980. An Nanda Keßler
980. An Nanda Keßler
Wiedensahl 8. Oct. 94.
Liebe Nanda!
Nun ist es aber wirklich Zeit, mal nachzuforschen, wie es geht bei Euch alldort. Nicht, als ob ich seither nicht gedacht hätt an meine liebenswürdigen "Verwandten", denn das geht nun mal nicht, nachdem sie die Zeit zu fest und anmuthig verwebt und verhäkelt hat in Kopf und Herz, als daß sie jemals wieder heraus gezupft werden könnten, es komme, was wolle. Aber die regsame Phantasie, obwohl leichtfertig von Natur, sucht doch gern einige Thatsachen zu erwischen, damit ihre Gebilde nicht gar zu nebelhaft werden. Demnach frag ich: Wo bist du? In fernen Welttheilen oder zu Haus auf No 15? Ist Letty wieder frohgemuth heimg[e]kommen vom Land in die Stadt? Wie befindet sich Hugo der jüngere? Und die Mama und Nelly und die trefflichen Onkels, wie geht es denselben? Auf all diese zuthunlichen Fragen erhoff ich Antworten, die wohllautend und ganz so erfreulich sind, wie ich es wünsche.
Meinerseits ist nicht viel zu vermelden. Die Rosen sind den Sommer hindurch meist verkümmert durch Regen. Ich war in Wolfenbüttel bei Regen. Ich war in Hattorf bei Regen. Seit ein paar Tagen erst blinzelt die Sonne mal wieder, und das ist uns grad recht, denn gestern wurde Otto, mein jüngster Neffe, eingeführt in seine kleine Pfarre zu Hunteburg an der Hunte, ein Fluß, der dir gewiß beßer bekannt ist, als mir, der ich schon länger aus der Schule bin und meine Geographie natürlich schon mehr vergeßen habe, als Du. Morgen wird besagter Neffe, infolge des besagten Ereignißes, auch Hochzeit halten in Münster in Westfalen, wo Else Meyer, seine Braut, her ist; eine Feier, bei der übrigens Onkels und Tanten nicht zugegen sein werden, sondern nur die betreffenden Eltern und Geschwister. –
Tausendmaltausend herzliche Grüße, liebe Nanda, an Dich und die Deinigen von
Onkel Wilhelm.