1523. An Johanna Keßler
1523. An Johanna Keßler
Mechtshausen 24. Dec. 1905.
Liebste Tante!
Wenn ich zurück blicke auf mein Leben, will's mir scheinen, es sei eher wünschenswerth jung zu sterben, wie Hudi, als alt zu werden und stets mehr zu verlieren und zu tragen. Immer schwerer drückt das Gepäck, je älter man wird, während die Jugend viel leichter in's Jenseits geht. Weiter hinaus, wie sieht es denn aus in der Welt? Der große Karren knackt bedenklich. Verzweifelte Menschen flüchten bereits über die Grenze zu uns; doch auch hier grummelt es bereits an allen Ecken. Da ist am besten dran, wer festes Vertraun auf Gott besitzt und getrost in die Zukunft blickt.
Derweil such ich, so gut es geht, in der Nähe einen Zipfel der Natur zu erfaßen, damit ich nicht mürrisch werde. Im Haus hör ich die fröhlichen Stimmen der Kinder, die glücklich erregt sind in Erwartung des Lichterbaums und der Bescherung heut abend. Draußen krähen die Hähne, die Enten trompeten. Zu den Futternäpfen in den Bäumen fliegen die listigen lustigen Meisen. Täglich beseh ich im Garten die träumenden Pflanzen. Sie leben noch, erwachen wieder, wenn der Frühling kommt, und so nehm ich sie als Bild unseres eigenen Daseins.
Ein neues Jahr will sich enthüllen. Bleiben Sie gesund darin, liebste Tante. Wir alle hier denken häufig an Sie.
[244] Meine Schwester, meine Nichte, mein Neffe laßen freundlich grüßen. Und besonders herzlich grüßt Sie und die Letty und Hugo und Harry
Ihr alter getreuer
Onkel Wilhelm.