Heinrich Zschokke
Ein Narr des neunzehnten Jahrhunderts

[297] Vorläufige Nachrichten

Auf meiner letzten Reise im Norden unsers Vaterlandes ließ ich mich einen kleinen Umweg nicht verdrießen, um einen meiner Lieblinge aus dem goldenen Zeitalter des Lebens einmal wieder zu sehen. Man erlaube mir indessen, in der folgenden Erzählung Namen von Gegenden, Ortschaften und Personen zu verschweigen oder zu verändern. Die Geschichte bleibt darum nicht weniger wahr, wie unwahrscheinlich sie auch Vielen vorkommen mag.

Jener Liebling also war der Freiherr Olivier von Flyeln, mit dem zugleich ich auf der Göttinger Hochschule den Wissenschaften obgelegen hatte. Er war damals einer der trefflichsten und zugleich einer der geistvollsten jungen Männer gewesen. Die Liebe zu den römischen und griechischen Schriftstellern hatte uns zusammengeführt und verbunden. Ich nannte ihn nur meinen Achilles, er mich seinen Patroklus. Aber er hätte in der Tat jedem Künstler zum Urbild eines Achilles dienen können. In Gestalt und edler Haltung einem jungen Halbgott ähnlich, Trotz und Güte im dunkeln Feuer seines Blicks, gelenk und gewandt wie keiner, der kühnste Schwimmer, der schnellfüßigste Renner, der wildeste Reiter, der anmutigste Tänzer, hatte er dabei das edelmütigste und furchtloseste Herz. Sein Edelmut verwickelte ihn in mancherlei unangenehme Händel, weil er sich, oft ungerufen der Unterdrückten annahm. Er mußte sich deshalb mehrmals mit andern schlagen; er scheute die besten Fechter nicht; ging in den Kampf wie zu einer Lustpartie, wurde dabei, als wäre er am ganzen Leibe gefeit, niemals verwundet, ließ aber keinen ungezeichnet von sich gehen.

Seit unserer Trennung hatten wir uns mehrere Male geschrieben; aber wie es denn so geht, wenn man in den Wogen des Lebens auseinander kömmt; wir vergaßen uns zwar nie, [297] aber zuletzt doch den Briefwechsel. Ich wußte zuletzt nur von ihm, daß er Hauptmann bei einem Infanterie-Regiment gewesen. Jetzt mochte er etwa fünfunddreißig Jahre alt und im Range vorgerückt sein. Sehr zufällig erfuhr ich auf der Reise den Standort seines Regiments, und das verleitete mich, wie gesagt, zu dem Umwege.

Der Postillon fuhr mit mir in die Straßen der alten, weitläufigen, reichen Handelsstadt und hielt vor dem ansehnlichsten Gasthof. Sobald ich vom Aufwärter mein Zimmer angewiesen erhalten hatte, fragte ich ihn, ob es bei dem hier stehenden Regimente nicht einen Freiherrn von Flyeln gebe?

Sie meinen den Major? fragte der Aufwärter.

Major kann er wohl sein. Ist seine Wohnung entfernt von hier? Trifft man ihn um diese Zeit an? Es ist schon spät; aber ich wünsche, daß mich jemand zu ihm führe.

Verzeihen Sie, der Herr steht nicht mehr beim Regimente, schon lange nicht mehr! Er hat den Abschied genommen oder nehmen müssen.

Müssen? Warum?

Er hat allerlei Geschichten getrieben, wunderliches Zeug; ich weiß selbst nicht, was? Er ist zuletzt nicht recht im Kopf gewesen; übergeschnappt und verrückt geworden. Man sagt, er habe sich um den Verstand studiert.

Diese Antwort erschreckte mich so, daß ich die Fassung verlor.

Und wie denn? stammelte ich endlich, um doch etwas zu fragen und um Genaueres zu erfahren.

Verzeihen Sie, sagte der dienstfertige Aufwärter; was ich weiß, habe ich nur von Hörensagen; denn er hat den Abschied genommen, bevor ich hierher kam. Man erzählt aber noch viel von ihm; zum Beispiel hat er mancherlei Händel mit Offizieren gehabt und jeden Du geheißen, sogar den General, jeden, er mochte sein, wer er wollte. Als er eine reiche Erbschaft von seinem Oheim in Empfang genommen hatte, bildete er sich ein, er [298] sei bettelarm geworden, könne seine Schulden nicht bezahlen und verkaufte, was er um und an sich hatte. Er soll auch gotteslästerliche Reden in seinem Wahne ausgestoßen haben. Das Lustigste aber ist, daß er seiner Familie zum Trotz ein unehrliches Mädchen, ein Gaunerkind, geheiratet hat. Auch sein Anzug soll zuletzt gar toll gewesen sein, ganz hanswurstmäßig, so daß ihm alle Gassenbuben nachliefen. Man hat ihn in der Stadt sehr bedauert; denn er war vorher allgemein geliebt und muß, so lange er noch bei vollem Verstande war, ein vortrefflicher Herr gewesen sein.

Und wo befindet er sich jetzt?

Ich kann es nicht sagen. Er hat die Stadt verlassen; man hört und sieht jetzt nichts mehr von ihm. Vermutlich hat ihn seine Familie irgendwo untergebracht, um ihn heilen zu lassen.

Mehr wußte der Aufwärter nicht zu berichten. Ich hatte schon zuviel gehört und warf mich, wie gelähmt, in einen Sessel. Ich dachte mir noch die Heldengestalt des geistvollen Jünglings, von dessen Zukunft ich so hohe Erwartungen gehegt hatte, der sowohl durch seinen Stand, als durch seine großen Familienverbindungen Ansprüche auf die ersten Stellen im Heere oder im Staate hätte machen können; der durch seine Kenntnisse, durch seine seltenen Geistesgaben zu allem Großen berufen zu sein schien – und der nun einer jener Unglücklichen war, vor deren Anblick die Menschheit mitleidig zurückschaudert! Hätte ihn doch der Engel des Todes lieber der Welt entrückt, als ihn zum traurigen Schauspiel, als klägliches Zerrbild, leben zu lassen!

Wie gern ich den guten Olivier wiedergesehen hätte, war mir's doch lieb, ihn nicht mehr in der Stadt zu wissen. Ach, er wäre ja doch nicht mehr Olivier, nicht mehr mein herrlicher Achilles gewesen, sondern ein kläglicher, unkenntlicher Torso! Ich wollte ihn nicht sehen, auch wenn es mir leicht gewesen wäre, ihn zu finden. Dann hätte ich meinen Göttinger Achilles in Gedanken mit der Gestalt eines Wahnsinnigen wechseln [299] müssen; das hätte mir eine der liebsten und anmutigsten Erinnerungen geraubt. Ich wollte ihn aus demselben Grunde nicht wiedersehen, wie ich keinen meiner Freunde im Sarge betrachten mag, weil ich nur die Gestalt des Lebendigen in Gedanken bewahren will; oder wie ich's meide, Zimmer, die ich vor Zeiten bewohnte, die nun aber von andern bewohnt werden, die nun ganz anders eingerichtet sind, wieder zu betreten. Das Ehemals und Jetzt verwirrt sich immer in meinen Vorstellungen auf eine unausstehlich-peinliche Weise.

Ich war noch in allerlei Betrachtungen über die Natur des menschlichen Wesens verloren, und wie derselbe Geist, welcher die Räume des Weltalls mißt, das Höchste ahnt – durch Druck oder Verletzung eines unsichtbaren Teils seines Nervengewebes zum widerlich verstimmten Saitenspiel, sich und der übrigen Welt ein unverständlicher Fremdling, werden muß, da trat der Aufwärter herein und rief mich zum Nachtessen.

Die Wirtstafel im hell erleuchteten Speisesaal war von vielen Gästen besetzt. Es traf sich, daß mir ein Platz in der Nachbarschaft einiger Offiziere der hiesigen Besatzung angewiesen wurde. Natürlich leitete ich das Gespräch, sobald es einmal unter uns angeknüpft war, auf meinen Freund Olivier. Ich gab die genauesten Einzelheiten über ihn an, so viel ich deren wußte, um jede Verwechselung der Personen zu verhüten; denn es war ja möglich, und ich glaubte die Möglichkeit, daß der wahnsinnige Freiherr von Flyeln ein ganz anderer, als mein Achilles von Göttingen sei. Allein alles, was ich sagte, alles, was ich dagegen hörte, bestätigte zu sehr, daß hier keine Verwechselung stattfinde.

Es ist jammerschade um den Baron! seufzte einer der Offiziere, jedermann hatte ihn gern. Er war einer der Bravsten beim Regiment, ein verwegener Teufel; das sahen wir beim letzten Feldzug in Frankreich. Was keiner von uns wagte, das wagte er spielend; aber es glückte ihm auch alles. Denkt nur an die Batterie bei Belle-Alliance! Wir hatten sie verloren; der General riß [300] sich die Haare aus dem Kopf; Flyeln rief: Wir müssen sie wieder nehmen, sonst ist alles dahin! Drei Angriffe hatten wir vergebens gemacht; da geht Flyeln mit seiner Compagnie noch einmal vor, nimmt's mit einem ganzen Bataillon Garden auf, und, bei Gott, er schlägt sich in gräßlicher Metzelei durch und nimmt die Batterie!

Aber es kostete auch die halbe Compagnie! rief ein alter Hauptmann neben mir; ich war Augenzeuge. Er kam, wie gewöhnlich, ohne Schramme davon; ungeheures Glück begleitete den Menschen, und der gemeine Soldat läßt sich's noch jetzt nicht ausreden, der Baron habe sich hieb-, stich- und kugelfest machen können.

Ich hörte mit wahrer Wonne dem lobreichen Gespräch über den guten Olivier zu; ich erkannte ihn an allen seinen Tugenden wieder. Man pries besonders seine wohltätigen Handlungen; er war der Gründer und Verbesserer einer Schule für Soldatenkinder, und hatte dafür große Ausgaben gemacht. Er hatte im Stillen viel Gutes gewirkt; immer ein einfaches, eingezogenes Leben geführt; nie zu Mutwillen, nie zu Ausschweifungen sich geneigt, zu welcher Jugend, Schönheit, Kraftfülle und Reichtum so leicht verlocken. Ja, die Offiziere gestanden mir, daß der Freiherr einen bedeutenden Einfluß auf die Veredelung des Tons unter dem Offizierskorps, auf die ernstern Sitten desselben und auf dessen wissenschaftlichere Bildung gehabt. Er selbst habe Vorlesungen über verschiedene, dem Krieger nützliche Gegenstände gehalten, bis es untersagt worden sei.

Und warum untersagt? fragte ich verwundert.

Eben in diesen Vorlesungen, antwortete mir einer meiner Tischnachbarn, offenbarten sich die ersten Spuren seiner beginnenden Geisteszerrüttung. Kein Jakobiner im Pariser Nationalkonvent hat jemals rasender gegen monarchischen Einrichtungen, so wie gegen die verschiedenen europäischen Höfe und ihre Politik, als er zuweilen. Er sagte geradezu, die Völker selber würden früh oder spät sich selber helfen, sich und den [301] Königen, gegen Ministerwillkür, Priesterherrschaft und Handelsbedrängung. Er meinte auch, die Revolution werde unvermeidlich von Volk zu Volk, mild oder stürmisch, übergehen, und binnen einem halben Jahrhundert die politische Gestalt Europas verändern. Genug, die Vorlesungen wurden ihm billig und mit Recht untersagt. Eben so toll deklamierte er zuweilen gegen den Adel und dessen Vorrechte. Wenn man ihn dann daran erinnerte, daß er ja selbst Baron wäre, antwortete er: Ihr habt die Torheit, mich so zu nennen; ich bin ein vernünftiger Mensch und von Geburt eben so viel, wie unser Profos.

Das waren aber nur die ersten Vorspuren der Geisteszerrüttung! rief ein junger Lieutenant; allein der erste Akt seiner Narrheit war, als er den Obristlieutenant von Berken anfiel, mit Maulschellen bewirtete und die Treppe hinunterwarf, nachher aber die Herausforderung nicht anzunehmen wagte, und bei der Gelegenheit das ganze Offizierkorps beleidigte.

Er war doch sonst ein guter Schläger, der die blanke Klinge eben nicht fürchtete! sagte ich.

Wir kannten ihn bis dahin auch nur als solchen; aber, wie gesagt, seine ganze Natur änderte sich. Als er auf den Platz kam, wo er sich schlagen sollte, erschien er ohne Degen, bloß mit einer Rute in der Hand, und sagte in unser aller Gegenwart zum Oberstlieutenant mit lachendem Munde: Du verächtlicher Bock, wenn ich Dich wirklich mit dem Degen zerfetzte, würdest Du darum mehr wert sein? Und als der Oberstlieutenant seinen Zorn nicht mehr mäßigen konnte und den Degen zog, entblößte der Major kaltblütig die Brust, hielt sie ihm hin und sagte: Hast Du Lust, Meuchelmörder zu werden: stoß zu! – Wir wollten uns in den Wortwechsel mischen, ihn zwingen, sich mit dem Oberstlieutenant zu schlagen, wie Pflicht und Ehre geboten; da nannte er uns allesamt Narren, die mit ihren Grundsätzen von Ehre ins Irrenhaus oder ins Zuchthaus gehörten. Nun konnten wir bald merken, daß es bei ihm nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen wäre. Einige unter uns schimpften[302] ihn; daraus machte er nichts, sondern lachte. Wir begaben uns zum General, wir erzählten demselben offenherzig den ganzen Vorfall. Der General ward sehr verdrießlich, um so mehr, da er an demselben Tage für den Major einen Orden vom Hofe erhalten hatte. Er bat uns, ruhig zu sein; er wolle alles vermitteln, der Major müsse Genugtuung geben. Am folgenden Morgen bei der Parade überreichte der General, laut Vorschrift, mit einer angemessenen Rede dem Major den Orden. Der Major nahm ihn nicht an, sondern antwortete in den ehrerbietigsten Worten die unehrerbietigsten Dinge, des Inhalts: Er habe für das Vaterland, und nicht für ein Endchen Band gegen Napoleon gefochten. Habe er einiges Lob verdient, so wolle er's doch nicht vor aller Augen an der Brust zur Schau tragen. Der General war außer sich vor Schrecken. Keine Bitten, keine Drohungen konnten den Major bewegen, das königliche Gnadenzeichen anzunehmen. – Nun traten die Offiziere vor und erklärten, sie könnten nicht mehr mit dem Major dienen, wenn er nicht Genugtuung leiste. – Die Sache kam zur Untersuchung; der Major in Verhaft und dann vom Hofe die Entlassung des Majors. Nun brach die volle Narrheit erst recht aus. Er ließ sich den Bart wachsen wie ein Türke; trug lächerliche Kleider; heiratete, seinen Verwandten zum Trotz, ein ganz gemeines, übrigens hübsches Mädchen, ein Findelkind, wegen dessen er schon mit dem Oberstlieutenant Händel gehabt hatte; hielt sich eine Zeitlang für blutarm und beging so vielerlei Torheiten, daß er endlich auf königlichen Befehl unter Aufsicht gestellt und auf seine Güter verwiesen wurde.

Wo lebt er jetzt? fragte ich.

Auf seinen Gütern, zu Flyeln, im Schlosse seines verstorbenen Oheims; es mögen ungefähr zehn Meilen von hier sein. Ein Jahr lang durfte ohne Erlaubnis niemand zu ihm, sogar die Verwaltung seines Vermögens wurde ihm entzogen. Sie ist ihm jetzt wieder überlassen, doch muß er jährlich Rechnung ablegen, darf sich auch keinen Schritt über die Grenzen seiner[303] Gerichtsherrlichkeit entfernen. Er dagegen hat die ganze Welt feierlich in den Bann getan, und läßt weder Verwandte noch Bekannte oder Freunde zu sich. Man hat schon seit Jahr und Tag nichts mehr von ihm vernommen.

Der Besuch

Aus allem, was die Offiziere erzählt hatten, erhellte, daß der unglückliche Olivier, nach Verlust seines Verstandes, doch immer ein gutmütiger Narr geblieben sei, und daß wahrscheinlich das deutschtümelnde Wesen, welches damals zur Modesucht geworden, ihn etwas über die Gebühr ergriffen oder seinem Wahnsinn wenigstens die Farbe gegeben habe.

Alles das hatte mich tief erschüttert; ich konnte nachts lange keinen Schlaf finden. Als ich am andern Morgen erwachte, war es schon spät; aber ich fühlte mich erquickt und gestärkt. Die Welt erschien mir in viel heitererem Lichte als den Abend zuvor, und ich beschloß, meinen bedauernswürdigen Freund in seinem Verbannungsorte zu besuchen.

Nachdem ich noch flüchtig die Sehenswürdigkeiten der Stadt besichtigt hatte, warf ich mich in den Wagen, fuhr bis in die Nacht und kam am folgenden Tage nach Flyeln, in der Nachbarschaft eines Seestädtchens gelegen. Das Dorf Flyeln liegt noch zwei Meilen hinter dieser Stadt. Als der Postmeister hörte, wohin ich wollte, lächelte und meinte, ich werde wohl eine vergebliche Reise machen, denn der Baron lasse sich nicht vor Fremden sehen. Auch erfuhr ich, daß sich sein Gemütszustand nicht gebessert habe, sondern der gute Mann mit der fixen Ideen behaftet sei, die ganze Welt wäre seit Jahrhunderten närrisch geworden, und die Heilung müsse von Flyeln ausgehen. In diesem Prozeß sondere er sich von allen Menschen ab, da die Welt ihn und er die Welt für närrisch halte. Seine Bauern, deren Grundherr er ist, befinden sich übrigens sehr wohl dabei, denn er tut viel für sie. Aber dafür müssen sie auch seinen Grillen in allen Kleinigkeiten [304] gehorchen. Schifferhosen, lange Jacken und runde Hüte tragen; sich den Bart lang wachsen lassen, und alle Leute, wenigstens auf Flyelnschem Grund und Boden, sogar ihren Oberherrn duzen. Abgerechnet diese seine Sparre, wäre er der vernünftigste Mann von der Welt.

Ungeachtet der Warnung des Postmeisters machte ich doch den Versuch, und fuhr hinaus nach Flyeln. Was lag mir daran, noch zwei Meilen vergeblich zu fahren, nachdem ich, um Oliviers willen, mich so weit von meinem Reiseweg hatte abbringen lassen? Und ich hatte keine Ursache zu befürchten, von ihm abgewiesen zu werden, da sein Gedächtnis gelitten haben sollte. Es war freilich ein erbärmlicher, wenig befahrener Weg, der bald durch tiefen Sand, bald durch ausgetretene Bäche und versumpften Boden, bald durch Kieferngestrüpp sich hinzog und meinem Wagen ein paar Male dem Umsturz nahe brachte. Eine Stunde von Flyeln aber wurde die Gegend besser, und eine schöne breite, auf beiden Seiten mit Obstbäumen bepflanzte Fahrstraße verkündete die Nähe eines reichen Gutsbesitzers. Die Felder in der weiten Ebene waren trefflich bestellt; rechts dehnte sich in der Ferne ein hoher Eichenforst mit dunklem Grün, wie ein ungeheurer Laubgewinde aus; links lag das unendliche Meer, ein wallender, weiter Spiegel, der am Rand des Gesichtskreises mit glänzenden Wolken ineinander floß. Flyeln, das Dorf, zeigte sich zwischen Fruchtbäumen, Weiden und Pappeln vor mir; seitwärts erhob sich ein großes, altertümliches Gebäude, das Schloß, wie aus einem Walde von wilden Kastanien hervorsteigend. Abwärts, dem Meere näher, lag das ebenfalls zu Oliviers Herrschaft gehörige Dorf Niederflyeln, malerisch an schroffe Felsen gelehnt, die zuletzt, als umbüschte Klippen, wie kleine Inseln, weit ins Meer hinausgingen. Einige Fischerboote, mit Segeln tanzten am Gestade; auf der Höhe des Meers erblickte man ein segelndes Schiff; die weißen Möwen flatterten scharenweis in den Lüften.

Je näher ich dem Dorfe und dem Schlosse kam, desto malerischer [305] und freundlicher wurde die Umgebung. Es lag in ihr der eigentümliche Reiz einer Seegegend, welche aus der Paarung des Ländlich-Anmutigen mit der Majestät des unübersehbaren Ozeans, des Geborgenen und Friedlichen einfacher Hütten mit dem weiten stürmischen Leben des tückischen Elementes, erwächst. In jedem Fall ist der Verbannungsort meines Freundes reizend genug, um dafür ohne Gram die Freiheit, in geräuschvollen Städten zu wohnen, aufopfern zu können.

Sowohl auf den Feldern als in den Gärten sah ich schon die angekündigten »Flyelner Bärte«. Auch der Wirt, vor dessen Schänke ich hielt und abstieg, war um Kinn und Mund reichlich mit Haarwuchs geschmückt. Er erwiderte meinen Gruß freundlich, schien aber doch über meine Ankunft verwundert. Willst du etwa den Gutsherrn besuchen? fragte er mich höflich. Ich ließ das etwas auffallende Du lächelnd durchgehen und bejahte es. So bitte ich um deinen Namen, Stand und Wohnort. Das muß dem Herrn Olivier gemeldet werden; er nimmt ungern Reisende an.

Aber mich nimmt er gewiß an! Laß er seinem Herrn nur melden, es wünsche ihn einer seiner ältesten und besten Freunde im Vorbeireisen auf ein paar Stunden zu sehen! Mehr lasse er ihm nicht sagen!

Wie du willst, erwiderte der Wirt, aber ich kann dir die abschlägige Antwort voraussagen!

Während der Wirt einen Boten suchte, ging ich langsam durchs Dorf in geradester Richtung gegen das Schloß, zu dem mich ein Fußweg hinzuleiten schien, der zwischen Häusern und Baumgärten dahinlief. Er führte mich aber irre, zu einem Gebäude hin, das ich für ein Waschhaus hielt. Seitwärts, jenseits einer Wiese, floß ein ziemlich breiter Bach, hinter welchem sich die hohen dunkeln Wildkastanien des altertümlichen Stammhauses der Freiherren von Flyeln schattig erhoben. Ich beschloß das Wagestück, mich bei Olivier unangemeldet einzuführen. Ich hatte dem Wirt absichtlich meinen Namen verschwiegen,[306] um, wenn mich Olivier vor sich ließe, zu sehen, ob er mich erkennen würde? Ich ging über die Wiese, fand nach langem Suchen, weiter abwärts über den Bach, Weg und Steg, die mich zwischen Buschwerk, gegen die Wildkastanien zurückführten. Diese beschatteten einen geräumigen, mit grünem Rasen bedeckten runden Platz neben dem Schlosse. Ringsum zog sich im Innern ein breiter mit Sand bestreuter Weg, links und rechts standen zierliche Ruhebänke unter den breiten Zweigen der Bäume, und auf einer der Bänke saß, ich war nicht wenig überrascht, Olivier. Er las in einem Buche. Zu seinen Füßen spielte ein dreijähriges Kind im Grase und neben ihm saß ein bildschöne Frau mit einem Säugling an der Brust. Die Gruppe hatte etwas Wunderbares. Ich stand still, halb vom Gesträuch verdeckt; keiner sah nach mir auf. Meine Augen hingen nur an dem guten Olivier. Der schwarze Bart, der sich ihm um Kinn und Lippen kräuselte und durch den Backenbart mit den dunkeln Locken seines Hauptes zusammenhing, stand ihm wohl. Seine übrige Tracht hatte etwas Eigenes und doch nicht gar Befremdendes. Auf dem Kopf trug er eine Art Barett mit einem Schirm gegen die Sonne; die Brust offen, mit weit überlegtem Hemdkragen; eine grüne weite Jacke, vorn übereinander geknöpft, mit bis gegen das Knie reichenden vorn ganz zusammengehenden Schößen, weiße weite Matrosenhosen und Halbstiefel. Es war ungefähr dieselbe Tracht, welche ich an den Bauern gesehen hatte, nur feinern Stoffs und geschmackvoller. Seine Miene war ruhig und nachdenkend. Auch als Mann, der den Vierzigern entgegenging, konnte er noch schön heißen. Sein Bart gab ihm ein heldenartiges Ansehen; es kam mir vor, als sähe ich eine edle Gestalt aus dem Mittelalter.

Indem trat der Bote meines Schänkwirts vom Schlosse in den Kreis der Bäume. Der junge Bursche zog den kleinen Rundfilz ab und sagte: Herr, es wünscht dich ein Fremder auf der Durchreise zu sprechen! Er sagt, er sei einer deiner ältesten und besten Freunde.

[307] Olivier sah auf und fragte: Durchreise? Ist er zu Fuß?

Nein, er kam mit der Post.

Wie heißt er? Woher ist er?

Das will er nicht sagen.

Er soll mich in Ruhe lassen; ich will ihn nicht sehen! rief Olivier und machte dem Jüngling eine Bewegung mit der Hand, sich fortzubegeben.

Aber du mußt mich doch sehen, Olivier! rief ich, trat hervor und verneigte mich mit einer Entschuldigung gegen die Frau. Er drehte, ohne meinen Gruß zu erwidern, verdrießlich den Kopf nach mir, musterte mich eine Weile mit scharfem Blick, wurde ernster, legte das Buch weg, trat mir näher und sagte: Mit wem habe ich zu sprechen?

Wie, Achilles kennt seinen Patroklus nicht mehr? entgegnete ich ihm.

O Popoi! fuhr er hochbestürzt auf, indem er die Arme auseinander breitete. Sei willkommen, mein edler Patroklus im französischen Frack und gepudertem Haar! – Damit lag er an meiner Brust. Trotz seiner sarkastischen Anrede wurden wir bewegt und zu Tränen weich. In dieser Umarmung schwand ein Zwischenraum von zwanzig Jahren. Wir atmeten wieder wie an den Ufern der Leine, wie zu Bovenden, Norten und auf den Schloßtrümmern der Gleichen.

Darauf führte er mich mit freudestrahlenden Augen zu der reizenden jungen Mutter, die verschämt errötete, und sagte zu ihr: Siehe, dies ist Norbert, du kennst ihn ja aus mancher meiner Erzählungen! – und zu mir: Das ist mein liebes Weib!

Sie lächelte mich unter ihren Locken mit einem wahren Engelslächeln an, und sagte mit einer Miene und einer Stimme, in der noch mehr Güte als in ihrem Worten lag: Edler Freund meines Olivier, sei mir recht sehr willkommen! Ich habe schon lange das Vergnügen deiner persönlichen Bekanntschaft gewünscht.

Ich wollte etwas Verbindliches erwidern; aber ich gestehe, [308] das überraschende trauliche du, welches mir Unbekanntem von so lieblichen Lippen und so unbefangen hingesprochen, entgegenklang, brachte mich für den Augenblick aus aller Fassung.

Meine Gnädige! stammelte ich endlich, ich habe mit dem Umwege von mehr als zwanzig Meilen das Glück nicht zu teuer erkauft, Sie und Ihren Herrn Gemahl, meinen ältesten Freund – –

Holla, Norbert! unterbrach mich Olivier lachend, nur gleich zu Anfang ein vorläufiges Wort, eine Bitte: nenne meine Frau, wie du deinen Gott nennst, einfach du! Störe die schlichten Sitten von Flyeln nicht mit den Schnörkeln deutscher Zeremonien- und Komplimentenmeister; das wäre für unsere Ohren ein unleidlicher Mißklang. Bilde dir jetzt ein, du seist von Deutschland und Europa zweitausend Jahre oder zweitausend Meilen weit geschieden, und lebtest wieder in einer ganz natürlichen Welt, etwa, wenn du willst, im Zeitalter des erfindungsreichen Odysseus!

Also, Olivier, sagte ich, und du begreifst es, mit einer so liebenswürdigen Frau du und du zu sein, läßt man sich nicht zweimal bitten: also Frau Baronin, du – – –

Noch einmal halt! rief Olivier laut lachend dazwischen. Deine Baronin paßt zum Du, wie dein französischer Frack und der rasierte Bart zu dem Namen Patroklus. Meine Bauern sind nicht mehr Leibeigene, sondern freie Herren; ich und meine Frau sind daher nicht mehr und nicht minder Barone, als meine Bauern. Nenne meine Amalia, wie sie hier jeder nennt, Mutter – der edelste Namen des Weibes – oder Frau!

Es scheint, versetzte ich, ihr lieben Leute habt hier mitten im Königreiche eine neue Republik gegründet und allen Adel abgeschafft.

Richtig, allen, bis auf den Adel der Gesinnung! antwortete Olivier. Und daraus siehst du, wir, hier zu Lande, sind noch unendlich aristokratischer, als in euerm Deutschland; denn bei euch dort trägt der Gemütsadel wahrhaftig wenig ein und der [309] Geburtsadel sinkt auch in den Kot, wohin er von Rechts wegen gehört.

Um Verzeihung, du bist etwas jakobinisch gelaunt! entgegnete ich. Wer sagt dir, daß der Geburtsadel bei uns in der öffentlichen Meinung fällt?

O Popoi! rief er, muß ich denn dich noch belehren! Ich kannte vor Jahren noch einen armen, lumpigen Juden, den eure frommen Christen lieber ungeboren als geboren gesehen hätten. Er arbeitete sich aber so viel zusammen, daß er bald Briefe mit dem Prädikat Edelgeboren erhielt. Nach einigen Jahren war er ein reicher Mann, und die höflichen Deutschen begriffen sogleich, daß der Mann von äußerst guter Geburt sein müsse. Alles schrieb ihm von da an sogleich als einem Wohlgebornen Herrn Banquier. Der Banquier half aber mit seinen Dukaten Finanzministern und völkerbeglückenden Kriegsministern aus der Geldklemme. Auf der Stelle wurde der nützliche Millionär ein Hochwohlgeborner Herr Baron von und zu. – Diese Aufklärung der Deutschen, dieser Spott mit dem Adelswesen führt in wenigen Jahrhunderten weiter als du glaubst. Ich glaube aber, ist der Geburtsadel bei euch erst null, so wird der Gemütsadel sich wieder geltend machen.

Um ihren Säugling zur Ruhe zu bringen und mein Zimmer zu ordnen, verließ uns die Baronin mit den Kindern. Olivier führte mich durch seinen Garten, dessen Beete mit den schönsten Blumen besetzt waren. Um einen Springbrunnen standen auf hohen Sockeln von schwarzem Gestein weiße marmorne Brustbilder mit goldenen Unterschriften. Ich las da: Sokrates, Cincinnatus, Columbus, Luther, Bartolome de las Casas, Rousseau, Franklin, Peter der Große. Ich sehe, du liebst noch gute Gesellschaft! sagte ich. Kann man unter den Lebenden Liebenswürdigere finden, als dein niedliches Weib mit den beiden Amoretten, und unter den Toten Ehrwürdigere, als diese da?

Hast du an meinem guten Geschmack gezweifelt? antwortete Olivier.

[310] Das eben nicht; aber, Olivier, du ziehst dich doch sonst, höre ich, von aller Welt zurück, versetzte ich.

Eben weil ich nur gute Gesellschaft liebe, die nirgends weniger in Europa zu Hause ist, als in der Gesellschaft von gutem Ton.

Doch wirst du zugeben, lieber Olivier, daß auch außer Flyeln noch gute Gesellschaft möglich sei!

Allerdings, Norbert, nur möchte ich keine Jahre und Geldsummen verschwenden, um sie zu suchen! Laß uns davon abbrechen! Ihr Europäer seid wie im Wichtigsten, wie im Geringsten, so ungeheuer von der heiligen Einfalt der Natur abgewichen, seit Jahrtausenden zu solchen verkünstelten Tieren entartet, daß euch die Unnatur zur zweiten Natur geworden ist, und ihr einen schlichten Menschen gar nicht mehr versteht. Ihr seid Zerrbilder des Menschengeschlechts geworden, von außen und von innen, daß einem gesunden Wesen unter euch grauen muß. Nein, ehrlicher Norbert, brechen wir davon ab; du würdest mich gar nicht verstehen, wenn ich redete! Ich schätze dich, ich liebe dich, ich bedaure dich!

Bedauern? Warum das?

Weil du unter Narren lebst und wider dein Wissen mit ihnen ein Narr sein mußt.

Bei diesen Worten Oliviers merkte ich, daß er auf seine fixe Idee kam. Es wurde mir unheimlich bei ihm; ich wollte ihn auf andere Gegenstände bringen, sah ängstlich umher, und fing, da mir eben sein Bart wieder auffiel, diesen zu loben an, und daß er ihm so wohl stehe. Seit wann läßt du ihn wachsen? fragte ich.

Seit ich zur Vernunft kam und den Mut hatte, vernünftig zu sein. – Gefällt er dir auch wirklich, Norbert? Warum trägst du nicht auch einen?

Ich zuckte die Achseln und sagte: Wenn es allgemein Sitte wäre, trüge ich ihn mit Freuden.

Da haben wir's! Weil also die Narrheit Sitte ist, die Natur mit dem Barbiermesser auch am Kinn des Mannes mit Stumpf und [311] Stiel auszurotten, hast du nicht einmal den Mut, auch nur in dieser Kleinigkeit vernünftig zu sein. Diesen Schmuck des Mannes gab Mutter Natur so wenig vergebens, als die Locken des Hauptes. Aber der Mensch in seinem Wahne bildete sich ein, weiser als der Schöpfer zu sein, schmierte Seife ums Kinn und glättete es mit dem Messer. So lange die Nationen nicht ganz von der Natur abgefallen waren, behielten sie noch den Bart bei. Trotz dessen, daß ihn noch Christus und die Apostel trugen, erklärte ihn Papst Gregor VII. in den Bann; und doch behielten ihn die Geistlichen am längsten bei, wie noch heute die Kapuziner. Aber als alte Gecken begannen, sich ihres grauen Haares zu schämen, fingen sie an, es am Kinn zu vertilgen und auf dem Kopfe unter Perücken zu verstecken. Weil man sich gegenseitig in allem zu belügen gewohnt war, suchte man sich auch um das Alters zu belügen. Greise hüpften mit blonden Haupthaaren und glattem Kinn, wie weibische Jünglinge, und das machte auch ihre Gemütsart weibischer; und alle andern folgten, weil sie zur Wahrheit keinen Mut hatten. Stelle mir neben die Heldengestalt eines Achilles, Alexander oder Julius Cäsar einen unserer heutigen Generalfeldmarschall-Lieutenants in ihrer geschmacklosen Uniform, einen unserer Elegants oder Zierbengel im Tanzmeister-Schritt neben einen Antinous; dich, Herr Geheimrat von Norbert, neben einen Senator des alten Griechenlands oder Roms, muß man da nicht über unsere Karikaturen aus vollem Halse lachen? –

Du hast recht, Olivier, sagte ich verlegen, und wer wird leugnen, daß die altrömische oder griechische Tracht edler als die unsrige sei? Allein wir Europäer, bei uns im Norden der fest anschließenden Kleider gewohnt und bedürftig, würden uns bei dem malerischen Faltenwurf der Orientalen und Südländer etwas unbehaglich fühlen.

Sieh mich an, Norbert! sagte Olivier lächelnd, stellte sich vor mich hin, drückte das Barett auf seinem Kopf ein wenig seitwärts, stemmte keck die linke Hand auf seine Hüfte und sagte: [312] Ich Nordländer, in meiner anschließenden, bequemen und einfachen Tracht, würde ich denn neben einem altrömischen Bürger so sehr übel aussehen? Warum gefällt uns noch immer die spanische, italienische und deutsche Tracht des Mittelalters? Weil sie, obwohl nordisch, schön ist. Ein österreichischer Reiter im Helm, selbst der Husar würden heute noch dem Auge Julius Cäsars gefallen. Warum, ihr andern steifen Herren, folget ihr nicht dem Bessern, wie unsere Frauen schon begonnen haben, seit sie die Schleppen und gepuderten Toupés ablegten? Würdet ihr euch einmal schämen, von außen Karikaturen zu sein, vielleicht würdet ihr dann auch von innen aufs Natürlichere kommen. Es liegt etwas Wahres in dem Sprichwort: Kleider machen Leute; und ich sage dir, Norbert, meine Amalie hat mich hübscher gefunden, seit ich mir den Bart nur leicht mit der Schere stutzte, aber nicht ganz abnehme; ja, ich glaube, es ist seitdem ihre Zuneigung etwas inniger geworden, seit sie ihre Wange nicht mehr an ein glattes Weibergesicht, sondern an das männliche lehnt; denn das Weib will den Mann männlich!

Indem Olivier so sprach, war er ganz Feuer. Er stand in der Tat wie ein kräftiges, aus einem alten Gemälde lebendig hervorgegangenes Heldengebilde früherer Jahrhunderte vor mir; wie jemand aus einer Welt, die nicht mehr unsere Welt ist, und die wir nur bewundern, aber nicht wiederherstellen können.

Wahrhaftig, du könntest mich, sagte ich zu ihm, zum ehrlichen Bart bekehren, und ich gewänne dabei noch, daß ich der täglichen Folter des Bartscherers entginge!

Freund, rief Olivier lachend, dabei könnte es nicht bleiben; der Bart zieht viel anderes nach sich! Denke dir deine Figur im krausen Bart, und dazu den dreieckigten Schnabelhut auf dem Kopf, wie ein Trödler; das gepuderte Haupt mit dem Rattenschwanz im Nacken, und den französischen Frack mit Rockschößen, die dir hinten wie ein Bachstelzen- oder Schwalbenschwanz stehen. Fort mit den Narrheiten! Kleide dich bescheiden, schamhaft, warm, bequem, aber geschmackvoll, daß es [313] auch dem Auge wohltut und die erhabene Menschengestalt nicht verzerre! Alles Zwecklose verbanne! Eben das Zwecklose ist das Unvernünftige, eben das Unvernünftige ist das Unnatürliche!

Als wir noch über diesen Gegenstand unsern Wortwechsel fortsetzten, ließ uns die Baronin durch einen Diener zum Mittagessen rufen. Ich ging neben Olivier hin und hatte den Kopf voller Gedanken, die ich leider nicht aussprechen durfte. Es war mir ganz wunderlich zumute, und ich mußte den Baron ein paar Mal seitwärts ansehen. In meinem Leben war mir's nicht geworden, einen Irren so philosophieren zu hören. Ich war auch gar nicht imstande, seinen Bemerkungen über die europäische Kleidertracht gründliche Einwendungen entgegenzustellen; was er sagte, schien mir richtig. Hier ließ sich mit Recht das Sprichwort anwenden: Kinder und Narren reden die Wahrheit.

Das Gastmahl

Bei Oliviers Vorliebe zu den alten Römern und den homerischen Griechen wurde ich auf dem Hingange zum Schlosse ein wenig wegen des Mittagsmahls besorgt; denn nach seinem Bart, Barett und übrigen Anzug zu schließen, konnte ich nur eine für mich höchst unbequeme Haltung am Tisch erwarten; nämlich daß ich entweder altrömisch, auf Polstern der Länge nach hingelagert, oder wohl gar schneidermäßig, auf gut orientalisch, die Beine kreuzweis untereinander geschlagen, die Suppe einnehmen müsse.

Die liebenswürdige Baronin kam uns entgegen und führte uns ins Speisezimmer. Meine Sorge wurde sogleich durch den Anblick europäischer Tische und Stühle gehoben. Es waren zwölf Gedecke auf dem runden Tische. Die Gäste fanden sich auch bald ein; es waren Mägde, Knechte, Schreiber des Barons. [314] Ein artiges junges Stubenmädchen blieb ohne Stuhl und bediente, als Hebe, die andern beim patriarchalischen Mahle. Der Baron verrichtete, ehe wir uns setzten, ein kurzes Gebet; dann ging's an die kräftige Suppe. Die Speisen waren vortrefflich zubereitet, doch einfach. Ich bemerkte, daß, außer dem Wein alle Gerichte aus den Erzeugnissen des eigenen Bodens und benachbarten Meeres bestanden; daß alle fremden Gewürze fehlten, selbst der Pfeffer, deren Stelle Salz, Kümmel, Fenchel usw. einnehmen mußten.

Die Unterhaltung war heiter und allgemein; sie betraf meistens ländliche Geschäfte oder Ereignisse in der Umgegend von Flyeln. Die Leute betrugen sich in Gegenwart ihrer Herrschaft weder blöde, noch unbescheiden, sondern mit vielem Anstande. Ich kam mir unter diesen hübschen bärtigen Männern in ihrer schlichten Tracht, mit ihrem brüderlichen und doch ehrerbietigen Du – ich möchte fast sagen, etwas albern oder lächerlich vor und saß, mitten in Europa, mit meinem Puderkopf, meinen steifen Zöpfen, dem Frack und geglätteten Kinn, wie in einem fremden Weltteil da. Es war mir recht wohltuend, daß, so sehr ich auch von allen abstach, und so häufig mir auch zwischen dem Du, besonders wenn ich damit die reizende Baronin anreden sollte, ein Sie durchschlüpfte, doch niemand dadurch zum Lachen gereizt wurde.

Nach einer halben Stunde ließ uns die Dienerschaft allein; wir drei andern aber pflogen des Mahles und wurden beim alten goldenen Rheinwein traulicher im Gespräch.

Ich sah dir's wohl an, sagte die Baronin lächelnd zu mir, indem sie einige Leckereien von Backwerk auftrug, du vermissest in Flyeln die Hamburger oder Berliner Küche.

Und ich sehe es meiner liebenswürdigen Freundin an, versetzte ich, daß ich der Küche von Flyeln noch das gebührende Lob schuldig bin, das ich ihr selbst auf Unkosten der Berliner und Hamburger Küche zollen kann, ohne eine Schmeichelei erborgen zu müssen. Nein, ich bekenne dir, zum ersten Male in [315] meinem Leben lernte ich bewundern, was für eine leckere Kost unser heimatlicher Boden uns liefern kann, und wie leicht wir der Molukken entbehren können!

Setze hinzu, Freund Norbert, sagte Olivier, und mit den Molukken auch die Überreizungen unserer Nerven und die fremden Laster, die sich aus den überreizten oder abgestumpften Nerven im krankhaften Leibe entwickeln! Ohne gesundes Fleisch und Blut, kein gesunder Sinn und Mut! Die meisten Europäer sind heut zu Tage, durch ihre Kochkunst, Selbstmörder, Leibes-und zugleich Seelenmörder. Was eure Rousseaus und Pestalozzis gut machen wollen, verderbt ihr wieder mit Kaffee, Tee, Pfeffer, Muskatnüssen und Zimt. Lebt einfach, lebt natürlich, und ihr könnet zwei Drittel eurer Predigten, Moralbücher, Zuchthäuser und Apotheken ersparen!

Ich gebe es zu, sagte ich, und man wußte das schon längst; allein ...

Nun denn! rief er, eben darin besteht die bis jetzt heillose Narrheit der Europäer. Sie wissen das Bessere und meiden es; sie verabscheuen das Schlechtere und suchen es. Sie vergiften ihre Speisen und Getränke mit teuern Giften, und halten Doktoren und Apotheker, nun wieder genesen und die Vergiftung erneuern zu können. Sie befördern die vorschnelle Reife der Knaben und Mädchen, und jammern hinterher erschrocken über deren verwilderte Triebe. Sie ermuntern durch Gesetze und Belohnungen, ohne es zu wollen, das Sittenverderben, und strafen es hinterher mit Galgen und Schwert. Sind sie nicht allesamt den Irrenhäuslern gleich?

Aber, lieber Olivier, das war doch wohl von jeher so?

Ja, Norbert, von jeher; das heißt, so bald und so oft die Menschen sich einen Schritt weit von der Natur zur Entartung entfernten! Wir, durch den Schaden der Väter endlich gewarnt, sollen aber nicht nur wissensreicher, als sie, sondern auch weiser sein. Wozu sonst unser Wissen? Denjenigen achte ich für den Vernünftigsten, welcher mit der Unschuld und Lebensreinheit [316] der Naturkinder die mannigfaltige Kenntnis und Geistesbildung des Zeitalters vereint. Gibst du dies zu, Norbert?

Wie sollte ich nicht?

Wie, du gibst dies zu? und machst in deinem Hause und in deinem Innern nicht den Anfang des Bessern?

Es könnte doch unter gewissen Umständen möglich werden. Indessen bekenne ich dir, Olivier, wir Kunstmenschen so gut, wie die einfachsten Naturmenschen, hangen in den schwer zerbrechlichen Banden der Gewohnheit! Unser gekünsteltes Sein ist schon wieder eine Art Natur geworden, die wir ungestraft nicht plötzlich ablegen können.

Vormals dachte ich gleich dir, Norbert! Jetzt habe ich mich durch Erfahrung vom Gegenteil überzeugt. Es gehört nur ein einziger schwerer Augenblick dazu, ein starkes Herz, den ersten Kampf mit der Torheit der Welt zu bestehen, um zur Glückseligkeit und Ruhe durchzubrechen. Ich schwankte lange; ich kämpfte lange vergebens. Ein bloßer Zufall entschied mein Glück und das Glück meiner sämtlichen Angehörigen.

Und dieser Zufall? Erzähle mir auch den, sagte ich, denn ich war begierig, das kennenzulernen, was unmittelbar auf Gemüt und Verstand meines Freundes so mächtig eingewirkt hatte, ihn zu den seltsamsten Grillen und zu der schwärmerischen Lebens- und Handlungsweise zu bringen.

Er stand auf und verließ uns.

Nicht so, lieber Norbert, sagte die Baronin, indem sie mich eine Weile schweigend anblickte, und es lag in dem zärtlichen Lächeln ihres Auges eine ernste Frage an mein Herz, du fühlst Mitleiden mit meinem Manne?

Nur mit den Unglücklichen, nicht mit den Glücklichen sollen wir Mitleiden haben! versetzte ich ausweichend.

Vielleicht weißt du's, er wird von seinen Verwandten verabscheut, von seinen ehemaligen Bekannten verachtet und von aller Welt als Verrückter behandelt.

[317] Liebenswürdige Freundin, einiges vielleicht abgerechnet, was mir wohl Übertreibung zu sein scheint, die, um nicht anstößig zu werden, mit kluger Umsicht zu meiden wäre – dies abgerechnet, bekenne ich, fand ich bisher an Olivier nichts, was des Abscheues oder der Verachtung wert wäre! Doch ich kenne ihn noch viel zu wenig.

Lieber Freund, fuhr sie fort, und gilt dir die Stimme der öffentlichen Meinung nichts?

Wenigstens noch über meinen Olivier noch nichts, erwiderte ich, denn ich weiß sehr wohl, daß die öffentliche Meinung Jerusalems einst nach der Kreuzigung der Unschuld rief; daß die öffentliche Meinung Weltenzerstörer groß nannte; daß sie Weise für Wahnsinnige hielt, und Priester der Torheit und Üppigkeit mit dem Beinamen der Göttlichen schmückte.

Ich freue mich, sagte die Baronin mit einiger Lebhaftigkeit, du wirst meinen Olivier liebgewinnen; du bist ein edler Mann, seiner Freundschaft würdig! Glaube mir, Olivier ist ein Engel, und man stößt ihn von der menschlichen Gesellschaft wie einen Verbrecher oder Tollhäusler aus!

Als wir so miteinander redeten, trat Olivier wieder zu uns; er trug in der Hand ein kleines Buch; mit dem warf er sich in seinen Sessel und sprach: Sieh hier des Zufalls oder der himmlischen Vorsehung Werkzeug zu meiner Genesung von Schwäche und zum Erwachen vom Wahnsinn. Es ist ein unbedeutendes Buch, der Verfasser ungenannt und unbekannt; es sagt viel Gemeines und Alltägliches, aber es gewährt zwischendurch ganz unerwartete Lichtblicke. Selbst der Titel »Träumereien eines Menschenfreundes« verspricht nicht viel. Ich fand es eines Tages, als ich noch in Garnison lag, auf dem Tische eines Bekannten, und steckte es zu mir, um allenfalls etwas zu lesen zu haben, da ich mich im freien Grünen vor den Stadttoren ein wenig ergehen wollte. Als ich draußen im breiten Schatten eines Ahorns lag und über mancherlei Verkehrtheiten des Lebens ärgerlich war, schlug ich mein Buch auf und es fiel mir ein [318] Abschnitt mit der Aufschrift in die Augen: »Fragmente aus der Beschreibung der Reise des jüngeren Pytheas nach Thule«.

Laß hören, sagte ich, was der alte Grieche aus Massilia von unserm Norden zu erzählen weiß; er war ein Zeitgenosse von Aristoteles.


Er las:

Fragmente aus der Beschreibung der Reise des jüngeren Pytheas

Fragmente aus der Beschreibung der Reise des jüngeren Pytheas nach Thule

(Aus dem Griechischen)


– – – Ich rede aber die Wahrheit, o Freunde, wenn schon sie auch unglaubhaft scheinen wird! Doch bedenket, daß in jenen rauhen Gegenden des Nordens die Natur selbst den Menschen durch unfreundliche Härte von sich zurückdrängt und ihn durch Versagungen zu mancherlei Erfindungen zwingt, um das Leben erträglicher zu machen! Wir bedürfen dessen in unserm Vaterlande nicht, wo die Natur gütiger gegen die Sterblichen ist, und wir während des Winters und Sommers im Freien wohnen, und was zur Fristung und Anmut des Daseins nötig ist, ohne Mühe gewinnen. Jene aber, die unter der Strenge eines halbjährigen Winters seufzen, müssen darauf sinnen, sich in geheizten Häusern einen künstlichen Sommer zu schaffen. Und weil sie von der Natur zurückgestoßen und auf sich selbst angewiesen sind, werden sie mehr, als wir, zur Beschäftigung des Geistes mit eiteln Träumen, schönen Entwürfen, die sie nie ausführen, und zur Erforschung alles Wissenswerten hingetrieben. Daher sind sie kenntnisreich und in allerlei Dingen vielwissend, die weder zur Weisheit, noch Glückseligkeit nützen, und schreiben große Bücher von nichtswürdigen Sachen, die bei uns weder geachtet, noch kaum dem Namen nach bekannt sind. Ja sie haben dafür besondere Schulen und Lehrstühle errichtet – –

[319] Aber die Witterung ist auf jener mitternächtlichen Seite der Welt so beschaffen, daß Wärme und Frost, Tage und Nächte von einem Äußersten zum andern Äußersten übergehen, daß kaum ein angenehmer Mittelzustand eintritt, welcher dem Geiste und dem Leibe zuträglich ist. Denn in ihren Sommern leiden sie eben so große Hitze, als in ihren Wintern tödlicher Kälte; eine Hälfte des Jahres haben ihre Tage fast die Länge von achtzehn Stunden und in der andern Hälfte kaum die Länge von sechs Stunden. Eben so unstet, ausschweifend und veränderlich wie ihre Witterung ist daselbst auch das Gemüt des Menschen. Festigkeit der Denkungsart und des Willens gebricht fast allen. Sie haben von Jahr zu Jahr neue Kleidertrachten, neue Dichtungen und neue Weltweisheiten. Diejenigen, welche gestern die Tyrannei stürzten, begeben sich, nachdem sie das Glück der Freiheit mit dem Munde priesen und mit dem Leben mißbrauchten, morgen freiwillig in die Knechtschaft zurück. – –

So herrscht bei jenen Barbaren die größte Ungleichheit in allen Dingen. Ein Teil des Volkes, aus wenigen Familien bestehend, besitzt jede Bequemlichkeit, den größten Reichtum, und schwelget im Überflusse; aber weitaus die Mehrheit ist arm und von der Gunst der Reichen in großer Abhängigkeit. Ebenso sind zwar einzelne im Besitze der Schätze des Wissens, aber die Menge des Volks lebt in der Finsternis der Unwissenheit. Sowohl Fürsten als Priester finden solche Unwissenheit für ihr eigenes Ansehen zuträglich und erhalten den Pöbel in derselben, welcher dazu ohnehin durch Armut und Trägheit geneigt ist. Daher liebt der Pöbel bei jenen Völkern die gewohnte Weise seiner Vorfahren in allen Gebräuchen, Einrichtungen und übrigen Dingen, welche den Geist betreffen, und ist nur in Sachen körperlichen Genusses zur Veränderlichkeit geneigt. Doch pflichtet er jeder Neuerung bei, sie möge gerecht oder ungerecht sein, wenn sie ihm Geld oder häuslichen Gewinn bringt. Denn Geld und erhitzendes Getränk geht bei jenen Barbaren über Gewohnheit, Ehre und Götterfurcht.

[320] Bei den Völkern in Thule ist die Freiheit unbekannt, und welche sie vor Zeiten besessen haben mögen, denen ist sie nach und nach, durch Gewalt und Schlauheit der Großen, genommen worden. Sie werden von Königen beherrscht, welche vorgeben, sie seien Söhne der Götter, und die Könige und ihre Satrapen werden eben so oft von Beischläferinnen oder Günstlingen beherrscht, als von ihren Ratgebern. Das Volk ist in erbliche Kasten geteilt, wie bei Indern und Ägyptern. Zur ersten Kaste gehören die Könige und ihre Kinder. Zur zweiten gehören die Großen, deren Kinder beim Kriegsheer und im Staat, auch beim Altar der Gottheiten die vornehmsten Ämter verwalten, ohne Rücksicht auf ihre Würdigkeit. Denn was unglaublich für uns ist, das ist bei jenen Barbaren ein Herkommen, daß die Kaste oder die Geburt höher geachtet wird, als alles andere Verdienst. In der dritten Kaste leben die geringen Beamten, die Handwerker, Kaufleute, gemeinen Krieger, die Hirten und Ackerleute, desgleichen die Künstler, Gelehrten und gemeinen Priester. In der vierten Kaste sind die Leibeigenen oder Sklaven, welche man wie Haustiere verkaufen oder verschenken kann. Bei einigen Völkerschaften, die ihre erste Rohheit schon zum Teil abgelegt haben, fehlt jedoch schon die vierte und letzte von den Kasten; eben so findet man einzelne Völkerschaften, wo gute Fürsten, welche die Gewalttätigkeit ihrer Großen erkannten, keine Gesetze anders, als mit Zustimmung eines, aus den verschiedenen Kasten des Volks gewählten Senats geben.

Die Könige in den Ländern von Thule leben untereinander in fast immerwährender Feindschaft. Die Schwächern sind nur sicher durch den gegenseitigem Neid der Stärkern. Wo aber die Stärkern solche Eifersucht unter sich verlieren, fallen sie die schwächern Staaten, unter schlecht ersonnenen Vorwänden, mit Krieg an, und verteilen sie unter sich. Dafür lassen sie sich den Titel der Gerechten, der Väter des Vaterlandes, oder der Helden beilegen, wie denn dergleichen eitle Beinamen überall und [321] von jeher bei den Barbaren beliebt gewesen sind. So oft aber die untere Kaste in irgendeinem Lande von ihren bessern Einsichten Gebrauch macht und sich gegen die übermäßigen Vorzüge der obern Kasten auflehnt, so setzen alle Fürsten und höhern Kasten der übrigen Reiche ihre besondern Streitigkeiten beiseite und vereinigen sich zur Herstellung der vorigen Ordnung auf fremdem Boden, oft auf eine sehr uneigennützige Weise. Ein solcher Krieg wird bei den Barbaren immer als ein heiliger angesehen, weil sie glauben, daß die Könige und die Rangordnung der Kasten von den Göttern selbst eingesetzt worden seien.

Unter allen öffentlichen Ausgaben ist diejenige zur Unterhaltung der Pracht an den Höfen die größte, und nächst dieser ist die Ausgabe für das Heer, selbst in Friedenszeiten, die wichtigste. Für den Unterricht des Volks, für den Landbau und alles, was die Glückseligkeit der Menschen befördert, wird das wenigste ausgegeben. In den meisten Ländern von Thule, wo die gewerbetreibende Kaste die zahlreichsten Pflichten und die wenigsten Rechte hat, muß diese durch Abgaben fast allgemein den ganzen Aufwand und die Bedürfnisse des Gemeinwesens befriedigen.

Was die Religion dieser Barbaren betrifft, so behaupten sie alle, von einer und derselben zu sein, und alle rühmen sich ein und desselben Urhebers ihrer Lehre. Allein die Arten ihres Gottesdienstes sind mannigfaltig verschieden, so wie die Meinungen über die Person ihres Religionsstifters. Deswegen feinden sich die Parteien mit großer Erbitterung an; sie verfolgen und verachten sich. Im ganzen findet man bei allen Parteien vielen Aberglauben, den aber die Priester befördern. Vom höchsten Wesen haben sie unwürdige Vorstellungen, denn sie legen ihm sogar menschliche Leidenschaften bei. Und wenn die Könige ihre Völker gegeneinander in den Krieg führen, wird auf beiden Seiten den Priestern geheißen, das höchste Wesen anzurufen, die Gegner zu verderben. Nach erfochtenem Siege danken sie dem höchsten Wesen für das ihren Feinden gestiftete Verderben.

[322] Ihre meisten Geschichtsbücher verdienen kaum gelesen zu werden; denn dieselben enthalten gewöhnlich keine Nachrichten von den Nationen, sondern nur von ihren Königen und deren Heiraten, Erbfolgen, Kriegen und Gewalttaten. Die Namen der nützlichsten Erfinder und Wohltäter werden kaum erwähnt, aber die Namen der verwüstenden Feldherrn stehen überall voran, gleichsam als wenn diese die Wohltäter des menschlichen Geschlechts wären. Auch sind die Geschichte dieser Völker, wegen ihrer von den unsrigen abweichenden Sitten, schwer zu verstehen; denn bei ihnen ist weder zu allen Zeiten, noch auch zu einer und derselben Zeit in allen Ständen, einerlei Begriff von Ehre oder Tugend zu finden. In den höhern Kasten kann Unzucht, Ehebruch, Verschwendung, Spielwut, Mißbrauch der Gewalt löblich genannt werden, oder als anmutige Schwäche erscheinen; was in den untern Kasten, als Laster oder Verbrechen mit Tod und Kerker bestraft wird. Wider Betrug und Diebstahl hat das Gesetz für die untern Kasten die härtesten Strafen angedroht; wenn aber ein Großer mit Klugheit das Land betrügt, und sich auf Kosten seines Fürsten bereichert, wird er sehr häufig in Ehren erhöhet oder mit einem Gnadengehalt entlassen. Wie mit Tugenden und Lastern, wird es auch mit der Ehre gehalten. Die Mitglieder der oberen Kasten bedürfen keiner andern Ehre, als ihrer Geburt, um alle Vorzüge zu erlangen, und nur wenige aus den untern Kasten, und diese nur selten, können durch Tugenden dem Ansehen jener Günstlinge des Zufalls gleichkommen. Die Ehre aber, welche durch Zufall der Geburt entsteht, kann eben so zufällig durch ein bloßes Schimpfwort vernichtet werden. Der, welcher mit einem Wort die Ehre verletzt hat, und der, welchem sie verletzt worden ist, begegnen sich nach vorgeschriebenen Ordnungen wie Rasende mit Waffen, und suchen einander zu verwunden. Sobald nun eine Wunde oder der Tod beigebracht worden ist, gleichviel welchem von beiden, glauben sie aufrichtig, die Ehre sei wieder hergestellt.

[323] Übrigens haben die Barbaren miteinander gemein, daß sie insgesamt auf Gewinn erpicht sind, und dafür Leben und Tugend wagen. Es gehört zu den Seltenheiten, welche Erstaunen und Gelächter erregen, wenn einer für den andern unentgeltlich arbeitet, oder sein Hab und Gut dem Wohl des Gemeinwesens opfert. – Sie reden übrigens viel von edlen Gesinnungen und großmütigen Handlungen; doch sieht man dieselben nur auf den Schaubühnen unbespottet erscheinen. Die Einwohner von Thule gleichen fast alle den Schauspielern, und haben in der Kunst, etwas anderes vorzustellen, als sie sind, eine große Fertigkeit. Keiner von ihnen spricht leicht gegen andere so, wie er denkt. Daher nennen sie Menschenkenntnis die schwerste Kunst, und Lebensklugheit die höchste Weisheit.

Indessen können sie sich doch nicht so sehr verstellen, daß man nicht ihre Schalkheit oder Unbehilflichkeit erkennen sollte; denn da sie mit der menschlichen Vernunft beständig in Widerspruch stehen, anders lehren als handeln, anders empfinden als reden und zu ihren Zwecken oft die widersinnigsten Mittel wählen, wird ihre Roheit offenbar. Um zum Ackerbau zu ermuntern, belasten sie den Landmann mit den schwersten Abgaben und der größten Geringschätzung; um zu Verkehr und Handel anzuspornen, errichten sie zahlreiche Zollstätten und erlassen viele Warenverbote; um gefehlt habende Menschen zu strafen und zu verbessern, sperren sie dieselben in öffentliche Zwanghäuser zusammen, wo sie sich gegenseitig mit Lastern noch ärger vergiften, und von wo sie als vollendete Verbrecher in die menschliche Gesellschaft zurückkehren. Um ihres gesunden Leibes zu pflegen, verkehren sie die Ordnung des Lebens: einige wachen in der Nacht und schlafen am Tage; andere zerstören die Säfte ihres Lebens durch erhitzende Getränke und Gewürze, die sie für große Geldsummen aus Indien kommen lassen, so daß kaum eine arme Haushaltung zu finden ist, welche sich mit dem Ertrag ihres Feldes oder ihrer Herde begnügt, [324] ohne Getränke aus Arabien oder Gewürze aus Indien und Fische aus entfernten Meeren hinzuzutun. – – –

Die Wirkung der Fragmente des jüngern Pytheas

Hier endete Olivier die Vorlesung und sah mich mit fragenden Blicken an.

Lächelnd sagte ich: Man muß gestehen, der Ton darin ist gut gehalten. Ungefähr so würde einer der alten griechischen Weisen seiner Zeit von den barbarischen Nationen Asiens gesprochen haben, wenn er sie besucht hätte. Recht brav! Selbst an der Steifheit der Schreibart merkt man, daß diese Fragmente nur Übersetzung sind; indessen glaube ich doch nicht an ihre Echtheit. Wir haben von Pytheas, meines Wissens, nichts als ...

Da unterbrach mich Olivier mit unmäßigem Gelächter und rief: O du Kind des neunzehnten Jahrhunderts, der du immer nur an der Schale der Dinge herumtastest und den Kern darüber vergißt; der du immer mit dem Schein zu schaffen hast, und nicht in das Wesen dringst, siehst du und hörst du denn nicht, daß du selbst ein Bürger von Thule bist? – Was? Asien? Nein, so würde ein Weiser der griechischen Vorwelt von euch Europäern geredet haben, wenn er euch zu seiner Zeit hätte besuchen können!

Du hast recht, Olivier! Du ließest mich nur nicht zu Ende kommen. Ich wollte noch hinzusetzen, daß diese Fragmente mit den persischen Briefen von Montesquieu zu vergleichen sind. Die Rede ist von uns; die treffende Wahrheit ist unverkennbar.

Ich verstehe dich nur halb, dich Kunstmenschen. Nicht so, du beurteilst die Kunst des Verfassers, ob er die Wahrheit getroffen habe? Oder meinst du, dieWahrheit habe dich getroffen?

Beides! Doch auf dich, lieber Olivier, machte sie schmerzlichere [325] Eindrücke, wie du vorhin erzähltest; du lagst mit diesem Buche im Schatten eines Ahorns. Erzähle weiter!

Gut, da lag ich. Wie ich die Fragmente gelesen hatte, warf ich das Buch von mir, sank mit dem Haupte ins Gras zurück, starrte in die dunkle Bläue des ewigen Himmels über mir, in die Tiefen des unbegrenzten Weltalls, dachte an Gott, den Alleserfüllenden, alles mit Liebe und Herrlichkeit Durchdringenden, an die Ewigkeit meines Daseins in dieser Unendlichkeit, und verstand in dem Augenblicke dieser erhabenen Vorstellungen viele Worte Christi besser, des Wiederoffenbarers der göttlichen Verhältnisse unserer Geister: In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Oder: Wer das Reich Gottes nicht empfängt als ein Kindlein, der wird nicht hineinkommen. Oder: Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst, und nehme sein Kreuz auf sich täglich, und folge mir nach. – Und ich erkannte die Göttlichkeit Christi nie klarer als damals. Ich dachte an die Entartungen des Menschengeschlechts, wie dasselbe von Jahrtausend zu Jahrtausend immer weiter von der Wahrheit, Einfalt und Seligkeit der Natur, zum tierischen, verkünstelten, wahnsinnigen und schmerzensvollen Leben abgeirrt ist. Ich flog in Gedanken in die Urwelt, zu den ersten Völkern, zu den einfachen Denkweisen der hohen Alten zurück. Ich seufzte; ich fühlte Tränen in meinen Augen. Ich wurde in Gedanken wieder ein Gotteskind. Warum kann ich nicht wahr fühlen, wahr denken, wahr reden, wahr handeln wie Jesus Christus? Kann ich nicht die Fesseln des Gewohnten abstreifen? Was anders, als dumme Scheu, hindert mich, unter Wahnsinnigen, unter verkehrten Barbaren ein Vernünftiger, ein Gottesmensch zu sein? So sprach ich. In meiner Einbildung war ich's nun schon. Ich schloß die Augen. Ich empfand eine unaussprechliche Seligkeit, frei von der in ihrer Vertierung sich quälenden Welt, mit Gott, mit der Natur, dem Weltall und der Ewigkeit wieder versöhnt und eins zu sein. So lag ich lange; denn als ich die Augen öffnete, war die Sonne verschwunden und das Abendrot umstrahlte und vergoldete alles.

[326] Ich kenne diese heiligen Zustände! sagte die Baronin.

Als ich mich erhob, um in die Stadt zurückzukehren, fuhr Olivier fort, und meine Uniform an mir erblickte, durchzuckte es mich wie ein Blitz. Ekelhaft lag die Welt mit allen ihren Torheiten, mit allen ihren Widersinnigkeiten vor mir da; nie sah ich den gräßlichen Abfall der Menschheit von dem Ewigen, Wahren und Heiligen klarer ein, als in jenem Augenblicke. Ich erkannte, daß Sokrates, lebte er heute, noch einmal den Giftbecher trinken müßte; daß Christus, lebte er heute, in jeder Stadt sein Jerusalem wieder finden, von den christlichen Sekten einstimmig zum Kreuz geführt, von den Fürsten als Feind der alten guten Ordnung, als Volksverführer, als Schwärmer verurteilt werden würde. – Ich schauderte. Da fragte ich mich mit lauter Stimme: Hast du Mut? – Der feste Wille durchdrang mich. Ich antwortete mit lauter Stimme: Ich habe Mut. Es soll sein! Ich will vernünftig werden, entstehe daraus, was wolle!

Am andern Morgen – ich hatte einen erquickenden Schlaf gehabt und fast alles vergessen, was ich den Abend vorher gedacht hatte – fiel mir dies Buch wieder in die Augen. Ich erinnerte mich meines Entschlusses und nun erkannte ich das Gefährliche meines Wagestücks. Ich wurde schwankend; und doch mußte ich die Wahrheit meiner gestrigen Überzeugung anerkennen: Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst. Ich durchdachte meine häuslichen und öffentlichen Verhältnisse; ich kam mir vor, wie der reiche Jüngling im Evangelium, der traurig von Christo schied. Da fragte ich mich wieder: Hast du Mut? – Und mit lauter Stimme antwortete ich: den will ich haben! – Und so beschloß ich, von Stund an im Kleinsten wie im Wichtigsten vernünftig zu handeln. Nur den ersten Schritt getan und den Hohn der Menschen nicht beachtet, so wird jeder folgende Schritt leicht.

Ich zittere für dich, du edler Schwärmer! rief ich und drückte ihm die Hand. Nicht so, du erzählst mir den Ausgang deines Wagestücks?

[327] Warum nicht? Aber so etwas muß im Freien geschehen, unter freiem Himmel, unter den Bäumen, angesichts des weiten Meeres! sagte Olivier. Denn, lieber Norbert! In der Stube, innerhalb der Wände und Mauern, sieht manches vernünftig aus, was in der freien Natur, wo sich die Seele gleichsam in das große, reine All auflöst, gar hirngespinstig und träumerisch erscheint. Und umgekehrt findet man draußen in den Umgebungen der Gottesschöpfung, wo stets das Ewige und Wahre herrscht, daß manches vollkommen richtig sei, was innerhalb der Wände einer Wohnstube voller häuslichen Rücksichten, oder innerhalb der Wände eines philosophischen Lehrsaales, eines Audienzzimmers, eines Ballsaales, eines prunkvollen Gesellschaftszimmers, wie überspanntes Wesen, wie Albernheit, wie Schwärmerei oder Verrücktheit erscheint. Also komme ins Freie!

Er nahm mich beim Arm; die Baronin ging zu ihren Kindern. Olivier führte mich durch den Garten auf einen Hügel, wo wir uns im Schatten eines Felsens lagerten. Über uns schwebten im weiten Luftmeer die zarten Zweige der Birken; unter uns die blitzenden Wogen des Ozeans bis ins Unendliche.

Olivier erzählte dann ungefähr folgendermaßen:

Oliviers Erzählung

Das Schicksal begünstigte mich eben damals, als es mit meiner Vernunft zum Durchbruch kam, ganz besonders. Mein Vater, dessen Vermögensverhältnisse durch unmäßigen Aufwand zerrüttet waren, hatte mir nach seinem Tode nur ein mäßiges Erbteil hinterlassen. Allein ich hatte die Aussicht, nach dem Tode meines Oheims ein ansehnlicher Gutsbesitzer zu werden. Diese Aussichten waren aller Welt bekannt. Dazu kam noch, daß ich mit dem Freifräulein von Mooser, der Tochter des Kammerpräsidenten, verlobt war. Sie war, wie man zu sagen pflegt, eine der [328] ersten Partien im Lande, das heißt, sie war hübsch, sehr reich und eine Nichte des Kriegsministers. Die Heirat wurde von meinen Verwandten und ihrem alten Oheim eingefädelt; ich mußte, dem Laufe der Welt gemäß, einwilligen. Nur die Kränklichkeit meines Oheims, der bei mir Vaterstelle vertrat, verzögerte die Vermählung. Major war ich schon; bei der nächsten Beförderung sollte ich Oberstlieutenant werden. In ein paar Jahren konnte mir das Regiment nicht fehlen.

So standen die Sachen zu jener Zeit. Freilich fand ich nun, da ich zur Vernunft gekommen war, daß die Sachen wirklich recht übel standen. Es war mir unbehaglich, daß ich freier Mann mein Dasein durch Verwandte, wegen Geldes, Herkunft und Protectionen, an ein Mädchen hatte verkuppeln lassen, ohne zu wissen, ob das Mädchen mit seinen Eigenheiten, Ansichten, Fehlern und Neigungen zu mir passe? Die Freiin war allerdings hübsch und gut, allein nicht um ein Haar anders, wie Fräulein von solcher Erziehung sind und sein können: gutmütig von Natur; aber durch Verkünstelung eitel, vergnügungssüchtig, leichtsinnig, stolz auf Verwandtschaft, auf Rang und Schönheit; witzig, aber auf Unkosten des Besten in der Welt; in allem mehr französisch als deutsch. Ob sie mich wirklich liebe, wußte ich nicht; daß ich für sie nicht mehr, als für jedes andere gebildete und hübsche Mädchen fühlte, das wußte ich sicher.

Ein durch Eilboten gesandter Brief rief mich zu meinem kränklichen Oheim. Ich erhielt Urlaub vom General, schied von meiner Verlobten und ihren Eltern und reiste ab. Als ich ankam, war der Oheim schon gestorben und begraben. Ein alter Verwalter übergab mir die Schlüssel zu den Schränken und das Testament. Ich entrichtete die wenigen kleinen Legate an die Dienerschaft, zog den Verwalter in mein Geheimnis, und erklärte öffentlich, daß ich arm, alles Vermögen meines Oheims mit Schulden belastet sei.

So kehrte ich in meine Garnison zurück und machte mein Märchen bekannt. Es war mir nur darum zu tun, die Denkungsart [329] meiner Verlobten zu prüfen, und ob sie Mut genug haben werde, an meiner Seite der Welt zu entsagen und zu werden wie ich. – Um die Sache noch auffallender zu machen, verkaufte ich, was ich entbehren konnte, um meine eigenen Schulden in der Stadt zu bezahlen; denn ich hatte deren in der Tat, alte und neue, eine ziemliche Menge. Meine Kameraden lachten mich aus, und besonders, wenn ich vorgab, wenigstens ein ehrlicher Mann bleiben zu wollen. Selbst der Kammerpräsident und seine Gemahlin rieten mir's ab: ich müsse keinen Eclat machen, ichblamiere mich und ihr Haus; ich gäbe mir und ihnen ein Ridicule usw.

Ich blieb bei meinem Entschluß: Redlichkeit gehe über Glanz, und Armut sei keine Schande. Wer viel entbehren könne, sei reich. – Diese Redensarten, wie man es nannte, gefielen am allerwenigstens dem Freifräulein. Ihre Eltern gaben mir zu verstehen, ihr Kind sei an gewisse Aisances gewöhnt, sie selbst wären nicht reich genug, noch während ihres Lebens mir und der Tochter ein anständiges Sort zu machen. Kurz, nach wenigen Tagen traute man ganz unumwunden meinem eigenen Zartgefühl zu, daß ich die Verbindung freiwillig aufgeben werde. Ich nahm gar keinen Anstand, es zu tun und zu erklären, ich fände es billig, weil hier keine gegenseitige Wahl der Herzen, sondern nur eine Übereinkunft und Geldabrechnung der Verwandten stattgefunden habe.

Meine vorgebliche Armut hatte aber noch ganz andere Wirkungen guter Art; nämlich die alten Freunde und lustigen Brüder suchten mich weniger auf. Doch tat mir's wohl, daß mich einige ihrer Hochachtung noch immer wert hielten; die meisten wurden kälter und seltener. Also mit dem Gelde hatte ich für sie das höhere Interesse verloren. Desto besser! dachte ich: und desto wahrer darfst du reden und sein.

Ich machte aber, und das war vorauszusehen, mit der Wahrheit so wenig Glück, wie jeder andere vor mir. Seit einigen Wintern pflegte ich dem Offizier-Corps Vorlesungen über wissenschaftliche [330] Gegenstände zu halten. Ich war noch jetzt damit beschäftigt, sprach aber nun mein Inneres frei aus. Als ich aber mit folgenden Sätzen hervortrat: Jeder Krieg, der nicht für die Unabhängigkeit und Sicherheit des Vaterlandes gegen fremde Unterdrücker geführt werde, sondern für persönliche Launen des Fürsten, Intrigen der Minister, Ehrgeiz der Höfe, um zu erobern, um sich in die Angelegenheiten anderer Völker zu mengen, um Rache zu üben, sei ungerecht; stehende Heere seien die Plage der Länder, der Ruin der Finanzen, die Schergen des Despotismus, wo der Fürst Despot sein wolle; – der Soldat sei Bürger; – der Erb- und Briefadel heute ein Unsinn, der nur unter Wilden und Barbaren eine Art Sinn gehabt habe; – ich hoffe, noch die Zeit zu erleben, daß alle Könige Europas sich durch ein Konkordat über Aufhebung der ungeheuren stehender Heere verständigen, dagegen alle waffenfähigen Bürger zu Soldaten machen würden; – Duellanten gehören ins Irren- oder Zuchthaus; – als ich mit diesen oder ähnlichen Sätzen hervortrat und ihre Richtigkeit, an welcher der gesunde Menschenverstand nicht zweifeln könne, erwies, wurden die Vorlesungen verboten, und der General gab mir einen derben Verweis. Ich widersprach und bekam Arrest.

Das alles tat mir nicht weh, denn ich hatte es erwartet. Doch überall erfüllte ich meine Pflicht. Seit der Ungnade, in die ich beim General gefallen war, fingen auch die höheren Offiziere an, sich von mir zurückzuziehen. Man lachte und spöttelte viel, und einige der witzigsten hielten mich für verrückt und meinten, das sei die Folge des Schreckens, den ich bei meiner vereitelten Hoffnung auf die große Erbschaft gehabt haben sollte. Bald wurde ich so verlassen, daß selbst mein bisheriger Bedienter nicht mehr bei mir bleiben wollte, weil ich mich und ihn mit zu karger Kost nährte, den Kaffee abschaffte, selten Wein trank, und ihm statt der bisherigen reichen Livrée eine einfache, bequeme Tracht machen lassen wollte, ungefähr wie die, in der du mich jetzt siehst.

[331] Dagegen erhielt ich zu derselben Zeit einen Brief, der mir für alles Ersatz bot. Ich hatte nämlich vor Jahren ein armes Bettlermädchen weinend vor der Scheu er eines Bauernhauses gefunden. In der Scheuer lag auf Heu und in Lumpen die sterbende Mutter des Mädchens. Ich erfuhr von dem Weibe, das selbst noch sehr jung war, sie sei aus dem südlichen Deutschland, von armen, aber rechtschaffenen Eltern, in den Dienst einer reichen Herrschaft getreten, dort vom Sohn des Hauses verführt, dann mit einem Stück Geld aus dem Hause gewiesen worden; sie habe nach ihrer Entbindung einen Dienst gesucht, aber wegen des Kindes nirgend ein dauerndes Unterkommen gefunden, sei fortwährend umhergestrichen, habe zuletzt nur von Almosen gelebt und könne nun für ihre Tochter nur noch beten. – Ich lief in das Bauernhaus, ihr Erfrischungen zu kaufen; denn der Bauer hatte ihr kaum den Ruheplatz in der Scheuer gestatten wollen. Als ich zu ihr zurückkam, lag sie schon entseelt auf dem Heu, und das kleine Mädchen jammernd über dem Leichnam der Mutter. Ich tröstete, so gut ich konnte; bestritt die Begräbniskosten, und schickte das verwaiste Mädchen, welches nicht einmal den Familiennamen seiner Mutter kannte, in eine weibliche Erziehungs-Anstalt nach Rastrow. Es hieß Amalia, und nach dem Fundort gab ich ihm noch, als Almosen, den Beinamen Scheuer.

Jetzt eben, da alles von mir wich, erhielt ich aus der Anstalt Rastrow von dieser Amalia Scheuer jenen Brief, der noch zu meinen Kleinodien gehört. Du sollst ihn lesen. Er rührte mich damals zu Tränen. Der Inhalt war ungefähr folgender: Sie habe mein Unglück vernommen, und glaube nun ihrem Vater, so pflegte sie mich zu nennen, nicht länger zur Last fallen zu dürfen. Sie werde suchen, als Erzieherin in einem guten Hause, oder durch Stickerei, Putzmachen, Unterrichten im Klavierspiel, oder auf irgendeine Weise ihren Unterhalt selbst zu erwerben. Ich möge ihretwegen unbekümmert sein; nun sei die Reihe an ihr, Sorge für mich zu tragen. Du mußt den Brief [332] selbst lesen, mit den schönen Eingebungen der Dankbarkeit, der Abspiegelung der frömmsten, reinsten Seele. Sie bat noch um die Erlaubnis, ein einziges Mal ihren Wohltäter sehen zu dürfen, dessen Bild seit dem Todestage ihrer Mutter ihr nur dunkel im Gedächtnis geblieben sei. – Ich schrieb ihr zurück, lobte ihre Gesinnungen, aber versicherte, sie habe keine Ursache, sich zu übereilen; ich würde für sie sorgen, bis sie eine angemessene Stellung gefunden habe.

Eines Tages, da ich von der Wachtparade zurückgekommen, wurde an die Tür meines Zimmers gepocht. Ein unbekanntes Mädchen mit einem lieblichen Gesicht trat herein. Lilien und Pfirsichblüten mischten ihre Farben im Strauße nie schöner, als auf diesem Antlitz unter einer Lockenfülle des Haares. Sie fragte mit Erröten und zitternder Stimme nach mir; dann fiel sie in Tränen zerfließend nieder, umarmte meine Knie, und als ich erstaunt sie aufrichten wollte, bedeckte sie meine Hand mit ihren Küssen. Was mir ahnte, bestätigte endlich ihr Ruf: O mein Vater! o mein Vater! o mein Schutzgeist! Ich beschwor sie, aufzustehen. Sie bat mich, sie in dieser längst ersehnten Stellung verharren zu lassen, und sagte: Ach, ich bin so selig, daß mein Herz bricht!

Es währte lange, bis sie sich erholte und aufstand. Dann schloß ich sie an mein Herz, drückte einen Kuß auf ihre freie Stirn und befahl ihr, mich als ihren Vater zu betrachten und du zu heißen. Sie gehorchte, doch mir hatte der väterliche Kuß etwas die Sinne verwirrt. Sie war in einem Gasthof abgetreten; dort ließ ich sie einige Tage; aber diese Tage waren genug, über meine Gemütsruhe zu entscheiden. Als Amalia in ihre Anstalt zurückreisen wollte, gab ich ihr den Rat, in einer bürgerlichen Wohnung der Stadt zu bleiben und Stickereien für Geld zu übernehmen. Es war mir zu schwer, mich von ihr zu trennen; doch, ihr verraten, daß ich reich sei, das wollte ich auch nicht. Ich mußte sie prüfen. Darauf mietete ich ihr einige Zimmer, nahm eine Magd zu ihrem Dienst, versorgte sie mit Flügel, Harfe, Büchern [333] und nach wenigen Tagen auch mit Aufträgen zu Stickereiarbeiten, freilich alle auf meine eigenen Kosten, unter dem Vorgeben, sie kämen von fremder Hand. Ich besuchte sie wöchentlich nur ein- oder zweimal, um Aufsehen oder üble Deutung zu vermeiden.

Jeder Besuch war mir ein Fest. Du kannst dir's denken, wie süß es mich durchdrang, zu wissen, es lebe unterm Monde ein Wesen, das mir alles schuldig sei; das keinem in der Welt angehöre als mir; das von meiner Fürsorge alles erwarte, und dies Wesen sei von allem, was die Natur mir jemals Schönes, Frommes, Edles gezeigt, das Auserlesenste. – Amaliens Schönheit und geringer Stand waren bald in der Stadt kein Geheimnis; denn sie zog die Blicke auf sich. Man sprach zu mir davon, und ich verhehlte nicht, daß ich ihr Pflegevater sei, und sie ein armes Kind von unehelicher Geburt. Man brachte ihr bald Arbeiten über Arbeiten; denn ich hatte ihr untersagt, je in ein fremdes Haus zu gehen. Damen kamen zu ihr, weniger der Stickereien wegen, als die Vielgepriesene in der Nähe zu sehen.

Eines Tages, als ich Amalia besuchte, hörte ich, indem ich vor der Tür ihres Zimmers stand, daß sie mit einem Mann in heftigem Wortwechsel war. Ich erkannte die Stimme meines Oberst-Lieutenants, und als ich die Tür öffnete, wollte er ihr einen Kuß rauben. Ich warf ihm sein unanständiges Betragen vor, und da er Umstände machte, flog er durch meine Hände zur Tür hinaus, die Treppe hinab. Er glaubte, ich habe seine Ehre verletzt, und forderte mich zum Duell; doch ich wies ihn mit seiner Narrheit ab. Das Offizier-Corps drohte, nicht mehr mit mir dienen zu wollen, weil ich ein Feigling wäre. Das war ich nicht, ich ging unbewaffnet auf den bestimmten Kampfplatz und sagte dem Narren, wenn er Lust habe zu einem Meuchelmorde, so gäbe ich ihm Erlaubnis dazu. Jetzt wurden er und die Offiziere wütend; sie glaubten, nach ihren barbarischen Vorstellungen, meine Ehre tödlich zu verletzen, während sie sich selbst durch ihr Betragen entehrten. Ich dagegen fragte sie, [334] ob Gassenbuben, die einen achtbaren Mann auf der Straße mit Kot bewürfen, dadurch achtbar, der achtbare Mann aber dadurch ein Gassenbube würde?

Bei der Parade am andern Morgen übergab mir, ganz unerwartet, der General einen vom Hofe erteilten Orden. Dieser war noch Spätfrucht meiner ehemaligen Verbindung mit dem Freifräulein von Mooser und das Werk ihres Oheims, des Kriegs-Ministers. Ich konnte das Bändchen, nach meinen Begriffen von Verdiensten, gar nicht annehmen, und hätte ich wirklich ein Verdienst um den Staat gehabt, würde ich mich doch geschämt haben, die Anerkennung desselben alle Tage prahlerisch an mir selbst zur Schau zu stellen. – Meine standhafte Weigerung, das Bändchen mit dem Sternchen anzunehmen, war in den Jahrbüchern der Monarchie unerhört. Meine Äußerung: Pflicht und Tugend lassen sich nicht belohnen, sondern nur anerkennen; aber auch nicht anerkannt, tue der Biedermann seine Pflicht; am wenigsten aber lasse er sich zwingen, vor andern Leuten mit dem, was er geleistet, groß zu tun; – diese Äußerung galt für Jakobinerei und Unsinn. Der General ward wütend. Nun traten die Offiziere wegen ihrer, wie sie meinten, verletzten Ehre gegen mich auf. Ich bekam Verhaft und nach einigen Wochen den Abschied vom Regiment.

Damit war ich wohl zufrieden. Jetzt kleidete ich mich bürgerlich, wie ich wollte; gerade nicht nach der herrschenden Mode, aber bescheiden, bequem und naturgemäß, wie du uns alle hier in Flyeln siehst. Die Leute sperrten die Augen auf und hielten mich für närrisch, und das um so mehr, als sie erfuhren, ich sei nichts weniger als arm, sondern einer der begütertsten Männer des Landes. Nur Amalie wußte, warum ich so handle; denn ich hatte sie mit meinen Ansichten über die heutige Welt und mit meinen Grundsätzen vertraut gemacht. Sie selbst ein Naturkind, einfach und geistvoll, billigte meine Gesinnung und lebte ganz in derselben. Freilich auf Malchens Urteil konnte ich nicht stolz sein, denn es war nur mein eigenes. Sie dachte, sie empfand [335] nichts, als was ich dachte und empfand; ihr Wesen hatte sich in dem meinigen aufgelöst. Ihre ehrfurchtsvolle, töchterliche Liebe war, ohne ihr Wissen, in die reinste, verschämteste und innigste Liebe der Jungfrau übergegangen, und ich selbst schien mir für die Vaterrolle etwas zu jung.

Als ich eines Tages ihr davon sprach, daß ich auf meine Güter zurückzugehen gedenke, bat sie, mir folgen zu dürfen; sie wäre glücklich, mir dort als Magd dienen zu dürfen; und als ich stockend sagte, ich gedenke mich zu vermählen, senkte sie mit gefalteten Händen ihr Haupt, und sie sprach: Desto besser, deine Gemahlin wird keine getreuere Dienerin finden als mich! – Aber, sagte ich, meine künftige Gemahlin denkt schon jetzt nicht so vorteilhaft von dir, als du verdienst. – Was habe ich bei ihr schon verschuldet? antwortete sie mir mit erhobenem Antlitz und allem Stolz der Unschuld. Zeige mir deine Braut, ich werde um ihre Huld und Achtung werben! – Ich führte Malchen vor den großen Spiegel des Zimmers, zeigte hinein und sagte stammelnd: Da siehst du sie! – Sie machte bei diesen Worten eine Bewegung des Schreckens, sah mich erblassend mit ihren großen blauen Augen an, worin eine Frage erstarb und sagte dann zitternd: Mir ist nicht wohl! Sie sank wie tot nieder. Ich rief der Magd, war aber vom Entsetzen fast gelähmt.

Als Amalia genas und nach dem Schlummer, welcher der Ohnmacht gefolgt war, ihre Wangen sich färbten und sie die Augen aufschlug, war ihr erstes ein sanftes Lächeln gegen mich, dann Verwunderung über meine und der beschäftigten Magd Sorge. Erst allmählich kehrten ihre Erinnerungen zurück. Sie glaubte geschlafen zu haben, und ich wagte kaum von dem Vorgefallenen zu reden. Als wir wieder allein waren, sagte ich: Amalia, warum erschrakst du vor dem Spiegel? Warum darfst du nicht meine Braut sein? Rede offen, ich bin gefaßt, alles zu hören! – Sie errötete, und blieb lange stumm, den Blick auf den Boden geheftet. – Warum darfst du nicht? fragte ich noch einmal. Da seufzte sie und sah gen Himmel: Dürfen? o Gott, dürfen? [336] Was darf ich anders, als was du willst? Kann ich denn selig sein, kann ich denn atmen, ohne dich? Ob deine Magd, ob deine Braut, alles eins, denn ich habe nur eine Liebe für dich!

Während ich in den Vorhallen des Himmels lebte, war die Stadt vor Erstaunen außer sich; waren meine Verwandten väterlicher- und mütterlicherseits, in Grausen und Verzweiflung, als ich meine nahe Vermählung mit Amalien ankündete. Ein Freiherr, aus altadeligem Geschlecht, dessen Altvordern im Dienst der Könige die höchsten Würden bekleidet hatten, ein hof-, turnier- und stiftsfähiger Baron, mit den ersten Familien des Landes blutsverwandt, geht die heilloseste Mesalliance ein, nicht einmal mit einer Briefadeligen, nicht einmal mit einer vornehmen Bürgerlichen, nicht einmal mit einer ehrlichen Handwerkertochter, nein, mit einem Bettelmädchen von unehelicher Abkunft! – Von meiner ganzen Verwandtschaft erhielt ich Drohbriefe; man werde sich meiner schämen müssen; drohte mich von künftigen Erbschaftsfällen ausschließen zu wollen und mich durch Verwendungen allerhöchsten Orts zu zwingen wissen. Es kam alles zu spät, denn schon nach vierzehn Tagen war mir Amalia vor dem Altar förmlich angetraut worden.

Was soll ich dir von den Torheiten erzählen, welche die mit Vorurteilen behafteten Menschen begannen, sobald ich's darauf anlegte, als ehrlicher, natürlicher Mensch zu leben; streng, der Wahrheit gemäß, mit Verbannung allen Unsinns, aller Tanzmeisterhöflichkeiten, aller Ausländereien, aller sogenannten Konvenienzen, ohne jedoch deswegen ein würdiges und anständiges Betragen aus den Augen zu setzen. Mein einfaches Du, mit dem ich jeden anredete und von jedem angeredet zu werden bat, schreckte sogleich jeden von mir, als wäre ich mit Pestbeulen bedeckt. Mein Bart wurde zum Gespött; mein freundliches Grußerwidern ohne spießbürgerliches Hutabziehen auf der Straße hieß Grobheit. Ich ließ mich nicht irre machen; einmal mußte Bahn gebrochen werden. Ich wollte sehen, ob es im [337] neunzehnten Jahrhundert erlaubt sei, in einer europäischen Stadt mit Wegwerfung aller Schnurren, aller verschrobenen Begriffe, zu leben? Weit entfernt, jemanden durch irgendeine Unart zu kränken, jemanden wegen seines Vorurteils, seiner moralischen Verzerrung Vorwürfe zu machen, wurde ich im Gegenteil gefälliger gegen jeden. Ich suchte die Menschen, von welchen ich jetzt äußerlich so verschieden war, wie ich es schon in meinem Innern gewesen, durch Güte, durch Wohltun mit mir zu versöhnen – es war fruchtlos.

Ich begab mich auf meine Güter, hierher nach Flyeln, und ich fand Vergnügen daran, mit meinen Gutsinsassen bekannt und vertraut zu werden. Sie waren damals Halbwilde; denn sie waren Leibeigene. Sie krochen vor ihrem Erbherrn sklavisch. Keiner konnte lesen und schreiben; sie waren träge und unsittlich; Faulenzen, Saufen und Raufen schien ihr Himmel; Aberglaube war ihre Religion; tote, abgöttische Werkheiligkeit ihre Religiosität und Lug und Trug ihre Klugheit. Ich beschloß, aus diesem Vieh Menschen zu machen; ließ das Gefängnis verbessern und ein großes Schulhaus bauen; ich und Amalia besuchten alle Hütten, es waren kotige Ställe. Ich gebot, bei schwerer Strafe, die strengste Reinlichkeit. Wer nicht gehorchte, bekam Gefängnisstrafe, den Gehorsamen hingegen beschenkte ich zur Aufmunterung mit Tischen, Spiegeln, Sesseln und anderem Hausgerät. Bald war alles in den Häusern wohlgeordnet und sauber. Ich verbot Kartenspiel, Branntewein, Kaffee, Raufereien, Fluchen und Schwören usw. Wer fehlte, wurde bestraft; wer gehorchte und einen Monat lang nie Ursache zum Tadel gab, dem erließ ich die Frondienste. Ich gab dem alten Pfarrer ein Gnadengehalt; wählte an dessen Stelle einen jungen, gelehrten, trefflichen Geistlichen, der ganz in meine Idee einging; ernannte einen im wechselseitigen Unterricht geübten, in der Schweiz bei Pestalozzi erzogenen Jüngling zum Schullehrer mit gutem Gehalt, und vollendete mit diesen beiden Gehilfen die Reformation. Ich selbst hielt mit den erwachsenen Jünglingen [338] und jungen Männern wöchentlich zweimal Schule: Amalia mit den Jungfrauen, des Pfarrers Frau mit den Müttern. Ich ließ alle Kinder auf meine Kosten neu kleiden, so wie du sie noch jetzt siehst, und Amalia änderte auf unsere Kosten die unkleidsame Tracht der Mädchen.

Schule und Gefängnis wirkten; noch mehr der Eigennutz. Sich bei mir einzuschmeicheln, ließen die jungen Männer den Bart wachsen. Ich verbot das den Leibeigenen; nur den Freien war erlaubt, den Bart zu tragen. – Sklaven mußten barbiert gehen. Ich tat die Pforte zur Freiheit auf. Wer seine Felder nach meiner Vorschrift am besten bebaute, erhielt dieselben Ende des Jahres gegen geringen, doch loskäuflichen Bodenzins, zum Eigentum und wurde außerdem vom Frondienst befreit. Wer im zweiten Jahre der Sparsamste, Fleißigste, Verständigste war, empfing seine Freiheit, sein Haus eigen, einen Vorschuß an Geld, ein nach meiner Tracht gemodeltes Ehrenkleid, und durfte den Bart wachsen lassen. Schon am Ende des ersten Jahres hatte ich Anlaß und Recht, ja sogar Verpflichtung, mehrere Familien frei zu geben, die sich ausgezeichnet hatten; sie gehörten schon vor meiner Ankunft zu den bessern. Dies erweckte bei vielen Neid, bei allen Anstrengung zur Nacheiferung, um so mehr, als ich an den Gerichtstagen einige von den Freien mit mir zusammen über die Angeschuldigten richten ließ. Die Beisitzer des Gerichts wurden aus der Mitte der Freien, von ihnen selbst, erwählt.

Während ich mich hier um die übrige Welt wenig bekümmerte, tat es diese desto mehr um mich. Ganz unerwartet erschien auf ministeriellen Befehl, den meine Verwandten erwirkt hatten, eine außerordentliche Kommission, um meine Gesundheits- und Vermögensumstände zu untersuchen. Man hatte mich für wahnsinnig ausgeschrien und daß ich mein gesamtes Vermögen auf die tollste Weise verschwende. Die Herren der Kommission taten sich ein paar Monate lang gütlich bei mir. Ich weiß nicht, welchen Bericht sie abgestattet haben, aber vermutlich [339] den unvorteilhaftesten, weil ich vergaß, ihnen Gold in die Hand zu drücken; denn ohne Rücksicht auf meine Beschwerden und Rechtsverwahrungen wurde ich wie ein Blödsinniger behandelt und durfte meine Güter nicht mehr verlassen. Es wurde mir ein Administrator meines Vermögens gesetzt, der zugleich mein Betragen beobachten, und jeden Besuch von Fremden abhalten sollte. Zum Glück war der Administrator ein rechtschaffener und nicht unverständiger Mann; darum wurden wir bald einig und Freunde. Als er meine Rechnungen durchgesehen hatte, erstaunte der gute Mann über die Strenge der Ökonomie und begriff, daß ich durch die allmähliche Aufhebung der Leibeigenschaft und der Frondienste eher gewänne als verlöre. Aus langer Weile half er selbst mir bei den Vermenschlichungsversuchen meiner Sklaven. Er hatte dabei noch einige gute Einfälle, wie z.B., daß die Freigelassenen fünf Jahre lang über ihre Ausgaben und Einnahmen Rechnung vor Gericht ablegen mußten, um versichert zu sein, daß sie sich nicht verschlimmerten und insgeheim nicht nachlässig würden. Der gute Mann wurde zuletzt ganz begeistert von unserer Flyelner Wirtschaft; denn er sah, wie von den wohlberechneten Schritten selten einer vergebens getan war. Schon im zweiten Jahre meines Hierseins zeichneten sich die Landleute in unseren Ortschaften vor allen der ganzen Gegend durch Häuslichkeit, Kenntnisse und Ehrbarkeit aus. Man hieß sie anderwärts nur Herrnhuter, und in den benachbarten Dörfern glaubt man noch heutigen Tages, die Flyelner hätten eine andere Religion angenommen.

Der Administrator und Vormund fand meine Ansicht über die Welt in den Hauptsachen vollkommen richtig. Er wünschte sogar, daß man allgemein auf eine Vereinfachung und größere Wahrhaftigkeit in Sitte, Wandeln und Leben zurückkommen möchte. Nur der Bart war ihm zuwider, und seinen steifen Zopf im Nacken und den Puder im Haare verteidigte er auf Tod und Leben; auch das Du war ihm anstößig, und er konnte es gegen [340] Amalien und mich, trotz aller Anstrengung, nicht über die Lippen bringen. Inzwischen hatte sein Bericht über mich, nach dem ersten Jahre seiner Administration, und nachdem er der Regierung über die Gesamtverwaltung meines Vermögens die befriedigendsten Aufschlüsse gegeben hatte, die gute Folge, daß ich wieder in die Selbstadministration eingesetzt wurde, aber mit der einstweiligen Verpflichtung, jährlich davon Rechenschaft abzulegen. Das war das Werk meiner Verwandten. Sie ließen sich nicht ausreden, ich habe einen guten Teil des gesunden Menschenverstandes verloren, obgleich mich mein bisheriger Vormund nur für einen wunderlichen Sonderling hatte geltend lassen wollen. Eben deswegen und damit ich durch meine neuerungssüchtigen Irreden, nämlich durch mein unverhohlenes Aussprechen dessen, was Natur und Vernunft gutheißen, kein Ärgernis gäbe, wurde mir verboten, mich ohne besondere höchste Erlaubnis über die Grenzen meiner Güter hinaus zu begeben, das heißt, geboten: das große europäische Irrenhaus nicht zu besuchen, sondern es bloß aus den Zeitungen kennenzulernen. Dabei konnte ich nur gewinnen.

Es sind nun beinahe fünf Jahre, daß ich hier in meiner glückseligen Einsamkeit wohne. Gehe hinaus, betrachte meine Felder und die Felder unserer Bauern, und unsere Waldungen, unsere Herden und Wohnungen! Du wirst einen aufblühenden, vorher hier ungekannten Wohlstand erblicken. Alle meine Leibeigenen sind frei. Ein einziger Trunkenbold und ein anderer träger, roher Kerl schienen unverbesserlich. Der Trunkenbold starb; den andern bekehrten weder Hoffnungen noch Strafen. Als aber alle Flyelner einen Bart trugen und er und der Pfarrer nur allein glattkinnig gingen, machte das auf den Kerl eine wunderbare Wirkung. Auch der Pfarrer wagte es endlich, den Bart stehen zu lassen, und so blieb der Leibeigene allein der Geschorene. Das konnte er nicht ertragen; er besserte sich, um unter ehrlichen Leuten ehrlich zu sein.

Dem guten Pfarrer verursachte sein Bart beim Konsistorium [341] vielen Verdruß. Umsonst bewies er, daß der Bart weder für noch wider den wahren Glauben sei; umsonst berief er sich auf die heiligen Männer des alten und neuen Bundes; umsonst zeigte er, daß er, indem er sich seiner Gemeinde in allem gleich mache, am besten wirken könne; daß er eben dadurch wirklich einen für unverbesserlich gehaltenen Menschen gebessert habe. Der Bart gab zu vielen Konsistorial-Verhandlungen Anlaß. Erst als mein Pfarrer ärztliche Zeugnisse beibrachte, daß er, sonst immer an Zahn weh leidend, nur durch den Bart gegen diese Not geschützt sei, wurde ihm derselbe, um seiner Gesundheit willen, doch unter Beschränkungen, gestattet.

Ich besetze jetzt nicht nur mit meinen freien Leuten das Dorfgericht, sondern habe ihnen auch das Recht erteilt, sich aus ihrer Mitte Vorsteher zu ihrer Gemeinde-Verwaltung zu wählen. Ihr Ehrgefühl ist geweckt; sie fühlen ihre Menschenwürde. Von Zeit zu Zeit speisen ausgezeichnet wackere Leute mit ihren Frauen an meinem Tische. Ich bin ihresgleichen. Die Gleichförmigkeit der Kleidertracht stellt eine gewisse Vertraulichkeit her, ohne die Ehrfurcht zu schwächen. Vor alten Leuten müssen die Kinder aufstehen und das Haupt entblößen; aber keiner entblößt vor seinesgleichen das Haupt. Jede erwiesene boshafte Lüge gehört bei uns zu den Verbrechen, wie der Diebstahl. Die Leute, nun sie sich selbst richten, sind strenger, als ich es ehemals war, und ich muß ihre Urteile oft mildern. Unsere Schulen sind gut; die fähigen Knaben lernen auch Weltgeschichte, Erd-, Völker- und Staatenkunde, so wie Feldmeßkunst und etwas vom Bauwesen. In der Kirche haben wir einen schönen vierstimmigen Chor.

Doch, lieber Norbert, besser, du bleibst einige Tage bei uns, und siehst selber; kannst du, so verweile einige Wochen!

[342] Das Gespräch auf der Höhe von Flyeln

So erzählte Olivier.

Ich verhehle es nicht, alles, was er mir gesagt, alles, was ich in Flyeln gesehen hatte, machte großen Eindruck auf mich. Ich bewunderte seinen Mut, seinen wohltätigen Schöpfergeist und bemitleidete sein Los, in solchem Grade verkannt zu werden, als er es war.

Es bedurfte nicht die Überredungsgabe meines Freundes, nicht der zauberischen Schmeichelei in den Bitten der schönen Baronin, um mich zur Verlängerung meines Aufenthalts in dieser herrlichen Oase zu bewegen. Ja, ich muß dies Flyeln eine Oase nennen, eine blühende Insel in den Wüsten der umliegenden Gegend; denn hier, sobald man diesen Boden betritt, wenn man aus den teils sandigen, teils versumpften Landschaften der Umgebung, aus den weiten verwilderten Kieferwäldern, aus den ärmlichen, kotigen, unordentlichen Dörfern voller Baracken und verwahrloster Menschen tritt, wird der Boden plötzlich grüner, der Mensch zusehends menschlicher. Auch hier waren Baracken, sie sind aber saubere Hütten geworden, in denen ich mit Vergnügen am Arm der Baronin Besuche machte; auch hier waren Moräste; man erkennt sie aber nur noch an den langen Gräben und unterirdischen, mit Steinen gefüllten, mit Erde überdeckten Wasserabzügen; auch hier waren Sklaven, die vor dem Oberherrn und noch mehr vor seinen Beamten zitterten und insgeheim beide zu betrügen gewohnt waren; jetzt aber haben sie die aufrechte, gerade Stellung freier Menschen, sie sehen in dem Baron ihresgleichen – aber mit welcher kindlichen Ehrfurcht und Liebe umringen sie jetzt ihn und die Seinigen! – Diese Umänderung im Zeitraum eines halben Jahrzehnts wäre einem Wunder ähnlich, wenn man nicht wüßte, wie klug und fest Olivier dabei zu Werke ging; wie er nur sehr langsam aus der Rolle des gebieterischen Leibherrn zu der des Lehrers, dann des Vaters überging; wie er seine Bauern, hinter welche er[343] die Furcht vor den angedrohten Strafen als Treiber stellte, wie er sie vorwärts lockte und durch ihren groben Eigennutz kirrte; wie er nie auf ihre Erkenntlichkeit, nie auf ihren Verstand, nie auf ihr sittliches oder religiöses Gefühl rechnete, sondern sie anfangs mehr bloß abrichtete, als unterrichtete, und dann auf die Stärke mehrjähriger, gewohnter Einübung zum Bessern und auf die nachwachsende Jugend hoffte. Daher übernahm er und die Baronin, der Pfarrer und Schullehrer die Unterweisung aller; daher kam es auch, daß die Beisitzer des Gerichts, daß die Vorsteher der Gemeinden meistens junge Leute von fünfundzwanzig bis dreißig Jahren waren; wenigstens erblickte ich keinen der alten Bauern unter ihnen.

Doch alles das gehört nicht hierher. Ich will ja nur das Los meines Freundes erzählen, nicht die Art und Weise, wie er seine Untergeben entwilderte oder seine unwirtbaren Schollen blühend machte.

Als mir Olivier seine Haushaltungsbücher vorlegte und unwiderleglich zeigte, daß er, weit entfernt, bei den vorgenommenen Änderungen an Einkünften zu verlieren, im Gegenteil mehr erhielte, als sein verstorbener Oheim und jeder seiner Vorfahren bezogen hatte, warf er lächelnd das Wort hin: Nun siehst du, Norbert, wo die Narrheit zu Hause ist, ob in Flyeln oder in der königlichen Residenz? Weil ich gewinne, werde ich als ein Verschwender behandelt und muß fremden Menschen, die man mir zur Untersuchung meiner Rechnungen schickt, Einsicht in das Innerste meines Hauswesens gestatten.

Warum beklagst du dich nicht darüber? Es ist eine Ungerechtigkeit, eine Gewalttat!

Meine Beschwerden würden vergeblich sein. Kein Gericht, sondern kurzweg ein Kabinettsbefehl, vom Ministerium veranlaßt, verdammte mich zu dieser Lage. Die Sache ist nicht leicht abzustellen; denn das Ministerium wird keinen Schritt zur Aufhebung tun wollen, weil es damit selber erklären müßte, ungerecht gehandelt zu haben. Die jährlich kommende Untersuchungs-Kommission [344] wird dazu nicht raten, weil sie sonst das Vergnügen einer Lustreise und den Gewinn von Taggeldern, auf meine Kosten gezahlt, verlöre. Daß man mich hier wie einen Gefangenen auf das Gut meiner Vorfahren gebannt hat, ist noch das Erträglichste. – Jetzt, Norbert, ehrlich, wie denkst du von allem?

Ich gestehe dir, Olivier, ich kam mit Vorurteil und Trauer zu dir; ich werde dich mit den angenehmsten Erinnerungen verlassen! Man hat dich überall für einen Wahnsinnigen ausgegeben; der bist du nicht, sondern ich stimme deinem ehemaligen Administrator bei: du bist nur ein edler, wunderlicher Sonderling.

Sonderling? Nun ja, es ist der rechte Name für diejenigen, welche sich von dem Schlendrian und dem Unwesen des Zeitalters absondern. Diogenes von Sinope galt auch für einen Toren; Cato, der Censor bei den Römern, für einen Pedanten; Colombus wurde auf den Straßen Madrids für einen Narren angesehen; Olavides der Inquisition übergeben; Rousseau von den Bernern aus seinem Asyl vertrieben, so wie Pestalozzi von vielen seiner Landsleute zu den Halbnarren gezählt wurde, weil er mit Bettlern und deren Kindern lieber, als mit der gepuderten Haarbeutelwelt umging. Und daß ihr mich einen Sonderling heißet, mich, der ich doch nur mein von Gott empfangenes Recht, vernünftig und naturgemäß zu denken, zu sprechen und zu handeln, und nichts anderes, geltend mache – ist das nicht ein herber Vorwurf gegen euch selbst?

Nein, Olivier, kein Vorwurf, weder gegen die Welt, noch gegen dich! Niemand wehrt dir, vernünftig und natürlich zu denken und zu handeln; aber schone auch du die Rechte anderer, nach ihren gegenwärtigen Begriffen, Gewohnheiten und selbst nach ihren Vorurteilen zu denken, zu sprechen, zu handeln, bis sie oder ihre Kinder einst weiser sind. Nicht alle Menschen können Philosophen sein!

Habe ich ihrer nicht geschont? habe ich sie angegriffen?

[345] Allerdings, Freund! wenn du mir es zu sagen erlaubst. Indem du deine Sitten den allgemeinen Sitten zu grell gegenüberstelltest, brachst du den Frieden mit denen, unter welchen du lebtest, und bewirktest du nur die Hälfte des Guten, was du wirken konntest, ja nicht einmal die Hälfte. Christus nahm Judäas Sitte an, ließ sich sogar zu Judäas Vorurteilen herab, um mächtiger zu wirken. Was liegt am Ende an einer lächerlichen Mode, was daran, ob man einen steifen Zopf oder kurz geschnittene Haare, einen Bart oder ein glattes Kinn trägt? Du kennst die Bedeutung des Sie im Deutschen, des vous im Französischen. Nun ja, ich gebe zu, es sei töricht, eine Person in der Mehrzahl anzureden; aber was schadet dies zuletzt? Redeten nicht auch Griechen und Römer von sich in der Mehrzahl? Du kennst die Bedeutung des Sie im Deutschen und des Du. Warst du nun nicht der angreifende Teil, als du dich über die herrschenden unschuldigen Gebrauch wegsetztest und ohne Rücksicht auf die bisherigen Begriffe vom Anstand jedem das Du aufdrängtest? Wer sich der Welt gegenüberstellt, dem steht sie gegenüber. Könntest du dich darüber wundern?

Ich wundere mich keineswegs, weil ich das erwartete. Führe mir nicht das Beispiel von Christus an, nach der Weise derer, die alle ihre Trägheit und Schalkheit mit frommer Miene hinter verdrehten Schriftstellern der Bibel verstecken. Der Göttliche hatte mit seinen Zeitgenossen Höheres zu tun, als ich, darum schwieg er zu den mindern Torheiten; ich aber habe es mit diesen allein zu tun und will wenigstens mich nicht zwingen lassen, Barbareien zu loben, zu entschuldigen, oder gar mitzumachen. So viel Recht wird dem Menschen auf Erden unter Menschen doch wohl noch gestattet sein, daß er Gebrauch von seinem schlichten Verstande mache?

Freund, wie mir es scheint, hat man dir dies Recht nicht streitig machen wollen; wohl aber das Recht, durch unbehutsame Mitteilung deiner Überzeugungen, zumal wenn sie im offenen Streit mit der noch bestehenden Ordnung sind, gefährliche [346] Verwirrungen zu veranlassen. Du selbst hast anfangs in Flyeln bei deinen Leibeigenen den gestrengen Grundherrn gespielt, hast sie nur nach und nach, je nachdem sie dazu vorbereitet waren, und nicht plötzlich, zur Freiheit geführt. Du wußtest wohl, daß es verderblich sein würde, Kindern ein Messer in die ungeübte Hand zu geben, das in geübten Händen das nützlichste Werkzeug ist. Was würdest du gesagt haben, wenn einer deiner Leibeigenen plötzlich seinen Genossen die Sprache der Wahrheit von den ewigen Grundrechten der Menschheit, von der Barbarei und Ruchlosigkeit des Feudalwesens, von der natürlichen Gleichheit der Menschen geführt hätte? Würde dieser Reformator nicht alle deine edeln Entwürfe zerstört haben?

Allerdings, Norbert! aber ich hoffe, das Beispiel geht nicht mich und mein Tun an. Ich habe nie gegen die bestehende Ordnung geredet, auch wenn sie schlecht war, sondern ich gab Gott, was Gottes und dem Kaiser, was des Kaisers ist. Ich redete nur gegen solche bestehende Mißbräuche und Vorurteile, die nicht durch bürgerliche oder Staatsverträge geheiligt sind. Gegen euer Undeutsch, gegen eure Maskeraden und heuchlerischen Komplimente, gegen euern unnatürlichen Luxus, gegen eure weibischen, hölzernen Verunstaltungen durch welsche Moden, gegen eure Begriffe von Ehre und Schande, von Verdienst und Belohnung habe ich geredet, und zwar nur verteidigungsweise für meine Person, wenn ihr Europäer mich nötigen wolltet, meine Rückkehr zur Vernunft zu verdammen, und mich zwingen wolltet, eurer Verkehrtheit zu gefallen, von der Natur wieder abtrünnig zu werden.

Aber, Freund Olivier! Deine Urteile über stehende Heere, über den Geburtsadel, über die unterdrückten Rechte der Nationen, über ...

O Popoi, Freund Norbert! Diese Sätze sind, Gott Lob, in Europa als tote Wahrheiten allgemein anerkannt. Man nennt sie in Thesi und in der Theorie richtig, in der Praxis irrig, und zwar aus triftigen Gründen. Ich habe nichts dagegen; ich selbst, wäre [347] ich Fürst oder Minister, würde mich wohl hüten, ehe ich ein philosophisches Volk hätte, Platos Republik einzuführen. Allein ich habe diese Sätze unter Freunden, unter meinesgleichen ausgesprochen, nicht sie dem Pöbel, zur Empörung, gepredigt. Ich tat, was heute Millionen in Schrift und mündlichem Worte tun. Ihr müßtet der halben Bevölkerung Europas den Kopf abschlagen, wenn ihr wolltet, daß solche Sachen nicht gedacht und gesprochen würden. Eben daß man sie in der einen Hälfte des Volkes denkt und spricht, dadurch allein dringen sie auch in die andere Hälfte über, und ist einmal die Mehrheit vom Bessern überzeugt, dann macht sich alles leicht von selbst, ohne Staatsumwälzung und Blutbad, auf dem natürlichen Wege der verbesserten Gesetzgebung. Wahrlich, nicht deswegen hielt man mich für wahnsinnig, lieber Norbert, nicht deswegen verbannte man mich aus der übrigen Welt! Niemand hätte etwas dagegen gehabt, wenn ich, als Baron, gegen die Ungerechtigkeit, Barbarei, Torheit und Schädlichkeit deklamiert haben würde, welche mit dem Institut des bevorrechteten Erbadels verbunden sind; niemand hätte etwas dagegen gehabt, wenn ich bei meinen Deklamationen eine Gräfin oder Baronin geheiratet haben würde. – Es treiben's viele so. Aber daß ich folgerecht handelte, obgleich niemand dadurch beschädigt wurde; daß ich die Liebe eines schönen und tugendhaften Bettlerkindes dem Vorurteil meiner ahnenstolzen Sippschaft vorzog; daß ich, ein Baron, ein von der Landstraße weggenommenes uneheliches Kind zur Gemahlin wählte – das war ein Verbrechen. Norbert, siehe Malchen noch einmal an – dann tritt vor meinen pergamentenen Stammbaum, und dann verdamme mich!

Mit solchen Dokumenten für dein Recht, lieber Olivier! bist du freilich ein furchtbarer Advokat. Ich denke aber, der Adel hätte dir am Ende diese Sünde gegen seinen Stand wohl hingehen lassen und dich allenfalls als eine Ausnahme von der Regel betrachtet. – Du weißt, man denkt heutigen Tages in solchen Dingen schon viel duldsamer; der Adel ist nicht mehr wie ...

[348] Das glaubst du? O mein Freund, täusche dich nicht über unsere Kaste, in der nicht nur die Physiognomien und Vorrechte, sondern auch die Begriffe und Vorurteile der Familien erblich, und durch Vererbung auf viele Generationen unausrottbar geworden sind! Der Adel hat die eigentlich fixe Idee, von Geburt aus von besserem Teige zu sein als die übrige Menschheit, und wenn er auch der Gewalt der Revolutionen unterliegen muß: seine fixe Idee bleibt obenauf. Sahst du nicht den ausgewanderten Adel Frankreichs im Elend? Seinen Dünkel verlor er nicht, auch als er seine Schuhe selbst flicken, seine Hemden selbst waschen mußte. Siehe die jungen, im Elend geborenen oder erzogenen französischen Edelleute jetzt wieder in Frankreich! Was treiben sie? Statt mit ihrem Schicksal ausgesöhnt zu sein, klagen sie, weil sie mit Leuten von bürgerlicher Abkunft so viele, ja alle Rechte teilen sollen. Dafür arbeiten sie gegen die Verfassung, bis es keine Verfassung mehr ist, und eine neue Revolution sie abermals ausstößt.

Hier, mein lieber Advokat, läßt du dich auf einer Schwäche ertappen, die ich zu benutzen viel zu großmütig bin! Was beweisen Menschen jenes Landes für oder wider Menschen unseres Landes? Wer würde aus den Begriffen der indianischen Häuptlinge mit ihren knöchernen Nasenringen eine Anklage gegen unsern hiesigen Adel machen wollen? – Lassen wir das! Aber versteh' mich wohl! Ich möchte dich mit der übrigen Welt aussöhnen. Ein kleines Opfer von dir, eine geringe Nachgiebigkeit in unbedeutenden Äußerlichkeiten, und, glaube es mir, man wird dir alle deine Meinungen, selbst deine Paradoxien verzeihen. Und wir sind schuldig, Opfer zu bringen. Nur dadurch erkaufen wir Vertrauen. Und nur im Besitze des öffentlichen Vertrauens können wir öffentlich wirken. –

Du verlangst ein kleines Opfer von mir, Norbert! Ich kenne es schon. Du forderst, als Kleinigkeiten, nichts weniger, als mich selbst mit allen meinen Überzeugungen, Grundsätzen und daraus hervorgehenden Pflichten zu opfern. Aber wenn ich [349] nun meine Überzeugungen und Grundsätze aufgeopfert habe, das heißt, mein ganzes Wesen, was tauge ich dann noch in der Welt? Womit soll ich dann Gutes wirken?

Noch mit vielem! Siehe andere weise Männer, sie stiften, ohne mit der Welt zu zerfallen, unsägliches Gute! Warum könntest du es nicht? Was kannst du, selbst durch dein Beispiel, aber allein stehend, wirken, wenn dich, wie es jetzt geschieht, deine Umgebung verkennt und glaubt, du habest Schaden an deinem Verstande genommen?

Die Frage verdient eine Antwort, denn sie ist von allen deinen Fragen die wichtigste. Zuerst gedenke meiner Befugnis als Mensch, daß ich, wenigstens in meinem Hause, auf meinem Boden, meiner besseren Überzeugung gemäß, essen, trinken, mich kleiden, reden und handeln darf, wenn ich damit nur keine fremden Rechte verletze. Da ich nun die Albernheiten und Abgeschmacktheiten, Künsteleien, Unnatürlichkeiten und Verzerrungen der jetzigen europäischen Menschheit, wie sie sich eben aus dem Schlamm alter Barbarei hervorwindet, lächerlich, schädlich, unnatürlich, verächtlich finde, soll ich, trotz aller Neigung, alles Berufes und aller Pflicht zum Wahren und Gerechten, keinen Gebrauch von jener Befugnis machen? Selbst nicht auf die Gefahr hin, daß ich von unseren Barbaren, den Kunst- und Gewohnheitstieren, die es nun einmal nicht besser verstehen, ausgelacht werde? Soll der Weltumsegler, wenn die Wilden Indiens ihm Menschenfleisch zum Schmause vorsetzen, sein Grausen überwinden und die scheußliche Sitte mitmachen, damit ihn die Indianer nicht auslachen? – So viel, Norbert, was meine Person unmittelbar und allein berührt!

Hier schwieg Olivier einen Augenblick, als wollte er etwaige Antworten abwarten, fuhr aber bald fort: Übrigens, Norbert, erinnere dich des Bruchstückes aus der Reise des Pytheas, deines eigenen Geständnisses von der getroffenen und treffenden Wahrheit! Du selbst gibst zu, daß die menschliche Gesellschaft unsers Weltteils weit von den Gesetzen der Natur abgeirrt ist. [350] Ihre alle gesteht, daß wir eben darum unendlich viel zu leiden haben; denn die Verletzungen der ewigen Gesetze Gottes tragen ihre Strafen gegen die Frevler in sich selbst. Keiner von euch leugnet, daß euer gesamter bürgerlicher und häuslicher Zustand, daß eure Verfassungen, Sitten und Lebensweisen höchstens nur ein folgerechtes Beharren im Naturwidrigen sind. Aber wer von euch hat den Heldenmut der Vernunft, zu den einfachen ewigen Ordnungen Gottes zurückzukehren? An diesem Heldenmut fehlt es! Wohlan, mir ist er nicht fremd. Es ist gut, daß einer und einzelne, unbekümmert um Wahn und Gelächter des großen Haufens, ein Beispiel des Guten und Rechten im Leben aufstellen. Es ist gut, daß einzelne aufstehen, die mit dem herrischen Wahne des Zeitalters sich nicht vergleichen, sich ihm nicht fügen, sondern ihm offene Fehde bieten. Denn durch bloße Lehren von Kanzeln, Kathedern und Schaubühnen, durch bloße Philosopheme, durch Lobreden auf Natürlichkeit und Wahrheit, wird nichts getan. Ihr redet, philosophiert und schreibt immerdar, und die Lehrer bleiben selbst immerdar wie sie sind, und die Schüler werden nicht anders. – Darum ist's gut, daß einzelne die Urbilder des Besseren in die Wirklichkeit des Lebens einführen. Allerdings wird man sie anfangs für Unsinnige halten und bemitleiden und bespötteln. Nach und nach gewöhnt sich das Auge der Zeitgenossen aber an die fremdartigen Erscheinungen. Endlich wird gesagt werden: aber der Mann hat doch in vielen Dingen so unrecht nicht. Zuletzt wagen es die Kühnsten, schüchtern in einzelnen Dingen nachzufolgen. – Und, Norbert, wer die Menschheit, oder auch einen kleinen Teil der Menschheit, nur um einen Schritt wieder zur Natur zurückgeführt hat, der hat für die Flüchtigkeit des Lebens genug getan! – Und so, lieber Freund, laß mich gewähren! Viele pflegen den, der recht tut, nur deswegen zu tadeln, weil es sie verdrießt, daß eben er, und nicht sie selbst den Mut haben, das Rechte zu tun. – Weil ich ohne Luxus und mit Verbannung des Fremdartigen trinke und speise; weil ich mich bequemer [351] und dem Auge gefälliger kleide; weil ich dem männlichen Bart seine Ehre widerfahren lasse; weil ich den Vorrechten und Vorurteilen meiner Kaste entsage, und nicht mehr, als ich wert bin, gelten will; weil ich mich durch Vermählung mit einem Mädchen von niedriger und unehelicher Abkunft nicht zu beflecken glaube; weil ich keine Ehre durch einen Zweikampf herstellen, und kein Zeichen meiner wirklichen oder vermeintlichen Verdienste auf der Brust zur Schau tragen mag; weil ich Leibeigene zu meinen freien Mitmenschen und Freunden mache; weil ich die Lüge verachte, die Wahrheit ohne Furcht bekenne: darum werde ich noch im neunzehnten Jahrhundert wie ein Narr behandelt, ungeachtet ich der Vernunft gemäß lebe, mich gegen bestehende Verfassungen und Gesetze nicht verging, niemandem Leids zufügte, manchem Gutes erwies, nie das wahrhaft Sittliche und Anständige verletze. – Hier, Norbert, hast du meine Antwort auf deine Frage! Nun laß uns davon abbrechen!

Wir brachen ab. Ich umarmte den edlen Sonderling, und sagte ihm nur lächelnd: Wir haben ein altes Sprichwort: Allzu scharf macht schartig.

Nach einigen Tagen verließ ich ihn. Die Erinnerungen an Flyeln werden zu den angenehmsten meines Lebens gehören. Ich will es auch nicht verhehlen, daß, wenn die ganze Welt in den Wahnsinn meines Oliviers verfallen wollte, ich mit Freuden einer der ersten Wahnsinnigen werden würde. Wir haben seitdem unsern Briefwechsel wieder aufgenommen, und ich habe ein Gelübde getan, von Zeit zu Zeit nach dem glücklichen Flyeln zu wallfahrten.

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TextGrid Repository (2012). Zschokke, Heinrich. Erzählungen. Ein Narr des Neunzehnten Jahrhunderts. Ein Narr des Neunzehnten Jahrhunderts. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-BCAA-6