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An Friedrich Heinrich von der Hagen
Ew. Hochwohlgeb.
für das übersendete Exemplar der Nibelungen zu danken, eile ich um so mehr, als ich noch Ihnen und Ihrem Freunde wegen der Lieder ein Schuldner bin. Wie sehr ich dergleichen Arbeiten unserer Vorfahren schätze, brauche ich nicht erst auszusprechen, da ich diese Neigung schon mehrmals durch Nachbildung gezeigt habe. Ja es wäre mir unangenehm, daß ich nicht mehr in diesem Fache gethan, wenn ich nicht eben erlebte, daß jüngere Freunde hier so wacker eingreifen.
Das Lieb der Nibelungen kann sich, nach meiner Einsicht, dem Stoff und Gehalte nach, neben alles hinstellen, was wir poetisch vorzügliches besitzen; wohin ich es bis jetzt mit mir selbst noch nicht einig. Man hatte bisher zu sehr mit den alterthümlichen Eigenheiten zu kämpfen, welche das Gedicht für einen Jeden umhüllen, der es nicht ganz eigen studirt und sich hiezu aller Hülfsmittel bemächtigt. Beydes haben Sie gethan, und uns ist nun die Betrachtung um so viel bequemer gemacht. Indem ich mich nun aufs neue mit dem Gedicht beschäftigte und Ihren Anhang studire, so erwarte ich mich Verlangen die versprochene Einleitung, weil man erst über verschiedene Bedingungen, unter denen das Gedicht entstanden, aufgeklärt [437] werden muß, ehe man darüber noch weiter zu urtheilen wagt.
Alles Übrige, was Sie uns zusagen, und was sich nach der großen Vorarbeit bald hoffen läßt, wird mir sehr erfreulich seyn; so wie die Frage allerdings bedeutend ist, ob aus dieser so reichen epischen Dichtung sich Stoff zur Tragödie heraus heben lasse.
Sollte ich gegen so viel Gutes und Schönes durch Mittheilung irgend etwas wünschenswerthes erwiedern können, so würde es mir sehr angenehm seyn, meine Dankbarkeit auf eine thätige Weise ausdrücken.
Der ich recht wohl zu leben wünsche und mich geneigtem Andenken empfehle.
Weimar, den 18. October 1807.
Goethe.