Das Gottesauge

Der Polizeibericht nannte ihn einen Gewerbetreibenden. Aber er hatte die Schlüssel seines kleinen und armseligen Lädchens in der Vorstadt schon vor zwei Jahren einem Nachfolger übergeben und der sie wieder dem seinen; denn es war kein Geschäft zu machen in dieser Gegend zwischen den Filialen der großen und angesehenen Firmen, die so billig waren. So daß, wenn der Sechsundsechzigjährige von der Schlafstelle, die er bei entfernten Verwandten innehatte, die Straße entlang kam, den einen Fuß nicht vom Pflaster erhebend, sondern in einem leise schlurrenden Geräusch vor sich hinschiebend, denn die Kniekehle schmerzte unter einer ständigen Entzündung: daß er da also nicht einmal wußte, wer hinter der Tür mit den von ihm dort einmal angenagelten, nun abgestoßenen Emailschildern, wer hinter dem Ladentisch das Mehl auswog und die Bonbons für zwei oder drei Pfennig in die schmierigen Hände der Kinder schob.

Nicht, daß es ihn allzusehr geschmerzt hätte. Vielleicht, wenn er bei den Verwandten noch etwas mehr zu Hause hätte sein dürfen, wenn nicht das Sofa nur für die Nacht ihm zugestanden wäre, vielleicht hätte er dann noch Zeit gehabt, Kummer darüber zu empfinden, daß ihm der Laden so ganz fremd geworden war. Aber nun gingen seine Sorgen in einer anderen Richtung. War es Winter, so trottete er den öffentlichen Wärmestuben zu und hoffte schon den ganzen Weg auf einen Platz so an der Ecke der [115] Bank, daß er schlafen konnte und niemand es merkte. War es indessen Sommer und es regnete, so ging sein Weg nach einer Bank in der nächsten städtischen Anlage; rund umlief sie den Stamm einer riesigen Buche, die wie ein Dach dem Regen widerstand.

Heute aber entfielen diese Sorgen. Es war Sommer und es regnete nicht: ein Sommermorgen voller Frische. Obwohl es jene Frische war, die trächtig mit der Glut des Mittags ging, empfand er doch sie etwas peinigend und beinahe zudringlich: das Knie schmerzte mehr als gewöhnlich. Er mußte sich auf einer Bank ausruhen, die an der Haltestelle der Straßenbahn errichtet war. Und vielleicht hatte es nun diese Frische doch gut mit ihm gemeint, denn als er ächzend sich wieder erhob, mit einer halbkreisförmigen Bewegung der Hand durch die Luft, da hatte ein junges Mädchen, in dessen blanken Augen der Morgen sich spiegelte, ein Fünfzigpfennigstück in diese Hand gelegt, das allerdings zuerst noch auf den Boden rollte, denn das Knie hatte die Augen genötigt, sich zu schließen. Das junge Mädchen bückte sich; der Alte dankte mit dem gewohnten Wunsche der Vergeltung Gottes.

Als er dann weiterging und ferne die Emailschilder der Ladentür erblickte, verspürte er plötzlich Lust, zu öffnen und einzutreten. Gleichzeitig erschrak er, und der Wunsch erschien ihm als eine große Vermessenheit. Aber – und er vermeinte, nähergekommen, sie über die Straße zu schmecken – unwiderstehlich durchdrangen schon in seiner Vorstellung sich die verschiedenartigsten Gerüche, und er nannte sie alle: Seife, den Leim der Fliegenfänger, Petroleum, Kerzen, Heringe schließlich, und süß dazwischen, [116] wie der ferne Duft einer Blume, der Tee. Das Fünfzigpfennigstück krampfhaft umklammernd trat er ein.

Es roch wie damals und doch waren fremde Gerüche dabei. Die Glocke schrillte im selben Ton. Eine dicke und mürrische Frau erschien; sie fragte nach seinen Wünschen. Er legte das Geldstück auf den Tisch und machte eine unsichere Bewegung. Die Frau legte eine Tafel Schokolade vor ihn hin und strich das Geld in die Kasse.

Da sah er, während sein Blick mechanisch diesen Händen folgte, seine Frau vor sich. Sie war gestorben, kurz ehe er den Laden aufgegeben hatte. Sie war nicht böse zu ihm gewesen; er konnte sich auch nicht erinnern, daß sie gut gewesen war. Er hatte fast nie mehr an sie gedacht, nachdem sie doch einmal begraben war. Aber nun rief diese eine Bewegung sie vor ihn hin, er sah sie ganz deutlich, obwohl er sie so wenig hätte beschreiben können wie damals, als sie lebte; nicht einmal die Farbe ihrer Haare hätte er zu nennen gewußt. Immerhin sah er sie also: er sah sie vor den Kästen und Schiebladen, deren Aufschriften er noch in der richtigen Reihenfolge aufzählen konnte, und all dies, auch der blecherne Ton der Glocke, als es den Laden verließ, all das stimmte ihn nachdenklich und fast ein wenig so wie ein Gespräch mit einem guten alten Bekannten, wenn es einen für ihn gegeben hätte. Und vielleicht um dieses Gespräches willen schlug er den langen Weg zum Friedhof ein.

Er kam an in der großen Hitze des Mittags, betäubt vom Lärm und der Gefahr der Straßenübergänge. Der Schatten, der von den großen Steinen über die Wege fiel, [117] erquickte ihn. Trotzdem war er wohl, als er zuletzt das Grab gefunden hatte, ein grasüberwuchertes Reihengrab weit draußen zwischen Kreuzen, die keinen Schatten gaben, -war er wohl noch verstört und abgewandt, vielleicht auch durch die Vorstellung jenes Gesprächs mit dem Bekannten zärtlicher bewegt, – mag es gewesen sein, wie es nun will: die Witwe Müller, die von dem Grabe ihres Mannes kam, erblickte ihn, wie, über einen Nachbarhügel frevlerisch gebeugt, er dort eines jener zarten und himmelblauen Pflänzchen ausriß, die unterm Namen des Auges Gottes die Armengräber schmücken.

Die Witwe Müller hatte sich an diesem Vormittag ihr Aufgebot bestellt. Das Kind war unterwegs, es mußte alles seine Ordnung haben. Da sie am Friedhof ohnehin vorüberkam, war sie für einen Augenblick auch eingetreten: sie hatte einen Besuch gemacht, eilig und mit schlechtem Gewissen. Sie sah den Diebstahl, und sie winkte aufgeregt dem Wärter, der fern um eine Ecke bog. »Er reißt die Pflanzen aus,« und sie wies auf den Alten. Der stand ein wenig blöd und zitternd mit vorgeschobnem Unterkiefer. Das Gottesauge war ihm aus der Hand gefallen; es leuchtete von dem Grün des Rasenhügels in einem unwahrscheinlich tiefen Blau.

Der Wärter brummte etwas vor sich hin. Er hatte, von der Hitze schlaff, nicht rechte Lust, hier einzugreifen. Aber die Witwe Müller fragte, ob man die Blumen auf die Gräber pflanze, daß sie gestohlen würden. Und obendrein ein Gottesauge.

Der Wärter zog ein Notizbuch und schrieb verdrossen und unleserlich den Namen Friedrich Baumann auf. Der [118] Alte wunderte sich, daß er so hieß, es kam ihm neu vor und beinahe spannend. Die Witwe Müller ging befriedigt fort, er fühlte kurz den Blick ihrer braunen und blanken Augen; er fand, sie hätten Ähnlichkeit mit denen des jungen Mädchens vom Vormittag.

Er fühlte plötzlich in seiner Tasche die Tafel Schokolade und schenkte sie einem Kind, das vor dem Friedhofstor so heftig an ihn rannte, daß er beinahe hingefallen wäre. Er ging und eigentlich dachte er überhaupt nichts mehr: er wußte nicht, was er noch weiter denken sollte, da alles nun verändert war und sich nicht überblicken ließ. So war er schließlich zum Kanal gekommen, der draußen vor der Stadt, den Himmel spiegelnd, blau im tiefen Grün der Wiese lag. Der Anblick war ihm merkwürdig bekannt: er suchte, aber fand, da er sich fallen ließ, nichts mehr als dann im Kniegelenk noch einmal heftig und vertraut den alten Schmerz als eine gute aber doch verspätete Erinnerung.

[119][121]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Weissmann, Maria Luise. Erzählungen. Skizzen. Das Gottesauge. Das Gottesauge. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-9BB8-1