlagenden Stelle aus Flammarion's »Berichten aus der Unendlichkeit«, von denen er eine russische Uebersetzung besaß.

»Die entferntesten (dieser Gestirne), lautete jene Quelle, sind die ehrwürdigsten und die in ihrer Entwicklung am meisten fortgeschrittenen. Neptun, 690 Millionen Meilen entfernt, hat sich zuerst aus der Nebelmasse der Sonne und sicher schon vor Milliarden von Jahrhunderten losgelöst. Jupiter, dieser Koloß in 114 Millionen Meilen von der Sonne, mag etwa siebzig Millionen Jahrhunderte alt sein. Uranus, der in einer mittleren Entfernung von 420 Millionen Meilen vom Attractionscentrum der Planetenwelt gravitirt, ist gewiß mehrere hundert Millionen Jahrhunderte alt. Mars wird etwa 1000 Millionen Jahre alt sein; sein Abstand von der Sonne beträgt 33.6 Millionen Meilen. Die Erde, in einer Entfernung von etwas über 20 Millionen Meilen von der Sonne, ist deren glühendem Schooße wahrscheinlich vor 100 Millionen Jahren entsprossen. Seit etwa 50 Millionen Jahren mag sich die Venus losgerungen haben; der Halbmesser ihrer Bahn beträgt 15 1/2 Millionen Meilen. Der Merkur endlich wird nur 10 Millionen Jahre alt sein (Entfernung 8 1/2 Millionen Meilen) und entstammt derselben Mutter, während unser Mond seinen Ursprung unzweifelhaft von der Erde abzuleiten hat.«


Lieutenant Prokop konnte gar nicht besser antworten, als durch Vorlesung ... (S. 342.)

Das war die neue Planetentheorie, welche Kapitän Servadac zu der Bemerkung veranlaßte, »es möchte Alles in Allem doch wohl vorzuziehen sein, vom Merkur gefangen zu werden, statt vom Jupiter. In jedem Falle diente man mindestens einem noch jüngeren Herrn, der gewiß leichter zu befriedigen sein werde«.

Während der zweiten Hälfte des September näherten sich die Gallia und der Jupiter einander immer mehr. Am 1. dieses Monates hatte der Komet die Bahn des Planeten gekreuzt und am 1. des folgenden mußten die Gestirne in kürzester Distanz von einander stehen. Ein directer Stoß war zwar nicht zu fürchten, da die Ebenen der Jupiter- und Gallia-Bahnen nicht zusammenfielen, dennoch standen sie eine zur anderen nur schwach geneigt. Die Ebene, in welcher der Jupiter sich bewegt, steht in der That nur in einem Winkel von 1°19' zur Ekliptik, und der Leser hat wohl nicht vergessen, daß die Ekliptik und die Bahn des Kometen seit dem Zusammenstoße mit der Erde nahezu in eine Ebene fielen.

[343] Im Laufe dieses halben Monates wäre der Jupiter, seitens eines minder interessirten Beobachters, als der Bewohner der Gallia, der höchsten Bewunderung sicher gewesen. Seine von den Sonnenstrahlen erleuchtete Scheibe warf ihr Licht mit einer gewissen Intensität auf die Gallia zurück. Alle Gegenstände erschienen in früher fast unbekannten Farbentönen. Wenn sich Nerina in Opposition zum Jupiter, also in Conjunction mit der Sonne [344] befand, war sie in der Nacht kaum zu bemerken. Ununterbrochen in sein Observatorium festgebannt, das Fernrohr unverrückt nach dem prächtigen Gestirne gerichtet, schien Palmyrin Rosette bis in die letzten Geheimnisse der Jupiterwelt eindringen zu wollen.


Die Satelliten des Planeten wurden für das unbewaffnete Auge sichtbar. (S 346.)

Dieser Planet, den ein Astronom auf der Erde noch niemals näher als 90 Millionen Meilen vor Augen hatte, trat hier bis auf 7.8 Millionen Meilen an den enthusiastischen Professor heran.

[345] Die Sonne dagegen erschien, bei der großen Entfernung, in welcher die Gallia jetzt dahinschwebte, nur noch als eine Scheibe von 5°46'' Durchmesser.

Einige Tage vor Erreichung des geringsten Zwischenraumes zwischen Jupiter und Gallia wurden die Satelliten des Planeten für das unbewaffnete Auge sichtbar. Wie bekannt, ist es ohne Fernrohr so gut wie unmöglich, von der Erde aus die Jupiter-Monde wahrzunehmen. Nichtsdestoweniger ist es constatirt, daß einige, mit ausnahmsweise scharfem Sehvermögen ausgestattete Personen diese Satelliten ohne Hilfe jedes optischen Instrumentes zu sehen vermochten. Die Annalen der Wissenschaften erwähnen als solche z.B. Möstlin, den Lehrer Kepler's, einen sibirischen Jäger Namens Wrangel, und nach Boguslawski, dem Director der Sternwarte zu Breslau, noch einen Schneidermeister aus dieser Stadt. Die durchdringende Schärfe des Gesichts dieser wenigen Sterblichen zugegeben, so hätten sie zahlreiche Rivalen erhalten, wenn sie jetzt Warm-Land und die Zellen des Nina-Baues bewohnt hätten. Die beträchtlichen Nebenplaneten waren hier eben für Jedermanns Auge sichtbar. Man konnte sogar erkennen, daß der erste in mehr oder weniger lebhafter weißer Farbe, der zweite in blassem Blau, der dritte in gleichmäßigem Weiß und der vierte bald mehr orange, bald mehr röthlich er glänzte. Es sei hierbei auch bemerkt, daß dem Jupiter, in dieser Nähe gesehen, das bekannte Flimmern ganz abzugehen schien.

Wenn Palmyrin Rosette den Planeten mit keinem anderen Interesse als dem des Astronomen betrachtete, so fürchteten seine Gefährten dagegen mindestens eine Verzögerung, wenn nicht gar eine so mächtige Anziehung, daß sie einen Sturz der Gallia veranlaßte. Die nächsten Tage verliefen indessen, ohne letzteren Verdacht zu rechtfertigen. Sollte der große Störenfried wirklich keine anderen, als die in der Berechnung schon vorausgesehenen Wirkungen auf den winzigen Kometen äußern? Wenn man ein directes Niederstürzen in Folge der dem Haarstern ertheilten Anfangsrichtung ausschließen durfte, würde dieser erste Impuls hinreichen, ihn innerhalb der Grenzen derjenigen Störungen zu erhalten, die ihm, der Rechnung nach, gestatten sollten, seine Revolution um die Sonne binnen zwei Jahren zu vollenden?

Auf dieses Ziel richteten sich offenbar Palmyrin Rosette's Beobachtungen, gewiß aber wäre gar nicht daran zu denken gewesen, ihm seine eigenen Geheimnisse zu entlocken.

[346] Dann und wann sprachen Hector Servadac und seine Freunde über dieses Thema.

»Ei, was da, sagte dann Hector Servadac, wenn die Dauer des Gallia-Umlaufes sich veränderte, wenn unser Komet unvorhergesehene Störungen erlitte, so würde mein Ex-Lehrer seine Befriedigung darüber nicht zu unterdrücken vermögen. Er fühlte sich gewiß zu glücklich dabei, uns auszulachen, und deshalb werden wir auch ohne directe Anfrage stets wissen, woran wir sind.

– Gott gebe, fügte Graf Timascheff ein, daß er bei seinen ersten Berechnungen keinerlei Fehler gemacht hat.

– Er, Palmyrin Rosette und einen Rechenfehler machen! erwiderte Hector Servadac, daran glaube ich nimmermehr. Den Ruhm eines verdienstvollen Beobachters kann man ihm nicht abstreiten. Ich vertraue der Verläßlichkeit seiner ersten Berechnungen bezüglich der Gallia, wie ich für die Sicherheit der zweiten einstehen würde, wenn er uns erklärte, daß wir auf jede Hoffnung, einst zur Erde zurückzukehren, verzichten müßten.

– Ganz schön, Herr Kapitän, meldete sich da Ben-Zouf, aber wollen Sie mir erlauben auszusprechen, was mich recht quält?

– So sag' uns, was Dich peinigt, Ben-Zouf.

– Ihr Gelehrter verbringt die ganze Zeit in seinem Observatorium, nicht wahr? begann Ben-Zouf mit dem Tone eines Mannes, der seine Rede reiflich überlegt hat.

– Ganz gewiß, antwortete Hector Servadac.

– Und Tag und Nacht, fuhr Ben-Zouf fort, ist sein verwünschtes Fernrohr auf den Herrn Jupiter gerichtet, der uns verschlingen will.

– Nun was weiter?

– Sind Sie sich dessen sicher, Herr Kapitän, daß Ihr alter Lehrer jenen mit seinem Teufelsrohre nicht gar allmälig herbeilockt?

– O, darüber bin ich ruhig! antwortete Kapitän Servadac laut auflachend.

– Schon gut, Herr Kapitän, schon gut! sagte Ben-Zouf kopfschüttelnd, als glaube er nicht recht daran. Mir erscheint das gar nicht so ausgemacht wie Ihnen, und ich muß sehr an mich halten, um nicht ...

– Was denn? fragte Hector Servadac.

– Um sein Unglücksinstrument nicht zu demoliren.

[347] – Wie? Du wolltest sein Fernrohr zertrümmern, Ben-Zouf!

– In tausend Granatstückchen!

– Versuch' es nur, ich lasse Dich hängen!

– Oho, gleich hängen!

– Bin ich nicht General-Gouverneur der Gallia?

– Ja wohl, Herr Kapitän!« antwortete der brave Ben-Zouf.

Und sicherlich wäre er verurtheilt worden, er hätte sich gewiß selbst den Strick um den Hals befestigt, statt einen Augenblick lang »Seiner Excellenz Recht über Leben und Tod« in Zweifel zu ziehen.

Am 1. October betrug die Entfernung zwischen Jupiter und Gallia nur noch 10.8 Millionen Meilen. Der Planet stand von dem Kometen also etwa noch hundertachtzigmal so weit ab als die Erde von dem Monde bei dessen größter Entfernung. In gleicher Distanz wie der Mond von der Erde würde die Jupiterscheibe den Mond im Durchmesser dreiundvierzigmal, an Oberflächenausdehnung gegen zwölfhundertmal übertreffen. Den Beobachtern der Gallia stellte er sich also auch jetzt schon in sehr ansehnlicher Größe dar.

Man unterschied z.B. sehr deutlich die verschiedenen, seinem Aequator parallel verlaufenden Streifen von grauer Farbe im Norden und im Süden, welche nahe den Polen abwechselnd hell und dunkel erscheinen, die Ränder des Gestirnes selbst aber in hellerem Lichte erscheinen lassen. Sehr erkennbare und ihrer Größe und Form nach wechselnde Flecken unterbrachen da und dort die Gleichmäßigkeit jener Streifungen.

Sollten beide Erscheinungen wohl auf Störungen in der Jupiter-Atmosphäre zurückzuführen sein? Erklärte sich ihr Vorhandensein, ihre Natur, ihre Ortsveränderung vielleicht durch Anhäufungen von Dunstmassen, durch Bildung von Wolken, welche Luftströmungen, ähnlich unseren Passatwinden, dahinführten und in umgekehrter Richtung zur Drehung des Planeten um seine Achse verbreiteten? Hierüber wußte Palmyrin Rosette eben so wenig zu sagen wie seine Kollegen von der Erde, und wenn er einst nach der letzteren zurückkehrte, hatte er nicht einmal den schönen Trost, den Schleier eines der interessantesten Geheimnisse der Jupiterwelt gelüstet zu haben.

In der zweiten Octoberwoche wurden die Befürchtungen lebhafter als je. Mit großer Geschwindigkeit näherte sich die Gallia dem gefährlichen Punkte. Graf Timascheff und Hector Servadac, welche sich sonst etwas reservirt, um [348] nicht zu sagen kühl verhielten, brachte die gemeinschaftliche Gefahr einander näher, so daß sie fast unablässig ihre Gedanken austauschten. Wenn sie die Partie manchmal für verloren, die Rückkehr nach der Erde für unmöglich hielten, so verbreiteten sie sich im Gespräch über die Zukunft, die ihrer in der Sonnen-, vielleicht gar in der Fixsternenwelt harren möchte. Sie ergaben sich von vornherein in dieses Schicksal. Sie sahen sich versetzt in eine neue Menschheit und tranken aus dem Borne einer weiterblickenden Philosophie, welche die beschränkte Auffassung einer allein für die Menschen geschaffenen Welt verwirft und dagegen die ganze Ausdehnung eines bewohnten Universums umfaßt.

Wenn sie dabei aber ehrlich in ihr eigenes Innere blickten, fühlten sie dennoch, daß darin ein Fünkchen Hoffnung weiter glimmte und daß sie es noch keines wegs aufgaben, die Erde wiederzusehen, wenn sie einst am Horizonte der Gallia inmitten der unzähligen Tausende von Sternen erschiene. Entging sie nur den aus der Nachbarschaft des Jupiter entspringenden Gefahren, so hatte die Gallia, wie Lieutenant Prokop wiederholt versicherte, nichts weiter zu fürchten, weder vom Saturn, der in zu großer Entfernung blieb, noch vom Mars, dessen Bahn sie bei der Rückkehr nach der Sonne schneiden mußte. Welche Eile hatten sie nun Alle, gleich Wilhelm Tell, »den Todesweg hinter sich zu haben«.

Am 15. October standen die beiden Weltkörper in der kürzesten Entfernung von einander, welche sie erreichen sollten, im Falle keine besonderen Störungen eintraten. Die Entfernung betrug nur 7.8 Millionen Meilen. Jetzt mußte der Einfluß des Jupiter die Gallia an sich ziehen oder diese ihrer Bahn ohne weitere Verzögerungen, als die im Voraus berechneten, folgen ...

Die Gallia ging vorüber.

Man sah das schon folgenden Tages an Palmyrin Rosette's entsetzlich schlechter Laune. Seinen Triumph als Rechner erkaufte er mit einer Niederlage als Abenteuerjäger. Er, der der Beglückteste aller Astronomen hätte sein sollen, er war der Unglücklichste aller Gallia-Bewohner.

Die Gallia selbst gravitirte auf ungestörter Bahn ruhig weiter um die Sonne und zuletzt folglich wieder nach der Erde zu.

[349]
10. Capitel
Zehntes Capitel.
In welchem es sich klar und deutlich zeigt, daß es besser ist, auf der Erde als auf der Gallia zu reisen.

»Halloh! Ich glaube, wir sind ihm glücklich entwischt!« rief Kapitän Servadac, als das enttäuschte Gesicht des Professors ihm verrieth, daß jede Gefahr vorüber sei.

Dann wendete er sich an seine Gefährten, die über diese Thatsache nicht weniger befriedigt schienen als er selbst.

»Was werden wir dann am Ende Großes geleistet haben? Eine einfache, zwei Jahre dauernde Reise durch die Sonnenwelt! Da unternimmt man ja auf der Erde längere Reisen! Bis hierher haben wir uns nicht besonders zu beklagen, und wenn in Zukunft Alles ebenso glatt verläuft, werden wir uns binnen fünfzehn Monaten auf dem gewohnten Sphäroïd wieder eingenistet ...

– Und auch den Montmartre wieder gesehen haben!« fiel Ben-Zouf ein.

Es war in der That ein Glück zu nennen, daß die Gallia-Bewohner diesen »Enterversuch abgeschlagen« hatten, wie ein Seemann sich ausdrücken würde. Selbst angenommen, daß die Gallia unter dem Einflusse des Jupiter eine Verzögerung von nur einer einzigen Stunde erlitt, so würde sie die Erde schon nahe sechzigtausend Meilen von dem Punkte entfernt gefunden haben, an dem sie letztere antreffen sollte. Welch' langen Zeitraumes hätte es aber bedurft, ehe die gleich günstigen Stellungsverhältnisse wiederkehrten? Wären nicht Jahrhunderte, Jahrtausende vergangen, bevor ein zweites Zusammentreffen möglich wurde? Ohne Zweifel. Wenn der Jupiter überdies die Gallia in der Weise störte, daß sie entweder die Ebene oder die Form ihrer Bahn änderte, so hätte sie wahrscheinlich in Ewigkeit durch die Sonnen- oder gar durch die Sternenwelt umherirren müssen.

Am 1. November maß die Entfernung zwischen Jupiter und Gallia 14 1/5 Millionen Meilen. In zwei und einem halben Monat sollte der Komet [350] sein Aphel, d.h. seinen beträchtlichen Abstand von der Sonne erreichen, und sich letzterer von diesem Punkte aus wieder nähern.

Die Licht- und Wärme-Intensität des Tagesgestirnes erschien jetzt sehr bedeutend vermindert, so daß die Gegenstände auf der Oberfläche des Kometen nur wie in der Dämmerung sichtbar waren. Es gelangte jetzt hierher freilich auch nur der fünfundzwanzigste Theil der Licht- und Wärmemenge, welche die Sonne der Erde spendet. Dennoch war jenes Gestirn, in welchem der Mittelpunkt aller Anziehung im Planetensysteme liegt, noch vorhanden und die Gallia noch immer seinem mächtigen Einflusse unterworfen. Bald sollte man sich ihm wieder nähern, bald sollte das Leben wieder neu erblühen, wenn man nach dem flammenden Centrum hin zurückkehrte, dessen Temperatur nicht geringer als zu fünf Millionen Grad abgeschätzt wird. Diese lockende Aussicht hätte den Bewohnern der Gallia gewiß ihre moralischen und physischen Kräfte wiedergegeben, wenn das solchen Männern gegenüber überhaupt nöthig gewesen wäre.

Und Isaak Hakhabut? Hatte der egoistische Jude auch etwas empfunden von den Befürchtungen, die den Kapitän Servadac und seine Gefährten während der zwei letzten Monate quälten?

Nein, ganz und gar nicht. Seitdem er das für ihn so günstige Anlehensgeschäft abschloß, hatte Isaak Hakhabut die Tartane nicht wieder verlassen. Schon am Tage nach Beendigung der Untersuchungen des Professors beeilte sich Ben-Zouf, ihm die Schnellwaage nebst den Silbermünzen zurückzustellen. Der Miethzins und die Interessen befanden sich ja vorher in seinen Händen. Er brauchte nur die ihm als Pfand überlassenen Papierrubel wieder herauszugeben, und damit hatten seine Beziehungen zu den Insassen des Nina-Baues ihre Ende erreicht.

Bei diesem Zusammentreffen theilte ihm Ben-Zouf gleichzeitig mit, daß der ganze Grund und Boden der Gallia aus gutem Golde bestand, das freilich weder hier einen Werth besaß, noch nach der Rückkehr zur Erde seiner übergroßen Menge wegen einen solchen erhalten konnte.

Der Jude glaubte natürlich nur, daß Ben-Zouf sich über ihn lustig machen wolle. Er schenkte seinen Geschichtchen jetzt wie früher keinen Glauben, sondern trachtete mehr als je darnach, allen Münzvorrath der Kolonie an sich zu bringen.

[351] Dem Nina-Bau widerfuhr also niemals die Ehre eines Besuches seitens des Juden Hakhabut.

»Es ist doch erstaunlich, bemerkte Ben-Zouf wiederholt, wie leicht man sich daran gewöhnt, ihn niemals zu sehen!«

Gerade jetzt dachte aber Isaak Hakhabut daran, mit den übrigen Bewohnern der Gallia einige Verbindungen anzuknüpfen. Einerseits begannen verschiedene seiner Waarenvorräthe zu verderben, andererseits lag ihm natürlich daran, sein ganzes Lager vor der Rückkehr nach der Erde in Geld umzusetzen. Auf der alten Erdkugel erzielten seine Waaren im günstigsten Falle höchstens den üblichen Marktpreis, auf der Gallia dagegen mußten sie, im Hinblick auf ihre Seltenheit und den dringenden Bedarf, eine sehr hohe Verwerthung finden, da – der Jude wußte das sehr gut – sich doch Jeder nur an ihn wenden konnte.

Zu derselben Zeit begannen auch einige vor Allem nothwendige Artikel, wie Oel, Kaffee, Zucker, Tabak u. dgl. im Hauptmagazine zur Neige zu gehen. Ben-Zouf hatte seinem Kapitän davon Meldung gemacht. Dieser beschloß, getreu seinem, Isaak Hakhabut gegenüber bisher eingehaltenen Benehmen, die Waaren der Hansa gegen Baarzahlung einzutauschen.

Diese Uebereinstimmung der Gedanken zwischen dem Verkäufer und den Käufern mußte es dem Juden erleichtern, frühere Beziehungen zu den Bewohnern von Warm-Land wieder aufzunehmen, resp. neue anzuknüpfen. In Folge des unausbleiblichen Steigens der Preise hoffte Isaak Hakhabut, binnen Kurzem alles Gold und Silber der Kolonie zusammengerafft zu haben.

»Leider, sagte er, wenn er in seiner engen Cabine so für sich hin speculirte, übertrifft der Werth meiner Ladung weitaus den des Geldes, über welches die Leutchen da verfügen können. Wenn ich nun Alles im Kasten habe, womit sollen sie mir abkaufen den Rest meiner Waaren?«

Diese Aussicht beunruhigte den Wucherer nicht wenig. Zum Glück erinnerte er sich noch rechtzeitig, daß er ja nicht allein Waarenhändler, sondern auch Gelddarleiher, oder richtiger Halsabschneider sei. Konnte er dieses einträgliche Geschäftchen, das auf der Erde in so hoher Blüthe stand, nicht auch auf der Gallia fortsetzen? Seine letzte Operation dieser Art war doch dazu angethan, ihn zu weiteren zu reizen.


»Ich erwarte europäische Preise!« entgegnete einfach Kapitän Servadac. (S. 356.)

Isaak Hakhabut – ein logischer Kopf – gelangte nun nach und nach zu folgenden Erwägungen:

»Wenn die Leute kein Geld mehr haben, besitze ich immer noch Waaren, da diese gewiß ihren hohen Preis behalten. Wer hindert mich dann, ihnen Geld zu [352] leihen, natürlich nur Denen, deren Unterschrift mir ›gut‹ scheint? Ei, wenn die Schuldscheine auch auf der Gallia ausgefertigt wurden, werden [353] sie doch haben auf der Erde dieselbe Giltigkeit. Werden sie dann zur Verfallzeit nicht eingelöst, lass' ich protestiren die Wechselchen, und die Gerichtsdiener werden besorgen das Uebrige. Der Ewige im Himmel verbietet ja den Menschen nicht, zu wuchern mit ihrem Pfunde. Im Gegentheil. Da ist nun ein Kapitän Servadac und vorzüglich ein Graf Timascheff, die mir zahlungsfähig aussehen und nicht geizen mit ein paar Procent Interessen. O, Du Herrgott Israel's, werd' ich doch nicht böse sein zu verleihen einiges Geld, das in der wirklichen Welt zurückzuzahlen ist!«

Ohne es zu wissen, dachte hier Isaak Hakhabut ganz ähnlich zu verfahren, wie ehemals die alten Gallier. Diese liehen Geld aus auf in der anderen Welt zahlbare Schuldscheine. Für sie war diese andere Welt in der That die Ewigkeit. Für den Juden war es die Erdenwelt, nach welcher sie die wahrscheinliche, für ihn günstige, für seine Schuldner ungünstige Aussicht hatten, zurückversetzt zu werden.

Es erscheint nach dem Obengesagten als natürliche Folge, daß, ebenso wie Gallia und Erdkugel unverwandt auf einander zueilten, Isaak Hakhabut einen Schritt that gegen Kapitän Servadac, der wiederum ihm, dem Eigenthümer der Tartane, auf halbem Wege entgegenkam.

Die hierdurch nothwendig werdende Begegnung fand am 15. November in der Cabine der Hansa statt. Der pfiffige Jude hatte sich wohl gehütet, mit Anerbietungen hervorzutreten, da er recht gut wußte, daß man sich werde an ihn wenden müssen.

»Meister Isaak, sagte Kapitän Servadac, der auf sein Ziel ohne Umstände oder Winkelzüge loszugehen pflegte, wir brauchen Kaffee, Tabak, Oel und andere Artikel, welche die Hansa führt. Morgen werd' ich mit Ben-Zouf kommen, um zu kaufen, was wir nöthig haben.

– Erbarmen! Erbarmen! schrie der Jude, dem dieser Ausruf mit oder ohne Ursache stets entfuhr.

– Ich sagte, wiederholte Kapitän Servadac, wir kommen dann nur, um zu ›kaufen‹, versteht Ihr? Kaufen heißt meiner Ansicht nach, eine Lieferung gegen einen bedungenen Preis beanspruchen. Ihr habt folglich nicht den geringsten Grund zu Euren beliebten Klageliedern.

– Ach, Herr Gouverneur, antwortete der Jude, dessen Stimme zitterte wie die eines armen Teufels, der sich ein Almosen erbettelt, ich verstehe schon.

[354] Ich weiß, Sie werden einen armen Handelsmann, dessen ganzes Vermögen bedroht und in Frage gestellt ist, nicht berauben lassen.

– Nichts ist bedroht, Isaak, und ich wiederhole, daß man Euch nichts nehmen wird, ohne dafür zu zahlen.

– Ohne zu zahlen ... und baar?

– Nur gegen baar.

– Sie sehen ein, Herr Gouverneur, fuhr Isaak Hakhabut fort, daß es mir unmöglich wäre, Credit zu geben ...«

Kapitän Servadac ließ seiner Gewohnheit nach und um ihn von allen Seiten gründlich kennen zu lernen, den Juden reden. Dieser fühlte sich sicher und schwatzte weiter.

»Ich glaube ... nein ... ich denke ... es giebt auf Warm-Land sehr ehrenwerthe Leute ... ich meine, sehr zahlungsfähige ... den Grafen Timascheff ... den Herrn General-Gouverneur selbst ...«

Hector Servadac spürte einige Lust, ihm mit einem Fußtritte beizustimmen.

»Sie sehen aber ein ... fuhr Isaak Hakhabut in süßlichstem Tone fort, wenn ich dem Einen Credit gäbe, käme ich sehr in Verlegenheit, ihn einem Anderen zu verweigern. Das müßte zu ärgerlichen Auftritten führen ... und deshalb, mein' ich ... ist es gerathener ... gar Niemandem zu creditiren.

– Das ist ganz meine Ansicht, bekräftigte ihn Hector Servadac.

– O, faselte der Jude weiter, ich bin so erfreut und gerührt, zu sehen, daß der Herr Gouverneur billigt meine Gedanken. Das nenn' ich verstehen zu handeln, wie es geschehen soll. Darf ich mich unterstehen, zu fragen den Herrn Gouverneur nach der Münzsorte, mit der Sie zahlen werden?

– Mit Gold, Silber und Kupfer, und wenn dieses Geld erschöpft ist, mit Bankbillets ...

– Mit Papier! O weh! jammerte Isaak Hakhabut, das hab' ich eben gefürchtet!

– Ihr habt kein Vertrauen zu den Staatsbanken von Frankreich, England oder Rußland?

– O, Herr Gouverneur! ... Es giebt nur zweierlei gutes Metall, Gold und Silber, was einen reellen Werth hat.

[355] – Ich hab' Euch auch gesagt, Meister Isaak, antwortete Kapitän Servadac mit unveränderter Liebenswürdigkeit, daß Ihr zunächst mit coursfähigem Gold und Silber bezahlt werden sollt.

– Mit Gold! ... Mit Gold! ... rief der Jude. Das ist und bleibt doch das Hauptgeld auf Erden!

– Vor allem Anderen mit Gold, Meister Isaak, denn gerade Gold, russisches, englisches und französisches Gold giebt's auf der Gallia am meisten.

– Gott der Gerechte, die schönen Golde!« murmelte der Jude, den seine Habgier jenes in der ganzen Welt so geschätzte Hauptwort gleich »in der Mehrzahl« zu gebrauchen trieb.

Kapitän Servadac wollte sich verabschieden.

»Also abgemacht, Meister Isaak, sagte er, auf morgen!«

Da kam Isaak Hakhabut nochmals auf ihn zu.

»Wird mir der Herr General-Gouverneur gestatten, noch eine Frage zu stellen?

– So beeilt Euch.

– Es wird mir freistehen, nicht wahr ... für meine Waaren einen Preis zu stellen ... wie er mir paßt?

– Meister Hakhabut, erwiderte Kapitän Servadac sehr ruhig, ich hätte eigentlich das Recht, Euch einen Maximalpreis vorzuschreiben, doch will ich auf solche außergewöhnliche Maßnahmen verzichten. Ihr werdet Eure Waaren selbst mit den gewöhnlichen europäischen Marktpreisen auszeichnen, nicht mit anderen!

– Erbarmen, Herr Gouverneur! rief der Jude an der empfindlichsten Stelle getroffen, damit berauben Sie mich eines ganz rechtmäßigen Vortheils! ... Das streitet gegen alle Gewohnheit des Handelns. Mir steht es zu, den Marktpreis zu bestimmen, denn alle Waaren sind in meiner Hand. Wenn Sie gerecht sein wollen, können Sie sich dem nicht widersetzen, Herr Gouverneur! ... Das hieße, mir mein Hab' und Gut rauben!

– Ich erwarte europäische Preise, entgegnete einfach Kapitän Servadac.

– Herrgott Israel's! Was! Hier wäre eine Conjunctur auszubeuten ...

– Eben daran wollte ich Euch hindern.

– Eine solche Gelegenheit kommt niemals wieder ...

[356] – Euren Mitmenschen das Fell über die Ohren zu ziehen, Meister Isaak. Ja, ja, es thut mir leid um Euch ... Vergeßt mir aber nicht, daß ich das Recht habe, zum Besten der Allgemeinheit über Eure Waarenvorräthe zu verfügen und ...

– Ueber das zu verfügen, was mir eigen angehört vor den Augen des ewigen Gottes!

– Gewiß, Meister Isaak, antwortete der Kapitän, ich mag nur meine Zeit nicht verschwenden, Euch diese einfache Wahrheit begreiflich zu machen. Fügt Euch also darein, mir einfach zu gehorchen, und seid damit zufrieden, zu jedem Preise zu verkaufen, wo Ihr gezwungen werden könntet, ohne Entschädigung das Nöthige zu liefern.«

Isaak Hakhabut wollte seine Wehklagen noch einmal anfangen, Kapitän Servadac aber schnitt sie ab, indem er im Fortgehen nur die Worte wiederholte:

»Europäische Marktpreise, Meister Isaak, merkt's Euch!«

Die übrige Zeit dieses Tages hatte der Jude nichts Anderes zu thun, als auf den Gouverneur und die ganze Gallia-Kolonie weidlich zu schimpfen, daß man ihm »Maximalpreise« vorschreiben wollte, wie in den schlimmsten Zeiten der französischen Revolution. Er schien sich erst einigermaßen zu beruhigen, als er zu folgendem Gedanken kam, der für ihn eine ganz besondere Bedeutung haben mußte:

»Nur zu, nur zu, Ihr schlechten Menschen! Ihr sollt die Marktpreise Europas haben. Ich verdiene dabei doch mehr, als Ihr glaubt!«

Am nächsten Tage, dem 16. November, begab sich Kapitän Servadac, der die Ausführung seiner Befehle überwachen wollte, mit Ben-Zouf und zwei russischen Matrosen schon frühzeitig nach der Tartane.

»Nun, Eleazar, begrüßte Ben-Zouf deren Eigenthümer, wie geht's, alter Spitzbube?

– Sie sind zu gütig, Herr Ben-Zouf, antwortete der Jude.

– Wir wollen mit Dir also in aller Freundschaft ein kleines ›Geschäftchen‹ machen.

– Ja ... in aller Freundschaft ... aber gegen Bezahlung ...

– Nach europäischen Marktpreisen, begnügte sich Kapitän Servadac hinzuzufügen.

[357] – Gut, gut, fuhr Ben-Zouf fort, wenn Du Deine Rechnung gemacht, wirst Du auf Bezahlung nicht lange zu warten haben.

– Was brauchen denn die Herren?

– Für heute, zählte Ben-Zouf auf, Kaffee, Tabak und Zucker, von jedem etwa zehn Kilo. Bediene uns aber zur Zufriedenheit, sonst – hüte Deine Knochen! Ich verstehe mich auf das Geschäft, denn heute bin ich Feldwebel!

– Ich glaubte Adjutant des Herrn General-Gouverneurs? sagte der Jude.

– Gewiß, Kaiphas, bei jeder feierlichen Gelegenheit, aber Feldwebel immer dann, wenn's zum Einkaufen geht. Doch verlieren wir nicht unsere Zeit!

– Sie sagten, Herr Ben-Zouf, zehn Kilo Kaffee, zehn Kilo Zucker und zehn Kilo Tabak?«

Nach erlangter Ueberzeugung von der Richtigkeit dieser Bestellung verschwand der Jude aus der Cabine und stieg nach dem Raume der Hansa hinunter, von wo er sehr bald zehn Packete, alle mit dem Stempel des Staates verschlossen und jedes im Gewichte eines Kilogrammes, herausbrachte.

»Hier sind zehn Kilo Tabak, sagte er. Das Kilogramm zu 12 Francs macht 120 Francs.«

Ben-Zouf wollte schon den gewöhnlichen Regie-Preis zahlen, als Kapitän Servadac ihn daran verhinderte.

»Halt einmal, Ben-Zouf. Wir müssen uns auch überzeugen, ob das Gewicht richtig ist.

– Sie haben recht, Herr Kapitän.

– Wozu ist das nöthig? versetzte Isaak Hakhabut. Sie sehen ja, daß die Verpackung jedes Kilos unverletzt ist und daß das Gewicht darauf bemerkt ist.

– Thut nichts, Meister Isaak, erwiderte Kapitän Servadac in einem Tone, der jede Einrede abschnitt.

– Vorwärts, Alter, hol' Deine Schnellwaage!« trieb Ben-Zouf.

Der Jude besorgte die Waage und hing ein Kilogrammpacket Tabak an den Haken.

»Gott der Gerechte!« rief er plötzlich.

[358] Er hatte in der That alle Ursache zu diesem Ausrufe der Verwunderung.

In Folge der verminderten Schwerkraft auf der Gallia markirte der Zeiger des Instrumentes nur 132 Gramm für ein Packet von 1 Erden-Kilogramm.

»Wie denn nun, Meister Isaak, begann der Kapitän unverändert ernsthaft, Ihr seht, wie recht ich hatte, uns jedes Packet vorwiegen zu lassen.

– Aber, Herr Gouverneur ...

– Legt nur soviel zu, bis ein Kilogramm voll ist.

– Aber, ich bitte Sie, Herr Gouverneur ...

– Keine Umstände! Zulegen! verlangte Ben-Zouf.

– Aber, Herr Ben-Zouf ...«

Der unglückliche Jude saß in der Schlinge. Ihm war jene Erscheinung der verminderten Anziehung recht wohl bekannt. Er sah, daß »diese Ungläubigen« darauf ausgingen, sich für den Preis, den sie zahlen mußten, durch das Gewicht der Waare schadlos zu halten. O, hätte er nur gewöhnliche Waagen besessen, so hätte das – wie ja bei anderer Gelegenheit schon erläutert wurde – nicht vorkommen können. Leider mangelten ihm aber solche.

Er versuchte noch einmal zu reclamiren und Kapitän Servadac zu erweichen, doch dieser schien unbeugsam bleiben zu wollen. Die Sache war ja weder sein Fehler, noch der seiner Begleiter; er bestand einfach auf dem Verlangen, daß der Waagenzeiger ein Kilogramm markiren sollte, wo er ein Kilogramm bezahlte.


»Gott der Gerechte!« rief Isaak plötzlich. (S. 358.)

Isaak Hakhabut mußte sich wohl oder übel fügen, mischte aber seine Seufzer schluchzend unter das helle Lachen Ben-Zouf's und der russischen Matrosen, denen die Geschichte gar zu lustig vorkam. Zum Schluß blieb ihm nichts Anderes übrig, als für jedes Kilo Tabak deren sieben zu geben, und bei dem Zucker und Kaffee nicht minder.

»Ziere Dich doch nicht, Pontius Pilatus! widerholte Ben-Zouf immer, wär' es Dir vielleicht lieber, wir nähmen unseren Bedarf ohne Bezahlung?«

Das leidige Geschäft war beendigt. Isaak Hakhabut hatte zwar siebzig Kilo Tabak und ebensoviel Kaffee und Zucker geliefert, Bezahlung aber nur für je zehn Kilo empfangen.

[359] Uebrigens ging das, wie Ben-Zouf sagte, einzig und allein der Gallia an. Weshalb war Isaak Hakhabut hierher gekommen, um zu schachern?

Ganz zuletzt sorgte Kapitän Servadac, der sich mit dem Juden nur belustigen wollte, getrieben durch das Gefühl von Gerechtigkeit, das er auch ihm gegenüber stets bewahrte, für eine richtige Ausgleichung zwischen Preis und Gewicht, so daß Isaak Hakhabut für gelieferte siebzig Kilo auch die entsprechende Bezahlung erhielt.

[360] Man wird übrigens zugeben, daß die außergewöhnlichen Verhältnisse der Schwerkraft Kapitän Servadac und seine Gefährten wegen dieser etwas sonderbaren Art und Weise, ein Geschäft abzuschließen, wohl hätten entschuldigen können.

So wie bei anderen Gelegenheiten hielt Hector Servadac auch hierbei an dem Glauben fest, daß der Jude stets mehr jammerte, als er Ursache hatte. Seine Seufzer, seine Einwendungen hatten immer einen etwas zweideutigen Charakter.

Alle verließen also die Hansa und lange konnte Isaak Hakhabut noch Ben-Zouf's lustiges Soldatenliedchen hören:


»Ich freu' mich beim Tone
Der Clarinette,
Der Trommel, Trompete,
Doch voll ist die Freud'
Erst beim Schall der Kanone!«
11. Capitel
Elftes Capitel.
In welchem die gelehrte Welt der Gallia in Gedanken durch das grenzenlose Weltall schweift.

Ein weiterer Monat verstrich. Die Gallia eilte durch den Planetenraum dahin und führte ihre kleine Welt mit sich. Gewiß, eine kleine Welt, in der aber die menschlichen Leidenschaften bisher nur wenig Eingang fanden. Die Habgier, die Selbstsucht waren allein durch jenen Juden, ein abschreckendes Muster der Menschenrace, vertreten. Er bildete den einzigen Schandfleck, welcher diesen von der übrigen Menschheit abgesonderten Mikrokosmus verunzierte.

Alles in Allem mußten sich die Bewohner der Gallia doch nur als Passagiere auf einer Rundreise durch die Sonnenwelt betrachten, weshalb sie sich »an Bord ihres Gestirnes« zwar so bequem als möglich, doch immer nur vorübergehend einzurichten suchten. Nach Vollendung dieser Reise um die [361] Welt sollte ihr Fahrzeug wieder an der alten Erdkugel landen und, wenn sich des Professors Berechnungen als völlig richtig erwiesen – freilich war das unumgänglich nöthig – gedachten sie dann ihren Kometen zu verlassen und die irdischen Continente wieder zu betreten.

Freilich konnte das Anlegen des Schiffes Gallia an »seinem Bestimmungshafen« voraussichtlich nur mit größter Schwierigkeit und unter den ernsthaftesten Gefahren vor sich gehen. Doch um diese Frage handelte es sich vorläufig noch nicht, ihre Lösung verschob man also auf spätere Zeit.

Graf Timascheff, Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop hielten sich stets überzeugt, ihres Gleichen in verhältnißmäßig kurzer Zeit wieder zu begrüßen. Ebenso glaubten sie sich der Verpflichtung überhoben, Vorräthe für die Zukunft aufzuspeichern, die fruchtbaren Landstriche der Insel Gourbi auszunützen und die verschiedenen Arten von Säugethieren und Vögeln zu erhalten, welche sie anfänglich zu Stammeltern des Thierreiches auf der Gallia ausgewählt hatten.

Manchmal plauderten sie jedoch davon, was sie wohl unternommen hätten, die Gallia auf die Dauer bewohnbar zu machen, wenn es ihnen versagt gewesen wäre, sie jemals wieder zu verlassen. Wie viele Projecte tauchten da vor ihren Augen auf, wie viele Arbeiten waren zu bewältigen, die Existenz dieser nicht einmal zahlreichen Gesellschaft sicher zu stellen, welche ein zwanzigmonatlicher Winter so ernsthaft bedrohte.

Am kommenden 15. Januar sollte der Komet den Endpunkt seiner großen Achse, also sein Aphel erreichen, von diesem Zeitpunkte an aber mit wachsen der Geschwindigkeit auf seiner Bahn der Sonne wieder zueilen. Neun bis zehn Monate konnten wohl noch darüber hingehen, bis die Sonnenwärme das Meer vom Eis befreite und das Land wieder fruchtbar machte. Hiermit wäre die Zeit gekommen, wo die Dobryna und die Hansa Menschen und Thiere wieder nach der Insel Gourbi zurückführen sollten. Das Ackerland hätte man sodann für den so kurzen, aber heißen Gallia-Sommer eilends bearbeitet. Bei rechtzeitiger Einsaat lieferte der fruchtbare Boden voraussichtlich schon nach wenigen Monaten Getreide und Futterstoffe zur Ernährung Aller. Heu- und Kornernte hätte man vor der Rückkehr des Winters beendigt und auf der Insel ein freies, gesundheitsförderndes Jäger-und Bauernleben geführt. Mit dem Winter wäre man endlich zu jener Troglodyten-Existenz in den Hohlräumen des feuerspeienden Berges zurückgekehrt. Die Bienen hätten [362] dann auf's Neue die Zellen des Nina-Baues bevölkert, um darin die harte und lange kalte Jahreszeit zu verbringen.

Gewiß, nach ihrer warmen Wohnung wären die Kolonisten wohl heimgekehrt. Aber hätten sie denn niemals einen weiteren Ausflug unternommen, um vielleicht geeignetes Brennmaterial, etwa ein leicht auszubeutendes Kohlenlager, zu entdecken? Sollten sie nicht versucht haben, sich auf der Insel Gourbi selbst eine Wohnstätte zu errichten, welche, für die Bewohner bequemer, den Bedürfnissen der Kolonie und den klimatischen Verhältnissen der Gallia entsprechender wäre?

Ohne Zweifel hätten sie das Alles gethan, wenigstens es versucht, um dieser langen Einsperrung in den Höhlen von Warm-Land zu entgehen – einer Einsperrung, welche in geistiger Hinsicht noch beklagenswerther erschien als in körperlicher.

Es bedurfte eben eines Palmyrin Rosette, eines in seinen Zahlenreihen völlig aufgehenden Originales, um diese traurigen Folgen nicht zu spüren und unter den gegebenen Umständen auf der Gallia ad infinitum ausharren zu wollen.

Daneben bedrohte die Insassen von Warm-Land täglich noch eine andere entsetzliche Möglichkeit. Wer konnte vorhersagen, ob sie sich in Zukunft nicht erfüllen werde? Wer wenigstens versichern, daß ihr Eintritt nicht eher erfolgen könne, als bis der Komet wieder von der Sonne die für seine Bewohnbarkeit unumgänglich nöthige Wärmemenge erhielt? Hier lag eine sehr ernste Frage vor, welche die Bewohner der Gallia mit Rücksicht auf die nächste Zeit wiederholt behandelten, während sie dabei von der Zukunft in der Hoffnung absahen, dieser durch ihre Rückkehr zur Erde überhaupt zu entgehen.

Wir haben hier die Möglichkeit im Auge, daß der ganz Warm-Land gleichsam heizende Vulkan doch vielleicht verlöschen konnte. Sollte das innere Feuer der Gallia wirklich unerschöpflich sein? Was wurde aber aus den Bewohnern des Nina-Baues nach dem Aufhören dieses Feuers? Sollten sie sich weiter bis in das Innerste des Kometen hinab verkriechen, um daselbst eine erträgliche Temperatur zu suchen? Würde es ihnen endlich auch dort nicht unmöglich werden, der Kälte des freien Weltraumes zu trotzen?

Offenbar stand der Gallia in näherer oder fernerer Zukunft dasselbe Schicksal bevor wie allen übrigen Einzelkörpern unserer Sonnenwelt. Ihr inneres Feuer mußte einmal verlöschen; sie selbst zum todten Gestirn werden, [363] wie es der Mond jetzt schon ist und die Erde einst sein wird. Diese Aussicht hatte für die Bewohner der Gallia indeß nichts Beunruhigendes, da sie darauf rechneten, ihren Kometen weit eher verlassen zu haben, als er unbewohnbar würde.

Jedenfalls konnte die Eruption des Vulkanes von einem Augenblicke zum anderen, ebenso wie es bei den Vulkanen der Erde vorkommt, aufhören, noch ehe der Komet sich der Sonne hinreichend genähert hatte. Woher sollte man in diesem Falle aber jene Lava nehmen, welche die so nothwendige und wohlthuende Wärme bis in die Tiefe der Bergmasse verbreitete? Welches Heizmaterial würde dann ihrer Wohnstätte jene mittlere Temperatur ertheilen, welche sie brauchten, um bei einer Kälte von sechzig Graden unter Null fortzuleben?

Gewiß eine ernste Frage. Glücklicher Weise zeigte die Ausströmung der Auswurfsmassen bisher noch keinerlei bedrohliche Veränderung. Der Vulkan functionirte mit einer Regelmäßigkeit und, wie früher erwähnt, mit einer Ruhe von bester Vorbedeutung. In dieser Hinsicht brauchten sie sich also weder wegen der Zukunft, noch wegen der Gegenwart besondere Sorgen zu machen. Mindestens war das die Ansicht des stets vertrauungsvollen Kapitän Servadac.

Am 15. December schwebte die Gallia 129.6 Millionen Meilen von der Sonne entfernt, d.h. fast am Ende der großen Achse ihrer Bahn. Sie bewegte sich jetzt nur mit einer monatlichen Geschwindigkeit von 6 bis 7 Millionen Meilen vorwärts.

Vor den Augen der Gallia-Bewohner, vorzüglich freilich vor denen Palmyrin Rosette's, that sich eine ganz neue Welt auf. Nachdem er den Jupiter aus größerer Nähe, als es jemals einem Sterblichen vergönnt gewesen, beobachtet, beschäftigte sich der Professor jetzt mit Betrachtung des Saturn.

Leider bot dieser nicht jene ausnehmend günstigen Verhältnisse der Entfernung. Nur 7.8 Millionen Meilen hatten zwischen dem Kometen und der Jupiterwelt gelegen, wogegen ihn 103.8 Millionen Meilen von dem anderen merkwürdigen Planeten trennten. Von Seiten des letzteren waren also Verzögerungen, außer den schon in Rechnung gezogenen, und überhaupt ernstere Störungen gewiß nicht zu fürchten.

[364] Auf jeden Fall befand sich Palmyrin Rosette in der günstigen Lage, den Saturn etwa so beobachten zu können, als hätte sich dieser einem Astronomen der Erde um den halben Durchmesser seiner Bahn genähert.

Es wäre ganz überflüssig gewesen, ihn mit Anfragen über Einzelheiten des Saturns zu behelligen. Der Ex-Professor fühlte kein Bedürfniß, sein Licht leuchten zu lassen. Man hätte ihn wohl kaum dazu vermocht, sein Observatorium zu verlassen, und es schien fast, als sei das Ocular seines Fernrohres Tag und Nacht direct an sein Auge geschraubt.

Als Ersatz zählte die Bibliothek der Dobryna mehrere Werke über elementare Kosmographie, so daß alle Kolonisten, welche sich für derartige astronomische Fragen interessirten, Dank dem Lieutenant Prokop, von der Saturnwelt hören konnten, was sie verlangten.

Ben-Zouf schien vorzüglich befriedigt, als man ihm mittheilte, daß die Erde, wenn die Gallia in derselben Distanz von der Sonne gravitirte wie der Saturn, mit bloßem Auge nicht mehr sichtbar sein würde. Bekanntlich hielt die Ordonnanz vor allem daran fest, daß die Erdkugel wenigstens immer für seine Augen erkennbar bleibe.

»So lange man die Erde sieht, ist noch nichts verloren!« wiederholte er immer.

Wirklich wäre die Erde in der Entfernung, welche den Saturn von der Sonne trennt, auch für die besten Augen unsichtbar geworden.

Saturn schwebte zu dieser Zeit noch 105 Millionen Meilen von der Gallia, also 218.6 Millionen Meilen weit von der Sonne. In dieser Stellung erhielt er nur den hundertsten Theil des Lichtes und der Wärme, welche die Erde von dem Centralkörper empfängt.

Mit dem Buche in der Hand erfuhr man, daß der Saturn seinen Kreislauf um die Sonne binnen 29 Jahren, 167 Tagen vollendet, wobei er mit einer Geschwindigkeit von nahezu 5315 Meilen in der Stunde eine Bahn von 1,378 1/2 Millionen Meilen durchmißt – »die Centimes immer weggelassen«, wie Ben-Zouf sagte. Der Umfang dieses Planeten beträgt am Aequator 54,108 Millionen Meilen. Seine Oberfläche 24 Milliarden Quadrat-Kilometer, sein Inhalt 399.6 Milliarden Kubik-Kilometer. In Summa ist der Saturn 735mal so groß als die Erde, folglich kleiner als der Jupiter. Die Masse des Planeten freilich erreicht nur das Hundertfache der Erdmasse, weshalb ihm auch nur eine geringere Dichtigkeit als die des [365] Wassers zugeschrieben wird. Er dreht sich in 10 Stunden 29 Minuten um seine Achse, wonach sein Jahr aus 24,600 Tagen bestehen muß und seine Jahreszeiten, mit Rücksicht auf die sehr starke Neigung seiner Achse zur Ebene der Bahn, jede sieben volle Erdenjahre andauern.

Was den Saturn-Bewohnern aber vorzüglich herrliche Nächte verschaffen muß, das sind die acht Monde, welche ihren Planeten begleiten. Sie führen die sehr mythologischen Namen Midas, Enceladus, Thetys, Dione, Rhea, Titan, Hyperion und Japet. Wenn die Revolution des Midas nur zweiundzwanzig und eine halbe Stunde dauert, so währt die des Japet dagegen neunundsiebzig Tage. Während die mittlere Entfernung des Japet von der Oberfläche des Saturns 546,000 Meilen beträgt, umkreist der Midas diesen nur in einer Distanz von 20,400 Meilen, also fast dreimal so nahe als der Mond die Erde. O, sie müssen prachtvoll sein, diese Nächte wenn das von der Sonne bis dorthin gesendete Licht auch nur von schwacher Intensität sein kann.

Einen weiteren Reiz verleiht den Nächten auf diesem Planeten ohne Zweifel noch der dreifache Ring, der ihn umschließt. Der Saturn erscheint wie umrahmt von einer leuchtenden Fassung. Ein genau unter diesem Ringe stehender Beobachter, über dessen Kopf jener also im Zenith, übrigens in einer Höhe von 3099 Meilen, sich dahin zöge, würde nichts als einen schwachen Streifen wahrnehmen, dessen Breite Herschel auf kaum 66 Meilen abschätzte. Er muß dem nach wie ein leuchtender, durch den Weltraum gespannter Faden erscheinen. Verändert der Beobachter aber seine Stellung nach der einen oder der anderen Seite, so sieht er drei concentrische Ringe sich nach und nach von einander ablösen, deren nächster, dunkel aber durchscheinend, eine Breite von 1875.6 Meilen hat, der mittlere 4433 Meilen Breite und leuchtender als der Komet selbst ist, und der äußerste endlich 2207 Meilen mißt und dem Auge in mehr grauer Färbung erscheint.

Das ist das Wissenswertheste über diesen ringförmigen Begleiter, der sich in seiner Ebene binnen zwei Stunden zweiunddreißig Minuten herumdreht. Aus welchem Stoffe besteht nun dieser Ring und wie widersteht er dem Zerfalle? Niemand weiß es; da er ihn dem Saturn als Begleiter gab, wollte der Schöpfer den Menschen vielleicht zeigen, auf welche Art und Weise sich die Himmelskörper bilden. Dieser Appendix ist nämlich ohne Zweifel der Rest der Nebelmasse, aus welcher durch allmälige Concentration der [366] Saturn dereinst entstanden ist. Aus unbekannten Gründen consolidirte er sich damals abgesondert, und wenn er jetzt zertrümmert würde, stürzte er entweder in Stücken auf den Saturn oder seine Bruchstücke bildeten ebenfalls neue Satelliten.

Wie dem auch sei, jedenfalls muß dieser dreifache Ring für die Bewohner des Saturns zwischen dessen Aequator und dem fünfundvierzigsten Grade der Breite Veranlassung zu den merkwürdigsten Erscheinungen geben. Bald glänzt er nämlich am Horizonte gleich einem ungeheuren Bogen, der am Scheitel seines Gewölbes durch den eigenen Schatten des Saturns unterbrochen wird; bald erscheint er nirgends verdunkelt als halbe Strahlenkrone. Sehr häufig verdunkelt er jedoch die Sonne, welche gewiß zur größten Genugthuung der Saturn-Astronomen zu fest bestimmter Zeit verschwindet und wieder erscheint. Rechne man hierzu noch den Aufgang und Untergang der acht Monde, deren einer sich vielleicht voll, der zweite im ersten oder letzten Viertel, die anderen als zu- oder abnehmende Sicheln zeigen, so muß der Saturnhimmel in der Nacht ein wahrhaft unvergleichliches Schauspiel bieten.

Die Gallia-Bewohner waren freilich nicht in der Lage, all' die Herrlichkeit dieser abgeschlossenen Welt zu bewundern. Daran hinderte sie die viel zu große Entfernung. Die Astronomen der Erde bringen sich diesen großen Planeten mittels ihrer mächtigen Fernröhre mehr als tausendmal näher und die Bücher der Dobryna lehrten dem Kapitän Servadac und seinen Gefährten hier mehr als ihre eigenen Augen. Sie beklagten sich darüber indeß nicht – die Nachbarschaft dieser großen Gestirne barg für ihren winzigen Kometen gar zu viele Gefahren!


Saturn und seine Satelliten. (S. 367.)

Auch in die entferntere Welt des Uranus vermochten sie nicht weiter einzudringen; doch wurde der Hauptplanet dieser Einzelwelt, welcher die Erde zweiundachtzigmal an Größe übertrifft, wie schon erwähnt, für das bloße Auge sehr deutlich sichtbar, während er von der Erde aus auch bei seinem nächsten Stande von derselben nur einen Stern sechster Größe darstellt. Man sah nichts von den acht Satelliten, welche auch ihn begleiten auf seiner Bahn, die er binnen achtzig Jahren durchfliegt, wobei er von der Sonne im Mittel 437.5 Millionen Meilen absteht.


Bald glänzt er am Horizonte gleich einem ungeheuren Bogen. (S. 367.)

Was nun den letzten Planeten des Sonnensystems betrifft – den letzten bis zu dem Augenblick, da ein Leverrier der Zukunft vielleicht einen noch entfernteren Wanderer entdeckt – so konnten die Gallia-Bewohner denselben [367] nicht wahrnehmen. Palmyrin Rosette sah ihn gewiß im Gesichtsfelde seines Fernrohres, er empfing aber niemals Gesellschaft in seinem Observatorium, und mußte man sich somit begnügen, den Neptun ... in den kosmographischen Werken zu studiren.

Der mittlere Abstand dieses Planeten von der Sonne beträgt 684 Millionen Meilen und die Dauer seiner Umlaufszeit 165 Jahre. Neptun durcheilt seine[368] ungeheure Bahn von 4302 Millionen Meilen mit einer Schnelligkeit von 20,000 Kilometern in der Stunde, und besitzt die Form eines die Erde an Größe um das Hundertfache übertreffenden Sphäroïïdes, welches ein Satellit in der Entfernung von 66,000 Meilen begleitet.

Der Abstand von fast 700 Millionen Meilen, wie ihn der Neptun aufweist, scheint die Grenze unseres Sonnensystems zu bezeichnen. Wie groß [369] der Durchmesser dieser Welt auch sein mag, so verschwindet er doch völlig, wenn man ihn mit demjenigen der Fixsterngruppe vergleicht, zu welcher unsere Sonne wieder als Einzelglied gehört.

Die Sonne scheint in der That einen Bestandtheil jenes großen Sternennebels zu bilden, den wir die Milchstraße nennen, innerhalb dessen sie vielleicht wie ein bescheidener Stern vierter Größe erglänzt. Wohin wäre also die Gallia wohl gerathen, wenn sie der Anziehung der Sonne entwich? Welchem neuen Centrum hätte sie sich auf ihrem Wege durch die Sternenwelt angeschlossen? Wahrscheinlich einem der nächsten Sterne der Milchstraße.

Dieser Stern ist übrigens das Alpha im Sternbilde des Centauren, und das Licht, welches 46,000 Meilen in der Secunde zurücklegt, braucht doch nicht weniger als dreiundeinhalb Jahr, um von der Sonne bis zu ihm zu gelangen. Wie groß ist denn diese Entfernung? Sie ist so groß, daß die Astronomen, um sie bequem zu bezeichnen, die Milliarde als Einheit setzen und sagen, daß der Stern Alpha von uns 4800 »Milliarden« Meilen absteht.

Kennt man wohl eine größere Anzahl solcher Sterndistanzen? Höchstens acht derselben sind gemessen worden und kennt man unter den hervorragendsten, bezüglich derer das möglich war, die Vega, in 30,000 Milliarden, den Sirius in 31,320 Milliarden, den Polarstern in 69,560 und die Capella in 102,240 Milliarden Meilen Entfernung.

Um eine Vorstellung von solchen Verhältnissen zu geben, kann man unter Zugrundelegung der Geschwindigkeit des Lichtes nach dem Vorgang einiger geistreicher Gelehrten sich etwa folgendermaßen ausdrücken:

»Nehmen wir zunächst einen Beobachter an, der mit unbegrenztem Gesichtssinne ausgestattet wäre, und denken ihn uns beispielsweise auf der Capella. Wenn derselbe nach der Erde blickte, so würde er Zeuge der Vorgänge sein, welche sich vor 72 Jahren ereigneten. Nach einem zehnmal weiteren Stern versetzt, müßte er die Ereignisse vor 720 Jahren vor Augen haben. Noch weiter, bis zu einer Entfernung, welche zu durchlaufen das Licht 1800 Jahre brauchte, würde er Augenzeuge der Kreuzigung Christi sein. Immer noch entfernter, da, bis wohin der Lichtstrahl 6000 Jahre braucht, könnte er heute die Zerstörungen der Sündfluth betrachten. Endlich noch weiter draußen – der Weltraum ist ja unendlich – würde er nach der Tradition der Bibel Gott selbst sehen, wie er die Welt aus dem Nichts erschuf. Alle Ereignisse sind so zu sagen im Weltraume stereotypirt [370] und nichts kann spurlos verschwinden, was überhaupt einmal im Universum geschehen ist.«

Vielleicht hatte er recht, der abenteuerlustige Palmyrin Rosette, durch die Sternenwelt zu schweifen, wo so viele Wunder seine Augen entzückten. Wenn sein Komet nacheinander aus der Sphäre eines Fixsternes in die eines anderen übergetreten wäre, wie viel verschiedene Sternen- oder Sonnensysteme hätte er da beobachten können! Die Gallia hätte ihren Ort verändert gleichzeitig mit jenen Gestirnen, deren Unbeweglichkeit nur eine scheinbare ist, und die sich dennoch fortbewegen, wie z.B. der Arktur mit einer Schnelligkeit von 13.2 Meilen in der Secunde. Auch unsere Sonne hat eine Jahresbewegung von 37.2 Millionen Meilen in der Richtung nach dem Sternbilde des Hercules hin. Die Entfernung dieser Sterne ist aber so groß, daß ihre betreffenden Stellungen trotz dieser so geschwinden Fortbewegung für die Beobachter der Erde noch nicht im geringsten verändert erscheinen.

Immerhin müssen diese Jahrhunderte andauernden Ortsveränderungen einmal nothwendig die Gestalt der Sternbilder modificiren, da jeder Stern mit verschiedener Schnelligkeit fortrückt oder doch fortzurücken scheint. Die Astronomen sind im Stande gewesen, die neue Stellung zu bestimmen, welche die Fixsterne nach Verlauf sehr vieler Jahre gegen einander einnehmen werden. Man hat sogar Zeichnungen der Sternbilder, wie sie sich in 50,000 Jahren darstellen werden, graphisch vervielfältigt. Sie zeigen z.B. an Stelle des unregelmäßigen Viereckes des großen Bären ein langgezogenes Kreuz, und statt des Fünfeckes im Sternbilde des Orion ein einfaches Viereck.

Doch weder die jetzigen Bewohner der Gallia, noch die der Erde, wären im Stande gewesen, diese nach und nach eintretenden Dislocationen wahrzunehmen. Das war es auch sicherlich nicht, was Palmyrin Rosette in der Sternenwelt zu ergründen suchte. Doch wenn irgend ein Umstand den Kometen dem Centrum seiner Attraction entrissen hätte, um denselben irgend welchem anderen Gestirne zuzuführen, so wären seine Augen gewiß entzückt gewesen bei Betrachtung der Wunder, von welchen unser Sonnensystem keine Vorstellung geben kann.

Die Planetengruppen des Weltraumes werden nämlich keineswegs von einer einzigen Sonne regiert. Das monarchische System scheint nur auf einige Punkte des Himmels beschränkt. Es gravitiren hier eine, dort zwei, [371] da sechs Sonnen, welche von einander abhängen, unter ihrem gegenseitigen Einflusse. Da giebt es verschiedene gefärbte Sterne, rothe, gelbe, grüne, orange- und indigofarbene. Wie wunderbar mögen die Lichtcontraste sich ausnehmen, welche sie auf die Oberfläche ihrer Planeten werfen. Und wer weiß, ob die Gallia beim Tagesanbruch nicht nach und nach Licht von allen Farben des Regenbogens an ihrem Horizonte zu sehen bekommen hätte.

Doch, es sollte ihr nicht beschieden sein, unter der Anziehung eines anderen Centrums ihren Weg fortzusetzen, sich unter jenen Sternhaufen zu mischen, welchen die mächtigen Teleskope noch aufzulösen vermögen, noch sich nach jenen Nebelsternen hin zu verlieren, die bis jetzt nur zum Theile aufgelöst sind, oder gar nach jenen Nebelmassen, welche selbst den größten Reflectoren widerstehen, Nebelmassen, deren die Astronomen im Himmelsraume über 5000 kennen.

Nein, die Gallia sollte die Sonnenwelt niemals verlassen, noch die Erde aus dem Gesichte verlieren. Nachdem sie aber eine Bahn von 378 Millionen Meilen beschrieben, hatte sie doch nur eine verschwindend kleine Reise durch das Universum vollbracht, dessen Ausdehnung ja keine Grenzen kennt.

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Wie man den 1. Januar auf der Gallia feierte und auf welche Weise dieser Festtag endete.

Mit der zunehmenden Entfernung der Gallia wuchs nun auch die Kälte sehr merkbar. Schon war die Temperatur auf zweiundvierzig Grad unter Null herabgegangen. Unter diesen Verhältnissen hätten die Quecksilber-Thermometer nicht benutzt werden können, da das Quecksilber bei zweiundvierzig Grad gefriert. Es wurde also das Alkohol-Thermometer der Dobryna in Gebrauch genommen, und dessen Säule fiel dann auf dreiundfünfzig Grad unter den Eispunkt.

[372] Jetzt zeigte sich auch die von Lieutenant Prokop vorausgesehene Wirkung der Kälte an den Rändern der Bucht, welche den beiden Fahrzeugen als Ueberwinterungshafen diente. Die Eisschichten unter dem Rumpfe der Hansa und der Dobryna hatten sich in langsamem, aber unwiderstehlichem Fortschreiten verdickt. Nahe dem felsigen Vorlande, das sie deckte, sah man die Goëlette und die Tartane hoch auf ihrer krystallenen Schaale erhoben, so daß sie schon fünfzig Fuß über das Niveau des Meeres emporragten. Die etwas leichtere Dobryna stand noch etwas höher als die Tartane. Keine menschliche Kraft aber war im Stande, dieses langsame Empordrängen auf zuhalten.

Lieutenant Prokop beunruhigte das der Goëlette bevorstehende Schicksal natürlich nicht wenig. Alles Werthvolle war aus ihrem Innern zwar herausgeschafft und nur der Rumpf, die Bemastung und die Maschine übrig geblieben; aber gerade dieser Schiffsrumpf konnte ja noch bestimmt sein, im Falle der Noth der ganzen kleinen Kolonie eine letzte Zufluchtsstätte zu bieten. Wenn derselbe nun mit Eintritt des Thauwetters in Folge des gar nicht abzuwendenden Sturzes in tausend Stücken zerbrach und die Bewohner der Gallia vielleicht gezwungen wären, Warm-Land zu verlassen, welches andere Schiff hätte ihnen es dann ersetzen können?

Die Tartane gewiß nicht, denn diese war ja ebenso bedroht und ihr stand ohne Zweifel dasselbe Schicksal bevor. Die Hansa schien sogar weniger gut vom Eise unterstützt zu sein, denn sie neigte sich schon in einem sehr beunruhigenden Winkel zur Seite. Es wurde gefährlich, sie noch länger zu bewohnen. Der Jude verstand sich trotz Allem nicht dazu, seine Ladung zu verlassen, die er Tag und Nacht bewachen zu müssen glaubte. Er fühlte es recht wohl, daß sein Leben bedroht sei, sein Hab und Gut aber noch weit mehr, und er entblödete sich nicht, denselben »Ewigen«, den er bei jedem dritten Worte anrief, für alle die Prüfungen, die er auf ihn häufte, regelrecht zu verwünschen.

Unter diesen Umständen sah sich Kapitän Servadac zu einem Entschlusse genöthigt, dem der Jude sich unterwerfen mußte. Wenn Isaak Hakhabut's Leben auch für die anderen Mitglieder der Kolonie nicht gerade unentbehrlich schien, so hatten doch seine Waarenvorräthe einen unschätzbaren Werth. Jedenfalls mußten diese zunächst dem nahen Verderben entrissen werden. Kapitän Servadac versuchte auch zuerst, dem Juden Angst wegen seiner eigenen Person [373] einzuflößen, erreichte damit aber so gut wie nichts. Der Jude wollte eben nicht ausziehen.

»Das steht Euch zuletzt frei, hatte ihm Kapitän Servadac auf seine Weigerung geantwortet, Eure Waaren werden aber in eines der Magazine von Warm-Land geschafft werden.«

Die Klagelieder, welche Isaak Hakhabut darum hören ließ, rührten trotz ihres jämmerlichen Tones doch Niemanden, und die angesagte Ausräumung fand im Laufe des 20. Decembers wirklich statt.

Dem Juden war es ja erlaubt, sich im Nina-Baue häuslich einzurichten und ganz wie vorher seine Waaren zu bewachen, zu verkaufen und zu handeln nach bestimmtem Preise und Gewichte. Es wurde ihm nicht das Geringste in den Weg gelegt. Wahrlich, wenn sich Ben-Zouf überhaupt erlaubt hätte, seinen Kapitän zu tadeln, so wäre es darüber gewesen, daß man diesem erbärmlichen Kinde Israel's gegenüber so viel Schonung beobachtete.

Im Grunde stimmte Isaak Hakhabut dem Beschlusse des General-Gouverneurs eigentlich vollkommen zu. Er wahrte ja sein Interesse und brachte ihn selbst und seine Reichthümer in Sicherheit, und dazu hatte er für die Entladung der Tartane »nichts zu zahlen«, da sie gegen seinen Willen ausgeführt worden war.

Mehrere Tage lang beschäftigte diese Arbeit die Russen und die Spanier. Warm gekleidet und den Kopf dicht verhüllt, widerstanden sie der niedrigen Temperatur ohne Beschwerden. Nur mußten sie sich hüten, metallene Gegenstände, welche sie transportirten, mit bloßen Händen anzufassen. Die Haut der Finger wäre unzweifelhaft ebenso daran hängen geblieben, als wären sie in rothglühendem Zustande gewesen – denn die Wirkung sehr heftiger Kälte gleicht derjenigen höherer Hitzegrade vollkommen. Die Arbeit verlief ohne Zwischenfall und die Ladung der Hansa wurde endlich in einer der weiten Galerien des Nina-Baues untergebracht.

Lieutenant Prokop beruhigte sich nicht eher, als bis Alles in Ordnung war.

Jetzt entschloß sich nun Isaak Hakhabut, da ihm jede Ursache fehlte, noch länger in der Tartane zu wohnen, auch die Galerie, welche seine Waaren barg, selbst zu beziehen; wir gestehen gern, daß er dadurch nur wenig belästigte. Man sah ihn sehr selten. Er schlief neben seinen Waaren [374] und ernährte sich von ihnen. Eine Spirituslampe genügte seinen mehr als bescheidenen Küchenbedürfnissen. Die Bewohner des Nina-Baues unterhielten niemals besondere Beziehungen zu ihm, außer wenn es sich für sie darum handelte, zu kaufen und für ihn zu verkaufen. Eines aber war sicher daß das ganze Gold und Silber der kleinen Kolonie nach und nach in einen dreifach verschlossenen Schrank zusammenfloß, dessen Schlüssel Isaak Hakhabut niemals verließ.

Der erste Januar des Erdenjahres nahte heran. Nach wenig Tagen war ein Jahr verflossen seit dem Zusammenstoße der Erde mit dem Kometen, seit dem Ereigniß, welches sechsunddreißig menschliche Wesen urplötzlich von ihresgleichen getrennt hatte. Bis jetzt fehlte von diesen noch Keiner. Bei den neuen klimatischen Verhältnissen hielt sich ihre Gesundheit auffallend gut. Diese stets abnehmende Temperatur, welche aber keinen jähen Umschlag zeigte und von fast gar keiner Luftbewegung begleitet war, hatte ihnen nicht einmal einen Schnupfen verursacht. Konnte es ein gesünderes Klima geben als das des Kometen? Alles ließ demnach voraussetzen, daß, wenn nur die Berechnungen des Professors richtig waren und die Gallia wirklich zur Erde zurückkehrte, die Bewohner derselben auch in unverminderter Anzahl mit anlangen würden. Obwohl dieser erste Tag des Jahres nicht auch der erste des Gallia-Jahres war und mit ihm nur die zweite Hälfte des Umlaufes um die Sonne begann, so wünschte Kapitän Servadac doch, und zwar mit gutem Grunde daß man ihn mit einer gewissen Feierlichkeit begehe.

»Es scheint mir nicht gut, äußerte er zu Graf Timascheff und Lieutenant Prokop, daß unsere Gefährten sich der Angelegenheiten der Erde gänzlich entwöhnen. Sie sollen ja einst nach der Erdkugel zurückkehren, doch selbst wenn dieser Fall nicht einträte, bleibt es immerhin gerathen, ihre Verbindung mit der alten Welt, und wenn auch nur der Erinnerung wegen, nicht ganz verloren gehen zu lassen. Da unten wird man Neujahr feiern, also feiern wir es auch auf dem Kometen. Diese Uebereinstimmung der Empfindung hat ihre guten Seiten. Wir dürfen nicht vergessen, daß man sich auf der Erde mit uns beschäftigen wird. Von verschiedenen Punkten aus sieht man dort die Gallia durch den Weltraum irren, wenn auch, ihrer geringen Größe wegen, nicht mit bloßen Augen, so doch mit Hilfe der Fernrohre und Teleskope. Eine Art wissenschaftliches Band verknüpft uns stets mit der Erde und die Gallia bildet ja zu jeder Zeit einen Theil der Sonnenwelt.

[375] – Ich stimme Ihnen bei, Kapitän, antwortete Graf Timascheff. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Sternwarten mit der Beobachtung des neuen Kometen beschäftigt sein müssen. Ich glaube gern, daß in Paris, Petersburg, Greenwich, Cambridge, am Cap, wie in Melbourne die mächtigen Himmelsfernrohre häufig genug nach unserem Asteroïden gerichtet sind.


Die Ordonnanz hatte wiederholt Besprechungen mit dem Koch. (S. 379.)

– Er muß jetzt da unten sehr in der Mode sein, meinte Kapitän Servadac, und es sollte mich sehr wundern, wenn die Revuen, die Journale, [376] das große Publikum über Alles, was mit und an der Gallia geschieht, nicht auf dem Laufenden erhielten. Gedenken wir also Derer, welche am 1. Januar gewiß unser gedenken, und feiern wir den Tag mit denselben Gefühlen wie sie.


Franzosen, Russen, Spanier fanden sich vereinigt ... (S. 380)

– Sie glauben, mischte sich da Lieutenant Prokop ein, daß man sich auf der Erde mit dem Kometen, der einmal an sie stieß, beschäftigt? Ich glaube das zwar auch, aber ich halte dafür, daß man dort von ganz anderen [377] Motiven dazu geführt wird als dem wissenschaftlichen Interesse oder gar der bloßen Neugier. Die Beobachtungen, mit welchen unser Astronom sich beschäftigte, sind auf der Erde sicher auch und mit nicht minderer Genauigkeit angestellt worden. Die Ephemeriden der Gallia mögen wohl schon lange zweifellos ermittelt sein. Man kennt die Elemente des neuen Kometen. Man weiß, welche Bahn er im Weltraume durchläuft und hat jedenfalls doch auch bestimmt, wo und wie er die Erde wieder treffen wird. An welchem Punkte der Ekliptik, zu welcher Secunde, an welchem geographischen Orte er an die Erdkugel stoßen wird, das Alles ist gewiß mit mathematischer Genauigkeit berechnet. Die Gewißheit dieses erneuten Zusammenstoßes aber dürfte die Gemüther wohl nicht weniger beunruhigen. Ja, ich gehe noch weiter und behaupte, daß man auf Erden allerlei Vorbereitungen treffen wird, um die entsetzlichen Wirkungen des zweiten Stoßes zu mildern – wenn das überhaupt auf irgend eine Weise möglich ist!«

Mit diesen Worten mochte Lieutenant Prokop wohl die Wahrheit ziemlich treffen; die Logik mindestens konnte man ihnen nicht absprechen. Die nach allen Seiten durch Rechnungen bestimmte Wiederkehr der Gallia genügte gewiß, auf der Erde jedes andere Interesse zu unterdrücken. Man mußte wohl an die Gallia denken, doch nur mit dem Wunsche, daß sie niemals zurückkehren möchte. Auch die Bewohner des Kometen konnten sich, trotzdem sie jenes Wiederzusammentreffen lebhaft herbeiwünschten, einer gewissen Beunruhigung nicht entschlagen. Wenn auf der Erde, wie Lieutenant Prokop meinte, Vorkehrungen getroffen wurden, um die drohenden fürchterlichen Folgen zu mildern, sollte es da nicht am Platze sein, auf der Gallia an etwas Aehnliches zu denken? Diese Frage verdiente wohl später in Betracht gezogen zu werden.

Wie dem nun auch sein mochte, man blieb bei dem Beschlusse, den 1. Januar gebührend zu feiern. Auch die Russen sollten sich dabei den Franzosen und Spaniern anschließen, obgleich deren Kalender den Jahresanfang nicht für den nämlichen Tag angiebt. 1

[378] Weihnachten kam heran. Der Jahrestag der Geburt Christi wurde kirchlich, wenn man hier so sagen darf, gefeiert.

Der Jude allein schien sich an diesem Tage noch tiefer in seine dunkle Ecke zu verkriechen.

Während der letzten Woche des Jahres war Ben-Zouf außerordentlich beschäftigt, um ein anziehendes Programm aufzustellen. Von sehr verschiedenen Vergnügungen konnte auf der Gallia ja von vornherein nicht die Rede sein. Man kam also dahin überein, den Tag mit einem tüchtigen, auserlesenen Frühstück zu beginnen und mit einem Ausfluge auf dem Eise nach der Seite der Insel Gourbi zu beschließen. Die Rückkehr sollte unter festlicher Beleuchtung erfolgen, d.h. mittels Fackeln, welche man aus den nöthigen, auf der Hansa sich vorfindenden Ingredienzen selbst verfertigte.

»Wenn das Frühstück ausnehmend gut ausfällt, philosophirte Ben-Zouf, so wird der Ausflug nicht minder lustig werden, und weiter braucht es ja nichts!«

Die Zusammenstellung des Speisezettels gestaltete sich also zu einer sehr wichtigen Angelegenheit. Die Ordonnanz des Kapitän Servadac hatte darum wiederholt Besprechungen mit dem Koch der Dobryna, deren Endresultat in einer glückverheißenden Verbindung der russischen und französischen Küche gipfelte.

Am 31. December Abends war Alles bereit. Die kalten Gerichte, wie Fleischconserven, Wildpastete, Galantine und andere, welche man zu gutem Preise von dem Juden Isaak Hakhabut erworben hatte, figurirten schon auf der Tafel des Hauptsaales, die warmen Speisen sollten erst am nächsten Morgen in dem Lavaosen zubereitet werden.

An diesem Abend berührte man noch eine Frage bezüglich Palmyrin Rosette's. Sollte man den Professor einladen, an der Festtafel theilzunehmen? Gewiß erforderte das die Höflichkeit. Würde er die Einladung auch annehmen? Das erschien mehr als zweifelhaft.

Nichtsdestoweniger erging diese Einladung. Kapitän Servadac hatte sie persönlich nach dem Observatorium überbringen wollen; Palmyrin Rosette empfing aber alle ungeladenen Gäste so barsch, daß man es vorzog, ihm ein Briefchen zu senden.

[379] Der junge Pablo erbot sich, dasselbe zu überbringen, und kam bald darauf mit einer in folgende Worte gefaßten Antwort zurück:

»Palmyrin Rosette hat nichts Anderes zu sagen, als das: Heute ist der 125. Juni und morgen wird der 1. Juli sein, da man auf der Gallia doch wohl Veranlassung hat, nach dem hier giltigen Kalender zu rechnen.«

Das war zwar ein wissenschaftlich abgefaßter Absagebrief, doch eine Absagung blieb es immer.

Am 1. Januar, eine Stunde nach Sonnenaufgang, fanden sich Franzosen, Russen, Spanier und die kleine Nina, welche Italien repräsentirte, zu einem Frühstück vereinigt, wie ein solches die Gallia noch niemals gesehen hatte.

Bezüglich des solideren Theiles desselben hatten Ben-Zouf und der Küchenmeister der Dobryna sich thatsächlich selbst übertroffen. Eine Schüssel mit Rebhuhn und Kohl, welch' letzterer hier durch »Carry« ersetzt und so zart war, daß er die Papillen der Zunge und die Schleimhaut des Magens fast gelöst hätte, bildete den Glanzpunkt der Speisekarte. Die aus den Vorräthen der Dobryna entnommenen Weine lobten sich selbst. Da trank man denn französische und spanische Weine zur Ehre ihres Vaterlandes und selbst Rußland fand durch einige Flaschen Branntwein gebührende Vertretung. Es war wirklich, wie Ben-Zouf gehofft, sehr schön und sehr heiter.

Zum Schluß rief ein Toast auf das gemeinsame Vaterland, die alte Erdkugel und auf die Rückkehr nach derselben einen solchen Beifallssturm hervor, daß Palmyrin Rosette ihn gewiß in der stillen Höhe seines Observatoriums vernehmen mußte.

Nach Beendigung des Frühstücks hatte man noch drei volle Stunden Tag vor sich. Eben passirte die Sonne den Zenith – eine Sonne, welche niemals die Reben von Bordeaux oder Burgund, deren Blut man eben getrunken, gezeitigt hätte, denn sie erleuchtete Alles nur schwach und erwärmte gar nicht.

Alle Tafelgenossen kleideten sich von Kopf bis zu den Füßen warm an, um einen Ausflug zu unternehmen, der bis zum Eintritt der Nacht ausgedehnt werden sollte. Sie setzten sich dabei freilich einer sehr rauhen Temperatur aus, konnten das aber bei der ruhigen Luft ungestraft wagen.

Alle verließen, die Einen plaudernd, die Anderen singend, den Nina-Bau. Am Strande legten Alle die Schlittschuhe an und tummelten sich lustig, [380] entweder allein oder in einzelnen Gruppen. Graf Timascheff, Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop hielten sich gern zu einander. Negrete und die Spanier schweiften in launischen Bogen auf der ungeheuren Fläche umher und verschwanden bald mit wunderbarer Schnelligkeit unter den Grenzen des Horizontes. Jetzt, wo sie das Schlittschuhlaufen sicher erlernt, entwickelten sie mit Vorliebe dabei auch die ihnen angeborene Grazie.

Die Matrosen der Dobryna bildeten, nach einer in den nördlichen Ländern beliebten Gewohnheit, eine lange Reihe. Eine unter dem rechten Arme gehaltene Stange hielt sie dabei in einer Linie und so flogen sie hinaus bis über Sehweite, wie ein Eisenbahnzug, der in seinen Schienen nur Bogen von großem Radius beschreiben kann.

Pablo und Nina vergnügten sich vor Freude aufjauchzend Arm in Arm – zwei flatternde Vögel, denen man die Freiheit geschenkt – und näherten sich jetzt der Gruppe des Kapitän Servadac, um ihr sofort wieder im losen Spiel zu entfliehen. Diese jungen Wesen vereinigten in sich, man möchte sagen alle Freude auf der Gallia und vielleicht auch fast alle Hoffnung.

Hierbei ist jedoch Ben-Zouf nicht zu übergehen, der in fröhlicher Laune von dem Einen zum Anderen eilte, sich ganz der schönen Gegenwart hingab und sich um die Zukunft wenigstens nicht absorgte.

Die Schlittschuhläufer-Gesellschaft, welche mit fröhlichem Muthe über diese prachtvolle, ebene Fläche dahinflog, wagte sich weit, weit hinaus – weiter als die Kreislinie, welche den Horizont von Warm-Land umschloß. Ihren Augen verschwanden zuerst die Felsen des Ufers, dann der weiße Kamm der höheren Stufen und endlich auch der Gipfel des Vulkans mit seiner Wolkenhaube. Manchmal hielten die Läufer an, um Athem zu schöpfen, doch nur für einen Augenblick, um sich der Kälte nicht zu sehr auszusetzen. Dann ging es sausend wieder vorwärts nach der Küste der Insel Gourbi zu, ohne daß sie Jemand zu erreichen gesucht hätte, denn schon sank die Nacht herab und mahnte zur schleunigen Rückkehr.

Die Sonne senkte sich im Osten oder vielmehr – eine Erscheinung, welche die Gallia-Bewohner schon hinlänglich gewöhnt waren – sie schien rasch niederzustürzen. Der Untergang des Tagesgestirns ging an diesem begränzten Horizonte eben unter eigenthümlichen Umständen vor sich. Hier erglühten keine Dünste in den prächtigen Farbentönen, welche die letzten[381] Strahlen sonst hervorzuzaubern pflegen. Ueber dem gefrorenen Meere sah das Auge nicht einmal jenen letzten grünlichen Lichtschimmer, der sonst über die flüssige Oberfläche zittert. Hier zeigte die durch eine bekannte optische Täuschung größer erscheinende Sonne bis zuletzt ihre reine, unveränderte Scheibe. Dann glaubte man, es habe sich plötzlich ein Schlund in dem Eise geöffnet, in dem sie verschwand und der dunklen Nacht ohne Uebergang Platz machte.

Bevor der Tag zur Neige ging, sammelte Kapitän Servadac seine kleine Welt um sich. Während man in Schützenschwärmen hinausgezogen war, sollte der Rückweg in geschlossenem Gliede angetreten werden, denn der Mond (die Nerina) stand jetzt in Conjunction zur Sonne und auch sein schwaches Licht fehlte der kurzen Nacht.

Jetzt hüllte diese schon die ganze Umgebung in ihren schwarzen Mantel. Die Sterne gossen über die Gallia nur ein »fahles Licht«, wie Corneille sich ausdrückt. Die Fackeln wurden also angezündet, und während deren Träger rasch voranglitten, loderten die Flammen, welche die geschwinde Bewegung noch belebte, leuchtend rückwärts.

Eine Stunde später hob sich das steile Ufer von Warm-Land unbestimmt wie eine schwarze Wolke vom Horizonte ab. Eine Täuschung war unmöglich. Hoch darüber strebte der Vulkan empor und warf einen intensiven Lichtschein durch die herrschende Finsterniß. Die auf dem glitzernden Eise sich wiederspiegelnden Lavamassen leuchteten bis zu den Schlittschuhläufern und zeichneten in deren Rücken lange Schatten ab.

So verging etwa ein und eine halbe Stunde. Rasch näherte man sich dem Ufer, als plötzlich ein Aufschrei durch die Luft drang, der von Ben-Zouf herrührte.

Alle hielten ein, indem sie die Eisen tief in's Eis einschneiden ließen.

Da, beim Scheine der Fackeln, welche schon nahe am Verlöschen waren, sah man, daß Ben-Zouf die Arme gegen das Ufer ausstreckte.

Von den Lippen Aller ertönte ein Schrei, der dem Ben-Zouf's zu antworten schien.

Der Vulkan war urplötzlich erloschen. Kein Lavastrom wälzte sich mehr von dem obersten Gipfel herab. Es schien, als habe ein mächtiger Windstoß die Flamme des Kraters erstickt.

[382] Alle begriffen, daß die Quelle des Feuers versiecht sein müsse. War die Auswurfsmasse zu Ende gegangen? Sollte Warm-Land von nun an für immer die belebende Wärme fehlen und sich keine Möglichkeit bieten, der Strenge des Gallia-Winters zu entgehen?

Drohte ihnen nun der Tod, der entsetzliche Tod des Erfrierens?

»Vorwärts!« rief Kapitän Servadac mit befehlender Stimme.

Eben verloschen die Fackeln. Alle stürmten durch die tiefe Dunkelheit und erreichten bald das Ufer; dessen übereiste Felsen sie nicht ohne große Mühe erklommen. Sie eilten nach der großen Galerie, drangen in den Hauptsaal ...

Tiefe Dunkelheit rings, die Temperatur schon merkbar verändert. Der Feuervorhang, der sonst vor der großen Oeffnung herabrollte, schloß diese nicht mehr und Lieutenant Prokop konnte sogar sehen, daß die durch das Einströmen der Lava bisher flüssige Lagune schon durch die Kälte erstarrt war.

So endete auf der Gallia der Neujahrstag der Erde, den man so festlich und freudig erregt begonnen hatte!

Fußnoten

1 Zwischen dem russischen Kalender und dem der anderen christlichen Staaten ist bekanntlich ein Unterschied von zwölf Tagen, so daß Neujahr nach dem ersteren auf unseren 13. Januar fällt.

13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
In welchem Kapitän Servadac und seine Gefährten das Einzige thun, was ihnen zu thun übrig bleibt.

Die Bewohner der Gallia verbrachten die Nacht, d.h. die wenigen Stunden bis Sonnenaufgang, in ganz unaussprechlicher Besorgniß. Auch Palmyrin Rosette hatte die bittere Kälte aus seinem Observatorium nach den inneren Galerien des Nina-Baues vertrieben. Jetzt oder nie bot sich vielleicht die Gelegenheit, ihn zu fragen, ob er immer noch bei der Absicht verharre, auf seinem unbewohnbaren Kometen die Sonnenwelt zu durchstreifen, worauf er indessen jedenfalls bejahend geantwortet hätte. Ob er übergeschnappt sei und das bis zu welchem Grade, hätte Niemand entscheiden können.

[383] Gleichzeitig mit ihm hatten auch Kapitän Servadac und die anderen Alle eine Zuflucht in den tieferen Galerien der Bergmasse aufsuchen müssen. Der nach außen so weit offene Hauptsaal war jetzt nicht mehr zu benutzen. Schon traten glitzernde Krystalle an seinen sonst nur feuchten Wänden auf, und selbst wenn es gelungen wäre, dessen große offene Seite, welche früher der Lavavorhang bedeckte, irgendwie anders zu verschließen, [384] so mußte die Temperatur dieses Raumes doch bis zur Unerträglichkeit herabsinken.


Ben-Zouf streckte den Arm gegen das Ufer aus. (S. 382.)

Das Innere der dunklen Gänge bot immer noch eine mittelmäßige Wärme. Zwischen der Luft draußen und drinnen hatte sich – wenn das auch nicht mehr lange dauern durfte – das Gleichgewicht jetzt noch nicht hergestellt. Man fühlte es fast, wie die Wärme sich gleichsam zurückzog. Der [385] Berg glich etwa einem Leichnam, dessen Extremitäten zuerst erkalten, während das Herz der Todeskälte noch widersteht.


Ihnen voraus Ben-Zouf, begaben sie sich in den Centralkamin. (S. 388.)

»Nun gut, rief Kapitän Servadac, so werden wir im Herzen selbst unsere Wohnung aufschlagen.«

Am nächsten Tage versammelte er seine Genossen um sich.

»Liebe Freunde, redete er sie an, was ist's denn, das uns bedroht? Die Kälte, zugegeben, aber auch weiter nichts als die Kälte. Wir besitzen Lebensmittel, welche unsere Fahrt auf der Gallia überdauern werden, Conserven in solchem Ueberflusse, daß wir eines Brennmateriales gewiß nicht bedürfen. Was brauchten wir denn übrigens, um die paar Monate Winter hinzubringen? Nur ein wenig von der Wärme, welche die Natur uns bisher umsonst lieferte. Nun, es ist ja mehr als wahrscheinlich, daß diese Wärme in den Eingeweiden der Gallia noch vorhanden ist, also werden wir sie dort aufsuchen!«

Diese vertrauungsvollen Worte belebten die guten Leute wieder, deren Einige schon den Muth sinken ließen. Graf Timascheff, Lieutenant Prokop und Ben-Zouf drückten dem Kapitän die dargebotene Hand; sie waren ja am meisten davon entfernt, das Spiel verloren zu geben.

»Zum Kuckuck, aber Du, Nina, sagte Hector Servadac, da ihm das kleine Mädchen vor Augen kam, fürchtest Du Dich denn nicht davor, in den Vulkan mit hinabzusteigen?

– O, nein, Herr Kapitän, erwiderte Nina entschlossen, vor allem, wenn Pablo mit uns geht.

– Natürlich geht auch Pablo mit. Das ist ein wackerer Bursche, er fürchtet sich vor nichts. – Nicht wahr, Pablo?

– Ich folge Ihnen überall, wohin Sie gehen, Herr Gouverneur,« antwortete der Knabe.

Alle waren unterrichtet und bereit, ihren Vorsatz auszuführen.

Man durfte hierbei natürlich nicht etwa daran denken, durch die obere Oeffnung des Kraters einzudringen. Bei so niedriger Temperatur konnten die Abhänge des Berges unmöglich gangbar sein. Auf den schiefen, schlüpfrigen Flächen hätte der Fuß wohl niemals einen Stützpunkt gefunden. Man sah sich demnach darauf angewiesen, nach dem Centralkamin direct durch die Bergwand vorzudringen, und das auch schnell zu vollbringen, denn die grausige [386] Kälte begann sich schon in den gedecktesten Winkeln des Nina-Baues fühlbar zu machen.

Da Lieutenant Prokop die Anordnung der inneren Galerien und ihren Verlauf in der Bergmasse früher schon untersucht hatte, konnte er angeben, daß einer der engen Seitengänge sehr nahe dem Centralkamin sein Ende haben mußte.

An dieser Stelle schien es, wenn die Lava durch den Druck der Dämpfe höher hinaufbrodelte, als ob die Wärme so zu sagen durch die Wand »schwitzte«. Offenbar war die mineralische Substanz, jener Tellurit, aus dem der Bergkegel bestand, ein guter Wärmeleiter. Durchbrach man also diese Galerie in einer Länge von höchstens sieben bis acht Metern, so mußte man auf den alten Weg der Lava stoßen, und hier durfte man hoffen, hinabklettern zu können.

Die Arbeit ward ohne Verzug begonnen. Bei dieser Gelegenheit zeigten die russischen Matrosen unter der Anleitung ihres Lieutenants eine erstaunliche Gewandtheit. Spitzhaue und Axt genügten freilich nicht, die außerordentliche harte Masse zu bezwingen. Man konnte nur Sprenglöcher herstellen und den Felsen mittels Pulvers entfernen. Die Arbeit schritt eben dadurch wesentlich schneller vorwärts und wurde binnen zwei Tagen nach Wunsch zu Ende geführt.

Während dieses kurzen Zeitraumes hatten die Kolonisten von der Kälte furchtbar zu leiden.

»Bleibt uns der Eintritt in das Innere des Vulkans verwehrt, hatte Graf Timascheff geäußert, so wird das Keiner von uns überdauern können und das Ende der Gallia-Kolonie nahe sein!

– Graf Timascheff, entgegnete Kapitän Servadac, haben Sie noch Vertrauen zu Dem, der Alles vermag?

– Gewiß, Kapitän; doch er kann heute etwas Anderes wollen als gestern. Es kommt uns nicht zu, über seine Beschlüsse zu richten. Bis jetzt war seine Hand für uns offen ... nun scheint sie sich zu schließen ...

– Nur zur Hälfte, fiel Kapitän Servadac ein. Er stellt unseren Muth neu auf die Probe. Ein gewisses Etwas sagt es mir, wie unwahrscheinlich es sei, daß die Eruption des Vulkans in Folge des wirklichen Verlöschens des inneren Gallia-Feuers aufgehört habe. Es scheint vielmehr, als sei [387] diese Unterbrechung des Abflusses der Laven nach außen nur eine vorübergehende.«

Lieutenant Prokop schloß sich der Ansicht des Kapitän Servadac allseitig an. Vielleicht hatte sich an einer anderen Stelle des Kometen eine neue Krateröffnung gebildet, und es war ja möglich, daß sich die Auswurfsmassen jetzt durch diesen Weg hinausdrängten. Vielerlei Ursachen konnten in die Verhältnisse, welche die bisherige Eruption bedingten, verändernd eingegriffen haben, ohne daß die mineralischen Substanzen im Innern der Gallia ihren Verbindungsproceß mit dem Sauerstoffe der Luft eingestellt haben mußten. Leider erwies es sich unmöglich, vorher zu bestimmen, ob man im Stande sein werde, bis zu einem Punkte einzudringen, der es gestattete, der ungeheuren Kälte der Außenwelt zu trotzen.

Während jener beiden Tage betheiligte sich Palmyrin Rosette weder an derlei Gesprächen noch an den Arbeiten. Er ging und kam wie eine Seele im Fegefeuer, der noch alle Resignation fehlt. Er hatte, entgegen jeder Abmahnung, sein Fernrohr in dem Hauptsaale aufgestellt. Von hier aus betrachtete er manchmal, am Tage wie in der Nacht, den weiten Himmel, bis er buchstäblich gefroren dasaß. Dann zog er sich murrend zurück, verwünschte das ganze Warm-Land und verschwor sich, daß sein Felsen auf Formentera ihm günstigere Verhältnisse geboten hätte!

Der letzte Axthieb erfolgte am 4. Januar. Man hörte die Steintrümmer in das Innere des Centralkamines hinabrollen. Lieutenant Prokop beobachtete mit Sicherheit, daß sie nicht lothrecht hinunterstürzten, sondern mehr längs der Wände zu gleiten schienen, wobei sie da und dort gegen vorstehende Steine anstießen. Der Centralkamin mußte also geneigte Umfassungswände haben und folglich auch leichter gangbar sein.

Diese Schlußfolgerung bewahrheitete sich.

Nach Erweiterung der gewonnenen Oeffnung bis zu dem Durchmesser, daß sich ein Mensch hindurchzwängen konnte, begaben sich Lieutenant Prokop und Kapitän Servadac, ihnen voraus Ben-Zouf mit einer brennenden Fackel, in den Centralkamin. Dieser folgte, unter einem Neigungswinkel von höchstens fünfundfünfzig Grad, einer schief verlaufenden Linie. Man vermochte in demselben also, ohne einen unglücklichen Fall zu befürchten, langsam hinabzusteigen. Ueberdies zeigten die Wände zahlreiche Risse, kleine Vertiefungen und Vorsprünge, so daß die Füße unter der weichen Decke von Asche stets [388] einen sicheren Stützpunkt fanden. Es rührte das von der nur kurzen Dauer der Eruption her, welche unzweifelhaft erst seit dem Zusammenstoße der Gallia mit der Erde bestand, wobei jene einen Theil der Erdatmosphäre mit sich riß, so daß die Wände also durch die Lavamassen noch nicht abgeschliffen waren.

»Schön, rief Ben-Zouf, hier ist also die Treppe! Entschuldigen Sie, daß sie noch nicht ganz fertig wurde!«

Kapitän Servadac und seine Gefährten begannen vorsichtig hinabzuklimmen. Es fehlten allerdings, um mit Ben-Zouf zu reden, so manche Stufen, und sie brauchten fast eine halbe Stunde Zeit, um in der Richtung nach Süden zu eine Tiefe von fünfhundert Fuß zu erreichen. Die Wände des Centralkamines zeigten da und dort wohl gewisse Ausbuchtungen; keine derselben setzte sich aber in Form einer Galerie weiter fort.

Ben-Zouf erleuchtete alle mit seiner Fackel, so daß man den Hintergrund dieser Höhlen sehen und sich überzeugen konnte, daß keine derselben, ähnlich den oberen Etagen des Nina-Baues, sich weiter in die Bergmasse hinein verzweigte.

Freilich blieb den Gallia-Bewohnern keine Wahl. Sie mußten in ihrer Lage die Hilfe annehmen, wie sie sich ihnen darbot.

Kapitän Servadac's Hoffnung schien sich übrigens zu bestätigen. Mit jedem weiteren Eindringen in die tieferen Bergschichten nahm die Temperatur merkbar und in steigendem Maße zu. Man hatte es auch nicht mit einer einfachen Steigerung der Wärmegrade, wie in den Bergwerken der Erde, zu thun. Eine örtliche Ursache veranlaßte hier vielmehr eine schnellere Temperaturzunahme. Im tiefen Grunde verrieth sich schon die Quelle dieser Wärme. Es war ja keine Kohlengrube, sondern ein Vulkan, den sie hier untersuchten.

In der Tiefe dieses Vulkanes, der nicht erloschen war, wie man hätte befürchten können, brodelten noch die Lavamassen. Wenn sie jetzt auch aus unbekannten Gründen nicht bis zu ihrer Kratermündung aufstiegen, um nach außen abzufließen, so durchdrang ihre Wärme doch alle Grundmauern des Bergkegels. Ein Quecksilber-Thermometer, das Lieutenant Prokop mitgenommen, und ein Anerold-Barometer, welches Kapitän Servadac bei sich hatte, zeigten beide, letzteres die Tiefenlage ihres Standortes unter der Meeresfläche, jenes die progressive Zunahme der Temperatur. Sechshundert [389] Fuß unter der Oberfläche des Kometen zeigte die Quecksilbersäule sechs Grad über Null.

»Sechs Grad, sagte Kapitän Servadac, ist noch etwas zu wenig Wärme für Leute, welche den Winter über mehrere Monate lang eingesperrt bleiben sollen. Versuchen wir, noch tiefer zu gehen, da ja überall ein hinreichender Luftwechsel stattzufinden scheint.«

Durch den geräumigen Krater des Berges und die weite Oeffnung an seiner Seite zog die Luft wirklich in vollen Strömen. Es hatte den Anschein, als würde sie von diesen Tiefen angesaugt und gleichzeitig eignete sie sich hier besser zum Athmen. Man durfte also ungestraft wagen, soweit hinabzugehen, bis man eine zusagende Temperatur antraf.

Die Wanderer gelangten noch vierhundert Fuß unter das Niveau des Nina-Baues und erreichten damit eine Tiefe von zweihundertfünfzig Metern unter dem Gallia-Meere. Hier zeigte das Thermometer zwölf Grad Celsius über Null, also eine hinreichende Temperatur, so lange sie keine Veränderung erlitt.

Die drei Männer hätten auf dem schrägen Lavawege leicht noch weiter vordringen können. Doch, wozu sollte das dienen. Bei aufmerksamerem Lauschen vernahmen sie auch schon ein dumpfes Getöse – ein Beweis, daß sie von dem Feuerherde des Innern nicht weit entfernt waren.

»Bleiben wir hier, sagte Ben-Zouf, wer zu frostig ist unter unseren Kolonisten, der mag noch tiefer hinunter kriechen, wenn es ihm Spaß macht! Aber alle Wetter, ich für meinen Theil finde, daß es schon hier gehörig warm ist.«

Es handelte sich nun darum, zu wissen, ob es thunlich wäre, sich in diesem Theile des Berges wohl oder übel häuslich einzurichten.

Hector Servadac und seine Begleiter saßen eben auf einem etwas vorspringenden Felsen, von welchem Platze aus sie die Stelle, an der sie weilten, beim Scheine der Fackel genau mustern konnten.

Um wahr zu sein, mußte man freilich gestehen, daß sie nicht besonders einladend aussah. Der Centralkamin bildete hier durch eine locale Ausweitung nur eine Art tiefer Höhle, welche allerdings geräumig genug war, die ganze Kolonie aufzunehmen. Eine den gewohnten Bedürfnissen entsprechende Einrichtung mochte hier nur schwer durchzuführen sein. Ueber und unter der Hauptausbuchtung fanden sich zwar kleinere Höhlen von genügendem Umfange, [390] um die Nahrungsmittel und andere Vorräthe darin unterzubringen, auf besondere Zimmer für Kapitän Servadac und Graf Timascheff mußte man aber jedenfalls verzichten. Einen kleinen, etwa für Nina zu bestimmenden Schlupfwinkel fand man noch in der Nähe. Im Uebrigen mußte man sich auf ein völlig gemeinschaftliches Leben einrichten. Die Haupthöhle bildete dabei den Speisesaal, das Wohnzimmer und den Schlafraum. Nachdem sie eine lange Zeit hingebracht, wie Kaninchen in ihrem Baue, sollten die Kolonisten sich nun in die Erde verkriechen wie Maulwürfe und so wie diese vegetiren – ohne sich der Wohlthaten des langen Winterschlafes dieser Thiere zu erfreuen.

Es konnte jedoch nicht schwer werden, diese Höhle mittels Lampen und Laternen zu erleuchten. An Oel fehlte es nicht, da das Hauptmagazin noch mehrere Fässer desselben enthielt, ebenso wie eine gewisse Menge Weingeist, welcher zur Bereitung einiger warmer Speisen diente.

Von einer gänzlichen, ununterbrochenen Einsperrung während des ganzen Gallia-Winters konnte ja nicht die Rede sein. Voraussichtlich würden die Kolonisten doch in möglichst warmer Kleidung entweder den Nina-Bau oder auch die Uferfelsen besuchen. Außerdem trat an sie die Nothwendigkeit heran, sich mit Eis zu versorgen, das durch Einschmelzung den ganzen Wasserbedarf der Gesellschaft zu decken bestimmt war. Einer nach dem Anderen sollte sich dieser beschwerlichen Aufgabe unterziehen, bei der es sich darum handelte, neunhundert Fuß hoch emporzuklettern und mit einer schweren Belastung ebenso tief zurückzukehren.

Nach sorgsamster Besichtigung entschied man sich dafür, daß die kleine Kolonie in diese dunkle Höhle übersiedeln und sich daselbst wohl oder übel häuslich einrichten sollte. Die einzige Aushöhlung sollte Allen als Wohnstätte dienen. Alles in Allem waren Kapitän Servadac und seine Gefährten damit ja nicht schlechter gestellt als die Schiffer, welche in arktischen Gegenden überwintern. Man benutzt in solchen Fällen nämlich, am Bord der Wallfischfahrer ebenso wie in den Faktoreien Nordamerikas, niemals eine Mehrzahl von Zimmern und Cabinen, sondern begnügt sich mit einem einzigen geräumigen Saale, in welchen die Feuchtigkeit weniger leicht Zugang findet, und richtet dann seine Aufmerksamkeit vorzüglich auf die Ecken, an welchen die Condensation der Wasserdünste am leichtesten stattfindet. Dazu ist ein großes, hohes Zimmer leichter zu lüften und zu erwärmen, und folglich auch [391] der Gesundheit zuträglicher. In den Forts des hohen Nordens richtet man gewöhnlich eine ganze Etage, in den Schiffen das ganze Zwischendeck in dieser Weise ein.

Lieutenant Prokop, der mit den Gebräuchen und Lebensgewohnheiten in den Polarmeeren aus Erfahrung vertraut war, erklärte Obiges mit kurzen Worten, und seine Gefährten entschlossen sich, in dieser Weise zu überwintern, da sie zu einer Ueberwinterung gezwungen waren.

Alle Drei stiegen wieder nach dem Nina-Bau hinaus. Die Kolonisten wurden mit den letzten Beschlüssen bekannt gemacht und stimmten ihnen ohne Widerrede bei. Nun ging es unverzüglich an die Arbeit, die erwählte Höhle von den noch warmen Aschenresten gründlich zu säubern und das Nothwendigste von dem Materiale aus dem Nina-Baue schleunigst überzuführen.

Hier war keine Stunde zu verlieren. Man fror, selbst in den tiefsten Galerien der alten Wohnung, fast buchstäblich zu Eis. Der Eifer aller Betheiligten wurde also ganz natürlicher Weise wach gehalten und niemals mag wohl ein Umzug und das Ausräumen einer Wohnung, beziehungsweise der Möbel, Lagerstätten derselben, verschiedener Werkzeuge, mancher Vorräthe aus der Goëlette und vieler Waaren der Tartane, hurtiger ausgeführt worden sein. Freilich kommt hierbei in Betracht, daß man Alles nur bergab zu schaffen hatte, und daß das wesentlich verminderte Gewicht der Collis deren Handhabung nicht wenig erleichterte.

Selbst Palmyrin Rosette mußte, so sehr er auch dagegen eiferte, in das Innere der Gallia hinabflüchten; er gab jedoch um keinen Preis zu, daß man sein Fernrohr mit wegschaffte. Freilich war es für jene dunkle Höhle von vornherein nicht geschaffen und blieb also ruhig auf seinem Dreifuß im Hauptsaal des Nina-Baues zurück.

Es ist wohl unnütz, die kaum wiederzugebenden Klagen Isaak Hakhabut's hier aufzuführen. Da gab es im ganzen Weltall keinen so geprüften Handelsmann wie ihn. Mitten unter den Neckereien der Anderen, die ihm niemals erspart blieben, bewachte er scharf den Transport seiner Waaren. Auf Kapitän Servadac's Befehl ward Alles, was ihm gehörte, auf einer Seite zusammengestellt, wo er selbst hausen sollte. So konnte er seine Güter übersehen und seinen Handel nach Belieben fortsetzen.


Die Pferde ließen sich nur mit Mühe in diese Tiefen schaffen. (S. 396.)

Binnen wenigen Tagen war die neue Einrichtung vollendet. Einige Schiffslaternen beleuchteten spärlich den schiefen Hauptgang nach dem Nina-Bau, was einen ganz romantischen Anblick bot und in »Tausend und einer Nacht« gewiß reizend gewesen wäre. [392] Die große Höhle, der allgemeine Wohnraum, wurde durch die Lampen der Dobryna erhellt. Am 10. Januar war Jedermann in der Tiefe des Kraters wohnlich eingerichtet und wohl [393] verwahrt, mindestens gegen die Kälte, welche im Freien sechzig Grad unter Null erreichte.

»Va bene! wie unsere kleine Nina sagt, rief der leicht befriedigte Ben-Zouf. Statt in der ersten Etage zu wohnen, campiren wir einfach im Keller, das ist Alles!«

Und doch konnten sich Graf Timascheff, Kapitän Servadac und Prokop, wenn sie ihre Empfindungen auch möglichst verbargen, einer gewissen Unruhe wegen der Zukunft nicht erwehren. Wenn die vulkanische Wärme einmal aufhörte, wenn irgend eine unerwartete Störung den Umlauf der Gallia um die Sonne verzögerte, wenn man in die Lage käme, unter den nämlichen Verhältnissen noch einmal zu überwintern, würde man dann das nothwendige Brennmaterial im Kerne des Kometen finden? Steinkohlen, diese Ueberbleibsel vorsündfluthlicher Wälder, welche in grauer Vorzeit vergraben und im Laufe vieler Jahrtausende mineralisirt wurden, konnten im Innern der Gallia nicht vorhanden sein. Sollte man darauf angewiesen sein, die Eruptivmassen zu verwenden, welche das Innere des Vulkanes auch nach seinem völligen Erlöschen noch bergen mußte?

»Laßt nur die Zukunft herankommen, liebe Freunde, sagte Kapitän Servadac. Wir haben noch lange Monate hindurch Zeit zu überlegen, zu plaudern und zu besprechen. Mordio, das müßte ja mit dem Teufel zugehen, wenn uns bis dahin kein gescheidter Gedanke käme!

– Gewiß, antwortete Graf Timascheff, wenn sich Schwierigkeiten erheben, leistet das Gehirn mehr als sonst. Uebrigens ist es kaum wahrscheinlich, daß die Wärme des Innern uns vor Eintritt des Gallia-Sommers fehlen sollte.

– Ich glaub' es kaum, meinte Lieutenant Prokop, denn noch immer hört man das Sieden und Zischen im Kratergrunde. Die Entzündung dieser vulkanischen Substanzen datirt erst aus jüngster Zeit. Als der Komet durch den Weltraum irrte, besaß er bis zu seinem Zusammentreffen mit der Erde keine Atmosphäre und folglich kann der Sauerstoff erst nach jenem Ereigniß in sein Inneres Zutritt gefunden haben. Nun bildete sich eine chemische Verbindung, deren Resultat die Eruption war. Eben deshalb darf man, meiner Ansicht nach, voraussetzen, daß die plutonische Thätigkeit auf der Gallia noch im ersten Anfange steht.

[394] – Ich stimme Dir so sehr bei, Prokop, bemerkte Graf Timascheff, daß ich, weit entfernt an ein Verlöschen des Centralfeuers zu glauben, vielmehr eine andere, für uns nicht minder entsetzliche Möglichkeit befürchte.

– Und diese wäre? fragte Kapitän Servadac.

– Ich denke hierbei daran, Kapitän, daß ein plötzlicher Wiederausbruch erfolgen könnte und uns mitten auf dem gewohnten Wege der Lava überraschte.

– Mordio! rief Kapitän Servadac, das wär' eine schöne Bescheerung!

– Wir werden wachen, versprach Lieutenant Prokop, und zwar mit solcher Aufmerksamkeit, um uns nicht überraschen zu lassen!«

Fünf Tage später, am 15. Januar, ging die Gallia durch ihr Aphel, am Ende der großen Achse ihrer Bahn, und gravitirte an diesem Punkte 132 Millionen Meilen entfernt von der Sonne.

14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Welches den Beweis liefert, daß menschliche Wesen nicht geschaffen sind, hundertundzweiunddreißig Millionen Meilen von der Sonne entfernt umherzuschweisen.

Von diesem Tage ab kehrte die Gallia also auf ihrer elliptischen Bahn um und mit zunehmender Schnelligkeit zurück. Alle lebenden Wesen derselben hatten in der Tiefe der vulkanischen Bergmassen eine Zuflucht gefunden.

Wie hatten nun jene Engländer, welche freiwillig auf ihrem Eilande zurückblieben, die erste Hälfte des Gallia-Winters überstanden? Gewiß besser – wenigstens war das die allgemeine Meinung – als die Bewohner von Warm-Land. Jedenfalls hatten sie es nicht nöthig gehabt, aus einem Vulkan die Hitze der Lava zu entnehmen, um ihre gewöhnlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Ihr Vorrath an Kohle und Lebensmitteln überhob sie dieser Mühe, denn an beiden konnten sie keinen Mangel gelitten haben. Ihre aus [395] soliden Kasematten bestehende, mit dicken Steinmauern umgebene Wohnung mußte sie wohl auch gegen eine sehr weitgehende Erniedrigung der Temperatur schützen. Reichliche Heizung bewahrte sie vor der Kälte, kräftige Nahrung vor dem Hunger – höchstens hätte ihre Kleidung zu enge geworden sein können. Brigadier Murphy und Major Oliphant mußten gewiß Gelegenheit gefunden haben, gegen einander die geistreichsten Angriffe auf dem geschlossenen Schlachtfelde des Schachbrettes auszuführen. Niemand zweifelte daran, daß das Leben in Gibraltar ein ganz gutes und bequemes gewesen sei. Jedenfalls konnte England den beiden Officieren und elf Soldaten, welche auf ihrem Posten so treu ausgehalten hatten, seine Anerkennung nicht vorenthalten.

Wären Kapitän Servadac und seine Gefährten bedroht gewesen, durch die Kälte umzukommen, so hätten sie gewiß eine Zuflucht auf dem Eilande von Gibraltar suchen können. Der Gedanke daran war wohl auch einmal aufgetaucht. Sie wären dort sicherlich gastfreundlich aufgenommen worden, wenn der erste Empfang von früher auch Manches zu wünschen übrig ließ. Engländer sind nicht die Leute dazu, ihres Gleichen zu verlassen, ohne Hilfe zu gewähren. Im Falle der unbedingten Nothwendigkeit würden sie auch nicht gezögert haben, nach Gibraltar auszuwandern. Ohne Schutz und ohne Feuer wäre das freilich eine lange und gefährliche Reise über das grenzenlose Eisfeld gewesen, bei welcher wahrscheinlich nicht Alle an das Ziel gelangt wären. Dieses Project sollte bestimmt auch nur unter den dringendsten Umständen ausgeführt werden, während Alle darin übereinstimmten, Warm-Land nicht zu verlassen, so lange der Vulkan hinreichende Wärme lieferte.

Wir erwähnten schon oben, daß alle lebenden Wesen der Gallia-Kolonie ohne Ausnahme in den Höhlen des Centralkamines Zuflucht gefunden hatten. Auch eine ziemliche Anzahl der Thiere war gezwungen gewesen, die Galerien des Nina-Baues zu verlassen, wo sie vor Kälte zu Grunde gegangen wären. Kapitän Servadac's und Ben-Zouf's beide Pferde ließen sich freilich nur mit Mühe in diese Tiefen schaffen. Dem Kapitän und seiner Ordonnanz lag aber vorzüglich daran, Zephyr und Galette zu erhalten und lebend nach der Erde mitzubringen. Sie liebten die beiden Thiere, welche für diese neuen klimatischen Verhältnisse allerdings nicht geschaffen schienen, viel zu sehr. Eine geräumige zum Stall umgeschaffene Nebenhöhle ward für sie eingerichtet und Futter besaß man für beide ja zum Glück genug.

[396] Die anderen Hausthiere mußten freilich zum Theil geopfert werden, da es unmöglich war, sie in den unteren Höhlenräumen der Bergmasse unterzubringen. Ließ man sie aber in den oberen Galerien, so verdammte man sie damit nur zu einem grausamen Tode. Man fand keinen anderen Ausweg als den, sie zu tödten. Da sich das Fleisch dieser Thiere in den alten Magazinen, worin es der strengen Kälte ausgesetzt war, unbegrenzt lange halten mußte, so erreichte man damit gleichzeitig einen sehr schätzenswerthen Zuwachs an Vorräthen.

Zur Vervollständigung des Verzeichnisses der lebenden Wesen, welche in das Innere des Berges geflüchtet waren, erwähnen wir hier auch die Vögel, deren Nahrung aus den Brocken und Abfällen bestand, die man ihnen täglich zukommen ließ. Die Kälte hatte auch sie getrieben, die Höhen des Nina-Baues mit den dunklen Klüften des Berginnern zu vertauschen. Ihre Anzahl war leider zu groß und ihre Gegenwart zu unbequem, so daß man sich genöthigt sah, auf sie Jagd zu machen und einen großen Theil derselben zu vernichten.

Alles das nahm den Januar bis zum Ende in Anspruch, denn erst zu dieser Zeit konnte man die neue Einrichtung als vollendet betrachten. Nun aber begann für die Mitglieder der Gallia-Kolonie ein Leben von wahrhaft verzweifelter Eintönigkeit.

Würden sie wohl im Stande sein, der ertödtenden Langweile zu trotzen, welche ihre Einschließung mit sich brachte? Ihre Chefs suchten dieses Resultat zu erzielen durch ein enges Aneinanderschließen Aller, durch Unterhaltungen, an welchen Theil zu nehmen Jeder aufgefordert wurde, und durch lautes Vorlesen einzelner, besonders interessanter Theile aus den Reisewerken und wissenschaftlichen Büchern der Bibliothek. Dann saßen Alle rund um den großen Tisch, die Russen wie die Spanier hörten zu und lernten dabei, und wenn sie wirklich einmal zur Erde zurückkehrten, so kamen sie sicher mit mehr Kenntnissen wieder, als sie durch Verbleiben in ihrem Vaterlande je hätten erreichen können.

Was machte aber Isaak Hakhabut während dieser Zeit? Betheiligte er sich an den Gesprächen oder an der Lectüre? Nicht im Geringsten. Welchen Vortheil hätte er davon gehabt? Er verbrachte die langen Stunden mit Rechnen und wieder Rechnen, mit Zählen und wieder Zählen des Geldes, welches in seine Hände zusammenströmte. Das, was er hier verdient hatte, [397] betrug mit dem, was er schon vorher besaß, mindestens einhundertfünfzigtausend Francs, davon die Hälfte in gutem, europäischem Golde. Er hoffte sicher darauf, daß dieses klingende vollwichtige Metall auf der Erde seinen wahren Werth schon wieder erhalten werde, und wenn er die Zahl der verflossenen Tage ausrechnete, so geschah das nur aus Bedauern über die verlorenen Zinsen. Er hatte noch nicht Gelegenheit gefunden, so viel als er hoffte, auf gute Papiere und natürlich unter sicherster Garantie, auszuleihen.

Unter allen Kolonisten war es Palmyrin Rosette, der sich am schnellsten eine ausreichende Beschäftigung zu schaffen wußte. Mit seinen Ziffern fühlte er sich niemals allein, und das unausgesetzt betriebene Rechnen verkürzte ihm die langen Tage des Winters.

Ueber die Gallia kannte er zwar Alles, was man nur von einem Himmelskörper zu wissen wünschen kann, nicht so aber von der Nerina, ihrem Satelliten. Die Eigenthumsrechte, welche er über seinen Kometen beanspruchte, erstreckten sich auch auf dessen Mond. Es erschien ihm demnach als das wenigste, daß er die neuen Elemente desselben bestimmte, seitdem er der Zone der teleskopischen Planeten entrissen worden war.

Er beschloß also, die nöthigen Rechnungen vorzunehmen. Hierzu waren ihm noch einige Aufnahmen der Nerina in verschiedenen Stellungen nothwendig. Nachdem das geschehen, gedachte er, da ihm durch directe Messungen die Masse der Gallia bekannt war, auch die Nerina von seinem dunklen Cabinete aus zu wiegen.

Leider besaß er nur jenen dunklen Winkel, dem er den Namen eines »Cabinets« beilegte, da es in der That unmöglich war, jenes vielleicht gar ein Observatorium zu nennen. In den ersten Tagen des Februar sprach er sich auch Kapitän Servadac gegenüber in dieser Richtung aus.

»Sie brauchen ein besonderes Cabinet, lieber Professor? antwortete dieser.

– Ja, Kapitän, aber ein solches, in welchem ich arbeiten kann, ohne jeden Augenblick irgend einen Störenfried fürchten zu müssen.

– Wir werden ein solches ganz nach Ihrem Wunsche schon finden, tröstete ihn Hector Servadac. Sollte es dann auch nicht so comfortabel sein, wie ich es selbst gern wünschte, so wird es Ihnen doch die nöthige Abgeschiedenheit und Ruhe gewähren.

[398] – Mehr beanspruche ich nicht.

– So sind wir also einig.«

Da der Kapitän bemerkte, daß Palmyrin Rosette gerade in ziemlich guter Laune war, so beeilte er sich, jenem eine ihm auf dem Herzen liegende Frage bezüglich der früheren Berechnungen zu unterbreiten, eine Frage, auf welche er ein ganz besonderes Gewicht legte.

»Lieber Professor, begann er, als dieser sich eben zurückziehen wollte, ich hätte wohl noch eine Frage an Sie.

– Ich höre.

– Die Berechnungen, auf Grund deren Sie die Dauer des Umlaufes der Gallia bestimmt haben, sind gewiß sehr genau, sagte Hector Servadac. Wenn ich mich indeß nicht täusche, genügt eine halbe Minute Verzögerung oder Beschleunigung, und der Komet trifft nicht mehr in der Ekliptik mit der Erde zusammen! ...

– Nun, was weiter?

– Nun, lieber Professor, erscheint es da nicht rathsam, jene Rechnungen auf ihre Genauigkeit zu prüfen.

– Das ist unnöthig.

– Lieutenant Prokop wäre gewiß erbötig, Ihnen bei dieser umfangreichen Arbeit zu helfen.

– Ich brauche Niemand, erwiderte Palmyrin Rosette etwas piquirt.

– Wenn nun aber ...

– Ich täusche mich niemals, Kapitän Servadac, und Ihr Drängen ist sehr am unrechten Platze.

– Alle Wetter, lieber Professor, Sie sind gegen Ihre Gefährten gerade nicht zu gefällig, und ...«

Er behielt bei sich, was er noch auf dem Herzen hatte, da Palmyrin Rosette zu den Leuten gehörte, welche mit Schonung behandelt sein wollen.

»Kapitän Servadac, erklärte trocken der Professor, ich wiederhole meine Rechnungen nicht, weil dieselben unbedingt verläßlich sind; doch theile ich Ihnen hierdurch mit, daß ich das, was ich in Bezug auf die Gallia gethan habe, nun auch bezüglich der Nerina, ihren Satelliten, vorzunehmen gedenke.

– Gewiß eine ganz zeitgemäße Beschäftigung, sagte Kapitän Servadac ernsthaft. Ich glaubte bisher freilich, Nerina gehöre zu den teleskopischen [399] Planeten und ihre Elemente seien den Astronomen der Erde schon längst bekannt.«

Der Professor warf dem Kapitän Servadac einen wüthenden Blick zu, als sei die Nützlichkeit einer seiner Arbeiten bezweifelt worden. Dann fuhr er erregt fort:


Er verbrachte seine Zeit mit Rechnen und Zählen des Geldes. (S. 397.)

»Kapitän Servadac, wenn die Astronomen der Erde Nerina beobachtet haben, wenn sie schon die mittlere Dauer ihrer täglichen Umdrehung, die [400] Dauer ihres siderischen Umlaufes, ihre mittlere Entfernung von der Sonne, ihre Excentricität, die Länge ihres Perihels, die mittlere Länge der Epoche, die Länge ihres aufsteigenden Knotens, die Neigung ihrer Bahn und noch sonst etwas kennen, so muß die Ergründung dieser Verhältnisse doch ganz von vorne angefangen werden, da die Nerina nicht mehr der Zone der teleskopischen Planeten angehört, seitdem sie ein Satellit der Gallia geworden ist. Da sie jetzt einen Mond darstellt, muß sie als Mond frisch beobachtet werden, und ich sehe nicht ein, warum die Bewohner der Gallia nicht berechtigt wären, das von ihrem Mond zu kennen, was die ›Erdenwürmer‹ von dem ihrigen wissen!«

Man mußte Palmyrin Rosette dieses Wort »Erdenwürmer« selbst aussprechen hören! Mit welch' wegwerfendem Tone sprach er jetzt von Allem, was auf die Erde Bezug hatte!

»Ich schließe dieses Gespräch, Kapitän Servadac, sagte er dann, ebenso wie ich es begonnen habe, indem ich Sie bitte, mir ein Cabinet zur Verfügung stellen zu lassen ...

– Wir werden es uns bestens angelegen sein lassen, lieber Professor ...

– O, ich bin nicht so pressirt, antwortete Palmyrin Rosette, wenn ich es nur in einer Stunde bekomme ...«

Es vergingen freilich drei Stunden, nachher aber konnte Palmyrin Rosette in einer Art Höhle untergebracht werden, in der ein Tisch und ein Stuhl eben Platz fanden. Im Laufe der nachfolgenden Tage stieg er trotz der heftigen Kälte noch immer viel nach seinem Observatorium, um die Nerina in verschiedenen Positionen zu beobachten. Dann aber schloß er sich in sein Cabinet ein und vorläufig sah ihn Niemand wieder.

Die Bewohner der Gallia, welche jetzt achthundert Fuß unter der Oberfläche vergraben lebten, bedurften wahrlich einer außergewöhnlichen moralischen Energie, um in dieser Lage, welche kein anregender Zwischenfall unterbrach, auszuharren. So mancher Tag verstrich, ohne daß nur Einer von ihnen nach der Oberfläche emporstieg, und hätte sie nicht die Noth gezwungen, von dort her Süßwasser in Form von Eis zu holen, so hätten sie wohl so gut wie niemals die dunklen Tiefen des Vulkanes verlassen.

Dagegen stattete man den allertiefsten Theilen des Centralkamines wiederholt Besuche ab. Kapitän Servadac, Graf Timascheff, Lieutenant Prokop und Ben-Zouf wollten den in dem Kern der Gallia ausgehöhlten [401] Abgrund soweit als möglich kennen lernen. Die Untersuchung der aus dreißig Hunderttheilen Gold bestehenden Bergmasse ließ sie sehr gleichgiltig. Uebrigens würde ja diese hier auf der Gallia ganz werthlose Substanz, auch wenn sie auf die Erde fiele, ihrer großen Menge wegen keinen besonderen Werth erlangen, und so schenkten sie diesem Tellurit nicht mehr Aufmerksamkeit als etwa einem Granitfelsen.

Eines lernten sie aber doch durch diese Nachforschungen kennen: daß das Centralfeuer noch immer in Thätigkeit war, und sie schlossen daraus, daß, wenn die Eruption nicht mehr durch ihren Vulkan vor sich ging, andere feuerspeiende Oeffnungen auf der Oberfläche der Gallia entstanden sein müßten.

So verstrichen der Februar, März, April und Mai, sozusagen in einer Art moralischer Erschlaffung, von der sich die Gefangenen kaum klare Rechenschaft gaben. Die meisten derselben vegetirten mehr in einer nachgerade beunruhigenden Erstarrung. Die früher mit so großem Interesse angehörten Vorlesungen vereinigten jetzt keine lauschenden Zuhörer mehr um den großen Tisch. Die Unterhaltung beschränkte sich auf zwei bis drei Personen und wurde nur mit halber Stimme geführt. Die Spanier vorzüglich schienen niedergeschlagen und verließen ihre Lager so gut wie gar nicht mehr. Kaum rührten sie sich noch, um ein wenig Nahrung zu nehmen. Die Russen widerstanden besser und betrieben die wenigen Arbeiten mit noch mehr Eifer. In dem Mangel an Thätigkeit lag die größte Gefahr dieser langdauernden Einschließung. Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop bemerkten recht wohl die Fortschritte dieses Zustandes, doch was vermochten sie dagegen zu thun? Sie selbst fühlten sich ziemlich angegriffen von der tödtenden Langweile und widerstanden dieser Prüfung nicht immer. Bald zeigten sich die Folgen durch eine ungewöhnlich lange Dauer des Schlafes, bald durch einen unbesieglichen Widerwillen gegen jede Nahrung, welcher Art sie auch war. Man hätte fast sagen können, daß diese tief im Boden vergrabenen Gefangenen den Schildkröten im Winter glichen und auch wie diese bis zum Eintritt wärmerer Jahreszeit schliefen und fasteten.

Von der ganzen Gallia-Kolonie hielt sich die kleine Nina noch am besten. Sie ging und kam und munterte Pablo auf, den die allgemeine Erstarrung ebenfalls ergriffen hatte. Sie sprach bald zu dem Einen, bald zu einem Anderen, und ihre frische Stimme schallte durch die dunklen Tiefen [402] wie das lustige Lied eines Vögleins. Hier veranlaßte sie zu trinken, dort zu essen. Sie war mit einem Worte die Seele dieser kleinen Welt und belebte sie durch ihr munteres Wesen. Sie trällerte stets hübsche italienische Liedchen, wenn in diesem dunklen Grabe ein bedrückendes Schweigen herrschte. Sie summte wie eine kleine Fliege, die sich jedoch nützlicher und wohlthuender erwies als die Fliege des Fabeldichters. In diesem kleinen Wesen pulsirte ein so übersprudelndes Leben, daß sie sozusagen Jedem einen Theil desselben einflößte. Diese Wechselwirkung vollzog sich zwar gewiß, ohne daß die Betreffenden davon besonders wußten, war aber nichtsdestoweniger vorhanden, und zweifelsohne diente die Anwesenheit Nina's den in ihrer Wintergrube halb entschlafenen Gallia-Bewohnern nur zum Heile.

Indeß, die Monate vergingen. Wie? das hätten weder Kapitän Servadac noch seine Genossen sagen können.

Mit Anfang Juni schien die allgemeine Erstarrung sich nach und nach zu lösen. Dankte man das dem Einfluß des Strahlengestirns, dem man sich langsam näherte? Vielleicht, und doch stand die Sonne noch so unendlich fern. Lieutenant Prokop hatte während der ersten Hälfte der Gallia-Revolution ihre Stellung nebst den von dem Professor dazu angegebenen Ziffern genau notirt. Er gewann dadurch graphisch hergestellte Ephemeriden und konnte nun auf einer gezeichneten Bahn dem Lauf des Kometen mit mehr oder weniger Genauigkeit folgen.

Nach Ueberschreitung des Aphels war es ihm leicht, die Position der Gallia während ihrer Rückkehr zu verzeichnen und seine Gefährten auf dem Laufenden zu erhalten, ohne Palmyrin Rosette über jeden einzelnen Punkt zu befragen.

Dabei sah er denn auch, daß die Gallia nach nochmaliger Durchschreitung der Jupiterbahn noch in der enormen Entfernung von 114 Millionen Meilen von der Sonne schwebte. Entsprechend dem einen Kepler'schen Gesetze nahm die Schnelligkeit ihrer Bewegung aber fortwährend zu und vier Monate später trat sie der Rechnung nach in die Zone der teleskopischen Planeten, bei 75 Millionen Meilen Entfernung von der Sonne, wieder ein.

Zu dieser Zeit – in der zweiten Hälfte des Juni – hatten Kapitän Servadac und seine Gefährten ihre physischen und moralischen Fähigkeiten [403] vollkommen wieder erlangt. Auch Ben-Zouf reckte und dehnte sich wie ein Mensch, der aus langem, tiefem Schlafe erwacht.

Jetzt häuften sich die Besuche in den verlassenen Räumen des Nina-Baues. Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop stiegen sogar wieder bis zum Strande des Meeres hinab. Zwar herrschte noch immer eine ungeheure Kälte, doch hatte auch die Atmosphäre nichts von ihrer gewohnten Ruhe verloren. Keine Dunstmasse zeigte sich, weder am Horizonte noch im Zenith, kein Windhauch zitterte durch die klare Luft.

Die letzten Fußspuren auf dem Strande sah man noch immer so rein wie am ersten Tage.

Nur an einer Stelle war das Bild des Ufers verändert, und zwar nahe dem felsigen Vorgebirge, welches die Hafenbucht deckte. Dort hatte die aufsteigende Bewegung der Eisschichten weitere Fortschritte gemacht. Sie erhoben sich jetzt daselbst bis auf hundertfünfzig Fuß. In derselben Höhe schwebten auch die Goëlette und die Tartane, zu welchen jeder Zugang abgeschnitten war. Ihr Sturz bei eintretendem Thauwetter schien gewiß, ihr Untergang unausweichlich, denn es gab kein Mittel, sie zu retten.

Glücklicher Weise begleitete Isaak Hakhabut, der seinen Kramladen in der Tiefe des Berges niemals verließ, den Kapitän Servadac nicht bei dieser Promenade.

»Wenn er jetzt hier wäre, meinte Ben-Zouf, welches Pfauengeschrei hätte der alte Spitzbube erhoben! Wie ein Pfau zu schreien und dessen Schweif nicht zu haben, das paßt aber nicht zusammen!«

Die zwei nächsten Monate, Juli und August, näherten die Gallia der Sonne bis auf 98.4 Millionen Meilen. Während der kurzen Nächte blieb die Kälte noch außerordentlich heftig; während des Tages aber strahlte die Sonne, da sie durch den Aequator der Gallia ging, eine merkbare Wärme aus und hob die Temperatur wohl um zwanzig Grade. Die Bewohner der Gallia kamen dann herbei, um sich an den belebenden Strahlen zu erfreuen, und machten es dabei ganz wie die Vögel, welche ebenfalls in der freien Luft herumflatterten, um erst mit dem sinkenden Tage wieder zu verschwinden.

Diese Art Frühling – doch darf man sich hier des Wortes bedienen? – übte einen sehr heilsamen Einfluß auf die Bewohner der Gallia aus. Die Hoffnung, das Vertrauen kehrte allmälig zurück. Während des Tages [404] zeigte sich die Sonnenscheibe am Horizonte schon vergrößert; während der Nacht schien die Erde mitten unter den tausend Sternen zu wachsen. Man sah jetzt das Ziel vor sich – noch war es zwar entfernt – doch, man sah es ja, wenn es im Weltraume auch nur gleich einem Punkte erschien.

Eines Tages veranlaßte diese Beobachtung Ben-Zouf zu folgender Bemerkung gegenüber Kapitän Servadac und Graf Timascheff:

»Wahrhaftig, sagte er, es wird mich Niemand glauben machen, daß mein Montmartre auch da unten liegen soll!

– Und doch, antwortete Kapitän Servadac, ich hoffe mit Sicherheit darauf, daß wir ihn daselbst noch wiederfinden!

– Ich auch, Herr Kapitän! Aber sagen Sie mir, ohne Ihnen Vorschriften machen zu wollen, wenn nun Herrn Rosette's Komet nicht so freundlich gewesen wäre, nach der Erde zurückzukehren, gäbe es dann gar kein Mittel, ihn dazu zu zwingen?

– Nein, mein Freund, erwiderte Graf Timascheff. Keine menschliche Macht wäre im Stande, die Stellung der Himmelskörper zu verändern. Welche Verwirrung müßte es geben, wenn Jeder den Gang seines Planeten nach Belieben bestimmen könnte! Aber Gott hat das nicht gewollt, und ich glaube, er that weise daran!«

15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
Worin der ersten und letzten Beziehungen zwischen Palmyrin Rosette und Isaak Hakhabut Erwähnung geschieht.

Der Monat September kam heran. Noch immer war es unmöglich gewesen, die dunklen, aber doch warmen Zufluchtsstätten im Untergrunde der Gallia zu verlassen, um die Wohnung im Nina-Baue wieder zu beziehen. Die Bienen wären ohne Zweifel in ihren alten Zellen erfroren.

Glücklicher oder unglücklicher Weise drohte der Vulkan nicht wieder in Thätigkeit zu treten.

[405] Glücklicher Weise, denn eine plötzliche Eruption hätte die Bewohner der Gallia in dem Centralkamine, dem einzigen Abfluß für die Lava, überraschen können.

Unglücklicher Weise, weil Jedermann das verhältnißmäßig geordnete und fast comfortable Leben in dem höher gelegenen Nina-Bau gern wieder aufgenommen hätte.

»Da haben wir nun sieben abscheuliche Monate hier unten zugebracht, Herr Kapitän, begann eines Tages Ben-Zouf. Haben Sie unsere Nina während dieser Zeit beobachtet?

– Gewiß, Ben-Zouf, antwortete Kapitän Servadac, das ist ein durchweg wunderbares kleines Wesen. Man möchte sagen, das ganze Leben der Gallia concentrire sich in ihrem Herzen.

– Ganz recht, mein Kapitän, aber später? ...

– Was willst Du damit sagen?

– Ja, ich meine, wenn wir nach der Erde zurückgekehrt sind, können wir das Kind doch nicht verlassen!

– Bewahre Gott, Ben-Zouf, wir werden es adoptiren!

– Brav, mein Kapitän! Sie werden dessen Vater und ich werde, mit Ihrer Erlaubniß, seine Mutter sein.

– Nun, dann wären wir Beide ja so gut wie verheirathet, Ben-Zouf.

– O, mein Kapitän, erwiderte der brave Soldat, das sind wir in der That seit langem!«

Von den ersten Tagen des October ab wurde die Temperatur, bei dem Fehlen jeder Bewegung der Atmosphäre, selbst in der Nacht weit erträglicher. Die Entfernung der Gallia von der Sonne erreichte jetzt kaum das Dreifache des Abstandes der Erde von dem Centrum ihrer Attraction. Die Temperatur hielt sich im Mittel auf dreißig bis fünfunddreißig Grad unter Null. Dem Nina-Bau sowohl als auch der Außenwelt wurden schon häufige Besuche abgestattet. Die Kolonisten wagten sich ungestraft hinaus auf den Strand. Bei der prächtigglatten, einladenden Eisfläche des Meeres ergötzte man sich auch wieder am Schlittschuhlaufen. O, welche Freude war es für die Gefangenen, ihren Kerker einmal verlassen zu können! Tag für Tag traten auch Graf Timascheff, Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop zusammen, um sich über die Lage der Dinge zu unterrichten und die große Frage der »Landung an der Erde« zu besprechen. Es war ja damit nicht abgemacht, an [406] der Erdkugel anzulangen, sondern es galt auch, den verderblichen Folgen des Stoßes nach Möglichkeit zuvorzukommen.

Einer der fleißigsten Besucher des Nina-Baues war Palmyrin Rosette. Das Fernrohr hatte man wieder nach seinem Observatorium geschafft und hier beschäftigte er sich, so lange es die Kälte irgend erlaubte, mit astronomischen Beobachtungen.

Ueber das Resultat seiner neueren Beobachtungen stellte man keine Frage an den Professor. Er hätte eine solche wahrscheinlich auch nicht beantwortet. Nach Verlauf einiger Tage glaubten seine Gefährten an ihm zu bemerken, daß er gar nicht mehr zufrieden sei. In dem schiefen Tunnel des Centralkamines sah man ihn auf- und absteigen, kommen und wieder gehen. Er murmelte vor sich hin, er fluchte sogar manchmal und erschien unzugänglicher als je. Ein- oder zweimal versuchte es Ben-Zouf – wie bekannt, ein unerschrockener Held – sich dem schrecklichen Professor zu nahen. Die Aufnahme, welche er dabei fand, spottet jeder Beschreibung.

»Ich möchte wetten, dachte er, daß es da oben nicht ganz so geht, wie er es wünschte. Alle Wetter, wenn er nur nicht die ganze Himmelsmechanik und uns dabei mit ruinirt!«

Auch Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop fragten sich wiederholt, was Palmyrin Rosette wohl so sehr erregen möge. Hatte der Professor vielleicht seine Rechnung noch einmal geprüft und gefunden, daß sie mit den neueren Beobachtungen nicht übereinstimmte? Nahm der Komet etwa den ihm in den vorausberechneten Ephemeriden zugewiesenen Ort doch nicht ein und sollte er in Folge dessen nicht an der bezeichneten Stelle und in der richtigen Secunde bei der Erde anlangen?

Diese Fragen gingen Jedermann nahe, und da sich alle Hoffnungen nach dieser Seite nur auf Palmyrin Rosette's Versicherungen stützten, so war aller Grund vorhanden, zu fürchten, wenn man jenen so seiner Sache ungewiß sah.

In der That ward der arme Professor allmälig der Unglücklichste aller Astronomen. Ohne Zweifel entsprachen seine Rechnungen nicht den jetzigen Beobachtungen, und ein Mann, wie er, mußte darüber das lebhafteste Mißbehagen empfinden. Stets, wenn er nach einer lang fortgesetzten Beobachtung dreiviertel erfroren das Ocular seines Fernrohres verließ und nach seinem Zimmer herabkam, unterlag er einem wirklichen Wuthanfalle.


Die Bewohner der Gallia kamen herbei, um sich an den belebenden Strahlen zu erfreuen. (S. 404.)

Hätte ihn einer seiner Gefährten in einem solchen Augenblicke angesprochen, so hätte er hören können, wie jener immer für sich murmelnd wiederholte:

»Alle Teufel, was bedeutet das? Was macht sie da? Sie ist nicht an der Stelle, die meine Berechnungen ihr [407] anweisen! Die Elende! Sie bleibt zurück! Entweder Newton ist ein Narr oder sie ist toll! Alles das widerspricht den Gesetzen der allgemeinen Gravitation. Was zum Teufel, ich habe mich nicht [408] täuschen können.


Palmyrin Rosette preßte den Kopf zwischen beide Hände. (S. 409.)

Meine Beobachtungen sind richtig, meine Rechnungen auch! Alle Wetter, ich werde auf den Grund kommen!«

Und Palmyrin Rosette preßte den Kopf zwischen beide Hände und raufte sich fast die Haare aus, an welchen sein Scheitel doch keinen Ueberfluß hatte. Und immer und immer erhielt er dasselbe Resultat: eine Differenz zwischen seinen Berechnungen und den nachträglichen Beobachtungen.

[409] »Sollte in der Himmelsmechanik, sagte er sich, wirklich eine Störung eingetreten sein? Nein, das ist nicht möglich! Ich, nur ich bin es, der sich irrt! Und doch ... dennoch ...«

Wenn es bei Palmyrin Rosette noch angegangen wäre, weiter abzumagern, jetzt wäre die Gelegenheit dazu gewesen.

Fühlte er sich aber in seiner Erwartung getäuscht, so beunruhigten sich die Anderen in seiner Umgebung, was ihm freilich die geringste Sorge machte.

Dieser Zustand der Dinge sollte indeß auch ein Ende nehmen.

Eines Tages, es war am 12. October, hörte Ben-Zouf, der sich im Hauptsaale zu schaffen machte, den zufällig eben da anwesenden Professor laut und freudig aufschreien.

Ben-Zouf lief auf ihn zu.

»Ist Ihnen etwas zugestoßen? fragte er in ziemlich gleichgiltigem Tone.

– Heureka, sage ich Dir, Heureka!« erwiderte der Professor, der sich fast wie toll geberdete.

In seiner Antwort trat ebensoviel Befriedigung als Aufregung zu Tage.

»Heureka? wiederholte Ben-Zouf verblüfft.

– Ja, Heureka! Weißt Du, was das sagen will?

– Nein.

– Nun, dann geh' zum Teufel!

– Ei, dachte die Ordonnanz wegen Mangels einer passenden Antwort, es ist doch ein Glück, daß Herr Rosette sich immer in höflichen Formen bewegt!«

Er ging davon, und wenn auch nicht zum Teufel, so doch zu Hector Servadac.

»Herr Kapitän, begann er, es giebt etwas Neues!

– Das wäre?

– Unser gelehrter Herr ... er hat ... ja, er hat ›Heureka‹ ...

– Er hat es gefunden! ... rief Kapitän Servadac. Aber was hat er denn gefunden?

– Ja, das weiß ich nicht.

– Eben das müssen wir jedoch vor Allem wissen!«

[410] Kapitän Servadac ward unruhiger, als er je vorher gewesen.

Inzwischen verfügte sich Palmyrin Rosette wieder nach seinem Observatorium und murmelte immer für sich:

»Gewiß, so ist es ... Es kann nicht anders sein! ... O, dieser Schurke! Wenn ich recht habe, soll er's theuer zahlen! ... Doch, würde er es zugestehen? Nimmermehr! ... Er müßte ja wieder herausgeben! ... Wohlan, ich werde mich einer List bedienen ... den Erfolg werden wir ja sehen!«

Wenn das Alles auch nicht zu verstehen war, so zeigte sich doch offenbar, daß Palmyrin Rosette von diesem Tage ab sein Benehmen gegen den Juden Isaak Hakhabut auffallend veränderte. Bisher hatte er ihn stets vermieden oder wegwerfend behandelt. Jetzt wurde das ganz anders.

Wer erstaunte darüber am meisten? Natürlich Meister Isaak selbst, welcher ein solches Entgegenkommen niemals gewohnt gewesen war. Den Professor sah er nun häufig nach seiner dunklen Klause herunterkommen. Palmyrin Rosette interessirte sich für ihn, für seine Person und seine Angelegenheiten. Er fragte ihn, ob er seine Waare gut verkauft habe, was er wohl dabei gewonnen, ob er nicht eine Gelegenheit ausgenutzt habe, wie sie vielleicht niemals wiederkehren werde u.s.w. u.s.w. und alles das mit der nur schwierig verhehlten Absicht, jenen in die Enge zu treiben.

Isaak Hakhabut antwortete, mißtrauisch wie ein alter Fuchs, nur ausweichend. Diese Veränderung in dem Benehmen des Professors ihm gegenüber machte ihn stutzig. Er fragte sich, ob Palmyrin Rosette nicht etwa darauf ausgehe, von ihm Geld zu leihen.

Bekanntlich war Isaak Hakhabut im Principe gar nicht abgeneigt, solche Geschäfte zu machen, und berechnete dabei nur den bei ihm üblichen Zinsfuß. Er rechnete sogar auf solche Operationen, um sein Geld nie müßig liegen zu lassen. Er verlangte dabei aber stets eine sichere, solide Bürgschaft, und hier – gestehen wir es nur – sah er nur den Grafen Timascheff, den reichen Russen, mit dem er etwas Aehnliches gewagt hätte. Kapitän Servadac erschien ihm selbstverständlich bettelarm wie ein Gascogner. Den Professor selbst betreffend, wer hätte jemals die Idee gehabt, an einen Professor Geld auszuleihen! Meister Isaak hielt sich also sehr zurück.

[411] Andererseits sollte der Jude in die Lage kommen, von seinem Gelde Gebrauch zu machen, wobei er sich natürlich möglichst beschränkte, worauf er aber doch nicht im mindesten gerechnet haben mochte.

Zu jener Zeit hatte er nämlich an die Gallia-Bewohner fast seine ganze Ladung derjenigen Güter verkauft, welche als Nahrungs- und Genußmittel dienten, und dabei die Vorsicht außer Acht gelassen, sich für seinen eigenen Bedarf das Nöthige zurückzubehalten. Unter Anderem fehlte ihm nun der Kaffee. Und wenn man vom Kaffee auch einen noch so sparsamen Gebrauch macht, »wenn keiner mehr vorhanden ist, dann ist eben keiner mehr da«, wie Ben-Zouf gesagt hatte.

So kam es also, daß Isaak sich plötzlich eines Lieblingsgetränkes beraubt sah, das er gar nicht entbehren konnte, und daß er dadurch in die Lage kam, es aus den Vorräthen des allgemeinen Magazines zu beanspruchen.

Nach langem Zögern und reiflicher Ueberlegung sagte er sich dann, daß, da jene Vorräthe für alle Gallia-Bewohner ohne Unterschied bestimmt waren, auch er dieselben Rechte darauf habe wie jeder Andere. Er suchte zuerst Ben-Zouf zu treffen.

»Herr Ben-Zouf, sagte er im freundlichsten Tone, ich hätte zu stellen eine kleine Frage an Sie.

– So rede, Josua, antwortete Ben-Zouf.

– Ich werde aus dem Vorrathe ein Pfund Kaffee zu meinem persönlichen Gebrauch entnehmen müssen.

– Ein Pfund Kaffee! rief Ben-Zouf verwundert, wie! Du verlangst ein Pfund Kaffee?

– Ja, Herr Ben-Zouf.

– O, o, das ist eine ernsthafte Sache!

– Ist vielleicht keiner mehr da?

– Gewiß, wohl noch hundert Kilo.

– Nun also?

– Nun, Alter, erwiderte Ben-Zouf mit beunruhigendem Kopfschütteln, ich weiß nicht, ob ich Dir das geben kann.

– Geben Sie's mir, Herr Ben-Zouf, sagte Isaak Hakhabut, geben Sie, ich werde immer sein erkenntlich dafür!

– Deine Erkenntlichkeit ist mir wahrlich höchst gleichgiltig.

[412] – Sie würden's aber nicht abschlagen, wenn ein Anderer als ich ...

– Ja, siehst Du, Du bist aber eben kein Anderer.

– Was werden Sie thun, Herr Ben-Zouf?

– Na, ich will mit Seiner Excellenz dem Herrn General-Gouverneur sprechen.

– O, Herr Ben-Zouf, ich zweifle gar nicht, daß er bei seiner Gerechtigkeit ...

– Im Gegentheil, Alter, seine Gerechtigkeitsliebe läßt mich für Dich fürchten.«

Die Ordonnanz ließ Isaak Hakhabut mit dieser wenig tröstlichen Aussicht stehen.

Palmyrin Rosette, der dem Juden gegenüber immer auf der Lauer stand, kam gerade hinzu, als diese Worte zwischen jenem und Ben-Zouf gewechselt wurden. Die Angelegenheit schien ihm günstig, seine längst vorbereitete Absicht zur Ausführung zu bringen.

»He, Meister Isaak, sagte er, Ihr braucht ja wohl Kaffee?

– Ja, Herr Professor, antwortete Isaak Hakhabut.

– Ihr habt also Euere ganzen Vorräthe verkauft?

– Gott der Gerechte, ich habe gemacht diesen Fehler.

– Teufel, ja, der ist Euch nothwendig ... ja ... ja, der erwärmt Euch das Blut.

– So ist es ... und in meinem schwarzen Loche da kann ich ihn gar nicht entbehren.

– Nun, wohlan, Meister Isaak, Ihr werdet eine für Euern Bedarf hinreichende Quantität Kaffee erhalten.

– Nicht wahr, Herr Professor ... und, wenn ich ihn auch erst verkauft habe, diesen Kaffee, so habe ich doch das Recht, zu meinem Gebrauche davon zu nehmen.

– Gewiß ... Meister Isaak ... Gewiß! ... Braucht Ihr denn eine große Menge?

– Ach, nur ein einziges Pfund! ... Ich werde ihn sparen, so viel ich kann! Ein Pfund wird für mich sehr lange reichen.

– Doch womit soll man den Kaffee abwiegen? fragte Palmyrin Rosette, der diese Worte wider Willen etwas stark betonte.

– Mit meiner Schnellwaage!« murmelte der Jude.

[413] Palmyrin Rosette glaubte wahrzunehmen, daß sich Meister Isaak's Brust ein leichter Seufzer entrang.

»Ja wohl, versetzte er ... mit der Schnellwaage. – Eine Balkenwaage ist wohl nicht hier?

– Nein, erwiderte der Jude, der seinen Seufzer zu bedauern schien.

– Ei, Meister Isaak ... das wird ein vortheilhafter Handel, für ein Pfund Kaffee werdet Ihr da sieben erhalten.

– Ja, sieben, nun das ist ja desto besser!«

Der Professor sah sich seinen Mann scharf an. Er wollte ihm eine Frage stellen .... Er wagte es nicht, da er sich sagen mußte, daß jener mit der Wahrheit hinter dem Berge halten werde, und die Wahrheit wollte er auf jeden Fall erfahren.

Schon vermochte er seine Ungeduld kaum noch zu zügeln, als Ben-Zouf wieder zurückkam.

»Nun, wie steht's, fragte Isaak Hakhabut lebhaft.

– Der Gouverneur will nicht, antwortete Ben-Zouf.

– Er will nicht, daß man mir Kaffee giebt! .... seufzte Isaak Hakhabut.

– Nein, er will nur, daß man Dir solchen verkauft.

– Mir verkauft, Herr Gott Israel's!

– Ja, und das ist nicht mehr als gerecht, da Du alles Geld der Kolonie zusammengerafft hast. Nun, beeile Dich, laß uns Deine Goldfüchse sehen!

– Mich zum Kaufen zu zwingen, während ein Anderer ...

– Ich habe Dir schon einmal gesagt, daß Du eben kein Anderer bist. Willst Du kaufen oder nicht?

– Erbarmen, Erbarmen!

– Antworte oder ich schließe den Laden!«

Der Jude wußte es aus Erfahrung, daß er mit Ben-Zouf nicht scherzen durfte.

»Nun gut, ich will kaufen ... sagte er.

– Schön.

– Aber zu welchem Preise?

– Zu demselben, zu welchem Du verkauft hast. Man wird Dir das Fell nicht über die Ohren ziehen. Dein Pelz ist es nicht werth.«

[414] Isaak Hakhabut hatte die Hand in die Tasche gesteckt und klapperte mit einigen Münzen.

Der Professor wurde immer aufmerksamer und schien jedes Wort aus dem Munde des Juden aufzufangen.

»Wie viel soll ich zahlen für ein Pfund Kaffee? fragte dieser.

– Zehn Francs, antwortete Ben-Zouf, das ist der Marktpreis auf Warm-Land. Doch, was kann Dich das kümmern, da das Gold nach unserer Rückkehr zur Erde ohnehin keinen Werth mehr hat.

– Das Gold soll keinen Werth mehr haben, schrie der Jude. Könnte das möglich sein, Herr Ben-Zouf?

– Du wirst es ja sehen.

– Helfe mir Gott der Gerechte! Ein Pfund Kaffee zehn Francs.

– Zehn Francs. Nun, wird es endlich?«

Isaak Hakhabut zog ein Goldstück hervor, besah es genau bei dem Scheine der Lampe und drückte es beinahe zärtlich an die Lippen.

»Und Sie wollen wiegen mit meiner Schnellwaage? fragte der Jude mit einem so kläglichen Tone, daß es fast verdächtig erschien.

– Womit soll ich denn wiegen?« erwiderte Ben-Zouf.

Er ergriff die Schnellwaage, befestigte eine Schale an deren Haken und schüttete so viel Kaffee hinein, bis sie ein Pfund angab – in Wahrheit betrug diese Menge also sieben Pfund.

Isaak Hakhabut folgte mit den Augen jeder Bewegung.

»Hier nimm, sagte Ben-Zouf.

– Steht der Zeiger richtig auf dem Striche? fragte der Jude und neigte sich nach dem Gradbogen des Instrumentes.

– Ja doch, alter Jonas.

– Stoßen Sie ein wenig mit dem Finger daran, Herr Ben-Zouf.

– Und warum das?

– Weil .... weil .... murmelte Isaak Hakhabut, weil meine Schnellwaage vielleicht nicht .... nicht ganz vollständig .... richtig sein könnte! ....«

Kaum waren ihm diese Worte entflohen, als Palmyrin Rosette den Juden schon an der Gurgel hatte, ihn abschüttelte und würgte.

»Elender Wicht! rief er zornig.

– Zu Hilfe! Zu Hilfe!« schrie Isaak Hakhabut.

[415] Es entspann sich eine regelrechte Prügelei. Ben-Zouf hütete sich wohl, dazwischen zu treten. Er hetzte die beiden Gegner vielmehr noch auf einander und wollte schier vor Lachen platzen. Ihm lag, offen gestanden, an dem Einen so viel wie an dem Anderen.


»Stoßen Sie ein wenig mit dem Finger daran, Herr Ben-Zouf!« (S. 415.)

Durch den Lärm wurden aber Kapitän Servadac, Graf Timascheff und Lieutenant Prokop herbeigezogen, welche sehen wollten, was es hier gäbe.

[416] Man trennte den Juden und den Professor.


Palmyrin Rosette würgte Isaak an der Gurgel. (S. 416.)

»Was zum Kuckuck ist hier los? fragte Hector Servadac.

– Nun, dieser erbärmliche Kerl, antwortete Palmyrin Rosette, hat uns eine falsche Schnellwaage gegeben, eine Waage, welche ein zu großes Gewicht anzeigt!

– Ist das wahr, Isaak?

[417] – Herr Gouverneur, ja ... nein ... antwortete der Jude ... ja!

– Dieser Strauchdieb hat uns seine Waaren nach falschem Gewicht verkauft, fuhr der Professor mit wachsendem Zorne fort, und damals, als ich meinen Kometen mit seinem Instrumente wog, habe ich in Folge dessen ein größeres Gewicht erhalten, als jener wirklich hat.

– Verhält sich das so?

– Das ist wohl möglich .... ich weiß es nicht! stammelte Isaak Hakhabut.

– Endlich habe ich diese falsche Masse meinen neuen Rechnungen zu Grunde gelegt und folglich stimmen diese nicht mit meinen Beobachtungen überein, so daß ich lange Zeit glaubte, sie sei nicht an ihrem richtigen Platze.

– Welche sie ... die Gallia?

– Nein, zum Teufel, die Nerina, unser Mond.

– Aber die Gallia?

– O, die Gallia befindet sich immer da, wo sie sein soll, erwiderte Palmyrin Rosette. Sie geht geraden Weges auf die Erde zu und wir mit ihr ... und auch dieser verdammte Jude, den Gott noch strafen möge!«

16. Capitel
Sechzehntes Capitel.
In welchem Kapitän Servadac und Ben-Zouf weggehen und wiederkommen, wie sie fortgegangen sind.

Es verhielt sich so. Seitdem Isaak Hakhabut seinen ehrlichen Handel längs der Küsten begonnen, hatte er auch nach falschem Gewichte verkauft. So weit wir den Mann kennen gelernt haben, wird das Niemand verwundern. An dem Tage aber, wo er aus dem Verkäufer zum Käufer ward, wendete sich das Blättchen gegen ihn. Das Hilfsmittel seines Vermögens war jene Schnellwaage, welche, wie sich nun herausstellte, um ein Viertel zu viel zeigte – was den Professor veranlaßte, seine Rechnungen wieder aufzunehmen und nun von einer richtigen Basis auszugehen.

[418] Wenn die Schnellwaage auf der Erde das Gewicht eines Kilogrammes anzeigte, so wog der betreffende Gegenstand in der That nur siebenhundertfünfzig Gramm. Von dem für die Gallia gefundenen Gewichte mußte der Professor also ein volles Viertel abziehen. Es liegt auf der Hand, daß seine Rechnungen, welche sich auf ein um ein Viertel zu großes Gewicht des Kometen gründeten, nicht richtig sein und mit den Positionen der Nerina nicht übereinstimmen konnten, da letztere von der Masse der Gallia bestimmt wurden.

Nachdem Palmyrin Rosette seine Wuth gekühlt und Isaak Hakhabut tüchtig durchgeprügelt hatte, ging er sofort an die Arbeit, um bezüglich der Nerina in's Reine zu kommen.

Wie es Isaak Hakhabut nun erst nach diesem Auftritte erging das versteht sich wohl von selbst. Ben-Zouf versicherte ihm einmal über das andere, daß er wegen Gebrauches falschen Gewichtes verklagt, sein Geschäft geschlossen und er vor das Zuchtpolizei-Gericht gestellt werden würde.

»Aber wo und wann? fragte der Jude.

– Auf der Erde, nach unserer Rückkehr, alter Spitzbube!« antwortete Ben-Zouf.

Das widerliche Männchen mußte sich in seine Ecke verkriechen und ließ sich so wenig als möglich sehen.

Noch zweiundeinhalb Monate trennten die Gallia-Bewohner von dem Tage, an dem sie der Erde zu begegnen hofften.

Seit dem 7. October war der Komet wieder in die Zone der teleskopischen Planeten eingetreten, aus der er früher die Nerina mit weggeführt hatte.

Am 1. November wurde auch die Mitte der Zone, in welcher jene, wahrscheinlich von dem Zerspringen eines größeren Planeten herrührenden Asteroïden zwischen Mars und Jupiter kreisen, glücklich überschritten. Im Laufe dieses Monats sollte die Gallia in ihrer Bahn ein Bogenstück von 24 Millionen Meilen durchlaufen und sich der Sonne dabei bis auf 46.8 Millionen Meilen nähern.

Die Temperatur wurde jetzt erträglicher und hob sich auf zehn bis zwölf Grad unter Null. Noch zeigte sich natürlich keine Spur von Thauwetter. Die Meeresfläche ruhte noch immer unter der starren Eisdecke und die beiden [419] Fahrzeuge schwebten auf ihrer krystallenen Unterlage über dem verderblichen Abgrunde.

Jetzt erinnerte man sich auch gelegentlich der auf dem Eiland von Gibraltar eingesperrten Engländer. Niemand bezweifelte übrigens, daß sie die furchtbare Kälte des Gallia-Winters gewiß ohne Schaden überstanden hätten.

Kapitän Servadac besprach diese Angelegenheit von einem Gesichtspunkte aus, der seinem edelmüthigen Charakter alle Ehre machte. Er sagte, daß es ihm, trotz des unfreundlichen Empfanges bei dem ersten Besuche der Dobryna, angezeigt erscheine, sich mit jenen in Verbindung zu setzen und sie von alledem zu unterrichten, was ihnen wahrscheinlich unbekannt geblieben war. Die Rückkehr zur Erde, welche aller Voraussicht nach nur unter einem wiederholten Zusammenstoß erfolgen konnte, bot ja die ernstlichsten Gefahren. Man mußte die Engländer aus rein menschlicher Rücksicht darüber aufklären und sie womöglich veranlassen, diesen Gefahren im Vereine mit allen Uebrigen entgegenzutreten.

Graf Timascheff und Lieutenant Prokop stimmten Kapitän Servadac's Anschauung unumwunden bei. Es betraf ja eine Frage der Menschenpflicht, welche sie niemals unempfindlich ließ.

Wie sollte man zu dieser Jahreszeit aber nach dem Eiland von Gibraltar gelangen?

Natürlich über das Meer, und zwar unter Benützung der festen Eisfläche, die es jetzt noch darbot.

Das war übrigens die einzige Art und Weise, von einer Insel zur anderen zu kommen, denn nach Eintritt des Thauwetters mußte jede Communication unmöglich werden. In der That konnte man ja in Zukunft weder auf die Goëlette noch auf die Tartane rechnen. Die Verwendung der kleinen Dampfschaluppe für ähnliche Zwecke hätte den Verbrauch einiger Tonnen Kohlen erfordert, welche man sorglich aufbewahrte, im Falle die Kolonisten gezwungen wären, nach der Insel Gourbi zurückzukehren.

Nun blieb noch der schon zum Segelschlitten umgewandelte You-You übrig. Man erinnert sich, wie schnell und sicher mit ihm die Ueberfahrt von Formentera nach Warm-Land vor sich ging.

Dieser benöthigte aber des Windes, um sich zu bewegen, und von Wind zeigte sich auf der Oberfläche der Gallia keine Spur. Vielleicht entstanden [420] nach eingetretenem Thauwetter, wenn die sommerliche Wärme erst wieder Dünste entwickelte, auch neue Störungen der jetzt so stillen Gallia-Atmosphäre? Das war sogar zu befürchten. Vorläufig indessen herrschte vollkommene Ruhe, so daß der You-You unmöglich zur Fahrt nach Gibraltar Verwendung finden konnte.

Man sah sich demnach in die Nothwendigkeit versetzt, den langen Weg zu Fuß oder vielmehr auf Schlittschuhen zurückzulegen. Er betrug gegen fünfundsechzig Meilen; – konnte man den Versuch unter den jetzigen Umständen wagen?

Kapitän Servadac erbot sich zu dem Unternehmen. Zwölf bis achtzehn Meilen des Tages, also etwa fünf Viertelmeilen in der Stunde, zurückzulegen, das schreckte einen so geübten Schlittschuhläufer wohl nicht zurück. Binnen acht Tagen konnte er Gibraltar besucht und Warm-Land wieder erreicht haben. Einen Kompaß, um die Richtung einzuhalten, eine kleine Menge kaltes Fleisch und eine Spiritus-Kaffeemaschine, mehr verlangte er nicht, und dieses etwas waghalsige Unternehmen war ja von Anfang an schon so recht eigentlich nach seinem Sinne.

Graf Timascheff und Lieutenant Prokop bestanden darauf, ihn zu begleiten oder ganz an seine Stelle zu treten. Kapitän Servadac lehnte dankend ab. Im Falle eines eintretenden Unglücks mußten der Graf und der Lieutenant doch auf Warm-Land sein. Was wäre ohne diese bei der Rückkunft nach der Erde aus ihren Gefährten geworden?

Graf Timascheff mußte nachgeben. Kapitän Servadac wollte durchaus nur einen Begleiter mitnehmen, seinen getreuen Ben-Zouf. Er fragte ihn also, ob ihm die Sache wohl passe.

»Ob sie mir paßt, alle Wetter, antwortete Ben-Zouf. Ob mir die Sache paßt, Herr Kapitän! Eine so schöne Gelegenheit, sich die Beine einmal wieder auszulaufen! Glauben Sie denn, ich hätte Sie überhaupt allein abfahren lassen?«

Die Abreise wurde für den nächsten Tag, den 2. November, festgesetzt. Gewiß trieb den Kapitän Servadac in erster Linie der Wunsch, den Engländern zu nützen, und das Bedürfniß, einer Pflicht der Menschlichkeit zu genügen. Vielleicht ruhte aber doch noch ein anderer Gedanke in seinem Gehirn verborgen. Noch hatte er einen solchen freilich Niemandem mitgetheilt und wollte ihn offenbar gerade vor Graf Timascheff verborgen halten.

[421] Doch wie dem auch sein mochte, jedenfalls begriff Ben-Zouf, daß »die Sache noch ein Häkchen« haben müsse, als sein Kapitän am Abend vor dem Aufbruche zu ihm sagte:

»Ben-Zouf, solltest Du im Hauptmagazine nicht irgend welche passende Stoffe finden, um eine dreifarbige Fahne herzustellen?

– Gewiß, Herr Kapitän, versicherte Ben-Zouf.

– Nun gut, so sorge mir, ungesehen von den Anderen, für eine solche Flagge, packe sie in Deine Reisetasche und nimm sie mit.«

Ben-Zouf fragte nicht weiter und gehorchte.

Was hatte Kapitän Servadac aber eigentlich vor und warum sprach er sich darüber nicht gegen seine Gefährten aus?

Bevor wir hierauf näher eingehen, müssen wir einer gewissen psychologischen Erscheinung erwähnen, die, wenn sie auch nicht zur Kategorie der Himmelserscheinungen zählte, doch nicht minder natürlich, nämlich in einer Art menschlicher Schwäche begründet war.

Seit der Wiederannäherung der Gallia an die Erde entstand zwischen Graf Timascheff und Kapitän Servadac, wohl in Folge eines Widerstreites ihrer Empfindungen, eine sich mehr und mehr erweiternde Kluft, möglicher Weise ganz ohne ihr Wissen. Die Erinnerung ihrer, während eines zweiundzwanzig Monate langen Beisammenseins fast vollständig vergessenen Nebenbuhlerschaft wachte erst in ihrem Kopfe, dann in ihrem Herzen wieder auf. Sollten diese zwei Gefährten eines unerhörten Abenteuers nach der Rückkehr zur Erde nicht wieder die beiden Nebenbuhler von ehedem werden? Wenn man auch Gallia-Bewohner war, hat man ja darum nicht aufgehört, Mensch zu sein. Frau v. L. ... war vielleicht noch frei – o, es wäre schon ein Verbrechen gewesen, daran nur zu zweifeln! ...

Kurz, aus all' diesen Gründen entwickelte sich zwischen Kapitän Servadac und Graf Timascheff, mit oder gegen deren Willen, eine zunehmende Kälte. Ein feinerer Beobachter hätte übrigens bemerken müssen, daß zwischen Beiden niemals eine herzliche Zuneigung, sondern nur jene Freundschaft herrschte, wie sie unter den gegebenen Umständen eben nothwendiger Weise aufwuchs.

Nach dieser erklärenden Einleitung treten wir dem Projecte des Kapitän Servadac näher – einem Projecte, welches ganz geeignet schien, zwischen dem [422] Grafen Timascheff und ihm nur neue Eifersüchteleien zu erregen. Diese zu vermeiden, suchte er es eben geheim zu halten.

Wir müssen gestehen, daß der hier vorliegende Plan des phantastischen Kopfes, dem er seine Entstehung verdankte, ganz würdig war.

Bekanntlich hielten die auf ihrem Felsen eingeschlossenen Engländer Gibraltar noch immer für Albion besetzt. Dagegen wäre ja in dem Falle nichts einzuwenden, daß dieses britische Besitzthum sich wirklich unversehrt der Erde wieder einfügte. Mindestens würde ihnen Niemand den Besitz streitig gemacht haben.

Gibraltar gegenüber aber erhob sich das Eiland Ceuta. Vor dem Zusammenstoße gehörte dasselbe Spanien und beherrschte es die eine Seite der Meerenge. Da Ceuta jetzt herrenlos war, gehörte es Demjenigen, der zuerst seinen Fuß darauf setzte. Sich also nach dem Felsen von Ceuta zu begeben, davon im Namen Frankreichs Besitz zu ergreifen und daselbst die französische Fahne aufzupflanzen, das war die geheime Absicht des Kapitän Servadac.

»Wer weiß denn, so sprach er zu sich selbst, ob Ceuta nicht wohlbehalten zur Erde gelangt und später vielleicht ein wichtiges neues Mittelmeer beherrscht? Wohlan, die auf jenem Felsen aufgepflanzte französische Flagge wird dereinst Frankreichs Ansprüche sichern!«

Das waren die Gründe, weshalb Kapitän Servadac und seine Ordonnanz Ben-Zouf, ohne etwas davon zu sagen, auf Eroberung auszogen.

Man wird übrigens zugeben, daß Ben-Zouf ganz dazu geschaffen war, seinen Kapitän zu verstehen. Ein Stückchen Felsen für Frankreich zu erwerben! Den Engländern ein Schnippchen zu schlagen! Das war Wasser auf seine Mühle.

Nach dem Aufbruche, als das Abschiednehmen am Fuße des steilen Ufers zu Ende war, erhielt Ben-Zouf genauere Kenntniß von den Absichten seines. Kapitäns.

Da stieg die Erinnerung an die lustigen Soldatenlieder wieder in ihm auf und er sang mit heller Stimme:


»Und wenn die Sonne dem Meer entrückt
Die ersten schrägen Strahlen schickt –
Halloh! Ihr Jungen, d'rauf und d'ran,
Halloh! Die Zephyrs fliegen voran!«

»Herr Kapitän, sehen Sie doch!« sagte Ben-Zouf. (S. 426.)

Kapitän Servadac und Ben-Zouf eilten, warm ge [423] kleidet, die Ordonnanz den Reisesack mit den nöthigsten Bedürfnissen auf dem Rücken, Beide die Schlittschuhe an den Füßen, hurtig über die weiße Ebene und verloren bald die Höhen von Warm-Land aus den Augen.


»Der Herr Major Oliphant, glaub' ich?« sprach der Kapitän. (S. 428.)

Die Fahrt ging ohne Unfall von statten. In gemessenen Zwischenräumen hielten sie Rast, um etwas zu ruhen und gemeinschaftlich ihr einfaches Mahl [424] einzunehmen. Die Temperatur wurde selbst in der Nacht recht erträglich, und drei Tage nach dem Aufbruche, am 5. November, kamen die beiden Helden einige Kilometer von der Insel Ceuta an.

Ben-Zouf brannte vor Begierde. Wäre ein Sturm nöthig gewesen, so hätte er nur gewünscht, sich in Colonne womöglich »als Carré« formiren zu können, um die feindliche Reiterei zurückzuschlagen.

[425] Es war jetzt Morgen. Vom Abfahrtspunkte bis hierher hatten sie die gerade Richtung mittels des Kompasses bestimmt und genau eingehalten. Von den Strahlen der Morgensonne übergossen, erschien der Felsen von Ceuta etwa fünf bis sechs Kilometer von ihnen entfernt am westlichen Horizonte.

Die beiden Abenteuerjäger hatten Eile, ihren Fuß auf diesen Felsen zu setzen.

Plötzlich hielt Ben-Zouf, der sich eines sehr scharfen Gesichtes erfreute, ungefähr drei Kilometer vor dem Ziele, im Laufe inne.

»Herr Kapitän, sehen Sie doch!

– Was denn, Ben-Zouf?

– Dort bewegt sich etwas auf dem Felsen.

– Gehen wir darauf los!« antwortete Kapitän Servadac.

Zwei Kilometer wurden binnen wenigen Minuten durchlaufen. Da hielten Kapitän Servadac und Ben-Zouf noch einmal an.

»Herr Kapitän!

– Nun, Ben-Zouf?

– Da ist unbedingt Jemand auf Ceuta, der gegen uns Bewegungen mit den Armen macht. Er scheint die Arme auszustrecken, wie ein Mensch, der aus langem Schlafe erwacht.

– Mordio! rief Kapitän Servadac, sollten wir zu spät kommen?«

Beide drangen weiter vor, bis Ben-Zouf ausrief:

»Ah, Herr Kapitän, es ist nur ein Telegraph!«

Es war in der That ein Telegraph, ähnlich jenen Semaphoren der Seeküsten (Zeichentelegraphen zur Communication mit Schiffen auf offener See), der auf dem Felsen von Ceuta functionirte.

»Mordio! wiederholte Kapitän Servadac, wenn sich dort aber ein Telegraph befindet, so muß ihn wohl Einer errichtet haben.

– Wenigstens, bemerkte Ben-Zouf, wenn auf der Gallia die Telegraphen nicht etwa wie Bäume wachsen.

– Und wenn er gesticulirt, so muß ihn Jemand in Bewegung setzen.

– Wahrhaftig!«

Sehr enttäuscht, wandte Hector Servadac den Blick gen Norden.

Da, an der Grenze des Horizontes erhob sich der Felsen von Gibraltar und auf dem Gipfel des Eilandes sah Ben Zouf sowohl wie er selbst einen [426] zweiten Telegraphen errichtet, der auf die Zeichensprache des ersteren zu antworten schien.

»Sie haben Ceuta schon besetzt, sagte Kapitän Servadac mürrisch, und unser Erscheinen wird nach Gibraltar hinüber gemeldet.

– Nun und dann, Herr Kapitän?

– Dann, Ben-Zouf, erwiderte dieser, müssen wir unser Project der Eroberung aufgeben und zum bösen Spiele gute Miene machen.

– Aber, Herr Kapitän, es können höchstens fünf bis sechs Engländer zur Vertheidigung Ceutas bei der Hand sein ...

– Nein, nein, Ben-Zouf, erklärte Kapitän Servadac bestimmt, sie sind uns zuvorgekommen, und wenn meine Argumente sie nicht bestimmen, den Platz zu räumen, so ist eben nichts zu machen.«

Hector Servadac und Ben-Zouf langten jetzt, nicht in bester Stimmung, bei dem Felsen von Ceuta an. Plötzlich erschien eine Wache, als habe den Mann eine Feder emporgeschnellt.

»Wer da?

– Gut Freund! Frankreich!

– England!«

So lauteten die zuerst gewechselten Worte, als vier Soldaten auf dem oberen Theile des Eilandes sichtbar wurden.

»Was wünschen Sie? fragte Einer von den Leuten, welche zur Garnison von Gibraltar gehört hatten.

– Ich möchte Ihren Vorgesetzten sprechen, antwortete Kapitän Servadac.

– Den Kommandanten von Ceuta?

– Den Kommandanten von Ceuta, wenn Ceuta schon einen Befehlshaber hat.

– Ich werde es ihm melden!« antwortete der englische Soldat.

Kurze Zeit darauf trat der Kommandant von Ceuta in voller Uniform auf die äußersten Felsen des Eilandes vor.

Es war kein Anderer als Major Oliphant.

Nun klärte sich Alles vollkommen auf Kapitän Servadac's Gedanken, Ceuta zu besetzen, hatten die Engländer nicht nur ebenfalls gehabt, sondern ihn auch früher zur Ausführung gebracht. Nach Besitzergreifung des Felsens höhlten sie in demselben einen wohlkasematirten Wachtposten aus. Lebensmittel [427] und Heizmaterial wurden auf dem Boote des Kommandanten von Gibraltar schon übergeführt, bevor das Meer zufror.

Eine dichte, aus der Felsmasse selbst aufsteigende Rauchsäule bewies, daß hier während des Gallia-Winters tüchtig gefeuert worden sein und die Garnison trotz seiner Strenge nicht Noth gelitten haben mochte. Die britischen Soldaten zeigten in der That ein sehr befriedigendes Embonpoint und selbst Major Oliphant war, so unbequem ihm das auch sein mußte, etwas behäbiger geworden.

Die Engländer von Ceuta lebten dabei gar nicht so sehr vereinsamt, da sie nur zweiundeinhalb Meilen von Gibraltar trennten, so daß sie entweder durch Ueberschreitung der alten Meerenge oder durch ihren Telegraphen stets in Verbindung mit ihren Genossen blieben.

Wir bemerken hierbei gleichzeitig, daß Brigadier Murphy und Major Oliphant nicht einmal ihre Schachpartie unterbrochen hatten und sich ihre wohl überlegten Züge telegraphisch übermittelten.

Sie ahmten damit jenen zwei amerikanischen Gesellschaften nach, welche im Jahre 1846 trotz Sturm und Regen telegraphisch eine berühmte Schachpartie zwischen Washington und Baltimore auskämpften.

Wir brauchen es wohl nicht ausdrücklich zu sagen, daß es sich zwischen Brigadier Murphy und Major Oliphant noch immer um jene Partie handelte, welche sie schon vor dem Besuche Kapitän Servadac's auf Gibraltar begonnen hatten.

Inzwischen erwartete der Major sehr ruhig, was die beiden Fremdlinge von ihm begehrten.

»Der Herr Major Oliphant, glaub' ich? begann Kapitän Servadac salutirend.

– Major Oliphant, Gouverneur auf Ceuta, erwiderte der Officier und setzte sogleich hinzu: Mit wem hab' ich die Ehre zu sprechen?

– Mit Kapitän Servadac, General-Gouverneur von Warm-Land.

– Ah, sehr schön, antwortete der Major.

– Erlauben Sie mir, mein Herr, fuhr Hector Servadac fort, Ihnen meine Verwunderung auszudrücken, Sie hier, auf dem Ueberbleibsel einer früheren Besitzung Spaniens, als Kommandanten eingesetzt zu sehen?

– Das ist Ihnen unbenommen, Herr Kapitän.

– Darf ich fragen durch welches Recht? ...

[428] – Durch das Recht der ersten Besitznahme.

– Das ist ja recht schön, Major Oliphant. Glauben Sie aber nicht, daß jene Spanier, welche sich jetzt auf Warm-Land aufgehalten haben, mit einigem Rechte reclamiren könnten? ...

– Das glaube ich nicht, Kapitän Servadac.

– Und weshalb, wenn ich bitten darf?

– Weil das dieselben Spanier sind, welche den Felsen von Ceuta in aller Form an England abgetreten haben.

– Contractlich, Major Oliphant?

– In bester, unumstößlicher Form!

– Wirklich?

– Noch mehr, sie haben den Preis dieser Abtretung in baarem englischen Gelde ausgezahlt erhalten.

– Aha, rief Ben-Zouf, da wissen wir's ja, warum Negrette und seine Leute so viel Gold in der Tasche hatten!«

Die Sache war in der That so vor sich gegangen, wie Major Oliphant sagte. Der Leser erinnert sich, daß die beiden Officiere von Gibraltar einen heimlichen Besuch in Ceuta abgestattet hatten, als die Spanier noch daselbst weilten, wobei sie jene leicht zu erreichende Cession des Eilandes an England erwirkten.

Das Argument, auf welches Kapitän Servadac sich ein wenig zu stützen gedachte, zerfiel also in sich selbst, was eine ungeheure Enttäuschung des Eroberers und seines Generalstabs-Chefs zur Folge hatte. Er hütete sich auch sehr wohl, auf seinem Vorhaben zu beharren oder es überhaupt nur durchblicken zu lassen.

»Darf ich erfahren, begann Major Oliphant wieder, was mir die Ehre Ihres Besuches verschafft?

– Ich kam, Herr Major, antwortete Hector Servadac, um Ihnen und Ihren Leuten einen Dienst zu erweisen.

– So! versetzte der Major mit dem Tone eines Mannes, der von Niemand eine Gefälligkeit nöthig zu haben glaubt.

– Vielleicht sind Sie, Major Oliphant, nicht völlig von dem unterrichtet, was vorgegangen ist, und wissen z.B. nicht, daß die Felsen von Ceuta und Gibraltar jetzt auf einem Kometen durch die Sonnenwelt irren?

[429] – Auf einem Kometen?« wiederholte der Major ungläubig lächelnd.

Kapitän Servadac theilte ihm nun mit kurzen Worten die Folgen des Zusammenstoßes der Erde und der Gallia mit, was der englische Officier mit gewohnter Ruhe anhörte. Er fügte dann hinzu, daß alle Aussicht vorhanden sei, bald nach der Erdkugel zurückzukehren und es sich vielleicht empfehlen möchte, daß alle Insassen der Gallia ihre Kräfte vereinigten, um die Gefahren der bevorstehenden Collision möglichst abzumindern.

»Ich stelle deshalb die Frage an Sie, Major Oliphant, ob Ihre kleine Garnison, sowie die von Gibraltar nicht etwa nach Warm-Land auswandern sollte?

– Ich bin Ihnen sehr verbunden, Kapitän Servadac, erwiderte frostig Major Oliphant, doch unseren Posten dürfen wir auf keinen Fall verlassen.

– Und warum nicht?

– Wir haben dazu von der Regierung keinerlei Befehl und warten noch tagtäglich auf die Ankunft eines Postschiffes, um den Rapport an Admiral Fairfax mitzusenden.

– Ich wiederhole Ihnen aber, daß wir uns überhaupt nicht mehr auf der Erde befinden, und daß der Komet erst binnen zwei Monaten wieder mit jener zusammenstoßen wird!

– Das nimmt mich nicht Wunder, Kapitän Servadac, denn Englands Anziehungskraft allein dürfte dazu ausreichen!«

Offenbar glaubte der Major keine Silbe von dem, was ihm der Kapitän erzählte.

»Ganz nach Ihrem Belieben! fuhr Letzterer fort. Sie wollen also diese beiden Posten in Ceuta und Gibraltar unter allen Umständen nicht aufgeben?

– Ganz gewiß nicht, Kapitän Servadac, denn sie beherrschen den Eingang zum Mittelmeer.

– O, von einem Mittelmeer ist gar nicht weiter die Rede.

– Ein Mittelmeer wird es stets geben, so lange das England für gut hält! – Doch verzeihen Sie, Herr Kapitän, eben übermittelt mir Brigadier Murphy telegraphisch einen sehr bedenklichen Zug – Sie erlauben ...«

Kapitän Servadac, der seinen Schnurrbart drehte, als ob er ihn ausreißen wollte, erwiderte vorschriftsmäßig den Gruß, mit dem sich [430] Major Oliphant verabschiedete. Die englischen Soldaten zogen sich in ihre Kasematten zurück und die beiden Eroberer standen allein am Fuße des Felsens.

»Vorwärts also, Ben-Zouf.

– Oder vielmehr rückwärts, Herr Kapitän!« antwortete Ben-Zouf, dem es gar nicht mehr einfiel, das Lied von den Zephyrs aus Afrika anzustimmen.

Sie kehrten also zurück, wie sie gekommen waren, ohne Gelegenheit gefunden zu haben, die französische Flagge aufzupflanzen.

Kein Unfall hielt sie auf und am 9. November schon setzten sie den Fuß wieder bei Warm-Land an das Ufer.

Sie kamen gerade zu rechter Zeit, um noch Zeugen eines sehenswerthen Zornesausbruches Palmyrin Rosette's zu werden. Und wahrlich, der geplagte Gelehrte hatte alle Ursache dazu.

Man erinnert sich, wie fleißig der Professor seine Nerina beobachtet und ihre Elemente berechnet hatte. Eben glaubte er seine Arbeiten abschließen zu können.

Nerina aber, welche am Abend vorher wieder hätte aufgehen sollen, erschien nicht am Horizonte der Gallia. Bei Durchschneidung des Kreises der teleskopischen Planeten war sie von einem mächtigeren Asteroïden ohne Zweifel wieder – weggefangen worden!

17. Capitel
Siebenzehntes Capitel.
Welches die wichtige Frage der Rückkehr nach der Erde und sehr kühne Projecte des Lieutenants Prokop behandelt.

Nach seiner Ankunft theilte Kapitän Servadac dem Grafen Timascheff den Erfolg seines Besuches bei den Engländern mit. Er verschwieg dabei nicht, daß Ceuta von den Spaniern, welche dazu gar keine Berechtigung hatten, verkauft worden sei, sprach aber wohlweislich nicht von seinen früheren eigenen Absichten.

[431] Da die Engländer es abschlugen, nach Warm-Land überzusiedeln, beschloß man, auf sie keine weiteren Rücksichten zu nehmen. Sie waren ja gewarnt. Jetzt mochten sie sehen, wie sie sich allein halfen.

Nun schien es doch an der Zeit, sich über die ernste Frage des neuen Zusammentreffens zwischen Erde und Kometen klar zu werden.

[432] Zunächst mußte man es als ein wahrhaftes Wunder betrachten, daß Kapitän Servadac, seine Gefährten, die Thiere, kurz Alle, welche damals von der Erde entführt wurden, den ersten Stoß überlebt hatten. Wahrscheinlich rührte das davon her, daß die Bewegung des Kometen sich aus irgend welcher unbekannten Ursache damals verlangsamt hatte. Ob auf der Erde Opfer [433] dieses Ereignisses zu beklagen waren, würde man ja später erfahren. Jedenfalls hatte keiner von Allen, welche der Komet auf der Insel Gourbi, in Gibraltar, Ceuta, Madalena und Formentera mit sich fortriß, persönlich davon besonders gelitten.


Er theilte dem Grafen den Erfolg seines Besuches mit. (S. 431.)

Durste man bei Gelegenheit der Rückkehr auf einen ähnlichen günstigen Ausgang hoffen? Wahrscheinlich nicht.


Kapitän Servadac ergriff zuerst das Wort. (S. 434.)

Am Morgen des 10. November kam diese hochwichtige Frage zur Verhandlung. Graf Timascheff, Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop fanden sich in der Höhle zusammen, welche ihnen als allgemeine Wohnung diente. Ben-Zouf nahm natürlich an der Sitzung Theil. Palmyrin Rosette, den man formell eingeladen, hatte es abgeschlagen, da ihn diese Frage nicht im Geringsten interessire. Seit dem Verschwinden seiner geliebten Nerina konnte er sich nicht mehr trösten. Jetzt, wo ihm der Verlust seines Kometen ebenso drohte, wie der seines Satelliten, wünschte er einzig und allein in Ruhe gelassen zu werden. Man that nach seinem Wunsche.

Kapitän Servadac und Graf Timascheff, deren gegenseitige Kälte immer mehr zunahm, unterdrückten doch ihre eigenen Empfindungen vollständig und behandelten diese Frage im Interesse Aller.

Kapitän Servadac ergriff zuerst das Wort.

»Meine Herren, begann er, wir schreiben heute den 10. November. Sind die Berechnungen meines alten Lehrers richtig – und das müssen sie wohl sein – so wird ein wiederholtes Zusammentreffen zwischen der Erde und unserem Kometen nach genau einundfünfzig Tagen stattfinden. Haben wir nun angesichts dieses Ereignisses irgend welche Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen?

– Unzweifelhaft, Kapitän, antwortete Graf Timascheff, doch sind wir es auch im Stande und nicht vielmehr ganz der Gnade der Vorsehung anheimgegeben?

– Sie verbietet nicht, sich zu helfen, Herr Graf, entgegnete Kapitän Servadac, im Gegentheil.

– Haben Sie denn eine Idee, was hier zu beginnen sei, Kapitän?

– Leider nein.

– Wie, meine Herren, fiel da Ben-Zouf ein, solche gelehrte Männer, wie Sie, mit allem Respect, den ich vor Ihnen habe, sollten nicht einmal [434] im Stande sein, diesen verteufelten Kometen zu lenken, wohin und wie Sie wollten?

– Erstens sind wir keine Gelehrten, Ben-Zouf, erwiderte Kapitän Servadac, und wären wir es, so vermöchten wir das doch nicht. Sieh' doch, ob Palmyrin Rosette, der doch ein Gelehrter ist ...

– Und eine sehr lose Zunge hat, schob Ben-Zouf ein.

– Das mag ja sein, aber sieh', ob er die Rückkehr der Gallia nach der Erde etwa verhindern kann.

– Wozu nützt dann aber die ganze Wissenschaft?

– Nun, meist um zu wissen, daß man noch lange nicht Alles weiß! belehrte ihn Graf Timascheff.

– Es steht fest, meine Herren, ließ sich Lieutenant Prokop vernehmen, daß uns bei dem zu erwartenden Stoße neue Gefahren bedrohen. Mit Ihrer Erlaubniß will ich sie aufzählen; wir werden dann am Besten sehen, ob es eine Möglichkeit giebt, sie zu bekämpfen oder doch ihre Wirkungen zu vermindern.

– Wir hören, Prokop!« antwortete Graf Timascheff.

Alle sprachen über das Alles mit einer Ruhe, daß man hätte glauben mögen, es ging sie selbst nicht das Geringste an.

»Meine Herren, begann Lieutenant Prokop, wir müssen uns zunächst fragen, in welcher Weise der neue Zusammenstoß zwischen Erde und Komet erfolgen wird. Dann werden wir sofort erkennen, was in dem einen oder anderen Falle zu fürchten oder zu hoffen ist.

– Das scheint mir ganz logisch, erwiderte Kapitän Servadac; vergessen wir aber nicht, daß die beiden Gestirne sich das eine auf das andere zu bewegen und daß ihre Geschwindigkeit im Augenblick des Zusammentreffens vierundfünfzigtausend Meilen in der Stunde beträgt.

– Zwei nette Eisenbahnzüge! bemerkte Ben-Zouf.

– Suchen wir also zu ergründen, wie der Stoß erfolgen wird, fuhr Lieutenant Prokop fort. Die beiden Weltkörper werden sich entweder in schiefer oder in normaler Richtung begegnen. Im ersten Falle könnte es vorkommen, daß die Gallia die Erde nur streifte, ebenso wie das erste Mal, ihr wiederum einige Stücke entrisse und im Weltraum ihre Bahn weiter fortsetzte. Dadurch würde die Lage ihrer Bahn zweifelsohne eine Veränderung [435] erleiden, und wir dürften wenig Hoffnung haben, jemals unseres Gleichen wieder zu sehen.

– Das wäre zwar Wasser auf Herrn Rosette's Mühle, aber nicht auf die unsere, bemerkte Ben-Zouf sehr richtig.

– Lassen wir diese Hypothese also außer Frage, sagte Graf Timascheff die Vorzüge und Nachtheile dieses Falles sind uns ja hinreichend bekannt. Beschäftigen wir uns gleich mit dem eigentlichen Stoße, d.h. mit dem Falle, daß die Gallia nach dem Zusammentreffen an die Erde gefesselt bliebe.

– Wie eine Warze auf einem Gesichte, sagte Ben-Zouf.

– Ruhe, Ben-Zouf, befahl Hector Servadac.

– Zu Befehl, Herr Kapitän.

– Gut, betrachten wir also, nahm Lieutenant Prokop wieder das Wort, die möglichen Folgen eines directen Stoßes. Vor Allem ist zu bedenken, daß die Masse der Erde die der Gallia so wesentlich übertrifft, daß ihre Geschwindigkeit durch das Zusammentreffen nicht vermindert werden und sie den Kometen einfach mit sich fortführen wird.

– Zugegeben, antwortete Kapitän Servadac.

– Nun, meine Herren, bei einem directen Stoße wird die Gallia auf die Erde entweder mit demjenigen Theile ihrer Oberfläche treffen, den wir hier am Aequator bewohnen, oder mit der entgegengesetzten Seite, wo unsere Antipoden weilen können, oder endlich mit dem einen oder dem anderen ihrer Pole. In jedem dieser Fälle ist aber überhaupt gar keine Aussicht vorhanden, daß nur eines der belebenden Wesen, welche sie trägt, dabei mit dem Leben davon käme.

– Erklären Sie sich näher, Lieutenant, sagte Kapitän Servadac.

– Befinden wir uns zur Zeit des Zusammenstoßes an der davon betroffenen Stelle selbst, so werden wir nothwendiger Weise zermalmt.

– Das versteht sich von selbst, meinte Ben-Zouf.

– Bilden wir dagegen die Antipoden dieses Punktes, so droht uns, außer der ebenso unumgänglichen Zermalmung, da die Geschwindigkeit, mit der wir dahinfliegen, plötzlich gehemmt wird – was der Wirkung eines Stoßes vollkommen gleichkommt – noch die Gewißheit, zu ersticken. Die Gallia-Atmosphäre muß sich nämlich mit der Erd-Atmosphäre zu vermischen suchen und auf dem Gipfel dieses sechzig Meilen hohen Berges, den die Gallia dann [436] über der Erdoberfläche darstellen wird, dürfte sich keine athembare Luft mehr vorfinden.

– Und wenn die Gallia die Erde mit einem ihrer Pole trifft? fragte Graf Timascheff.

– In diesem Falle, antwortete Lieutenant Prokop, würden wir rettungslos weggeschleudert und durch den furchtbaren Sturz zerschmettert werden.

– Sehr schön, murmelte Ben-Zouf.

– Ich erwähne hierzu aber noch, daß wir, selbst in dem unmöglichen Falle des nicht Eintretens einer dieser Hypothesen, unausweichlich verbrannt werden.

– Verbrannt? wiederholte Hector Servadac erstaunt.

– Ja wohl, denn da die durch ein Hinderniß aufgehobene Geschwindigkeit der Gallia sich in Wärme umwandeln muß, so wird der Komet unter einer Temperatur von mehreren tausend Graden durch und durch erglühen und sich entzünden müssen!«

Lieutenant Prokop hatte mit seinen Worten vollständig recht. Seine Zuhörer sahen ihn an und hörten, ohne besonderes Erstaunen, seine Darlegung der verschiedenen möglichen Fälle an.

»Doch, Herr Prokop, sagte Ben-Zouf, erlauben Sie mir eine Frage Wenn die Gallia nun in das Meer fiele? ...

– Wie tief der Atlantische und Stille Ocean auch sein mögen, antwortete Lieutenant Prokop – und ihre Tiefe übersteigt nirgends einundeinhalb Meile – so wird dieses Wasserkissen doch noch lange nicht hinreichend sein, den Stoß auszugleichen. Alle die Folgen, welche ich eben aufzählte, würden trotzdem eintreten ...

– Und ersäuft würden wir noch dazu! ... vervollständigte Ben-Zouf.

– Also, meine Herren, nahm Kapitän Servadac das Wort, zerschmettert, zermalmt, erstickt oder gebraten zu werden, das wäre so etwa das Schicksal, welches uns bevorsteht, wie der Zusammenstoß auch ausfallen möge.

– Ja wohl, Herr Kapitän, bestätigte Lieutenant Prokop ohne Zögern.

– Na, wenn es so steht, warf Ben-Zouf ein, so sehe ich nur einen einzigen Ausweg.

– Und welchen denn? fragte Hector Servadac.

– Nun den, die Gallia vor dem Zusammenstoß zu verlassen.

[437] – Durch welches Mittel?

– O, das Mittel wird wohl ein sehr einfaches sein, antwortete Ben-Zouf ganz seelenruhig, aber ich kenne keines.

– Vielleicht aber ich!« sagte da Lieutenant Prokop.

Aller Augen richteten sich auf den Lieutenant, der den Kopf in die Hände gestützt, irgend ein kühnes Project zu erwägen schien.

»Vielleicht, wiederholte er, und so überspannt Ihnen mein Plan auch erscheinen möge, ich glaube doch, daß er des Versuches werth ist.

– Erkläre Dich!« sagte Graf Timascheff.

Noch einige Augenblicke blieb der Lieutenant in Nachdenken versunken, dann begann er:

»Ben-Zouf hat den einzigen Weg angegeben, den wir einzuschlagen haben: die Gallia vor dem Stoße zu verlassen.

– Sollte das möglich sein? fragte Graf Timascheff.

– Ja ... vielleicht ... ja!

– Und wie?

– Mittels eines Ballons!

– Im Ballon! rief Kapitän Servadac, o, gehen Sie mir mit diesem so abgenutzten Mittel! Selbst in Romanen wagt man es nicht mehr, sich eines solchen zu bedienen.

– Hören Sie mich gefälligst an, meine Herren, fuhr Lieutenant Prokop mit leichtem Runzeln der Augenbrauen fort. Unter der Bedingung, daß wir den Augenblick des Zusammentreffens mit Sicherheit kennen, können wir uns auch eine Stunde vorher in die Atmosphäre der Gallia erheben. Diese Atmosphäre führt uns nothwendig mit der ihr eigenen Schnelligkeit fort. Vor dem Zusammenstoße dürfte sie sich aber doch mit der der Erde vereinigen, und so erscheint es möglich, daß der Ballon gleitend von der einen in die andere übergeht, dadurch dem directen Stoße ausweicht und sich während desselben in der Luft erhält.

– Richtig, Prokop, äußerte Graf Timascheff, wir verstehen Dich und werden ausführen, was Du da sagst.

– Die Partie steht deshalb, fuhr Lieutenant Prokop fort, immer noch wie eins zu neunundneunzig.

– Zu neunundneunzig!

[438] – Mindestens, denn jedenfalls wird der Ballon im Momente der Unterbrechung seiner Fortbewegung auch in Brand gerathen.

– Der auch? rief Ben-Zouf.

– Ebenso wie der Komet, erwiderte Lieutenant Prokop ... Mindestens wenn diese Vereinigung der beiden Atmosphären ... ja ... ich weiß nicht ... es wäre mir schwer, das zu sagen, mit einem Wort, es scheint mir besser, die Gallia vor dem Zusammenstoße verlassen zu haben.

– Ja, ja, fiel Kapitän Servadac ein, und wenn die Partie wie eins zu hunderttausend stände, wir würden den Versuch wagen!

– Wir haben aber keinen Wasserstoff, um den Ballon zu füllen ... warf Graf Timascheff ein.

– O, dazu, sagte Lieutenant Prokop, wird schon warme Luft ausreichen, da wir uns nicht länger als eine Stunde schwebend zu erhalten brauchen.

– Schön, meinte Kapitän Servadac .... eine Montgolfière .... das ist einfacher und eine solche ist leichter herzustellen .... doch, die Hülle? ...

– Die schneiden wir aus den Segeln der Dobryna, welche aus leichter und sehr fester Leinwand bestehen ...

– Richtig, Prokop, fiel Graf Timascheff ein, Du weißt doch auf Alles eine Antwort.

– Hurrah! Bravo!« rief Ben-Zouf zum Schlusse.

In der That, es war wohl ein kühner Plan, den Lieutenant Prokop entwickelte, da aber der Untergang der Kolonisten in jedem anderen Falle sicher schien, so durfte man vor diesem Abenteuer nicht zurückschrecken, sondern bald an dessen Vorbereitung denken. Hierzu mußte freilich nicht nur die Stunde, sondern auch die Minute, womöglich die Secunde des Zusammenstoßes vorher genau bekannt sein.

Kapitän Servadac übernahm es, Palmyrin Rosette, unter Beobachtung aller Vorsichtsmaßregeln, darnach zu fragen.

Unter der Leitung des Lieutenants begann man schon jetzt also die Herstellung der Montgolfière. Diese mußte ziemlich große Dimensionen erhalten, um alle Bewohner von Warm-Land aufnehmen zu können – dreiundzwanzig Personen, da man keine Ursache hatte, nach ihrer Weigerung auf die Engländer von Ceuta und Gibraltar weiter Rücksicht zu nehmen.

[439] Lieutenant Prokop gedachte die Aussicht auf den erwünschten Erfolg der bevorstehenden Luftfahrt noch dadurch zu erhöhen, daß er sich die Möglichkeit sicherte, nach dem Stoße im Nothfalle noch eine Zeit lang in der Luft schweben zu können, da es darauf ankommen konnte, einen passenden Platz zum Niedergehen erst auszuwählen. Er beschloß demnach, eine gewisse Menge Brennmaterial, trockenes Laub und Stroh, mitzunehmen, um die Luft im Innern der Montgolfière länger warm halten zu können. So verfuhren früher die ersten Aëronauten.

Die Segel der Dobryna waren im Nina-Bau untergebracht worden. Sie bestanden aus einem sehr dichten Gewebe, das man mittelst eines Firnisses bequem noch undurchdringlicher machen konnte. Alles hierzu Nöthige fand sich unter der Ladung der Tartane und stand dem Lieutenant also zur Verfügung. Dieser zeichnete nun den Riß der zu schneidenden Streifen genau auf. Alle Hände waren bald beschäftigt, dieselben zusammenzunähen – alle, selbst die der kleinen Nina. Die russischen Matrosen erwiesen sich bei dieser Arbeit besonders geübt, und lehrten auch den Spaniern, wie sie sich anstellen sollten, so daß das ganze Atelier bald in vollständiger Thätigkeit war.

Ein Monat ging bei diesen Arbeiten hin. Kapitän Servadac hatte noch immer keine Gelegenheit gefunden, an seinen früheren Lehrer jene Fragen wegen der genauen Zeit des erwarteten neuen Zusammenstoßes zu richten. Palmyrin Rosette war total unzugänglich. Es vergingen ganze Tage, ohne daß man ihn zu sehen bekam. Da die Temperatur jetzt am Tage erträglicher war, verschloß er sich in sein Observatorium, von dem er förmlich Besitz genommen, und wo er Jedermann den Zutritt verwehrte. Als Hector Servadac nur einmal einen Versuch wagte, kam er sehr übel an. Mehr als je verzweifelt, nach der Erde zurückkehren zu sollen, hatte er nicht die geringste Lust, sich mit den dabei zu erwartenden Gefahren zu beschäftigen, noch etwas für das allgemeine Beste zu thun.

Und doch erschien es vor Allem wichtig, genau den Augenblick zu kennen, in dem die beiden Himmelskörper mit einer Geschwindigkeit von vierzehnundeinviertel Meilen in der Secunde auf einander treffen würden.


Alle Hände waren beschäftigt, die Streifen zusammenzunähen. (S. 440.)

Kapitän Servadac mußte sich eben in Geduld fassen und er that es.

Inzwischen näherte sich die. Gallia der Sonne mehr und mehr. Die Erdscheibe wuchs sichtlich vor den Augen der Gallia-Bewohner. Während des Monats November hatte der Komet eine Strecke von 35.4 Millionen Meilen [440] zurückgelegt und befand sich am 1. December noch 46.8 Millionen Meilen weit von der Sonne.

Die Temperatur stieg beträchtlich und führte mit dem Thauwetter den Eisbruch herbei. O, es bot ein herrliches Schauspiel, als das Eis des Meeres sich auflöste und in Bewegung kam. Man hörte den »furchtbaren Eisschrei«, wie die Wallfischfahrer sagen.

[441] Ueber die Abhänge des Vulkanes und des Strandes schlängelten sich launenhaft die ersten Wasserfäden, die sich nach wenigen Tagen zu Wildbächen und Wasserfällen ausbildeten. Allüberall schmolz nun der Schnee der Höhen.

Gleichzeitig stiegen auch wieder leichte Dünste am Horizonte auf. Nach' und nach ballten sie sich zu Wolken zusammen, die der Wind, der während des langen Gallia-Winters vollständig geruht hatte, lustig vor sich herfegte. Wohl mußte man sich jetzt auf nahe bevorstehende Störungen der Atmosphäre gefaßt machen, doch es war ja das Leben, das mit dem Lichte und der Wärme auf der Oberfläche des Kometen wieder erwachte.

Jetzt traten auch zwei längst vorhergesehene Ereignisse ein und führten die Zerstörung der Gallia-Marine herbei.

Zur Zeit des Eisbruches schwebten die Goëlette und die Tartane noch immer hundertfünfzig Fuß über der Oberfläche des Meeres. Mit dem Thauwetter lockerte sich ihr enormer krystallener Grundpfeiler und neigte sich zur Seite. Es begann ihm seine von dem wärmeren Wasser benagte Basis zu fehlen, wie man das an den Eisbergen der arktischen Meere ja so häufig beobachtet. An eine Rettung der Fahrzeuge war nicht zu denken gewesen, jetzt sollte die Montgolfière ihre Stelle so gut es ging ersetzen.

In der Nacht vom 12. zum 13. December kam es zum Eisbruche. Der gewaltige Pfeiler verlor das Gleichgewicht und stürzte in einem Stücke um. Um die Hansa und die Dobryna, welche an den Felsen des Ufers in tausend Trümmer zerschellten, war es nun geschehen.

Dieses Unglück, welches Alle voraussahen und nicht abwenden konnten, erfüllte die Kolonisten doch mit recht schmerzlichen Empfindungen. Sie hatten das Gefühl, als sei ihnen ein liebgewordenes Stück der alten Erde entrissen worden.

Isaak Hakhabut's Jeremiaden angesichts dieser urplötzlichen Zerstörung der Tartane, seine Verwünschungen der »schlechten Menschen« wiederzugeben, ist fast unmöglich. Er beschuldigte vorzüglich den Kapitän Servadac und dessen Leute.

Hätte man ihn nicht genöthigt, die Hansa nach dieser Bucht von Warm-Land überzuführen und ihn im Hafen der Insel Gourbi zurückgelassen, so [442] wäre das Alles nicht vorgekommen. Man hatte gegen seinen ausgesprochenen Willen gehandelt und war nun dafür verantwortlich. Nach der Rückkehr zur Erde werde er schon Diejenigen, welche ihm einen so ungeheuren Schaden zugefügt, zu belangen wissen.

»Mordio! fuhr Kapitän Servadac auf, werdet Ihr nun schweigen, Meister Isaak, oder ich lasse Euch in Ketten legen!«

Isaak Hakhabut schwieg und verkroch sich in seinem Winkel.

Am 14. December wurde die Montgolfière fertig. Sorgfältig genaht und gefirnißt, versprach sie eine außergewöhnliche Haltbarkeit. Das Netz hatte man aus den leichten Seisingen (die Hanffäden, mit denen die Segel an ihren Raaen aufgebunden werden) der Dobryna geknüpft. Der Nachen aus Weidengeflecht, von früheren dünnen Scheidewänden im Raume der Hansa herrührend, reichte zur Aufnahme von dreiundzwanzig Personen hin. Es handelte sich ja aller Voraussicht nach nur um eine kurze Auffahrt – um die nöthige Zeit aus der Atmosphäre der Gallia in die der Erde hinüberzugleiten – bei der man auf besondere Bequemlichkeit wohl verzichten konnte.

Immer harrte freilich die Frage nach der Stunde, Minute und Secunde ihrer Lösung, über welche sich der griesgrämige, starrköpfige Palmyrin Rosette noch nicht ausgesprochen hatte.

Während dieser Zeit durchschnitt die Gallia auch von Neuem die Bahn des Mars, der sich in einer Entfernung von 33.6 Millionen Meilen befand. Von ihm war also nichts zu fürchten.

An eben diesem Tage, dem 15. December, glaubten die Gallia-Bewohner aber doch ihr letztes Stündlein gekommen. Es ereignete sich nämlich eine Art »Erdbeben«. Der Vulkan wankte, als würde er von unterirdischen Krämpfen geschüttelt. Kapitän Servadac und seine Genossen fürchteten ein völliges Zerbersten des Kometen und flüchteten eiligst aus dem erzitternden Berge.

Da hörte man oben aus dem Observatorium einen gellenden Aufschrei und sah den unglücklichen Professor mit noch einem Ueberbleibsel seines zerbrochenen Fernrohres auf dem Felsen erscheinen.

Keiner dachte aber daran, ihn theilnehmend zu beklagen. Trotz der dunklen Nacht sah man einen anderen Satelliten um die Gallia kreisen.

Es war ein Stück des Kometen selbst.

[443] Unter der Wirkung einer inneren Spannung hatte er sich verdoppelt, wie es früher schon einmal dem Biela'schen Kometen ergangen ist. Ein gewaltiges Bruchstück war von ihm losgerissen, in den Weltraum hinausgeschleudert worden und entführte gleichzeitig die Engländer in Ceuta, wie ihre Nachbarn in Gibraltar.

18. Capitel
Achtzehntes Capitel.
In welchem man sehen kann, wie die Gallia-Bewohner sich vorbereiten, ihren ganzen Asteroïden aus der Vogelschau zu betrachten.

Welcher Art konnten wohl die Folgen dieses wichtigen Ereignisses für die Gallia sein? Kapitän Servadac und seine Gefährten wagten gar nicht, sich diese Frage zu beantworten.

Die Sonne erschien über dem Horizonte, und zwar um so zeitiger, da die stattgefundene Verdoppelung nachstehendes Resultat ergeben hatte: Wenn die Richtung der Umdrehung der Gallia sich auch nicht veränderte, der Komet sich also wie früher von Osten nach Westen um seine Achse bewegte, so war doch die Dauer dieser Rotation noch einmal um die Hälfte vermindert worden. Die Zeit zwischen zwei Sonnenaufgängen betrug jetzt nur noch sechs Stunden, statt früher deren zwölf. Drei Stunden nach Aufgang an dem einen Horizonte verschwand das Strahlengestirn schon an dem entgegengesetzten.

»Mordio, rief Kapitän Servadac, nun haben wir gar ein Jahr von eintausendneunhundertzwanzig Tagen.

– Für diesen Kalender wird's bald nicht mehr Heilige genug geben!« bemerkte Ben-Zouf.

In der That, hätte Palmyrin Rosette seinen Kalender auch dieser neuen Dauer der Gallia-Tage anpassen wollen, so wäre er dahin gelangt, etwa vom 238. Juni oder vom 325. December sprechen zu können.

[444] Von dem Bruchstücke der Gallia, welches die Engländer sammt Gibraltar entführte, sah man deutlich, daß es nicht rund um den Kometen gravitirte, sondern sich im Gegentheil von demselben entfernte. Hatte es auch einen Theil des Meeres und der Atmosphäre der Gallia mit sich fortgerissen? Bot es überhaupt die für seine Bewohnbarkeit nothwendigen Bedingungen? Und sollte es, wenn letzteres der Fall war, wohl jemals zur Erde zurückkehren?

Das sollte man später erfahren.

Welche Folgen äußerte aber die Verdoppelung bezüglich der Fortbewegung der Gallia? Diese Fragen hatten sich Graf Timascheff, Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop zuerst vorgelegt. Gleich zu Anfang empfanden sie eine nicht geringe Zunahme ihrer Kräfte und constatirten eine weitere Abnahme der Schwerkraft. Da sich die Masse der Gallia gar nicht unbedeutend verringert hatte, sollte sich nun nicht auch ihre Geschwindigkeit verändert haben und mußte man nicht fürchten, daß sie bei einer auch nur geringen Verzögerung oder Beschleunigung die Erde verfehlen würde?

Das wäre freilich ein nicht wieder gut zu machendes Unglück gewesen.

Aber hatte sich denn die Geschwindigkeit der Gallia wirklich, und wenn auch nur um ein Weniges, verändert? Lieutenant Prokop glaubte es nicht, er erlaubte sich aber, wegen Mangels hinreichender Kenntnisse in solchen Dingen, kein Urtheil darüber.

Palmyrin Rosette allein vermochte diese Frage zu beantworten. Man mußte ihn also auf die eine oder die andere Art, durch Ueberredung oder Gewalt dazu bewegen, zu sprechen und gleichzeitig die genaue Stunde anzugeben, wann der Zusammenstoß stattfinden werde.

Im Laufe der nächstfolgenden Tage machte man zunächst die Bemerkung, daß der Professor in geradezu abscheulicher Laune war. Sollte man das als eine Folge des Verlustes seines geliebten Fernrohres betrachten oder vielleicht daraus schließen, daß die Verdoppelung die Geschwindigkeit der Gallia doch nicht verändert habe und sie der Erde in dem schon früher berechneten Augenblicke begegnen werde? Denn wenn sich der Komet in Folge der Verdoppelung in seiner Bewegung wirklich beschleunigte oder verzögerte und die endliche Rückkehr dadurch in Frage gestellt gewesen wäre, so wäre auch die Befriedigung Palmyrin Rosette's eine so große gewesen, daß er sie[445] gewiß nicht hätte verbergen können. Da er jetzt nicht freudig aufjubelte, hatte er sicher – wenigstens in obiger Beziehung – keinen Grund dazu.

Kapitän Servadac und seine Begleiter setzten allerdings ihr Vertrauen auf diese Beobachtung, und doch genügte ihnen das nicht gänzlich. Man mußte diesem Stacheligel sein Geheimniß entreißen.

Endlich sollte das Kapitän Servadac, und zwar unter folgenden Umständen gelingen:

Es war am 18. December. Palmyrin Rosette lag eben in heftigem Streit mit Ben-Zouf. Letzterer hatte den Professor in der Person seines Kometen beleidigt. Ein hübsches Gestirn, meiner Treu, das sich umherwerfen läßt wie ein Kinderspielzeug, das zerplatzt wie ein Schlauch und aufspringt wie eine trockene Nuß! Lieber möchte ich auf einer Granate, auf einer Bombe leben, deren Lunte schon entzündet ist u.s.w. Kurz, Jedermann wird sich leicht vorstellen können, in welcher Weise sich Ben-Zouf über dieses Thema ausließ. Die beiden Gegner warfen sich gegenseitig, der Eine die Gallia, der Andere den Montmartre an den Kopf.

Da wollte es der Zufall, daß Kapitän Servadac gerade während des hitzigsten Streites hinzukam. War es eine Eingebung von Oben – jedenfalls sagte er sich, daß, da bei Palmyrin Rosette mit Sanftmuth nichts zu erreichen sei, die Gewalt vielleicht bessere Dienste leisten werde, und so nahm er absichtlich Ben-Zouf's Partei.

Wie brauste da der Professor auf in hellem Zorn, der sich in den erbittertsten Worten Luft machte.

Kapitän Servadac stellte sich ebenfalls, als ob er wer weiß wie wüthend wäre und sagte:

»Herr Professor, Sie lassen Ihrer Zunge in einer Weise freien Lauf, welche mir nicht im Geringsten paßt, und die ich entschlossen bin, nicht länger zu ertragen. Sie vergessen zu häufig, daß Sie mit dem General-Gouverneur der Gallia sprechen!

– Und Sie, erwiderte der zornsprühende Astronom, Sie vergessen, daß Sie dem Eigenthümer derselben antworten!

– Das ändert nichts an der Sache. Ihre Eigenthumsrechte scheinen mir überhaupt etwas zweifelhafter Natur!

– Was sagen Sie?

[446] – Und da es uns nun nicht möglich ist, zur Erde zurückzukehren, so werden Sie sich den Gesetzen, wie sie auf der Gallia herrschen, gefälligst fügen lernen.

– Ah, sehr schön, versetzte Palmyrin Rosette, ja ich werde mich Ihnen in Zukunft unterwerfen.

– Ich hoffe nach allen Seiten.

– Vorzüglich jetzt, da die Gallia nicht mehr zur Erde zurückkehren sollt ...

– Und wir dazu bestimmt sind, ewig auf derselben zu leben, vervollständigte Kapitän Servadac.

– Und warum soll denn die Gallia nicht mehr zur Erde zurückkehren? fragte der Professor mit einem Tone der größten Verachtung.

– Weil sich ihre Masse, antwortete der Kapitän Servadac, nach der Verdoppelung wesentlich vermindert hat und folglich eine Veränderung ihrer Geschwindigkeit stattgefunden haben muß.

– Ja, wer sagt denn das?

– Das sage ich und jeder Andere auch.

– Nun, Herr Kapitän, alle Uebrigen und auch Sie sind ....

– Herr Rosette!

– Sie sind unwissende Thoren, die von der Himmelsmechanik nicht das Geringste verstehen!

– Nehmen Sie sich in Acht!

– So wenig wie von der elementaren Physik ...

– Mein Herr!

– O, Sie schlechter Schüler! fuhr der Professor fort, dessen Wuth sich zum Paroxismus steigerte. Ich hab' es noch nicht vergessen, daß Sie einst meiner Classe zur Schande gereichten! ...

– Das ist zu viel!

– Daß Sie die ganze Charlemagne verunzierten! ...

– Werden Sie nun schweigen, oder ...

– Nein, ich werde nicht schweigen und wenn Sie zehnmal Kapitän wären. Herr mein Gott, das sind mir schöne Physiker! Weil die Masse der Gallia eine Verminderung erfuhr, bilden sie sich ein, daß das einen Einfluß auf ihre Tangential-Geschwindigkeit haben müsse. Als ob diese Bewegung nicht einzig und allein von der ihr zu Anfang ertheilten Geschwindigkeit und [447] der Anziehung der Sonne abhinge!


»O, Sie schlechter Schüler!« fuhr der Professor fort. (S. 447.)

Als ob man Störungen nicht berechnen könne, ohne die Masse der gestörten Himmelskörper zu kennen! Ist denn etwa die Masse der Kometen stets bekannt? Nein! Berechnet man wohl ihre Störungen? Ja! – O, Sie können mir wahrlich leid thun!«

Der Professor gerieth ganz außer sich. Ben-Zouf, der den Zorn seines Kapitäns ernst nahm, fragte diesen:

[448] »Wünschen Sie, daß ich ihn in zwei Stücke zerbreche, Herr Kapitän, daß ich ihn verdoppele, wie seinen erbärmlichen Kometen?

– Wagt es nur, mich anzurühren, rief Palmyrin Rosette, und richtete seine winzige Figur kerzengerade in die Höhe.

– Mein Herr, entgegnete lebhaft Kapitän Servadac, ich werde Sie schon zur Vernunft zu bringen wissen!

– Und ich werde Sie wegen Ihrer Drohungen oder handgreiflichen Vergehen vor die competenten Gerichte ziehen.

– Vor die Gerichte der Gallia?

– Nein, Herr Kapitän, aber vor die der Erde!

– O, gehen Sie doch! Die Erde ist weit von hier! spottete Kapitän Servadac.

– So weit sie jetzt auch noch ist, versetzte Palmyrin Rosette, der seiner gar nicht mehr Herr war, so werden wir ihre Bahn doch im aufsteigenden Knoten in der Nacht vom 31. December zum 1. Januar schneiden und daselbst um zwei Uhr siebenundvierzig Minuten fünfunddreißig sechs Zehntel Secunden des Morgens ankommen! ....

– Lieber Herr Professor, antwortete Kapitän Servadac mit einem höflichen Gruße, mehr wollte ich von Ihnen gar nicht erfahren!«

Schleunigst ließ er den so glücklich ausgefragten Professor Rosette stehen, dem Ben-Zouf noch einen ebenso höflichen Gruß bieten zu müssen glaubte wie sein Kapitän.

Hector Servadac und seine Freunde wußten nun endlich, was sie so sehnlichst zu wissen verlangten. Um zwei Uhr siebenundvierzig Minuten fünfunddreißig sechs Zehntel Secunden sollte der Zusammenstoß stattfinden.

Bis dahin lagen noch fünfzehn Erdentage, dreißig Gallia-Tage nach dem alten Kalender oder sechzig nach dem neuen vor ihnen!

Die Vorbereitungen zur »Abreise« wurden nun mit einem Eifer sonder Gleichen betrieben. Alle konnten es kaum erwarten, die Gallia zu verlassen.

Lieutenant Prokop's Montgolfière schien ein beruhigendes Hilfsmittel, die Erdkugel ohne Gefahr zu erreichen. Aus der Gallia-Atmosphäre in die der Erde hinüberzugleiten, was hätte noch leichter und bequemer sein können. Freilich vergaß man hier die tausend Gefahren einer bei allen früheren Luftreisen noch nicht dagewesenen Lage. War das nicht ganz natürlich?

[449] Lieutenant Prokop wiederholte indessen mehrmals, daß die Montgolfière durch die plötzliche Hemmung ihre Bewegung jedenfalls in Brand gerathen und ihre Insassen ebenso verbrennen würden – wenn nicht ein Wunder geschähe.

Kapitän Servadac erwies sich jetzt wie immerdar als unverbesserlicher Enthusiast. Ben-Zouf endlich hatte stets den Wunsch gehegt, einmal eine Ballonfahrt mitzumachen; er sah sich also am Ziele seiner Wünsche.

Der kühler überlegende Graf Timascheff und sein Lieutenant Prokop vergegenwärtigten sich fast allein die Gefahren dieses waghalsigen Unternehmens. Nichtsdestoweniger waren sie zu Allem bereit.

Jetzt verschwand die Eisdecke auch wieder von dem Meere. Die Dampfschaluppe wurde in Stand gesetzt und mit dem Reste der Steinkohlen zu einigen Fahrten nach der Insel Gourbi benutzt.

Kapitän Servadac, Lieutenant Prokop und einige Russen führten die erste Reise dahin aus. Sie fanden die Insel, den Gourbi und das Wachthaus durch den langen Winter in keiner Weise verändert. Da und dort rannen einige muntere Bäche über das Land. Die Vögel, welche Warm-Land wieder verlassen hatten, schwärmten über diesem Restchen fruchtbaren Bodens, nach dem sie das Grün der Wiesen und Bäume gelockt hatte. Schon keimten junge Pflanzen unter dem Einflusse der Aequatorhitze der dreistündigen Tage hervor. Die Sonne goß lothrechte Strahlen von außerordentlicher Intensität über sie aus.

Hier herrschte der glühende Sommer, der dem harten Winter so gut wie unvermittelt folgte.

Auf der Insel Gourbi sammelte man auch die trockenen Blätter und das Stroh, welche zur Erzeugung der erwärmenden Luft für die Montgolfière dienen sollten. Wäre dieser ungeheure Apparat nicht gar so umfangreich gewesen, so hätte man ihn wohl gern über das Meer nach der Insel Gourbi geschafft. Da das nicht anging, zog man es vor, sich von Warm-Land aus zu erheben und dahin das Brennmaterial zu transportiren, welches die Verdünnung der Luft in dem Ballon hervorbringen sollte.

Jetzt schon verbrannte man für die Zwecke der täglichen Bedürfnisse die Trümmer der beiden Fahrzeuge. Als die Planken der Tartane demselben Schicksal verfallen sollten, versuchte Isaak Hakhabut sich dem zu widersetzen. Ben-Zouf machte ihm jedoch begreiflich, daß er für seinen Platz in der Gondel [450] werde 50.000 Francs bezahlen müssen, wenn er es wagte, noch ferner den Mund aufzuthun.

Isaak Hakhabut seufzte und schwieg.

Der 25. December kam heran. Alle Vorbereitungen zur Abfahrt waren beendet. Weihnachten wurde in gleicher Weise wie das Jahr vorher, doch eher in gehobener religiöser Stimmung gefeiert. Den bevorstehenden Neujahrstag gedachten die wackeren Leute alle ja auf der Erde mit zu begehen, und Ben-Zouf versprach sogar dem jungen Pablo und der kleinen Nina schon jetzt allerliebste Neujahrspräsente.

»Seht Ihr, sagte er, es ist wirklich so gut als hättet Ihr sie schont«

Obwohl man es in Anbetracht des herannahenden letzten Augenblickes kaum glauben sollte, so dachten Kapitän Servadac und Graf Timascheff doch an ganz andere Dinge als an die Gefahren der »Landung«. Die Kälte, welche sie gegen einander zur Schau trugen, war keineswegs eine erkünstelte. Die beiden Jahre, die sie fern von der Erde zusammen verlebt, erschienen ihnen jetzt wie ein halbvergessener Traum, wo sie so nahe daran waren, einander auf der alten Erde wieder Auge in Auge gegenüberzutreten. Ein reizendes Bild drängte sich wieder zwischen sie und ließ sie gegenseitig sich nicht mehr so sehen wie vordem.

Dem Kapitän Servadac fiel es nun auch wieder ein, das berühmte Rondeau zu vollenden, bei dessen letztem Verse jene unangenehme Unterbrechung eintrat. Noch einige Zeilen fehlten dem kleinen Gedichte zu seiner Vollendung. Einen Dichter hatte die Gallia einst der Erde entführt – einen Dichter sollte sie ihr jetzt wiedergeben.

Von Zeit zu Zeit wiederholte sich Kapitän Servadac also alle die widerspenstigen Reime.

Was die anderen Bewohner der Kolonie betrifft, so hatten Graf Timascheff und Lieutenant Prokop alle Eile, die Erde wiederzusehen, die übrigen Russen aber nur den einen Gedanken, ihrem Herrn zu folgen, wohin er sie auch führen werde.

Die Spanier befanden sich auf der Gallia so wohl, daß sie auch den Rest ihrer Tage gern hier verlebt hätten; immerhin freuten sich Negrette und seine Landsleute darauf, die Fluren Andalusiens einmal wieder zu begrüßen.

[451] Pablo und Nina schienen entzückt, mit allen ihren Freunden zurückzukehren, freilich unter der Bedingung, diese auch später niemals zu verlassen.

Nur ein einziger Unzufriedener befand sich unter Allen – der Brummbär Palmyrin Rosette. Er kam aus seiner verbissenen Stimmung gar nicht mehr heraus und schwur Tag für Tag, daß er sich in der Gondel nicht mit einschiffen werde. Nein! Er bestand darauf, seinen Kometen nicht zu verlassen. Er wollte Tag und Nacht seine astronomischen Beobachtungen fortsetzen. O, wie beklagte er den Verlust seines Fernrohrs! Gerade jetzt, wo die Gallia die Zone der Sternschnuppen durcheilte! Waren da keine wichtigen Erscheinungen zu beobachten, keine neuen Entdeckungen zu machen?

In seiner Verzweiflung bediente sich Palmyrin Rosette eines wahrhaft heroischen Mittels, indem er die Pupille seiner Augen vergrößerte, um durch deren verstärktes Sehvermögen das verlorene Fernglas möglichst zu ersetzen. Er tröpfelte sich in die Augen nämlich eine Belladonna-Lösung, die sich in der Apotheke des Nina-Baues vorfand, und sah und sah hinaus in's Weite, daß er fast blind ward! Doch, obwohl er die Lichtempfindlichkeit seiner Netzhäute durch jenes Mittel wesentlich erhöhte, er sah doch nichts, er entdeckte nichts!

Die letzten Tage verstrichen unter einer wahrhaft fieberhaften Erregung, von der Niemand frei blieb. Lieutenant Prokop überwachte die letzten nothwendigen Details. Am Strande wurden die beiden Masten der Goëlette aufgerichtet, um als Träger der ungeheuren Montgolfière zu dienen, die jetzt zwar noch nicht aufgebläht, doch schon mit ihrem Netze umgeben war. Auch die Gondel stand bereit, hinlänglich groß, um alle Passagiere aufzunehmen. Einige an deren Seitenwänden befestigten Schläuche verliehen ihr die Fähigkeit, eine Zeit lang zu schwimmen, für den Fall, daß die Montgolfière nahe einer Küste in ein Meer niederfallen sollte. Sank sie freilich in den offenen Ocean hinab, so mußte sie mit allen ihren Insassen zu Grunde gehen, wenn sich nicht zufällig Schiffe in der Nähe befanden, um jene aufzunehmen.

So verstrich der 26., 27., 28., 29. und 30. December. Nur achtundvierzig Erdenstunden sollten sie noch auf der Gallia zubringen.

Der 31. December brach an. Nur noch vierundzwanzig Stunden, dann sollte die von warmer, verdünnter Luft geschwellte Montgolfière sich in die Gallia-Atmosphäre erheben. Freilich war diese Atmosphäre weniger dicht als jene der Erde, doch darf man hierbei nicht außer Acht lassen, daß sich der [452] ganze Apparat in Folge der allgemein verminderten Anziehungskraft eben auch leichter emporschwingen mußte.

Die Gallia befand sich jetzt 24 Millionen Meilen, also etwas weiter als die Erde, von der Sonne entfernt. Mit ungeheurer Schnelligkeit strebte sie gegen das Erdsphäroïd zu, das sie in seinem aufsteigenden Knoten, genau an dem von ihm eingenommenen Punkte der Ekliptik, treffen sollte.

Die Distanz zwischen Erde und Kometen maß jetzt kaum 1 1/4 Million Meilen. Da sich die beiden Weltkörper auf einander zu bewegten, so durcheilten sie diesen Zwischenraum mit einer Schnelligkeit von 52.000 Meilen in der Stunde, von denen etwa 34.000 auf die Gallia und gegen 18.000 auf die Erde kamen.

Endlich, um zwei Uhr Morgens, bereiteten sich die Bewohner des Kometen zum Aufbruch. Binnen siebenundvierzig Minuten fünfunddreißig Secunden sollte der Zusammenstoß stattfinden.

In Folge der beschleunigten Rotationsbewegung der Gallia um ihre Achse war es jetzt schon hell, ebenso wie auf derjenigen Seite der Erdkugel, an wel che der Komet antreffen mußte.

Seit einer Stunde schwebte die Montgolfière bereits vollständig gefüllt zwischen den Masten. Sie bewährte sich vollkommen. Der ungeheuere Apparat war zur Auffahrt fertig. Seine an dem Netze befestigte Gondel harrte nur noch der Passagiere. Die Gallia gravitirte jetzt 45.000 Meilen von der Erde entfernt.

Isaak Hakhabut nahm zuerst in der Gondel Platz.

Da bemerkte Kapitän Servadac, daß der Jude einen schwer gefüllten Gürtel um die Hüften trug.

»Was ist das? fragte er.

– O, Herr Gouverneur, antwortete Isaak Hakhabut, es ist mein bescheidenes Vermögen, das ich mit mir nehme.

– Wie viel wiegt denn Euer bescheidenes Vermögen?

– Ach, kaum sechzig Pfund.

– Sechzig Pfund! Und die Montgolfière besitzt nur eine Tragkraft, um uns selbst emporzuheben. Entledigt Euch dieser unnützen Last!

– Aber Herr Gouverneur ...

– Keine Einrede, sag' ich Euch, wir dürfen die Gondel nicht überlasten.

[453] – Herrgott Israel's, jammerte der Jude, mein ganzes sauer erworbenes Hab' und Gut!

– Ei was, Meister Isaak, Ihr wißt ja recht gut, daß Euer Gold auf der Erde später so gut wie gar keinen Werth haben kann, da die Gallia allein hundertsechsundvierzig Sextillionen Francs an Gold enthält! ...

– Erbarmen, gnädiger Herr, Erbarmen!

– Vorwärts, Mathathias! mischte sich Ben-Zouf ein, befreie uns von Deiner Person oder entledige Dich Deines Goldes – ganz nach Belieben!«

Es half dem unglücklichen Juden kein Klagen, er mußte sich seiner enormen Geldkatze entledigen, was natürlich nur unter einem Schwall von Jammertönen geschah, den wir hier vergeblich wiederzugeben versuchen würden.

Mit Palmyrin Rosette lag die Sache ganz anders. Der gelehrte Wütherich bestand darauf, von dem Kerne seines Kometen nicht zu weichen. Niemand sollte ihn seinem eigenen Gebiete entreißen! Diese Montgolfière wäre auch ein ganz widersinnig erdachtes Rettungsmittel. Beim Uebergange aus einer Atmosphäre in die andere mußte sie ja auflodern wie ein Stück Papier. Seiner Ansicht nach war weniger Gefahr dabei, auf der Gallia auszuharren, und wenn dieselbe gegebenen Falles die Erde doch nur streifen sollte, so würde wenigstens Palmyrin Rosette mit ihr weiter durch den Weltraum schweben. Dazu begleitete er tausend andere Gründe noch mit den wüthendsten und auch lächerlichsten Drohungen, so z.B., daß er den Schüler Servadac mit Strafarbeiten überhäufen werde u. dergl. m.

Trotz seines Widerstrebens ward der Professor aber doch als Zweiter in der Gondel untergebracht und durch zwei handfeste Matrosen an seinem Platze gehalten. Kapitän Servadac, entschlossen, ihn auf keinen Fall auf der Gallia zurückzulassen, hatte ihn deshalb in dieser etwas rücksichtslosen Weise eingeschifft.

Die beiden Pferde und Nina's Ziege mußte man freilich opfern! Das gab ein rechtes Herzeleid für Ben-Zouf und das kleine Mädchen. Es war indessen gar nicht daran zu denken, jene mitzunehmen. Von allen vorhandenen Thieren erhielt nur Nina's Taube einen Platz. Möglicher Weise konnte sich diese ja noch als Bote zwischen den Insassen der Gondel und irgend einem Punkte der Erdoberfläche nützlich erweisen.

[454] Graf Timascheff und Lieutenant Prokop nahmen auf die Einladung des Kapitäns hin ihre Plätze ein.

Zuletzt stand dieser mit seinem treuen Ben-Zouf nur allein noch auf dem Boden der Gallia.

»Nun vorwärts, Ben-Zouf, jetzt ist die Reihe an Dir, sagte er.

– Nach Ihnen, mein Kapitän.

– Nein, nein! Ich muß bis zuletzt an Bord bleiben, gleich dem Befehlshaber eines Schiffes, wenn er gezwungen ist, dasselbe zu verlassen.

– Ja, aber ...

– Thu' wie ich Dir sage!

– Auf Ihren Befehl also!« antwortete Ben-Zouf.

Die Ordonnanz stieg über den Rand des Nachens. Kapitän Servadac folgte.

Die letzten Leinen wurden gelöst und majestätisch erhob sich die Montgolfière in die Lüfte.

19. Capitel
Neunzehntes Capitel.
In welchem Minute für Minute die Empfindungen und Eindrücke der Gondel-Isassen nebst anderen Dingen verzeichnet werden.

Die Montgolfière erreichte eine Höhe von zweitausend fünfhundert Metern und Lieutenant Prokop beschloß, sie in dieser Zone zu erhalten. Auf einem unter dem Ballon befestigten und mit trockenem Laube beschickten Netze von Eisendraht konnte leicht das nöthige Feuer entzündet werden, um die Luft im Innern des Apparates auf dem gewünschten Grade von Verdünnung zu erhalten und dem Sinken der Montgolfière vorzubeugen.

Die Passagiere der Gondel ließen ihre Blicke unter sich, rings umher und über sich schweifen.

Unten breitete sich ein großer Theil des Gallia-Meeres aus, das ein concaves Becken zu bilden schien. Im Norden zeigte sich ein einzelner dunkler Punkt, das war die Insel Gourbi.

[455] Im Westen hätte man vergeblich die Eilande von Ceuta und Gibraltar gesucht. Diese waren und blieben verschwunden.

Im Süden erhob sich der Vulkan, der das Ufer und das ausgedehnte Gebiet von Warm-Land beherrschte. Diese Halbinsel grenzte an den Continent an, welcher das ganze Gallia-Meer als fester Rahmen umschloß.


Der Professor wurde als Zweiter untergebracht. (S. 454.)

Ueberall jener fremdartige Anblick, jene Lamellenbildung, jetzt übergossen von den [456] irisirenden Strahlen der Sonne. Ueberall derselbe mineralische Stoff, jenes Goldtellurid, das allein die Kruste und das Gerüst des Kometen, den harten Kern der Gallia zu bilden schien.


Europa! Rußland! Frankreich! (S. 458.)

Rund um die Gondel bis jenseit des Horizontes, der sich mit dem Aufsteigen der Montgolfière gleichsam Schritt für Schritt erweiterte, strahlte der Himmel in unvergleichlicher Reinheit. In der Richtung nach Nordwesten [457] aber gravitirte, jetzt in Opposition zur Sonne, ein neues Gestirn, nein, weniger als ein Gestirn, weniger als ein Asteroïd – höchstens ein ungeheurer Meteorstein – das Bruchstück, welches eine innere Kraft von Seite der Gallia losgesprengt hatte. Die enorme Masse bewegte sich auf eigener, neuer Bahn und ihre Entfernung betrug jetzt wohl schon einige tausend Meilen. Sie war übrigens nur wenig sichtbar und erschien nach Einbruch der Nacht nur als ein kleiner, leuchtender Punkt im Weltraume.

Ueber der Gondel in etwas schräger Richtung zeigte sich die Scheibe der Erdkugel in vollem Tagesglanze. Sie schien auf die Gallia zuzustürzen und nahm einen beträchtlichen Theil des Himmels ein.

Diese strahlend-helle Scheibe blendete die Augen. Die Entfernung bis zu derselben war verhältnißmäßig schon sehr gering, so daß man ihre beiden Pole zu gleicher Zeit unmöglich genau erkennen konnte. Die Gallia stand ihr augenblicklich um die Hälfte näher als der Mond in seiner mittleren Entfernung, und diese Entfernung verminderte sich jede Minute in zunehmender Proportion. An der Oberfläche derselben zeigten sich verschieden erleuchtete Stellen, die einen hell glänzend, das waren die Continente, die anderen dunkler, weil sie die Sonnenstrahlen mehr verschluckten, das waren die Oceane. Darüberhin zogen langsam weißliche Streifen, welche auf der entgegengesetzten, also der Erde zugekehrten Seite wohl dunkel erscheinen mochten, das waren die in der Erd-Atmosphäre schwebenden Wolken.

Bei der Schnelligkeit der Bewegung von fast 171/2 Meilen wurde das bis dahin etwas unklare Bild der Erde bald deutlicher. Die großen Meeresküsten und die Terrainverschiedenheiten hoben sich deutlicher hervor. Berge und Ebenen waren nicht mehr zu verwechseln. Die ebene Landkarte verwandelte sich und es schien den Insassen der Gondel, als schwebten sie vor einer Reliefkarte hin.

Um zwei Uhr siebenundzwanzig Minuten Früh trennten den Kometen kaum noch achtzehntausend Meilen von dem Erdsphäroïd. Die beiden Gestirne flogen auf einander zu. Um zwei Uhr siebenunddreißig Minuten waren nur noch neuntausend Meilen zurückzulegen.

Immer bestimmter zeichneten sich die Linien der Landumrisse ab, und plötzlich riefen Lieutenant Prokop, Graf Timascheff und Graf Servadac wie aus einem Munde:

»Europa!

[458] – Rußland!

– Frankreich!«

Sie täuschten sich nicht. Die Erde wandte der Gallia diejenige Seite zu, auf welcher sich das Festland Europas in voller Mittagsbeleuchtung ausdehnte. Die Formen jedes Landes waren sehr leicht erkennbar.

Die Passagiere des Ballon-Nachens blickten in lebhaftester Erregung nach der Erde, welche sie in sich aufnehmen sollte. Sie dachten nur noch daran, auf derselben zu landen, keineswegs aber an die Gefahren dieser Landung. Endlich sollten sie ja unter die Menschheit zurückkehren, die sie nie wiederzusehen geglaubt hatten.

Ja, das war Europa, das sich dort sichtbar vor ihren Augen ausbreitete. Sie erkannten die verschiedenen Staaten mit ihrer oft sonderbaren Gestalt, welche sie entweder der Natur oder den Völkerverträgen verdanken.

England, eine Lady, die in ihrem Kleide mit weichem Faltenwurf und das Haupt mit Inseln und Eilanden geschmückt nach Osten zu geht.

Schweden und Norwegen, ein prächtiger Löwe mit kräftigem, von Bergen gebildetem Rückgrat, der sich auf das nördliche Inner-Europa stürzt.

Rußland, ein gewaltiger Eisbär, welcher den Kopf nach Asien zu wendet und die linke Tatze auf die Türkei, die rechte auf den Kaukasus stützt.

Oesterreich, eine große in sich zusammengekrümmte Katze, in unruhigem Schlafe.

Spanien, das am Ende Europas hängt wie eine Fahne, deren Schaftende Portugal zu bilden scheint.

Die Türkei, ein Hahn mit aufrecht stehenden Federn, der sich mit dem einen Fuße an das asiatische Ufer klammert und mit dem anderen Griechenland niederhält.

Italien, ein seiner, eleganter Stiefel, der mit Sicilien, Sardinien und Corsica Ball zu spielen scheint.

Preußen, eine furchtbare Axt, welche tief in das deutsche Kaiserreich einschneidet und deren eines Ende Frankreich streift.

Endlich Frankreich, ein wohlgebildeter Torso mit Paris als Herz desselben.

Alles das sah man nicht nur, das fühlte auch Jeder. In jeder Brust herrschte eine fieberhafte Erregung. Da mischte sich plötzlich ein komischer Ton in diese allgemein ernste Stimmung.

[459] »Der Montmartre!« rief Ben-Zouf.

Niemand hätte dem Burschen des Kapitän Servadac begreiflich machen können, daß er seinen Leib-und Lieblingshügel aus dieser Entfernung unmöglich erkennen könne.

Palmyrin Rosette seinerseits beugte den Kopf über die Gondel hinaus und hatte nur Augen für die verlassene Gallia, welche 2500 Meter unter ihm schwebte. Er wollte diese Erde, die ihn wieder an ihr Vorhandensein erinnerte, gar nicht sehen, sondern betrachtete einzig und allein seinen Kometen, den die allgemeine Lichtfülle des Weltraumes gleichfalls lebhaft beleuchtete.

Mit dem Chronometer in der Hand zählte Lieutenant Prokop die Minuten und Secunden. Auf den Herd legte man nach seiner Anordnung von Zeit zu Zeit etwas frisches Brennmaterial nach, so daß sich die Montgolfière in der gewünschten Höhe erhielt.

In der Gondel wurde nur sehr wenig gesprochen. Kapitän Servadac und Graf Timascheff betrachteten unablässig die sich nähernde Erde. Die Montgolfière schwebte im Verhältniß zur letzteren etwas seitwärts und hinter der Gallia, so daß der Anprall des Kometen vor dem des Aerostaten erfolgen mußte – ein günstiger Umstand, insofern dieser, wenn er in die Erd-Atmosphäre hinüberglitt, sich nicht vollständig umzukehren brauchte.

Wo aber sollte er niederfallen?

Vielleicht auf einem Continente? Und wenn das der Fall war, bot dieser Continent dann einige Hilfsquellen? Konnte man von der betreffenden Stelle aus leicht nach bewohnten Theilen der Erde gelangen?

Oder fiel er in das Meer? Durste man in diesem Falle auf das Wunder eines in der Nähe befindlichen Fahrzeuges rechnen, das die Schiffbrüchigen retten könnte?

Wie viele Gefahren auf allen Seiten! Hatte Graf Timascheff damals nicht recht gehabt, als er sagte, daß seine Begleiter und er allein in der Hand Gottes ständen?

»Zwei Uhr zweiundvierzig Minuten!« meldete Lieutenant Prokop unter allgemeinem Schweigen.

Noch fünf Minuten fünfunddreißig und sechs Zehntel Secunden, dann sollten die beiden Weltkörper zusammenprallen! ... Sie befanden sich jetzt nicht mehr 5000 Meilen von einander.

[460] Da bemerkte Lieutenant Prokop, daß der Komet eine etwas schiefe Richtung nach der Erde einhielt. Die beiden Massen bewegten sich nicht in ein und derselben Linie. Immerhin mußte man darauf rechnen, daß der Komet werde plötzlich und vollständig aufgehalten werden, und daß es zu einem bloßen »Abstreifen«, wie vor zwei Jahren, nicht kommen würde. Wenn die Gallia die Erdkugel auch nicht in normaler Richtung träfe, so würde sie, wie Ben-Zouf sich ausdrückte, »doch kräftig an die Bande anschlagen«.

Im Falle nun Keiner der Passagiere der Gondel den Zusammenstoß überlebte, wenn die Montgolfière, dahin gerissen von den entsetzlichen Luftwirbeln bei der Vermischung der beiden Atmosphären, selbst zerriß und auf die Erde niederstürzte; wenn Keiner von diesen Bewohnern der Gallia unter Seinesgleichen zurückkehrte, sollte dann jede Erinnerung an diese, an ihren Aufenthalt auf dem Kometen, an ihre Reise durch die Sonnenwelt für immer vernichtet werden?

Nein! Kapitän Servadac hatte einen glücklichen Einfall. Er riß ein Blatt aus seinem Taschenbuche. Auf dasselbe schrieb er den Namen des Kometen, bezeichnete die vor zwei Jahren durch diesen entführten Theile der Erde, führte dann die Namen aller seiner Gefährten auf und bescheinigte Alles durch seine Unterschrift.

Dann verlangte er von Nina die Brieftaube, welche diese an der Brust verborgen hielt.

Nach einem zärtlichen Kusse gab ihm das kleine Mädchen ohne Zaudern die Taube.

Kapitän Servadac ergriff das Thierchen, befestigte ihm sein Notizblatt an dem Halse und warf es dann hinaus in die Luft.

In großen Kreisen fliegend, senkte sich die Taube durch die Gallia-Atmosphäre und hielt sich in derselben in tieferen Schichten als die Montgolfière.

Noch zwei Minuten und ungefähr achtzehnhundert Meilen! Die beiden Weltkörper sollten in kürzester Zeit mit einer dreimal größeren Geschwindigkeit zusammenstoßen, als diejenige ist, welche die Erde in der Ekliptik hat.

Wir brauchen nicht besonders hervorzuheben, daß die Insassen der Gondel von dieser entsetzlichen Schnelligkeit nicht das Geringste verspürten [461] und daß ihr Apparat in der umgebenden Atmosphäre unverrückt still zu stehen schien.

»Zwei Uhr sechsundvierzig Minuten!« sagte Prokop.

Die Entfernung noch 1020 Meilen. Wie eine ungeheure Tonne schien die Erde sich unter dem Kometen auszuhöhlen. Man hätte sagen mögen, sie öffnete sich, um jenen zu empfangen.

»Zwei Uhr siebenundvierzig Minuten!« meldete Lieutenant Prokop.

Noch fünfunddreißig und sechs Zehntel Secunden mit einer Geschwindigkeit von 162 Meilen in der Secunde!

Da ließ sich eine Art heftigen Zischens und Brausens vernehmen. Es rührte von der Luft der Gallia her, welche von der Erde angesaugt wurde, gleichzeitig mit der Montgolfière, die sich so sehr in die Länge zog, daß man befürchtete, sie werde dabei zerreißen.

Entsetzt und starr vor Schrecken klammerten sich Alle an den Rand der Gondel ...

Jetzt flossen die beiden Atmosphären ineinander. Urplötzlich entstand eine ungeheuere Wolkenmasse, die sich regellos durcheinander wälzte. Die Passagiere der Gondel sahen nichts mehr über und nichts mehr unter sich. Es schien ihnen, als wirbele eine furchtbare Flamme rings um sie und als fehle ihren Füßen jede Stütze, bis sie sich plötzlich, ohne zu bemerken wie und ohne sich den Vorgang erklären zu können, auf dem Boden der Erde wiederfanden. Betäubt hatten sie früher die Erde verlassen, betäubt kehrten sie wieder zu ihr zurück.

Von dem Ballon war keine Spur zu sehen.

Gleichzeitig entfloh die Gallia seitwärts etwa in tangentialer Richtung, nachdem sie die Erdkugel wider Erwarten auch diesmal nur gestreift hatte, und verschwand schon fern im Osten des Planeten.

[462]
20. Capitel
Zwanzigstes Capitel.
Welches wider alle Regeln des Romanes nicht mit einer Heirath des Helden der Erzählung endigt.

»Ah, Herr Kapitän, das ist Algerien!

– Und dort Mostagenem, Ben-Zouf.«

So lauteten die ersten Worte, welche gleichzeitig über die Lippen des Kapitän Servadac und seiner Ordonnanz kamen, als Beide ihr Bewußtsein wieder erlangten.

Durch ein Wunder, welches ebenso wie alle Wunder jeder Erklärung spottete, befanden sie sich heil und gesund.

»Mostagenem! Algerien!« hatten Kapitän Servadac und seine Ordonnanz ausgerufen. Sie konnten sich wohl nicht täuschen, da sie in diesem Theile der Provinz mehrere Jahre in Garnison gestanden hatten.

Nach einer zweijährigen Reise durch die Sonnenwelt kamen sie also fast genau nach dem Orte zurück, von dem sie einst weggerissen wurden.

Ein erstaunlicher Zufall – ist es wohl ein Zufall zu nennen, da Gallia und Erde sich in der nämlichen Secunde an der nämlichen Stelle der Ekliptik wieder begegneten? – versetzte sie wieder ziemlich an den Punkt ihrer Abreise. Sie befanden sich kaum zwei Kilometer von Mostagenem!

Eine halbe Stunde später betraten Kapitän Servadac und alle seine Gefährten diese Stadt.

Sehr auffällig erschien es ihnen, daß auf der Oberfläche der Erde die größte Stille herrschte. Die Bevölkerung Algeriens betrieb in aller Ruhe ihre täglichen Geschäfte. Die Thiere weideten friedlich in dem thaufrischen Grase des Januars. Es mochte etwa acht Uhr Morgens sein. Die Sonne stieg über dem gewohnten Horizonte empor. Es schien nicht nur, als sei auf der Erdkugel etwas Außergewöhnliches nicht vorgefallen, sondern als hätten die Bewohner derselben auch nicht einmal etwas Außergewöhnliches erwartet.

»Alle Wetter, sagte Kapitän Servadac, sie wußten also gar nichts von dem bevorstehenden Eintreffen des Kometen.

[463] – Das möchte man fast glauben, Herr Kapitän, antwortete Ben-Zouf, und ich hatte auf einen recht pomphaften Einzug gerechnet.«

Offenbar war der Anprall eines Kometen nicht erwartet worden. Andernfalls hätten in allen Theilen der Erde gewiß Furcht und Schrecken geherrscht und ihre Bewohner das Ende der Welt sicher näher geglaubt, als im Jahre 1000 n. Chr.!

Am Thore von Mascara begegnete Kapitän Servadac seinen beiden Kameraden, dem Kommandanten des 2. Tirailleur- und dem Kapitän des 8. Artillerie- Regimentes. Er sank ihnen buchstäblich in die Arme.

»Sie, Servadac! rief der Kommandant.

– Ich selbst!

– Und woher kommen Sie jetzt, armer Freund, nach diesem unerklärlichen Verschwinden?

– Das könnte ich Ihnen wohl sagen, lieber Oberst, doch wenn ich es sagte, würden Sie mir's nicht glauben!

– Aber, ich bitte Sie ...

– Was da, liebe Freunde! Drückt einem alten Kameraden, der Euch niemals vergessen hat, wieder einmal die Hand, und im Uebrigen nehmen wir an, ich hätte einen schweren Traum gehabt.«

Trotz allen Bemühens wollte Hector Servadac nichts weiter sagen.

Nur eine Frage stellte er noch an die beiden Officiere.

»Und Frau von ...?«

Der Oberst der Tirailleure verstand ihn und ließ ihn nicht ausreden.

»Ist vermählt, wieder vermählt, mein Bester! sagte er. Kann Sie das verwundern? Wer nicht zur Stelle ist, hat allemal verspielt ...

– Ja wohl! erwiderte ihm Kapitän Servadac, es war eine Dummheit, davonzugehen und zwei Jahre lang in unbekannten Welten umherzuschweifen!«

Dann wendete er sich an Graf Timascheff:

»Mordio, Herr Graf, sagte er, da haben Sie es selbst gehört. Wahrlich, es freut mich, daß ich mich nicht mehr mit Ihnen zu schlagen brauche.

– Und ich, Kapitän, bin glücklich, Ihnen ohne Hintergedanken die Hand herzlich drücken zu können!

– Was mir auch sehr gelegen kommt, murmelte heiter Servadac, ist, daß ich mein schreckliches Rondeau nun nicht zu beendigen brauche!«

[464] Die beiden Rivalen von ehedem schlossen jetzt, da jede Ursache einer Eifersüchtelei wegfiel, durch einen Handschlag die innigste Freundschaft welche nichts zu zerreißen vermochte. Vollkommen unerklärlich erschien ihnen vorzüglich, daß sich längs der Küste des Mittelmeeres Alles an seinem ordentlichen Platze vorfand.

Auf jeden Fall war es rathsam, für jetzt zu schweigen.

Am folgenden Tage trennte sich die kleine Kolonie. Die Russen kehrten mit Graf Timascheff und Lieutenant Prokop nach Rußland zurück, die Spanier nach ihrem Vaterlande, in welchem die Freigebigkeit des Grafen sie auch für die Zukunft gegen jeden Mangel sicher stellte. Alle die wackeren Leute gingen nicht von einander, ohne gegenseitig die Versicherungen der herzlichsten Freundschaft ausgetauscht zu haben.

Was Isaak Hakhabut betrifft, der durch den Verlust der Hansa sowohl, als auch durch den seines Goldes und Silbers völlig zu Grunde gerichtet war, so verschwand dieser unbemerkt, und wir müssen der Wahrheit gemäß hinzufügen, daß ihn Niemand zurückwünschte.

»Der alte Spitzbube, bemerkte Ben-Zouf, wird sich in Amerika als Gespenst aus der Sonnenwelt zur Schau ausstellen!«

Noch einige Worte über Palmyrin Rosette.

Diesen hatte keine Ueberredung vermocht, zu schweigen. Er sprach sich also aus! ... Da leugnete man ihm seinen ganzen Kometen ab, den kein Astronom am Horizont der Erde beobachtet habe. Er fand sich im Kataloge der astronomischen Jahrbücher nicht verzeichnet. Bis zu welchem Grade sich der Zorn des leicht erregbaren Gelehrten dabei steigerte, vermöchte sich kaum Jemand vorzustellen. Zwei Jahre nach seiner Rückkehr ließ er ein umfangreiches Werk erscheinen, welches außer den Elementen der Gallia einen Bericht über die eigenen Erlebnisse Palmyrin Rosette's enthielt.

Die Ansichten des gelehrten Europas blieben immer getheilt. Der größere Theil leugnete die Wahrheit dieser Erzählungen, der kleinere Theil erkannte sie an.

Eine Gegenschrift – vielleicht die beste Arbeit, welche auf jene erste erscheinen konnte – führte Palmyrin Rosette's Werk auf sein richtiges Maß zurück, indem sie dasselbe »Die Geschichte einer Hypothese« betitelte.

Diese Unverschämtheit reizte auf's Höchste den Zorn des Professors, welcher behauptete, nicht nur die Gallia wiedergesehen zu haben, wie sie durch [465] den Weltraum kreiste, sondern auch jenes Bruchstück des Kometen, das die dreizehn Engländer trug, und niemals konnte er sich darüber trösten, Letztere auf ihrer Reise nicht länger begleiten zu können.

Hector Servadac und Ben-Zouf blieben in Zukunft, mochten sie nun diese unwahrscheinliche Fahrt durch die Sonnenwelt ausgeführt haben oder nicht, mehr als je der Eine der Kapitän, der Andere die Ordonnanz, welche nichts zu trennen vermochte.

Eines Tages gingen sie auf dem Montmartre spazieren und plauderten, in der Ueberzeugung, von Niemandem gehört zu werden, von ihren Abenteuern.

»Die ganze Geschichte kann gar nicht wahr sein, sagte Ben-Zouf.

– Alle Wetter, ich fange bald selbst an, das zu glauben!« antwortete Kapitän Servadac.

Was endlich Pablo und Nina betrifft, welche, der Eine von Graf Timascheff, die Andere von Kapitän Servadac adoptirt worden waren, so wurden diese unter ihrer Leitung erzogen und unterrichtet.

Später vermählte der Oberst Servadac, dessen Haar schon ergraute, den jungen Spanier, der zum hübschen Manne aufgewachsen war, mit der kleinen Italienerin, jetzt einem reizenden, jungen Mädchen. Graf Timascheff hatte es sich nicht nehmen lassen, die Aussteuer Nina's zu besorgen.

Die jungen Gatten aber lebten nicht weniger glücklich, wenn sie auch nicht – der Adam und die Eva einer neuen Welt geworden waren.

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TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Reise durch die Sonnenwelt. Reise durch die Sonnenwelt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-7599-C