Adolf von Wilbrandt
Erinnerungen

[Widmung]

[3] Dem großen Meister


Adolf von Sonnenthal


in alter Freundschaft


zugeeignet

[3]

[4] Vorwort

Diese »Erinnerungen« sind alle bis auf eine – »Der Dichter als Ehestifter« (»Gartenlaube«) – zuerst in der Wiener »Neuen Freien Presse« erschienen; das Jahr des Erscheinens gibt für alle das Inhaltsverzeichnis an. Ich bin dann so vielfach und so warm aufgefordert worden, sie als Buch zu sammeln, daß ich von Herzen gerne gehorcht habe.

Den nach und nach entstandenen »Erinnerungen« habe ich das Gepräge des Gegenwartsgefühls gelassen, von dem einige ganz durchdrungen sind. Sie haben so mehr Leben, denk' ich.

D. V. [5]

Burgtheatererinnerungen (1902-1903)

1.
I

Ich meine das alte Burgtheater; denn nur in dem hab' ich mitgelebt. Wie viel hab' ich darin erlebt! – Dennoch sind so viele Jahre vergangen, eh ich mich entschließen konnte, etwas darüber niederzuschreiben; wohl manches »Unwägbare«, Unaussprechbare hat dabei mitgewirkt. Heute wieder einmal aufgefordert, setz' ich mich nun doch am Schreibtisch nieder; das macht meines alten Hermann Schöne Tod. Wieder einer von denen dahin, die mir das Burgtheater waren! Und ich hatte ihn besonders lieb. Von den ganz großen war er keiner, mit unmittelbar wirkender, gleichsam elementarer Kraft war er nicht so gesegnet wie die; aber er hatte alle Tugenden des Schauspielers wie wenige. Er war das vollkommene Gegenteil eines Komödianten und lebte doch ganz in seinem Beruf, der gewissenhafteste und liebevollste Schauspieler, den man sehen konnte. Er machte feinste Goldschmiedsarbeit. Er, der uns in seinen letzten Jahren gezeigt hat, was für ein Schriftsteller auch in ihm steckte, vermochte sich mit schmeckendem Verständnis, mit künstlerischer Wollust in den Dichter hineinzuleben. Er war praktisch wie kaum ein anderer [1] Mensch, er konnte alles. Im Maskenmachen kamen ihm wenige gleich. Nach seinem Urteil fragte jeder. Dazu nun sein tiefer Humor, seine Redlichkeit, seine unendliche Scheu vor allem, was Pose oder Phrase heißt, die Keuschheit seiner Seele...

Guter Hermann Schöne! Wie wenige deinesgleichen haben wohl bis heut auf unsrer Bühne gelebt! – Und das geht nun alles dahin? Auf dem großen Friedhof des Burgtheaters öffnet sich immer wieder ein neues Grabe – Ich sollte doch noch ein wenig davon reden, eh wir alle schweigen. Denn wie jung man sich auch fühlen mag – ich spür' meine Jahre nicht – wer kennt seine Stunde?

Ich habe als Dichter, dann als Gatte einer Schauspielerin, dann als Direktor, Übersetzer, Bearbeiter mit dem Burgtheater gelebt. Als ich es zum erstenmal betrat, anfangs Juni 1871, war ich als Verfasser des Lustspiels »Die Vermählten« nach Wien gekommen, dessen erste Aufführung bevorstand. Von den Darstellern kannte ich noch niemand außer Joseph Lewinsky, den ich als Gast im Münchener Hoftheater gesehen hatte – unter anderm als Franz Moor, den er mehr als zwanzig Jahre später unter meiner Direktion, bei seinem Jubiläum, mit so glänzender Jugendfrische spielen sollte. Mein Glaube aus Burgtheater war groß; ich will gleich bekennen, daß ich einige kleine Enttäuschungen erlebte. Ja, ich fand viel Vornehmheit, Feinheit, anmutvolle Natürlichkeit, nach der ich mich gesehnt hatte; ich erstaunte aber, wie gern doch auch hier im Lustspiel nach derberen Wirkungen gegriffen ward, wie man auch hier zuweilen der deutschen Neigung unterlag, über die Linie [2] zu hüpfen oder zu gleiten, welche die Komödie von der Posse trennt. Die Linie ist oft schmal, ich weiß es; eine kleine mutwillige Bewegung und man ist hinüber. Dieser Versuchung zu widerstehen, ist dem Italiener und dem Franzosen mehr als uns gegeben; sie empfinden darin weiblicher, möcht' ich sagen, unser Gefüge ist männlicher, derber. Und immer gilt wieder Laubes Wort: »Die Galerie muß lachen!« Es ist aber doch noch eine Frage, ob sie lachen muß. Wie schön, wenn ein ganzes Zuschauerhaus von unten bis oben kunstfroh lächeln könnte!

So ungefähr empfand ich damals, und als entzückter Verehrer des Burgtheaters verwunderte ich mich. Wie ward mir dann aber heilig zu Mut, als ich die letzten Proben meiner »Vermählten« miterlebte und die »Burg« bei der Arbeit sah. Der Direktor Franz von Dingelstedt hatte zwar seine vornehm klugen, lidschweren Augen wie immer mehr aufs Äußere gerichtet, auf das Bühnenbild, auf die Stimmung, die die Wände, die Möbel und die Kleider machen; aber mit erstaunlicher Kunst – damals noch so selten, wie sie jetzt verbreitet ist – stellte er die farbige Wahrheit des Lebens hin, und man konnte, man mußte sich in der etwas verrückten Gemütlichkeit eines englischen Landedelmanns und Sonderlings ganz zu Hause fühlen. Er war unermüdlich, bis er sein Mosaikbild beisammen hatte. Dann aber das Seelenbild, die Darstellung vor allem der beiden Vermählten, Adolf Sonnenthal und Auguste Baudius; so ein seines Ineinanderweben hatte ich noch nicht gesehn; und ein schöneres, vollendeteres Duo hab' ich überhaupt nie gesehn. Er [3] hat sie heiraten müssen gegen seinen Wunsch; sie haben sich geeinigt, daß alles bleiben soll wie es war; in der Hochzeitsnacht liest er die neuesten Zeitungen. Es kommt aber ein zweiter Aufzug, und der Dichter bringt die Vermählten Abends in einer Felshütte, auf der Jagd, zusammen: Intrigue einer Schwester, Gewitter, Regensturm, desertierte Pferde, Weg und Steg zerstört. Sie sehen ein, sie werden in der Hütte übernachten müssen. Er findet eine Flasche Wein und ein Glas. Seine ritterliche Liebenswürdigkeit erweckt ein altes, niedergekränktes Gefühl in ihr. Das Gespräch erwärmt sich. Er entdeckt, wie reizend sie ist. Und sie ist seine Frau! – Dann aber ein hereinbrechendes Mißverständnis, Eifersucht, jäher Rückfall der jungen Frau in die erstarrende Kälte. Zuletzt legen sie sich nieder, um zu schlafen, möglichst weit getrennt, er auf einer Bank, sie auf einem Stuhl. Letzte Versuche des Ehemanns, das Eis zu schmelzen. »Sie sagten etwas?« – »Nein! Ich sagte nichts.« – »Gute Nacht, Madame.« – »Gute Nacht.«

Diese lange (einmal lustspielhaft unterbrochene) Szene ward das anmutigste, bewegteste, natürlichste, in Scherz und Ernst entzückendste Spiel, das vielleicht schon den Erfolg entschied. Man befand sich die ganze Zeit in der Sphäre, in der sich der höchste Reiz der Schauspielkunst entfaltet: komplizierte Menschen, durch die man hindurchsieht; alles, was sie sagen und tun, ist volle Lebenswahrheit, und ebenso lebendig wird uns, was sie nicht sagen undnicht tun. Diese vollkommene, beständige Durchsichtigkeit, Seele gegen Seele, gibt das wirkliche Leben nie; nur auf der Bühne finden [4] wir diesen ungekannten Genuß. Und auch da nur, wenn die zur Meisterschaft gediehene Kunst sich in vollendetem Zusammenspiel aufs höchste steigert, wie es im Burgtheater gepflegt ward und insbesondere zwischen Sonnenthal und der Baudius in jenen Jahren aufs schönste blühte.

Der Erfolg der »Vermählten« war groß und dauernd, obwohl er im Juni zur Welt kam. Wir feierten ihn nach der Vorstellung, der Dichter und viele der Darsteller, ich weiß nicht mehr wo. Dann verbrachte ich zu Hause eine der schlaflosen Freudennächte, von denen man sagen kann: dem Glücklichen schlägt jede Stunde.

Dingelstedt liebte das Melodrama; so hatte er auch das Finale dieses Felshüttenaktes mit einer leisen Musikbegleitung versehen, die ich nach der ersten Verwunderung willig anerkannte, da sie den Reiz der sonderbaren Situation in der Tat erhöhte. Die Schwierigkeit war nur, das so sein abgetönte Zusammenspiel der Darsteller auch mit der Musik in demselben vollkommenen Einklang zu erhalten; das gelang fast nie. Der höchst empfindlichen Künstlerseele Adolf Sonnenthals war das Orchester bald zu leise und bald zu laut; und bei den späteren Aufführungen war es oft eine Tragikomödie, ihn in seiner ohnmächtigen Empörung auf der Bank zu sehen, so lange der Vorhang oben war. William-Sonnenthal hat der Arabella-Baudius ritterlich seinen Mantel angeboten, sich damit zuzudecken; sie hat ihn »kalt wie Eis« abgelehnt, er legt ihn auf einen Stuhl in der Mitte, auf »neutralen Boden«. Als er nun mit geschlossenen Augen daliegt – leise (oder auch zu laut) spielt die Musik – schleicht [5] Arabella in ihrer Eifersucht zum Mantel hin, in dem sie ein Briefchen weiß, das sie lesen möchte. Er hört's. »Sie entschließen sich doch zum Mantel?« fragt er mit seiner weichen Sonnenthal-Stimme. »Ja, ich entschließe mich.« Sie liest heimlich das Brief chen, das sie falsch versteht. Sie steckt's wieder in die Manteltasche. Er, da sie noch dasteht: »Sie besinnen sich noch?« – »Nein.« Sie geht mit dem Mantel zu ihrem Stuhl. Leise (oder zu laute) Musik. Arabella faßt einen erregten Entschluß, vor sich hin. Er, weich wie je (inwendig rasend): »Sie sagten etwas?« – »Nein. Ich sagte nichts.« Sie setzt sich wieder auf ihren Stuhl. Er, in seiner Rolle unwillkürlich seufzend (den Kapellmeister erschlag' ich! denkt er): »Gute Nacht, Madame.« Sie, sich zurücklehnend, kalt: »Gute Nacht.« Langsam fällt der Vorhang, die (zu laute) Musik vergeht.... Sowie die Leinwand unten war, sprang Sonnenthal, der Schauspieler und Regisseur, in seiner heiligen Wut in die Höhe; die Stimme, die eben geflötet hatte, stieß König Lear-Töne aus: »Wo ist der Kapellmeister? Der Kapellmeister soll herauskommen! Rufen Sie ihn her! Rufen Sie ihn her!«

Ich bin manches Mal ins Theater, zwischen die Kulissen gegangen, nur um diese bezaubernde Szene und diese – verzeih, mein teurer Adolf! – diese furchtbar komische Verwandlung zu sehn.

In demselben Jahr 1871, im Herbst, kam auch mein Lustspiel »Die Maler« ins Burgtheater, mit noch größerem Erfolg; die Hauptrollen wieder von Sonnenthal und der Baudius in stimmungsvollster Ergänzung gespielt. Aufgaben wie diese, in denen es sich um gewinnende [6] Liebenswürdigkeit der Seele handelt, löst doch eigentlich nur der Mensch; der Dichter kann den Darsteller geistreicher erscheinen lassen, als er ist, auch edler, auch gewaltiger, aber das seelisch Holde, das er nicht besitzt, kann er ihm nicht geben, und einfach erlügen läßt sich's nicht. Ich werde nie vergessen, wie Else zu ihrem brüderlichen Freund Oswald kommt und ihm erzählt, daß sie das Malen nun doch aufgeben will, weil es »ihr so billiger kommt, wenn sie nicht mehr malt«; und mit ihrem Entsagungskummer kämpft, und dem so viel begabteren Kameraden die Pistole auf die Brust setzt: »Sei ganz ehrlich, Oswald. Wenn ich dich aufs Gewissen frage, nicht wahr, ich hab' eigentlich kein Talent?« Oswald-Sonnenthal – wer weiß nicht, wie Sonnenthal rühren kann, wenn ihm ein tiefster Menschenjammer aus der Brust hervorbricht; da schlägt er alle; aber auch die zweimal drei Worte, die er der armen Else antwortet, gingen wunderbar zu Herzen, weil ein so liebenswürdiges Herz sie sprach. Er legte die Hand auf ihre Hand, ganz schlicht, dann, ein wenig zögernd: »Wenig, liebe Else.« Und als sie darauf sagt: »Zu wenig also. Sag, zu wenig, Oswald,« da streichelt er ihre Hand ein bißchen: »Zu wenig. Ja.« Es war der ganze Mensch darin.

»Siehst du: wir sind einig,« sagt sie dann mit heroischem Lächeln und steht auf. Und damit ich auch der Else-Baudius gerecht werde: nach diesen fünf Worten rauschte im Burgtheater oft ein warmer Beifall durchs Haus.

In den »Malern« trat zum erstenmal auch Ernst Hartmann in mein Dichterleben ein, als der Tiermaler [7] Mockert, genannt Plato; und sogleich mit einem großen Erfolg. Er war, wenn auch schon Gatte und Vater, noch in der ersten Jugendblüte: er hatte noch diesen mutwilligen, erfindenden Humor, den ich den Pagenhumor nennen möchte, der ihm im Leben so oft zu Gebote stand, und der mit den Jahren naturnotwendig seine Farbe oder auch sein Wesen ändert. Die Grazie seines Humors ging in seine Rollen mit; so in den Tiermaler Plato, dessen kleine Rolle er groß machte und fast immer mit lautem Beifall schmückte, obwohl sonst im alten Burgtheater ein ehrenvoll geräuschloser Abgang, etwa mit einem einzelnen »Bravo« verziert, mehr die Regel war.

Als gleichsam amtlicher Vertreter des Pagenhumors folgte ihm dann Hugo Thimig, der 1874 ins Burgtheater eintrat; lange, goldene Zeit ein entzückender Eulenspiegel, bis ihn dann die Jahre nahmen und zu dem »großen Mann« machten, der dem Direktor als vielschaffender Regisseur zur Seite steht.

Sonnenthal hatte eine Schwäche, die zu seinem tiefen und großen Pflichtgefühl, seinem hohen Künstlerernst in einem drolligen Widerspruch steht: er ist leicht zum Lachen zu reizen, er hat gleichsam eine kitzlige Seelenhaut. In den »Malern« benutzte Zerline Gabillon diese seine Schwäche zu einem Scherz, der bei jeder Aufführung wiederkehrte und, so simpel er war, jedesmal einen Teil der Schauspieler in die Kulissen zog, um sich an Sonnenthals innerem Kampf und Krampf zu weiden. Die Gabillon, als kokette Witwe Leonore von Seefeld, kommt zu Oswald-Sonnenthal ins Atelier, um ihrem Roman mit ihm ein Ende zu machen und [8] Abschied zu nehmen: sie will fort. Er hat ihr Bild gemalt; »bitte,« sagt sie noch, »haben Sie die Güte, mir das nachzuschicken – nachRom.« Sie hatte den Einfall (und ich hatte natürlich nichts dagegen), bei jeder neuen Aufführung eine andere Hauptstadt zu nennen; er wußte aber nie, welche wird es sein? Und ihre Kunst war so groß, die Pause vor dem entscheidenden Wort so ausdrucksvoll, und der Kitzel in ihm so unwiderstehlich, daß es allemal ein Lustspiel im Lustspiel war. Sie reiste allmählich auf der ganzen Erde herum; sie ließ ihn das Bild nach Rio-de-Janeiro, Madrid, Edinburg, Hongkong, Buenos Aires schicken. Jedesmal zuckte das Wetterleuchten der Spannung, der Erwartung, des gräßlichsten Lachreizes auf Sonnenthals Gesicht; jedesmal kämpfte er wie ein Held; ob er immer gesiegt hat, weiß ich nicht.

Im Herbst des nächsten Jahres, 1872, begann der große Kampf gegen das Burgtheater; so muß man wohl die Erscheinung und die rastlose Tätigkeit des von Heinrich Laube gegründeten Wiener Stadttheaters nennen, das den Coriolanschen Groll seines Direktors gegen dessen ehemalige, geliebte Bühne als Kampf- und Trutztheater durchzufechten hatte. Daß es dabei unterlag, ist bekannt; daß es nicht siegen konnte, so ehrenvoll es auch unterlag, hätte ein so klarer Kopf wie Laube so gut wie irgend einer gewußt, wenn ihn nicht die Leidenschaft und ein gewisser Berserkerglaube an sich selbst verblendet hätte. Ich hatte schon in einem der ersten Monate Gelegenheit, in diese Sachlage hineinzuschauen, da es sich so fügte, daß zu gleicher Zeit das Burgtheater und das Stadttheater eines meiner [9] Dramen zur Aufführung brachte: am 16. November erschien »Der Graf von Hammerstein« bei Laube, am 18. November »Gracchus der Volkstribun« in der Burg. Hammerstein wäre im Burgtheater unmöglich gewesen, da er sich zu sehr der Kirche widersetzt; ich persönlich gewann dabei, daß diese zweite große Bühne, die das Größte wollte, in der Kaiserstadt entstanden war. Aber indem ich nun ein tragikomisches Doppelleben führte, zwischen den Proben hin und her, bald hier, bald dort, zuweilen von der Burg noch zu Laube, zuweilen von Laube zu der so viel länger probierenden Burg, so konnte ich's mit Händen greifen, wie viel größer die künstlerische Leistung auf der alten Bühne war. Was auch einzelne auf der neuen auszeichnen mochte, die Gesamtsumme der Kräfte war im Burgtheater unvergleichlich bedeutender, auch die kleinste Rolle lag in guter Hand; und auf den Proben, die gewöhnlich mehrere Stunden länger dauerten als die Hammersteinschen, wirkte eine Energie und eine Verinnerlichung der Arbeit, die da drüben fehlte. Dingelstedt und August Förster, als Regisseur, setzten all ihre Kräfte ein; Förster mit der robusten Unermüdlichkeit, die ihn, glaub' ich, nie verließ, und mit all dem geistigen Handwerkszeug, das er bei seinem Meister Laube erworben, unter Dingelstedt bereichert hatte.

Laubes Größe hat sich ohne Frage auch in dem Riesenkampf dieser Jahre bewährt; seine Willenskraft, seine Arbeitslust, seine Geistesschärfe, seine Herrschergabe haben ein Werk geschaffen, das im Wiener Leben ein Licht, eine Flamme war und das nur der Unverstand unterschätzen wird. Aber er war doch älter geworden, [10] seit er die Bühne am Michaelerplatz nicht mehr führte; die ganze Fülle und Stärke der Persönlichkeit, von der mir die Schauspieler und Schauspielerinnen des Burgtheaters so viel zu erzählen wußten, die hatte er offenbar nicht mehr. Ich hab' ihn auf ungezählten Proben in seinem Stadttheater gesehn; ein gewisses Weitereilen war ihm doch schon, wie es schien, zur Natur geworden, und auf sein fruchtbarstes Meistern und Wirken hatte er größtenteils verzichtet: auf das Vorsprechen und Vorspielen, das Erziehen zur Bühnenberedsamkeit. Ihm war dasWort das Höchste, und seine jüngeren Talente im Burgtheater hatte er als Meister des Worts tausendfach gefördert; als er nun aber die Gründung des Wiener Stadttheaters unternahm und im Wetteifer mit der Burg ein großes Repertoire in aller Geschwindigkeit schaffen wollte, erfand er zu seiner Hilfe den »Vortragsmeister« und legte dieses Amt in Alexander Strakoschs Hand. Was er früher oft selber, aber im Feuer des Augenblicks, auf den Proben getan, das sollte nun systematisch geschehen, und durch einen andern. Vorbereitendes Einzelstudium der Rollen mit dem Vortragsmeister sollte die Darsteller, zumal die schwächeren, »fertig« auf die Proben stellen und so die Einstudierung abkürzen. Indessen die Wirkung war, daß die Schauspieler wohl mit guter Aussprache und allerlei Redekunst, aber zu gleichtönig, zu oft mit der Sprechweise ihres Lehrers auf die Probe kamen, und daß wohl mancher Tag gewonnen, aber die Möglichkeit des Sieges über das Burgtheater umso rascher verloren ward.

Nur auf den Leseproben kam Laube noch selber zum [11] Wort; er las gerne mit, wenn es sich irgendwie so fügte; und ich hab' einer Leseprobe beigewohnt, auf der die Darsteller beiderlei Geschlechts ihn einer nach dem andern baten, ihre Rolle zu übernehmen; zuletzt las er das halbe Stück. Der Gewinn lag wohl auch auf der Hand: der Alte las nicht mit Feuer, nicht mit Leidenschaft, aber klar, verstehend, auseinanderlegend, also geistig führend; was so vielen nötig und den Jungen unentbehrlich ist.

Wie wunderbare Gegensätze aber Laube und Dingelstedt waren: der Mann des Wortes und der Mann des Bildes, und wie ungleich sich bei Laube Ohr und Auge entwickelt hatten, davon hab' ich ein merkwürdiges Beispiel erlebt, wahrscheinlich das stärkste seiner Art. Im Januar 1874 wurde im Stadttheater mein Lustspiel »Die Wahrheit lügt« einstudiert; der zweite Aufzug spielt im Gebirge, hoch auf der Alm. Als auf der Probe die Dekoration dieses Aktes erschien (damals gab es noch nichts anderes als Kulissen und Hintergrund), zeigte sich rückwärts, wie es vorgeschrieben war, ein kahler Hügel, hinter dem mächtiges Gebirge fernte; die Kulissen stellten aber sämtlich Teile einer Parkmauer vor, mit Urnen verziert. Laube saß wie immer auf seinem Direktorstuhl; er bemerkte nichts. Ich, der ich den Alten schon gründlich kannte, entschloß mich nach einer Weile kurz, ließ ihn ruhig sitzen und suchte Alexander Strakosch auf, der mit seinem Vortragsmeisteramt auch eine Regisseurstellung vereinigte und sich grade im Haus befand. Ich sagte ihm mit wenigen Worten, wie ungebräuchlich es auf Almen sei, Parkmauern mit Urnen aufzurichten. Ihm kam so wenig der Gedanke, [12] sich an Laube zu wenden, wie mir; wir gingen zusammen zum Theatermeister und trugen ihm die Sache vor. Es währte auch nicht lange, so wurden rechts und links vom Direktor sämtliche Kulissen weggezogen und leere Luftkulissen an ihre Stelle gesetzt. Laube bemerkte nichts; oder wenn er etwa einen Blick hingeworfen hat (das weiß ich nicht mehr), so beschäftigte ihn die Sache nicht. Es ward weiterprobiert, mit den Luftkulissen.

Neun Jahre später, anderthalb Jahre vor seinem Tod, wechselte die Gastfreundschaft: er kam mit seinem letzten Stück, dem Lustspiel »Schauspielerei«, ins Burgtheater, und dessen Direktor war ich. Die weibliche Hauptrolle, eine »Naive«, sollte auf sein Verlangen Helene Hartmann spielen, die er 1867 als Fräulein Schneeberger in die Burg gebracht hatte. Sie hatte mittlerweile aufgehört, die blutjungen Mädel darzustellen: tief erschrocken kam sie zu mir in die Kanzlei: »Herr von Direktor« (so nannte sie mich dann und wann; wir waren gute Freunde), »um Gottes willen, nehmen Sie mir die Rolle ab, tun Sie mir das nicht mehr an!« Früher als die holde Naivität, mit der die Natur sie aufs schönste gesegnet hatte, war ihr die Schlankheit untreu geworden; darum hatte sie aus dem Fach hinausgestrebt, das ihr sonst noch so gut zu Gesichte stand. »Was ist da zu machen, liebe Lene,« sagte ich; »wenn's der Alte durchaus will, Ihr Direktor von ehedem, so müssen Sie's tun. Inwendig jung, das sind Sie genug; und auswendig wären Sie's ebenso, wenn Sie nur beizeiten das Ihrige getan hätten, um sich schlank zu erhalten. Und das sollten Sie jetzt noch tun! Lene! Eine Kur!«

[13] Ich sehe noch das liebe Gesicht, mit dem sie mich anschaute; ein offeneres, weicheres, herzlicheres Gesicht konnte man nicht sehn. »Aber Direktor,« sagte ihre gute Stimme. »Sie kennen mich ja doch. Wozu sollt' ich das anfangen; ich führ's ja nicht durch!«

Die Rolle in Laubes Stück spielte sie aber doch, da 's der Alte wollte; und sie zeigte noch einmal die quellende Frische ihrer liebenswerten Natur, in der sich weibliche Schwäche und weibliche Kraft so entzückend mischte. Neben ihr war Thimig groß in einer verrückten Schauspielerrolle, die er mit Charakteristik füllte. Ich hatte Laube ersucht, die Proben zu leiten, wie wenn er noch Direktor wäre; das übernahm er auch, ohne eine Miene zu verziehen. Er saß jeden Morgen auf dem Direktorstuhl, als wären die Jahre von 1867 bis 1884 nur ein Traum gewesen und er schwänge noch wie vordem das Zepter am Michaelerplatz. Seine siebenundsiebzig Jahre schienen ihn auch noch nicht zu drücken. Er waltete seines Amtes in guter Laune und mit behaglicher Frische.

Sein Lustspiel aber, leider schattenhafter als er, hatte am Abend der Aufführung kein Glück. Das Publikum, zumal die Jugend, zeigte auch wenig Pietät für den alten Feldherrn und Bühnendichter; man konnte es eine unfreundliche Ablehnung nennen. Laube, der in meiner Loge saß, hielt sich mit der Fassung, die einem so tapferen Leben gebührte. Als am Schluß der schwache Beifall – in den sich, wenn ich nicht irre, auch Mißlaute mischten – kümmerlich verging und der Vorhang unten blieb, sagte er nichts als: »Abgeblitzt!« Dann stand er auf, grüßte und verschwand.

[14]
2.
II

Erst Ende 1874 kam ich als Dichter mit Charlotte Wolter zusammen; es sollte durch ihr geniales Spiel einer meiner größten Erfolge werden, und zugleich ihr berühmtester: als Messalina in meinem Trauerspiel »Arria und Messalina«. Wenn ich an die Wolter denke und sie mit andern hervorragenden Tragödinnen vergleiche, die ich noch (jung oder alt) gesehn, so fühle ich, was man nicht sehr häufig fühlt: daß ich vor einer mächtigen Tat der Natur stehe, die einmal alles zusammenraffte, was zur Vollendung gehört. Sie gab dieser Frau einen Kopf von der sonderbaren, großgestimmten Schönheit, die, sobald sie nur will, poetische Gefühle weckt; eine unendlich biegsame Wohlgestalt, von einem tiefwurzelnden Schönheitssinn bewegt; eine Stimme von dunklem, geheimnisvollem Wohllaut, in dem jede seelische Regung wie verklärt vibrierte; und in diesem ganzen Menschen ein schlummerndes oder leise glimmendes Feuer, immer bereit, als hohe Flamme der Leidenschaft hervorzubrechen. Das alles vereint gab ihr die Übermacht über alle andern, denen eine oder mehrere dieser Feengaben fehlten; es gab ihr die Möglichkeit, aus der wilden kaiserlichen Hetäre Messalina ein Wunderweib zu machen, vor dem die Moral den Atem anhält, vier, fünf Akte lang, um dieses märchenschöne Meteor bis zum letzten vernichtenden Augenblick vorüberglänzen zu sehn.

Charlotte Wolter schwelgte indessen nicht im Genuß ihrer Mitgift; sie hatte im Burgtheater arbeiten gelernt; sie war eine der fleißigsten, gewissenhaftesten Künstlerinnen, [15] und in einer Art von Kanonenfieber vor der Schlacht. Sechs Wochen vor der Aufführung von »Arria und Messalina« kam sie zu mir und verlangte, daß ich ihr die Rolle vorlesen möchte; an einem der nächsten Abende, bei ihr, las ich fast das ganze Stück, sie hatte auch die Straßmann (Arria) und Hallenstein (Pätus) dazu eingeladen, Krastel (Markus) konnte nicht. Auf den Proben wuchs sie dann von Tag zu Tag; nur ihre Nervenkraft – da sie den Schlaf verlor – schien sich zu verzehren. Am Morgen der ersten Aufführung, nach einer abgekürzten, nur »markierenden« Nachprobe, brachten Auguste Baudius, jetzt meine Frau, und ich sie zu Fuß nach Hause; sie war so angegriffen, daß, wer ihre Lebensfülle nicht kannte, hätte denken müssen: bis zu welchem Akt kommt die heute abend noch? Sie hatte aber auch schon zwei Tage vorher, auf der Generalprobe im Kostüm, ihr Allerbestes und Allerletztes gegeben; im fünften Akt, im beginnenden Wahnsinnsrausch, kam sie in Höhen hinauf, daß ich vor Wonne zitterte. Gegen das Ende des zweiten Aufzugs wirst sich Messalina, in der Schwärmerei der Liebe, vor Markus auf die Knie hin; er soll »seine kaiserliche Sklavin«schlagen, wenn er will, weil sie die braune Meroe gezwungen hat, Gift zu trinken;


Doch liebe mich,
Sag mir's, o sag mir's! Und im Angesicht
Der Götter und der Menschen – toll bin ich,
Bin toll und will es sein – im Angesicht
Der Götter und der Menschen, schöner Markus,
Will ich, dein Schatten, dein Geschöpf, dein Weib,
Als meinen Herrn und Kaiser dich begrüßen!

[16] Während dieser wilden, herzberückenden Rede rutschte die Wolter dem etwas zurückweichenden Markus auf den Knien nach; so wie sie es tat, in bacchantischer, griechischer Schönheit jeder Bewegung, war's ein berauschendes Bild. Aber dem Zensor des Burgtheaters, dem Sektionschef Baron Hoffmann (der, wie immer, der Generalprobe beiwohnte), war es doch zu viel; er kam nach dem Aktschluß auf die Bühne: »Das müssen Sie lassen, liebe Frau Wolter; eine Kaiserin – so über die Bühne rutschen – das geht hier doch nicht!« Messalina verneigte sich. Sie fügte sich; natürlich. Ich stand hinter ihr. Als Baron Hoffmann sich langsam entfernte, drehte sie sich zu mir herum und sagte leise: »Am Abend mach' ich es doch

Sie hat's auch getan. Niemand hat ein Wort gesagt, auch der Zensor nicht. Es war zu schön, drum war's recht.

Ein Übel war freilich bei so viel Gutem: das Genie der Wolter, wohl in keiner andern Rolle so regenbogenfarben und übermächtig, riß das Dichtwerk gleichsam zu sich hinüber; denn eine ebenbürtige Arria hatten wir nicht. Ich hab's ihr denn auch vorgeworfen: »Liebe Lotte« (oder »Messalotte«, wie ich sie nach diesem Abend gerne nannte, und sie selber sich auch), »Sie haben dem Stück bös mitgespielt: es steht nun so schief wie der Turm von Pisa!« – Ost hat sie dann mit dem Gedanken gespielt, auch als Arria einmal aufzutreten, wenigstens im dritten Akt, in dem es keine Messalina gibt und der Sohn der Arria stirbt. Es wäre wohl ein wunderbar erschütterndes Gegenbild geworden. Sie trug sich viele Jahre damit; an irgend einem Abend zu [17] Gunsten der Wiener »Konkordia«, dachte sie. Doch es blieb ein Traum.

Mittlerweile hatte ich auch ein Trauerspiel »Nero« begonnen, und ein Jahr nach »Arria und Messalina« ging es über die Bretter des Burgtheaters. Ich hatte Adolf Sonnenthal für diese Rolle verlangt, er erhielt sie auch; er ergriff sie mit Feuer, mit der Sehnsucht, auch in der Tragödie, in einer Gestalt voll heißen Bluts und fesselloser Leidenschaft den Lorbeer zu erringen, den er im Lustspiel und Schauspiel schon so oft gepflückt hatte. Aber in einem Haus wie die Burg war es selbstverständlich, daß es einen ganzen Haufen von Neros gab; denn ein Held, in dem sich Liebhaber, Künstler, Despot, Scheusal, Genie, Wahnsinn mischen, lockte fastjeden an. Daß aber Sonnenthal, der erfolgverwöhnte, nun auch in diese Rollengegend einbrechen sollte, leuchtete wohl manchem nicht ein; und der offenherzigste der jüngeren Charakterspieler – Friedrich Mitterwurzer; wir waren später gute Freunde – gab mir deutlich zu verstehn, ich sei ein ganz dummer Kerl. Dem Adolf Sonnenthal ward auf den Proben schwül zu Mut; alle Schauspieler hatten mitzuwirken, er sah sich »umringt von Neros«, wie er mir einmal unter vier Augen sagte, er sah die Zweifel an seiner Neroschaft auf vielen Gesichtern, oder glaubte sie doch zu sehn; »nur an dir richt' ich mich zuweilen auf, wenn du mir vom Dichterstuhl zunickst oder wenn dir die Augen leuchten«. Als ich nach der ersten Aufführung mit ihm im Theaterwagen ins Wirtshaus fuhr, gestand er mir, daß er noch an diesem letzten Morgen, von innerer Unsicherheit verzehrt, nahe daran gewesen sei, die [18] Rolle zurückzugeben; der Widerspruch und Zuspruch des alten Laroche – damals Patriarch des Burgtheaters – hatte ihm wieder Mut gemacht. So abhängig ist der Mensch, zumal der nervöse und durch Arbeit überreizte Schauspieler, von der Meinung seiner Kameraden; so konnte es selbst einem Sonnenthal ergehn, der doch sonst das warme, natürliche Gefühl seiner Kräfte hatte.

Ich behielt aber recht, und er mit mir: die Aufführung ward ein großer Erfolg. Durch das ganze Labyrinth von Erlebnissen, Entwicklungen, Leidenschaften, Seelenerkrankung und Verderbnis, das Nero-Sonnenthal zu durchwandern hat, führte ihn ein Ariadnefaden, sein mit Gemüt und Phantasie getränkter Kunstverstand. Er kam in Regionen hinein, die er noch nie betreten hatte, und er kam nicht nur unversehrt, sondern als ein Größerer wieder heraus. Im vierten Aufzug, als er, um den Muttermord zu vergessen, und von Poppäa-Wolter halb im Scherz gestachelt, Rom in Brand steckt, dann dazu seine Verse von Trojas Untergang singt, erstieg er seinen Gipfel, dünkt mich. Schauerlichgewaltig half am Schluß die Wolter mit. Sie tritt in ihrem weißen Gewand in eine geheime Tür, um den Halbwahnsinnigen, Halbberauschten wieder zur Vernunft zu bringen, wenn es noch möglich ist; er, der schon im Wahn seiner Mutter Geist gesehn, schleudert gegen Poppäa den Dreifuß, mit dem er den Geist verscheuchen wollte. Sie stürzt herein, zu Tod getroffen. Noch auf einen Schemel tretend, in der letzten Angst, sich aufbäumend, wie es nur die Wolter konnte, mit Schmerzens- und Sterbelauten, wie sie nur ihre Kehle hatte, bricht sie dann zusammen.

[19] Hatte Sonnenthal in dieser Rolle seine Herrschaft ruhmvoll, und seiner großen Zukunft vorarbeitend, erweitert, so kehrte er später in meinem Schauspiel »Die Tochter des Herrn Fabricius« in sein eigenstes Gebiet zurück, wo ihm keiner gleichkommt, und schuf die rührendste seiner rührenden Gestalten. Von der sag' ich hier weiter nichts; man kann sie noch heute sehn.

Im Sommer darauf (1880) war ich sein Gast amGrundlsee, wo sich eine Kolonie von Burgschauspielern gebildet hatte, die dem schönen Bergsee einige Jahre gleichsam den Burgstempel aufdrückte, dann aber nach und nach verging. Ludwig Gabillon hatte sich zuallererst dort angesiedelt, weit hinten, als »Seekönig«; denn er, der Kraftmensch, der eigentliche Recke des Burgtheaters, wohl der glaubwürdigste »Hagen« in den »Nibelungen«, den die deutsche Bühne gesehn hat, war auch ein großer Ferge, das feuchte Element gehorchte ihm. Das Haus, in dem die Familie Gabillon wohnte, stand nicht weit vom Ufer in einem Gras- und Baumidyll; Meister Ludwig hatte sich aber eine Hütte unmittelbar am See gebaut, wo er arbeitete, schlief, hantierte, briet und mit Freunden zechte. Die Sage erzählt, daß zur Zeit einer großen Überschwemmung Gabillon einmal eines Morgens im Bett erwachte und mit den noch schlaftrunkenen Augen seine Stiefel schwimmen sah; warum schwimmen die? dachte er. Das tun ja sonst doch Stiefel nicht? Dann entdeckte er, daß sein Bett im Wasser stand; der angeschwollene See war hereingedrungen und hatte sich die Hütte angeeignet. Auf einmal öffnet sich die Tür, ich glaube mit »Brachialgewalt«, wie der Wiener sagt; ein Boot [20] fährt herein, mit einigen Burgschauspielern bemannt, die sehn wollen, ob der Seekönig noch lebt oder schon ersoffen ist.

Das war in der Zeit, wo sich die Burgkolonie gebildet hatte; Hartmanns, Hallensteins, Sonnenthals gehörten dazu, andere kamen als Gäste, auf Zeit. Sie sammelten sich bald hier, bald dort, in lustigster Geselligkeit; sie bevölkerten den See oder auch die Berge. Als ich auf einige Tage zu Sonnenthal gekommen war, ward ein großes Nachtfest gefeiert: in der Gabillonschen Bucht richteten sie mit unendlicher Mühe eine riesige »Plätte«, ein offenes Lastschiff, zu einem bewohnbaren und betanzbaren Fahrzeug her, wie Odysseus bei der Kalypso sein Segelfloß für die Heimfahrt zimmerte. Gabillon, sein späterer Schwiegersohn Fournier und Hartmann arbeiteten rastlos, bewunderungswürdig; andere sahen zu oder faulenzten am Gestade, darunter Helene Hartmann und ihre Kinder, Sonnenthal und ich. Endlich gegen Acht, als es dunkel wurde, fuhren wir auf der Plätte zum »Schram mel«, dem Seeewirtshaus; dort stießen die andern zu uns, mit Tischen, Bänken, Speisen und Getränken; auch allerlei Familien, die sich angefreundet hatten, auch die ehemaligen Minister Chlumecky und Depretis. Man steuerte auf den See hinaus, ein Picknicknachtmahl an vielen Tischen begann, mit Musik. Hernach ward Quadrille getanzt, das von den drei Odysseus gezimmerte Deck hielt's aus; wir sangen edle und lustige Lieder; der sich herrlich spiegelnde Mond gab seinen Segen dazu.

Damals erzählte man mir, wie geschickt einmal Ernst Hartmann den Grundlsee zu seinem Verbündeten [21] gemacht habe, um sich eine Rolle zu erobern, nach der ihn gelüstete. Sonnenthal spielte noch die meisten der Rollen, die der jüngere Hartmann naturgemäß von ihm zu erben hatte, wie Sonnenthal sie von Fichtner geerbt hatte; Erben aber werden manchmal ungeduldig, wie jener kleine Bub, der zur Tante sagte: »Ich wart' gerne schnell!« Eines Morgens rudert Hartmann auf dem See in einem handfesten Boot, da entdeckt er Sonnenthal, der auch auf dem Wasser liegt, aber in einem sogenannten Seelentränker, der seinen Insassen wehrlos macht und mit einem kleinen Stoß umzuwerfen ist. Sofort fährt Hartmann quer auf ihn zu, mit einem Ernst und einer Schneidigkeit, die nicht mißzuverstehen ist. »Lieber Adolf, willst du mir den Clavigo abtreten?« fragt er. Adolf, der gern Fische aß, aber nicht gern von ihnen gegessen wurde, nickt, gibt sein Wort, und die Sache ist abgemacht.

So ward es auf dem geduldigen See erzählt; indessen was den Clavigo betrifft – diese Rolle war's wohl nicht. Denn in denselben Tagen, auf demselben See, sprach mir Hartmann in neidloser Begeisterung sein Burgtheater-Triumphgefühl aus, wie man bei dem Münchener Gesamtgastspiel (im Juli 1880) den unbequem großen Sonnenthal in der so viel weniger dankbaren Rolle des Clavigo zwischen den beiden dankbaren: Carlos und Beaumarchais, zusammenzudrücken gemeint habe; er aber, mit seiner hinreißenden Herzenskraft, habe die andern rechts und links an die Wand gedrückt. Und noch nach Jahren, als ich Burgtheaterdirektor war, bat Hartmann mich zu wiederholten Malen, ihm den Clavigo wieder abzunehmen, den er [22] mittlerweile angetreten hatte: »Ich fühl' mich noch nicht reif dafür; gib ihn wieder dem Sonnenthal!«

Ich erzähle diese kleinen Züge nur, um zu zeigen, wie gute Kameradschaft im Burgtheater zu Hause war; ich hoffe, sie ist's auch heute noch.

In dieses Haus trat ich nun 1881, nach Dingelstedts Tod und einem Provisorium, als Direktor ein; am 1. Dezember, nachdem ich schon im November viel vorgearbeitet und mitregiert hatte. Es war ein schwerer Kampf in mir, eh ich mich entschloß; denn die Freiheit war mir wie Lebenslust, und mein Sprüchlein hieß: Zigeuner leb' ich, Zigeuner sterb' ich! Als Baron Hoffmann, der mittlerweile Generalintendant der Hoftheater geworden war, mir in unserem ersten Gespräch eröffnete, die Meinung sei, mir sogleich lebenslängliche Anstellung zu geben, so war mir zu Mut, als hätte der Gerichtspräsident mir, dem Angeklagten, »lebenslängliches Zuchthaus« verkündigt. Ich machte mir aus, daß ich jederzeit, auch ohne Invalidität, meinen Abschied nehmen könnte; mit bewußtem Verzicht auf jede Pension: denn die übliche, allgemeine beginnt erst nach dem zehnten Dienstjahr, und länger als fünf, sechs Jahre halt' ich's nicht aus! dessen war ich gewiß. Ich hätte auch nie Beamter und Direktor werden können, wenn man mir nicht eben das Burgtheater angetragen hätte, das noch in hoher, reicher Blüte stand und an dem mein Herz hing.

Daß ich mit vielen seiner Mitglieder befreundet, mit nicht wenigen verbrüdert war, das beirrte mich nicht; es hat auch zu keiner Stunde die Disziplin oder die Eintracht gestört. Meinem Sinn gemäß hab' ich[23] aber als Direktor nach drei Geboten gelebt, die mir wie kategorische Imperative waren:

Hab Geduld und Liebe! Greif zur Strenge nur, wenn's die Liebe nicht machen kann. Denn die Schauspieler sind, je nachdem der Führer ist, ein schwer und leicht zu führendes Volk; und du führst die Besten.

Mißbrauche nie deine Macht! Der Direktor, der nur die Stücke spielt, die er will, und der Herr aller Rollen ist, hat eine ungeheure Macht; wenn ausreichender Erfolg ihn stützt und er schlecht und klug ist, kann er auch den Freudigsten zur Verzweiflung bringen und den Stärksten brechen.

Behalt immer kaltes Blut! In der elektrischen Bühnenluft, unter diesem naturgemäß leichterregten, nervösen Volk muß einer sein, der nie außer Fassung kommt, der sich nie verliert.

Ich glaube, ich war meinen Geboten treu. Nur ein einziges Mal habe ich mit einem der Künstler einen Zusammenstoß gehabt; das war auf einer Probe, mitEmerich Robert. Wir kannten uns schon lange, fast freundschaftlich, von Berlin und von Laubes Stadttheater her; drei Jahre vor mir war Robert an die Burg gekommen. Durch eine schwere, jahrelange Krankheit oder sonst durch irgend ein übles Geschick in Kraft und Wohllaut des Organs verkürzt, hatte er nach und nach sich gleichsam ein System gemacht, das zu gefährlich äußerlicher Rhetorik führte, zu einem Pyramidenbau, sozusagen: wohlberechnete Einteilung der Rede, sachtes, stimmschonendes Beginnen, allmähliches, kunstvolles Wachsen und Schwellen, bis auf dem Gipfel die große Entladung kam, die, weil man sie als mächtige [24] Steigerung empfand, auch bei geringerem Kraftverbrauch noch gewaltig wirkte. Als ich nun Direktor geworden war, kam es zu vertraulichen, grundsätzlichen Erörterungen zwischen ihm und mir; ich zeigte ihm meine Abneigung gegen diese wie gegen jede Rhetorik, und wie sehr ich seine Rückwendung zur Unmittelbarkeit, zur Natürlichkeit und Schlichtheit wünschte. Emerich Robert, ein geborener »Gentleman«, für meine Art durchaus zugänglich, unterdrückte jede Empfindlichkeit, betrat den ihm zugewiesenen Weg, ersuchte mich immer aufs neue, seine Fortschritte zu prüfen, meine Mißgefühle auszusprechen. Er verbesserte seine alten Rollen, gab den neuen neue Töne. Zum Teil um ihm diese Umbildung zu erleichtern, wies ich ihm nun auch Rollen im Lustspiel zu, in dem er sonst fremd war: Bellac in »Die Welt, in der man sich langweilt«, Krasinski im »Probepfeil«. Er spielte sie mit einem ganz persönlichen, wirksamen Humor und mit großem Glück. Aber es entwickelte sich nun doch nach und nach, wie mir schien, ein Mißtrauen in ihm, wie es dem gewissermaßen absolut beherrschten Schauspieler so natürlich ist: er fürchtete offenbar, aus seinem eigentlichen Feld, dem großen Drama, mehr und mehr entfernt zu werden. So entstand wohl die Stimmung, in der er sich auf jener (etwas langen) Probe überraschenderweise sträubte, am Abend zu spielen; eine der »Ermüdungen«, die im Theater so bekannt und zu Hause sind. Meine Erwiderungen machten ihn nur hartnäckiger, schroffer. Er reizte mich, bis ich heftig ward und in gleicher Schroffheit meinen Willen durchsetzte. Es war der erste und letzte Fall.

[25] Wenn er nun aber denken mochte – nach kleinen Anzeichen schien es so – daß ich ihm das »nachtragen« werde, in mein Amt hinein, so sollte er bald genug erleben, daß das durch meine drei Gebote ausgeschlossen war. Mich verlangte schon lange danach, Shakespeares »Coriolanus« in meiner Übersetzung und Einrichtung zu spielen, und ich hatte den Eindruck gewonnen, daß Robert redivivus dafür reif geworden sei. Desgleichen stand mir Sophokles' »König Ödipus« in meiner Bühnenbearbeitung vor der Seele; auch das hoffte ich nun bald mit Robert zu wagen. Ich schickte ihm die eine, dann die andere Rolle. Er war überrascht, gerührt, verblüfft. Von der Stunde an war er mir das anhänglichste, dankbarste Mitglied, das ich haben konnte; und so blieb er auch, als ich wieder in der »Freiheit« war, bis zu seinem traurig frühen Tod.

Manches Gute dieser Art hab' ich als Direktor erlebt; dahin rechn' ich auch das friedlich herzliche Einverständnis, in dem ich mit Zerline Gabillon lebte, gleichfalls bis zum Ende ungetrübt. Es war eine Überlieferung im Burgtheater, daß mit dieser klugen, seinen, aber nach feststehender Meinung herrschsüchtigen und scharfzüngigen Frau kein Direktor auskommen könne. Sie hatte mit Laube und mit Dingelstedt viel gekämpft; sie hatte aber auch viel erlitten, das sie reizen mußte. Mit einer so mannigfach verbitterten und dabei gefährlich begabten Frau im besten Frieden zu leben, dazu war allerdings guter Wille nötig; nun, den hatte ich. Sie sah bald, daß ich mich bemühte, ihr vom Geist beherrschtes Talent zum Nutzen des Theaters und zu ihrer eigenen Freude zu verwerten. Ich fand Rollen für sie, [26] in denen sie die Feuerwerke ihres Salondamenesprits treffsicher abbrennen oder sonst ihr Gutes und Bestes geben konnte; ich suchte auf ihre oft zu geschliffene und unterstreichende Spielweise lindernd einzuwirken; sie kam mir mit wachsendem, verjüngendem Verständnis entgegen, und so trug sie noch frischgrüne Johannistrieberfolge davon.

Mein erstes großes Unternehmen rief aber Charlotte Wolter ins Feld: die Einstudierung von Sophokles' Tragödie »Elektra«, so wie ich sie für die Bühne übersetzt und eingerichtet hatte. Während des Provisoriums, eh ich kam, hatten die Burgschauspieler im Opernhaus die »Antigone« in Donners Versen und mit Mendelssohns Musik gespielt; die Wolter als Antigone, nicht gut beraten und durch die schwerflüssigen, hölzernen Trimeter in die Irre geführt, hatte sich einer langsamen, getragenen, halbmusikalischen Sprechweise ergeben, der Haltung und Gebärde entsprach. So war das Werk im November noch einmal über die Bretter gegangen, in Baron Hoffmanns Loge hatte ich's gesehn. »Messalotte,« sagte ich ihr, als wir zuerst von »Elektra« sprachen, »so wie Sie die Antigone gespielt haben, hab' ich's nun ganz und gar nicht im Sinn. Weg mit aller Musik! Heraus mit der alten Lotte! Wir wollen ein modernes Trauerspiel aufführen, das zufällig der alte Sophokles gemacht hat; und es soll so lebendig und natürlich wie nur möglich sein!« Die Wolter zeigte nicht die mindeste Kränkung; sie bat mich nur: studieren wir's! Zwei Vormittage nacheinander saßen wir beide in meiner Kanzlei, in die Elektra vertieft. Und wie sehr vertieft, das zeigte sie, als die Proben kamen: [27] die ganze Antigone war fort, Elektra lebte, in all ihrer flammenden Größe und rührenden Herrlichkeit. Wie schön sie auch in der Erscheinung lebte, brauch' ich nicht zu sagen. Welcher Mensch hätte die Frauengestalten des Sophokles so edel griechisch hinzustellen vermocht, wie dieses Kölner Bürgerskind!

Die Wirkung, der Erfolg war groß; wenn er sich auch früher als in modernen Dichtungen erschöpfte. Hätte man damals schon die heutige Unbefangenheit und Wärme für das antike Drama gehabt, so wär' es wohl ein ähnlicher Sieg geworden, wie später mit dem »Ödipus«.

Auch Euripides' Satyrspiel »Der Cyklop«, das der »Elektra« als Nachspiel folgte, befremdete noch, so sehr es gefiel. Ludwig Gabillon war ein mächtig überzeugender, gemütlich-humoristisch-greulicher Cyklop; Hartmann als Odysseus, Schöne als Silen, Thimig als erster Satyr gaben ein entzückendes Zusammenspiel. Mit einer Art von Heimweh denk' ich dran zurück.

Bald sollte dann eine andere Auferstehung folgen, und mit unwiderstehlichem, weit hinaus wirkendem Erfolg: Calderons größtes oder doch menschlichstes Werk, »Der Richter von Zalamea«, das den ehemaligen »Naturburschen« Bernhard Baumeister auf die Höhe seines Könnens, seines Ruhmes führte. Schon unter Dingelstedt hatte er neue Wege beschritten, als Falstaff und als Götz von Berlichingen den ganzen Reichtum seines genialen Humors und die vollsaftig deutsche Eichenhaftigkeit seiner Manneskraft vor uns ausgebreitet; frisch aus seiner Natur heraus, wie ich [28] es zu seinem Jubiläum im Mai 1877 auszusprechen versucht hatte:


Dir lachte der Mut, dir glühte das Mark;
Wie der heilige Christopher riesenstark
Trugst du das Leben, das schwere Kind,
Durch Sand und Flut, durch Sturm und Wind;
Trugst du die Kunst, das stolze Weib,
Hochschultrig wie zum Zeitvertreib.
Die »Künste«, die man erfeilschen kann,
Du sahst sie mit breitem Rücken an;
Du gabst die Kraft, der Glieder Erz,
Den Witz, die Lust, das volle Herz;
Du grübeltest nicht breit und lang,
Du schlugst an die Brust, bis der Funke sprang.
So wardst du, ohne Falsch und List,
Der Vollmensch, der du warst und bist!

Nun sah er sich aber, zum erstenmal, vor eine der farben- und entwicklungsreichsten Aufgaben gestellt: ein Bauer, der wie im Lustspiel beginnt, der gegen einen Knorren knorrig wächst, dann von einem furchtbaren Schicksal ergriffen, von tiefsinnigem Verhängnis mit dem rächenden Richterstab begnadigt wird, die ganze Vornehmheit seiner Seele und endlich ihre tragisch verzweifelte Heldenkraft entfaltet. Zuletzt kehrt er, mit der feinsten Wendung, zu seiner schlauen Bauernweisheit zurück.... Diese große Gestalt, eine der erstaunlichsten, die es gibt, war vor Baumeister, der dergleichen noch nie gespielt, nicht gleich in ihrem ganzen Reichtum aufgegangen; in der Leseprobe erschien sie noch etwas schattenhaft, ihre tragische Gewalt noch mit zu weichen [29] Händen gefaßt. Ich sprach mit ihm als Direktor und Freund: »Ich leb' länger in dem Werk als du, ich hab's übersetzt, hab's für die Bühne zurechtgelegt. Laß mich dir einmal vorsprechen, wie ich's fühl' und meine!« In der Kanzlei, wo die Wolter auf Elektra gehorcht hatte, las ich ihm den »Richter« vor. Er ergriff ihn nun mit seiner ganzen Kraft. Er wuchs voll hinein. Auf den Proben belebte er ihn mit seinem Blut, wie Odysseus die Schatten in der Unterwelt mit dem Opferblut. Als er am Abend der ersten Aufführung, im letzten Akt, dem Hauptmann Don Alvaro, dem Schänder seines Kindes, sich und alles Seine vor die Füße geworfen, auf Gericht und Rache verzichtend ihn mit allen blutigen Herzenstönen vergebens angefleht hat, ihm »die Ehre wiederzugeben«, und nun seine machtvolle Gestalt aufrichtet: »So schwör' ich – Bei Gott im Himmel Euch, Ihr sollt mir's büßen« – da brach ein solcher Sturm des Beifalls hervor, daß Baumeister wohl minutenlang nicht weiterreden konnte.

Sein und des Dichters Triumph war gewaltig.Ludwig Gabillon, als der gichtbrüchige, fluchende, heldenhafte, warmherzige General Don Lope, kam ihm fast an Ehren gleich; er schuf eine seiner prächtigsten, echtesten Gestalten, lebendig bis in die Knochen hinein, völlig herzgewinnend. Zu gute kam ihm auch hier, daß er der geborene Recke war; ihm den Haudegen nicht zu glauben, das war wohl unmöglich. Wenn Gabillon in Hebbels »Nibelungen«, als Hagen, beim Markgrafen Rüdiger zu Gast, den großen Schild prüfend auf die Erde stieß – auf derProbe, mein' ich – so dröhnten alle sieben Versenkungen, und die Mitprobierenden hoben [30] ihre Füße, als hätte er ihnen das beste Hühnerauge zerschmettert. Im zweiten Aufzug des »Richters von Zalamea«, da die vom Hauptmann angestifteten Soldaten Nachts vor Pedro Crespos Haus Unfug treiben, kommen Crespo (Baumeister) und Don Lope (Gabillon) zu gleicher Zeit bewaffnet auf die Straße, um auf die Übeltäter einzuhauen; Crespo vorn aus seinem Garten, Don Lope hinten vom Hause her. Gabillon mit einem nackten Schwert in der Hand war so gefürchtet, daß auf den Proben einer der Statistensoldaten nach dem andern zum Komparserieinspektor kam: ob er nichtvorn statt hinten seinen Dienst tun könne. Jeder kam mit irgend einem Vorwand; bis Ferrari, der Inspektor, merkte, daß sie alle die Gabillonsche Klinge zu meiden wünschten.

Nach diesem ersten tragischen Sieg erfocht Baumeister noch andere, auch auf klassischem Boden: als Christian Ulrich in Otto Ludwigs »Erbförster« und als Miller in »Kabale und Liebe«. Adolf Sonnenthal war ihm vorangegangen, als Othello, Wilhelm Tell, dann als Wallenstein; er wanderte mit immer größeren Schritten seines Weges fort. Ernst Hartmann entfaltete sich dagegen mehr und mehr als Nachfolger des früheren Sonnenthal, in alten wie in neuen Rollen; ganz besonders glücklich in Calderons »Dame Kobold«, Paillerons »Welt, in der man sich langweilt«, Augiers »Herrn Poiriers Schwiegersohn«, Shakespeares »Viel Lärm um nichts«.

Auch in meinem Lustspiel »Die Maler« trat er mit schöner, reiner Wirkung, mit liebenswürdig warmen Gemütstönen an Sonnenthals Platz; in demselben Stück, das mir die ganze Begabung von Stella Hohenfels [31] wie im Licht eines Blitzes zeigen sollte. Stella Hohenfels war schon acht Jahre im Burgtheater, als ich die Direktion übernahm; wunderbar und unwahrscheinlich traurig war es ihr ergangen: von Zeit zu Zeit leuchtete ihr der Stern eines aufglänzenden, vielverheißenden Erfolgs, so als Ariel im »Sturm«, als Prinzessin Katharina in »Heinrich V.«, als Georg im »Götz«; aber immer umwölkte sich ihr Himmel wieder, und sie erfror in einem Martyrium, wie es selbst auf der Bühne selten ist. In Knabenrollen, die sie mit ebensoviel Anmut wie Wahrheit und Seele spielte, hatte sie sich gleichsam ihr eigenes Gebiet geschaffen, das ihr niemand streitig machte; aber wer füllt mit solchen Aufgaben ein Künstlerinnenleben aus? – Als ich nun ihr Direktor ward, so reizte mich's von Anbeginn, ein so greifbar schönes Talent zur vollen Blüte zu bringen; wie groß aber, wie erstaunlich bildsam es war, sollten mir doch erst die »Maler« zeigen, in denen ich ihr die früher von meiner Frau gespielte Rolle der Else gegeben hatte. Sie wünschte mir die Rolle einmal vorzusprechen; ich lud sie ein und sie kam zu mir. Nachdem wir den ersten Aufzug gelesen hatten, sagte ich ihr: »Liebes Fräulein, das ist's noch nicht. Die ›kluge‹ Else entpuppt sich ja erst, und erst im dritten Akt, wo Leonore sie den, ausgekrochenen Schmetterling' nennt. Sie sprachen sie ungefähr so, wie Sie sie im dritten Akt zu sprechen hätten.«

»Bitte,« antwortete sie, »lesen Sie mir's vor!«

Ich las ihre Rolle im ersten Aufzug; dann auch in den folgenden. Sie dankte mir und ging. Ungefähr eine Woche später fragte sie, ob sie noch einmal zu mir [32] kommen dürfe. Sie kam. Nun las sie die Else. Ich erstaunte – und fort und fort. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Was ich ihr ein einzigmal vorgesprochen hatte, das kehrte nun alles zu mir zurück: gleichsam Wort für Wort, Ton für Ton, aber alles persönlich, lebendig, ihr Eigentum geworden. Ich hab' das sonst nie erlebt. Von dieser Stunde an – einer Festfreudestunde – war ich aus vollem Herzen entschlossen, aus Stella Hohenfels zu machen, was ich machen könnte.

Solange ich Direktor war, hab' ich denn auch die Freude und das Glück empfunden, für das Burgtheater aus ihr zu gewinnen, was gewinnbar war, und ihr das Glück des Schaffens, des Weiterschreitens zu geben, ohne das der Schauspieler doch nur der Ärmste der Armen ist. Sie hat gute Jahre gehabt. Sie war aber auch jeden Tag »zu haben«, sie versagte nie. Ihr guter Wille war so groß wie ihre Begabung und ihre Jugendkraft.

Sie schritt von Erfolg zu Erfolg. Nicht ein neues Mitglied des Burgtheaters, aber eine neue allererste Kraft war in ihr gewonnen.

3.
III

Als ich mich entschlossen hatte, Burgtheaterdirektor zu werden, war einer meiner ersten Träume: der ganze »Faust«! Nicht als eine Art von Ausstattungsstück mit unendlicher Musik, wie man ihn in Dresden gespielt, auch nicht in der seltsamen, mutwilligen Neunteilung des Bühnenaufbaus, in die ihn Otto Devrient hineingezwängt hatte, sondern auf unserer heutigen Bühne [33] und nur mit der sachlich geforderten »Pracht«, nur mit der ausdrücklich vorgeschriebenen Musik. Aber auch nicht wie irgend ein anderes Bühnenwerk eines großen Meisters, für den Alltagsbedarf, sondern als eine Welt für sich, gleichsam ein Festspiel der deutschen Nation. Meine Meinung war, wie ich hernach in einem Rundschreiben an das Gesamtpersonal des Burgtheaters sagte, »dem Repertoire diese größte vaterländische Dichtung, diesen Triumph der deutschen Kunst und des deutschen Geistes, in ihrer ganzen Entwicklung einzuverleiben, damit sie fortan von der Bühne herab, versinnlicht und verdeutlicht, die Schätze ihrer Poesie und ihres Tiefsinns ausstrahle«.

Von Länge oder Kürze also, wonach die praktische Bühne so viel zu fragen hat, war hier nicht die Rede; was für die Idee von Bedeutung, dichterisch von Wert, dramatisch lebendig, theatralisch möglich war, das alles sollte geschehen. So wagte ich denn auch getrost, nicht nur das »Vorspiel auf dem Theater«, sondern auch die vorangehende »Zueignung« in die Darstellung aufzunehmen; eine Kühnheit, die seitdem, sozusagen, durch Goethe selbst gerechtfertigt worden ist, da ein Weimarer Fund erwies, daß der Dichter eine Aufführung in ebendieser Gestalt im Sinne hatte. Bei unserm ersten Spiel (am 2., 3. und 4. Januar 1883) war dieses unvergleichbar klassische Vorspiel ein weihevoller Anfang; Hartmann als Theaterdichter, Baumeister als Direktor,Schöne als »lustige Person« ergänzten sich zum schönsten Akkord. Dann eröffnete den ersten Aufzug der Prolog im Himmel; er begann sogleich mit einem Bild, das die Seele mit Andacht und Entzücken [34] füllte. Ich erinnere mich, wie ich auf einer der reiferen Proben mit Sonnenthal im dunklen Parkett saß; der Vorhang war eben vor uns aufgegangen. Eine dunkle Wolkendekoration verhüllte den Himmel noch; allmählich lichtete sie sich, bei leiser, himmlisch verklärter Musik. Zuerst wurden nur drei Schatten sichtbar, regungslos im weiten Raum stehende Gestalten; sie wurden heller, körperlicher, nun sah man die weißen langen Gewänder, die Rüstung, die Flügel: die drei Erzengel standen da, noch unbeweglich, allein. Sonnenthal wendete sich zu mir und sagte mit gedämpfter Stimme, wie wenn wir auch beim Herrgott wären: »Das ist doch das Schönste!«

Es war nur schwierig, den »Herrn« so zu bringen, daß diese Andacht keinen Schaden erlitt; natürlich nur die Stimme des Herrn, denn leibhaftig durfte ich ihn nicht auf die Bretter stellen, und ich hätte es auch nicht gewollt. Ihn in seiner Unsichtbarkeit doch ahnungsvoll lebendig zu machen, dazu genügte eine mächtige Helle, die plötzlich aus der Höhe rechts hervorbrach und zu der sich nun alle Engel, auch die inzwischen hinzugekommenen, händefaltend oder kniend wenden; aber wie der Gottesstimme einen irgendwie übermenschlichen Klang oder doch eine Art von Erhöhung und Verklärung geben? Ich hab' viel versucht; Konrad Hallenstein, dem ich die Rolle des Herrn gegeben hatte, ward fast auf jeder Probe anders mißbraucht. Ich ließ ihn durch Sprachrohre von Pappe sprechen, stellte ihn auf eine Erhöhung, dann doppelt so hoch, bis zum Schnürboden hinauf, mehr vorn und mehr hinten. Es endete mit einer Art von »goldener Mitte«, ohne Sprachrohr. Hallenstein schilderte darauf »die Wege des Herrn im[35] Burgtheater« in einem humorvollen Gedicht, das ich leider nicht besitze; es war vollständig, wahrheitsgetreu und mit guter Kunst gemacht.

Die großen Schwierigkeiten begannen freilich erst im zweiten Teil; und wenn hier bei vielen meiner Schauspieler innere Zweifel und kopfschüttelnder Unglaube zu überwinden waren – was zu meiner stillen Freude im Lauf der gestaltgebenden Proben mehr und mehr geschah – so sträubte sich das alte Burgtheater in ganz anderer Weise: es behauptete zu klein und zu eng zu sein. Im zweiten, im dritten, im fünften Akt ist für so vieles Raum zu schaffen, so viel zu versenken oder heraufzuzaubern, so viel aufzubauen, daß es war, als stöhne der alte Kasten hörbar: es geht nicht, es geht nicht! Ich mußte mit ihm zuletzt um jeden Zentimeter kämpfen; und das Unglück wollte, daß der damalige »Maschinen- und Beleuchtungsinspektor«, Barrot, sonst ein braver Mann, an einer ernsten Erkrankung litt, die mit seinem Tode enden sollte. Er tat seinen Dienst, aber doch nicht mit der alten Kraft. Auf einer Dekorationsprobe, die ich mit ihm und seinen Leuten hatte, saß der gealterte, krankheitsmüde Mann mitten auf der Bühne auf einem Stuhl, schüttelte den Kopf, verzagend: »Herr Direktor, wir kommen nicht durch! Weiter geht's nicht mehr!«

Es mußte aber gehn, das war für mich so gewiß, wie daß Goethe den »Faust« geschrieben hatte. Ein sonderbarer, trauriger Zufall half mir: Barrots Krankheit nahm plötzlich überhand, er legte sich, ich mußte mit Bretschneider, dem unter ihm stehenden Theatermeister, weiterarbeiten. Bretschneider, ein noch [36] junger kräftiger Mann, sprang mit mir unverzagt in die Brandung hinein. Wir siegten langsam, zollweise. Wir erkämpften aber endlich vollen Sieg.

Bei dieser höchsten Kraftprobe des Burgtheaters – sie war es in jedem Sinn – standen mir auch die Maler, die Dekorierer mit aller Hingebung zur Seite; voran Joseph Fux, der »Vorstand des Ausstattungswesens«, dann seine Gehilfen, Lehner, Hochegger, die, wie ich in jenem Rundschreiben dankbar anerkannte, »im Burgtheater bisher ungekannte Wunder schufen, und deren Ausdauer so unerschöpflich war wie ihre Phantasie«. Ich hatte aber allen zu danken und hab's auch getan; den Sängern und Komparsen, dem Kapellmeister Sulzer und seinem Orchester, dem gesamten technischen Personal; so viel Gemeinsinn und Arbeitsfreudigkeit war wohl in keinem anderen Theater zu finden. Achtundachtzig Rollen waren an den drei Abenden des »Faust« zu spielen; sie wurden alle mit Liebe gespielt, und nach meiner Erinnerung keine schlecht. Wunderbare Fortsetzungen brachte der zweite Teil, in denen die Darsteller des ersten über sich hinauswuchsen: Lewinsky-Mephisto als phantastisch ungeheuerliche, voll Geist und Kraft durchgeführte Phorkyade, dann als Führer der Lemuren, im Kampf mit den Engeln, bis zum Höllensprung; Sonnenthal-Faust in der gespenstischen Liebe zur Helena, zuletzt als Hundertjähriger, Erblindeter, Sterbender; Thi mig-Schüler als »absurder Most«, der frech gewordene Bakkalaureus. Große Leistungen; doch ich hätteviel zu sagen, wenn ich alles erwähnen wollte, was dem Burgtheater Ehre machte.

[37] Die sonderbarste Aufgabe des dritten Abends war der dritte Aufzug: ein Geisterspuk sollte lebendig, zu herzbewegender Wirklichkeit werden, man sollte fast eine Stunde lang an etwas glauben, das schon schwer zu verstehen ist. Hier mußten äußere Mittel helfen, die durch das Auge zur Seele gehn. Faust will zur Helena (ich zitiere hier eine Weile mich selbst, aus der Einleitung zum gedruckten »Faust«); Helena dämmert, aber ein »Schatten«, in der Unterwelt. Soll er sie besitzen können – wenn auch noch so kurz – so muß sie aus dem Schattenschlaf zu einemlebengleichen Traum erwachen; einem Traum, der sie etwa in einen bedeutenden Augenblick ihres Erdenlebens zurückversetzt, mit dem sich dann Faust, der hinabgestiegene Wirkliche, phantastisch verbindet. Wird dies dem Zuschauer verständlich, dann verwirrt ihn nichts mehr; an schauerliche Märchen jeder Art ist er ja gewöhnt, man hat sie dem Wachenden von klein auf erzählt, als Träumender hat er sie selbst erlebt. Warum soll er nicht fassen, daß der Schatten eines Verstorbenen zu kurzem Traumleben erwacht und mit einem von uns sich zusammenfindet? Man muß ihn nur eben anschauen lassen, daß es so gemeint ist; seine Sinne müssen seinem Denken helfen. Der dritte Aufzug beginnt, der Vorhang hebt sich; tiefe Finsternis, die sich langsam erhellt, zur Halbnacht des »unerfreulichen, grautagenden, ungreifbarer Gebilde vollen, überfüllten, ewig leeren Hades«. Helena und ihr Gefolge ruhen, von einem grauen Schleier bedeckt, wie jetzt leblose Schatten; langsam erwachen sie aber, wie von irgend einem Traumgefühl geweckt. Zuerst regt sich Helena; sie hebt den Schleier, mit schleichender [38] Bewegung, löst sich aus ihm heraus. Nach ihr auch die andern. Endlich steht Helena aufrecht am Altar, schaut um sich, alles erkennend, sichtbar im Geist sich erinnernd. Sie erlebt sich wieder; sie »kommt vom Strande, wo wir erst gelandet sind«, sie ist die aus Troja heimgekehrte Gattin des Menelaus, »von ihm zu seiner Stadt vorausgesandt«. Die bange Sorge erwacht: was wird ihr vom schwergekränkten Gatten geschehen? – Mephistopheles, als Phorkyade, erscheint; die Märchenhandlung beginnt. Im Nebelflor verwandelt sich endlich der griechische Königspalast in die romantische Burg des Faust. Liebe und Schönheit finden sich zusammen.

Charlotte Wolter als Helena (nachdem sie am zweiten Abend als »böser Geist« schaurig erschüttert hatte) erfüllte alles, was die Dichtung wollte; wie wenn sie dazu geschaffen sei, das Unwahrscheinliche, das Märchenhafte mit Leben zu beseelen. Sie war auch – wenn auch nicht mehr jung – so griechisch schön, daß man sich nicht wundern konnte, als Faust, der Burgherr, mit dem gefesselten Turmwächter Lynceus kam, der, durch den Reiz der hereinziehenden Helena geblendet, ihr Kommen durch Hornruf zu melden vergessen hat. Lynceus kniet vor ihr, bekennt, wie es ihm ergangen ist, erlangt von ihr Vergebung. Diesen schnellverliebten Wächter sollte Hermann Schöne spielen; ich brauchte ihn hier, weil ich im fünften Aufzug auf der Schloßwarte seinen schönen Gesang brauchte: das hätte niemand so gekonnt wie er. Ihm war's aber peinlich, ganz nach seiner feinfühligen Art, daß er, der Komiker und Charakterspieler, so romantisch knien, so schönheitberauschte [39] Verse sprechen sollte; nachdem er's zum erstenmal auf der Probe getan, bat er mich, beschwor mich fast, ihm die Rolle abzunehmen. Ich durfte aber nicht auch wie der Türmer meine Pflicht vergessen: ich war Goethe schuldig, die wundervolle Nachtstimmung im fünften Akt, die der Gesang des Lynceus so lieblich einleitet, durch Schönes weiche, kunstvolle, herzbewegende Stimme zu verklären. Es half nichts, er mußte knien! Er machte auch das in guter Form, wie alles, was er machte; und als nächtlicher Sänger dann wirkte er so eigen deutsch romantisch, in all seiner Schlichtheit, daß mir immer weich und gut wird, wenn ich daran denke.

Die Märchenliebe zwischen Faust und Helena, durch das Vers- und Reimspiel so genial traumhaft-schnell entfaltet, schafft sich dann auch rasch ein Märchenkind; Euphorion tritt aus der Laube hervor, die Geburt dieses Traums. Für das ätherische Geschöpf, die schnell verflackernde süße Lebensflamme war Stella Hohenfels ebenso geschaffen wie Charlotte Wolter für die Helena; poetischer hat man sie nie gesehn. Kind und Jüngling zugleich, im duftigen Märchengewand, mit der goldnen Leier, den flammenden Stern auf dem Lockenhaupt, rührend selig schön, und als könnt' sie doch nicht auf der Erde dauern, schlang und schwang sie sich im Reigen dahin, stieg dann den Fels hinan, im Jugendrausch des Heldenmuts dem Untergang zu. Helena-Wolter, die Mutter, jammernd hinterdrein, Euphorion oben, todbereit den Arm erhebend, wie geträumte Poesie – ein unvergeßliches Bild. Er »wirft sich in die Lüfte«; er stürzt hinab. Aus der Tiefe steigt noch einmal seine Stimme herauf:


[40]
Laß mich im düstern Reich,
Mutter, mich nicht allein!

Er bleibt nicht allein, er zieht die Mutter sich nach. So ein gespenstisch Glück ist kurz; rasch wie Euphorion wuchs es, um schnell wie ein Traum zu vergehn. Haben wir am Anfang die Schatten zu diesem Traum aufleben sehn, so müssen wir nun auch sein Ende erblicken; mit dem Auge faßt dann der Geist das Wunderbild zusammen, wie in ein em Blick. Helena, oben auf dem Fels um ihr verlorenes Traumkind klagend, wirst sich noch einmal dem Faust in die Arme, dann entsinkt sie ihm: »Persephoneia, nimm den Knaben auf und mich!« Nur sieben Worte, aber aus der Wolter Mund die ergreifendste Musik. Faust sucht sie vergebens noch zu halten, sie entschwindet ihm. In demselben Augenblick sinken unten alle Frauen der Helena zur Erde und in sich zusammen, wie wieder zu Schatten geworden. Plötzliche tiefe Finsternis; der Vorhang fällt.

Dieser Schluß, nach diesem herrlichsten Märchen, wirkte so natürlich, so unmittelbar, daß bei der ersten Aufführung eine Begeisterung des Beifalls losbrach, wie ich sie wohl an keinem andern Theaterabend erlebt habe; und ich hab' doch manchen Sturm des Erfolgs erlebt. Kein »Abbild der Wirklichkeit« ergriff die Menschen so stark wie diese Phantasie, da alle Werkzeuge der Seele mit vereinter Gewalt sie begriffen hatten.

So überwältigend wirkte dann auch der fünfte Akt, den doch Geister und Schatten jeder Art, Lemuren, Teufel und Engel füllen, bis unsre Erde ganz verschwindet und der Himmel sich auftut. Auch hier gewann alles Leben und Blut durch die Kraft der Darstellung; [41] so die graue »Sorge« durch Zerline Gabillon, die nicht rastete, bis sie in ihrem Gespräch mit Faust auf dem Vorhallendach das geisterhafteste, schaurig markdurchschleichende Raunen erreicht hatte. Es sollte aber jedes ihrer Worte, auch das gehauchteste, noch verständlich sein; so verteilten denn wir andern uns mehr als einmal im ganzen Haus, um festzustellen, ob's immer und überall noch reiche. Sie war eine so gute Sprecherin, daß es zuletzt vollkommen gelang. Ebenso ruhten wir, der Direktor und die Regisseure, nicht, bis der Gesang der Lemuren, die dem Faust sein Grab graben, das Musikalisch-Wirkliche, das der Kapellmeister ihm gegeben, ganz verloren hatte; es ward nach und nach, bei immer neuem Bemühen, etwas schauerlich Schattenhaftes, wie aus Grüften heraufgestiegen, wie es sich für diese »aus Bändern, Sehnen und Gebein geflickten Halbnaturen« geziemte.

So erhebend wie ergreifend war dann Faust-Sonnenthals Tod. Er verstand, er fühlte, daß er das schönste Sterben zu spielen hatte, das die Bühne kennt.

Der Beifall am Schluß war so begeistert, stürmisch, endlos, wie nach dem dritten Akt. Mit allen Taschentüchern winkten sie dem Direktor zu, da sie dem Dichter nichts antun konnten.

Dies war mit Naturnotwendigkeit mein schönster, festlichster Erfolg; ihn zu überbieten oder zu erreichen war nicht mehr möglich. Ich habe freilich noch viele Abende erlebt, die ich Festabende nennen konnte; so die beiden, an denen ich den ganzen »Wallenstein« in neuer Besetzung und Ausstattung, mit Sonnenthal, mit Anspannung [42] all unserer Kräfte gab, um auch dem Schillerschen Hauptwerk eine würdige Auferstehung zu bereiten. Calderons reizendes Lustspiel »Dame Kobold« folgte seinem »Richter von Zalamea«; neben Hartmann und der Hohenfels, die das führende Paar mit bestem Humor und liebenswürdiger Anmut spielten, wirkte Karl Meixner mit unwiderstehlicher Komik als der Diener Cosme, in dem er eine seiner wirksamsten Gestalten schuf. Auf einen höchsten Gipfel stieg aber das Burgtheater noch einmal mit der Aufführung des Sophokleischen »König Ödipus«, den ich von Anfang an gewollt, ersehnt, aber erst im Dezember 1886, als ich eines zulänglichen Ödipus sicher war, auf die Bretter brachte.

Wie wenig die Kraft, die Bühnenkraft dieses Wunderwerks bis dahin bekannt, wie wenig man auf einen großen Erfolg vorbereitet war, davon zeugt am besten, was ich mit meinem damaligen Generalintendanten, dem Freiherrn von Bezecny, erlebte, dem diese Erinnerung an ein so seltenes, erhebendes, aber viel leicht doch halbverblaßtes Ereignis Freude machen wird. Ich hatte ihm, wie in jedem Fall, mitgeteilt, daß ich den »Ödipus« nun endlich aufzuführen vorhätte; ich war, wie in allem, was zum künstlerischen Betrieb gehört, auch darin unbeschränkter Herr; so nahm er es denn auch rein als Mitteilung hin. Ich hörte aber bald von andern, daß er sich mit kopfschüttelnden Bedenken darüber ausgesprochen habe; ihm schien grade jetzt ein starker, packender Erfolg nötig, mit einem kräftigen, modernen Stück; »da will er nun mit demÖdipus kommen! Was nützt uns der Ödipus!« Ich glaube, an seiner [43] Stelle hätten von hundert neunundneunzig ebenso gedacht; wer kannte denn den Sophokles? Die gelehrten Übersetzer hatten ihn nur scheinlebendig, zum Teil mausetot gemacht. Als nun aber die Tragödie am Abend erschien – für die lebendige Bühne von mir übersetzt, die Chorgesänge in Mitspieler aufgelöst; Emerich Robert als Ödipus, in griechischer Wohlgestalt und Beredsamkeit, aber mit der Freiheit, dem Feuer, den Seelentönen unserer Tage; Joseph Lewinsky als Teiresias von erschütternder Gegenwirkung, höchster Redekraft; auch die geringeren Rollen lebensvoll; und nun die Handlung mit ehernen Schritten auf die vernichtende Enthüllung eines dunklen Rätsels unaufhaltsam zuschreitend, bis das Schicksalstor aufspringt – als das alles sich vollendet hatte und der Vorhang fiel, da brach wieder ein Sturm des Beifalls los wie in Goethes »Faust«; er konnte nur um ein weniges geringer sein. Ich verließ geschwind meine Loge, damit nicht wieder begeistert übertreibende »Demonstrationen« wie damals erfolgten; überallhin begleitete mich aber das brausende Getöse. Ich kam auf die Bühne; dort stand Baron Bezecny, allein, mit so erregten, bewegten, erschütterten Zügen, wie ich nicht oft einen Menschen gesehn. »Herr Direktor!« stieß er hervor. »So einen Eindruck hab' ich noch nie im Theater erlebt!«

Wenn das Sophokles hören könnte! dachte ich.

Das Getöse dauerte fort; ich weiß nicht, wie lange. »So lassen Sie doch aufziehn!« sagte Baron Bezecny, und immer wieder. »Zeigen Sie sich doch! Eher geben die keine Ruh'!« Ich blieb aber standhaft, der »Satzung« treu. Im Burgtheater soll der Direktor nicht erscheinen, [44] und die Schauspieler auch nicht; nur für Dichter, Gäste und Jubilare hebt sich der galante Vorhang. Wie jeder Lärm nahm denn auch dieser ein Ende.

Ich hab' dann auch noch den »Ödipus in Kolonos« gegeben, mit schöner, feierlicher Wirkung; so hinreißen, so spannen und entladen konnte er seiner Natur nach nicht. Ehe das Schlußstück »Antigone« zu folgen bereit war, hatte ich das Burgtheater verlassen; die Vollendung dieses herrlichen Zyklus erlebte ich nicht. Antigone schläft auch noch heute ihren Dornröschenschlaf.

Einer meiner glühendsten Wünsche war all die Zeit gewesen, außer den großen Dichtungen neue, blutjunge Kräfte ersten Ranges meiner Bühne zuzuführen, sie zu finden, zu pflegen, zu bilden; diesem Zweck hätt' ich gern jede noch freie Stunde geopfert. Leider hab' ich nur einmal dieses Glück gehabt! Bei einer Vorstellung der Theaterschule des Wiener Konservatoriums hatte ich Agathe Barsescu als Mitwirkende gesehn; sie kam dann, um im Burgtheater vor mir und den Regisseuren Probe zu spielen. Ihre schöne Violastimme, ihr ausdrucksvolles Bühnengesicht, ein gewisses Feuer, das noch nicht wußte, wo hinaus, waren mir vielversprechend aufgefallen; sie war aber bereits an das Deutsche Theater engagiert, das eben damals (1883) in Berlin entstand. Im Herbst desselben Jahres, auf einer Amtsreise nach neuen Talenten, kam ich auch nach Berlin; ich lernteAgnes Sorma kennen, die mir bei ihrem zweiten Besuch durch ihren Vortrag von Gretchens »Ach neige, du Schmerzenreiche« einen tiefen Eindruck machte, aber gleichfalls schon an das Deutsche Theater gefesselt war; ich sah dann die Barsescu wieder.[45] Sie hatte bereits, eh sie noch gespielt, große Enttäuschungen oder Kränkungen erlebt; in dem leitenden Konsortium (bis auf L'Arronge lauter Schauspieler) glaubte sie einen entschiedenen Gegner zu wissen und wußte sie keinen, der für sie war. Sie wollte wieder fort. Sie sehnte sich nach Wien zurück und ans Burgtheater.

Da stand ich nun vor einem Fall, wie ich ihn geträumt! Was ich gern mit der Sorma versucht hätte: ihre verheißungsvolle Knospe als Gärtner zur Zentifolie zu entfalten – sie aber, durch das überall bekannte Martyrium der Hohenfels geschreckt, wollte nicht vom Deutschen Theater lassen, wo ihr ein Leben voll Rollen winkte – das konnte ich etwa mit der Barsescu erreichen, wenn das Glück mir günstig und der Goldgehalt ihrer Begabung zulänglich war. Ich sagte ihr endlich: »Ich will das Meine wagen; wagen Sie das Ihre. Versprechen kann ich nichts! Wenn Sie sich hier losmachen können und die Mittel haben, eine Weile in Wien zu leben, so kommen Sie; ich will mit Ihnen ein paar große Gastrollen studieren, so lange, bis ich Sie darin im Burgtheater hinausstellen kann – oder bis ich sehe: es geht nicht. Sie sind noch ›blutige Anfängerin‹. In Ihrem Deutsch ist noch viel Rumänisch. Es reizt mich aber, das Wagnis reizt mich. Mißlingt es, vor oder auf der Bühne, so haben Sie nichts, gar nichts! – Wollen Sie's versuchen?«

Sie sagte auf der Stelle ja. Sie hatte einen blinden, verwegenen Mut. Nach wenigen Wochen erschien sie in Wien; vom Deutschen Theater war sie mit leichter Mühe losgekommen. Mein Studium mit ihr [46] begann, in einer der schönsten und reichsten Rollen, die ein Mädchen spielen kann, die aber auch einen ganzen Menschen fordert: Hero in Grillparzers »Des Meeres und der Liebe Wellen«. Eine Riesenarbeit, wochenlang! Die Barsescu faßte schnell, ihr junges Organ schmeidigte sich leicht, die mädchenhaften wie die tragischen Töne gewannen täglich an Natur und Blut; aber so viele Geheimnisse der Technik mußten ihrer bisher unberatenen Jugend erst lebendig werden, und die undeutschen Klänge und Silben in ihrer Sprache kämpften einen zähen Kampf. Ich studierte (wohl oder übel; die Auswahl an Rollen war gering) auch Mosenthals »Deborah« mit ihr. Lehrer und Schülerin ermüdeten nicht. Gegen Ende November konnte sie endlich als Gast, als Hero, auf die Bretter treten. Es ward ein Triumph für sie und mich, über Erwarten groß. Die Beseelung, nach der ich vor allem gerungen hatte, die Erfüllung von Wort und Ton und Gebärde mit dem innersten Herzensleben, so daß sich die Seele wie hinter einem Schleier bewegte, wirkte überraschend, hinreißend, da man wußte: sie kommt von der Theaterschule. Dazu der dunkle, geheimnisvolle Wohllaut ihrer jungen Stimme, die Anmut ihrer großen, aber gut beherrschten Gestalt, in der wohl etwas von altrömischen Schönheitsgefühlen lebte.

Es ward ein zu großer Erfolg; wenigstens gefährlich groß: denn wie konnte ich dieser Jugend, die noch so viel zu lernen hatte, viele auch nur ähnliche Siegesmöglichkeiten schaffen? Die Erwartungen waren hoch gespannt, und Rollen wie Hero wachsen nicht wild. Schon die zweite Gastrolle, Deborah, mit ihrer Talmipoesie, [47] ihrer oft unbeseelten Rhetorik konnte nicht die gleiche Begeisterung erwecken. Indessen der Sieg war errungen, die Begabung hatte sich offenbart; und die erste Rolle, welche die Barsescu als engagiertes Mitglied spielte, Shakespeares Julia – wieder gemeinsam studiert – kam an Reiz und Erfolg fast der Hero gleich. Darauf erkrankte sie aber schwer, war fünf Monate lang invalid; auch sie einer der großen Fälle meines »Theaterpechs«, das mich, solange ich Direktor war, mit merkwürdiger Erbarmungslosigkeit verfolgte. Kräfte wie Baumeister und Hartmann haben mir je ein ganzes Jahr gefehlt; Schöne, Thimig, die Barsescu und andere brauchten viertel und halbe Jahre zur Genesung. Kamen dann noch eine oder zwei plötzliche, wenn auch kürzere Erkrankungen erster Mitglieder hinzu, so stand die Maschine still. Wie reich war mein Leben an Notgesprächen mit dem Theaterdiener oder »Ansager«, dem klugen und erfahrenen Lorey, dem »Minister der unerfreulichen Angelegenheiten«; wie oft kam er in meine Loge oder meine Wohnung mit einem Gesicht, das zu sagen schien: was spielen wir denn heut abend noch? Von hundert Stücken standen zuweilen nicht fünf.

Nach ihrer ersten Genesung – sie erkrankte noch mehrmals auf lange Zeit – traten in Agathe Barsescus Entwicklung einige Verlangsamungen oder Hemmungen ein, die offenbar mit ihren Leiden zusammenhingen; sie ging aber doch mit schönen Erfolgen ihrem Ziele zu, die jugendliche Tragödin des Burgtheaters zu werden. Als ich aber den Direktorstab niederlegte, verlor sie in der Burg den Sonnenschein; während August [48] Försters kurzer Herrschaft fand sie ihn noch wieder, dann kamen neue Konkurrenzkämpfe, denen sie entfloh. Man gab ihr die verlangte Entlassung; gewiß nicht zum Vorteil des Burgtheaters, dem so oft eine Tragödin fehlt.

So entging mir die Freude, für diese geliebte Bühne so recht eigentlich gepflanzt zu haben; ich mußte zufrieden sein, ihr schon Blühende oder Halberblühte zuzuführen, wie Katharina Schratt, Max Devrient, Georg Reimers, die zu Zierden oder auch zu Säulen des Burgtheaters geworden sind. Sonst kann ich nur sagen, daß ich Stella Hohenfels und Hugo Thimig, die noch nicht recht in der Sonne standen, mit liebevoller (und immer belohnter) Pflege zur vollen, hohen Blüte gebracht, in diesem Sinn dem Burgtheater gewonnen habe. Wie sehr Hugo Thimig dieses mein Verhältnis zu ihm empfand, das bewies mir ein rührendes Geschenk, das er seinem scheidenden Direktor machte: ein Kasten in Buchform mit Photographien nach allen Rollen, die er während meiner Zeit neu gespielt; auf den Rücken war, wie bei Büchern, gedruckt: »Thimig. Ausgewählte Werke, 1881–1887, bearbeitet und herausgegeben von Ad. Wilbrandt.«

Ich verließ das Theater, weil meine Zeit gekommen war: die Nerven waren »dieses Treibens müde«, und der Dichter, auch der (lebenslängliche) Student verlangten übermächtig nach Freiheit. Heimweh nach der Bühnenherrlichkeit hab' ich nie empfunden; meine Anhänglichkeit an das Burgtheater kann aber wohl nur mit mir vergehn. Wenn in diesen Erinnerungen viele Namen fehlen, so wird das niemand wundernehmen: die Zahl der Gestalten ist zu groß, die auf dieser Bühne [49] in so vielen Jahren an mir vorübergeschritten sind. Von Amalie Haizinger an durch eine lange, edle Künstlerreihe bis zu denen, die auch im kleinen Großes leisteten, wie viele hätte ich noch nennen oder schildern können! Mögen diese, so viele ihrer noch leben, nicht denken, daß ich sie vergessen habe. Ich hab' nur nicht die Chronik meiner Burgtheaterzeiten schreiben, sondern von dem, was mir grade durch die Seele ging, hinplaudernd erzählen wollen. Wirklich vergessen, oder halb vergessen, hab' ich nur die Beschwerden, die Übelstände, die Anfechtungen und Verlästerungen, die jene Jahre begleiteten. Sie sind in ihrer groben Erdenschwere allmählich niedergesunken, liegen still am Boden, während ich in der reinen Luft meiner schönen, goldigen Erinnerungen schwebe.

Wer die Übel des Lebens ewig wiederkäut, dem mag es freilich wenig wert sein. Das Talent, so unvernünftig zu leben, hab' ich zum Glück nie gehabt.

Allerdings, mir wird nicht recht wohl zu Mut, wenn ich an dem neuen Prachtbau der Burg am Michaelerplatz vorübergehe und die Stätte suche, wo das spurlos verschwundene, kleine, unscheinbare Burgtheater stand. Es war eine Welt! und wir haben darin ungezählte schöne Stunden, inhaltsvoll wie Tage, gelebt. Nein, es hat selber gelebt; wie ich damals, als zum letztenmal drin gespielt ward, im Oktober 1888, in meinem trauernden Abschiedsgedicht schrieb:


Du selber lebtest! – Was ist tot? Du nicht;
Dir gab die Zeit dein eigenes Gesicht,
Aus deinen Mauern wehte Lebenshauch,
Wir sahn es wohl und wir verspürten's auch.
[50]
Verklungner Stimmen edler Widerhall,
Altheiligen Strebens frommer Weihrauchschwall
Blies ringsumher, die dich bewohnten, an:
Ein jeder wirkt, so gut er wirken kann,
Ein jeder hört und fühlt des Geistes Gruß,
Und spannt sich an, und will nun, weil er muß.
Klein, schmal und enges Haus! Was tut's? Es strebt
So feuriger die Brust – wie wir's erlebt –
In dieser Enge groß und frei zu schalten,
Das Bild, des Wortes Bruder, zu gestalten,
Bis unsrer Seele geistig flücht'ger Traum
Einwurzelt, körperhaft, im harten Raum.
Da schienst du dich zu dehnen, kleine Schale
So weiten Inhalts; wie im Weltensaale
Erklang der Engel Gruß, der Seelen Not,
Des Lebens Schlachtruf und der Fried' im Tod...
Nun sinkst du hin! Das letzte Spiel ist aus!
Wie deine Toten trägt man dich hinaus.

Doch mit diesem Klageton möchte ich nicht schließen. Laßt mich's lieber mit den Versen tun, die ich an den Patriarchen des Burgtheaters, Adolf Sonnenthal, 1901 zu seinem fünfzigjährigen Schauspielerjubiläum als telegraphische Depesche schickte, nachdem ich gelesen hatte, daß er zuerst als Phöbus im »Türmer von Notre-Dame« aufgetreten sei:


Als Phöbus, sagt man, singst du an. Ich glaub' es gern.
Phöbos Apollon wurd'st du dann der alten Burg,
Und bliebst es immer! Warst der Fernhintreffende,
Warst Musenführer, warst dann auch in schwerer Zeit
Übelabwender, warst Orakelspender auch,
[51]
Zuletzt patroos, väterlich, mit Recht genannt.
O bleib's noch lange! Sonnenthal und Sonnengott!
4.
IV

Noch wieder Burgtheatererinnerungen? Ich dachte, davon hätte ich ausgeredet; ich hatte ein Ende gemacht. Aber »sich erinnern« ist ein gutgefundenes Wort; immer lebendiger wird's im Innern, je länger man zurückblickt. Nachdem ich ein Ende gemacht hatte, ging das Gedenken und Wiederwachwerden fort; ich habe noch nie so warm und voll in den alten Zeiten gelebt. Freundliche und dringende Aufforderungen, die dann an mich kamen: »sag uns noch mehr davon!« fanden das »Innere« schon halb bereit, sich nochmals zu »äußern«. In alten Papieren blätternd, entdeckte ich noch dies und das, Ernsthaftes und Heiteres, Ungedrucktes, aus dem mich die Stimmung und Farbe jener Tage anblickt. Ich hoffe, sie blickt auch den Leser draus an, den freundlichen, dem es Freude macht, von guten Zeiten des alten Burgtheaters zu hören.

Als ich es (1871) kennen lernte, standen zwei der großen Alten noch in spätherbstlicher, aber schöner Blüte: Karl Laroche und Amalie Haizinger. Ja, sie lebten auch beide noch, als ich mehr als zehn Jahre später Burgtheaterdirektor wurde; aber sie hatten ausgespielt, sich zur Ruhe gesetzt, sie standen gleichsam wie lebendige Bildsäulen, in der Vorhalle des Tempels als Vorbilder aufgestellt. Die Haizinger war 81, Laroche 87 Jahre alt. Siebenundachtzig Jahre! – Damals, 1871, war er noch ein jugendfrischer Siebenundsiebziger; seit sechzig [52] Jahren hatte er gespielt (in Weimar unter Goethes Augen), seit 1833 in der »Burg«. Unerschöpflich schien seine Lebenskraft. Man sah ihn nur älter geworden, nicht alt; man freute sich an seiner vollkommenen, gesunden, gleichsam rotbäckig anlachenden Reife, aber daß er einmal vom Baum fallen würde, daran dachte man nicht. Ich weiß noch, welches Staunen mir durch die Glieder ging, als ich den Achtziger in dem Schauspiel »Die Furcht vor der Freude«, von Frau Girardin, als alten Diener Freudensprünge machen sah, Luftsprünge, fast wie wenn ein Gummiball springt. Es war eben einer der nicht gewaltigen, aber glücklichen Organismen, in denen keine verzehrende Flamme brennt, aber viel aufgespeicherter Sonnenschein behaglich, lebenerhaltend glüht; oder wie ich 1884 als Direktor an seinem Grabe sagte: »In ihm war die glückliche, urgeborene Harmonie, die der rastlose Ehrgeiz mit allen Künsten nicht einfängt; von ihm durfte man sagen, was ein Allergrößter, was Goethe von sich gesagt hat: daß seine Natur wie getrennte Quecksilberkügelchen sich so leicht und schnell wieder vereinigte. Darum erwuchs ihm auch so leicht und so unfehlbar die Einheit seiner Gestalten; so vornehm bescheiden wahr traf er die Natur, daß das Zusammengesetzteste aller irdischen Dinge, der Mensch, als das Einfachste, das Selbstverständlichste erschien. Nicht die erschütternden und reinigenden Gewitter der Tragödie, nicht die schaurige, tragische Herrlichkeit des Todes war das Element seiner Kunst; aber die ganze Liebenswürdigkeit des Lebens, das innig Erheiternde, kernhaft Erfrischende, mild Ergreifende, herzlich Rührende; alles, was imLichte lebt, alles, was [53] sonnig ist. Denn so war er selbst; ein Sohn des Tages und ein Lebenskünstler, der Geselligste unter dem geselligen Geschlecht der Menschen, jedem Genusse hold, so wie ihm der Genuß.«

Ein Wesen von ähnlicher Art war auch Amalie Haizinger, die in demselben Jahr wie Laroche (in ihrem fünfundachtzigsten Lebensjahr) starb: nichts Vulkanisches oder Großes in ihr, aber alles, was unter den Menschen »angenehm, wohlgefällig macht«. In ihrer Jugend verführerisch reizend, schön, zur Schauspielerin geschaffen, in allen sympathischen Rollen glänzend, war sie geliebt und gefeiert worden wie wenige; ich kenne ein im Druck erschienenes Buch, in dem eine Welt von Huldigungen in Vers und Prosa, in jeder Gestalt, die göttliche Amalie auf Hunderten von Seiten verherrlicht. Als ich sie kennen lernte, war sie längst »Mama Haizinger« geworden; jeder nannte sie so. Auch eine schöne alte Frau konnte man sie nen nen; immer gepflegt, »appetitlich«, wie eben aus dem Schächtelchen genommen; Gesundheit und Freude am Leben lachte aus dem leichtbeweglichen Gesicht. Auf der Bühne wirkte sie unwiderstehlich durch ihre durch und durch lebendige, anmutige, seine, fröhliche Kunst, die nie zu viel, nie zu wenig tat; im Leben gefiel sie durch ihr beständiges Verlangen, jedermann angenehm zu sein; was sie oft in drolliger Weise bis zum Äußersten trieb. Sie wollte eben gefallen, wollte Freude machen; und wie viele hat sie gemacht!


Hell wie der Vollmond strahlte sie und mild,
Die wir »Mama« und »ewige Jugend« nannten,
[54]
Und die nun starb. Sie war des Mondes Bild
Wohl auch im kühlen Strahl: nicht heiß entbrannten
In ihr die Flammen, die kein Wasser stillt
Als das der Träne; nicht die gottgesandten
Allmächt'gen Triebe schwellten ihr die Brust –
Doch milde Weisheit, reinste Lebenslust.
Das ist dahin, wird so nicht wiederkommen;
So siegreich treffend wie Apolls Geschoß!

Das schrieb ich nach ihrem Tode, im August 1884; wie wahr ist es noch. Ich habe nichts Gleiches gesehn.

Sie war auch eine glänzende Erzählerin, mit oder ohne Dialekt; dieses Talent, das unter den Komödianten so verbreitet ist, war bei ihr noch durch einen eigenen poetischen Reiz geschmückt. Wenn die Burgtheaterleute sich bei irgend einem besonderen Anlaß zu einem festlichen Abendmahl versammelt hatten, so hieß es gern, sobald die Tischreden und die Bacchustrankopfer vorüber waren: »Mama Haizinger, erzählen Sie Geschichten!« Und die junge Alte erzählte, bis in die tiefe Nacht. Sie spielte etwa eine Szene aus dem »Don Carlos«, aus ihren Karlsruher Zeiten, zwischen vier Schauspielern beiderlei Geschlechts, die alle vier eine sich überschlagende Stimme oder einen anderen Sprachfehler hatten; man lachte sich tot. Oder sie trug pfälzische Gedichte von Kobell und Nadler vor, mit der höchsten komischen Kraft und der feinsten Anmut; oder sie erzählte Berliner Anekdoten im echtesten Berliner Dialekt, Zwiegespräche von Marktweibern, z.B. über den Apollo hoch oben auf dem königlichen Schauspielhaus, nach dem die eine, Unwissende, fragt. [55] »Det is der olle Iffland,« belehrt sie die andre; »der hier früher Theaterdirektor jewesen is von det Schauspielhaus.« Und da die erste sich wundert, daß er da oben »so in't bloße Hemde« steht, belehrt die andre sie weiter: »Ach, Kulleken, da müßten Se de Komödianten kennen: det schämt sich nich und det jrämt sich nich!« – Es war alles die vollkommene Kunst des Erzählers und erschien alles als die reine Natur.

Mama Haizinger lebte aber eigentlich nur im Theater, wenigstens zu meiner Zeit; sie war auf die drolligste Art weltfremd und naturfremd; ja selbst auf der Bühne, auf der sie so ganz zu Hause war, konnte ihre träumerische Art sie raumfremd machen. Ich erinnere mich, wie sie auf einer Probe, auf der nur vorläufig einige Zimmerdekorationsstücke, nicht die richtigen, aufgestellt waren, nach ihrem Gutdünken seitwärts abging; August Förster, der die Regie hatte, rief ihr nach: »Mama Haizinger, da können Sie nicht hinaus, da ist eine Wand!« Diese Belehrung erschien ihr offenbar so unwichtig wie überflüssig; sie änderte zwar ihren Kurs, aber mit gedämpfter Stimme, unfreiwillig höchst komisch, stieß sie in ihrer ausdrucksvollen Weise hervor: »Pedant!« Und doch war sie sonst die gewissenhafteste Schauspielerin, die man sehen konnte. – Als 1873 der gestürzte und vertriebene Kaiser Napoleon III. in England, in Chiselhurst, gestorben war, teilte man es der Haizinger während einer Vorstellung hinter der Kulisse mit; die Nachricht war eben gekommen. Sie sagte einige bedauernde Worte; dann zog aber träumerische Verwunderung über ihr Gesicht: »Wie kommt er denn nach Chiselhurst? Warum bleibt er nit in sein' Land?«

[56] Vor allem war sie naturfremd; die gemalte Welt im Theater war ihr ganz genug. Wenn ich als Direktor im Juni, auf Proben oder Abends, Berg- und Seedekorationen sah, so ging mir's oft wie ein plötzlicher Schlag durch die Brust: das »Hinausweh« nach der langen Winter- und Theaterzeit. Der Haizinger ging's umgekehrt: aus der Sommerfrische im Gebirg sehnte sie sich bald nach ihrem Burgtheater zurück; zwischen den bemalten Leinwänden, in der dicken, durchstäubten Luft, in den engen, heißen Räumen dieses alten Kastens fühlte sie sich wie der Fisch im Wasser. Was lag ihr an den wirklichen Bergen, die weder Bühnen noch Zuschauer waren, mit denen man also nicht leben konnte. Einmal hatte sie Laroche in Gmunden besucht, wo der alte Kollege in seinem schlichten Häuschen nahe am See seine vergnügten, gastfreien, durch gute Küche verklärten, möglichst langen Sommer verbrachte. Sie stattete darauf auch Hebbels, die gleichfalls in Gmunden übersommerten, eine Visite ab; man führte sie aus Fenster, um ihr den in all seiner Pracht hereinschauenden König des Gmundener Sees, den Traunstein, zu zeigen. Da wendet sie sich aber kurzweg und mit einer Art von Empörung ab: »Den hab' ich ja schon beim Laroche g'sehe!«

Ob es solche Theatermuscheln noch gibt? Ich kenne keine zweite.

Mir war auch dieses schwerfaßbar Fremde ein neuer, sie humoristisch schmückender Reiz; und mehr als einmal hab' ich sie angesungen, so zu ihrem siebenundsiebzigsten Geburtstag, in einem »Höhere Mathematik« benannten Gedicht:


[57]
Siebenundsiebzig! Üble Zahl!
Einmal sieben und noch einmal;
Siebenundsiebzig heißt geschrieben:
Eine doppelt böse Sieben!
Siebenundsiebzig! Laß den Leuten
Diese Zahl mich schöner deuten.
Siebenundsiebzig: sieb'n mal else;
Böse Sieben, gute Else.
Böse Sieb'n bist nie gewesen;
Gute Elfe auserlesen!
Siebenundsiebzig Zaubergaben
Lockten dir die Menschenknaben.
Ob auch Siebenundsiebzig kamen,
Elfenkünste auszukramen,
Siebenundsiebzig her und hin:
Du der Elfen Königin!
Mögst du siebenfach gedeihn,
Bis die Elfe sich erneun:
Siebenundsiebzig – achtundachtzig;
Dann so fort; die Sache macht sich!
Doch von böser Sieb'n zu sprechen,
War's zu neckisch? War's Verbrechen?
Siebenmal elf ist sieb'nundsiebzig –
Was sich neckt, du weißt, das liebt sich!

Achtundachtzig alt zu werden – wie Laroche, der fast die Neunzig erreichte – sie hat's nicht erlebt. Auch das ward ihr nicht gegönnt, wovon sie noch unter [58] meiner Direktion und bis in ihre letzten Zeiten träumte: noch einmal aufzutreten! ein einzigmal! und wenn auch gar nur in Schillers »Glocke«, in einem lebenden Bild. So hing sie an ihrer Austernbank, ihrer Welt. »Nur die Nerven, die dummen Nerven, die wollen's halt nit!« Sie wurden sogleich ruhelos, wenn nur der Gedanke kam: auf die Bühne treten! – Zuletzt machte die »große Ruhe« das Ende.

Wenig von dieser Art hatte Franz von Dingelstedt, der Direktor des Burgtheaters, als ich als Dichter nach Wien kam; ein Mann, der zwar dreißig Jahre lang Bühnen leitete und ihnen als Dichter, als Bearbeiter, als Inszenesetzer, als Verwalter eine Fülle von Talenten widmete; aber immer wollte er doch auch die Welt haben, und sie hatte ihn. Indessen in der Geschichte des deutschen Theaters muß und wird er als der Begründer der neuen, malerischen Inszenierungskunst gelten, die man nach den Meiningern zu benennen pflegt; denn ehe der Herzog Georg von Meiningen, der »geborene Regisseur«, seine Bühne zu leiten begann, hatte Dingelstedt schon in Weimar, wohl auch schon in München, die Gestaltung des Bühnenbildes und die Massenwirkung auf eine Höhe gebracht, die vielleicht nur noch in der Echtheit der Kostüme und der Dekorationen durch Meiningen überboten wurde. Ich höre noch die Töne der Bewunderung, mit denen mir ein Freund, der eine Weile in Weimar lebte, von einer Aufführung der »Räuber« erzählte, die er dort unter Dingelstedts Leitung gesehn: wie durch künstliche und künstlerische Verbauung der Bühne, durch wohlberechnete Verteilung und rastlose Abrichtung der Statisten [59] eine Gewalt, ein Leben und ein malerischer Reiz in die Massenszenen gekommen war, wie man sie bis dahin nicht kannte. Als viele Jahre später die rundreifenden Meininger in Wien, wie überall, ihre Triumphe feierten, saß ich einmal bei Dingelstedt in seiner Kanzlei, er war nun Burgtheaterdirektor; mit einer tragischironischen Bewegung des Kopfes, langsam, wehmütig bitter, sagte er zu mir: »Sehn Sie, so geht's! Das hab' ich gemacht; vielleicht hab' ich's schon zu viel gemacht. Und nun heißt es: die Meininger!«

Der dekorative Sinn hatte in Dingelstedt die Übermacht bis zum letzten Tag; ihm lag nie das Wort so sehr wie das Bild am Herzen. Ja seine Vorliebe war so stark, daß er sich nie davor scheute, die Sprecher auf der Probe zu unterbrechen, wenn irgend eine dekorative Einzelheit seinem Auge mißfiel, und daß die Schauspieler allemal warten mußten, bis er diese Einzelheit mit seiner majestätischen Ruhe und Breite umgeschaffen hatte; das hinterdrein und ohne die Schauspieler zu tun, fiel ihm nicht ein. Auf einer Probe, der ich im Parkett beiwohnte – welches Stück es war, entsinne ich mich nicht – lag rückwärts, erhöht, ein ganzes Häuflein Gefallener; Dingelstedt unterbrach den, der eben auf der Bühne sprach, weil ihm etwas im »Bild« mißfiel, und vertiefte sich in eine längere Besprechung, ich glaube mit Maler, Regisseur und Theatermeister. Der Sprecher und die Gefallenen warteten; Minute auf Minute verging. Endlich warf Dingelstedt ein Wort nach hinten hin: die Herrschaften langweilten sich wohl bereits. Baumeister, einer der Toten, schlagfertig wie gewöhnlich, rief zurück: »Wir stinken schon!«

[60] Dieses eine Übel haftete an Dingelstedts Theaterleitung: wie viel er auch von der Schauspielkunst verstand, als seiner Kopf, als Poet – ein wirklicher Lehrer oder Führer war er nie darin. Auf den ungezählten Proben, denen ich als Dichter, als Befreundeter, als Gatte einer Burgschauspielerin beigewohnt, hab' ich ihn nur ein einzigmal einen Schauspieler, der zu reden hatte, verbessern und ihm die Sache selber vormachen sehn. Als ich Burgtheaterdirektor geworden war und mit einem der ersten, noch jüngeren Schauspieler vertraulich darüber sprach, welche große Aufgabe er noch vor sich habe, um seine künstlerische Entwicklung zu runden, erwiderte er mir unter anderm (und ich hatte allen Grund, an die Wahrheit zu glauben): »Man hat mich ja nie darauf hingewiesen; in den zehn Jahren hat mir Dingelstedt nie ein lehrendes Wort über mein Spiel gesagt!« – Dennoch, selbstverständlich, wirkte der Geschmack eines so hochbegabten Direktors bildend ein, auch ohne viele Worte. Übertriebenes, allzu Derbes, Plumpes konnte unter seinen Augen nicht gedeihen. Dann seine Bearbeitungen der Shakespeareschen Königsdramen, des »Antonius und Kleopatra« (wenn er auch, nach meinem Gefühl, oft an Shakespeare gesündigt hat) gaben den Schauspielern große neue Aufgaben und einen weiteren Blick ins Land der Poesie. Sein »Sturm«, sein »Wintermärchen«, sein »Götz« warfen alle einen jungen Glanz in das alte Haus.

Dazu rechne man den eigentümlichen Zauber seines höchst zusammengesetzten, mit Esprit getränkten, mit Frivolität, ja man möchte sagen mit Diabolischem gewürzten, aber auch mit Honig vom Hymettos und mit [61] Quellwasser vom Parnaß genährten Ich. Die Burgschauspieler konnten nie vergessen, daß einMann von Geist sie regierte. Er regierte auch mit fester Hand. Er war vielleicht der beste Finanzmann unter allen Direktoren des Burgtheaters; wie es ihm denn wohl auch Freude machte, dies als seine »eigentliche Stärke« zu rühmen. Sein gern ironisches Verhältnis zu Welt und Menschen ward durch seinen Witz gewissermaßen gerechtfertigt: man fühlte ein organisches Verhängnis darin.

Ich erinnere mich, wie ich ihm einmal bei Tisch, als sein Gast, erzählte, was man mir früher in München erzählt hatte, wo Dingelstedt 1851 bis 1857 Intendant des Hoftheaters gewesen war. Ein angehender, blutjunger, noch völlig unbekannter Schriftsteller kommt dort zu ihm in die Kanzlei: er habe es übernommen, für eine der kleinen bayrischen Provinzstädte draußen Berichte über das Hoftheater zu schreiben. »Und da wünschen Sie nun?« fragt ihn Dingelstedt. Der Jüngling: Einen täglichen Parkettsitz wünsche er im Hoftheater. Dingelstedt, tief in seinen Lehnstuhl zurückgelehnt: »Wünschen Sie auch täglich ein Gefrorenes dazu?«

Er hatte die Geschichte vergessen. Aber sie gefiel ihm. Mit seinem geistreich vergnügten Schmunzeln sagte er: »Ja, das sieht mir ähnlich!«

Indessen auch das »Volk« ist witzig; insbesondere das Komödiantenvolk. Dingelstedt war ein sehr ungleicher Theaterkönig; oft kam er in der allerbesten Laune auf die Proben, in seiner »Champagnerlaune«, leutselig, Sonnenstrahlen werfend; ein andermal kam er verstimmt und wie jemand, dem nichts recht zu [62] machen ist, wetterte und kränkte. An so einem Morgen stand einer der Witzbolde des Burgtheaters mit andern zwischen den Kulissen; nachdem er dem Unwetter eine Weile zugehört, murmelte er: »Ruhig, ruhig, Bruder! Aus deinen Knochen bauen wir uns noch mal 'nen Souffleurkasten.«

Die alte, ewige Geschichte von den Gewalthabern, die doch sterblich sind, und den Beherrschten, die sie überleben. Wie der Chor in der »Braut von Messina« spricht:


Die fremden Eroberer kommen und gehn;
Wir gehorchen, aber wir bleiben stehn!
5.
V

Im Dezember 1881 hatte ich die Direktion des Burgtheaters angetreten; im Sommer des nächsten Jahres erschien August Förster in meiner Sommerfrische bei Hallein, um, zu meiner großen Überraschung, sich mir als Oberregisseur des Burgtheaters anzubieten. Er hatte eine Reihe von Jahren das Leipziger Stadttheater geleitet und war nun daran, mit Adolf L'Arronge und andern in Berlin das »Deutsche Theater« zu gründen; ein großes Unternehmen, in dem er als Schauspieler, als Regisseur, als Mitdirektor hohe Zwecke fördern und auch zu seinem eigenen Vorteil glanzvoll wirken konnte. Aber das Heimweh trieb ihn, wie er mir gestand; er wollte wieder zum Burgtheater. »Ich war lange selbst Direktor,« sagte er, »aber fürchte nichts, ich kann mich wieder unterordnen, dienen; ich werd' dir's beweisen!«

[63] Es war dasselbe Heimweh, das zu eben jener Zeit und dann immer wieder Friedrich Mitterwurzer zur »Burg« zurückzog; so groß war noch die magnetische Kraft dieser Bühne, die sich zuletzt an dem Wiener Joseph Kainz bewährt hat.Mitterwurzers glänzende Begabung hatte sich während seiner ersten Burgtheaterzeit, 1871 bis 1879, nur langsam entfaltet; ich lernte ihn damals als einen kraftvollen, wirksamen Episodenspieler kennen, der nach den großen Rollen verlangte, aber noch nicht für reif galt und es auch nicht war; hab' ich doch auch von ihm das Wort gehört, das immer den Unreifen verrät, der noch nicht das richtige Arbeiten gelernt hat: »Am Abend werd' ich's schon treffen, Herr Doktor!« Als er dann in den Mitbesitz von Lewinskys großen Charakterrollen gelangte, war er bei all seinen geistreichen Anläufen nicht stark genug, um diesen vollkräftigen und gründlich geschulten Nebenbuhler zu überwinden; er gab den Kampf endlich auf, da man ihn an das Laubesche Stadttheater hinüberlockte, und verließ die Burg. Doch wie sehr er dann auch wuchs und was er auch unternahm – als Oberregisseur des Stadttheaters, als artistischer Direktor des Karltheaters, auf Schauspielerwanderungen durch die halbe Welt – es blieb in ihm die Sehnsucht nach dem Burgtheater, als könne er nur dort ganz er selber werden, oder als könne nur dort sein Ehrgeiz seinen Frieden finden. Zweimal, während ich Direktor war, hab' ich einen Vertrag mit ihm abgeschlossen, dem nur noch seine Unterschrift fehlte. Er wollte und er zögerte, er entschloß sich nicht: zwischen Sonnenthal und Lewinsky, Krastel und Robert sah er doch zu wenig Raum [64] für sich, und eine breite Gasse über Leichen weg konnt' ich ihm nicht schaffen. So blieb es beim unbefriedigten Heimweh; bis er endlich 1894, lange nach meiner Zeit, als »Stern« im Burgtheater aufging, um nach einigen Jahren hohen Glanzes in frühem Tod zu erlöschen.

Eben dieses Burgweh im Herzen kam Förster nach Hallein; auf der alten Bühne als Zweiter zu wirken, erschien ihm als das schönste Los. Seine Meinung war – und wie viele haben sie schon vor ihm gehabt –: die Schauspielerregisseure alle durch einen Regisseur ersetzen, der nicht spielt, der nur Proben leitet und auch sonst, soweit sie ihm vom Direktor überwiesen wird, dessen Arbeit tut. Für diese Einrichtung spricht mancherlei; nämlich alles das, was gegen die Schauspielerregisseure spricht. Man nimmt die besten, erfahrensten und gebildetsten Darsteller und gibt ihnen die Regisseurwürde mit dem Regisseurgehalt; man will sie aber nicht als erste Schauspieler verlieren; und in unzähligen Fällen wird dem, welcher in einem neuen Stück die Hauptrolle spielen soll, auch die Regie übertragen, weil er in dem Stück am tiefsten lebt oder weil er der beste Mann dafür ist. Nimmt man einen andern, der entweder in einer kleineren Rolle oder gar nicht mitspielt, so entsteht leicht ein gewisser Gegensatz der Kräfte, der auch im mildesten Fall nicht zu wünschen ist. Immer aber bleibt der Übelstand, daß jeder dieser Regisseure ein wichtigster, ein möglichst reich beschäftigterKünstler ist, der sich dem Regieberuf nicht mit voller Kraft und Freiheit hingeben kann; der also vor Allem das eine zu wenig tun kann, das nach meiner Einsicht das Wichtigste von allem ist: die noch unreifen, noch [65] werdenden Schauspieler auf den Proben und auch außerhalb der Proben zu schulen, zu belehren, ihnen vorzuspielen, kurz, sie weiterzubringen, so kräftig und so geschwind, wie's nur möglich ist.

Läßt dem Schauspielerregisseur seine eigene Aufgabe Zeit und Spannkraft dazu, nun, dann steht es gut! Ich erinnere mich eines besonders glücklichen Beispiels dieser Art aus meiner Dichterzeit vor der Direktion. Zu den späteren Proben meines Schauspiels »Die Tochter des Herrn Fabricius« war ich von Berlin nach Wien gekommen; Adolf Sonnenthal, der die Hauptrolle spielte, führte auch die Regie, und zwar ohne Direktor: Dingelstedt hatte die Einstudierung mit einer seiner graziösen Wendungen »den beiden Adolfen« übergeben und uns seinen Platz geräumt. Sonnenthal lebte glühwarm in seiner Rolle; er fand aber doch in sich Überschuß genug, umFanni Walbeck, welche die junge Handschuhmacherin Käthchen zu spielen hatte und noch etwas »farblos« war, ganz in Farbe zu tauchen. In den richtigen Künstlereifer geratend spielte er ihr die ganze Szene vor, jede Stellung, jede Gebärde, jedes Wort. Fanni Walbeck, ein anmutig bildsames Talent, ließ sich das nicht zweimal sagen; das Käthchen ward eine ihrer lebendigsten Rollen.

Zuweilen tritt statt des Regisseurs ein Kollege ein; das hab' ich später, als ich Direktor war, an derselben Fanni Walbeck erlebt. Sie sollte in Paul Lindaus und Lubliners Schauspiel »Frau Susanne« ein junges Dienstmädchen spielen. Ich weiß nicht mehr, wem der Gedanke kam, die Rolle durch densächsischen Dialekt zu beleben; Schöne und Thimig, die beiden [66] Sachsen, nahmen sich der Sache als hilfreiche Kameraden an. Die Gelehrigkeit der Walbeck lohnte es ihnen: aus der an sich geringen Rolle wurde ein allerliebstes Kabinettstück, dessen Töne ich noch im Ohr habe und von dem ich gerne erzähle.

Viel Gutes würden in dieser Weise auch weibliche Regisseure wirken können; an Talenten – wenn es nur darauf ankäme – würde wohl kein Mangel sein. Charlotte Wolter war gewiß ein Regietalent; mir das im stillen zu sagen hatte ich oft Gelegenheit. Sie dachte freilich zunächst an sich, mit dem ganzen naiven Egoismus einer großen Kraft; aber da zeigte sie denn auch, daß sie Bühnenblick und Erfindung hatte. Ich will nur einen Fall erwähnen, der hier zur Sache gehört: den Schluß meines Trauerspiels »Arria und Messalina«, dem sie eine andere Wendung gab. Narcissus ist mit Prätorianern erschienen, um der Messalina im Namen des Kaisers den Tod anzukündigen; Messalina versucht sich selber zu töten, sie vermag es nicht. Jetzt soll sie durch die Prätorianer sterben; sie flieht; die eilen ihr nach; man hört, wie sie nebenan erschlagen wird und verscheidet. So hatte ich's geschrieben und in der ersten Buchausgabe gedruckt; Charlotte Wolter sah aber ein anderes Bild. »Lieber Dichter, ich möcht' auf der Bühne sterben!« – »Wie denn?« – »Sehn Sie, da oben steht Narciß. Da will ich hinaus, in meiner Angst; zum Kaiser oder wie. Ich renn' die Stufen hinauf. Da stößt der Gabillon selber zu; stößt mir sein Schwert in die Brust. Ich fall' rückwärts, die Stufen hinunter; und so bleib' ich liegen. Das gibt doch ein Bild!«

[67] »O ja. Aber können Sie das? So nach hinten und nach unten fallen?«

»Aber ja. Das geht schon.«

»Und Valens und Soranus, die sprechen noch; dann erst fällt der Vorhang. Können Sie so lange daliegen, mit dem Kopf nach unten?«

Sie nickte. Sie wußte, was sie konnte. Herrlich war es anzusehn, auf den Proben schon, wie sie ihre Kleider zusammenraffte, um die fünf oder sechs Stufen hinanzustürmen; wie sie dann, von Narciß-Gabillons kurzem Schwert getroffen, scheinbar willenlos wie ein gefällter Baum rücklings niedersank, über die Stufen hinab. Sie verstand zu fallen, ohne daß man sah, daß sie es verstand. So konnte sie dann auch liegen bleiben, den Kopf auf der untersten Stufe, die Füße oben, und mit halb geschwundenem Bewußtsein warten, bis der heruntergefallene Vorhang sie erlöste.

Daß dazu guter Wille gehörte, nahm ich einmal recht deutlich wahr, als ich bei einer Aufführung des Stücks erst gegen das Ende zwischen den Kulissen erschien. Es war, wie wenn ich ein StückWirklichkeit erlebte; ich sah plötzlich eine Frau, die mit zusammengerafften Gewändern eine kurze Treppe hinauslief; ein Mann, der oben stand, stieß ihr eine blitzende Waffe in die Brust; sie stürzte rücklings die Treppe hinunter. Dann hörte ich noch zwei Stimmen reden; darauf rauschte etwas herab, unter Händeklatschen. Derweil lag die Frau als Tote da. Jetzt trat ich hinzu. Der Mann mit dem Schwert war schon unten und bückte sich, um sie aufzuheben; ich tat's auch und half ihm. Die Wolter schaute uns an wie aus einer [68] Ohnmacht erwacht; die Augen waren noch ohne Blick. Sie lebten erst allmählich auf. Es dauerte eine Weile, bis sie grüßend lächeln konnte.

Hatte sie in diesem Fall, mit Zustimmung des Dichters, für sich selber Regie geführt, so hat sie's in andern Fällen – so weit man sie gewähren ließ – auch für and re getan; ich hab's zuweilen erlebt. Ihre Kunst, zu fallen, brachte sie auf einer Probe der Teresina Geßner bei, als ich diese junge, anmutige Künstlerin aus Graz zu einem Gastspiel ein geladen hatte, um mir in einer großen Krankheitsnot des Burgtheaters zu helfen. Die Geßner sollte die Rutland in Laubes »Graf Essex« spielen; sie hat einmal in Ohnmacht zu fallen, das führte sie dilettantisch aus; wer hatte sie's denn auch gelehrt? In der Wolter, der Königin Elisabeth, rührte sich die helfende Ungeduld des Meisters; nach der Probe zeigte sie ihr auf der Bühne, wie man's machen muß: allmählich, schön und ungefährlich, und doch wie willenlos, plötzlich, durch Elementargewalt niederstürzen. Ich stand dabei und lernte mit. Als ich viele Jahre später mit meinen Kindern (und Freunden) vom Sonnblick nach Heiligenblut hinunterstieg und an einer etwas bedenklichen Stelle ausgleitend fiel, so eilten die andern, die ein wenig voraus waren, zurück: ob mir etwas geschehen sei? »O nein,« konnte ich ihnen als ehemaliger Direktor sagen, »ich bin wie die Wolter in vier Tempos gefallen; das hab' ich von ihr gelernt.«

Man hat aber nicht auf jeder Probe so einen weiblichen oder männlichen Helfer zur Hand; und wie Vieles bleibt ungetan, das geschehen sollte. Das Belehren [69] des einzelnen meine ich, die unmittelbare Einwirkung des Erfahrenen auf den Werdenden. Wie viele schöne Talente sind nun einmal so geschaffen, begrenzt, daß sie jahrelang beständiger liebevoller Hilfe bedürfen; dann würden sie um Jahre schneller erblühen, und ein Theater mit vielen solchen raschen Frühlingen würde über alle andern emporwachsen. Dagegen so manches Talent entwickelt sichspät oder nur zur Hälfte, weil die formende Hand des Meisters fehlt! – Wie viel da verloren gehen kann, hat mir eben jetzt ein denkwürdiger Fall gezeigt, von dem ich hier umso lieber rede, da es sich um ein Wiener Kind, um eine aus der Luft des Burgtheaters handelt. Ich meine Adele Doré, die soeben in Hamburg als Elektra aufs höchste gefeiert ward und mit höchstem Recht; und wie nahe war sie daran, nie zu ihrem Vollwert emporgepflegt, nie erkannt zu werden. Sie hatte lange in Köln, dann im Hamburger Thaliatheater gespielt; sie hatte wohl gespielt, was man »Alles« nennt, nur nicht ihr Eigenstes, oder doch nicht unter durchschauenden Augen und berufener Förderhand. Als sie diese endlich in Baron Alfred Berger am neuen Deutschen Schauspielhaus fand, war es zum Glück noch nicht zu spät; und im Mai des vorigen Jahres war ich ein sehr erstaunter Zeuge, auf Medeaproben, wie aus dieser kaum bekannten Schauspielerin eine gleichsam elementare Urkraft hervorbrach, die für die härtesten Aufgaben der Tragödie geschaffen ist. Ich habe große Medeen gesehen, die Janauschek, die Wolter, die Jaszai; Adele Doré schien aber wirklich die Medea selber zu sein, das wilde Barbarenkind, das unter den Hellenen nicht [70] leben kann; das sich wohl nach ihrer Sonne, ihrer Liebe sehnt, aber, wenn zurückgestoßen, ausbrechen muß wie ein Vulkan und Flammen der Vernichtung speien. Diese Kraft überstürzte sich; maßhalten, um auszuhalten, hatte sie noch nicht gelernt. Bis zum letzten Gipfel der Steigerung mußte sie die feste Hand eines wegkundigen Führers leiten; dann traf sie aber wie die Blitze des Zeus.

Sie hatte den rechten Führer gefunden, denn inAlfred von Berger – auch einem Wiener Kind – sind wohl alle die Eigenschaften beisammen, die den großen Dramaturgen machen; im Vorjahr wie in diesem hab' ich ihn gründlich bei der Arbeit gesehn. Man kann ihn ein Stück Burgtheater nennen, das an die untere Elbe verpflanzt ist; denn recht eigentlich mit dem Burgtheater ist er aufgewachsen, als junger Dichter (»Önone«), als Zuschauer, als philosophierender Ästhetiker, als Dramaturg. Er überbietet jetzt im Hamburger Schauspielhaus Dingelstedt als Bühnenbildner, indem er auch alle Möglichkeiten der neuen elektrischen Beleuchtung durchwandert; er pflegt aber mit derselben oder mit noch größerer Liebe das Wort und ist einer der berufensten Lehrer oder »Führer zum Geist«, die ich kenne. So ist denn nun die Doré der Gefahr enthoben, ihre Adlerschwingen nicht ganz zu entfalten; damals als Medea und jetzt als Elektra (in meiner Bühnenbearbeitung des Sophokleischen Meisterwerks) hat sie schon fast den Gipfel erreicht. Sie kann und wird noch höher kommen, unter Bergers Pflege, der von seinem MeisterAugust Förster, unter dem er die Bühne kennen lernte, mit vielem andern auch die Rastlosigkeit[71] geerbt, den stärksten Wagemut aus seinem Eigensten hinzugetan hat.

Förster, auf den ich hiermit zurückkomme, war, wenn man sich in der Regisseurfrage für den einen Oberregisseur entschied, unzweifelhaft der rechte Mann. Sein glänzendes Regietalent hatte er in ebendiesem Burgtheater ausgebildet, dem er nun wieder zustrebte; achtzehn Jahre hatte er als Schauspieler, dann auch als Regisseur unter Laube und Dingelstedt gewirkt und von beiden gelernt, was sie lehren konnten. Er brachte akademische Bildung und tüchtiges Wissen mit; was ihm an unmittelbarer künstlerischer Begabung fehlte, wußte er oft auch in größten Rollen durch Gewandtheit und Beweglichkeit des Geistes zu ersetzen; doch erst wenn er Proben leitete, in Szene setzte, taten sich all seine Kräfte auf. Seine Unermüdlichkeit, sein Gedächtnis, seine Erfahrung trugen ihn über jedes Hindernis weg; nur sein Gedächtnis konnte auch zuweilen sein Feind sein: da er mit der glücklichsten Leichtigkeit lernte, verlangte er gern von den andren zu viel und verkannte wohl Schwierigkeiten, welche die Natur geschaffen hatte.

Im Frühsommer 1876 verließ er das Burgtheater, um in Gemeinschaft mit Angelo Neumann das Stadttheater in Leipzig zu übernehmen, das nicht lange vorher auch Laube geführt hatte. Die freiere Stellung lockte ihn und der zu erwartende Gewinn; es ward ihm aber herzlich schwer, Wien und die Burg zu verlassen, und hätte man ihm nur mit rechter Wärme zugeredet und mit offener Hand, wär' er wohl geblieben. Dingelstedt ließ ihn aber ziehen, ich weiß nicht warum; es endete mit einem Abschiedsfest, das ihm das Burgtheater [72] gab, ich als Freund und Dichter mit. In einem Gedicht, das ich an dem Abend vortrug, ließ ich Förster reden, wie er als Direktor in Leipzig, ein Jahr später, auf seinen Erfolg zurückblickt und nach seinem geliebten Wien hinüberdenkt; indem ich ihn ein wenig als Wohlschmecker und Mann des Kaffeehauses neckte (»Steidelgrien« ist eine verwegene Umformung des jetzt verschwundenen Café Griensteidl in der Schauflergasse):

Försters Monolog.
Laßt mich denn zusammenstellen,
Was die erste Saat mir trug.
Möcht' es doch so reichlich schwellen,
Daß ich rufen kann: genug!
Wilbrandt schrieb zwar heute morgen:
»Lieber Förster, Geld ist Quark.«
Doch – auf Borgen reimt sich Sorgen

(aus dem Hauptbuch lesend)

Siebzehntausend fünfzehn Mark.
Heil'ger Sacher! Heil'ger Stiebitz!
Gut ward ich genährt in Wien! –
Sechs Uhr! – Hartmann jetzt, als Kiebitz,
Sitzt im Café Steidelgrien.
Ach! dort saß auch, ohne Frage,
Jetzt der Förster beim Pikett!
Ach, das waren holde Tage –

(wieder aus dem Hauptbuch lesend)

Fünfzigtausend – Hm! Ganz nett.
Nun entvölkert sich der Prater,
Und es füllt sich nun der Saal.
[73]
Burgtheater! Burgtheater!
Ach, du warst mein Sonnenthal!
Ja, du lagst mir Herz am Herzen,
Und ich war ein Stück von dir;
Und das läßt doch Narbenschmerzen –

(immer wie oben)

Hunderttausend und noch vier.
Und nun schmückt sich Lotte Wolter:
Erster Akt der Lecouvreur;
Und zum zärtlichen Gepolter
Richtet sich der Förster her.
Förster? – Wehe! wehe! Dreimal
Wehe, daß Frau Phantasei
Nur Vergangnes träumte –
Zweimal
Hundertsiebzigtausend – ei!
Viel weiß ich in Wien der Gassen,
Viel der Freunde weiß ich drin.
Kann man August Förster hassen?
Wilbrandt sagt, daß »süß« ich bin.
Weichen Herzens, ja, das bin ich,
Und es altert nicht mein Groll;
Und ich lieb' auch, treu und innig –
Viermalhunderttausend voll.
Euch besaß ich? Euch verlor ich? – –
Feuchtes Aug'? – Wisch ab! sogleich!
Hier ein neues Glück erkor ich,
Tatenschwer und ehrenreich.
[74]
Will noch heut' an Wilbrandt schreiben:
Nun, es macht sich, lieber Sohn!
Mög' mir deine Liebe bleiben –
Eine halbe Million!

Anfang November des nächsten Jahres, 1877, sah ich Förster in Leipzig wieder, anders als ich gedacht: ich kam mit meiner Frau, die nach einem unlösbaren Konflikt mit Dingelstedt das Burgtheater verlassen hatte und nun den November hindurch in Försters Stadttheater gastierte. Sie spielte hauptsächlich in Stücken von mir, darunter ein neues, noch nicht aufgeführtes, ein Schauspiel: »Auf den Brettern«, das eine meiner merkwürdigsten Erfahrungen als Theaterdichter werden sollte und ein neuer, tiefer Blick in die Theaterwelt. Förster fühlte sich von diesem Stück lebhaft angezogen und versprach sich Gutes; aber wie fast alle Schauspieler, die es kennen lernten, stand auch er, der gebildetste, der erfahrenste, gleichsam ratlos vor dem letzten Akt: was mit dem tun? Wie den möglich machen? Dieser Akt spielt auf der Bühne eines Hoftheaters, während der Vorstellung; aber so, daß der Zuschauer auch noch rechts und links von den Kulissen freien Raum erblickt und sehen kann, was hinter den Kulissen vorgeht; so daß also die Spielbühne kleiner ist als in der Wirklichkeit. Als der Vorhang aufgeht, ist im Hoftheater Zwischenakt; die Dekoration des nächsten Aufzugs wird vor den Augen des Zuschauers gestellt; dann beginnt dieser neue Aufzug. Die Handlung meines Schauspiels ereignet sich aber sowohl auf der verkleinerten Spielbühne als hinter den Kulissen; und der [75] Sinn, die Bedeutung dieses meines letzten Aktes ist, daß der »Held« und die »Heldin« – diese eine Schauspielerin – im zweiten Akt innerlich getrennt, durch das Stück im Stück und durch alles, was sich hier im Hoftheater begibt, wieder zusammenkommen.

Die Erfindung reizte Förster, sie gefiel seinem Gemüt, seiner Phantasie; aber es zeigte sich auch an ihm die Eigenschaft der Schauspieler, der Theatermenschen, daß das für die Bühne Neue, noch nicht Gesehene ihnen zunächst unmöglich scheint. Was ich später am »Meister von Palmyra« erlebte, den die große Mehrheit der Schauspieler vor der Aufführung für ein undarstellbares Buchdrama hielt, weil er von allen bekannten Bühnenwerken abweicht, das stellte sich auch meinem »Auf den Brettern« entgegen. So einen Akt wie diesen letzten gab es ja nicht! Die Bühne als Bühne – mit Kulissenräumen rechts und links – und ein Stück im Stück – das begreift ja der Zuschauer nicht! Das verwirrt ihn, das ist nicht zu fassen! – Förster, auf meine Aufklärungen, meine Einwände immer freundschaftlich eingehend, suchte doch immer neue Hilfsmittel, um die geträumten Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen; er dachte an einen Schleier, der während dieses Aktes vor der Bühne hängen sollte, um dem Publikum ein ganz besonderes Gefühl zu geben; er war in seiner Sorge so erfinderisch, daß ich lächeln mußte. Endlich sprang er doch in den Abgrund hinein, wie ich ihn gebaut hatte. Es begab sich dann dasselbe, wie später beim »Meister von Palmyra«: das Publikum war unerwartet gescheit. Es verstand alles, so wie es sollte. Es ward hingerissen. Der Abend ward ein großer Erfolg.

[76] Dieser Ausgang wiederholte sich überall, wo meine Frau hernach in dem Drama spielte; denn ich hatte es ihr ganz übergeben, nur ihr. Die Hauptrolle war ihr wohl ein wenig »auf den Leib geschrieben«, wie man in der Theatersprache sagt; sie füllte sie mit Leben, Seele und Schönheit. Zunächst in Berlin, dann in Wien (bei Laube im Stadttheater), dann an vielen Orten widerlegte sie die von der Hexe »Schablone« eingeflüsterte Sorge, die so viele Köpfe geschüttelt hatte.

In der Theaterwelt wechseln die Schicksale oft wunderlich; so auch zwischen Förster und mir. 1877 kam ich zu ihm, 1882 kam er zu mir. Jetzt war ich Direktor und er wollte mein oberster Helfer sein.

Wir erwägten alles; aber es endete doch mit freundschaftlichem Nein. Wie unvollkommen auch die Burgtheatereinrichtung sein mag, die noch heute besteht: ihre Vielköpfigkeit bedeutet auch Vielfarbigkeit; der beste Regisseur ist doch immer nureiner, aus den mehreren geht mehr hervor, sie ergänzen sich. Ist der Direktor, was er sein soll: der Berater und oft auch Mitarbeiter der Dichter, der Inszenesetzer jeder großen Aufgabe, der geistige Führer vor und auf den Proben, so ist er selber sein Oberregisseur, und der Generalstab seiner Schauspielerregisseure tut vollkommen, was übrig ist.

Förster ging und ward Mitbegründer des Berliner Deutschen Theaters, das er vor allem groß gemacht hat. Das Burgtheater sollte ihn aber doch noch wiedersehn; wenn auch nicht mehr lange. 1887 legte ich das Zepter nieder, 1888 ward Förster nach dem Provisorium Sonnenthal mein Nachfolger; mit der alten [77] inneren Rüstigkeit und Willensstärke, tätig und erfolgreich, aber mit leider untergrabener Gesundheit und um bald zu vergehn.

6.
VI

Die Bühne ist ein »heißer Boden«; das weiß jeder, der sie kennt. Ich, der ich von früh an fürs Theater lebte, mit zehn oder elf Jahren anfing, eigene Schauspiele (eines hieß »Himmel und Hölle«) auf meinem Puppentheater aufzuführen; später in Schauspielerinnen sehr verliebt, mit einer mich vermählend – ich hab' gleichwohl bei näherer Bekanntschaft tief gefühlt, was für ein anziehender, lebenwimmelnder und – stachelreicher Bienenkorb ein Theater ist. Mir war's schwer zu fassen, als Franz von Dingelstedt 1876 sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum als Theaterleiter feierte (München, Weimar, Wien), daß ein Mann wie er es so lange in dieser Welt ausgehalten hatte; und in einem Festgedicht, das ich dazu schrieb (nicht ahnend, daß ich selber nach ihm dirigieren würde), sagte ich am Anfang:


Vor des Löwen Höhle stand der Fuchs. »Der Spuren viel,
Die einwärts führen,« sprach er; »welche führt heraus?
Ich finde keine. Bleib du draußen, Fuchs, und geh!«
Hoc fabula docet; lehrt' es mich von Jugend auf,
Wenn dramaturgisch Jucken mir die Haut befiel:
»Wahr deine Haut, bleib draußen!« Denn der Männer viel
Ins Haus Apollos sah ich hohen Hauptes gehn,
Zu herrschen auf den Brettern der geträumten Welt,
[78]
Die scheint, doch ist; weil die auch, die da ist, nur scheint; –
Doch keiner, schien mir, kehrte, wie er ging, zurück.
Ein Zauberatem, hört' ich, weht da drin dich an,
Dionysisch-phöbisch unauflösbar rätselhaft
Gemischt aus Paradieses- und aus Höllenlust;
Er lockt dich an, er saugt dich aus, er stößt dich fort!

Die Schauspieler sind gewiß nicht schlechtere Menschen als die andern; leichter vielmehr für Gutes, Schönes, Großes zu entflammen, rascher in ihrem Mitgefühl; aber auf den schroffen Kampf ums Dasein, das Durchsetzen des Ichs, die Befriedigung der Eitelkeit sind sie naturnotwendig mehr als die andern gestellt.

Am Burgtheater gefiel mir vom ersten Tag an so gut, daß die Eitelkeit nie ruhmredig werden durfte: jedem neu eintretenden Mitglied wurde aufs geschwindeste abgewöhnt, von seinen schauspielerischen Taten und Erfolgen zu sprechen. In diesen und ähnlichen Dingen war Hermann Schöne wohl der eifrigste Tempelhüter; ja ich glaube, man könnte ohne Kränkung der andern sagen, daß er recht eigentlich das Gewissen der »Burg« gewesen ist. Mein guter Schöne, der auch sonst im großen und kleinen so viel war und wirkte; ob er nun Masken beurteilte oder sie verbesserte, ob er guten Rat gab oder auf Ausflügen Musterbowlen machte; denn er war auch darin Künstler; er war mehr, er war Kochkünstler, und zwar ersten Ranges. Ich hab' ihn einmal besonders festlich bei der Arbeit gesehn, als eine ganze Schar von Burgschauspielern und -schauspielerinnen, darunter auch meine Frau [79] und ich, in schönster Jahreszeit die »Jagdhütte« besuchte, die Ludwig Gabillon mit andern gepachtet hatte; sie lag in einem Seitental, das bei Spillern die Nordwestbahn trifft. Schöne übernahm, für ein festliches Mahl zu sorgen, Vorräte aller Art waren hinausgeschafft. Er selber war rastlos als Küchenchef; Hallenstein, der damalige König Lear des Burgtheaters, war sein Küchenjunge; ich glaube, noch ein dritter tat Küchendienst. Schöne und Hallenstein waren mit grünen Kappen geschmückt; ein tiefer Ernst des Berufs, der hohen Aufgabe lag auf ihren Zügen; ich hab' sie im Theater wohl nie so feierlich gesehn. Es ward aber auch ein größter Erfolg: das ganze Mahl war ein Kunstwerk.

Wenn sich die liebe Eitelkeit in der Burg viel verschweigen und verstecken mußte, so war dagegen viel Korpsgeist sichtbar, ein schöner Gesamtsinn bei aller Ichheit, der auch die Neuen bald ergriff; »das erste Theater«! Denn das war es noch, unzweifelhaft. Bei jedem festlichen Anlaß blühte dieser Gemeinsinn hoch auf; aber auch bei ersten Aufführungen, zumal bedeutender Werke, konnte man ihn oft warm lebendig sehn. Dann war alles schön erregt, bis zu den Bühnenarbeitern, die bewußt oder unbewußt auch ihr Bestes taten. Eine hochachtbare Gesellschaft, die Arbeiter des Burgtheaters, solange ich sie gekannt hab'; ich hoffe und denke, sie sind es noch.

Als ich Förster nach der Eröffnung des Berliner Deutschen Theaters zuerst wiedersah, gestand er mir: »Eins fehlt mir hier, das vermiss' ich sehr: unsere Burgarbeiter!« Die Arbeiter im Deutschen Theater[80] waren wohl tüchtige Leute, aber die Luft um sie her war noch kalt: es fehlte die geschichtliche Wärme, die alle Wände des Burgtheaters aushauchten. Dort fehlten wohl auch noch die musterhaften Darstellerkleiner Rollen, die das Burgtheater sich erzogen hatte oder immer neu erzog. Wer etwaLouis Arnsburg als Antonio in »Viel Lärm um nichts« oder als Don Mendo im »Richter von Zalamea«, Louis Nötel als ersten Arkebusier in »Wallensteins Lager« oder als Gauner (vergessen, wie er heißt) in »Schach dem König«, Ferdinand Kracher als alten Hirten im »König Ödipus« oder als Gordon in »Wallensteins Tod« gesehen hat, der weiß, was ich meine. Keiner von den Größten hätte diese Rollen naturwahrer, lebendiger gespielt; es liegen darin Geheimnisse der Wahlverwandtschaft oder Blutsverwandtschaft, die man wohl noch nie mit Forscheraugen betrachtet hat.

Dann die weiblichen Episodenspieler, die zu jener Zeit oder etwas früher die Burgbühne schmückten; allen voran, in ihren Werdejahren, Stella Hohenfels, die damals alle Knabenrollen mit poesievoller Anmut, höchster Wahrheit spielte. Aber auch Fanni Walbeck, Anna Kratz und andere halfen den Dichterwerken zu der zusammenstimmend harmonischen Gestaltung, ohne die ein reines Behagen nicht zu denken ist.

Fleiß und Solidität der künstlerischen Arbeit war auch im Burgtheater wohl bei den Frauen größer; ich glaube, das ist überall zu beobachten und aus der Geschichte des weiblichen Geschlechts leicht erklärt. Die Frau war nie so frei wie der Mann, weder vor noch in der Ehe; sie wurde Jahrtausende hindurch zum Gehorsam, [81] zur Zuverlässigkeit des Dienenden erzogen. Daraus wird beim Theater Gewissenhaftigkeit, bis zur Ängstlichkeit; wenn nicht eine besondere Verderbnis zum Leichtsinn führt. Den Mann zieht es ins Kaffeehaus, ins Bierhaus, zur Jagd; die Schauspielerin wird von diesen Versuchungen wenig berührt, sie sitzt zu Hause und repetiert ihre Rolle. Gibt es Schwimmerinnen? Ich meine Künstlerinnen, die in chronischer Abhängigkeit von dem Souffleur oder der Souffleuse sind? Ich hab' nie eine kennen gelernt; eine echte nicht. Aber männliche genug, große, berühmte »Schwimmer«, unter den großen, berühmten Talenten. So einer war zum BeispielDöring in Berlin; der als der alte Obrist Kottwitz im »Prinzen von Homburg« einmal im zweiten Akt auf die Bühne trat, nicht ahnend, was er zu sagen hatte, aber sich auf seinen braven Freund im Kasten verlassend; doch als er dem horchend näherkommt, zuckt der die Achseln, schneidet Grimassen, flüstert ihm endlich verstört zu: »Wer hilft vom Pferde mir, ihr Freunde?« Das hatte er hinter der Szene zu sprechen, ehe er auftreten durfte. Und die Theatersage erzählt, Döring habe endlich mit dem Mut der Verzweiflung vor dem Souffleurkasten gerufen: »Wer hilft vom Pferde mir?«

Auch das Burgtheater war nicht arm an berühmten Schwimmern. Einer der bekanntesten war Ludwig Gabillon; er hatte ein vortreffliches Gedächtnis für den Aufbau eines Theaterstücks, für alles, was den Regisseur betrifft, aber für seine Rollen nicht. Ein großer Schwimmer war Karl Meixner, dieser gleichfalls unersetzte Charakterspieler und Komiker, zugleich einer der besten Sprecher des Theaters; er sprach aber [82] zu gern dem Mann im Kasten nach. Ein höchst tragikomischer Augenblick war's – eigentlich nur bei einem Meixner zu ertragen – wenn er als Baron von Scharpf in Meilhacs »Attaché« nach rechts zum Schlüsselloch ging, um zu sehn, welche Dame mit Herrn von Mazeray ein Stelldichein hat; der Baron guckt hindurch und schreit auf: es ist seine eigene Frau! Meixner guckte aber nicht hindurch: so weit wagte er sich in dieser Rolle nicht vom Souffleurkasten weg. Er ging vorsichtig nach rückwärts, dann noch etwa einen Schritt nach rechts; dann heftete er die Augen so lebendig und ausdrucksvoll auf das noch entfernte Schlüsselloch, als habe er's unmittelbar vor sich, und schrie höchst natürlich auf.

Indessen hatte er auch Rollen, in denen er sich vor keiner Entfernung vom Zentrum zu fürchten brauchte.

Der gefeiertste Schwimmer des Burgtheaters war aber – zu jener Zeit – der große Veteran, der es jetzt noch als eine der alten lebendigen Säulen trägt,Bernhard Baumeister; wenigstens hat nur er es erlebt, daß ihm zu seinem fünfundzwanzigjährigen Burgtheaterjubiläum, 1877, seine Kollegen beiderlei Geschlechts eine Schwimmhose schenkten, ein von den Damen reich verziertes Kunstwerk. Sie ward ihm mit Versen überreicht, die ich auf Verlangen gedichtet hatte; das dreimalige »Stoß ab!« war eines seiner eigenen Worte, das er gern einem Mitspieler oder sich selber zumurmelte, wenn's auf eine lange und schwierige Rede losging:


»Stoß ab!« Noch einmal umgürte dich heut
Zur Fahrt in die Flut, die sich ewig erneut;
[83]
Stoß ab, du fürstlicher Schwimmer!
Du fürstlicher Schwimmer und Taucher zumal:
Du fischtest der Perlen unendliche Zahl,
Und sie leuchteten schön, wie der heilige Gral,
Aus der Seele goldenem Schimmer.
»Stoß ab!« Noch ein Viertel vom Säkulum,
Noch ein halbes schwimme du rüstig herum,
Ein Proteus, in hundert Gestalten!
So, wie wir als Henning den Stockfisch dich sahn,
Als Schwertfisch-Petrucchio mit schneidigem Zahn,
Als Zitteraal-Grignon und – Wunder geschahn! –
Als Walfisch-Falstaff, den Alten.
»Stoß ab!« Dir folgen viel Schwimmer im Bund;
Dir leuchten die köstlichen Perlen am Grund,
Dir leuchten die freundlichen Sterne.
Schwimm hin, – doch zu weit nicht vom heimischen Land;
Blick her auf den Fels, »La Roche« genannt:
So lang auch wie er, mit der rudernden Hand
Halt vom anderen Ufer dich ferne!

Übrigens würde der Zuschauer irren, wenn er immer dächte: der Mann, der da »schwimmt«, dessen Abhängigkeit vom Souffleur ich bemerke, hat natürlich seine Rolle schlecht gelernt! Oft sind auch dieNerven im Spiel, die mit einem sonst sicheren Gedächtnis ihren Schabernack treiben; wie es jeder an sich selber erleben kann, wenn er einen Trinkspruch zu sprechen, eine gelernte Rede zu halten hat und ihn plötzlich all sein Wissen verläßt. Nirgends aber spielen wohl die Nerven eine [84] so große Rolle wie bei denen, welche die großen Rollen spielen. Von einem Künstler, der nie sein kaltes Blut verliert, erwart' ich nicht viel! Die Nerven eines gottgesegneten Schauspielers müssen seiner schwingen, empfindlicher horchen, leichter erzittern als die der andern, die da draußen sitzen; ja man möchte zuweilen glauben, daß sie nach etwas veränderten Gesetzen leben. Charlotte Wolter hatte Abende, an denen sie, tapfer wie sie war, mit heftigen Zahnschmerzen spielte, von denen ihr die Augen überliefen; solange sie aber auf der Bühne stand, als Medea, oder Iphigenie, oder Sappho, waren die Schmerzen still. Medea, Iphigenie, Sappho hatten ja kein Zahnweh! Kehrte sie aber hinter die Kulissen zurück, als Charlotte Wolter, so brach die Pein wieder los.

Ähnliches hab' ich auch sonst gesehn; das Wunderlichste und Drolligste war mir, was ich mit Joseph Kainz erlebte, als am Berliner Deutschen Theater mein Drama »Der Meister von Palmyra« einstudiert ward. Kainz, als der Meister Apelles, verlor während der Proben die Stimme; seine Heiserkeit ward so bedenklich, daß man schon fürchten mußte: das Stück wird nicht sein! Er ist ein leidenschaftlicher Zigarettenraucher; »jetzt vor allem nicht rauchen, nicht trinken!« sagte ihm sein Arzt. »Schonung, Schonung, Schonung!« – Wohl oder übel, Kainz gehorchte. Es ward ein sonderbares Probieren: bald markierte er ein wenig, dann verschwand er wieder, da die Stimme ganz verging; es sprang ein anderer für ihn ein, der, als Aushelfer etwa in der Zukunft gedacht, bereits den Proben beigewohnt hatte; dann erschien auchKainz wieder und [85] flüsterte und raunte so mit. Auch auf der ersten Generalprobe, einige Tage später, war er noch halb heiser, darüber verstimmt, oft ganz und gar nicht er selbst. Plötzlich, im fünften Akt, als er hinten von der Ruine heruntersteigt – ein anderer Mensch! Er spricht frei und gut. Er spielt mit erstaunlicher Frische und Kraft, wie er diesen Akt noch nie gespielt. »Mann, das war ja außerordentlich,« sag' ich ihm, als es aus ist. »Und wo haben Sie die Stimme her? Was haben Sie denn gemacht?« – Seine Augen lächelten mich an, mit seinem an Girardi erinnernden Wiener Blick: »I hab' g'raucht,« antwortete er.

Jetzt ist er denn also daheim, in seinem Wien und im Burgtheater. In dem neuen, dem prächtigen – das mir noch immer gleichsam ein fremdes ist, an dem ich wohl nie so hängen werde wie am alten.

Die Paläste machen es nicht; am allerwenigsten beim Theater. Wie klein, wie eng war das alte Haus! Nicht nur für die Zuschauer, nicht nur für die Aufführungen; wie wenig war auch für die Schauspieler gesorgt! Nichts ist denen notwendiger als ein Konversationszimmer, in dem sie während der oft vielstündigen Proben, oder auch Abends, ihre unbeschäftigte Zeit verbringen, gesellig ausruhen können. Jedes anständige Stadttheater hat so einen Raum für alle, gewöhnlich mit Schauspielerbildern, Widmungen, Erinnerungen geschmückt. Im alten Burgtheater konnte man sich nur in einer der Damengarderoben versammeln, die ein Fenster hatte, das auf die Gasse ging. Die Garderobe war einfach auf den Hintergrund der Bühne gestellt; in ihr kleidete sich die Hälfte der Damen an. Durch [86] eine Tür damit verbunden war ein zweiter, kleinerer, fensterloser Raum, der gleichfalls auf der Bühne stand; auf den waren die Wolter und die Gabillon angewiesen, nicht selten also beide zugleich. Wenn während der Vorstellung etwa Donnerschläge krachten oder sonst ein mächtiges Getöse zu erzeugen war, so schmetterten die Theatermaschinen unmittelbar neben diesen Damenzimmern oder über ihnen. Eine dritte weibliche Garderobe, für drei, lag hinten seitwärts an der Bühne, erhöht; ein enges Treppchen (andere gab es im Burgtheater nicht) führte hinauf; aus der Garderobe konnte man durch ein Kajütenfensterchen auf die Bühne sehn. Das war der ganze Komfort des weiblichen Geschlechts.

Etwas besser war es um die Männer bestellt; eine Stiege neben der Bühne, vorne, führte zu einem Anbau hinauf, in dem sich eine ganze Reihe von Ankleidezellen an einem für schlanke Menschen gebauten Korridorchen hinzog. Hier hatte mancher der »Ersten« seine eigene Zelle; es waren aber lauter Schiffskajüten, rührend winzig, oft jeder Zoll darin ausgenützt. Nur der erste Raum, an dem man vorbeikam, war fürstlich: das sogenannte Larochezimmer, das nach Laroche Sonnenthal bewohnte. Hier konnten selbst noch ein oder zwei Besucher sich herumdrehen, auch niedersetzen. Hier sind denn auch Staatsaktionen verhandelt worden, manches Mal bin ich als Direktor erschienen; in früheren Zeiten hab' ich hier mit Graf Paris-Hartmann, der drei Akte lang nichts zu tun hatte, Schach gespielt.

Und in diesem engen Haus die schlechte Luft! Das wird man sich hoffentlich bald nicht mehr vorstellen können, wie schlecht diese Luft war, die noch nichts von [87] Ventilationsschachten wußte und das Wort»Hygiene« nie vernommen hatte.

Dennoch haben sie alle gern drin gelebt. Ich war Direktor in den letzten Jahren vor der Übersiedlung in das neue Haus; ich erinnere mich nicht, daß einer der Schauspieler sich schon hinübergesehnt hätte; nur Stimmen des Bedenkens, der Wehmut, sogar der Trauer – so auch die der Wolter – hab' ich noch im Ohr. Stärker oder schwächer fühlten sie wohl alle, daß in allen Teilen einer großen geschichtlichen Schöpfung ein tiefer, gleichsam organischer Zusammenhang ist, und daß mit der alten Wohnstätte auchsonst noch etwas unwiederbringlich verloren ging.

Die Hauptsache freilich steht noch aufrecht: der gewaltige Vorteil des Burgtheaters vor den andern großen deutschen Hoftheatern, daß es unter dem Intendanten, der Hofcharge, einen wirklichen Direktor hat, einen Mann, der alle künstlerischen Angelegenheiten vollkommen unabhängig leitet. In den Geldfragen, auch bei Engagements, bedarf er der Zustimmung seines Intendanten; auch in Sachen der Disziplin, der Herrschaft über die ihm Untergebenen, können wohl Konflikte entstehn; aber der ganze Weg, den die künstlerische Leistung des Theaters, die Aufführung, von der Lesung des Bühnenstücks bis zum letzten Fallen des Vorhangs durchläuft, ist dem Direktor anheimgegeben. Nur weil im Burgtheater dieser entscheidende Gedanke siegte, ist es über alle andern emporgewachsen. Nur so konnte es sich die großen dramaturgischen Talente gewinnen und sie lange fest halten; und die großen Dramaturgen zogen die großen Darsteller nach, oder hielten sie fest. [88] Nur so konnte sich eine edle, vornehme Tradition bilden, die dasRückgrat eines so zarten, leicht zerstörbaren Organismus ist. Berlin wuchs und es überwuchs das alte Wien; aber das Königliche Schauspielhaus konnte nie zur Höhe des Burgtheaters emporsteigen, weil es von dilettierenden Hofbeamten geleitet ward, deren »Direktoren« zuletzt doch nur ausführende Organe ihres Willens waren.

Berlin half sich endlich durch die Gründung des Deutschen Theaters, 1873; und den ersten Leitern dieser Bühne, Förster und L'Arronge, gelang es wirklich, die große Aufgabe der königlichen Bühne besser zu lösen als diese selbst. Nach ihnen kamBarnay, der in seinem »Berliner Theater« denselben Weg ging, und auch mit starkem Erfolg. Ihn überbot als Wiedererwecker literarischer Werte sein jüngster Nachfolger Paul Lindau, ein großes dramaturgisches Talent, und noch jetzt von einem Feuereifer auf der Bühne, der der Jüngsten spottet. Ich hoffe, er wird auch das Deutsche Theater, das er 1904 übernimmt, wieder zu seiner alten hohen Stellung bringen.

Eines aber bleibt: jeder Direktor eines Privattheaters muß gar viel an die Kasse denken; »hinter dem Reiter sitzt die schwarze Sorge«. Nur an den Hoftheatern kann der Mann, der sie leitet, auch bei frommer Andacht zur hohen Kunst und bei kühnem Wagemut ruhige Nächte haben.

Dort gilt auch mehr als anderswo das Tröstliche, das dem Schauspieler sonst so wenig vergönnt ist: die Hoffnung des Fortlebens; denn ihn umgibt ein dauerndes Gebilde, in dem er als Vorbild bleiben mag, [89] als ein Blatt im goldenen Buch der Überlieferung. Darüber möchte ich mit Worten schließen, die ich an Laroches Grabe sprach und deren Wahrheit ich eben jetzt empfinde, da ich die Nachwirkung so vieler dahingeschiedener Künstler tief in mir erlebe:

»Mehr als alle Künstler sind die der Bühne auf das Leben gestellt; sie, die zu den herzerfreuenden Wohltätern des vielduldenden Menschengeschlechts gehören, die unser Dasein zu verlängern, ja durch ein holdes, zauberndes Wahnleben zu verdoppeln scheinen, sie haben, nach des Dichters Wort, von der Nachwelt keine Kränze zu erwarten. Doch auch mit dem Schauspieler, dem echten, stirbt nicht seine Lebenstat; sie lebt in den Empfänglichen fort, die der Genuß seines Daseins bereicherte, bildete, verklärte, sie lebt auf der Stätte seines Wirkens in den Künstlern fort, die sein Vorbild erzieht, die sein Geist noch anweht. Und wie aus den Tälern des dumpfen Alltagslebens die Nacht langsam entweicht, so verweilt auf den himmelanstrebenden, reinen Höhen der Kunst das Licht eines großen scheidenden Gestirns noch lange, nachdem es versank.«

[90]

Wiener Erinnerungen (1904)

1.
I

Gegen Wien heranzufahren ist schön, vielverheißend, auf welcher Bahn man auch kommen mag; die gesegnete Lage dieser alten Stadt muß man stets empfinden, zumal wenn der Himmel gut wienerisch lacht. Mir ward aber doch wohl immer am eigensten, festlichsten zu Mut, wenn ich von Norden kam; wenn die Kuppen des »Wienerwaldes« auftauchten, der lange Rücken des Bisambergs sich entfaltete, Leopoldsberg und Kahlenberg noch als eins erschienen, bis sie sich als die kapellen- und villengekrönten Häupter des Gebirges trennten; wenn die gezähmte, doch noch immer stolze Donau heranwuchs, das fürstlich majestätische Stift von Klosterneuburg auf dem Wasser schwamm – und das dem Auge unermeßliche Wien an seinen grünen Hügelpolstern ruhte, wie in wohliger Trägheit in die Kissen geschmiegt. Sich an den großen Fluß zu drängen, am und im Wasser zu leben hat der Vindobona nicht beliebt; ihr gefiel mehr, sich an den Weinbergen zu sonnen und an den hohen Wäldern zu kühlen. So ist sie geblieben. Sie wächst immer tiefer ins Land hinein. Die alten Sommerfrischen der Wiener werden Stadtbezirke oder [91] sind es schon. Selbst der Kahlenberg, über den in der großen Türkennot die Rettung heranzog, ist ein Stück von Wien. Über das alles aber herrscht der Stephansturm, wie er vordem über die innere Stadt herrschte; einst ein großmächtiger Herzog, nun ein schöner Kaiser.

So sah ich Wien, als ich zum erstenmal aus dem Norden kam, vor nun bald zweiundvierzig Jahren, im Juli 1862. Ich kam mit einer Vorneigung, die sich durch all die Zeiten bewährt hat; »Ergänzung meines nordischen Ich durch den deutschen Süden!« dieser Jünglingsgedanke hatte mich als Studenten nach München geführt, trieb mich nun zur Hauptstadt von Österreich. In meinen Werdephantasien spielte schon lange ein gehätscheltes Traumbild mit: eine Wienerin heimführen und mit ihr dann in Berlin zum Volldeutschen werden. Ich hab's später anders gemacht: die kaiserlich königliche Wienerin, die ich heiratete, war doch aus dem Deutschen Reich; ich hab' aber weniger in Berlin, viel in Wien gelebt. Was ich geträumt hatte, hat mein Sohn verwirklicht: eine echte Wienerin ist seine Frau, sie leben in Berlin. So wunderlich oder wunderbar verkörpern sich oft die spielenden Gedanken; man fühlt sich versucht, auch darin verschleierte organische Entwicklung zu ahnen.

Juli 1862; wie anders als heute war das Wien von damals! Die alte »innere Stadt« noch ganz eine Welt für sich; durch das weite, flache, fast öde Glacis von den Vorstädten getrennt wie in den alten Festungszeiten. Man lustwandelte noch auf den Basteien, man spazierte über das Burgtor weg, an dem »Justitia regnorum fundamentum« eingegraben steht (»bei der[92] Justiz geht alles drunter und drüber«, hieß es); man fuhr in oder auf den hohen Stellwagen über das Glacis zu den Vorstädten hinaus wie in eine fremde Stadt. An den Abhängen des Wienflüßchens, da, wo jetzt der Stadtpark blüht, weideten Ziegen wie auf dem Lande; wo sich nun die Ringstraße windet, die Museen, das Parlament, Rathaus, Universität, Burgtheater prangen, herrschte im Sommer – den erlebte ich – der glühende Staub. Etwas Ähnliches hatte ich noch nie gesehn; gab es noch eine zweite »Weltstadt« von dieser Art? Ich weiß es nicht. Wenn ich aus der alten Stadt herauskam, in der sich am Stephan, auf dem Graben und Kohlmarkt das üppige, elegante, süddeutsch heitere Leben drängte, und dann von der Löwelbastei, wo bei der Belagerung von 1683 die Türken so fanatisch stürmten und fielen, zum Kahlenberg hinübersah, von dem der polnische König und die Deutschen kamen, so fühlte ich tiefer, als man's heute fühlen kann, was uns Wien einmal war: das große Bollwerk unsrer Kultur, unsres Lebens, an dem die östliche Gefahr zerbrach. Meine Phantasie füllte sich mit den kriegerischen Gestalten jener Tage, dem belagernden Großwesir Kara Mustapha, dem Verteidiger Grafen Rüdiger von Starhemberg, dem Bürgermeister Liebenberg, den Befreiern Johann Sobieski und Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden; das ganze Gelände ward mir lebendig, wie es damals gewesen, nicht wie es jetzt vor den Augen stand. Ich studierte mit Feuereifer Schilderungen der Türkenbelagerung aus den nächsten Jahren, die mir der Bibliothekar des Fürsten Liechtenstein, der liebenswürdige Doktor Falk, nach Hause mitgab: vom Syndikus und [93] Stadtschreiber Nikolaus Hocke (1685) und vom kaiserlichen Hofkriegsrat und Historiographen J. P. von Välckern (1684). In denselben Sommerwochen, die ich in Wien durchlebte, hatte der furchtbare Kampf getobt; die glühende Sonne, die Gewitterschwüle schienen mir zuweilen den Blutgeruch von damals auf dem Glacis und den Basteien wieder aufzuwecken. Die dramatische Spannung der Zeit lag auf meinen Nerven, die ohnedies von allerlei tragischen Phantasien zuckten. Und ich Gärender, Werdender ahnte nicht, daß ich einundzwanzig Jahre später, als Direktor des Burgtheaters, in neuer Belebung jener Jugendgefühle das Schauspiel »1683« von Hippolyt Schaufert aus seinem Grab im Archiv hervorholen und wieder aufführen würde, zur zweihundertjährigen Feier der Befreiung Wiens. Am 12. September, dem Befreiungstag, spielten wir's zum erstenmal; indessen schon nach drei Tagen zum letztenmal: die Kritik, die man an dem Schauspiel übte, war stärker als der Patriotismus, an dessen Macht ich geglaubt hatte; »1683« sank ins Archiv zurück.

Der Reisegefährte, mit dem ich nach Wien gekommen war, teilte meine kriegerischen Gefühle und Studien nicht; er war einer der friedlichen Menschen, die vor allem das Schöne und das Zarte suchen. Auch sonst ein ungleiches Gespann, da er um viele Jahre älter war, fühlten wir uns doch als richtige gute Kameraden, da uns herzliche Zuneigung und Rostocker Blut und mecklenburgischer Humor verband. Er hießFriedrich Eggers – wie viele, die damals jung waren, kennen und lieben ihn noch! – war Professor der Kunstgeschichte an den drei Akademien Berlins, lyrischer [94] Dichter in hochdeutscher und plattdeutscher Sprache, und verfolgte auf dieser Lust- und Bildungsreise den Nebenzweck, die Zeitalter des Barockstils und des Rokoko in Dresden, Prag, Brünn, Wien und andern österreichischen Städten zu durchforschen. Ich, der ich meinen eigenen Nebenzweck hatte: mich zu finden und dramatischer Dichter zu werden, nachdem ich in München aus Patriotismus Journalist gespielt und in Berlin ein Buch über Heinrich von Kleist geschrieben – ich machte in jugendlichem Übermut und Wissensdrang alle Forschungen meines Kameraden mit; so tief in Barock und Rokoko bin ich nie gewatet wie in dieser Zeit. Wie in Dresden und Prag, so auch hier vertieften wir uns in alles, was die großen und kleinen Meister jener Stile in die geduldige Luft hineingebaut, gemalt und gemeißelt hatten; wer Wien kennt, der weiß, wir hatten tüchtig zu tun. Wir waren aber auch fleißige Leute und wir hatten Zeit. Aus unserem Gasthof siedelten wir so bald wie möglich in ein gemeinsames Zimmer über, das wir in der Leopoldstadt, in der Lilienbrunngasse fanden; schlicht, billig, drei Treppen hoch, bei einem alten Franzosen, der nebst seiner alten Frau still gemütlich radebrechte. Von dort belagerten wir Wien und stürmten es jeden Morgen, um es besser als die Türken zu erobern.

Friedrich Eggers – nun auch schon so lange tot; o wie unsere Friedhöfe wachsen! – Friedrich Eggers war ein Original, der mit vielem Humor sich selber spielte und doch wirklich echt war; ein schwer zu beschreibender Mensch. In meiner Erzählung »Fridolins heimliche Ehe« hab' ich ihn dichterisch darzustellen gesucht; doch ihn erschöpfen konnte und wollte ich nicht, [95] vielleicht ist's unmöglich. In seiner guten, feinen Seele war allerlei Weibliches, das jüngere Männer – zumeist seine Schüler – väterlich zu bemuttern liebte; an mich hatte er sich bald besonders herzlich angeschlossen, und den Unterschied der Jahre glich mein Drauflosgehen aus, dem er sich mit Humor und Liebe fügte. Damals, wie gesagt, suchte ich mich noch; später, als ich mich so mehr und mehr gefunden hatte, kam mir die Lust, auch ihn zu »schreiben«, und ich kündigte es ihm eines Tages an: »Friede (so nannt' ich ihn), ich mach' ein Lustspiel aus dir!« Zuerst, wenn ich mich recht erinnere, stutzte er darüber; dann lebte er sich aber hinein – buchstäblich. Da ich die Drohung jahrelang nicht ausführte, sie aber über seinem Haupte schwebte, gewann er sie lieb; und so oft wir uns wiedersahen – wenn ich durch Berlin kam, so war ich sein Gast – teilte er mir mit seinem anmutigen Augenlächeln und tiefen Lippenernst mit: »Adi, ich hab' wieder einen neuen Zug von mir für dein Lustspiel!« Den spielte er mir dann vor. So arbeitete er mit. Das mag kokett und befremdlich klingen; es war aber guter, freier Humor, der mit etwas barocker Grazie über sich selber schwebte.

Dieser Humor glich denn auch alles aus, was unsere Organismen im Grunde trennte; er war »in unserem Bunde der dritte« und blieb es bis zu Fridolins Tod. Er verklärte uns auf dieser Reise seine Wanzenfurcht, die ihn verfolgte wie die Eumeniden den Orest, und seine Insektenjagden bei Nacht, die mich manches Mal aus dem Schlaf erweckten. Er machte uns jedes kleine »Idyll«, das andere wohl kaum bemerken, zum Fest, und verband uns mit jedem neuen Menschen sofort; darin [96] war Fridolin Meister und unvergleichlich. Durch ihn lernte ich jetzt unter anderen den Professor und Kunstforscher Rudolf von Eitelberger, den Architekten Heinrich von Ferstel kennen; jeder Wiener weiß, was diese Männer ihrer Stadt bedeuten. Sie nahmen uns mit all der ritterlichen Gastfreundschaft auf, die an der Donau zu Hause ist, ebneten uns alle Wege; Ferstel, der bedeutend jüngere, mit hinreißender Liebenswürdigkeit. Er zeigte uns, was zu seiner noch werdenden Votivkirche gehörte, bis ins letzte, wir lernten den ganzen Baumeister kennen; er führte uns in sein Sommerhaus in Grinzing, zu seiner reizenden Frau und zwei allerliebsten Buben, und über den Kahlenberg und Leopoldsberg nach Klosterneuburg, wo wir seine Gäste waren, in Kunst und edlen Weinen schwelgten, auch von dem berühmten Faß im Kloster hinunterrutschten. Dann in seinem Wagen an der Donau zurück, die in ihrer stillen, einsamen, heroischen Größe an ihren Hügeln, ihren bebuschten Ufern und sandigen Inseln dahinströmte, und aus der uns die Geister der Nibelungen herzbewegend aufstiegen. Der herrliche Tag schloß lieblich in Grinzing, wo er begonnen hatte: in Ferstels Laube, mit seinen Eltern, Schwestern und Schwager, ward geschwatzt, gekegelt, gezecht, Backhendl gespeist, bis uns die Gastfreunde nach Döbling zum späten, wohl letzten Omnibus brachten, der uns heimwärts führte.

Wir nahmen aber auch an den ernsten Reformbestrebungen dieser Neuerer und Begründer teil; so studierten wir, was Eitelberger und Ferstel gemeinsam für die bevorstehende große Stadterweiterung gedacht [97] und gepredigt hatten, ihre durch Zeichnungen und Grundrisse erläuterte Schrift: »Das bürgerliche Wohnhaus und das Wiener Zinshaus« (1860 erschienen). Ihnen beiden ist dann das Glück geworden, so manches von ihren Wünschen und Plänen auf dem lebendig werdenden Glacis zu verwirklichen; dem Kunstforscher Eitelberger, indem er das Österreichische Museum für Kunst und Industrie und die Kunstgewerbeschule gründen, die Akademie der bildenden Künste umgestalten durfte; dem Künstler Ferstel, indem er nach der schönen Votivkirche das Museum, dann den Prachtbau der Universität erschuf. Damals, 1862, lebten sie noch für eine geträumte Zukunft, die nun prunkende Gegenwart ist, für das neue Wien.

Wir beiden Spazierengeher lebten noch imalten; wir vertieften uns in die Kirchen, Paläste und Galerien umso gründlicher, da von Theater und Musik in dieser Hochsommerzeit nicht viel zu erleben war. Das Burgtheater war geschlossen, die Oper im alten Kärntnertortheater tat sich erst im August wieder auf; wir bewunderten wenigstens noch die Dustmann als Pamina, Walter als Tamino, Schmidt als Sarastro, über die rührende Ärmlichkeit des Hauses staunend. Im Treumannschen Theater am Kai, das bald darauf niederbrannte, konnten wir doch in einer Nestroyschen Posse Wiener Humor und Darstellungskunst etwas kennen lernen, und in Fürsts Singspielhalle im Prater sehen, mit wie einfachen Mitteln man ein großes Behagen gefüllter Häuser erzielen kann. Aus Gesangsvorträgen kleiner Trupps in Wirtshäusern war durch Fürsts unternehmenden Weltverstand ein »Musentempel« hervorgewachsen, [98] in dem bei immer gleicher Szene – Zimmer – eine Reihe von Singspielen in aller Geschwindigkeit und unter jubelndem Beifall abgehaspelt ward; dummes Zeug, aber mit Witz und guter Laune frech und frisch heruntergespielt. Uns Nordländer störte nur das Schnellfeuer der Rede, in dem einige dieser Komiker den Triumph der Kunst suchten; im rasendsten Tempo, pausenlos, jagten sie durch eine wahre Wildnis von guten und schlechten Späßen über Stock und Stein dahin; man hatte keine Sekunde Zeit, sich zu freuen, sich zu ärgern oder aufzulachen.

Die wahre Gemütlichkeit Wiens erlebten wir an den Feiertagen in Wies' und Wald, in den musikfrohen Kneipen oder im Wurstlprater, der damals noch idyllischer war, als er heute ist; so viel grünen Rasen mit so vielen Hunderten hingelagerter Men schen, Mann, Weib und Kind, hab' ich seitdem nie mehr gesehn. Es war eine heiße Zeit, zuweilen durch Gewitter, Stürme und Regengüsse plötzlich abgekühlt; schnell kam aber die Schwüle und das Glühen wieder, und an den langen Abenden verschmachteten die Menschen. Da saßen sie dann zuweilen am Donaukanal, Mann und Weib, ungeniert, bis zu den Knien im Wasser, um sich ein wenig Kühlung zu holen; ein Anblick, den ich noch nicht kannte. In den Wirtsgärten am Kanal wimmelte es bis tief in die Nacht; wer mochte denn auch nach Hause gehn, wo man schlaflos verschwelte. Ich erinnere mich, im kleinen Garten des »Kaiserbad« war's am Franz Josephskai: da widerfuhr mir an einem dieser schwülen Abende etwas Wunderliches, das mir zu Kopf und zu Herzen ging. Mein Reisegefährte hatte mich allein gelassen, [99] ich saß in einsamen Träumereien an meinem Tischchen. An einem Nebentisch saßen ihrer fünf oder sechs, Männer und Frauen, offenbar aus der Kaufmannswelt. Ihr Gespräch begann mich zu fesseln, als sie von einer Abwesenden sprachen; ich horchte, während ich weiterzuträumen schien. Es galt einer jungen Dame, wie ich bald bemerkte; die Gesellschaft war mit ihr äußerst unzufrieden, jedes hatte an ihr etwas auszusetzen – und alles, was sie ihr vorwarfen, nahm mich für sie ein, machte sie mir interessant. Der eine tadelte mit tiefem Ernst, daß sie zu wenig Geschäftssinn habe; die andre klagte, wie sie so gar nicht weltklug sei. Dann rümpfte eine dritte das Näschen: Überhaupt, diese Gleichgültigkeit gegen das Urteil der Welt, dieses Dahinträumen, so für sich, so unbekümmert. Bücher lesen! Gedichte lesen! setzte der vierte hinzu. Was ist ihr unsere Gesellschaft, wenn sie sich nur die Hände an die Ohren legen und sich in ein schöngeistiges Buch vertiefen kann!

Und so ging es weiter. Die werde nie eine richtige Kaufmannsfrau abgeben! das war ungefähr der Rede Sinn. Fürs »Geschäft« verloren! Eine überflüssige, nutzlose Schwärmerin; eine »schöne Seele«, wie, wenn ich mich recht entsinne, die fünfte mit verhöhnendem Mitleid sagte. Herrgott! dachte ich, jugendlich entzückt. Die ist zum Verlieben! Wenn sie ganz so ist, wie sie die da schildern, und wenn sie auch ebenso lieb anzuschauen ist, die wär' schon die Rechte! Und während die am Nebentisch sie so nach und nach aufgaben und von ihr zum ewig Nützlichen zurückkehrten, saß ich, in die schwüle Nacht hineinträumend, in zärtlichen Phantasien [100] da, suchte mir die »Verlorene« vorzustellen, dachte mitleidsvoll ihrem Leben nach, und wäre wie gern zu ihr durchs Fenster geflogen, oder auch durch die Tür zu ihr eingetreten, um ihr mein junges Herz zu Füßen zu legen.

Es blieb aber ein Traum; ich hab' sie nie gesehn. Die »Lästerschule« ging endlich wohlverrichteter Dinge heim, und ich auch. Ob die Verlästerte noch leben mag? Wie sie leben mag?

Als Wandervogel zog ich nach einigen Tagen meines Weges weiter. Mir blieb es aber eine Erfahrung fürs Leben: daß wir so breitgetrennte, so tiefverschiedene Menschen sind, daß das Verdammungsurteil der andern uns wie ein Lockruf oder Segensspruch klingen, unser Herz erobern kann.

Übrigens waren das nicht echte, rechte Wiener, die mir so zur Seele gesprochen hatten, ohne es zu ahnen; der wahre Wiener ist kein Yankee und wird keiner werden. Er hat mehr das »Leben und Lebenlassen«, und den leichten Sinn und auch den Leichtsinn, der dazu gehört; der wohl überhaupt zu einem künstlerisch veranlagten Volk gehört. Uns Reisenden fiel damals oft bis zu hellem Erstaunen auf, mit wie leichten Händen in Wien das Geld weggeworfen ward; oft buchstäblich weggeworfen: es war noch die Zeit des kleinsten Papiergeldes, der Sechserzettel, die man gerne frei in der Tasche trug und als Trinkgeld oder auch sonst nach rechts und links »hinausfeuerte«, ohne sie zu zählen Mit einer Art von bewunderndem Grauen hab' ich das bei unsern Gastfreunden gesehn, die nur so in die Westentasche griffen und ganze Haufen dieser [101] kleinen Zettel in die bereitwilligen Kellner-, Dienstmänner-, Kutscherhände drückten. Ein kavaliermäßiges Verschwenden hatte die Wiener wie eine Mode, wie ein Sport ergriffen; es stimmte zu dem »Alleweil fidöl, fidöl!«, das damals der Lieblingsgassenhauer der Kaiserstadt war, den in der Singspielhalle im Prater der Direktor Fürst und Kraler mit virtuosester Lustigkeit heruntersangen. Die Sechserzettel verschwanden später, und der große Börsenkrach von 1873 rief wie eine Sturmglocke zur Umkehr und zur Nüchternheit; aber die Neigung, das Geld gemütlich zu verachten, blühte doch noch weiter. In den Siebzigerjahren sagte mir Lenbach einmal, der oft von München nach Wien kam: »In München heißen sie mich 'nen Verschwender, und hier gelt' ich für 'nen Schmutzian.«

Ach mein Gott! Nun kann ihn niemand mehr loben oder schelten.

Als der August gekommen war, kam auch eine Wien-Müdigkeit über mich, die mich am sechsten in die Berge trieb, dem Traunsee zu. So viele Wochen hatte ich Städte und Menschen studiert, im Gewirr der Gassen, zwischen backsteinernen sommerheißen Wänden der Kultur und der Kunst gelebt; jetzt riß es mich zur Natur hinaus, und in irgend eine schöne Einsamkeit, um meine Tragödien aufs Papier zu werfen. Die Unruhe dieser gefüllten Tage, der ewige Wechsel des Wetters, mit Gewitterstürmen, hatten mir auch die Nerven überreizt, zuletzt den Seelenfrieden genommen; der Fanatiker in mir erwachte wieder, der zuweilen aus seiner Kerkerzelle, in der ihn Humor und Philosophie gefangen hielten, wie ein melancholischer Berserker hervorbrach. Es war [102] der Fanatismus desVaterlandsgefühls, das ich wohl in keinem Menschen so stark oder so ungestüm gefunden habe wie in mir. Das unwürdig zerrissene und machtlose Dasein meines Volkes drückte mir oft das Herz zusammen, daß ich kaum mehr leben konnte, und der Übermut der glücklicheren, längstgeeinten, weltbeherrschenden Völker, die manchmal an Ehrlosigkeit grenzende Schwäche des »Deutschen Bundes« traten mir auf der Brust herum. Nun hatte ich auf dieser Reise so viel vom deutschen, sodann vom tschechischen Böhmen, dann von Wien gesehn; und dieses große, glänzende, so schön in seinen Bergen liegende, »alleweil fidöle« Wien, das ehemalige Bollwerk gegen die Türkennot, das Paradies der Musik, die Stadt der Haydn und Mozart, Beethoven und Schubert, erschien mir jetzt in schwarzen Stunden wie ein unheimlicher Alp, der auf Deutschland lag Wien und Österreich; das große, tapfere, kriegsgewohnte, vielsprachige, trostlos uneinige Österreich, das Österreich der Jesuiten, das Konkordats-Österreich – das über uns zu herrschen suchte, das von unsrer Zerrissenheit lebte, wie der Adler des Zeus, der die immer wieder nachwachsende Leber des Prometheus fraß. Wie sollten wir Gefesselten, an den Fels unsrer geschichtlichen Nemesis Geschmiedeten diesem Adler entrinnen? diesen Alpdruck von uns schütteln? Und hätten wir statt Preußen Österreich freiwillig zum gekrönten Oberherrn nehmen wollen, konnte dieses jesuitenschwarze, sich selber zerfleischende, von so vielen deutschfeindlichen Völkern bewohnte Österreich des deutschen Volkes Führer sein?

Es war nun aber da, es lebte, ich fühlte sein Leben um mich her; so viele in mir liebten es, einer mußt' [103] es hassen. In diesen letzten Wiener Tagen kam eine Stunde, wo der eine es nicht nur haßte, auch verzweifelte; um ihn her ward zu schwarze Nacht. Glaube und Hoffnung, sonst in meiner jungen Brust so mächtig, versanken ganz; Deutschland kommt nicht mehr hoch! Sie selber helfen sich nicht; wer soll ihnen helfen? »Nur ein neuer Friedrich der Große kann's!« hatte der alte Professor Steinthal von Schulpforta gesagt, wenn ich, der junge Student, der Sohn seines Freundes, mit ihm durch die Wälder gen Naumburg wanderte und wir aus dem deutschen Elend einen Ausweg suchten. »Nur ein neuer Friedrich der Große kann's!« Wo war der? Woher sollt' er kommen?

Mir fraß der Adler unseres Schicksals am Herzen. Nach der Vorstellung der »Zauberflöte« saßen wir im »Erzherzog Karl« in der Kärntnerstraße, Fridolin und ich; Mozart, Humor, Lebenssinn und alles verging mir, ich warf nur noch wilde Worte hin. Fridolin, der nicht wußte, was in mir war, hatte Gegenworte; es kam zu scharfem Hin und Her, das im Grunde sinnlos war, denn es traf die Sache nicht. Zuletzt haßt' ich mich selbst, widerte mir selbst. Wir gingen nach Hause, stumm geworden, ich mochte nicht mehr sprechen. Als ich dann oben an meinem Fenster stand und aus unserm dritten Stock auf die regenfeuchte, vom Laternenlicht angeschimmerte, granitgevslasterte, tote Straße sah – »hinunterstürzen!« dachte ich. »Aus dem Fenster springen! Dann ist's aus!«

Todessehnsucht. Dahin kam's mit mir in dem »alleweil fidölen« Wien.

Ich bin nicht gesprungen. Es leben in mir zu viele[104] gern; mehr als in den meisten Menschen, die ich kenne. Und es war doch wohl noch einer darunter, der auf jemand hoffte. Er kam schon, dieser Jemand!Noch in demselben Jahr, 1862, setzte er sich den Kranz aufs Haupt: den Dornenkranz des preußischen Ministerpräsidenten; vier Jahre später war es der Siegeskranz. Otto der Befreier, Otto der Begründer!

Und jetzt drückt kein Alp mehr, es drücken sich nur verbündete Hände.

Ja, wir Ahnungslosen!

2.
II

Anfangs Juni 1871 zog ich zum zweitenmal nach Wien; diesmal kam ich von München her und fuhr der großen Stadt durch den Wienerwald entgegen, an all diesen reizenden, zwischen Waldbergen gebetteten Sommerfrischen vorbei, in denen damals noch mehr als jetzt der wohlhabende Wiener fast die Hälfte seines Jahres verbrachte. Ich kam als noch junger Theaterdichter, um das Burgtheater endlich kennen zu lernen und darin die erste Aufführung meines Lustspiels »Die Vermählten« zu erleben. Juni! Eine mörderisch späte Zeit für ein neues Stück. Das focht mich nicht an; ich nahm's, wie es kam, ich war der jugendliche Reiter, der noch nicht im Graben lag. Das Burgtheater und sein Publikum hatten mich freundlich aufgenommen, meine kleinen Lustspiele »Unerreichbar« und »Jugendliebe« mit kleinen Siegeskränzen geschmückt; warum nicht auch die größeren »Vermählten«? dacht' ich.

Der blinde Mut behielt diesmal recht. Die »Vermählten« überwanden den Juni; nach der Aufführung[105] hatte ich die erste schlaflose Glücksnacht des Dramatikers. Es war aber nicht nur der Sieg des Stücks; so ein seelenloser Anbeter des Erfolgs war ich denn doch nicht. In mir jauchzte auch die Freude über dieses Paradies der Kunst, das Burgtheater, in dem ich gefunden hatte, was ich schon so lange suchte: die echte Blüte des deutschen Schauspiels, die Weihe der festen Überlieferung, den Atem der Geschichte. Hier schien sich Gewordenes dauernd fortzusetzen, gleichsam von Geschlecht zu Geschlecht. Schöne, starke Talente hatte ich auch anderswo, zumal in Berlin und München gesehn; in München auch den besten Willen eines trefflichen Intendanten, eines hochbegabten Regisseurs. Aber es war nicht »Wallensteins Lager«, es war nicht die große, fortbildende Schöpfung, bleibendes Ergebnis.

Und so verließ ich denn im Herbst mein geliebtes München, meine teuersten Freunde, um – als Mensch und als Dichter mächtig angezogen – in der Stadt und in der Luft des Burgtheaters zu leben.

Es war eine Werdezeit, die einen fröhlich Werdenden wohl ergreifen und festhalten konnte; ich glaube, ein schöneres Jahrzehnt als die Siebzigerjahre hat Wien kaum gesehn. Ein Frühling, der Unendliches versprach, war ins Land gekommen: aus der Katastrophe von 1866 war eine große Befreiung und Erhebung hervorgewachsen, ein sich verjüngendes Österreich neben einem neu erstandenen Ungarn; die Luft war voll Hoffnungen, alles schien noch möglich. Die Hauptstadt Wien schritt voran; die Stadterweiterung gab ihr eben ein neues Gesicht, neue Reize, alle künstlerischen Kräfte reckten sich, das Geld »lag auf der Straße«. Nach London und [106] Paris bekam 1873 auch Wien seine Weltausstellung; ein teures Vergnügen, aber doch eine Tat, die auf neue Taten wies. Fortschritt überall! und die Luft am Schaffen. Neue große Talente erschienen fast in allen Künsten, aus dem Heimatsboden oder von draußen her; zu Bauernfeld, Ferdinand von Saar und Marie von Ebner-Eschenbach trat Anzengruber hinzu, Makart kam von München und blieb, Lenbach kam auf Jahre und immer wieder, Semper ward berufen,Brahms wuchs sich fest, Johann Strauß, der große Walzerzauberer, ward nun auch der Operettenmeister. In der Theaterwelt begann das rastlos schöpferische Ringen des Laubeschen Stadttheaters mit dem Burgtheater; die Geistinger herrschte und blühte im Theater an der Wien, die Gallmeyer bald hier, bald dort, Girardi stieg empor. Die Oper wetteiferte mit der kaiserlichen Schwesterbühne; laßt mich hier nur die Wilt, die Materna nennen. Wie vieles wäre noch zu nennen, das in diesen Siebzigerjahren das Wiener Kunstleben schmückte.

Unter den Dichtern sollte ich den größten, den scheidenden Stern noch über dem Horizont schweben sehn: Grillparzer, der Anfang 1872 verschied. Ich besuchte ihn, der Dichter Joseph Weilen hatte es vermittelt und führte mich zu ihm. Der achtzigjährige Mann hörte so schwer, daß an eine richtige Unterhaltung nicht zu denken war; es war nur die schmerzliche, andächtige Freude, den Dichter von »Des Meeres und der Liebe Wellen« – für mich seine edelste und staunenswerteste Schöpfung – noch einmal mit dem leiblichen Auge zu schauen, eh er uns verließ. Er stand [107] in seinem schlichten Zimmer am Stehpult und blieb so; eine traurig greisenhaft gebückte Gestalt, in dem bleichen, vergeistigten Gesicht lebenssatte Augen, die wohl fast so monologisch blickten, wie sein Geist zu uns sprach. Er sprach allein; ich glaube, ich hab' nicht viel mehr als den Gruß beim Kommen und beim Scheiden gesagt. Da einer aus dem Deutschen Reich vor ihm stand, das sich in ebendiesem Jahr 1871 vollendet hatte, redete er von den Deutschen da draußen und den Österreichern; er ganz Österreicher, in dem die gerechte Bitterkeit eines langen Daseins gegen die ihm so fremd gebliebenen »deutschen Brüder« lebte. Von unseren Sünden gegen ihn sprach er nicht, wie sollte er auch; aber daß unser vaterländischer Aufschwung, unsre junge Größe sein Herz nicht ergriffen hatte, das erklang aus jedem Wort. Er pries mit seiner milden Stimme, seiner schlicht klugen Rede die Vorzüge der Süddeutschen und der Österreicher; gegen die Gegenwart, die ihn nicht freute, pries er die Vergangenheit, in der er gelebt hatte; »laudator temporis acti«, wie er sich mit anmutig lächelnder Selbstverspottung nannte. Es war aber doch, als stehe da einer, der nicht mehr mit und bei uns war, der seine stille Gruft verlassen hatte, um uns nur zu sagen, daß wieder untertauchen das Beste sei.

Mich ergriff sein Anblick sehr, wenn er mir auch das Herz bedrückte; ich wußte, wie viel er gelitten und wie Großes der nun so müde Geist in diesem zart zähen Leib geschaffen hatte. Meiner lebenbejahenden Jugend stand er fast gespenstisch fremd gegenüber, dieser blasse, Schwermut aushauchende Rest eines hochauffliegenden, dann wund und vergrämt durch endlose Jahre [108] schleichenden Daseins; das uns doch mit goldenen Früchten beschüttet hatte, die wir Nordischen ihm nicht dankten, weil wir sie nicht kannten. Denn wer kannte sie? Wer hat der deutschen Jugend gesagt: dort an der deutschen Donau lebt einer, der zu den Größten gehört, die in unsrer Sprache schrieben; lest ihn, lernt ihn lieben!? Er blieb der herablassend (von unten hinauf) Bekrittelte, blieb der Unbekannte. Und so wanderte er einsam durch sein vom »Neid der Götter« geschlagenes, vielgekränktes Leben; zuletzt noch verspäteter Ehren bitter wehmütig froh; kann man sagen: froh? Wie er so am Stehpult stand, schien er nur zu meinen: ihr, auf die noch so viele Enttäuschungen warten, lebt wohl, mich kann nichts mehr täuschen!

Sieben, acht Monate später gingen wir dann hinter seinem Leichenwagen, bei seinem feierlichen, eines großen Toten würdigen, tragisch spät verklärenden und versöhnenden Begräbnis.

Wie viel besser war es dir ergangen, du so viel geringerer, aber gesünderer, stärkerer, so ganz fürs Leben geschaffener Eduard Bauernfeld! Wie viel glücklicher flossen deine Tage hin bis zu deinem noch so viel späteren letzten! – In demselben Juni 1871 lernte ich auch Bauernfeld kennen; er war fast schon Siebziger, aber frisch wie eine Forelle, beweglich und geschmeidig wie Quecksilber; und wenn er »raunzte« – der berühmte Raunzer – so konnte man sich beruhigend sagen: das erhält ihn jung! Er ist auch eigentlich jung geblieben, so lang ich ihn kannte; wenigstens die Form, die Prägung gleichsam seines Sichauslebens änderte sich nicht. Ich erinnere mich, wie ich ihn einmal in einem [109] seiner späten Jahre – etwa fünfundachtzig alt – vom Josephsplatz kommen und zum Michaelerplatz wandern sah; durch den engen Torweg huschte er wie ein Wiesel, er, ein halbblinder Mann, nur soeben noch an den Wagen vorbei, die von vorn oder von hinten heranfuhren. Als er die Theaterstücke, die sein Gehirn in ewigem Johannistrieb immer noch hervorbrachte, nicht mehr niederschreiben und lesen konnte, diktierte er sie und lernte sie auswendig; auswendig hat er so ein allerletztes in der Villa Wertheimstein in Döbling vorgetragen. Er starb nicht ab wie Grillparzer, er ist nur gestorben.

Als ich mit ihm bekannt ward, war er noch mehr als alle der Dichter seines Burgtheaters; mit den Schauspielen »Aus der Gesellschaft«, »Moderne Jugend«, »Landfrieden« hatte er sich eine neue Blüte und dem Theater dauerhafte Erfolge geschaffen. Auguste Baudius, später meine Frau, hatte an all diesen Erfolgen teil, war so recht seine Schauspielerin; er dankte es ihr auch in seiner väterlich ritterlichen Weise. Er lebte mit alt und jung frisch gesellig fort, schlug sich mit allem herum, was die Zeit bewegte. Nur blieben diese Bühnenerfolge seine letzte Blüte; Werke von gleicher Lebenskraft glückten ihm nicht mehr. So manches, was in seinem heiteren Kopf noch summte, verging im Stadttheater als Eintagsfliegen; bei größeren Anläufen, die er dann noch nahm – so sein »Alkibiades« – sprang er zu kurz. Ich habe in den Achtzigerjahren als Direktor des Burgtheaters einige dieser Spätlinge aufgeführt, die mit jugendlichem Ungestüm nach den Brettern verlangten, aber sie dauerten nicht.

[110] Ein anderer war mittlerweile gekommen, auch ein Wiener Kind, Ludwig Anzengruber, der soeben mit seinem »Pfarrer von Kirchfeld« einen gewaltigen Erfolg errungen hatte und nun die Siebzigerjahre mit seinem mächtig aufstrebenden, reichen Schaffen füllte. Ich hab es staunend miterlebt; staunend über seine großen Gaben und über das wunderliche, ganz besondere Martyrium, das er in seiner eigenen Vaterstadt erlitt. Er brachte glänzende Werke, die in vortrefflichen Aufführungen fast alle einschlugen oder doch Ehre gewannen, seinen Ruhm vermehrten; sie hielten sich so und so viele Abende, machten gute und minder gute Häuser; dann verschwanden sie, fast wie nie gewesen, und der Dichter, der scheinbar mit Siebenmeilenstiefeln ausgeschritten war, stand noch auf demselben Fleck. Ende 1871 erschien im Theater an der Wien sein kraftstrotzender »Meineidbauer«, im Oktober 1872 »Die Kreuzelschreiber« ebendaselbst (eine entzückende Vorstellung dieses Meisterstücks; ich sah sie mit Ernst und Helene Hartmann als Gast in ihrer Loge); im April 1873 spielten die Burgschauspieler seine »Elfriede«, die immerhin versprach, was sie noch nicht hielt; im September 1874 glänzte wieder das Theater an der Wien mit dem »G'wissenswurm«, den sie so meisterlich aufführten, wie er es verdiente. Werke, wie wir noch keine hatten, neue, einzige; durch und durch österreichische Werke eines Österreichers, eines Wieners, in Wien von wienerischen Talenten musterhaft und mit Glück gespielt. Hätte man den Mann auf Händen getragen, mich hätt's nicht gewundert! – Sie ließen ihn aus den Händen fallen: so sah's aus. Als wäre er einer von den Alltagsdichtern, die man [111] zu Dutzenden hat. Das Stadttheater nahm ein volkstümliches Trauerspiel »Hand und Herz« von ihm; am Silvesterabend 1874 ward es aufgeführt, als hätte man den festen Plan gehabt, es hinzurichten. Man schlug Anzengrubers Schaffensfreudigkeit wie mit Keulen tot. Wie ist das zugegangen, wie ist das gekommen? Ich hab's nie ganz begriffen; ich begreif' es auch heute nicht.

Vielleicht erklärt es sich zum Teil aus Anzengrubers Persönlichkeit: wenn auch Wiener Blut, war er doch wohl fremdes Blut, ihm fehlte die Leichtigkeit, die Sonnigkeit, die den Wiener so gemütlich liebenswürdig macht. Ein Charakterkopf von Natur, durch eine harte Werdejugend und bittere Enttäuschungen wohl noch mehr gehärtet, ging er gleichsam mit steifem Rückgrat herum, stiernackig, wetterfest, auf sich selbst gestellt. So fand ich ihn gleich das erste Mal, als ich einen tieferen Blick in sein Inneres tun konnte; bis dahin hatt' ich ihn nur in dem Laden seines und meines Verlegers Leopold Rosner gesehn. Jetzt saßen der, Joseph Lewinsky und ich mit Anzengruber im »Hotel Müller« am Graben zusammen (es war im September 1874); wir waren alle drei warme Bewunderer seiner mächtigen Begabung, wir hatten sein noch nicht aufgeführtes Trauerspiel »Hand und Herz« gelesen und wünschten einmütig, ihn zu Änderungen dieses nicht ganz geglückten Werkes zu bewegen. Rosner hatte die Zusammenkunft gemacht, Lewinsky und ich waren dem Dichter noch recht fremde Leute; unsere allerbeste Meinung freilich konnt' er nicht verkennen. Im lustigen Hof, bei Dreherschem Bier, redeten wir auf ihn ein bis Mitternacht. Ich sehe ihn [112] noch, wie er mir gegenübersaß: auf den festen Schultern, dem kurzen Hals der gleichsam aus Erz gegossene Adlerkopf. Er hörte alles freundlich oder doch nicht unwillig an, aber als rührte sich nichts in ihm. Seine Züge sagten: Was ich gemacht habe, das hab' ich gemacht! Und zuletzt sagten auch seine Worte: So wie's ist, so bleibt's!

Es ist auch so geblieben. Nicht aus Eigensinn: das wäre für einen Anzengruber ein zu kleines Wort. Ich glaube, es war ein so festgefügter Organismus, der – umgekehrt wie Bauernfeld, welcher unaufhörlich ändern, umgestalten konnte – das einmal Gefundene und Geformte gleichsam naturnotwendig festhielt, »als wär's ein Stück von ihm«. Freilich, seinen Roman »Der Schandfleck« hat er umgedichtet, als eine ungewöhnliche und in großen Nöten hilfreiche Aufforderung an ihn herangetreten war; dort kehrte er aber zu eigenen früheren Gedanken zurück und trennte unglücklich, sozusagen unorganisch Verbundenes zuzwei Gestaltungen, die nun beide lebten.

Ich hab' ihn nicht oft gesehn, nicht viel mit ihm geteilt; während mich mit Bauernfeld, dann mit Ferdinand von Saar die Villa Wertheimstein und andere Häuser oft zusammenführten, blieben Anzengrubers und meine Wege getrennt, wie es nun so geht. Seine Bühnenwerke zu sehn, seine Erzählungen zu lesen war mir selbstverständlich, da ging ich all seine Wege mit, jeden neuen Schritt, den er tat, mit neuer, herzlicher Bewunderung begrüßend. In seiner Komödie »Doppelselbstmord« (1876) erschien auch Girardi; in der »Trutzigen« (1878) Josephine Gallmeyer, die in die [113] Hauptrolle all ihr Temperament und Können warf, ganz vortrefflich spielte; in den ersten Siebzigerjahren hatte die Geistinger für ihn das Gleiche getan. Drei Tage nach der »Trutzigen« saß ich mit Rosner, Schöne, Thimig am Abend im Wirtshaus (bei Breying, glaub' ich); da erschien auch Anzengruber mit dem Gesicht eines Freudenboten; er meldete: wir haben den Schillerpreis! Das Schicksal hatte es wunderlich gewebt: drei in Wien lebende Dichter auf einmal erhielten den Berliner Schillerpreis, der zweimal liegen geblieben war: Anzengruber, Nissel und ich. Am 7. Dezember feierte uns dann der Journalisten- und Schriftstellerverein »Konkordia« mit einer Festkneipe im »Grand Hotel«; es war wohl auch ein Fall, der nicht wiederkommt. In dieser Nacht war ich mit Anzengruber am längsten zusammen: erst Morgens um fünf Uhr verließen wir das Kaffeehaus (»Rebhuhn«, damals Sternfeld), in das er und ich mit Ferdinand von Saar, dem Professor Joseph Bayer, den Schauspielern Swoboda und Kadelburg und andern noch aus dem »Grand Hotel« übersiedelt waren, um doch nicht gar zu früh auseinanderzugehn.

An Anzengruber überraschte mich hier ein Zug, den ich noch nicht kannte: er tyrannisierte »seinen« Schauspieler Swoboda mit vollkommener Despotenlaune und mit einem Herrschtalent, dem die sich völlig unterwerfende Hingebung Swobodas entsprach. Ob auch sonst dieses Talent in Anzengrubers Leben eine Rolle spielte, davon weiß ich nichts; nach dieser Probe glaub' ich's wohl, und in Gestalt und Gesicht hatte der Finger der Natur dahin deutende Zeichen hineingedrückt.

[114] Als ich später Direktor des Burgtheaters ward, ging mir wohl oft der Wunsch durch den Kopf, auf meiner Bühne auch Anzengruber zu spielen; es blieb aber einer von den »frommen« Wünschen, mir fehlte immer diese oder jene Kraft. An der Liebe und Luft hätt' es nicht gefehlt. Freilich, wie viele seiner Werke waren aus dem Wiener Hoftheater einfach ausgeschlossen; vor allen wohl die »Kreuzelschreiber«, die ich wohl am liebsten gespielt hätte, die ich für Anzengrubers allereigenste, unvergleichlichste, genialste Schöpfung halte.

Ein Leben voll Glück und Gunst hat er nicht geführt. Große, begeisterte Anerkennung von vielen der Berufensten ward ihm wohl zu teil; er hat aber doch erst sterben müssen, eh seine Stadt- und Landgenossen, eh sein deutsches Volk ihn recht eigentlich ins Herz geschlossen, eh die ganz verstehende Liebe begriffen hat, wie hoch er am Himmel steht. Ein Märtyrer doch auch er! Man kann's nicht verhehlen. Wir sind alle Sünder, zumal wir Deutschen; auf dem Friedhof unserer Großen stehen viele Leichensteine, unter denen Verkannte oder spät Erkannte, sogar Halbverkümmerte ruhen. Keiner von den deutschen Stämmen kann den andern richten; aber man soll sagen, was wahr ist: die beiden größten Dichter, die in Wien zur Welt kamen und in Wien lebten und schufen, Grillparzer und Anzengruber, haben es nicht gar gut gehabt. Der du einst als dritter kommst, mögest du es besser haben! Mögen die Wiener und du ein Herz und eine Seele werden, eh sie dich begraben!

[115]
3.
III

Hans Makart und Wien! Die sind nicht zu trennen. Nähme man Makart aus dem Wien der Siebzigerjahre weg, so hätten die ein anderes Gesicht, sie schauten nüchterner, farbloser drein. Ich weiß wohl, dieser kleine große Mann ist nicht so groß, wie er damals erschien; der Makartrausch hat geendet, wie so viele Räusche; und neben den alten Farbenmeistern, mit denen man ihn damals begeistert verglich, steht er jetzt stark verblaßt und entkräftet da. Aber das ist wahr und gewiß, daß er zu jener Zeit wie einer von den Zauberern, den Magiern wirkte, mit deren Hervorbringung die Natur sich sozusagen eine Feiertagsfreude macht, wenn sie auch keines ihrer großen Worte damit sagt; daß er durchaus genial erschien und in dem Schein doch auch Wahrheit war. Es war an ihm alles so selbstverständlich; er stieg aus dem dunklen Urwasser wie eine Victoria regia auf, legte seine großen Blätter auf den feuchten Spiegel, öffnete seine mächtigen Blütenkelche, weiß und rosenrot, dann dunkelpurpurrot, immer glühender und blühender. Er kam und ward und entfaltete sich so mühelos wie sie. Er verging freilich auch wie sie. Einjährig ist die Wunderpflanze. Ein Ewiger ist Makart nicht. Aber die Zeit, die er hatte, die war sein. Mich dünkt, in den Menschen jener Tage, insbesondere den Wienern, war ein naturstill und naturnotwendig angesammelter Schönheits- und Farbenhunger, der nach Befriedigung seufzte, ohne es zu wissen; der am Ufer stand, als diese Königin der Seerosen aus der Zeitflut aufstieg, und in der ersten Trunkenheit der [116] Freude die Hände hob: Habemus papam! Ein Wunder ist gekommen!

Ich hatte Hans Makart schon in München gesehn, als er dort lebte; indessen kannten wir uns noch kaum, nur so von Gesicht zu Gesicht. Ich weiß, wie mein Freund Hans Kugler ihn mir zuerst im Garten des Englischen Kaffeehauses zeigte, das nun längst verschwunden ist; er saß in der Menge an einem Tischchen mit seiner jungen Liebsten, die dann seine Frau ward. Sie waren beide so »anders«; sie wie aus einem seiner Bilder herausgestiegen, fremdartig reizend, voll farbiger Lebenslust; er, der junge »Meister« (eben hatte er angefangen, berühmt zu werden), wie aus einem fernen, heißen Land gekommen, aus schwarzen, stillbrennenden, träumenden Augen in diese nordische Welt schauend, in der er nicht lebte. Er blieb wohl auch eigentlich immer der Jüngling aus der Fremde, in Wien wie in München; einer, der sich dort aufhielt, um Bilder zu malen – bis von hinten eine kalte Hand kam und ihm den Pinsel aus den Fingern zog.

Im November 1871 sahen wir uns im kaiserlichen Opernhaus wieder; er war nach Wien gezogen, ich zog im Dezember hin. Ich lernte seine Frau, seine Mutter, sein malerisch geschmücktes Haus kennen; er, der nur immer »aus dem Ärmel schüttelte«, hatte auch viele seiner Möbel, so die Stühle des Speisezimmers, selber reich bemalt. Schon damals sammelte sich eine kleine Gemeinde um ihn, Maler und Malergenossen; sie fanden zum Teil Gastfreundschaft in seinem großen, tiefen, bald auch ganz in Farbenpracht getauchten Atelier; sie zeichneten und malten dort, mit ihm, unter tausend [117] Possen, Kartons für »Gschnasbälle« der Künstlerschaft; sie halfen ihm seine großen Kostümfeste feiern, mit denen er auch ein neues Aroma in die Wiener Luft brachte. Ich erinnere mich eines besonders farbigen, phantastischen Abends in seinem Atelier, als sein früherer Meister Karl Piloty aus München herübergekommen war (im Frühjahr 1873); wir feierten ihn, ich mit, dazu Lenbach, Huber, Penther und noch ein Hause von Malern und Architekten; sie alle steckten sich in ihre Kostüme von dem vorausgegangenen Makartfest. So tafelten wir, musizierten, füllten den zauberhaften Kunstsaal mit zigeunerischen Humoren; es war eine der schön verträumten Nächte, in denen das Leben zum Märchen wird, und es Morgen werden muß, eh das Märchen endet.

Makart ist oft, wie Moltke, ein großer Schweiger genannt worden; allerdings, ein Vielredner wie sein Kunstgenosse Canon, der uns Abends aus der Kneipe hinausreden konnte, war er all seine Tage nicht. Man kennt die kleine Geschichte von Josephine Gallmeyer, die einmal in einer Gesellschaft neben ihm saß und ewig lange kein Wort von ihm hörte, bis sie endlich sagte: »Aber lieber Herr von Makart, jetzt reden wir amal von was anderm!« Er hing gern seinen Gedanken oder seinen Phantasien nach; oft war's wohl auch ein Ausruhen, wenn er lange still war, nachdem er Stunde um Stunde große Leinwände mit den Ausbrüchen seiner inneren Beredsamkeit bedeckt hatte. Ward ihm aber die Zunge gelöst, durch einen großen Gegenstand oder durch eine Sache, die ihm am Herzen lag, so konnte er unaufhörlich sprechen; zuweilen ermüdend, weil seine [118] Stimme ohne Reiz und sein Vortrag oft eintönig war. Er sprach aber mit erstaunlichem Sachverstand über viele Dinge, die nicht zu seiner Kunst gehörten, sie mußten nur überhaupt kunstverwandt sein; Architektonisches, Technisches, kurz, hart Wirkliches bearbeitete sein guter Kopf mit derselben Klarheit, mit der er seine wandbedeckenden Farbenphantasien sah. Zur Zeit der Wiener Weltausstellung setzte er mir einmal sehr beredt und einleuchtend auseinander, wie man die große Rotunde hätte machen sollen und mit demselben Rohstoff, denselben Mitteln hätte machen können; ich hatte den Ein druck, daß ein erfahrener, auch hinlänglich nüchterner Meister dieser Kunn zu mir sprach. Mit demselben Eindruck hab' ich ihn eines Abends, im Wirtshaus, mit dem großen Architekten Semper stundenlang über Theaterbau reden hören; es nahm sich aus, als hätte er viel darüber gebrütet, wie eine Bühne am zweckmäßigsten, einfachsten herzustellen sei. Nichts Phantastisches in allem, was er sagte, nur gesunder Verstand; Raumweisheit möchte ich es nennen.

So bewunderte ich ihn auch einmal, als wir Abends im »Grand Hotel« beisammen saßen, mit uns Lenbach, noch ein paar Freunde und einer der hervorragenden Wiener Kunstkritiker mit seiner Frau. Makart ergriff die Gelegenheit, diesem Mann, dessen Aufsätze ihn wohl zuweilen geärgert hatten, einmal seine Meinung zu sagen; er tat es nach seiner Art gradeaus, ohne jeden Umschweif, eintönig heruntermachend. Er schüttete sein Malerherz aus über diese doch eigentlich unberufenen Leute, die selber nicht malen und nicht meißeln und nicht bauen könnten und doch über alles, was die [119] andern machten, so gemütlich dreist zu Gericht säßen, so gern über Dinge schrieben, die sie nicht verstünden, und es nie zu merken schienen, wenn sie sich blamierten. Man konnte nicht offener, unverblümter sprechen. Er tat es aber mit so vollkommener (eintöniger) Ruhe, so sachlich, so unpersönlich, so ungewollt ritterlich, daß die Sache nicht wie ein Gewitter, sondern wie ein heiterer Herbstabend verlief. Der Angegriffene nahm es mit guter Art hin, seine Frau blieb sitzen; wir andern glitten allmählich ins Allgemeine hinüber, ich weiß nicht mehr wie; und spät und zufrieden trennten wir uns wie gute Kameraden nach einer gemütlichen Sitzung.

Nein, er konnte reden! Nur Briefe schreiben konnt' er nicht. Dafür hatte er andere Leute, Mitglieder der Makartgemeinde; besonders einen Nichtkünstler, der sehr an ihm hing, in seinem Atelier zu Hause war; der sich auf einem Teppich in die Luft hinaufprellen ließ, wenn es den übermütigen Malern gefiel, der Makarts Geschäfte besorgte, seine Telegramme verfaßte, seine Briefe schrieb. Er hieß nicht Meyer, er hieß anders; doch warum soll ich ihn nicht Meyer nennen. Als ich im Sommer 1874 mit meiner Frau in Tegernsee wohnte und Lenbach von München her für ein paar Tage zu uns gestoßen war, kam plötzlich auch Makart angefahren; er war wohl durch Lenbach aufgefordert worden, wir erwarteten ihn aber noch nicht. Jetzt sprang er vor unserm Gasthaus vom Wagen; wir drei standen oder saßen grade vor der Tür; freudige Begrüßung. Nach dem ersten Willkomm sagt Lenbach: »Hättst aber auch ein Wort schreiben können, um dich anzumelden; oder wenigstens telegraphieren, damit wir dir nicht etwa [120] aus dem Weg reisen: ich komm' dann und dann!« Makarts kleine Gestalt reckte sich, er erwiderte redlich empört: »Ah, das hat der Meyer vergessen!«

Weshalb sollte er schreiben? Er war zum Malen geschaffen. Wenn man ihn in seiner Werkstatt hantieren sah, den zierlichen Mann in dem schwarzen Samtgewand, schwarzhaarig, schwarzäugig, ein Zwerg gegen die Riesenleinwand, an der er seine Künste trieb, aber sie so unbekümmert beherrschend, als machte er das alles durch eine Zauberkraft, so konnte man wohl phantasieren: da steht ein kleiner Wundermann aus dem Wunderberg, von Gott oder vom Teufel mit geheimer Magie begabt. Nicht als hätte er wie dergleichen Volk keine Seele gehabt; er hatte eine, er konnte lieben, er konnte wohl auch hassen – zwar dieses zweite weiß ich nicht. Sein Herz konnte sich erwärmen und erhitzen; und ich glaube, an Freunden wie Lenbach hing es bis zum letzten Tag. Ich werde auch nie vergessen, mit welcher erschütternden Freude er mich grüßte und aus seinem offenen Wagen sprang, als ich ihn zum letztenmal sah, in den Jammerzeiten, da sich sein Geist schon umnachtet hatte. Er kam und schüttelte mir die Hand; wir waren uns lange nicht begegnet, er hatte nur einmal seine zweite Frau in mein Haus geführt. Es leuchtete so warm in seinen unheimlich lächelnden Augen, daß es mich doppelt ergriff. So grüßte er dann auch noch im Weiterfahren zurück, mit dem letzten Lächeln.

Ein Herz hatte er gewiß; aber wie einer, der von der Natur einen gemessenen Auftrag hat. Erwarte und fordere man doch nicht von diesen die gleiche Wärme für einzelne Menschen wie von den Auftragslosen; [121] sie verbrauchen von ihrer Wärme zu viel für den Befehl der Natur.

Makart war aber einer der Hilfreichsten, wenn er zugleich im Dienst seines Auftrags stand, wenn er irgendwie Schönheit erzeugen, Schönheitssinn verbreiten konnte. Er hatte einen rührenden, hingebenden Eifer, Kostüme für andere zu zeichnen, zu begutachten, mitzuschneidern, mit Nadel und Schere; er nahm sich auch dann wie ein Wundermännlein aus dem Wunderberg aus. So kleidete er die Wolter mit an, als sie meine Messalina spielen sollte; so stand er vor seinen großen Kostümfesten stundenlang im Vorsaal seines Ateliers und arbeitete an den Prachtgewändern seiner weiblichen Gäste. Auch meine Frau hat ihn in besonderen Fällen für ihre Burgtheaterkostüme befragt; es war, als hätte er immer Zeit. Seine Großtat auf diesem Gebiet habe ich leider nicht erlebt, den Festzug zur Jubelfeier des Kaiserpaars; nach allen Schilderungen und Nachbildungen eine Welt von Schönheit.

Er kämpfte auch, wie die Maler so gerne, für malerische Neuerungen in der äußeren Erscheinung der Menschen; so für blonde und rotblonde Perücken oder Haarfärbungen wie im Tizianschen Venedig. Seine Frau war die erste, die ihm darin seinen Willen tat; einige andere folgten wohl, auch hochgeborene Damen versuchten es mit Makartschen Perücken. Es blieb aber beim Versuch, sie kehrten zur Natur zurück.

Als er seine erste Frau verloren hatte – traurig früh – blieb er viele Jahre Witwer; ich sah ihn seitdem sehr viel häufiger, in Familien oder in Wirtshäusern, zumal in unserer »Stadt Frankfurt«, wo er [122] ungezählte Abende mit Malern und Malerfreunden verbrachte. Mit einer Schar davon, auch Lenbach darunter, zog er für den Winter 1875 auf 1876 nach Ägypten; daß er auch dort viel Leinwand verbraucht hat, muß ich nicht erst sagen Wie viele bekleidete und unbekleidete Studien voll Makartscher Farbenlust hab' ich nach seiner Heimkehr in seiner Werkstatt gesehn!

Das denkwürdigste seiner großen Feste, wenn auch nicht das schönste, war wohl das Märzfest 1875, das er Richard Wagner zu Ehren gab; der Maler dem Musiker, wie denn ja diese beiden Künste innig zusammenhängen, gleichsam schwesterlich. Wagner war nach Wien gekommen, um eines seiner für Baireuth werbenden Konzerte zu geben; er hatte am 1. März seinen »Kaisermarsch« und (mit Hilfe der Materna) drei Bruchstücke aus der »Götterdämmerung« aufgeführt. Ihn feierte am 3. in den Prachträumen des »kleinen Hans« eine gewaltige Menge, hauptsächlich Adel und Kunst. Hellmesberger, der Vater, der vortreffliche Geiger, spielte mit drei andern vom Opernorchester Beethovens letztes Quartett; Rubinstein (der falsche) eine Paraphrase nach Wagner, ich weiß nicht was. Der Gefeierte, der eine gewisse seelenberauschende Farbenpracht, der Samt und Seide so liebte, ging in dieser Makartschen Farbenmusik mit humoristischem Neid herum; »das hat nun so einer!« seufzte er heiter, »so ein Maler hat das!« Dieser Festabend konnte doppelt gelten, er führte ihn auch wieder mit Semper zusammen, seinem alten Freund, dem er sich lange entfremdet hatte; hier in Wien hatte man eine Versöhnung der beiden Meister zu stande gebracht. Spät, in der [123] Morgenfrühe, als nur noch wenige Gäste im Vorsaal um eine Tafel versammelt saßen (ich gehörte immer gern zu den wenigen), saßen die beiden sich gegenüber, offenbar bemüht, den Ton der früheren Jahre zu treffen. Es waren aber doch andere Menschen, die sich da in die gereiften und gealterten Augen sahen; mit einer Art von Wehmut schaute und hörte ich zu. Wagner suchte Semper für die Kelten zu interessieren, mit denen er sich damals beschäftigte, ich weiß nicht, warum; Semper blieb aber keltenkühl. Ich war's auch. Ich verzichtete endlich auf mein altes Vergnügen, den Rücken des vorletzten zu sehn, und brach auf, fuhr heim.

Auf diesem Fest hatte Lenbach dem verwitweten Makart geholfen, den Wirt zu machen; er tat's musterhaft. Viel später hat er selber, in München, den Meister Wagner, den Sieger von Baireuth, in seinem herrlich ausgeschmückten Atelier gefeiert; auch mit der Zunge, mit einer wohlgesetzten Rede; das hatte sich der Hans nicht getraut.

Ach, wie ist das alles wunderlich weh. Ich schreib' es so hin – Makart, Lenbach – und wieder Lenbach – und mir ist, als werde der es dann lesen, gedruckt in der Zeitung, wie er im vorigen Jahr noch meinen Ostergruß »Franz von Lenbach« las. Jetzt liest er nichts mehr. Was mein Ostergruß noch hoffte, ist nun so still und begraben wie er. Zu all den jungen und alten Meistern, von denen ich hier rede, ist auch er gegangen. Dieser lebendigste der Menschen, auch er lebt nicht mehr!

Von ihm schreiben und nicht für ihn?

Es ist so schmerzlich – so unnatürlich.

[124] Und doch, wenn ich an jene Wiener Zeiten denke und von ihnen spreche, kann ich nicht an ihm vorbei; er steht immer da. Ob Theater oder Werkstatt, Natur oder Kunst, Gesellschaft oder mein Daheim, die große, schlanke, rasche Gestalt mit den seelendurchdringenden Augen, der einen Stirnlocke, dem geistreich herzlichen Schmuiizeln der vollen Lippen, sie wandert überall mit. Er kam so oft, er blieb so lange. Er blieb halbe Jahre, er ward fast zum Wiener; er wär's ganz geworden, wenn ein gewisser Plan, der ihn eine Weile lockte, Wirklichkeit geworden wäre, wenn man ihn gerufen hätte, die Leitung der kaiserlichen Belvederegalerie, des jetzigen Kunstmuseums, zu übernehmen. Das größere und reichere Leben Wiens zog auch ihn, wie mich. Damals war er noch in der Maienblüte, bei aller Arbeitslust einer der geselligsten Menschen, gern herumflatternd in der Fülle der Erscheinungen. Als geliebter Gast in Makarts Atelier oder als genügsamer »Konterfeihinstreicher« in der eigenen Wohnung, in befreundeter, führte er auch sein Arbeitsbienenleben; es fehlte nur noch ein letzter Entschluß.

Hätte er ihn gefaßt, wie viel hätte Wien gewonnen! Denn eine so starke, ausstrahlende Persönlichkeit, so »radioaktiv« war keiner unter allen Künstlern wie er. Mit Arnold Böcklin wäre der phantasievollste, schöpferischeste, proteusähnlichste Maler gekommen, aber ein mehr monologischer, in sich lebender und webender Mensch. Wohin Lenbach kam, da gingen sichtbare oder unsichtbare, Sonnen-, Kathoden- und Röntgenstrahlen in die Welt. Er konnte gar nicht anders als anregen, neue Forderungen aufstellen, neue Bedürfnisse wecken; der still weiterwurstelnde Schlendrian war überall sein ärgster [125] Feind. Niemand konnte sich schöner empören als er, aber er hatte nicht das Raunzen, er hatte das Bessermachen. Es war eine Tatenlust und eine Tatkraft in ihm, fast so stark wie sein Maltrieb.

So wäre er der alten Kaiserstadt nicht nur ein Schmuck und eine Ehre, wohl auch ein Reformator und Neubegründer geworden.

Wenn er zuletzt doch in München hängen blieb, so mag es ein guter Wiener beklagen; Franz Lenbach, unser geliebter Franz, hat sich nun doch an der grünen Isar herrlich ausgelebt. Er, der Bildnismaler, der für sein seelenkundiges Auge, seine aufs edelste geschulte Hand Menschen, Menschen brauchte, er saß in München im Mittelpunkt der Welt, wohin alle kommen. Die großen Straßen von Ost und West, Nord und Süd, zwischen Wien und Paris, Berlin und Rom, kreuzen sich in München. Selbst Franz Lenbachs Abgott Bismarck, zu dem er alljährlich gen Norden pilgerte, ist doch einmal zu ihm gekommen und sein Gast gewesen; in seiner kunstseligen Villa bei den Propyläen, die er mit aller Liebe seines Malerherzens zu einem kleinen Paradies gemacht, hat er den alten Heros bewirtet. Dann ward ihm noch ein größtes Glück: in dieses durch Bismarck verklärte Heim eine neue Jugend, die zweite Gattin, zu führen, mit ihr die hingebendste Liebe und den ungetrübtesten Frieden, den schönen Abendsonnenschein seines goldnen Tages.

So sah ich ihn zuletzt; so hat er sich ausgelebt, so ist er gegangen. Was sollen wir nun sagen, von denen er gegangen ist? Daß wir ihn dennoch nie verlieren können, daß er vor unseren Augen lebt und in uns.

[126]
4.
IV

Wien kann sich wohl noch immer, trotz Berlin, die Musikstadt nennen. In Berlin mag man mindestens doppelt so viele gute Konzerte hören, vor einem gefüllten und andächtigen Saal von gediegenen und kunstverständig geführten Musikern gespielt; aber die ursprünglichen Quellen, die »Lebensbäche« der Tonkunst rauschen mehr in Wien. Darf man etwa Berlin den Hauptsitz musikalischer Bildung nennen, so hieße Wien wohl mit Recht das natürliche Paradies der Musik. Oder hätte der politische Sündenfall, das graue Elend der Zeiten die göttliche Kunst aus diesem Paradies vertrieben? – Ich glaub' doch nicht. Sie hat verbriefte Rechte, glaub' ich. Sie wurzelt zu tief. Wie auch die Formen und die Namen wechseln und das Alte schwindet, es kommt stets das Neue.

Als musikseliger Laie, der ich bin, hab' ich die berauschenden Wiener Tränke von allerlei Art gern und oft genossen; persönlich hab' ich nicht viele der Wiener Meister gekannt. Auch den obersten und ersten nicht, den Komponisten der »Fledermaus« und des Donauwalzers; es regiert so oft der Zufall die Welt. Ich sah Johann Strauß nur dann und wann, zuerst im Jahr der Wiener Weltausstellung, in der Hietzinger »Neuen Welt«, wo er vor Tausenden im Freien dirigierte; nach der Art der Familie Strauß, die mir damals neu war, abwechselnd taktierend und geigend, und meist mit dem Fuß in tänzelnder Bewegung den Takt begleitend. So hab' ich später, wie oft, seinen Bruder Eduard Strauß, so jetzt in Berlin dessen Sohn als [127] eleganten Führer und Primgeiger seines Orchesters gesehn. Nun schon eine ehrwürdig alte Dynastie, die Strauß! Es scheint aber, ihre Werke bleiben ewig jung. Die des großen Johann Strauß erscheinen mir immer jünger, je älter ich werde; ich weiß nicht, warum. Ich war nie ein Tänzer (wenigstens ein geschulter nicht), aber in seinen schönsten Walzern ist ein Zauber, der mir das Herz bewegt, der mich rührt, und das mehr als je. Was ist das? Wird man denn nur älter, um immer tiefer zu fühlen, was schön und was gut ist? was in seiner Weise vollkommen ist? – Dann laßt mich noch dreißig, vierzig Jahre so älter werden; und ob auch schneeweiß – wenn nur Strauß und Schubert und Mozart und Beethoven Seligmacher bleiben!

Von den nicht eingewanderten oder durchziehenden, sondern eingeborenen Komponisten hab' ich eigentlich nur Meister Goldmark kennen gelernt; in eben den Siebzigerjahren, denen diese Erinnerungen vor allem gelten. Auch er wollte mehr als einmal von mir, was so oft die Musiker von den Dichtern wollen: einen Operntext. Ich las auf seinen Wunsch Immermanns »Merlin«; schon 1875 beschäftigte ihn dieser Stoff; ich gewann aber kein Herz dafür. Ein Jahr später, nach einer Vorstellung im Burgtheater, in der er sich zu mir gesetzt hatte, nachtwandelten wir lange; er sprach so beredt, so warm, wie ich ihn noch nie gehört. Er suchte mir auf jede Weise den Glauben zu geben, daß ein guter Musiker jede lebendige dramatische Dichtung vertonen könne, ohne ihren Inhalt zu schwächen, zu verkürzen; daß bei dieser Neuschöpfung nichts verloren gehe, nur eine neue Kraft des Ausdrucks gewonnen [128] werde. Ich sollt's ihm nur machen, dann würd' ich sehn! – Mich überzeugte er nicht; und gewiß denkt auch der verehrte Meister heute nicht mehr so. Sprechen und Singen können nie dasselbe sein; der Schauspieler kann tausend Dinge, auf die der Sänger verzichten muß; umgekehrt dennauch. In dem Augenblick, wo der Komponist eine gesprochene Handlung zu vertonen beginnt, beginnt eine andre Kunst mit andern Mitteln.

Johannes Brahms, den eingewanderten, eingewurzelten, hatte ich schon vor Goldmark kennen gelernt, bei Frau Rosa Gerold, in deren gastlichem Haus mir so manches Gute zu teil geworden ist. Brahms trug damals den Vollbart noch nicht, mit dem er jetzt vor der Nachwelt steht, und der ihn künstlerischer, auch schöner machte. Das völlig bartlose, kluge Gesicht, die kleine, kräftige, an sich reizlose Gestalt – darin dem großen Antipoden Richard Wagner ähnlich – verrieten den Künstler nicht; ich glaube, siesollten's auch nicht, der »Musikant« sollte hinter dem Menschen verschwinden. Alles half ihn verstecken, der Haarschnitt, der Blick und Ausdruck, die Sprechweise, das norddeutsch simple Gebärdenspiel; man sah und hörte nur einen gebildeten, gescheiten, verständigen, heiteren Mann, mit dem sich wohl gut leben ließ. Wußte man schon, wer er war, so mußte man an der außerordentlichen Schlichtheit und Einfachheit dieses Mannes Doppelfreude haben; es war die reinste Natürlichkeit, angenehm hamburgisch gefärbt. Nur nicht auffallen! Nur nichts beanspruchen! Nur kein Spielverderber! das schienen seine Leitmotive unter den Menschen zu sein. Gleich an diesem ersten Tag sah ich ihn in all der liebenswürdigen Harmlosigkeit, mit [129] der er gesellig war; nach dem »Diner«, dem Kaffee regten sich in der kleinen Gesellschaft Gelüste, etwas »Polnische Bank« zu spielen, ein Glücksspiel, das damals in Wien seine Modezeit hatte. Brahms kannte es nicht, aber er war sofort mit humoristischem Eifer bei der Sache, wie einer, der alles Menschliche kennen lernen will. Er lernte und spielte vergnügt wie ein Kind. So grundschlicht war er auch, wenn er sich etwa in guter Gesellschaft auf Wunsch aus Klavier setzte und »etwas Musik machte«. Nur dann wuchs er wohl ein wenig oder bekam Feuer in die Augen, wenn er in den musikalischen Häusern, die ihn feierten, halbe oder ganze Brahms-Abende erlebte – echteste Wiener Musikabende! – und, am Flügel sitzend, den Vortrag seiner Quartette leitete, oder Karoline Gomperz-Bettelheim, Gräfin Wilhelmine Wickenburg, die Opernsängerin Luise Dustmann seine Lieder sangen.

Wie anders ging Franz Liszt durch die Welt; einer, der gleichsam immer auf der Bühne stand, ohne doch ein Komödiant zu sein, der mit Geist und Grazie seine Rolle spielte, für die ihn sein Gott geschaffen hatte. Er kam oft nach Wien, dort hab' ich ihn wohl am meisten gesehn. Wenn ich aber zurückdenke, wo und wie unsere Wege sich kreuzten, und wie lebendig, wie eigen, wie wirksam er immer an mir vorüberschritt – »bühnenwirksam« möcht' ich's nennen – so kommt er mir wie einer der geheimnisvollen Freunde in Goethes Roman »Wilhelm Meisters Lehrjahre« vor, die von Zeit zu Zeit aus dem Weltraum auftauchen, irgend etwas nicht Gewöhnliches sagen, etwas Bemerkenswertes tun, und dann wieder verschwinden. Wie wenn er [130] neben Lothario, Jarno, dem Abbé ein vierter wäre, ebenso wie sie dazu da, Rätsel aufzugeben, sie am Schluß zu lösen. Liszt hatte alles für diese Rolle, auch ein gewisses vornehm huschend geheimnisvolles Lächeln; als wäre alles, was er so leicht, heiter, witzig hinplauderte, und all unsere Rede und Gegenrede, und sein Klavierspiel, und was andere tun, und das ganze Leben, und diese Welt, als wär' das alles nur so so, und es schwer zu nehmen sei nicht vornehm, nicht weise, und was eigentlich dahinter sei, werde sich schon finden.

Das erstemal, daß ich Liszt so auftauchen sah, war im Sommer 1858 sein Erscheinen in Ebenhausen an der Isar, unsrer Sommerfrische; ich, noch Student, hauste dort mit Paul Heyse und den Seinen, Frau Klara Kugler und ihren Söhnen und ein paar Befreundeten. Ich glaube noch seinen wunderbaren Charakterkopf zu sehn, diese große, seltene Mischung von Weltmann und Künstler, anmutiger Oberfläche und versteckter Tiefe, kleinen, seltsamen Manieren – so sein spielendes, schmeckendes, inhaltloses »Hm, hm, hm« – und vornehmer Bedeutsamkeit. Er saß mit uns allen bei Tisch und plauderte »wie ein Franzos«; in langen Zwiegesprächen mit Paul Heyse vollführte er aber seinen ernsten Auftrag als Abgesandter des Großherzogs von Weimar, der damals und immer wieder bemüht war, seinem Ilm-Athen ein zweites Perikleisches Zeitalter zu schaffen. Liszt war seit vielen Jahren gewonnen, er sollte seinem Fürsten nun den jungen Dichter gewinnen, der so vielverheißend aufblühte, und ihn dem bayrischen König entführen, der ihn durch einen Ehrensold zu seinen Geibel und Bodenstedt nach München gelockt hatte. Der [131] diplomatischen Beredsamkeit des Jarno-Liszt zu widerstehn war nicht leicht, wie Heyse uns hernach lebendig schildernd erzählte. Er widerstand aber doch; für München sprach so viel mehr als für Weimar; gegen Weimar sprach wohl alles das, was später Böcklin, Lenbach und Reinhold Begas so bald wieder von dort vertrieb. Heyse blieb seinem König, seinem aufblühenden München treu, Jarno-Liszt zog weiter.

Viele Jahre später sah ich ihn dann in Wien bei der Gräfin Marie Dönhoff, der »Musikgräfin«, wieder; mittlerweile hatte ich ihn hie und da als ersten Meister des Klaviers bewundert, jetzt sollte ich ihn im engen Kreis mit Dichteraugen studieren und am Flügel als Partner der Hausfrau sehn. Die Gräfin konnte es wagen, neben ihm zu spielen, sie hatte die hohe Schule durchgemacht und ist durch und durch Musik. Es war aber doch echter Liszt, wieder eine reiche Mischung, wie er beim vierhändigen Spiel an ihrer Seite saß, ritterlich und väterlich, auf die kleine Kameradin mit liebenswürdig anerkennendem Schmunzeln, wie aus einer höheren Wolke niederblickend; wieder mit dem still geheimnisvollen Lächeln: wir scheinen nur, wir tun nur so!

Dann spielte er auch allein, und wie. Ich bekenne, mein eigenstes Ich hat Anton Rubinstein wohl noch mehr ergriffen; es strahlten von ihm Kräfte aus, unmittelbare, stürmische, edle, die mir tiefer in die Seele drangen. Aber der vollendetste aller Klavierspieler war Franz Liszt, das glaub' ich; die Reinheit und die Feinheit seiner Kunst war wohl unerreichbar; – doch ist das alles nur Laiengefühl. Es spielte jedenfalls eine [132] Seele mit, die viel Großes, Hohes hatte, die von ihrem Gott erfüllt und für Helfen und Wohltun wie geschaffen war. So ist Liszt, der bis zur Tollheit Gefeierte, Verzogene, Umweihräucherte, durchs ganze Leben gegangen; so sah ich ihn noch zuletzt in Weimar, wohin er von Zeit zu Zeit wieder zog, wohin er auch damals gezogen war, um zu lehren, zu unterrichten, Werdenden zu helfen. Er war alt geworden, man konnte fast schon die Zeichenschrift des herannahenden Todes auf dem bleich gewordenen Antlitz lesen. Es war aber noch immer das Antlitz eines »strebend sich bemühenden«, nach oben schauenden, zwischen Schein und Wesen lebenden, großgesinnten Menschen.

So war freilich auch Anton Rubinstein, der so viel jüngere, dem ich näher kam; den ich in Wien kennen lernte, immer wiedersah und in dem ich elementare, außerordentliche Eigenschaften liebte. Schon sein an Beethoven erinnernder Kopf war mir, dem Beethoven über alles geht, eine Herzensaugenweide; es sprach auch in ihm verwandtes Streben, dem freilich die Erfüllung fehlte: ihn trugen die Flügel nicht hoch genug. Er hat als Komponist fort und fort gewollt, was ihm unerreichbar blieb; ein Martyrium, ein tragisches Verhältnis zum Leben, das an seiner tapfern Seele nagte, ihm seine Triumphe als »Klaviervirtuos« vergällte. Es trieb ihn umsomehr, seinen Beruf als Virtuos so groß wie möglich zu fassen; am größten zuletzt, als er noch einmal nach Deutschland zog, um in Berlin, Wien und Leipzig seine sieben historischen Klavierkonzerte zu geben, in denen er die ganze Entwicklung bis zu den jüngsten Tagen umfaßte. Er tat es wie ein Fürst, ein König: [133] alle sieben Konzerte, nachdem er sie Abends vor dem sich hinzudrängenden zahlenden Publikum gespielt, wiederholte er an sieben Mittagen unentgeltlich für die Jünger und Jüngerinnen der Kunst; auch für andere, die aus besonderen Gründen die sieben Abende nicht genossen hatten. Einer von diesen war ich: zu jener Zeit Direktor des Burgtheaters, hatte ich Abends mehr meinem Amt zu dienen. Er lud mich ein, ihn Mittags zu hören. Ich hab' ihn in allen sieben Konzerten gehört. Es war zu all der Ohrenweide, dem herrlichen Erlebnis auch ein rührendes Bild: der schon ein wenig alternde Meister mit dem Beethoven-Kopf, vor diesem gefüllten Saal, diesen dankbaren Begeisterten mit heiligem Jugendeiser sein königliches Opfer bringend; so von Zuhörern umringt, daß auch die Estrade, auf der er am Flügel saß, von Damen überfüllt war, die ihn fast verdeckten.

Und wie spielte er! Mit der allersüßesten, beseeltesten Weichheit, mit der gewaltigsten Kraft, die die Tasten zu zerschmettern schien.


Und wie verzaubert sahn und staunten wir,
Wie sich sein Werkzeug ihm zu Händen schmiegte,
Ein geistgebändigt edles Wundertier,
Das sich mitfühlend seinem Willen fügte;
Dem blöden Aug' ein wohlgebaut Klavier,
Dem Ohr ein Meer, auf dem der Geist sich wiegte,
Wie Brandung donnernd, mit der Windsbraut ringend,
Dann still bewegt, dann silbern süß verklingend.

So versuchte ich es in Versen zu fassen, die ich als Prolog zu dem Rubinstein-Fest schrieb und vortrug, durch [134] das wir Näherstehenden ihm für seine Edeltat zu danken wünschten. Es war ein seiner würdiges Fest, schlicht und schön. Noch schlichter und vielleicht noch herzlicher hatten wir ihn schon in kleinerem Kreise, im Wirtshaus, gefeiert, neben nicht vielen von der Musik ein ganzer Hause vom Burgtheater, ich, der Direktor, mit. Die vom Theater zeigten wieder einmal, daß es ihnen besonders gegeben ist, sich zu begeistern.

Damals entwickelte sich noch ein junges Talent, das später einer von Rubinsteins berufensten Nachfolgern werden sollte: der Italiener Ferruccio Busoni, mir aus seiner Wunderknabenzeit bekannt. Er war noch nicht ganz zehn Jahre alt, als er mit seinem Vater, dem Klarinettisten Busoni, in der Villa Wertheimstein in Döbling erschien, um seine jungen Künste zu zeigen und für sein weiteres Wachsen Anteil und Hilfe zu finden. In höchstes Erstaunen setzte er uns alle, als er am Klavier fremde und eigene Musikstücke spielte; denn der kleine, blasse, aber lebens-und humorvolle Künstler komponierte und dichtete auch, sein Himmel hing voll Geigen. Wunderkinder erregen leicht ein gewisses Mißtrauen, ja ein Mißbehagen; Mozarts, dieses Götterlieblings, Fall war ein einziger, hat sich nicht wiederholt. Aus Jung-Ferruccio sprach aber eine so frische, so liebenswürdige Natur, daß man sich gern mit schönen Hoffnungen erfüllte. Noch mehr entzückte und ergriff er uns, als er nach einer Reihe von Monaten (gegen Ende 1876) wiederkam, diesmal von beiden Eltern begleitet; auch von der Mutter hatte er musikalische Begabung geerbt. Er war im Klavierspiel mächtig fortgeschritten; er sang uns aber auch seine [135] rührenden Lieder vor, ohne Stimme, aber voll Ausdruck, voll Seele. Der Minister Unger, selber ein Meister des Klaviers, war nach Tisch gekommen, um das kleine Wunder zu sehn, das er noch nicht kannte. Er neigte gewiß nicht zu starken dramatischen Gebärden, aber von der Innigkeit dieses Spiels und dieses Gesangs ward er so bewegt, daß er mit weichen Worten hinzutrat und den Knaben küßte.

An der Hilfe, deren Ferruccios Werdegang bedurfte, hat es dann nicht gefehlt; die edle, so gern begeisterte, so gern helfende Frau Josephine von Wertheimstein war sein guter Genius. Ein zweiter Mozart freilich ist er nicht geworden; sein Schaffen, das damals so rührend und verheißend begann, hat es überhaupt später Frucht getragen? Ich gestehe, ich weiß es nicht. Ich hab' aber meine Freude dran – auch für Frau Josephine, die nicht mehr lebt –, daß er einer von den lebendigsten Verkündigern unserer größten Meister geworden ist.

Daß ich auch der Wiener Oper sehr ergeben war und viel verdanke, brauch' ich kaum zu sagen; wenn ich auch wohl in der »absoluten« Musik die tiefste Lust und das vollkommenste Genügen finde. Viele aus der Opernwelt wurden mir auch als Menschen lieb oder angenehm; so der Kapellmeister Joseph Hellmesberger, der Vater, der nicht nur ein trefflicher Geiger, zugleich in dem witzreichen Opernorchester einer der Witzigsten war; so Luise Dustmann, die feurig hinreißende dramatische Sängerin; Gustav Walter (der Vater) mit seinem umflorten, aber ewig unverwüstlichen, ewig gefällig singbereiten, ausdrucksreichen Tenor. Später traten andere hinzu, Winkelmann, Reichmann, [136] die Ma terna, große, siegreiche Talente. Mir aber ward in den Siebzigerjahren die schönste Fülle der Genüsse durch eine Sängerin, die das Theater schon verlassen hatte: Frau Karoline Gomperz-Bettelheim, die Gattin des bekannten Brünner Großindustriellen und Parlamentariers. Bald mit ihr befreundet, oft ihr Gast, viel öfter noch in der Villa Wertheimstein, der sie angeschwägert war, sie wiederfindend, fand ich fast immer auch ihre herrliche Gesangskunst wieder: sie war die liebenswürdigste Bejaherin, wenn man um ein musikalisches Almosen bat. Sich immer selber begleitend – auch dieses Opfer brachte sie uns gern – elektrisierte sie durch die unfehlbare, urgesunde, herzerfrischende Kraft ihrer tiefen Stimme, die sich am schönsten in den großen Balladen entlud, vielleicht am stärksten überwältigte, wenn sie jubeln oder jauchzen konnte. Ich kann nie vergessen, hab's noch wie phonographisch im Ohr (wollt's auch immer wieder hören), wie in der Löweschen Ballade »Herr Heinrich sitzt am Vogelherd« die Reisigen kommen, die ihm seine Wahl zum König verkündigen, und er sie fragt, was sie wollen und suchen:


Da schwenkten sie die Fähnlein bunt
Und jauchzten: »Unsern Herrn!
Es lebe König Heinrich hoch,
Des Sachsenlandes Stern!«

Das riefen sie wirklich alle, alle; und riefen es in den Morgen hinein wie selige Trompeten.

Ich habe nur eine Wirkung erlebt, die dieser völlig gleichkam; das war, wenn Fritz Friedrichs, der Bassist, [137] der große Sänger des Alberich und des Beckmesser in Baireuth (mit seinen kleinen Rollen überwuchs er die großen) – wenn Fritz Friedrichs in Konzerten die Löwesche Ballade »Zelte, Posten, Werdarufe« (von Freiligrath) sang. Der Trompeter hat das Lied von Prinz Eugen dem edlen Ritter gedichtet und vertont und trägt es im Lager »denen Reitersleuten« vor, gedämpft, einmal, zweimal, dreimal; dann singt es laut der ganze Chor:


»Prinz Eugen, der edle Ritter!« –
Hei, das klang wie Ungewitter,
Weit ins Türkenlager hin....

Es klang nicht wie Ungewitter, wenn Friedrichs das »Prinz Eugenius« sang, aber im schönsten Wohllaut des herrlichsten Baß klang es wie voller Chorgesang, den Saal durchrauschend, die mitjubelnde Seele wunderbar ergreifend.

Langsam abgedämpft, heiter, neckisch, mit feinster Schauspielkunst sang er's dann zu Ende:


Der Trompeter tät den Schnurrbart streichen
Und sich auf die Seite schleichen
Zu der Marketenderin. – –

Mit Wehmut schreib' ich das nieder: er ist nun krank, der edle Meister, schwer leidend; er hat heuer verzichten müssen, in Baireuth im »Parsifal« zu singen. Es kam mir plötzlich, von ihm zu reden, da ich die »seligen Trompeten« der König Heinrich-Ballade hörte.

Mög' er bald wieder Säle durchrauschen können, mög' er ganz genesen!

[138]
5.
V

Eine der merkwürdigsten Gestalten des musikalischen Wien, von der ich noch nicht gesprochen habe, ein Charakterkopf, ist Marie Wilt, die Sängerin. Ihre Stimme ist mir als die schönste erschienen von allen, die ich je gehört; ihre Erscheinung war ein tragischer, auch tragikomischer Widerspruch gegen diese Stimme, und in ihrer Seele waren wiederum tragische Widersprüche gegen die Erscheinung. Oberflächliche Betrachter haben davon nichts entdeckt, sie fanden die breite, stämmige, sich mehr und mehr rundende, plebejische Gestalt in bestem Einklang mit der »Koch-und Waschfrau« in ihr, mit all der Derbheit in Sprache und Form, die wohl stadtkundig war. Doch das täuschte, äffte; sie war reicher angelegt, als sie schien, es war eine gewisse Größe in ihr, oder, wenn man lieber will, neben der »Waschfrau« war eine Größere in ihr, die sich »auf Flügeln des Gesanges« über die andre erhob. In ihrem ungefälschten Wienerisch konnte sie mit großem, trockenem Humor über sich selber spotten, ihre »Wirtschäftlichkeit« persiflieren, sich als »schmutzig geizig« schildern; und ebenso hatte sie Hochsinn genug, sich über die Mängel ihrer Darstellungskunst lustig zu machen, wenn sie zu einem Verstehenden sprach. Es schmerzte sie nur tief, wenn die Nichtverstehenden mit erbarmungslosem Witz ihre Erscheinung verhöhnten, ihre Pfunde zählten; und auch gute Witze, wie der von der »Reise um die Wilt in achtzig Tagen«, den ich einmal in Wiener Zeitungen las (das beinahe gleichlautende Stück ward damals gespielt), haben ihr das Leben an der [139] Wiener Oper wohl verleiden helfen. Ihr Leben war ohnehin schon reich an Widersprüchen; bei ihrer wunderbaren Stimme außerordentlich spät zur Ausübung ihrer Kunst gekommen, dann in ihrer Ehe gescheitert, aber offenbar liebefähig und liebebedürftig wie die Allerschönste, fand sie wohl noch spätes Glück, aber noch viel später das verhängnisvolle Schicksal, am Rande des Greisenalters sich in blühende Jugend wehrlos zu verlieben. Sie befreite sich endlich, indem sie aus einem vierten Stock auf die Straße sprang....

Richard Voß, der Dichter, der mit ihr befreundet war, hat in einem Feuilleton der »Neuen Freien Presse« aufs anschaulichste dargestellt, wie die Unglückliche in diese Tragödie geriet und durch sie hindurchging. Sie war einmal in ihrem Elend zu ihm geflohen, um dem seelenkundigen Freund zu beichten, ihren Jammer auszuschütten. Sein ergreifender Bericht sollte wohl auch solchen zu Herzen gehen, die, wenn das sogenannte Alter noch liebt, nur das Grinsen des Spottes haben. Nach der Arithmetik geht's nicht allemal, wenn es sich um Frühling, Sommer und Herbst von Menschenseelen handelt; am wenigsten beiKünstlerseelen, und am allerwenigsten bei den Künstlerseelen, die Blut genug haben müssen, um die großen tragischen Leidenschaften darzustellen.

Die Persönlichkeit der Marie Wilt hat sich wohl nirgends liebenswürdiger ausgesprochen als in der schönen Geschichte, die mir einmal Josephine Gallmeyer erzählte und die meines Wissens nicht öffentlich bekannt geworden ist. Die Gallmeyer, diese wohl genial zu nennende »Soubrette« und Possenspielerin, hatte unter anderm ein starkes Talent, zu parodieren, und hat's oft [140] getan; wie es denn so oft in diesen und andern Sachen hieß: »Die Pepi wird's machen!« Als Marie Wilt in ihrer Blüte an der Hofoper war, sollte auch sie daran glauben, parodiert zu werden, und eines Tages tritt Fräulein Pepi Gallmeyer bei ihr ein und stellt sich ihr vor. »Meine liebe Frau von Wilt,« sagt sie ungefähr, »man hat mir den ehrenvollen Auftrag erteilt, Sie zu parodieren; ich steh' nun aber jeden Abend, den Gott werden laßt, vor dem Publikum, in die Oper komm' ich halt nie, hab' noch nicht das Vergnügen gehabt, Sie auf der Bühne zu sehn. Wie soll ich Sie da parodieren? Das gibt's ja net! – Da komm' ich in meiner Not zu Ihnen: wenn Sie die Gnad' haben möchten, mir ein bissel eine Anweisung zu geben, zu zeigen, wie Sie's machen – daß ich Ihnen dann doch auf meine Art was nachmachen kann!«

Marie Wilt nimmt es ohne weiteres so, wie's kommt. »Da kann ich Ihnen schon helfen,« sagt sie, sachlich und gemütlich. Sie zu parodieren, das werd' wohl nicht schwer sein: sie hab' so allerlei an sich, das man gut ins Lächerliche ziehen, übertreiben könne. Da ihre Schauspielkunst nicht weit her sei, habe sie sich für ihre Opernrollen bestimmte Manieren angewöhnt, mit denen behelf' sie sich; »zum Beispiel, wann ich weinen muß, wissen Sie, dann mach' ich halt so; wann ich mich erschrecken oder mich fürchten soll, tu' ich das und das. Große Aufregung oder Leidenschaft, dafür hab' ich das. Ja, und dann kann ich Ihnen noch was zeigen, schauen Sie her!«

Indem sie spricht, macht sie ihr alle die Gebärden vor, mit denen sie sich behilft, wenn sie weint oder sich fürchtet oder großartig wird. Die Gallmeyer sieht[141] mit Andacht und mit heimlichem, hochachtungsvollem Staunen zu.

»Ich dank' Ihnen gar schön, liebe Frau von Wilt,« sagt sie endlich, als die Vorstellung aus ist. »Damit laßt sich schon was machen. Wenn Sie nur noch die Gnad' hätten, mir ein bissel was vorzusingen; davon hab' ich noch nichts gehört.«

»Was wollen's denn daß ich singen soll?«

»Nu, so recht was von Ihrer Art. So, wie grad dieWilt singt und keine andre.«

Marie Wilt stellt sich hin und beginnt – ich weiß nicht was. Irgend einen ihrer großen dramatischen oder lyrischen Gesänge in der Oper singt sie ins Zimmer hinein. Sie wird mehr und mehr zu der, die sie darstellt; sie vergißt, wo und wer sie ist. Als sie ausgesungen hat, schaut sie wieder in die Ecke, wo die Pepi Gallmeyer sitzt. Der laufen die Tränen über das Gesicht. »Was haben Sie?« fragt die Wilt.

Die Pepi schüttelt nur so den Kopf, sie kann noch nicht reden. Endlich steht sie auf: »Ich dank' Ihnen schön, Frau von Wilt. So hab' ich in meinem Leben noch nicht singen hören. Ich werd's nicht vergessen. Aber parodieren – nie!«

»Mich nicht parodieren?«

»Nie, nie! Eine Frau, die so himmlisch singt! Das kann ich nicht, das tu' ich nicht. Allerschönsten Dank und leben Sie wohl!«

»Hab's auch nicht getan!« setzte die Gallmeyer hinzu, als sie mir's erzählt hatte, und ihre Augen blitzten mich an. »Das tu' ich nicht, hab' ich ihnen gesagt; bin dabei geblieben!«

[142] Es gibt nicht viele so schöne Theatergeschichten; und man weiß nicht, wem sie mehr Ehre macht, der Schauspielerin oder der Sängerin.

Ich glaube aber, jeder fühlt, daß die beiden etwas Zusammenstimmendes, Verwandtes, einen Zug von humoristisch wirkender Größe hatten; und merkwürdig ist, daß diese Ähnlichkeit noch weiter ging; auch die lustige Pepi lebte eine Tragödie, fast wie die der Wilt. Auch ihre Seele steckte in einem Körper, in dem ihr oft nicht wohl war, in dem sie sich entwürdigt fühlte: diese untersetzte, derbe, sinnliche Gestalt war für jeden Übermut, jede Posse, jede Faungebärde gut, aber nicht für das, wonach sich diese Seele in so vielen dunklen Stunden sehnte. Sie wollte nicht nur faunisch, sie wollte auch sein, edel, rührend sein; sie hatte einen Ehrgeiz, dem ihr Körper feind war, der da drinnen wie gefangen saß. Um sich freizumachen, suchte sie unter anderm ihre beschränkte Bildung zu erweitern; noch in reisen Jahren nahm sie Unterricht im Französischen, im Englischen, und trieb mit Eifer Musik. Es genügte ihr immer weniger, daß sie die gefeierte, verhätschelte, »geniale« Pepi war, daß sie das Gewagteste wagen, mit ihrem Publikum übermütig sein durfte wie kein anderer, daß die Possendichter so oft mit dünnleibigen, witzarmen Manuskripten kamen: »Was da noch fehlt, das macht die Pepi!« Nein, lieber den Geist der Größeren würdig wiedergeben; lieber den Menschen ans Herz, in die Seele sprechen!

In einem Fall, der mich selber betraf, hab' ich so recht erlebt, was da in ihr vorging. Mein Schauspiel »Die Tochter des Herrn Fabricius« war im Burgtheater [143] gespielt worden; Sonnenthal als Fabricius hatte alle Herzen windelweich geschüttelt, Baumeister hatte neben ihm als Rolf seine Wärme ausgestrahlt, die ganze Vorstellung war lebendig, das Haus stets gefüllt. Eines Tages sagte mir Leopold Rosner, mein Verleger: »Heut geht endlich auch die Pepi, die Gallmeyer, hinein; hat 'nen freien Abend. Mich freut's schon, was die sagen wird; das ist recht was für sie!« – Als ich Rosner demnächst wiederseh', ist er kleinlaut: »In der Gallmeyer kenn' ich mich nimmer aus. Eben erzählt mir einer, der neulich auch im, Fabricius' war, sie hat unten in einer Log' gesessen – aber nach dem zweiten oder dritten Akt ist sie fortgegangen. Hat sich nicht einmal das ganze Stuck angesehn!« – Wieder nach einer Weile kommen wir zusammen. »Das hat sich jetzt aufgeklärt!« sagt Rosner, seine schwarzen Augen erwärmen sich. »Weißt du, was das neulich war mit der Pepi im ›Fabricius‹? Es hat sie so furchtbar gerührt, der Sonnenthal und alles, und ihr ist so weh worden, daß sie das nicht kann, daß sie nie so rühren soll, so zum Herzen spielen. Da hat sie so heulen müssen, daß sie's nimmer ›dermacht‹ hat, und ist fortgelaufen.«

Sie hatte es schon vordem versucht, große ernste Rollen zu spielen; sie hat's auch später noch versucht, wenn ich mich nicht irre; es ist nicht geglückt. Was der Geistinger gelingen konnte mit ihrer schönen Theatergestalt, ihrer feineren, geschulteren, geschmeidigeren Stimme, das blieb der armen »faunischen« Pepi versagt, in der doch die größere Naturkraft wohnte.

Tragödien wie diese entstehen offenbar, naturnotwendig, [144] durch die ewige Zufälligkeit der Mischungen, wenn ein neuer Mensch entsteht; denn wie auch etwa Mann und Weib zu einander streben, an harmonische Ergänzung denkt auch der Tausendste nicht. So kommen oft – von den ungekannten Ahnen her – Silen und Ariadne, zuweilen selbst Miranda und Kaliban zusammen. Der Natur ist alles recht: alles soll einmal werden, alles einmal geschehn. Und schauen wir dann näher zu, so kommen wir wohl gar darauf, daß auch in dem »unharmonischesten« Werden und Geschehen ein Sinn, ein Wert, etwas Lebenswürdiges steckt, das in seiner Einzigkeit wieder ein anzustaunendes, wenn auch nicht leicht zu ergründendes Geheimnis ist.

Josephine Gallmeyer hatte für ihre tragischen Anfälle einen guten Tröster, einen vortrefflichen Kameraden: den immer wieder aufblitzenden Pepischen Humor. »Sie sind mir eigentlich eine Nacht schuldig,« sagte sie mir einmal, mit dem unbeschreibbar funkelnden Lachen ihrer kleinen, aber wie dunkelglühende Kohle sengenden Theateraugen. »Warum?« fragte ich. »Weil ich neulich Nachts Ihre ›Arria und Messalina‹ gelesen hab'; hab' spät angefangen und nicht wieder aufhören können; so verlor ich die ganze Nacht!« – Sehr spät im Leben war es ihr noch gekommen, daß sie sich vermählte; wir sahen sie zu jener Zeit in Berlin, meine Frau und ich. Mit der tapfersten Selbstverspottung, dem glücklichsten Humor gab sie sich in dieser neuen Rolle preis; sie sah an sich hinunter, sprach von ihren Jahren: »Vierzig Jahr', ei, ei! Recht ein schönes ›Älter‹, wenn man eine junge Frau ist!« Damals gastierte sie am Berliner Residenztheater; das Theater hatte schlechte Zeiten, vielleicht[145] waren auch ihre Stücke schlecht, kurz, die Abende waren schwach besucht, was sie redlich wurmte. Meine Frau sprach von der merkwürdigen Tatsache, daß das Publikum der schlechtbesuchten Wochentage voll Sympathie und Dankbarkeit für den Künstler sei, dagegen das volle Sonntagshaus ihn mit offenbarer Mißgunst behandle, gleichsam von oben herab. Die Gallmeyer hob den Kopf und in göttlicher Laune sagte sie: »Ich hab' aber doch lieber die vielen (die vüllen), die mich verachten, als die wenigen, die mich gern haben!«

Sie war zu verwöhnt, zuletzt reizte es sie doch unbändig, daß die Berliner sie so im Stich ließen; wenigstens ward uns erzählt, daß sie eines Abends – sie, die alte Improvisiererin – in ihre Rolle die Verse eingelegt und gesungen habe, die damals im Schwang waren:


Du bist verrückt, mein Kind,
Du mußt nach Berlin;
Wo die Verrückten sind,
Da gehörst du hin!

Man sollte ihr daz uhel qusqznommzn huhen. huse Worte sollten gefallen sein. Ich weiß nicht, ob's so war; wir reisten ab, und ich habe sie dann nicht mehr gesehn. Ihr Leben ging einem frühen, für sie wohl zu wünschenden Ende zu.

Wenn ich hier nach ihr und der Wilt, als dritte dieFürstin Pauline Metternich nenne, so soll das nicht ein Scherz sein, der wohl sehr ungeschickt und geschmacklos wäre; ich fühle nur das innerlich Verwandte, das die vornehme Dame mit diesen »Kindern [146] des Volks« verbindet: eine starke künstlerische Begabung, in der das Rassige, Urwüchsige, Kernfrische vorwaltet; auch das Musikalische, die Sängerin, spielt bei allen mit. Fürstin Metternich war für die Bühne geboren; sie wuchs denn auch über die Dilettantin hinaus; ihr großer Kunstverstand sagte ihr, wie viel Arbeit, wie viel Entwicklung und Erfahrung dazu gehört und wie »lang« die Kunst ist. »Ich weiß sehr gut,« sagte sie mir einmal, »zwanzig Jahre braucht man, um ein ganzer, vollreifer Schauspieler zu werden!« Wie oft sie wohl in kleineren Kreisen gespielt hat, eh' ich sie kennen lernte, das weiß ich nicht; wie lange sie später noch gespielt haben mag, auch das weiß ich nicht. In mein Dasein trat sie durch einen der artigen Zufälle, mit denen uns das Leben dann und wann überrascht. Ich kannte sie noch nicht persönlich, wußte nur von ihrem großen Talent, da besuchte mich einmal Sonnenthal (Ende Januar 1876), um mich zu fragen: »Möchtest du nicht eine Bluette schreiben, nur für zwei Personen, für die Metternich und mich? Die Fürstin würde gern am 18. Februar, auf einer Geburtstagssoiree bei Hohenlohes, etwas Lustiges spielen, mit mir Ich wär' mit Vergnügen dabei. Du auch?«

Ich hatte vor zeiten an einem einaktigen Lustspiel phantasiert, das im Grunde nur zwei Personen brauchte: »Von Angesicht zu Angesicht.« Auch ein schriftlicher Entwurf war schon da; den las ich nun durch. Er gefiel mir aber ganz und gar nicht mehr; das Bühnenblut, das dramatische Vorwärts fehlte. Ich dichtete ihn um, beschränkte ihn auf zwei Personen, ihn und sie: zwei noch leidlich junge Menschen, Graf und Gräfin,[147] die sich nur durch Briefe kennen, sich zu kennen glauben, füreinander fühlen; endlich kommt der Tag, wo er hinreist, um sie zu besuchen. Sie möchte ihn doch ein wenig auf die Probe stellen, studieren (ihr pocht das Herz); sie empfängt ihn als ihre Kammerjungfer. Wie nun deren neckende Grazie, ihr Geist, all ihr Reiz ihm gefällt, nur zu sehr gefällt, wie ihm dann die Karikatur mißfällt, in der sie ihm sich selber spielt, um den Schmetterling zu strafen – und wie sie am Ende über die irreführenden Briefe hinweg doch zusammenkommen – das ist ungefähr das Stück.

Ich schrieb es in einigen Tagen und gab es Sonnenthal zu lesen; der 18. Februar war nicht mehr fern. Es gefiel ihm, nur die eine Szene schien ihm gefährlich oder für die Fürstin nicht geeignet, in der sie sich dem Grafen als eine Art von geistiger Vogelscheuche vorspielt. Ich war nicht seiner Meinung, und hier gab mir der Ausgang recht: der Fürstin leuchtete grade diese Szene ein, und wenn sie alles andre mit Geist, mit Humor, mit einer frischen, kraftvollen Anmut spielte, so spielte sie (schon auf der ersten Probe, bei ihr) grade die Vogelscheuche mit einer unwiderstehlichen, wilden Genialität. Hier entlud sich eben all das »Rassige«, Urwüchsige, das ich vorhin meinte, in dem sie derGallmeyer gleichsam blutsverwandt war. Über den Abgrund der Posse ging sie auf gespanntem Seil festen' Schritts dahin, mit der Balancierstange des wohlerzogenen Geschmacks.

Mittlerweile hatte ich sie auf dem offiziellen Ball des Grafen Andrassy (des »Ministers des schönen Äußern«, wie ihn Lenbach nannte) kennen gelernt; bald darauf [148] begannen die Proben, bei ihr und im Augartenpalais, in dem der Fürst Hohenlohe als Obersthofmeister wohnte. Fürst Metternich hatte seiner Frau zu jedem der Schnadahüpfl, die sie als angebliche Kammerjungfer am Klavier zu trällern hat, eine neue, wirksame Melodie gesetzt; sie sang sie mit außerordentlicher Kunst und Frische. So konnte sie ihres Erfolges wohl sicher sein, als sie am Festabend vor einem erlesenen, zumeist aus kunstverständigem Adel bestehenden Publikum auf die Bühne trat. Es ward ein schöner, heiterer Sieg für die Darsteller und das Stück; obwohl Sonnenthal, nach furchtbaren Spiel-, Proben- und Geschäftstagen jammervoll erschöpft, die letzte Nerven- und Willenskraft ins Gefecht führen mußte, um auch auf seinem Flügel zu siegen.

Zuletzt waren alle glücklich, er auch; die Fürstin leuchtete von Erfolgs- und Theaterfreude. Ein Teil der Versammlung blieb zum Souper in dem schönen, poetischen Wintergarten; außer uns »Mitschuldigen« auch Dingelstedt, damals Direktor des Burgtheaters, und einige der prinzlichen und gräflichen Freunde.

Bei dieser einen Vorstellung blieb es nicht: im April desselben Jahres spielten die Fürstin und Sonnenthal das Stück öffentlich, in zwei Wohltätigkeitsvorstellungen (Generalprobe und Aufführung) in der »Komischen Oper«, die später als »Ringtheater« verbrannte. Die fürstliche Schauspielerin hatte die großen Ehren des Abends; sie hatte auch alle Luft und alles Feuer ihrer Kraftnatur gegeben.

Ob sie zuweilen noch Sehnsucht, Heimweh nach solchen Erfolgen hat? Sie hat seitdem viele andere auf anderm Boden gehabt, als Erfinderin und Schöpferin[149] großer wohltätiger Feste. Auch da hat die Künstlerin in ihr mitgetan; und mit der Künstlerin die »Herrscherin«. Und beide haben Schönes und Gutes getan; – das könnte wohl manche Sehnsucht, manches Heimweh stillen.

6.
VI

Von den Wiener Theatern der Siebziger- und Achtzigerjahre wäre wohl noch viel zu sagen, wenn mir nicht die Redseligkeit fehlte; vom Strampfer-Theater unter den Tuchlauben an, das nun wohl fast vergessen ist, aber auch seinen Frühling (ohne Sommer) hatte, bis zu den neueren Schöpfungen hin, die das gewaltige Wachstum Wiens wie organische Ergänzungen begleitet haben. Laubes Stadttheater, ein großes, nur allzu groß gedachtes Unternehmen, brachte neue Dichter, neue Schauspieler, darunter starke, dauerhafte, zum Teil noch heut blühende Talente: ich will nur die Schratt und Tyrolt nennen. Das Carl-Theater gedieh unter Aschers Leitung, mit Matras, Knaack, der Gallmeyer und andern; im Theater an der Wien sang und herrschte die Geistinger, machte Anzengruber seine großen Schritte. Jauner brachte dann neues Quecksilberleben in die Bühnenwelt; Schweighofer und Girardi wuchsen zu Meistern heran. Mir spielte sich Girardi mehr als alle andern ins Herz hinein; in seiner schönen Werdezeit ward er mir sozusagen der Inbegriff von Wiener Humor, Wiener Blut, Wiener Grazie. Wer nichts vom Girardi hat, hab' ich wohl zuweilen gedacht, ist kein echter Wiener. Als ich später in Berlin, am Deutschen Theater, Joseph Kainz persönlich kennen lernte, ging [150] mir das Herz auf, sobald ich sah: das ist ja ein höherer, poetisierter Girardi, Girardischer Humor unterm Romeo-Wams – kurz, ein echter Wiener!

Wie um mir zu beweisen, ich hätte recht, hat er dann auch, in demselben Deutschen Theater, den Zwirn im »Lumpazivagabundus« gespielt; aus dem Romeo-Wams kam sein Girardi heraus an die Luft.

Möchte ihm die angeborene, wienerisch natürliche Grazie im Burgtheater und in der neueren Komödie nicht zu Schaden kommen!

Ganz und gar nicht Wiener, ganz norddeutsch war Anton Ascher, den ich zufällig häufiger sah und gern wiedersah, weil er unterhaltend, witzig, nicht ohne Geist war. Auch als Schauspieler stand er seinen Mann, im feineren Lustspiel wie im Schwank; im Carl-Theater, das er damals als Direktor führte, war er eine seiner wirksamsten Kräfte. Ihn verfolgte das Glück (wenn sich nicht seine Intelligenz als Glück verkleidet hat; ich möcht' es glauben): Wien strömte in sein Carl-Theater, er ward ein wohlhabender, ein reicher Mann, der sich in diesem Sonntagskleid dann zur Ruhe setzte. In meinen ersten Wiener Jahren war er noch ganz Theatermann; und wie gut er auch außerhalb der Bühne spielte, wie sehr er gefiel, erlebte ich zuerst auf dem großen Bankett im Kursalon, das die »Concordia« dem alten Bauernfeld zu Ehren gab, um sein fünfzigjähriges Dichterjubiläum und seinen einundsiebzigsten Geburtstag zu feiern. Es war ein Massenaufgebot der literaturfrommen Menschen Wiens; es war spät geworden, viele der »führenden Männer« hatten geredet, manche viel zu lang; jetzt war es nur noch das Summen [151] und Rauschen eines ungeheuren Bienenkorbs, der entschlossen schien, keinerlei Tischrede mehr anzuhören, weder Ernst noch Scherz, weder Vers noch Prosa. Eduard Mautner, der Dichter, versuchte doch noch durchzudringen, er war bis zum Rand gefüllt, er hatte zu Hause seine Harfe geschlagen und ein warm beredtes (wie sich am andern Tag in den Blättern zeigte), aber gefährlich langes Festgedicht verfaßt, das noch laut werden wollte. Er stand auf und sprach es; vergebens; drei, vier um ihn her hörten zu, der ganze Saal summte weiter. Seine Stimme wuchs, immer fürchterlicher; er schrie, er gab den zartesten Gefühlen die ungeheuersten Töne; er kämpfte, wie ein gutes, tapferes Schiff mit der Brandung kämpft. Die Brandung rauschte weiter. Niemand hörte ihn. Endlich sank er auf seinen Stuhl zurück.

Ich hatte dem mit lachendem Mitleid zugesehn, denn sehr komisch war es; gleich darauf begann man in einem andern Teil des Saals aufzustehn, sich um einen Tisch zu drängen; jemand schien zu sprechen, eine dünne Stimme. Ich ward neugierig und trat auch hinzu. Anton Ascher war aufgestanden, um etwas zu reden; sofort erhob sich eine Stille um ihn, die ihre Wellen weiterwarf. Lachende Gesichter. Da stand der schlanke, magere, elegante Mann mit den scharfen, trocken humoristischen Zügen, dem klug spöttischen Blick, den langen, brieskastenähnlich schmalen Lippen, die sich sonderbar nach den Seiten dehnten, wenn er sprach. Nichts vom Jubilar, von Bauernfeld; er fing an, seine eigene Lebensgeschichte zu erzählen: »Anton war der Sohn armer, aber jüdischer Eltern...« In dieser Weise [152] ging es fort. Seine Stimme war etwas heiser, grau, ohne Stärke; nur gut geschult, durch seine Tonwechsel unvermerkt zu wirken. Alles hörte zu. Alles wollte hören, was aus Anton wurde. Schmunzeln, Lächeln, Lachen, Erfolg.

Ich hab' vergessen (oder nicht immer verstanden), was aus Anton wurde; es war aber derselbe witzig trockene Vortrag, mit dem ich ihn einmal über dieTugend reden hörte. Er konnte so gut fallen lassen; damit hielt er's oben. Fast ohne Stimme, ohne Ton, über alles weggleitend warf er hin: »Die Tugend – sie mag eine schöne Sache sein – ich kenne sie nicht – –«

Acht, neun Jahre später sah ich ihn in Gastein als Rentner wieder; er hatte freilich fast so viel verloren als gewonnen: sein schönes Vermögen ersetzte ihm seine sehr geschwächte Gesundheit nicht. In guten Stunden witzig und guten Humors wie vordem, war er in andern ein dunkler Hypochonder, ängstlich, mit seinem Wohl und Weh heimlich sorgenvoll beschäftigt. Auf jedem Spaziergang folgte ihm sein Diener (auch beim schönsten Wetter Aschers Überzieher auf dem Arm), denn auf jedem Spaziergang konnte den Kränklichen etwas Böses treffen. Ein mitleidweckender Lebensabend: der reichgewordene arme Mann; ich mußte an den Mann im Pelz, den ehemaligen Kammerdiener in Raimunds »Verschwender« denken – wenn auch mit Pelz und Überzieher die Ähnlichkeit aufhört.

Nur von einem Schauspieler möchte ich hier noch reden, einem allergrößten: Tommaso Salvini; denn wenn er auch kein Deutscher ist, in Wien und nur in Wien hab' ich ihn gesehn. Salvini war nicht der erste [153] bedeutende Schauspieler, der aus Italien nach Österreich und Deutschland zog: Rossi war schon vor ihm gekommen (von der viel früher erschienenen Ristori nicht zu reden) und hatte in Wien Anerkennung, Bewunderung, Begeisterung gefunden. Mich riß er (1873 und 1874) weniger hin; ich fand ihn als Othello sehr interessant, voll naturwahrer Momente, aber fast ohne Poesie, als Kean höchst lebendig, zuweilen bedenklich manieriert, als Beaumarchais im »Clavigo« unzulänglich. Jetzt kam mit Salvini (1877) ein in sich Vollendeter; ein Mann, der nicht alles konnte: im Lustspiel, so in der Commedia »Sulivan« nach Melesville, fehlte ihm die wahre Lustigkeit, der Leichtsinn sozusagen; alles Große aber spielte er groß, und kein Dichter, dünkt mich, konnte höher hinauf als er. Es war etwas Antikes in ihm: nichts von modernen »genialen Blitzen« oder blendenden naturalistischen Einfällen, aber eine wunderbare Harmonie aller Gaben, männlichste Kraft, inniges Gefühl, großer Verstand, tiefe Leidenschaft, gediegenes Arbeiten, und ein herrliches Organ, das alles konnte. Dieser Regenbogen von guten Gaben floß so zur Einheit zusammen, daß es reines Licht gab; man konnte ihn daher klassisch nennen: die Natur ward in ihm zum Stil, der Stil zur Natur.

Zur vollen Harmonie gehört beim Schauspieler selbstverständlich die äußere Erscheinung; auch da fehlte nichts. Die große, durch und durch männliche Gestalt mit breiter, gewölbter Brust, kurzen römischen Armen trug einen ebenso männlichen Kopf, der die glücklichste, ausdrucksfähigste Bühnenschönheit hatte. An das, was wir »welsch« nennen, erinnerte eigentlich nichts an ihm; es war ein [154] Mann von Ernst und Würde, von liebenswerter Freundlichkeit, natürlicher Vornehmheit, der ausgezeichnet Italienisch sprach. So schaute denn auch nie – und ich war oft mit ihm zusammen – ein Komödiant heraus. Und doch hatte die Natur ihn ganz fürs Theater geschaffen; das sah man, wenn dieser feste Mann als Othello mit wunderbar elastisch schwebenden Löwenschritten über die Bühne ging, oder wenn er als »Sohn der Wildnis« unter seinem Baum aus dem Schlaf heraus tektosagisch knurrte, oder wenn er als Corrado in »La morte civile«« sich in langsamem Sterben schauerlich verfärbte.

Ich erinnere mich, meine Frau fragte ihn einmal: »Wie machen Sie das, nicht bloß Ihre Züge, auch Ihre Farben so ganz zu verändern?« Er erwiderte, er tue nichts, er sterbe nur, er erlebe das. Da er sich wenig schminkte, konnte sein Gesicht vor unsern Augen alle Farben spielen; und indem er sich so ganz dem Sterben hingab, erblaßte er, ward bläulich, grün – doch noch mit einer herzergreifenden Schönheit des Ausdrucks, die ihn nur verließ, wenn er zuletzt als toter Körper nicht zurück oder seitwärts, sondern vornüber sank.

Dies und auch sein Hinsterben als Othello überschritt für mich die Grenze der Schönheit; eben dies mochte seine Landsmännin Donna Laura Minghetti meinen, wenn sie ihn mir gegenüber einmal »caricato« nannte. Sonst erinnere ich mich keines Augenblicks, in dem ich nicht das große Gefühl gehabt hätte, einen reinen, durchaus geläuterten und geadelten Künstler zu sehn, der zur schönsten Meisterschaft aufgestiegen war.

Während seines ersten Wiener Gastspiels, im Februar, [155] März, April 1877, sollle er freilich noch unkl die Freude haben, den Wienern, dem ganzen Wien für diesen Meister zu gelten; so international war die Welt damals noch nicht. Heutzutage fliegen die großen Künstlernamen wie Störche oder Schwalben über die Alpen herüber; damals war »Salvini« für den Norden ein Wort ohne Klang, oder eine Glocke, der der Klöppel fehlt. An der Wiener Presse lag es nicht, daß die Salvini-Abende (die sich langsam folgten) gewöhnlich schwach, zuweilen kläglich besucht waren: sie pries ihn mit Wärme, mit Verständnis, sie wies bei jeder neuen Rolle auf seine eigentümliche Größe hin. Es blieb aber lange bei »den wenigen, die ihn gern hatten«, um mit Josephine Gallmeyer zu reden; einige Häuflein oder Scharen von Begeisterten konnten die große »Komische Oper« nicht füllen, und Salvini mit seiner italienischen Truppe gewann nur Ehre, die »kein Bein ansetzen kann«, und verlor sein Geld. Er trug das mit Fassung und Würde; erst da übermannte ihn die Empörung, als bei der zweiten Aufführung von »La morte civile« das Haus ganz gefüllt war, weil – Dom Pedro, der Kaiser von Brasilien, ein Bewunderer Salvinis, in einer Loge saß und sich eben diese Vorstellung ausgebeten hatte. Man lief hinein, um die südamerikanische Majestät zu sehn. Salvini brauste in seinem besten Italienisch auf; er wollte am andern Tag fort, das Gastspiel abbrechen, nicht mehr weiterspielen. Es blieb bei dem Wollen, er war ein Mann. Es schien nun auch, als ob das Schicksal die Majestät bestellt hätte, um Stimmung zu machen: der Besuch nahm zu und die letzten Vorstellungen – »Macbeth«, zweimal nacheinander [156] – waren ausverkauft. Lorbeerkränze flogen; einer mit sieben Rosen, auf die meine Frau – ebenso begeistert wie ich – seine sieben Wiener Rollen hatte schreiben lassen. Nun, da seine Zeit zu Ende ging, jubelte man ihm zu: er konnte abreisen, er war durchgedrungen.

Bald nach seiner Ankunft hatte er uns besucht, wir sahen ihn dann oft, zuletzt nach jeder Vorstellung, in dem nahegelegenen »Hotel de France«, in dem er wohnte. Graf und Gräfin Wickenburg, die wie wir in jede seiner Aufführungen gingen und ihn aufs höchste bewunderten, wurden auch mit ihm befreundet wie wir; im »Hotel de France« waren wir vier die »Stammgäste« an seinem Tisch. Einige andere kamen dazu, nach der ersten Aufführung des »Macbeth« auch Sonnenthal, der Salvinis ganze Größe fühlte; nach der.Abschiedsvorstellung auch die noch blutjunge Stella Hohenfels, die sich uns in ihrer Begeisterung angeschlossen hatte. Wir saßen in der Zahl der Musen um den Tisch, plauderten in der festlichen Erregung dieses letzten Abends und in der Wehmut des Scheidens. Salvini hatte meiner Frau ein paar italienische Verse auf ihren Fächer geschrieben; die Hohenfels nahm den Bleistift, und um ihre Gefühle irgendwie loszuwerden, schrieb sie auf das Tischtuch (da sie nicht Italienisch konnte): »Salvini est un ange.« Ich sah's und zeigte es ihm. Er lachte, und er freute sich. Vielleicht hatte er ihr auch schon angesehn, daß diese junge Burgschauspielerin auch dazu bestimmt sei, auf einen hohen Gipfel zu steigen.

In Salvinis Spiel war viel Offenbarendes, Erschließendes; darin erscheint er mir als der größte von[157] allen, die ich hab' »agieren« sehn, während im Reichtum an Gemütstönen – so her Kerschmelzend Salvini auch den unglücklichen Corrado im »Bürgerlichen Tod« spielte – Sonnenthal ihn und alle überbietet. Ingomar im »Sohn der Wildnis«, wie ihn Halm gedichtet, ist ein nicht übel gezeichneter Barbar, der in guten und schlechten Versen seine gemütlich derbe Wildheit nach und nach in Verliebtheit und Kultur verwandelt, ein gut spielbarer Theaterheld; als ich ihn von Salvini sah, erlebte ich mit einem fast unheimlichen, wundervollen Staunen die unzweifelhafteWirklichkeit. Der Mann lebte noch! Ein junger Tektosagenhäuptling, durch irgend ein Wunder dem allgemeinen Schicksal entronnen, in seinem Walde weiterhausend, wie Barbarossa im Kyffhäuser oder im Untersberg. Ja gewiß, so waren sie, diese alten Kelten! Den alten Germanen ähnlich, wohl ein wenig biegsamer, weicher, von griechischer oder römischer Kultur ein wenig leichter zu packen, wenn der richtige Mittler kommt; umso leichter, wenn der Mittler Amor heißt. Herrlich, schauerlich bäumt sie sich noch dagegen auf, die eingeborene Wildheit; herrlich erliegt sie nach und nach. Ja, so erlag sie, wenn ihre Zeit, ihre Stunde kam! So ist es gewesen!

Oder als ich ihn zum erstenmal den Hamlet spielen sah: es war der erste Hamlet, den ich ohne Schwanken und Fragen begriff, in dem mir alle Rätsel schwanden; er war er und mußt' es sein. Und schön, daß er so sein mußte, traurig tragisch schön: so viel Geist, so viel Adel, so ein wundersames Leben, solch ein edles Sterben; und ein so ersehnter Tod! – War es ganz Shakespeares Hamlet? Vor dieser Gestalt eine [158] müßige Frage; sie sprach Italienisch – wie sie bei uns Deutsch, auch nicht Englisch spricht – aber sie sprach so sehr Shakespeares Geist und Sinn, wie der Italiener es kann und soll. Wenn Polonius den scheinbar wahnsinnigen Hamlet fragt, was er da lese, so antwortet der englische Hamlet kurz, und offenbar ohne Pausen: »Words, words, words!« Ebenso der Deutsche: »Worte, Worte, Worte!« Salvini, von seiner wohllautenderen Sprache angestiftet, machte ein längeres Spiel daraus, in das er unglaublich viel Geist, Bitterkeit und Anmut legte: »Parole – e poi parole – e poi parole!« – Durch so ein Beispiel möcht' ich zeigen, wie er zuweilen in Nebendingen seinen eignen Weg ging; in allem, was Hauptsache, Wesen war, schritt er fest und groß dem Dichter nach, mit dessen Atem er lebte.

Das »Offenbarende« seines Spiels hab' ich aber wohl nirgends stärker gefühlt, als wenn er Hamlets Monologe sprach; sprach? Er spielte sie, erlebte sie. Er trat irgendwo hervor, sein Gang, seine Haltung, sein gesenkter, dann sich hebender Blick sagten schon, was die Zunge dann sagen sollte; wir wußten es schon, sie wiederholte es nur. Er sprach und er schwieg; sein Gesicht, unsern horchenden Augen hingegeben, füllte sich; seine Stirn belebte sich; endlich war's, als ginge die Hirnschale weg und wir sähen das Denken, Fragen, Fühlen in Hamlets Gehirn. Wir erlebten ihn. Dann sprach er wieder. Ja, so war's! Lautgewordenes Denken! – Etwas von diesem muß jeder haben, der den Namen Schauspieler verdient; aber so wie bei Salvini hab' ich's nie empfunden.

[159] Der Italiener hat einen angeborenen Vorteil vor dem Deutschen: sein Körper ist lebendiger, ausdrucksvoller, und wie die Gestalt sprechen auch seine Züge mit. Daher ist er von vornherein mehr Schauspieler als der Nordländer, der nach körperlicher Selbstbeherrschung und Ruhe trachtet; er »lebt einfach auf der Bühne weiter«, wie Lenbach es nannte. Salvini, ein Toskaner, machte von dieser nationalen Erbschaft sehr viel weniger Gebrauch, als es die Süditaliener tun; er war eher sparsam mit Gebärdenspiel; auch das trug dazu bei, daß man seine Kunst »klassisch« nennen konnte. Aber er war doch ein Sohn seines Volks, seine vieldeutigen Züge konnten reden, wie er wollte. Da sie nie zu gesprächig waren, so sprachen sie nie umsonst oder vorbei, so sah und hörte man alles, was sie sagten.

Freilich hatte auch jedes seiner Worte Leben; er war ein Sprecher, wie es nicht viele gibt. Er besaß eine unendliche Fülle seiner Schattierungen, fortleitender Übergänge, stimmungweckender Gegensätze; jeder Ton hatte Seele. Ihn auch darin zu studieren, war ein immer neuer Genuß; mehr noch eine Anregung, sozusagen ein Unterricht. Ich hab' zeitlebens gern Gedichte gesprochen, für andere oder für mich; in dieser Zeit ging mir's wunderbar: wenn ich Abends einsam schlenderte, kam es über mich, Goethesche oder andere Gedichte vor mich hinzusagen, sie lebten ganz anders als sonst, sie füllten sich mit Farben, mit Schönheit, mit Seele. Salvinis Vorbild arbeitete in mir.... Zwischen zweien seiner letzten Gastspielabende sah ich meine Frau im Burgtheater, sie spielte die Adelheid in Frey, tags »Journalisten«. Ich staunte, wie viel reicher, ausdrucksvoller, [160] lebensvoller sie noch spielte als sonst; wie viel hat ihr Salvini genützt! mußt' ich immer denken.

An der Gefahr, durch Gastspielreisen mehr und mehr »Virtuos« zu werden, kommt wohl niemand so unberührt vorbei, wie Odysseus an den Sirenenfelsen; also wohl auch Salvini nicht. Die Hingebung, die Andacht kann bei so vielen Wiederholungen derselben Rollen nicht dieselbe bleiben; nur zu leicht stellt sich entweder eine Abschleifung oder eine Überladung ein, von der seinen Linie der »goldenen Mitte« gleitet man zu leicht nach rechts oder links herunter. Trat das auch bei Salvini ein? Ich kann nichts darüber sagen, ich hab's nicht erlebt. Paul Lindau, der ihn hernach in Berlin sah, sehr bewunderte, kennen lernte, erzählte mir einmal, wie er während einer Vorstellung mit ihm zwischen den Coulissen gesprochen, wie Salvini mit lebendigster, freiester Gemütlichkeit geplaudert habe; plötzlich hab' er sich umgedreht, mit einem Ruck hinaus auf die Bühne – und im nächsten Augenblick mit der großen Glockenstimme ganz Hamlet oder ganz Othello, ich weiß nicht was. Indessen beweist das nicht (und sollte es auch in Lindaus Mund nicht beweisen), daß Salvini damals oberflächlicher, unbeteiligt spielte; das gründlich geschulte Gehirn eines bedeutenden Menschen kann mit blitzartiger Schnelligkeit aus einem Seelenzustand in den andern springen; ja die künstlerische Erregung liebt oft solche Sprünge, ihr ist wohl dabei. Ich habe während dieses ersten Wiener Gastspiels Salvini in den meisten seiner Rollen zweimal, als Hamlet dreimal gesehn; mir fiel fast jeden Abend auf, daß er sich keineswegs »eingewerkelt« getreu wiederholte, daß er in Gang [161] und Spiel und Rede durch allerlei lebenatmende Änderungen überraschte.

Als er von uns schied, nahm er mir das Versprechen ab, wenn wir im Oktober nach Florenz kämen (wir planten es), mit meiner Frau bei ihm in seiner Villa zu wohnen. Wir sind leider nicht gekommen, es fügte sich nicht; und ich hab' ihn später wohl noch spielen sehn, aber ihm nicht mehr die Hand gedrückt oder ein Glas auf sein Wohl getrunken. Er verließ die Bühne früh, mit der Entsagung eines Philosophen: er wollte der Gefahr entgehn, sich zu überleben; denn abnehmen ist für den Edlen schon sich überleben. Nur an einem Ehrentag seines Sohnes, seines Nachfolgers – so las ich in den Zeitungen – hat er noch einmal mitgespielt. Möchte er noch lange an seinem erinnerungsreichen, ehrenreichen Leben in genußfroher Gesundheit schöne Freude haben!

7.
VII

Wenn ich mit tiefer Dankbarkeit fühle, wie viel Bedeutendes, Schönes, Förderndes ich in Wien erlebt, wie viele nachwirkende Schöpfungen, merkwürdige Menschengebilde ich in mich aufgenommen, so stehen mir auch die Häuser vor Augen, in denen ich wie zu Hause war, die »Salons«, deren Farbe und Duft in mir weiterlebt. Laßt mich zuerst den Salon der Gräfin Marie Dönhoff nennen, die in Wien die »Musikgräfin« hieß, und die nun in Berlin als Gräfin Bülow die Gattin des Reichskanzlers ist. Ein wohl romantisch zu nennender Lebensweg! Die Sizilianerin, die in Italien aufwuchs, jetzt die Herrin in dem alten Palais der Berliner [162] Wilhelmstraße, in dem der große Deutsche Otto von Bismarck das neugegründete Reich mit seinem »alten Herrn« Kaiser Wilhelm führte.

Die Prinzessin Maria von Camporeale war aber von der Natur dazu geschaffen, diesen Weg zu gehn, wie vielleicht noch keine Welsche vor ihr. In der zarten, seinen, unendlich lebendigen Gestalt mit den dunklen spanischen Augen entfaltete sich erstaunlich früh eine deutsche Seele, die sich für Schiller begeisterte, sich in Wagner stürzte, nach deutscher Bildung hungerte, an einen schlanken blonden Deutschen ihr junges Herz gab und als Gräfin Dönhoff nach Deutschland zog. Von Stuttgart dann bald nach Wien gekommen, wo ihr Gatte zur deutschen Botschaft gehörte, bildete sie sich vollends zur Wahldeutschen aus (ohne daß sie ihr Vaterland je verleugnet hätte); sie wollte von allem wissen, was in deutschen Köpfen und Herzen arbeitet, wollte an deutscher Musik und Philosophie, an deutscher Malerei und Poesie ihren vollen Anteil haben. Im Jahr 1873 lernte ich sie kennen; es ward bald die schönste Freundschaft daraus; die schönste, weil sie nie forderte, immer gab und gönnte, und auch nach der längsten Trennung, dem tiefsten Schweigen in der ersten Minute des Wiedersehens ganz die alte war. Diese durch so viel Huldigung verwöhnte Frau war jederzeit so dankbar wie das bescheidenste »Mauerblümchen«. Mich, dem sie in diesen dreißig Jahren eine Welt von Poesie gegeben, dem sie in so manchem Sinn eine Offenbarung war, mich nannte sie ihren Förderer, Lehrer, Bildner, überschüttete mich in ihrer lebensprühend anmutsvollen Art mit vergoldenden Worten, weil ich ihrer geisthungrigen Jugend als [163] ein schon länger »Werdender« froh entgegenkam und mit dem bißchen, was ich wußte oder ahnte, ihre Flügel färbte.

Wie viele Stunden sind wir in den langen deutschen Wintern im Schnee gewandert – sie liebte auch unsere nordische Luft – und haben in ihrer oder mei ner Straße, da wo jetzt das Rathaus, der Justizpalast, das Reichsratsgebäude stehn, alles Menschliche und Übermenschliche durchmessen! Vom klein Persönlichen unberührt, ohne jeden Sinn für Klatsch, verlangte sie nur ins Wesen zu dringen, die Welt zu verstehen, sie, die schon ein Haus und zwei Kinder hatte und doch noch so jung war. Kam sie dann aber in ihren Salon zurück, in dem sie liebenswürdige und bedeutende Menschen zu versammeln wußte, so war sie die südlich frühreife Frau, der die schönste weibliche Lebenskunst zu Gebote stand. Es ward jedem wohl, mochte es nun die Frau Ministerin des Äußern, Gräfin Andrassy, oder meine Frau, die Altgräfin Salm oder Hans Makart, Fürst Rudi Liechtenstein oder Franz Liszt oder Franz Lenbach sein. Wie sie eigentlich immer Poesie umgab, so genoß man bei ihr die Poesie des Salons; anmutiger hab' ich das nie gefühlt. Sie schien nie das Wort zu führen, und man sprach und lebte doch so, wie es zu ihr stimmte und zu ihr gehörte. Man kam, von keinem Vorurteil aufgehalten, in alle Winkel, wo die »Fragen« wohnen, und doch, wie frei man sich auch fühlte, blieb man immer in einer schönen, reinen, ätherhaften Luft, die aber den Humor und das Lachen liebte. Bei der Musikgräfin gab es natürlich auch Musik; sie selbst spielte gefällig und gern, wenn wir nur wenige waren, und [164] die begeisterte Wagnerianerin spielte doch auch alles, was groß und gut war, von Johann Sebastian Bach bis heut. Ihr war aber lieber, die andern zu hören; ich hab' bei ihr Liszt, Rubinstein, Fürst Rudi Liechtenstein, Saint-Saëns, Hans von Bülow gehört.

Wie schön war es aber auch ohne Musik, bei uns oder bei ihr; da es nun einmal die Zauberkraft sein und edel gearteter Menschen ist, daß sie, wie etwa Haar und Haut einen angesprengten Wohlgeruch, so einen Seelenduft mit sich führen, der wie Kölnischwasser die Luft durchgeistet. Grobe, derbe Naturen mögen ihn nicht spüren, verwandte fühlen ihn, ob bewußt oder unbewußt. Er ist mehr als Witz, Esprit, Beredsamkeit, Schöngeisterei, Unterhaltungsgabe; er ist das Beste vom Besten, und alle die Kräfte, die ihm etwa selber fehlen, regt er zu wohligem Wirken an. So war und ist die Gräfin Marie. So verspür' ich sie in diesem Augenblick, da ich von ihr schreibe.

Unter den mit ihr befreundeten Frauen zog mich besonders die Gräfin Kathinka Andrassy, die Frau des berühmten Staatsmanns, an; ihre noch immer blühende Schönheit, ihre ungarische Frische und Freiheit, dazu eine eigene Mischung von Männlichem und Weiblichem in ihrer echt aristokratisch anmutigen Stattlichkeit, waren herzerfreuend. Ihr lebhafter Geist ging immer mit, ob ich Goethesche Balladen vorlas oder Lenbach seine stärksten Humore losließ; ob ihr Gatte mit mir über Darwin stritt oder ich ihr auseinandersetzte, daß sie an der »Ohnmacht des unsittlichen Willens« leide, der sie unfähig mache, die Phantasien, die sie uns mit genialer Heiterkeit bekannte, in Taten zu verwandeln. [165] Ich höre noch das reizende, grundgesunde Lachen, mit dem sie es zugab. So gesund erschien sie ganz und gar; wie unnatürlich früh für ein so schönes Gebilde ist sie dann gestorben.

So vor der Zeit verließ uns auch die Altgräfin Elise Salm, geborene Prinzessin Liechtenstein, die etwas später der Gräfin Dönhoff und des Wilbrandtschen Hauses Freundin wurde; eine Frau, die der österreichischen Aristokratie so hohe Ehre macht wie Gräfin Kathinka der ungarischen. Auch in ihr war ein freier Geist mit einem warmen Herzen vermählt; sie war mit zu klarem, festem Verstand begabt, um an irgend einem Standesvorurteil zu haften, und von Sehnsucht nach aller Poesie des Lebens erfüllt, die doch erst mit der wahren, freien Menschlichkeit beginnt. So schloß sie sich mit feuriger Liebe an die jüngere, geistesverwandte Gräfin Dönhoff an; so suchte sie gleich ihr die Welt der Dichter und Künstler auf. Ferdinand von Saar hat bei ihr die schönste Gastfreundschaft genossen, halbe oder ganze Jahre in ihrem mährischen Blansko gewohnt. Sie konnte in Gestalt und Gehaben und Wesen an die Kaiserin Maria Theresia erinnern. Absonderlich war eins an ihr: die Nachtlebigkeit; so hab' ich sie wenigstens später gekannt. Wenn in den Achtzigerjahren die Gräfin Dönhoff, die nicht mehr in Wien lebte, auf Monate ins »Hotel Meißl« kam, um unter Professor Chrobaks Leitung ihre Gesundheit zu bessern oder andere Geschäfte zu betreiben oder ihre Mutter zu sehen, so kam die Altgräfin Salm gewöhnlich erst nach elf Uhr Abends angefahren und saß an Donna Marias Tisch bis tief in die Nacht, aß aus einem Wasserglas ein [166] Stück Eis nach dem andern (sonst nichts), und arbeitete mit ihren langen hölzernen Stricknadeln an wollenen Weihnachtsgaben für arme Kinder, die sie rastlos strickte, während die Gespräche alles Gute und Ungute dieser Welt umschwirrten.

Auch Frau Cosima Wagner hab' ich bei »Donna Maria« gesehn; die Gräfin war mit Baireuth befreundet, sie lebte mit für das große Baireuther Unternehmen, hat dafür gewirkt und geopfert, so viel sie vermochte. Indessen zum Fanatismus war sie nicht geboren; und wie frei sie von dieser schwarzen Leidenschaft war, bewies sie am lustigsten, als sie uns einmal besuchte und bei mir Paul Lindau fand, den sie noch nicht kannte. Es war 1877; im Sommer vorher hatte sie in Baireuth die erste Festspielzeit des Wagner-Theaters mitgefeiert, die Lindau in seinen »Nüchternen Briefen aus Baireuth« mit Freimut und auch mit Witz und Humor geschildert hatte. Sie war unbefangen genug gewesen, sich an der glänzenden Unterhaltungsgabe des Schriftstellers zu freuen, wenn ihr auch die Sache ungleich heiliger war als ihm; jetzt sollte sie seine Unterhaltungsgabe von Mund zu Mund kennen lernen, und zwar gleich »vom besten Faß«. Er hatte einen glücklichen Tag; durch den poetischen Reiz der schönen Frau und ihr liebenswürdiges Entgegenkommen angenehm erregt, durch ihre immer wachsende Heiterkeit gesteigert und befeuert, brannte er ein ganzes Feuerwerk von Humoren ab und spielte ihr nach und nach alles noch Wunderliche, Gewagte, Unausgereifte in dieser ersten Baireuther Einstudierung vor, so lebendig, dramatisch, harmlos lustig, daß wir fast nicht aus dem Lachen kamen, die Gräfin [167] und ich. Mitten im Lachen staunte ich in mir fort und fort: was für eine glücklich begabte Frau, diese Wagnerianerin, die mit so freiem, göttlichem Humor zur Kehrseite treten und das Recht des Geistes, des Witzes mitgenießen konnte! – Als sie endlich schied, gab sie ihm die Hand: »Sie haben meine Eroberung gemacht,« sagte sie mit der Wendung, die die Aristokraten mehr als wir gebrauchen. Es war ein guter Anfang, der seine gute Fortsetzung hatte; von Zeit zu Zeit sehe ich Paul Lindau an gemütlichen Abenden im Reichskanzlerpalais, wo er in jugendlicher Frische fortfährt, die Gräfin und ihren Grafen mit den Einfällen seiner guten Laune zu unterhalten.

Donna Maria, die Friedliche, hat doch auch Generale unter ihren Freunden; so den Freiherrn, jetzt Grafen von Loë, den ich in Wien bei ihr kennen lernte und in Berlin dann und wann bei ihr wiederfand. Graf Loë ist einer der Generale, aus denen den Künstler etwas Blutsverwandtes anweht, die mit großen militärischen Eigenschaften die feinste Bildung verbinden, wie sie sich vielleicht nur bei deutschen Offizieren findet. Daß er dabei »schneidig« war, weiß ich aus einer hübschen Geschichte, die von ihm erzählt wird und die er uns einmal bei Bülows bestätigen mußte. Während des deutsch-französischen Krieges von 1870 war er Oberst des Königshusarenregiments, in dem damals auch der jetzige Reichskanzler diente. In einer Schlacht, ich weiß nicht welche, hält er mit und vor seinen Husaren in Reservestellung, seine Zeit erwartend; die feindlichen Granaten fliegen aber auch dorthin, über Roß und Reiter weg. Es wird ungemütlich, und unwillkürlich [168] ducken sich die Reiterköpfe. Als Oberst von Loë das bemerkt, wendet er sein Pferd und ruft: »Ich verbitte mir diese Höflichkeiten gegen den Feind!«

Mit diesem alten Generaloberst – jetzt Feldmarschall – steht Donna Maria in einem wirklichen Freundschaftsbund; sonst hält sich ihre Künstlerseele freilich mehr zu uns »vom Zivil«, und es kann ihr begegnen, daß sie von den Herren im bunten Rock despektierlich redet. Zu einem andern preußischen Obersten, der jetzt General ist, sprach sie einmal von einem ihrer Freunde, einem Schriftsteller und Gelehrten; ob er den kenne? fragte sie. Der Offizier versteht sie falsch, er denkt an einen Militär desselben Namens. »Freilich kenn' ich ihn!« antwortet er; »schon lange!« – »Wie können Sie ihn schon lange kennen?« – »Aber ja,« erwidert er; »den alten General B. hab' ich schon vor vielen Jahren gekannt!« – »Aber was Ihnen nur einfällt!« ruft die Gräfin in ewigjugendlichem Eifer aus. »Ich sprech' ja von keinem General, ich sprech' von einem Mann von Geist!«

Der Oberst, der selber Geist und dazu Humor hat – ich kenn' ihn auch – hatte das Schicksal, bald darauf General zu werden. So oft er aber die Gräfin besuchte, ließ er sich nicht als General, sondern noch alsOberst melden.

Mittlerweile hatte das Schicksal gewollt, daß diese Frau, in der nicht ein Funke von politischem Ehrgeiz glüht, die wohl eine edle Künstlerin hätte werden können, zum zweitenmal die Frau eines Diplomaten und diesmal eines echten Staatsmanns Frau ward, der, ein Jünger Bismarcks, und gewiß der berufenste, mit großen [169] Schritten den Berg hinanstieg, auf dessen Gipfel die Reichskanzler stehn. Von Zeit zu Zeit traf ich sie wohl noch in Wien, an dem sie mit alter Neigung hing; dann kam ich (1897) nach Rom, wo Bernhard von Bülow als deutscher Botschafter lebte, und fand sie in ihrer Heimat wieder, so recht in der Mitte der »ewigen Stadt«, auf dem Kapitol, wo an der Stelle des verschwundenen Jupitertempels der Palazzo Caffarelli, der Sitz unserer Botschaft, steht. Es ist wohl das idealste Wohnhaus eines Diplomaten auf der Erde; mit seinem südlich üppigen Garten, seiner Königspalme (von Friedrich Wilhelm IV. gepflanzt) schaut es zum Palatin, dem Hügel der Cäsaren, hinüber und von stolzer Höhe auf Rom hinab. Steigt man zum höchsten Aufbau des Palastes empor, so hat man einen Rund- und Fernblick, der durch seine feierliche Schönheit ergreifend ist: die Stadt, die Campagna, das Albaner Gebirg, die Sabiner Berge – im Winter, wie damals, schneebedeckt – liegen in ihrem schwermütigen Farbenzauber hingebreitet. Hier lebte Donna Maria so glücklich, wie ich sie noch nicht gesehn; sie, die mir geschrieben hatte: »Kommen Sie nach Rom, Sie sollen mich es lieben lehren!« konnte mir nun sagen: »Ich liebe Rom, wie es dieDeutschen lieben«; und sie genoß alles Hohe und Schöne dieses Aufenthalts mit germanischer Innigkeit. Wenn sie mit mir auf der langen, blumenreichen Terrasse ihres Gartens oder auf den Balkonen, auf den Kieswegen wandelte, sich auf alles vorfreuend, was die Frühlingsmonate an neuer Blütenpracht und Lebenswonne bringen würden, so erschien sie mir wie in ein Paradies gestellt; mit ihrem geliebten Adam vereint [170] und ohne Sehnsucht, noch mehr als bisher vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen. Im Mai sollte ich wiederkommen, da ich jetzt nach Deutschland zurückging, und bei ihnen wohnen; dann war die »Saison« des diplomatischen Rom vorbei, die Botschafterin ihrer Pflichten ledig, und zu dritt konnten wir ideale römische Tage verleben.

Mit diesem schönen Traum von ihnen scheidend, ließ ich ihnen ein paar Verse zurück, die ungefähr aussprechen, wie wohl mir in dem Kapitolidyll geworden war:


Von Neapel angekommen –
Corso, Forum, regengrau –
Dann das Kapitol erklommen
Und das Haus der schönen Frau.
Prinzen, Grafen – edle Damen
Schwatzten süß – ein wenig hohl –
Daß mir fast Gedanken kamen
An die Gäns' vom Kapitol.
Doch am andern Tag, o Sonne!
So erglänzte Rom noch nie!
Und zuhöchst, als Herzenswonne,
Exzellenz Frau Poesie.
Wo einst Zeus, herrscht nun die Süße,
Tut der Welt so weich und wohl,
Statt der alten Gänsefüße
Jetzt der Schwan vom Kapitol.
Und ihr edler Schwanengatte,
Der, ihr Schwanenritter, kam
Und das Weltweh, das sie hatte,
Ihr aus Haupt und Busen nahm,
[171]
Ernst nach großer Römer Weise,
Doch germanisch warm und wohl,
Zieht er weit Gedankenkreise
Um den Schwan vom Kapitol.
Scheiden ruft, wie Trauerglocken
In sciroccoschwüler Nacht.
Doch wird Wiedersehn frohlocken,
Wenn die Maiensonne lacht.
Quanti giorni beati e belli
Dann beim Schwan vom Kapitol!
O Palazzo Caffarelli,
Nimm mein Herz und lebe wohl!

Es ward ein Lebewohl für immer: Bernhard von Bülow ward von Rom nach Berlin berufen, als Staatssekretär des Äußern, und unser Mai blieb ein Traum. Erst im Juni dieses Jahres 1904 hab' ich bei ihnen gewohnt, und nicht in der römischen Rosenpracht, sondern in der windumtobten, blumenlosen Dünenvilla auf der Insel Norderney, wo sie nun schon fünf Jahre ihre Sommerfrische und Erholung suchen.

Das ist eine andere Welt! Als ich eines Morgens meine Glastür öffnete, die auf das Meer und die ferne, kahle, flache Insel Juist schaut, riß in demselben Augenblick der hereinbrechende Westwind die Rolltür zum anstoßenden Salon auf und warf dort ein hohes Glas mit Blumen vom Tisch, daß die Scherben klirrten.

Der Reichskanzler liebt diese »Böen«, diese starke Luft; aber die Reichskanzlerin auch; sie lebt so gern im Freien, im Wind, im Wandern, wie wenige Frauen, die ich kenne. Als ich nach Norderney kam, war Graf[172] Bülow noch in Kiel, beim Kaiser; ich kam, um der Gräfin Gesellschaft zu leisten, die sich von nervöser Übermüdung und Schlaflosigkeit, nach höchst anstrengenden Zeiten, zu erholen suchte. Ich wohnte in dem großen Arbeitszimmer des Grafen; viermal täglich holte die »Patientin« mich ab, um mit ihr zu wandern: zweimal zum (durchaus nicht nahen) Restaurant, wo wir aßen, zweimal zu weiten Spaziergängen am Meer, an den Dünen hin. Ost gingen wir auch noch Abends, in der langen Dämmerung, eine Stunde vor der Villa hin und her; das Meer rauschte zu uns heraus. Fünf Stunden und darüber gingen wir jeden Tag und bei jedem Wetter. An einem Regentag kamen wir zweimal so durchnäßt nach Haus, daß wir uns völlig umkleiden mußten. Dazu die frischen Nordseewinde, die uns den Regen unermüdlich ins Gesicht hineinschlugen. Die ehemalige Principessa di Camporeale kämpfte ruhig weiter, als gehöre das zum Reichskanzlerposten.

Als der Graf dann kam, ward es ebenso: bei stürmischer Brise und Wolkenbruch marschierten wir stundenlang; der Reichskanzler lächelte, wenn uns eine neue freche Regenbö überschüttete, und unsere nachdenklichen Gespräche gingen fröhlich fort. Vom Kapitol nach Norderney! dacht' ich wohl einmal, wenn mir der naßkalte Wind so recht in die Augen klatschte.

Doch dann dacht' ich wieder: Ja, Rom war schöner; aber wohl uns und dem Grafen und auch ihr, daß die Magnetnadel ihres Schicksals so nach Norden wies. Mög' sie noch manchen Sommer als Reichskanzlerin in die Villa auf der Düne kommen, und der Mann ihres Herzens noch viele von den Brisen und den Stürmen [173] bestehn, wie sie auf führende Staatsmänner niederregnen!

Und dann saß ich wieder umgekleidet, trocken, warm im Salon der Villa und hörte, wie der schöne Bariton des Herrn von Below, des eben neu ernannten »Gesandten«, schöne Lieder sang, von Donna Maria begleitet. Er sang so kunstvoll und beseelt, und sie begleitete so kameradlich, so ganz in Musik getaucht. Und am Abend las ich Goethe vor, die Pariagedichte; und es folgte wieder eines der gefüllten Gespräche, in denen der Graf so gedankenvoll redet und Donna Maria so entzückend zuhört.

8.
VIII

Wenn die Frage wäre, in welchen Wiener Salons oder Häusern ich die meisten Menschen kennen gelernt, so müßte ich wohl antworten: bei Heinrich Laube und bei Leopold Rosner. Zu Laube, der alltäglich von Fünf bis Sieben in Gemeinschaft mit seiner vortrefflichen Frau Iduna empfing, kam ich in meinen Wiener Junggesellenjahren oft und sah Gestalten über Gestalten, darunter nicht wenige, die ich mit Nutzen oder Genuß studierte; wenn wohl auch keine so interessant war wie der Hausherr selbst. Der Salon meines Verlegers und Freundes Leopold Rosner war sein kleiner Laden unter den Tuchlauben; in diesem Taubenschlag begegneten sich ungezählte Schriftsteller, Journalisten, Schauspieler und ähnliches Volk. Rosner hatte selber zu den Komödianten gehört und unter Nestroy gemimt; mit seinem Büchlein »Aus Nestroy« hat er uns einen Schatz von Witz und Geist aus dessen Theaterstücken [174] gegeben, den ich oft verschenkt und aus dem ich noch öfter vorgelesen habe. Er übersetzte auch ungarische Erzähler, Jokai und andere; er schrieb in Wiener Blätter; kurz, er war Kollege von allen, die bei ihm verkehrten. Eine richtige Freundesseele, ein talentvoller Geschichtenerzähler, ein Mann, der alle kannte und von allen wußte, war er ein geborener Mittelpunkt und Taubenschlagsbesitzer. Wie manchen merkwürdigen Menschen hab' ich nur bei ihm, aber oft genug gesehn; so den SchriftstellerFriedrich Schlögl, der in seinen Büchern »Wiener Blut« und »Wiener Luft« manche lebensvolle Figur mit gutem Humor gezeichnet hat; nur daß er, wo er über Menschen und Dinge schrieb, sich in Kraft- und Fremdwörtern gradezu verschwelgte. Die »Fülle der Gesichte« in Rosners Laden war freilich oft ein Hindernis, wenn ich in Geschäften kam und mit ihm als Buchhändler oder Verleger zu tun hatte. Ja auch wenn ich ihn allein traf, mußte ich mich waffnen: er war gewöhnlich randvoll von Neuigkeiten oder Geschichten, die er sogleich mit schauspielerischer Lebendigkeit vorzutragen begann. Ich bin manches Mal mit dem geöffneten Taschenbuch in der Hand gekommen, in das ich meine Fragen und Wünsche eingetragen hatte; so hielt ich das Buch, solange ich ihm gegenüberstand; hätte ich es in die Tasche gesteckt, so war ich verloren. Sobald ein Vogel aus seinem Neuigkeitssack herausgeflogen war, schlug ich mit der Hand auf mein Buch: »Jetzt die nächste Nummer!« Und eh ich nicht wenigstens ein Anliegen erledigt hatte, durfte kein neuer Vogel fliegen.

Bei diesem meinen guten Leopold Rosner – auch [175] er lebt nicht mehr! – lernte ich auch das edle Dichterpaar kennen, mit dem mich bald herzliche Freundschaft verbinden sollte, Graf Albrecht und Gräfin Wilhelmine Wickenburg. Er ein Steiermärker, in der kaiserlichen Burg zu Graz als Sohn des Statthalters geboren, sie ungarischen Bluts, aus dem gräflichen Haus Almasy, hatten sie sich zu einem Dichterbund vereinigt, wie er sich wohl nicht oft wiederholen wird; denn in beiden lebte eine schöne lyrische Flamme, die freilich, wie es so vielen ergeht, erst in Leidens- und Trauerzeiten zu höchst emporsteigen und am stärksten leuchten sollte. Damals, in den Siebzigerjahren, waren sie noch im Land des Glücks; jungvermählt, mit zwei reizenden Kindern gesegnet, schaffensselig, beide schön, beide gut, er mehr der Sinnige, sie die Feurige, zwei sich ergänzende Seelen. Sie übersetzten auch, aus allerlei Sprachen; Gräfin Wilhelmine versuchte sich auch in epischen und dramatischen Dichtungen, denen indessen, bei viel Geist und Kraft, die volle Gunst des glücklichen Stoffs und die letzte Vollendung fehlt. Vielleicht gehörte sie zu den Künstlernaturen, deren Talente einander Konkurrenz machen: sie war auch musikalisch stark begabt und eine eifrige Sängerin, die nicht ganz zureichende Schulung ihrer nicht sehr großen Stimme durch Geist und Feinheit des Vortrags ausgleichend. So konnte sie es wagen, im Zwiegesang mit Pauline Lucca zu singen, die ich an einem musikalischen Abend bei ihr kennen lernte und sogleich in all ihrer lustig feurigen Lebendigkeit, ihrer sozusagen derben Grazie bewundern konnte. Auch Felix Mottl, damals noch ein junger, wild begeisterter und begeisternder Wagnerspieler, [176] erschien an solchen Abenden, die singende Gräfin am Klavier stimmungsvoll begleitend. Mir war sie am merkwürdigsten, wenn sie französisch, besonders wenn sie »Carmen« sang; hier fand ich sie erstaunlich echt oder erstaunlich blutsverwandt, etwa so, wie Wilhelmine Mitterwurzer im Burgtheater Molières Toinetten und Dorinen genial deutsch-französisch spielte.

Im Dezember 1878 ward Graf Albrecht, der Gräfin glücklichster Zuhörer, vierzig Jahre alt; dazu dichtete ich ein Dal-Dal, das längste, das ich kenne, und schickte es der Gräfin – zum Scherz auf einer Korrespondenzkarte – ins Haus. »Ein Dal-Dal«? Ich weiß schon: der verehrte Leser weiß nicht, was das ist; darum sag' ich es. Wir hatten es in der Villa Wertheimstein vom Professor Franz Brentano gelernt: man bringt irgend eine kleine Geschichte oder Behauptung oder was immer vor, die mit einem Wort (oder auch mehreren) schließt, das gleichsam ein Echo hat, sich selber mit einem andern Sinn wiederholend. Dieses Wort aber und sein Echo sagt man nicht; man sagt nur: Daldal – Daldal, oder Daidaldat – Daldaldal und so weiter, je nachdem das Wort zweisilbig oder drei-oder mehrsilbig ist. Hier ein einfachstes Beispiel: »Ein Wandrer hatte sich in einer Wüste verirrt; vergebens suchte er ihr zu entkommen; immer Öde ringsumher. Endlich rief er verzweifelnd aus: O wenn ich doch einen Ausgang aus dieser Daldal Daldal!« Der Hörer soll nun raten, was diese beiden Daldal bedeuten. Die Auflösung ist: »O wenn ich doch einen Ausweg aus dieser Wüste wüßte

Professor Brentano, in solchen Geistesspielereien sehr bewandert, hatte die Besucher der Villa Wertheimstein [177] eine Weile zu Daidaltisten gemacht; wir wetteiferten, dergleichen sinnigen Unsinn zu erfinden. Als Graf Wickenburgs Geburtstag kam, tat ich mein Äußerstes, indem ich auf der Postkarte an die Gräfin einen ganzen Vers mit anderm Sinn wiederholte:


Es schütze noch vierzig Jahre lang
Apoll Deinen Sänger von eignem Gesang,
Vordem Übersetzer des Shelleyschen Stücks,
Vor dem Übersetzer des höllischen Styx!

Ich habe die Auflösung gleich hieher geschrieben, denn ein Daldal von dieser Länge könnte niemand raten. Graf Albrecht hatte, mit großer Kunst, Shelleys gedankenvolles Drama »Der entfesselte Prometheus« übersetzt; 1876 war es bei seinem und meinem Verleger Leopold Rosner erschienen.

Bald nach dieser Zeit endete der schöne Verkehr zwischen den Häusern Wickenburg und Wilbrandt: ich verschwand aus Wien, und als ich wiederkam, zum Burgtheaterdirektor geworden, zogen bald dieFreunde fort, um für des Grafen und dann auch der Gräfin Leiden in wärmerem Klima Heilung zu suchen. Während Graf Albrecht nach und nach gedieh, erkrankte die Gräfin mehr und mehr; ihre Feuerseele fuhr in einem Schiff, das seine Seetüchtigkeit verlor, das sie kaum mehr trug. Als ich sie 1886 in Bozen, in der Villa Gerstburg, wiedersah, fand ich ihren Geist erstaunlich gereist, gewachsen, seine Hülle kläglich widerstandslos; »schauen Sie,« sagte sie mit einem philosophischen Lächeln, in dem großen Saal umherdeutend, auf dessen Balkon der Rosengarten und die Mendel schauten, »wenn da eine Fliege vorbeifliegt,[178] spür' ich's in der Schulter!« Wie wenn der Körper von der inneren Flamme verzehrt würde, schwand sie langsam hin; immer noch sich fortentwickelnd und schaffend, immer noch zu höchstem Genuß des Lebens fähig, sobald die Seele sich fassen konnte, und die heiße Sehnsucht nach Glück und Gesundheit in die Welt hinaussingend, in herzergreifenden Tönen. Ihre letzten Gedichte sind auch ihre schönsten; wenigstens für mich. So das vielleicht allerletzte: »Geduld!«, in dem sie zu dem Gries-Bozener Tal spricht, das sie mit so vielen Hoffnungen aufgesucht, dessen Herrlichkeit nun schon so oft vor ihr geblüht und gewelkt hatte:


Und jeder Lenz, der dich geschmückt,
Hat mir ein Hoffnungsreis geknickt.
Ein Jahr – noch eins – und wieder eines –
So zieh'n sie hin und keines, keines
Bringt mir die alte Kraft zurück!
So starr' ich oft mit nassem Blick
In martervollen Sehnsuchtsschauern
Nach dieser Felsen Kerkermauern
Und denk' in meinem Wahn: Da drüben,
Da ist dein altes Ich geblieben!
Dort rauscht das Leben seinen Gang
In Schaffenslust und Tatendrang,
Raff' dich nur auf mit Wandermut
Und dann ist alles wieder gut!...
Horcht auf! Mein Lied sei keine Klage,
Nur lang entbehrte Lebenslust!
Ich war so lange stumm und trage
Gefang'ne Lerchen in der Brust!
[179]
Laßt sie zum Himmel schmetternd steigen,
Anstimmen einen Jubelreigen,
Wie nach dem Winter, lang und kalt,
Im Lenzhauch er durchjauchzt den Wald!

Aber dieses Wähnen lügt; sie fühlt schon wieder: nichts ist ihr geblieben als das Sehnen, und nichts kann ihr helfen als vergessende Geduld.


Vorbei! Aus dunklem Nebelschleier
Taucht der Erinn'rungsbilder Schar –
Hinweg! Vergessen will ich euer,
Vergessen, was ich selber war!
Vergessen, daß des Lebens Fluten
Aus vollem Becher mir geschäumt,
Vergessen, was in Wunschesgluten
Der Ehrgeiz noch vorausgeträumt!
Nur eins, in Tagen und in Nächten,
Sei's noch, wonach die Seele wirbt:
Jedweden Lebenstrieb zu knechten,
Bis auch der letzte Wunsch erstirbt....
Geduld – du stille, nie gekannte –
Sei du nun meine Trösterin,
Du, die ich frevelnd sonst verbannte –
Mein Nacken beugt sich – nimm mich hin! – –

Als ich im Februar 1890 wieder nach Bozen kam, hatte sie ausgeduldet; auf dem Friedhof von Gries schlief sie schon ihren langen Schlaf. Graf Albrecht, nun mit seinem unendlichen Gram allein, konnte zu all den Elenden und Niedergedrückten auf der Erde sagen:


Die ihr in Leiden wandelt durch das Leben,
Wer hat mir fürder noch was zu vergeben,
[180]
O wer von euch?
Reicht mir die Hand, daß ich euch Bruder werde,
Es liegt mein Glück sechs Fuß tief in der Erde
Und wir sind gleich!

Ihm gab wenigstens »ein Gott, zu sagen, was er leide«; er hat seinem Schmerz in einer Reihe von Liedern Gestalt gegeben, die zu den schönsten Blüten gehören, welche auf Gräbern gewachsen sind, und die jeder (in seinen »Neuen Gedichten«) lesen, mitfühlen sollte. Ich kann und mag mir nicht versagen, wenigstens eines davon, »Dein Zimmer«, hier niederzuschreiben:


Sie hatten dich hinabgesenkt so tief.–
Ich wankte heim von deinem frischen Grabe
So wirr und stumpf – mein brennend' Auge rief
Umsonst nach Tränen, die des Schmerzes Labe.
Vor deinem Zimmer dämpft' ich meinen Schritt,
Denn war ich auch allein mit meinem Kummer,
Mir war, als könnte jeder laute Tritt
Die Kranke wecken aus dem leisen Schlummer.
O Gott! da stand's noch auf dem Tischlein da,
Das Kruzifix mit den verlöschten Kerzen,
Die man gezündet, als dein Ende nah'
Und schon die Kälte schlich nach deinem Herzen.
Der bleiche Wintertag sank schon zu Tal
Und ging zur Ruhe, wie in stillstem Frieden,
Und leise wob ein matter Sonnenstrahl
Ums leere Bett, darin du jüngst verschieden.
Da lagen noch die Ringe deiner Hand,
Auch er, der dich »für immer« mir verbunden,
[181]
Die treue Uhr, die trauernd stille stand
Und abgelaufen war mit deinen Stunden.
Das letzte Buch, drin du gelesen, war
Auf einem Tische offen noch geblieben,
Ein Zettel lag dabei, drauf deutlich klar
Die liebe Hand zum letztenmal geschrieben.
Dein letzter Wunsch war's und dein letztes Wort –
Es war zu viel und ich ertrug es nimmer,
Und nach dem Friedhof stürzt' ich wieder fort –
Dein Grab war nicht so traurig wie dein Zimmer!

Andere dieser Trauerlieder, kleinere, kurzzeilige, wie mit dunklen Schmetterlingsflügeln flatternde, singen wie Musik; es ist rührende, weiche Melodie darin. Aber dem Sänger sollte es nicht so ergehn, wie eines dieser Liedchen es ihm vorschmeichelte:


Mein Trost in allem Weh
Ist, daß ich eilen seh'
Die Jahre,
Daß Tag um Tag verrinnt
Und mir der Reif schon spinnt
Im Haare.
Deckt dich der Schnee, so kalt,
Wart' nur, auch mich wird's bald
Verschneien,
Dann wird die Sehnsucht stumm,
Dann sind wir wiederum
Zu zweien!

Es war noch zu viel edles Leben in ihm, und der Jungbrunnen des Schaffens rauschte noch. Drei Jahre[182] später erschienen seine »Tiroler Helden«, vaterländische Gedichte, darunter viele so kräftig, so warm, so lebensvoll ins Holz geschnitzt, daß sich jedes Volk ihrer rühmen könnte. Dann folgte sein Liederbuch »Mein Wien« und bald eine zweite Sammlung »Altwiener Geschichten und Figuren«; seine Muse kehrte (mit ihm) an die Donau zurück und fand dort alle die Humore und Freudentöne wieder, die der Friedhofswind ihr verweht hatte. Nein, teurer Freund! Dich hat's nicht verschneit und wird's auch noch lange nicht. Von den zweiten vierzig meines Daldal fehlen noch so viele! Deine Kinder leben in glücklichen Ehen, Enkel wachsen dir wie mir, deine Freunde lieben dich, deine Bronchien verjüngen sich, deine Kehle singt noch. Mög' sie uns noch hohe und süße Lebenstöne singen!

Da sind wir denn wieder in Wien, das ich eine Weile verlassen hatte; und ich wandre nordwärts nach Döbling hinaus, den Weg, den ich in jenen Jahren so oft gemacht: zu der Villa Wertheimstein. Im Sommer 1871 fuhr ich zum erstenmal mit Bauernfeld hin; mit wie vielen andern fuhr ich dann desselben Wegs, Hunderte von Malen; zweimal hab' ich dort mit den Meinen als Gast gewohnt, zuerst in der sogenannten »Mühle«, einem einsamen Haus im Park, dann in einem Flügel der Villa, beim Eingang. Josephine von Wertheimstein, die Hausfrau, war die eigentliche Seele, der Magnet, der Genius; eine der holdesten, adeligsten, wärmestrahlendsten Frauen, die in mein Leben getreten sind. Ein großes, dunkles Schicksal lag hinter ihr, als ich sie kennen lernte: von ihren beiden Kindern hatte sie den Sohn, der als noch blutjunger Bildhauer [183] viel versprach, mit neunzehn Jahren verloren; der Schmerz nahm ihr Schlaf, Nahrung, alles, bis ihr Geist sich umnachtete. In einer Anstalt, mit heutiger Methode, hätte man sie wohl bald geheilt; ihre Mutter aber, ganz Liebe und noch in der alten Denkart befangen, die solche Erkrankungen zu verstecken suchte, setzte durch, daß sie in der Familienpflege verblieb; so genas sie langsam. In der Halbdämmerzeit dieser werdenden Genesung entfalteten sich Flügel in ihr, die sie nicht gekannt hatte, die auch später wieder still vergingen: sie ward Dichterin. Sie hat mir einmal ein Buch zu lesen gegeben, in das sie alle die Träume und Gedanken dieses Zustands, in Versform gebracht, eingetragen hatte; zuerst wirrten sie noch dann und wann, wunderbar ergreifend, dann war es, wie wenn die Nebel wichen, der Tag hineinleuchtete und die Sonne durchbrach. Die ganze Tiefe und Hoheit ihrer Seele sah mich aus diesen monologischen Gesängen an. Leider nur dies eine Mal; Frau Josephine zeigte das Buch nicht wieder, sie kam später, wie mir schien, nicht gern auf diese Zeiten zurück. Doch vielleicht war es nur die urweibliche, fast jungfräuliche Bescheidenheit, Keuschheit, der auch vor dem Schein bangte, daß sie ihr Innerstes zu enthüllen liebe.

Sie war aber gesellig, menschenhungrig, für reichen, bunten, geistvollen Verkehr wunderbar begabt und geschaffen; wie viele, die den Ehrennamen Mensch verdienen, hab' ich denn auch in der Villa Wertheimstein erlebt! Die alten und treuen Freunde des Hauses, Bauernfeld, Unger, Dessauer, Wessel (der die Kinder erzogen hatte, ein geliebtes Inventarstück der Familie, ein Ostpreuße voll Geist und Gemüt, der zuzeiten [184] zweimal täglich vom Bezirk Landstraße zu Fuß hinauspilgerte und zweimal zurück); dann die Späteren, Lenbach, Maler Penther, Ferdinand von Saar, Karoline Gomperz-Bettelheim, Gräfin Dönhoff, Gräfin Wickenburg-Almásy, Malvine von Dutschka, Professor Fleischl, Exners – damit ich nur die wenigen nenne, die mir eben vor die Augen treten. Das Haus selber war nicht menschenarm: die Tochter Franzi, der Gatte, die Mutter (eine seine, liebenswürdige Patriarchin), die Schwester Fräulein Minna Gomperz (heiter, warm und klug); das »Fischerl« nicht zu vergessen, die Hausdame, die einzige, die auch heut noch mit der Tochter in der Villa waltet. Franzi von Wertheimstein, jetzt die Letzte des einst so lebendigen Hauses, war wie ihr Bruder schön begabt, sie für Malerei und Musik; vom Vater, einem echten Gentleman von gebildetem und seinem Verstand, hatte sie ähnliche Gaben, von der Mutter die Poesie der Seele geerbt; bedeutende Menschen aller Art umgaben ihre Jugend. Sie sang uns die Volkslieder der österreichischen Alpenländer so kernecht und so grundmusikalisch, wie's wohl nur wenige können; und die schönsten, feierlichsten, süßesten, gleichsam durch die Mondnacht emporschwebenden Jodler – wunderbare gibt es – die sang sie so überirdisch schön, daß mich manchesmal eine schmerzende Sehnsucht packt. Dabei nun das sinnigste Weltverstehn, der mitlebendste Humor, bei Mutter und Tochter. Sie waren immer urgesteinsmäßiger zusammengewachsen, je mehr die Reihe der alten Freunde sich lichtete. Ihre Verschiedenheiten umzogen sich mehr und mehr mit dem holden Duft des selbstverständlichen Zusammengehörens. [185] Wären nur nicht die Störer gewesen, die nervösen Hemmungen, die von Zeit zu Zeit die schöne Entwicklung der so reichbegabten Tochter gleichsam unterbrachen. Das erlitten wir dann alle mit. Wie es Tage gibt, wo über einer schönen, sonnigen, blühenden und duftenden Landschaft eine immer drohende Wolke hängt, so lag zuweilen auf der Villa Wertheimstein ein zäh dunkler Schatten, gegen den die tapfere Heiterkeit der Bewohner, die Urgemütlichkeit des sogenannten »Speckkammerls«, in dem man nach Tische saß, der übermütige Humor der Gäste, die fröhliche Ansteckung von Witz und Geist, die edlen Spieler und Sängerinnen doch oft schwere Kämpfe kämpften.

Doch die so Gehemmte oder Gequälte bewährte sich mehr und mehr als erhabene, lächelnde Heldin; und nur um der Heldin willen hab' ich die Leiden er wähnt. Ihrer unerschöpflichen Lernfreude kam in einem so reichen Kreis von begabten Lehrern und Forschern immer neue Anregung entgegen; der größte Anreger war der Naturforscher Ernst von Fleischl, der in erstaunlicher Begabung Unterhaltung und Belehrung verband. Wie viel hab' ich da mitgelernt! – Wie schön und so recht tief innen genießend erlebten wir miteinander die Frühlings-, Sommer- und Herbstpracht des Parks; am eindringendsten und traulichsten wohl in dem Frühsommer 1880, den ich als Gast ganz daselbst verlebte. Da fanden wir uns am liebsten unter den rotblühenden Kastanien, herrlichen Bäumen mitten im Park (schöne Goldamseln sangen gern hoch oben); dort rüstete ich auch endlich zum Abschied, in Versen, in denen ich die seelenvolle Poesie dieses Parks zu [186] schildern suchte, denFreundschaft auf allen Wegen durchwandelte:


»Bald kam sie edel, schön im Silberhaar,
Bald mit gerötet jugendlichen Wangen;
Jetzt zart im Leiden, jetzt so freudeklar;
Gefahren jetzt (im Rollstuhl), jetzt gegangen.
Bald folgt' ihr eine neckisch lust'ge Schar,
Spottvögel, Satyrn, witzig kluge Schlangen,
Bald ernste Schatten, gleich der Abendkühle:
Die traurig hohen, ewigen Gefühle.«
»Und so umringt von allem Erdesegen,
Von Liebe, Güte, Frieden, Wonnezeit,
Von immer wachsend neuem Blütenregen,
Den Flieder, Ölbaum, Linde niederstreut,
So blüht' ich hier der Sommerglut entgegen,
Die mich zu neuen Erntepflichten weiht.
Und so leb wohl, geliebte, zauberische,
Süß heimlich fruchtend milde ›Frühlingsfrische‹!«

So viele Wochen haben wir nicht wieder miteinander gelebt; es war wohl die idealste Zeit. Doch ward es jedesmal eine Lebenshöhe, wenn ich mich mit Mutter und Tochter in Sommern oder Herbsten irgendwo im Gebirg zusammenfand: so in Wildbad Gastein, in Hallein, in Salzburg, in Markt Aussee; zuallerletzt in Meran, in der Winterfrische. Wundervolle Tage: wo Mutter und Tochter jeden Zoll Bodens kannten, wo sie alles tiefverstehend genossen, die Mutter mit ihrer strahlenden Einsaug-Freudigkeit, die Tochter doch etwas wählerischer, mit dem feinen Auge der Künstlerin. [187] Hier hörte ich denn auch noch einmal die in den Himmel einziehenden Jodler, die ich nie vergesse.

9.
IX

Auch bei den Geschwistern der Frau Josephine von Wertheimstein waren die Musen zu Haus: bei der Baronin Sophie Todesco, der Seelenguten, die fast alle Freunde der Villa Wertheimstein auch in ihren kunstgeschmückten Räumen sah, beim Professor Theodor Gomperz, dem geistvollen Geschichtschreiber der griechischen Philosophie, bei Julius Gomperz, dem Brünner Fabrikanten, dessen Wiener Absteigeheim durch seine Frau, die Sängerin Karoline Bettelheim, für Monate ein echter Wiener Musiksalon ward. Musik und Poesie wurden auch bei Frau Rosa Gerold gepflegt, in der Stadtwohnung wie in der reizenden Villa Lindenhof in Neuwaldegg, die so schön zwischen den Waldbergen und am Walde liegt. Eine Eigentümlichkeit des Lindenhofs war, daß dort gern der altfränkische, aber noch immer lebendige und oft lebenweckende Geist der Leberreime umging: ein mit Champagner oder Rheinwein gefüllter Riesenbecher kreiste, und jeder an der Tafel, zu dem er kam, hatte in Versen, die mit der »Leber vom Hecht« begannen, irgend etwas Gegenwärtiges oder einen Anwesenden mit Redefreiheit anzudichten. Es kam oft zu großer, auch witziger und anmutiger Heiterkeit, denn der Geist ruft den Geist. Einmal war auch der Minister Karl von Stremayr mit seiner anmutigen Tochter dabei; so oft wir uns später wiedersahen, erinnerte er sich und mich an diesen Abend, dessen festliche und geistreiche Lustigkeit ihn durchsonnt, entzückt hatte.

[188] Von Männern und Frauen des Theaters, der Literatur, der Musik war besonders der Salon der liebenswürdigen und schönen Frau Malvine von Dutschka gefüllt; doch seine Zeit kam wohl erst gegen dasEnde der Siebzigerjahre; dafür lebt er noch heut. Merkwürdige und interessante Musik aller Art hab' ich dort gehört, die ich sonst nicht hörte; echt wienerische, die uns der alte Herr von Gernerth, der sie komponierte, auch selbst am Klavier sein gemütlich vortrug, und »exotische«, transatlantische, von jungen Amerikanerinnen auf schmachtenden Instrumenten gespielt oder mignonhaft dazu gesungen. Rubinstein, der zuweilen bei seinen und meinen Freundinnen wunderbar spielte, hab' ich bei Dutschkas nuressen sehn; dort erlebte ich aber mit ihm etwas Drolliges. Es war ein Diner ihm zu Ehren, eine kleine auserlesene Gesellschaft, darunter Bauernfeld, Sonnenthal, die Altgräfin Salm, die Gräfin Dönhoff. Rubinstein hatte Tags zuvor im Burgtheater mein Lustspiel »Die Maler« gesehn; er sagte mir über den Tisch hinüber gute, warme Worte, so was man »Bewunderung« nennt. Ich erwiderte nichts; lächelte wohl nur, meinte dadurch eine Empfangsbestätigung zu geben. Die Gesellschaft mochte aber erwarten, daß ich etwas Gesprochenes erwidern würde: es entstand ein Stillschweigen. Jetzt erhob sich Sonnenthal; als stünde er als Regisseur nach dem Aktschluß auf der Bühne, verneigte er sich tief und sagte: »Im Namen des abwesenden Dichters habe ich die Ehre, seinen Dank auszusprechen!« – Alle lachten; Rubinstein so herzhaft, daß es ihn schüttelte.

Später war Alfred von Berger der Freund und sozusagen der geistige Mittelpunkt des Hauses; seine[189] Vielseitigkeit und Beredsamkeit, sein staunenswertes Gedächtnis und sein schlagfertiger Witz machten ihn dazu. Nach dem Tode des Herrn von Dutschka – eines trefflichen Ehrenmannes und zuverlässigen Freundes – ward es still im Haus; allmählich bildeten sich aber neue Formen und es entstand ein Freitagssalon zwischen Tag und Abend, der vor allem derMusik gehört. So sah ich das Haus im letzten Frühling wieder und fühlte mich so ganz in Wien. Vor einem großen Publikum von jung und alt, von Geist und Schönheit, überraschend entzückender, warmblütiger, rassiger Gesang werdender Talente, echter Wienerinnen; die süßen Volkslieder aus den Bergen, von einer Meisterin köstlich anheimelnd gesungen; Leschetitzkys Schüler und Schülerinnen am Klavier, europäische und amerikanische, schöne Hoffnungen. Die schönste darunter, aus dem nordamerikanischen Osten, mit den beseeltesten Augen, lass' ich durch diese Zeilen grüßen: Gut Heil für die Zukunft, für Berlin und Wien!

Nur von einer Künstlerin möcht' ich hier noch reden, die mir ein Phänomen, eine Offenbarung war und doch nicht mehr Künstlerin: Fanny Elßler mein' ich, das holdeste Wiener Blut; ein Wahrzeichen von Wien konnte man sie nennen. Sie war fast zweiundsechzig Jahre alt, als ich sie auf einem Ball der »Concordia« kennen lernte; aber sie war noch zum Verlieben, so ganz war sie in das Bad der Charitinnen getaucht. Ihre schöne Gestalt war frauenhaft geworden, aber »jeder Zoll war Anmut«; so selbstverständliche, organische, nie pausierende Grazie hab' ich sonst wohl nie gesehn. Ich erinnere mich eines Theaterabends, an dem ich im [190] ersten Rang, sie unten im Parkett saß; in ihrem schlichten, dunkelgrünen Kleid, zuweilen einen Fächer bewegend, zuweilen zu einer hinter ihr sitzenden Bekannten sich zurückwendend, war die nun wohl fünfundsechzigjährige Frau so ein holdes Bild, daß sie mich in meiner Aufmerksamkeit aufs schönste störte: ich hab' oft lange von der Bühne weg und nur sie gesehn. Jede Bewegung des Kopfes, des Arms, der Schulter war eine Offenbarung eingeborenster Anmut.

Aus der Öffentlichkeit hatte sie sich längst zurückgezogen; auf recht herzliches Bitten zeigte sie noch zuweilen im Zimmer, wie sie auf der Bühne getanzt hatte. Auch vor mir tanzte sie einmal, so wie sie grade ging und stand, entzückte und entrückte mich durch ihre mimischen Zauberkünste; wir waren mittlerweile gute Freunde geworden. Ich begriff alles, was Holtei in seinen Memoiren (»Vierzig Jahre«) zu ihrem Preise sagt; ich fühlte, daß das Geheimnis ihrer Kunst eben diese ganz elementare und ganz durchseelte Anmut war, die aus einer vollkommenen Wohlgestalt und einem grundguten, holden Gemüt in ungestörtester Harmonie hervorstrahlte. »Sie tanzte Goethe!« An dieses Wort mußte ich denken, als ich im letzten Winter die Amerikanerin Isadora Duncan wirklich Chopin tanzen sah, die seitdem auch Beethoven getanzt hat und Richard Wagner tanzen wird, wie ich lese. Auch in ihr ist Schönheitsgefühl und Seele, durch ganz persönliche Annäherung an die Antike belehrt und erhöht. Sie hat uns dadurch neue, schöne Kunst gegeben. Mir scheint aber, daß die reinste und höchste Offenbarung die Wienerin Fanny Elßler war, die wohl nie die altgriechischen [191] Vasenbilder studiert, nie die Tonwerke eines Musikers nachzuschaffen versucht hat; aber »sie tanzte Goethe«!

Als wir ihren siebzigsten Geburtstag feierten, versuchte ich, ihr auszudrücken, wie ich sie fühlte und was ich für sie fühlte:


Den Geist des Lebens möcht' ich heut befragen,
Was dich so unbegreiflich jung erhält?
Schon siebzig Jahre.... Viel, auf dieser Welt!
Wer hat so leicht wie du an dieser Last getragen?
Kriegsjahre, sagt man, sollen doppelt zählen;
So, denk' ich, zählt nur halb die Friedenszeit
Der edlen Seele, die, den Grazien geweiht,
All den Dämonen fremd war, die uns quälen.
Der rauhen Erde Dornen, Sümpfen, Steinen
Entfloh sie bald auf flügelleichtem Fuß,
Und stieg, ein wandelnd Bild des Friedensgenius,
Drin Schönheit, Wahrheit, Güte sich vereinen;
Und stieg zum Tempel, wo die Stürme schweigen,
Wo Anmut wohnt als Hohepriesterin,
Und lehrt uns Gleichmaß, Einklang, Jugendsinn,
Und wen sie je belehrt, der bleibt ihr eigen.

Sie belehrte auch gern noch als Künstlerin, wenn sie befreundeten Künstlerinnen helfen konnte; sie war eine geborene Helferin. Als Charlotte Wolter die stumme Yelva spielen sollte, studierte Fanny Elßler die ganze Rolle mit ihr; sie ging fast auf alle Burgtheaterproben von »Arria und Messalina«, da die Wolter [192] es wünschte, begutachtete, gab die Schätze ihres Schönheitswissens und ihrer Erfahrung her. Mit meiner Frau hat sie eine ganze Reihe von Rollen in meinen Stücken studiert.

Wahrhaft rührend aber war ihr Verhältnis zu ihrer Cousine Fräulein Kathi Prinster, die mit ihr lebte, seit vierzig Jahren und mehr. Nie hatten sie sich getrennt, miteinander waren sie alt geworden, die Schöne und die Häßliche: denn die gute Kathi war, von außen betrachtet, so ein Stiefkind der Natur, wie die Fanny ein Liebling war. Ihr Herz aber kam dem der Fanny gleich; und etwas neidloser Liebendes, Vergötterndes konnte man nicht sehn. Sie lebte einfach das Leben der andern mit. Und diese andre, auch ein Engel, gab ihr so viel Sonnenschein der Gegenliebe, daß man sich fragen konnte und die Antwort nicht wußte: welche von beiden ist glücklicher?

Nun sind sie beide nicht mehr. Ich schaue aber auf ein Bild von ihnen, auf dem sie in all ihrer Zusammengehörigkeit beieinandersitzen; die unendlich Verschiedenen und doch auch für mein Gefühl nicht zu Trennenden, wie von einem da oben angestellten Romanschreiber zusammengedacht. Und indem sie mich so herzlich anschauen und ich wieder alles fühle, was sie waren, leben sie doch weiter.

Gesegnet seien die Männer, die das Photographieren erfanden! Viel Besseres hat noch keiner erfunden.

So schau' ich nun auch auf Prinz Rudi Liech tensteins Bild; der letzte der Wiener Freunde, von dem ich hier noch reden möchte; dann – Schluß der Galerie! – Auch er lebt nicht mehr; wie lange schon! Als ich [193] ihm 1889 meine Sammlung vermischter Schriften: »Gespräche und Monologe« zueignen wollte, war er schon entschlafen; ich konnte sie nur noch seinem Andenken widmen. Auch mit ihm hatten die Lebensmächte wunderlich gespielt, wie mit so vielen, die zu Größerem bestimmt schienen, als sie dann erreichten; die bald von außen, bald von innen gehemmt wurden, bis endlich die eherne Tür hinter ihnen zusammenschlug. Auch an ihm aber bewährte sich, was das Leben mir so oft gezeigt hat, daß aus dem Gegenspiel dieser Hemmungen und der Urtriebe etwas Originales, noch nie Gewesenes und in seiner Art doch auch Vollendetes hervorgeht. Fürst Rudolf Liechtenstein war ein Mensch, den man mit nicht vielen vergleichen, im letzten Grunde nur an sich selber messen konnte, und der in diesen Lebenswirrungen so ganz er selber geworden war, daß, wer ihn wirklich kannte, ihn nie vergißt.

»Bei den Liechtensteinern hat es immer absonderliche Menschen gegeben,« sagte er mir einmal, »wunderliche Käuze, Seitengänger, auffallende, scharfe geistige Profile;« und er berief sich unter andern auf einen der Bekanntesten seines Geschlechts, den Minnesänger Ulrich von Liechtenstein. Der war nun freilich einer von den steiermärkischen Liechtensteinern; die Frage ist: floß in dem und in unserm Rudi wirklich verwandtes Blut? – Wie auch immer: Fürst Rudolf – bei der Wolter hatte ich ihn zuerst, dann hier und da und immer öfter gesehn – war ein aus vielen Erbschaften bunt und reich Zusammengewachsener, den man sich leicht als den Ururenkel eines merkwürdigen, vielfach begabten Geschlechtes denken und in Dichterträumen in seine geschichtlichen [194] Elemente auflösen, in einen langen Werdegang zurückübersetzen konnte. In seinen dunklen, nicht großen, aber schöngebauten, brombeerfarbenen Augen dämmerte eine in leise Schwärmerei gehüllte Melancholie und lachte ein geistreich blitzender Humor. Er hatte einen Tätigkeitsdrang, der ihn zur Marine, dann zur Diplomatie geführt hatte, und konnte sich doch nur in voller Unabhängigkeit des alleinstehenden Ichmenschen glücklich fühlen. Er hatte zuweilen eine fast kindliche Sehnsucht, sich selber »Geld zu verdienen«, wodurch es auch sei, und lebte dann doch ehrgeizlos in dem mit Geschmack genießenden Müßiggang eines apanagierten Prinzen hin. Er schien zum Künstler geschaffen, war ein ausgezeichneter Klavierspieler, phantasierte glänzend, komponierte auch; im Wiener »Grand Hotel« hat er lange hoch oben in einem abgelegensten Zimmer gewohnt, um die halben Nächte an seinem Flügel musizieren zu können, ohne fremden Schlaf zu stören; doch zuletzt war das alles nur wie ein schönblühender Baum, von dem er von Zeit zu Zeit eine Blume pflückte. Er sprach sehr gut, er schrieb vortrefflich, in Briefen konnte sein Geist, seine Phantasie sich wunderbar beredt ergießen, so daß er zum Schriftsteller geschaffen schien; als man ihn dann aber endlich dazu vermochte, sein Talent in einer Novelle zu formen, die schon in ihm lebte, so kam ein verwundernd fremdes, wohl tiefgedachtes, aber rhetorisch pathetisches Wesen heraus, in dem es fast unmöglich war ihn wiederzuerkennen. Kurz, es war wohl manches Hamletische in ihm, durch die Widersprüche und Irrungen seines Lebenslaufs gesteigert, wenn auch nicht ins Tragische getrieben. Davor schützte ihn wohl [195] schon sein herrlicher Humor, der zwar, wie er mir gestand, mit englischen und amerikanischen Humoristen nichts anzufangen wußte, aber in seiner süddeutschen, bayrisch-österreichischen Färbung zentisolisch blühte und ihn zu einem der unterhaltendsten und liebenswürdigsten Gesellschafter machte.

Besonders gern gedenk' ich eines Spätherbstes, wo ich mit dem Prinzen und seiner Frau in Venedig zusammenkam und wir viel miteinander erlebten, bis in den frierenden Dezember hinein. Er hatte zum zweitenmal geheiratet, die gewesene Schauspielerin Hedwig Stein; er war glücklich, jugendlich heiter, und genoß den Zauber der Märchenstadt mit allen Sinnen. Als dritter im Bunde begleitete die beiden der gewaltige Fasolt, ein schöner, großer, schwarzer Hund, den ihm Richard Wagner in Baireuth geschenkt hatte. Neben der aristokratisch schlanken Gestalt des Prinzen nahm sich Fasolt majestätisch furchtgebietend aus, nicht nur für das Fischervolk da draußen in Malamocco und Chioggia, wo er die ganze Einwohnerschaft hinter uns herzog, sondern auch für die Jugend Venedigs, die einen Hund von so ungeheuren Formen offenbar nie gesehen hatte. »E un orso!« »Das ist ein Bär!« hörten wir sie rufen. Er verschaffte uns überall ein großes, lästiges Gefolge; so auch an einem Morgen, als wir in den Hof eines alten Hauses eingetreten waren, um ein merkwürdiges Bildwerk anzuschauen. Durch verschiedene Eingänge strömten kleinere und größere Gassenjungen herein, die den nordischen »Bären« mit scheuer Andacht studierten. Auf einmal geschah etwas Überraschendes, echt Italienisches. Der Fürst, der unser [196] Gefolge loswerden wollte, wendete sich zurück und rief: »Questo cane ogni giorno mangia un bambino!« »Dieser Hund frißt täglich ein Kind!« Augenblicklich stob die ganze Versammlung auseinander und war auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

In den Achtzigerjahren, als ich Burgtheaterdirektor geworden war, sah ich ihn in Wien und in dem eine Eisenbahnstunde entfernten Neulengbach wieder; dort, in dem alten Schloß, das dem Hause Liechtenstein gehörte, hatte er sich mit seiner Frau und deren Mutter angesiedelt. In dieser Zeit vollzog sich eine Wandlung in ihm, die ich nicht erwartet hätte: er ward ein gläubiger Spiritist. Ein unerklärbares Erlebnis beim Naturforscher Zöllner, dem »Vierdimensionalen«, soll der erste Anstoß gewesen sein; durch ihn selbst weiß ich nur, daß eine tiefe Sehnsucht, zu seinen Gestorbenen, insbesondere seinem Vater, einen Weg zu finden, ihn zu den sogenannten Mediums, den Vermittlern zwischen Diesseits und Jenseits, geführt hatte. Seine Freigeisterei hinderte ihn nicht, diese Vermittlung für echt zu halten, da sie seinem Gemüt so unendliche Wohltaten verschaffte: er sah den Geist seines Vaters – vielleicht auch andere seiner Toten –, und die Möglichkeit immer neuer und stärkerer Berührungen mit der andern Welt, die vielversprechenden Anfänge dieser geistigen Gemeinschaft, dazu die Gewißheit des Fortlebens, gaben seinem Dasein einen neuen Inhalt, den es wohl auch brauchte. Da er einen klaren, scharfen, weltgeschulten Verstand hatte, so hatte er sich natürlich nicht blind und augenblicklich ergeben; er hatte sich auch in die okkultistische Literatur vertieft, die Bücher [197] der bedeutendsten, begabtesten, von der Wissenschaft herkommenden Anhänger dieser Lehre studiert. Sein Glaube ward endlich felsenfest. Es bildete sich eine kleine Gemeinde um ihn. Er hatte den herzlichen Wunsch, auch mich zu bekehren. Auf eine Ablehnung ohne weiteres traf er bei mir nicht; ich war immer der Meinung, daß wir über die Hauptsachen gar nichts wissen, und daß nur ein Tor überzeugt sein kann, was er nicht sehe, das geb' es nicht. Erschiene mir einmal ein Geist, ganz unzweifelhaft, so würd' ich nicht so unhöflich sein, zu sagen: »Die Wissenschaft leugnet dich, mein Lieber, also existierst du nicht!« Ich mißtraute aber den Mediums, damals so wie heute. Ich mißtraute den großen Chemikern und Gelehrten, deren Bücher ich auf des Prinzen Anregung las und die, aus argwöhnischesten, scharfsinnigsten Beobachtern Gläubigste geworden, mit ihrer eigenen mediumistischen Hand, angeblich »von einem Geist geführt«, viele Seiten lange Beschreibungen des Jenseits niederschrieben, wie sie nur ein von Irrsinn Befallener phantasieren und für wahr halten kann.

Endlich machten wir auf seinen und meinen Wunsch einen Versuch, der entscheiden sollte. Prinz Rudi hatte in seine Neulengbacher Schloßwohnung ein nordamerikanisches Medium, Mister Bastian, aufgenommen, einen jungen Mann, der in seiner Heimat seine mediumistischen Eigenschaften entdeckt, bald großes Aufsehen gemacht, dann auch den Weg nach Europa gefunden hatte. Er gewann des Prinzen großmütiges, mitleidiges Herz, weil er sich seiner Fähigkeiten nicht rühmte, sondern sie beklagte: der Verkehr mit den Geistern, die sich mit Benützung des menschlichen Mediums »materialisieren« [198] und sichtbar werden, verzehre ihn, mache ihm Leiden, Schmerzen; er sei weniger begnadet als unglücklich. Jede »Sitzung«, in der er andern diesen Verkehr vermittle, greise seinen Kopf, seine Nerven an. Er treibe das alles nur, weil er durch ein Verhängnis dazu bestimmt sei, weil offenbar die Geister es wollten.

Diesen Bastian sollte ich kennen lernen, einer Sitzung beiwohnen; ich war gern bereit. Ich kam nach Neulengbach, am Nachmittag, um die Nacht im Schloß zu bleiben; außer den Damen waren ein paar Freunde des Prinzen da, die zu seiner Gemeinde gehörten. Gegen Abend fand die Sitzung statt; ehe sie begann, führte der Prinz Herrn Bastian zu mir: er wünsche sich vor mir, dem noch Ungläubigen, zu entkleiden, damit ich die Überzeugung gewänne, daß alle Taschenspielerei ausgeschlossen sei. Die kleine, zierliche, schlanke Gestalt warf die Kleider ab; mit wenigen raschen Bewegungen, so behend, gewandt, geschickt, daß ich verwundert dachte: So ungeschickt? Kannst du etwas Törichteres tun, als mir zeigen, daß du zum Taschenspieler wie geboren bist? – Wie hätte ich ihn auch so gründlich untersuchen können, daß mir kein Zweifel bleiben konnte; dazu fühlte ich mich nicht sachkundig, erfahren genug, oder doch nicht befugt. Er war im Handumdrehen wieder in seinen Kleidern, und der erste Teil, die Dunkelsitzung, begann.

Was soll ich viel davon sagen; es waren die bekannten Geistertricks; im undurchdringlich finsteren Zimmer saßen wir im Kreis um das Medium, und die Spirits, die offenbar nichts Besseres zu tun hatten, begannen bald ihre Späße. Während Bastian fort und[199] fort in die Hände klatschte (wenigstens schien es immer derselbe Klang), um zu beweisen, daß er keine freien Arme habe, wurden uns Schlüssel in die Hand gedrückt, Ringe an den Finger gesteckt, wieder abgezogen; eine Geige schwirrte über uns durch die Luft, eine Stimme sprach durch ein Sprachrohr (nur Englisch, nicht Deutsch), schwache phosphoreszierende Schimmer tauchten hier und da auf und verschwanden wieder. Endlich ließen diese Geister von uns ab, die so wenig Geist hatten; es ward hell gemacht, ein paar Lampen brannten. Es sollte der Versuch folgen, ob aus dem kleineren, dunklen Nebenzimmer, das ein Doppelvorhang von uns trennte, Geister erscheinen würden, wie hier schon öfter geschehen war. Bastian wollte mir wiederum zeigen, daß alles mit natürlichen, das heißt übermenschlichen Dingen zugehe; er bohrte einige Stecknadeln durch die Ränder der dicken Vorhänge, die nebeneinander herabhingen, und verband sie so. Ich mußte inwendig lächeln: die paar Nadeln ein Hindernis, falls du taschenspielerst? Er sank dann im Nebenzimmer in einen Lehnstuhl, mit resignierend leidendem Kopfwehgesicht; wir andern setzten uns im Saal in eine Reihe, dem Doppelvorhang zugekehrt, aber so und so viele Schritte davon entfernt. Eh das Schauspiel begann, mußten die Lampen so tief hinabgeschraubt werden, daß nur ein mattes Helldunkel blieb; bald darauf erklang aus dem finsteren Nebenzimmer eine Sprachrohrstimme (sie sprach wieder Englisch) und verlangte, wir sollten Hand in Hand legen und so eine Kette bilden.

Was das sagen will, muß man vielleicht selber erlebt haben, um es ganz zu wissen. In dieser halbnächtlichen [200] Dämmerung, diesem unsicheren Licht, das sich wie eine trübe Schwüle auf die Nerven legte, saßen wir nun viertelstundenlang, rechts und links mit andern Händen verbunden, unfrei, fast bewegungslos, in jeder Sekunde gewärtig, etwas zum mindesten Sonderbares zu erleben, harrend, uns langsam abspannend, langsam überreizend. Da beginnt wohl das Gehirn unbewußt zu phantasieren, zu »geistern«, dumpf und träumerisch. Doch vor allem, glaub' ich, geschah es des Ungläubigen wegen: die Geister trauten mir nicht. Hatt' ich freie Hände, so konnt' ich etwa eine Erscheinung überrumpeln, zu packen suchen; was ich freilich als Gast meines Freundes nie und nimmer getan hätte.

Die Gläubigen hatten gute Geduld, sie sahen von Zeit zu Zeit am Fuß des Vorhangs einen weißlichen Schein, ein schwach schimmerndes Weben, in dem sie »beginnende Materialisation« erkannten; ich sah nichts davon. Endlich ging der Vorhang langsam, wie von selbst, auseinander, den Stecknadeln zum Trotz; aus der tiefen Nacht dahinter bewegte sich etwas Weißes hervor, einer menschlichen Gestalt ähnlich und unähnlich, mit einem Gesicht und doch auch nicht; alles schattenhaft. Ein zweites Scheinwesen erschien daneben, auch so unbestimmt. Zwei Geister, die sich offenbar sehr mangelhaft materialisiert hatten, mangelhafter als sonst: das erfuhr ich bald durch leise Worte der Gläubigen. Sie näherten sich auch nicht wie sonst, wenn kein Fremdling da war; sie gaben auch keinen Laut von sich. Mit enttäuschender, unzutraulicher Unbeweglichkeit blieben sie beim Vorhang stehn. Es währte nicht lange, so wichen sie wieder zurück und verschwanden.

[201] Bald rief man uns dann auf Englisch durchs Sprachrohr zu, wir möchten uns nur wieder regen, es geschehe nichts mehr. Es ward hell gemacht; wir gingen zum erwachenden Medium hinein, das nun »Kopfweh hatte«. Indessen ward er im Lauf des Abends ganz lebendig, lustig. Wir saßen nach dem Nachtmahl noch lange draußen, in der Sommernacht, in ernstem und heiterem Gespräch, von Geistern unbehelligt, lauter Erdenmenschen.

Am andern Morgen saßen wir uns gegenüber, Fürst Rudi und ich; unter vier Augen fragte er mich nun, wie mir nach diesem Abend zu Mut sei. »Lieber Freund,« sagte ich ungefähr, »wenn jetzt hier, am hellen Tag, zwischen uns beiden ein Tisch aus dem Boden stiege, so würd' ich mich nicht einen Augenblick weigern, zu sagen: das tue eine unbekannte Kraft; wenn Sie wollen, Geisterkraft. Und ich wäre schon glücklich, dadurch aus der unsichtbaren Welt etwas zu erfahren! Aber alles, was ich gestern abend erlebt habe, kann auch ein Jongleur, ein Taschenspieler machen.«

Das geistreiche Gesicht des Fürsten stimmte elegisch zu; ja, so sei es freilich. Es sei kein glücklicher Abend gewesen; sie hätten sonst so viel ergiebigere, bessere gehabt.

Ich reiste ab und habe keinen zweiten erlebt. Nach dieser Erfahrung war ich überzeugt, daß Bastian ein Gaukler sei.

Einige Jahre später ward eben derselbe Bastian – der verehrte Leser erinnert sich wohl – durch den österreichischen Kronprinzen Rudolf und den Erzherzog Johann in dessen Wohnung entlarvt; eine durch Schlosserhand [202] kunstreich hergerichtete Tür schlug überraschend plötzlich hinter ihm zu, als er zum »Geist« verhüllt, ohne Schuhe, aus dem Nebenraum hervorgetreten vor den Zuschauern stand. So zunichte geworden, ließ man ihn dann abziehn. Soviel ich weiß, ist er ganz verschollen.

Wie dieses Ereignis auf Fürst Rudi wirkte, hab' ich nicht erfahren; er war mittlerweile nach München gezogen und ich sah ihn nie mehr. Hat auch sein heller, seiner Geist sich über diese Entlarvung durch spitzfindige Theorie hinweggeholfen, wie es andre taten? Und ist er in festem Geisterglauben hoffnungsvoll gestorben?

Ich hab' seine Witwe nicht danach gefragt; ich werd's auch nicht tun. Wozu? War er für mich dadurch ein anderer geworden, daß er daran glaubte? Und wär' er nicht mehr Rudolf Liechtenstein, der hochsinnige, wahrheitsliebende, liebenswerte Mensch, wenn er etwa noch einen andern, mir ebenso fremden Glauben angenommen hätte? – Wer von uns ist wissend? – Muß drum jeder zweifeln?

[203]

Der Dichter als Ehestifter (1904)

Der Dichter als Ehestifter
(1904)

Laßt mich einmal großtun; oder nennt es lieber mit mir: ein höchstes Glück innig dankbar bekennen. Sophokles, Shakespeare, Goethe, ihr Göttlichen! in einem glaub' ich mich begnadeter als ihr. Das ward euch wohl nie, daß ihr zwei Menschen zusammendichtetet, die füreinander geschaffen waren und es sonst verfehlten.

Ja, so weit menschliches Ermessen reicht, sie hätten es wohl sonst verfehlt!

Ich ging über die alte Brücke zwischen den bayrischen Orten T. und E. (die Namen verschweig' oder verändere ich, aus äußeren Gründen; sonst ist alles wahr bis zum letzten Wort). Es war dunkler Abend; als einsamer Sommerfrischler war ich umhergewandert (1890) und wollte in meinen Gasthof zurück. Eine bekannte Stimme redete mich an, Graf Bernhard B. stand vor mir, mein sehr lieber Freund aus alten Zeiten. Er hatte jetzt in E. eine Villa gebaut, um seine kranke Frau drin gesund zu machen; sie hatte sich aber dort zum ewigen Schlaf gelegt. Als traurigsten aller Menschen sah ich ihn nun wieder. Mit ihm seine hochaufgeschossenen Kinder, Tochter und Sohn, und den mir fast noch unbekannten Doktor Ferdinand S., der den nun sechzehnjährigen Sohn unterrichtet hatte.

[204] Ich kam an einem der nächsten Tage in die Trauervilla; ich ward fast täglicher Gast; ich sah das tief rührende, beinahe genial zu nennende Zusammenleben dieser Familie, die, von noch frischem Schmerz erfüllt, von dem edlen Geist der Toten umschwebt und durchdrungen, doch in der gemeinsamen Liebe wie in einem verjüngenden Element sich badete, jeden Sonnenblick des Lebens miteinander fühlte, die Trauer in vornehmster Natürlichkeit hinter liebenswürdigster Heiterkeit verbarg. Es war ein rasches Verstehen zwischen ihnen und mir; ich konnte wohl nach wenigen Tagen für einen Freund des Hauses gelten. Zum Haus gehörte wie eine Mischung von Sohn und Bruder auch dieser Ferdinand S., der nicht nur den Sohn unterrichtet, der auch die Tochter gebildet, die Mutter gefördert, ja »auch den Vater erzogen« hatte, wie mir Graf Bernhard mit seinem grundehrlichen, weichen Lächeln sagte. Alle hingen an ihm. Es war selbstverständlich, daß er blieb, immer blieb, daß er die drei Verwaisten nicht verlassen konnte. Aus dem Lehrer und Erzieher war der Helfer, der Führer, derUnentbehrliche geworden. Diesen drei schön begabten Menschen war er mit seinem norddeutschen Verstand, seiner preußischen Charakterkraft, seiner schonungslos schneidigen Aufrichtigkeit der Stärkere, sozusagen der Herrschende, und mit seinem liebedurstigen Herzen gleichsam die Herdesflamme, an der sie sich wärmten.

So sah ich die vier Vereinten jetzt, so fand ich sie im nächsten Jahr in ihrer Villa wieder; denn es zog mich nun schon an einem goldenen Faden hin. Gräfin Berta, die nun einundzwanzigjährige Tochter, hatte von der Mutter eine außerordentliche musikalische Begabung, [205] aber auch vielartige geistige Bedürfnisse geerbt; nachdem sie vom Doktor Ferdinand S. Griechisch gelernt, mit ihm Philosophie studiert, ließ sie jetzt ihre Sprechstimme von ihm nach einer besonderen Methode bilden, da sie eine starke Sehnsucht nach der Bühne hatte. Wie hätte ich mich wundern dürfen, wenn ich zwischen diesen beiden Menschen eine wachsende Herzensneigung wahrgenommen hätte: so hochgestimmte Geister, so verwandtes Streben, tiefer Humor, vollkommene Ehrlichkeit, und die gleiche Liebeskraft. Nein, das war kein Wunder; das Wunder war nur, wie sich das begab. Das Schicksal hatte beiden große Gaben beschert, sie aber auch, auf verschiedene Weise, neurasthenisch gemacht; diese Krankhaftigkeit des Nervenlebens hatte bei der jungen Gräfin eine lieblich seelische Form gewonnen, die vielleicht nur durch noch unbekannte elementare Wirkungen zu erklären ist. Sie lebte gleichsam das Leben ihres Lehrers mit; sie fühlte wie mit hellseherischer Kraft, was in seinem Organismus vorging; ja sie fühlte auch, was erst vorgehen wollte, ihm selber noch unbewußt. Irgend eine Nervenpein, die plötzlich in ihm erwachte, hatte, wie ein werdendes Gewitter, ihr Inneres schon vorher verstört. So wundersam abhängig war sie auch nach und nach von seinem Fühlen und Denken geworden; sie, das sonst freieste, vorurteilsloseste, unabhängigste Wesen, von unerschrockenster Geisteskraft und tief in sich beruhendem, gern verschlossenem Gemüt, sie erschien fast wehrlos gegen die magische Gewalt, die aus seinem Ich auf sie überging. Etwas Erstaunlicheres hab' ich nie gesehn. Denke aber niemand, daß dies alles sich in einem bleichen Seelennebel oder in unheimlich [206] schwüler Krankenluft zutrug, wie etwa ein »Moderner« es schildern würde; es waren im tiefsten Grund urgesunde Menschen, lustige, duftige Humorblumen blühten um sie her, und mit der heitersten Tapferkeit gingen sie ihren von Rätseln umraunten, märchenhaften Dornenweg.

Was für Humore aus diesen Rätseln aufstiegen, zeige folgendes Scherzgedicht, das ich im Sommer des nächsten Jahres machte, als ich mit den Freunden in Tutzing am Starnberger See mich wieder zusammenfand und die beschriebenen »hellseherischen« Zustände zu ihrer üppigsten Blüte gediehen sah. In diesem »Lied des Doktors Ferdinand« parodierte ich zu gleich ein wenig seine kräftige, oft vollsaftige Redeweise:


Ich bin kein »unverstandener Mann«;
O je! mich versteht eine gut.
Die hat einen Nerv, der fühlt mir's an,
Was einer, den ich hab', tut.
Ein verfluchter Kerl; ich weiß nicht genau,
Wo sich der Racker versteckt;
Doch der Brudernerv in der lieben Frau,
Der hat ihn elektrisch entdeckt
Der Kerl ist mein Feind; ein fideles Haus:
Doch mein Elend ist sein Pläsier.
Wenn er schläft, ist's gut; wacht er auf, ist's aus;
Dann erschrickt schon der Bruder in ihr.
Dann erst? O mein! Wenn mein Kerl sich nur rührt,
Wenn der Hund nur, im Traum noch, sich reckt,
[207]
So hat's schon der Bruder, der zarte, verspürt
Und alle viere gestreckt.
Und sich streckend stößt er den Nachbar an,
So 'nen Hausknecht der lieben Frau;
Der zieht die Klingel zum Herzen an –
Man weiß die Geschicht' nicht genau –
Da wundert das Herz sich, gut wird ihm nicht;
Dumm ist's, weiß nicht, was es will,
Es klingelt hinauf zum lieben Gesicht –
Das steht auf einmal still.
Ich fühl' mich manchmal pumperlgesund;
Da bleibt ihr Gesichterl stehn.
Ui je! In einer Viertelstund'
Wie wird mir's da ergehn!

Indessen wie auch der Tröster Humor dies alles vergolden und verklären mochte, am Himmel stand doch immer das große, ernste Fragezeichen geschrieben: Wie wird das? Wie endet das? Wer die beiden sah, mußte sich wohl sagen, daß sie nicht nur so »elektrisch« verbunden waren; es erschien je länger je heller als ein Seelenbund, der, wenn es nicht zur Trennung kam, zur Erfüllung drängte. Oder waren die beiden so geschaffen oder durch die Macht der Zeit so gewöhnt, daß sie in dieser reichen, vergoldeten Halbheit, diesem zur Wirklichkeit gewordenen Märchen das Gefühl einer Ganzheit haben, ein resignierendes Genüge finden konnten? – In dem Tutzinger Sommer hatte sich der Gräfin Berta Nervenleben so hoch überreizt und gespannt, daß wir bange sorgten; Ferdinand S. war dagegen [208] in eine Senkung geraten, die ihm peinvoll zu schaffen machte, insbesondere ein Fuß war so erkrankt, daß ihm fast das Marschieren verging und die Gräfin als barmherzige Schwester mit ihm den Starnberger See befuhr, damit er sich wenigstens als Ruderer streckte und bewegte. Was tun wir mit der Berta, fragten wir uns, damit sie gesund wird? Was tun wir mit beiden, dachte ich, damit das Fragezeichen vom Himmel kommt? Ich konnte sie nicht ohne Bewegung sehn. Ich kannte kein zweites Paar wie dies, nichts ihm Ähnliches. Zusammenbestimmt und zusammengeschaffen wie nur irgend eines; aber fast durch alles getrennt, was unter den Menschen gilt. Sie aus altgräflichem Geschlecht von Vater und Mutter her, Österreicherin, katholisch; er ein Bürgerlicher, Preuße, Protestant, und durch seine Leiden vielleicht noch lange gehindert, seine Geistesgaben »praktisch« zu verwerten. Sollte es immer ein tragisch schönes Märchen, ein Geheimnis bleiben, von dem nur leise der Dichter singt?


Ein paar Bundesleut' kenn' ich,
Ihr Bund, der ist stumm;
Ihre Namen nicht nenn' ich,
Wozu auch? warum?
Was sie treibt, ist so eigen,
Aug' zu Aug' ohne Ruh,
Und doch darf sich's nicht zeigen –
Warum auch? wozu?
Förmlich Luftblasen treibt es,
Wie das Herz geht sein Schlag;
[209]
Und Geheimnis doch bleibt es
Am lichtesten Tag.
Wie der Herr ohne Fehle
Paradiesesrevier,
So die goldene Seele
Erschuf er in ihr.
In ihm lebt nun und webt sie
Wie die Goldfrucht am Baum;
Sein Erbeben durchbebt sie,
Was er fühlt, ist ihr Traum.
Wozu Wort noch und Tat ihm?
Was Bräut'gam und Braut?
Sie ward ihm, sie hat ihm,
Sie ist ihm vertraut.
Und auf wogender Welle
Sie rudern bei Nacht;
Die Sterne so helle,
Das Dunkel erwacht.
Droben brennen die Flammen,
Und so brennen sie hier,
Und sie schweigen zusammen –
Und was fraget denn ihr?

Ich kann nicht deutlich sagen, denn ich weiß es nicht, was mich trieb, diese Verse, die auch in Tutzing entstanden, dem Doktor Ferdinand in die Hand zu geben; vielleicht, weil ich ihm nur zeigen wollte, wie ich mit ihnen – schweigend – fühlte; vielleicht auch aus Sehnsucht, irgendwie zu erfahren, wie es in ihm aussah. [210] Er las das Gedicht, schien sich an der Form zu freuen, sagte mir dann lächelnd: »Aber Sie täuschen sich!« Damals nannten wir uns noch Sie. Als wir alle dann in meinem Gasthof, in unserm Saatwinkel, beim Essen saßen, zog er mit seinem ernsten Schalksgesicht das Blättchen hervor: »Padre!« sagte er (so nannten wir alle den Grafen Bernhard, den Vater), »ich hab' ein Gedicht gekriegt, das müssen Sie doch hören; es ist Melodie darin!« Und so las er's vor, mit gedämpfter Stimme; die anderen Gäste saßen fern. Der Padre hört schweigend zu; was der wohl dabei denkt? dachte ich; sein gutes, schönes Gesicht verriet nichts davon, so wenig wie der Charakterkopf des andern, der die Verse vorlas. Gräfin Berta, die wohl gerade in einem ihrer schwelenden oder ebbenden Dämmerzustände dasaß, schaut tief träumerisch auf. »Von wem ist denn da die Red'?« fragt sie, als es aus ist. Der ahnungslos unschuldige Ausdruck ihrer Züge und diese Worte überraschten, überfielen mich so, daß ich mich nicht halten konnte, der Humor des Augenblicks war zu groß; ich sprang auf, lief zum Klavier, das hinter mir stand, lehnte mich daran und lachte, bis ich mich freigelacht hatte.

Damit endete dies; von dem Gedicht sprach keiner mehr, nur der Graf als Kollege (er dichtet auch), wie es geformt und gemacht sei; ich reiste ab, und mit Gräfin Berta geschah, was auch ich gewünscht und geraten hatte: sie ging in eine vielgepriesene Nervenheilanstalt. Während sie dort mehr und mehr genas, der Padre und der Doktor in Stuttgart ihr verzweisamtes Leben führten, lag mir was auf der Brust; Kobolde [211] oder Musen oder Schicksalsgeister raunten mir ins Ohr (wie ich's später in einem Gedicht erzählt hab'):


Schreib ein Paar zusammen, das wir lieben,
Das des Lebens Erdenmächte trennen,
Das des Dichters Feder soll vereinen!
Freie Geister, kühn in Wolkenhöhe
Über der Erde Maulwurfshügel schreitend,
Starke Seelen, gotterfüllte, glorreich
Mit der Schwäche ihrer Hüllen kämpfend,
Reine Herzen, nicht zum Tändeln, Liebeln,
Doch zur höchsten Liebeskraft geschaffen.
Doch es scheiden sie die Maulwurfshügel
Und die Mauern der versteinten Menschen
Und der Mauern Schatten tief im Herzen.
Nimm die Feder, tauche sie in Liebe,
Ahnung, Wagmut, schreib sie uns zusammen!

Ich schrieb einen Roman – den ich hier nicht nenne. Ich schilderte darin neben andern auch die vier Menschen aus der Villa in E.; ich gab ihnen zu ihrer eigenen Art und Verkettung andere Schicksale, die nach allerlei Herzensnot so endeten, wie die Natur und mein Herz es verlangten: mit seliger Vereinung. Ich wußte, während ich schrieb: dieser Roman kann nie erscheinen, wenn nicht auch die Urbilder so zusammenkommen! Doch wie ich ihn mutig hoffend hingeschrieben hatte, so schickte ich ihn nun geradeswegs an den einen, den er zunächst betraf, an Ferdinand S.; ungefähr mit den Worten: Sagen Sie mir, was Sie davon denken; er wird nur gedruckt werden, wenn Sie Ihr Ja und Amen sagen! – Ferdinand S. antwortete: »...Ihr Roman [212] kam heraus aus der Emballage, wie ein morgenfrisches Kind aus den blauseidenen Wiegenschnuren; so sauber, so zart, so empfindlich fast, als wäre nicht von – uns darin die Rede! Heute wird er sofort in Angriff genommen – wie ein fremdes Werk aus unbekannten Breitegraden, dessen Verfasser wir nicht kennen, dessen Inhalt uns nicht trifft. Niemand hat Anstoß an dem Stoff zu nehmen, und wenn er mit Hörnern und Zähnen auf uns losginge. Das Leben gehört dem Künstler. Jeder kann sich glücklich preisen, wenn er in dem ›farbigen Abglanz‹, den der Genius hinhaucht, seine eigene armselige Nase wiederfindet...«

Indessen bei der Lösung dieser Frage sollte noch ein großer Humor mitspielen, der aus des Doktors Elend hervorwuchs: seine Augen waren um diese Zeit die gequälten, er konnte nicht lesen, und das Buch, das nur für ihn bestimmt war, kam so in des Grafen, des Vaters Hand. Dem fraglichen Zukünftigen las Bertas Vater das von mir gedachte Schicksal vor! – Es dauerte eine gute Weile, der Roman, der auch von vielem andern handelt, ist lang, und der Graf konnte täglich nur zwei Stunden lesen. »Als es im Verlauf des Romans immer offenbarer wurde,« schrieb Ferdinand S. mir später, »wer X. und Y. waren, da waren wir ein jeder auf eigene Verantwortung aufs äußerste gespannt. Aber keiner wollte es dem andern zeigen – es erschien uns wie künstlerische und tatsächliche Undelikatheit. Aber wir fühlten beide, hier wird Schicksal gemacht! Wir wußten voneinander sehr gut Bescheid, und gerade das machte uns lampenfiebrig. Schließlich sprach Padre: ›Die entsprechenden Passus sollte man doch der Berta[213] schicken!‹ Die ›entsprechenden‹ – das war doch sein – und ich ›entsprach‹ sehr gern! – Noch wußten wir nicht, wie's endigte. Keiner blätterte nach hinten – jeden Abend wurde das Manuskript mit dem blauseidenen Band wieder zusammengebunden und nur die schon gelesenen Bogen wurden umgekehrt daraufgelegt. Padre besorgte alles selber mit peinlichster Genauigkeit. Dann schaute er mich an, als wollte er sagen: ›du, das ist plombiert!‹ und dann gingen wir spazieren! So lag das Manuskript tagelang auf meinem Diwan, ich ging alle Abend daneben zu Bett, und alle Abend schaute ich zum blauseidenen Band und fragte mich: ›Wie's dahinter wohl schließlich zugeht?‹ Einmal aber packte mich's, es schmiß mich ordentlich zum Bett hinaus, grad auf die Diwanecke los – in zwei Minuten war alles durchflogen – ich kroch atemlos ins Bett zurück und konnte nicht mehr einschlafen... Es stand fest, wie ein Evangelium, mit der Kraft eines neuen Glaubens: du wirst die Berta kriegen! So hatte ich's gelesen – es tanzte vor meinen Augen wie ein Götterspruch!

Am nächsten Morgen früh sagte ich: ›Padre, sie haben sich schon!‹ Padre, der langsame, schnellte sofort fröhlich in die Höhe: ›Is eh 's Gescheiteste!‹ – Dann kamen wir lesend zum Schluß – Padre wurde immer lustiger – und als der Dornenweg in den Rosenpfad mündete, sagte er: ›Ist doch ein großartiger Kerl, dieser Adolf! – Gleich der Berta abschreiben!‹«

Abschreiben, das erlaubten Doktor Ferdinands Augen. Die Gräfin antwortete sofort; aber nicht viel mehr als: »Vetter Adolf (so nannte sie mich damals) größter Menschenkenner!« In der ganzen Schlichtheit ihrer [214] großgestimmten Seele nahm sie diese Sendungen als Werbung und zugleich als Schicksal: ja, so soll's denn sein! In der Träumerin war die Heldin erwacht; sie ging auf die Reise, um sich da, wo noch etwa Widerstand zu erwarten war, bei der Mutter ihrer Mutter, den Gatten zu erkämpfen. Sie fand edles Verstehen, frommes Resignieren, liebevolles Helfen. Im März hatten sie den Roman gelesen, im Juni ward die Hochzeit gefeiert, die stille, schöne, ich mit dabei: sie zwangen mich, »die Vorsehung«, sie mit »einzusegnen«.

Nie ist mir etwas besser geglückt! Nie denk' ich mit reinerer Freude an irgendwas, das ich wollte und das ich vollbrachte. Was ich in meinem Trinkspruch beim Hochzeitsmahl vertrauensvoll gesagt: hier sind zwei zusammengekommen, die werden im echtesten Sinn der Ehe als Kameraden durchs Leben gehn! das hat sich nun schon länger als ein Jahrzehnt wunderbar bewährt. Die halb, aber doch nur halb überwundenen Leiden nun gemeinsam als »barmherzige Geschwister« tragend, sich gegenseitig die Augen leihend, wenn sie's brauchen, und den Humor zu jeder Zeit, haben sie sich ein ganz persönliches Wander-und Arbeitsleben geschaffen, an dem der Padre als dritter teilnimmt, so viel er will und vermag. Sie haben halb Europa und fast das ganze Mittelländische Meer bereist, aber nicht wie der geneigte Leser und ich: jede Reise wurde vorbereitet wie ein großer Feldzug, in winterlangen oder sommerlangen Studien lernten sie die Sprache des Landes, seine Geschichte, seine Kunst, seine Literatur, seine Gegenwart, alles gemeinsam. So haben sie, die schon gute Franzosen und Engländer waren, Italienisch, Holländisch, [215] Spanisch, Neugriechisch gelernt, in jeder dieser Sprachen reden sie mit den Landeskindern. Jetzt wollen sie ans Arabische gehn, da der schon betretene Orient sie weiter und weiter lockt.


»Ein paar Bundesleut' kenn' ich,
Ihr Bund, der ist stumm...«

Als mir diese Tutzinger Verse im letzten Winter wieder einmal vor Augen kamen, zugleich mit einer Fülle von Ansichtskarten, die mir die »Bundesleute« aus Ägypten schickten, da begann es in mir in demselben Versmaß zu denken, und dankbar glücklich summte ich's vor mich hin:


Auf dem Starnberger See
Ihr rudernden zwei!
Wie war euch so weh
Und so wohlig dabei.
Tief wohlig von innen,
Und ihr rein wie der Schnee;
Doch eu'r schweigendes Minnen
Dumpf hoffnungslos weh.
Nun zieht ihr Verbundnen
Von Meere zu Meer,
Ihr selig Gefundnen,
Wie Götter umher.
Ob Ebro und Jordan,
Ob Tiber und Nil,
Ob Elf auch und Fjord dann,
Ihr selbst euer Ziel!
[216]
Selbander zu wandern,
Die Welt euer Chor,
Und eines im andern
Zu wachsen empor;
Mit weltfrohen Händen
Zu greifen ihr Gold
Und in euch zu vollenden,
Was Gott hat gewollt!

Ihren elften Hochzeitsjahrestag feierten sie heuer bei mir; »Padre« war dabei, und meine Kinder, und drei meiner Nichten, die mein Leben mitleben und so auch diesen denkwürdigen »Fall«. In meiner dämmerigen Bücherei, die Tags das Licht einer »ewigen Lampe« erhellt, saßen und feierten wir bis tief in die Nacht; Goethe, Schiller, Shakespeare, aber auch Amor und Venus sahen auf uns nieder. Graf Bernhard, der glückliche Vater, zog ein Blatt hervor, auf dem er »Adolf den Stifter« angedichtet hatte; und sein Gedicht sagt alles so gut, es gibt so schön die Stimmung dieses Abends und den ganzen Inhalt dieses Schicksals wieder, daß ich es hier zum Abschluß niederschreibe, auf die Gefahr, dem und jenem für ruhmredig zu gelten.»Lebensvirtuos« werd' ich drin genannt. Ein guter Freund nennt mich so. Mögen mich zehn gute Feinde einen talentlosen Prahler nennen; dann ist's ausgeglichen!


»Im Glockenton die Schaumweingläser hallen,
Und Rosen blühen am Pokal empor,
Und Jubelrufe durcheinanderschallen:
Zwei Treuvermählten gilt der Freudenchor.
Elf Jahre sind's, daß sie selbander wallen,
[217]
Und lange Jahre harrten sie zuvor,
Bis es der Herrgott just so eingerichtet,
Wie Adolf Wilbrandt es ihm vorgedichtet!
Der fand die zwei auf Dornenwegen schreiten,
Die scheue Maid vor Sehnsucht schier vergehn,
Den starken Mann, verschwiegen ihr zur Seiten,
Zerquält von ungesprochnen Liebeswehn –
Da dacht' er: ich will's in die Wege leiten,
Daß die sich kriegen, die sich so verstehn!
Der Welt tät' er die Herzensmäre künden
Und ihren Schluß nach Dichterrecht erfinden.
Da sahn die beiden, wie sie's machen sollen,
Und fröhlich fängt ihr Weizen an zu blühn,
Sie finden sich vortrefflich in die Rollen,
Die zage Maid, wie wird sie löwenkühn!
Und sieh! sie brauchen kräftig nur zu wollen
Und siegen, wie sie wollen, ohne Mühn,
Ja, lachend bald erkennen sie's am Ziele:
Brautvater selbst war mit im Kuppelspiele!
Nie hat ein Paar sich richtiger gefunden,
Den Stifter braucht die Stiftung nicht zu reun;
Wir sehn die zwei, zu ernstem Tun verbunden,
Sich aller Schönheit schwelgerisch erfreun,
Sie sammeln Schätze auf zu allen Stunden,
Die Tag für Tag sich mehren und erneun,
Und daß ihr Horizont sich nie verkleinert,
Wird wanderselig durch die Welt zigeunert. –
Mein Adolf! Schicksal in die Dichtung fassen
Ist der Poeten Brauch und schönes Los,
[218]
Doch eine Dichtung Schicksal machen lassen,
Gelang nur dir, du Lebensvirtuos!
Galt's nur zwei Hälften aneinanderpassen,
Die gibt's gar viel – die Kunst wär' nicht so groß.
Du ließest uns – was selten ist auf Erden –
Zwei Ganze hier zu einem Ganzen werden!
Und mehr noch tatest du in diesen Tagen,
Da du so kühn den Zauberstab geschwenkt:
Du hast auch mich, den schweres Leid geschlagen,
Mit zarter Hand vom Dornenweg gelenkt.
Verklärter Schmerz hört auf, als Wurm zu nagen,
Der Meinen Glück, es ward auch mir geschenkt.
So sei der Dank dir dreifach heut verkündet:
Dem Dichter Heil, der so viel Heil gegründet!«
Ich bitte, gönnt mir dieses Glück!
[219]

Franz von Lenbach (1903)

Franz von Lenbach
(1903 1)

Blitze aus heiterem Himmel – es gibt dergleichen, sagt man ja; ich hab' noch keinen gesehn. Mir war aber, als säh' ich einen, als ich im Oktober des vergangenen Jahres hörte: Lenbach schwer erkrankt! Lenbach der Urgesunde, der fast Unermüdliche, Unerschöpfliche; noch vor ein paar Jahren hatte ich ihn in all seiner Jugendkraft und Lebensfrische angestaunt. Und nun legte die große Gefahr ihre Hand auf ihn... Hatte er sich zu sehr mißbraucht? im Feuereifer des Schaffens zu sehr auf seine Stärke gepocht? – Geschont hatte er sich wohl nie. Zweimal schon war ihm die große Gefahr auf den Leib gerückt, zweimal hatte er ihr den Herrn gezeigt; zuerst mit neunzehn Jahren, als er ein schweres Siechtum durch eine schneidige Milchkur überwand: viele Monate hatte er fast von Milch gelebt. Dann in den Zeiten der Reise, als er sich eine Blutvergiftung am Finger zugezogen hatte, die weiter und weiter griff. Wochenlang kämpfte er auf Leben und Tod; endlich siegte er über die feindlichen Bakterien wie Hannibal über die Römer bei Cannä. Darauf war er wieder so gesund wie je.

[220] So hat er, wie es scheint, auch diesmal gesiegt; langsamer als damals – der Feinde waren wohl mehr – aber zu ebensolcher Auferstehung, hoff' ich. Möchte dieser Ostergruß, der seinen geliebten Namen trägt, ihn in voller und reiner Freude der Genesung finden! Möchten wieder so wolkenlose Jahre der Lebensfreude und Schaffenslust folgen; nur ein wenig durch – Mäßigung und Schonung verklärt, durch die Weisheit des Geprüften, der am Abgrund vorüberging.

Meine Freundschaft mit Franz Lenbach wird im Jahr 1904 vierzig Jahre alt; sie erblühte in Rom, in zwei Frühlingen und einem Winter. Wir waren beide noch Werdende; das verbindet gut. Am letzten April 1864 kam ich angefahren, um mit dem jungen Maler Hans Kugler, meinem besten Freund, zusammenzuwohnen und mit einem Häuflein von Malern zu leben: neben Kugler Lenbach, Ludwig von Hagn, Hans von Marees, Fitger, Füßli, Penther, Metzner und andere; dazu Böcklin, der damals wieder in Rom hauste, Familienvater, ungefähr zehn Jahre älter als wir, seine Wege gehend, aber oft und gern mit uns. Es war noch die Zeit, da man als andächtiger Pilger zum Schönen und Großen in das »gelobte Land« Italien kam und zumal nach Rom; ist das nun für immer vorbei? Oder kommt es wieder? Man zog noch zur »ewigen Stadt« wie zur unvergleichlichen, einzigen, die Dichter wie die Maler; man suchte in Rom und seinen Ruinen die erhabene Poesie der Geschichte, in den Sammlungen die ideale Schönheit der Antike und die Herrlichkeit der Renaissance, in der Landschaft die stille Größe vornehmster Natur. Wir waren sehr verschiedene Menschen, aber [221] in diesem Grundgefühl einig; wir sammelten uns bald so, bald so, wenige oder viele, meist wie es der Zufall gab; unter lauter Künstlern ich der einzige Mann von der Feder, der sehen lernen wollte wie sie. Hatten wir in den Mauern der Stadt die Werke der Menschen studiert, so zogen wir irgendwo vors Tor hinaus, uns in die Natur zu vertiefen; gleich am Anfang meiner Erinnerungen steht so ein allerschönster Tag, in dem mir vor allen Franz Lenbach lebt. Am ersten Sonntag im Mai fuhren wir im Omnibus nach Ponte Molle hinaus, Böcklin, Kugler, Lenbach, Hagn, Fitger und ich; dann schlenderten wir am Tiber aufwärts nach Aqua Acetosa, dem alten Sauerbrunnen in klassischer Einsamkeit. Feierliche Stille um uns her; feierlich sank der schöne Tag. Die lange Kette des Gebirges in der Ferne, die sonnig glühende Öde der fast kahlen Täler und Hügel um uns her, alles war von diesem Duft der Größe, derHoheit umhaucht, für den es keine Worte gibt. »Über der römischen Campagna fliegen selbst dieKraniche anders,« sagte mir einmal Donna Laura Minghetti, die Witwe des italienischen Premierministers und Kunstgelehrten; wer dieses Land wirklich mit der Seele gesehen hat, der weiß, was sie meinte. Der stille Himmel über uns, in dem reinen Licht, die wunderbar ernste blaue Ferne, die singenden Vögel und Grillen, das weite, leere, tote Land – und doch keine Melancholie, die das Herz bedrückte – nur ein tiefes, dunkel gefärbt glückliches, ins Erhabene gestimmtes Gefühl.

Wir wanderten umher; in der Nähe war ein bewaldeter Fels von sonderbarem Gefüge, in dem Böcklin[222] einen versteinerten Wald erkennen wollte; wir forschten lange an ihm herum, bis Hans Kugler, der ehemalige Naturforscher, entdeckte, es müßten versteinerteKorallen sein. Dann wurden einige, darunter Lenbach, durch den einsamen Tiber zum Baden gelockt; die nackten Gestalten ragten aus dem Wasser, vom Abendlicht herrlich angeglüht, von uns wie immer mit Eifer studiert. Mir ist fast, als säh' ich ihn noch, den Franz, den breitschultrigen, schmalhüsligen, schlanken, den »bauchlosen Ägypter«, wie wir ihn dann nannten; ganz verdient er diesen Namen nicht mehr. Allmählich verließ ihn das Feierliche, das uns eine Weile überromeri hatte; eine bacchantische, bayrisch-griechische Lustigkeit brach aus ihm hervor, er rannte wie ein Faun über den gelben, geborstenen Boden hin, warf seine Humore in die Luft. Das losgelassene Naturkind in ihm riß uns andere mit. Damals erlebte ich wohl zum erstenmal seinen ganzen Men schen, wie er sich zur Welt verhielt: zuerst von einer großen Erscheinung stark gepackt, tief erfüllt, dann die zum Sehen geschaffenen Augen mit berufsmäßigem Ernst und Eifer spannend, dann frisch in einen Genuß hineintauchend, zuletzt mit ansteckender Satyrfröhlichkeit seine unzerreißbare Fahne schwenkend, den göttlichen Humor, der ihm noch jedes Erdenleid unter die Füße zwang.

Im Spätherbst 1863 war Lenbach nach Rom gekommen, um für die noch junge Galerie des Barons (später Grafen) Schack italienische und spanische Bilder zu kopieren, mit einer Meisterschaft und Vollendung, die man wohl immer bewundern wird. Er gehörte seinem Mäcen für das ganze Jahr gegen einen mäßigen Lohn; [223] ihm genügte er, seine Bedürfnisse waren gering, und in Rom zu leben, die großen Meister sorgenfrei zu studieren war ihm Glücksgut genug. Das Schicksal hatte ihn nicht verwöhnt; in einem winzigen Städtchen aufgewachsen (das er uns mit genialer Heiterkeit beschrieb), eines begabten, aber mit Kindern überreich gesegneten Maurermeisters Sohn, war er »auf nackten Füßen herumgelaufen«, wie er gern erzählte, und noch als erwachsener Bursch im stande, neun Meilen von Schrobenhausen bis München barfuß zu marschieren. So trug er denn auch sonst eine feste Haut, die sich vor keinem Unwetter des Lebens scheute, und brauchte nicht viel mehr, als zum Existieren nötig ist. Aus der Schule brachte er wenig mit; aber wie Fortunatus den Glückssäckel hatte, aus dem er seine leeren Taschen nach Bedürfnis füllte, so besaß der noch beglücktere Schrobenhäuser Franzl die Zaubergabe, in der Schule der Welt alles einzusaugen, was seinem Schulsack fehlte, und einer von den Bestunterrichteten zu werden, die durch alle Klassen gegangen sind.

Böcklin, mit dem ich viel verkehrte (er malte mich auch in ein Bild hinein, als Petrarca, der sinnend oder lesend im Gras liegt), Böcklin war damals noch mehr als sonst ein Suchender, Tastender; er ging mit all seinem technischen Spürsinn der Malweise der alten Griechen nach, er predigte mir die Vorzüge der Leimfarben- und Wachsmalerei vor dem Ölmalen. Mit seinem selbsterfundenen Luftballon hatte er sich mit Ehren, wenn auch ohne den geträumten Sieg vor dem päpstlichen Kriegsministerium gezeigt: denn damals lebte noch der verkleinerte, von den Rothosen beschützte Kirchenstaat. [224] Als alter Römer schüttelte Böcklin sein mißvergnügtes Haupt, daß wir unsere Nahrung beim Carlin, im Genio und in ähnlichen halbechten, stimmungslosen Kneipen suchten; er strebte immer in urrömische Osterien, zu den feurigsten, verborgensten Weinen. Lenbach lag mehr daran, sich durch leidlich gute Kost am Leben zu erhalten (wir andern dachten ebenso) und, wenn auch zwischen modernen und unschönen Tapeten, in leidlich guter Luft ein geselliger Mensch zu sein. Zuletzt war ihm doch der Mensch die Welt! So hat er denn auch seit damals bis heute mit unzähligen Menschen aller Stände und aller Völker gelebt, obwohl er nie eine fremde Sprache wirklich sprechen lernte. Das Italienische, wenngleich er so lange in Italien lebte, blieb ihm lange fremd; unter uns bildete sich die Legende, er habe zuerst, als einsamer Spatz, wochenlang nur von Manzo (Rindfleisch) und Risotto gelebt, da er den Kellnern nichts anderes zu nennen wußte. Dann habe er aber ein drittes Wort gelernt, das rettendeAnche: auch. Sobald sich ein Welscher etwas bestellte, deutete Lenbach mit dem Finger hin und sagteAnche dazu. Davon lebte er, sagt die Legende, viele Wochen lang.

Noch 1874, als wir, meine Frau und ich, in Tegernsee mit der Gräfin Marie Dönhoff – jetzt Gräfin Bülow – und ihrer Mutter, der Donna Laura Minghetti, viel zusammen waren, Lenbach zuweilen von München zum Besuch hinauskam, war seine Unterhaltung mit der Minghetti, die nicht Deutsch konnte, auf wenige Worte beschränkt. In ihrer heiter dramatischen Lebendigkeit schilderte sie uns, wie sie an schönen Abenden am Ufer des Tegernsees gestanden und sich gemeinsam [225] an den Reizen der Landschaft berauscht hätten; molto bello! warf Lenbach hin, oder: molto interessante! Sie aber gab die beiden Worte dazu, die er sie gelehrt hatte: »malerisch« und »stimmungsvoll«. Doch nahm er damals einen großen Anlauf, sich des Welschen zu bemächtigen; er brachte ein Buch aus München mit, das halb Grammatik, halb Lesebuch war, und in einsamen halben Stunden irgendwo hingelagert studierte er darin. Indessen erzählte die Gräfin einmal, sie habe ihn überrascht, wie er nur die längeren Geschichten am Ende des Buchs, und zwar nur die in deutscher Sprache, gelesen habe, »um zu sehen (wie sie behauptete), ob sie sich kriegen«.

Später haben sie sich wohl wirklich gekriegt, nämlich die italienische Sprache und er; es gelang ihm – so hab' ich gehört – sich in lapidaren Sätzen kühn und groß zu unterhalten. Von den andern Sprachen blieb er frei. Als ich ihn einmal in München besuchte und nach alter Gewohnheit und Lust seinem Malen zusah, und der Diener ein Telegramm brachte, das er öffnete: »Bitte,« sagte er, »verdeutsch mir, was darin steht.« Es war eine Depesche in französischer Sprache; ein junger Gesandtschaftssekretär oder Attaché, von Madrid kommend, wenn ich nicht irre, meldete sich an und freute sich, wieder ein paar Stunden mit seinem lieben Lenbach zu verleben. »In welcher Sprache verlebt ihr die?« fragte ich. »Ja, weißt,« erwiderte Lenbach, mir durch die großen Brillengläser mit seinem humorvollen Ernst in die Augen blickend, »er kann kein Deutsch und ich kein Französisch. Wir kennen uns halt von Madrid.«

Diese Geschichte sagt mehr von ihm als ein halbes[226] Buch. Ich denke, es hat sich wohl meist ein dritter gefunden, der ein wenig dolmetschte. Aber was für eine Magie des Ich steckte in dem Schrobenhäuser Maurerssohn, der die Menschen so an sich zog, als »Lied ohne Worte«!

So genial unbefangen ging er durch die Welt; auf den großen Routs der Vornehmen in Rom, in Madrid wanderte er umher, in allen europäischen Sprachen schweigend, um die schönen Aristokratinnen mit seinen durstigen Maleraugen lernend anzustaunen. Bis endlich die Zeit kam, wo er, der Gefeierte und in Gold Getauchte, selber solche Feste gab: im Palazzo Borghese zu Rom, in dem er ein Stockwerk, sieben Riesensäle, gemietet hatte, drei, vier Jahre lang. Eine märchenhafte Laune, die dann wie ähnliche Seifenblasen der Künstlerphantasie verging. 1886, als ich ihn dort, vom Süden kommend, besuchte, war's das letzte Jahr; er führte mich auf die Terrasse, von der man zu den Prati di Castello neben der Engelsburg hinüberblickte, auf denen ein schonungslos modern häßlicher neuer Stadtteil in den römischen Himmel wuchs. »Schau,« sagte er, »jetzt is's aus. Das da kann ich nimmer sehn!«

Inzwischen hatte er längst seinen Beruf gefunden und sich darin zum Meister gemacht: den Menschen in seiner individuellen Einzigkeit darzustellen, nicht wie Dürer oder Holbein »objektiv« getreu, sondern mit bewußt und frei subjektivem Empfinden, das aber tief und immer tiefer in diese individuelle Einzigkeit einzudringen sucht. Alles andere hatte er nach und nach aufgegeben; zuerst wohl den Landschafter, der immer nur die Nebenrolle gespielt hatte Sein Natursinn ist zwar nicht [227] gering; er kam überall zum Aufleuchten, wo die Natur groß oder vornehm ist: Rom, Campagna, Portovenere, Neapel, Capri, Granada, Athen. Aber er erschöpft sich bald; wie 1881 am Golf von Neapel, als ich mit ihm und seinem Reisegefährten Günther die verborgensten, unbekanntesten Reize des Posilipp durchwandert und er sich mit großen Augen redlich gewundert hatte; nun schlenderten wir nach der Stadt zurück, der Vesuv lag vor uns, wir andern singen an, uns in seine besonders schöne Beleuchtung zu vertiefen. Lenbach aber hatte genug; »laßt's mich aus mit dem faden Wésuss!« sagte er, den Feuerspeier gut bayrisch auf der ersten Silbe betonend. Auch komponierte Bilder hatte er, dem die Phantasie keine zuführte, bald für immer abgetan; nur der Mensch, der einzelne, blieb. Auch dieganzen Figuren schwanden mehr und mehr; selbst die Hände verloren ihren Wert für ihn, er zog sich auf die Krone und den Gipfel des Organismus, auf den Kopf, zurück. Ja es kam eine Zeit, wo er nur noch das Fenster der Seele, das Auge, für das Malenswerte hielt; eine theoretische Übertreibung, die wohl aus dem Gefühl seiner wunderbaren Stärke als Augenmaler floß und bald zu anderen Übertreibungen in den Orkus ging.

In dieser Selbstbegrenzung zum Bildnismaler stieg er allmählich zur Meisterschaft auf; rastlos und tiefbescheiden von den Alten lernend, unermüdlich in das Lebendige eindringend, gewann er diese Schärfe und Tiefe des Blicks, die ihn über alle andern hob. Sein Auge sieht durch und durch; man sieht ihm auch an, daß es so sieht. Schon in meinem zweiten römischen Frühling, 1865, lernt' ich ihn so kennen; er malte mich, [228] zum erstenmal; später hat er mich noch in Wien, zuletzt in München gemalt Wir saßen drei, vier Stunden lang, einmal sogar fünf, ich bin ein ausdauernder Stillfitzer, und dieses Talent beutete er mit wahrem Bienenfleiß aus. Endlich dämmerte es; zuletzt ward es Nacht. Ich übertreibe nicht: ich sah fast nur noch seine glühenden Augen, die mich noch immer verzehrten. »Lenbach,« sagte ich, »jetzt wirst du mir allmählich unsichtbar. Daraus schließ' ich, daß dir's mit mir ebenso geht.«

Er schüttelte den Kopf. »Jetzt, jetzt ist's schön. Die Beleuchtung ist wunderbar. Oder kannst nicht mehr?«

»Doch, ich kann noch gut. Aber was siehst du denn noch?«

»Grad das Allerbeste. Famos. Jetzt! Jetzt!«

Die spähenden, bohrenden, saugenden Augen, ich seh' sie noch heute. So schaut nur ein halbverhungerter Tiger oder ein werdender großer Bildnismaler. Ein- oder zweimal ward's »noch schöner«. Dann war endlich volle Nacht und wir hörten auf.

Später, bei jedem Wiedersehen, in München, Wien, Berlin oder wo sonst, fühlte ich, wie mich seine Augen nahmen und in seine innere Abteilung für »Malen ohne Pinsel« schoben. Plaudernd, scherzend, zuhörend ging er mit den Beinen oder nur mit den Augen um mich herum, drehte mir einmal den Kopf, stellte mich in irgend ein anderes Licht. So hat er's wohl mit jedem gemacht. Doch das tun auch andere; sie haben aber dieses tiefe, seelenergründende Schauen nicht. Wie oft hab' ich empfunden: andere Maler, auch gewandteste, gesuchteste, malen Köpfe hin, durch die man nach einer Weile gleichsam hindurchsieht, wie durch Schatten [229] der Unterwelt, die zwar soeben etwas Blut getrunken haben, Schatten bleiben sie aber doch. Lenbachs Köpfe halten stand; sie haben Leib und Seele, sie leben.

Dazu nun seine erstaunliche Begabung, mit Menschen zu verkehren, sie rasch zu gewinnen, durch sei nen immer bereiten Mutterwitz, seine vollkommene Natürlichkeit, seinen unwiderstehlich gemütlichen Humor sie an sich zu fesseln; so daß sein Malerauge studieren kann, so viel es will. Dieser Handwerkerssohn hat fast ebensoviel mit den sogenannten Großen der Erde gelebt wie ein Hochgeborener. Es war ihm ebenso natürlich und selbstverständlich, sich in die Vornehmen und Vornehmsten mit geschmeidigen Instinkten hineinzufühlen, wie vor ihnen sein Ich zu behaupten und er selbst zu bleiben. Nie gab er den Schrobenhäuser Franzl auf; auch seine kräftigen Schimpf- und Zornworte nicht. Ich weiß, daß ihn einmal zwei ihm befreundete Edelfrauen zu einem traulichen Gespräch beiseite nahmen: was für ein lieber Mensch er sei – nur die eine Gewohnheit, im Unwillen mit Tiernamen um sich zu werfen – ob er von der nicht lassen könne. Es waren Damen, die er hoch verehrte. Ich erinnere mich nicht mehr, ob er's versprochen hat; jedenfalls hatte er zu viel Charakterstärke, um es zu halten.

Lange Zeiten hab' ich mit ihm in München, dann in Wien gelebt, wo er zuerst in eigener, kleiner Wohnung, später bei Makart malte, als Gast in dem Vorderraum seines Ateliers. Ihm war leicht gebettet, er fand sich in alles; auch von sich selber hätt' er wohl sagen können, was er mir einmal von Makart sagte: »Weißt, wenn dem sein Haus und sein Atelier[230] abbrennt und man stellt ihm einen großen Käfig in den Garten und Staffelei und Leinwand und alles dazu, so geht er in den Käfig hinein und malt ruhig weiter.« Nur war Lenbach nicht so erhaben gleichgültig gegen äußere gesellschaftliche Pflichten wie Makart, der zum Beispiel nie eine Briefzeile schrieb; das mußten für ihn andere tun. Einmal bemühte sich Lenbach, der wieder in München war, ihm die Antwort auf eine Frage so leicht wie nur irgend möglich zu machen: in den Brief, der seine Frage enthielt, legte er eine schon ausgefüllte Postkarte ein, mit Aufschrift und Antwort; nur ein »Ja« oder »Nein« war noch hinzuzuschreiben, und bei der Unterschrift »dein dich liebender Ma« fehlte aus Spaß die letzte Silbe: »kart«. Der Liebe Mühe war umsonst: die Postkarte kam nie zurück.

Lenbach ist umgekehrt ein großer Briefschreiber vor dem Herrn; einen gewissenhafteren kenn' ich nicht. Auch die Pflichten der Geselligkeit pflegte er mit Hingebung zu erfüllen; nur wenn sie ihm so über den Kopf wachsen wollten wie in jenen Wiener Zeiten, half er sich durch Ausbleiben, Nichtworthalten. Er hatte darin zuletzt eine Größe erlangt, die mir imponierte und noch mehr gefiel, denn sie rettete ihm seine Zeit. Nur einmal kam es, daß er wieder schwach werden und eine Zusage halten wollte; da half ich ihm als guter Freund. »Lenbacchio,« sagt' ich ihm, »schau, du hast dir eine so schöne Stellung gemacht: in Wien weiß nun jeder, Lenbach ist der Ausbleiber, er kommt nicht, er tut's halt nicht. Gehst du heut abend hin, so ist alles wieder verspielt; sie glauben nicht mehr an dich, du sinkst in die alte Nichtigkeit des Worthalters zurück!« Er sah es ein und blieb sich treu.

[231] Ihm blieben wieder die Menschen treu; diese seine magische Kraft hat ihn nie verlassen. Mir erscheint es wie eine geniale Veranstaltung der Natur, daß sie diesem »Malersmann«, den sie durchaus zum Bildnismaler schuf, diese Sammlung von Eigenschaften gab, durch die er seine Objekte an sich zieht; wie wenn in ihm zwei Brüder oder Kameraden wären, der eine, der die Menschen heranlockt, der andre, der sie dann malt. So hat er uns, außer ungezählten reizenden Frauen, Kindern, Charakterköpfen, eine Galerie hervorragender Menschen unsrer Zeit gegeben, wie sie noch nie ein Maler gab. Unser Gewinn ist so groß wie sein Glück. Und sein größtes Glück war auch unser höchster Gewinn: daß er sich Bismarck eroberte, seinen Kopf, sein Herz und sein Haus. Wie untrennbar sie uns nun sind, der Staatsmann und der Maler, brauch' ich nicht zu sagen. Wohl noch nie hat ein Bayer so an einem Preußen gehangen, wie Franz Lenbach an Bismarck; aber auch das »große Ungeheuer«, wie Lenbachs ehrfürchtige Liebe ihn gerne nannte, hat den Natursohn liebgehabt. Der altmärkische und der altbayrische Humor hatten sich gefunden; so auch die Herrscheraugen und die Künstleraugen.

Zu Lenbachs Glück gehört auch seine Leichtigkeit des Schaffens; sie hat ihn so bewundernswürdig fruchtbar gemacht. Wie gewaltig darin seine Entwicklung war, hab' ich an mir selbst erlebt: als er mich 1865 in Rom malte, all die drei, vier, fünf Stunden, und vorher all das Probieren und Suchen; als ich ihm 1899 in München saß, hörte ich seinem sinnigen Plaudern zu, gab dann und wann ein Wort dazwischen; nach einer Stunde stand er auf, für jetzt abzubrechen: [232] das Bild war fast fertig. Er hat am andren Tag noch eine Stunde »gefeilt«, vertieft, dann noch hie und da ein paar Striche gemacht. Es war eben das »Einsaugen« vorausgegangen, mein Kopf war in seinem Kopf.

Auch sonst ward ihm viel Glück zu teil. Persönlich immer genügsam geblieben, hat er sein Künstlerherz befriedigen, sein Verlangen nach Schönheit, Farbenfülle, Harmonie um ihn her erfüllen können; seine Seele lebt »im großen Stil«. Wer mit ihm in seiner Villa, dem Doppelhaus an der Münchener Luisenstraße, als sein Gast gewohnt hat; wer auf der Terrasse des Nebenhauses in milden Mondnächten den marmorbleichen Propyläen gegenübergesessen, sich wie in einem hingezauberten Italien gefühlt hat, auf das Rauschen und Raunen seines alten Brunnens horchend: der hat auch wohl tief das Märchen seines Lebens empfunden, das aus dem Schrobenhauser »Sperlingsnest« in diesen Adlerhorst führte.

Aber wie verdient er sein Glück! Dieser Sohn des Volkes hat ein königliches Herz. An Menschen wie an Sachen gibt er die vielen Tausende hin. Für edle Kunstzwecke, an die er sich so gern mit fast fanatischer Liebe hängt, opfert er noch mehr als sein Geld: seine Zeit. Damit ich nicht »Schenkteufel« sage: es ist ein Schenkdämon in ihm. Mitgefühl mit Menschen und Tieren hat er wie irgend ein Mensch; und doch geht er so hoch seinen großen Weg.

Ich glaub', er hat keinen seiner Freunde geschont, wenn einmal ein guter Witz, ein bitzelnder Humor mit Macht aus ihm heraus wollte; aber er ist einer der treuesten Freunde, die ich kenne.

[233] Wär' er nur auch genug spazieren gegangen! Hätt' er nicht ewig dem Drang zur Arbeit – der wohl mit den Jahren wuchs und wuchs – hätt' er auch dem leisen Willen der Natur gehorcht! Sie flüstert, aber man kann's doch hören: »Nichts zu sehr!« Wie gut wär's gewesen, wenn er ein wenig von jenem kleinen Maler aus Berlin gehabt hätte, der kleine, seltene Bilder malte, weil er das Faulenzen vorzog; und der einmal in der römischen Campagna auf dem Bäuchlein lag und sich im Nichtstun übte, während neben ihm Karl Piloty, der Rastlose, Trümmer von Grabmälern oder Aquädukten malte. Zuletzt ward Piloty ungeduldig: »Aber lieber X., ich begreif' Sie nicht. Den ganzen Morgen so dazuliegen! Arbeiten ist doch einVergnügen!« – Der andere hob den Kopf ein wenig: »Man muß sich auch ein Verjnügen versagen können.«

O Franz, hättst du das auch getan! Die Natur hat uns nicht nur Menschen, Leinwand, Pinsel, sie hat uns auch Berge, Wiesen, Sommerfrischen gegeben. Du aber hast so vieles gelernt, nur das Faulenzen nicht.

Jetzt haben sie dich endlich gezwungen: du sollst; du mußt. O lern es noch! Sie haben dir eine Weile den Pinsel aus der Hand genommen, dich aus deiner Villa aus blaue Meer, aus der Werkstatt ins süße Elend des Nichtstuns geschickt. Es scheint, sie wollen dich jungen Alten noch weise machen.

Nun, so tu ihnen den Gefallen! Warum nicht. Und von tausend und hunderttausend Segenswünschen geleitet, kehr dann neu verjüngt in deine Heimat: Lenbachs Atelier, zurück!

[234]

Beim Fürsten Bismarck in Friedrichsruh (1895)

Beim Fürsten Bismarck in Friedrichsruh
(1895 2)

In diesen Tagen, wo alle Erinnerungen an den großen Einsiedler von Friedrichsruh erwachen, stehen auch die meinen auf; ja Ihre freundliche Stimme lockt sie, an das Licht zu treten. Zweifelnd frag' ich mich freilich: sind sie dessen wert? Vier Jahre sind sie schon alt; zwar noch nicht getrübt; vielmehr wunderbar lebendig für einen wie ich, der so vieles vergißt.Nur einmal war ich in Friedrichsruh; nur am Winterabend, aus der Nacht in das helle Schloß hinein und wieder in die Nacht hinaus. Kaum wüßt' ich zu sagen, wie das Haus auf der Erde steht. Bis auf diesen Tag kam ich nicht wieder hin; der freundlichen Einladung des Fürsten zu folgen hinderte mich bald dies, bald das, wie das Leben schon ist. Werden Ihre Leser wirklich gerne hören, wie ich vor vier Jahren vier Stunden in Bismarcks Hause verlebte?

Wenn ich die zögernde Feder doch eintauche, so tu' ich es mit einem Hintergedanken, den ich Ihnen preisgebe: mit dem tiefen Verlangen, nach alter deutscher Art mich zu meinem Helden als sein »Mann« zu bekennen. [235] Als ich mit Freund Lenbach, dem ständigen Weihnachtsgast von Friedrichsruh, die Verabredung traf, ihn dort zu besuchen und auf diese oder jene Weise auch den Fürsten Bismarck zu sehen, trieb mich natürlich auch die »Neugier«, des Dichters wie des Menschen; mehr aber ein Gefühl der Zugehörigkeit, das schwer auszudrücken ist. In einem Brief, den ich einige Tage nach meinem Besuch an den Fürsten schrieb, hab' ich es zu sagen versucht: »Ich würde mich falsch bezeichnen, wenn ich mich nur einen Ihrer feurigsten Verehrer und Bewunderer nennen würde: ich gehöre zu den nicht sehr häufigen (und zum Aussterben vorgemerkten) Menschen, denen Sie recht eigentlich das Glück des Daseins erst ermöglicht haben. In den Jahren meiner Jugendkraft gemartert und gefoltert durch die Zerrissenheit unseres Volks, die Posse des deutschen Bundes, die Schmach unseres ganzen Zustands, die Ohnmacht des einzelnen, den halberstickte Tränen des Grimms und der Scham nicht befreien konnten – in diesem verzehrenden Elend erlebte ich in Ihnen den Befreier, den Erretter, der mich selig machte, vor dessen Größe ich mich mit Gefühlen der Dankbarkeit beuge, die kein Wort umfaßt...«

So kam denn der ersehnte Tag, an dem ich zu diesem »Erretter«« pilgern sollte; ich mit meinem Sohn, dem fünfzehnjährigen, von Begeisterung und Verehrung durchglühten; nur ein steinernes Vaterherz hätte ihm versagen können, auf der Pilgerfahrt mitzuziehn. Es war eine grimmig kalte Zeit, Ende 1890; als wir am Morgen des 30. Dezember durch die Straßen von Hamburg und zum Hafen gingen, blies ein schneidiger, hautzerbeißender [236] Nordost bei 15 Grad Reaumur unter Null; auf der Elbe krachte das zertrümmerte, zerkrümelte Eis, in dem die unzähligen kleinen Dampfer rastlos hin und her fuhren, die neblige Luft mit ungeheuren Dampfwolken erfüllend. Wir wanderten im neuen Freihafengebiet, wo sich das Ameisenleben wie im Sommer rührte; eine neue Welt, auch sie einer von den steingewordenen Gedanken unsres Reichsbegründers, dessen vorwärtsdrängende Zähigkeit nicht ermüdete, bis sie die Zähigkeit der Bequemen und der Ewigbesserwisser überwand.... Der Mittag kam, und mit ihm Freund Lenbach; er wollte einige Stunden mit uns in Hamburg verleben, eh er uns nach Friedrichsruh und zum »Alten« führte. Daß wir dessen Gäste sein sollten, war schon abgemacht; Lenbach, der durch das Leben gereifte Diplomat, der Schüler Bismarcks und Moltkes, hatte beim letzten Diner über den Tisch hinüber hingeworfen: »Der Wilbrandt kommt von Rostock, um mich zu besuchen. – Er bringt auch seinen Buben mit. – Er möcht' aber auch gern Durchlaucht kennen lernen.Wie machen wir das, Durchlaucht?« – »Wir laden sie zum Essen ein,« antwortete der Fürst. Diese Botschaft war denn noch nach Rostock geflogen, eh wir von dort abfuhren: »zum Diner; ohne Frack!«

Es ward endlich sechs Uhr, wir stiegen vor dem Friedrichsruher Schloß aus dem Wagen aus. Ein Schloß? Eine Fürstenwohnung? Nein; das einfache Haus eines großen Menschen, den die Eitelkeit der Welt nie besessen hat; der nur für seinen gewaltigen Körper eine gute Küche, einen guten Keller, und für sein rastloses Gehirn einen geräumigen Arbeitstisch braucht. Es [237] ward mir wunderbar »preußisch« zu Mut, als ich durch das Haus ging; zuerst zu Lenbachs Zimmer hinauf, dann nach unten zurück. Nichts von Prunk und Pracht, nichts von »Eleganz«. An den Türen im ersten Stock sah ich noch die Nummern, offenbar aus der Zeit, als dieses Haus ein Gasthof am Sachsenwald war. Alles hell, die Türen, die Fenster, die Wände; große, lichte Räume von ruhigster Einfachheit, gutes, warmes Obdach bei der »Hundekälte«, behaglich und weiter nichts. So vornehm und schlicht stand dann auch die Hausfrau vor mir; die ruhige, scheinlos würdevolle Gestalt mit den klugen, milden, menschenfreundlichen Augen; ein großer, unvergeßlicher Kopf, wie vom Schicksal dazu bestellt, den Mann, der so hohe Wege ging, frei von aller Eitelkeit und mit dem reinen, sachlichen Verstand eines hingebenden Herzens zu begleiten.

Ich begrüßte sie, und an ihr vorbei sah ich in der Tiefe des Saals ein Bild, das mir das Herz ergriff. Auf einem Sofa, ganz mit sich allein, saß der Fürst; er hatte noch nicht bemerkt, daß Fremde eingetreten waren; tief in sich zusammengesunken, die rötliche Gesichtsfarbe verblaßt, alte, welke Züge, so schien er auf den »Trümmern Karthagos« zu sitzen und über dieses scheidende Jahr, das seinen »Sturz« erlebt, über den Undank des Lebens nachzudenken. In diesem Augenblick erschien er mir wirklich als ein alter Mann... Wie anders hatte ich ihn gesehn, als ich die Heldengestalt zum erstenmal erblickt: vierundzwanzig Jahre früher, im September 1866, beim Einzug der siegreichen Truppen in Berlin. Ich saß auf einer der großen Tribünen des Pariser Platzes; durch das Brandenburger [238] Tor ritten sie in der weichen warmen Südluft heran, hinter dem König Wilhelm seine Paladine; Bismarck zwischen Moltke und Roon, im Waffenkleid wie sie. Eine ergreifende Blässe deckte sein Gesicht, denn er hatte mit einem starken Unwohlsein zu kämpfen; er saß aber aufrecht und fest, wie aus Stein gehauen, mit den fernwirkenden gewaltigen Brauen und dem mächtigen Knebelbart, in ehernem Ernst, als ritte der Geist der Geschichte durch das Tor der Zeit. Da sah ich den Helden, den germanischen, wie das Herz ihn träumte. Find' ich den nun nicht mehr? fuhr mir durch den Sinn. Überlebt sich alles? Komm' ich schon zu spät?

Doch nun erhob sich der »Alte« auf dem Sofa, und lässig aufgereckt, in ruhiger, behaglicher Würde stand die volle, hohe Gestalt vor mir und meinem »Buben«, ins Leben zurückgekehrt; von den Trümmern Karthagos war nichts mehr zu sehn. Wenige Augenblicke hatten ihn verjüngt; mit freundlichem Hausherrnblick begann er das Gespräch; mit dem ruhigen, wartenden Blick der vordringenden Augen, der zwischen seinem durchbohrenden Nahblick und seinem Denkerfernblick gleichsam in der Mitte schwebt; denn, um es gleich hier zu sagen: nie hab' ich an einem Menschen so erstaunlichen und leichten Wechsel vom zugreifenden Nahblick des Tatmenschen und vom tiefen, geisterhaften Fernblick des vorausschauenden Weisen gesehn. Wie sich in ihm so viele und verschiedene Kräfte der deutschen Volksart zu einem mächtigen Akkord vereinigt haben: wilde, dreinschlagende Tatkraft, bedächtige Zähigkeit, strahlender Humor, plattdeutsche Gemütlichkeit, selbstwilliger Herrschersinn, hingebende Mannestreue, tiefgrabende Klugheit, hochfahrende [239] Wahrheitsliebe – so gehen von seinem Auge in oft unmerklichem Übergang brüderliche Strahlen der widersprechendsten Menschenformen aus: des Kämpfers, der sich mit allen Kräften durchzusetzen sucht, der in dich hineinbohrt, vor dessen Scharfblick du dich vielleicht gern verstecken möchtest, und des Denkers, der dich gar nicht sieht, der durch dich hindurch in irgend eine Ferne schaut, eine vergangene oder zukünftige, der auf der Welt nichts zu wollen scheint, als aus der Nichtigkeit des Augenblicks in das Wesen der Dinge zu tauchen.

Er wunderte sich mit einer Art von Vorwurf, daß in meinem Sprechen kein heimatlicher, mecklenburgscher Anklang zu bemerken sei; ich suchte ihm kurz zu erklären, wie mein Lebensgang, mein ästhetisches Bedürfnis nach reinster Sprachform mich so »verhochdeutscht« hätte; – übrigens würde er mit mir gewiß zufrieden gewesen sein, wenn ihm eingefallen wäre, Plattdeutsch mit mir zu sprechen. Er zeigte sogleich, wie wunderbar sein Gedächtnis ist: indem er auf die drei Reisen kam, die ihn in jungen Jahren durch Mecklenburg geführt hatten, wußte er noch alle die kleinen Städtchen zu nennen, durch die er gezogen war, und so, wie sie nacheinander folgen. Es erschien jetzt noch ein Gast aus der mecklenburgschen Nachbarschaft: ein Oberstleutnant aus Ratzeburg; für diesen militärischen Besuch hatte der Fürst Uniform angelegt, und mich freute es, ihn darin zu sehn. Indem er nun als »Generaloberst« vor dem Offizier stand und dessen Begrüßung militärisch entgegennahm und erwiderte, erschien er gleichsam in dritter Gestalt: nach dem in sich versunkenen Greis und dem rasch verjüngten Weltmann die lässige Hoheit [240] eines Herrschers, »jeder Zoll ein König«.... Man ging zu Tisch, eine kleine Gesellschaft, denn außer uns drei Zugereisten und Lenbach waren nur die Söhne des Fürsten da (die ich von Wien und Berlin her kannte), die Gattin des Grafen Wilhelm (zugleich eine Nichte Bismarcks) und Doktor Chrysander, der junge Sekretär. Der Fürst, an der Schmalseite der Tafel präsidierend, nahm bald seine vierte Gestalt an, die behaglichste: mehr und mehr schwand die Blässe aus dem heiteren Antlitz, die Farbe des Rotweins schien hindurchzuleuchten; die Urfreude des Lebens: der Genuß der Sinne, durch gesellige Fröhlichkeit geadelt, lächelte aus den strahlenden Augen. Er war der Landedelmann, der sich in der Feierzeit mit seinen Gästen seines guten Kellers erfreut; er durfte es jetzt, denn für ein paar Wochen, bis zum Dreikönigsabend, hatte er Schweningerserien und die Freiheit, mit seiner Diät zu machen was er wollte. Nachdem er schon einige Sorgenlöser erprobt hatte, wünschte er noch einen; Graf Herbert nahm die Kellerkarte und verlas sie mit humorvollem Ernst. Auf einen edlen Rheingauer fiel die Wahl des Fürsten, und mir schien, daß er vortrefflich gewählt hatte. Es lag aber ein großer stiller Humor darin, daß, wie wir bei Tisch erfuhren, dieser Fürst des Weingenusses sämtliche Heidelbeeren seiner Wälder an einen großen Händler verkauft, der daraus Rotwein macht; Rotwein, den der Graf Wilhelm bei irgend einem Festessen in Hannover oder Hamburg kennen gelernt hatte und mit erbarmungsloser Kritik verurteilte.

Das Diner ging zu Ende, Fürst Bismarck reichte seiner Dame, der Schwiegertochter, den Arm, und mit [241] jugendlich elastischem Schwung, der mich überraschte – als wäre er wieder der schlanke Frankfurter Bundestagsgesandte – führte er sie aus dem Speisesaal hinaus. Die Gesellschaft verteilte sich; in einem der großen angrenzenden Räume betrachtete ich mit der Gräfin und Lenbach die neuen Skizzen, die der Unermüdliche nach dem »Altreichskanzler« machte; doch hatte er auch nach den jüngeren Gliedern der Familie dies und das entworfen. Wir scherzten dann hinüber und herüber; es ward eines der scheingroben Scharmützel daraus, wie sie zwischen Lenbach und mir nach alter heiterer Übung immer einmal wiederkehren. Plötzlich stand die hohe Gestalt des Fürsten da. Er hatte wohl eine Weile zugehört. Sein ruhig schalkhaftes Auge hatte einen stummen Frageblick. »Er mißbraucht gern seine geistige Überlegenheit, Durchlaucht,« sagte ich zur Erklärung, auf Franz Lenbach deutend. Mit einem Ausdruck männlicher Anmut, der diesem großen Gesicht ganz eigen und nicht wohl zu beschreiben ist, lächelte der Fürst ein wenig; dann erwiderte er in seiner langsam formenden, doch immer behaglich sicheren Art: »Er mißbraucht sie auch dazu, von den Leuten Karikaturen zu machen,« indem er auf all die alten und neuen Skizzen blickte. Ich erfuhr hernach, daß es sozusagen ein Hausbrauch war, die Lenbachschen Bismarckbilder Karikaturen zu nennen. Im Ernst wird man sie wohl nirgends höher schätzen als dort; wer hätte denn auch, außer Bismarck selbst, so viel dafür getan, ihn der Welt bekannt zu machen, als der Altbayer aus Schrobenhausen, den ein gleichsam symbolisches Schicksal mit dem Altmärker verband. Die Genialität des Malers, durch leidenschaftlich [242] bewundernde Liebe verklärt, grub sich in das Genie des Staatsmanns bis in den Kern seiner Form hinein; wie sie auch das großeMoltkeproblem der schaffenden Natur künstlerisch aufzulösen wußte. Die beiden norddeutschen Helden haben ihm vor allem dadurch gedankt, daß sie an seinem nie versagenden süddeutschen Humor reinste Freude fanden, sich daran »ergänzten«. Lenbach ist in Friedrichsruh wie ein Kind des Hauses; und wenn er in den Achtzigerjahren sein Malzelt in Berlin aufschlug, wie oft tauchte dann der lange, hagere Moltke zwischen den Leinwänden auf, um – etwa vor einer saftlos theoretischen Reichstagsrede fliehend – sich an Lenbachs Urfrische und Mutterwitz zu erquicken.

Der letzte Teil des Abends begann, der »gemütliche«: die kleine Gesellschaft fand sich um den großen Kaffeetisch wieder zusammen, der Fürst streckte sich, die ruhebedürftigen Glieder zu schonen, auf mehreren Stühlen aus; die berühmte lange Pfeife ward in Brand gesetzt, und von den Zeitungen, die den Tisch neben ihm bedeckten, wanderte eine nach der andern durch seine Hände und, sobald sie durchflogen war, zu den mächtigen Reichshunden (doch der eigentliche echte Tyras lebte nicht mehr) auf den Boden hinab. Im Lesen hörte er aber, wie es schien, fast alles, was wir sprachen; oft warf er ein Wort hinein, oder eine Rede, oder er wandte sich für eine Weile ganz dem Gespräche zu. Unterdessen war nebenan der riesige Weihnachtsbaum wieder entzündet worden, der noch allabendlich brannte; durch die offene Tür konnte man ihn sehn. Die Fürstin in ihrer sacht geräuschlosen Weise ging von uns in den Saal [243] hinein, und sich in einen Lehnstuhl setzend, der ganz allein mitten in dem großen Raum stand, betrachtete sie lange den strahlenden, verheißungsvollen Baum, den blassen Kopf träumerisch gesenkt; ein merkwürdig rührendes Bild.... Wir sprachen von hundert Dingen, am wenigsten von Politik; die großen Abgründe wurden nicht berührt. Da wir Gäste aus den beiden Mecklenburg gekommen waren, fiel dem Fürsten die Gestalt eines sonderbaren Prinzen ein, der zu einem unserer Regentenhäuser gehörte; von seiner Zeitung aufschauend begann er zu erzählen: wie dieser Prinz im März 1848, damals junger preußischer Gardeoffizier, noch am Morgen nach dem großen Berliner Straßenkampf in kriegerischer Wut in die Häuser bekannter Demagogen oder Demokraten eingedrungen sei und sie mit dem blanken Säbel angegriffen habe. »Nun, das war wohl gut gemeint,« fuhr Bismarck mit seiner humoristischen Trockenheit fort, »aber für einen fürstlichen Herrn doch keine geeignete Beschäftigung....« Der junge Fürstensohn, über die Schwäche der preußischen Regierung gegen die Revolution empört, quittiert den Dienst und verfolgt fortan die Berliner Staatsleitung mit Haß und Verachtung; er bleibt dabei, auch als mit Bismarck ein anderer Wind zu wehen beginnt; ja endlich geht er so weit, vor König Wilhelm zu treten und gegen Bismarck Klage zu erheben, daß er dem König nach dem Leben trachte. »Eines Tages,« fuhr der Fürst fort, »erzählte mir der alte Herr: Wissen Sie, Bismarck, was der Prinz... behauptete Sie hätten Attentatsgelüste gegen mich. Nun, das ist ja wahr: Sie wären der nächste dazu! – Majestät, sagte ich, erlauben Sie: ich denke [244] doch, Ihre Kammerdiener und Ihre Generaladjutanten hätten es ebenso nahe als ich. Aber ich bitte Eure Majestät, wollen Sie die Gnade haben, mir es immer offen zu sagen, wenn ich bei Ihnen angeschuldigt werde; damit ich mich doch verteidigen und rechtfertigen kann. – Da lachte der alte Herr: Aber, Bismarck! Wenn ich Ihnen das alles wiedersagen wollte, was mir gegen Sie vorgebracht wird, da reichte das Jahr nicht aus!«

Indem der Fürst so erzählte, sprach er mit der eigentümlichen, suchenden, pausierenden Langsamkeit, die man an ihm kennt; die mich befremdete, als ich ihn zuerst im Reichstag reden hörte; doch gewöhnt man sich wohl an weniges so leicht wie an diese Sprechweise, da sie, statt den Hörer zu beunruhigen, ihm vielmehr bald das Gefühl der Sicherheit, der Gewißheit gibt, daß ein so geistiger Kopf, der so behaglich-bedächtig an seinen Gedanken formt, sie anziehend gestalten und zu einem guten Ende führen werde. Mich erinnerte sie zuweilen an Salvinis Art, des großen italienischen Schauspielers, der zumal in seinen Monologen durch merkwürdige Pausen voll Geist, durch gleichsam äußeres Spiel des Denkens das, was kommen sollte, so wunderbar vorbereitete, daß einem war, als hebe oder teile sich seine Schädeldecke, als sehe man ihn denken. Freilich, was bei ihm höchste Kunst war, ist beim Fürsten Bismarck schlichte, ungewollte Natur; aber der Reiz des Zuschauens ist doch von ähnlicher Art. Ich sah dabei sehr wohl, daß sich der Schädel nicht hob, nicht teilte; seine reine, herrliche Form veränderte sich nicht – das schönste Schädelgebilde, das ich bis heute gesehn; die Peterskuppel unter den Menschenköpfen. Meine formseligen [245] Augen wanderten so andächtig an diesen Formen herum, daß ich vielleicht nicht immer gehört habe, was er zu mir sagte.

Er kehrte noch wieder zu seinen Zeitungen, zu dem beginnenden Vordringen der Franzosen in Westafrika von Senegambien aus, zurück; doch ließ er unsere Gespräche nicht mehr aus dem Ohr. Wir vertieften uns ein wenig in die Frage, ob man aufhören solle, das Griechische im Gymnasium zu lehren; ein Gedanke, der dem Fürsten offenbar durchaus mißfiel. Als von irgend jemand betont wurde, daß unser Aussprechen des Griechischen so ganz anders sei als das der heutigen »Hellenen«, ließ er die Zeitung sinken und sagte: »Darauf kommt's auch nicht an. Es kommt darauf an, wie Achilles und Hektor ihr Griechisch ausgesprochen haben;« und mit einem seinen, flüchtigen Lächeln setzte er hinzu: »Hektor denk' ich mir mit einem leisen Anklang von trojanischem Dialekt.«

Die letzte Zeitung fiel endlich unter den Tisch; der Fürst gab seine »horizontale Lage« auf und wandte sich ganz zu uns. Wir debattierten über die alte und die neue Fechtweise der deutschen Studenten; in ihm erwachte der alte Mensurenpaukant, er rückte näher, sein Körper beugte sich vor, seine Augen schienen noch mehr hervorzutreten und zu leuchten; er erinnerte mich jetzt an seine Photographien aus den letzten Sechzigerjahren, vor dem französischen Krieg. Als der junge Otto von Bismarck sich in Göttingen schlug, und ebenso noch zu meiner Studentenzeit, galt es für das Rechte, bei aller Schneidigkeit des Angriffs so gedeckt zu schlagen, daß man die feindliche Klinge sich nicht ins Gesicht kommen [246] ließ; wie denn auch Jung Otto von allen seinen Mensuren fast unversehrt heimgekommen ist. Die heutige Studentenschaft ist gegen ihre Haut rücksichtsloser, im Angriff gleichsam wilder, spartanischer geworden: Hieb und Gegenhieb sollen gleichzeitig sein; nur einem Meisterfechter würd' es wohl noch gelingen, von einer langen Reihe von Paukereien ohne jeden »Schmiß« davonzukommen. Der Fürst schüttelte doch den Kopf; die Weise, wie er sie kannte, schien ihm – wie soll ich's sagen – die kunstgerechtere oder stilvollere zu sein. Er verwarf aber die heutige nicht; er wanderte nur mit Vergnügen in seiner akademischen Vergangenheit herum und erzählte uns sein letztes Duell. Lange nach der Göttinger Zeit, als er in Greifswald noch einmal auf die Universität ging, um (wenn ich nicht irre) Landwirtschaft zu studieren, flog ihm ein Zweikampf zu; wie wenig blutgierig er aber dabei war, zeigte die Art seines Angriffs. »Mein Gegner,« erzählte er, »hatte eine sonderbare Mütze auf dem Kopf, obendrauf ein loser, baumelnder Tippel. Das Ding reizte mich; ich hatte die Ambition, ihm den Tippel von seiner schönen Mütze wegzuschlagen. Es wollte aber nicht glücken. Zuletzt sah ich ein, daß ich bei diesem Unternehmen selber tüchtig in Gefahr kam – und ich machte der Sache auf andre Weise ein Ende.«

Viele Jahre später, als Bismarck der Mann mit dem deutschen Michel raufte, ist es ihm geglückt, den Zipfel von Michels Schlafmütze herunterzuhauen.... Oder nicht? Schien auch das nur so? Sitzt der Zipfel noch? Wird er auch im Deutschen Reich bis aus Ende leben?

[247] Lassen wir diese Frage heut am Feiertag.... Und scheiden wir von dem großen Kämpfer, wie damals Wilbrandt und Sohn scheiden mußten, da die Stunde schlug: um zehn mußten wir zur Bahn, um noch bis Hamburg zu fahren, in unsern Gasthof am Jungfernstieg. Die Nacht war kalt wie der Tag, oder kälter; obwohl man in unserm Zimmer so mächtig geheizt hatte, daß die ganze Ofentür noch glühte, erwarteten uns doch kaum 12 Grad über Null. Freilich für die Nacht mehr als genug. Wir lagen in unsern breiten Betten nebeneinander, von den Gefühlen und Erinnerungen dieser Stunden voll; die strahlenden Augen meines Fünfzehnjährigen suchten mich noch lange, die Zunge und das Herz fanden keine Ruhe. Diese echte, schlichte, weltgeschichtliche Größe lag auf seiner jungen Seele.... Endlich schmeichelte ihm der Schlaf doch die Herrschaft ab, und er schloß die Augen, noch einen Ausdruck von Seligkeit auf dem stillen Gesicht.

Guter Junge! dacht' ich, selber noch herzwach, möchtest du, auch wenn der erste Flaum dort längst zum Bart gereist ist, noch so einschlafen können; noch so hingebungsfähig, so bewunderungssroh, so jugendwarm sein! Möchtest du diesen Frühling nie aus der Brust verlieren! – Deutsche Jugend, ihr alle! O daß euch doch kein Thersites, auch der klügste, der wissendste nicht, daß euch kein Loki, kein Teufel in menschlicher Gestalt das Herz so verwirren könnte, daß ihr für die Größe keine Begeisterung, für das Verdienst keinen Dank, für die höchsten Stimmen der Ehre keinen Widerhall im Busen habt! Möchtet ihr nie die Freude des Nergelns, des Verkleinerns, des Kaltlächelns lernen, diese gifthaltigste [248] Freude, die alle ihre edleren und schöneren Schwestern um sich her zerstört. Möchtet ihr jeden verlachen, der euch nehmen will, was euer Bestes ist: euch in Liebe zu beugen vor dem, was durch seine segenspendende Größe sich und euch verherrlicht!

Ich summte mir noch die Verse, die ich zum 1. April desselben Jahres 1890 an den Altreichskanzler als telegraphischen Gruß geschickt hatte:


Mit Wehmut ringt dein Volk heut schmerzerschüttert;
Mit heißem Dank begrüßt es diesen Tag.
Der du wie Wodan durch die Welt gewittert,
Dein Geist der Blitz, dein Mut der Donnerschlag,
Du gabst dann Sonne, Frieden, Frühlingsregen,
Das Land befruchtend, das dein Blitz durchdrang;
Du deines Volkes gottgesandter Segen,
Dich segnet liebend deines Volkes Dank!
[249]

Das Reichskanzlerpaar (1900)

Das Reichskanzlerpaar
(1900)

Sie laden mich ein, zu Ihren Lesern von dem neuen, »mir befreundeten« Reichskanzlerpaar Bülow zu sprechen; und in diesem Fall redet das Herz mir zu. Ich glaube, daß in diesem Augenblick auf der Erde nicht viele Paare leben, die für Dichter und Menschen ein so betrachtungswürdiger Anblick sind; und denken Sie nicht, daß mich da die Freundschaft blendet; ich habe wohl über wenige Menschen so viel und so eindringlich gedacht. Freilich kenn' ich den Grafen Bernhard Bülow lange nicht so gut wie die Gräfin Marie, hab' mit ihm nicht so viele Stunden, wie mit ihr Tage verlebt; und ich war schon seit Jahren ihr Freund, als ich den jungen Diplomaten Herrn von Bülow in ihrer Wiener Wohnung kennen lernte. Ich trat ein und sah neben der schwarzhaarigen, dunkeläugigen, zierlichen Italienerin – damals Gräfin Dönhoff – einen mittelgroßen blonden Germanen mit heiter leuchtendem Gesicht und einem lachenden Grübchen im Kinn. Sie stellte uns einander vor; dann schwebte sie in ihrer unendlich jugendlichen, sizilianischen Lebhaftigkeit zur Tür, um irgend eine häusliche Pflicht zu erfüllen. »In zehn Minuten,« sagte sie mit ihrem anmutigen Humor, »bin ich wieder hier; bis dahin müssen Sie sich kennen und lieben!«

[250] Nun, so schnell ging's wohl nicht; es ging aber dann seinen guten Weg. Bernhard von Bülow kam uns freilich zunächst auf lange aus dem Gesicht, der Gräfin Dönhoff und mir; er kam von Wien nach Athen, von da nach Berlin, wenn ich nicht irre, vom Meister Bismarck zu lernen; jedenfalls hat er wie ein richtiger Jünger die hohe Bismarckschule durchgemacht. Er ward an die deutsche Botschaft in Paris versetzt, blieb dort lange Zeit; jene erste Wiener Bekanntschaft aber ward erneuert, es wuchs eine Neigung fürs Leben daraus, und in der Lutherschen Kirche in der Dorotheergasse zu Wien wohnte ich 1886 der Trauung der ehemaligen Gräfin Dönhoff mit Herrn von Bülow bei. Wunderbar verschiedene Menschen, wenn man nur auf den Stempel sah, den die Natur ihnen aufgedrückt! Sie, die Italienerin, auf Sizilien geboren, an spanische Augen und Gesichter erinnernd, von höchster Beweglichkeit des Mienenspiels, der Glieder, zumal in der ersten Frauenjugend einer reizenden, welthungrigen Flamme gleich, aber auch ganz Musik, am Klavier eine Künstlerin; er vom Musiksinn fast verlassen, sonst ein echter Deutscher, Arbeiter, Denker, Lerner, mit dem lebensfrohen Humor des Niedersachsen, aber auch mit der tiefen, verhaltenen Leidenschaft, die in den großen Deutschen wohnt. War in ihr, der Principessa di Camporeale, das Vaterlandsgefühl vor ihren seelischen und geistigen Trieben so zurückgetreten, daß sie sich von Jahr zu Jahr inniger zu uns gesellte und in deutscher Musik, deutscher Philosophie, Kunst und Denkart fast wie unsereins lebte, so brannte dagegen in ihm eine patriotische Flamme, die auch heute brennt; ein Ehrtrieb, [251] ein Wesenstrieb, für die Erhöhung des deutschen Namens, die Ausbreitung der deutschen Kraft zu leben. Wie viel er auch von den andern Völkern lernen und sich in ihre Werte vertiefen mochte – auch darin grunddeutsch – ich glaube, ihm konnte nie ein anderer Gedanke kommen, als so bereichert und erweitert seinem Volk, seinem Staat zu dienen.

Doch wie viel Unsichtbares lebt in uns, das zuletzt doch noch stärker als das Sichtbare wirkt! In einer tiefen Neigung von Mensch zu Mensch waltet wohl dieses Unsichtbare in seiner reinsten und höchsten Kraft, in seiner langsam, aber sicher umschmelzenden, »heimlich bildenden Gewalt«. An diesem Paar wenigstens, von dem ich rede, zeigte sich's, und immer wieder, so oft ich sie sah. Es war ein Ineinanderwachsen, das ohne ein geheimes organisches Wollen wohl kaum zu denken ist; ein Sichzusammenleben, das nun wohl zu der schönsten Harmonie gediehen ist, die man lieben Freunden wünschen mag. Mögen diese Freunde mir verzeihen, daß ich hier davon spreche; gehört es doch mit zum Bild, wie Aug' oder Hand. Graf Bülow ist im stande, mit ernsthaftem Gesicht zu sagen, was in ihm Gutes sei, verdank' er seiner Frau; und die Gräfin, in der einst jener Welthunger brannte, die alles erfragen, alles erleben, alles enträtseln wollte, die sich als reizend ungebärdiges Ich in heißer, unbefriedigter Entwicklung zu verzehren schien, sie lebt jetzt für das eine, den einen, als könnt' es nicht anders sein; sie, die geborene »Poesie«, ist sein Finanzminister geworden, sein Unterstaatssekretär, in ihrer Künstlerseele blüht seine Politik. Das wuchs so von Jahr zu Jahr, wie er an [252] seinen Aufgaben wuchs. Als ich die beiden vor bald vier Jahren in Rom als Botschafter und Botschafterin sah, war Frau von Bülow nur erst sein »Finanzminister«, mit Hilfe eines italienischen Gelehrten und alten Freundes das Haus im großen Stil verwaltend; die Politik ward noch fern von Rom in Berlin gemacht, der Palazzo Caffarelli auf dem Kapitol, der Sitz der deutschen Botschaft, war in seiner schönen halblauten Stille noch ein Stück Paradies. An diesem wunderbaren Erdenpunkt, unter den Palmen und Winterrosen des Südens, auf einem märchenhaft weiten Weg über Stuttgart, Wien, Petersburg, Bukarest in ihre Heimat zurückgekehrt, ihr altes Rom in ihr deutsches Herz aufnehmend, fühlte sie sich wohl auf dem Gipfel des Glücks, das sie mit leise zitternder Freude genoß. Denn am Himmel stand schon die große Wolke: der »Minister« drohte. Statt der geschäftigen Muße des Botschafters die Arbeitsüberlast und statt Rom Berlin! »Genieß es, genieß es jeden Tag,« sagte er zu ihr, »so lang wir dies Paradies noch haben. Damit du nicht einmal bereust: hätt' ich's mehr genossen!«

Wie auch er es genoß, konnt' ich damals sehn. Während er als Staatssekretär des Äußern in Berlin kaum mehr einen andern Spaziergang kannte, als die zweihundert Schritte durch seinen Garten, von der Villa zum Amtsgebäude und zurück, wanderte er damals weite Wege durch das alte Rom, besonders durch das malerisch öde, südliche; und dort mit ihm wandernd lernte ich mehr und mehr den Umfang seines Wesens kennen. Ich sah, daß er einer von denen ist, denen wirklich nichts Menschliches fremd ist; und auch einer der [253] Freiesten: denn einen vorurteilsloseren Menschen hab' ich nie gesehn. Um so innerlichst frei zu sein, muß man wohl auch eine Fülle von Gegensätzen in sich haben, die sich unter derselben Schädeldecke wie unter einer unsichtbaren Oberlenkung vertragen, und die durch ihr Dasein stets daran erinnern, daß ebenso auch die Welt aus gottgewollten Gegensätzen besteht. Wie sich in ihm norddeutscher, phantasievoller Humor mit fast romanisch zu nennender Grazie zusammenfand, tiefgründiges und nach Menschenmöglichkeit objektives Denken mit selbstverständlich schneidiger Tatkraft, und die Härte des Tatmenschen mit der edlen Weichheit eines menschenfreundlichen Idealismus, so sah er außerhalb seines Ich die naturgeschaffenen feindlichen Elemente, die sich ewig bekämpfen, ewig einseitig und darum unzulänglich, und doch auch ewig berechtigt sind. Wer als Staatsmann auf sie einwirken, mit ihnen auskommen, sie leiten und führen will, muß sie also zuerst verstehen lernen; er muß ihren Daseinswert begreifen, muß sie aus der Vergangenheit hervorwachsen und in die Zukunft hinausdeuten sehn. Das wird oft dem Tatmenschen schwer, in dem der Wille das Mächtigste ist. Napoleon dachte alles durch Gewalt zu können, die unsichtbare Macht der deutschen »Ideologen« begriff er nicht. Auch Bismarck hat mitunter zu wenig an die elementare Kraft der Imponderabilien und zu viel an die Faust des Staats geglaubt. Von solchen Irrtümern sich frei zu halten, ist dem Grafen Bülow gleichsam das erste Gebot. Wird er etwa Fehler machen – wer macht keine? – ich glaube, aus dieser Ecke werden sie nicht kommen.

[254] Was ich seit Jahren im stillen wünschte, was aber unwahrscheinlich aussah, ist nun doch geschehn: aus dem Staatssekretär ist der Reichskanzler geworden, nach dem Kaiser der führende Mann im Reich. Aus dem römischen Rosenparadies in die Villa an der Königgrätzerstraße in Berlin versetzt, aus der seine Gräfin wieder ein Paradieschen machte, wird er nun in das Reichskanzlerpalais an der Wilhelmsstraße hinüberziehen, in dem noch der große Schatten seines gewaltigen Meisters wohnt. An Ehrfurcht vor diesem Schatten fehlt es diesem Nachfolger nicht; ich glaube aber, es fehlt auch nicht an neuen Kräften in ihm für eine neue Zeit. Mit dem Monarchen, dünkt mich, hat er vor allem den Sinn für nationale Größe gemein, der das von der Natur berufene deutsche Volk aufwärts führen und treiben will; aus seinem tiefen Weltverstand schöpft er die Kraft der Bedächtigkeit, die nur das Erreichbare zu ergreifen sucht. Denn es gibt kein schwereres Amt auf Erden, als deutscher Reichskanzler zu sein: die Wege eines Volkes zu leiten, das für vieles unsinnig begabt, für Politik oft unsinnig unbegabt, und nach langsamstem Zusammenwachsen fast zu spät auf dem Plan erschienen ist. Draußen das Mißkonzert so vieler Großmächte, die weltbegierig wie wir und von Herzen geneigt sind, uns unsere Ellbogen fest an den Leib zu drücken; drinnen der stille oder laute Widerspruch zwischen einem vielbegabten, rastlosen, temperamentvollen Monarchen und einer freigesinnten, kritischen Nation, die, lange durch »Weltbürgertum« aufgeweicht, langsam hart und deutsch wird. Sie schämt sich noch nicht genug, philisterhaft zu denken; sie kennt ihren [255] eigenen Wert noch zu wenig und läuft noch immer dem fremden nach, obgleich sie meint, es sei nicht mehr so; sie glaubt noch nicht mit fester Seele an ihren Beruf auf der Welt. Spricht man ihr von »Größe«, von »Weltpolitik«, so wird sie leicht argwöhnisch aufgeregt: »Uferlose Pläne!« »Laßt uns zu Hause!« »Zu Hause ist genug zu tun!« Und alles Kleine und Große in uns, unsre Kleinheimatsliebe, unsre Landsmannschaften, unser Fraktionsgeist, unsre ehrenhafte Sittlichkeit, unser Gerechtigkeitssinn, alles widerspricht gern dem Ruf, den doch die Weltgeschichte uns zuruft: Werdet, was ihr werden sollt, ein großes, ein welterleuchtendes Volk! Vielleicht das Volk aller Völker!

Ich glaube, Graf Bülow hört diesen Ruf ganz so stark und so laut wie ich; mein vaterländisches Herz schlägt allemal besser, wenn ich an ihn denke. Aber »Entsagung!« oder »Beschränkung!« steht gleichsam vor ihm auf die Luft geschrieben, wo er geht und steht. Wie viele Menschen mag er wohl in Deutschland kennen, die so feurig, so ganz von Herzen am deutschen Weltberuf hängen wie ich? In der heranreifenden Jugend, hoff' ich, gibt es schon viel so warmes Blut; aber der Reichskanzler von heute muß mit den Deutschen von heute leben. »Uferlose Pläne!« Er dürfte keine haben, auch wenn er wollte; sie stürben in der deutschen Luft.

Wie oft mag er wohl, die Ungeduld einer großen Seele bezähmend, sagen: »Nicht im Trab! Im Schritt!«

Das deutsche Reichskanzleramt ist auch arbeitsschwer. Schon daß wir ein Bundesstaat sind, mit so vielen Fürsten und Regierungen, macht die Maschine reich an Rädern und Riemen; zudem ist der Reichskanzler [256] auch preußischer Ministerpräsident, ein Posten, der schon allein genügte. Alle Feinheit der Arbeitsteilung, alle Hingebung, Genauigkeit und Aufopferung der Unterbeamten, von der mir die Gräfin nur mit Bewunderung erzählt, kann doch nicht aus der Welt schaffen, daß Graf Bülow einer der geplagtesten Menschen ist. Mancher Tag vergeht, wo ihn die Gräfin erst am Abend sieht, wenn er aus den Amtsgebäuden zur Hauptmahlzeit kommt; zuweilen dann so ermüdet, daß er nicht mehr reden mag, daß die stumme Gegenwart der ewig jungen Lieblichkeit der geliebten Frau seine Erholung ist. Nur bei der weisen Mäßigkeit seiner Lebensweise – es würde jedem guten Deutschen weh tun, zu sehn, wie wenig Wein er sich gönnen darf – kann dieser doch so gesunde Körper diesen täglichen Kampf bestehn. Hat aber so ein Tag ihn nicht erschöpft und sieht er am Abend gute Freunde um sich an der Tafel, welche die Gräfin stets mit Blumen schmückt, hernach in seiner großen Bibliothek, wo die großen Zigarren brennen, dann blüht in diesem Sohn der Elbe die goldenste germanische Heiterkeit auf, die auch noch das ernsteste Gespräch verklärt, auch zwischen den sorgendsten Gedanken aufblitzt. Dann wird sein Humor wohl plötzlich zum Dichter: von einer politischen Tagesfrage sprechend hält er auf einmal eine Rede gegen sich selbst – »wenn ich der und der wäre, da würd' ich dem Bülow – –« und mit der ganzen grimmigen Beredsamkeit eines dieser scharfen Oppositionsmänner schleudert er sich eine Philippika ins Gesicht; jedes Wort lebendig. Oder er verläßt auch die Politik und sein leichtgeweckter Witz flattert wie ein harmloser Schmetterling [257] umher. »Donna Maria« oder »Mariechen« hört stillglücklich zu; ich kenne keine Frau, die reizender zuhört als sie. Ich kenne auch keine Frau, von der ein so wunderbarer, zusammenschmelzender Doppelduft ausginge: der Duft der vollkommensten Edeldame und der reinsten Menschengüte. Lassen Sie mich's nur sagen, Donna Maria. Ich kenne auch keine vornehmer und rührender unveränderliche, unfordernde, immer gleiche Freundin als Sie.

Wie lange werden sie im Reichskanzlerpalais wohnen, Graf und Gräfin Bülow? Noch sind sie nicht drin; noch ist wohl nicht all die Seife verbraucht, die der Kaiser mit humorvollem Ernst der Gräfin zum Reinmachen des Palais »zu Füßen legte«, als er bei ihnen zu Abend war. Werden sie viele Jahre drin wohnen? Graf Bülow ist längst Philosoph: auf den Tag des Endes ist er stets gefaßt; denn auf den Staatsmann sind tausend Pfeile gerichtet. Mit dem ernst heiteren Sinn, mit dem er alle Vergänglichkeit betrachtet, hat er schon vor Jahren seinen geliebten »Finanzminister« gefragt: »Wenn wir einmal nichts mehr sind, können wir dann von unserem bißchen Rente leben?« Gräfin Marie hat genickt: »Einfach und in Venedig, ja!« Venedig ist nun der halb ernste, halb scherzhafte Zukunftstraum des Hauses. Das traumstille Venedig, der geborene Hafen eines »stillen Mannes«. Ich soll auch hinkommen.

O möchten viele Jahre vergehn, glücklich für das Reichskanzlerpaar, glücklich für das Deutsche Reich, eh dieser Traum zum Leben erwacht!

[258]

Fußnoten

1 Für die Osterbeilage der »Neuen Freien Presse« geschrieben.

2 Zum achtzigsten Geburtstag des Fürsten auf Wunsch der »Neuen Freien Presse« geschrieben.

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TextGrid Repository (2012). Wilbrandt, Adolf von. Autobiographisches. Erinnerungen. Erinnerungen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A709-E