839. An Nanda Keßler

839. An Nanda Keßler


Wiedensahl 22. Oct. 91.


Ganz geschwind noch, liebste Nanda, muß ich dir sagen, wie sehr mir dein Brief, nicht dumm, sondern gut erscheint. Er ist offenherzig. Offenherzigkeit [339] ist ein Medikament; und daß du die Symptome des Übels naturtreu geschildert hast, ich weiß es, ich fühl es, denn ich selber hab's auch schon gehabt. Ja, die Sehnsucht, die allgemeine, im rosigen Nebel von tausend Möglichkeiten der Erfüllung, ist eher was Wonniges. Kommt aber der Wunsch, der bestimmte, und zugleich das Hinderniß, das grad so bestimmte, dann ist der Teufel los. Unwirrsch, unstet, weg Schlaf und Appetit; wo man auch hintappt, nichts recht, nichts wünschenswerth! – Doch endlich tobt er aus, der arme Kerl; Madam Vernunft, die scheu beiseit gegangen, darf wieder näher treten; müd und matt legt er sein Haupt an den getreuen, wenn auch nicht sehr üppigen, Busen dieser verständigen Freundin; sammelt sich; baut sich ein schönes Luftschloß weit hinten am Nordpol und kann nie mehr heraus, will nie mehr heraus, wenigstens nie mehr auf lange.

Wer jung und hübsch, der, freilich, scheint's, hat dergleichen nicht nöthig. Und doch, wie gut, wenn er sich früh etwas ideales Bauholz bearbeitet für spätere Zeiten!

Was that Nausikaa, als sie sich in dem alten ruppigen Odyßeus so bitter enttäuscht sah? Hat sie geschimpft und die Mägde gekniffen; hat sie gewaschen, gebügelt, wie verruckt, für die ganze königliche Familie; hat sie den Heldenliedern des Sängers gelauscht, zu Nacht, in der Halle? Nahm sie einen braven Phäaken zum Mann, kriegte 10 Kinder und 100 Enkel hernach, bis ihr der Kopf gewackelt? – Der Dichter schweigt darüber; er ist ihretwegen beruhigt; er kennt das Mädel.

Also Samstag abends zwischen 8 und 9 – ganz ohne Quäkerhut, doch nicht ganz als Bartgiegerl – hoff ich meine liebenswürdigen 3 Tanten unterthänigst zu begrüßen.

Mit herzlichem Gruß, liebs Nanderl, dein

alter Onkel W.B.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Busch, Wilhelm. 839. An Nanda Keßler. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-0F46-8