Frank Wedekind
Die Büchse der Pandora
Tragödie in drei Aufzügen mit einem Prolog

[318]

Personen

Personen.

    • Lulu.

    • Alwa Schön, Schriftsteller.

    • Rodrigo Quast, Athlet.

    • Schigolch.

    • Alfred Hugenberg, Zögling einer Korrektionsanstalt.

    • Die Gräfin Geschwitz.

    • Marquis Casti-Piani.

    • Bankier Puntschu.

    • Journalist Heilmann.

    • Magelone.

    • Kadidja Di Santa Croce, ihre Tochter.

    • Bianetta Gazil.

    • Ludmilla Steinberg.

    • Bob, Groom.

    • Ein Polizeikommissär.

    • Herr Hunidei.

    • Kungu Poti, kaiserlicher Prinz von Uahubee.

    • Dr. Hilti, Privatdozent.

    • Jack.

Prolog in der Buchhandlung
Personen.

Der normale Leser.


Der rührige Verleger.


Der verschämte Autor.


Der hohe Staatsanwalt.


Der Prolog kann in entsprechenden Überkleidern und Kopfbedeckungen von den Darstellern des Rodrigo, des Casti-Piani, des Alwa und des Schigolch gesprochen werden. Rodrigo in hellem Sommerüberzieher und Lodenhütchen, Casti-Piani in Schlafrock und Samtkäppchen, Alwa in Havelock und Schlapphut, Schigolch in Taler und Barett.
Szenerie: Ein Zwischenvorhang, ein primitives Büchergestell.

DER NORMALE LESER
schwankt herein.
Ich möchte gern ein Buch bei Ihnen kaufen.
Was drin steht, ist mir gänzlich einerlei.
Der Mensch lebt, heißt es, nicht allein vom Saufen.
Auch wünsch ich dringend, daß es billig sei.
Die ältste Tochter will ich zum Gedenken
Der ersten Kommunion damit beschenken.
DER RÜHRIGE VERLEGER.
Da kann ich Ihnen warm ein Buch empfehlen,
Bei dem das Herz des Menschen höher schlägt.
Heut lesen es schon fünf Millionen Seelen,
Und morgen wird's von neuem aufgelegt.
Für jeden bleibt's ein dauernder Gewinn,
Steht doch für niemand etwas Neues drin.
DER VERSCHÄMTE AUTOR
schleicht herein.
Ein Buch möcht ich bei Ihnen drucken lassen;
Zehn Jahre meines Lebens schrieb ich dran.
Das Weltall hofft ich brünstig zu umfassen,
[319] Und hab's kaum richtig mit dem Weib getan.
Was lernend ich dabei als wahr empfand,
Hab ich in schlottrig schöne Form gebannt.
DER HOHE STAATSANWALT
stürmt herein.
Ich muß ein Buch bei Ihnen konfiszieren,
Vor dem die Haare mir zu Berge stehn.
Erst sah den Kerl man alle Scham verlieren,
Nun läßt er öffentlich für Geld sich sehn.
Drum werden wir ihn nach dem Paragraphen
Einhundertvierundachtzig streng bestrafen.
DER VERSCHÄMTE AUTOR
lächelnd.
Mich strafen? Nein! Des Schaffens Götterfreuden
Raubt mir auch nicht die härtste Strafe mehr.
Wer sträubt sich jemals, für sein Kind zu leiden?
An solchem Glück läßt dein Beruf dich leer.
Mich kannst du foltern, würgen, schinden, henken,
Mein Werk wird das an keinem Worte kränken!
DER HOHE STAATSANWALT.
Dir schwör ich's zu, daß du mit frechen Witzen
Nicht länger der Verdammnis Opfer wirbst.
Normale Leser muß ich davor schützen,
Daß du sie grinsend bis ins Mark verdirbst.
Zwei Jahr Gefängnis sind dein sichrer Lohn;
Für Ehrverlust sorgst du ja selber schon.
DER NORMALE LESER.
Jetzt möcht ich stracks mein Buch bei Ihnen kaufen.
Ich finde dies Betragen unerhört.
Laß ich die eignen Kinder christlich taufen,
Damit mich Hunger umbringt, Durst verzehrt?
Wenn ihr die Zänkerei nicht bald beendet,
Dann wird das Geld auf Eierpunsch verwendet.
DER HOHE STAATSANWALT
schließt ihn in die Arme, worauf der normale Leser in Tränen ausbricht.
Bejammernswürdiges Opfer! Abgetötet
In deinem Busen starb die heilige Scheu.
Ward diesem Wicht nur erst sein Maul verlötet,
Dann keimen Zucht und Frömmigkeit aufs neu.
Zwei Jahr Gefängnis! Ich behaupte dreist,
Daß er dann ewig keinen Witz mehr reißt.
[320]
DER VERSCHÄMTE AUTOR.
Wie sollte mich wohl ein Gerichtshof schrecken!
Wer weiß, ob mir nicht gar sein Eifer nützt,
Die Schwächen meines Schauspiels aufzudecken,
So wahr, wie echte Kunst sich selbst beschützt.
Ich bin's gewiß: Man kann sich nicht entbrechen,
Von jeder Schuld mich freundlich freizusprechen.
DER HOHE STAATSANWALT.
Spricht man dich frei – womit uns Gott verschone! –
Noch selbigen Tags leg ich Berufung ein.
Nicht jeder Richter trägt der Weisheit Krone,
Um so verständiger wird ein nächster sein.
Und zeigt auch der sich für den Autor sanft,
Dein Schauspiel sicherlich wird eingestampft.
DER VERSCHÄMTE AUTOR.
Dann laß ich es zum zweiten Male drucken,
Und zwar in ernsterer, edlerer Gestalt,
Nicht mehr im Gaunerwelsch der Mamelucken,
Im klarsten Deutsch und ohne Hinterhalt.
Ich bin's gewiß: Dann muß es ihm gelingen,
Sich unbehelligt selber durchzuringen.
DER HOHE STAATSANWALT.
Grundgütiger Galgen! Dann fehlt nichts auf Erden,
Als daß dies Stück noch auf die Bühne kommt.
Doch vorher soll es so geläutert werden,
Daß es dir nicht mehr zur Reklame frommt.
Der Weg für deinen gift'gen Höllenkrater
Führt über meinen Leichnam zum Theater.
DER VERSCHÄMTE AUTOR.
Was schiert mich das Theater! Unsere kühne
Tagtäglichkeit erreicht's bekanntlich nie.
Das menschliche Gehirn sei meine Bühne,
Mein Lieblingsregisseur die Phantasie.

Zum hohen Staatsanwalt.

Und dir wird nichts Geringres übrigbleiben,
Als selbst mir den Prolog dafür zu schreiben.
DER RÜHRIGE VERLEGER
sich zwischen beide drängend.
Prolog ist herrlich! Druckt ihn eine Zeitung,
Dann sind wir schon so gut wie aufgeführt.
[321] Nun sorg ich hurtig für des Buchs Verbreitung,
Prospekte werden schleunigst expediert,
Und eh das Publikum noch Platz genommen,
Bin ich gewiß, daß keine Krebse kommen.
DER NORMALE LESER
gleichfalls die Mitte nehmend.
Dann pflanz ich breit mich in die erste Reihe
Mit meinem Freibillett und schnarche laut.
Das ahnt kein Mensch, wie ich mich dran erfreue,
Wenn so wer Schnitzler oder Shakespeare kaut.
Ist's nicht genug, daß christlich ich verzeihe,
Und niemand merkt, wie sehr mir davor graut?

Chorus.
DER HOHE STAATSANWALT
hält den Arm um den normalen Leser geschlungen.
So pflegen wir gemeinsam das Gehege
Dramatischer Dichtung mit verteilter Kraft.
DER NORMALE LESER.
Wenn ich auch meinen Wanst am liebsten pflege,
Mir fehlt doch nie die große Leidenschaft.
DER RÜHRIGE VERLEGER
hält den Arm um den verschämten Autor geschlungen.
Ich freue mich, wenn sich die Menschen freuen,
Am ehrlichsten am Funkelnagelneuen.
Der verschämte Autor:
Wenn's not tut, geb ich meine Freiheit hin
Für dich, o Muse, meine Herrscherin.

1. Akt

[322] Erster Aufzug

Prachtvoller Saal in deutscher Renaissance mit schwerem Plafond aus geschnitztem Eichenholz. Die Wände sind bis zur halben Höhe mit dunklen Holzskulpturen bekleidet; darüber an beiden Seiten verblaßte Gobelins. Nach hinten oben ist der Saal durch eine verhängte Galerie abgeschlossen, von der links eine monumentale Treppe bis zur halben Tiefe der Bühne herabführt. In der Mitte unter der Galerie befindet sich die Eingangstür mit gewundenen Säulen und Frontispiz. An der rechten Seitenwand ein geräumiger hoher Kamin, weiter vorn ein Balkonfenster mit geschlossenen schweren Gardinen; an der linken Seitenwand vor dem Treppenfuß eine geschlossene Portiere. Vor dem Fußpfeiler des freien Treppengeländers steht eine leere dekorative Staffelei; links vorn befindet sich eine breite Ottomane; in der Mitte des Saales ein vierkantiger Tisch, um den drei hochlehnige Polstersessel stehen. Links vorn ein kleiner Serviertisch, daneben ein Lehnsessel. Der Saal ist durch eine auf dem Mitteltisch stehende, tiefverschleierte Petroleumlampe matt erhellt. Alwa Schön geht vor der Eingangstür auf und nieder. Auf der Ottomane sitzt Rodrigo, als Bedienter gekleidet. Rechts in dem Lehnsessel, in schwarzem, enganliegenden Kleid, tief in Kissen gebettet, einen Plaid über den Knien, sitzt die Gräfin Geschwitz. Neben ihr auf dem Tisch steht eine Kaffeemaschine und eine Tasse mit schwarzem Kaffee. Rechts und links vom Zuschauer aus.


RODRIGO.
Er läßt auf sich warten wie ein Konzertmeister!
DIE GESCHWITZ.
Ich beschwöre Sie, sprechen Sie nicht!
RODRIGO.

Es soll einer die Klappe halten, wenn er den Kopf so voll Gedanken hat wie ich! – Es will mir ganz und gar nicht einleuchten, daß sie sich dabei sogar noch zu ihrem Vorteil verändert haben soll!

DIE GESCHWITZ.
Sie ist herrlicher anzuschauen als ich sie je gekannt habe!
[323]
RODRIGO.

Behüte mich der Himmel davor, daß ich mein Lebensglück auf Ihre Geschmacksrichtungen gründe! Wenn ihr die Krankheit ebensogut angeschlagen hat wie Ihnen, dann bin ich pleite! Sie verlassen die Isolierbaracke wie eine verunglückte Kautschukdame, die sich aufs Kunsthungern geworfen hat. Sie können sich kaum mehr die Nase schneuzen. Erst brauchen Sie eine Viertelstunde, um Ihre Finger zu sortieren, und dann bedarf es der größten Vorsicht, damit Sie die Spitze nicht abbrechen.

DIE GESCHWITZ.
Was uns unter die Erde bringt, gibt ihr Kraft und Gesundheit wieder.
RODRIGO.
Das ist alles schön und gut. Ich werde aber doch vermutlich heute abend noch nicht mitfahren.
DIE GESCHWITZ.
Sie wollen Ihre Braut am Ende gar allein reisen lassen?
RODRIGO.

Erstens fährt doch der Alte mit, um sie im Ernstfalle zu verteidigen. Meine Begleitung kann sie nur verdächtigen. Und zweitens muß ich hier noch abwarten, bis meine Kostüme fertig sind. – Ich komme immer noch früh genug über die Grenze. Hoffentlich legt sie sich derweil auch noch etwas Embonpoint zu. Dann wird geheiratet, vorausgesetzt, daß ich sie vor einem anständigen Publikum produzieren kann. Ich liebe an einer Frau das Praktische; welche Theorien sich die Weiber machen, ist mir vollkommen egal. Ihnen nicht auch, Herr Doktor?

ALWA.
Ich habe nicht gehört, was Sie sagten.
RODRIGO.

Ich hätte meine Person gar nicht in das Komplott verwickelt, wenn sie mir nicht vor ihrer Verurteilung schon immer die Plauze gekitzelt hätte. Wenn sie sich im Ausland nur nicht gleich wieder zuviel Bewegung macht! Am liebsten nähme ich sie auf ein halbes Jahr mit nach London und ließe sie Plumkakes futtern. In London geht man schon allein durch die Seeluft auf. Außerdem fühlt man in London auch nicht bei jedem Schluck Bier immer gleich die Schicksalshand an der Gurgel.

ALWA.

Ich frage mich seit acht Tagen, ob sich jemand, der zu Zuchthausstrafe verurteilt war, wohl noch zur Hauptfigur in einem modernen Drama eignen würde.

DIE GESCHWITZ.
Käme der Mensch nur endlich mal.
[324]
RODRIGO.

Ich muß hier auch meine Requisiten noch aus dem Pfandleihhaus auslösen; sechshundert Kilo vom besten Eisen. Der Transport kostet mich immer dreimal mehr als meine eigene Fahrkarte. Dabei ist die ganze Ausrüstung keinen Hosenknopf wert. Als ich schweißtriefend damit im Pfandhaus ankam, fragten sie mich, ob die Sachen auch echt seien. – Die Kostüme hätte ich mir eigentlich richtiger im Ausland anfertigen lassen sollen. Der Pariser zum Beispiel merkt auf den ersten Blick, wo man seine Vorzüge hat. Da dekolletiert er tapfer drauflos. Aber das lernt sich nicht mit untergeschlagenen Beinen; das will an klassisch gebildeten Menschen studiert sein. Hier haben sie eine Angst vor der bloßen Haut wie im Auslande vor den Dynamitbomben. Vor zwei Jahren wurde ich im Alhambra-Theater zu fünfzig Mark Strafe verknallt, wie man sah, daß ich ein paar Haare auf der Brust habe, nicht so viel wie zu einer anständigen Zahnbürste nötig sind. Aber der Kultusminister meinte, die kleinen Schulmädchen könnten darüber die Freude am Strümpfestricken verlieren. Seitdem lasse ich mich jeden Monat einmal rasieren.

ALWA.

Wenn ich jetzt nicht meine ganze geistige Spannkraft zu dem »Weltbeherrscher« nötig hätte, möchte ich das Problem wohl auf seine Tragfähigkeit erproben. Das ist der Fluch, der auf unserer jungen Literatur lastet, daß wir viel zu literarisch sind. Wir kennen keine anderen Fragen und Probleme als solche, die unter Schriftstellern und Gelehrten auftauchen. Unser Gesichtskreis reicht über die Grenzen unserer Zunftinteressen nicht hinaus. Um wieder auf die Fährte einer großen gewaltigen Kunst zu gelangen, müßten wir uns möglichst viel unter Menschen bewegen, die nie in ihrem Leben ein Buch gelesen haben, denen die einfachsten animalischen Instinkte bei ihren Handlungen maßgebend sind. In meinem ›Erdgeist‹ habe ich schon aus voller Kraft nach diesen Prinzipien zu arbeiten gesucht. Das Weib, das mir zu der Hauptfigur des Stückes Modell stehen mußte, atmet heute seit einem vollen Jahr hinter vergitterten Fenstern. Dafür wurde das Drama sonderbarerweise allerdings auch nur von der freien literarischen Gesellschaft [325] zur Aufführung gebracht. Solange mein Vater noch lebte, standen meinen Schöpfungen sämtliche Bühnen Deutschlands offen. Das hat sich gewaltig geändert.

RODRIGO.

Ich habe mir Trikots im zartesten Blau- Grün anfertigen lassen. Wenn die im Ausland keinen Sukzeß haben, dann will ich Mausefallen verkaufen. Die Schamhöschen sind so graziös, daß ich mich damit auf keine Tischkante setzen kann. Der vorteilhafte Eindruck wird nur durch meine fürchterliche Plauze gestört, die ich meiner tätigen Mitwirkung in dieser großartigen Verschwörung zu danken habe. Bei gesunden Gliedern drei Monate lang im Krankenhaus liegen, das muß den heruntergekommensten Landstreicher zum Mastschwein machen. Seit ich heraus bin, futtere ich nichts als Karlsbader Pastillen; Tag und Nacht habe ich Orchesterprobe in den Gedärmen. Bis ich über die Grenze komme, werde ich so ausgeschwemmt sein, daß ich keinen Flaschenstöpsel mehr hochheben kann.

DIE GESCHWITZ.

Wie ihr gestern im Krankenhaus das Wachtpersonal aus dem Wege ging, das war ein erquickender Anblick. Der Garten war ausgestorben. In der herrlichsten Mittagssonne wagten sich die Rekonvaleszenten nicht aus den Haustüren. Ganz hinten bei der Isolierbaracke trat sie unter den Maulbeerbäumen vor und wiegte sich auf dem Kies in den Knöcheln. Der Portier hatte mich wiedererkannt, und ein Assistenzarzt, der mir im Korridor begegnete, fuhr zusammen, als hätte ihn ein Revolverschuß getroffen. Die Krankenschwestern huschten in die Säle oder blieben an den Wänden kleben. Als ich zurückkam, war weder im Garten noch unter dem Portal eine Seele zu sehen. Die Gelegenheit hätte sich nicht schöner finden können, wenn wir die verfluchten Pässe gehabt hätten. Und jetzt sagt der Mensch, er fahre nicht mit!

RODRIGO.

Ich verstehe die armen Spitalbrüder. Der eine hat einen wehen Fuß, der andere hat eine geschwollene Backe; da taucht die leibhaftige Todesversicherungsagentin mitten unter ihnen auf. In den Rittersälen, so heißt die gesegnete Abteilung, von der aus ich meine [326] Spionage organisierte, als sich da die Kunde verbreitete, daß die Schwester Theophila mit Tod abgegangen sei, da war keiner der Kerle im Bett zu halten. Sie kletterten an den Fenstergittern hinauf, und wenn sie ihre Leiden zentnerweise mitschleppten. Im Leben habe ich kein solches Fluchen gehört.

ALWA.

Erlauben Sie mir, Fräulein von Geschwitz, noch einmal auf meinen Vorschlag zurückzukommen. Die Frau hat in diesem Zimmer meinen Vater erschossen; trotzdem kann ich in dem Morde wie in der Strafe nichts anderes als ein entsetzliches Unglück sehen, das sie betroffen hat. Ich glaube auch, mein Vater hätte, wäre er mit dem Leben davongekommen, seine Hand nicht vollständig von ihr abgezogen. Ob Ihnen Ihr Befreiungsplan gelingen wird, scheint mir immer noch zweifelhaft, obschon ich Sie nicht entmutigen möchte. Aber ich finde keine Worte für die Bewunderung, die mir Ihre Aufopferung, Ihre Tatkraft, Ihre übermenschliche Todesverachtung einflößen. Ich glaube nicht, daß je ein Mann soviel für eine Frau, geschweige denn für einen Freund aufs Spiel gesetzt hat. Ich weiß nicht, Fräulein von Geschwitz, wie reich Sie sind; aber die Ausgaben für diese Bewerkstelligungen müssen Ihre Vermögensverhältnisse zerrüttet haben. Darf ich Ihnen ein Darlehen von zwanzigtausend Mark anbieten, dessen Herbeischaffung in barem Geld für mich mit keinerlei Schwierigkeiten verbunden wäre?

DIE GESCHWITZ.

Wie wir gejubelt haben, als die Schwester Theophila glücklich tot war! Von dem Tage an waren wir ohne Aufsicht. Wir wechselten nach Belieben die Betten. Ich hatte ihr meine Frisur gemacht und ahmte in jedem Laut ihre Stimme nach. Wenn der Professor kam, redete er sie per gnädiges Fräulein an und sagte zu mir: »Hier lebt sich's besser als im Gefängnis!« Als die Schwester plötzlich ausblieb, sahen wir einander gespannt an; wir beide waren fünf Tage krank; jetzt mußte es sich entscheiden. Am nächsten Morgen kam der Assistenzarzt. – »Wie geht es der Schwester Theophila?« – »Tot.« – Wir verständigten uns hinter seinem Rücken, und als er hinaus war, sanken wir uns in die [327] Arme: »Gott sei Dank! Gott sei Dank! – Welche Mühe es kostete, damit mein Liebling nicht verriet, wie gesund er schon war! – Du hast neun Jahre Gefängnis vor dir!« rief ich von früh bis spät. – Man läßt sie jetzt wohl keine drei Tage mehr in der Isolierbaracke.

RODRIGO.

Ich habe volle drei Monate im Krankenhaus gelegen, um das Terrain zu sondieren, nachdem ich mir die Qualitäten zu einem so ausgedehnten Aufenthalt auch erst mühsam zusammenhausiert hatte. Jetzt spiele ich hier bei Ihnen, Herr Doktor, den Kammerdiener, damit keine fremde Bedienung ins Haus kommt. Wo hat je ein Bräutigam mehr für seine Braut getan. Meine Vermögensverhältnisse sind auch zerrüttet.

ALWA.

Wenn es Ihnen gelingt, die Frau zu einer anständigen Künstlerin auszubilden, dann haben Sie sich um Ihre Mitwelt verdient gemacht. Mit dem Temperament und der Schönheit, die sie aus dem Innersten ihrer Natur heraus zu geben hat, kann sie das blasierteste Publikum in Atem halten. Dabei wäre sie durch die Wiedergabe der Leidenschaft davor geschützt, zum zweitenmal in Wirklichkeit zur Verbrecherin zu werden.

RODRIGO.
Ich will ihr ihre Zicken schon austreiben!
DIE GESCHWITZ.
Da kommt er!

Auf der Galerie werden Schritte laut; dann teilt sich der Vorhang über der Treppe, und Schigolch im langen schwarzen Gehrock, einen weißen Entoutcas in der Rechten, tritt heraus. Während aller drei Akte ist sein Sprechen von häufigem Gähnen unterbrochen.
SCHIGOLCH.
Vermaledeite Finsternis! – Draußen brennt einem die Sonne die Augen aus.
DIE GESCHWITZ
sich mühsam aus der Decke wickelnd.
Ich komme schon!
RODRIGO.

Gräfliche Gnaden haben seit drei Tagen kein Tageslicht mehr gesehen. Wir leben hier wie in einer Schnupftabaksdose.

SCHIGOLCH.

Seit heute früh um neun fahre ich bei allen Lumpensammlern herum. Drei nagelneue Koffer, vollgestopft mit alten Hosen, habe ich über Bremerhaven nach Buenos Aires spediert. Die Beine baumeln mir wie [328] Glockenschwengel am Leib. Das soll von nun an ein anderes Leben wer den!

RODRIGO.
Wo wollt ihr denn morgen früh absteigen?
SCHIGOLCH.
Hoffentlich nicht gleich wieder im Hotel Ochsenbutter!
RODRIGO.

Ich kann euch ein ausgezeichnetes Hotel empfehlen. Ich wohnte dort mit einer Löwenbändigerin. Die Leute sind geborene Berliner.

DIE GESCHWITZ
sich im Rohrstuhl aufrichtend.
Helfen Sie mir doch!
RODRIGO
eilt herbei und stützt sie.
Dabei seid ihr dort sicherer vor der Polizei als auf dem hohen Turmseil!
DIE GESCHWITZ.
Er will Sie nämlich heute nachmittag allein mit ihr reisen lassen.
SCHIGOLCH.
Er leidet wohl noch an seinen Frostbeulen!
RODRIGO.

Verlangt ihr denn von mir, daß ich in meinem neuen Engagement in Schlafrock und Pantoffeln debütiere?

SCHIGOLCH.

Hm – die Schwester Theophila wäre auch nicht so prompt gen Himmel gefahren, wenn sie sich für unsere Patientin nicht so liebevoll erwärmt hätte.

RODRIGO.

Wenn einer den Honigmond bei ihr abzudienen hat, wird sie sich noch ganz anders zur Geltung bringen. Es kann ihr jedenfalls nicht schaden, wenn sie sich vorher noch etwas auslüftet.

ALWA
eine Brieftasche in der Hand, zur Geschwitz, die auf eine Stuhllehne gestützt am Mitteltisch steht.
Diese Tasche enthält zehntausend Mark.
DIE GESCHWITZ.
Ich danke, nein.
ALWA.
Ich bitte Sie, sie zu nehmen.
DIE GESCHWITZ
zu Schigolch.
Kommen Sie doch endlich!
SCHIGOLCH.

Geduld, mein Fräulein. Es ist ja nur der Katzensprung über die Spitalstraße. – In fünf Minuten bin ich mit ihr hier.

ALWA.
Sie bringen sie her?
SCHIGOLCH.
Ich bringe sie her. – Oder fürchten Sie für Ihre Gesundheit?
ALWA.
Das sehen Sie doch, daß ich nichts fürchte.
RODRIGO.

Der Herr Doktor ist nach dem letzten Drahtbericht auf der Reise nach Konstantinopel begriffen, um seinen »Erdgeist« von Haremsdamen und Eunuchen vor dem Sultan zur Aufführung bringen zu lassen.

[329]
ALWA
die Mitteltür unter der Galerie öffnend.
Sie gehen hier näher.

Schigolch und die Gräfin Geschwitz verlassen den Saal. Alwa verschließt die Türe hinter ihnen.
RODRIGO.
Sie wollten der verrückten Rakete noch Geld geben.
ALWA.
Was geht Sie das an?!
RODRIGO.

Mich honoriert man wie einen Lampenputzer, obschon ich sämtliche Schwestern im Spital habe demoralisieren müssen. Dann kamen die Herren Assistenzärzte und Geheimräte an die Reihe. Und dann ...

ALWA.
Wollen Sie mir im Ernste weismachen, daß sich die Geheimräte durch Sie haben beeinflussen lassen?
RODRIGO.

Mit dem Gelde, das mich diese Herren gekostet haben, könnte ich in Amerika Präsident der Vereinigten Staaten werden.

ALWA.

Fräulein von Geschwitz hat Ihnen doch jeden Pfennig, den Sie ausgegeben haben, zurückerstattet. Soviel ich weiß, beziehen Sie außerdem noch ein monatliches Salär von fünfhundert Mark von ihr. Es fällt einem manchmal ziemlich schwer, an Ihre Liebe zu der unglücklichen Mörderin zu glauben. Wenn ich eben Fräulein von Geschwitz darum bat, meine Hilfe anzunehmen, so geschah es gewiß nicht, um Ihre unersättliche Goldgier aufzustacheln. Die Bewunderung, die ich vor Fräulein von Geschwitz in dieser Sache hegen gelernt, empfinde ich Ihnen gegenüber noch lange nicht. Es ist mir überhaupt unklar, was Sie an mich für Ansprüche geltend machen. Daß Sie zufällig bei der Ermordung meines Vaters zugegen waren, hat zwischen Ihnen und mir noch nicht die geringsten verwandtschaftlichen Bande geschaffen. Dagegen bin ich fest davon überzeugt, daß Sie, wenn Ihnen das heroische Unternehmen der Gräfin Geschwitz nicht zugute gekommen wäre, heute ohne einen Pfennig irgendwo betrunken im Rinnstein lägen.

RODRIGO.

Und wissen Sie, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie das Käseblatt, das Ihr Vater redigierte, nicht um zwei Millionen veräußert hätten? – Sie hätten sich mit dem ausgemergeltsten Balettmädchen zusammengetan und wären heute Stallknecht im Zirkus Humpelmeier. [330] Was arbeiten Sie denn? – Sie haben ein Schauerdrama geschrieben, in dem die Waden meiner Braut die beiden Hauptfiguren sind und das kein Hoftheater zur Aufführung bringt. Sie Nachtjacke Sie! Sie Schnodderlumpen! Ich habe auf diesem Brustkasten noch vor zwei Jahren zwei gesattelte Kavalleriepferde balanciert. Wie das jetzt mit der Plauze werden soll, ist mir allerdings rätselhaft. Die Ausländerinnen bekommen einen schönen Begriff von der deutschen Kunst, wenn sie mir bei jedem Kilo Mehrgewicht den Schweiß aus den Trikots perlen sehen. Ich werde den ganzen Zuschauerraum verpesten mit meiner Ausdünstung.

ALWA.
Sie sind ein Waschlappen.
RODRIGO.

Wollte Gott, Sie hätten recht! Oder wollten Sie mich vielleicht beleidigen? – Dann setze ich Ihnen die Fußspitze unter die Kinnlade, daß Ihnen Ihre Zunge dort drüben an der Tapete spazierenkriecht.

ALWA.
Versuchen Sie das doch!

Tritte und Stimmen werden von außen hörbar.
ALWA.
Wer ist das ...?
RODRIGO.
Sie können Gott danken, daß ich hier kein Publikum vor mir habe.
ALWA.
Wer kann das sein?!
RODRIGO.
Das ist meine Geliebte! Seit einem vollen Jahre haben wir uns jetzt nicht mehr gesehen.
ALWA.
Wie wollten denn die schon zurück sein! – Wer mag da kommen! – Ich erwarte niemanden.
RODRIGO.
Zum Henker, so schließen Sie doch auf!
ALWA.
Verstecken Sie sich!
RODRIGO.
Ich stelle mich hinter die Portiere. Da habe ich vor einem Jahr auch schon einmal gestanden.

Rodrigo verschwindet hinter der Portiere links vorn. Alwa öffnet die Mitteltüre, worauf Alfred Hugenberg, den Hut in der Hand, eintritt.
ALWA.
Mit wem habe ich ... Sie? – Sind Sie nicht ...?
HUGENBERG.
Alfred Hugenberg.
ALWA.
Was wünschen Sie?
HUGENBERG.
Ich komme von Münsterburg. Ich bin heute morgen geflüchtet.
[331]
ALWA.
Ich bin augenleidend. Ich bin gezwungen, die Jalousien geschlossen zu halten.
HUGENBERG.

Ich brauche Ihre Hilfe. Sie werden sie mir nicht versagen. Ich habe einen Plan vorbereitet. – Hört man uns?

ALWA.
Wovon sprechen Sie? – Was für einen Plan?
HUGENBERG.
Sind Sie allein?
ALWA.
Ja. – Was wollen Sie mir mitteilen?
HUGENBERG.

Ich habe zwei Pläne nacheinander wieder fallenlassen. Was ich Ihnen jetzt sage, ist bis auf jeden möglichen Zwischenfall durchgearbeitet. Wenn ich Geld hätte, würde ich Sie nicht ins Vertrauen ziehen. Ich dachte zuerst lange daran ... Wollen Sie mir nicht erlauben, Ihnen meinen Entwurf auseinanderzusetzen?

ALWA.
Wollen Sie mir bitte sagen, wovon Sie denn eigentlich sprechen?
HUGENBERG.

Die Frau kann Ihnen unmöglich so gleichgültig sein, daß ich Ihnen das sagen muß. Was Sie vor dem Untersuchungsrichter zu Protokoll gaben, hat ihr mehr genützt als alles, was der Verteidiger sagte.

ALWA.
Ich verbitte mir eine derartige Unterstellung.
HUGENBERG.
Das sagen Sie so; das verstehe ich natürlich. Aber Sie waren doch ihr bester Entlastungszeuge.
ALWA.
Sie waren der! Sie sagten, mein Vater habe sie zwingen wollen, sich selbst zu erschießen.
HUGENBERG.
Das wollte er auch. Aber man glaubte mir nicht; ich wurde nicht vereidigt.
ALWA.
Wo kommen Sie jetzt her?
HUGENBERG.
Aus einer Besserungsanstalt, aus der ich heute morgen ausgebrochen bin.
ALWA.
Und was beabsichtigen Sie?
HUGENBERG.
Ich erschleiche mir das Vertrauen eines Gefängnisschließers.
ALWA.
Wovon wollen Sie denn leben?
HUGENBERG.
Ich wohne bei einem Mädchen, das ein Kind von meinem Vater hat.
ALWA.
Wer ist Ihr Vater?
HUGENBERG.

Er ist Polizeidirektor. Ich kenne das Gefängnis, ohne daß ich jemals drin war; und mich wird, so wie ich jetzt bin, kein Aufseher erkennen. Aber darauf rechne ich gar nicht. Ich weiß eine eiserne Leiter, von der man [332] vom ersten Hof aus aufs Dach und durch eine Dachluke unter den Dachboden gelangt. Vom Innern aus führt kein Weg dorthin. Aber in allen fünf Flügeln liegen Bretter und Latten unter den Dächern und große Haufen Späne. Ich schleppe die Bretter und Latten an fünf Enden zusammen und zünde sie an. Ich habe alle Taschen voll Zündmaterial, wie es zum Feuermachen gebraucht wird.

ALWA.
Dann verbrennen Sie doch!
HUGENBERG.

Natürlich, wenn ich nicht gerettet werde. Aber um in den ersten Hof zu kommen, muß ich den Schließer in meiner Gewalt haben, und dazu brauche ich Geld. Nicht daß ich ihn bestechen will; das würde nicht gelingen. Ich muß ihm das Geld vorher leihen, damit er seine drei Kinder in die Sommerfrische schicken kann. Dann drücke ich mich morgens um vier, wenn die Sträflinge aus geachteten Familien entlassen werden, zur Tür hinein. Er schließt hinter mir ab. Er fragt mich, was ich vorhabe; ich bitte ihn, mich am Abend wieder hinauszulassen. Und eh es hell wird, bin ich unter dem Dachboden.

ALWA.
Wie sind Sie aus der Besserungsanstalt entkommen?
HUGENBERG.

Ich bin zum Fenster hinausgesprungen. Ich brauche zweihundert Mark, damit der Kerl seine Familie in die Sommerfrische schicken kann.

RODRIGO
aus der Portiere tretend.
Wünschen der Herr Baron den Kaffee im Musikzimmer oder auf der Veranda serviert?
HUGENBERG.
Wo kommt der Mensch her?! – Aus derselben Türe! – Er sprang aus derselben Türe heraus!
ALWA.
Ich habe ihn in Dienst genommen. Er ist zuverlässig.
HUGENBERG
sich an die Schläfen greifend.
Ich Dummkopf! – Ich Dummkopf!
RODRIGO.

Ja, ja, wir haben uns hier schon gesehen! Scheren Sie sich zu Ihrer Frau Vize-Mama! Ihr Brüderchen möchte seinen Geschwistern gerne Onkel werden. Machen Sie Ihren Herrn Papa zum Großvater seiner Kinder. Sie haben uns gefehlt! Wenn Sie mir in den nächsten vierzehn Tagen noch einmal unter die Augen kommen, dann schlage ich Ihnen den Kürbis zu Brei zusammen.

[333]
ALWA.
Seien Sie doch ruhig!
HUGENBERG.
Ich Dummkopf!
RODRIGO.

Was wollen Sie mit Ihren Brennmaterialien! – Wissen Sie denn nicht, daß die Frau seit drei Wochen tot ist?

HUGENBERG.
Hat man ihr den Kopf abgeschlagen?
RODRIGO.
Nein, den hat sie noch. Sie ist an der Cholera krepiert.
HUGENBERG.
Das ist nicht wahr.
RODRIGO.

Was wollen Sie denn wissen! – Da, lesen Sie; hier! Zieht ein Zeitungsblatt hervor und deutet auf eine Notiz darin. »Die Mörderin des Dr. Schön ...« Gibt das Blatt an Hugenberg.

HUGENBERG
liest.

»Die Mörderin des Dr. Schön ist im Gefängnis auf unbegreifliche Weise an der Cholera erkrankt.« – Da steht nicht, daß sie gestorben ist.

RODRIGO.

Was will sie denn sonst getan haben? Sie liegt seit drei Wochen auf dem Kirchhof. In der Ecke links hinten, hinter den Müllhaufen, wo die kleinen Kreuze sind, an denen kein Name steht, da liegt sie unter dem ersten. Sie erkennen den Platz daran, daß kein Gras darauf wächst. Hängen Sie einen Blechkranz hin und dann machen Sie, daß Sie wieder in Ihre Kinderbewahranstalt kommen, sonst denunziere ich Sie der Polizei. Ich kenne das Frauenzimmer, das sich durch Sie ihre Mußestunden versüßt.

HUGENBERG
zu Alwa.
Ist es wahr, daß sie tot ist?
ALWA.

Gott sei Dank, ja! – Ich bitte Sie, mich nicht länger in Anspruch zu nehmen. Mein Arzt verbietet mir, Besuche zu empfangen.

HUGENBERG.

Meine Zukunft ist so wenig mehr wert! Ich hätte das letzte Bißchen, das mir das Leben noch gilt, gerne an ihr Glück hingegeben. Pfeif drein! Auf irgendeine Art werde ich nun doch wohl zum Teufel gehen!

RODRIGO.

Wenn Sie sich unterstehen und mir oder dem Herrn Doktor hier oder meinem ehrenwerten Freund Schigolch noch in irgendwelcher Weise zu nahe zu treten, dann verklage ich Sie wegen beabsichtigter Brandstifterei. Ihnen tun drei Jahre Zuchthaus not, damit Sie wissen, wo Ihre Finger nicht hineingehören. – Und jetzt hinaus!

[334]
HUGENBERG.
Ich Dummkopf!
RODRIGO.

Hinaus!! Wirft Hugenberg zur Tür hinaus. Nach vorne kommend. Nimmt mich wunder, daß Sie dem Lümmel nicht auch Ihr Portemonnaie zur Verfügung gestellt haben.

ALWA.
Ich verbitte mir Ihre Unflätigkeiten! Der Junge ist im kleinen Finger mehr wert als Sie!
RODRIGO.

Ich habe an dieser Geschwitz schon Genossenschaft genug. Soll meine Braut eine Gesellschaft mit beschränkter Haftpflicht werden, dann mag ein anderer vorangehen. Ich gedenke die pompöseste Luftgymnastikerin aus ihr zu machen und setze deshalb gerne mein Leben aufs Spiel. Aber dann bin ich Herr im Hause und bezeichne selber die Kavaliere, die sie bei sich zu empfangen hat.

ALWA.

Der Junge hat das, was unserem Zeitalter fehlt. Er ist eine Heldennatur. Er geht deshalb natürlich zugrunde. Erinnern Sie sich, wie er vor Verkündigung des Urteils aus der Zeugenbank sprang und dem Vorsitzenden zurief: »Woher wollen Sie wissen, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie sich als zehnjähriges Kind die Nächte barfuß hätten in den Cafés herumtreiben müssen?!«

RODRIGO.

Hätte ich ihm nur gleich eine dafür in die Fresse hauen können! – Gottlob gibt es Zuchthäuser, in denen man solchem Pack Achtung vor dem Gesetz einflößt.

ALWA.

Er wäre so einer, der mir in meinem »Weltbeherrscher« Modell stehen könnte. Seit zwanzig Jahren bringt die Literatur nichts als Halbmenschen zustande; Männer, die keine Kinder machen und Weiber, die keine gebären können. Das nennt sich »modernes Problem«.

RODRIGO.

Ich habe mir eine zwei Zoll dicke Nilpferdpeitsche bestellt. Wenn die keinen Sukzeß bei ihr hat, dann will ich Kartoffelsuppe im Hirnkasten haben. Sei es Liebe, seien es Prügel, danach fragt kein Weiberfleisch; hat es nur Unterhaltung, dann bleibt es stramm und frisch. Sie steht jetzt im zwanzigsten Jahr, war dreimal verheiratet, hat eine kolossale Menge Liebhaber befriedigt, da melden sich auch schließlich die Herzensbedürfnisse. Aber dem Kerl müssen die sieben Todsünden auf [335] der Stirn geschrieben stehen, sonst verehrt sie ihn nicht. Wenn der Mensch so aussieht, als hätte ihn ein Hundefänger auf die Straße gespuckt, dann hat er bei solchen Frauenspersonen keinen Prinzen zu fürchten. Ich miete eine fünfzig Fuß hohe Garage, da wird sie dressiert; und hat sie den ersten Tauchersprung exekutiert, ohne den Hals zu brechen, dann ziehe ich meinen schwarzen Frack an und rühre bis an mein Lebensende keinen Finger mehr. Bei ihrer praktischen Einrichtung kostet es die Frau nicht halb soviel Mühe, ihren Mann zu ernähren, wie umgekehrt. Wenn ihr der Mann nur die geistige Arbeit besorgt und den Familiensinn nicht in die Binsen gehen läßt.

ALWA.

Ich habe die Menschheit beherrschen und als eingefahrenen Viererzug vor mir im Zügel fahren gelernt aber der Junge will mir nicht aus dem Kopf. Ich kann bei diesem Gymnasiasten wirklich noch Privatunterricht in der Weltverachtung nehmen.

RODRIGO.

Sie soll sich das Fell getrost mit Tausendmarkscheinen tapezieren lassen! Den Direktoren zapfe ich die Gagen mit der Zentrifugalpumpe ab. Ich kenne die Bande. Brauchen sie einen nicht, dann darf man ihnen die Stiefel putzen, und wenn sie eine Künstlerin nötig haben, dann schneiden sie sie mit den verbindlichsten Komplimenten eigenhändig vom lichten Galgen herunter.

ALWA.

In meinen Verhältnissen habe ich außer dem Tod nichts mehr in dieser Welt zu fürchten – im Reich der Empfindungen bin ich der ärmste Bettler! Aber ich bringe den moralischen Mut nicht mehr auf, meine befestigte Position gegen die Aufregungen des wilden Abenteurerlebens einzutauschen.

RODRIGO.

Sie hatte Papa Schigolch und mich zusammen auf den Strich geschickt, damit wir ihr ein kräftiges Mittel gegen Schlaflosigkeit aufstöbern. Jeder bekam ein Zwanzigmarkstück für Reiseunkosten. Da sehen wir den Jungen im Café Nachtlicht sitzen. Er saß wie ein Verbrecher auf der Anklagebank. Schigolch beroch ihn von allen Seiten und sagte: »Der ist noch Jungfrau.«


Oben auf der Galerie werden schleppende Schritte hörbar.
[336]
RODRIGO.
Da ist sie! – Die zukünftige pompöseste Luftgymnastikerin der Jetztzeit!

Über der Treppe teilt sich der Vorhang, und Lulu im schwarzen Kleid auf Schigolchs Arm gestützt, schleppt sich langsam die Treppe herunter.
SCHIGOLCH.
Hü, alter Schimmel! Wir müssen heute noch über die Grenze.
RODRIGO
Lulu mit blöden Augen anglotzend.
Himmel, Tod und Wolkenbruch!
LULU
spricht bis zum Schluß des Aktes alles in munterstem Ton.
Langsam! Du klemmst mir den Arm ein!
RODRIGO.
Woher nimmst du die Schamlosigkeit, mit einem solchen Wolfsgesicht aus dem Gefängnis auszubrechen?!
SCHIGOLCH.
Halt die Schnauze!
RODRIGO.

Ich laufe nach der Polizei! Ich mache Anzeige! Diese Vogelscheuche will sich in Trikots sehen lassen. Da kosten schon die Wattons zwei Monatsgagen. – Du bist die perfideste Hochstaplerin, die je im Hotel Ochsenbutter Logis bezogen hat!

ALWA.
Ich bitte Sie, die Frau nicht zu beschimpfen!
RODRIGO.

Beschimpfen nennen Sie das?! – Ich habe mir dieser abgenagten Knochen wegen meinen Wanst angefressen! Ich bin erwerbsunfähig! Ich will ein Hanswurst sein, wenn ich noch einen Besenstiel hochstemmen kann! Aber mich soll hier auf dem Platze der Blitz erschlagen, wenn ich mir nicht eine Lebensrente von zehntausend Mark jährlich aus Ihren Betrügereien herausknoble! Das kann ich Ihnen sagen! Glückliche Reise! Ich laufe nach der Polizei! –


Ab.
SCHIGOLCH.
Lauf, lauf!
LULU.
Der wird sich hüten!
SCHIGOLCH.
Den sind wir los. – Und jetzt schwarzen Kaffee für die Dame!
ALWA
am Tisch links vorn.
Hier ist Kaffee; man braucht nur einzuschenken.
SCHIGOLCH.
Ich muß noch die Schlafwagenbillette besorgen.
LULU
hell.
O Freiheit! Herr Gott im Himmel!
SCHIGOLCH.

In einer halben Stunde hol ich dich. Abschied feiern wir im Bahnhofsrestaurant. Ich bestelle ein Souper, das [337] bis morgen früh vorhält. – Guten Morgen, Herr Doktor!

ALWA.
Guten Abend!
SCHIGOLCH.
Angenehme Ruhe! – Danke, ich kenne hier jede Türklinke. Auf Wiedersehen! Viel Vergnügen! –

Durch die Mitteltür ab.
LULU.
Ich habe seit anderthalb Jahren kein Zimmer gesehen – Vorhänge, Sessel, Bilder ...
ALWA.
Willst du nicht trinken?
LULU.
Ich habe seit fünf Tagen schwarzen Kaffee genug geschluckt. Hast du keinen Schnaps?
ALWA.
Ich habe Elixier de Spa.
LULU.

Das erinnert an alte Zeiten. Sieht sich, während Alwa zwei Gläser füllt, im Saal um. Wo ist denn mein Bild?

ALWA.
Das habe ich in meinem Zimmer, damit man es hier nicht sieht.
LULU.
Hol doch das Bild her.
ALWA.
Hast du deine Eitelkeit auch im Gefängnis nicht verloren?
LULU.

Wie angstvoll einem ums Herz wird, wenn man monatelang sich selbst nicht mehr gesehen hat. Dann bekam ich eine nagelneue Kehrichtschaufel. Wenn ich morgens um sieben ausfegte, hielt ich sie mir mit der Rückseite vors Gesicht. Das Blech schmeichelt nicht, aber ich hatte doch meine Freude. – Hol das Bild aus deinem Zimmer. Soll ich mitkommen?

ALWA.
Um Gottes willen, du mußt dich schonen!
LULU.
Ich habe mich jetzt lang genug geschont.

Alwa geht durch die Türe links ab, um das Bild zu holen.
LULU
allein.

Er ist herzleidend; aber sich vierzehn Monate mit der Einbildung plagen müssen ... Er küßt mit Todesbangen, und seine beiden Knie schlottern, wie bei einem ausgefrorenen Handwerksburschen. In Gottes Namen! – – Hätte ich in diesem Zimmer nur seinen Vater nicht in den Rücken geschossen!

ALWA
kommt zurück mit Lulus Bild im Pierrotkostüm.
Es ist ganz verstaubt. Ich hatte es mit der Vorderseite gegen den Kamin gelehnt.
LULU.
Du hast es nicht angesehen, während ich fort war?
[338]
ALWA.

Ich hatte infolge des Verkaufs unserer Zeitung so viel geschäftliche Dinge zu erledigen. Die Geschwitz würde es gerne bei sich in ihrer Wohnung aufgehängt haben, aber sie hatte Haussuchungen zu gewärtigen.


Er hebt das Bild auf die Staffelei.
LULU
froh.

Nun lernt das arme Ungeheuer das Freudenleben im Hotel Ochsenbutter auch aus eigner Erfahrung kennen.

ALWA.
Ich begreife noch jetzt nicht, wie die Ereignisse eigentlich zusammenhängen.
LULU.

Oh, die Geschwitz hat das sehr klug eingerichtet; ich bewundere ihren Erfindungsgeist. In Hamburg muß diesen Sommer doch die Cholera so furchtbar gewütet haben. Darauf gründete sie ihren Plan zu meiner Befreiung. Sie nahm hier einen Krankenpflegerinnenkursus, und als sie die nötigen Zeugnisse hatte, reiste sie damit nach Hamburg und pflegte die Cholerakranken. Bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, zog sie dann die Unterkleider an, in denen eben eine Kranke gestorben war und die eigentlich hätten verbrannt werden müssen. Am selben Morgen reiste sie noch hierher und kam zu mir ins Gefängnis. In meiner Zelle, als die Aufseherin draußen war, vertauschten wir beide dann rasch unsere Unterkleider.

ALWA.
Das also war die Ursache, weshalb die Geschwitz und du am gleichen Tage an der Cholera erkrankten?!
LULU.

Gewiß! Das war der Grund. – Die Geschwitz wurde aus ihrer Wohnung natürlich sofort in die Isolierbaracke beim Krankenhaus gebracht. Aber mit mir wußte man auch nirgends anders hin. So lagen wir in einem Zimmer in der Isolierbaracke hinter dem Krankenhaus, und die Geschwitz bot vom ersten Tag an alle ihre Künste auf, um unsere Gesichter einander so ähnlich wie möglich zu machen. Vorgestern wurde sie als geheilt entlassen. Eben kam sie nun wieder und sagte, sie habe ihre Uhr vergessen. Ich zog ihre Kleider an, sie schlüpfte in meinen Gefängniskittel, und dann ging ich fort. Vergnügt. Jetzt liegt sie dort drüben als die Mörderin des Dr. Schön.

ALWA.
Mit dem Bilde kannst du es, soweit es die äußere Erscheinung betrifft, immer noch aufnehmen.
[339]
LULU.

Im Gesicht bin ich etwas schmal, aber sonst habe ich nichts verloren. Man wird nur unglaublich nervös im Gefängnis.

ALWA.
Du sahst schrecklich elend aus, als du hereinkamst.
LULU.

Das mußte ich, um uns den Springfritzen vom Halse zu schaffen. – Und du, was hast du in den anderthalb Jahren getan?

ALWA.

Ich hatte mit einem Stück, das ich über dich geschrieben, einen Achtungserfolg in der literarischen Gesellschaft.

LULU.
Wer ist dein Schatz?
ALWA.
Eine Schauspielerin, der ich eine Wohnung in der Karlstraße gemietet habe.
LULU.
Liebt sie dich?
ALWA.
Wie soll ich das wissen! Ich habe die Frau seit sechs Wochen nicht gesehen.
LULU.
Erträgst du das?
ALWA.

Das wirst du nie begreifen. Bei mir besteht die intimste Wechselwirkung zwischen meiner Sinnlichkeit und meinem geistigen Schaffen. So zum Beispiel bleibt mir dir gegenüber nur die Wahl, dich künstlerisch zu gestalten oder dich zu lieben.

LULU
im Märchenton.

Mir träumte alle paar Nächte einmal, ich sei einem Lustmörder unter die Hände geraten. Komm, gib mir einen Kuß!

ALWA.

In deinen Augen schimmert es, wie der Wasserspiegel in einem tiefen Brunnen, in den man einen Stein geworfen hat.

LULU.
Komm!
ALWA
küßt sie.
Deine Lippen sind allerdings etwas schmal geworden.
LULU.

Komm! Sie drängt ihn in einen Sessel und setzt sich ihm aufs Knie. Graut dir vor mir? – Im Hotel Ochsenbutter bekamen wir alle vier Wochen ein lauwarmes Bad. Die Aufseherinnen benutzten dann die Gelegenheit, um uns, sobald wir im Wasser waren, die Taschen zu durchsuchen. Sie küßt ihn leidenschaftlich.

ALWA.
Oh, oh!
LULU.
Du fürchtest, du könntest, wenn ich fort bin, kein Gedicht mehr über mich machen?
[340]
ALWA.
Im Gegenteil, ich werde einen Dithyrambus über deine Herrlichkeit schreiben.
LULU.
Ich ärgere mich nur über das scheußliche Schuhwerk, das ich trage.
ALWA.
Das beeinträchtigt deine Reize nicht. Laß uns der Gunst des Augenblickes dankbar sein.
LULU.

Mir ist heute gar nicht danach zumut. – Erinnerst du dich des Kostümballes, auf dem ich als Knappe gekleidet war? Wie mir damals die beschwipsten Frauen nachrannten! Die Geschwitz kroch mir um die Füße herum und bat mich, ich möchte ihr mit meinen Zeugschuhen ins Gesicht treten.

ALWA.
Komm, süßes Herz!
LULU
in dem Tone, in dem man ein unartiges Kind beruhigt.
Ruhig; ich habe deinen Vater erschossen.
ALWA.
Deswegen liebe ich dich nicht weniger. Einen Kuß!
LULU.
Beug den Kopf zurück.

Sie küßt ihn mit Bedacht.
ALWA.

Du hältst meine Seelenglut durch die geschicktesten Künste zurück. Dabei atmet deine Brust so keusch. Und trotzdem, wenn deine beiden großen, dunklen Kinderaugen nicht wären, müßte ich dich für die abgefeimteste Dirne halten, die je einen Mann ins Verderben gestürzt hat.

LULU
aufgeräumt.

Wollte Gott, ich wäre das! Komm heute mit über die Grenze. Dann können wir uns sehen, sooft wir wollen, und werden mehr Vergnügen als jetzt aneinander haben.

ALWA.

Durch dieses Kleid empfinde ich deinen Wuchs wie eine Symphonie. Diese schmalen Knöchel, dieses Cantabile; dieses entzückende Anschwellen; und diese Knie, dieses Capriccio; und das gewaltige Andante der Wollust. – Wie friedlich sich die beiden schlanken Rivalen in dem Bewußtsein aneinanderschmiegen, daß keiner dem andern an Schönheit gleichkommt – bis die launische Gebieterin erwacht und die beiden Nebenbuhler wie zwei feindliche Pole auseinanderweichen. Ich werde dein Lob singen, daß dir die Sinne vergehn!

LULU
lustig.
Derweil vergrabe ich meine Hände in deinem Haar. Sie tut es. Aber hier stört man uns.
ALWA.
Du hast mich um meinen Verstand gebracht!
[341]
LULU.
Kommst du heute nicht mit?
ALWA.
Der Alte fährt doch mit dir!
LULU.
Der kommt nicht mehr zum Vorschein. – Ist das noch der Diwan, auf dem sich dein Vater verblutet hat?
ALWA.
Schweig – Schweig ...
[342]

2. Akt

Zweiter Aufzug

Ein geräumiger Salon in weißer Stukkatur mit breiter Flügeltür in der Hinterwand. Zu beiden Seiten derselben hohe Spiegel. In beiden Seitenwänden je zwei Türen; dazwischen links eine Rokokokonsole mit weißer Marmorplatte, darüber Lulus Bild als Pierrot in schmalem Goldrahmen in der Wand eingelassen. In der Mitte des Salons ein schmächtiges, hellgepolstertes Sofa Louis XV: Breite hellgepolsterte Fauteuils mit dünnen Beinen und schmächtigen Armlehnen. Rechts vorn ein kleiner Tisch. Links hinten Entreetür. Die vordere Tür führt zum Speisezimmer. Die Mitteltür steht offen und läßt im Hinterzimmer einen breiten Bakkarattisch, von türkischen Polstersesseln umstellt, sehen. Alwa Schön, Rodrigo Quast, der Marquis Casti-Piani, Bankier Puntschu, Journalist Heilmann, Lulu, die Gräfin Geschwitz, Magelone, Kadidja, Bianetta, Ludmilla Steinherz bewegen sich im Salon in lebhafter Konversation. Die Herren sind in Gesellschaftstoilette. – Lulu trägt eine weiße Direktoirerobe mit mächtigen Ärmeln und einer vom oberen Taillensaum frei auf die Füße fallenden weißen Spitze; die Arme in weißen Glacés, das Haar hochfrisiert mit einem kleinen weißen Federbusch. – Die Geschwitz in hellblauer, mit weißem Pelz verbrämter, mit Silberborten verschnürter Husarentaille. Weißer Schlips, enger Stehkragen und steife Manschetten mit riesigen Elfenbeinknöpfen. – Magelone in hellem regenbogenfarbigen Changeantkleid mit sehr breiten Ärmeln, langer schmaler Taille und drei Volants aus spiralförmig gewundenen Rosabändern und Veilchenbuketts. Das Haar in der Mitte gescheitelt, tief über die Schläfen fallend, an den Seiten gelockt. Auf der Stirn ein Perlmutterschmuck, von einer feinen, unter das Haar gezogenen Kette gehalten. – Kadidja, ihre Tochter, zwölf Jahre alt, in hellgrünen Atlasstiefeletten, die den Saum der weißseidenen Socken freilassen; der Oberkörper in weißen Spitzen; hellgrüne, enganliegende [343] Ärmel; perlgraue Glacés; offenes schwarzes Haar unter einem großen hellgrünen Spitzenhut mit weißen Federn. – Bianetta in dunkelgrünem Samt; perlenbesetzter Göller, Blusenärmel, faltenreicher Rock ohne Taille, der untere Saum mit großen, in Silber gefaßten falschen Topasen besetzt. – Ludmilla Steinherz in einer grellen, blau und rot gestreiften Seebadtoilette.


RODRIGO
das volle Glas in der Hand.

Meine Herren und Damen – entschuldigen Sie mich – seien Sie bitte ruhig – ich trinke – gestatten Sie mir, daß ich trinke – denn es ist das Geburtstagsfest von unserer liebenswürdigen Wirtin – Lulu am Arm nehmend. der Gräfin Adelaide d'Oubra – verdammt und zugenäht! – Ich trinke also – und so weiter meine Damen!


Alle umringen Lulu und stoßen mit ihr an.
ALWA
zu Rodrigo, ihm die Hand drückend.
Ich gratuliere dir.
RODRIGO.
Ich schwitze wie ein Schweinebraten.
ALWA
zu Lulu.
Laß uns sehen, ob im Spielzimmer alles in Ordnung ist.

Beide ins Spielzimmer ab.
BIANETTA
zu Rodrigo.
Eben erzählte man mir, mein Herr, Sie seien der stärkste Mann der Welt.
RODRIGO.
Das bin ich, mein Fräulein. Darf ich Sie bitten, über meine Kräfte zu verfügen.
MAGELONE.

Ich liebe eigentlich mehr die Kunstschützen. Vor drei Monaten trat ein Kunstschütze im Kasino auf und jedesmal, wenn er Bumm machte, dann ging es bei mir so!


Sie zuckt mit den Hüften.
GRAF CASTI-PIANI
spricht während des ganzen Aktes in müdem gelangweilten Ton, zu Magelone.

Sag mal, Teuerste, wie kommt das eigentlich, daß man deine Auf Kadidja zeigend. niedliche kleine Prinzessin heute zum erstenmal hier sieht?

MAGELONE.

Findest du sie wirklich so entzückend? – Sie ist noch im Kloster. Sie muß nächsten Montag wieder in der Schule sein.

[344]
KADIDJA.
Wie sagst du, Mütterchen?
MAGELONE.
Ich erzähle den Herren eben, daß du letzte Woche die erste Note in der Geometrie bekommen hast.
JOURNALIST HEILMANN.
Was die für hübsches Haar hat!
CASTI-PIANI. Sehen Sie sich mal die Füße an! Die Art, wie die geht!
PUNTSCHU.
Weiß Gott, die hat Rasse!
MAGELONE
lächelnd.
Aber haben Sie doch Mitleid, meine Herren; sie ist ja noch vollkommen Kind!
PUNTSCHU
zu Magelone.

Das würde mich verdammt wenig genieren! – Zu Heilmann. Zehn Jahre meines Lebens gebe ich darum, wenn ich das gnädige Fräulein in die Zeremonien unseres Geheimkultus einführen könnte!

MAGELONE.

Dazu bekommen Sie meine Zustimmung aber nicht für eine Million! Ich will nicht, daß man dem Kinde seine Jugend verdirbt, wie man mir das getan hat!

CASTI-PIANI. Bekenntnisse einer schönen Seele! Zu Magelone. Würdest du deine Einwilligung auch nicht für eine Garnitur echter Diamanten erteilen?

MAGELONE.

Renommier doch nicht! Du schenkst mir sowenig echte Diamanten wie meinem Kind! Das weißt du selber am allerbesten!


Kadidja geht ins Spielzimmer.
DIE GESCHWITZ.
Aber wird denn heute abend gar nicht gespielt?
LUDMILLA STEINHERZ.
Aber selbstverständlich, Komtesse! Ich rechne sogar sehr darauf.
BIANETTA.
Dann wollen wir doch gleich unsere Plätze einnehmen! Unsere Herren kommen dann schon nach.
DIE GESCHWITZ.

Darf ich Sie bitten, mich nur noch eine Sekunde zu entschuldigen. Ich habe noch ein Wort mit meiner Freundin zu sprechen.

CASTI-PIANI Bianetta den Arm bietend. Darf ich um die Ehre bitten, halbpart mit Ihnen zu spielen? Sie haben eine so glückliche Hand!

LUDMILLA STEINHERZ.
Nun geben Sie mir mal Ihren anderen Arm und dann führen Sie uns in die Spielhölle!

Casti-Piani mit den beiden Damen ins Spielzimmer ab.
MAGELONE.
Sagen Sie, Herr Puntschu, haben Sie vielleicht noch einige Jungfrauaktien für mich?
[345]
PUNTSCHU.

Jungfrauaktien? Zu Heilmann. Das verehrte Fräulein meinen die Aktien der Drahtseilbahn auf die Jungfrau. Die Jungfrau ist nämlich ein Berg, auf den man eine Drahtseilbahn bauen will.Zu Magelone. Wissen Sie, nur damit keine Verwechselungen entstehen. Wie leicht wäre das in diesem erwählten Kreise möglich. – Ich habe allerdings noch etwa viertausend Jungfrauaktien, aber die möchte ich gerne für mich behalten. Es bietet sich nicht so bald wieder Gelegenheit, sich unterderhand ein kleines Vermögen zu machen.

HEILMANN.
Ich habe bis jetzt nur eine einzige von diesen Jungfrauaktien. Ich möchte auch gern noch mehr haben.
PUNTSCHU.

Ich will's versuchen, Herr Heilmann, Ihnen welche zu besorgen. Aber das sage ich Ihnen im voraus, Sie zahlen Apothekerpreise dafür!

MAGELONE.

Mir hat meine Wahrsagerin dazu geraten, daß ich mich beizeiten umtat. Meine sämtlichen Ersparnisse bestehen jetzt aus Jungfrauaktien. Wenn das nicht glückt, Herr Puntschu, dann kratz ich Ihnen die Augen aus!

PUNTSCHU.
Ich bin mir meiner Sache vollkommen sicher, meine Teuerste.
ALWA
der aus dem Spielzimmer zurückgekommen ist, zu Magelone.

Ich kann Ihnen garantieren, daß Ihre Befürchtungen vollkommen unbegründet sind. Ich habe meine Jungfrauaktien sehr teuer bezahlt und bedauere es keinen Augenblick. Sie steigen ja von einem Tag auf den andern. So was ist noch gar nicht dagewesen.

MAGELONE.

Um so besser, wenn Sie recht haben.Puntschus Arm nehmend. Kommen Sie, mein Freund! Jetzt wollen wir unser Glück im Bakkarat versuchen!


Magelone, Puntschu, Alwa, Heilmann gehen ins Spielzimmer. – Rodrigo und die Gräfin Geschwitz bleiben zurück.
RODRIGO
kritzelt etwas auf einen Zettel und faltet ihn zusammen; die Geschwitz bemerkend.

Hm, gräfliche Gnaden ... Da die Geschwitz zusammenzuckt. Seh ich denn so gefährlich aus? Für sich. Ich muß ein Bonmot machen. Laut. Darf ich mir vielleicht etwas herausnehmen?

[346]
DIE GESCHWITZ.
Scheren Sie sich zum Henker!
CASTI-PIANI Lulu in den Saal führend. Sie erlauben mir nur zwei Worte.
LULU
während ihr Rodrigo unbemerkt seinen Zettel in die Hand drückt.
Bitte, soviel Sie wollen.
RODRIGO.
Ich habe die Ehre, mich zu empfehlen.

Ins Spielzimmer ab.

CASTI-PIANI zur Geschwitz. Lassen Sie uns allein!
LULU
zu Casti-Piani.
Habe ich Sie wieder durch irgend etwas gekränkt?
CASTI-PIANI da sich die Geschwitz nicht vom Fleck rührt. Sind Sie taub?

Die Geschwitz geht tief aufseufzend ins Spielzimmer ab.
LULU.
Sag es nur gleich heraus, wieviel du haben willst.
CASTI-PIANI. Mit Geld kannst du mir nicht mehr dienen.
LULU.
Wie kommst du auf den Gedanken, daß wir kein Geld mehr haben?
CASTI-PIANI. Weil du mir gestern euren letzten Rest ausgehändigt hast.
LULU.
Wenn du dessen sicher bist, wird es ja wohl so sein.
CASTI-PIANI. Ihr seid auf dem trocknen, du und dein Schriftsteller.
LULU.

Wozu denn die vielen Worte? – Wenn du mich bei dir haben willst, brauchst du mir nicht erst mit dem Henkerbeil zu drohen.

CASTI-PIANI. Das weiß ich. Ich habe dir aber schon mehrmals gesagt, daß du gar nicht mein Fall bist. Ich habe dich nicht ausgeraubt, weil du mich liebtest, sondern ich habe dich geliebt, um dich ausrauben zu können. Bianetta ist mir von oben bis unten angenehmer als du. Du stellst die ausgesuchtesten Leckerbissen zusammen, und wenn man seine Zeit verplempert hat, ist man hungriger als vorher. Du liebst schon zu lang, auch für unsere hiesigen Verhältnisse. Einem gesunden jungen Menschen ruinierst du nur das Nervensystem. Um so vorteilhafter eignest du dich für die Stellung, die ich dir ausgesucht habe.

LULU.
Du bist verrückt! – Habe ich dich beauftragt, mir eine Stellung zu verschaffen?
[347]
CASTI-PIANI. Ich sagte dir doch, daß ich Stellenvermittlungsagent bin.
LULU.

Du sagtest mir, du seiest Polizeispion.

CASTI-PIANI. Davon allein kann man nicht leben. Ursprünglich war ich Stellenvermittlungsagent, bis ich über ein Pfarrerstöchterchen stolperte, dem ich eine Stellung in Valparaiso verschafft hatte. Das Herzblättchen hatte sich in seinen kindlichen Träumen das Leben noch berauschender vorgestellt als es ist und beklagte sich deshalb bei Mama. Darauf wurde ich festgesetzt. Durch charaktervolles Benehmen gewann ich mir aber rasch das Vertrauen der Kriminalpolizei. Mit einem Monatswechsel von hundertfünfzig Mark schickte man mich hierher, weil man wegen der ewigen Bombenattentate unser hiesiges Kontingent verdreifachte. Aber wer kommt hier mit hundertfünfzig Mark im Monat aus? – Meine Kollegen lassen sich von Weibern aushalten. Mir lag es natürlich näher, meinen früheren Beruf wieder aufzunehmen, und von den unzähligen Abenteurerinnen, die sich hier aus den besten Familien der ganzen Welt zusammenfinden, habe ich schon manches lebenshungrige junge Geschöpf an den Ort seiner natürlichen Bestimmung befördert.

LULU
mit Entschiedenheit.

Ich tauge nicht für diesen Beruf.

CASTI-PIANI. Deine Ansichten über diese Frage sind mir vollkommen gleichgültig. Die Staatsanwaltschaft bezahlt demjenigen, der die Mörderin des Doktor Schön der Polizei in die Hand liefert, tausend Mark. Ich brauche nur den Polizisten heraufzupfeifen, der unten an der Ecke steht, dann habe ich tausend Mark verdient. Dagegen bietet das Etablissement Oikonomopulos in Kairo sechzig Pfund für dich. Das sind zwölfhundert Mark, also zweihundert Mark mehr, als der Staatsanwalt bezahlt. Übrigens bin ich immerhin noch soweit Menschenfreund, um meinen Lieben lieber zum Glücke zu verhelfen, als daß ich sie ins Unglück stürze.

LULU
wie oben.

Das Leben in einem solchen Haus kann ein Weib von meinem Schlag nie und nimmer glücklich machen. Als ich fünfzehn Jahre alt war, hätte mir das gefallen können. Damals verzweifelte ich daran, daß ich [348] jemals glücklich werden würde. Ich kaufte mir einen Revolver und lief nachts barfuß durch den tiefen Schnee über die Brücke in die Anlagen, um mich zu erschießen. Dann lag ich aber glücklicherweise drei Monate im Krankenhaus, ohne einen Mann zu Gesicht zu bekommen. In jener Zeit gingen mir die Augen über mich auf und ich erkannte mich. In meinen Träumen sah ich Nacht für Nacht den Mann, für den ich geschaffen bin und der für mich geschaffen ist. Und als ich dann wieder auf die Männer losgelassen wurde, da war ich keine dumme Gans mehr. Seither sehe ich es jedem bei stockfinsterer Nacht auf hundert Schritt Entfernung an, ob wir füreinander bestimmt sind. Und wenn ich mich gegen meine Erkenntnis versündige, dann fühle ich mich am nächsten Tage an Leib und Seele beschmutzt und brauche Wochen, um den Ekel, den ich vor mir empfinde, zu überwinden. Und nun bildest du dir ein, ich werde mich jedem Lumpenkerl hingeben!

CASTI-PIANI. Lumpenkerle verkehren bei Oikonomopulos in Kairo nicht. Seine Kundschaft setzt sich aus schottischen Lords, aus russischen Würdenträgern, indischen Gouverneuren und unseren flotten rheinischen Großindustriellen zusammen. Ich muß nur dafür garantieren, daß du Französisch sprichst. Bei deinem eminenten Sprachtalent wirst du übrigens auch rasch genug so viel Englisch lernen, wie du zu deiner Tätigkeit nötig hast. Dabei residierst du in einem fürstlich ausgestatteten Appartement mit dem Ausblick auf die Minaretts der El Azhar-Moschee, wandelst den ganzen Tag auf faustdicken persischen Teppichen, kleidest dich jeden Abend in eine märchenhafte Pariser Balltoilette, trinkst soviel Sekt wie deine Kunden bezahlen können; und schließlich bleibst du ja auch bis zu einem gewissen Grad deine eigene Herrin. Wenn dir der Mann nicht gefällt, dann brauchst du ihm keinerlei Empfindung entgegenzubringen. Du läßt ihn seine Karte abgeben und damit holla! Wenn sich die Damen darauf nicht einübten, dann wäre die ganze Sache überhaupt unmöglich, weil jede nach den ersten vier Wochen mit Sturmschritt zum Teufel ginge.

LULU
mit zitternder Stimme.

Ich glaube wirklich, seit gestern [349] ist in deinem Gehirn irgend etwas nicht mehr wie es sein soll! Soll ich mir einreden lassen, daß der Ägypter für eine Person, die er gar nicht kennt, fünfhundert Francs bezahlt?

CASTI-PIANI. Ich habe mir erlaubt, ihm deine Bilder zu schicken!

LULU.

Die Bilder hast du ihm geschickt, die ich dir gab?

CASTI-PIANI. Du siehst, daß er sie besser zu würdigen weiß als ich. Das Bild, auf dem du als Eva vor dem Spiegel stehst, wird er, wenn du dort bist, wohl unter der Haustür aufhängen. Dann kommt für dich noch eins in Betracht. Bei Oikonomopulos in Kairo bist du vor deinen Henkern sicherer, als wenn du dich in einen kanadischen Urwald verkriechst. Man überführt so leicht keine ägyptische Kurtisane in ein deutsches Gefängnis, erstens schon aus Sparsamkeitsrücksichten und zweitens aus Furcht, man könnte dadurch der ewigen Gerechtigkeit zu nahe treten.

LULU
stolz, mit heller Stimme.

Was schert mich eure ewige Gerechtigkeit! Du kannst dir an deinen fünf Fingern abzählen, daß ich mich nicht in ein solches Vergnügungslokal sperren lasse.

CASTI-PIANI. Dann erlaubst du, daß ich den Polizisten heraufpfeife?

LULU
verwundert.

Warum bittest du mich nicht einfach um zwölfhundert Mark, wenn du das Geld nötig hast?

CASTI-PIANI. Ich habe gar kein Geld nötig! – Übrigens bitte ich dich deshalb nicht darum, weil du auf dem trocknen bist.

LULU.

Wir haben noch dreißigtausend Mark.

CASTI-PIANI. In Jungfrauaktien! Ich habe mich nie mit Aktien abgegeben. Der Staatsanwalt bezahlt in deutscher Reichswährung und Oikonomopulos zahlt in englischem Gold. Du kannst morgen früh an Bord sein. Die Überfahrt dauert nicht viel mehr als fünf Tage. In spätestens vierzehn Tagen bist du in Sicherheit. Hier stehst du dem Gefängnis näher als irgendwo. Es ist ein Wunder, das ich als Geheimpolizist nicht verstehe, daß ihr ein volles Jahr unbehelligt habt leben können. Aber so gut wie ich euren Antezedenzien auf die Spur kam, kann bei deinem starken Verbrauch an Männern jeden Tag einer meiner Kollegen die glückliche Entdeckung machen. [350] Dann darf ich mir den Mund wischen, und du verbringst deine genußfähigsten Lebensjahre im Zuchthaus. Willst du dich, bitte, gleich entscheiden. Um halb ein Uhr fährt der Zug. Sind wir bis elf Uhr nicht handelseinig, dann pfeife ich den Polizisten herauf. Andernfalls packe ich dich, so wie du dastehst, in einen Wagen, fahre dich nach dem Bahnhof und begleite dich morgen abend aufs Schiff.

LULU.
Es kann dir damit doch unmöglich ernst sein?
CASTI-PIANI. Begreifst du denn nicht, daß es mir nur um deine leibliche Rettung zu tun ist?
LULU.

Ich gehe mit dir nach Amerika, nach China; aber ich kann mich selbst nicht verkaufen lassen! Das ist schlimmer als Gefängnis.

CASTI-PIANI. Lies einmal diesen Herzenserguß! Er zieht einen Brief aus der Tasche. Ich werde ihn dir vorlesen. Hier ist der Poststempel »Kairo«, damit du nicht glaubst, ich arbeite mit gefälschten Dokumenten. Das Mädchen ist Berlinerin, war zwei Jahre verheiratet, und das mit einem Mann, um den du sie beneidet hättest, einem ehemaligen Kameraden von mir. Er reist jetzt in Diensten einer Hamburger Kolonialgesellschaft.

LULU
munter.

Dann besucht er seine Frau ja vielleicht gelegentlich?

CASTI-PIANI. Das ist nicht ausgeschlossen. Aber höre diesen impulsiven Ausdruck ihrer Gefühle! Mein Mädchenhandel erscheint mir durchaus nicht ehrenvoller, als ihn der erste beste Richter taxieren würde; aber solch ein Freudenschrei läßt mich für den Augenblick eine gewisse sittliche Genugtuung empfinden. Ich bin stolz darauf, mein Geld damit zu verdienen, daß ich das Glück mit vollen Händen ausstreue. Er liest. »Lieber Herr Meier!« – So heiße ich als Mädchenhändler. – »Wenn Sie nach Berlin kommen, gehen Sie bitte sofort in das Konservatorium an der Potsdamer Straße und fragen Sie nach Gusti von Rosenkron – das schönste Weib, das ich je in Natur gesehen habe; entzückende Hände und Füße, von Natur schmale Taille, gerader Rücken, strotzender Körper, große Augen und Stumpfnase – ganz so, wie Sie es bevorzugen. Ich habe ihr schon geschrieben. Mit der Singerei[351] hat sie keine Aussicht. Die Mutter hat keinen Pfennig. Leider schon zweiundzwanzig, aber verschmachtend nach Liebe. Kann nicht heiraten, weil vollkommen mittellos. Habe mit Madame gesprochen. Man nimmt mit Vergnügen noch eine Deutsche, wenn gut erzogen und musikalisch Italienerinnen und Französinnen können mit uns nicht wetteifern, weil zu wenig Bildung. Wenn Sie Fritz sehen sollten ...« – Fritz ist der Mann; er läßt sich natürlich scheiden – »... dann sagen Sie ihm, alles war Langeweile. Er wußte es nicht besser, ich wußte es auch nicht ...« Jetzt folgt die genauere Aufzählung ...

LULU
verhetzt.
Ich kann nicht das einzige verkaufen, das je mein eigen war.
CASTI-PIANI. Laß mich doch weiter lesen!
LULU
wie oben.

Ich liefere dir heute abend noch unser ganzes Vermögen aus.

CASTI-PIANI. Glaub mir doch um Gottes willen, daß ich euren letzten Heller schon bekommen habe. Wenn wir nicht bis elf Uhr das Haus verlassen haben, dann transportiert man dich morgen mit deiner Sippschaft per Schub nach Deutschland.

LULU.

Du kannst mich nicht ausliefern!

CASTI-PIANI. Meinst du, das wäre das schlimmste, was ich in meinem Leben gekonnt habe?! Ich muß für den Fall, daß wir heute nacht fahren, nur rasch noch ein Wort mit Bianetta reden.


Casti-Piani geht ins Spielzimmer, die Tür hinter sich auflassend. Lulu starrt vor sich hin, das Billett, das ihr Rodrigo zusteckte und das sie während des ganzen Gespräches zwischen den Fingern hielt, mechanisch zerknitternd. Alwa erhebt sich hinter dem Spieltisch, ein Wertpapier in der Hand und kommt in den Salon.
ALWA
zu Lulu.

Brillant! Es geht brillant! Die Geschwitz setzt eben ihr letztes Hemd. Puntschu hat mir noch zehn Jungfrauaktien versprochen. Die Steinherz macht ihre kleinen Profitchen. Er geht nach rechts vorne ab.

LULU
allein.
Ich in ein Bordell? – – Sie liest den Zettel, den sie in der Hand hält, und lacht wie toll.
[352]
ALWA
kommt von rechts vorn zurück, eine Kassette in der Hand.
Machst du denn nicht mit?
LULU.
Gewiß, gewiß. Warum nicht!
ALWA.

Apropos, im »Berliner Tageblatt« steht heute, daß sich der Alfred Hugenberg im Gefängnis ins Treppenhaus hinuntergestürzt hat.

LULU.
Ist denn der auch im Gefängnis?
ALWA.
Nur in einer Art von Präventivhaft.

Alwa geht ins Spielzimmer ab. Lulu will ihm folgen.
In der Tür tritt ihr die Gräfin Geschwitz entgegen.
DIE GESCHWITZ.
Du gehst, weil ich komme?
LULU
entschlossen.
Weiß Gott, nein. Aber wenn du kommst, dann gehe ich.
DIE GESCHWITZ.

Du hast mich um alles betrogen, was ich an Glücksgütern auf dieser Welt noch besaß. Du könntest in deinem Verkehr mit mir zum allerwenigsten die äußerlichen Anstandsformen wahren.

LULU
wie oben.

Ich bin gegen dich so anständig, wie gegen jede andere Frau. Ich bitte dich nur, es auch mir gegenüber zu sein.

DIE GESCHWITZ.

Hast du die leidenschaftlichen Beteuerungen vergessen, durch die du mich, während wir zusammen im Krankenhaus lagen, dazu verführtest, daß ich mich für dich ins Gefängnis sperren ließ?

LULU.

Wozu hast du mir denn vorher die Cholera angehängt?! Ich habe während des Prozesses noch ganz andere Dinge beschworen, als was ich dir versprechen mußte. Mich schüttelt das Entsetzen bei dem Gedanken, daß das jemals Wirklichkeit werden sollte!

DIE GESCHWITZ.
Dann betrogst du mich also mit vollem Bewußtsein?!
LULU
munter.

Um was bist du denn betrogen? Deine körperlichen Vorzüge haben hier einen so begeisterten Bewunderer gefunden, daß ich mich frage, ob ich nicht noch einmal Klavierunterricht geben muß, um mein Dasein zu fristen. Kein siebzehnjähriges Kind macht einen Mann liebestoller, als du Ungeheuer den braven Kerl durch deine Widerspenstigkeit machst!

DIE GESCHWITZ.
Von wem sprichst du? Ich verstehe kein Wort.
[353]
LULU
wie oben.

Ich spreche von deinem Kunstturner, von Rodrigo Quast. Er ist Athlet; er balanciert zwei gesattelte Kavalleriepferde auf seinem Brustkasten. Kann sich eine Frau etwas Herrlicheres wünschen? Er sagte mir eben noch, daß er diese Nacht ins Wasser springe, wenn du dich seiner nicht erbarmst.

DIE GESCHWITZ.

Ich beneide dich nicht um deine Geschicklichkeit, die hilflosen Opfer, die dir durch unerforschliche Bestimmung überantwortet sind, zu martern. Ich kann dich überhaupt nicht beneiden. Ein Bedauern, wie ich es mit dir fühle, hat mir mein eigener Jammer noch nicht abgerungen. Ich fühle mich frei wie ein Gott bei dem Gedanken, welcher Kreaturen Sklavin du bist!

LULU.
Von wem sprichst du denn?
DIE GESCHWITZ.

Ich spreche von Casti-Piani, dem die verworfenste Niederträchtigkeit in lebenden Buchstaben auf der Stirn geschrieben steht.

LULU.

Schweig! Ich gebe dir Tritte in den Leib, wenn du schlecht von dem Jungen sprichst. Er liebt mich mit einer Aufrichtigkeit, gegen die deine abenteuerlichsten Aufopferungen eine Bettelei sind. Er gibt mir Beweise von Selbstverleugnung, die mir dich erst in deiner ganzen Abscheulichkeit zeigen. Du bist im Leib deiner Mutter nicht fertig geworden, weder als Weib noch als Mann. Du bist kein Menschenkind wie wir andern. Für einen Mann war der Stoff nicht ausreichend und zum Weib hast du zuviel Hirn in deinen Schädel bekommen. Deshalb bist du verrückt! Wende dich an Fräulein Bianetta. Die ist gegen Bezahlung zu allem zu haben. Drück ihr ein Goldstück in die Hand, dann gehört sie dir.


Bianetta, Magelone, Ludmilla Steinherz, Rodrigo, Casti-Piani, Puntschu, Heilmann und Alwa kommen aus dem Spielzimmer in den Salon.
LULU.
Um Gottes willen, was ist passiert?
PUNTSCHU.
Aber nicht das geringste! Wir haben Durst; das ist alles!
MAGELONE.
Alle Welt hat gewonnen; es ist nicht zu glauben!
BIANETTA.
Mir scheint, ich habe ein ganzes Vermögen gewonnen!
LUDMILLA STEINHERZ.
Rühmen Sie sich dessen nicht, mein Kind! Das bringt kein Glück.
[354]
MAGELONE.
Aber die Bank hat ja auch gewonnen! Wie ist das nur möglich!
ALWA.
Es ist ganz pyramidal, wo all das Geld herkommt!
CASTI-PIANI. Fragen wir nicht danach! Genug, daß man den Champagner nicht zu sparen braucht!
HEILMANN.
Ich kann mir nachher wenigstens ein Abendessen in einem anständigen Restaurant bezahlen!
ALWA.
Zum Büfett, meine Damen! Kommen Sie zum Büfett!

Die ganze Gesellschaft begibt sich ins Speisezimmer. – Lulu wird von Rodrigo zurückgehalten.
RODRIGO.
Einen Moment, mein Herz. – Hast du meinen Liebesbrief gelesen?
LULU.

Droh mir mit Anzeigen soviel du Lust hast! Ich habe das Geld nicht mehr zwanzigtausendweis zur Verfügung.

RODRIGO.

Lüg mich nicht an, du Dirne! Ihr habt noch vierzigtausend in Jungfrauaktien; dein sogenannter Gatte hat eben selbst noch damit geprahlt!

LULU.
Dann wende dich mit deinen Erpressungen doch an ihn! Mir ist es egal, was er mit seinem Gelde tut.
RODRIGO.

Ich danke dir! Bei dem Hornochsen brauche ich zweimal vierundzwanzig Stunden, bis er begreift, wovon die Rede ist. Und dann kommen seine Auseinandersetzungen, denen gegenüber einem sterbensübel wird. Derweil schreibt mir meine Braut: »Aus ist es!« und ich kann den Leierkasten umhängen.

LULU.
Hast du dich denn hier verlobt?
RODRIGO.

Ich hätte dich wohl erst um Erlaubnis fragen sollen? Was war hier mein Dank dafür, daß ich dich auf Kosten meiner Gesundheit aus dem Gefängnis befreit habe? – Ihr habt mich preisgegeben! Ich hätte Packträger werden können, wenn mich dieses Mädchen nicht aufgenommen hätte. Bei meinem Auftreten warf man mir gleich am ersten Abend einen Samtfauteuil an den Kopf. Diese Nation ist zu heruntergekommen, um noch gediegene Kraftleistungen zu würdigen. Wäre ich ein boxendes Känguruh, dann hätten sie mich interviewt und in allen Zeitungen abgebildet. Gott sei Dank hatte ich schon die Bekanntschaft meiner Cölestine gemacht. Sie hat die Ersparnisse zwanzigjähriger Arbeit auf der [355] Staatsbank deponiert. Dabei liebt sie mich um meiner selbst willen. Sie geht nicht wie du nur auf Gemeinheiten aus. Sie hat drei Kinder von einem amerikanischen Bischof, die alle zu den schönsten Hoffnungen berechtigen. Übermorgen früh werden wir uns standesamtlich trauen lassen.

LULU.
Meinen Segen hast du dazu.
RODRIGO.

Dein Segen kann mir gestohlen werden! Ich habe meiner Braut gesagt, ich hätte zwanzigtausend in Wertpapieren auf der Bank liegen.

LULU
vergnügt.
Dabei prahlt der Kerl noch, daß ihn die Person um seiner selbst willen liebt!
RODRIGO.

Meine Cölestine verehrt den Gemütsmensch in mir, und nicht den Kraftmenschen, wie du das getan hast und all die anderen. Das ist jetzt überstanden! Erst rissen sie einem die Kleider vom Leib und dann wälzten sie sich mit der Kammerjungfer herum. Ich will ein Totengerippe sein, wenn ich mich noch jemals auf solche Belustigungen einlasse!

LULU.
Warum zum Henker verfolgst du denn eigentlich die unglückliche Geschwitz mit deinen Anträgen?
RODRIGO.

Weil das Frauenzimmer von Adel ist. Ich bin Weltmann und verstehe mich besser als irgendeiner von euch auf den vornehmen Konversationston. – Aber jetzt hängt mir das Gespräch zum Halse heraus. Wirst du mir bis morgen abend das Geld verschaffen oder nicht?

LULU.
Ich habe kein Geld.
RODRIGO.

Ich will Hühnerdreck im Kopf haben, wenn ich mich damit abspeisen lasse! Er gibt dir den letzten Pfennig, den er hat, wenn du nur einmal deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit tust! Du hast den armen Jungen hierher gelockt, und jetzt kann er sehen, wo er ein passendes Engagement für seine Kenntnisse auftreibt.

LULU.
Was schert es dich, ob er das Geld mit Weibern oder am Spieltisch vertut?!
RODRIGO.

Wollt ihr denn mit Gewalt den letzten Pfennig, den sich sein Vater an der Zeitung verdient hat, diesem wildfremden Pack in den Rachen jagen?! Du machst vier Menschen glücklich, wenn du fünf gerade sein läßt [356] und dich einem wohltätigen Zweck opferst! Muß es denn immer und immer nur Casti-Piani sein!

LULU
munter.
Soll ich ihn vielleicht bitten, daß er dir die Treppe hinunter leuchtet?
RODRIGO.

Wie Sie wünschen, Frau Gräfin! Wenn ich bis morgen abend die zwanzigtausend Mark nicht habe, dann erstatte ich Anzeige bei der Polizei und eure Hofhaltung hat ein Ende. – Auf Wiedersehen!


Journalist Heilmann kommt atemlos von rechts hinten.
LULU.
Sie suchen Fräulein Magelone? – Sie ist nicht hier.
HEILMANN.
Nein, ich suche etwas anderes.
RODRIGO
ihm die gegenüberliegende Entreetür weisend.
Die zweite Tür links, bitte.
LULU
zu Rodrigo.
Hast du das bei deiner Braut gelernt?
HEILMANN
stößt in der Entreetür auf Bankier Puntschu.
Pardon, mein Engel!
PUNTSCHU.
Ach, Sie sind's! Fräulein Magelone erwartet Sie im Lift.
HEILMANN.
Fahren Sie doch bitte mit ihr hinauf. Ich bin gleich zurück.

Eilt durch die Entreetür ab. Lulu geht ins Speisezimmer; Rodrigo folgt ihr.
PUNTSCHU
allein.

Ist das eine Hitze! – – Schneid ich dir die Ohren nicht ab, schneidst du sie mir! – – Kann ich nicht vermieten mein Josaphat, muß ich mir helfen mit meinem Verstand! – Wird er nicht runzlig, mein Verstand; wird er nicht unpäßlich; braucht er nicht zu baden in Eau de Cologne.


Bob, ein Groom in rotem Jackett, prallen Lederhosen und blinkenden Stulpstiefeln, fünfzehn Jahr alt, überbringt ein Telegramm.
BOB.
Herrn Bankier Puntschu!
PUNTSCHU
erbricht das Telegramm und murmelt.

»Jungfrau Drahtseilbahn-Aktien gefallen auf ...« – Ja, ja, so ist die Welt –! Zu Bob. Warte! Gibt ihm ein Trinkgeld. Sag mal – wie heißt du eigentlich?

BOB.
Ich heiße eigentlich Fredy, aber man nennt mich Bob, weil das jetzt Mode ist.
[357]
PUNTSCHU.
Wie alt bist du denn?
BOB.
Fünfzehn.
KADIDJA
tritt zögernd aus dem Speisezimmer ein.
Entschuldigen Sie, können Sie mir nicht sagen, ob Mama nicht hier ist?
PUNTSCHU.
Nein, mein Kind. – Für sich. Zum Teufel, die hat Rasse!
KADIDJA.
Ich suche sie überall; ich kann sie gar nirgends finden.
PUNTSCHU.

Deine Mama kommt schon wieder zum Vorschein; so wahr ich Puntschu heiße! – – Auf Bob sehend. Und das Paar Kniehosen! – – Gott der Gerechte! – – Es wird einem unheimlich! Nach rechts hinten ab.

KADIDJA
zu Bob.
Haben Sie nicht vielleicht meine Mama gesehen?
BOB.
Nein, aber Sie brauchen nur mit mir zu kommen.
KADIDJA.
Wo ist sie denn?
BOB.
Sie ist im Lift hinaufgefahren. Kommen Sie nur!
KADIDJA.
Nein, nein, ich fahre nicht mit hinauf.
BOB.
Wir können uns oben auf dem Korridor verstecken.
KADIDJA.
Nein, nein – ich komme nicht, sonst krieg ich Schelte.

Magelone stürzt in heilloser Aufregung durch die Entreetür herein und bemächtigt sich Kadidjas.
MAGELONE.
Ha, da bist du ja endlich, du gemeines Geschöpf!
KADIDJA
heulend.
O Mama, Mama, ich habe dich gesucht!
MAGELONE.

Du hast mich gesucht?! Hab ich dich geheißen, mich zu suchen?! Was hast du mit diesem Mannsbild gehabt?


Heilmann, Alwa, Ludmilla Steinherz, Puntschu, die Gräfin Geschwitz und Lulu treten aus dem Speisezimmer ein. – Bob hat sich gedrückt.
MAGELONE
zu Kadidja.
Daß du mir den Leuten nichts vorheulst! das sag ich dir!

Alle umringen Kadidja.
LULU.
Aber du weinst ja, mein süßes Herzblatt! Warum weinst du denn?
PUNTSCHU.
Weiß Gott, sie hat wahrhaftig geweint! Wer hat dir denn was zuleide getan, du kleine Göttin!
LUDMILLA STEINHERZ
kniet vor ihr nieder und schließt sie in die Arme.

Sag mir, mein Engelsgeschöpfchen, was es [358] Schlimmes gegeben hat. Willst du Kuchen? Willst du Schokolade?

MAGELONE.

Das sind die Nerven. Das kommt viel zu früh bei dem Kind. Das beste wäre jedenfalls, man achtete gar nicht darauf!

PUNTSCHU.

Das sieht Ihnen ähnlich! Sie sind eine Rabenmutter! Das Gericht wird Ihnen das Kind noch fortnehmen und mich zu seinem Vormund bestellen! Kadidja die Wangen streichelnd. Nicht wahr, meine kleine Göttin?

DIE GESCHWITZ.
Ich wäre froh, wenn man endlich wieder mit Bakkarat anfinge?

Die Gesellschaft begibt sich ins Speisezimmer; Lulu wird an der Tür von Bob zurückgehalten, der ihr etwas zuflüstert.
LULU.
Gewiß! Laß ihn nur eintreten!

Bob öffnet die Tür zum Korridor und läßt Schigolch eintreten. Schigolch trägt Frack, weiße Halsbinde, schiefgetretene Lackstiefel und einen schäbigen Klapphut, den er aufbehält.
SCHIGOLCH
mit einem Blick auf Bob.
Wo hast du den her?
LULU.
Aus dem Zirkus.
SCHIGOLCH.
Wieviel Lohn bekommt er?
LULU.
Frag ihn, wenn es dich interessiert. Zu Bob. Schließ die Türe.

Bob geht ins Speisezimmer und schließt die Tür hinter sich.
SCHIGOLCH
sich setzend.
Ich brauche nämlich notwendig Geld. Ich habe meiner Geliebten eine Wohnung gemietet.
LULU.
Hast du dir hier auch noch eine Geliebte genommen?
SCHIGOLCH.

Sie ist Frankfurterin. In ihrer Jugend war sie die Frau des Königs von Neapel. Sie sagt mir jeden Tag, daß sie früher einmal sehr bestrickend gewesen sei.

LULU
scheinbar in vollkommenster Ruhe.
Braucht sie das Geld sehr nötig?
SCHIGOLCH.
Sie will sich eine eigene Wohnung einrichten. Solche Summen spielen doch bei dir keine Rolle.
LULU
plötzlich von einem Weinkrampf überwältigt, stürzt Schigolch zu Füßen.
O du allmächtiger Gott!
[359]
SCHIGOLCH
sie streichelnd.
Nun? – Was gibt es denn wieder?
LULU
schluchzt krampfhaft.
Es ist zu grauenhaft!
SCHIGOLCH
zieht sie auf seine Knie und hält sie wie ein kleines Kind in den Armen.

Hm – du übernimmst dich, mein Kind. – Du mußt dich ausnahmsweise mal mit einem Roman zu Bett legen. – Weine nur; weine dich nur recht aus. – So hat es dich auch schon vor fünfzehn Jahren geschüttelt. Es hat seitdem kein Mensch mehr so geschrien, wie du damals hast schreien können. – Damals trugst du noch keinen weißen Federbusch auf dem Kopf und hattest auch keine durchsichtigen Strümpfe an. Du hattest weder Stiefel noch Strümpfe an deinen Beinen.

LULU
heulend.

Nimm mich mit dir nach Haus! Nimm mich diese Nacht mit zu dir! Ich bitte dich! Wir finden unten Wagen genug!

SCHIGOLCH.
Ich nehme dich mit; ich nehme dich mit. – Was gibt es denn?
LULU.
Es geht um meinen Hals! Man zeigt mich an!
SCHIGOLCH.
Wer? Wer zeigt dich an?
LULU.
Der Springfritze.
SCHIGOLCH
mit größter Seelenruhe.
Dem besorg ich es!
LULU
flehentlich.
Besorg es ihm! Ich bitte dich, besorg es ihm! Dann tu mit mir, was du willst!
SCHIGOLCH.

Wenn er zu mir kommt, ist er abgetan. Mein Fenster geht aufs Wasser. – Aber Den Kopf schüttelnd. er kommt nicht, er kommt nicht.

LULU.
Welche Nummer wohnst du?
SCHIGOLCH.
376, das letzte Haus vor dem Hippodrom.
LULU.

Ich schicke ihn hin. Er kommt mit der verrückten Person, die mir um die Füße kriecht; er kommt noch heute abend. Geh nach Hause, damit sie es behaglich finden.

SCHIGOLCH.
Laß sie nur kommen.
LULU.
Morgen bring mir seine goldenen Ringe, die er in den Ohren trägt.
SCHIGOLCH.
Hat er Ringe in den Ohren?
LULU.
Du kannst sie herausnehmen, bevor du ihn hinunterläßt. Er merkt nichts davon, wenn er betrunken ist.
SCHIGOLCH.
Und dann, mein Kind? Was dann?
LULU.
Dann gebe ich dir das Geld für deine Geliebte.
[360]
SCHIGOLCH.
Das nenne ich aber geizig.
LULU.
Was du sonst noch magst! Was ich habe!
SCHIGOLCH.
Bald sind es zehn Jahre, daß wir uns nicht mehr kennen.
LULU.
Wenn es weiter nichts ist? Aber du hast doch eine Geliebte.
SCHIGOLCH.
Meine Frankfurterin ist nicht mehr von heute.
LULU.
Aber dann schwöre!
SCHIGOLCH.
Aber habe ich dir je nicht Wort gehalten?
LULU.
Schwöre, daß du es ihm besorgst!
SCHIGOLCH.
Ich besorge es ihm.
LULU.
Schwöre es mir! Schwöre es mir!
SCHIGOLCH
legt seine Hand an ihren Fußknöchel.
– Bei allem was heilig ist! – Heute nacht, wenn er kommt. –
LULU.
Bei allem, was heilig ist! – – Wie das kühlt!
SCHIGOLCH.
Wie das glüht!
LULU.
Fahre nur gleich nach Haus. Sie kommen in einer halben Stunde! Nimm einen Wagen!
SCHIGOLCH.
Ich gehe schon.
LULU.
Rasch! Ich bitte dich! – – – Allmächtiger ...
SCHIGOLCH.
Was starrst du mich jetzt schon wieder so an?
LULU.
Nichts ...
SCHIGOLCH.
Nun? – Ist dir deine Zunge angefroren?
LULU.
Mein Strumpfband ist aufgegangen ...
SCHIGOLCH.
Wennschon! Was weiter?
LULU.
Was bedeutet das?
SCHIGOLCH.
Was das bedeutet? Ich binde es dir, wenn du still hältst.
LULU.
Das bedeutet ein Unglück!
SCHIGOLCH
gähnend.
Nicht für dich, mein Kind. Sei getrost, ich besorg es ihm. – Ab.

Lulu setzt den linken Fuß auf einen Schemel, bindet ihr Strumpfband und geht ins Spielzimmer ab. – Rodrigo wird von Casti-Piani aus dem Speisezimmer in den Salon gepufft.
RODRIGO.

Behandeln Sie mich doch wenigstens anständig!

CASTI-PIANI vollkommen apathisch. Was könnte mich denn dazu veranlassen?! Ich will wissen, was Sie vorhin mit der Frau hier gesprochen haben!

[361]
RODRIGO.

Dann können Sie mich gernhaben!

CASTI-PIANI. Willst du Hund mir Rede und Antwort stehn! Du hast von ihr verlangt, sie soll mit dir im Lift hinauffahren!

RODRIGO.

Das ist eine unverschämte perfide Lüge!

CASTI-PIANI. Sie erzählte es mir selbst! Du hast ihr gedroht, sie zu denunzieren, wenn sie nicht mit dir kommt! Soll ich dich über den Haufen schießen?

RODRIGO.

Die schamlose Person! – Als könnte mir so etwas einfallen! – Wenn ich sie selber haben will, brauche ich ihr, weiß Gott im Himmel, nicht erst mit Gefängnis zu drohen!

CASTI-PIANI. Danke schön. Weiter wollte ich nichts wissen.


Durch die Entreetür ab.
RODRIGO.

So ein Hund! – Ein Kerl, den ich an die Decke werfe, daß er klebenbleibt, wie ein Limburger Käse! – – Komm her, wenn ich dir die Därme um den Hals wickeln soll! – – Das wäre noch schöner!

LULU
kommt aus dem Speisezimmer, lustig.
Wo bleibst denn du? – Man muß dich suchen wie eine Stecknadel.
RODRIGO.
Dem habe ich gezeigt, was es heißt, mit mir anzufangen!
LULU.
Wem denn?
RODRIGO.
Deinem Casti-Piani! Wie kannst du Dirne dem Kerl erzählen, ich hätte dich verführen wollen?!
LULU.

Hast du nicht von mir verlangt, daß ich mich für zwanzigtausend in Jungfrauaktien dem Sohn meines verstorbenen Mannes hingebe?!

RODRIGO.

Weil es deine Pflicht ist, dich des armen Jungen zu erbarmen! Du hast ihm seinen Vater in den schönsten Lebensjahren vor der Nase weggeschossen! Aber dein Casti-Piani überlegt es sich, bevor er mir wieder unter die Augen kommt. Dem gebe ich eins vor den Bauch, daß ihm die Kaldaunen wie Leuchtkugeln zum Himmel fliegen. Wenn du keinen besseren Ersatz für mich hast, dann bedaure ich, jemals deine Gunst besessen zu haben!

LULU.

Die Geschwitz hat die fürchterlichsten Zustände. Sie windet sich in Krämpfen. Sie ist im stande und springt ins Wasser, wenn du sie noch länger warten läßt.

RODRIGO.
Worauf wartet das Vieh denn?
[362]
LULU.
Auf dich, daß du sie mitnimmst.
RODRIGO.
Dann sag ihr, ich lasse sie grüßen und sie soll ins Wasser springen.
LULU.

Sie leiht mir zwanzigtausend Mark, um mich vor dem Verderben zu retten, wenn du sie selber davor bewahrst. Wenn du sie heute mit dir nimmst, deponiere ich morgen zwanzigtausend Mark für dich auf irgendeiner Bank.

RODRIGO.
Und wenn ich sie nicht mitnehme?
LULU.
Dann zeig mich an! Alwa und ich sind auf dem trockenen.
RODRIGO.
Himmel, Tod und Wolkenbruch!
LULU.

Du machst vier Menschen glücklich, wenn du fünfe gerad sein läßt und dich einem wohltätigen Zweck opferst.

RODRIGO.

Das wird nicht gehn; ich weiß es im voraus. Ich habe das jetzt genug ausprobiert. Wer rechnet bei dem Knochengerüste auch auf solch ein ehrliches Gemüt! Was die Person für mich hatte, war der Umstand, daß sie Aristokratin ist. Mein Benehmen war so gentlemanlike, wie man es bei deutschen Artisten überhaupt nicht findet. Hätte ich sie nur jemals in die Waden gekniffen!

LULU
lauernd.
Sie ist noch Jungfrau.
RODRIGO
seufzend.

Wenn es einen Gott im Himmel gibt, dann werden dir deine Witze noch einmal heimgezahlt! Das prophezeie ich dir!

LULU.
Die Geschwitz wartet. Was soll ich ihr sagen?
RODRIGO.
Meine ergebenste Empfehlung und ich sei pervers.
LULU.
Das werde ich ausrichten.
RODRIGO.
Warte noch! – Ist es sicher, daß ich zwanzigtausend Mark von ihr erhalte?
LULU.
Frag sie selbst!
RODRIGO.

Dann sag ihr, ich sei bereit. Ich erwarte sie im Speisezimmer. Ich muß nur erst noch eine Tonne Kaviar versorgen.


Rodrigo geht ins Speisezimmer. Lulu öffnet die Tür zum Spielzimmer und ruft mit heller Stimme: »Martha!«, worauf die Gräfin Geschwitz in den Salon tritt und die Tür hinter sich schließt.
LULU
vergnügt.
Mein liebes Herz, du kannst mich heute vor dem Tode retten.
[363]
DIE GESCHWITZ.
Wie kann ich das?
LULU.
Wenn du mit dem Springfritzen nach einem Absteigequartier fährst.
DIE GESCHWITZ.
Wozu das, mein Lieb?
LULU.
Er sagt, du müßtest ihm heute abend noch angehören, sonst zeigt er mich morgen an.
DIE GESCHWITZ.
Du weißt, daß ich keinem Manne gehören kann; ich bin von meinem Verhängnis nicht dazu bestimmt.
LULU.

Wenn du ihm nicht gefällst, dann hat er das mit sich selbst auszumachen. Warum verliebt er sich in dich!

DIE GESCHWITZ.

Aber er wird brutal werden wie ein Henkersknecht. Er wird sich für seine Enttäuschung rächen und mir die Schläfen einschlagen. Ich habe das schon erlebt. – Ist es nicht möglich, daß du mir diese schwerste Prüfung ersparst?

LULU.
Was gewinnst du dabei, wenn er mich anzeigt?
DIE GESCHWITZ.

Ich habe in meinem Vermögen noch so viel, daß wir beide als Zwischendeckpassagiere nach Amerika fahren können. Dort wärst du vor all deinen Verfolgern in Sicherheit.

LULU
vergnügt und munter.

Ich will hier bleiben; ich kann in keiner anderen Stadt mehr glücklich sein. Du mußt ihm sagen, daß du ohne ihn nicht leben kannst. Dann fühlt er sich geschmeichelt und wird lammfromm. Du mußt auch den Kutscher bezahlen. Gib dem Kutscher diesen Zettel; da steht die Adresse drauf. Nummer 376 ist ein Hotel sechsten Ranges, in dem man dich mit ihm heute abend erwartet.

DIE GESCHWITZ.

Wie soll dir eine solche Ungeheuerlichkeit das Leben retten? – Ich verstehe das nicht. – Du hast, um mich zu martern, das furchtbarste Verhängnis heraufbeschworen, das über mich Geächtete hereinbrechen kann.

LULU
lauernd.
Vielleicht heilt dich die Begegnung!
DIE GESCHWITZ
seufzend.

O Lulu, wenn es eine ewige Vergeltung gibt, dann möchte ich nicht für dich einstehen müssen! Ich kann mich nicht darein finden, daß kein Gott über uns wacht. Und doch wirst du wohl recht haben, daß es nichts damit ist. Denn womit habe ich unbedeutender Wurm seinen Zorn gereizt, um nur Entsetzen [364] zu erleben, wo die ganze lebendige Schöpfung vor Seligkeit die Besinnung verliert!

LULU.

Du hast dich nicht zu beklagen. Wenn du glücklich wirst, dann bist du hundert- und tausendmal glücklicher, als es einer von uns gewöhnlichen Sterblichen jemals wird.

DIE GESCHWITZ.

Das weiß ich auch; ich beneide niemanden! Aber ich warte noch darauf. Du hast mich nun schon so oft betrogen.

LULU.

Ich bin dein, mein Liebling, wenn du den Springfritzen bis morgen beruhigst. Er will nur seine Eitelkeit befriedigt sehen; du mußt ihn beschwören, daß er sich deiner erbarme.

DIE GESCHWITZ.
Und morgen?
LULU.

Ich erwarte dich, mein Herz. Ich werde die Augen nicht aufschlagen, bevor du kommst. Ich sehe keine Kammerfrau, ich empfange keinen Friseur, ich werde die Augen nicht aufschlagen, bevor du bei mir bist.

DIE GESCHWITZ.
Dann laß ihn kommen.
LULU.
Aber du mußt dich ihm an den Hals werfen, mein Lieb! Hast du die Hausnummer noch?
DIE GESCHWITZ.
376. – Jetzt aber rasch!
LULU
ruft ins Speisezimmer.
Darf ich bitten, mein Liebling?
RODRIGO
kommt aus dem Speisezimmer.
Die Damen entschuldigen, daß ich das Maul voll habe.
DIE GESCHWITZ
ergreift seine Hand.
Ich bete Sie an! Erbarmen Sie sich meiner Not!
RODRIGO.
A la bonne heure! Besteigen wir das Schafott!

Er bietet der Gräfin Geschwitz den Arm und verläßt mit ihr den Salon.
LULU.

Gute Nacht, meine Kinder! – Sie begleitet das Paar auf den Korridor hinaus und kommt gleich darauf mit Bob zurück. Rasch, rasch, Bob! Wir müssen noch diesen Augenblick fort! Du begleitest mich! Aber wir müssen die Kleider wechseln.

BOB
kurz, hell.
Wie die gnädige Frau befehlen!
LULU
ihn bei der Hand nehmend.
Ach was, gnädige Frau! Du gibst mir deine Kleider und ziehst meine Kleider an. Komm!

Lulu und Bob ins Speisezimmer ab. Im Spielzimmer entsteht Lärm; die Türen werden aufgerissen. Puntschu, [365] Heilmann, Alwa, Bianetta, Magelone, Kadidja und Ludmilla Steinherz kommen in den Salon.
HEILMANN
ein Wertpapier in der Hand, auf dessen Titelkopf ein Alpenglühen zu sehen ist, zu Puntschu.
Wollen Sie wohl diese Jungfrauaktie akzeptieren, mein Herr!
PUNTSCHU.
Aber das Papier hat keinen Kurs, lieber Freund.
HEILMANN.
Sie Spitzbube! Sie wollen mir einfach keine Revanche geben!
MAGELONE
zu Bianetta.
Verstehen Sie vielleicht etwas von dem, was hier los ist?
LUDMILLA STEINHERZ.
Puntschu hat ihm all sein Geld abgenommen und jetzt gibt er das Spiel auf.
HEILMANN.
Jetzt kriegt er kalte Füße, der Saujude!
PUNTSCHU.

Wieso gebe ich das Spiel auf? Wieso krieg ich kalte Füße? Der Herr soll doch nur einfach bares Geld setzen! Bin ich hier in meiner Wechselstube? Seinen Wisch kann er mir ja morgen früh anbieten!

HEILMANN.
Einen Wisch nennen Sie das? – Die Aktie steht meines Wissens auf 210.
PUNTSCHU.

Gestern stand sie auf 210, da haben Sie recht. Heute steht sie überhaupt nicht mehr. Und morgen finden Sie gar nichts Billigeres und Geschmackvolleres zur Tapezierung Ihres Treppenhauses.

ALWA.
Wie ist denn das möglich?! – Dann wären wir ja auf dem Pflaster!
PUNTSCHU.

Was soll denn ich erst sagen, der ich mein ganzes Vermögen dabei verliere! Morgen früh habe ich das Vergnügen, den Kampf um eine gesicherte Existenz zum sechsunddreißigstenmal aufzunehmen!

MAGELONE
sich vordrängend.
Aber träum ich denn oder hör ich nicht recht?! Die Jungfrauaktien sollen gesunken sein??
PUNTSCHU.
Noch tiefer gesunken als Sie! – Sie können sie auch beim Lockenbrennen verwerten!
MAGELONE.
O du allmächtiger Gott! Zehn Jahre Arbeit!

Sie sinkt in Ohnmacht.
KADIDJA.
Wach auf, Mama! Wach auf!
BIANETTA.

Sagen Sie, Herr Puntschu, wo werden Sie heute zu Abend essen, weil Sie doch Ihr ganzes Vermögen verloren haben?

[366]
PUNTSCHU.

Wo es Ihnen beliebt, mein Fräulein! Führen Sie mich, wohin Sie wollen; aber rasch! Hier wird es jetzt fürchterlich.


Puntschu und Bianetta verlassen den Salon.
HEILMANN
ballt seine Aktie zusammen und wirft sie zu Boden.
Das hat man von dem Pack!
LUDMILLA STEINHERZ.

Warum spekulieren Sie auch auf die Jungfrau? Schicken Sie doch einige kleine Notizen über die Gesellschaft hier an die deutsche Polizei, dann gewinnen Sie schließlich doch noch was dabei.

HEILMANN.
Ich habe das noch nie in meinem Leben versucht, aber wenn Sie mir dabei behilflich sein wollen ...?
LUDMILLA STEINHERZ.

Lassen Sie uns in ein Restaurant gehen, das die ganze Nacht geöffnet ist. Kennen Sie den Fünffüßigen Hammel?

HEILMANN.
Ich bedaure sehr –
LUDMILLA STEINHERZ.

Oder Das Saugkalb oder den Rauchenden Hund? – Das liegt alles hier in der Nähe. Wir sind dort ganz unter uns. Bis zum Morgengrauen haben wir einen kleinen Artikel fertig.

HEILMANN.
Schlafen Sie denn nicht?
LUDMILLA STEINHERZ.
O gewiß; aber doch nicht bei Nacht!

Heilmann und Ludmilla Steinherz verlassen den Salon durch die Entreetür.
ALWA
seit längerer Zeit über Magelone gebeugt, die er aus ihrer Ohnmacht zu wecken sucht.

Eiskalte Hände hat sie! Ach – ist das ein prachtvolles Weib! – Man müßte ihr die Taille aufknöpfen! – Komm, Kadidja, knöpf deiner Mutter die Taille auf! Sie ist so furchtbar fest geschnürt.

KADIDJA
ohne sich vom Platz zu rühren.
Ich fürchte mich.

Lulu kommt aus dem Speisezimmer in Jockeimütze, rotem Jackett, weißen Lederhosen und Stulpstiefeln, einen Radmantel um die Schultern.
LULU.
Hast du noch bares Geld, Alwa?
ALWA
aufblickend.
Bist du verrückt geworden?
LULU.
In zwei Minuten kommt die Polizei. Wir sind angezeigt. Du kannst ja hierbleiben, wenn du Lust hast!
[367]
ALWA
aufspringend.
Allbarmherziger Himmel!

Lulu und Alwa durch die Entreetür ab.
KADIDJA
ihre Mutter schüttelnd, unter Tränen.
Mama! Mama! Wach doch auf! Alle sind fortgelaufen!
MAGELONE
zu sich kommend.
Und die Jugend dahin! – – Und die schönen Tage dahin! – – Oh, dieses Leben!
KADIDJA.

Aber ich bin doch jung, Mama! Warum soll denn ich kein Geld verdienen! – Ich mag nicht mehr ins Kloster. Ich bitte dich, Mama, behalte mich bei dir!

MAGELONE.

Gott segne dich, mein Herzblatt! Du weißt ja nicht, was du sprichst. – Ach nein, ich werde mich nach einem Engagement an einem Varietétheater umsehen und den Leuten mein Mißgeschick mit den Jungfrauaktien vorsingen. So was wird immer beklatscht.

KADIDJA.
Aber du hast ja keine Stimme, Mama!
MAGELONE.
Ach ja, das ist ja wahr!
KADIDJA.
Nimm mich doch mit in das Varietétheater!
MAGELONE.

Nein, es zerreißt mir das Herz! Aber wenn's denn nicht anders sein soll, und es ist dir mal so bestimmt, dann kann ich nichts daran ändern! – – Wir können ja morgen zusammen in die Olympiasäle gehen!

KADIDJA.
O Mama, wie ich mich darauf freue!
EIN POLIZEIKOMMISSÄR
in Zivil, vom Korridor eintretend.

Im Namen des Gesetzes – Sie sind verhaftet!

CASTI-PIANI ihm müde folgend. Aber was machen Sie denn da für Unsinn? Das ist ja gar nicht die Rechte!

[368]

3. Akt

Dritter Aufzug

Eine Dachkammer ohne Mansarden. Zwei große Scheiben in der Flucht des Daches öffnen sich nach oben. Rechts und links vorn je eine schlechtschließende Tür. Im linken Proszenium eine zerrissene graue Matratze. Rechts vorn ein wackliger Blumentisch, auf dem eine Flasche und eine qualmende Petroleumlampe stehen. Rechts hinten in der Ecke eine alte Chaiselongue; neben der Mitteltür ein durchsessener Strohsessel. Man hört den Regen aufs Dach schlagen; unter der Dachluke steht eine mit Wasser gefüllte Schale. Vorn auf der Matratze liegt Schigolch in langem grauen Paletot. Auf der Chaiselongue in der Ecke liegt Alwa Schön, in einen Plaid gewickelt, dessen Riemen über ihm an der Wand hängt.

SCHIGOLCH.
Der Regen trommelt zur Parade.
ALWA.

Ein stimmungsvolles Wetter für ihr erstes Auftreten! – Mir träumte eben, wir dinierten zusammen in den Olympiasälen. Bianetta war noch mit dabei. Das Tischtuch triefte auf allen vier Seiten von Champagner.

SCHIGOLCH.
Yes, yes – und mir träumte von einem Weihnachtspudding.
LULU
in halblangem Haar, das ihr offen über die Schultern fällt, erscheint barfuß, in abgerissenem schwarzen Kleide in der Türe rechts vorn.
SCHIGOLCH.
Wo bleibst du denn, mein Kind? – Du hast dir wohl erst noch die Haare gebrannt?
ALWA.
Sie tut das nur, um alte Erinnerungen aufzufrischen.
LULU.
Wenn man sich an einem von euch wenigstens etwas wärmen könnte!
ALWA.
Willst du denn deine Pilgerfahrt barfuß antreten?
SCHIGOLCH.

Der erste Schritt kostet immer allerhand Ächzen und Stöhnen. Vor zwanzig Jahren war das um kein Haar besser; und was hat sie seitdem gelernt! Die Kohlen müssen nur erst angefacht sein. Wenn sie acht Tage dabei [369] ist, halten sie keine zehn Lokomotiven mehr in unserer ärmlichen Dachkammer.

ALWA.
Die Schüssel läuft schon über.
LULU.
Wo soll ich denn hin mit dem Wasser?
ALWA.
Gieß es zum Fenster hinaus.
LULU
steigt auf einen Stuhl und leert die Schale durch die Dachluke hinaus.
Es scheint doch, der Regen will endlich nachlassen.
SCHIGOLCH.
Du vertrödelst die Stunde, wo die Kommis vom Abendessen nach Hause gehen.
LULU.
Wollte Gott, ich läge schon irgendwo, wo mich kein Fußtritt mehr weckt!
ALWA.

Das wünschte ich mir auch. Wozu dieses Leben noch in die Länge ziehen! Laßt uns lieber heute abend noch in Frieden und Eintracht zusammen verhungern. Es ist ja doch die letzte Station.

LULU.

Warum gehst denn du nicht hin und schaffst uns was zu essen?! Du hast in deinem ganzen Leben noch keinen Pfennig verdient!

ALWA.
Bei diesem Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Türe jagt!?
LULU.
Aber mich! Ich soll euch mit dem bißchen Blut, das ich noch in den Gliedern habe, den Mund stopfen.
ALWA.
Ich rühre keinen Happen an von dem Geld.
SCHIGOLCH.
Laß sie nur gehen. Ich sehne mich noch nach einem Weihnachtspudding; dann habe ich genug.
ALWA.

Und ich sehne mich noch nach einem Beefsteak und einer Zigarette, dann sterben! – Mir träumte eben von einer Zigarette, wie sie noch nie geraucht worden ist.

SCHIGOLCH.
Sie sieht uns lieber vor ihren Augen verenden, als daß sie sich eine kleine Freude macht.
LULU.

Die Menschen auf der Straße lassen mir eher Mantel und Rock in den Händen, ehe sie umsonst mitgehen. Hättet ihr meine Kleider nicht verkauft, dann brauchte ich wenigstens das Laternenlicht nicht zu scheuen. Ich möchte das Weib sehen, das in den Lumpen, die ich am Leib trage, noch was verdient.

ALWA.

Ich habe nichts Menschliches unversucht gelassen. Solange ich noch Geld hatte, brachte ich Nächte damit hin, Tabellen aufzubauen, mit denen man den perfektesten [370] Falschspielern gegenüber hätte gewinnen müssen. Und dabei verlor ich Abend für Abend mehr, als wenn ich die Goldstücke eimerweise hinausgeschüttet hätte. Dann bot ich mich den Kurtisanen an; aber die nehmen keinen, den ihnen die Justiz nicht vorher abgestempelt hat. Und das sehen sie einem auf den ersten Blick an, ob man Beziehungen zum Fallbeil hat oder nicht.

SCHIGOLCH.
Yes, yes.
ALWA.

Ich habe mir keine Enttäuschung erspart; aber wenn ich Witze machte, dann lachten sie über mich selbst; wenn ich mich so anständig gab, wie ich bin, dann wurde ich geohrfeigt; und wenn ich es mit Gemeinheiten versuchte, dann wurden sie so keusch und jungfräulich, daß mir vor Entsetzen die Haare zu Berge standen. Wer die menschliche Gesellschaft nicht überwunden hat, der findet kein Vertrauen bei ihnen.

SCHIGOLCH.

Willst du nicht vielleicht endlich deine Stiefel anziehen, mein Kind? – Ich glaube, ich werde in dieser Behausung nicht mehr viel älter werden. In den Zehenspitzen habe ich schon seit Monaten kein Gefühl mehr. – Gegen Mitternacht werde ich im Lokal unten noch einige Schnäpse trinken. Gestern sagte mir die Wirtin, ich hätte noch ernstliche Aussicht, ihr Geliebter zu werden.

LULU.
In des drei Teufels Namen, ich gehe hinunter!

Sie nimmt die Flasche vom Blumentisch und setzt sie an den Mund.
SCHIGOLCH.
Damit man dich auf eine halbe Stunde weit kommen riecht!
LULU.
Ich trinke nicht alles.
ALWA.
Du gehst nicht hinunter, mein Weib! Du gehst nicht hinunter! Ich verbiete es dir!
LULU.
Was willst du deinem Weibe verbieten, wenn du dich selbst nicht ernähren kannst?
ALWA.
Wer ist daran schuld?! Wer anders als meine Frau hat mich auf das Krankenlager gebracht.
LULU.
Bin ich krank?
ALWA.
Wer hat mich in den Kot geschleift? – Wer hat mich zum Mörder meines Vaters gemacht?
LULU.

Hast du ihn erschossen? – Er hat nicht viel verloren, aber wenn ich dich dort liegen sehe, dann möchte ich mir [371] beide Hände dafür abhacken, daß ich mich so gegen meine Vernunft versündigt habe! –


Sie geht nach rechts in ihre Kammer.
ALWA.
Sie hat es mir von ihrem Casti-Piani übermacht. Sie selbst ist längst nicht mehr dafür erreichbar.
SCHIGOLCH.

Solche Teufelsracker können gar nicht früh genug mit dem Erdulden anfangen, wenn bis zum Schluß noch Engel daraus werden sollen.

ALWA.

Sie hätte als Kaiserin von Rußland geboren werden müssen. Da wäre sie an ihrem Platz gewesen. Eine zweite Katharina die Zweite.


Lulu kommt mit einem Paar ausgetretener Stiefletten aus ihrer Kammer zurück und setzt sich auf die Diele, um sie anzuziehen.
LULU.

Wenn ich nur nicht kopfüber die Treppe hinunterstürze! – Hu, wie kalt! – – Gibt es etwas Traurigeres auf dieser Welt als ein Freudenmädchen!

SCHIGOLCH.
Geduld, Geduld! Es muß nur erst der richtige Zug ins Geschäft kommen.
LULU.

Mir soll's recht sein; um mich ist es nicht mehr schade. Sie setzt die Flasche an. Das heizt ein! – O verflucht! Sie geht durch die Mitteltür ab.

SCHIGOLCH.
Wenn wir sie kommen hören, müssen wir uns solange in meinen Verschlag verkriechen.
ALWA.
Es ist ein Jammer um sie! – Wenn ich zurückdenke – ich bin doch gewissermaßen mit ihr aufgewachsen.
SCHIGOLCH.
Solange ich lebe, hält sie jedenfalls noch vor.
ALWA.

Wir verkehrten anfangs miteinander wie Bruder und Schwester. Mama lebte damals noch. Ich traf sie eines Morgens zufällig bei der Toilette. Doktor Goll war zu einer Konsultation gerufen worden. Ihr Friseur hatte mein erstes Gedicht gelesen, das ich in der »Gesellschaft« hatte drucken lassen –: »Hetz deine Meute weit über die Berge hin; sie kehrt wieder von Schweiß und von Staub bedeckt ...«

SCHIGOLCH.
O yes!
ALWA.

Und dann kam sie in rosa Tüll – sie trug nichts darunter als ein weißes Atlasmieder – auf den Ball beim spanischen Gesandten. Doktor Goll schien seinen nahen Tod [372] zu ahnen. Er bat mich, mit ihr zu tanzen, damit sie keine Tollheiten anstellte. Derweil wandte Papa kein Auge von uns, und sie sah während des Walzers über meine Schulter weg nur nach ihm. Nachher hat sie ihn erschossen. Es ist unglaublich.

SCHIGOLCH.
Ich zweifle nur stark daran, daß noch einer anbeißt.
ALWA.
Ich möchte es auch niemandem raten!
SCHIGOLCH.
Dieses Rindvieh!
ALWA.

Sie hatte damals, obgleich sie als Weib schon vollkommen entwickelt war, den Ausdruck eines fünfjährigen, munteren, kerngesunden Kindes. Sie war damals auch nur drei Jahre jünger als ich; aber wie lang ist das nun schon her! Trotz ihrer fabelhaften Überlegenheit in Fragen des praktischen Lebens ließ sie sich von mir den Inhalt von »Tristan und Isolde« erklären; und wie entzückend verstand sie sich dabei aufs Zuhören. – Aus dem Schwesterchen, das sich in seiner Ehe noch wie ein Schulmädchen fühlte, wurde dann eine unglückliche hysterische Künstlersfrau. Aus der Künstlersgattin wurde dann die Frau meines seligen Vaters; aus der Frau meines Vaters wurde dann meine Geliebte. Das ist nun einmal so der Lauf der Welt, wer will dagegen aufkommen.

SCHIGOLCH.

Wenn sie vor den Herren mit ehrlichen Absichten nur nicht Reißaus nimmt und uns statt dessen einen Obdachlosen heraufbringt, mit dem sie ihre Herzensgeheimnisse ausgetauscht hat.

ALWA.

Ich küßte sie zum erstenmal in ihrer rauschenden Brauttoilette; aber nachher wußte sie nichts mehr davon. Trotzdem glaube ich, daß sie in den Armen meines Vaters schon an mich gedacht hat. Oft kann es ja nicht gewesen sein. Er hatte seine Glanzzeit hinter sich, und sie betrog ihn mit Kutscher und Stiefelputzer. Aber wenn sie sich ihm gab, dann stand ich vor ihrer Seele. Dadurch hat sie auch, ohne daß ich mich dessen versehen konnte, diese furchtbare Gewalt über mich erlangt.

SCHIGOLCH.
Da sind sie!

Man hört schwere Tritte die Treppe heraufkommen.
[373]
ALWA
emporfahrend.
Ich will das nicht erleben! Ich werfe den Kerl hinaus!
SCHIGOLCH
rafft sich mühsam auf, nimmt Alwa am Kragen und pufft ihn nach links.

Vorwärts, vorwärts! Wie soll ihr der Junge seinen Kummer beichten, wenn wir zwei uns hier herumwälzen.

ALWA.
Aber wenn er ihr Gemeinheiten zumutet!
SCHIGOLCH.
Und wenn, und wenn! Was will er ihr denn noch zumuten! Er ist auch nur ein Mensch wie wir.
ALWA.
Wir müssen die Tür auflassen.
SCHIGOLCH
Alwa in den Verschlag stoßend.
Unsinn! – Kusch dich!
ALWA
im Verschlag.
Ich werde es schon hören! Gnade ihm der Himmel!
SCHIGOLCH
schließt die Kammer.
Von innen. Maul halten!
ALWA
von innen.
Der soll sich vorsehen.

Lulu öffnet die Mitteltür und läßt Herrn Hunidei eintreten. Herr Hunidei ist ein Mann von hünenhafter Gestalt, glattrasiertem, rosigen Gesicht, himmelblauen Augen und freundlichem Lächeln. Er trägt Havelock und Zylinder und trägt
in der Hand den triefenden Schirm.
LULU.
Hier ist meine Wohnung.
HERR HUNIDEI
legt den Zeigefinger auf den Mund und sieht Lulu bedeutungsvoll an.
Darauf spannt er seinen Schirm auf und stellt ihn im Hintergrund zum Trocknen auf die Diele.
LULU.
Sehr behaglich ist es hier allerdings nicht.
HERR HUNIDEI
kommt nach vorn und hält ihr die Hand vor den Mund.
LULU.
Was wollen Sie mir damit zu verstehen geben?
HERR HUNIDEI
legt ihr die Hand vor den Mund und hält den Zeigefinger an seine Lippen.
LULU.
Ich weiß nicht, was das bedeutet.
HERR HUNIDEI
hält ihr rasch den Mund zu.
[374]
LULU
sich freimachend.
Wir sind hier ganz allein. Es hört uns kein Mensch.
HERR HUNIDEI
legt den Zeigefinger an die Lippen, schüttelt verneinend den Kopf, zeigt auf Lulu, öffnet den Mund wie zum Sprechen, zeigt auf sich und dann auf die Türe.
LULU
für sich.
Herr Gott – das ist ein Ungeheuer!
HERR HUNIDEI
hält ihr den Mund zu.

Darauf geht er nach hinten, faltet seinen Havelock zusammen und legt ihn über den Stuhl neben der Tür. Dann kommt er mit grinsendem Lächeln nach vorn, nimmt Lulu mit beiden Händen beim Kopf und küßt sie auf die Stirn.

SCHIGOLCH
hinter der halboffenen Tür links vorn.
Bei dem ist eine Schraube los.
ALWA.
Er soll sich vorsehen!
SCHIGOLCH.
Etwas Trostloseres hätte sie nicht heraufbringen können.
LULU
zurücktretend.
Ich hoffe, Sie werden mir etwas schenken!
HERR HUNIDEI
hält ihr den Mund zu und drückt ihr ein Goldstück in die Hand.
LULU
besieht das Goldstück und wirft es aus einer Hand in die andere.
HERR HUNIDEI
sieht sie unsicher fragend an.
LULU.
Na ja, es ist schon gut! Steckt das Geld in die Tasche.
HERR HUNIDEI
hält ihr rasch den Mund zu, gibt ihr einige Silberstücke und wirft ihr einen gebieterischen Blick zu.
LULU.
Ei, das ist schön von Ihnen!
HERR HUNIDEI
springt wie wahnsinnig im Zimmer umher, fuchtelt mit den Armen in der Luft herum und starrt verzweiflungsvoll gen Himmel.
LULU
nähert sich ihm vorsichtig, schlingt den Arm um ihn und küßt ihn auf den Mund.
HERR HUNIDEI
macht sich lautlos lachend von ihr los und blickt fragend umher.
[375]
LULU
nimmt die Lampe vom Blumentisch und öffnet die Tür zu ihrer Kammer.
HERR HUNIDEI
tritt lächelnd ein, indem er unter der Tür seinen Hut lüftet.

Die Bühne ist finster bis auf einen Lichtstrahl, der aus der Kammer durch die Türspalte dringt. – Alwa und Schigolch kriechen auf allen vieren aus ihrem Verschlag.
ALWA.
Sind sie weg?
SCHIGOLCH
hinter ihm.
Warte noch!
ALWA.
Hier hört man nichts.
SCHIGOLCH.
Das hat man oft genug gehört!
ALWA.
Ich will vor ihrer Türe knien.
SCHIGOLCH.

Dieses Muttersöhnchen! Er drückt sich an Alwa vorbei, tappt über die Bühne, nimmt Herrn Hunideis Havelock vom Stuhl und durchsucht die Taschen.

ALWA
hat sich vor Lulus Kammertür geschlichen.
SCHIGOLCH.

Handschuhe – sonst nichts! Er kehrt den Havelock um, durchsucht die inneren Taschen und zieht ein Buch heraus, das er an Alwa gibt. Sieh mal nach, was das ist!

ALWA
hält das Buch in den Lichtstrahl, der aus der Kammer dringt, und entziffert mühsam das Titelblatt.

Ermahnungen für fromme Pilger und solche, die es werden wollen. – Sehr hilfreich! – Preis zwei Schilling, sechs Pence.

SCHIGOLCH.

Der scheint mir ganz von Gott verlassen zu sein. Legt den Mantel wieder über den Stuhl und tastet sich nach dem Verschlag zurück. Es ist nichts mit diesen Leuten. Die Nation hat ihre Glanzzeit hinter sich.

ALWA.
Das Leben ist nie so schlimm, wie man es sich vorstellt.

Er kriecht ebenfalls nach dem Verschlag zurück.
SCHIGOLCH.

Nicht einmal ein seidenes Halstuch hat der Kerl. Und dabei kriechen wir in Deutschland vor dem Pack auf dem Bauch.

ALWA.
Komm, laß uns wieder verschwinden.
SCHIGOLCH.

Sie denkt eben nur an sich selbst und nimmt den ersten, der ihr in den Weg läuft. Hoffentlich vergißt der Hund sie Zeit seines Lebens nicht.


[376] Schigolch und Alwa verkriechen sich in ihren Verschlag und schließen die Türe hinter sich. Darauf tritt Lulu ein und setzt die Lampe auf den Blumentisch.
LULU.
Werden Sie mich wieder besuchen?

Herr Hunidei hält ihr den Mund zu.
Lulu blickt in einer Art Verzweiflung gen Himmel und schüttelt den Kopf.
Herr Hunidei hat seinen Havelock übergeworfen
und nähert sich ihr mit grinsendem Lächeln. Sie wirft sich ihm an den Hals, worauf er sich sachte losmacht, ihr die Hand küßt und sich zur Türe wendet. Sie will ihn begleiten, er winkt ihr aber, zurückzubleiben und verläßt geräuschlos das Gemach.
Schigolch und Alwa kommen aus ihrem Verschlag.
LULU
tonlos.
Hat mich der Mensch erregt!
ALWA.
Wieviel hat er dir gegeben?
LULU
ebenso.
Hier ist alles! Nimm! Ich gehe wieder hinunter.
SCHIGOLCH.
Wir können noch wie die Prinzen hier oben leben.
ALWA.
Er kommt zurück.
SCHIGOLCH.
Dann laß uns nur gleich wieder abtreten.
ALWA.
Er sucht sein Gebetbuch; hier ist es. Es muß ihm aus dem Mantel gefallen sein.
LULU
aufhorchend.
Nein, das ist er nicht. Das ist jemand anders.
ALWA.
Es kommt jemand herauf. Ich höre es ganz deutlich.
LULU.
Jetzt tappt jemand an der Tür. – Wer mag das sein?
SCHIGOLCH.
Wahrscheinlich ein guter Freund, dem er uns empfohlen hat. – Herein!

Die Gräfin Geschwitz tritt ein. Sie ist in ärmlicher Kleidung und trägt eine Leinwandrolle in der Hand.
DIE GESCHWITZ.

Wenn ich dir ungelegen komme, dann kehre ich wieder um. Ich habe allerdings seit zehn Tagen mit keiner menschlichen Seele gesprochen. Ich muß dir nur gleich sagen, daß ich kein Geld bekommen habe. Mein Bruder hat mir gar nicht geantwortet.

SCHIGOLCH.
Jetzt möchten gräfliche Gnaden gerne ihre Füße unter unseren Tisch strecken?
[377]
LULU
tonlos.
Ich gehe wieder hinunter!
DIE GESCHWITZ.

Wo willst du in dem Aufzug hin? – Ich komme trotzdem nicht ganz mit leeren Händen. Ich bringe dir etwas anderes. Auf dem Wege hierher bot mir ein Trödler noch zwölf Schillinge dafür. Ich brachte es nicht übers Herz, mich davon zu trennen. Aber du kannst es verkaufen, wenn du willst.

SCHIGOLCH.
Was haben Sie denn da?
ALWA.

Lassen Sie doch mal sehen. Er nimmt ihr die Leinwandrolle ab und entrollt sie, sichtlich erfreut. Ach ja, mein Gott, das ist ja Lulus Porträt!

LULU
aufschreiend.

Und das bringst du Ungeheuer hierher? – Schafft mir das Bild aus den Augen! Werft es zum Fenster hinaus!

ALWA
plötzlich wie neu belebt, sehr vergnügt.

Warum nicht gar! Diesem Porträt gegenüber gewinne ich meine Selbstachtung wieder. Es macht mir mein Verhängnis begreiflich. Alles wird so sonnenklar, was wir erlebt haben. Etwas elegisch. Wer sich diesen blühenden, schwellenden Lippen, diesen großen unschuldsvollen Kinderaugen, diesem rosig-weißen strotzenden Körper gegenüber in seiner bürgerlichen Stellung sicher fühlt, der werfe den ersten Stein auf uns.

SCHIGOLCH.
Man muß es annageln. Es wird einen ausgezeichneten Eindruck auf unsere Kundschaft machen.
ALWA
sehr geschäftig.
Da drüben steckt schon ein Nagel dafür in der Wand.
SCHIGOLCH.
Wie kommen Sie denn zu der Akquisition?
DIE GESCHWITZ.
Ich habe es damals in eurer Wohnung heimlich aus der Wand geschnitten, nachdem ihr fort wart.
ALWA.
Schade, daß am Rande die Farbe abgeblättert ist! Sie haben es nicht vorsichtig genug aufgerollt.

Er befestigt das Bild mit dem oberen Rande an einem Nagel, der in der Wand steckt.
SCHIGOLCH.

Es muß unten noch einer durch, wenn es halten soll. Die ganze Etage bekommt ein eleganteres Aussehen.

ALWA.
Laßt mich nur, ich weiß schon, wie ich es mache.

Er reißt verschiedene Nägel aus der Wand, zieht sich den linken Stiefel aus und schlägt die Nägel mit dem Stiefelabsatz durch den Rand des Bildes in die Mauer.
[378]
SCHIGOLCH.

Es muß nur erst wieder eine Weile hängen, um richtig zur Geltung zu kommen. Wer sich das angesehen hat, der bildet sich nachher ein, er sei in einem indischen Harem.

ALWA
seinen Stiefel wieder anziehend, sich stolz aufrichtend.

Ihr Körper stand auf dem Höhepunkt seiner Entfaltung, als das Bild gemalt wurde. Die Lampe, liebes Kind! Mir scheint, es ist außergewöhnlich stark nachgedunkelt.

DIE GESCHWITZ.
Es muß ein eminent begabter Künstler gewesen sein, der das gemalt hat!
LULU
wieder vollkommen ruhig mit der Lampe vor das Bild tretend.
Hast du ihn denn nicht gekannt?
DIE GESCHWITZ.

Nein; das muß lange vor meiner Zeit gewesen sein. Ich höre nur zuweilen noch abfällige Bemerkungen von euch darüber, daß er sich in seinem Verfolgungswahn den Hals abgeschnitten habe.

ALWA
das Porträt mit Lulu vergleichend.

Der kindliche Ausdruck in den Augen ist trotz allem, was sie seitdem erlebt hat, noch ganz derselbe. In freudiger Erregung. Aber der frische Tau, der die Haut bedeckt, der duftige Hauch vor den Lippen, das strahlende Licht, das sich von der weißen Stirne aus verbreitet, und diese herausfordernde Pracht des jugendlichen Fleisches an Hals und Armen ...

SCHIGOLCH.

Das alles ist mit dem Kehrichtwagen gefahren. Sie kann mit Selbstbewußtsein sagen: Das war ich mal! Wem sie heute in die Hände gerät, der macht sich keinen Begriff mehr von unserer Jugendzeit.

ALWA
munter.

Gott sei Dank merkt man den fortschreitenden Verfall nicht, wenn man fortwährend miteinander verkehrt. Leicht hinwerfend. Das Weib blüht für uns in dem Moment, wo es den Menschen auf Lebenszeit ins Verderben stürzen soll. Das ist nun einmal so seine Naturbestimmung.

SCHIGOLCH.

Unten im Laternenschimmer nimmt sie es noch mit einem Dutzend Straßengespenster auf. Wer um diese Zeit noch eine Bekanntschaft machen will, der sieht überhaupt mehr auf Herzenseigenschaften als auf körperliche Vorzüge. Er entscheidet sich für das Paar Augen, aus denen am wenigsten Diebsgelüste funkeln.

[379]
LULU
ebenso vergnügt wie Alwa.
Ich werde es ja sehen, ob du recht hast. Adieu.
ALWA
in jähem Zorn.
Du gehst nicht mehr hinunter, so wahr ich lebe!
DIE GESCHWITZ.
Wo willst du hin?
ALWA.
Sie will sich einen Kerl heraufholen.
DIE GESCHWITZ.
Lulu!
ALWA.
Sie hat es heute schon einmal getan.
DIE GESCHWITZ.
Lulu, Lulu, ich gehe mit, wohin du gehst!
SCHIGOLCH.
Wenn Sie Ihre Knochen auf Zinsen legen wollen, dann suchen Sie sich bitte Ihr eigenes Revier aus.
DIE GESCHWITZ.
Lulu, ich geh dir nicht von der Seite! Ich habe Waffen bei mir.
SCHIGOLCH.
Verflucht noch mal! Gräfliche Gnaden legen es darauf an, mit unserem Speck zu fischen!
LULU.
Ihr bringt mich um! Ich halte es hier nicht mehr aus!
DIE GESCHWITZ.
Du brauchst nichts zu fürchten. Ich bin bei dir!

Lulu mit der Gräfin Geschwitz durch die Mitte ab.
SCHIGOLCH.
Sackerment, Sackerment, Sackerment!
ALWA
wirft sich wimmernd auf seine Chaiselongue.
Ich glaube, ich habe vom Diesseits nicht mehr viel Gutes zu erwarten.
SCHIGOLCH.

Man hätte das Frauenzimmer an der Kehle zurückhalten müssen. Sie vertreibt alles, was Odem hat mit ihrem aristokratischen Totenschädel.

ALWA.
Sie hat mich aufs Krankenlager geworfen und mich von außen und innen mit Dornen gespickt!
SCHIGOLCH.
Dafür hat sie allerdings auch genug Courage für zehn Mannsleute im Leib.
ALWA.
Keinen Verwundeten wird der Gnadenstoß jemals dankbarer finden als mich!
SCHIGOLCH.

Wenn sie mir damals nicht den Springfritzen in meine Wohnung gelockt hätte, dann hätten wir ihn heute noch auf dem Hals.

ALWA.
Ich sehe ihn über meinem Haupte schweben, wie Tantalus den Zweig mit goldenen Äpfeln.
SCHIGOLCH
auf seiner Matratze.
– Willst du die Lampe nicht ein wenig hinaufschrauben?
ALWA.

Ob wohl ein schlichter Naturmensch in seiner Wildnis [380] auch so unsäglich leiden kann? – Mein Gott, mein Gott, was habe ich aus meinem Leben gemacht!

SCHIGOLCH.

Was hat das Hundewetter aus meinem Havelock gemacht! – Mit fünfundzwanzig Jahren habe ich mir zu helfen gewußt!

ALWA.
Es hat nicht jeder meine herrliche, sonnige Jugendzeit gekostet!
SCHIGOLCH.

Ich glaube, sie geht gleich aus. – Bis sie zurückkommen, wird es hier wieder dunkel wie im Mutterleib.

ALWA.

Ich suchte mit klarstem Zielbewußtsein den Verkehr mit Menschen, die nie in ihrem Leben ein Buch gelesen haben. Ich klammerte mich mit aller Selbstverleugnung und Begeisterung an diese Elemente, um zu den höchsten Höhen dichterischen Ruhmes emporgetragen zu werden. Die Rechnung war falsch. Ich bin der Märtyrer meines Berufes. Seit dem Tode meines Vaters habe ich nicht einen einzigen Vers mehr geschrieben.

SCHIGOLCH.

Wenn sie nur nicht zusammengeblieben sind. – Wer kein dummer Junge ist, der geht sowieso nicht mit zweien.

ALWA.
Sie sind nicht zusammengeblieben!
SCHIGOLCH.
Das hoffe ich. Sie hält sich die Person im Notfall mit Fußtritten vom Leib.
ALWA.

Der eine, aus der Hefe hervorgegangen, ist der gefeiertste Mann seiner Nation; und der andere, im Purpur geboren, liegt in der Grundhefe und kann nicht sterben.

SCHIGOLCH.
Jetzt kommen sie!
ALWA.
Und wie selige Stunden gemeinsamer Schaffensfreude hatten sie miteinander erlebt!
SCHIGOLCH.
Das können sie jetzt erst recht. – Wir müssen uns wieder verkriechen.
ALWA.
Ich bleibe hier.
SCHIGOLCH.
Was bedauerst du sie denn eigentlich? – Wer sein Geld ausgibt, hat auch seine guten Gründe dafür!
ALWA.

Ich habe den moralischen Mut nicht mehr, um mich wegen einer lumpichten Summe Geldes in meiner Behaglichkeit stören zu lassen.


Er verkriecht sich unter seinem Plaid.
SCHIGOLCH.
Noblesse oblige! Ein anständiger Mensch tut, was er seiner Stellung schuldig ist.

Verbirgt sich in dem Verschlag.
[381]
LULU
die Tür öffnend.
Komm nur herein, Schatz!

Kungu Poti, Erbprinz von Uahubee, in hellem Überrock, hellen Beinkleidern, weißen Gamaschen, gelben Knopfstiefeln und grauem Zylinder, tritt ein. Seine Sprache läßt die spezifisch afrikanischen Zischlaute hören und ist von vielfachem Rülpsen unterbrochen.
KUNGU POTI.
God dam – ist sehr dunkel im Treppenhaus!
LULU.
Hier ist es heller, süßes Herz! – Ihn an der Hand nach vorn ziehend. Komm, komm!
KUNGU POTI.
Aber kalt ist hier. Sehr kalt.
LULU.
Trinkst du einen Schnaps?
KUNGU POTI.
Schnaps? – Immer trink ich Schnaps! – Schnaps ist gut!
LULU
gibt ihm die Flasche.
Ich weiß nicht, wo das Glas ist.
KUNGU POTI.
Macht nichts. Setzt die Flasche an und trinkt. Schnaps! – Viel Schnaps!
LULU.
Sie sind ein hübscher junger Mann.
KUNGU POTI.

Mein Vater ist Kaiser von Uahubee. Ich habe hier sechs Frauen, zwei spanische, zwei englische, zwei französische. Well – ich liebe nicht meine Frauen. Immer soll ich Bad nehmen, Bad nehmen, Bad nehmen ...

LULU.
Wieviel schenken Sie mir.
KUNGU POTI.
Goldstück! – Du kannst glauben, du wirst haben Goldstück! – Goldstück! – Immer schenken Goldstück!
LULU.
Sie können es mir später geben; aber zeigen Sie es mir.
KUNGU POTI.
Ich nie bezahlen vorher.
LULU.
Aber zeigen können Sie es mir doch!
KUNGU POTI.
Nicht verstehen! Nicht verstehen! – Komm Ragapsischimulara! Lulu um die Taille fassend. Komm!
LULU
wehrt sich aus Leibeskräften.
Lassen Sie mich los! Lassen Sie mich los!

Alwa hat sich mühsam vom Lager aufgerafft, schleicht von hinten an Kungu Poti heran und reißt ihn am Rockkragen zurück.
KUNGU POTI
wendet sich rasch nach Alwa um.

Oh! Oh! Hier ist Mörderhöhle! – Komm, Freund, will dir geben Schlafmittel! Er schlägt ihn mit einem Totschläger über den Kopf, worauf Alwa stöhnend zusammenbricht. Hier [382] hast du Schlafmittel! Hier hast du Opium! – Schöne Träume kommen! Schöne Träume! Darauf gibt er Lulu einen Kuß, auf Alwa zeigend. Träumt von dir, Ragapsischimulara! – Schöne Träume! – Zur Tür eilend. Hier ist Türe!


Ab.
LULU.

– – Ich werde doch nicht hierbleiben?! – – Wer hält es denn jetzt hier noch aus! – – Lieber hinunter auf die Straße! – Ab.


Schigolch kommt aus seinem Verschlag.
SCHIGOLCH
über Alwa gebeugt.

– – Blut! – Alwa! – – Man muß ihn beiseite schaffen. – Hopp! – Sonst nehmen unsere Bekannten Anstoß an ihm. Alwa! Alwa! – Wer da nicht mit sich im klaren ist –! – Entweder oder; sonst wird's leicht zu spät! – – Ich will ihm Beine machen. Er zündet ein Streichholz an und steckt es ihm unter den Kragen. Da sich Alwa nicht regt. Er will seine Ruhe haben. – Aber hier wird nicht geschlafen. Er schleift ihn am Genick in Lulus Kammer. Darauf versucht er die Lampe hinaufzuschrauben. Für mich wird es nun auch bald Zeit, sonst kriegt man unten im Lokal keinen Weihnachtspudding mehr. Weiß Gott, wann die von ihrer Vergnügungstour zurückkommen. – Lulus Bild ins Auge fassend. Die versteht die Sache nicht. Die kann von der Liebe nicht leben, weil ihr Leben die Liebe ist. – Da kommt sie! Ich werde ihr mal ins Gewissen reden ...


Die Tür geht auf und die Gräfin Geschwitz tritt ein.
SCHIGOLCH.

Wenn Sie Nachtquartier bei uns nehmen wollen, dann geben Sie bitte ein wenig acht, daß hier nichts gestohlen wird.

DIE GESCHWITZ.
Wie dunkel es hier ist!
SCHIGOLCH.
Es wird noch viel dunkler. – Der Herr Doktor haben sich schon zur Ruhe gelegt.
DIE GESCHWITZ.
Sie schickt mich voraus.
SCHIGOLCH.
Das ist vernünftig. – Wenn jemand nach mir fragt, ich sitze unten im Lokal. –

Ab.
DIE GESCHWITZ
allein.

Ich will mich neben die Tür setzen. Ich will alles mit ansehen und nicht mit der Wimper zucken. Sie setzt sich auf den Strohsessel neben die Tür. [383] – Die Menschen kennen sich nicht – sie wissen nicht, wie sie sind. Nur wer selber kein Mensch ist, der kennt sie. Jedes Wort, das sie sagen, ist unwahr, erlogen. Das wissen sie nicht, denn sie sind heute so und morgen so, je nachdem ob sie gegessen, getrunken und geliebt haben oder nicht. Nur der Körper bleibt auf einige Zeit, was er ist, und nur die Kinder haben Vernunft. Die Großen sind wie die Tiere; keines weiß, was es tut. Wenn sie am glücklichsten sind, dann jammern sie, dann stöhnen sie und im tiefsten Elend freuen sie sich jedes winzigen Happens. Es ist sonderbar, wie der Hunger den Menschen die Kraft zum Unglück nimmt. Wenn sie sich aber gesättigt haben, dann machen sie sich die Welt zur Folterkammer, dann werfen sie ihr Leben für die Befriedigung einer Laune weg. – Ob es wohl einmal Menschen gegeben hat, die durch Liebe glücklich geworden sind? Was ist denn ihr Glück anders, als daß sie besser schlafen und alles vergessen können? – Herr Gott, ich danke dir, daß du mich nicht geschaffen hast wie diese. – Ich bin nicht Mensch; mein Leib hat nichts gemeines mit Menschenleibern. Habe ich eine Menschenseele! Zerquälte Menschen tragen ein kleines enges Herz in sich; ich aber weiß, daß es nicht mein Verdienst ist, wenn ich alles hingebe, alles opfre ...


Lulu öffnet die Tür und läßt Doktor Hilti eintreten. Die Geschwitz bleibt, ohne von beiden bemerkt zu werden, regungslos neben der Tür sitzen.
LULU
munter.
Komm nur herein! Komm! – Du bleibst bei mir die Nacht?
DR.

HILTI. Abär iach habä niacht mähr, dän fühnf Schielingä bei miar; iach nämma nia mähr miet, wän iach ausgähä.

LULU.
Das ist genug, weil du es bist! Du hast so treue Augen! – Komm, gib mir einen Kuß!
DR.
HILTI. Hiemäl, Härgoht, Töüfäl, Kräuzpataliohn ...
LULU.
Ich bitte dich, schweig doch!
DR.

HILTI. Beim Töüfäl, äs ischt nämliach tas ärschte Mol tas iach miet einäm Mädachän gähä. Tu kchanscht miar gloubän. Sakchärmänt, iach hätä miar tas gahnz andärsch gädahcht!

[384]
LULU.
Bist du verheiratet?
DR.

HILTI. Hiemäl, Hagäl, worum meinscht tu, iach sei värheurotet? – Nein, iach birn Prifot-Tozänt; iach läsä Philossoffie ahn där Unifärsität. Sakchärmänt, iach bien nämliach ous einär oltän Basler Bodriziär-Fomiliä; iach ärhielt als Studänt nur zwoi Franckchen Toschängält und tas kchohntä iach bessär anwänden als füar Mädachän.

LULU.
Deshalb warst du nie bei einer Frau?
DR.

HILTI. Äbän ja! Äbän! Abär iach brouchä äs itzt; iach habä miach heutä Obänd värsprochän miet oinär Basler Bodriziärsdochtär. Sie ischt hiär Kchindärmädchön.

LULU.
Ist deine Braut hübsch?
DR.
HILTI. Ja, sie hat zwoi Millionän. – Iach bien sähr gespahnt, wia äs miach dunkchän wird.
LULU
ihr Haar zurückwerfend.

Ich habe wirklich Glück! Sie erhebt sich und nimmt die Lampe. Wenn es Ihnen also recht ist, Herr Privatdozent ...?


Sie führt Dr. Hilti in ihre Kammer.
DIE GESCHWITZ
zieht einen kleinen schwarzen Revolver aus ihrer Tasche und hält ihn sich gegen die Stirn.
... Komm, komm – Geliebter!
DR.
HILTI reißt von innen die Tür auf und stürzt heraus. O verreckchte Chaib – do lit eine drin!
LULU
die Lampe in der Hand, hält ihn am Ärmel.
Bleib bei mir!
DR.
HILTI. Ä Todtnige! – Ä Liach?
LULU.
Bleib bei mir, bleib bei mir!
DR.
HILTI sich losmachend. Ä Liach lit do in – Himmel, Stärne, Chaib!
LULU.
Bleib bei mir!
DR.
HILTI. Wo got's do usse? Die Geschwitz erblickend. Und das isch de Tüfel!
LULU.
Ich bitte dich, bleib!
DR.
HILTI. Chaibe, verchaibeti Chaiberei – O du ewige Hagel! –

Durch die Mitte ab.
LULU.
Bleib! – Bleib!

Sie stürzt ihm nach.
DIE GESCHWITZ
allein, läßt den Revolver sinken.

Lieber erhängen! – Wenn sie mich heute in meinem Blute liegen sieht, weint sie mir keine Träne nach. Ich war ihr immer nur das gefügige Werkzeug, das sich zu den schwierigsten [385] Arbeiten gebrauchen ließ. Sie hat mich vom ersten Tage an aus tiefster Seele verabscheut. – Springe ich nicht lieber von der Brücke hinunter? Was mag kälter sein, das Wasser oder ihr Herz? – Ich würde träumen, bis ich ertrunken bin. – – Lieber erhängen! – Erstechen? – Hm, es kommt nichts dabei heraus. – – Wie oft träumte mir, daß sie mich küßt! Noch eine Minute nur; da klopft eine Eule ans Fenster, und ich erwache. – – Lieber erhängen! Nicht ins Wasser; das Wasser ist zu rein für mich. Plötzlich auffahrend. Da! – Da! Da ist es! – Rasch noch, bevor sie kommt! Sie nimmt den Plaidriemen von der Wand, steigt auf den Sessel, befestigt den Riemen an einem Haken, der im Türpfosten steckt, legt sich den Riemen um den Hals, stößt mit den Füßen den Stuhl um und fällt zur Erde. – – Verfluchtes Leben! – Verfluchtes Leben! – – Wenn es mir noch bevorstände? – Laß mich einmal nur zu deinem Herzen sprechen, mein Engel! Aber du bist kalt! – Ich soll noch nicht fort! Ich soll vielleicht auch einmal glücklich gewesen sein. – Höre auf ihn, Lulu; ich soll noch nicht fort! – Sie schleppt sich vor Lulus Bild, sinkt in die Knie und faltet die Hände. Mein angebeteter Engel! Mein Lieb! Mein Stern! – Erbarm dich mein, erbarm dich mein, erbarm dich mein!


Lulu öffnet die Türe und läßt Jack eintreten. Er ist ein Mann von gedrungener Figur, von elastischen Bewegungen, blassem Gesicht, entzündeten Augen, hochgezogenen, starken Brauen, hängendem Schnurrbart, dünnem Knebelbart, zottigen Favorits und feuerroten Händen mit vernagten Fingernägeln. Sein Blick ist auf den Boden geheftet. Er trägt dunklen Überrock und kleinen runden Filzhut.
JACK
die Geschwitz bemerkend.
Wer ist das?
LULU.
Das ist meine Schwester, Herr. Sie ist verrückt. Ich weiß nicht, wie ich sie loswerden soll.
JACK.
Du scheinst einen schönen Mund zu haben.
LULU.
Den hab ich von meiner Mutter.
JACK.
Danach sieht er aus. – Wieviel willst du? – Viel Geld hab ich nicht übrig.
[386]
LULU.
Wollen Sie denn nicht die ganze Nacht hierbleiben?
JACK.
Nein, ich habe keine Zeit. Ich muß nach Haus.
LULU.

Sie können doch morgen zu Hause sagen, Sie hätten den letzten Omnibus verpaßt und hätten bei einem Freund übernachtet.

JACK.
Wieviel willst du?
LULU.
Ich verlange keinen Goldklumpen, aber doch – ein kleines Stück.
JACK
wendet sich zur Tür.
Guten Abend! Guten Abend!
LULU
hält ihn zurück.
Nein, nein! Bleiben Sie um Gottes willen!
JACK
geht an der Geschwitz vorbei und öffnet den Verschlag.

Warum soll ich bis morgen hierbleiben? – Das klingt verdächtig! – Wenn ich schlafe, kehrt man mir die Taschen um.

LULU.
Nein, das tu ich nicht! Das tut niemand! – Gehen Sie deshalb nicht wieder fort! Ich bitte Sie darum!
JACK.
Wieviel willst du?
LULU.
Dann geben Sie mir die Hälfte von dem, was ich sagte!
JACK.
Nein, das ist zuviel. – Du scheinst noch nicht lange dabei zu sein?
LULU.

Heute zum erstenmal. – Sie reißt die Geschwitz, die sich immer auf den Knien halb gegen Jack aufgerichtet hat, an dem Riemen, den sie um den Hals trägt, zurück. Willst du dich kuschen!

JACK.

Laß sie in Ruh! – Das ist nicht deine Schwester. Sie ist in dich verliebt. Er streichelt der Geschwitz wie einem Hunde den Kopf. Armes Tier!

LULU.
Was starren Sie mich auf einmal so an?!
JACK.

Ich beurteilte dich nach der Art, wie du gehst. Ich sagte mir, die muß einen gutgebauten Körper haben.

LULU.
Wie kann man denn so etwas sehen?
JACK.
Ich sah sogar, daß du einen hübschen Mund hast. – Ich habe aber nur ein Silberstück bei mir.
LULU.
Nun ja, was macht das! Gib es mir nur!
JACK.
Du mußt mir aber die Hälfte herausgeben, damit ich morgen früh den Omnibus nehmen kann.
LULU.
Ich habe nichts in der Tasche.
JACK.
Sieh nur mal nach! Such deine Taschen durch! – Nun, was ist das? Laß mich's sehen!
[387]
LULU
hält ihm die Hand hin.
Das ist alles, was ich habe.
JACK.
Gib mir das Geldstück!
LULU.
Ich wechsle es morgen früh; dann gebe ich dir die Hälfte!
JACK.
Nein, gib mir das ganze.
LULU
gibt es ihm.
In Gottes Namen! – Aber nun komm auch! Sie nimmt die Lampe.
JACK.
Wir brauchen kein Licht, der Mond scheint.
LULU
stellt die Lampe weg.

Wie Sie meinen. Sie fällt Jack um den Hals. Ich tu Ihnen nichts zuleide! Ich habe Sie so gern! Lassen Sie mich nicht länger betteln!

JACK.
Mir soll's recht sein. Er folgt ihr in Schigolchs Verschlag.

Die Lampe erlischt. Auf der Diele unter den beiden Fenstern erscheinen vom Mondlicht zwei viereckige grelle Flecke. Im Zimmer ist alles deutlich erkennbar.
DIE GESCHWITZ
allein, spricht wie im Traum.

Dies ist der letzte Abend, den ich mit diesem Volk verbringe. – Ich kehre nach Deutschland zurück. Meine Mutter schickt mir das Reisegeld. – Ich lasse mich immatrikulieren. Ich muß für Frauenrechte kämpfen, Jurisprudenz studieren.

LULU
barfuß in Hemd und Unterrock, reißt schreiend die Tür auf und hält sie außen zu.
Hilfe! – Hilfe!
DIE GESCHWITZ
stürzt nach der Tür, zieht ihren Revolver und richtet ihn, Lulu hinter sich drängend, gegen die Tür; zu Lulu.
Laß los!

Jack reißt, zur Erde gebückt, die Tür von innen auf und rennt der Geschwitz ein Messer in den Leib.
Die Geschwitz knallt einen Schuß gegen die Decke und bricht wimmernd zusammen.
JACK
entreißt ihr den Revolver und wirft sich gegen die Ausgangstür.

God dam! Ich habe noch keinen hübscheren Mund gesehen. Der Schweiß trieft ihm aus den Haaren, seine Hände sind blutig. Er keucht aus tiefster Brust und starrt mit aus dem Kopf tretenden Augen zu Boden.


Lulu, zitternd an allen Gliedern, blickt wild umher. Plötzlich ergreift sie die Flasche, zerschlägt sie am Tisch und stürzt, den abgebrochenen Hals in der Hand, auf Jack los.
[388] Jack hat den rechten Fuß emporgezogen und schleudert Lulu auf den Rücken. Darauf hebt er sie vom Boden auf.
LULU.
Nein, nein! – Erbarmen! – Mörder! – Polizei! – Polizei!
JACK.
Sei ruhig! Du entkommst mir nicht mehr!

Er trägt sie in den Verschlag.
LULU
von innen.
Nein! – Nein! – Nein! – – O! – O ...
JACK
kommt nach einer Weile zurück und setzt die Schale auf den Blumentisch.

Das war ein Stück Arbeit! – Sich die Hände waschend. Ich bin doch ein verdammter Glückspilz! Sieht sich nach einem Handtuch um. Nicht einmal ein Handtuch haben die Leute hier! – Eine furchtbare ärmliche Höhle! – Er trocknet seine Hände am Unterrock der Geschwitz ab. Dies Ungeheuer ist ganz sicher vor mir! – Zur Geschwitz. Mit dir ist es auch bald zu Ende. Durch die Mitte ab.

DIE GESCHWITZ
allein.

Lulu! – Mein Engel! – Laß dich noch einmal sehen! – Ich bin dir nah! Bleibe dir nah – in Ewigkeit! In die Ellenbogen brechend. O verflucht! – Sie stirbt.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Wedekind, Frank. Dramen. Die Büchse der Pandora. Die Büchse der Pandora. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-95A3-1