VII. Das hölzerne Pferd
In einem Dorfe gab es einen großen Ingenieur. Es gab auch zwei Meister, einen in Silber, den anderen in Holz. Da stritten die beiden. “Ich bin der Bessere,” sagte der eine. “Ich bin der Bessere,” sagte der andere. Da gingen beide zu dem Ingenieur. Sie fragten ihn: “Welcher von uns beiden Meistern ist der Bessere?” Da sagte er zu den beiden: “Ich weiß nicht, welcher von euch der Bessere, welcher der Schlechtere ist. In einer Woche mache jeder ein Ding, um es mir zu zeigen. Dieses bringt hierher, dann werde ich sagen, wer von euch beiden der Bessere oder der Schlechtere ist.” Dann gingen sie nach Hause und machten ein Ding. Der Silbermeister machte einen Revolver aus einer Nähnadel. Der Holzmeister machte ein hölzernes Pferd. Nach der Woche gingen sie zu dem Ingenieur. Der Injenieur legte die Pistole auf den Tisch, betrachtete sie und war sehr erstaunt. Der Holzmeister ließ das hölzerne Pferd auf dem Hof und ging auch zu ihm. Dann fragte er: “He, jetzt sage, welcher von uns der bessere Meister ist.” Da sagte der Ingenieur: “(Auch) wenn ich dieses Pferd sehe, kann ich auch an dieser Pistole keinen Mangel finden (d.h., beide sind sehr gut). Aber etwas wie dieses Pferd, habe ich noch nie gesehen und auch nicht davon erzählen hören.” Dann ging der Meister in Silber sehr betrübt nach Hause. Zu dem Meister in Holz sagte der Sohn des Ingenieurs: “Verkaufe mir dieses Pferd.” Der Holzmeister sagte (“sagend”): “Verkaufen werde ich es dir nicht, [191]als Geschenk will ich es dir geben”, gab (“gebend”) ihm das Pferd und ging nach Hause. Dann bestieg dieser Sohn eines Tages das hölzerne Pferd und ritt fort. Nachdem er die sieben Meere hinter sich gelassen hatte, stieg er in einem Dorfe ab. Er geriet in dem Dorfe zu einer Witwe. Da sah er mitten im Meer ein Haus. Er fragte die Witwe: “Was ist das für ein Haus da mitten im Meere?” Sie erzählte dem Sohn: “Dies Haus gehört einem König. Darin ist des Königs Tochter. Der König hat gesagt: «Ich lasse sie nicht an einem Ort, wo eines Mannes Blick auf sie fallen kann» und hat mitten im Meer ein Haus gebaut; seine Tochter und eine Dienerin (“Sklavin”) ließ er (dort) und sagte: «Dorthin werde ich nach einem Jahr selbst gehen, um nach ihnen zu sehen».” So erzählte die Witwe dem Sohn. Da wollte der Sohn sehr dorthin gehen. Da bestieg er das hölzerne Pferd und ging dorthin. Da ließ er das Pferd auf dem Dach, und er selbst schlüpfte in das Haus. Er fand dort des Königs Tochter und die Dienerin (“Sklavin”) spielend. Da liebte die Königstochter den Sohn sehr, und er liebte sie. Da wurde sie von dem Sohn schwanger. Da sagte sie: “Jetzt ist die Zeit gekommen, wo mein Vater herkommt. Was soll ich jetzt tun?” Da bestieg er das hölzerne Pferd, nahm sie, und sie flohen von dort. Dann erreichten sie den Rand eines Waldes. Dort bekam sie einen Sohn. Nachdem sie den Sohn gewaschen hatten, hatten sie ein Feuer nötig, um ihn zu trocknen. Da ließ der Sohn (d.h. der Vater des Kindes) das Mädchen bei dem Sohn und ging Feuer holen. Als er von einem weit entfernten Orte Feuer geholt hatte und zurückkam, fiel kleines (Stück) Feuer herab, und eine Schraube des hölzernen Pferdes verbrannte. Das Pferd starb. Da vergaß er den Sohn und die Frau nach dem Tode des Pferdes. Da begann er eine Schraube für das hölzerne Pferd zu machen. Es gelang ihm nicht, sie zu machen. Während er sie noch einmal machte und noch einmal machte und viel gearbeitet hatte, nutzten sich seine Kleider ab, am ganzen Körper wuchsen Haare, und auf solche Weise arbeitete er dort weiter. Nun hatte das Mädchen ihren Sohn an den Fuß (“an die Ecke”) eines Baumes gelegt und ging in eine Schlucht. Dort fand sie eine Mühle und einen Müller. Der Müller hielt das Mädchen sehr gut wie eine eigene Tochter. Zehn Leute des Ingenieurs gingen eines Tages in den Wald Holz fällen. Da fanden sie den kleinen Sohn an den Fuß des Baumes gelegt. Da brachten sie das Kind: “Wir geben es dem Ingenieur. Sein Sohn ist verlorengegangen, wir geben ihm [192]diesen.” Sie brachten also das Kind, um es dem Ingenieur zu geben. Der Ingenieur (davon) war sehr angetan (“zufrieden”), er sorgte sehr gut für das Kind. Als es fünfzehn Jahre alt wurde, wuchs es zu einem jungen Mann heran. Da überlegten der Ingenieur und (seine) Vertrauten: “Welche Frau könnten wir ihm zuführen (d.h., mit welcher Frau können wir ihn verheiraten)?” Da sagte einer von den Leuten: “Der Müller hat eine schöne Tochter. Sie könnten wir diesem Jüngling zuführen.” Dann ging der Ingenieur zu dem Müller und sagte: “Würdest du deine Tochter meinem Sohn geben?” Da sagte der Müller: “Ich gebe sie (ihm).” Da wurde dieses Mädchen diesem Jüngling zugeführt und das Brautgeld gegeben. Dass sie die Mutter des Sohns war, wusste niemand. Aber dem Mädchen selbst war es bekannt, dass sie dem eigenen Sohn zur Frau gegeben wurde. Ohne irgend etwas zu tun, schwieg sie. Dann brachte (“führte”1) man sie zu ihm. Dann brachten sie sie zu(aller)erst zu ihm zum Liegen. Als er zu ihr gekommen war, sagte sie zu dem Jüngling: “Du bist mein von mir geborener Sohn. Wenn du willst, lege dich zu mir; wenn du willst, lege dich nicht (zu mir). Das, was du tun willst, das Recht steht bei dir.” Da legte sich der Jüngling nicht zu ihr. Dann dachte er viel und sehr nach: “Was bedeutet das, was sie zu mir gesagt hat (“das von ihr zu mir gesagte Wort”)?” Dann am Morgen ging der Sohn und erzählte seinem Vater: “Mir hat diese Frau solches gesagt. Was ist das für eine Geschichte? Ich weiß es nicht.” Da rief der Vater sie zu sich: “Was hast du zu meinem Sohne gesagt?” “Was ich zu deinem Sohne gesagt habe, ist wahr (“das wahre Wort”). Ich war eines Königs Tochter. Er ließ mich mitten im Meere, nachdem er ein Haus gemacht hatte. Nachdem man das Allernötigste gegeben hatte, gab man mir eine Dienerin (“Sklavin”). Ein Mann mit einem hölzernen Pferd kam in unser Haus, von ihm wurde ich schwanger. Weil wir Angst hatten vor dem Vater, flohen wir von dort. Als wir zu einem Waldrand gekommen waren, gebar ich einen Sohn. Als er diesen Sohn abgewaschen hatte, ging dieser mein Ehemann Feuer holen, um es zu trocknen. Da er nicht zurückkam, legte ich den kleinen Jungen an den Fuß eines Baumes und ging zu einem Müller. Der kleine Junge wurde von deinen Leuten, die in den Wald gegangen waren, um Holz zu schneiden, gefunden. Sie brachten ihn von dort und gaben dir diesen [193]Sohn. Ihr habt mich zu ihm als Ehefrau gebracht. Er ist mein Sohn, den ich geboren habe. Weil es so ist, sagte ich jenes zu ihm.” Der Ingenieur veranlasste Leute in seinem Dorf (“in seinem Dorf seiende Leute”), in diesen Wald zu gehen, um seinen Sohn, der mit dem hölzernen Pferd gegangen war, zu suchen. Diese Leute fanden den Mann, und das Pferd fanden sie verfault. Sie fanden ihn, der viel Holz zu Spänen gemacht und eine große Schlucht damit gefüllt hatte. Kleider hatte er nicht an. Dass ihm langes Haar gewachsen war, fanden sie. Diese Leute, das Haar entfernt habend, führten ihn nach Hause. Diese seine eigene Frau brachten sie zu ihm selbst und verheirateten auch dem Sohn mit einem anderen schönen, guten Mädchen.
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 - TextGrid Repository (2025). Boeder, Winfried. VII. Das hölzerne Pferd. Kaukasische Folklore. https://hdl.handle.net/21.11113/4bfsf.0