154) Die Sage vom Heidenkirchhof zu Radeburg.

S. Sachsengrün 1861. S. 9.


Den Fußweg, der vom Städtchen Radeburg nach dem Dorfe Berbisdorf führt, durchschlängelt ein munterer Bach, der sogenannte Seif. Ein kleiner Steg bahnt dem Fuße den Weg über denselben, die Strecke aber, welche dem überblickenden Auge im wechselvollen Durcheinander von ödem Sturzacker und Tannenwald entgegensteht, ist der Heidenkirchhof. Hier giebt es Urnengräber in Menge, aber wenn auch Pflugschaar und Hacke sich bemühen, die Hügel grauer Vorzeiten zu ebnen, die Seelen der dort Begrabenen sind noch nicht zur Ruhe gekommen. Jeder vermeidet deshalb diesen Ort, allein einst kamen im Winter dort zwei Jäger [136] hin, um dem Wilde aufzulauern. Klar schien der Mond auf die beeisten Zweige der auch im Winter grünen Tannen und die silbernen Lichtreflexe des Gestirns brachen sich auf der schneeigen Flur in wunderlichen Gestaltungen. Die Jäger warten auf Waidmannsruhe und regen sich nicht, da endlich erreicht der leise ziehende Ton ihr Ohr, welcher dem Wechsel des Wildes vorangeht. Hörbar knackt der Hahn, mit welchem Jeder sein Gewehr in Anschlag bringt; regungslos stehen die beiden Gestalten, aber das geübte Auge vermag trotz der Mondesklarheit nichts zu entdecken. Immer näher, immer deutlicher hören sie den geheimnißvollen Ton, kein Lüftchen rührt sich, ein Klingen und Singen erfüllt die Atmosphäre und feiner Schnee wird den Jägern von unsichtbaren Händen ins Gesicht geworfen. Die Erscheinung verstärkt sich, aus dem Klingen und Singen wird Sausen und Brausen, kein feiner Schnee mehr, sondern große feste Schneebälle und zackige Eisstücke werden auf die einsamen Jäger geschleudert, die, wie festgebannt, sich nicht von der Stelle zu rühren vermögen. Endlich durchsaust ein rasender Sturm die entfesselten Lüfte und schüttelt mit dem verworrensten Stimmengetön die Samenkapseln der Bäume (die sogenannten Tannenzapfen) auf die Häupter der zitternden Jäger. Als die nächtliche Ruhe wieder eingetreten, begrüßte der Glockenschlag des Radeburger Kirchthurms die erste Stunde des neuerwachten Morgens und die Gipfel der Tannen auf dem Heidenkirchhof grünten, vom schüttelnden Sturme des winterlichen Schmuckes beraubt, während kein Luftzug die angrenzenden Bäume der Schnee- und Eiskruste beraubte.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Grässe, Johann Georg Theodor. 154. Die Sage vom Heidenkirchhof zu Radeburg. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-506A-2