1. Kapitel .
Olly Kerzengerade stieg der schwarze Qualm aus den rußigen Fabrikschornsteinen in die sonnengoldene Herbstluft hinein .
Rasseln und Rattern , Surren und Schnurren , Hämmern und Pochen , unausgesetzt sich erneuernd , dröhnte aus dem großen , roten Ziegelsteinbau der Hildebrandtschen Maschinenfabrik .
Bis zu der zierlichen Rokokovilla , die ein ausgedehnter Garten von den Fabrikgebäuden trennte , klang dies ewige Lied der Arbeit .
Zwischen den von blutrotem wilden Wein umkletterten Säulen der Veranda stand der Kaffeetisch .
Blütenweißer Damast deckte ihn , silbernes Gerät blitzte im Herbstsonnenstrahl .
Die Familie war noch nicht versammelt .
Kommerzienrat Hildebrandt , ein noch immer schöner Mann trotz seiner siebenundvierzig Jahre , zwirbelte ungeduldig den blonden Schnurrbart .
Potztausend - wo blieben sie denn - er mußte wieder in sein Bureau . . .
" Fräulein Arnold - Fräulein Arnold . . . " die Stimme des Kommerzienrats durchschallte aufgeregt Haus und Garten .
Aber als die Gerufene jetzt , umringt von den Kindern , in dem Rahmen des roten Weinlaubes erschien , glättete sich die unheilvolle Falte zwischen seinen hellen Augenbrauen .
" Kinder , reißt Fräulein Arnold nur nicht vor lauter Liebe in Stücke , daß wir endlich Mal Kaffee kriegen ! "
Ein Lächeln umhuschte die Mundwinkel des Vaters .
Unglaublich , wie seine Krabben an der neuen Hausdame hingen !
Inzwischen versuchte Fräulein Arnold vergeblich , sich von den sie umstrickenden Armen der Hildebrandtschen Sprößlinge freizumachen .
Senta , das blondzopfige Backfischchen , hatte sie rechts beim Wickel , der lang aufgeschossene Primaner Rudi zerrte an ihrem linken Arm , und Herbert , der Sextaner , hatte sich ihr sogar in den Rücken gehängt .
So schleppte man sie im Triumph zum Kaffeetisch .
Lachend hatte Fräulein Arnold endlich die Hände freibekommen und waltete jetzt anmutig ihres Amtes , die Tassen mit dem duftenden bräunlichen Trank zu füllen .
Sie war eine elegante Erscheinung , Mitte der Dreißiger , aber die heißen Wangen nach überstandenem lustigen Kampfe ließen sie bedeutend jünger erscheinen .
" Wo bleibt denn Olly ? "
Der Vater sah fragend auf den einen noch leeren Platz und dann zu seinem Töchterchen hin .
Sentas rosiges Gesichtchen vertiefte sich noch um eine Nuance .
Sie und Rudi waren beide das Ebenbild ihres Vaters .
" Olly wird wohl wieder in den Fabrikhöfen stecken " , meinte sie dann achselzuckend und bis mit ihren gesunden , weißen Zähnen ein großes Stück Kuchen ab .
" Fräulein Arnold , ich wünsche nicht , daß das Mädel sich zwischen den Arbeitsräumen und Maschinengebäuden herumtreibt : die Kinder sollen den Fabrikboden überhaupt so wenig wie möglich betreten .
Vielleicht versuchen Sie es , gerade Olly ein wenig mehr zu sich heranzuziehen . "
" Ich versuche es täglich von neuem , Herr Kommerzienrat , trotzdem Olly es mir auf jede Weise erschwert .
Sie ist ganz anders wie die übrigen Kinder . "
Fräulein Arnold seufzte unhörbar .
" Ja , das ist sie ! "
Auch der Vater seufzte , aber ungleich lauter .
Wie kam dieses störrische Mädchen unter seine anderen , so leicht erziehbaren drei ?
Ewig hatte man seinen Ärger mit ihm :
bei keinem der Kinder machte sich das Fehlen der Mutterhand so bemerkbar wie bei Olly .
Keine Hausdame hielt bei ihm aus , mit Ollys verstocktem , unfreundlichem Wesen war noch keine fertig geworden .
Von Fräulein Arnolds liebenswürdiger , gewandter Art hatte er gerade für das Mädel einen günstigen Einfluß erhofft .
" Herbertchen , spring doch Mal nach oben , ob du Olly nicht findest .
Es ist mir ungemütlich , wenn eins zu den Mahlzeiten fehlt . "
Der Vater ließ sich das zweitenmal seine Tasse füllen .
Herbertchen unterbrach Gehorsam seine angenehme Tätigkeit , das Stück Kuchen auf dem Teller seiner abwesenden Schwester von sämtlichen Rosinen zu säubern , und stürmte davon .
Die blonden Locken , die man ihm trotz der Sextanerwürde als Nesthäkchen noch immer nicht kurz geschoren hatte , umwehten ihn wie eine Löwenmähne .
Zwei Minuten später sah man ihn gleich einem Pfeil aus der Villa schnellen und quer durch den Garten schießen .
" Der kennt alle Schliche und Verstecke von seinen Indianerspielen her " , lachte Rudi .
Senta hatte inzwischen den Blondkopf zärtlich an des Vaters Schulter geschmiegt .
" Na , Schmeichelkatze , was willst du , diese Einleitung deiner Wünsche ist mir bekannt , also ? "
" Ach , Papachen , dürfen wir heute das auto benutzen , ja ? "
" Wollt ihr spazierenfahren ?
Meinetwegen , aber mit dieser Bitte pflegst du doch sonst nicht so viel Umstände zu machen . "
" Es kommt ja auch erst , " gestand Senta , versetzte dem Vater in plötzlicher Zärtlichkeit einen Kuß und bettelte :
" Weißt du , Papachen , hellblau steht mir so gut , sagt Fräulein Arnold , und da mein weißes Kleid gar nicht mehr schön ist , wollten wir sehen , ob mir die Schneiderin noch in acht Tagen ein neues Kleid machen kann .
Sonnabend ist doch Backfischgesellschaft bei Irmgard von Buschen . "
Eine erneute Auflage von Zärtlichkeit erfolgte .
Der Vater ließ sich die Liebkosungen seines hübschen Töchterchens gern gefallen .
" Wenn Fräulein Arnold es für richtig hält , bin ich natürlich einverstanden . "
Er wandte sich zu der Hausdame .
Aber ehe noch Fräulein Arnold ihre Meinung betreffs des hellblauen Kleides äußeren konnte , übertönte das gewohnte Fabrikgetöse , auf das keiner mehr achtete , ein heller Schrei , halb Jauchzer , halb Kriegsfanfare .
Fräulein Arnold machte ein erschrecktes Gesicht .
" Das ist nur Herbertchens Indianerruf " , beruhigte sie Rudi .
" Er hat sie sicher erschlichen " , fiel Senta lachend ein .
Da kam der kundige Pfadfinder auch bereits in gestrecktem Galopp zurück .
" Sie sitzt ganz hinten unter dem Apfelbaum und heult " , berichtete er mit verächtlicher Miene .
Heulen galt in der Sexta als überwundener Standpunkt .
" Warum hast du sie nicht mitgebracht ? "
Der Vater zog die Uhr , er mußte wieder an die Arbeit .
Herberts dunkle Augen , die einen seltsamen Gegensatz zu seinem lichten Haar bildeten und ihn zur Schönheit der Familie stempelten , hingen begehrlich an dem Kuchen auf dem Tisch .
" Sie will ja nicht , sie bockt , nicht Mal Kuchen will sie ! "
Damit ließ der Süßschnabel das Stück , das Fräulein Arnold vorsorglich für Olly aufgelegt , in den eigenen , ewig hungrigen Mund spazieren .
" Warte , Papa , ich bringe sie sofort . "
Rudi setzte seine langen Beine in Bewegung .
" Wir bringen sie , tot oder lebendig . "
Senta , die zuerst ein bestürztes Gesicht gemacht , jagte lachend hinter dem Bruder drein , daß ihre Blondzöpfe mit den halblangen Röcken um die Wette flogen .
" Auf , zum Kampf ! "
Herbertchen durfte natürlich nicht fehlen .
Den Rest des gemausten Kuchens in den Mund stopfend , galoppierte er den beiden Großen nach .
" Eine Bande ! "
Mit strahlendem Gesicht sah Kommerzienrat Hildebrandt seinen drei Blondköpfen nach .
Unter dem alten , knorrigen Reinettenbaum , dicht an dem Stachelzaun , den man wegen der beutelustigen Hände der Arbeiterkinder am Obstgarten entlanggezogen hatte , hockte ein sechzehnjähriges Mädchen .
Ein langes , dürres Ding war es , unter dem weißen Leinenrock schauten ein paar Füße von erstaunlicher Größe hervor .
Die dünnen Arme hatte es um den Stamm des Apfelbaumes geschlungen , den dunklen Kopf fest gegen die Rinde gepreßt .
Waidgerecht umstellten die drei das aufzuscheuchende Wild .
Mit lachenden Augen , den Finger auf den Mund gelegt , so lugten sie durch das Buschwerk .
Jetzt bückte sich Rudi , griff einen vom Wind abgeschlagenen Apfel und warf ihn mit zielender Hand der nichts ahnenden Schwester in den Schoß .
" Der Schönsten ! " rief er übermütig , " der Schönsten den Apfel der Eris ! "
Wie von der Tarantel gestochen , sprang Olly auf die Füße .
Das gelblich blasse , magere Gesicht überflog Zornesröte , aus den verweinten , schwarzen Augen sprühten Wutteufelchen .
Der Bruder hatte sie mit seinen Worten an ihrer empfindlichsten Stelle verwundet .
Mit geballten Fäusten wollte sie an ihm vorüber .
Aber schon hatten sich die drei die Hände zur festen Kette gereicht .
Unter Herbertchens Indianergeheul umtanzten sie in wilden Sprüngen ihr Opfer .
Vergeblich suchte Olly sich einen Durchschlupf zu verschaffen , immer enger wurde der Kreis , den man um sie schloß .
In ohnmächtiger Wut verbarg sie aufs neue das Gesicht in den Händen .
" Mädchen , warum weinest du , Weinest du , weinest du , Mädchen , warum weinest du , Weinest du so sehr ? "
Ausgelassen erklang es von Sentas roten Lippen , und jubelnd fielen die Brüder ein .
Sie meinten es nicht böse , die drei , es war durchaus keine Schlechtigkeit der Geschwister , nur jugendlicher Übermut .
Sie hatten sich daran gewöhnt , Olly , die jeden Scherz krumm nahm und stets abweisend und unliebenswürdig gegen sie tat , allenthalben aufzuziehen und zu foppen .
Hätte sie nur ein wenig von Sentas harmlos lustiger Art gehabt , mit der diese jeder Neckerei zu begegnen pflegte , so hätte sie sich selbst manch böse Stunde ersparen können .
Aber gerade , daß sie stets außer sich geriet , reizte die anderen .
Als Rudi die Schwester als Begleitung zu ihrem Sang laut schluchzen hörte , empfand er Mitleid mit ihr .
" Blök ' nicht , Olly , du sollst zu Papa kommen - los , los , er wartet auf dich . "
Damit versuchte er , sie vorwärts zu schieben .
Olly widerstrebte nicht länger .
Wenn Papa etwas befahl , gehorchten die Kinder aufs Wort .
Erstens , weil sie ihren schönen Vater über alles liebten , und dann - Papa konnte auch manchmal recht ungemütlich werden .
Aus den Fabrikgebäuden schallte seine Stimme ab und zu unheilvoll herüber .
Dann pflegten die Hausdamen noch schnell ein Extragericht einzulegen , um die Laune des Kommerzienrats zu verbessern , und die Kinder waren dann stets bemüht , jeden Verdruß aus dem Wege zu räumen .
" Na , Olly , muß man dich erst zum Kaffee einladen lassen ; ich bitte mir aus , daß du die Mahlzeiten künftig pünktlich innehältst " , empfing der Vater sein verweintes Töchterchen ernst .
Während er den anderen Kindern gegenüber fast immer liebevoll zärtlich war , erschien ihm bei der störrischen Olly Strenge als einziges Erziehungsmittel .
Er ahnte nicht , daß sich dadurch das junge Herz nur noch mehr in sich selbst zurückzog .
" Was hat denn die Überschwemmung zu bedeuten , hm ? "
Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete Papa die roten Tränenflecke in dem unschönen , blutleeren Mädchenantlitz .
Olly stand mit verschlossenem Gesicht da .
Fräulein Arnold schenkte ihr Kaffee ein und schob ihr ein neues Stück Kuchen zu .
Die Falte auf des Kommerzienrats Stirn vertiefte sich .
" Unerhört , daß du dich derartig von Fräulein Arnold bedienen läßt , und nicht Mal ein Dankeschön für ihr liebevolles Sorgen hast .
Umgekehrt wäre es richtig , solch große Tochter müßte mir hier am Kaffeetisch schon die Hausfrau ersetzen " , fuhr der Vater sie an .
Um Ollys blasse Lippen zuckte es , aber sie erwiderte keinen Ton .
Brummend erhob sich der Kommerzienrat .
" Daß einem doch jede gemütliche Stunde in seinem Heim von dem Mädel verstört wird - na , was gibt es noch ? "
Er blieb neben ihr stehen .
Es war sichtlich , daß sie mit sich kämpfte , ihre Lippen bewegten sich , und ihre tränenverquollenen Augen hingen flehentlich an dem Vater .
Sie tat ihm leid .
" Ich habe eine Bitte , Papa " , stieß sie plötzlich hervor .
" Darf ich heute das auto benutzen ? "
" Nummer zwei , nun kommt gleich das hellblaue Kleid , oder willst du ein rosa ? "
Papa war froh , daß Olly wenigstens wieder sprach und nicht mehr wie ein störrischer Maulesel dastand .
" Die eine versucht mit Küssen , die andere mit Tränen .
Mädel , was seid ihr verschieden ! "
Olly fühlte einen Stich durchs Herz .
Sie wußte es ja ganz allein , daß sie verschieden waren !
Die eine war eben hübsch und die andere häßlich !
Aber daß Papa dies so unumwunden , so schonungslos aussprach . . . das törichte Mädel faßte die Worte des Vaters , die sich lediglich auf das Wesen seiner Töchter bezogen , gänzlich falsch auf .
" Hellblau wird Olly nicht stehen , es würde sie zu gelb machen " , mischte sich Fräulein Arnold hinein .
" Ich denke , ihr Weißes wird noch gehen , sie hat es später bekommen als Senta . "
Was lag Olly an dem hellblauen Kleide , aber - sie wurde schon wieder zurückgesetzt !
" Ich will überhaupt kein Kleid ! " rief sie in unliebenswürdigem Ton .
" Ich möchte das auto benutzen , um . . . " - sie schluckte krampfhaft - " es ist Mamas Geburtstag heute ! "
Vorwurfsvoll blickte sie auf den Vater , der zum erstenmal seit fünf Jahren diesen Gedenktag außer acht gelassen .
Papa machte denn auch ein erschrecktes Gesicht .
" Richtig , der achtzehnte September !
Ja , die Arbeit , da vergißt man alles .
Na , Kinder , wenn ihr zum Kirchhof fahren wollt , ich bin leider heute nicht abkömmlich , sagt es Müller . "
Das war der Chauffeur .
Der Kommerzienrat sprang leichtfüßig die Stufen , die von der Veranda in den Garten führten , hinab .
Ehe er aber noch die unterste erreicht hatte , war Senta ihm nachgeeilt und hatte von hinterrücks die Arme um seinen Hals geschlungen .
" Papachen , du hast es mir zuerst versprochen , die Schneiderin macht mir das Kleid sonst nicht mehr ! "
Auch Sentas Stimme konnte weinerlich klingen , aber es war trotzdem ein schmeichelnd , liebenswürdiger Ton darin .
" Kinder . . . " der Vater fuhr sich aufgeregt durch das sich kaum lichtende blonde Haar .
" Also gut , dann fahren wir alle am Sonntag zum Kirchhof - erledigt ! "
Er eilte den Fabrikgebäuden zu .
Fräulein Arnold klingelte dem Hausmädchen , um den Kaffeetisch abräumen zu lassen .
Olly hatte ihre Tasse noch nicht berührt .
Mit verächtlichem Gesicht blickte sie auf die knapp ein Jahr jüngere Schwester , welche triumphierend zu ihr hinblinzelte .
" Olly , willst du nicht trinken ? "
Fräulein Arnold gedachte der Mahnung des Kommerzienrats , sich des Mädchens mehr anzunehmen .
Aber keine Antwort wurde ihr .
" Herbertchen , wir werden dich mitnehmen und an deiner Turnhalle abliefern , mein Junge .
Rudi , Sie haben wohl zu arbeiten .
Zieht euch an , Mädel , damit wir noch helles Tageslicht zum Auswählen der Farbe haben . "
Senta wirbelte Fräulein Arnold glückselig über das in Aussicht stehende neue Kleid noch einigemal auf der Veranda herum , ehe sie sich in das ihr gemeinsam mit Olly gehörende Zimmer begab .
" Fix , Olly " , drängte die Hausdame , da das junge Mädchen durchaus keine Anstalten machte , sich zu erheben .
" Ich komme nicht mit " , knurrte Olly schließlich , nachdem die Aufforderung zum drittenmal an ihr Ohr gedrungen .
" Und warum nicht ? "
Fräulein Arnolds Stimme klang nun auch gereizt .
" Was soll ich denn dabei , wenn für Senta ein Kleid gekauft wird , Sie werden meinen Geschmack wohl entbehren können " , stieß sie ungezogen heraus .
" Pfui , Olly , schäme dich ! "
Fräulein Arnold legte ihr die Hand auf die Schulter .
" Für so schlecht hätte ich dich doch nicht gehalten , daß du deiner Schwester das Kleid nicht gönnst ! "
Der lange Backfisch machte sich unsanft los .
Sie schwieg .
Was sollte sie auch sagen ?
Fräulein Arnold würde ihren Schmerz ja gar nicht verstehen , daß der Schwester ein neues Kleid wichtiger war als der Geburtstag der toten Mutter !
Schon vor dem Kaffee hatte sie sich in ihrem Stübchen deswegen mit Senta gezankt .
Deswegen hatte sie unter dem Apfelbaum gesessen und geweint .
Nun hatte es die Schwester doch bei Papa durchgesetzt , wie sie ja alles durchsetzte , nur weil sie hübsch war !
" Und ich bin eben häßlich , folglich kann mich kein Mensch leiden , und alle geben mir Unrecht , selbst Papa ! "
Da war Olly mit ihren Gedanken wieder an dem dunkelsten Schatten ihres sechzehnjährigen Lebens angelangt .
Daß sie selbst durch das ständig Sichzurückgesetztfühlen , durch ihr abstoßendes , verschlossenes Wesen zu der Entfremdung mit Vater und Geschwistern beitrug , daran dachte das unreife Backfischchen nicht .
Das silbergraue Automobil mit den roten Lederpolstern war vorgefahren .
Fräulein Arnold in einem eleganten Herbstkostüm nahm darin Platz .
Ihr zur Seite Senta .
Das niedliche , rosige Puppengesicht unter dem großen Stickereihut nickte strahlend zu Rudi zurück .
Herbertchen in gelbgrauem Turnanzug , den Damen gegenüber , und - tu - u - ut - mit schrillem Aufheulen setzte sich das auto in Bewegung .
An den Fenstern des Fabrikgebäudes , die nach der Straße zu lagen , erschienen bleichgraue Gesichter .
" Die haben es Jute , die fahren jetzt spazieren . "
- " Die Häßliche , det arme Ding , haben sie natürlich wieder zu Hause jelassen . . . "
- Den Rest verschlang das Rädergerassel der arbeitenden Maschinen .
In der Rokokovilla , die noch vor kurzem so belebt gewesen von jugendlichen Stimmen , war es still geworden .
Rudi schwitzte über seinen griechischen Aufgaben , Olly hatte sich in das Rauchzimmer des Vaters geschlichen .
Dort hing über dem Schreibtisch das lebensgroße Ölgemälde ihrer Mutter .
Die Hände auf die Lehne von Papas Schreibtisch gestützt , so stand Olly lange .
Lange sah sie zu der schlanken Frauengestalt in dem schwarzen Samtkleid empor .
Es war ein ebenso schönes als sympathisches Gesicht , das da auf ihr Kind niederschaute .
Tiefdunkles Haar umrahmte mit weichem Scheitel das zarte Profil .
Die Augen glichen dem Samt des Kleides , in sinnendem Ernst blickten sie .
Und doch , Olly wußte , daß der rote Mund einst lachen , scherzen , singen und küssen gekonnt hatte .
Das junge Mädchen wischte sich mit dem Handrücken schnell die schon wieder hervorquellenden Tränen aus den Augen .
Seit Mamas Tode hatte sie keiner wieder geküßt .
Wenn die anderen Kinder zärtlich dem Papa entgegensprangen , dann stand sie abwartend , mit sehnsüchtigem Herzen daneben .
Es fiel ihr nicht ein , dem Vater wie Senta an den Hals zu fliegen .
Nein , wenn Papa ihr nicht von selbst einen Kuß geben mochte - am Ende war sie ihm zu häßlich dazu !
Papa aber sah kopfschüttelnd auf sein kaltherziges , gefühlsarmes Töchterchen , das ihm nicht einmal zum Gutenachtkuß die Lippen reichte .
Solange Mama gelebt , hatte Olly sich nicht von der Natur und von den Menschen zurückgesetzt gefühlt .
Sie war Mamas " Schwarzköpfchen " , so wie Senta ihr " Blondköpfchen " war .
Und wenn sie auch niemals ein leicht zu erziehendes Kind gewesen , die Mutter hatte die Gefühlstiefe in dem jungen Kinderherzen erkannt .
Mutterliebe fand stets den richtigen Weg zu demselben .
Dann aber hatten Fremde an die sich im ersten Weh in sich selbst zurückziehende Kindesseele mit rauhem Wort gerührt .
Ihr stilles , gedrücktes Wesen hielt man für Trotz , ihre scheue Art für den Ausdruck eines schlechten Gewissens .
Bald wußte es Olly , daß die anderen Kinder gut , freundlich und schön waren , sie dagegen bösartig , unliebenswürdig und häßlich .
Spott und Ungerechtigkeit gesellten sich dazu , unwillkürlich zogen die Hausdamen , die Dienstboten , ja auch Papa , die hübschen , stets lachenden Kinder dem schwarzen , mißmutigen Mädel vor .
So war Olly zum störrischen , verbitterten Backfisch geworden .
Was war das früher am achtzehnten September für ein Lachen und Gläserklingen , für ein Gratulantenschwarm und Blumenmeer in der Rokokovilla gewesen !
Und heute sollte Mama auch ohne das allerkleinste Blümchen bleiben ?
Keiner hatte Zeit für sie ?
" Doch , Mamachen , ich komme , und wenn ich den weiten Weg auch zu Fuß gehen müßte ! " flüsterte Olly leidenschaftlich zu dem Bilde empor .
Hastig eilte sie die mit roten Teppichen belegten Treppen , die in das obere Stockwerk führten , hinauf .
Es war ein duftig zierliches Mädchenzimmer , das sie gemeinsam mit Senta bewohnte .
Weißgetupfte Mullgardinen flossen , von breiten , mattblauen Atlasschleifen gehalten , an den Fenstern hernieder .
Die Möbel leuchteten in lichtem Weiß , ein zierliches Rohrsofa , mit blauen Libertykissen belegt und rundem Tischchen davor , bildete eine gemütliche Ecke .
Die Wände waren blau tapeziert .
Allerlei nette Genrebilder , Konsolchen und Brettchen mit Vasen hatte Senta auf der Seite , an der ihr von hellblauer Seidensteppdecke bedecktes Bett stand , geschmackvoll angebracht .
Die Wand , die zu Ollys Reich gehörte , war leer .
Nur eine Photographie der Mutter , um die sich ein grüner Blätterkranz schlang , hing über ihrem Bett .
An das Stübchen schloß sich ein zierlich gefügter Goldgitterbalkon .
Bunte Petunien und brennend rote Pelargonien blühten trotz des Herbstes dort in üppiger Pracht .
Olly pflegte ihre Blumen mit der ganzen Zärtlichkeit ihres liebebedürftigen , vereinsamten Herzens , während Senta , der Sausewind , wenig Sinn dafür hatte .
Auf dem niedrigen Hocker konnte Olly stundenlang in unfruchtbarem Träumen sitzen und an all den schwarzen Fabrikschloten , die hier im Norden Berlins wie gewaltige Vorposten vor den Toren der Stadt aufgepflanzt waren , vorüberstarren .
Bis zu den grünen Wiesen , auf denen bunte Flaggen von grün angestrichenen Lattenhäuslein wehten , den Laubenkolonien der Arbeiter , im Berliner Volksmund " Kamerun " geheißen , bis zu dem Wasserband des Kanals , das die bläulich schimmernden Wälder der Jungfernheide umgürtete .
Heute aber hatte Olly keine Zeit zum Sinnen und Starren .
Einen unbehaglichen Blick warf sie dem halbfertig auf ihrem Schreibpult liegenden französischen Exerzitium zu ; durch den Streit mit Senta war es in Vergessenheit geraten .
Dann sperrte sie es kurz entschlossen in die Mappe .
Ach was - Mamas Geburtstag war Wichtiger !
Schnell den Matrosenhut aufgestülpt !
Sie pflegte , im Gegensatz zu Senta , nur selten , kaum beim Frisieren , in den Spiegel zu sehen .
Olly haßte den Spiegel .
Unbarmherzig sagte er ihr ja stets aufs neue , wie häßlich sie war .
Doch heute mußte sie ihrem Feinde einen Besuch abstatten .
Mit verweintem Gesicht , wie ein Kind , mochte sie nicht auf die Straße hinaus .
Brrr - gräßlich !
Die tränenverschwollenen Augen , die roten Fleck auf dem ohnehin schon unreinen Teint , die vom Weinen gerötete Nase , die viel zu groß für das schmale Gesicht erschien , und die schwarzen Augenbrauen , die sie so böse zusammenzog , daß sie wie ein kleiner Wald anzusehen waren .
Und doch - sie hatte Ähnlichkeit mit Mama !
Olly lachte plötzlich laut und bitter auf .
Sie und ihre schöne Mama - haha - aber je länger sie auf ihr Spiegelbild starrte , um so deutlicher trat ihr die Gleichheit in der Kopfform , in der Farbe der Haare , der Augen entgegen .
Nur daß bei Mama alles weich und abgerundet war und bei ihr alles hart , eckig und unfertig .
Schnell wandte Olly dem Glas den Rücken .
Sie schämte sich ihres an Größenwahnsinn grenzenden Gedankens .
Scheu blickte sie um sich .
Es war ihr , als ob die Geschwister spöttisch hinter ihr in ein Gelächter ausbrechen müßten .
Aber alles blieb still , nur das Stöhnen der Maschinen ächzte durch die offene Balkontür herein .
Nun noch Geld eingesteckt , und dann leise , ganz behutsam an Rudis Tür vorüber .
Daß sie nur unangehalten aus dem Hause kam !
Einen Augenblick stand Olly vor dem Zimmer des mit lauter Stimme griechische Verse aufsagenden Bruders still .
Ob sie Rudi bat , mit ihr zu kommen ?
Er würde es am Ende tun , er war noch am wenigsten schlecht zu ihr .
Aber nee - er hatte heute nachmittag mit dem Parisapfel doch auch so gemein gegen sie gehandelt !
Und dann gab es erst noch eine große Auseinandersetzung mit Papa und Fräulein Arnold abends - nee , nee , das beste war schon , es erfuhr überhaupt keiner , daß sie fort gewesen .
Das Treppenhaus lag leer , lachende Stimmen der Dienerschaft erschallten aus dem Souterrain .
Unten an dem Hausportal in der Nachmittagssonne lag fliegenschnappend Murks .
Bei Ollys Erscheinen hob er den weißen , mit blauer Seidenschleife geschmückten Kopf und wedelte wohlerzogen mit dem buschigen Schwänzchen .
Olly mochte den Seidenpinscher nicht .
Alles im Hause verwöhnte und verzärtelte ihn .
Da hatte sie den struppigen , ruppigen Fabrikköter , den Karlemann , tausendmal lieber .
Der war ebenso häßlich und zurückgesetzt wie sie selbst .
Murks war ein Geselligkeit liebender Hund .
Ziemlich oberflächlich veranlagt , langweilte er sich , wenn er auf sich allein angewiesen war .
Da er seine Nachmittagspromenade noch nicht gemacht hatte , schloß er sich Olly mit dreister Selbstverständlichkeit an .
Diese mochte ihn nicht zurückjagen , aus Angst , daß sein Bellen jemand aufmerksam machen könnte .
So ließ sie sich die Begleitung des Seidenpinschers , wenig erfreut , gefallen .
Herzklopfend stand sie auf der Straße , die von verschiedenen Fabriken gebildet wurde .
Wohngebäude gab es hier draußen , abgesehen von den Vielen der Fabrikbesitzer , nicht .
Nur hin und wieder ganz gleich ausschauende , einstöckige Gebäude , welche besonders menschenfreundliche Herren für ihre Arbeiter als Wohnungen hatten herrichten lassen .
Sie wußte sehr wohl , daß sie im Begriff war , etwas Unerlaubtes zu unternehmen .
Es war den Kindern , abgesehen vom Schulweg , streng verboten , ohne Begleitung nach Berlin hineinzufahren .
Selbst Rudi machte dem Vater vorher Mitteilung , wenn er mit einem Freund gemeinsam arbeiten wollte .
Meistens stand ja auch das auto zur Verfügung .
Zur Schule benutzten die Hildebrandtschen Kinder die elektrische Bahn .
Der Vater war ein verständiger Mann ; es erschien ihm großspurig und ungehörig , wenn seine Sprößlinge im Automobil an der Schule vorfuhren .
Heute aber mußte Olly bis zur nächsten Stadtbahnstation .
Der Kirchhof lag am anderen Ende der Stadt , so kam sie am schnellsten hin .
Denn die Septembersonne warf schon recht schräge Strahlen über das staubig verrußte , kärglich mit Gras bestandene Baugelände , das sie durchschritt .
Aber zweieinhalb Stunden blieben ihr immerhin noch bis zum gemeinsamen Abendessen .
Da konnte sie reichlich wieder zurück sein .
Es war voll auf der Bahnstation .
Fast alles Arbeiter mit ihren Blechkannen .
Die große Gewehrfabrik , die in der Nähe lag , schloß um eine Stunde früher als die anderen .
Das Kommerzienratstöchterlein löste eine Fahrkarte zweiter Klasse .
Aber als sie an dem Kontrollbeamten vorbei wollte , hielt man sie am Ärmel zurück .
" Sie da , Fräuleinchen , jehört die Hundetöle zu Ihnen ?
Die muß 'n Billett haben , und zweiter Klasse is nicht , ins Hundecoupe müssen Sie mit der ! "
Bitterböse sah Olly auf Murks .
Aber es half nichts , sie mußte noch einmal die Perrontreppe heruntersteigen und für den unerwünschten Begleiter ein Billett nachlösen .
Als sie wieder oben anlangte , sauste ihr der " Nordring " gerade vor der Nase fort .
Das verstärkte ihre Sympathien für Murks nicht .
Endlich saß sie , ihre " Hundetöle " auf dem Schoß , eingepfercht zwischen blauen Arbeiterblusen , in dem Hundecoupe der dritten Klasse .
Schlechter Pfeifentabak und Zigarrenqualm verdickte die Luft .
Man nahm keine Notiz von ihr .
Lärmend unterhielten sich einige Jüngere über Lohnzulage und Kürzung der Arbeitszeit .
Murks , dem verwöhnten Seidenpinscher , war der Aufenthalt nicht standesgemäß genug .
Seinen Unwillen über die ihm aufgenötigte Gesellschaft ließ er in herausforderndem Geknurre gegen einen dicken , schläfrigen Mops auf der anderen Bank aus .
Mit dem Gleichmut des Phlegmatikers nahm der plebejische Mops überhaupt keine Notiz von dem eleganten Schoßhündchen .
Das ärgerte Murks , der gewöhnt war , im Hause des Kommerzienrats eine Hauptrolle zu spielen .
Ehe Olly von seinen ruhestörenden Absichten etwas merkte , fuhr er mit einem Satz , laut blaffend , auf den müde blinzelnden Mops los .
Ein Mops hat für gewöhnlich ein dickes Fell und friedliche Gesinnung .
Aber was zuviel ist , ist zuviel .
Wütendes Gekläff und Beißen entspann sich zwischen den beiden .
Mit lautem Lachen schürten die jüngeren Arbeiter den Kampf der verschiedenen Hundeklassen .
Aber der Besitzer des Mopses wandte sich in grobem Ton an den entsetzt dreinschauenden langen Backfisch .
" Ihr Köter hat anjefangen , ziehen Se doch det Biest eins ieber , det er Order pariert , der saubere Musje ! "
Olly rief in angstvollem Ton :
" Murks - Murks , hierher ! "
Aber Murks hatte alle Bande der Wohlerzogenheit von sich gestreift , er blaffte und heulte wie von Sinnen .
Da nahm der Besitzer des Mopses die Lederleine , an der er seinen Hund zu führen pflegte , und zog dem " sauberen Musje " selbst eins über .
Laut aufheulend kroch Murks , dem eine solche Behandlung in seinem vierjährigen Hundeleben noch nie zuteil geworden , zu der wie auf Kohlen sitzenden Olly zurück .
Inzwischen durchraste der Zug das Herz der in unzähligen , menschenbevölkerten Verkehrsadern pulsierenden Millionenstadt .
Olly atmete auf , als ihr Ziel erreicht war .
Nun war es nicht mehr weit bis zum Friedhof .
Die schönsten Rosen , die sie finden konnte , erstand sie in einer Gärtnerei .
Eins wenigstens von ihren Kindern kam heute zur Mutter , wenn auch nur das häßlichste .
Ein prächtiges Erbbegräbnis mit Granitsäulen wölbte sich über den stillen Grabhügel .
Hier hatte Olly stets Trost für ihre quälenden Gedanken und unverständigen Tränen gefunden .
Wenn der Wind ihr leise übers Haar strich , war es wie ein Gruß von weicher Mutterhand .
Aber heute kam sie nicht zu Sammlung und Andacht .
Murks , der abscheuliche Hund , ließ ihr keinen Moment Ruhe .
Bald setzte er über einen fremden Efeuhügel , bald zerwühlte er Blumen und Gräser .
Jetzt jagte er die friedlich schirpenden Spatzen aus ihren Büschen auf , und nun mischte er sich , lustig bellend , gar unter die Leidtragenden eines feierlich vorüberziehenden Trauerzuges .
Olly mochte ihn nicht zurückrufen , es war ihr peinlich , daß der Hund zu ihr gehörte .
Wenigstens fand sie jetzt noch einige Augenblicke zur stummen Zwiesprache mit ihrer so früh dahingegangenen Mutter .
Es wurde kühl .
Die Sonne war herunter , frühe Herbstnebel zogen .
Sie mußte an den Heimweg denken .
Aber vergeblich sah sie sich nach ihrem vierbeinigen Gefährten um .
Der Seidenpinscher hatte sich , seitdem sie sich nicht mehr um ihn gekümmert , nicht wieder blicken lassen .
Sie eilte zum Ausgang , sie lief wieder zurück , sie rief , sie lockte und erschrak vor ihrer lauten Stimme , die den Kirchhofsfrieden störte .
Kein Murks ließ sich blicken .
Den Totengräber , die Gärtner , verschiedene Besucher befragte Olly aufgeregt , niemand wußte , wo Murks hingekommen .
Schließlich erinnerte sich einer , einen kleinen weißen Hund in der Nähe des Bahnhofes gesehen zu haben .
Olly atmete auf , sicher war das Murks .
Dem mochte das Warten zu langweilig geworden sein , und er war auf eigene Faust vorausgelaufen .
Sie raste die Straße , die zum Bahnhof führte , hinunter , ein Mann mit einer langen Stange entzündete bereits die spärlichen Gaslaternen hier draußen .
Auf dem verkehrsreichen Bahnhof gab es mehrere Hunde , weiße , gelbe , braune und schwarze , Pudel , Möpse , Spitze und Dackel - aber keinen Murks .
Olly weinte vor Ärger und Aufregung .
Wenn sie ohne den verhätschelten Seidenpinscher nach Hause kam - eher konnte sie fortbleiben , als der von allen geliebte und vergötterte Schoßhund , sagte sie sich mit bitterer Ungerechtigkeit .
Sämtliche Beamte fragte sie nach Murks , keiner hatte ihn gesehen .
Wieder im Galopp zurück zum Friedhofstor .
Das war bereits geschlossen .
Kopfschüttelnd sahen die Leute auf das große , weinende Mädel , das an ihnen vorbeiraste .
Inzwischen war es dunkel geworden .
Sie mußte jetzt unbedingt nach Hause fahren , dem väterlichen Strafgericht entging sie sowieso nicht mehr .
" Haben Sie nicht einen Seidenpinscher gesehen ? " wandte sie sich noch einmal an einen halbwüchsigen Burschen der selbst einen Hund hatte .
" Wenn Se vielleicht 'nen Affenpinscher meinen , den sehe ich " , antwortete der Junge lachend .
" Wo denn - wo ? "
Am Ende war es Murks .
" Drehen Se sich man um , da - kieken Se rein ! "
Der unverschämte Bengel wies grinsend auf eine Spiegelscheibe , aus der Olly ihr eigenes Gesicht entgegenschaute .
Der ihr angetane Schimpf verjagte auf Minuten die Sorge um den entlaufenen Köter .
Selbst die Leute auf der Straße verspotteten sie schon wegen ihrer Häßlichkeit !
In ihrem Schmerz darüber hatte Olly nicht acht auf das Schild des einfahrenden Zuges .
Sie sprang schnell hinein , um dem höhnischen Lachen des Jungen zu entgehen .
Vielleicht hatte Murks allein heimgefunden , aber nein , von einem Ende der Riesenstadt zum anderen , dieser Trost war aussichtslos .
Ein Gedanke durchblitzte Olly .
Sie brauchte ja gar nicht zu sagen , daß Murks mit ihr fort gewesen .
Dann war er eben allein davongelaufen , er hatte schon einmal Freiheitsgelüste verspürt und war von einem Arbeiter , der ihn kannte , wieder eingeliefert worden .
Aber nein - gleich darauf schämte sie sich dieses Gedankens .
Sie war häßlich , aber schlecht war sie deshalb noch lange nicht !
Olly Hildebrandt brachte keine Unwahrheit über ihre Lippen .
Ganz anders sahen die Stationen jetzt im Lichte der elektrischen Flammen aus .
War sie denn noch nicht bald da ?
Sie fuhr doch schon ewig .
Nach der letzten schlechten Erfahrung traute sie sich nicht mehr einen Fremden zu befragen , aus Furcht , wieder verlacht zu werden .
Schließlich aber faßte sie sich doch ein Herz und bat mit leiser Stimme einen alten Herrn um Auskunft .
" Kind , da sind Sie ja im falschen Zug , Sie sind Südring statt Nordring eingestiegen .
Auf der nächsten Station müssen Sie heraus und die ganze Strecke wieder zurückfahren . "
Olly war geradezu entsetzt .
Sie dachte nicht mehr an Murks , sie dachte nur noch an die Sorge und Aufregung , die sie durch ihr heimliches Fortlaufen daheim verursachen würde .
Sicher saßen sie schon beim Abendbrot . . .
In der Rokokovilla , in dem geräumigen Speisezimmer , herrschte Schwüle .
Soviel auch Senta von ihrem neuen Kleide vorschwärmte , so liebenswürdig Fräulein Arnold auch die saftigsten Scheiben Roastbeef anbot , die gefurchte Stirn des Hausherrn glättete sich nicht .
Unglaublich war es !
Dieses Mädchen , diese Olly , wagte es , seinem strikten Befehl , die Mahlzeiten pünktlich innezuhalten , Trotz zu bieten !
Hatte sich sicherlich in einen Schmollwinkel zurückgezogen und wollte erst wieder gebeten sein .
Aber da konnte sie lange warten .
Mit tiefer Stimme meldete die große Standuhr die neunte Stunde .
Das Abendessen wurde abgetragen , Herbertchen sagte gute Nacht .
Das ging denn doch zu weit !
Geräuschvoll schob der Kommerzienrat seinen Stuhl zurück und trat mit schweren Schritten in das Treppenhaus .
" Olly - ! "
Papas Stimme durchschallte gebieterisch die ganze Villa .
Der verstockte Trotzkopf erschien nicht .
" Olly - ! " durch den Garten , bis zu den Fabrikräumen hin erklang sein Ruf - vergebens .
Es wurde dem Kommerzienrat in der Stille plötzlich Angst zumute , sie würde doch nicht etwa davongelaufen sein - zuzutrauen war dem Mädel alles .
Die Dienstboten wurden befragt , da kam es heraus , daß auch Murks sich nicht zu seiner Abendmahlzeit eingestellt hatte .
" Olly kann Murks nicht leiden , die hat ihn ganz sicher nicht mitgenommen , meinen geliebten Murks ; wenn ihn nur nicht der Schinder gefangen hat ! "
Senta brach in Tränen aus .
" Sei nicht so kindisch , Senta ! "
Papa fuhr in seiner Erregung jetzt selbst seinen Liebling an .
" Die Hauptsache ist , daß Olly erst wieder da ist ! "
Papa griff nach seinem Hut .
Rudi begleitete ihn .
Als sie die dunkle Straße ein Stückchen gegangen waren , kam plötzlich etwas Weißes an ihnen vorbeigejagt .
" Olly - ! " rief der Kommerzienrat mit fragender , angsterfüllter Stimme .
- Herrgott , sie war doch sein Kind !
Ein bekanntes Schluchzen antwortete ihm .
Und im Nun hatten sich seine väterlich zärtlichen Gefühle in die zürnenden der gestrengen Gerechtigkeit verwandelt .
" Wo kommst du jetzt her ? " herrschte er Olly an .
Lange dauerte es , bis Olly ein Wort herausbekam .
" Von Mama . "
Es klang so jammervoll und dabei doch so schlicht und rührend selbstverständlich , daß es Papa eigentümlich zumute wurde .
Er fand kein Wort des Vorwurfs mehr für sie .
Um so mehr Vorwürfe aber hatte Senta für die Schwester .
Sie war ganz außer sich , daß ihr geliebter Murks fort war .
Denn trotzdem in allen Zeitungen sein holdes Konterfei mit der Unterschrift :
" Weißer Seidenpinscher entlaufen , abzugeben gegen hohe Belohnung bei Kommerzienrat Hildebrandt " erschien - Murks war und blieb verschwunden .
2. Kapitel .
Backfischgesellschaft Bei Irmgard von Buschen war Backfischgesellschaft .
Zu Ehren ihres sechzehnten Geburtstages hatte sie ihre sämtlichen Freundinnen auf goldumränderten Karten eingeladen .
Keine Nachmittagsschokolade mit Baisertorte - o nein , ein regelrechtes Lämmerhüpfen mit richtigen Herren !
Trotzdem Irmgard noch in die Schule ging , tat sie schon ganz so wie eine junge Dame .
Sie war ein großes , schlankes Mädel mit kastanienbraunem Haar , braunen Rehaugen und pfirsichblütenem Teint .
Das sah alles sehr hübsch aus , weniger hübsch aber war es , daß keiner mehr von Irmgards Schönheit überzeugt war als sie selbst .
Der Zug unter dem feinen Näschen zu den Mundwinkeln hin verriet es deutlich :
" Ich bin bildhübsch , ich gefalle jedem , selbst die Leute auf der Straße sehen sich nach mir um . "
Gegen ihre Freundinnen war Irmgard ziemlich hochfahrend und herrschsüchtig .
Aber da sie schon fast ganz lange Kleider trug und die Haare bereits zum Nest am Hinterkopf gesteckt hatte , ordneten sich die anderen ihr willig unter .
Irmgard von Buschen war tonangebend in der Oberklasse .
Während der Unterrichtsstunden freilich nicht .
Herrgott , da hatte sie wirklich an anderes zu denken als an schlesische Dichterschulen und unregelmäßige Verben !
Es hatte große Aufregung in der Oberklasse geherrscht , wen Irmgard wohl alles einladen würde .
Manches Mädchenherz hatte heimlich bang geschlagen , denn wer mit Irmgard von Buschen verkehrte , gehörte zu den Vornehmen in der Klasse .
Manche Empörung und manches Sichzurückgesetztfühlen hatten die goldumränderten Kärtchen ausgelöst , aber auch freudigen Stolz , ungeduldige Erwartung und wichtige Kleiderfragen .
Selbst Olly , die häßliche Olly Hildebrandt , die fast alle in der Klasse über die Achsel ansahen , und über die man sich heimlich allgemein lustig machte , war gebeten .
Allerdings nur nach heftigem Kampfe mit Irmgards Mutter .
Das Töchterchen wollte durchaus nur Senta und Rudi , wenn der auch eigentlich noch ein grüner Junge war , zu ihrem Geburtstag einladen .
Aber das gab Frau Hauptmann von Buschen nicht zu .
So konnte man Kommerzienrats nicht vor den Kopf stoßen .
" Ach die " - machte Irmgard und warf die Lippen auf , " die setzen Olly ja selbst am meisten zurück . "
Aber sie drang diesmal nicht mit ihrem Willen durch .
So mußte auch Olly sich an dem bewußten Sonnabend in Gala werfen .
Irmgard hatte ihr mit der Einladung gar keinen Gefallen getan .
Nirgends fühlte sie sich unglücklicher , täppischer und von der Natur mehr vernachlässigt als unter lachenden , hübschen jungen Mädchen .
Und nun noch gar mit richtigen Herren ?
Das , was Sentas Backfischherz mit hellem Jubel erfüllte , war ihr eine Quelle Vorausempfundener Demütigungen .
Keiner würde mit ihr tanzen - sicher nicht - ach Gott , sie konnte es ja auch niemandem verdenken !
Unter diesen Gedanken machte Olly Toilette .
Inzwischen saß Senta vor dem Spiegel und ließ sich von Fräulein Arnold frisieren .
" Süß " war Fräulein Arnold , so hatte sich noch keine Hausdame ihrer angenommen .
Fräulein Arnold setzte ihren Stolz darein , ihr Pflegekind als eine der Schönsten herauszuputzen .
Dreimal hatte sie ihr das Blondhaar wieder gelöst , immer noch war es nicht ganz zur Zufriedenheit .
Senta wollte heute durchaus keine Hängezöpfe haben , was sollten die " richtigen Herren " wohl davon denken !
Die Defreggerfrisur , wie Olly sie zu tragen pflegte , machte ihr rundes , frisches Gesichtchen zu breit .
Aber jetzt , das lose Nest , das Fräulein Arnold ihr am Hinterkopf graziös aufgesteckt , stand ihr famos - genau wie Irmgard von Buschen war sie frisiert - das war das Schönste dabei !
Sie mußte Fräulein Arnold noch ganz schnell , trotzdem es schon recht spät war , einen Kuß dafür geben .
" So , Olly , nun komme du her " , die Hausdame wandte sich zur älteren Schwester .
" Ich bin schon fertig " , antwortete Olly abweisend und steckte sich die letzte Nadel in die dunklen Zöpfe .
" Was - ohne Spiegel - ist mir denn so was vorgekommen - und die Haare glatt aus der Stirn gestriegelt , da mußt du ja so - - - " beinahe hätte Fräulein Arnold gesagt " so häßlich aussehen " , aber sie hatte es noch schnell heruntergeschluckt .
Olly wußte , daß ihr keine Schmeichelei zugedacht gewesen war , das machte ihre dunklen Augenbrauen noch finsterer .
Senta schlüpfte in das neue hellblaue Kleid und drehte sich den Kopf fast vor dem Spiegel aus , um sich von allen Seiten zu begucken .
Diesmal war selbst Fräulein Arnold zufrieden .
Allerliebst sah das Mädchen aus , und als sie ihm noch den Vergißmeinnichtkranz in das Blondhaar gesteckt , warf sogar Olly einen heimlich bewundernden Blick zu der Schwester hin .
Sie selbst hatte ihr schon etwas ausgewachsenes weißes Kleid angelegt .
Dasselbe ließ ihre langen Gliedmaßen noch scharfkantiger erscheinen , außerdem sah sie heute besonders blaß aus , die Unlust schaute ihr aus den Augen , während Senta vor Aufregung glühte .
" Flink noch den Apfelblütenkranz , Olly " , drängte Fräulein Arnold , da diese bereits in den Abendmantel schlüpfen wollte .
" Ich will keine Blumen " , wehrte sich das junge Mädchen , denn es fühlte , daß jeder Aufputz seine Häßlichkeit nur noch mehr hervortreten lassen würde .
Aber diesmal gab Fräulein Arnold nicht nach .
Das sollten sie bei Hauptmanns nicht sagen , daß sie die eine der anderen vorzog .
Hatte Senta einen Kranz im Haar , mußte Olly auch einen tragen .
Es kam zu einem regelrechten Krach zwischen der Hausdame und dem Backfischchen .
Olly weinte , was ihr Aussehen nicht verschönte .
Längst war das Automobil vorgefahren .
Rudi trommelte ungeduldig gegen die Tür des Mädchenstübchens .
Da ließ sich Olly schließlich mit den ungezogenen Worten :
" Der Klügere gibt nach " , widerwillig den rosigen Blütenkranz um die festgeflochtenen schwarzen Zöpfe legen .
Einen Augenblick schwankte Fräulein Arnold .
Sollte sie ihr den Kranz nicht doch lieber wieder abnehmen ?
Ihr Schönheitsgefühl riet es entschieden , aber nein - der Trotzkopf durfte nicht recht behalten !
Das auto brachte die drei in kurzer Zeit nach Charlottenburg , wo Hauptmann von Buschen wohnte .
Die meisten waren schon versammelt , man sah es an den dichtbehangenen Garderobenhaken .
Ein Riesenpfeilerspiegel warf die Gestalten der Hildebrandtschen Schwestern zurück .
Auch Olly sah sich plötzlich ihrem Spiegelbild gegenüber .
Und was sie da neben der zierlichen , blauen Senta erblickte , war so niederschmetternd , daß sie am liebsten dem beim Ablegen helfenden Burschen ihren Mantel wieder aus den Händen gerissen hätte und davongelaufen wäre .
Aber es war schon zu spät .
Die Türen wurden bereits geöffnet , strahlende Helle flutete von der Kristallkrone ihnen entgegen .
Eine tiefe Falte in der Stirn , so schritt Olly hinter Senta auf die sie freundlich bewillkommende Irmgard zu .
" Sentachen , so spät , aber entzückend siehst du aus -
Tag , Olly , der Kranz steht dir famos ! "
Irmgard mußte sich schnell einer anderen zuwenden , sonst hätte sie der ihr einen finsteren Blick zuwerfenden Olly geradezu ins Gesicht gelacht .
Wie konnte die sich bloß noch obendrein so entstellen !
Senta begrüßte in ihrer ungezwungenen Liebenswürdigkeit und in dem die Stimmung hebenden Bewußtsein , eine der Hübschesten zu sein , ihre Schulkameradinnen .
Sie war allgemein beliebt und hatte viele Freundinnen .
Auch Olly reichte einem jeden der ihr bekannten Mädel mit mißtrauischem Gesicht die Hand .
Kicherten die da nicht hinter ihr her ?
Der lange Backfisch fühlte die Blicke der Herren , unter denen die Leutnantsuniform vorherrschte , wie scharfe Messerstiche .
Die Vorstellung begann .
Senta kannte einen Teil der jungen Herren von der Eisbahn und vom Tennis her , Olly hatte sich stets von allem Sport zurückgehalten .
Mit gerunzelten Augenbrauen nickte sie , an Stelle des lieblichen Lächelns von Senta , wie ein Droschkengaul bei den Verbeugungen der Herren kurz und böse mit dem Kopf .
" Ääh - merkwürdiger Balg - wer ist denn diese exotische Schönheit ? " lachte ein blutjunger Leutnant zu dem gerade neben ihm stehenden Jüngling .
" Das - das " - der Jüngling errötete wie ein Mädchen - " das ist meine Schwester ! "
Deibel auch , brachte einen diese abscheuliche Olly selbst hier in Verlegenheit !
Rudi warf ihr gerade keinen sehr freundlichen Blick zu .
Der Leutnant machte ein nichts weniger als schlaues Gesicht .
" Oh - ääh - nettes Ding - eh " , er wandte sich unbehaglich ab .
Überall hatten sich Gruppen gebildet .
Alles lachte und scherzte .
Nur eine hohe Säule , ein langer , dünner Backfisch ragte stets allein aus diesem fröhlichen Beieinander heraus .
Olly hatte keine Freundin .
Sie mochte sich nicht den untereinander flüsternden oder mit den Herren scherzenden Mädchen aufdrängen .
Wenn doch Senta sich ein bißchen mehr um sie gekümmert hätte !
Die war stets , wo das hellste Lachen erschallte .
Aber sie , Olly , war doch schließlich die ältere !
Eine Schande , daß sie von der kleineren Schwester unter die Flügel genommen werden wollte .
Was sollte sie denn bloß hier ?
Immer finsterer wurde Ollys Blick .
" Wie findet ihr bloß die Ungerechtigkeit von der Langer ? "
- " Katchen , wieviel Fehler hast du denn im Extemporal ? "
- " Literatur bei Müller war doch wieder himmlisch " - so schwirrten die Mädchenstimmen durcheinander .
" Ach , laßt doch wenigstens heute die dummen Schulgeschichten ! "
Irmgard genierte sich vor ihren richtigen Herren .
" Irmchen , " Mama winkte dem als Mittelpunkt glänzenden Geburtstagskind , " du mußt dich mehr um Olly Hildebrandt kümmern , sie steht immer abseits . "
" Ich wollte sie nicht einladen , nun mag sie sich meinetwegen mopsen ! " flüsterte die junge Wirtin recht wenig gastfreundlich .
Der gute Papa sprang ein .
Er gesellte sich zu dem verlassen dastehenden jungen Ding und richtete freundliche Fragen an sie .
Aber Olly war scheu und unzugänglich .
Sie hatte solchen Respekt vor dem Herrn Hauptmann , daß sie kaum zu antworten wagte .
Das rote Gesicht des Herrn Hauptmanns schwitzte wie bei der anstrengendsten Rekrutenübung .
Hole es dieser und jener - ein Jüngerer würde schon eher den richtigen Ton mit der schwierigen jungen Dame finden !
" St - von Treuenfels , sind Sie schon Fräulein Olly Hildebrandt vorgestellt ?
Gute Unterhaltung , meine Herrschaften ! "
Ein auffordernder Blick des Vorgesetzten belehrte den jungen Leutnant darüber , was man von ihm erwartete .
Es war derselbe , der sich Rudi gegenüber so schmeichelhaft über Olly geäußert hatte .
Jetzt drehte er wütend an seinen winzigen Schnurrbartspitzchen .
Wetter auch - so viele allerliebste Mädchen gab es hier , und er mußte gerade zu diesem greulich schwarzen Riesenbackfisch abkommandiert werden !
" eh - gnä Fräulein , gehen wohl gern in Gesellschaft ? " eröffnete er als gehorsamer Soldat das Gespräch .
Das gnädige Fräulein stieß ein ungnädiges " Nee ! " heraus .
Verblüfft sah der kleine Leutnant drein .
" Pyramidales Mädel , Fräulein Irmgard von Buschen , finden gnä Fräulein nicht ? "
" Ich weiß nicht , was pyramidal ist " , brummte Olly nach einigen Sekunden angestrengten Nachdenkens .
" Hü-ü-it- " der Leutnant stieß einen merkwürdig pfeifenden Ton durch die Zähne - also nicht nur bildhäßlich , sondern auch grützdämlich !
" eh - eh - pyramidal - eh - das ist eben pyramidal , dafür hat die deutsche Sprache kein anderes Wort " , ließ er sich dann zu einer Erklärung herbei .
Wieder eine Pause .
" Spielen gnä Fräulein viel Tennis ? "
" Nee " , Olly war der Mensch mit seiner ewigen Fragerei lästig .
" Aber tanzen tun Sie doch gern ? "
Erwin von Treuenfels trällerte einen bekannten Walzer .
" Ich weiß nicht " , es war ja die erste Backfischgesellschaft , die sie mitmachte .
Auch dem kleinen Leutnant schien es heiß und schwül zu werden .
Er , der solch ein gewandter Gesellschafter war , sollte mit seiner Unterhaltungskunst hier von diesem unausstehlichen Backfisch kampfunfähig gemacht werden ?
Ob er einfach fahnenflüchtig wurde und zu einer kleinen Schönen desertierte , die ihn besser zu würdigen verstand ?
Aber da drüben stand Hauptmann von Buschen , der gestrenge Vorgesetzte , der paßte ihm scharf auf die Hacken .
Na , zu seinem Vergnügen war er ja schließlich auch nicht hier , also neuer Sturm auf die Festung .
" Welches ist denn Ihre beste Freundin ? "
Darauf würde sie doch wohl anbeißen .
" Herrgott , seien Sie doch nicht so neugierig ! " entfuhr es Olly , die nicht gewöhnt war , sich zu beherrschen , unliebenswürdig .
Was ging denn das den an , daß sie keine einzige Freundin besaß , sie drehte dem zudringlichen Menschen den Rücken .
Ganz perplex sah Leutnant von Treuenfels ihr nach .
Abgeblitzt - er - und noch dazu von einem Schulmädel , von einem so reizlosen , dummen Ding , zu dem er sich herabgelassen hatte - das war ihm denn doch noch nicht passiert .
Aber wenigstens war er jetzt aller Pflichten ledig und konnte seine geknickten Lebensgeister bei dem allerliebsten Vergißmeinnicht drüben wieder auffrischen .
Lachend erzählte er ihr von der geistreichen Unterhaltung mit jener dürren Zitrone - na , die da , die da drüben mit den angeklebten schwarzen Haaren , kannte das gnädige Fräulein die nicht ?
Sentas rote Wangen färbten sich noch um einige Töne tiefer , dann wurde sie blaß .
Ob sie die heikle Frage nicht am besten überhörte ?
Es war solch ein lustiger Mensch , der Leutnant von Treuenfels , er behandelte sie schon ganz wie eine Dame , aber wenn er wußte , wer die " dürre Zitrone " war ?
Ach was , sie verleugnete Olly einfach .
Das wäre auch ganz gut gegangen , wenn man nicht manchmal sogenannte Freundinnen besäße , die einem nur zu gern eins auswischen .
Lotte Ecket , die gerade verkündete :
" Kinder , mein Aufsatz wird diesmal famos ! " unterbrach plötzlich ihre Schulunterhaltung mit den Mädeln .
Glücklich , daß sie Senta , die mehr Triumphe feierte als sie selbst , demütigen konnte , mischte sie sich mit scheinheiligem Gesicht ins Gespräch .
" Du , Senta , ich glaube , der Herr Leutnant meint deine Schwester Olly " , sagte sie mit erhobener Stimme .
" Wie - was ? " der kleine Leutnant stand entgeistert da .
War er heute etwa schon das zweitenmal hereingeplumpst ?
Senta bis sich wütend auf die Lippen .
Na warte , Ekartchen , das vergessen wir dir nicht , das streichen wir dir ein anderes Mal wieder an !
Das Blondchen nahm all seine Geistesgegenwart zusammen .
" Ach , ich glaubte , Sie meinten das junge Mädchen daneben - die Große , die ist allerdings meine Schwester . "
Sie lachte , wenn es auch etwas gekünstelt klang .
" eh - selbstverständlich sprach ich von der anderen jungen Dame . "
Der arme kleine Leutnant ergriff mit beiden Händen den rettenden Strohhalm , den Senta dem unter der kalten Wasserdusche Ertrinkenden mitleidig reichte .
Aber er konnte sich doch nicht enthalten , sich noch einmal zu vergewissern : " Irren sich gnä Fräulein auch bestimmt nicht - eh - keine Spur von Ähnlichkeit , kaum denkbar ! "
Er verglich das rosige Gesichtchen vor ihm mit dem gelblichen der anderen - und wieder schüttelte er hilflos den Kopf .
Es sah so komisch aus , daß Senta hell auflachen mußte .
Mein Gott , sie war doch auch schließlich nicht für ihre Schwester verantwortlich , was konnte sie denn dafür , wenn Olly so mordsmäßig häßlich war !
Olly stand wieder allein irgendwo herum und zählte mechanisch die Sterne in dem Teppichmuster .
Da trat jemand hinter sie .
" Ein Fichtenbaum steht einsam " - erklang es lächelnd .
Sie wandte jäh den Kopf .
Ihr blasses Gesicht wurde rot .
" Wolfgang Steinhardt " - sie hatte ja keine Ahnung davon , daß er bei Buschens verkehrte .
Er lachte über ihr backfischmäßiges Erröten .
" Selbst hier abseits von dem lustigen Kreis , Olly , das ist nicht recht !
Warum hältst du dich so zurück ? "
" Weil ich häßlich und unliebenswürdig bin , weil ich anders bin wie die lachenden Mädel da ringsum " , ihre Lippen sprachen es nicht aus , nur ihre trübseligen Augen verrieten es .
Er blickte sie gutmütig an .
" Kopf hoch , Olly , sei doch fröhlich unter den Fröhlichen , und wenn du noch ein übriges tun willst , gehe in die Garderobe und nimm dir das Kuhfutter aus dem Haar , es steht dir nicht " , sagte er ehrlich .
Jedem anderen hätte Olly sicherlich eine schroff abweisende Antwort gegeben .
Aber Wolfgang Steinhardt gegenüber wollten ihr unfreundliche Worte nicht über die Lippen .
War er doch der einzige , der sich ab und zu ihrer ein wenig annahm .
Sie kam sich jetzt nicht mehr ganz so verlassen unter der lachenden Jugend vor .
Aber gerade , als er ihr einen Sessel gebracht und sich einen Stuhl dazu schob , um ein wenig mit ihr zu plaudern und das arme Ding ein bißchen aufzuheitern , wurden seine beiden Hände lebhaft von hinten ergriffen .
Und eine lustige Mädchenstimme rief : " Wölfchen Steinhardt , hast du bis jetzt Maschinen schmieren müssen , da du als letzter auf der Bildfläche erscheinst ? "
Lachend wandte sich Wolfgang um .
" Potztausend , Sentchen ! "
Mehr sagte er nicht .
Ungeniert packte ihn Senta beim Arm .
" Komme , Wolfgang , ich muß dich meinen Freundinnen vorstellen , sie sind schon furchtbar neugierig auf dich ! "
Sie zog ihn mit sich fort .
Und er , er dachte auch mit keinem Gedanken mehr daran , daß da hinter ihm ein blasses Mädel mit Augen , in denen ungeweinte Tränen brannten , zurückblieb .
Der junge Herr Diplomingenieur Wolfgang Steinhardt war seit einem Jahre in der Hildebrandtschen Maschinenfabrik tätig .
Durch seine Tüchtigkeit und Intelligenz hatte er sich bald unentbehrlich gemacht .
Da er außerdem der Sohn von einem Jugendfreunde des Kommerzienrats war und von früh auf mit den Hildebrandtschen Kindern befreundet , kam er als häufiger Gast in die Rokokovilla .
" Herr Diplomingenieur Steinhardt , unser Freund - meine Freundinnen " - und nun folgte die Herzählung sämtlicher Loten , Ediths , Gretchen und Katchen , daß es dem Herrn Ingenieur davon wie ein Maschinenrad im Kopf brummte .
Die Senta hatte doch wirklich ein unverschämtes Glück .
Nicht nur , daß sie als Kommerzienratstöchterlein auf die Welt gekommen , jetzt konnte sie sich sogar mit einem Freund , der schon fünfundzwanzig Jahre alt war , vor den Schulkameradinnen brüsten .
Und hübsch und stattlich war er überdies noch , das " Wölfchen " .
Er gefiel allen mit seiner schlanken , großen Figur , den hellbraunen Haaren , dem kühn geschnittenen Profil und den guten , blauen Augen .
Nur Lotte Ecket flüsterte ihrer Intima Edith zu : " Pff - das ist der berühmte Herr Ingenieur , der hat ja einen Buckel auf der Nase , und seinen Schnurrbart trägt er nicht Mal amerikanisch - pff - - - - "
Sie hatte es nicht allzu leise geflüstert , damit Senta es auch hören sollte .
Aber als sich der Herr Ingenieur jetzt mit lachendem Gesicht dem jungen Dämchen zuwandte :
" Lieben das gnädige Fräulein mehr Vollbart oder englischen Backenbart ? " da saß sie blutübergossen wie ein kleines ertapptes Schulmädel da .
Inzwischen hatte sich Olly still und unauffällig aus dem Zimmer geschlichen .
Es war jetzt leer in der Garderobe .
Wäre es nicht das Gescheiteste , sie nahm ihren Mantel und fuhr mit einer Elektrischen nach Hause ?
Wem tat sie einen Gefallen , wenn sie blieb ?
Weder sich selbst noch den anderen .
Aber nein - was würden Irmgards Eltern davon denken !
Olly löste den Apfelblütenkranz aus ihrem Haar und schleuderte ihn in eine Ecke .
So - nun sah sie doch wenigstens nicht häßlicher aus als sonst .
Dann mischte sie sich wieder unter die Gesellschaft .
Die Wirtin bat gerade zur Tafel .
Man hatte es sich leicht gemacht und keine Tischordnung vorgeschrieben .
" Freie Wahl " hieß es .
Im Nun waren die hübschesten und lustigsten Backfische geangelt .
Noch ehe der kleine Leutnant von Treuenfels seine Verbeugung vor Senta machen konnte , hatte Wolfgang schon ganz selbstverständlich ihren Arm durch den seinen gezogen .
Senta war eigentlich nicht sehr erbaut davon , Wolfgangs Gesellschaft konnte sie doch öfters genießen , und im Grunde genommen , behandelte er sie doch noch meistens wie ein richtiges Jör .
Aber schließlich das stolze Gefühl , mit dem man antworten konnte :
" Ich bedaure , ich bin schon versagt " , das war doch auch was wert .
Ein Paar nach dem anderen spazierte an Olly vorüber , die den Mund zu einem krampfhaften Lächeln verzog .
Daß es nur keiner merkte , wie zurückgesetzt sie sich wieder vorkam , wie das da drinnen im Herzen weh tat .
Ja , hatte sie denn wirklich im Ernst gedacht , daß Wolfgang - Wolfgang Steinhardt sie zu Tisch auffordern würde ?
Ganz recht war ihr diese Enttäuschung , weshalb hegte sie auch solche anmaßenden Gedanken !
Und Olly lächelte weiter , krampfhaft und weinerlich .
Ein Paar nach dem anderen - es leerte sich im Zimmer .
Wolfgang und Senta schritten an ihr vorüber , ersterer nickte ihr zu , aber kein Gegengruß wurde ihm .
Einen Augenblick schwankte der junge Ingenieur .
Sollte er das arme Mädel nicht mit zu seiner Linken nehmen ?
Aber noch waren ja Herren da , er störte dadurch vielleicht nur die Paare .
Ein einziger Herr noch , der kam sicher zu ihr - es war zwar der etwas einfältige Vetter Irmgards , aber was tat das , nur nicht sitzenbleiben !
Nur nicht aller Augen mitleidig-spöttisch auf sich gerichtet sehen !
Jetzt war er schon ganz dicht vor ihr , Olly versuchte ein möglichst freundliches Gesicht zu machen , aber nein - er verbeugte sich vor dem kurzen , rundlichen Annchen , das wie ein Pfannkuchen aussah , aber stets von einem Ohr zum anderen lachte .
Sie war allein .
Übriggeblieben !
Wie durch einen Tränenschleier sah sie die lachenden und schwatzenden jungen Menschen drinnen an blumengeschmückter Tafel .
Da trat Heini , Irmgards kleiner Bruder , der eigentlich noch gar nicht hatte aufbleiben sollen , auf sie zu .
Der hoffnungsvolle Tertianer verbeugte sich ritterlich .
" Darf ich bitten ? "
Olly tat , als ob sie den gebotenen Arm ihres niedlichen kleinen Kavaliers nicht sähe .
Mit niedergeschlagenen Augen schritt sie neben ihm in das Speisezimmer .
Wie sie lachten , wie sie tuschelten - sicherlich über das merkwürdige Paar !
Der Knirps in kurzen Hosen reichte seiner langen Dame ja kaum bis zur Schulter .
Mit drohendem Blick hob Olly die Augen und ließ sie über die Tafelrunde schweifen .
Aber da schien gar keiner auf sie acht zu geben .
Jeder lachte und amüsierte sich mit seiner Tischdame .
Heini war ein liebes , aufgewecktes Jungchen .
Wäre Olly nicht so mit Bitterkeit angefüllt gewesen , hätte sie sich sehr gut mit ihm unterhalten und amüsieren können .
So aber gab sie dem armen kleinen Kerl , der eifrig bemüht war , ein Gespräch mit seiner großen Dame , auf die er sehr stolz war , in Gang zu bringen , so schroffe und kurze Antworten , daß Heini ganz erschrocken verstummte .
Er zog es vor , sich mit den Leckerbissen auf seinem Teller zu beschäftigen , anstatt mit seiner unliebenswürdigen Tischdame .
Olly saß wieder mitten in den fröhlichen Wogen jugendlichen Übermuts , wie auf einem einsamen Eiland , unbeachtet , ausgestoßen .
Der Herr zu ihrer Rechten war Leutnant von Treuenfels , der hatte noch genug von der Unterhaltung mit ihr .
Gerade gegenüber aber hatte ein tückischer Zufall Wolfgang und Senta die Plätze angewiesen .
Jedes Wort , das die beiden miteinander sprachen , es waren fast nur ausgelassene Neckereien , mußte Ollys Ohr auffangen .
Das helle Lachen des blonden Vergißmeinnichts wurde zum Tränenknäuel , das dem dunkelhaarigen Mädchen die Kehle fast zusammenschnürte .
Es rührte die Speisen kaum an , unausgesetzt starrte es auf den Fuß seines Bowlenglases .
" Prosit , Olly ! "
Wolfgang hob das Glas gegen sie .
Sie sah nicht auf , sie tat , als ob sie taub wäre .
Nanu - was hatte er ihr denn getan , daß sie mit ihm maulte ?
In seiner ausgelassenen Stimmung raffte er einige Blüten zusammen , mit denen die Tafel geschmückt war , und zielte nach ihrer Nase .
" Schläfst du , Olly - prosit ! "
Senta amüsierte sich köstlich , Olly aber rief mit funkelnden Augen :
" Das verbitte ich mir ! "
" Herrjeh , friß mich nur nicht gleich - " , ganz erstaunt sah er ihre empörte Heftigkeit .
Was hatte das Mädel denn nur heute ?
Sie kamen doch sonst ganz gut miteinander aus !
Junges Volk will nicht lange tafeln , sondern tanzen .
Kaum , daß die Eisspeisen und der Toast auf das Geburtstagskind , den ein junger Student in Versen hielt , genügend gewürdigt wurden .
Die Mädchenfüße in den ausgeschnittenen Schuhchen zuckten bereits im Walzertakt .
Eins , zwei , drei , waren die Tische an die Seite geräumt .
Irmgards schon etwas ältere Kusine , die eigentlich gar nicht mehr zu der " Babygesellschaft " hatte kommen wollen , saß am Klavier und spielte die Walzer aus den neuesten Operetten .
Junge , tanzfreudige Gesichter erglühten im wiegenden Reigen .
Jeder tanzte , wie es die Sitte vorschrieb , zuerst mit seiner Dame .
Heini wußte , was sich gehörte .
Er schwenkte seine lange Bohnenstange , die sich nur widerwillig drehte , mit Anspannung all seiner kräftigen Jungenmuskeln im Zimmer herum , krebsrot sah der kleine Kerl von der Anstrengung aus .
Jetzt lachte man wirklich über das ungleiche Paar .
Weder versteckt noch spöttisch , sondern ganz harmlos und öffentlich .
Aber Olly hatte nicht die Gabe , in das lustige Gelächter , das weniger ihr als dem Kleinen galt , mit einzustimmen .
Sie war bitterböse und riß sich von ihrem Dreikäsehoch unwirsch los .
Walzer , Polka , Rheinländer - je lustiger die Weisen erklangen , um so finsterer wurden Ollys Züge .
Sie saß an ihrem Stuhl wie angeleimt , keiner holte sie zum Tanz .
" Na , Ollychen , wir wollen uns wieder vertragen " , Wolfgang Steinhardt streckte die Hand aus , um sie zum Walzer fortzuziehen .
Olly blieb steif wie eine Holzpuppe sitzen .
" Ich danke " , sagte sie mit zuckenden Lippen .
Und wenn sie den ganzen Abend keinen Schritt tanzte , nein , aus Gnade nahm sie nichts !
" Wie - was - was soll denn das heißen , laß doch die Kindereien , Olly . "
Er schien wirklich ärgerlich .
" Das soll heißen - daß - daß - daß ich mit Ihnen nicht tanzen will ! "
Ihre Stimme klang heiser vor Erregung .
Sie sagte plötzlich zu ihm , den sie doch seit ihren ersten Lebensjahren kannte und duzte , " Sie " .
Da lachte der Herr Diplomingenieur wieder .
" Kindskopf ! " sagte er und drehte sich um .
Den ganzen Abend sah er sie nicht mehr an .
Das hatte sie nun davon .
Hauptmann von Buschen sorgte dafür , daß sie nicht völlig an ihrem Stuhl festwuchs .
Er schickte all seine Leutnants nacheinander " an das schwere Geschütz " , wie die boshaften Jünger des Mars sein Kommando nannten .
In der Tat , Olly tanzte nichts weniger als graziös .
Sie hatte im vorigen Winter mit Senta Tanzstunde gehabt , aber während sich letztere leichtfüßig wie ein Elflein drehte , wußte die Schwester mit ihren langen Beinen und großen Füßen nicht recht was anzufangen .
" Olly watschelt wie eine Ente , sieh nur , Wölfchen " , machte die spottlustige Senta ihren Herrn auf die Vorübertanzende heimlich aufmerksam .
" Das häßliche junge Entlein ! " entfuhr es Wolfgang Steinhardt .
" Hahaha - das muß ich ihr heute noch erzählen , das häßliche junge Entlein - haha - au weh , die wird mir die Augen auskratzen " , lachte Senta ausgelassen .
Wolfgang packte Senta beim Handgelenk .
" Das wirst du nicht tun " , sagte er sehr ernst , wie er sonst nie mit ihr zu reden pflegte .
" Versprich mir , daß du schweigen wirst !
Das wäre brutal gegen das arme Ding , es war nicht hübsch von uns , aber - es trifft den Nagel auf den Kopf ! "
Es wurde Senta schwer , Wolfgangs Worte zu befolgen .
Sie ärgerte Olly zu gern .
Aber ihren Freundinnen mußte sie den ulkigen Beinamen , den Wölfchen für die Schwester gefunden , unter dem Siegel der Verschwiegenheit natürlich noch an demselben Abend anvertrauen .
Lachend und unbedacht fliegt uns oft ein Spottname von den Lippen .
Aber das kleine , leichte Wort wächst , es wächst von Tag zu Tag , und der andere hat oft sein Leben lang an der schweren Last dieses Namens zu schleppen .
Bald hieß Olly in der ganzen Klasse nur noch " das häßliche junge Entlein " .
3. Kapitel .
Der deutsche Aufsatz Olly ahnte nichts von diesem Spitznamen .
Sie hatte sich daran gewöhnt , daß die Schulkameradinnen ihre Glossen über sie machten .
Verstockt und verschlossen war sie auch in der Schule .
Sogar in den Stunden , den Lehrern gegenüber .
Es lohnte ihr nicht , wenn sie selbst eine Antwort wußte , sich dazu zu melden .
Stumpf und teilnahmlos saß sie auf ihrem Platz .
Und da ihre Gedanken meistens abliegende , trübselige Wege wanderten , hörte sie oft gar nicht die Worte des Lehrers .
Dann wurde sie natürlich wegen Unaufmerksamkeit und mangelnden Fleißes getadelt .
Das aber empfand die gekränkte Olly wieder als eine Ungerechtigkeit - selbst hier in der Schule setzte man sie zurück !
Trotzdem Senta fast ein ganzes Jahr jünger war als Olly , saß sie über der Schwester .
Zuerst war das recht demütigend gewesen , aber auch daran hatte sie sich schließlich gewöhnt .
Sie wurde nicht mehr rot , wenn die Lehrer sagten :
" Olly Hildebrandt , nehmen Sie sich an der Schwester ein Beispiel ! "
Ob Senta " sehr gut " unter einer Arbeit hatte und sie " noch nicht genügend " , das war ihr alles ganz gleichgültig .
Aber heute hatte sie zum erstenmal wieder eine sogenannte Ungerechtigkeit in Empörung gebracht .
Die deutschen Aufsätze waren zurückgegeben worden .
Senta war kein besonders begabtes , nur ein fleißiges und ziemlich ehrgeiziges Mädel .
Der häusliche Aufsatz war immer eine wahre Tortur für sie .
Da saß sie in ihrem netten Zimmer , den hübschen Blondkopf in die Hand gestützt , mit gefurchter Stirn vor dem unbeschriebenen Bogen , sah den rußgeschwärzten Spatzen nach , die vorüberflatterten , und zerbiß ihren Federhalter .
Da bei dieser Tätigkeit aber wenig Gedanken zutage gefördert wurden , so bat sie mit ihrer liebenswürdig schmeichelnden Art einen jeden , der ihr in den Weg lief , ihr zu helfen .
Wenn Papa mittags aus der Fabrik herüberkam , mußte er ganz schnell nur Mal den Anfang sagen , weil der doch immer das schwerste ist .
Fräulein Arnold beim Einkochen der Gläser mit Obstmarmeladen , Rudi bei seinen Horazschen Oden , sie alle mußten unbedingt ihrer armen , verzweifelten Senta das schwere Dasein erleichtern und ihr ein paar Brocken zu ihrem Aufsatz stiften .
Selbst Wolfgang lauerte das kleine , blondhaarige Hexlein auf , der wußte immer solchen feinen Schluß .
Aus diesen milden Brosamen und wenigen eigenen hinzugefügten Ingredienzien fabrizierte Senta dann geschickt ein ganz schmackhaftes Aufsatzragout .
Auch der heutige Aufsatz war unter gütiger Mitwirkung zustande gekommen .
Strahlend blickte Senta auf ihr in roten Lettern darunter prangendes " Gut " .
Olly hatte ihr Heft noch nicht zurückerhalten .
Sie war niemals neugierig auf das Resultat einer Arbeit .
Trotzdem sie entschieden geistig mehr veranlagt war als Senta , gab sie sich keine Mühe , nachzudenken .
Meistens schmierte sie den Aufsatz am letzten Abend nur so herunter , gar nicht erst in Unreine , sondern gleich ins Heft .
Die Arbeit sah dann schon äußerlich so unsauber und flüchtig aus , daß sie selten , trotzdem vielleicht hin und wieder ein netter Gedanke zutage trat , als genügend bezeichnet werden konnte .
Heute aber war Olly begierig auf die Kritik ihres Aufsatzes .
Zum erstenmal hatte sie sich damit Mühe gegeben .
Das Thema hatte sie merkwürdig angezogen .
Es lautete : " Was du nicht willst , das man dir tu , das füg auch keinem anderen zu . "
Es war ihr , als ob dieses Wort ihr geradezu aus der Seele gesprochen wäre .
All das Weh , das ihr Spott und Demütigungen je bereitet , stieg in ihr auf .
Gedanken kamen und scharten sich um sie , sie brauchte nur aus der Fülle die besten herauszugreifen und aneinanderzufügen .
Der Aufsatz war ihr keine Arbeit , sondern ein endliches Aussprechen zurückgedrängter Empfindungen .
Denn Olly war über ihre Jahre ernst geworden .
Und nun hielt Doktor Müller ihr durch den roten , marmorierten Deckel schon äußerlich kenntliches Heft in der Hand .
" Olly Hildebrandt - ungenügend ! "
Das junge Mädchen starrte den Lehrer geradezu fassungslos an .
Das hatte sie nicht erwartet !
" Sie wundern sich darüber , wie mir scheint , ebenso wie ich mich über Ihren Aufsatz gewundert habe .
Und wie sich vielleicht auch Ihre Angehörigen , die Ihnen bei der Arbeit geholfen haben , über das Resultat wundern werden .
Der Aufsatz an und für sich hätte zweifellos " sehr gut " verdient , es ist eine reife Arbeit .
Aber da ich nicht die Gedanken Ihres Vaters , oder wer den Aufsatz sonst für Sie gemacht hat , über das gegebene Thema wissen will , sondern Ihr eigenes Können , ist die Arbeit für mich ungenügend ! "
Olly warf den Kopf mit den schweren , dunklen Zöpfen empört zurück .
Ein verächtliches Lächeln kräuselte ihre Lippen .
Senta , die sich den Aufsatz hatte machen lassen , bekam " gut " , und sie , der kein Mensch daran dachte zu helfen , " ungenügend " , weil man es ihr nicht zutraute .
Sie hätte dem Lehrer am liebsten ins Gesicht gelacht .
" Ja , Mädchen , sind Sie denn ganz und gar nicht gescheit !
Noch obendrein solch ein impertinentes Gesicht zu machen !
Setzen Sie sich auf den letzten Platz ! " fuhr Doktor Müller Olly aufgebracht an .
Olly war das Lachen vergangen .
Auch die anderen machten entsetzte Mienen .
Eine derartige Strafe pflegte in der Ja nicht mehr vorzukommen .
Schweigend nahm sie den schmachvollen Platz ein .
Nein - sie brachte es nicht über sich , sie vermochte es nicht , dem Lehrer frei und offen zu sagen , daß sie selbst sich das " sehr gut " erarbeitet hatte .
Pah - wozu ?
Man würde ihr ja doch nicht glauben .
So ging es ihr ja nicht nur in der Schule , auch daheim , überhaupt ihr ganzes Leben hindurch .
Das waren häßliche Gedanken , die da hinter der Stirn des sechzehnjährigen Mädchens kreuzten , während Olly mit tränenlosem Blick auf ihr rotes Heft starrte .
Senta schwankte .
Zum erstenmal tat Olly ihr leid .
Sie wußte ja ganz genau , daß ihr keiner zu Hause geholfen hatte .
Aber warum sagte das dämliche Ding das denn nicht selbst ?
Sie war doch nicht der Vormund von Olly , daß sie es dem Lehrer mitteilen mußte . . .
Nee - lieber nicht , nachher kam es noch heraus , daß sie selbst den Aufsatz nicht allein gemacht hatte !
Und dann , es war auch immerhin ein beschämendes Gefühl , wenn das häßliche junge Entlein " sehr gut " hatte , und sie selbst bloß " gut " .
Der nächste Tag war ein Sonntag .
Das war ein merkwürdiger Tag für Kommerzienrats .
Da ruhte das Rasseln , Hämmern und Lärmen , das sonst aus der Welt der Arbeit in das beschauliche Leben der Rokokovilla herüberdrang .
Da war es so still , so feiertäglich :
selbst die hohen Schornstein hielten den Atem an .
Papa saß des Morgens gemütlich mit der Zeitung am Kaffeetisch , ohne wie sonst in sein Büro zu hetzen .
Die Kinder , die an Schultagen jeder einzeln , wie sie gerade kamen , in Eile die Tasse Kakao heruntergossen , genossen heute ausgiebig das Behagen der gemeinsamen Frühstücksstunde .
Nur Olly begrüßte den Sonntag nicht freudig .
An keinem anderen Tage kam sie sich so verlassen vor .
Da war sonst die Schule , die sie beschäftigte , und dann vor allem die Fabrik .
Von klein auf war Olly mit den großen Rädern , den arbeitenden Riesenmaschinen gut Freund gewesen .
Stundenlang konnte sie irgendwo in einem Winkel der Fabrikräume kauern und den ratternden Ungetümen zuschauen .
Je größer das Mädel wurde , um so lebhafter interessierte es sich für das Entstehen und Zusammensetzen der gewaltigen Maschinenkörper , die aus der Hildebrandtschen Fabrik hervorgingen .
Aber auch für die blassen Menschen , die da den ganzen Tag in den dunstigen Räumen zusammengepfercht bei der Arbeit hockten .
Es fühlte etwas Verwandtes mit ihnen , waren sie nicht auch zurückgesetzt hinter vielen anderen , hatte das Leben ihnen nicht auch seine Gaben kärglicher zugemessen ?
Freundlicher , als es sonst seine Art war , grüßte es die Arbeiter in den blauen Blusen , die bleichen Frauen , die in langen Reihen den Fabriksälen zueilten .
Da waren Mädchen darunter , nicht älter als Olly selbst .
Sie alle regten die Finger zur einförmigen Arbeit .
Olly begann sich zu schämen .
Was hatte sie denn vor ihnen voraus , daß sie hier im faulen Nichtstun dem Schaffen so vieler emsiger Hände zuschauen durfte und es trotzdem viel besser hatte als sie alle , die Fleißigen ?
Besser - nein , sie hatte es nicht besser !
Weiter , als bis zu diesem Satze kam Olly nie mit ihrem Denken und Grübeln .
Wie hatte neulich der Arbeiter Schulz seiner jungen Tochter , die ihm mittags das Essen in dem buntgewürfelten Zipfeltuch gebracht , liebevoll die Wangen mit den schwieligen Händen geklopft .
Und das Mädel war doch auch nicht hübsch , nee , ganz im Gegenteil , mit ihrem sommersprossigen Gesicht !
Aber war ihr Papa nicht auch lieb und zärtlich zu den Geschwistern ?
Ja , bei den Reichen war das wohl anders als bei den Armen .
Reiche Leute sahen mehr auf das Äußere - mit solchen unverständigen Überlegungen quälte sich Olly fast täglich .
Es war ein seltsames Gemisch von frühzeitig reifen und wiederum kindisch törichten Gedanken in dem schwarzhaarigen Mädchenkopf .
Am Sonntag , wenn Papa sich seiner Familie mehr widmen konnte , empfand sie die innerliche Kluft , die sie von den anderen trennte , doppelt .
Papa war Sonntags stets guter Laune .
Er neckte Senta , interessierte sich lebhaft für Rudis Arbeiten zum Abiturientenexamen und ließ sich sogar herbei , mit Herbertchen an den Turngeräten auf dem Gartenplatz die Muskelstärke zu prüfen .
Für Olly hatte er am Sonntag ganz besonders häufiges Kopfschütteln und Ermahnungen .
Denn gerade in seiner heiteren Feiertagsstimmung empfand er ihr ablehnendes , unzugängliches Wesen um so störender .
Nur der allwöchentliche Mittagsgast söhnte das junge Mädchen mit den Sonntagen , an denen ihm die Stunden zu schleichen schienen , aus .
Dieser Sonntagsgast war Wolfgang Steinhardt .
Wenn der Freund da war , stand Olly nicht mehr abseits von den anderen .
Er richtete das Wort an sie , er bildete die Brücke , die sie wieder mit Papa und den Geschwistern verband .
Ja , es war sogar vorgekommen , daß Olly einmal über ein lustiges Wort des jungen Ingenieurs ganz richtig gelacht hatte .
Hell und jung , wie das ihren sechzehn Jahren zukam .
Ganz betroffen hatten sich die anderen bei diesem ungewohnten Ton angesehen .
Keiner hatte Olly seit Mamas Tod lachen gehört .
Sie aber war errötend in den Garten hinausgelaufen .
Heute freute sich Olly ganz und gar nicht auf den Sonntag .
Nicht nur , daß sie böse auf Wolfgang war , sie war auch mit sich uneinig , wie sie ihn anreden sollte .
Da sie nun einmal in ihrem Ärger " Sie " zu ihm gesagt , mochte sie nicht wieder zum " Du " zurückkehren .
Nein , " du " sagte sie bestimmt nicht mehr !
Ihre Freundschaft miteinander war aus !
Und " Sie " ?
Wenn er sie nur nicht neulich deswegen ausgelacht hätte !
Sie würde ihn einfach gar nicht anreden , ja gewiß , er war jetzt Luft für sie !
Als Olly herzklopfend das Wohnzimmer betrat , saß Wolfgang mit Papa im eifrigen Gespräch über eine neue Maschinenzeichnung .
" 'n Tag " , brummte Olly , ohne ihm die Hand zu geben .
Er merkte es in seinem Eifer gar nicht .
Er redete von Rädern , Spulen und Hebeln , zeichnete und rechnete .
Rudi las die Zeitung , Senta gähnte , und Herbertchen fing Fliegen .
Olly hatte sich hinter Wolfgang gestellt .
Sobald sie etwas von Maschinen hörte , war ihr Interesse geweckt .
Sie verstand zwar durchaus nicht alles , was er da vor Papa entwickelte und zeichnete , aber sie vermochte doch immerhin einigen seiner Ausführungen zu folgen .
Jetzt war er fertig .
Papa nickte beifällig mit dem Kopf .
Olly stand ganz vertieft da .
" Wieso meinst du " - nein , sie wollte ja nicht mehr " du " zu ihm sagen - " wieso meinen Sie " - wie die anderen jetzt alle grinsten - " wieso meint man , daß diese neue Maschine die vierfache Arbeit der bisherigen leisten wird ?
Das habe ich nicht verstanden " , half sie sich stotternd aus der Enge .
Sie hatte es in ihrem Eifer ganz vergessen , daß sie ja nicht mehr mit Wolfgang reden wollte .
" Das brauchst du auch wirklich nicht zu verstehen , Kind ; sieh lieber nach , ob wir noch nicht essen können " , sagte Papa , seine Pläne zusammenlegend .
Olly entwischte aus dem Zimmer .
Es war ihr ganz angenehm , daß erst einige Minuten über ihre merkwürdige Anrede verstreichen konnten , vielleicht hatte man sie inzwischen vergessen .
" Tag , Olly , haben wir uns eigentlich schon begrüßt ? " empfing Wolfgang sie , als sie am Mittagstisch wieder auftauchte .
" Keine Ahnung . "
Olly zuckte gleichgültig die Achsel .
" Es gehört sich , daß die Tochter des Hauses einen Gast freundlich bewillkommt , Olly " , mischte sich Fräulein Arnold mit leisem Vorwurf ins Gespräch .
" Ich weiß allein , was sich gehört ! " begehrte das junge Mädchen , das sich schämte , getadelt zu werden , auf .
" Du weißt es ganz und gar nicht , wenn du in diesem ungehörigen Ton zu Fräulein Arnold sprichst . "
Auf Papas Stirn erschien die unheilvolle Falte .
" Alt genug bist du allerdings , um so was zu wissen ; ich verlange , daß du dich nachher bei Fräulein Arnold entschuldigst . "
Olly warf der Hausdame einen feindseligen Blick zu .
Eher bis sie sich die Zunge ab , als daß sie irgend jemand um Entschuldigung bat .
Olly mußte sich alle Mühe geben , daß ihr die Tränen nicht ihre Suppe versalzten .
Der Augenblick der allgemeinen Beklommenheit , der einer öffentlichen Rüge stets zu folgen pflegt , war von den Wogen lustiger Unterhaltung längst davongeschwemmt worden .
Olly saß mit niedergeschlagenen Augen , erregt an dem Zipfel ihrer Serviette zupfend , einsilbig da .
Das häßliche junge Entlein tat Wolfgang Steinhardts gutem Herzen leid .
Auch er hatte sich inzwischen daran gewöhnt , Olly in Gedanken so zu nennen , der Name paßte zu treffend auf sie .
" Wölfchen , ich habe » gut « unter meinem Aufsatz , du hast auch an dem Ruhm Anteil " , berichtete Senta freudig .
" Und du , Olly ? "
Er benutzte die Gelegenheit , um das junge Mädel mit ins Gespräch zu ziehen .
Es war ihm entgangen , daß ihre Miene sich bei Erwähnung des Aufsatzes noch verfinstert hatte .
" Das geht dich - das geht Sie - das geht keinen was an ! "
Die ihr widerfahrene Ungerechtigkeit in der Schule machte ihren Ton noch schärfer .
" Olly . . . "
Der Kommerzienrat sah sie mit warnendem Blick an .
" Ei , Olly , noch immer nicht von neulich ausgebogt - na , schlechter als ungenügend wird der Aufsatz ja wohl nicht ausgefallen sein " , neckte Wolfgang harmlos .
Da brach das junge Mädchen plötzlich in Tränen aus , verbarg das Gesicht hinter ihrer Serviette und eilte hinaus .
Verdutzt sahen sich alle an .
Keiner verstand diesen plötzlichen Schmerzensausbruch .
Nur Senta kannte die Ursache .
Aber die mochte nicht reden .
" Es ist mit dem Mädchen wirklich nicht mehr auszuhalten , ich denke allen Ernstes daran , sie in eine Pension zu tun " , meinte der Kommerzienrat sorgenvoll .
" Hat sie denn » ungenügend « gehabt ? "
Wolfgang wandte sich an Senta .
Er versuchte sich vergeblich , den Vorgang zu erklären .
Diese nickte errötend .
Dann aber bekam das Gute in ihr doch die Oberhand .
" Eigentlich hätte sie » sehr gut « verdient , aber Doktor Müller hat gedacht , sie hätte sich den Aufsatz machen lassen , darum hat er ihr » ungenügend « runtergeschrieben " , bequemte sie sich zu berichten .
" Na , hat denn der Schafsbock Doktor Müller dabei gelassen ? "
Rudi nahm es mit seinen Ausdrücken nicht genau .
" Ja , natürlich - die ist doch viel zu faul und zu verstockt , um den Mund zu einer Entgegnung aufzumachen . "
Senta lachte schon wieder .
" Weißt du , Sentchen , ich finde , dann wäre es deine Pflicht als Schwester gewesen , dem Lehrer von dem wahren Sachverhalt Mitteilung zu machen . "
Wolfgang Steinhardt sah das blonde Mädchen ernsthaft an .
" Ja , Senta , das ist auch meine Meinung ! "
Kommerzienrat Hildebrandt war ein durch und durch rechtlich denkender Mann .
Senta war wütend .
Hätte sie doch bloß geschwiegen .
Das kam von ihrer Gutmütigkeit !
" Na , das fehlte mir auch noch , mir um des häßlichen jungen Entleins Willen Ungelegenheiten in der Schule zu machen ! " sagte sie und schwippte mit den Fingern .
" Was - um wessen Willen - wie hast du Olly eben genannt ? "
Alle , mit Ausnahme von Wolfgang , bestürmten sie mit Fragen .
Der aber blickte sie mahnend , den Finger auf den Lippen , an .
Wenn Wölfchen wüßte , daß die ganze Klasse Olly nicht anders mehr nannte !
" Ach - nichts - wirklich gar nichts " , versuchte sie sich herauszureden .
Fräulein Arnold kam ihr zu Hilfe .
" Wie wäre es denn , wenn wir nach dem Kaffee einen weiten Spaziergang in die Jungfernheide unternehmen würden ? " schlug sie vor , um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben .
" Au ja " - " famos " - " jetzt im Herbst sind die Laubfarben dort besonders schön " - " wir können ja bis zum Walde das auto benutzen . "
Papa lächelte über die allgemein lebhafte Zustimmung .
Weiß der Himmel , Fräulein Arnold traf doch immer das Rechte .
" Wenn sich Olly nicht bis zum Kaffee bei Ihnen entschuldigt hat , bleibt sie zu Haus . "
Damit ging Papa in sein Zimmer , um das gewohnte Sonntagnachmittagsschläfchen zu halten .
Der Gedanke an Olly verdarb ihm jedesmal seine besten Stimmungen .
Wolfgang schob seinen Arm in den von Senta und Rudi und zog sie mit sich in den Garten .
" Weißt du , Sentchen , gehe rauf zu Olly und rede ihr zu , sich zu entschuldigen .
Damit sie nicht den ganzen schönen Nachmittag zu Hause hocken muß ! "
Senta , die noch eben lächelnd neben dem Freund einherstolziert war , machte sich ungestüm los .
" Nee , so stehen wir beide nicht miteinander , Olly und ich .
Ich mische mich nicht in ihre Angelegenheiten . "
" Das hast du ja gestern in der Schule auch bewiesen . "
Wolfgang war unzufrieden mit dem jungen Ding .
" Alter Sittenprediger , du bist mir heute zu tranig ! "
Damit machte das Backfischchen ihm einen schnippischen Knicks , ließ ihn stehen und jagte lachend hinter Herbertchen , der nach der Scheibe schießen wollte , her .
" Wolfgang , kommst du mit ? " fragte Rudi , auf die Flinte weisend .
" Nee , ich möchte mich lieber ein wenig ruhen . "
Er wollte Senta bestrafen .
" Rücke doch dem alten Großpapa den Lehnstuhl zurecht ! " schrie die unverbesserliche Senta übermütig herüber durch die klare , jedes Wort tragende Herbstluft .
" Du kannst dir es in meinem Zimmer bequem machen , Wolfgang . "
Damit ging auch Rudi zu dem Schießstand .
Wolfgang Steinhardt war bei Kommerzienrats wie Kind im Hause .
Man machte absolut keine Umstände mit ihm .
Dadurch gerade fühlte er sich auch so wohl dort .
Er stieg zu Rudis Zimmer , das neben dem der Schwestern lag , empor .
Ehe er sich aber auf das Ledersofa niederließ , trat er ans Fenster .
Die Aussicht von hier über die Herbstwiesen bis zur Heide , die Olly so liebte , nahm auch ihn stets gefangen .
Er stand und schaute .
Da hörte er plötzlich ein unterdrücktes Weinen dicht neben sich , jetzt ein lautes Schluchzen - aha - vorsichtig lugte er um den Fensterpfeiler zu dem angrenzenden Goldgitterbalkon .
Eine bunte Wand von Bohnen , Winden und Kressen verbarg ihm die Weinende .
Aber er wußte Bescheid , auch ohne das Loch in der Blumenwand , durch das er gerade Ollys schwarzes Haar durchschimmern sah .
Sie hatte den Kopf fest gegen ihre Blütenlieblinge gepreßt , als ob die sie in ihrem Jammer trösten könnten .
Jetzt schluchzte sie wieder ganz besonders herzbrechend auf .
Mitleidig streckte Wolfgang die Hand durch das Blütentor und strich sanft und beruhigend über das dunkle Mädchenhaar .
Zuerst beachtete Olly es nicht , sie glaubte , es seien die im Nachmittagshauch wehenden Blumen .
Dann aber hob sie jäh den Kopf .
Wolfgang hatte keine Zeit mehr , seine Hand zurückzuziehen .
Olly hatte sie ungestüm ergriffen .
" Rudi , hältst du wenigstens zu mir ? " -
Nein , das war nicht des Bruders knochige Knabenhand , das war . . .
Ebenso ungestüm , wie Olly die tröstende Hand ergriffen , ließ sie dieselbe jetzt wieder sinken .
" Kindchen , was quälst du dich denn hier so allein ? "
Keine Antwort .
Nur das krampfhafte Aufzucken der schlanken Gestalt wurde ab und zu durch den Blumenvorhang sichtbar .
Sie schien sich aufs neue ihrem Jammer hinzugeben .
" Sei verständig und gehe zu Fräulein Arnold , Olly .
Papa hat gesagt , er ließe dich heute nachmittag zu Hause , wenn du dich nicht entschuldigst " , klang es überredend aus dem Fenster .
" Nein ! " -
Hart tönte es vom Balkon zurück .
" Auch nicht , wenn ich dich darum bitte , Olly ? "
" Nein . "
Das zweite Nein klang lange nicht so schroff wie das erste .
" Glaubst du denn nicht , daß ich es gut mit dir meine ? "
" Ich - ich habe es geglaubt - bis neulich - aber jetzt nicht mehr . . . "
Die Stimme ging in erneutes Schluchzen über .
" Warum in aller Welt denn aber jetzt nicht mehr ? "
Wolfgang spähte ratlos durch die Blütenzweige .
" Weil - weil Sie mich - weil man mich mit Senta bei Buschens neulich verspottet hat ! "
Ein Erschrecken ging über das scharf geschnittene Männergesicht .
Hatte Senta nicht reinen Mund gehalten , wußte das arme Ding von jenem Spottnamen , den er ihr angehängt ?
" Sie - ich - man hat mir Blumen an die Nase geworfen und mich noch obendrein ausgelacht . "
Es tat Olly wohl , ihrem Herzen Luft zu machen .
Wolfgang atmete erleichtert auf .
Sie schien nichts zu wissen .
" Wer wird so empfindlich sein , Olly , ich meine es doch nicht böse , wenn ich dich auch ein wenig necke .
Das weißt du doch ! "
Olly hob den Kopf und lächelte unter Tränen .
" Ich danke dir , Wolfgang , daß du so gut gegen mich bist , " - sie fand nun wieder das natürliche " du " " und ich bleibe jetzt heute nachmittag sehr gern zu Hause . "
" So willst du mir nicht den Gefallen tun und dich entschuldigen ? "
" Jeden anderen , aber - das kann ich nicht ! "
Olly schüttelte energisch den Kopf .
" Dann gib mir wenigstens deinen Aufsatz zu lesen , für den du ein » sehr gut « verdient hast . "
" Woher weißt du ? "
Olly stammelte es in errötender Freude .
" Von Senta . "
Er zog die Hand mit dem Heft durch die Blumenlücke zurück .
Dann lag er auf dem Sofa und las die frühreifen , aus schweren Stimmungen geborenen Gedanken , die in dem unschönen Mädchenkopf erstanden .
Durch den grauen märkischen Sand jagte das Hildebrandtsche auto dem Waldesduft entgegen .
Eine Wolke von Staub und Benzindunst folgte ihm .
Drinnen merkte man nichts davon .
Lachen und Kreischen erschallte .
" Gut , daß Olly nicht mit ist , dann wäre es noch enger " , sagte Herbertchen , den man zwischen den Damen auf dem Vordersitz eingeklemmt hatte , während auf dem Rücksitz die drei Herren vergeblich bemüht waren , sich so dünn wie nur irgend möglich zu machen .
Noch einer gedachte der einsam Daheimgebliebenen , das war Wolfgang Steinhardt .
Während die blonde Senta ihn übermütig wegen seines Weltschmerzes aufzog , mußte er immer wieder an jenes häßliche , schwarzhaarige Mädchen denken , das so tief die Zurücksetzung empfand .
Man tat Unrecht an dem jungen Kinde - ob er Mal mit dem Kommerzienrat sprach oder mit Senta ?
Die , der diese ernsten Gedanken galten , saß inzwischen in stillem Sinnen zwischen ihren Blumen auf dem Balkon .
Zum erstenmal fühlte sie wieder etwas wie Freude und Glücksempfinden in sich erwachen .
Senta hatte doch der Wahrheit die Ehre gegeben , die Schwester war nicht so treulos zu ihr , wie es bisher geschienen !
Und Wolfgang - ach , der war so gut zu ihr gewesen - so gut . . .
Olly lächelte still vor sich hin .
Nur die wehenden Blüten sahen , wie merkwürdig dies Lächeln ihr Gesicht verschönte .
4. Kapitel .
Das häßliche junge Entlein ommerfäden , lichtes , zart weißes Gespinst flog von der Heide her über die sich bräunlich färbenden Wiesen .
Aber an dem großen Fabrikgebäude , vor dem unbarmherzig schwarzen Ruß zerflatterten die letzten Grüße des Sommers .
Olly blickte in den tiefblauen Himmel .
Hier und da ein silbernflaumiger Streifen , als ob der himmlische Maler nur gerade seinen Wolkenpinsel daran ausgewischt .
Der Garten stand im goldenen Herbstkleide , Astern und Georginen blühten .
Lustig bunte Papierwimpel wehten von den Laubenkolonien , in weitem Bogen schossen die Schwalben darüber hin .
Sie sammelten sich schon zur Winterreise .
Alles so schön - so wunderschön war die Welt , und nur sie allein darin häßlich und garstig !
Olly hatte einen ausgeprägten Schönheitssinn , nie empfand sie die eigene Häßlichkeit mehr , als wenn sie die harmonische Schönheit der Natur in sich aufnahm .
Darum kam sie selbst unter Gottes freiem Himmel nicht zu einem reinen Genießen , sogar die Freude an der Natur verbitterte sie sich selbst .
" Wer doch so schön wäre wie ihr ! "
Mit weichen Fingern strich sie über ihre Balkonblumen , hier ein gelbes Blättchen lösend , dort ein Hälmchen Unkraut auszupfend .
" Olly - Olly . . . "
Sentas helle Stimme erklang aus ihrem gemeinsamen Zimmer .
" Was ist denn los ? "
Ziemlich brummig und verdrossen kam es vom Balkon zurück .
" Du , Olly , du hast ja deine Geometrieaufgaben noch nicht gemacht . "
Senta kümmerte sich sonst wenig um Ollys Schularbeiten .
Aber mit der verzwickten Geometrie wurde sie allein nicht fertig .
Da war es ihr ganz wertvoll , von Olly , die für Rechnen begabt war , ein wenig abzuschreiben .
Die ältere Schwester antwortete nicht .
Aber das war Senta nichts Neues .
Olly war meistens wortfaul .
" Morgen setzt es wieder einen Tanz mit Doktor Elbing wie voriges Mal , wo du nicht gearbeitet hattest ! " rief sie .
" Das geht dich nichts an ! "
Die Ältere hatte es abweisend hervorgestoßen .
Gleich darauf aber bis sie sich erschreckt auf die Lippen .
Was hatte sie sich neulich an jenem Sonntag , als Senta es bei Tisch erzählt , daß die Schwester eigentlich ein " sehr gut " unter ihrem ungenügenden Aufsatz verdient hatte , gelobt ?
Sie wollte nicht mehr unfreundlich gegen Senta sein , und auch zu den übrigen nicht , sie wollte versuchen , sich die Herzen der Ihrigen durch Liebe zu gewinnen .
Seit wieder jemand so gut und herzlich mit ihr gesprochen wie Wolfgang Steinhardt neulich , empfand das liebebedürftige Herz Ollys mehr als je den Wunsch nach der Zuneigung des Vaters und der Geschwister .
Aber die Kluft , die sich seit Jahren zwischen ihr und den übrigen Familiengliedern aufgetan , wurde nicht so leicht überbrückt .
Vor einem spöttischen Wort , ja , nur vor einem verwunderten Blick erlahmte Ollys guter Wille sofort .
Jetzt nahm sie wieder einen Anlauf zu einem besseren Einvernehmen mit der Schwester , ihre schroffe Abweisung tat ihr heimlich leid .
" Was verstehst du denn nicht ? " fragte sie , in das Zimmer tretend , denn sie wußte sehr wohl , daß Sentas Sorge um ihre Arbeit lediglich eigenem Interesse entsprungen .
Senta war nicht stolz , wenn es galt , sich helfen zu lassen .
Sie stützte den hübschen Blondkopf auf , sah Olly verzweifelt an und stöhnte herzbrechend .
" Gott , tue bloß nicht so ! " wollte es Olly schon wieder entfahren , denn Sentas schauspielerischen Talente waren ihr vertraut .
Aber sie schluckte es , ihrer Vornahme eingedenk , noch schnell herunter und rückte sich einen Stuhl an den zierlichen weißen Schreibtisch .
Bald neigten sich der schwarze und der blonde Mädchenkopf eifrig über das mit Zahlen bedeckte Heft .
Die lustig durcheinander piepsenden Spatzen da draußen in ihren rußgeschwärzten Grauröckchen , die sich keck wie Berliner Straßenjungen bis auf den Balkon wagten , ahnten es nicht , daß dieses schwesterliche Einvernehmen nur eine Ausnahme bildete .
Es sollte denn auch nicht von langer Dauer sein .
Diesmal war Olly unschuldig daran .
Als Senta an der geometrischen Klippe , an der sie fast gescheitert , glücklich vorbei war , war es auch mit ihrer Dankbarkeit gegen die Schwester vorbei .
Ja , sie ärgerte sich sogar , daß " das häßliche junge Entlein " , das allgemein verlacht und hintenangesetzt wurde , irgend etwas besser verstand als sie .
" Spar ' dir nur deine Kenntnisse für die morgige Geometriestunde , daß du nicht wieder dasitzt wie aus Dummsdorf , als ob du nicht bis drei zählen kannst ! " unterbrach sie plötzlich Ollys Auseinandersetzungen höhnisch .
Olly sah sie groß an , mit Augen , die den jähen Stimmungswechsel gar nicht verstanden .
Dieser Blick war Senta unangenehm .
Sie empfand ihr Unrecht und ließ es , wie man es ja leider oft tut , an dem anderen aus .
" Naja , Doktor Elbing hat doch erst neulich zur Klasse gesagt : » Pst - seien Sie still - Olly Hildebrandt schläft wieder Mal , wir wollen sie nicht wecken « - , denkst du , es ist angenehm für mich , wenn unser Name immerfort lächerlich gemacht wird ?! " rief sie ärgerlich .
Über Ollys blasses Gesicht jagte eine Blutwelle .
Das war der kritische Augenblick , den die übermütigen Geschwister stets zu benutzen pflegten , um sie mit einem hänselnden " Kß - kß - kß - kß " völlig in Wut zu setzen .
Auch jetzt konnte Senta der Lust nicht widerstehen , Olly zu reizen .
" Kß - kß - kß " , zischte sie , daß all ihre weißen Zähnchen zum Vorschein kamen .
Da kam Leben in Ollys Starre .
Ohne zu wissen , was sie tat , hob sie die Hand und ließ sie klatschend auf Sentas rosige Wange niedersausen .
Das war seit ihrer Kinderzeit nicht mehr vorgekommen .
So schlecht sie sich auch vertrugen , und so wenig schwesterlich das Verhältnis auch war , geschlagen hatten sie sich , seitdem sie die Kinderschuhe ausgezogen und in das Backfischalter getreten , niemals .
Meist ließ sich Olly stillschweigend und verstockt alle Sticheleien gefallen , höchstens weinte sie Tränen ohnmächtiger Wut .
Um so entsetzter war Senta über diesen unerwarteten Angriff .
Laut aufweinend , die Hände gegen die flammendrote Wange gepreßt , lief sie aus dem Zimmer .
In der Tür wandte sie sich noch einmal zurück .
" Häßliches junges Entlein ! "
Olly zuckte unter dem Ton der Schwester schmerzhafter zusammen als Senta soeben unter ihrem Schlage .
Dann flog die Tür zu .
Olly war allein .
Allein mit einer ganz merkwürdigen Empfindung .
Das befreiende Gefühl , die Schmähreden Sentas endlich einmal gerächt zu haben , das die Ohrfeige zuerst in ihr ausgelöst , war brennender Scham gewichen .
Das junge Mädchen schämte sich unsagbar , daß sie sich so hatte hinreißen lassen können .
Dazu kam das Weh über die Worte , die ihr Senta noch zuletzt entgegengeschleudert .
Wie war es doch gewesen ?
" Häßliches . . . " nur auf dies eine Wort konnte Olly sich besinnen , das andere hatte das Sausen und Brausen ihres zornig erregten Blutes übertönt .
Aber es genügte auch .
Es genügte , daß Olly in tränenlosem Schmerz auf Sentas Geometrieheft starrte , der unschuldigen Ursache zu ihrem Streit .
Ihre eigenen Aufgaben zu machen , daran dachte sie nicht mehr .
Sie grübelte , wie es nur möglich war , daß sie dieses eine kleine Wort " häßlich " , von dessen Wahrheit keiner mehr überzeugt war als sie selbst , so ins Innerste treffen konnte .
Dann überlegte sie , wie schwer es doch war , gut zu sein .
Sie hatte sich heute alle Mühe gegeben , nett gegen Senta zu bleiben , und dadurch gerade waren sie so böse aneinandergeraten .
War es da denn nicht besser , sie sprach überhaupt nicht , war unfreundlich und abstoßend wie gewöhnlich ?
Wenigstens wurden so scharfe Auftritte wie der heutige vermieden .
Olly wußte nicht aus noch ein vor den gegen sie anstürmenden Gedanken .
Sie empfand , daß nicht alles richtig war , was sie dachte .
Wenn doch einer , den sie lieb hatte , zu dem sie Vertrauen haben konnte , ihr den richtigen Weg aus diesem Gedankenlabyrinth gewiesen !
Wenn sie sich doch jetzt in ihrer Not an ein verständnisvolles Mutterherz hätte flüchten können !
Schritte auf der Treppe .
Der dicke Teppich dämpfte sie , aber Olly hörte doch , daß sie sich ihrem Zimmer näherten .
Sicher Papa !
Gewiß hatte Senta sie bei Papa verklagt , und er kam jetzt , sie zur Rechenschaft zu ziehen .
Aber Olly empfand keine Angst davor .
Feigheit lag ihr fern .
Im Gegenteil , sie wollte Papa alles erzählen , wie es gekommen , auch daß es ihr jetzt leid tue .
Vielleicht verstand er sie , vielleicht war er heute gut gegen sie , ihr schöner , stattlicher Papa , nach dessen Zuneigung sie sich so sehnte .
Die Tür wurde geöffnet - Fräulein Arnold trat ins Zimmer .
Mit strafendem Gesicht ging sie auf Olly zu .
Diese fühlte alle weichen Gefühle , die sie noch soeben durchdrungen , beim Anblick der ihr unsympathischen Hausdame schwinden .
Trotz und Verstocktheit lagerten sich auf der Mädchenstirn .
" Schämst du dich denn gar nicht , du großes Mädel , dich gegen deine Schwester so unerhört zu benehmen ?! " begann sie .
Olly , die sich soeben noch ganz entsetzlich ihrer Handlungsweise geschämt hatte , fühlte bei den Vorwürfen Fräulein Arnolds keine Spur von Reue mehr .
Nur stumme Auflehnung drückte ihr Wesen aus .
" Ich werde Papa von deinem unglaublichen Benehmen in Kenntnis setzen . . . "
" Ich lasse mich nicht von einer Fremden abkanzeln , daß Sie_es nur wissen - ich bin ein fast erwachsenes Mädchen - bald siebzehn ! "
Das war wieder ganz die in ihren Ausbrüchen ungezügelte Olly , mit der noch keine Hausdame fertig geworden .
" Ja , so benimmst du dich auch - ganz wie ein erwachsenes Mädchen ! "
Fräulein Arnold verließ das Zimmer .
Ollys geballte Hände sanken schlaff herab .
Ihrer Heftigkeit folgte tiefe Niedergeschlagenheit .
Wenn doch Fräulein Arnold das Haus wieder verlassen würde !
Ein Gedanke kam Olly plötzlich .
Ein heller , verlockender Gedanke .
Ostern hatte sie ihre Schulzeit beendigt , dann wollte sie Papa bitten , Fräulein Arnold zu entlassen und überhaupt keine Hausdame mehr zu engagieren .
Dann wollte sie selbst versuchen , dem Hause die verstorbene Mutter zu ersetzen .
Mit etwas gutem Willen würde es schon gehen .
Daß sie alles andere eher als guten Willen besaß , daran dachte Olly nicht .
Ihr Zukunftsplan brachte sie ein wenig über die unerquickliche letzte Stunde hinweg .
Sie saß und träumte , wie dann alles werden würde .
Ach , am Ende würde Papa sie dann auch ein wenig lieb haben , so häßlich sie auch war , wenn er sah , daß sie sich für ihn mühte und sorgte .
Und die Geschwister würden sich dann mit allem an sie wenden müssen , sie wollte ja so gern auf die Wünsche eines jeden eingehen .
Dann würde man nicht mehr auf sie herabblicken und sie verspotten , wenn sie etwas leistete .
Sie war dann die Seele des Hauses , die treibende Kraft der komplizierten Wirtschaftsmaschine .
" Olle , du sollst zu Papa ins Büro kommen , aber dalli ! "
Herbertchen steckte den lockigen Blondkopf zur Tür herein .
Er nannte die große Schwester oft " Olle " , um sie zu ärgern , und heute , wo Fräulein Arnold und Senta so böse auf sie waren , machte er natürlich gleich gemeinsame Sache mit der Gegenpartei .
" Dalli , Olle ! " drängte er noch einmal , da sie sich nicht rührte , und gab dann plötzlich Fersengeld .
Olly hatte sich erhoben , und der Kleine fürchtete wohl , von ihrer heutigen Schlagfertigkeit auch noch eine Probe zu erhalten .
Aber die Schwester dachte nicht daran .
" Die treibende Kraft der Wirtschaftsmaschine " , als die sich Olly noch soeben geträumt , ging langsam , ganz langsam , als ob sie nicht einmal die Kraft hätte , sich selbst zu treiben , die Treppe in das Untergeschoß hinab .
Wenn Papa sie in sein Büro rufen ließ , dann stand es schlimm .
Olly wußte , wie böse Papa werden konnte .
Als sie durch den sonnenbeflimmerten Garten schritt , erblickte sie unter dem großen Birnbaum Fräulein Arnold und Senta .
Auf einer Leiter aber stand , mit dem Obsteber bewaffnet , der lange Rudi und pflückte den Damen die herrlichen Früchte .
Es war zu spät , einen Bogen um ihre Gegnerinnen zu machen .
So schritt Olly erhobenen Hauptes , gravitätisch wie der Hahn drüben im Hühnerhof , an der Gruppe vorbei .
Da sauste es unweit ihrer hochgetragenen Nase vorüber .
Rudi , der übermütige , hatte gut gezielt .
Der Birnenstiel streifte gerade noch ihr nicht eben kleines Näschen .
Die möglichst Gleichmut zur Schau tragende Miene Ollys wurde bitterböse .
" Du , Olly , ziehe dir doch meinen Winterüberzieher an , der ist dick , da fühlst du Papas Wichse nicht so durch " , schallte es noch neckend von dem Birnbaum herab hinter ihr her .
Tränen schossen in die schwarzen Mädchenaugen .
Alle hackten auf ihr herum , selbst Rudi war jetzt immer so eklig zu ihr !
Auch der gutmütig ehrerbietige Gruß der ihr in den Fabrikhöfen begegnenden Arbeiter vermochte sie nicht zu trösten .
Man hatte das junge , häßliche Fräulein , das nie stolz tat , sondern diesen und jenen , den sie noch aus ihrer Kinderzeit her kannte , oft freundlich nach seiner Familie befragte , in der Fabrik allgemein gern .
Lange Reihen von Kohlenwagen zogen an ihr vorüber .
Aus den Maschinenräumen schallte ohrenbetäubender Lärm .
Rußgeschwärzte Gesichter tauchten auf , feuriger Funkenregen prasselte hernieder .
Aber all das , was Olly sonst mit lebhaftem Interesse erfüllte , das Zischen , Schnaufen und Zucken der gewaltigen Maschinenkörper , heute ließ es sie gänzlich teilnahmlos .
Sie trat in den einstöckigen , den Fabriksälen angegliederten Bau , in dem die Bureauräume lagen .
Um in das Privatkontor des Vaters zu gelangen , mußte sie die Ingenieurzimmer durchschreiten .
Das war das schlimmste an der ganzen Sache .
Wolfgang Steinhardt würde es merken , daß sie etwas ausgefressen hatte und nun wie ein Gör von Papa abgekanzelt wurde .
Ach , wie sie sich schämte !
Sie hielt die Augen gesenkt , als sie die Zimmer , in denen fünf oder sechs Ingenieure eifrig über ihre Zeichnungen und Berechnungen saßen , durcheilte .
Ihr " guten Tag " klang so leise , daß selbst Wolfgang nicht von seiner Arbeit aufblickte .
Ungesehen kam sie hindurch .
Papas Privatbureau hatte stets etwas Beklemmendes für die Hildebrandtschen Kinder .
Die schweren Möbel , die dunklen , wuchtigen Ledersessel , die vielen großen Bücher und Folianten , all das wirkte ernst und streng .
Auch Papa pflegte in dieser Umgebung niemals so freundlich und heiter auszusehen wie drüben in der Villa .
Er hatte hier seine Arbeitsmiene aufgesetzt , ernst und streng wie das Zimmer .
Selbst Senta , sein Liebling , wagte hier kaum ihre Zärtlichkeiten und kleinen Schmeicheleien .
Dazu kam , daß die Kinder fast nur das Büro betraten , wenn ihnen irgend etwas Unangenehmes bevorstand .
Wenn ein Lehrer sich beklagt hatte oder die Hausdame ; Papas Privatbureau war mit einer Strafpredigt aufs innigste verwachsen .
Heute wirkte es ganz besonders düster und streng auf die herzklopfend eintretende Olly , und der rasche Seitenblick , den sie zu Papas Gesicht hinwarf , offenbarte wenig Gutes .
Vorläufig kümmerte sich Papa nicht um sie .
Er saß da , schrieb und schrieb .
Mit jedem Federzug auf dem knisternden Bogen wurde es Olly schwüler zumute .
" Du hast mich rufen lassen , Papa " , wagte sie nach einer ganzen Weile leise zu sagen .
Papa wandte sich um und zog die Augenbrauen zusammen .
Ein schlechtes Zeichen , dann war er sehr böse .
" Mir sind ganz unerhörte Dinge zu Ohren gekommen " , begann er vorläufig ruhig .
" Senta kam schluchzend zu mir mit brennendroter Backe , so hast du sie geschlagen - eine Schwester schlägt die andere , ein fast erwachsenes Mädchen , das eine gute Erziehung bekommen hat - ja , bist du denn ganz von Sinnen , Olly ? "
Des Kommerzienrats Stimme war drohend angeschwollen .
Angstvoll sah Olly nach der Tür - Herrgott , das mußten ja die Ingenieure nebenan hören , jeden Ton mußte Wolfgang Steinhardt vernehmen .
Sie hatte die Worte des Vaters gar nicht erfaßt , nur seine heftige Stimme .
" Da stehst du nun wieder stumm und steif und verstockt , ich weiß es nicht , wie ich zu solch einer Tochter komme ! "
Papa stieß es mit einem tiefen Seufzer hervor .
Es zuckte Olly in den Gliedern , zum Vater hinzueilen , die Arme um seinen Hals zu schlingen , wie Senta es zu tun pflegte , alles Weh an seiner Brust auszuweinen und Besserung zu geloben .
Aber die Beine waren ihr so schwer , als ob Zentnergewichte daran hingen , sie vermochte sie nicht von der Stelle zu heben .
Und der zuckende Mädchenmund , der die Worte " es tut mir leid " aussprechen wollte , brachte keinen Ton hervor .
Papa merkte nicht , wie sie kämpfte .
Er hatte sich jetzt erhoben .
Trotzdem Olly hoch aufgeschossen war , überragte der Vater sie noch um Kopfeslänge .
Wie stattlich und schön ihr Papa war , es kam ihr selbst in diesem Augenblick wieder zum Bewußtsein .
Sie hätte ihn bitten mögen :
" Schilt mich , aber habe mich wenigstens lieb ! " wenn ihr Stolz es zugelassen hätte , um Liebe zu betteln .
" Nicht einmal ein Wort der Entschuldigung hast du für dein unglaubliches Benehmen , und das Schlimmste von allem " - Papas Stimme wurde vor Erregung wieder lauter - , " daß du sogar gegen Fräulein Arnold respektlos und ungezogen gewesen bist !
Gegen diese liebenswürdige Dame , die dir in gütiger Weise Vorstellungen gemacht hat . . . "
" In gütiger Weise - hahahaha . "
Olly hatte Papa unterbrochen und bitter aufgelacht .
Aber ihr Lachen klang in ein seltsames Schluchzen aus .
" Du lachst , wenn ich böse bin ?
Ich will dich nicht mehr sehen , in den nächsten Wochen kannst du in deinem Zimmer essen - marsch ! "
Das war jene Stimme , vor der die Arbeiter zitterten , die ab und zu unheilvoll bis zur Villa herüberschallte .
Der Kommerzienrat zeigte gebieterisch nach der Tür .
Den Kopf in die Schultern gezogen , so schlich sich Olly hinaus .
Nur Wolfgang Steinhardt war im ersten Ingenieurzimmer .
Die anderen hatten es bei des Kommerzienrats aufgebrachter Stimme vorgezogen , lieber ein Zimmer weiter zu gehen .
" Olly , armes Kind , was hat es denn gegeben ? "
Wolfgang legte die Hand auf die Schulter des vorübereilenden jungen Mädchens und sah sie voll Mitleid an .
Aber Olly konnte jetzt keinem Rede und Antwort stehen .
Der Schmerz über Papas letzte Worte war zu groß .
Unsanft machte sie sich frei , und mit einem kurzen : " Ach , laß mich ! " war sie davon .
Sie lief und lief , unbekümmert um die erstaunt neugierigen Mienen der Angestellten .
Ganz hinten im Garten machte sie erst halte .
Unter dem Reinettenbaum , ihrem Lieblingsplatz , dem " Schmollwinkel " , wie die Geschwister ihn getauft .
Dicht am Stachelzaun , verdeckt von den Johannisbeerbüschen , hatte sie sich aus welkem Laub einen Sitz geschichtet .
Dort saß sie und blickte mit brennenden Augen in den goldenen Herbsttag .
Papa wollte sie nicht mehr sehen !
Sie , ein bald siebzehnjähriges Mädchen , wurde wie ein ungezogenes Kind gestraft !
Sie verbarg das Gesicht in den Händen , sie schämte sich vor der sie mit flimmernden Strahlenfingern streichelnden Sonne .
Schrilles Tuten ließ Olly aus ihrem schmerzhaften Grübeln emporfahren .
Feierabend .
Hunderte von Arbeitern zogen , nach dem Aufenthalt in den dunstigen Fabriksälen die herb frische Spätsommerluft in langen Zügen einatmend , heimwärts .
Lachen und Scherze erschallten , Stimmen von Kindern , die den Vater aus der Fabrik abholten .
So manchen sehnsüchtigen Blick aus Kinderaugen hatte Olly öfters aufgefangen , zu der schönen Rokokovilla hin , zu dem herrlichen Blumen- und Obstgarten und den feingekleideten Kommerzienratstöchtern .
" Die haben es Mal gut ! " stand deutlich in den bewundernden Kinderaugen zu lesen .
Ach , Olly hätte ja gern mit dem ärmsten getauscht , das der Vater zärtlich in seine Arme nahm !
Immer mehr , immer neue Scharen strömten heraus , Olly empfand die Größe des gewaltigen Betriebes , dem ihr Vater vorstand .
So viele Hände einten sich zu einem Werke , so vielen gab die Fabrik den Lebensunterhalt .
Der Wunsch regte sich in dem Mädchenherzen , den Leuten , die da all ihre Kräfte für die Arbeit des Vaters einsetzten , es Mal später durch Vergünstigungen im Alter , durch tatkräftiges Sorgen für ihre Kinder danken zu können .
Drüben , in der großen Gewehrfabrik , gab es Arbeiterhäuser mit freundlichen Gärten davor , ein großes Haus , in dem die Alten , Arbeitsunfähigen in Frieden den Feierabend ihres Lebens genießen durften .
Das war es , wovon Olly oft träumte :
Ihre liebe Fabrik sollte auch ein Segen für viele werden !
Die langen Reihen hatten sich allmählich gelichtet , nur vereinzelt kamen noch einige Nachzügler .
Die Maschinenmeister , die Werkführer , das Bureaupersonal , die Ingenieure .
Nun würde auch Wolfgang Steinhardt bald heimgehen .
Sie kannte seinen Schritt .
Gleichmäßig und hart klang er auf dem gepflasterten Steige .
Er kam näher , aber dazwischen tönte noch eine andere Gangart , leichtfüßig , schnell , fast hüpfend .
Er war nicht allein .
Unweit des Reinettenbaumes blieb Wolfgang Steinhardt stehen .
" Nun sage bloß Mal , Sentchen , was war denn heute Nachmittag bei euch los ?
Erst kommst du heulend zum Papa gelaufen , hinterher Fräulein Arnold mit empörtem Gesicht , und den Schluß macht unser häßliches junges Entlein , ganz geknickt und flügellahm .
Papa hat entsetzlich mit ihr geschimpft , was hat das arme Mädel denn nur wieder begangen ? " so hörte die dicht am Stachelzaun hockende Olly die Stimme Wolfgangs .
Es war ihr , als ob eine eisige Hand plötzlich nach ihrem warmen Herzen griff und es zusammenpreßte , als ob all die spitzen Stacheln des Zaunes , der sie verbarg , sich in ihr Herz hineingruben .
Sie hätte vor Weh aufschreien mögen .
Da war es , das Wort , das ihr Senta heute wuterfüllt entgegengeschleudert , auf das sie sich nicht besinnen gekonnt !
Aus dem Munde des einzigen Menschen , von dem sie geglaubt hatte , daß er ihr wohlwollend gesinnt sei , tönte es ihr jetzt aufs neue entgegen !
Olly preßte das Taschentuch gegen den Mund , damit kein Laut die heimliche Lauscherin verrate .
" Ja , nimm sie nur noch in Schutz , das häßliche junge Entlein , " das war Sentas aufgebrachte Stimme , " geschlagen hat sie mich , das rohe Ding , und gegen Fräulein Arnold ist sie mehr als unverschämt gewesen !
Hoffentlich hat Papa sie tüchtig abgekanzelt ! "
" Ihr behandelt das Mädel falsch , durch Strenge und Härte macht ihr sie nur noch rebellischer .
Olly ist einzig und allein durch Liebe zu gewinnen , glaube es mir , Senta !
Versuche es doch Mal , schwesterlich und liebevoll zu ihr zu sein , wie es in den Wald hineinschallt , schallt es auch wieder heraus .
Du sollst Mal sehen , sie ist nicht unempfänglich gegen Güte und Liebe ! "
" Na , das sollte mir einfallen , auch noch liebevoll zu der zu sein , wo sie immer so gemein gegen mich ist , nee , Wölfchen , das kann dein Ernst nicht sein ! "
Olly hörte nicht , daß die Stimmen sich entfernten , sie hatte überhaupt nichts weiter vernommen , was die beiden gesprochen .
Ihr Bewußtsein war an Wolfgang Steinhardts Wort " unser häßliches junges Entlein " hängen geblieben .
Das schrillte ihr noch immer ins Ohr , als es schon längst im Luftraum verhallt war .
" Häßliches junges Entlein " - der Wind , der in den Blättern des Apfelbaumes flüsterte , rief es ihr hohnlachend zu , die Spatzen ringsum schirpten es kreischend in die Luft , die Abendsonne brannte es mit glühender Purpurschrift ihr wie ein Kainszeichen auf die Stirn .
" Das häßliche junge Entlein " nannte man sie , man spottete und lachte heimlich über ihre Häßlichkeit !
Olly brach in ein wildes , trockenes Schluchzen aus , sie fand keine Träne .
Die Sonne ging hinter dem düsteren , großen Fabrikschlot zur Ruhe , in der Rokokovilla glänzten Lichter auf .
Dort saß man jetzt in angeregter Unterhaltung beim Abendbrot .
Olly war das Essen auf Papas Anordnung in ihr Zimmer geschickt worden .
Das junge Mädchen wußte nicht , wie lange es unbeweglich unter dem Reinettenbaum gesessen .
Empfindliche Abendkühle ließ es zusammenschauern .
Olly sah auf .
Dunkel , alles dunkel ringsumher , wie es auch in ihr war .
Da war nirgends ein freundliches Licht , das dem einsamen Mädchenherzen Wärme und Helle spendete .
Nirgends ?
Doch , aus dem väterlichen Hause schimmerte es hell und traulich .
Als ob es dem verzagten jungen Menschenkinde den Weg weisen wollte , den es gehen mußte , um nicht mehr allein und verdüstert zu sein .
Aber Olly schlug den Weg nicht ein .
Papas Strenge stellte sich als ein unüberwindliches Hindernis ihr entgegen .
Mit steifen Gliedern schlich sie sich um das Haus herum zum Hintereingang und zu ihrem Stübchen hinauf .
Die bereitstehende Abendmahlzeit blieb unberührt , Olly war der Hals wie zugeschnürt .
In dem Eckspindchen , das ihre Kinder- und Mädchenbücher enthielt , begann sie mit rascher Hand zu kramen .
Da - da war es , was sie suchte .
Ein einbandloses , zerlesenes Buch - Andersens Märchen .
Mama hatte den Kindern oft daraus vorgelesen .
Dann hatte es Herbertchen in die zerstörenden Finger bekommen .
Erst vor kurzem hatte Olly es wieder ihrer Bibliothek eingereiht .
Was Mama mit ihren schlanken , weißen Händen berührt hatte , sollte wert gehalten werden .
Ollys schönste Kindererinnerungen waren mit diesem Buche verknüpft .
Sie sah sich wieder , ihr Stühlchen ganz dicht neben den Sitz der Mutter gerückt , den dunklen Kopf gegen das lichte Frauengewand geschmiegt .
So lauschte sie mit großen Augen den wunderbaren Geschichten , welche auch ihr Mütterchen mehr als alle anderen Märchen liebte .
So oft sie nach Mamas Tode ihr altes Märchenbuch aufgeschlagen , glaubte sie wieder die weiche , melodische Stimme der geliebten Mutter zu vernehmen .
Aber heute sprach die Erinnerung nicht zu ihr , die Vergangenheit schwieg , um so lauter aber redete die Gegenwart .
" Das häßliche junge Entlein " - - mit brennenden Augen starrte Olly auf den Titel des vor ihr liegenden Märchens .
Dann begann sie zu lesen .
Ja , so war es - ganz so !
Kein Name hätte besser auf sie gepaßt .
Groß und häßlich , von ganz anderer Art als die zierlichen , schönen Entlein des Hofes , verlacht und verhöhnt , zurückgesetzt und herumgestoßen , von keinem verstanden , gebissen und fortgejagt , selbst von den Geschwistern - war es nicht ganz dasselbe mit ihr ?
Man brauchte nicht auf einem Entenhof geboren zu sein , um all diese Schmerzen zu durchleben , man konnte sie geradeso in einer Kommerzienratsvilla empfinden !
Ein dichter Schleier begann sich Olly vor die Augen zu legen , langsam löste sich Tropfen um Tropfen von ihren dunklen Wimpern .
Die ersten befreienden Tränen .
Den Druck , der auf der jungen Brust lag , das Knäuel , das ihr die Kehle zusammenpreßte , wuschen sie nach und nach fort .
Wieder knisterten die Seiten .
Blatt um Blatt schlug Olly voll Erregung um , als ob es ihr Schicksalsbuch sei , das sie durchblätterte .
Ein Schwan - ein edler Schwan war aus dem armen , mißhandelten Entlein geworden !
Schöner und herrlicher als alle die , welche es verspottet hatten , wurde das kleine , zurückgesetzte Entlein !
Mutlos ließ Olly das Buch sinken .
So ging es im Märchen - nur im Märchen !
In der Wirklichkeit , da blieb man , was man war , da wurde aus einem grauen , häßlichen Entlein niemals ein blendend weißer , stolzer Schwan !
Olly fröstelte zusammen und schloß die Balkontür .
Wieder und wieder las sie die Geschichte ihrer kleinen Leidensgenossin , und als sie schließlich mit zerschlagenen Gliedern ihr Lager aufsuchte , um Senta nicht mehr sehen zu müssen , legte sie das alte Märchenbuch gleich einem Heiligtum unter ihr Kopfkissen .
Ihr war zumute wie dem Bettelmann , dem man das letzte Stücklein Brot , das er in den Händen gehalten , mitleidlos entrissen und ihm dafür einen harten Kieselstein gereicht hatte .
Leer war es in ihrem Herzen - statt der guten Worte Wolfgangs , die sie darin aufbewahrt , nur der grausam harte Spottname :
" Das häßliche junge Entlein ! "
5. Kapitel .
Klasse Ja Herbst war es über Nacht geworden .
Kalter , nebelgrauer Herbst .
Das lichte Sommergespinst war zerflattert und zerstoben .
Die Sonne , die sich noch gestern in den blanken Fensterscheiben der weißen Rokokovilla lachend gespiegelt hatte , war hinter dicken regenschweren Wolkensäcken verschwunden .
Über die Wiesen kam der Oktoberwind einhergestürmt , heulend , mit flatternden Haaren und rüttelnden Fäusten .
Scheiben klirrten , Türen schlugen , Kohlenstaub wehte , in tollem Wirbel jagte totes Laub durch den Garten .
Ollys arme Blumen froren .
Ihre junge Pflegerin hatte heute noch keine Zeit für sie gefunden .
Die saß auf der Schulbank und fror innerlich in ihrer Vereinsamung mehr als die Blumen auf dem Balkon .
Sie lauschte dem Brausen des Sturmes , dem Ächzen der Schulhofkastanien und dem , was in der eigenen Brust stürmte und tobte - wilder als da draußen .
Die Worte des Lehrers verhallten ungehört an ihrem Ohr , und doch gingen dieselben sie ganz besonders an .
" Olly Hildebrandt - wie oft soll ich noch fragen , ich vermisse Ihre Geometriearbeit ! "
Doktor Elbing blickte aus kurzsichtig blinzelnden Augen von dem auf dem Katheder liegenden Stoß Hefte zu der regungslos Dasitzenden hinüber .
Er hatte die Gewohnheit , die Arbeiten gleich in der Stunde zu korrigieren .
Katchen Lehmann , die hinter Olly saß , puffte sie mit einem " Menschenskind , schläfst ? " wohlwollend in den Rücken .
Jetzt endlich erhob sich Olly .
Sie hatte seit dem Zurückgeben der Aufsätze immer noch den letzten Strafplatz inne .
Die lange Gestalt nach vorn übergebeugt , wie ein zusammengeklapptes Taschenmesser , stand sie stumm da .
" Ich wünsche eine Antwort , oder ist Ihnen Sie Sprache eingefroren ? "
Doktor Elbing war wegen seiner Ironie allgemein gefürchtet .
Olly zuckte die Achsel .
Das war ja alles so gleichgültig , wie hatte sie gestern wohl daran denken sollen , ihre Aufgaben zu machen !
" Sagen Sie Mal , Senta , " der Lehrer wandte sich zu der den Blondkopf möglichst tief in ihre Bücher Vergrabenden , " können Sie denn nicht Ihren Einfluß auf die Schwester mehr geltend machen ?
Sie sind mir stets eine liebe , fleißige Schülerin , auch Ihre heutige Arbeit ist fehlerlos , wenn Ihre Schwester selbst keinen Trieb hat , so müssen Sie das Mädchen anspornen und dafür sorgen , daß sie ihren Pflichten nachkommt . "
Senta war emporgeschnellt .
Blutübergossen stand sie da .
Sie wagte nicht , zu Olly hinüberzusehen , aber sie fühlte trotzdem deren verächtlichen Blick .
Schmückte sie sich doch schon wieder mit fremden Federn !
Die Arbeit , um derentwillen sie belobt wurde , war zum größten Teil Ollys Werk .
Die Arbeit , die den Anstoß zu der häßlichen gestrigen Streitszene zwischen ihnen gegeben .
" Setzen Sie sich , " Doktor Elbing winkte der in peinlicher Verlegenheit dastehenden Senta wohlwollend zu , " und Sie , Olly Hildebrandt , " jetzt machte er ein paar Schritte gegen den letzten Platz hin , " merken Sie sich , ich weiß sehr wohl , Sie können , wenn Sie nur wollen .
Sie sind für Geometrie begabt , lediglich Ihr mangelnder Fleiß und Ihre Teilnahmlosigkeit sind schuld daran , daß Sie nicht vorwärtskommen .
Die Oktoberzensuren sind zwar schon geschrieben , aber ich ändere sie noch , falls Sie mir bis Ende der Stunde keine Aufklärung über die fehlende Arbeit gegeben haben ! "
Der Lehrer nahm wieder seinen Platz auf dem Katheder ein und Olly den ihrigen .
Sie wußte es , mit Doktor Elbing war nicht gut Kirschen essen , wenn er einen erst auf dem Strich hatte .
Aber was sollte sie ihm denn bloß als Entschuldigungsgrund angeben ?
Blätter raschelten , Federn kritzelten wieder , eifrig beugten sich die hellen und dunklen Mädchenköpfe über die Aufgaben .
" Wetten , daß das häßliche junge Entlein den Schnabel hält und sich nicht entschuldigt ! "
Eine hohe Stimme flüsterte es so deutlich durch die Stille , daß die Worte unbedingt das Ohr Ollys erreichen mußten .
" Halten Sie gefälligst selbst den Schnabel , die Geometriestunde ist nicht zum Schnattern da ! "
Doktor Elbing hatte nur das letzte verstanden , er sah mißbilligend zu der Sprecherin hin .
Auch die übrigen Schülerinnen , die fast alle den Spottnamen kannten , vor allem Senta , blickten erschreckt und vorwurfsvoll zu Irmgard von Buschen .
Die warf den kastanienbraunen Kopf herausfordernd in den Nacken und gab die Blicke hochmütig zurück .
Sie fragte nicht danach , daß Olly Hildebrandt so weiß geworden war wie das Blatt Papier , das unbeschrieben vor ihr lag .
Daß sie die Fingernägel in die Handflächen grub , um nur nicht die Herrschaft über sich selbst zu verlieren .
So weit war es also schon gekommen !
Die ganze Klasse kannte bereits ihren Spottnamen .
Oh , die Schmach , die Schmach !
Die Stunde verrann , Olly Hildebrandt dachte nicht mehr daran , einen Entschuldigungsgrund für die fehlende Arbeit zu finden !
" Ich gehe nicht mehr in die Schule , nicht zehn Pferde bringen mich wieder hierher ! "
Das stand bombenfest in ihr .
Erst aber wollte sie Irmgard zur Rechenschaft ziehen .
Als das junge Mädchen , das Filzhütchen mit Schleier auf dem weichen Haar - Irmgard von Buschen war die einzige , die es wagte , mit einem Schleier in die Schule zu kommen - als Irmgard nach Schulschluß gerade zur Tür hinaus wollte , vertrat Olly ihr den Weg .
" Wen hast du vorhin mit dem » häßlichen , jungen Entlein « gemeint ? "
Ollys Stimme klang heiser vor Aufregung .
" Anwesende sind stets ausgeschlossen , das solltest du doch wissen , mein schönes Fräulein . "
Irmgard lachte leichtsinnig auf .
" Ich will wissen , von wem du den Ausdruck hast ? "
Olly stieß es so drohend hervor , daß es selbst der nicht leicht zu verblüffenden Irmgard unbehaglich zumute wurde .
" Pah - frage doch deine Schwester , die wird dir darüber Auskunft geben können , was geht es mich an ! "
Irmgard zuckte die schlanken Schultern , und fort war sie .
Der Heimweg von der Schule bis zur Haltestelle der Elektrischen hatte immer etwas Bitteres für Olly .
Auf diesem Endchen empfand sie es ganz besonders , daß sie keine einzige Freundin hatte .
Lachend und kichernd zog Senta , zu drei und vieren untergeärmelt , mit den Kameradinnen voran , während Olly wie ein störrischer , bissiger Köter allein hinterhertrabte .
" Herrgott , wo bleibst du denn wieder ? "
Das war das einzige , womit Senta an der Haltestelle von der Schwester Notiz zu nehmen pflegte ; denn nach Hause mußten sie zusammen kommen .
Heute war der Zwischenraum zwischen den beiden Schwestern größer als je .
Senta schlug das Gewissen und trieb sie vorwärts .
Außerdem traf sie , wenn sie rasch ging , die netten Studenten vom Tennis und von der Eisbahn .
Es war ein beseligendes Gefühl für das blonde Backfischchen , wenn die bunten Mützen ehrerbietig wie auf Kommando in die Luft flogen .
Olly grüßte keiner .
Von allen Sportvergnügungen zog sie sich zurück , man kannte sie nicht .
Auch bohrte sie stets mit ihren Blicken ein Loch in das Steinpflaster , sie würde einen Gruß noch nicht einmal beachtet haben .
Als Senta die Haltestelle erreichte , war die Elektrische gerade im Begriff , abzugehen .
Einen Augenblick schwankte das junge Mädchen , sollte es hinaufspringen ?
Dann ging es dem ungemütlichen Beisammensein mit Olly am besten aus dem Wege .
Aber Papa hatte anbefohlen , daß sie beide gemeinsam fuhren - ach was , warum trödelte die denn auch so lange !
Den Tod konnte man sich ja bei diesem Sturm an der zugigen Ecke holen .
Dazu hatte Senta ihr junges Leben zu lieb .
Schon schwang sie sich graziös auf das Trittbrett und winkte den Freundinnen ein lachendes Lebewohl zu .
In diesem Augenblick bog auch Olly um die Ecke , und mit ihr zugleich der Oktoberwind .
Der packte sie bei ihren schwarzen Defreggerzöpfen und riß ihr - hast du nicht gesehen - die graue Lodenmütze vom Kopf .
Hinter der elektrischen Bahn wirbelte er sie her , Olly mußte ihre langen Beine in Trab setzen und dem Ausreißer nachfolgen .
Die Mitschülerinnen hielten sich die Seiten vor Lachen über des häßlichen jungen Entleins plumpe Sprünge , und hinter dem Glasfenster der Bahn hervor lugte ein spitzbübisch lachendes Mädchengesicht .
Senta gönnte Olly diese Blamage .
Finster stülpte Olly die endlich ergatterte Mütze auf den Kopf : Verbündete sich nicht selbst Wind und Wetter gegen sie ?
Finster blickte sie hinter der Schwester her .
Sentas augenscheinliche Flucht erschien ihr feige und verächtlich - " aber wart ' du nur , du sollst mir schon Rede stehen ! "
Es war am Nachmittag desselben Tages .
Olly hatte keinen ihrer Angehörigen , nicht einmal Fräulein Arnold , zu sehen bekommen .
Das Essen wurde ihr auf ihrem Zimmer serviert .
Sie schämte sich grenzenlos vor den Dienstboten , daß sie wie ein Kind bestraft wurde .
Am liebsten hätte sie , wie am Abend zuvor , alles unberührt gelassen und sich dem langsamen Hungertode preisgegeben .
Aber ihr gesunder Organismus verlangte sein Recht .
Und das Schmählichste daran war , daß es ihr trotz ihres Herzeleids vorzüglich schmeckte .
Senta hatte ihre Schularbeiten so lange als möglich aufgeschoben und sich in den unteren Räumen herumgedrückt .
Sie hoffte , daß Olly das gemeinsame Zimmer verlassen würde .
Aber Olly tat ihr diesen Gefallen nicht , Olly wartete .
Sie konnte es unmöglich hingehen lassen , daß Senta sie dem Spotte der ganzen Klasse preisgab .
Als die jüngere Schwester schließlich trällernd , als ob nichts geschehen sei , das Stübchen betrat , war Olly gerade dabei , ihre Blumen auf dem Blumentischchen unterzubringen .
Liebevoll suchte sie für jedes Pflänzchen den besten , geschütztesten Platz .
Jetzt aber ließ sie ihre hübsche Arbeit im Stich und wandte sich jäh um .
" Willst du vielleicht die Güte haben und mir Irmgard von Buschens heutige Worte erklären ? " fragte sie kurz .
" Welche ? "
Senta stellte sich dumm .
" Du weißt sehr gut , was ich meine , die , welche bereits die ganze Klasse kennt ! "
" Ich rede überhaupt nicht mit dir nach deinem gestrigen Benehmen ! "
Senta fand es für geraten , selbst die Beleidigte zu spielen .
" Laß deine Mätzchen ! " herrschte die Große sie an .
" Schämst du dich gar nicht , solch einen Schimpfnamen für deine eigene Schwester zu erfinden und ihn dann noch in herzlosester Weise in der Klasse herumzuposaunen ? "
Das blonde Backfischchen duckte sich förmlich unter dem verächtlichen Ton der älteren Schwester .
" Ich habe ihn gar nicht erfunden , er stammt . . . "
Sie machte jetzt doch eine Pause , denn Wolfgang Steinhardt , der sie gestern erst gebeten , liebevoll gegen Olly zu sein , tauchte mahnend vor ihr auf .
" Woher - woher stammt der Name ? "
Olly schüttelte die Schwester , ohne es zu wissen , in ihrer Aufregung an der Schulter .
" Laß los - du - willst du mich vielleicht wieder schlagen ? "
Senta machte sich ungestüm frei .
Olly ließ schlaff die Arme sinken .
" Bitte , sage , von wem der Name kommt ! "
Olly sah die Schwester an wie das Reh , das die Brust der todbringenden Kugel darbietet .
Senta fühlte , daß sie Olly weh tun würde , und zum erstenmal erwachte ein schwesterliches Gefühl in ihr .
" Ich möchte es lieber nicht " , meinte sie kleinlaut , nicht nur aus Furcht vor Wolfgangs Vorhaltungen .
Ollys noch eben bittende schwarze Augen bohrten sich drohend in die sanften Blauaugen .
Das reizte Senta .
" Also meinetwegen - Wolfgang Steinhardt hat den Beinamen für dich herausgefunden , nun weißt du es . "
" Du lügst ! "
Gellendes klang Ollys Stimme .
" Frag ' ihn doch selbst ! "
Senta lachte hell auf .
Sie wußte es ja ganz genau , daß Olly sich lieber die Zunge abbeißen würde , ehe sie den Freund befragte .
Jede weiche Regung war bei ihr wieder geschwunden .
Wortlos verließ Olly das Zimmer .
Sie mochte den Kampf , der in ihr wütete , nicht vor Sentas Augen auskämpfen .
Draußen im Garten der Herbststurm , der vom Kanal daherfuhr , hier Zweige knackte , dort Äpfel und Nüsse abschlug , der in einer toten Blätterwolke die Gartenpfade entlangbrauste , der war ihr gerade recht in ihrer augenblicklichen Stimmung .
Sie ließ sich vom Winde treiben , und je mehr er an ihr riß und zerrte , um so lieber war es ihr .
" Reißt - zerrt an mir - alle - alle . . . "
Immer wieder bildeten ihre Lippen diesen Text zu dem wilden Sang des Oktoberwindes .
Aber allmählich kühlte sich ihr heißes Blut , sie wurde ruhiger .
Hatte sie denn wirklich so fest geglaubt , daß der Schmähnamen Sentas Kopf entsprungen sei , und Wolfgang Steinhardt ihn nur aufgegriffen und wiederholt habe ?
Ja , denn sonst hätte die unumstößliche Tatsache sie nicht so schmerzhaft getroffen .
" Olly , du holst dir den Tod bei dem Wetter ohne Mantel hier draußen ! "
Rudi kam ihr entgegen .
" Was liegt an mir ? "
Olly stieß es bitter hervor .
Der Bruder blieb vor ihr stehen und packte sie bei den dünnen Armen .
" Brrr - Mädel , wie siehst du aus . . . "
" Ich weiß allein , wie garstig ich bin , du brauchst es mir nicht noch mitzuteilen . "
Ollys Stimme klang wie eine zersprungene Saite .
" Aber Olly , das wollte ich doch nicht damit sagen , " Rudi machte ein ganz bestürztes Gesicht , " ich meinte doch bloß , du siehst so schrecklich elend aus !
Ganz bleich , und die Augen so tief umschattet - sage , hast du dir Papas Philippika wirklich so sehr zu Herzen genommen , du Dummchen ? "
Trotz der letzten Schmeichelei taten die herzlich warmen Worte des Bruders Ollys frierendem Herzen wohl .
Rudi war der beste von den Geschwistern , Olly hielt besonders viel von ihm , um so mehr kränkten sie seine häufigen Hänseleien .
Sie gab keine Antwort , sie wollte sich nicht weich machen lassen .
Der Bruder würde sie gerade so enttäuschen , wie der Freund sie enttäuscht hatte !
Rudi war unschlüssig stehengeblieben .
Olly war wieder störrisch und unzugänglich wie immer .
Das gescheiteste war , er ließ das unliebenswürdige Ding einfach laufen .
Aber da war etwas in ihrem Blick und auch vorhin in ihrer Stimme gewesen , das ihn gegen seine Überzeugung voll Mitleid bei ihr bleiben ließ .
" Du , Olly , komme ins Haus , du erkältest dich . "
Er zog ihren Arm durch den seinen .
Wie in einem Traum ließ die Schwester es geschehen .
Gab es denn wirklich noch jemand auf der Welt , der sie nicht verabscheute , der mit ihr Arm in Arm gehen mochte ?
Das vollständig zu Boden getretene Selbstbewußtsein des jungen Mädchens begann leise und zaghaft wieder den Kopf emporzuheben .
Als sie die zum Portal emporführende Freitreppe erreicht , wandte sie errötend den Kopf Rudi zu .
" Bitte , laß uns noch einmal durch den Garten gehen " , bat sie leise , denn sie schämte sich , daß sie den Arm des Bruders noch nicht freigeben mochte .
Rudi verstand ihr zartes Empfinden nicht , aber er war froh , daß sie überhaupt wieder sprach .
" Meinetwegen , " sagte er , " aber dann komme wenigstens mit in mein Cape . "
Und er schlang den Arm mit dem Lodencape zugleich um die vor Kälte und Aufregung zitternde Mädchengestalt .
So schritten die Geschwister stumm durch den entblätternden Herbstgarten .
Ja - war es denn noch Herbst , kaltes , unfreundliches Herbstgrau ?
Olly erschien der wolkendüstere Oktoberhimmel jetzt nicht mehr drohend und finster , das stumpftote Braun von Baum und Busch erglimmte zu farbenfreudigem Leben , und der Sturm , der sie noch soeben gezaust , konnte ihr in Rudis Mantel nichts mehr anhaben .
Da drinnen war es warm und wohlig .
Die Eiskruste , welche die letzten Tage um Ollys Herz hatten erstarren lassen , begann in dem warmen Arm des Bruders langsam aufzutauen .
Auch Rudi war es eigentümlich zumute .
Hundertmal war er mit der blonden Senta Arm in Arm lachend durch den Garten geschlendert .
Aber das war etwas anderes gewesen als dieses schweigsame Beieinander heute mit Olly .
Es fiel ihm ein , daß er seit Jahren sich zum erstenmal wieder brüderlich gegen die Schwester zeigte .
Heute wies Olly ihn nicht zurück , wie so oft , wenn er sie mit seinen jungenhaften Neckereien aufzog .
War es Täuschung , oder hatte sich das sonst so abstoßende Mädel soeben wirklich fester in seinen Arm geschmiegt ?
Ihm kam der Gedanke , daß er Olly gegenüber viel gutzumachen habe .
" Du , Olly , soll ich Papa bitten , daß er dich wieder bei Tische essen läßt ? " fragte er aus seiner versöhnlichen Stimmung heraus .
Olly schüttelte nur den Kopf .
Das Herz war ihr zu voll zum Sprechen .
" Ich habe der Senta gestern den Standpunkt klargemacht , was brauchte sie dich denn gleich bei Papa zu verklatschen - Petzen ist gemein - lieber hätte sie dir wieder eine Maulschelle geben sollen , dann wäret ihr quitt gewesen ! " philosophierte Rudi .
Olly war bei seinen Worten die Schamröte über ihr gestriges Tun ins Gesicht gestiegen .
" Wir wollen nicht von Senta sprechen " , meinte sie leise , denn sie fror wieder in Gedanken an die Schwester .
" Ich wollte Papa bitten , mich aus der Schule zu nehmen " , fuhr sie fort - wie merkwürdig , daß sie plötzlich jemand hatte , gegen den sie sich aussprechen konnte .
" Nanu - wieso denn ?
Du bist doch erst Ostern fertig , haste was ausgefressen ? "
Rudi zog die Augenbrauen hoch .
" Nein - aber . . . "
Unschlüssig blickte Olly den Bruder von der Seite an .
Es war doch nicht so leicht , das , was sie im Innersten verwundet , hier in Worte zu fassen .
Aber als sie Rudis treuherzig ermunterndem Blick begegnete , überwand sie sich .
" Sie verspotten mich in der Schule - sie machen sich über mich lustig - alle - geradeso wie zu Hause , und Senta ist schuld daran ! " klagte sie leise .
Nichts hätte Rudi sein eigenes Verhalten schärfer verurteilen lassen können als Ollys schlichte Klage .
" Geradeso wie zu Hause . "
Hundsgemein hatte er sich ja ebenfalls zu dem armen Ding benommen , aber - es sollte anders werden !
" Das mußt du dir nicht so zu Herzen nehmen , Olly , sie meinen es sicher nicht böse , auch Senta nicht , die ist nur übermütig und leichtsinnig " , tröstete er .
Olly schluckte .
Sollte sie es Rudi anvertrauen , welchen Schimpf man ihr in der Schule angetan , wie man sie dort allgemein nannte ?
Nein , sie mochte in ihr schönes Beisammensein nicht diesen Mißklang bringen .
" Wenn ich dir raten soll , Mädel , so kommst du Papa nicht mit deinem Schulabgang .
Er ist heute mittag sowieso nichts weniger als rosiger Laune gewesen , sogar Fräulein Arnold traute sich kaum , ihn anzusprechen .
Die neue Maschine funktioniert nicht so recht , da ist_es die ungeeignetste Zeit für deine Bitte .
Überhaupt , was willst du zu Hause ?
Auf deinem Zimmer hocken ?
Mit Fräulein Arnold stehst du doch auch nicht gut " , ließ der Primaner seinem Herzen freien Lauf .
Ja , was sollte sie denn zu Hause ?
Überflüssig war sie dort wie überall !
Aber Rudi ließ kein bitteres Grübeln bei ihr aufkommen , er fuhr fort :
" Ich sehe auch nicht den geringsten Grund ein , Olly , daß du fahnenflüchtig werden willst .
Im Gegenteil , ich würde mich zusammennehmen und meinen Stolz dreinsetzen , in den Schulstunden alle zu übertrumpfen und ihnen zu imponieren !
Dann werden sie schon Respekt vor dir bekommen und dich nicht mehr verlachen .
Und tun sie es trotzdem , weißt du , es macht ihnen ja nur Spaß , solange sie sehen , du ärgerst dich darüber .
Wenn du dich gar nicht darum kümmerst , hören sie schon von selbst auf .
Glaub es mir , ich spreche aus Erfahrung - leid genug tut mir es jetzt ! "
Das waren ehrliche , gerade Worte , eine gute Medizin für ein wehes Gemüt .
Olly griff denn auch unter dem Cape nach Rudis Hand und drückte sie herzhaft .
" Rudi , was du mir heute gegeben hast , ist mehr , als daß ich dir dafür danken kann .
Daran will ich denken , wenn du Mal wieder eklig zu mir bist ! "
Aus tiefstem Herzensgrunde kam es Olly .
Sie wußte es selbst nicht klar , nur dunkel empfand sie es , daß der Bruder ihr den Glauben an sich selbst zurückgegeben hatte .
" Ich will nicht wieder eklig zu dir sein - Ehrenwort , rechte Hand ! "
Der Junge schüttelte Olly fast den Arm aus dem Gelenk .
Unweit der Villa machte sich Olly aus dem Lodencape frei .
Denn auf dem Erkersitz im Wohnzimmer , früher Mamas Lieblingsplatz , saß Fräulein Arnold und blickte durch die Scheiben mit erstaunten Augen auf die seltsame Gruppe .
In der Diele ließ Herbertchen seine Bleiregimenter gegeneinander aufmarschieren , er hatte hier den besten Platz für seine Kriegsübungen .
Als der junge Feldmarschall Ollys ansichtig wurde , schwang er streitbar seine Fahne gegen sie und begann nach den Klängen " Deutschland , Deutschland über alles " mit Trompetenstimme " Olle , Olle , Olle , Olle " in Musik zu setzen .
Die Schwester war heute sanftmütig wie ein Lamm , stillschweigend schritt sie unter den Klängen der Hymne die Treppe empor .
Rudi aber packte den Sextaner bei seinen Locken .
" Warte , mein Bürschchen , wenn du noch Mal frechdachsig gegen deine große Schwester sein wirst ! "
Er zog den Kleinen an den Haaren , daß dieser in ein lautes Wehgeheul ausbrach .
Was war denn bloß in Rudi gefahren ?
Sonst hatte er ihn doch immer noch angestiftet , wenn es galt , Olly zu ärgern , und er war doch oft schon viel frecher zu ihr gewesen !
Fräulein Arnold , die auf Herbertchens Lamento erschien , meinte lächelnd :
" Das ist recht , Rudi , daß Sie sich als Ritter der verfolgten Unschuld annehmen ! "
Dieses Lob traf Rudis Jungenstolz empfindlich .
" Ach wo " , wehrte er verlegen ab und begann sich seiner Guttat gegen Olly heimlich zu schämen .
Diese aber hatte sich , ohne auf die den französischen Konjunktiv lernende Senta zu achten , an ihr Arbeitstischchen gesetzt .
Mit großen Augen sah Senta , wie Olly voll Eifer schrieb und schrieb .
Nanu , was war denn mit der los ?
Wollte die etwa in der letzten Woche vor den Zensuren noch nachholen , was sie das Halbjahr über versäumt ?
In Olly hatten Rudis Worte eine unglaubliche Schaffenskraft entzündet .
Energie besaß sie immer , aber für die Schule lohnte es ihr nicht , dieselbe anzuwenden .
Jetzt aber wollte sie .
Jetzt wollte sie den dummen Dingern in der Klasse , die sie über die Achsel ansahen , vor allem Senta , zeigen , daß sie konnte , wenn sie nur wollte .
Sie schrieb und lernte , daß ihr der Kopf brummte .
Denn Lücken von vielen Monaten lassen sich nicht in ein paar Stunden ausfüllen .
Je mehr Olly in das Loch , das ihr Wissen aufwies , hineinstopfte , um so erschreckender wurde sie inne , wie tief dieses Loch war .
Da gehörte emsige Arbeit dazu , um ihre lange Teilnahmlosigkeit am Unterricht wieder wettzumachen .
Aber Rudis Worte hatten ihr das Rückgrat gestählt .
Wie schön , daß sie oben in ihrem Zimmer essen konnte !
Da brauchte sie das Lernen nicht dabei zu unterbrechen .
Das , was ihr noch heute mittag als entehrende Strafe erschienen , hatte durch die Arbeit seinen bitteren Stachel verloren .
Und noch eins half die Arbeit zurückdrängen .
Das fruchtlose Grübeln und Nachdenken über den Spottnamen , den man ihr angehängt .
Olly vergaß für einige Stunden ihren Gram .
Auch als sie im Bette lag , machte ihr der französische Konjunktiv , den sie sich noch zuletzt einzutrichtern versucht hatte , so viel in Gedanken zu schaffen , daß gar kein Denken für anderes , Unerfreuliches , blieb .
Nur an Rudi und seine Kameradschaftlichkeit dachte sie noch im Einschlafen .
Das löste alles Herbe in dem jungen Gesicht und wischte die häßliche Falte von der Stirn .
Aus dem grünen Efeukranz an der Wand blickten heute die Mutteraugen zufrieden auf ihr sanft schlummerndes Kind .
Doktor Elbing war versöhnt .
Olly hatte ihm zu Beginn der Physikstunde die nachträglich gefertigte Geometriearbeit auf das Katheder gelegt .
Allerdings zu einer Entschuldigung hatte sie sich nicht aufschwingen können .
Die wollte nun einmal nicht über die trotzigen Mädchenlippen .
Jedoch Doktor Elbing war ein verständiger Mann .
Er verlangte nicht alles auf einmal , er nahm die Tat für die Entschuldigung .
Im Laufe der Physikstunde , die für Olly stets besonderes Interesse hatte , wenn sie auch tat , als ob die ganze Sache sie nichts anginge , zuckte ihr Arm plötzlich empor , da keine eine zufriedenstellende Erklärung für Adhäsion und Kohäsion zu geben vermochte .
Aber erschreckt zog sie ihre Hand schnell wieder zurück .
Scheu blickte sie um sich , hatte es auch keiner gesehen , daß sie sich von selbst gemeldet ?
Doktor Elbing hatte trotz seiner Kurzsichtigkeit die plötzliche Bewegung wahrgenommen .
" Nun , Olly Hildebrandt , können Sie es uns am Ende sagen , eine blinde Henne findet auch manchmal ein Korn ! " scherzte der Lehrer .
Die Klasse kicherte über den Witz .
Olly aber bis sich auf die Lippen .
Nein , sie brachte keinen Ton heraus , wenn Doktor Elbing sich so voreingenommen zeigte .
Daß sie selbst durch monatelange Gleichgültigkeit den Grund dazu gelegt hatte , bedachte sie natürlich nicht .
Was für ein schadenfrohes Gesicht Irmgard von Buschen machte !
Rudis Worte : " Du mußt ihnen imponieren , dann werden sie schon nicht mehr lachen ! " wurden in ihr laut .
Und ehe sie wußte , was sie tat , war sie aufgestanden und hatte , ohne zu stocken , geantwortet : " Adhäsion ist die Kraft , mittels der die Oberflächen zweier verschiedener Körper aneinander haften - Kohäsion ist die Kraft , durch welche die Teilchen ein und desselben Körpers sich aneinanderschließen . "
Es war , als ob eine ganz andere aus ihr sprach .
Doktor Elbing war so erstaunt über ihre richtige Antwort , daß er sich die Brillengläser putzen mußte .
Dann blinzelte er sie durch die funkelnden Gläser an und sagte schmunzelnd :
" Brav !
Olly Hildebrandt wird noch das Lumen der Klasse Ja . "
Diesen Witz hätte er nicht machen sollen .
Die Klasse , die noch eben geradezu erstarrt auf die fast immer stumme Letzte gesehen , brach in ein wieherndes Gelächter aus .
Ollys mimosenhaftes Empfinden aber kroch wieder ganz in sich selbst zurück .
Nicht um alles in der Welt hätte sie sich in dieser Stunde wieder gemeldet .
Aber Doktor Elbing wartete das auch gar nicht ab .
Zweimal , da Senta , die Physik für das geisttötendste Zeug der Welt hielt , nichts zu antworten wußte , wandte er sich an Olly .
Diese schwankte , ob sie sprechen sollte .
Aber die Verlockung , Senta , die stets auf sie herabblickte , auch einmal auszustechen , war zu groß .
Olly gab die richtige Antwort .
Merkwürdigerweise aber hatte sie kein erhebendes Gefühl danach , sondern solch eine lästige Empfindung , als ob sie sich unschwesterlich gegen Senta benommen hätte .
Und das hatte doch diese wahrhaftig nicht um sie verdient !
Auch in den anderen Stunden hatten sowohl die Lehrer als auch die Schülerinnen Grund , sich über die plötzlich erwachte Regsamkeit der schläfrigen Letzten zu verwundern .
" Sie will sich lieb Kind machen ! " sagte Senta laut in der Zwischenpause zu ihrer Intima Irmgard und streifte die nur in Gesellschaft ihres Frühstücksbrotes einsam im Schulhof herumspazierende Schwester mit einem feindseligen Blick .
Olly ließ sich dadurch nicht irre machen .
Sie blieb dabei , ihre Arbeiten pünktlich anzufertigen und Versäumtes nachzuholen .
Melden tat sie sich nicht mehr in den Stunden , es war ihr peinlich , sich herauszustellen .
Aber wenn sie gefragt wurde , wußte sie zu antworten .
Zuerst freilich immer noch leise und scheu , aber durch das ermunternde Wort der Lehrer begann ihre Unfreiheit sich zu verlieren .
Rudi schien recht zu behalten .
Olly Hildebrandt hörte auf , der Zielpunkt des Spottes der Klasse zu sein .
Das plötzliche Wissen der allgemein für dumm und einfältig Gehaltenen imponierte den Mädeln in der Tat .
Ja , es war sogar schon vorgekommen , daß sich eine , die eine Geometrieaufgabe nicht verstanden , an Olly mit der Bitte um eine Erklärung gewandt hatte .
Im ersten Augenblick hatte Olly es als eine Verhöhnung aufgefaßt , so sehr war sie in den Gedanken verrannt , daß man sich allgemein über sie lustig machte .
Aber als sie sah , daß es der Betreffenden Ernst mit ihrer Frage war , setzte sie allen Stolz darein , dem Glauben an ihr geometrisches Verständnis gerecht zu werden .
Da geschah etwas in der Zehnuhrpause , was Olly fast ebenso perplex machte wie die Klasse .
Katchen Lehmann , der sie vorher die Aufgabe erklärt hatte , forderte sie auf , mit ihr zu gehen .
Olly mochte das freundliche Anerbieten nicht zurückweisen , trotzdem es ihr tausendmal peinlicher war , untergeärmelt mit dem flachshaarigen Katchen durch den Hof zu pendeln , als ihre sonstige Solopromenade .
Daran war sie und die anderen seit Jahren gewöhnt .
Heute aber tuschelten sie , stießen sich an , wenn sie an den beiden vorübergingen , und drehten die Köpfe .
Es war geradezu schrecklich .
Olly war wie erlöst , als es wieder zur Stunde läutete .
Trotzdem die einsilbige Begleiterin durchaus nicht amüsant für das muntere Katchen war , stellte es sich zur Zwölfuhrpause getreulich wieder ein .
Olly Hildebrandt tat ihr leid .
Sie fühlte , daß man ihr Unrecht tat .
Und besonders von Senta fand sie es nicht schön , daß sie sich so wenig um die Schwester kümmerte .
Der wollte sie mit gutem Beispiel vorangehen .
Jetzt wandten sich die Mädchenköpfe schon seltener nach den beiden um , wie an alles im Leben , gewöhnte man sich auch an den Anblick der zwei .
Olly hatte eine Schulfreundin .
Freilich nur eine , mit der sie allenfalls die Vorkommnisse in der Klasse besprach , jedes persönliche Gespräch vermied das so wenig zugängliche Mädchen ängstlich .
Katchen war klug genug , nicht in sie mit Fragen zu dringen , sie mußten erst warm miteinander werden .
Die Lehrer waren jetzt mit ihr zufrieden - woran lag es nur , daß Olly trotz alledem nicht froh werden konnte , sondern immer noch gedrückt und mißmutig einherging ?
Nicht nur die Erinnerung an Wolfgang Steinhardts ihr angetanes Weh war es , was kein frisch-fröhliches , jugendliches Empfinden in ihr aufkommen lassen mochte .
Auch Rudis Verhalten schmerzte sie .
Auf den Bruder hatte sie nach ihrer gemeinsamen Gartenpromenade in Sturm und Nebel fest gebaut .
Und wenn er sie auch nicht geradezu enttäuscht hatte , gefoppt oder gehänselt hatte er sie seitdem nie wieder , er tat auch nichts , um ihr seine brüderliche Kameradschaft zu beweisen .
Im Gegenteil , er ging ihr geradezu aus dem Wege .
Ja , das tat er !
Als ob er Furcht vor ihr hatte , daß sie sich vertraut zu ihm stellen könnte .
Olly ahnte nicht , daß Fräulein Arnolds harmlose Worte das Aufblühen der Gemeinschaft zwischen den Geschwisterherzen im Keime erstickt hatten .
So kamen die Oktoberzensuren heran .
Sonst hatte Olly das Verteilen der Zeugnisse stets mit stumpfer Gleichgültigkeit hingenommen .
Ob da genügend , mangelhaft oder gar noch nicht genügend prangte , ließ sie völlig kalt .
Heute aber war sie doch ein wenig begierig , ob sich der Fleiß der letzten Tage nicht günstig bemerkbar machen würde .
Die Zensuren waren freilich schon seit geraumer Zeit geschrieben , aber wenn man sie noch zum Schlechten abändern konnte , vermochte man das doch auch zum Guten .
Um so niederschmetternder war das Resultat .
Olly war wie vor den Kopf geschlagen .
So schlecht war ihr Zeugnis noch nie ausgefallen .
Nur in Geometrie und Physik genügend , sonst lauter mangelhaft und ungenügend .
Freilich war noch eine Bemerkung hinzugefügt :
" Olly Hildebrandt bat sich in der letzten Woche erfreulicherweise zusammengenommen und gezeigt , daß nicht mangelnde Fähigkeiten , sondern nur Trägheit der Grund ihres Zurückbleibens ist .
Hoffen wir , daß ihr Streben von Dauer sein wird . "
Diese Klausel , die ein Lob enthalten sollte , kam einem Tadel gleich .
Wie ein Hohn auf das fleißige Arbeiten der letzten Woche erschien Olly das Zeugnis .
" Ekelhafter Wisch ! " stieß sie in ihrer Erbitterung hervor , und trotz des hinter ihr sitzenden Katchens mahnenden " Aber Olly ! " zerknüllte sie die Zensur vor den Augen des Lehrers zu einem Knäuel .
Doktor Müller , der Ordinarius , schüttelte den Kopf und sagte trocken :
" Die ist wohl nicht recht bei Troste ! "
Die Klasse jubelte , Olly war wieder der Mittelpunkt des Gespöttes .
Der Ordinarius aber ließ sich das mißhandelte Zeugnis reichen , glättete es und schrieb mit roter Tinte darunter : " Olly Hildebrandt hat sich ungebührlich benommen . "
Die blonde Senta war mit ihrer Oktoberzensur recht zufrieden .
Betragen " lobenswert " , trotzdem das Plappermäulchen ein paarmal beim Sprechen ertappt worden war , und sonst alles durchweg " gut " .
Senta strahlte über das ganze rosige Gesicht , als sie die Stufen zur Rokokovilla heraufsprang .
Den dunkelhaarigen Kopf tief gesenkt , folgte Olly .
Fräulein Arnold stand am Fenster .
Als sie die Schwestern in augenscheinlich entgegengesetzter Gemütsverfassung mit ihren Zensurmappen nach Hause kommen sah , wußte sie , was die Glocke geschlagen hatte .
Gerade als das junge Mädchen die Treppe hinauf in ihr Zimmer entwischen wollte , trat sie ihr entgegen .
Senta hing der Hausdame bereits am Hals .
" Hurra , feine Zensur , Fräulein Arnold ! "
Damit wirbelte der Unband sie im Kreise herum .
Fräulein Arnold wandte sich an die Ältere .
" Na , und du , Olly ? "
Das junge Mädchen zuckte die Achsel und wollte stillschweigend seinen Weg fortsetzen .
Aber Fräulein Arnold legte ihm die Hand auf den Arm .
" Willst du mir deine Zensur nicht zeigen ? "
" Nein ! " sagte Olly kurz und versuchte die Hand abzuschütteln .
" Ich wünsche dein Zeugnis zu sehen . "
Fräulein Arnolds Lächeln schwand .
" Und ich gebe es nicht ! "
Feindselig Maß Olly die Hausdame .
Aber ehe Olly noch wußte , wie ihr geschah , hatte Fräulein Arnold mit geschicktem Griff ihr das Zensurenheft entwunden .
" Dazu haben Sie kein Recht ! "
Olly ballte in ohnmächtiger Wut die Hände .
" Kein Recht , wo ich Mutterstelle an euch vertrete ? "
Die Dame warf einen anklagenden Blick gen Himmel .
" Mutterstelle ! " -
Olly rief es in schneidendem Ton .
" Was geht denn hier vor - Olly , vergiß dich nicht ! "
Auf der Schwelle erschien der Kommerzienrat .
Er kam heute etwas früher zu Tisch .
" Herr Kommerzienrat , " sagte Fräulein Arnold leise , " ich bin dieser ständigen Aufregungen mit Olly nicht gewachsen .
Es tut mir leid um Ihre anderen Kinder , die ich in das Herz geschlossen habe , als wären es meine eigenen , aber es ist besser , ich verlasse dieses Haus ! "
Zweistimmiges Wehgeheul erfüllte die Diele .
Senta und das schon seit geraumer Zeit neugierig herbeigekommene Herbertchen , der frischgebackene Obersextaner , packten von jeder Seite den Arm ihres geliebten Fräuleins , als ob sie ihnen sogleich entrissen werden sollte .
Oben auf dem Treppenpodest erschien Rudi mit erschrecktem Gesicht .
" Meine Kinder geben Ihnen selbst die beste Antwort , Fräulein Arnold , wir lassen Sie nicht fort !
Versuchen Sie es , bitte , noch einmal mit dem Mädchen , und geht es trotzdem nicht , " - die liebenswürdig verbindliche Art des Kommerzienrats wurde drohend , er wandte sich der mit verschlossenem Gesicht dastehenden Olly zu - " merke es dir , eher gehst du mir aus dem Hause , als daß Fräulein Arnold durch dich von uns geht ! "
" Papa - - - " schrie Olly auf und schlug die Hände vor das Gesicht .
Davongejagt sollte sie werden , sie , die Tochter des Hauses , um einer Fremden Willen !
Noch einmal wurde Ollys Zeugnis heute zusammengeballt , und zwar von Papas eigener Hand .
" Natürlich , dieselbe Leier in der Schule wie zu Hause , ungebührliches Benehmen und Faulheit dazu - man könnte wirklich verzweifeln , wenn ich euch nicht hätte ! "
Papas Blick umfaßte liebevoll seine drei Blondköpfe , die ihm alle drei zufriedenstellende Zensuren heimgebracht .
Droben in dem duftigen Mädchenzimmer saß Olly wieder Mal in tiefem Jammer .
Und wieder Mal flüchtete sie sich mit ihren Schmerzen zu Andersens Märchenbuch .
An den Verfolgungen des häßlichen jungen Entleins Maß sie die ihrigen , und es war ihr ein wonniges Gefühl , daß es ihr selbst noch tausendmal schlechter erging .
6. Kapitel .
Ungleiche Schwestern Von diesem Tage an ließ das häßliche junge Entlein seine Flügel , die es so energisch zu höherem Fluge ausgebreitet , wieder ganz entmutigt sinken .
Olly rührte in den Ferien , die sie zu ernsthafter Arbeit hatte benutzen wollen , kein Schulbuch an .
Wozu ?
Es nützte ihr ja doch nichts !
Ihr Ruf als faule Schülerin stand so fest , daß selbst das eifrigste Streben nichts daran zu ändern vermochte .
Sie beschuldigte ihre Lehrer innerlich der Ungerechtigkeit und bedachte nicht , daß sie selbst damit viel ungerechter gegen dieselben war , als umgekehrt .
Denn auf einen Hieb fällt kein Baum .
Olly mußte den Lehrern erst beweisen , daß es ihr Ernst war mit ihrem plötzlichen Anlauf zum Lernen .
Um so enttäuschter war man in der Schule nach Ablauf der Ferien von ihrer völligen Teilnahmlosigkeit : das war ja schlimmer als zuvor .
Sie machte den Mund überhaupt nicht mehr auf , verdrossen und gelangweilt saß sie wieder auf ihrem Platz .
Der Physiklehrer , Doktor Elbing , versuchte es zuerst noch öfters , das junge Mädchen dem stumpfsinnigen Vorsiechhinbrüten zu entreißen .
Er stellte Fragen an Olly , die ihr Interesse an dem Gegenstande wecken sollten , appellierte an ihre kürzlich gezeigte Befähigung für Physik und Geometrie .
Aber ebensogut hätte er das Wort an den Wandkartenständer richten können , Olly blieb geradeso leblos und stumm .
Da machte Doktor Elbing es wie die übrigen Lehrer , er ließ das teilnahmlose Mädel links liegen und bedachte es allenfalls hin und wieder mit einer seiner ironischen Bemerkungen .
Olly Hildebrandt , die bereits im Begriff gewesen war , sich die Anerkennung und Sympathien ihrer Mitschülerinnen zu erringen , wurde wieder zum Gespött der Oberklasse .
Auch das vermochte sie nicht ihrer Stumpfheit zu entreißen .
Selbst Katchen schüttelte trübselig ihren Flachskopf , wenn sie jetzt auf Olly blickte .
Sie hatte sich redlich Mühe gegeben , weiter zu ihr zu halten .
Aber Olly hatte in ihrer Verbitterung allem , was Schule hieß , den Krieg erklärt .
Sie hatte das freundliche Katchen so wenig freundlich abgewiesen , daß dieses sich gekränkt nun ebenfalls von ihr zurückzog .
Auch zu Hause ging es nicht anders .
Olly war nach jenem Zensurentag störrischer und verstockter als je .
Rudi , den einzigen , der jetzt vielleicht den Schlüssel zu ihrem Herzen gehabt hätte , hielt Dummerjungenstolz fern von ihr .
Die Schwester litt mehr darunter , als sie es sich selbst zugestand , so grenzenlos verlassen wie augenblicklich war sie sich kaum jemals vorgekommen .
Wolfgang Steinhardt ging sie mit bewunderungswürdiger Gewandtheit aus dem Wege .
Seitdem sie seine sie unbarmherzig treffenden Worte unter dem Reinettenbaum belauscht , hatte sie jede Begegnung mit ihm zu vermeiden gewußt .
Die erste Zeit , solange sie sich noch im Exil befand und nicht am Essen teilnehmen durfte , wurde ihr das leicht gemacht .
Schwieriger wurde die Sache erst , als sie Sonntags wieder bei Tisch erscheinen mußte .
Ein- oder zweimal ließ sie sich wegen Kopfschmerzen entschuldigen .
Und das war keine Unwahrheit , denn die Aufregung und die Überlegungen , wie sie sich verhalten sollte , hatten tatsächlich ein schmerzhaftes Hämmern in ihren Schläfen erzeugt .
Es war jetzt merkwürdig bei Kommerzienrats .
Für den unbeteiligten Zuschauer höchst amüsant .
Einer lief immer vor dem anderen davon .
Olly vor Wolfgang , und Rudi wiederum vor Olly .
Aber als Papa an einem Sonntagmorgen in besonders guter Laune die einsilbig vor ihrer Tasse sitzende Tochter aufzog : " Na , Olly , wie geht es heute deinen Sonntagkopfschmerzen , oder pflegen die sich erst zum Essen einzustellen ? " da hielt sie es doch für geraten , diesmal dem Mittagstisch nicht fernzubleiben .
Überhaupt , was hatte sie notwendig , vor einem Zusammentreffen mit Wolfgang Steinhardt Furcht zu empfinden !
Höchstens mußte er ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber haben .
Dies schien aber ganz und gar nicht der Fall .
Der junge Ingenieur hatte keine Ahnung davon , daß Olly von dem Ehrentitel , den er ihr angehängt , Wind bekommen hatte .
Denn Senta hütete sich wohl , etwas darüber verlauten zu lassen .
So nahm er an , lediglich die schlechte Oktoberzensur und eine damit zusammenhängende Strafe sei schuld an Ollys Unsichtbarkeit .
Als sie heute mit der Suppe zugleich an den geschmackvoll mit buntem Herbstlaub geschmückten Sonntagstisch trat , fühlte sie , wie das Blut ihr in die blassen Wangen schoß .
Ihr ohnedies finsterer Gesichtsausdruck wurde dadurch nicht liebenswürdiger .
Sie neigte den Kopf zu kurzem Gruß , ihm die Hand zu reichen , das brachte sie nicht über sich .
Dazu war sie zu wahr in allen ihren Empfindungen .
Der nichtsahnende Wolfgang nahm die kühle Begrüßung humoristisch .
Er stand auf , machte der jungen Dame eine tadellose Verbeugung und sagte :
" Mein Name ist Steinhardt . "
Alles lachte .
Olly runzelte die schwarzen Augenbrauen und setzte sich stillschweigend auf ihren Platz .
Vergeblich richtete Wolfgang während der Mahlzeit einige Male das Wort an sie .
Olly tat , als ob sie schwerhörig wäre .
Sie hatte es in der Schule allmählich darin zu einer gewissen Virtuosität gebracht .
Nur mußte sie hier jeden Augenblick befürchten , daß Papa oder Fräulein Arnold eingriffen und es wieder zu einem unerfreulichen Intermezzo käme .
Auch Wolfgang hegte dieselben Befürchtungen , und da er Olly keine Unannehmlichkeiten machen wollte und auch das Zwecklose seiner Bemühungen einsah , ließ er sie in Ruhe .
Er hielt ihr verändertes Wesen ihm gegenüber nur für backfischartige Launenhaftigkeit und freute sich an Sentas gleichmäßiger Heiterkeit .
Aber als Olly unmittelbar nach dem Gesegnete-Mahlzeit-Sagen in ihr Zimmer entwischen wollte , eilte ihr Wolfgang mit raschen Schritten nach .
Auf der Treppe stellte er sie .
" Nun sage Mal , Olly , was soll das kindische Schmollen und Beleidigtun eigentlich ! Habe ich mir unwissentlich irgendwie deine Ungnade zugezogen , dann bitte ich unterwürfigst um Verzeihung - aber verdirb mir die Stimmung nicht , Mädel , mit deinem ewigen Gekränktsein ! "
Wolfgang hielt ihr kameradschaftlich die Hand entgegen .
Olly übersah es .
Sie kräuselte schmerzlich die Lippe .
Er hatte ihr mehr als die Stimmung verdorben , als er jenen Spottnamen für sie erfunden !
Sie gab keine Antwort .
" Ich denke , wir sind Freunde , Olly , du warst doch sonst nicht so abstoßend zu mir !
Du hast mir doch öfters bewiesen , daß du anders sein kannst - warum verstellst du dich heute ? "
" Ich verstelle mich nicht , ich bin ehrlich , aber du - Sie vorstellen sich ! " rief Olly mit flammenden Augen .
Wolfgang Steinhardt tippte lachend auf seine Stirn .
" Du hast ja 'n Piepmatz , Olly ! " scherzte er mit der brüderlichen Offenheit , die er den Hildebrandtschen Kindern gegenüber stets an den Tag zu legen pflegte .
" Das verbitte ich mir ! "
Das junge Mädchen war außer sich , " überhaupt ich verbitte mir auch Ihr Du , ich bin bald siebzehn Jahre und will mich nicht mehr mit Ihnen duzen . "
" Ich mich aber mit dir . "
Wolfgang lachte ganz gemütlich .
" Dann - dann - sind Sie von heute an Luft für mich ! "
Ihre schwarzen Augen sprühten ihn zornig an , und - fort war sie .
" Du bist ein ganz unreifes Mädel ! "
Das hörte sie gerade noch , ehe sie die Tür zuschlug .
Trotzdem Wolfgang Steinhardt die Angelegenheit als Kinderei betrachtete , war ihm der Sonntag gründlich verstört .
Was hatte denn dieser Trotzkopf bloß wieder ?
Sollten Vater und Geschwister am Ende doch recht haben , daß mit Olly kein Auskommen war ?
Sollte die Schuld wirklich nur an ihr liegen ?
Und doch . . . es schmerzte ihn , daß er ihr Vertrauen wieder eingebüßt hatte .
Er hatte gehofft , Einfluß auf sie zu gewinnen und sie dadurch auch ihrer Familie näherzubringen .
Da stürmten Rudi , Senta und Herbertchen auf ihn los .
Alle drei kamen sie , um den Fahnenflüchtigen zu einem gemeinsamen Gesellschaftsspiel zurückzuholen .
Wolfgang mußte heute ein Pfand nach dem anderen geben .
Er war unaufmerksam .
Ein Gedanke war ihm plötzlich gekommen .
Sollte Senta nicht das Plappermäulchen gehalten und Olly etwa ihren Beinamen verraten haben ?
Das würde vieles erklären .
Aber der Blondkopf hatte ihm doch Verschwiegenheit gelobt .
Jedenfalls mußte er sie Mal fragen .
Beim Pfänderauslösen , als Herbertchen ein kleines Goldmedaillon in der Luft herumschwenkte und rief : " Was soll der tun , dessen Pfand ich halte in meiner Hand ? " fiel Wolfgang , der das Medaillon als Sentas Eigentum erkannte , schnell ein :
" Eine Frage der Wahrheit gemäß beantworten ! "
" Welche Frage ? " hieß es allgemein .
Das Backfischchen brannte lichterloh vor Neugierde .
" Das wirst du schon erfahren . "
Wolfgang hüllte sich vorläufig in Stillschweigen .
Senta konnte kaum noch ruhig auf ihrem Stuhl sitzen .
Sie zappelte vor Ungeduld , was es wohl sein könnte .
Immer wieder versuchte sie es herauszubekommen .
Endlich war das Spiel beendigt .
Senta zog den Freund ins Bibliothekzimmer .
" Schieße los ! " drängte sie .
" Sieh mich Mal an , Senta " , sagte Wolfgang ernst .
" Bäh ! " machte das Blondchen und ließ dabei sogar ihre niedliche Zunge sehen .
" Willst du mir meine Frage ehrlich beantworten , Kind ? " Kind - na , da hörte sich doch alles auf !
Wolfgang aber fuhr bereits fort : " Sage Mal , Sentchen , hast du vielleicht Olly etwas vom » häßlichen jungen Entlein « verraten , ich bin nicht böse , aber sage mir die Wahrheit , es würde mir vieles erklären . "
Das Backfischchen stand wie angedonnert .
" Was geht mich denn die dämliche Olly an , das lohnt sich , deshalb soviel Wesens zu machen ! "
Sie wollte zur Tür hinaus .
Denn diese Frage war ihr nicht gerade angenehm .
Wolfgang hielt sie an ihren blonden Hängezöpfen fest .
" Ich will die Antwort wissen , Senta " , bat er eindringlich .
" Au , du ziepst mich ja ! "
Sie versuchte sich loszumachen .
" Hast du etwas verraten , Sentchen ? "
" Ach , Unsinn . "
Mit einem schnippischen Knicks enteilte ihm das blonde Hexchen .
Senta wäre höchst erstaunt gewesen , wenn man ihr gesagt hätte , daß sie gelogen habe .
Noch nicht einmal geschwindelt , kaum geflunkert , nur in geschickter Weise hatte sie die gerade Antwort vermieden - das konnte ihr doch keiner verdenken .
Senta hatte ein selbstzufriedenes Gemüt , sie fand immer eine Entschuldigung für sich , wenn sie ein Unrecht begangen , während Olly sich mit Selbstvorwürfen oft zerquälte .
Wolfgang Steinhardt war beruhigt .
Er hielt Senta einer Unwahrheit nicht für fähig .
Der junge Ingenieur hätte auch kaum Zeit gefunden , noch weiter über die Launen eines unreifen Mädels nachzudenken , denn der nächste Tag brachte große Aufregung in die Fabrik .
Die neue Maschine , die schon bei der ersten Aufstellung Schwierigkeiten verursacht hatte , sollte noch einmal in Betrieb gesetzt werden .
Papa hatte beim Essen davon gesprochen , und Olly , deren Interesse geweckt war , schlich sich heimlich zum Obstgarten .
Von hier aus konnte sie einen Teil der Fabrikhöfe übersehen .
Denn auf das Fabrikterrain selbst wagte sie sich nicht .
Man war geschäftig beim Werk .
Eine große Zahl blaublusiger Arbeiter und Monteure war mit der Aufstellung des eisernen Ungetüms bemüht .
Auch die Ingenieure waren anwesend .
Zwischen den Edelobstbäumchen bemerkte Olly jenseits des Stachelzaunes zwei Arbeiterkinder .
Sie blickten sehnsüchtig zu dem großen Apfelbaum herüber , den man noch nicht seiner Früchte beraubt hatte .
Er trug Winteräpfel , die bis Ostern lagern konnten , und wurde stets als letzter geplündert .
" Kiek Mal , Maxe , die Menge Äppel ! " sagte das kleine Mädchen und steckte in andächtiger Bewunderung den Finger in den Mund .
" Drüben hat der Wind ein paar runterjeschmissen . ob ich Mal rüberflitze ? "
Der Bruder sah die Schwester pfiffig an .
" Nee , Maxe , nee , deine Hosen ! "
Die Kleine warf einen ängstlichen Blick auf den Stachelzaun .
" Und wenn_es Vater merkt , jibt's Dresche ! " setzte sie noch hinzu , sah aber dabei nur um so begehrlicher zu den rotbäckigen Früchten hinauf .
Olly hatte zuerst nicht besonders auf die Kinder geachtet .
Ihre Gedanken waren bei der neuen Maschine .
Aber die sehnsüchtigen Kinderstimmen ließen sie aufhorchen .
Ein Lächeln zuckte um die Lippen des jungen Mädchens , ein seltener Gast in dem blassen Gesicht .
Dann reckte es sich ein wenig , griff einen durch seine schweren Früchte tief herabhängenden Ast und hielt ihn über den Stachelzaun .
Die beiden Kinder wagten sich nicht zu bewegen .
War es nicht wie im Märchen , in dem sich der Obstbaum selbst zu den armen , hungrigen Kindern herabneigt ?
" Na , wollt ihr nicht pflücken ? " fragte Olly freundlicher , als sie jemals zu Hause sprach , über den Zaun herüber .
Da kam Leben in die beiden .
Eins , zwei , drei war der kleine Bengel an dem Zaun emporgeturnt , und packte nun , soviel er nur greifen konnte , während das Schwesterchen in der geflickten Schürze den unvermuteten Apfelregen auffing .
Noch ein glückliches " Dank ooch schön " , dann machten sie sich mit ihrer Beute aus dem Staube .
Sie hatten die Straße noch nicht erreicht , da begegnete ihnen Senta .
Das blonde Fräulein trug einen Tennisschläger und ein Netz mit Bällen .
Wohlerzogen machte das kleine Mädchen seinen Knicks .
Dabei rollten ihr ein paar Äpfel aus der Schürze und gerade zu Füßen des Kommerzienratstöchterleins .
Dieses stand starr .
Die Frechheit ging doch zu weit !
Am hellen lichten Tage stahl man ihnen jetzt schon ihre Äpfel !
Mit drohend geschwungenem Tennisschläger vertrat sie den beiden den Weg .
Anfassen mochte sie mit ihren weißen Händchen keine Arbeiterkinder .
" Bande ihr - ihr habt uns ja Äpfel gemaust - sofort kommt ihr mit zum Herrn Kommerzienrat , der läßt die Polizei holen ! " rief sie .
Zweistimmiges Geheul antwortete .
" War haben nicht jecklaut - nee , wahrhaftig nicht ! " beteuerte der Junge , während das kleine Mädchen unter Schluchzen hervorstieß : " Was det Fräulein is , hat se uns ja selbst jejeben ! "
" Welches Fräulein ? "
Senta glaubte den Kindern nicht .
" Na , die Häßliche ! "
Die Kleine dachte sich nichts weiter bei ihren Worten .
So wurde ja Kommerzienrats Älteste allgemein in der Fabrik genannt .
Olly , die auf das Geschrei herbeigeeilt war , hatte die letzten Worte des Kindes gerade noch gehört .
Sie brannten ihr wie Feuer auf der Seele .
Das war der Dank für ihre Guttat !
Senta hatte die Kinder vorbeigelassen und wandte sich nun der jenseits des Zaunes auftauchenden Olly zu .
" Ich werde es Papa sagen , wenn du dem Arbeiterpack unsere besten Äpfel schenkst ! " rief sie , Streit anfangend .
Ehe Olly noch antworten konnte , klang aus den Fabrikhöfen ein wüster Tumult herüber .
Rufe - entsetzte Stimmen - aufgeregtes Durcheinander .
Um Gottes Willen - war da etwas passiert ?
Olly fühlte , wie ihr Herz vor Schreck im Schlagen aussetzte .
Mit langen Schritten eilte sie den Höfen zu .
Senta folgte langsamer .
Die durcheinandersprechende und hastende Arbeitermenge wich beim Anblick des jungen Fräuleins scheu auseinander .
Olly drang herzklopfend vor .
Ein Unglück - die neue Maschine hatte ihr erstes Opfer erheischt , ein Arbeiter lag in bewußtlosem Zustand , schwer am Bein verletzt , auf der Erde .
Wolfgang Steinhardt und einige andere Ingenieure neigten sich schreckensbleich über ihn .
Papa war noch nicht zur Stelle .
Ein Monteur brachte Wasser .
Olly riß ihr Taschentuch heraus und legte es dem Bewußtlosen als Kompresse auf die Stirn .
Senta , die inzwischen auch näher gekommen , lief weinend wieder zurück .
Sie konnte kein Blut sehen .
" Bringt ihn in die Villa hinüber und holt den Arzt ! " sagte Olly zu den Umstehenden mit fester Stimme .
Ein beifälliges Gemurmel antwortete .
Man wußte es ja , das häßliche Fräulein hatte ein Herz für die Arbeiter .
Auch Wolfgang Steinhardt sah mit Staunen , wie tatkräftig das im Kreise der Ihrigen stets gedrückte Mädchen hier auftrat .
Da erschien der Kommerzienrat .
Er war bleich wie seine Angestellten .
" Wer ist es - Schulz - o weh , einer meiner Besten , - das auto - rasch , das auto , ich fahre den Mann selbst ins Krankenhaus , hier tut schnelle Hilfe Not ! " befahl er .
Jetzt erst bemerkte er Olly .
" Was hast du denn hier herumzulungern , Mädel , überall bist du im Wege ! "
Sein Schreck und seine Erregung kam gegen die Tochter zum Ausbruch .
Olly schlich sich scheu von dannen .
Einige Minuten später raste das auto der Stadt zu .
Die Gemüter der Arbeiterschaft beruhigten sich nicht so schnell .
Neben dem Mitleid für den zu Schaden Gekommenen griff Groll und Unzufriedenheit darin Platz .
Die Leute murrten .
" Ins Krankenhaus - den Schwerverwundeten erst noch transportieren - warum nicht in die Villa rüber , wie das Fräulein wollte - die Villa ist wohl zu vornehm für unsereins ! " so brummte man durcheinander .
Die Arbeiter verkannten die gute Absicht ihres Brotherrn , der mit seiner Umsichtigkeit sofort den Ernst der Lage und die Notwendigkeit eines schnellen chirurgischen Eingriffs übersehen .
Wo die Saat der Unzufriedenheit und des Mißtrauens aber erst einmal Wurzel geschlagen , da schießt sie auch in unheilvoller Üppigkeit empor .
Ob früher oder später !
7. Kapitel .
Märchenbilder In der Rokokovilla war die Aufregung natürlich groß .
Der Kommerzienrat brachte schlechte Nachricht mit heim .
Das Bein des Ärmsten war verloren , es mußte abgenommen werden .
Stumm und beklommen lauschte man seinem Bericht .
Nur Olly , die sonst stets teilnahmslos zu allem schwieg , machte heute den Mund auf und fragte :
" Wird denn für den Mann und seine Familie gesorgt , wenn er durch uns arbeitsunfähig geworden ist ? "
Der Kommerzienrat runzelte die Stirn .
" Das verstehst du nicht ! " sagte er .
Olly gab sich nicht zufrieden .
" Aber warum verstehe ich das nicht ? " fragte sie trotz der beschwichtigenden Blicke von Fräulein Arnold noch einmal .
" Herrgott , Mädchen , mußt du denn immer ein Aber haben - immer widerhaarig ! " brauste Papa auf .
Dann wandte er sich zu Fräulein Arnold und Rudi : " Die Berufsgenossenschaft ist natürlich dafür haftbar , falls nicht eigene Unvorsichtigkeit nachgewiesen wird . "
" Vielleicht können auch wir unser Scherflein für den Unglücklichen beisteuern " , begann da Fräulein Arnold ein wenig zaghaft , denn sie wußte nicht , wie der Kommerzienrat ihre Worte auffassen würde .
" Ich meine durch irgendein Wohltätigkeitsfest zugunsten des Armen .
Am 3. Dezember hat Sentchen Geburtstag , da wollte sie sowieso ihre Freundinnen einladen - wie wäre_es , wenn wir lebende Bilder stellten und an alle Freunde und Bekannte Einladungen dazu verschicken würden ?
Zuletzt sammeln wir für den Verunglückten , und wenn der Wohltätigkeit keine Schranke gesetzt wird , kriegen wir sicherlich eine hübsche Summe zusammen . "
Fräulein Arnold hatte zum Schluß zu wieder mit ihrer sonstigen Sicherheit gesprochen , denn sie sah , wie sich des Kommerzienrats Mienen bei ihren Worten aufklärten .
" Famos " - jubelte Senta los - " famos , lebende Bilder und nachher Abendbrot und Tanz ! "
Sie war Feuer und Flamme für die Idee .
Papa strich sich seinen Schnurrbart , er lächelte schon wieder über die Begeisterung seines Töchterchens und nickte der Hausdame beistimmend zu .
" Bravo , ich habe nichts dagegen , wenn auch ihr euer Scherflein dazu beitragen und euch in den Dienst der Wohltätigkeit stellen wollt .
Nun seht nur zu , daß ihr auch hübsche Bilder herausfindet . "
Fräulein Arnold lächelte erfreut , Senta aber rief :
" Und Tanzherren lade ich mir auch ein , au , fein wird_es ! "
" Wir könnten Bilder aus den griechischen Sagen stellen , " meinte Rudi - " nee , Indianerbilder ! " überschrie ihn Herbertchen .
" Und eine Sektbowle muß es geben , ja , Papachen , bei Buschens gab es Erdbeerbowle ! " schmeichelte Senta zärtlich .
Olly griff sich an die Stirn .
Sie fühlte sich wieder fremd im Kreise der Ihren , sie verstand sie gar nicht .
Ein Fest - Sektbowle , lebende Bilder - wie konnte man bloß an so etwas denken , wo solch schreckliches Unglück passiert war !
Und all das wollte man um des Arbeiters Schulz Willen arrangieren ?
Tanzen , wo er sein Bein eingebüßt hatte ?
Unsinn - Olly sagte es sich voll Bitterkeit , amüsieren wollte Senta sich vor allen Dingen !
Wäre es nicht gescheiter .
Senta verzichtete auf die Geburtstagsfeier , die viel Geld kosten würde , und man gab diese Summe dem Armen ?
Inzwischen erörterten die anderen lebhaft die Frage , wen man zu den lebenden Bildern alles auffordern wollte .
Senta setzte sofort eine lange Liste ihrer Freundinnen auf .
" Und du , Olly , wen möchtest du dazu haben ? " wandte sich Fräulein Arnold , die Olly nicht zurücksetzen mochte , an die Schweigsame .
Olly machte ein Gesicht , als ob sie die ganze Sache nichts anginge .
Sie schwieg .
Senta lächelte vielsagend . . .
Olly und Freundinnen !
Das ärgerte die Große .
Trotzdem sie eben noch gegen das Fest gewesen , sagte sie , um zu beweisen , daß sie nicht ganz einsam dastände :
" Ich möchte Katchen Lehmann auffordern . "
Aber als sie es ausgesprochen , ärgerte sie sich noch viel mehr .
Nun war sie sich selbst ungetreu geworden , nun hatte sie gemeinsame Sache mit Fräulein Arnold und Senta gemacht !
In der Schule verursachte der Unglücksfall und das bevorstehende Wohltätigkeitsfest bei Kommerzienrats begreifliche Aufregung .
Man brüstete sich damit , mit Senta befreundet und zugezogen worden zu sein .
Selbst auf Olly fiel ein matter Abglanz des Ruhmes .
Als Katchen Lehmann , die mit Senta nicht verkehrte , sich bei Olly für die Einladung bedanken wollte , wies die sie schroff zurück .
Sie wollte nichts sehen und nichts hören von all dem Rummel .
In der Rokokovilla dachte und sprach man jetzt eigentlich von nichts anderem .
Nach langem Hin und Her , Für und Wider , nach den abenteuerlichsten und unmöglichsten Vorschlägen hatte man sich endlich auf Märchenbilder geeinigt .
Senta sollte als " Märchen " zuerst die Gäste mit einigen Versen begrüßen und die Bilder einleiten .
Beim Sonntagnachmittagskaffee war_es , als man endlich zum Resultat gekommen .
Auch die Reihenfolge der Bilder war festgesetzt , nun handelte es sich nur noch um die Rollenverteilung .
Senta hätte am liebsten jede Rolle übernommen .
Sie wollte Dornröschen sein , Schneewittchen und Aschenbrödel , aber bei dem Schneeflockentanz im letzten Bild " Frau Holle " wollte sie natürlich auch mitwirken .
Denn ihr Geburtstag war es doch !
" Mädel , du kannst dich doch nicht vervielfältigen " , lachte der Kommerzienrat , dem die Sache viel Spaß machte .
" Du mußt deinen Freundinnen , wenn du sie zum Mitspielen ausgefordert hast , doch auch etwas überlassen , Sentchen " , stellte Fräulein Arnold lächelnd vor .
" Und welche Rolle wird Olly geben ? " fragte da Wolfgang Steinhardt , dem es weh tat , daß man die Älteste einfach überging .
Olly warf ihm einen feindseligen Blick zu .
Wollte der sich über sie lustig machen ?
Fräulein Arnold und Senta sahen sich ratlos an .
Was - Olly sollte auch mitspielen , daran hatte man noch nicht gedacht .
Man konnte sich doch die Bilder unmöglich durch ihren Anblick verderben !
" Olly könnte vielleicht » Frau Holle « im letzten Bilde geben " , meinte Fräulein Arnold endlich , froh , einen Ausweg gefunden zu haben .
Frau Holle konnte so garstig sein , wie sie wollte .
" Oder die Hexe in » Hänsel und Gretel « ! " fiel Senta übermütig ein .
Papa drohte ihr .
Um Ollys Lippen zuckte es .
Aber sie beherrschte sich .
" Ich halte das Aschenbrödel , das zu Hause von den bösen Schwestern zurückgesetzt wird , für passender " , meinte Wolfgang Steinhardt .
Trotzdem Olly sich neulich so unliebenswürdig gegen ihn gezeigt , nahm er sich ihrer an .
Unzufrieden sah er zu dem Blondkopf hinüber .
Senta ließ sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen .
" Haha , das Aschenbrödel , " lachte sie , " die Olly das Aschenbrödel , welcher der kleinste Schuh paßt , die mit ihrer Elefantenpfote - - - "
" Senta ! " unterbrach Papa sie jetzt mahnend .
Olly hatte klirrend ihre Tasse fortgeschoben und sich erhoben .
Alles Blut war ihr aus dem Gesicht gewichen .
Sie empfand nicht die gute Absicht , die Wolfgangs Worten zugrunde gelegen , nein - vor allem hatte er sie mit ihrem Zurückgesetztwerden demütigen wollen .
Es sauste und brauste in ihrem Kopf , sie wußte kaum noch was sie tat .
" Wenn ich überhaupt bei den Märchenbildern mitspiele , gebe ich nur das häßliche junge Entlein ! " rief sie mit tränenheiserer Stimme , und da knallte auch schon die Tür hinter ihr ins Schloß .
Eine atembeklemmende Stille trat nach diesen Worten ein .
Wolfgang Steinhardt war im ersten Augenblick aufgesprungen , als wolle er hinter dem jungen Mädchen her .
Dann besann er sich und setzte sich wieder auf seinen Platz .
Streng und vorwurfsvoll suchte sein blaues Auge das Sentas .
Die aber tat ihm nicht den Gefallen , ihn anzusehen .
Verwirrt und erschrocken hatte sie zuerst die elektrische Bronzekrone so eingehend betrachtet , als sähe sie dieselbe heute zum erstenmal .
Dann aber begann sie auf Mord den vor ihr liegenden Zettel zu beschreiben , dabei war alles dummes Zeug , was sie da notierte .
Diese Olly - einen so gemein und jählings zu verklatschen !
Keiner wagte zu sprechen .
Fräulein Arnold und die Brüder , die Ollys Spottnamen von Senta auch schon erfahren , sahen sich unsicher an .
Der Kommerzienrat war der einzige , der die schwüle Situation nicht begriff .
" Ihr müßt Olly nicht so arg aufziehen , " sagte er , " das Mädel ist jetzt wieder schrecklich gereizt .
Also wann findet die erste Probe statt ? "
" Sobald als möglich , Papachen . "
Senta war glückselig , daß der Bann gebrochen .
" Ein Vetter von Leutnant von Treuenfels ist Maler , ich habe ihn beim Tennis kennen gelernt , der will uns beim Stellen der Bilder behilflich sein . "
Ihre Worte überstürzten sich wie Wellen , die alles Vorangegangene davonspülen wollten .
Aber das gelang ihr nicht .
Denn Wolfgang Steinhardt war zäh und eisern wie seine Maschinen , die er konstruierte .
" Senta , ich möchte dich sprechen " , sagte er aufstehend .
" Bitte . "
Sie blieb sitzen .
Er schwankte .
Sollte er den kleinen Blondkopf hier vor den anderen blamieren ?
Wenn_es der Kommerzienrat erfuhr , daß sie die Unwahrheit gesprochen , setzte es sicherlich selbst für seinen Liebling ein Donnerwetter ab .
" Willst du mir nicht einen Augenblick ins Nebenzimmer folgen ? "
" Nee . "
Senta wagte noch immer nicht , den Freund anzusehen , aber sie gewann allmählich ihre Unverfrorenheit zurück .
" Ich habe jetzt Wichtigeres zu tun .
Also Herbertchen ist der kleinste Zwerg im Schneewittchenbild , Rudi der Koch aus Dornröschen , und du , Wölfchen ?
Willst du den Königssohn geben , dann bin ich das Dornröschen . "
Mit ihrer ganzen Liebenswürdigkeit sah sie ihn halb bittend , halb siegesgewiß zum erstenmal wieder an .
Aber sie erschrak vor seinen strafenden Augen .
" Ich werde mich überhaupt nicht beteiligen , ich habe zuviel Arbeit in diesen Wochen ! "
Senta bis sich auf die Lippen .
Diese niederträchtige Olly , das hatte die ihr eingebrockt !
" Aber Herr Diplomingenieur , " sagte da Fräulein Arnold mit sanftem Vorwurf , " das werden Sie uns doch nicht antun ?
Wir haben fest auf Ihre Hilfe gerechnet , Sentchen wollte Sie sogar bitten , ihr die Eingangsverse zu dichten , Sie sollen das ja so wunderschön verstehen . "
" Ich bedaure , diesmal nicht dienen zu können , Senta wird sich an einen anderen wenden müssen .
Auch für heute bitte ich , mich zu entschuldigen , ich habe noch dringende Arbeit zu erledigen . "
" Lieber Wolfgang , Sie stürmen zu sehr auf sich ein .
Sonntags dürfen Sie sich schon Ruhe gönnen " , meinte auch der Kommerzienrat .
Aber Wolfgang Steinhardt war heute nicht zu halten .
Senta überlegte , ob sie ihn nicht durch Bitten anderen Sinnes machen sollte ?
Mit Schmeicheleien hatte sie noch immer alles durchgesetzt .
Sie geleitete ihn aus die Diele hinaus .
" Puh , was machst du für ein Gesicht , als ob du mich fressen wolltest !
Sei doch wieder gut , Wölfchen , und verdirb mir nicht die Freude an meinem Geburtstag ! "
" Tut es dir gar nicht leid , mich belogen zu haben ? " fragte er dagegen streng .
" Belogen - pfui - wie das klingt , ich habe einfach vermieden , dir die Wahrheit zu sagen " , lachte das Backfischchen leichtsinnig .
" Lüge bleibt Lüge - und an Olly hast du auch nicht gedacht , wie weh du ihr mit dem Spottnamen tun würdest ! "
Wolfgang griff nach seinem Hut .
" Habe ich denn den für sie erfunden oder du ? " fragte Senta schlagfertig .
" Also du spielst mit , Wölfchen ? "
Bittend sahen die Vergißmeinnichtaugen zu ihm auf .
" Nein " , sagte er schroff .
" Na , denn nicht , du olle Tranfunzel ! " lachte das Backfischchen hinter ihm her .
Fast täglich fanden in der Rokokovilla Proben statt , und besonders der Sonntag , wo es keine Schularbeiten gab , und auch die Herren frei waren , wurde dazu benutzt .
Der regelmäßige Sonntagsgast blieb daher aus , um sich überraschen zu lassen , wie er sagte .
In Wahrheit aber , um Senta zu bestrafen .
Das blonde Backfischchen empfand die Strafe nicht allzu tief .
Es war augenblicklich in seinem Fahrwasser .
Von einer geradezu strahlenden Ausgelassenheit erschien es jedesmal .
Denn die Proben waren " einfach himmlisch " !
Darüber gab es nur eine Stimme .
Die Freundinnen zeigten Senta allenthalben ihre innige Liebe , die Herren machten ihr Komplimente , sie war der Mittelpunkt , wie sie es so sehr liebte .
Ein Student hatte die Eingangsverse für das Märchen , mit denen Wolfgang sie zurückgewiesen , recht nett zusammengedrechselt .
Nach jeder Probe , wenn die Arbeit getan war , ging das Vergnügen los .
Dann wurden Tische und Stühle zur Seite gerückt , Fräulein Arnold setzte sich an das Klavier , und man probte das Tanzvergnügen im voraus .
Das war das Schönste !
Olly hatte ihre Absicht , sich gänzlich fern von diesen Vorbereitungen zu halten , nicht durchführen können .
Papa hatte kurz und bündig erklärt :
" Olly gibt das Schneewittchen , dazu paßt sie mit ihren schwarzen Haaren ! "
Trotz Ollys Bitten , sie doch überhaupt nicht mitspielen zu lassen , trotz der leisen Einwendungen von Fräulein Arnold und der lauten Senta blieb es dabei .
Man hatte die Szene , in der das Schneewittchen aus dem Fenster schaut und die als Bäuerin verkleidete Stiefmutter ihr den vergifteten Apfel reicht , während in der Ferne die heimkehrenden Zwerge sichtbar werden , herausgegriffen .
Olly , die in den Proben statt des noch nicht vorhandenen Fensters über die Stuhllehne schauen mußte , sah aus , als hätte sie den vergifteten Apfel bereits im Munde .
Solch ein gallbitteres Gesicht machte sie stets .
Da war es kein Wunder , daß die Mädel und die Herren über das so wenig liebreizende Schneewittchen heimlich ihre Glossen machten .
Olly empfand es , dadurch wurde ihre Laune nicht besser .
Sobald das Tanzen losging , verschwand sie in ihr Zimmer .
Es war durchaus ungehörig für die Tochter des Hauses , aber sie brachte es nicht über sich , mit im Walzer und Polka herumzuhopsen .
Sie mußte dabei immer an den auf seinem Schmerzenslager liegenden Verunglückten denken .
Verschiedene Male hatte sie Papa schon gebeten , ob sie den Arbeiter Schulz nicht im Krankenhaus besuchen und ihm einige Erfrischungen mitbringen dürfe .
" Wenn Fräulein Arnold dich begleiten kann , habe ich nichts dagegen " , lautete die Antwort .
Aber so oft Olly damit anfing , ob sie nicht heute den armen Kranken besuchen wollten , hatte Fräulein Arnold gerade immer etwas anderes vor .
Immer wurde sie auf morgen vertröstet .
So machte sich Olly eines Nachmittags , als Fräulein Arnold und Senta aus waren , kurz entschlossen allein auf den Weg .
Heimlich , denn Papa hätte es nie gestattet , daß sie ohne Begleitung in diese hauptsächlich von der Arbeiterbevölkerung bewohnte Gegend ging .
Gern hätte sie dem armen Kranken ein Gläschen von den herrlichen Früchten , die Fräulein Arnold eingekocht , mitgenommen .
Aber sie wagte es nicht ohne Erlaubnis .
So kaufte sie von ihrem Taschengeld eine Büchse Erdbeeren und einen Maiblumentopf .
Sie hatte Glück .
Das Virchowkrankenhaus war gerade an diesem Nachmittag für Besucher geöffnet .
Der Lysolgeruch legte sich beklemmend auf die Brust des in Luxus und Reichtum aufgewachsenen jungen Mädchens , als es die Krankensäle der chirurgischen Station durchschritt .
Lauter Nummern über den Betten ; endlich hatte Olly die ihr angegebene erreicht .
Bleich und angegriffen lag der Arbeiter Schulz in seinen Kissen .
Beide Hände streckte er Olly entgegen , als er sie erkannte .
" Das jnädige Fräulein selbst - nee , die Ehre - ich habe es ja immer gesagt , Kinder , habe ich jesagt , Fräulein Olly , det is die Beste von Kommerzienrats ! "
Man sah dem Mann seine Freude über den Besuch an .
" Wie geht es denn , Schulz , müssen Sie viel Schmerzen aushalten ? " fragte Olly eigentümlich berührt .
Das hatte ihr noch keiner gesagt , daß sie die Beste wäre .
Sie selbst war vollständig davon überzeugt , daß sie überall die Schlechteste sei .
" Na , Wohljeton hat es ja jrade nicht , wie sie mir unters Messer hatten , und mit die Fabrik , wo man alt und jrau jeworden , is det nun ooch vorbei , 'n oller Stelzfuß bin ich nun jeworden , jrade noch Jute jenug , mit_dem Leierkasten auf die Höfe rumzuziehen . "
Der Mann seufzte tief auf .
Olly traten die Tränen in die Augen .
Sie griff wieder nach der schwieligen Arbeiterhand .
" Das sollen Sie gewiß nicht , Schulz , dafür lassen Sie meinen Vater sorgen , es gibt sicher in der Fabrik auch noch Beschäftigung , die Sie trotz Ihres Fußes ausüben können " , tröstete sie .
" Das Fräulein hat recht , Schulz , grämen Sie sich nicht über Ihre Arbeitsunfähigkeit " , sagte da eine Stimme hinter Olly .
Die fuhr erschreckt herum - ein neuer Besuch - Wolfgang Steinhardt .
" Ich habe bereits mit dem Kommerzienrat darüber gesprochen , wir werden Sie als Mechaniker beschäftigen .
Dazu brauchen Sie nur Ihre Finger und verdienen überdies ein schönes Geld " , fuhr der Ingenieur fort .
" Tag , Olly " , er wandte sich jetzt zu dem jungen Mädchen .
" Ich muß wieder nach Hause , gute Besserung , lieber Schulz . "
Wie freundlich der herbe Mädchenmund mit dem einfachen Mann sprechen konnte .
" Vielen , vielen Dank , und ooch für die Erdbeeren und die scheinen Blümeckens .
Aber daß Sie selbst jekommen sind , war das Scheste ! " sagte der Kranke voll Dankbarkeit .
" Du bist doch nicht allein , Olly ? " fragte Wolfgang Steinhardt , als das junge Mädchen mit kaum wahrnehmbarem Neigen des Hauptes an ihm vorüber wollte .
Sie schritt schnell weiter , ohne Antwort zu geben .
Der Ingenieur verabschiedete sich ebenfalls .
" Ein andermal bleibe ich länger , ich sehe mich bald wieder nach Ihnen um , Schulz - heute muß ich dafür sorgen , daß das Fräulein gut nach Hause kommt . "
Auf der Straße holte er Olly ein .
Ein nebelfeuchter Herbsttag war es , es dunkelte bereits .
Stumm gingen die zwei nebeneinander her , man hörte nur das Aufschlagen ihrer Schritte .
Wolfgang überlegte , wie er mit dem jungen Mädchen am schonendsten über das Vorgefallene sprechen könnte , Olly dagegen , wie sie ihn am schnellsten los würde .
" Ich wünsche keine Begleitung " , sagte sie , plötzlich stehenbleibend , und sah dabei den Laternenpfahl an , als ob der ihr sein unerwünschtes Geleit aufgedrungen .
" Du kannst hier am Abend unmöglich allein gehen , weiß Papa und Fräulein Arnold von deinem Besuch ? "
Olly schüttelte den Kopf und setzte sich wieder in Bewegung .
Sie ging so schnell , daß es Wolfgang nicht leicht wurde , Schritt zu halten .
" Es ist hübsch von dir , Olly , daß du trotz eures Festes noch Zeit für den armen Mann gefunden hast , aber wenn man etwas Gutes tut , braucht man es nicht zu verheimlichen ! "
Und da sie noch immer schwieg , fügte er mit erregter Stimme hinzu :
" Olly , sei doch nicht nachtragend , glaube mir , Kind , es hat mir selten etwas so leid getan ! "
Wolfgang Steinhardt sprach die letzten Worte zu sich selbst .
Denn die , an welche sie gerichtet , hatte sich in Trab gesetzt , sie ging nicht mehr , nein , sie lief .
Doch plötzlich machte sie erschreckt halte .
Ein Trupp johlender Burschen war um die Ecke gebogen .
Olly war nicht gewöhnt , allein auszugehen , sie wagte sich nicht weiter .
Wolfgang hatte sie bereits erreicht , ruhig führte er sie an den singenden Burschen vorüber .
" Willst du mich nicht anhören , Olly ?
Der schlimmste Verbrecher darf sich doch verteidigen . "
Er versuchte wieder zu scherzen .
Aber als er ihr unbewegliches Gesicht sah , das junge Gesicht , das weit über ihre Jahre ernst erschien , sagte er leise : " Olly , ich bitte dich - vergiß und vergib ! "
" Vergessen - das - niemals ! "
Wie ein Wehlaut hatte es sich ihr von den Lippen gerungen .
Er sprach nicht mehr .
Was sollte er denn auch noch sagen ?
Das harte Wort ließ sich nicht ungeschehen machen .
Kalt und unwirtlich wehte es über die Gelände vor den Toren Berlins .
Die beiden fröstelten in ihrem stummen Beieinander .
Fabrikschlote ragten gespenstisch aus dem Nebel heraus .
Am Gartentor machte Wolfgang Steinhardt halte .
Schweigend zog er den Hut .
Und schweigend ließ Olly den getreuen Begleiter zurück - sie fand kein Dankeswort .
8. Kapitel .
Ein Wohltätigkeitsfest Der große Tag war herangekommen .
" Sechzehn Jahre " , sagte Senta zu sich selbst , als sie aufwachte , und griff nach dem kleinen Handspiegel , um festzustellen , ob sie heute nicht viel erwachsener aussähe .
Aber da blickte dasselbe runde , rosige Gesichtchen mit zerzausten Blondhaaren ihr entgegen wie sonst .
Nur um einige Grade erwartungsvoller waren die Blauaugen .
Und sie hatten allen Grund dazu .
Denn der Geburtstagstisch , den Papa mit Unterstützung von Fräulein Arnold seinem Liebling aufgebaut , erfüllte jeden Wunsch der kleinen Eitelkeit .
Sogar der heißersehnte Abendmantel aus hellblauem Tuch fehlte nicht .
Die größte Geburtstagsfreude aber wurde Senta heute von einer Seite , von der sie es am wenigsten erwartet .
Olly hatte lange geschwankt , ob sie der Schwester , die sich in der letzten Zeit ganz besonders unschwesterlich gegen sie gezeigt hatte , etwas zum Wiegenfest schenken sollte .
Aber ihr gutes Herz siegte .
" Ich gratuliere dir " , sagte sie steif und errötend und legte ein weißes , weiches , krabbelndes Etwas mit einem himmelblauen Seidenschleifchen in den Arm des Geburtstagskindes .
" Murks " - schrie Senta beseligt auf , " mein süßer Murks ! " und sie küßte den kleinen Nachfolger auf die Nase mit dem schwarzen Fleck und auf die seidenweichen Ohren .
Dann aber , aus einem plötzlichen Impuls der Dankbarkeit heraus und aus dem Glücksempfinden , das solch ein sechzehnter Geburtstag mit all seinen Freuden erstehen läßt , reckte sie sich auf die Zehn und gab der fassungslosen Olly ebenfalls einen Kuß .
" Ich danke dir vielmals , Olly , ich freue mich am allermeisten mit meinem neuen Murks ! "
Olly vermochte kein Wort zu erwidern .
Sie zitterte vor Erregung .
Die plötzliche Liebesbezeugung der Schwester , bei der diese sich ebensowenig dachte wie bei ihren sonstigen Streitigkeiten , erschütterte das fein empfindende Mädchen in allen Fasern .
Es fühlte sich reich belohnt für die Mühe , mit der es Murks ' Doppelgänger ausfindig gemacht .
Vielleicht wurde nun alles gut !
Seit dem Verschwinden des kleinen Seidenpinschers hatte sich ja ihr Verhältnis zu Senta besonders zugespitzt .
" Das ist ein netter Gedanke von dir , Olly " , lobte auch Fräulein Arnold , und der Kommerzienrat packte sie sogar am Ohr : " Sieh Mal an , Mädel , tut immer so duckmäuserig und schießt heute den Vogel ab mit ihrem Geschenk ! "
Es tat weh , wie Papas Hände , die gewöhnt waren , Eisen zu prüfen , sie am Ohrläppchen rissen .
Aber Olly hielt still , ganz still .
Die erste Liebkosung Papas seit vielen Jahren !
Es schien ein Glückstag heute zu sein !
Ja , es war ein Glückstag !
Denn auch Rudi , der letzthin nur das Notwendigste mit ihr gesprochen , schüttelte Olly energisch die Hand .
" Du bist ein anständiger Kerl , Olly , daß du der Senta solche Freude gemacht hast ! " sagte er hastig , als ob er sich seiner Worte schämte .
Aber Olly erfüllten sie doch mit ungewohnter Befriedigung .
Die Klingel an dem mit pausbackigen Engelsköpfchen verzierten Portal der Rokokovilla stand heute nicht still .
Von früh an läuteten die Lieferanten für Küche und Keller Sturm .
Dazwischen sah man herrliche Blumenarrangements tragen , die Tanzherren , die Senta eingeladen , sandten dem Geburtstagskinde ihren Gruß .
Von einer regelrechten Gratulationscour am Vormittag mußte man der Schulstunden wegen Abstand nehmen .
Denn trotz aller zärtlichen Vaterschwäche für Senta , das erlaubte der Kommerzienrat nicht , daß um des bevorstehenden Vergnügens Willen auch nur eine Stunde der Arbeit versäumt wurde .
Fräulein Arnold vervielfältigte sich heute .
Sie setzte ihre ganze Tüchtigkeit und Tatkraft ein .
Jetzt war sie unten im Souterrain , um mit dem angemieteten Koch zu besprechen , wieviel Schüsseln von jedem anzurichten seien .
Nun stand sie schon wieder in dem großen , eichenen Speisesaal und Maß mit dem Zollstock ab , wie weit die Bühne gehen dürfte , die für die Märchenbilder aufgeschlagen wurde .
Mit einem Auge überwachte sie das Tischdecken der Kellner , mit dem anderen , daß die Kostüme für die Mitspielenden an dem richtigen Platz lagen .
Und dazwischen hatte sie noch Zeit , mit Senta über jede Blumenspende zu jubeln und Herbertchen von dem Riesenbaumkuchen , dessen überzuckerten Nasen von seinen Tintenfingern Gefahr drohte , lachend zu scheuchen .
Trotz des glückverheißenden Morgens kam sich Olly heute so überflüssig vor wie sonst .
Sie hätte gern mit zugegriffen , aber sie mochte es nicht von selbst anbieten .
So saß sie , die älteste Tochter des Hauses , während man drunten nicht Hände genug zur Hilfe hatte , untätig in ihrem Stübchen .
Es graute ihr vor dem Abend und der Aufführung .
Alle würden über sie lachen , wie in den Proben .
Warum hatte Papa auch darauf bestanden , daß sie das Schneewittchen gab !
So weiß wie Schnee , so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz ! - haha , der reine Hohn !
Das Schwarz war das einzige , was zutraf .
Für anmaßend würde man sie halten , ganz sicher !
Es pochte leise an die Tür , und gleich darauf wurde dieselbe geöffnet .
Katchen Lehmann steckte ihren Flachskopf herein .
" Olly , Menschenskind , wo vergräbst du dich denn selbst heute am Geburtstag : es ist Zeit zum Anziehen .
Komme , ich will Ehre mit meinem Schneewittchen einlegen ! "
Sie schlang den Arm um die Unbewegliche und schob sie lachend vor sich her .
Olly hatten die Proben , von denen sie zuerst so wenig wissen mochte , mehr gebracht als Senta , trotz deren Jugendlust .
Olly hatte eine Freundin gefunden .
Katchen war früher niemals zu Hildebrandts gekommen .
Sie stammte aus bescheidenen Beamtenkreisen , und Senta pflegte nur die Mädchen einzuladen , die ebenso schöne Kindergesellschaften gaben wie sie selbst .
Auch später suchte sie sich ihre Freundinnen von diesem Gesichtspunkt aus .
Gleich das erstemal , als Katchen das vornehme Heim der Schwestern betrat , empfand sie es mit ihrem warmen Herzen , daß Olly zu Hause ebenso allein stand wie in der Schule .
Das arme Mädchen - ohne Mutterliebe wuchs es auf !
Katchen selbst hatte ein liebes Mütterchen daheim , das ihr Kind zum Mitleid erzogen hatte .
Als Olly sich bei der ersten Probe zu Beginn des Tanzes davongeschlichen , wurde nach einem Weilchen auch Katchens Flachskopf unsichtbar .
" Was willst du denn von mir , gehe doch zu den anderen tanzen ! " hatte Olly recht wenig liebenswürdig die Schulkameradin , die sie in ihrem Zimmer aufgesucht , empfangen .
Aber Katchen hatte nur den Kopf geschüttelt .
" Tanzt du denn auch nicht gern ? "
Ganz erstaunt hatte es Olly gefragt .
" O doch ! "
In Katchens Augen hatte es fröhlich aufgeblitzt .
" Ja , was willst du denn aber hier oben bei mir ? "
" Dir Gesellschaft leisten , daß du nicht ganz allein bist . "
Das warmherzige Katchen sagte es , als ob dies ganz selbstverständlich sei .
Schweigend hatte Olly sie angesehen .
Es gab jemand , der sein Vergnügen opferte , um ihr Gesellschaft zu leisten , ihr , die immer schroff und unfreundlich war !
Und dann hatte sie plötzlich beide Hände Katchens ergriffen und sie gepreßt .
" Von heute an bist du meine Freundin , Katchen , das heißt , wenn - wenn - " stockend hatte Olly geschwiegen .
" Was für ein Wenn gibt es denn noch dabei ? " lachte Katchen .
" Wenn ich dir nicht zu häßlich bin ! "
Olly hatte es mit Überwindung hervorgestoßen .
Da aber hatte das Katchen noch viel mehr gelacht .
" Aber Mädel , das ist doch ganz Wurscht , Mutter sagt , darauf kommt es gar nicht an , wie man aussieht , sondern nur , wie man inwendig ist ! "
Olly hatte Katchen ungläubig angesehen und den Kopf geschüttelt .
Das wußte sie nun entschieden besser als Katchens Mutter , es kam sehr viel darauf an .
Seit diesem Tage verband eine warme Freundschaft die zwei so verschiedenen Mädchen .
Wenn drunten in der Villa die Walzer- und Rheinländerklänge erschallten , saßen die beiden droben in dem traulichen Mädchenstübchen in eifrigem Geplauder .
Olly war nicht gewöhnt , jemand ihr Herz zu öffnen .
Aber mit der Zeit warf Katchen doch manchen Blick in die verschlossene Seele der neuen Freundin , und sie erstaunte über die Tiefe derselben ebenso wie über die Bitterkeit , die sich darin aufgespeichert .
Sie nahm sich vor , Olly sehr lieb zu haben .
Zu der Rolle der als Bauernweib verkleideten Stiefmutter im Schneewittchenbild , die keine übernehmen mochte , meldete sich Katchen von selbst , nur , um mit Olly zusammenzuspielen .
Diese empfand es voll Dankbarkeit .
Aber sie zeigte , daß sie auch ein Opfer bringen konnte .
Sie hatte es wohl gemerkt , wie gern Katchen tanzte .
So zwang sie sich dazu , während der letzten Proben beim Tanzen unten zu bleiben , um die Freundin nicht des Vergnügens zu berauben .
Und siehe da - sie bemerkte plötzlich , daß ihr das " Rumgehopse " , auf das sie immer verächtlich herabgesehen , ebenfalls Freude machte .
Ihre Backfischjahre machten ihr Recht geltend .
Natürlich fühlte sich jeder der Herren verpflichtet , die Tochter des Hauses aufzufordern .
Daher war ein Sitzenbleiben von vornherein ausgeschlossen .
Und wenn sie sich auch immer noch drehte , als ob sie einen Stock verschluckt hätte , und wenn sie auch ein Gesicht dazu machte , als ginge es zu einer Beerdigung und nicht zum Galopp , sie lernte es doch , sich freier zu bewegen .
Körperlich beim Tanze und auch geistig in der Unterhaltung .
- In den dunklen Dezembernachmittag blickte die Rokokovilla wie ein Lichtschloß aus " Tausendundeine Nacht " .
Unzählige Kerzen flammten auf und warfen ihren Strahlenschein bis in die schwarzen Fabrikhöfe hinein .
Droschken , Equipagen und Autos rollten vor das Portal .
Spitzen rieselten , seidene Gewänder rauschten , schön frisierte Frauenköpfe tauchten einen Augenblick in dem Lichtkreis der großen Bogenlampe auf .
An die kalten Eisenstäbe des Gartengitters preßten Arbeiterkinder neugierig ihre Näschen und begleiteten jeden vorfahrenden Wagen mit lauten " Oh ! " und " Au , fein ! "
Aus den Fabriksälen aber glitt manch mürrischer Blick der Väter zu der im Feiertagsgewande erstrahlenden Villa herüber .
Da dachte man nicht daran , daß es ein Wohltätigkeitsfest war , das dort drüben begangen wurde , sondern da hieß es :
" Ein schöner Batzen Geld geht heute wieder drauf , unsereins muß bald das ganze Jahr davon leben " - " wir müssen uns schinden , und die da drüben verprassen es ! " und wie der auflehnende Groll gegen die , welche es besser hatten , sich sonst noch Luft machte .
Die Saat der Unzufriedenheit und der Mißgunst , die an jenem Unglückstage in die Herzen gefallen , ging auf .
In den Garderobenräumen hinter der Bühne erklangen aufgeregte Mädchenstimmen , Lachen und Kreischen .
Am lebhaftesten aber war es in der Frisierstube .
Dort war des Jubelns kein Ende .
Der Theaterfriseur , den man engagiert , hatte selbst seine helle Freude an den allerliebsten Gestalten , denen er mit seinen Perücken und Schminken den charakteristischen Ausdruck verlieh .
Senta war ein süßes Märchen .
In dem flimmernden Silbergewand mit gelöstem Blondhaar und glitzerndem Diadem sah sie wirklich aus , als sei sie aus dem Reich der Feen entstiegen .
Aber sie hatte keine Zeit , sich heute an ihrem Spiegelbild zu freuen .
Das Geburtstagskind hatte Lampenfieber .
In einer Ecke hinter der Bühne stand es und memorierte mit murmelnden Lippen immer wieder die Eingangsverse , die es zu sprechen hatte .
" Ich bleibe bestimmt stecken - soufflieren Sie bloß laut , Herr von Treuenfels ! "
Der junge Maler , ein Vetter des Leutnants , der zugleich Regisseur und Souffleur war , versprach lachend , sein möglichstes zu tun .
" Senta , komme bloß und sieh , wie Rudi als Hexe in Hänsel und Gretel aussieht , ich sage dir , zum Piepen ! "
Eine graziöse Schneeflocke , Irmgard von Buschen , zog die Freundin mit fort .
Sie sahen alle zum Piepen aus , nicht nur Rudi !
" Zum Piepen " war das neueste Backfischschlagwort .
Der Leutnant mit der langen Lockenperücke glich mehr dem Großen Kurfürst als dem Dornröschenprinzen , fand Irmgards Spottmäulchen .
Rudi als Hexe wirkte allerdings sehr drastisch .
Er trug bereits seinen Kochanzug unter dem Hexengewand , und die weißen Kochhosen lugten neugierig darunter vor .
Frau Holle , dargestellt von einem Studenten , zeigte einen höchst schneidigen Schmiß , als ob sie droben im Wolkenreich mit Petrus ein kleines Renkontre gehabt hätte .
Bei jedem Neuhinzukommenden ging das Witzeln , Lachen und Quieken von vorn los .
Die Zwerge mit ihren langen Bärten und gemalten Furchengesichtern waren kaum zu erkennen .
Hänsel und Gretel , beide von Backfischchen dargestellt , wirkten wie Nippesfiguren , und die Schar der Schneeflocken so duftig und zart , als könnten sie wirklich in Nichts zerfließen .
" Alles fertig , meine Herrschaften ?
Das Publikum ist versammelt , sechs Uhr vorbei , wir müssen anfangen " , erklang die Stimme des Regisseurs .
" Ach , einen Augenblick - bloß noch einen kleinen Augenblick ! " bibberte das aufgeregte Märchen .
" Olly und Katchen Lehmann fehlen ja noch " , wurde eine Stimme laut .
" Herrgott - ja , wo stecken denn die Unzertrennlichen bloß wieder ? "
Hinter der Tür steckten sie , die vom Frisierzimmer in den Bühnenvorraum führte .
Olly war nicht zum Weitergehen zu bewegen .
" Ich traue mich nicht rein , ach , Katchen , geht es denn nicht ohne mich - du sollst Mal sehen , wie sie wieder flüstern und kichern werden , wenn ich so aufgeputzt daherkomme - es ist ja auch lächerlich von mir ! "
Das Schneewittchen zeigte nicht übel Lust , zu entwischen .
Aber die kräftigen kleinen Hände des niedlichen Bauernweibes hielten fest .
" Du hast ja 'n Piepvögelchen , Olly , ich sage dir , kein Mensch wird lachen !
Augen werden sie machen , bildhübsch siehst du heute aus ! "
" Bildhübsch - haha - pfui , Katchen , das ist schlecht von dir , daß auch du dich über mich lustig machst ! "
" Du wirst es ja selbst sehen " , damit schob Katchen energisch ihr widerstrebendes Schneewittchen über die Schwelle .
" Katchen , zum Brüllen - zum Piepen siehst du aus - - " , aber die andere - - war das wirklich Olly , das häßliche junge Entlein ?
Ja , hatte denn eine gütige Fee aus den Märchenbildern den unschönen Backfisch in ein holdseliges Schneewittchen verzaubert ?
Keine gütige Fee , nur der Theaterfriseur hatte schuld an der Verwandlung .
" Pottsschock - sind das Haare ! " sagte er schmunzelnd , als er Ollys festgeflochtene Zöpfe löste , " schöneres Schneewittchenhaar kann man sich ja gar nicht denken . "
Und er packte die Perücke , die er für sie mitgebracht , wieder ein .
Olly machte ein nicht sehr erbautes Gesicht .
Sie war so durchdrungen von ihrer Häßlichkeit , daß sie selbst den fremden Mann im Verdacht hatte , ihrer zu spotten .
Der aber ließ sich nicht stören .
Er scheitelte ihr reiches Haar , das Olly sonst Strafe aus der Stirn zu bürsten pflegte , daß es in weichen Wellen das schmale Gesicht einrahmte und ihr wie ein Mantel den Rücken herabfloß .
Dann hantierte er kunstvoll mit Puderquaste und Schminke an ihrem Gesicht herum .
Olly saß wie auf Nadeln .
Mit niedergeschlagenen Augen , keinen Blick wagte sie in den Spiegel zu werfen .
" Gnädiges Fräulein Schneewittchen sind fertig - ganz famos - bitte , sich zu bewundern ! "
Aber das Schneewittchen dachte nur daran , den Händen des Friseurs so schnell als möglich zu entrinnen .
Der Mann sah ihr kopfschüttelnd nach - ein junges Fräulein das keinen Blick für ihr Spiegelbild hatte , das war ihm in seiner langjährigen Praxis noch nicht vorgekommen .
" Donnerwetter " - sagten die Herren , als das Schneewittchen in den Kreis der Schauspieler trat .
Die Damen aber sagten gar nichts , und das war die größte Bewunderung .
Herrgott , wie hatte das häßliche junge Entlein es nur fertiggebracht , plötzlich so ganz anders auszusehen ?
Die langen , eckigen Backfischglieder umschmiegte ein weißes , fließendes Gewand mit weichen Falten .
Die roten Backen , die dem stets bleichen Gesicht angeschminkt waren , ließen es rund und jugendlich erscheinen .
Dadurch erschien die Nase , die das schmale Mädchenantlitz sonst beherrschte , durchaus nicht mehr zu groß , und der dunkle , wellige Scheitel gab ihr etwas Apartes .
Und als sie jetzt hilflos und ängstlich die Augen hob , weil das erwartete Kichern und Flüstern ausblieb , da war man aufs neue überrascht .
Wie dunkel und tief die Augensterne in dem heute rosigen Gesicht erstrahlten !
Das Klingelzeichen .
Junge Herzen klopften schneller , der Atem ging gepreßter .
" Ich habe den Anfang vergessen - ich weiß kein Wort mehr von allem " , jammerte das Märchen in höchster Aufregung .
Der Regisseur flüsterte ihm die Anfangszeilen zu und schob es aus dem Vorhang heraus auf das Podium .
Senta sah ein blendendes Lichtmeer vor sich , ein Wogen von blonden und braunen Locken , ein Funkeln und Blitzen von Brillanten .
Gesichter unterschied sie vorläufig gar nicht .
Aber nachdem sie den ersten Vers gesprochen , ebbte der zum Gehirn anbrausende Blutstrom zurück .
Ihre alte Sicherheit und Unbefangenheit kam ihr wieder .
Gott sei_es getrommelt und gepfiffen - sie war nicht steckengeblieben !
Der reiche Applaus , der das allerliebste Märchen , das sich zur Führerin in die Märchenlande anbot , lohnte , ließ das Herz des Geburtstagskindes höher schlagen .
" Zum Piepen ist es auf der Bühne - ganz famos - ihr braucht gar keine Angst zu haben " , beruhigte sie die anderen , nicht viel weniger Aufgeregten .
Die Märchenbilder stiegen aus der Vergessenheit der Kindertage empor .
Der junge Maler hatte viel Geschick und Schönheitssinn bewiesen .
Die Bilder waren meisterhaft gestellt .
Der Primaner Rudi als Hexe entfesselte wahre Lachstürme .
Aschenbrödel hatte das Unglück , den kleinen Schuh , den es gerade anprobieren wollte , fallen zu lassen , so daß das lebende Bild etwas zu lebendig wurde .
Aber das schadete nichts , sondern hob im Gegenteil die Stimmung .
" Wie werden sie erst lachen , wenn sie mich sehen werden . "
Schneewittchen flüsterte es mit zuckenden Lippen , ehe der Vorhang sich auch vor ihrem Bilde hob .
" Lache ' du lieber , " das zierliche , kleine Bauernweib nickte ihr ermunternd zu , " Grund genug hast du doch dazu , wenn ich dir einen so schönen Apfel schenke . "
Da teilte sich der Vorhang - und das Unglaubliche geschah .
Das Schneewittchen , das in den Proben stets ein wahres Menschenfressergesicht gemacht hatte , lächelte .
Zwar über die Worte der Freundin , aber das wußte ja das Publikum nicht .
Das reckte nur die Hälse und klatschte Beifall .
Dreimal mußte das Schneewittchenbild aufgezogen werden , so begeistert war man davon .
" Nein Herr Kommerzienrat , wie die Olly Ihrer verstorbenen Frau Gemahlin ähnlich wird , es ist fabelhaft ! "
" Eine Schönheit , geradezu eine Schönheit wird das Mädel ! "
" Sie können aber wirklich stolz auf Ihre Töchter sein ! "
Von allen Seiten machte man dem Gastgeber Komplimente .
Papa saß starr .
Der gewandte Mann vermochte kaum auf die liebenswürdigen Worte zu antworten .
Er faßte sich an die Stirn - träumte er , oder war es Wahrheit ?
So - gerade so hatte seine frühverlorene Frau ausgesehen an jenem Abend , da er sie zuerst geschaut und von ihrem Liebreiz gefangengenommen wurde .
Kamen die Toten wieder ?
War es denn möglich , daß Olly , bei deren Anblick er sich oft innerlich befragt , wie er zu solch einer unschönen Tochter käme , der teuren Verstorbenen , die allgemein für eine Schönheit gegolten , glich ?
Wo hatte er nur bisher seine Augen gehabt ?
Im Schlußvers bat Senta mit liebenswürdiger Schelmerei , den Dank für das Gebotene in klingender Münze für einen armen , verunglückten Arbeiter abzustatten .
Mit einer Sammelbüchse bewaffnet , stieg sie nun von der Bühne herab und machte die Runde .
Man umringte das Geburtstagskind .
Man beglückwünschte es zu seinem Erfolge und zu seinen sechzehn Jahren .
Es regnete Blumen und Praline .
Das eitle Backfischchen strahlte .
Aber es regnete auch Silber und Gold in ihre Büchse , sogar blaue Scheine wurden hineingeschoben .
So kam Senta auch zu Wolfgang .
" Na , noch immer Schuß , Wölfchen ? "
Sie lachte , daß die weißen Zähne blitzten .
" Ich gratuliere dir schön , Senta , und hier mein Geburtstagsgeschenk ! "
Er legte ein Büchlein in ihre Hand .
" Grillparzers gesammelte Werke " prangte mit Goldlettern darauf .
Neugierig schlug das Backfischchen es auf .
" Weh dem , der lügt ! "
Das war die erste Überschrift , auf die ihr Blick fiel .
" Du Scheusal ! "
Mit einem Knall machte Senta das Buch zu und dem Freund , unbekümmert um die Umstehenden , eine lange Nase .
Der lachte herzlich hinter ihr her .
Der Friede zwischen den beiden war wieder geschlossen .
" In Kostümen bleiben - die Schauspieler müssen in ihren Kostümen bleiben ! "
Von allen Seiten war der Wunsch laut geworden .
Die jungen Darsteller kamen gern nach .
Erstens war es viel kleidsamer , zweitens lustiger , drittens wagten selbst die Schüchternen dadurch , mehr aus sich herauszugehen .
Schneewittchen wollte sich durchaus umziehen .
Alles Betteln Katchens , doch den einheitlichen Charakter nicht zu stören , nützte nichts .
Olly , der es schon peinlich genug gewesen , sich auf der Bühne in diesem Aufzug zeigen zu müssen , schämte sich tot .
" Ich kann doch unmöglich mit der offenen Löwenmähne herumlaufen , wenn so viele Menschen da sind , und das Kleid sieht aus wie ein Nachthemd ! "
Dabei blieb sie .
Der Kommerzienrat kam hinter die Bühne , um den liebenswürdigen Schauspielern seinen Dank auszusprechen .
Neben Olly , die sich gerade in die Garderobe zurückziehen wollte , blieb er stehen .
" Als ob zwanzig Jahre wieder entschwunden wären ! " murmelte er .
Warum sah Papa sie denn so merkwürdig an ?
Hatte er nicht sogar eine Träne im Auge ?
Papa , der immer lachend von sich zu behaupten pflegte , er wäre so hart wie sein Eisen ?
Es wurde Olly ganz beklommen zumute .
Da strich Papa ihr leise über die dunkle Haarpracht , die ebenso weich und üppig herabflutete wie bei ihrer Mutter .
Und dann , als schäme er sich seiner ungewöhnlichen Zärtlichkeit , schlug er plötzlich einen polternden Ton an :
" Kannst du nicht immer solch freundliches Gesicht machen , du dummes Mädel ? "
Aber Olly klang die rauhe Stimme des Vaters wie himmlische Sphärenmusik in die Ohren .
War es denn möglich - war es denkbar , daß sie heute nicht so abschreckend häßlich aussah wie sonst ?
Was all die Versicherungen und Bitten der Freundin nicht vermocht , das bewirkten Papas polternde Worte .
Olly blieb im Kostüm .
Zärtlich fast strich sie an dem eben noch als " Nachthemd " geschmähten Schneewittchenkleid herab , war es doch sicher die Ursache , daß das häßliche junge Entlein heute etwas weniger häßlich erschien .
Die Damen , die früher zu Mamas Lebzeiten viel in die Rokokovilla gekommen , richteten freundliche Worte an die älteste Tochter des Hauses .
Die Herren scherzten mit ihr .
Ach , hätte sie nur ein kleines bißchen von der Liebenswürdigkeit und Unbefangenheit Sentas gehabt !
Keinen Ton wagte sie , die stets Vergessene und Zurückgesetzte , auf all die gutgemeinten Anreden zu erwidern .
Stumm und steif , hilflos und verlegen stand das große Mädel da .
Nur als eine ältere Dame zu ihr meinte :
" Es ist geradezu frappierend , Olly , wie ähnlich Sie der seligen Mama jetzt werden " , vergaß sie ihre Schüchternheit .
" Ist das wahr - ist das wahrhaftig wahr ? " stieß sie hervor , ohne daran zu denken , daß in diesem Zweifel ihrerseits eigentlich eine Ungezogenheit liege .
Aber da war etwas in den schwarzen Augen des jungen Mädchens , etwas so bang Fragendes und gleichzeitig dabei Glückverklärtes , daß die Dame ihr unmöglich böse sein konnte .
" Geradeso hat Ihre Mama als junges Mädchen ausgesehen , nur etwas voller war sie wohl ! " wiederholte sie noch einmal , mit dem schön frisierten grauen Haupte nickend .
Das , was Olly nicht einmal in ihren geheimsten Gedanken zu denken gewagt , das hatte eine andere jetzt ausgesprochen .
So ruhig und selbstverständlich , als sei es das natürlichste Ding der Welt , daß sie , das häßliche junge Entlein , mit ihrer vergötterten schönen Mama Ähnlichkeit habe !
Olly hörte nicht mehr , was die übrigen zu ihr sagten .
Sie war wie betäubt von dem einen sie beseligenden Empfinden .
Inzwischen waren mit märchenhafter Geschwindigkeit in allen Räumen " Tischlein deck dich " erstanden .
Heute blieb Olly nicht sitzen .
Der lustige Student , der als Frau Holle umherlief , entführte das Schneewittchen sogleich in sein Wolkenreich , wie er sagte .
Auch Katchen Lehmann nahm mit dem Regisseur , dem jungen Maler , an dem für vier Personen gedeckten Tischchen Platz .
So hätte man eine höchst fidele Ecke bilden können , wenn Olly es nur verstanden hätte , mit den Fröhlichen fröhlich zu sein .
Daß sie nicht schlagfertig auf alles eine ulkige Antwort zu geben wußte , wie zum Beispiel Senta und Irmgard von Buschen , hätte nichts geschadet .
Katchen Lehmann verstand das ja auch nicht .
Aber die Freundin verstand etwas anderes - Katchen konnte lachen , so jung und herzerquickend , daß ihr Tischherr , ob er wollte oder nicht , jedesmal mit einstimmen mußte .
Katchens Lachen wirkte ansteckend .
Auch auf Olly verfehlte es nicht ganz seine Ansteckungskraft , aber in dem ernsten Mädchenantlitz nahm sich das Lachen merkwürdig genug aus , als ob das Verziehen des Gesichts ihr selbst weh täte .
" Fräulein Schneewittchen ist nicht nur so weiß wie Schnee , sondern auch so kühl wie Schnee - trotzdem das doch eigentlich mein Privileg ist " , scherzte Frau Holle , da sich das Schneewittchen still und in sich gekehrt zeigte .
Ollys schwerfällige Natur konnte sich nicht so schnell von dem , was sie mit einem Übermaß von Glück erfüllt , freimachen .
Während der Student zu ihr sprach , hörte sie immer noch die Worte jener alten Dame .
Und neben dem unaussprechlich Frohen kauerte in ihrer Seele noch etwas - ganz hinten in einer Ecke .
Es wagte sich nicht recht hervor neben dem seltenen Gast , dem übermäßigen Glücksempfinden , aber es war doch da .
Das war der quälende Gedanke :
" Alle sind heute zu dir gekommen und haben dir etwas Freundliches gesagt , nur Wolfgang Steinhardt nicht ! "
Der hatte sie nur steif und höflich begrüßt , wie das seine Pflicht als Gast des Hauses war .
Daß sie selbst ihm auf jenem gemeinsamen Heimweg die Möglichkeit zu dem früheren freundschaftlichen Einvernehmen abgeschnitten , war das Quälendste daran .
Neben der Schneeflocke Irmgard von Buschen saß er drüben an demselben Tisch mit dem Dornröschen und ihrem Königssohn .
Ab und zu fühlte Olly , daß sein Blick zu ihr herüberging - dann sah sie schnell in die entgegengesetzte Ecke .
Fräulein Arnold zeigte heute ihr Talent .
Ihr kaltes Büfett machte ebenso Furore wie ihre gewandt liebenswürdige Art als Empfangsdame des Hauses .
So schnell wie die Tischlein aufgetaucht , waren sie auch wieder verschwunden .
Denn nun ging das " Lämmerhüpfen " los .
Auch die Alten tanzten mit , wenigstens die Tourentänze .
Das Geburtstagskind glühte - ein so schönes Wiegenfest hatte es noch nicht gefeiert .
Es war ein hübsches Bild , wie sich die bunten Märchengestalten da im Walzer wiegten .
Trotzdem Schneewittchen schlecht tanzte , gehörte sie heute doch zu den begehrten Tänzerinnen .
Ganz echauffiert lehnte sie in einer Palmenecke des Wintergartens neben Katchen , um ein wenig von dem ungewohnten Trubel auszuruhen .
" Ist es eigentlich nicht Unrecht , " meinte sie sinnend , den lustigen Tanzweisen lauschend , " daß wir hier uns amüsieren , während der arme Schulz noch immer auf seinem Schmerzenslager liegt ? "
" Na , erlaube Mal , es ist doch Sentas Geburtstag heute , das ist doch ein Freudentag " , erwiderte Katchen ganz erstaunt .
" Ja , aber - "
Olly gab sich nicht so schnell zufrieden - " sieh Mal , sie nennen es doch Wohltätigkeitsfest .
Findest du das wohltätig , wenn man hauptsächlich für das eigene Vergnügen sorgt ? "
Katchen legte die Stirn unter dem Flachshaar drollig in Falten und dachte angestrengt nach .
" Du hast ja nicht ganz Unrecht , " gab sie dann zu , " aber weißt du , meine Mutter sagt immer , die Jugend hat auch ihr Recht .
Und es ist doch sicherlich besser , man ist vergnügt , als - "
" Als so unausstehlich , wie ich es bin , das wolltest du doch sagen , nicht ? "
" Pfui , Schneewittchen , habe ich das um dich verdient ? "
Ehe Olly noch antworten konnte , stöberte der junge Maler die Freundinnen auf und entführte seine Tischdame triumphierend zum Tanz .
Olly blieb allein .
Der Wintergarten war durch Palmen und Blattpflanzen in verschiedene Nischen geteilt .
In jeder standen bequeme Korbmöbel .
Darüber schaukelten malerisch bunte Lampions .
Es war ein beliebter Ort zum Ausruhen , aus allen Nischen lachte und kicherte es .
Da hörte Olly unweit ihres lauschigen Plätzchens Senta und Wolfgang , die beiden Stimmen , die ihr vor kurzem das größte Weh in ihrem Leben zugefügt .
" Also wenn du von nun ab immer hübsch die Wahrheit sprechen wirst , will ich dir nicht mehr böse sein , Sentchen . "
Helles Mädchenlachen .
" Oller Pedant , ein bißchen Schwindeln und Flunkern , das rechnet man doch nicht gleich unter Lügen .
Aber du bist in der letzten Zeit mächtig mopsig geworden , Wölfchen , wie so 'n oller Hagestolz .
Leutnant von Treuenfels ist viel netter als du ! "
Wolfgang Steinhardt schien sich köstlich zu amüsieren .
" Mit fast sechsundzwanzig Jahren hat man doch auch das Recht , ein alter Hagestolz zu sein .
Also der Leutnant gefällt dir besser als ich ? "
" Ja , viel besser , der hat mir heute schon so und so oft gesagt , wie entzückend ich als Dornröschen aussehe , und du , Brummbär , noch kein einziges Mal ! "
" Dornröschen , Ihr seid die Schönste hier , Doch Schneewittchen über den Bergen Bei den sieben Zwergen Ist noch tausendmal schöner als Ihr ! "
Die eben noch lachende Männerstimme klang mit einem Male ganz ernst .
" Quatsch mit Soße - aber unglaublich anständig sieht die Olly heute aus , nicht ? -
So , nun wollen wir Boston tanzen . "
Das Geburtstagskind hüpfte davon .
Wolfgang folgte .
Olly aber blieb herzklopfend zurück .
Wieder hatte sie ein Gespräch der beiden belauscht .
War es nicht , als ob Wolfgang durch seine heutigen Worte die grausamen von neulich wieder gutgemacht hatte ?
Nein - nein , sie konnte es trotzdem nicht vergessen , was er ihr angetan , und dann - er hatte heute ganz sicher nur Spaß gemacht .
Warum forderte er sie bloß zu keinem Tanze auf , wie es doch eigentlich seine Pflicht war ?
Ob er es nicht wagte ?
Sie hätte natürlich gedankt , aber daß er es überhaupt nicht dazu kommen ließ , verstimmte sie .
" Da bringe ich dem Schneewittchen die Stiefmutter zurück . "
Der Maler führte ihr das echauffierte Katchen wieder zu .
" Das Schneewittchen wird am Ende bald eine andere Stiefmutter bekommen " , eine vorübergehende Dame hatte es ganz leise einer anderen zugeflüstert .
Aber Ollys feines Ohr fing es auf .
Sie saß wie erstarrt .
Wie vor den Kopf geschlagen .
Nein , lieber Gott - das war doch nicht möglich , in die Stelle , die Mama , ihre inniggeliebte Mutter , innegehabt , konnte doch keine Fremde rücken !
Aber Papa war noch ein schöner , stattlicher Mann , er durfte sich mit den Jüngsten messen !
Er ging viel in Gesellschaften , konnte man es denn wissen , ob er nicht am Ende daran dachte ?
Nein - nein - das war ja alles dummes Zeug - bloßer Klatsch !
Olly wehrte sich gegen diesen entsetzlichen Gedanken .
Aber die frohe Laune und die Freude an dem Feste war ihr gestört .
Noch einem wurde die Freude an der Geburtstagsfeier recht gründlich gestört , das war der kleinste Zwerg .
Ob Herbertchen seiner roten Nase , die ihm der Friseur angeschminkt , Ehre machen wollte , genug , er tat sich an der Sektbowle etwas zu gütlich .
Rudi mußte ihn in bejammernswertem Zustande ins Bett befördern .
Lange nach Mitternacht ging die animierte Gesellschaft mit begeistertem Dank auseinander .
Es war gut , daß der nächste Tag ein Sonntag zum Ausschlafen war .
Die Kommerzienratsvilla , die noch vor kurzem mit vielen strahlend hellen Fensteraugen in die Dunkelheit hinausgeschaut , lag still und verschlafen da .
Alles schlummerte , selbst das Geburtstagskind war , ein seliges Lächeln um die Lippen , bald eingeschlafen .
Nur zwei fanden keinen Schlummer .
Der eine war der neue Murks , der sich in der fremden Umgebung wohl noch nicht recht behaglich fühlte , wenigstens heulte er herzbrechend .
Die andere war Olly .
All das , was der Abend gebracht , ging ihr im Kopfe herum .
Aber woran sie auch dachte , es war keine reine Freude .
" Ich habe mit Mama Ähnlichkeit " , wollte es in ihr jubeln , aber gleich wieder meldete sich eine andere Stimme :
" Mit meiner Mama , die möglichenfalls durch eine Stiefmutter verdrängt werden soll ! "
Da machte es Olly wie der neue Murks .
Sie heulte ebenfalls herzbrechend .
So endigte der so schön begonnene Tag. 9. Kapitel .
Die neue Mutter Kurze , naßkalte Dezembertage folgten .
Grau und unwirtlich .
Nur einmal durchleuchtet von hellem Weihnachtsschein .
Der Regen sprühte gegen die Scheiben , der Wind heulte im Ofen , an manchem Tag mußte man in den Fabriksälen , in den Büros und in der Rokokovilla von früh bis abends Licht brennen .
Graue Tage bringen graue Laune .
Die Märchenstimmung , die vor kurzem die Räume heiter durchstrahlt , war längst verflogen .
Das Schneewittchen war wieder zum Aschenputtel geworden , grau und unansehnlich wie alles jetzt in diesem trüben Dezemberlicht .
Kein Mensch dachte mehr daran , daß es sich für einen Abend als schöne Prinzessin im Reigen gedreht .
Wirklich keiner ?
O doch !
Von dem langen Zeichentisch , der über und über mit Blättern , Zirkeln und Reißschienen bedeckt war , flog ab und an ein Gedanke zu dem Märchenabend zurück .
Dann ertappte sich Wolfgang Steinhardt wohl plötzlich bei der Frage : " Wäre es nicht möglich , daß aus dem häßlichen jungen Entlein doch noch einmal ein stolzer , weißer Schwan werden könnte ? "
Wenn er dann aber am Sonntagmittag Olly wieder am Tische sitzen sah , einsilbig und mißmutig , blaß , schmalwangig und elend aussehend , das weiche , schwarze Haar stramm aus der Stirn gebürstet , dann schüttelte er unwillkürlich den Kopf .
Nein - nie - nie würde aus dem häßlichen jungen Entlein etwas anderes werden !
Selbst wenn sie jemals besser aussehen sollte , ihre Unliebenswürdigkeit und ihr abstoßendes Wesen würden dem Gesicht immer den Stempel aufdrücken .
Auch Papas Auge irrte bei den gemeinsamen Mahlzeiten jetzt öfter zu seiner ältesten Tochter hinüber .
Dann griff er sich unwillkürlich an die Stirn .
Wie hatte er nur jemals auf die absurde Idee kommen können , Olly gleiche seiner verstorbenen Frau !
Ein Märchenkobold mußte ihn an jenem Abend geäfft haben - konnte man Licht und Schatten miteinander vergleichen ?
Ja , aber hatten andere es ihm denn nicht auch gesagt ?
Und Papa schüttelte seinen Kopf geradeso wie Wolfgang Steinhardt .
Fräulein Arnolds Schönheitssinn machte sein Recht geltend .
Sie wußte jetzt , daß Olly anders aussehen konnte , nun verlangte sie das auch von ihr .
Ja , sie hielt es geradezu für Widerspenstigkeit von dem Mädchen , wenn es so blaß und unlustig dreinschaute , wenn es durchaus nicht leiden mochte , daß weder das Hausmädchen noch sie , Fräulein Arnold , die doch Mutterstelle an den Kindern vertrat , ihm das Haar kleidsamer aufsteckte .
Wenn es sich in ungezogenem Ton gegen jede Verschönerung wehrte .
Da ließ Fräulein Arnold das undankbare Mädel laufen und schüttelte ebenfalls ihren Kopf .
Die , der all dies Kopfschütteln galt , vermied selbst ängstlich jedes Rückerinnern an das schöne Märchenfest .
Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter , die sie damals mit Entzücken erfüllt , hatte die graue Dezemberlaune zu etwas Alltäglichem , Gleichgültigem herabgedrückt .
Warum sollten schöne und häßliche Menschen denn nicht Ähnlichkeit miteinander haben ?
Wolfgangs Schneewittchenspruch , den sie gleich nicht für Ernst gehalten , nahm im Verhältnis zu dem Abnehmen der Tage auch an Wahrscheinlichkeit ab :
Scharfe , beißende Ironie blieb nur davon übrig .
Das aber , was ihre junge Seele damals in ihren Grundtiefen erschüttert , die Möglichkeit , daß Papa seinen Kindern eine neue Mutter geben könnte , diesen Gedanken schob sie mit aller Energie von sich .
Sie wollte nicht mehr an das Wohltätigkeitsfest denken , nur um jener marternden Vorstellung nicht wieder zu begegnen .
Es war ja heller Unsinn !
Trotzdem hatte Olly nicht die Gewalt über sich , daß ihr dunkles Auge nicht ab und zu bang fragend an Papas schönen Zügen hing .
Begegnete der Vater einem dieser gequält forschenden Blicke , dann wandte Olly das Auge scheu zur Seite , wie der Dieb , der sich auf seinen Schleichwegen betroffen fühlt .
Sie nahm jetzt dann und wann am Gespräch Teil .
Sie fragte den Vater , wenn er abends in Gesellschaft gewesen , nach dieser und jener Dame , die vielleicht in Betracht kommen konnte .
Aber die harmlose Art , mit der Papa Auskunft gab , sie höchstens wegen ihrer Neugier aufzog , zeigte ihr deutlich , daß sie auf falscher Fährte war .
Und dann schämte sie sich wieder grenzenlos , daß sie ihrem heimlich verehrten Papa mißtraute , ja , ihn in Gedanken geradezu umlauerte .
Das war unvornehm , unwahr , wie sie es sonst niemals zu sein pflegte .
Oft dachte sie , das einfachste , natürlichste und ehrlichste wäre es , Papa die Äußerung jener Damen zu erzählen und ihn zu fragen , ob etwas daran wäre .
Aber im nächsten Augenblick schien ihr solches Tun ungeheuerlich .
Niemals würde sie den Mut zu dieser inhaltsschweren Frage besitzen !
Wie durfte sie es überhaupt wagen , Papa mit etwas Derartigem zu kommen !
Der tiefe Riß , der sie von dem Vater trennte , zeigte sich in solchen Momenten besonders klaffend .
So quälte sich Olly mit dunklen Gedanken durch die dunklen Regentage .
Sie machte keinem Menschen Mitteilung von dem , was sie bedrückte .
Wieviel leichter wäre es gewesen , wenn sie gemeinsam mit Senta die Bürde der schweren Gedanken geschleppt hätte .
Die Schwester war doch geradeso beteiligt wie sie selbst , vielleicht wußte auch Senta , die mehr in der Welt lebte , mehr herumkam und herumhörte , ihr Näheres darüber zu berichten .
Trotzdem schwieg Olly .
Der Geburtstagskuß , den die Schwester ihr damals impulsiv gegeben hatte , war längst von häßlichen , kleinlichen Streitereien wieder ausgelöscht worden .
Olly , die von Herzen gehofft hatte , daß der neue Murks durch sein Erscheinen sie der Schwester näherbringen sollte , sah mit Schrecken , daß sich , ganz im Gegenteil , sein rosenrotes Schnäuzchen als Zankapfel zwischen sie schob .
Senta war eifersüchtig .
Grenzenlos .
Denn Murks der Zweite , der doch ihr geschenkt worden war , der ihr ganz alleiniges Eigentum sein sollte , er erkannte durchaus nicht die Herrin in ihr an .
Ja , er sträubte sich gegen ihre Liebkosungen , knurrte und zeigte seine spitzen , weißen Zähnchen .
Eine alte Bauernregel pflegt zu sagen , daß ein Hund denjenigen als seinen neuen Herrn ansieht , der ihm zum erstenmal in der fremden Umgebung sein Futter reicht .
Dieses Wort schien Murks ' Wahlspruch zu sein .
Denn trotz aller zärtlichen Schmeicheleien Sentas hielt er sich getreulich an Olly , die ihn kaum beachtete .
Er saß neben ihr bei den Mahlzeiten , sah sie schwanzwedelnd an , ob sie ihn nicht bedachte , und soviel auch Senta " Murks - hierher , Murks ! " rief und ihre Worte durch emporgehaltene Leckerbissen unterstützte , Murks strafte sie mit Nichtachtung .
Er wich und wankte nicht von seinem Platz .
Das verwöhnte junge Menschenkind , das überall die erste Rolle zu spielen pflegte , sah sich zum erstenmal verschmäht , zurückgedrängt von einer anderen .
Und diese andere war noch dazu das häßliche junge Entlein !
Sentas Enttäuschung und Empörung über Murks ' widerspenstiges Betragen kam gegen Olly zum Ausbruch .
Sicher hatte die Schwester den Seidenpinscher vorher abgerichtet , nur um sich an ihrem Ärger zu weiden .
Unter solchen Verhältnissen konnte Olly allerdings nicht daran denken , Senta zur Vertrauten ihrer geheimen Gedanken zu machen .
Einige Male hatte sie auch überlegt , Rudi einzuweihen und ihn um seine Meinung zu befragen , aber ein scheu mädchenhaftes Gefühl hielt sie davon zurück .
Auch sah sie Rudi jetzt nur bei den gemeinsamen Mahlzeiten , er arbeitete voll Fleiß auf das bevorstehende Abiturientenexamen hin und benutzte jede Minute zur Wiederholung .
Ihre Freundin Katchen Lehmann aber an ihren Befürchtungen teilnehmen zu lassen , das brachte Olly in ihrer verschlossenen Art noch viel weniger fertig .
Trotzdem die Gemeinschaft zwischen den beiden Mädchen sich von Tag zu Tag vertiefte , es gab eine Grenze , vor der Ollys Vertraulichkeit , aller Backfischart zum Trotz , haltmachte .
Der Verkehr mit Katchen war der einzige Lichtblick in all diesem Regengrau .
Nachdem Olly das gemütliche , vom liebevollen Walten der Mutter durchwärmte Beamtenheim kennen gelernt , kam ihr die Rokokovilla mit all ihrem Glanz nur noch kälter und unwirtlicher vor .
Es fehlten für das abseits von den anderen stehende Mädchen dort die Sonnenstrahlen der Liebe .
Scheu und abweisend , wie das nun Mal in ihrer Art lag , trat Olly auch der Mutter der Freundin zum erstenmal gegenüber .
Sie wäre so gern nett gewesen , sie hätte was darum gegeben , wenn sie wie Senta verbindliche Worte des Dankes für die Aufforderung gefunden hätte .
Doch kein Ton wollte ihr über die Lippen , stumm und dumm stand sie da .
Frau Amtsgerichtsrat Lehmann hatte aber von ihrem Katchen schon genügend über die Eigenart der neuen Freundin erfahren .
Sie zog die steif Dastehende mit herzlichen Worten sogleich zu sich heran und sagte ihr , wie sie sich freue , daß ihre Tochter endlich eine Herzensfreundin gefunden hätte .
" Mein Katchen hat es nicht so gut wie Sie , die Sie Ihrer zwei sind , mein Mädel entbehrt gar oft eine Schwester . "
Was - Olly blickte geradezu verblüfft auf Senta - sie hatte es gut , daß sie eine Schwester hatte ?
Bis jetzt hatte sie das eigentlich nur als eine Unannehmlichkeit mehr in ihrem Leben betrachtet .
Die Jüngere verzog die Lippen ein wenig spöttisch .
Auch sie fand Katchen Lehmann nicht so sehr bemitleidenswert , sie hätte Olly ganz gern entbehrt .
Aber die freundlichen Worte der Frau Amtsgerichtsrat verfehlten doch nicht ihre Wirkung auf Olly .
" Sagen Sie doch » du « zu uns " , stotterte sie .
Es klang zwar gar nicht liebenswürdig , sondern im Gegenteil eher abstoßend , aber Katchens Mutter wußte , wie es gemeint war .
" Ihr seid mir eigentlich schon zu groß , aber wenn ihr es wollt , tue ich es gern , man kommt gleich in ein freundschaftlicheres Verhältnis zueinander . "
Senta machte durchaus kein erbautes Gesicht .
Sie spielte für ihr Leben gern das junge Fräulein und fand es geradezu empörend von Olly , daß sie ihr das eingebrockt .
Wie kam denn eine wildfremde Dame dazu , sie , ein sechzehnjähriges Mädchen , wie ein Baby zu duzen !
Überhaupt , so oft Senta mit bei Amtsgerichtsrats war , erschien es Olly dort lange nicht so traulich , als wenn sie allein da war .
Olly selbst war auch dann eine andere .
Sie gab sich nie so frei und ungezwungen der Freundin und ihren Angehörigen gegenüber .
Es war , als ob die Gegenwart der hübschen Schwester geradezu lähmend und niederdrückend auf sie wirkte .
Selbst Katchens Mutter war dieser jähe Wechsel in Ollys Wesen aufgefallen .
" Das Mädel müßte Mal fort von Haus , unter Fremde , wo es niemand kennt und keiner ein Vorurteil gegen es hat .
Da würde es sich vielleicht ganz anders entwickeln .
Denn es hat trotz aller Härten und Kanten famose Eigenschaften " , meinte die verständige Frau oft .
Zum Glück fand Senta an dem Verkehr mit dem harmlosen , bescheidenen Katchen keinen besonderen Gefallen .
Katchen erzählte nichts von schicken Kleidern und eleganten Backfischgesellschaften .
Da war ihr Irmgard von Buschen doch tausendmal interessanter .
Auch Katchen Lehmann fand es viel netter , wenn sie mit Olly allein war .
Auffordern mußte sie die Schwester , die ihr viel zu oberflächlich und äußerlich war , ja jedesmal aus Höflichkeit .
Aber wenn Senta einen Grund hatte , abzulehnen , atmeten sie alle drei erleichtert auf .
Der Jahreszeiger rückte auf Weihnachten .
Man wußte jetzt nichts mehr von grauen Regentagen , das Lichterfest warf seinen Schimmer voraus .
Allenthalben regten sich fleißige Mädchenfinger .
Die Weihnachtsarbeiten bildeten in der Schule ein unerschöpfliches Gesprächsthema .
In den letzten Wochen durften sogar die Handarbeitsstunden zum Fertigstellen der Weihnachtsstickereien benutzt werden .
Hei - da flogen die Finger anders als bei den langweiligen Kappnähten an dem stumpfsinnigen Männerhemd , das kein Sterblicher je tragen konnte .
Alle hatten sie Weihnachtsarbeiten mit in die Schule gebracht , diese größere , jene kleinere .
Je nach Geschicklichkeit und Höhe des Taschengeldes .
Nur Olly Hildebrandt hatte nichts mitzubringen .
Sie war wieder ausgeschlossen von der fröhlichen Gemeinschaft .
Seit Mamas Tode hatte sie keine Arbeit mehr zum Heiligabend gemacht .
Sie war zu ungeschickt und zu unlustig dazu .
Sich wie Senta von den jeweiligen Hausdamen den größten Teil der Stickerei arbeiten zu lassen , es nachher für eigenes Kunstwerk auszugeben und Dank und Lob dafür mit Gemütsruhe einzustreichen , das brachte sie nicht fertig .
Lieber ließ sie es ganz .
Katchen Lehmann , die selbst voll Eifer an Vaters Rodelmütze und Schal arbeitete , konnte es gar nicht fassen , daß die Freundin überhaupt keine Anstalten dazu machte , den Ihrigen eine Weihnachtsfreude zu bereiten .
Und wenn man auch noch so wenig gut miteinander stand , das Fest der Liebe überbrückte doch auch die schärfsten Gegensätze .
" Olly , wollen wir nicht etwas für deinen Vater besorgen und für Fräulein Arnold ?
Senta würde sich gewiß auch über eine kleine Arbeit freuen " , stellte Katchen zum soundsovielten Male vor .
" Ich habe Papa nie was gearbeitet .
Für Fräulein Arnold werde ich mich , Gott weiß , nicht abquälen , und Senta schenkt mir ja auch nichts " , lehnte Olly ab .
" Man muß alles zum erstenmal tun , paß auf , dein Vater freut sich über eine Arbeit " , überredete Katchen weiter .
Einen Augenblick wurde Olly schwankend .
Dann zog sie die Augenbrauen finster zusammen und sagte kurz : " Nein ! "
Aber als sie der Freundin enttäuschtes Gesicht sah , setzte sie in weicherem Tone hinzu : " Du kannst das nicht so verstehen , Katchen - bei uns ist eben alles anders ! "
Das klang so wenig schroff mehr , so traurig und liebebedürftig , daß das zärtliche Katchen den Arm um Ollys lange Gestalt schlang und ihr einen leisen Kuß auf die Wange drückte .
Trotz des abweisenden " Nein " kämpfte Olly noch manchen Tag mit sich , ob sie Papa nicht doch eine kleine Arbeit machen sollte .
Vielleicht strich er ihr dann wieder zum Dank über das Haar wie an jenem Wohltätigkeitsabend .
Aber nein - er würde es vielleicht als Aufdringlichkeit empfinden , er würde am Ende ein Wort des Staunens dafür haben , das verwundete Olly im voraus schon .
So steckte man die große , silbergeschmückte Edeltanne , die vom Fußboden bis zur Decke reichte , in der Rokokovilla an , ohne daß Olly Gaben auf die lange Geschenktafel gebreitet hätte .
Aber sie hatte doch auch ihre Weihnachtsfreude .
Nach manchem mißlungenen Anlauf hatte sie es endlich über sich gebracht , Papa zu bitten , daß sie dem wieder in sein Heim übergesiedelten Arbeiter Schulz und dessen Familie eine Weihnachtsüberraschung machen dürfte .
" Meinetwegen " , hatte der Kommerzienrat geantwortet .
Dem zu Schaden gekommenen Mann war von der Berufsgenossenschaft eine Rente ausgezahlt worden , er hatte ein erkleckliches Sümmchen von dem Wohltätigkeitsabend erhalten und außerdem einen ganz gut besoldeten Posten in der Fabrik .
So zog Olly denn , während Senta Fräulein Arnold beim Aufbau half , eines der Mädchen mit einem großen Korbe und einem niedlichen kleinen Bäumchen neben sich , in die enge , dunstige Straße , in der die Arbeiterwohnung lag .
Es hatte aufgehört zu regnen .
Droben am samtdunklen Abendhimmel steckten die Englein ein Weihnachtslichtlein nach dem anderen an .
Jetzt hier ein Stern , jetzt dort - bis der ganze große Weltenweihnachtsbaum blitzte und funkelte .
Auch Olly entzündete draußen auf der dunklen Treppe die Wachskerzen an ihrem kleinen Bäumchen und schob es behutsam zur geöffneten Tür hinein .
Heller Kinderjubel schallte heraus :
" Der Weihnachtsmann - der Weihnachtsmann ist da ! "
Aber als der Weihnachtsmann , selbst ein wenig befangen , nun näher trat und sich als das junge Fräulein von Kommerzienrats entpuppte , da wichen die Kleinen , den Finger im Munde , scheu zurück .
Erst die mitgebrachten Spielsachen und Süßigkeiten , die Olly auszupacken begann , machten sie wieder dreister .
Eins nach dem anderen der Flachsköpfe kam heran , um sein Teil in Empfang zu nehmen .
Doch als sie nun die Pferdchen , die Püppchen , die Zinnsoldaten und Märchenbilder in Händen hielten , da war der Bann gebrochen .
Helles Kinderglück erfüllte das armselige Stübchen .
Und in all dem Lachen und Jauchzen stand das häßliche junge Entlein , heute nicht abseits von den anderen , nein , mit jedem der Kleinen selbst ein fröhliches junges Menschenkind .
Wer sie so gesehen hätte , der hätte es wohl kaum für möglich gehalten , daß dies dasselbe Backfischchen war , das eine Stunde später freudlos , mit gleichgültiger Miene , die reichen Gaben in der väterlichen Villa in Empfang nahm .
Das Mädchen , das auch ihren Weihnachten haben wollte , mußte sie ans Heimgehen erinnern .
Olly vergaß Ort und Stunde über den Kinderjubel .
" Gott segne Sie , jnädiges Fräulein ! "
Unter warmen Dankesworten der Eltern entschloß sie sich endlich zum Heimweg .
Das Herz war ihr so voll , so froh und glücklich , wie schon lange nicht mehr .
Aber je mehr sie sich von der bescheidenen Arbeiterbehausung entfernte , je näher sie der eleganten Rokokovilla kam , desto stiller wurde es in ihr .
Als ob die Herzensfreude in ihrer Brust vor dem hellen Kerzenglanz scheu verstummte .
Nur einmal wurde sie noch laut , als Olly das heute festlich stille Fabrikterrain umschritt .
Als sie daran dachte , wie schön das wohl sein müßte , wenn ein großer Tannenbaum in einem der geräumigen Säle aufflammen würde , wenn sich all die vielen Arbeiterkinder , deren Eltern in der Fabrik tätig waren , darunter scharen würden , um ein Spielzeug und eine nützliche Gabe in Empfang zu nehmen .
So träumte Olly mit offenen Augen , bis sie eine Stimme unsanft weckte .
In der Diele stand Fräulein Arnold mit echauffiertem Gesicht und schaute nach der Saumseligen aus .
" Selbst den heutigen Abend verdirbst du einem , jetzt haben wir über eine halbe Stunde mit der Bescherung auf dich warten müssen " , empfing sie Olly vorwurfsvoll .
Da erlosch auch der letzte Funken Weihnachtsfreude in Ollys dunklen Augen , nur auflehnender Trotz glomm darin auf .
Die Klingel mit ihrem helljauchzenden Ton , die schon zu Mamas Lebzeiten die Kleinen zur Kinderseligkeit gerufen , erhob ihre Stimme .
Das junge Mädchen stand vor dem reichbesetzten Platz , nahm das kostbare Pelzwerk pflichtschuldigst in die Hand , sah stirnrunzelnd auf das neue rosa Gesellschaftskleid , in dem es kaum weniger Zurücksetzungen würde erdulden müssen als in seinem alten weißen , und streifte die Goldkäferschuhe mit geradezu feindseligen Blicken .
Dann ging Olly zum Papa , bot ihm wie in jedem Jahre errötend die Hand und stieß ein rasches " Danke vielmals " heraus .
Dasselbe Manöver wiederholte sich bei Fräulein Arnold , nur daß der Dank für das geschenkte Kopftuch ihr noch schwerer über die Lippen ging .
Die Geschwister beschenkten sich nicht gegenseitig .
Aber da stand noch einer , der alljährliche Weihnachtsgast , den Olly bisher geflissentlich übersehen : Wolfgang Steinhardt .
Er nahm gerade von Senta die Weihnachtsarbeit , eine Zeitungsmappe , an der Fräulein Arnold fleißig hatte mithelfen müssen , in Empfang .
" Ganz allein gemacht , Sentchen , wirklich ? " neckte er .
Der Blondkopf nickte und warf einen schnellen Blick zu Fräulein Arnold hin .
Der bat : Nichts verraten !
Aber Wolfgang verstand sich auf Physiognomien .
" Wie hieß doch das Grillparzersche Stück , das ich dir zum Geburtstag geschenkt habe ? " fragte er , mit dem Finger drohend .
" Herrgott , du alter Schulmeister , jetzt bekommst du die Zeitungsmappe gar nicht ! " lachte Senta , da sie sich ertappt sah .
Dann nahm sie mit strahlendem Gesicht sein Geschenk , ein reizendes Aquarellbildchen , in Empfang .
Auch Rudi und Herbert wurden bedacht .
Ersterer probierte sogleich seinen Füllfederhalter auf jedem Fetzen Papier , und der Kleine zielte mit der soeben erhaltenen Riesenkanone heimlich nach Ollys Nase .
Nun wandte sich der junge Ingenieur der ältesten Tochter des Hauses zu .
Er tat , als ob er es gar nicht gemerkt hatte , daß sie bisher keinen Gruß für ihn gehabt .
" Na , Olly , und wo ist deine Handarbeit für mich ? " begann er scherzhaft , als sei nicht das Geringste zwischen ihnen vorgefallen .
Olly zog die Augenbrauen noch etwas dichter zusammen und beschäftigte sich eingehend mit dem rosa Gesellschaftskleid , trotzdem sie eigentlich recht wenig Interesse dafür hatte .
" Siehst du , ich bin besser als du , ich habe dir eine Handarbeit gemacht " , fuhr Wolfgang immer noch scherzend fort , Olly schürzte die Lippen .
Sie hatte sich fest vorgenommen , falls er es nach der ihr angetanen Schmach noch wagen sollte , ihr heute ein Geschenk zu bringen , dasselbe zurückzuweisen .
" Ich habe mich jetzt in meinen Mußestunden auf das Buntphotographieren gelegt -
ich wollte dir gern eine Freude machen , Olly . "
Er wickelte einen kleinen Gegenstand aus Seidenpapier und stellte ihn vor die sich gleichgültig Abwendende .
" Ich nehme von Ihnen nichts geschenkt ! "
Keinen Blick warf sie auf die Gabe .
" Olly , ich habe gehofft , der heutige Abend würde auch dich versöhnlich stimmen , denkst du kleiner , als ich es von dir geglaubt ? "
Wie ernsthaft seine Stimme auf einmal klang .
Olly antwortete nicht .
Sie kämpfte einen schweren Kampf mit sich .
Ein heimlicher Seitenblick streifte das mißachtete Geschenk , da - zuckte sie zusammen .
Sie wurde rot , sie wurde blaß .
Ein kleines Bild war es für den Schreibtisch - das Bild ihrer Mutter .
Eine farbige Photographie des großen Ölgemäldes , das drin im Rauchzimmer hing .
Wolfgang Steinhardt wußte es , womit er ihr die größte Freude bereiten konnte .
Warm quoll es in Ollys Herzen empor .
Aber die Hand , die sich ihm impulsiv entgegenstrecken wollte , sank schlaff herab , das Dankeswort , das sich ihr auf die Lippen drängte , blieb ungesprochen .
Als hätte es jemand hinter ihr gerufen , so gellte es Olly plötzlich ins Ohr : " Häßliches junges Entlein ! "
Und doch waren die Worte nicht gefallen , nur Ollys brausendes Blut schrillte sie durch den Raum .
" Willst du mein Geschenk nicht annehmen , Olly ? " fragte der ehemalige Freund aufs neue .
Olly schüttelte heftig den Kopf .
Dann blickte sie mit verschleiertem Blick auf das kleine Bildchen , als müßte sie die Mutter um Verzeihung dafür bitten , daß die Tochter sie verschmähte .
Wolfgang Steinhardt sagte nichts mehr .
Still packte er seine zurückgewiesene Gabe in Papier und schob sie in die Tasche .
Das Intermezzo war den anderen nicht weiter aufgefallen .
Jeder war heute mit seinen eigenen Geschenken beschäftigt .
Senta sang und sprang in ihrem neuen Staat umher , Herbertchen entlockte seiner Harmonika höchst musikalische Töne , und Murks der Zweite begleitete die allgemeine Weihnachtsfreude durch beinahe ebenso musikalisches Geblaffe .
Allgemeine Weihnachtsfreude ?
Wer das lange , schmalschultrige Mädchen mit dem bleichen Gesicht da an der mit Tannengrün und Rosen geschmückten Tafel sitzen sah , der dachte wohl an alles andere eher als an Weihnachtsfreude .
Es zuckte und arbeitete um den blaßroten Mädchenmund , es brannte in den dunklen Augen .
Olly mußte alle Kraft einsetzen , um die immer wieder aufsteigenden Tränen niederzuzwingen .
Die Weihnachtslichter brannten nieder .
Sie wurden am Silvesterabend durch neue ersetzt .
Das alte , graue Jahr mit seinen Regentagen schlich sich davon , und im frostklirrenden Eispanzer sprang das junge Jahr in die Welt hinein .
Wie ein rechter ausgelassener Schlingel , der seine neue Weihnachtsuniform in der Sonne funkeln und blitzen läßt .
Das Räderwerk der großen Hildebrandtschen Maschinen rollte weiter , und auch das Räderwerk in der weißen Rokokovilla .
Ein Tag nach dem anderen rollte dahin .
Der Kanal , auf dessen Kristallspiegel sich die Jugend , mit Ausnahme von Olly , fröhlich auf ihren Schlittschuhen tummelte , wurde schartig und rissig .
Der Schnee im Garten auf Rasenflächen und Buschwerk gelb und unansehnlich .
An einem sonnenhellen Februartage war_es , da stürmte Kommerzienrats Ältester ganz besonders forsch die Stufen zum väterlichen Hause empor .
Und " Vivat - durch ! " schrie er , daß Fräulein Arnold vom Leinenschrank herbeieilte , daß Senta ihre Mozartische Sonate im Stich ließ , und selbst Olly über das Treppengeländer herablugte .
Im Frack , mit feierlich weißer Binde und glücklichen Augen stand der neugebackene " Mulus " da .
Er hatte das Abiturientenexamen bestanden .
Das gab ein Händeschütteln , ein Küssen , Gratulieren und Freuen ohne Ende .
Der Kommerzienrat , dem Herbertchen Kunde gebracht , ließ all seine Zeichnungen und Schreibereien im Stich und eilte spornstreichs zur Villa .
Als Papa , der sonst mit seinem Lob recht zurückhielt , seinem großen Jungen anerkennend auf die Schulter klopfte :
" Brav , mein Sohn , nun weiter immer wacker , fleißig und rechtschaffen , dann bleibt auch ferner der Segen der Arbeit nicht aus ! " da wurde es dem durchaus nicht weich veranlagten Rudi merkwürdig zumute .
" Schade , daß Mama das nicht erlebt hat ! " sagte er leise .
In Olly , der einzigen , die wieder bisher abseits gestanden und dem Bruder , trotzdem es sie zu ihm drängte , noch nicht gratuliert hatte , lösten diese leisen Worte jede gewaltsam aufgetürmte Schanze der Zurückhaltung .
Sie dachte nicht mehr daran , daß sie monatelang kaum das Alltägliche mit Rudi gesprochen , daß dieser sich von ihr zurückgezogen .
Sie hatte dasselbe warme Gefühl wie damals im herbstelnden Garten .
Mit langen Sätzen eilte sie die Treppe hinab , schlang die Arme um den verdutzt Dreinblickenden und lehnte ihren dunklen Kopf gegen seinen hellen .
" Ich gratuliere dir viel- , vielmals , Rudi ! "
In peinlicher Röte blickte der junge Mann auf die plötzlich so zärtliche Schwester .
Einen raschen Blick zu Fräulein Arnold , zu Papas erstauntem Gesicht und Sentas übermütiger Grimasse , dann siegte das Gute in ihm .
Er richtete sich stramm auf , zwang die Verlegenheit nieder und strich sanft über das dunkle Mädchenhaar .
" Ich danke dir , Olly ! "
Wieviel besser war die Schwester , die von allen mißachtet wurde , doch als er !
Olly hob den Kopf .
Sie hatte die Umgebung ganz vergessen .
Als sie aber den erstaunten , spöttischen und lachenden Augen aller begegnete , wurde sie verlegener als der Bruder vorhin .
Ebenso schnell , wie sie die Treppe hinabgeeilt , jagte sie dieselbe wieder empor .
In den äußersten Winkel ihres Zimmers zog sie sich zurück , aber das quälende Gefühl , sich lächerlich zudringlich benommen zu haben , folgte ihr .
Nach einem Weilchen klopfte es an ihrer Tür .
Es war Rudi , der Gott weiß wie lange nicht ihr Zimmer betreten .
" Ich möchte etwas mit dir besprechen , Olly " , begann er .
" Papa ist der festen Hoffnung , daß ich das Maschinenbaufach studieren werde , um dereinst die Fabrik zu übernehmen .
Nun aber interessiere ich mich keine Spur für den ganzen Krempel .
Ich bin weder ein guter Mathematiker noch Zeichner .
Für mich gibt es nur Medizin - es tut mir ja leid , Papa diese Enttäuschung zu bereiten , aber ich kann doch unmöglich mein Leben seinen Wünschen zuliebe verpfuschen . "
Der Bruder sah unschlüssig vor sich nieder .
Olly konnte vorläufig nichts antworten .
Ihre Gedanken streikten , die Gefühlstätigkeit in ihr war augenblicklich überstark .
Der Bruder kam zuerst zu ihr mit dem , was für sein ganzes Leben ausschlaggebend war .
Sie empfand es deutlich :
Er wollte gutmachen !
" Du mußt mit Papa sprechen " , sagte sie nach einem Weilchen , ihre Gedanken sammelnd .
" Wenn er nur nicht zu ärgerlich wird ! "
Selbst Rudi bangte noch heute vor Papas Zorn .
" Das kann alles nichts helfen , Rudi , etwas Ausgesprochenes ist niemals so schwer zu tragen wie etwas scheu Verheimlichtes ! "
Olly kam sich plötzlich dem fast Neunzehnjährigen gegenüber als die bedeutend Reifere vor .
" Du hast recht , Olly " , er griff nach ihrer Hand .
" Und darum will ich auch dir gegenüber nicht mehr schweigen .
Ich habe mich erbärmlich , hundserbärmlich feige dir gegenüber benommen ! "
" Es ist ja noch nicht zu spät , es zu ändern ! "
Olly sah den Bruder offen an .
Dieser gab den Blick fest und feierlich zurück , er würde sich selbst nicht wieder ungetreu werden .
" Ich werde heute mittag mit Papa sprechen . "
Rudi erhob sich .
Es war ihm doch zu bedrückend , die Unterredung in Papas Privatbureau stattfinden zu lassen .
Mit einem kräftigen Händedruck trennten sich die Geschwister .
Olly blieb mit frohem Lächeln zurück .
Es war bei der Mittagstafel .
Papa war in bester Laune , er hatte eine Flasche Sekt zum besten gegeben .
Jetzt hob er den feingeschliffenen Kelch auf eine glückliche Zukunft .
Aber sein Junge tat ihm keinen Bescheid .
Der faßte das Sektglas und setzte es dann mit einem kurzen Ruck wieder hin .
" Ich muß es dir sagen , Papa , " die Worte übersprudelten sich wie die Sektperlen im Glase , " ich kann nicht Ingenieur werden , ich habe keine Neigung dazu ! "
Der feine Fuß des Kelches in des Kommerzienrats Hand zersprang schrill .
So fest hatten seine Finger zugepackt .
" Und was denn , wenn ich fragen darf ? "
" Laß mich Medizin studieren , Papa , dafür habe ich von klein auf Interesse gehabt " , stieß Rudi bittend hervor .
" Hahaha . "
Der Kommerzienrat lachte hart auf .
" Dafür hat man gearbeitet und sich gemüht , Stein auf Stein zu seinem Lebensbau getragen , daß der Herr Sohn , nun das Werk bald vollendet , es mit einem leichtsinnigen » Ich habe kein Interesse dafür ! « wieder einreißt ! Hahaha . "
Des Kommerzienrats blaue Augen blitzten .
" Papa , Herbert ist doch auch noch da , der kann doch Mal die Fabrik übernehmen " , wagte Rudi bescheiden einzuwerfen .
" Schweige ! " polterte Papa .
" Auf dich habe ich meine Hoffnungen gesetzt , mein Ältester sollte mich nun bald entlasten , und statt dessen - es ist um aus der Haut zu fahren ! "
" Aber wenn Rudi sich doch nicht für das Fach eignet , Herr Kommerzienrat " , warf Fräulein Arnold mit bewunderungswürdigem Mute ein .
Der Kommerzienrat sah sie an , und seine gefurchte Stirn glättete sich .
" Erledigt ! " sagte er und fuhr sich mit der Hand über die Stirn .
" Du gehst zu Ostern nach Heidelberg und studierst dort Medizin .
Und ich , ich werde meine Hoffnungen noch ein Endchen weiter tragen , bis Herbertchen mir vielleicht eines schönen Tages ebenfalls den Stuhl vor die Tür setzt . "
" Papa - laß mich Ostern aufs Gymnasium gehen und später das Maschinenbaufach studieren " , stieß da Olly , heiß errötend , hervor .
Ein allgemeines Gelächter erhob sich an der Tafel .
Papa mußte sich mit dem Taschentuch die Tränen aus den Augen wischen , so herzlich lachte er .
Fräulein Arnold und Senta hielten sich die Seiten , Herbertchen johlte geradezu .
Auch Rudi nahm die Sache für einen Scherz .
" Mädel , solch einen guten Witz hast du dein Lebtag nicht gemacht ! "
Papa lachte noch immer .
" Es ist mein Ernst ! "
Ollys Lippen bebten .
Seit langer Zeit hatte sie , die stets ein Traumleben für sich führte , an diesem Zukunftsplane gesponnen .
Wenn die Mädchen in der Schule davon sprachen , was sie nach absolvierter Schulzeit beginnen wollten , daß die eine das Lehrerinnenexamen machen , die andere studieren und die dritte einen hauswirtschaftlichen Beruf ergreifen wollte , dann hatte sie stillschweigend auch für sich Luftschlösser gebaut .
Die Maschinen , die sie als Kind schon mehr geliebt als das schönste Spielzeug , die ihr von klein auf vertraute Freunde gewesen , wollte sie in ihren geheimsten Rädchen , Hebeln und Spulen ergründen .
Nun war der stillgehegte , sorglich gehütete Lieblingswunsch ihren Lippen entflohen .
Und man lachte darüber , lachte noch immer !
" Es studieren viele Mädchen " , kam Rudi , um ihr die gelobte Kameradschaft zu halten , der Schwester zu Hilfe .
" Ja , aber andere als Olly !
Kommt kaum durch die Klassen , bringt stets Schundzensuren nach Hause und will studieren !
Es ist wirklich eine edle Dreistigkeit ! "
Der Kommerzienrat blickte jetzt mißbilligend auf die Tochter .
" Ja , ich muß auch sagen - " begann Fräulein Arnold .
" Eine Fremde hat dabei überhaupt nicht mitzusprechen ! " sprudelte Olly empört heraus .
" Herr Kommerzienrat - " Fräulein Arnold sah auf Papa .
Der stand plötzlich kurz entschlossen auf .
" Folge mir , Olly " , er winkte ihr in das Nebenzimmer .
Dort schritt er erst einige Male erregt auf und nieder .
" Ich habe dir schon einmal befohlen , Olly , Fräulein Arnold gegenüber den schuldigen Respekt nicht außer acht zu lassen .
Es ist das letztemal heute , daß ich dies dulde - hast du mich verstanden ? "
Olly senkte tief den Kopf .
Dann aber hob sie das Gesicht mit jähem Entschluß zum Vater empor .
Sie wußte nicht , woher sie den Mut zu dem , was sie sagen wollte , nahm .
" Papa , lieber Papa , " - zum erstenmal gebrauchte sie eine Zärtlichkeitsform - " bitte , schicke Fräulein Arnold zu Ostern fort .
Da du mich nicht studieren lassen willst , so laß mich den Haushalt führen , wenn ich aus der Schule bin .
Ich werde doch in der nächsten Woche schon siebzehn ! "
Leise und leiser war Ollys Stimme geworden , Papas unbewegliches Gesicht ließ sie verstummen .
Der Kommerzienrat hatte sie ruhig ausreden lassen .
Jetzt sah er sie durchdringend an .
" Fräulein Arnold zu Ostern fortschicken - jawohl , das will ich ! "
In Ollys dunklen Augen leuchtete es auf .
Papa fuhr fort :
" Wahrscheinlich sogar schon eher .
Aber zu Ostern kommt sie wieder , nicht mehr als Fräulein Arnold , sondern als meine Frau , als eure neue Mutter !
Ich habe mich gestern mit ihr verlobt . "
" Papa - - - " ein Wehschrei durchgällte das Zimmer .
Dann sank Olly plötzlich zu Boden , wie hingemäht von der furchtbaren Wahrheit .
Ein gütiger Engel hatte ihr Denken in eine tiefe Ohnmacht gehüllt .
10. Kapitel .
In Pension An die Tore Berlins pochte der Frühling .
Schüchtern und zag , als sei er bang , daß man ihm nicht öffne .
Da drin in der Millionenstadt hatte man auch anderes zu tun , als auf das bescheidene Klopfen des sonnenhaarigen Frühlingskindes zu lauschen .
Da jagte und raste das Leben , da sausten die Autos , ratterten die Lastwagen , lärmte die Gegenwart .
Und drüber her durch die weiche Märzluft zog langsam und feierlich die Zukunft - das Luftschiff .
Danach schauten die Menschen aus dem ewigen Hasten und Vorwärtsdrängen , nicht aber nach den schon geborstenen Knospen am schwellenden Busch aus dem häuserumstandenen Platz .
Nicht nach dem fürwitzig das grüne Näschen in die Luft steckenden Grashälmchen , nach den zartfingerigen jungen Kastanienblättlein , die sich wie verloren in der großen Steinwüste Berlin vorkamen .
Darauf zu achten , fand keiner Zeit .
Darum zog es der kleine Lenzesgott vor , seine Kunst lieber draußen vor den Toren zu zeigen .
Auf das graue , sandige Baugelände zauberte er über Nacht lichtes Frühlingsgrün , Maßliebchen und Himmelsschlüsselchen .
Längs des Stachelzaunes , der die Arbeiterwelt von der des Kommerzienrats trennte , streute er mit vollen Händen Schneeglöckchen , und unter dem Reinettenbaum lugten blauäugige Veilchen hervor .
Olly stand vor diesen ersten Frühlingsgrüßen mit Augen , die so gar nicht zu all der jungen Pracht passen wollten .
Ihr , welche die Blumen so liebte , tat das Werden und Keimen in der Natur heute weh .
Olly nahm Abschied .
Morgen sollte es fortgehen vom Vaterhaus , zum erstenmal in die große Welt hinein .
Weit fort nach Lausanne , in ein Schweizer Pensionat .
Papa mochte es Fräulein Arnold nicht zumuten , als junge Frau gleich zwei fast erwachsene Töchter neben sich im Hause zu haben .
Er wollte sich das Glück einer zweiten Ehe nicht durch die ständigen Reibereien zwischen Olly und der neuen Mutter verstören lassen .
Schliff fehlte Olly sowieso noch , und Senta war glücklich , vor ihren Freundinnen mit einer Schweizer Pension renommieren zu können .
Das Verhältnis zwischen Olly und Fräulein Arnold hatte sich nach jener inhaltsschweren Mitteilung Papas nicht gebessert - im Gegenteil .
Ollys bisher auflehnende Gefühle gegen die Hausdame bekamen jetzt ein geradezu feindseliges Gepräge .
Sie sah nicht die künftige Mutter in ihr , wie Papa das verlangte , sondern die Fremde , welche ihre eigene heißgeliebte Mama aus dem Hause und dem Herzen des Vaters verdrängt hatte .
Sie fand weder das traute Wort " Mutter " , wie die übrigen Kinder , welche die Nachricht mit Jubel aufgenommen hatten , noch das " Du " , das den anderen so leicht und selbstverständlich über die Lippen ging .
Trotz Papas Stirnrunzeln blieb sie beim steifen " Sie " .
Zum Glück reiste Fräulein Arnold noch auf einige Wochen in ihre Heimat , und das unerquickliche Beisammensein fand dadurch ein Ende .
Katchen Lehmann hatte der Freundin so recht herzinnig Glück gewünscht :
" Wie schön , Olly , daß du nun auch eine Mutter hast ! "
Olly sah das flachshaarige Mädchen mit großen Augen an .
Ihr Mund öffnete sich schon zur Gegenrede aber sie schloß die Lippen wieder .
Nein , Katchen verstand sie doch nicht ganz , in die tiefsten Tiefen ihrer Seele konnte sie ihr nicht folgen .
Sie beurteilte alles von dem sonnenbeschienenen warmen Plätzchen aus , auf das der himmlische Gärtner sie selbst gepflanzt .
Seit gestern hatte nun auch die Schule ihre Pforten hinter den Hildebrandtschen Schwestern geschlossen .
Mit heißen Tränen hatten sie alle , die Blonden und Braunen , von der altvertrauten Stätte ihrer Kindheit Abschied genommen , von den Lehrern und all den Mitschülerinnen .
Und wieder stand eine allein in der bewegten Mädchenschar , tränenlos .
Olly ging der Abschied von der Schule nicht nahe , war sie ihr doch oft genug eine Quelle bitteren Zurückgesetztseins gewesen .
Sie hielt das Abgangszeugnis , das seinen Vorgängern an Güte nicht viel nachstand , gleichgültig in der Hand .
Gleichgültig reichte sie den Damen und Herren die Hand , die versucht hatten , die Grundpfeiler des Guten und Schönen in die spröde Mädchenseele zu senken , wenn sie auch nicht immer nach dem richtigen Werkzeug dabei gegriffen .
Gleichgültig sagte sie den Gefährtinnen Lebewohl .
Nur einmal stieg es ihr heiß in die Augen , als es nun auch ans Abschiednehmen mit Katchen ging .
Ein ganzes Jahr lang sollte die Trennung währen , wenn sie wiederkam , war Katchen längst auf dem Seminar , wo sie sich zur Lehrerinprüfung vorbereitete .
Dort würde sie wohl neue Freundinnen finden , und . . . " vergiß mich nicht , behalte mich lieb , wenn ich auch solch ein Scheusal bin ! " flüsterte Olly mit unterdrücktem Schluchzen plötzlich in Katchens rosiges Ohr .
Die drückte die Freundin zärtlich an sich .
" Du bleibst stets die Aller- , Allerbeste für mich !
Schreibe mir , ganz ausführlich , hörst du ?
Und wenn du wiederkommst , paß auf , dann ist alles gut ! "
Hoffnungsvoll überzeugend klang das letzte , so weich und verheißend wie der Frühlingswind , der gleich darauf ihre heiße Schläfe strich .
Heute galt es den schwersten Abschied .
Von daheim , von ihrer Fabrik .
Denn morgen in aller Frühe ging es fort , die Reise war weit , Rudi fuhr bis Heidelberg mit den Schwestern zusammen .
Noch einmal schritt Olly durch die vielen Arbeitssäle , in denen glühender Funkenregen seltsame Lichter und Reflexe auf bleiche Gesichter warf .
Das Surren und Schnurren , Schnaufen und Ächzen ihrer lieben Maschinen sang ihr das Abschiedslied .
Oh , daß sie ihren Wunsch , in der Fabrik einmal ihre Lebensaufgabe zu finden , hatte zum Schweigen bringen müssen !
Hier und dort blieb Olly stehen .
Schaute auf das Formen und Werden in den emsigen Händen , sprach ein freundliches Wort mit einem weißhaarigen Alten , nickte einem rotbäckigen jungen Dinge , deren blühende Jugend der Fabrikdunst noch nichts hatte anhaben können , einen Abschiedsgruß zu .
Den Rückweg zum Hause nahm sie am Reinettenbaum vorüber , der damals die schweren Stunden mit ihr durchlebt .
Aber unter dem noch kahlen Baum schimmerte es veilchenblau - die erste Frühlingsbotschaft !
Nach Fabrikschluß kam Wolfgang Steinhardt auf einen Augenblick in die Rokokovilla herüber , um den Hildebrandtschen Kindern Lebewohl zu sagen .
Der Abschied von Rudi war kameradschaftlich herzlich , der von Senta lachend , neckend und scherzend , wie auch ihr Beisammensein stets .
" Lebe wohl , Olly , möge es dir gut gehen ! "
Jetzt trat er zu der ihre Tasche packenden Ältesten .
Ollys Hand zuckte .
Und ehe ihre Überlegung die vorschnelle Hand zurückgehalten , streckte sich dieselbe dem jungen Ingenieur entgegen .
" Hier habe ich den jungen Damen etwas Reiselektüre mitgebracht " , wandte er sich noch einmal an Senta .
Die nahm mit freudestrahlendem Dank die große Bonbonniere in Empfang .
Olly vermochte sie nicht zurückzuweisen , wie sie es gern getan hätte .
Wolfgang hatte ihr die Möglichkeit dazu durch den gemeinsamen Besitz mit der Schwester diplomatisch genommen .
Dann stand sie zum letztenmal oben auf ihrem blumenleeren Balkon und schaute durch tränenverschleierte Augen auf die Heimat .
Über dem schwarzhaarigen Mädchenhaupt schoß es in bogenartigem Fluge dahin .
Die ersten Schwalben - die Künder des nahenden Lenzes !
Das silbergraue Automobil hielt vor der Rokokovilla .
Auf der einen Seite schmiegte sich Senta neben Papa in die roten Lederpolster .
Sie hatte , um ihre Würde als schulentlassene junge Dame zu dokumentieren , einen weißen Schleier um das neue Reisehütchen geschlungen .
In der gegenüberliegenden Ecke saß stumm neben dem mit dem Vater plaudernden Bruder Olly .
Ihr Auge irrte von der im Sonnenlicht grellweißen Villa zu den rauchgeschwärzten Schornsteinen der Fabrik .
Zu den grauen Fenstern , hinter denen schon zu dieser frühen Morgenstunde das Leben , die harte , zwingende Arbeit pulsierte .
Wie würde es sein , wenn sie wiederkehrte ?
Tränen verdunkelten Ollys Blick .
Sie sah nicht mehr den schwanzwedelnden Murks neben dem taschentuchwedelnden Herbertchen auf der Freitreppe , dem einzigen der Kinder , das im Hause blieb .
Sie wußte nicht , daß das auto längst mit ihr durch die noch staubfreie Morgenluft jagte , daß sich ihr unterdrücktes Schluchzen mit seiner schrill gellenden Hupe vermischte .
Erst als Rudis Hand ihr beruhigend die Schulter klopfte , als Papas Stimme halb wohlwollend , halb ungeduldig an ihr Ohr drang : " Mädel , du tust doch gerade , als ob es zur Hinrichtung ginge - es geschieht doch zu deinem Besten ! " wischte sie sich beschämt die Tränen von den blassen Wangen .
Senta sah mit überlegenem Lächeln auf die Weinende .
Der Kommerzienrat stand draußen vor dem Coupe zweiter Klasse des nach Heidelberg gehenden D-Zuges .
Er schüttelte Rudi väterlich die Hand : " Mache ' mir weiter Freude , mein Junge ! "
Senta hüpfte noch einmal die eisernen Stufen hinab und hing dem Vater am Hals .
Der wurde weich , als er seinen Liebling zum letztenmal im Arm hielt .
Dann beugte er sich zu der mit scheuen Augen abwartend danebenstehend Olly und hauchte einen flüchtigen Kuß auf ihre Stirn .
" Hoffentlich höre ich auch von dir nur Gutes ! "
Das klang ernst mahnend .
" Grüße unsere neue Mama von uns ! " rief Senta , bei der die Abschiedsrührung nicht lange vorhielt , schon wieder lachend vom geöffneten Fenster herab .
" Ja , ach ja ! "
Rudi schämte sich ein wenig , daß er das bisher versäumt .
" Nun , Olly , hast du keinen Gruß für deine neue Mutter ? " fragte der Vater vorwurfsvoll , da seine Älteste mit finsterem Gesicht schwieg .
" Ich habe keine neue Mutter - Mama ist tot ! "
Hart fielen die Worte aus dem jungen Munde .
Sah Papas jugendlich schönes Gesicht nicht mit einem Male alt und bekümmert aus ?
Olly konnte es nicht mehr erkennen , denn schon rollte der Zug mit ohrenbetäubendem Lärm aus der Halle .
Oder waren die wieder emporsteigenden Tränen daran schuld ?
Warum , Oh , warum hatte sie Papa , den sie so lieb hatte , noch zu guter Letzt diesen Schmerz zugefügt ?
Die rötlich grauen Stämme der märkischen Kieferwaldungen flogen vorüber .
Schwarz standen die nadligen Wipfel gegen den jungen Morgenhimmel .
Der stülpte sich wie eine durchsichtig blaue Glasglocke über die Landschaft .
Nur hier und dort waren luftige Lämmerwolken gleich Watteflöckchen darüber hingepustet .
Die wechselnden Bilder da draußen , die neue Umgebung im D-Züge und vor allem die Anwesenheit von Bruder Rudi , der ihr ermunternd zunickte , wirkte allmählich tröstend auf Olly .
Schließlich ganz verleugneten sich ihre siebzehn Jahre doch nicht !
Solch eine erste , selbständige Reise hat einen besonderen Reiz für junge Menschen .
Senta hatte sich längst mit Wolfgangs Bonbonniere , die sie einer eingehenden Kostprobe unterzog , getröstet .
Allmählich , als sie schon fast bis zum Überdruß geschmaust , fiel es ihr ein , daß Olly ja Mitbesitzerin sei .
Großmütig bot sie ihr die tüchtig zusammengeschrumpften Süßigkeiten .
" Willst du nicht auch ? "
" Nein , ich esse von dem Ding nichts ! "
Es war schade , daß Wolfgang Steinhardt , auf den sie doch eigentlich gemünzt waren , nicht diese verächtlichen Worte hatte hören können .
Denn auf Senta machten sie gar keinen Eindruck , höchstens einen magenfreudigen .
Die Sonne stieg , und mit ihr die Laune der drei Reisenden .
Rudi war von jauchzender , ungebundener Jugendlust , als ob das bevorstehende Studentenleben ihn schon ganz und gar gepackt hielt .
Senta war stets vergnügt , und heute , wo sie einem neuen , abwechslungsreichen Pensionsjahr entgegenfuhr , besonders .
Vor so viel Sonnenschein hielt auch Ollys Regenwetter nicht stand .
Mit großen Augen sah sie , wie der Thüringer Wald , der kaleidoskopartig an ihnen vorüberzog , bereits ein funkelnagelneues , grünes Frühlingsgewand trug .
Rudi und Senta schmetterten gerade - man befand sich allein im Coupe - das der augenblicklichen Situation entsprechende Studentenlied : " Im Tale die Saale . . . " da öffneten sich auch Ollys zusammengepreßte Lippen , und leise , kaum wahrnehmbar , summte sie die Weise mit .
Der kleine , lockere Frühlingsgott , der da draußen schon fleißig am Werk geschafft , zog auch sie in seinen Zauberkreis .
Ja , man fuhr in den Frühling hinein , in den lachenden jungen Lenz , je weiter man hinter Frankfurt nach Süden kam .
Ein schneeiges und rosenrotes Blütenmeer schlug seine duftigen Wogen zu Seiten der schwarzen Bahnschienen .
Kirsch- und Pfirsichblüte !
Ach , und da stand ja schon der Goldregen im gleißenden , blumigen Gewand !
Der Kastanienbaum dort neben dem rotmützigen Bahnwärterhäuslein hatte all seine Silberkerzen herausgestreckt .
Die Syringenbüsche waren schon vom violetten Schimmer überhaucht , und der frischgrüne Anger prangte mit Tausenden von zartfarbigen Anemonen .
" Ist das bezaubernd schön ! "
Olly hatte das Fenster herabgelassen und sog in tiefen Zügen die würzige Luft ein , die der Taunuswind ihr zutrug .
" Ja , es ist merkwürdig , in Berlin war doch fast noch alles kahl , und hier ist die Vegetation schon so weit vorgeschritten " , meinte Rudi erstaunt .
" Na , wenn das so weiter geht mit unserer Fahrt gen Süd , wandeln wir heute abend noch unter Palmen ! " lachte Senta .
Das taten sie nun nicht , wohl aber wanderten sie am Abend unter den vom Silberlichtregen des Mondes durchsickerten Bergtannen , die das alte Heidelberger Schloß umgürteten .
Der herrliche , im Milchglanz des Vollmondes träumende Renaissancebau mit seinen sagenhaften Ruinen machte auf die empfängliche Olly einen überwältigenden Eindruck .
" Wie freue ich mich für dich , Rudi , daß du auf diesem schönen Fleckchen Erde leben und studieren kannst " , sagte sie und drückte in ihrer Begeisterung sogar die Hand des Bruders .
" Ja , und besonders mit all den schneidigen Couleurstudenten zusammen . "
Für Senta hatte das Heidelberger Leben einen anderen Reiz .
Am nächsten Morgen hieß es auch von Rudi scheiden .
Als Olly seine kräftig jugendliche Gestalt , den noch jungenhaften Kopf mit dem kurzgeschnittenen Blondhaar vom dahinrollenden Zuge aus kleiner und kleiner auf dem Bahnhofe werden sah , als er schließlich ganz in einer Wolke schwarzgrauen Dampfes verschwand , da hatte sie das Gefühl , als ob sie nun ganz verlassen sei .
Sie hätte der gegenübersitzenden Senta gern die Hand hingestreckt : " Laß uns jetzt in der Fremde wenigstens schwesterlich zusammenhalten ! " aber die hätte sie sicherlich ausgelacht .
Durch das lustige Neckartal , vorüber an den düsteren Schwarzwaldtannen , jetzt wälzte der deutsche Strom , der Rhein , seine grünen Wasser dahin , und dann waren sie in der Schweiz .
Als kurz vor Bern plötzlich die gewaltigsten Gletscherriesen des Berner Oberlandes am Horizont auftauchten , schrie die sonst stille Olly laut auf .
" Senta - Senta ! "
Sie wies aufgeregt mit der Hand hinaus .
" Gott , blök doch nicht so , ich bin doch nicht taub , was gibt es denn da draußen ?
Wieder eine Windmühle , ein Kuhhirt oder gar eine Gänseherde , die dich begeistert ? " spottete die .
" Nun , mein junges Fräulein , wenn man die Alpen zum erstenmal erblickt , darf ein empfängliches Gemüt wohl in Begeisterung geraten " , mischte sich ein Herr , der mit ihnen fuhr , ein wenig tadelnd hinein .
Senta bis sich wütend auf die Lippen .
Zum erstenmal im Leben geschah es ihr , daß man Ollys Handlungsweise recht fand und die ihrige mit stummem Vorwurf kritisierte !
Wie kam überhaupt ein Fremder dazu , sie , ein erwachsenes Mädchen , zurechtzuweisen ?
Sie machte ein hochmütiges Gesicht und hatte nun erst recht kein Auge für die immer klarer aufsteigende Gletscherherrlichkeit .
Gegen Abend war_es , als die beiden Mädchen endlich , ziemlich gerädert von der langen Fahrt , ihr Endziel , den zwischen Lausanne und dem Hafen Ouchy gelegenen Gare Centrale , erreichten .
Hier sollten sie von einer Lehrerin der Pension in Empfang genommen werden .
Zur besseren Erkennung wollte die Dame ein Taschentuch in der Hand halten .
Es war reger Verkehr auf dem Bahnhof .
Ängstlich hielt sich die große Olly hinter der zierlichen Senta , die mit neugierigen Augen in das Gewühl blickte .
Dort , jene Dame hatte ein Taschentuch in der Hand , das mußte die Abgesandte von Madame Pierre sein .
Senta steuerte mutig auf sie los , Olly hinterdrein .
" Verzeihung , ich habe wohl das Vergnügen , mit einer Dame der Pierreschen Pension zu sprechen , unser Name ist Hildebrandt " , wandte sich Senta mit all ihrer verbindlichen Liebenswürdigkeit an die Fremde .
" Atsi " , nieste die Dame und gebrauchte ihr Taschentuch .
Senta wiederholte noch einmal ihre schöne Rede .
" Atsi " , antwortete es aufs neue .
Ratlos blickte das junge Mädchen sich um , dann begann es zum drittenmal .
Aber mit einem " Je ne comprend pas " schnitt die verschnupfte Dame , wie es schien , auch durch die Belästigung des jungen Mädchens ein wenig verschnupft , ihre Anrede ab .
Herrgott , richtig , sie waren ja in fremdem Lande , auf der Bahnfahrt war ihnen das noch nicht zum Bewußtsein gekommen , jetzt galt es , Französisch zu sprechen !
" Attention " - ein mit Koffern beladener Gepäckträger rempelte Olly an , die machte erschreckt einen Sprung in irgendeine Richtung hin , trotzdem sie den Mann überhaupt nicht verstanden .
" Nous sommes - nous sommes les vieles de Monsieur Hildebrandt " , versuchte Senta in ihrer Ratlosigkeit noch einmal eine Verständigung mit der immer noch ihr Taschentuch gebrauchenden Dame .
Die schien von dieser Eröffnung weder angenehm noch unangenehm berührt .
Sie machte ein so gleichgültiges Gesicht , daß das Backfischchen seine Worte mit demselben Erfolg an den danebenstehend Automaten hätte richten können .
Selbst Sentas fröhliche Keckheit schwand , mutlos standen die beiden deutschen Mädchen in dem sie umschwirrenden Gewirr von fremden Lauten .
Sie hatten niemals eine französische Erzieherin gehabt , Papa war nicht für derartigen Firlefanz .
Und mit ihrem bißchen Schulfranzösisch wußte selbst Senta , die doch ganz und gar nicht auf den Mund gefallen war , hier recht wenig anzufangen .
Als Olly die jüngere Schwester so ratlos dastehen sah , erwachte ihre eigene Energie .
" Wenn Madame Pierre niemand geschickt hat , müssen wir uns eben hinfragen , wir wissen ja die Adresse . "
Aber das war leichter gesagt als getan .
Ollys Französisch lag noch zehnmal mehr im argen als das von Senta .
Es klang ungefähr so , als ob einer Holz hackt , abgesehen von den lustig darin wimmelnden Fehlern .
So oft sie jemand ansprach , über die ersten Worte : " Où est la maison - - - " kam sie nie .
Der Betreffende hatte dann stets genug von ihrem Stotterfranzösisch und verzichtete auf die Fortsetzung .
Schließlich riet ihr jemand , sich einen Wagen zu nehmen .
Daß sie auch nicht selbst daran gedacht hatten !
Eine herrliche Fahrt am Genfer See entlang machte alle ausgestandene Angst vergessen .
In tiefer Azurbläue träumte der See , lustige weiße Wellenköpfchen tanzten auf seinem Spiegel .
Große Dampfer zogen langsam dahin , lichte Segelboote und winzige Nachen schaukelten sich übermütig auf dem flimmernden Blau .
In üppigster Fruchtbarkeit , einem blühenden Garten gleich , umrahmten ihn die Uferhänge , an denen der Wagen dahinrollte .
Hellfarbige Häuschen waren kokett in grüne Weinberge gebettet .
Drüben aber , am südlichen Ufer , erschimmerte , vom Goldorange der ersterbenden Sonne umlodert , die gewaltige Kette der Walliser und Savoyer Eishäupter .
Der Montblanc in seiner atembeklemmenden Majestät !
Olly schloß geblendet die Augen .
Hier in diesem Lande der Schönheit sollte sie , das häßliche junge Entlein , künftig leben ?
Dann aber quoll die Freude am Schönen wieder übermächtig in ihr empor .
Oh , hier mußte man ja gut sein , wo alles so feenhaft schön war .
Die heimliche Angst vor dem fremden Pensionat , vor den unbekannten Lehrerinnen und Zöglingen , die sie gewiß bald wieder verlachen würden , schwand .
Nur das Glücksempfinden , täglich dieses wunderbare Bild genießen zu dürfen , blieb .
Sie griff nach Sentas Hand .
Sie mußte in diesem Augenblick irgend jemand etwas Liebes antun , ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Schwester haben .
Die sah Olly von der Seite an , etwa wie man einen harmlos Verrückten anschaut .
" Piepmätzchen ? " fragte sie und zog ihre Hand fort .
Aber ehe eine Verstimmung in Olly aufkommen konnte , hielt der Wagen vor einem zierlichen Schweizerhäuschen .
Blaue Klematis umkletterte es bis zu dem Holzdach hinauf , einer einzigen leuchtendblauen Blume gleich ragte es aus dem ausgedehnten Garten .
Rosenrote Mandelbäume hatten dort die schweren Blütenhäupter im Abendtau gesenkt , weiße Magnolienbäume ihre lichten Tulpen geschlossen .
Ein Blumenland , das in dieser Abendstimmung unsäglichen Frieden ausströmte .
Wie in einem schönen Traum , aus dem sie Furcht hatte zu erwachen , schritt Olly langsam hinter Senta her , die jetzt wieder unternehmungslustig die Führung übernommen .
" Mon repos " stand in geraden Lettern über dem Hauseingang an der holzgeschnitzten , rings um das Haus laufenden Galerie .
Es war keins der großen Lausanner Pensionate , das von Madame Pierre .
Als Papa nach seiner Verlobung zum erstenmal den Gedanken einer Schweizer Pension ins Auge gefaßt , hatte Olly sich mit Händen und Füßen gegen ein derartig elegantes Institut gesträubt .
Viel lieber wäre sie in ein bescheidenes Pfarrhaus im Thüringer Wald gegangen .
Aber Senta tat es nicht anders , die Töchter des Kommerzienrats Hildebrandt mußten in die französische Schweiz .
Da war ihnen zum Glück der Name von Madame Pierre genannt worden , die nicht direkt in Lausanne wohnte , sondern in mehr ländlicher Umgebung im Hafen Ouchy .
Sie hatte kein ausgedehntes Schweizer Töchterpensionat unter sich und nahm nie mehr als zwölf Zöglinge an .
Der Unterricht wurde als vorzüglich empfohlen , und die Behandlung der jungen Mädchen sollte eine durchaus individuelle sein .
Das war für Papa bei seiner schwierigen Olly ausschlaggebend gewesen .
Ein nettes Hausmädchen öffnete , nahm den beiden jungen Damen das Handgepäck ab und führte sie in den Empfangsraum .
Der war wohnlich , aber einfach ausgestattet .
Senta zog das feine Näschen kraus und meinte , sich umblickend :
" Etwas plebejisch ! "
Während Olly gerade das Fehlen allen Prunkes mit erleichtertem Herzen begrüßte .
Madame Pierre trat herein .
Eine große , schlanke Erscheinung mit vollem , weißem Haar .
Das Gesicht darunter erschien noch jung , es bildete einen seltsamen Gegensatz zu den schlohweißen Haaren .
" Guten Abend " , sagte Senta und machte eine zierliche Verbeugung , halb tanzstundenartig , halb damenhaft .
Olly stand wie immer steif wie ein Stock .
" Ah , bon jour , Mesdemoiselles , mais ce n' est pas possible , que vous soyez venues seules " , sie reichte erst Olly , dann Senta die Hand in einer gewinnenden Freundlichkeit .
" Oui " , sagte Senta - " non " , sagte Olly , aber verstanden hatten sie eigentlich alle beide nichts .
Wieder sprach Madame Pierre zu ihnen , es schien eine Frage zu sein , denn sie hob zum Schluß die Stimme .
Die schlaue Senta kombinierte daraus , daß sie nach der Lehrerin , die sie in Empfang nehmen sollte , gefragt seien .
" La Dame avec les mouches n' était pas sur la gare " , stolz blickte das Blondchen auf die Vorsteherin - sprach sie nicht fein Französisch ?
Die begann plötzlich zu lachen .
" Ich habe Sie gefragt , wie Ihre Reise gewesen , und nicht nach der Dame » mit den Fliegen « , Sie meinen wohl » mouchoirs « , Kind. Ehe bien , Ihr Französisch scheint ja nicht allzu weit her zu sein , aber das werden Sie hier schon lernen " , setzte sie gleich wieder tröstend hinzu , als sie die kleine Unmutswolke auf Sentas Stirn entdeckte .
Sie sprach jetzt ganz langsam und akzentuiert , daß selbst Olly einige Worte verstand .
" Nun muß ich aber wirklich einen Boten nach dem Gare Centrale senden , sonst steht Miß Pinshes bis morgen früh dort " , wieder gingen die französischen Worte wie Wogen über die deutschen Mädchen dahin .
" Ich hoffe , daß es Ihnen bei uns gefallen wird ! "
Trotzdem Olly keine Ahnung hatte , wovon die Rede war , berührte sie die Art , in der es gesagt wurde , wohltuend .
Diesmal sagte sie " oui " und Senta zur Abwechslung " non " .
Dann klingelte Madame Pierre und gab dem eintretenden Mädchen Auftrag , die jungen Damen auf ihr Zimmer zu führen .
Senta machte wieder ihre Verbeugung , Olly etwas , was dasselbe bedeuten sollte , aber mehr dem Scharren einer Henne glich .
Dann standen sie draußen in dem erleuchteten Treppenflur .
Hinter wenig geöffneten Türspalten tauchten für Sekunden neugierige Mädchenköpfe auf .
" Numero 12 est la chambre de Mademoiselle Olly , et numero 15 de Mademoiselle Senta " , sagte das Mädchen , die Türen zu den bezeichneten Zimmern öffnend .
" Gerechter Strohsack , bleiben wir denn nicht zusammen ? "
Senta , die bisher die Gesellschaft der Schwester stets als störend empfunden , machte jetzt ein erschrockenes Gesicht .
Hier in der Fremde , wo kein Mensch ihre Sprache sprach , kam ihr zum erstenmal ein schwesterliches Gefühl .
Das angewiesene Zimmer , das sie betrat , war mit weißen Möbeln ausgestattet .
Sehr sauber , aber auch sehr einfach .
Dem verwöhnten Kommerzienratstöchterlein erschien es geradezu ärmlich .
Kein Sofa , kein Schreibtisch - dazu hatte sie so vor Irmgard von Buschen mit dem vornehmen Schweizer Pensionat geprahlt ?
Am Tisch , der in der Mitte des Zimmers unter einer elektrischen Glühbirne stand , saß ein Mädchen mit offenem , hellem Kraushaar bei einer schriftlichen Arbeit .
Es war wohl ungefähr im gleichen Alter mit der Eintretenden .
Aber die lose Matrosenbluse , der kurze Faltenrock ließen es jünger erscheinen .
" Guten Abend " , sagte Senta freundlich und schaute ihre Zimmergenossin prüfend an .
" Good evening " , sagte diese und tat dasselbe .
" Nanu , das ist ja hier das reine Babel , einer versteht den anderen nicht " , lachte Senta jetzt los .
Die junge Engländerin stimmte ein , und in diesem Lachen verstanden sich die beiden Backfische vorzüglich .
Senta eröffnete die Unterhaltung in einem seltsamen Gemisch von Deutsch , Französisch und Englisch .
" Are you schon longtemps ici ? "
" I came yesterday . "
Das deutsche Backfischchen verstand ihr Englisch bedeutend besser als das fließende , schnelle Französisch der Vorsteherin .
" Also eine Neue - wie heißen Sie - comment est votre Name ? "
" Harriot Fewson - but we musst speak French , it is Not allowed to speak in other language . "
" Quatsch - ich rede , wie mir der Schnabel gewachsen ist ! "
Es war ganz gut , daß die junge Engländerin sie ziemlich verständnislos ansah .
Beim Einräumen der Sachen , bei dem Harriot der Neuen gefällig zur Hand ging , flog die Unterhaltung wieder in drei Sprachen lustig hin und her .
Je weniger man sich miteinander verständigte , um so herzlicher lachte man .
Und solch ein gemeinsames Backfischlachen verbindet mehr als tausend Worte .
Als die Klingel zum Abendessen durch das Haus schallte , war Senta schon über manches in der neuen Heimat orientiert .
Arm in Arm zog sie mit der jungen Manchesterin ins Speisezimmer .
Auf Nummer 12 , Ollys neuem Quartier , ging es bei weitem stiller zu .
Im ersten Augenblick hatte Olly es mit Erleichterung begrüßt , daß Senta nicht mit ihr zusammenwohnen sollte , dann würden die kindischen Plänkeleien ihr wenigstens hier nicht den paradiesischen Frieden stören .
Aber als sie nun in das ihr angewiesene Zimmer trat und dort eine junge Dame vor einem Handspiegel sitzen sah , eifrig bemüht , sich die roten Haare zu Locken zu wickeln , hätte sie doch lieber die Schwester als Zimmergenossin gehabt .
Sie brummte etwas , was ebenso " guten Tag " wie " bon jour " heißen konnte , es war absolut unverständlich .
Das rothaarige Fräulein sah von seinem Toilettenspiegel auf , neigte höflich den Kopf , sagte mit hoher , dünner Stimme " bon soir " und warf einen Blick über Ollys Erscheinung , unter dem die Neue heiß errötete , denn sie fühlte die abfällige Kritik .
Darauf wandte sich die junge Pariserin wieder ihrem Spiegel zu .
Olly aber stand verlassen mitten im Zimmer und wußte absolut nichts mit sich anzufangen .
Hut und Mantel abzulegen und ihre Sachen auszupacken , das Nächstliegende , daran dachte sie nicht .
Nachdem sie ungefähr eine Viertelstunde dem interessanten Lockenstudium des hübschen Rotkopfes zugeschaut und den alabasterweißen Teint , zu dem die goldbraunen Augen eigenartig stimmten , genügsam bewundert hatte , trat sie ans Fenster und starrte hinaus .
Trotzdem graue Dämmerung bereits ihre Schattennetze über den Genfer See spann , fühlte sie wieder die Macht der schönen Natur auf sich wirken .
Das Gefühl des Unbehagens und Fremdseins schwand .
" Wollen Sie nicht Ihre Sachen ablegen ? " wandte sich die Zimmergenossin jetzt in elegantem Französisch mit erstaunten Augen an die immer noch im Straßenanzug dastehende Olly .
Die zuckte die Achsel .
Sie verstand keinen Ton .
Ach , hätte sie doch bloß den Konjunktiv besser gelernt und überhaupt in Französisch mehr aufgepaßt !
Das Pariser junge Mädchen mit dem Lockenaufbau , den hohen Absätzen und dem spitzenbesetzten Kleide schien recht wenig von seiner neuen Gefährtin erbaut .
Trotzdem versuchte es mit der gewandten Höflichkeit , die den Franzosen eigen , noch einmal die stumme Reserve der langen jungen Deutschen zu brechen und ins Gespräch mit ihr zu kommen .
Vergebene Mühe !
Olly antwortete nur durch Kopfschütteln , Brummen oder Achselzucken .
Zum Glück klang in diese angeregte Unterhaltung die Essensglocke hinein .
" Au Souper - au Souper ! "
Soviel war Olly wenigstens klar , daß dies eine Essensaufforderung bedeutete .
Die rothaarige junge Dame setzte sich in Bewegung , Olly folgte in Hut und Mantel .
Das geräumige , holzgetäfelte Speisezimmer lag im Parterregeschoß .
Die Tafel war für sechzehn Personen gedeckt , ein großer Frühlingsstrauß prangte in der Mitte .
Die Damen waren fast vollständig versammelt .
Obenan Madame Pierre , am anderen Ende des Tisches ihre Schwester , Mademoiselle Louison , meist " Made " von den übermütigen Zöglingen genannt .
Wenigstens von den Deutschen .
Sie hatte das Hauswesen unter sich .
Daran reihten sich frische , junge Mädchengesichter zwischen vierzehn und achtzehn Jahren .
Neben dem duftigen Frühlingsstrauß tauchte noch das etwas vertrocknete Gesicht von Miß Pinshes , der englischen Lehrerin , auf , mit der sich die Hildebrandtschen Schwestern auf dem Gare Centrale verfehlt hatten .
Senta saß mit roten Backen und glänzenden Augen bereits neben der neuen Freundin .
Aber ihre Wangen färbten sich noch um einige Töne tiefer , als sie jetzt Olly , noch immer gestiefelt und gespornt , hereinkommen sah .
Hatte die denn einen kleinen Triller im Kopf , daß sie so zum Essen erschien ?
Auch die anderen sahen befremdet auf das überschlanke Mädchen im grauen Filzhut und dunkelblauen Mantel .
Wollte sie etwa wieder davon ?
Madame Pierre winkte sie zu sich heran .
" Ehe bien , Olly , wollen Sie nicht ablegen , es wäre an Ihnen gewesen , Madeleine , dafür Sorge zu tragen " , wandte sie sich mit leisem Vorwurf an die bildhübsche Pariserin .
Madeleine antwortete etwas zu ihrer Entschuldigung , was Olly ebensowenig verstand wie die Worte der Vorsteherin .
Das aber verstand sie jetzt , als sich aus der Schar eine junge Dame mit schlichtem Blondscheitel und grauen Augen löste , auf sie zutrat und mit lächelndem " le chapeau " ihr den Hut vom Kopf nahm .
" Maintenant le manteau " , auch den Mantel zog sie ihr aus , und zum Schluß " les ganz " .
Ja , das verstand Olly , vor allem aber die von Herzen kommende Freundlichkeit der ihr kaum bis zur Schulter Reichenden .
Warm empfand sie den teilnehmenden Blick der guten grauen Augen .
Als die Helferin in der Not sie nun ganz selbstverständlich mit sich fortzog auf den leeren Platz neben dem ihrigen , ihr die Speisen reichte und sie vorläufig mit Fragen und Anrede taktvoll verschonte , da fühlte sich Olly geradezu geborgen neben ihrer Nachbarin .
Als könnten die vielen neugierigen Augen ihr jetzt nichts mehr anhaben .
Das Gespräch wurde ausschließlich französisch geführt , trotzdem die Hälfte der Pensionärinnen Deutsche waren .
Für jedes nicht französische Wort mußte man zehn Centimes in die Weihnachtskasse zahlen , das hielt die losen Zungen im Zaume , wenigstens , solange die Vorsteherin oder eine Lehrerin in Hörweite war .
Senta nahm dreist am Gespräch Teil und erregte durch ihre zum größten Teil falschen Antworten Lachstürme .
Sie gefiel allgemein .
Freilich den Zöglingen mehr als den Lehrerinnen .
Madame Pierre meinte innerlich , daß die kleine Blonde doch für den ersten Abend entschieden ein wenig zu vorlaut wirkte .
Die scheue Zurückhaltung der Älteren berührte sie angenehmer .
Auch Miß Pinshes und Fräulein Richter , die deutsche Lehrerin , die sich Ollys so freundlich angenommen , dachten dasselbe .
Olly war ganz erstaunt , als sie nach Tische bei der allgemeinen Vorstellung hörte , daß ihre unscheinbare kleine Nachbarin eine Lehrerin war .
Sie hatte sie durch ihr junges Aussehen ebenfalls für eine Pensionärin gehalten .
Fräulein Richter hieß bei den Zöglingen auch allgemein " la petite " .
Nach dem Abendbrot wurde musiziert .
Für Olly bedeutete das eine Erlösung , wenn sie es durch ihre Gleichgültigkeit auch im Klavierspiel nicht weit gebracht hatte .
Die Musik , das war eine Sprache , die all die verschiedenen , fremdzungigen Elemente harmonisch einte .
Um neun Uhr hieß es " bonne nuit " .
Um halb zehn machten die Lehrerinnen abwechselnd die Runde , ob überall das elektrische Licht ausgedreht sei .
Madame Pierre hatte , zur schnelleren Erlernung der fremden Sprache , das Prinzip , nie zwei Landsmänninnen zusammen das Zimmer teilen zu lassen .
Die arme Olly war gerade an eine Stockfranzösin geraten .
Aber als sie eben hinter ihrem Rotkopf das Zimmer aufsuchen wollte , fühlte Olly noch einmal ihre Hand ergriffen .
" Gute Nacht , schlafen Sie wohl ! " klang es lieb in deutscher Sprache .
Fräulein Richter flüsterte dem armen Ding , das sich hier so verlassen zu fühlen schien , noch einen Heimatsgruß zu .
Der umschwebte Olly tröstlich bis in ihre Träume hinein .
11. Kapitel .
Nun muß sich alles , alles wenden Vier Wochen waren seit dem Eintritt der jungen Berlinerinnen in das Pierresche Töchterpensionat verflossen .
Das Osterfest , das in diesem Jahre besonders spät fiel , stand vor der Tür .
Hatte Olly damals schon geglaubt , ein Frühlingsland zu betreten , so sah sie jetzt mit stillem Entzücken , daß es von Tag zu Tag noch schöner wurde .
Das Blühen wollte nicht enden .
Jeden Morgen , wenn sie auf die Holzgalerie hinaustrat , auf die alle Zimmer mündeten , fühlte sie , wie sich das Herz ihr weitete , wie ihr Auge heller blickte .
Wenn es die von rosenroten Morgenwölkchen umflatterten Schneehalden grüßte , den See mit seinen lieblichen Ufern , dann war es ihr gar nicht möglich , so mißmutig an den Kaffeetisch zu treten , wie sie das zu Hause stets getan hatte .
Dazu kam , daß die Lehrerinnen und Lehrer ihr allgemein wohlwollend entgegentraten .
Da hatte keiner eine Ahnung davon , daß sie die faule , verstockte Olly Hildebrandt war .
Jeder glaubte , ihr stilles Wesen entspränge dem Gefühl des Fremdseins und der mangelnden Sprachkenntnis .
Und jeder bemühte sich daher , es der jungen Deutschen mit den ernsten , oft sogar traurig blickenden Augen heimisch zu machen .
Olly , die so gar nicht an zarte Rücksichtnahme auf ihre Person gewöhnt war , die zu Hause sich halb krank gesehnt hatte nach einem Liebesbeweis des Vaters oder der Geschwister , fand es hier in der Fremde bei Fremden .
Gütige Worte , freundliche Blicke , der einzige Schlüssel zu der scheuen , stumpf gewordenen Mädchenseele .
Hier spottete keiner ihrer , keiner wollte sie verletzen oder setzte sie hinter die Schwester zurück .
Im Gegenteil !
Madame Pierre , die kluge Frau mit den scharfen Augen und dem gütigen Lächeln , hatte es bald heraus , daß hinter dem wenig anziehenden Äußeren der Älteren sich wertvollere Charaktereigenschaften bargen als hinter dem hübschen Larvchen der anderen .
Manche Kleinigkeit hatte es ihr offenbart .
Gleich am ersten Morgen , als die Pensionsmutter die Pflichten der Woche , die alle acht Tage wechselten , unter den Pensionärinnen verteilte , da hatte sie wohl gesehen , wie der niedliche Blondkopf ein Mäulchen zog und den Kopf hintenüber warf , als er damit betraut wurde , beim Abdecken des Mittag- und Abendtisches Hand anzulegen .
" Das ist Hausmädchenarbeit und schickt sich nicht für eine Kommerzienratstochter ! "
Deutlich standen Senta diese Worte auf der weißen Stirn geschrieben .
Aber Madame Pierre kümmerte sich nicht um derartige rebellische Gedanken .
Die hatte im Laufe der Jahre schon so manches Hochmutsteufelchen ausgetrieben .
Die dunklen Augen Ollys dagegen hatten aufgeleuchtet , als man ihr mit einer anderen zusammen unter Fräulein Richters Leitung die Sorge für den Garten auf eine Woche anvertraute .
Als ob Madame Pierre in ihrem Herzen geforscht habe , hatte sie ihr das Arbeitsfeld übertragen , welches ihr das liebste war .
Die Vorsteherin hatte die Beschäftigung in der frischen Luft für Olly ausgesucht , weil sie der Ansicht war , daß in der schönen Natur das Heimweh , von dem sie Olly befallen glaubte , sich am ersten geben würde .
Außerdem hielt sie es für geraten , zu allererst das bleichsüchtige , überschlanke Mädchen durch gesunde Arbeit zu kräftigen .
Aber noch andere Gelegenheiten ließen die Vorsteherinnen stillschweigend Vergleiche zwischen den Schwestern ziehen .
Da war der alte , blinde Wilhelm , der schon jahrelang die Stiefel der jungen Fräulein putzte und kleine Dienste in Haus und Garten leistete .
Eines Tages sah die Pensionsmutter von der blühenden Rhododendronlaube aus , wie der Blinde , der jeden Weg in der Umgebung des Hauses kannte , mit seinem schweren Wassereimer vergebens vom Brunnen zurücktastete .
Stadt an der Küche stand er plötzlich vor dem versteckt gelegenen Komposthaufen und suchte dort umsonst den Eingang .
Hinter den Blumenbüschen aber tauchten lachende Mädchengesichter auf .
Senta hatte in Gemeinschaft mit Madeleine Tisch und Stühle , die der Tastsinn des Alten als Wegweiser zu benutzen pflegte , auf einen anderen Platz gestellt , um ihn irrezuleiten .
Noch ehe Madame Pierre einschreiten konnte , hatte sich aus der übermütig kichernden jungen Schar , die gerade Frühstückspause im Garten hielt , ein großes , dunkelhaariges Mädchen gelöst .
Mit wenigen Schritten stand sie neben dem armen , vergeblich die Finger in die Luft steckenden Blinden .
Ohne Zögern griff ihre Hand nach der schwieligen des Alten , und mit freundlichem Wort führte sie den verlegen Lächelnden zum Kücheneingang .
Dann aber wandte sie sich mit empörten Augen der Schwester , welche den herzlosen Streiche mitangestiftet , zu .
" Pfui , schäme dich ! " rief Olly in deutscher Sprache .
" Dreißig Centimes in die Weihnachtskasse für drei deutsche Worte " , war die lachend in französischer Sprache gegebene Antwort Sentas .
Die Ältere wandte sich stumm ab .
Ach , sie wußte ja am besten , wie weh der Spott und das heimliche Gekicher dem Blinden , dessen Ohr noch geschärft war , getan haben mußte .
Und doch , hatte sie selbst jemals so ein mildes , verzeihendes Lächeln für ihr angetane Kränkung gehabt wie der arme Blinde ?
Olly fühlte , daß sie viel von dem einfachen Alten lernen konnte .
Auch in anderer Beziehung .
Hatte sie nicht , wo immer sie bisher gewesen , sich die Schönheit der großen Natur durch kleinliche Gedanken an das eigene winzige Ich verdorben ?
Ja , gerade dann hatte sie ihre Häßlichkeit am schmerzlichsten empfunden .
Und dieser arme blinde Mann hier ?
Der nicht sah , wie golden der Tag war , wie farbenprächtig die Blüten , wie überwältigend großartig Berg und See , der summte fröhlich bei seiner Arbeit ein Lied aus zufriedenem Herzen .
Wieviel tausendmal besser hatte sie es doch als er !
Wie mußte sie dem lieben Gott danken , daß er ihr das Augenlicht geschenkt hatte , um all das Schöne ringsum in sich aufzunehmen !
Solche Gedanken machten Ollys früher meist finstere Miene hell und zufrieden .
Ihre Augen blickten von Tag zu Tag jünger und lebensfroher .
Auch körperlich fühlte sie sich frischer .
Zum träumerischen Umhersitzen und fruchtlosen Gedankenspinnen fand sie hier keine Zeit .
Da galt es , im Hause anzugreifen , beim Aufräumen der Zimmer zu helfen , eine Torte oder einen Kuchen zu backen , Salate zierlich zu garnieren und sich selbst eine weiße Bluse kunstgerecht zu plätten .
Zu allem zog Mademoiselle Louison die jungen Mädchen heran .
Sie wußte , wenn sie es ihr auch jetzt nicht im Augenblick dankten , später taten sie es sicher einmal .
Nein , Senta , das verwöhnte Kommerzienratstöchterlein , sowohl als auch Madeleine , die elegante Pariserin , fanden diese häuslichen Beschäftigungen durchaus nicht standesgemäß .
Wo es nur irgendwie anging , drückten sie sich davon , aber die " Made " , so gut sie auch sonst war , in Bezug auf das Hauswesen verstand sie keinen Spaß .
Ob Senta auch noch solche Gesichter schnitt , sie mußte das glühende Eisen zur Hand nehmen und sich ihre Stickereibluse eigenhändig - versengen .
Sie , die bisher immer achtlos mit weißen Blusen , die das Hausmädchen ihr tadellos lieferte , umgegangen , sah jetzt , wieviel Mühe solche Arbeit machte .
Die feinen Fingerchen zeigten Blasen , und der weiße Arm - o Schrecken - sogar eine feuerrote Tätowierung .
Bei dem unlustigen Drauflosplätten hatte sie ihn mit dem Blusenärmel verwechselt .
Sentchen aber saß neben dem Plättbrett , weinte Tränen teils aus Schmerz , teils aus Ärger , teils aus Mitleid mit sich selbst , und legte geschabte Kartoffel auf das rote Ehrenzeichen der Arbeit .
Olly machte es Freude , der Made zur Hand zu gehen .
Sie hatte es ja zu Hause oft genug gewünscht , sich zu betätigen .
Sie hatte manches Mal die jungen Fabrikmädel beneidet , die sich nicht den ganzen Tag zu langweilen brauchten .
Geschickt zeigte sich Olly eigentlich nicht .
Senta war von Natur aus viel anstelliger als sie .
Aber Olly hatte Lust und Liebe zur Arbeit .
Und weil die gute Made das sah , ließ sie sich keine Mühe verdrießen , dem jungen Mädchen immer wieder die kleinen Handgriffe zu zeigen .
In den Unterrichtsfächern erging es ihr vorerst weniger gut .
Ihre Teilnahmslosigkeit in der Schule rächte sich , sie vermochte dem Unterricht , der natürlich in französischer Sprache erteilt wurde , kaum zu folgen .
Aber als sie sah , daß die Lehrer trotzdem freundlich zu ihr blieben , kein ironisches Wort für ihre Unwissenheit hatten , sondern immer wieder versuchten , eine Sache zu erklären , bis sie dieselbe begriffen hatte , erwachte die Dankbarkeit in ihr .
In Ollys reichem Gefühlsleben stand die Dankbarkeit obenan .
Hier konnte sie die Geduld , welche die Lehrenden ihr gegenüber übten , nicht besser vergelten , als daß sie alle Kräfte dareinsetzte , nachzuholen und mit den anderen Schritt zu halten .
Willensstärke und gute Geistesgaben besaß sie , das hatte sie ja auch in der Schule für kurze Zeit bewiesen .
Aber jetzt erlahmte ihre Schaffensfreude nicht durch ein schlechtes Zeugnis .
Jede freie Minute , welche die Pensionsschwestern zu allerlei Allotria benutzten , verwandte sie auf die Arbeit .
Mit zäher Energie konzentrierte sie ihr Denken auf die Bücher .
Da konnte es nicht ausbleiben , daß Senta nach einiger Zeit halb erstaunt , halb neidisch in den Unterrichtsfächern zu Olly hinblickte , die auf dem besten Wege dazu war , sie zu überflügeln und in den Schatten zu stellen .
Was die Schwestern bei ihrem Eintritt für ein Ding der Unmöglichkeit gehalten hatten , nach wenigen Wochen bereits hatte sich ihr Ohr an die fremde Sprache gewöhnt .
Wenn Madame Pierre jetzt noch so schnell parlierte , sie verstanden es , freilich mit dem eigenen Sprechen haperte es noch eine ganze Weile .
Das Plappermäulchen der Jüngeren beherrschte die französische Sprache schneller als Ollys schwerfälligere Zunge .
Sentas Freundschaft mit Madeleine , die selbst kein Deutsch verstand , beförderte ihre Sprachkenntnis .
Das war aber auch das einzige Gute an der Freundschaft zwischen Senta und Madeleine .
Trotzdem letztere mit Olly das Zimmer teilte , und sich fast überall die Stubengefährtinnen anzufreunden pflegten , blieb das auf Nummer 12 aus .
Die beiden waren äußerlich und innerlich zu verschieden , als daß sich Fäden der Sympathie zwischen ihnen gesponnen hätten .
Olly sah mit überlegenem Achselzucken auf die eitle Pariserin , die nur Sinn für ihre Schönheit und ihre Toilette hatte .
Diese dagegen wieder mit stiller Verachtung auf die unschöne Deutsche , die es nicht einmal verstand , das , was einigermaßen hübsch an ihr war , zur Geltung zu bringen .
Die mit demselben Mangel an Grazie die Hauskleider trug wie die eleganten .
Nein , da war ihr die blonde Senta , die ihr hübsches Spiegelbild geradeso liebte wie sie selbst , entschieden plus agreable .
Madame Pierre sah mit wenig Freude , daß Senta sich so innig an die rothaarige kleine Schönheit schloß , die dem deutschen Backfisch durch ihre überlegenen Toilettenkünste imponierte .
Sie hatte Madeleine überhaupt nur ungern in ihr Haus genommen .
Diese hatte Schauspielerblut in den Adern , ihr Vater sowohl als ihre Mutter gehörten zu den bekannten Schauspielern am Pariser Theater .
Besonders die Mutter war eine gefeierte Aktrice , ebenso ihrer Kunst als auch ihrer Schönheit wegen .
In solch einem Milieu , dem jedes feste Familienleben mangelte , war Madeleine aufgewachsen .
Früh schon hatte das schöne Kind Ausrufe der Bewunderung gehört , wenn sie im weißen Spitzenkleidchen neben der berühmten Mama den Boulevard entlangstolzierte .
Je größer sie wurde , umso empfänglicher zeigte sie sich dafür .
In einem Alter , wo die deutschen Mädchen noch mit Puppen spielen , hatte das französische Schauspielerkind bereits eine Schar Bewunderer um sich , da blieb für das Lernen natürlich wenig Interesse übrig .
Bevor sie als erwachsenes Mädchen sich ebenfalls ganz dem Schauspielerberuf , für den sie hervorragend befähigt war , widmete , hatte der Vater sie noch auf ein Jahr in eine Pension gegeben , um die vernachlässigte Bildung auszufüllen .
Aber Madeleine trieb hier alles andere als Lernen .
Pah - wozu sollte sie sich das hübsche Köpfchen wohl mit unnötigem Ballast vollpfropfen ?
Sie studierte heimlich Rollen aus modernen Lustspielen , in denen sie zuerst aufzutreten gedachte , und führte sie vor den Pensionsschwestern auf .
Senta Hildebrandt war ein besonders begeistertes Publikum für alle Künste der rothaarigen Madeleine .
Sie dachte schon daran , wie sie später den Freundinnen in Berlin großsprecherisch würde erzählen können , daß sie in der Pension innig mit einer berühmten französischen Schauspielerin befreundet gewesen .
Ja , die Freundschaft mit Madeleine wirkte nichts weniger als günstig auf das an und für sich schon etwas oberflächliche und gefallsüchtige Mädel .
Aber , als Senta eines Tages statt mit ihren lose am Hinterkopf aufgesteckten Blondzöpfen mit Korkenzieherlocken , wie Madeleine sie trug , zum Garnieren des Heringssalates im Reich der Made erschien , schickte diese sie mit lebhaftem Protest wieder nach oben .
Madame Pierre aber nahm sich das eitle junge Ding vor und warnte es ernst vor dem schädlichen Einfluß der jungen Pariserin .
Verbotene Früchte schmecken am besten - Madame Pierres Warnung hatte nur zur Folge , daß sich Senta heimlich noch inniger an Madeleine schloß .
Auch Olly sah es mit Bedauern .
Sie hielt die Französin , mit der sie so eng zusammen hauste , ganz und gar nicht für einen geeigneten Umgang .
Aber eine dahinzielend Bemerkung Ollys hatte die Schwester höhnisch zurückgewiesen .
" Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten , oder bist du am Ende gar neidisch auf unsere Freundschaft ? "
Nein , neidisch war Olly ganz gewiß nicht darauf .
Auch nicht auf die Tatsache , daß Senta bei allen Pensionsschwestern weitaus beliebter war als sie selbst .
Das war doch ganz natürlich , das verdachte sie keiner .
Olly hielt sich auch hier zurück .
Sie nahm nicht Teil an den heimlichen Streichen , an den verstohlenen Pralineeinkäufen und kleinen Arbeitsmogeleien .
Aber von den gemeinsamen Sportspielen , Golf , Tennis , Krocket , von den Schwimmstunden und Ruderfahrten , durfte sie sich nicht ausschließen , die gehörten in das Pensionsprogramm .
Und das war gut , denn diese Übungen im Freien machten ihre ungelenken Glieder und Bewegungen elastischer , hauchten rosigen Schimmer über die gelblich bleichen Wangen .
Mit Senta selbst setzte es jetzt niemals mehr Streit .
Es war keine Gelegenheit dazu .
Sie sahen sich kaum allein , denn sie suchten sich nicht .
Auf diese Weise vertrugen sie sich vorzüglich .
Freilich wunderten sich die anderen , vor allen Fräulein Richter , daß man die beiden Schwestern so wenig zusammen sah .
Der Grund dafür mochte wohl in der Verschiedenheit der Charaktere liegen , aber dennoch . . . !
Fräulein Richter , oder vielmehr " la petite " , spielte die Rolle , die sie am ersten Abend bei Olly Hildebrandt vertreten , auch fernerhin , die eines guten Engels .
Sobald Olly in den neuen Verhältnissen sich nicht allein zurechtfand , stand sie ihr zur Seite .
Sie ermunterte sie in den Schulstunden , zog sie bei den Mahlzeiten ins Gespräch und vermittelte in den Erholungspausen , auf den Spaziergängen Ollys Zusammensein mit der lachenden Jugend .
Das ernste Mädchen mit dem frühzeitig reifen Blick und dem wehen Zug um den jungen Mund , das so ganz anders war als alle die Mädel , die Fräulein Richter schon hatte kommen und gehen sehen , hatte von Anbeginn ihre Teilnahme erweckt .
Nie hatte Fräulein Richter sie jugendlich herzlich und hell lachen hören .
Höchstens huschte Mal ein schwaches Lächeln über ihr Gesicht , wie ein scheuer Sonnenstrahl an einem grauen Wintertage .
Und doch , dieses Lächeln zauberte einen ganz anderen Ausdruck in das schmale Mädchengesicht .
Heute lächelte Olly nicht .
So golden die Sonnenfunken auch auf dem dunkelblauen Wasserspiegel tanzten , so berauschende Düfte auch die farbenfreudigen Blütenglocken zu ihr sandten .
In den Lüften rings um sie zwitscherte und jubilierte es , als könnten die kleinen , gefiederten Musikanten gar nicht laut genug ihr Glücksgefühl über die Schönheit des Lenzes in die Welt schmettern .
Ein Rotkehlchen hüpfte von Zweig zu Zweig und blickte neugierig auf das junge Menschenkind , das da ganz versteckt auf einer Lattenbank in den dichten Gängen des Rebenlandes hockte .
Warum sang und jubilierte es denn nicht auch an solch einem wonnigen Ostermorgen ?
Das zierliche Vögelchen reckte fürwitzig sein Hälschen mit dem schönen , roten Schlips .
Nanu - hatte das Mädchen nicht sogar Tränen an den langen , dunklen Wimpern ?
Erschreckt flatterte das Rotkehlchen davon .
Olly aber fuhr sich über die schwimmenden Augen .
Ihr war das Herz heute in all dem Lenzeswunder so schwer , so schwer !
Von den blumenumkränzten Hotelpalästen Territets , die in der Sonne blitzten , glitt ihr Auge weiter .
Zu dem düsteren , mittelalterlichen Bau , der seine gewaltigen Felsmauern dräuend und unbarmherzig aus den blauen Wassern des Genfer Sees emportürmt .
Schloß Chillon !
Ach , hier hatte so mancher , eingekerkert , mit finsterem oder hoffnungslosem Blick , auf die seinem Elend hohnlachende Lieblichkeit des Sees hinausgestarrt .
Hier war Lord Byrons Klagesang " Der Gefangene von Chillon " der gepreßten Brust entströmt , hier hatten schon andere gesessen und ihr Leid für das schwerste und tiefste auf der Welt gehalten .
Olly barg das Gesicht in den Händen .
Das übermütige Sonnengeflimmer auf dem Wasser , der Glanz des Tages tat ihrem Auge weh .
Der weiche Boden verschlang das Näherkommen von Schritten .
Das in ihren Schmerz versunkene Mädchen hatte dessen nicht acht .
Erst , als sich eine Hand ihr auf die Schulter legte , und eine Stimme weich und mitleidig in deutscher Sprache :
" Olly , liebes Kind , was fehlt Ihnen denn ? " fragte , fuhr sie verstört hoch .
Fräulein Richter stand vor ihr .
Aus guten , teilnehmenden Augen blickte sie auf das weinende Mädchen .
Beschämt , in ihrem heimlichen Leid überrascht zu sein , erhob sich Olly .
Aber Fräulein Richter , die sich bereits neben sie gesetzt , zog sie wieder sanft zu sich nieder .
" Wollen Sie es mich nicht wissen lassen , Kind , weshalb Sie sich hier an dem herrlichen Ostersonntag einsam grämen ? " fragte sie leise .
Olly schüttelte den Kopf .
Nein , wenn sie Fräulein Richter auch noch so gern hatte , von dem , was ihr heute das Herz beschwerte , vermochte sie nicht zu sprechen .
" Vielleicht kann ich Ihnen helfen ? "
Sanft und weich drangen die Laute der Heimat an Ollys Ohr .
" Mir kann keiner helfen - keiner ! "
Aufschluchzend schlug das junge Mädchen aufs neue die Hände vors Gesicht .
" Auch nicht unser Herrgott da droben ? "
Ernst klang Fräulein Richters melodische Stimme .
" Ich will mich nicht in Ihr Vertrauen drängen , Olly , aber vielleicht hat der liebe Gott meinen Schritt heute gerade hierher gelenkt , weil ich Ihnen Trost bringen soll .
Man darf die Hand , die sich uns bietet , nicht in egoistischem Schmerze von sich stoßen . "
Olly hob ein wenig beschämt den Kopf .
Da hielt ihr die junge Lehrerin mit einer rührend zarten Bewegung ihre schmale , feinädrige Hand hin .
Scheu legte Olly die ihre hinein .
So saßen die beiden Hand in Hand unter dem rankenden Weinlaub .
Fräulein Richter sprach nicht mehr , sie wartete .
Sie verstand in den Seelen zu lesen , sie wußte , daß Olly sprechen würde , sobald sie sich selbst überwunden .
Da öffneten sich auch schon die zusammengepreßten Lippen , und wie gegen den Willen seiner Besitzerin sprach der Mund leise : " Mein Vater verheiratet sich heute wieder ! "
Die letzten Worte klangen ganz erstickt .
" Kind - Kind , ist denn das ein Grund zu einem solchen Schmerzensausbruch ?
Wie ist es nur möglich , daß ihr Schwestern so verschieden denkt ?
Da kam mir vor kurzem im Garten die Senta jubelnd mit einem großen Paket entgegengesprungen , das ihr zu Ehren der Hochzeit soeben erhalten habt .
Die eine weint und die andere jauchzt aus der gleichen Ursache - es geht doch wunderbar in der Welt zu ! "
" Ich hätte nicht sprechen sollen ! "
Olly sagte es mehr zu sich .
" Doch , Kind , jetzt wollen Sie sich gekränkt wieder in sich selbst zurückziehen , denken wohl gar , ich hätte kein Verständnis für Ihr Leid .
Und doch habe ich das alles einst genau so durchlebt wie Sie .
Auch mir gab mein Vater vor Jahren eine neue Mutter , und ich lehnte mich dagegen in unvernünftigem Trotz auf .
Freilich , ich war jünger und unverständiger als Sie .
Heute ist meine Stiefmutter meine beste Freundin .
Vielleicht geht es Ihnen auch noch einmal so , Olly . "
" Nie ! " Olly stieß es heftig heraus .
" Glauben Sie nicht , Olly , daß die Dame , die Ihr Vater erwählt hat , um seinen Kindern die Mutter zu ersetzen , auch dessen würdig sein wird ? " begann Fräulein Richter nach einem Weilchen wieder .
" Meine einzig geliebte Mama hat sie aus Papas Herzen verdrängt , heute drängt sie unsere Mutter ganz aus dem Hause und aus der Erinnerung ! "
Nun , da das Eis des zurückdämmenden Schweigens einmal gebrochen war , fluteten Ollys geheimste Gedanken unaufhaltsam in Worte über die Lippen .
Fräulein Richter schaute mit feuchtem Blick auf die Erregte .
Jetzt begann sie das über seine Jahre ernste Mädchen zu verstehen .
" Sie sind sicher ungerecht , Olly , wenn Ihr Vater ein noch jugendlicher Mann ist , hat er selbst noch ein Anrecht auf Glück und Freude im Hause .
Die neue Mutter hat gewiß gute Eigenschaften - schütteln Sie nicht den Kopf , Kind - Sie sollen Mal sehen , wie lieb die Mutter Sie haben wird ! "
" Mich lieb - hahaha . . . "
Olly brach mitten in dem bitteren Lachen ab , und ihre Stimme schlug in Schluchzen um .
" Mich hat kein Mensch lieb ! "
" Um Gottes Willen , was reden Sie da , Kind ! "
Fräulein Richters gute Augen blickten geradezu entsetzt drein , " denken Sie an Ihren Vater ! "
Eine lange Pause .
Nur süßes Vogelgezwitscher in den Büschen .
" Mein Vater " -
Olly sprach jetzt ganz leise , kaum hörbar - " mein Vater hat mich auch nicht lieb ! "
Ihre Lippen zuckten .
Da schlang die junge Lehrerin den Arm um die Weinende und zog sie dicht zu sich heran .
Hier öffnete sich ein solcher Kindesjammer vor ihr , daß sie vorerst nicht mit Worten daran rühren durfte .
Leise streichelte sie den dunkelhaarigen Kopf , der an ihrer Schulter ruhte .
" Ja , wenn Fräulein Arnold wäre wie Sie ! " flüsterte Olly nach einer Weile , da sie ein wenig ruhiger geworden .
" Wir können nicht alle gleich sein , - aber nun sagen Sie mir bloß , Olly , wie kommen Sie zu diesem entsetzlichen Irrtum , Ihr Vater könnte Sie nicht lieb haben .
Jeder Vater liebt sein Kind ! "
" Ich - ich bin ihm zu - häßlich ! "
Als schämte sie sich , das , was ihre Jugend verdunkelt , hier im hellen Sonnenlicht laut werden zu lassen , verbarg sie aufs neue den Kopf an der Schulter der Lehrerin .
Fräulein Richter lachte befreit auf .
" Kindskopf , " schalt sie liebevoll , " als ob Elternliebe nach dem Äußeren ginge .
Als ob ein Vater oder eine Mutter nicht gerade das häßliche Kind besonders an ihr Herz nähme !
Im übrigen - ich finde Sie durchaus nicht häßlich , Olly ! "
Das junge Mädchen hob jäh den Kopf .
" Jetzt sprechen Sie aus Mitleid gegen Ihre Überzeugung ! "
Mutlos ließ sie den Kopf wieder sinken .
" Ich lasse mich auch durch Mitleid nicht in der Wahrheit beeinflussen .
Elend sehen Sie aus , und als Sie zu uns kamen , noch viel mehr .
Aber Sie haben ein interessantes und sympathisches Gesicht - im übrigen , Olly , ist das doch furchtbar gleichgültig !
Der innere Wert bestimmt den Menschen , nicht der äußere , wenigstens vor den Leuten , an deren Urteil uns liegen sollte .
Ich habe gar nicht gedacht , daß Sie solch eine oberflächliche , kleine Eitelkeit sind ! "
Fräulein Richter zog , um sie zu trösten , das ernste Gespräch ins Scherzhafte .
Aber so schnell kam Olly nicht von dem sie in den Tiefen ihrer Seele aufrührenden Thema los .
Oberflächlich - eitel - nein , das sollte Fräulein Richter nicht von ihr denken .
" Sie haben mich zu Hause » das häßliche junge Entlein « genannt .
Wie dieses bin auch ich wegen meiner Häßlichkeit herumgestoßen , verhöhnt und zurückgesetzt worden ! "
Selbst das Allerletzte löste die Güte der Lehrerin in dem jungen Herzen .
Da lachte Fräulein Richter nicht mehr .
Was für eine beklagenswerte Jugend hatte das reiche Mädchen gehabt !
" Nun denn , " - Fräulein Richter hob Ollys gesenktes Kinn empor - " soweit ich mich auf das Märchen besinne , ist das arme , verkannte Entlein doch mehr wert als all die anderen Enten im Hofe , und wird zuletzt ein herrlicher Schwan .
Da müssen Sie ja den anderen für ihren Vergleich noch dankbar sein , Olly " , setzte sie lächelnd hinzu .
" Ich werde niemals zum schönen Schwan werden ! "
In tiefer Mutlosigkeit sprachen es die jungen Lippen .
" Denken Sie doch nicht immer nur an das Äußere , Olly .
Versuchen Sie es , innerlich aus dem grauen , unscheinbaren Entlein einen edlen Schwan zu machen .
Das innere Wesen drückt auch unserem Äußeren seinen Stempel auf .
Glauben Sie es mir , Kind !
Sie sprachen vorhin davon , daß Sie Ihrem Vater zu häßlich seien , waren Sie denn in Ihrem Wesen lieb und gut zu ihm , zärtlich und töchterlich ?
Aha - Sie schweigen , Olly .
Sehen Sie , daran liegt es , und nicht an Ihrer eingebildeten Unschönheit .
Seien Sie ehrlich gegen sich , und Sie werden erkennen , daß Sie selbst zum großen Teil schuld sind an den mangelnden Liebesbeweisen Ihres Vaters .
Wie es in den Wald hineinschallt , schallt es heraus !
Versuchen Sie selbst es erst , Ihrem Vater liebevoll entgegenzukommen , dann werden Sie sehen , daß auch er Liebe für Sie hat ! " so tröstete Fräulein Richter .
" Es ist zu spät , heute ist es zu spät ! "
Die Tränen schossen wieder heiß in Ollys Augen .
" Es ist niemals zu spät , um etwas Gutes zu beginnen !
Schauen Sie um sich , Olly .
Sehen Sie das Leben , das Blühen und Reifen ringsum ?
So glanzvoll und Licht der Tag , und doch war es vor einigen Stunden hier dunkle Nacht , vor einigen Monden unfruchtbarer Winter .
Es erneut sich alles in der Natur !
Haben Sie doch Hoffnungsfreude , wie das solchem jungen Menschenkinde zukommt .
Der Lenz ist da - nun muß sich alles , alles wenden ! "
Niemals hatte Olly derartig gütige Worte vernommen ; sie verfehlten nicht ihren Eindruck auf ihr empfängliches Gemüt .
" Ich danke Ihnen , Fräulein Richter , Oh , ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Güte !
Und ich will versuchen , innerlich zum Schwan zu werden " , setzte sie leiser hinzu .
" Bravo , Olly !
Guter Wille bedeutet schon den ersten Schritt ! "
Die Lehrerin zog sie aus dem grünen Dämmerlicht der Weinspaliere hinaus in den strahlenden Sonnenschein .
" Horch - Glockenschlag ! "
Olly blieb lauschend stehen .
" Das sind die Glocken der Kathedrale - die Osterglocken !
Sie rufen zur Auferstehung .
Wir wollen das Gute in uns , das geschlafen , das tot gewesen , erwachen und auferstehen lassen .
Die Osterglocken singen Ihnen ganz besonders ihr Lied , Kind ! "
" Ich habe noch eine Bitte , Fräulein Richter , " - Olly zögerte , weiterzugehen - " bitte , sagen Sie nicht » Sie « zu mir , Sie stehen mir seit heute so nahe , wie kein anderer Mensch ! "
" Gern , " - Fräulein Richter schlug einen heiteren Ton an - " aber nur in den Feiertags- , in den Ausnahmestunden !
Jetzt wird wieder französisch gesprochen , jetzt heißt es » vous « , sonst kriegen wir noch alle beide von Madame Pierre Schelte ! " Arm in Arm schritten die beiden unter dem ehernen Sange der Osterglocken durch das blühende Gelände .
Die Wasser des Sees murmelten es , der Lenzwind säuselte es , die lichtgrünen Blätter rauschten und die Blumen flüsterten es leise , die trostbringende Frühlingskunde :
" Nun muß sich alles , alles wenden ! " 12. Kapitel .
Ein mutiges Mädchen Ja - es wurde anders !
Olly wurde eine andere , seitdem die junge deutsche Lehrerin ihr auf der Rebenbank den richtigen Weg gewiesen .
Sie wollte mit allen Kräften versuchen , wenigstens innerlich das häßliche junge Entlein zu einem Schwan zu verwandeln .
Bei einer Vornahme blieb Olly nie stehen .
Sie ging gleich mit festem Willen heran .
Noch an demselben Tage sandte sie ein Glückwunschtelegramm an den Vater ab , da sie es vorher trotzig zurückgewiesen hatte , an Sentas Gratulationsbrief einige Worte anzufügen .
Papa sollte an dem heutigen Tage nicht zornig oder gar traurig an seine älteste Tochter denken .
Der Abend dieses eine Veränderung herbeiführenden Ostertages brachte auch in das Haus " Mon repos " manche Veränderung .
Am Nachmittag sah man die Pensionsschwestern geheimnisvoll flüstern und kichern .
Bei den gemeinsamen Spielen hatte keine so rechte Aufmerksamkeit .
Olly am wenigsten .
Wenn sie sich auch nicht an dem Getuschel , das von Senta ausging , beteiligte .
Ihr war das Herz heute so voll von dem , was Fräulein Richter gesagt .
Das " Gute Nacht " war verklungen , die Zöglinge suchten ihr Lager auf .
Olly und Madeleine stumm wie stets .
Miß Pinshes , der Senta den despektierlichen Namen " Pinscher " zugelegt hatte , machte heute als Nachtwächter die allabendliche Runde , überall waren die elektrischen Flammen vorschriftsmäßig ausgeknipst , die Mädchen in ihren Betten .
Nur der Mond ruhte nicht , durch die unverhangenen Fenster strickte er sein silbermaschiges Lichtnetz über die jungen Gesichter .
Ein Bett knarrte leise , noch eins - jetzt hier - nun dort .
Schlanke , weiße Gestalten erhoben sich lautlos allenthalben , glitten unhörbar auf bloßen Füßen über die Holzgalerie und verschwanden alle in demselben Zimmer .
Der Mond machte ein bestürztes Gesicht .
Nanu - was hatte denn das zu bedeuten , die Geisterstunde war doch noch nicht da ?
In Sentas Zimmer gab es einen heimlichen Hochzeitsschmaus .
Madeleines rothaariges Köpfchen hatte den abenteuerlichen Plan ausgeheckt , und Senta ihn jubelnd aufgenommen .
Alle Pensionsschwestern waren zur Vertilgung der großen , von Papa gesandten Hochzeitskiste geladen , nur - die eigene Schwester nicht .
" Olly hat keinen Sinn für Heimlichkeiten , die verpetzt uns am Ende " , hatte sie , ein wenig verlegen , geäußert , als die Gefährtinnen sich darüber gewundert hatten .
Madeleine pflichtete ihr bei .
" Ja , sie ist zu sehr enfant Gate bei den Lehrerinnen ! "
Olly fuhr aus erstem Halbschlummer empor .
Hatte da nicht die Verandatür geknarrt ?
Madeleine mit malerisch gelöstem Rotaar stand mitten in der Mondscheinflut , wie eine schöne Nixe anzuschauen .
Sie war gerade im Begriff , zu entwischen .
" Ist Ihnen nicht wohl ? "
Olly ermunterte sich mit Anstrengung .
Trotzdem sie Madeleine nicht mochte , war ihr Mitleid erregt .
" Nein , mir ist gar nicht gut , ich muß etwas frische Luft schöpfen - aber lassen Sie sich ja nicht stören , schlafen Sie nur ruhig weiter ! "
Madeleine machte , daß sie davonkam .
Sie wand sich - nicht vor Schmerzen - sondern vor Lachen .
Die hatte sie fein düpiert !
Der Mond guckte neugierig in das Zimmer 16 hinein .
Mit hochgezogenen Beinen hockten sie alle , die Zöglinge der Pierreschen Pension , in langen Nachtgewändern auf den Stühlen , den Betten , ja , selbst auf dem Tisch hatten vier Platz genommen .
Mit vollen Backen verschmausten sie die große Hochzeitstorte , und dazwischen die feinen Praline und herrlichen Petits fours , welche die neue Mutter für das Naschmäulchen eingelegt .
Madeleine stand in der Mitte und gab eine selbsterfundene , pantomimische Hochzeitsaufführung zum besten .
Die anderen jauchzten Beifall .
" Pst , Kinder - nicht so laut - der Pinscher hört uns ! "
" Ach wo , wenn die Mal schnarcht , können die Mauern einstürzen . . . "
" Mais la petite " , gab eine andere zu bedenken .
Aber die warnenden Mahnungen drangen nicht durch , man war viel zu sehr in Stimmung .
Die Hochzeitstafel war beendigt , jetzt kam der Hochzeitstanz heran .
Lisi , die fesche Wienerin , bildete die Kapelle .
Sie pfiff kunstgerecht die neuesten Wiener Operettenwalzer , nach denen sich die Schar weißer Hemdenmätze übermütig drehte .
Alles barfuß .
Der Mond machte ein ganz verdutztes Gesicht bei diesem merkwürdigen Anblick .
Aber noch ein Gesicht spähte durch die Scheiben , nicht weniger verdutzt als der Mond droben .
Das Ollys .
Sie hatte nicht wieder einschlafen können , die Sorge um die erkrankte Madeleine hatte sie munter gehalten .
Da die junge Pariserin nicht zurückkehrte , fürchtete Olly , daß sie sich in der Nachtluft erst recht erkälten könnte .
Gutherzig , wie sie war , erhob sie sich trotz ihrer Müdigkeit vom Lager , um selbst nach der Kranken zu sehen .
Aber die Holzgalerie , auf die Olly trat , war leer .
Nur silberfüßige Mondstrahlen huschten darüber hin .
Wo war Madeleine hingekommen ?
Aus einem Zimmer klang Flüstern und Lachen .
Olly folgte dem Klang .
Und nun stand sie , wie ein Dieb in der Nacht , am Fenster der Schwester und schaute hinein .
Da schwenkte Madeleine , die Patientin , gerade ein großes Stück Schokoladentorte in der Hand herum und rief in französischer Sprache :
" Das Brautpaar soll leben ! "
Kalt durchrieselte es Olly in der linden Frühlingsnacht .
Man feierte dort drin Papas Hochzeitsfest mit den Gaben der Heimat !
Und sie , sie hatte Senta davon ausgeschlossen !
Wenn sie auch bestimmt nicht an der Heimlichkeit teilgenommen , wenn sie auch der Schwester sicher abgeredet hätte , es tat doch weh !
Alle Bitterkeit , die Fräulein Richters liebe Worte heute in ihr gelöst , quoll wieder jäh empor .
Aber während die da drinnen übermütig im Mondenschein den Reigen schlangen , kämpfte Olly ernsthaft gegen dieses Gefühl .
Sie wollte ja besser werden , Böses mit Gutem vergelten !
Das konnte sie nicht mehr betätigen , als wenn sie Senta und den Gefährtinnen den Rat gab , den heimlichen Unfug zu beendigen , ehe eine der Lehrerin etwa davon Wind bekam .
Die Verandatür öffnete sich plötzlich .
Ha - stob die tanzlustige Schar da auseinander .
Im Mondschein stand , wie ein Geist , Olly Hildebrandt - Gott sei Dank , keine Lehrerin !
Senta , die sich als Urheberin am meisten erschreckt und gleichzeitig Olly gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte , fuhr sie aufgebracht an :
" Na , spionierst du heimlich herum , willst uns wohl morgen bei deinem Fräulein Richter verklatschen und dich dadurch lieb Kind machen ? "
Wieder mußte Olly alle Willenskraft aufbieten , um Sentas Schmähungen vor den Gefährtinnen nicht mit Gleichem zu vergelten .
Aber sie brachte es fertig , in nicht unfreundlichem , wenn auch ernstem Ton zu antworten :
" Ich möchte dir raten , Senta , mit eurem Beisammensein hier Schluß zu machen .
Wenn es herauskommt . . . "
" Habt ihr_es gehört , sie will uns verpetzen ! " unterbrach die Schwester sie höhnisch .
Und wie um Olly ihre Gleichgültigkeit gegen den gegebenen Rat zu beweisen , faßte sie Madeleine rundum und begann mit ihr aufs neue , eine Melodie trällernd , im Zimmer herumzuwalzen .
Die anderen folgten ihrem Beispiel .
" Qu' est-ce que c'est que ça ? "
Wie eine Bombe platzte plötzlich eine weiche Frauenstimme in diesen fröhlichen Tumult .
In dem Rahmen der zum Treppenflur führenden Tür tauchte im losen Hausgewande " la petite " auf .
Aber in diesem Augenblick erschien sie keiner der entsetzten Pensionärinnen klein , sondern groß und drohend .
" Ja , schämt ihr euch denn gar nicht , uns derartig zu täuschen ? " begann Fräulein Richter ernst , und überflog die sich wie ängstliche Küchlein zusammenscharenden Mädchen .
Da wurde ihr strafender Blick plötzlich traurig - sie hatte Olly unter den weißen Gestalten entdeckt .
" Auch Sie , Olly Hildebrandt - das habe ich allerdings nicht von Ihnen vermutet , besonders nicht nach dem heutigen Tage !
Sie haben mich sehr enttäuscht ! "
Olly zitterte wie Espenlaub .
Das Schlimmste , was sie treffen konnte , war , nun auch von Fräulein Richter verkannt zu werden !
Und dennoch schwieg sie !
Nicht aus Scheu oder aus Trotz .
Nein , sie , die stets ausgeschlossen gewesen , jetzt , wo es galt , die Strafe gemeinsam mit den Gefährtinnen zu tragen , jetzt dachte sie zu vornehm , um sich allein auszuschließen .
Die Mädchen sahen auf Senta - sprach die denn nicht , klärte die denn nicht den wahren Sachverhalt auf ?
Nein , Senta schwieg .
Olly hatte ja allein einen Mund , was brauchte sie denn die Schwester weißzuwaschen !
Da wandte sich Fräulein Richter ihr selbst zu .
" Ich irre mich wohl nicht in der Annahme , Senta , daß Sie in Gemeinschaft mit Ihrer Freundin Madeleine diese heimliche Zusammenkunft ins Werk gesetzt haben .
Wir sprechen uns morgen .
Jetzt schleunigst eine jede in ihr Zimmer , und daß ich keinen Laut mehr vernehme ! "
Niemand hatte " la petite " jemals so streng sprechen hören .
Ohne noch einen Blick auf die flehentlich an ihren Zügen hängende Olly zu werfen , wandte sie sich zum Gehen .
Da aber eilte Lisi , die lustige Wienerin , hinter ihr her .
" Fräulein Richter , a Schande wäre_es , wenn wir das mit anschauen täten , daß das arme Hascherl , die Olly Hildebrandt , die gar nicht mitgetan hat , die von all dem Leckeren kein Bisserl mitgefuttert , die uns lediglich gewarnt hat , jetzt mitbestraft wird ! "
So rief sie in ihrem Heimatsdialekt , ohne es in ihrer Aufregung zu merken .
" Das ist brav , Lisi , daß wenigstens Sie der Wahrheit die Ehre geben ! "
Fräulein Richter blickte wieder so freundlich wie sonst .
Sie trat zu der befreit aufatmenden Olly und drückte ihr die Hand .
" Ich habe mich doch nicht in dir getäuscht ! " sagte sie leise in warmem Ton auf Deutsch .
Zum erstenmal gab sie ihr das erbetene " du " .
Das war die schönste Rechtfertigung für Olly .
Bald lag das Schweizerhäuschen wieder so still und verschlafen da , als ob nicht vor kurzem noch lustiger Mädchenspuk darin sein Wesen getrieben .
Und der Mond machte ein so dummes Gesicht , als hätte er das alles nur geträumt .
Ach - auch die Mädchen wünschten am anderen Morgen , daß es nur ein böser Traum gewesen wäre .
Wenn erst Madame Pierre von der Geschichte erfuhr , setzte es was ab .
Aber die erwartete Strafpredigt beim gemeinsamen Frühstück blieb aus .
Nun , so kam sie mittags - wenigstens eine Galgenfrist !
Die Mädel wagten heute in ihrem Schuldbewußtsein kaum aufzublicken , ihre Arbeiten vollführten sie mit grenzenlosem Eifer .
So oft die Vorsteherin bei der Mittagstafel das Wort ergriff , duckten sich elf Mädchenköpfe .
" Jetzt kommt es - jetzt geht es los ! " fürchtete eine jede .
Doch Madame Pierre war freundlich wie stets , nichts erfolgte .
Sollte " la petite " so anständig gewesen sein und Schweigen über die Angelegenheit bewahrt haben ?
Nach Tisch ließ Fräulein Richter die Sünderinnen auf ihr Zimmer rufen .
" Olly Hildebrandt hat heute morgen für euch gebeten , daß ich der Vorsteherin keine Mitteilung über die gestrige Ungehörigkeit mache .
Bei ihr mögt ihr euch bedanken , wenn ihr diesmal so davonkommt .
Ich habe lediglich Madame Pierre ersucht , einen Wechsel in der Zimmerverteilung vornehmen zu dürfen . "
Lange Gesichter .
" Madeleine wird künftig das Zimmer mit Miß Pinshes teilen , Senta zieht zu mir .
Olly mag mit Lisi von nun an zusammenhausen " , fuhr Fräulein Richter fort .
" Ich denke , daß auf diese Weise derartige heimliche Übergriffe vermieden werden , und daß sich jede bemühen wird , mich diesen wenig erfreulichen Vorfall vergessen zu machen . "
Die Zöglinge bedankten sich erleichtert , auch Senta und Madeleine .
Wenngleich diese fürchterliche Grimassen schnitten , daß sie jetzt unter Aufsicht einer Lehrerin gestellt wurden .
Das war eine große Veränderung im Pensionsleben .
Aber es folgte noch eine zweite .
Die Mädchen , die bisher zu Senta gehalten und sich um Olly wenig gekümmert hatten , wußten seit gestern den wahren Wert der beiden Schwestern richtig einzuschätzen .
Man verurteilte allgemein Sentas Benehmen und fand , daß Olly unglaublich anständig gehandelt .
Voll Dankbarkeit wandte man sich allgemein ihr zu .
Olly empfand das freundliche Entgegenkommen der Pensionsschwestern mit innerer Glückseligkeit .
Wie ein verkümmertes Pflänzchen , das man aus kaltem Schatten plötzlich in den warmen Sonnenschein verpflanzt , blühte sie auf .
Innerlich und äußerlich .
Fräulein Richter brauchte nicht mehr darüber den Kopf zu schütteln , daß sie Olly niemals lachen gehört .
Ihre Stimme und ihr Lachen klang jetzt so jugendfroh wie das der Altersgenossinnen .
Das Zusammenwohnen mit der heiteren Wienerin zeigte sich besonders vorteilhaft für das frühernste Mädchen .
Von Lisi lernte Olly es , jung zu sein .
Jetzt ging es nicht mehr stumm auf Zimmer 12 zu .
Da wurde geschwatzt und gelacht , Olly lernte nun erst den Reiz des Pensionslebens kennen .
Und noch manches andere lernte Olly von der feschen Wienerin , die trotzdem nicht eitler war , als wie es ein niedliches , siebzehnjähriges Mädchen sein darf .
Sie lernte eine Schleife zierlich binden , Wert auf einen geschmackvollen Anzug legen , unterscheiden , was kleidsam und was unvorteilhaft für sie war , und vor allem ihr schönes , schwarzes Haar netter frisieren .
Jetzt trug Olly Hildebrandt nicht mehr ihr Haar Strafe aus der Stirn gestriegelt , jetzt konnte Senta nicht mehr vor ihr behaupten , sie sähe wie ein abgeknabberter Knochen aus .
Schlicht gescheitelt umschmiegte das reiche , tiefschwarze Haar in weichen Wellen das schmalgeschnittene Gesicht , im Nacken zu vollen Zöpfen aufgenestelt .
Freilich , dem Spiegel hatte sie nach wie vor Feindschaft geschworen .
Sie war von Hause aus so daran gewöhnt , stets mit abgewandtem Gesicht an ihm vorüberzugehen , daß sie dies auch hier beibehielt .
An einem heißen Sommertage aber , als die Mädel mit ihren Ruderbooten Mal wieder draußen auf dem Genfer See lagen , beugte sich Olly von ungefähr über den Rand des kleinen Nachens .
Da stutzte sie .
Ja , war denn sie das wirklich und wahrhaftig , das Bild des anmutigen , weißgekleideten jungen Mädchens , das da aus dem kristallklaren Wasserspiegel mit großen , erstaunten Augen sie anstarrte ?
Gleich dem häßlichen jungen Entlein , das im Spiegel des Sees plötzlich sein Bild als schönen Schwan erblickt , wurde es da auch unserem häßlichen jungen Entlein zumute .
Es starrte und starrte .
" Ei , Olly , ist dir die Seejungfrau erschienen , oder schaust du da unten das blaue Kristallreich des Wasserkönigs ? " neckte Lisi .
" Ja , ich habe eben in dem Wasser ein Märchen geschaut " , sagte Olly leise , wie traumbefangen .
Zu Hause aber schlich sich das häßliche junge Entlein verstohlen zum Spiegel .
Sie schämte sich ein wenig ihrer Eitelkeit , aber sie mußte sehen , ob der Wasserspiegel nicht gelogen habe .
Nein - das war nicht mehr die Olly , die mit mißmutigem Gesicht in der Rokokovilla einhergegangen .
Die schwarzen Augen , die mit banger Frage an dem Glas hingen , schauten nicht , wie einst , aus einem gelblich mageren Gesicht .
Rosig gerundet hatten sich die Wangen hier in der schönen Luft und der glücklichen Atmosphäre .
Der wenig gute Teint war durch das körperliche Besserbefinden klar und rein geworden , Mund und Nase schienen durchaus nicht mehr zu groß für das jetzt vollere Gesicht .
Die Augen , die sonst meist trübe in die Welt geblickt , schauten zwar noch ernst , aber man sah es ihnen an , daß sie auch Frohsinn kennen gelernt .
Auch die dürren Backfischarme , der magere Körper , waren voller geworden , kein Kleid paßte Olly mehr .
Sie war noch immer keine Schönheit - bewahre - aber doch auch nicht mehr so abschreckend garstig , daß sie sich selbst nicht anschauen mochte .
Und noch eins - die Ähnlichkeit mit ihrer verstorbenen Mama kam jetzt geradezu erschreckend zum Ausdruck .
Selbst dem innerlichst veranlagten Menschen gibt das Bewußtsein , äußerlich nicht abstoßend , sondern eher angenehm zu wirken , eine liebenswürdigere Art , ein freieres Auftreten .
Bei Olly , deren ganze Verschlossenheit ihren Ursprung in dem niederdrückenden Gefühl ihrer Häßlichkeit hatte , war das mehr als bei jedem anderen der Fall .
Selbst Fräulein Richter war oft erstaunt über die Wandlung , die mit Olly vor sich gegangen .
Wenn sie an das scheue , bleichsüchtige Mädchen dachte , das da in Hut und Mantel damals am Abendbrottisch erschienen , und es jetzt mit dem frischen , fröhlichen jungen Menschenkind verglich , dem man die Freude an der Arbeit ansah , dann erschien ihr diese Umwandlung fast wie ein Wunder .
Mit Recht konnte sie sich den größten Teil an dieser Veränderung zuschreiben .
Sie war glücklich darüber , denn sie hatte Olly in ihr Herz geschlossen .
Auch die Pensionsschwestern waren oft ganz erstaunt , wie liebenswürdig die sich in den ersten Wochen so zurückhaltende Gefährtin jetzt zeigte .
Olly war nun beliebter , als es Senta je gewesen .
Diese sah es mit heimlichem Neid .
Die zweite Geige spielte das verwöhnte junge Fräulein nicht gern .
Anstatt sich darüber zu freuen , daß die Schwester eine andere geworden , daß sie nicht mehr abseits vom fröhlichen Kreise stand , ärgerte sie sich heimlich darüber .
Fräulein Richter hatte gute und scharfe Augen .
Trotzdem Senta meistens schon schlief , wenn die Lehrerin das gemeinsame Zimmer betrat , tat sie doch manchen Blick in die Seele des ziemlich oberflächlich veranlagten Mädchens .
An einem schwülen Augusttage war es .
Die Zöglinge der Pierreschen Pension tummelten sich unter Aufsicht von " la petite " in der zum Pensionat gehörigen Badeanstalt , übermütig spritzte man sich mit dem erquickenden Naß .
Jubel und Lachen erscholl aus dem grüngestrichenen Bretterhaus .
Den guten Schwimmerinnen war es gestattet , ein Endchen aus dem engen Bassin in den blauen See hinauszuschwimmen .
Eine gezogene Leine gab die Grenze , die einzuhalten war , an .
Madame Pierre sah streng darauf wegen ihrer Verantwortung für die jungen Mädchen .
Senta und Madeleine waren beide tüchtige Schwimmerinnen .
Ihrer Unternehmungslust war die Absperrung stets im Wege .
Heute hatten sie sich einen besonderen Ulk ausgedacht .
Madeleine hatte den Vorschlag gemacht , zu versuchen , heimlich weiterzuschwimmen .
Um diese Zeit mußte der von Genf nach Montreux gehende Dampfer vorüberkommen , das gab einen Hauptspaß , wenn sie dem zuwinken würden .
Daß dies als unschicklich verboten , erhöhte das Vergnügen nur noch .
Als Fräulein Richter gerade im Gespräch mit einigen Mädchen begriffen , schwammen die beiden unter Wasser geschwind über die Absperrungsleine hinaus .
Weiter , immer weiter !
Herrlich war es , so frei und ungebunden in dem weiten , durchsichtig blauen See herumzuplätschern .
Der Dampfer , den sie erwarteten , schien Verspätung zu haben .
Sentas Arme begannen zu ermüden .
Aber Madeleine wollte durchaus nichts von Umkehr hören .
" Wirf dich auf den Rücken , da kannst du noch stundenlang schwimmen " , riet sie .
Fräulein Richter trieb zur schnellen Heimkehr .
Von den Bergen her zog es schwarz auf .
Das Gewitter , das man seit einigen Tagen ersehnt , schien mit Schnelligkeit heranzukommen .
Sie zählte , wie sie es stets tat , die in die Ankleidezellen Verschwindenden .
Zwei fehlten .
Natürlich Senta und Madeleine !
Keiner hatte sie gesehen .
Die zwei mußten immer etwas Besonderes haben !
Fräulein Richter schritt ungehalten bis zur äußersten Planke des Badestegs .
Aber soviel sie auch rief , so scharf sie auch ausspähte , weder Sentas roter , noch Madeleines blauer Badehut wollten sich zeigen .
Bleigrau und düster lag der See jetzt unter den sich türmenden Wetterwolken .
Um des Himmels Willen - die beiden würden doch nicht weitergeschwommen oder ihnen gar , ohne daß es jemand gemerkt , ein Unglück zugestoßen sein ?
Fräulein Richter lief in qualvoller Erregung hin und her .
" Senta - Madeleine . . . "
Der einsetzende Gewittersturm , der den ruhigen See plötzlich zu weißem Wellengischt aufpeitschte , verschlang ihr angstvolles Rufen .
Da stand Olly neben ihr .
Sie hatte mit fliegender Hand die Kleider übergeworfen , jetzt schaute sie ebenso verängstigt wie Fräulein Richter nach der Schwester und der Gefährtin aus .
Da - dort - ganz hinten zwischen zwei Wellen - war das nicht - -
Der Sturm schob eine neue Wellenwand dazwischen .
Olly sah nichts mehr .
Aber jetzt - als der Wind einen Augenblick Atem schöpfte , jetzt - ja , ganz deutlich sah sie Madeleines blauen Hut , noch in ziemlicher Entfernung , aber er kam näher , Madeleine schwamm in langen Stößen zurück .
Wo aber , wo war Senta ?
Vor Aufregung sah Olly jetzt überhaupt nichts mehr .
Es flimmerte ihr vor den Augen .
Trotzdem verließ ihre Geistesgegenwart sie nicht .
Mit fliegender Hand löste sie den Kahn , der stets bereitstand , warf den Rettungsgürtel und Sentas am Geländer hängenden Bademantel hinein , und sprang selbst hinterher .
" Um Gottes Willen , Kind , was willst du tun ? "
Fräulein Richter flog am ganzen Körper .
Olly wies auf den größer und größer werdenden blauen Punkt , Madeleines Badehut .
" Wo Madeleine ist , wird Senta sicher nicht weit sein , ich will ihr entgegenrudern , vielleicht vermag sie nicht mehr zurückzuschwimmen . "
Da teilte ihr Boot auch schon die schäumenden Wellen .
" Olly - Olly - du begibst dich selbst in Lebensgefahr - ich darf dich jetzt beim Gewittersturm nicht hinauslassen . . . "
Olly hörte nicht mehr Fräulein Richters entsetzte Stimme .
Der Sturm sang ihr sein schauriges Lied in die Ohren , die Wellen schlugen gierig , opferheischend an das dünne Fahrzeug und warfen es sich hohnlachend wie einen Spielball zu .
Es war unmöglich , eine bestimmte Richtung innezuhalten .
Trotzdem bewegte das junge Mädchen , alle Kraft einsetzend , unermüdlich die Ruder .
Zwei Meter kam sie vorwärts , einen wurde sie wieder von den Wellen zurückgeschleudert .
Sie begann das Zwecklose ihrer Mühe einzusehen .
In diesen Wellenwirbel hinein , ohne bestimmte Richtung zu rudern , war Wahnsinn .
Aber Senta - barmherziger Gott , Senta ?
Die war vielleicht verloren ohne sie , ganz sicher , sonst wäre sie doch an Madeleines Seite gewesen !
Wenn sie auch niemals einander nahegestanden hatten , es war doch ihre Schwester , die in Lebensgefahr schwebte !
Was galt dagegen das ihr in all den Jahren angetane Weh ?
" Papas Liebling . . .
Nein , lieber Gott , hilf - nimm mich dafür !
Tu Papa nicht den Schmerz an , ihm Senta zu entreißen !
Mich wird er leichter entbehren . . . "
Wie stummes Gebet durchflog es den jeden Nerv anspannenden Mädchenkörper .
Da - ein bläulichgelber Zickzack über den Wassern - der erste Blitz .
Er beleuchtet grell für die Dauer von einer Sekunde etwas Rotes , das unweit auf- und niederwogt .
Olly hatte genug gesehen .
Das war Senta !
Ihre des Ruderns erst seit kurzem kundigen Arme , die von der gewaltigen Anstrengung zu erlahmen begannen . fühlten sich plötzlich von neuer Kraft durchrieselt .
Der Donner einte schaurig seine Stimme mit dem Heulen des Sturmes und dem Tosen der Wellen .
Kreischende Möwen flogen , wild mit den Flügeln schlagend , landwärts .
Wieder blendendes , schwefelgelbes Feuer ringsum - sie war der sichtbar in Todesangst mit den Wogen Ringenden ganz nahegekommen .
Noch ein paar Ruderschläge - und sie konnte ihr den Rettungsgürtel zuwerfen .
Dreimal entrissen ihn der verzweifelt danach Greifenden die tobenden Wasser .
Sie wollten sich ihr Opfer nicht rauben lassen .
Endlich vermochte Senta , die kaum noch ihrer Sinne mächtig war , ihn mit erstarrten Händen festzuhalten .
Mit Aufbietung ihrer letzten Kraft versuchte Olly die mit dem Ertrinken kämpfende Schwester zu sich ins Boot zu ziehen . Vergebens .
- Sie war am Rande ihrer Kraft .
War alle Mühe umsonst , sollten sie jetzt , so nahe der Rettung , doch noch beide dem Untergange verfallen sein ?
Schrilles Tuten ließ Olly in ihrem vergeblichen Tun innehalten .
Der Dampfer - groß und majestätisch rauschte er in unmittelbarer Nähe heran , der verspätete Dampfer nach Montreux .
" Hilfe - Hilfe . . . " das Rollen des Donners übertönte dumpf ihren schwachen Ruf .
Da griff Olly zum letzten Mittel .
Sie zog die Ruderstange ein , band Sentas mitgenommenen Bademantel mit bebenden Fingern daran und versuchte ein Notsignal zu geben .
Ein Blitzstrahl hatte Mitleid mit den um ihr junges Leben Ringenden .
Grell beleuchtete er die weiße Notflagge .
Man wurde aufmerksam auf dem Dampfer .
Der Kurs wurde verändert .
Der Dampfer stoppte dicht neben dem schwankenden kleinen Nachen .
Eine Strickleiter wurde herabgelassen .
Eiligst kletterte ein Matrose daran herab .
Er griff nach der zu dem Rettungsgürtel gehörenden Leine und zog mit markigen Armen die sich darin einkrallende Senta heran .
Es war die höchste Zeit .
Trotzdem der Gummigürtel sie über Wasser hielt , ihre Finger wollten dem Lebensdrange nicht mehr gehorchen .
In den Bademantel gehüllt , so wurde die Gerettete auf den Dampfer getragen .
Inzwischen hatte ein anderer die sich kaum noch aufrechthaltende Olly ebenfalls aus ihrem wie eine Schaukel auf- und niedergehenden Fahrzeug befreit und auf den Dampfer befördert .
Man betete die jungen Mädchen auf die Plüschpolster der Salonkajüte , fremde Damen halfen mit Kleidungsstücken aus .
Die Blonde , die zuerst ganz leblos geschienen , kam allmählich wieder zu sich .
Aber die Schwarzhaarige schien total erschöpft .
Man rieb ihr die Schläfen mit Eau de Cologne und gab ihr feurigen Wein zu trinken .
Da schlug auch sie die Augen auf .
" Bitte nach Ouchy - legen Sie bitte in Ouchy an ! " das war das erste , was Olly flehentlich hervorstieß , als sie wieder die Lider öffnete .
Fräulein Richters sicher grenzenlose Angst und Sorge ließ bei ihr noch keine Freude über die Rettung aufkommen .
In der Badeanstalt standen , mit Ferngläsern bewaffnet , die Pierreschen Pensionärinnen in heller Aufregung .
Fräulein Richter , die sonst so Sanfte , stets Gleichmäßige , war nicht zu beruhigen .
Sie weinte und klagte ihre eigene Unaufmerksamkeit als Schuld an diesem entsetzlichen Unglück an .
Madeleine , welche die ermattete Senta im Stich gelassen und die Badeanstalt selbst glücklich erreicht hatte , stand weinend daneben .
Das Bewußtsein , zwei Gefährtinnen dem Verderben preisgegeben zu haben , war selbst für das oberflächliche Mädchen furchtbar .
Da schrien die durch das Fernglas Schauenden plötzlich auf .
Sie hatten den neben Ollys Boot haltenden Dampfer erspäht .
Aber ob alle beide gerettet waren , vermochten sie nicht zu unterscheiden .
In strömendem Gewitterregen ging es jetzt im Trab , ohne Hut und Mantel , zu der nicht allzu fern gelegenen Dampferanlegestelle .
Sie kamen gerade zurecht .
Von hilfreichen Armen gestützt , schwankten die beiden Hildebrandtschen Schwestern , noch immer matt , über die Landungsbrücke .
Wortlos zog Fräulein Richter Olly in ihre Arme , zu sprechen vermochte sie noch nicht .
Immer wieder fuhr sie ihr streichelnd über die Wangen , als ob sie es gar nicht glauben könnte , daß sie wahr und wahrhaftig in ihren Armen ruhte .
Dann kam Senta heran .
" Böses Mädel ! "
Aber selbst sie liebkoste Fräulein Richter in ihrer Glückseligkeit .
Ein Wagen brachte die Erschöpften schnell nach " Mon repos " zurück , wo man sie sogleich in ihr Bett spedierte .
Diesmal wurde der Vorfall Madame Pierre nicht verschwiegen .
Abgesehen davon , daß sich die heldenhafte Tat Ollys herumsprach , hielt es Fräulein Richter für ihre Pflicht , der Vorsteherin sofort von dem Geschehenen Mitteilung zu machen .
Ein zweites Mal durften die ihr anvertrauten jungen Mädchen nicht dem unverzeihlichen Leichtsinn Madeleines ausgesetzt sein .
Am Abend dieses aufregenden Tages gingen zwei Briefe ab .
Einer in französischer Sprache nach Paris , und ein deutscher nach Berlin .
Der erstere war von Madame Pierre , und an Madeleines Vater gerichtet .
Die Vorsteherin ersuchte darin Monsieur , seine Tochter , die sowieso zu Oktober das Institut verlassen sollte , sobald als möglich heimzuholen , da das junge Mädchen die Statuten der Pension nicht innehalte , und nicht nur die dortige Disziplin , sondern auch das Leben ihrer Pensionsschwestern gefährdet habe .
Madeleine stand dieser entehrenden Ausweisung durchaus nicht beschämt gegenüber .
Im Gegenteil !
Sie war froh , so bald die erwachsene junge Dame spielen zu können .
Der andere , nach Deutschland gerichtete Brief ging an den Kommerzienrat Hildebrandt .
Fräulein Richter hatte ihm geschrieben , ohne den Schwestern davon Mitteilung zu machen .
Sie hatte es aus warmem Herzen heraus getan .
Ollys Klage : " Mein Vater hat mich auch nicht lieb ! " tönte ihr noch immer im Ohr nach , sie konnte den Jammerlaut nicht vergessen .
Der Vater kannte seine Tochter nicht , dessen war sie sicher .
Er ahnte den Gefühlsreichtum , der sich hinter unfreundlichem Wesen verschanzte , überhaupt nicht .
Das heutige mutige Handeln Ollys , die das eigene Leben ohne Besinnen zur Rettung der Schwester , die sich ihr gegenüber niemals schwesterlich gezeigt hatte , eingesetzt , hatte die junge Lehrerin aufs neue einen Blick in das selbstlose Herz des jungen Mädchens tun lassen .
Der Vater mußte von Ollys Rettungstat erfahren , um seine Töchter richtig zu beurteilen .
In ihrem Herzenstakt fand Fräulein Richter die treffenden Worte für das , was ihr an der Seele lag .
Sie erzählte , wie beliebt Olly allgemein in der Pension sei , wie sie selbst das tief veranlagte Mädchen ins Herz geschlossen , und daß sie sich äußerlich und innerlich überraschend entwickelt habe .
Zum Schluß berichtete sie , ohne Senta , die von einer Gefährtin angestiftet , die ganze Schuld beizumessen , von dem aufregenden Ereignis .
Und wie Olly durch Mut und Selbstlosigkeit die Schwester mit eigener Lebensgefahr gerettet habe .
Aber damit gab sich Fräulein Richter noch nicht zufrieden .
Sentas Herz war heute durch die ausgestandene Angst weich wie gelockertes Erdreich .
Jetzt war es an der Zeit , den Samen der Schwesterliebe hineinzusäen .
Wer mit einem Fuß schon an der Schwelle des Jenseits gestanden , der ist empfänglich für ein ernstes Wort .
Nach dem Abendessen leisteten die Zimmergenossinnen den beiden Schwestern Gesellschaft .
Lisi kehrte ihre mutwilligste Laune hervor , um Olly , die immer noch etwas bleich und angegriffen in den Kissen ruhte , aufzuheitern .
Fräulein Richter aber sprach ernste , eindringliche Worte zu der schon wieder ganz rosig und vergnügt dreinblickenden Senta .
Sie stellte ihr vor , wie Olly unter ihrer Lieblosigkeit die vielen Jahre gelitten , wie sie sich oft nach einem guten Wort der Schwester gesehnt habe .
Daß sie dadurch verschlossen und abstoßend geworden und erst in der Fremde davon gesundet sei .
" Sie sind nicht schlecht , Senta , davon bin ich überzeugt , " Fräulein Richter legte die Hand auf den Blondkopf der in Tränen Zerfließenden , " nur äußerlich , leichtsinnig und unbedacht .
Der heutige Tag hat Ihnen gezeigt , was Sie an Madeleine haben , die Sie treulos in den Fluten zurückließ , und was an Ihrer Schwester .
Das eigene Leben wollte sie für Sie , die das recht wenig um sie verdient hat , opfern .
Sie können ihr Ihre Rettung nicht anders danken , als daß Sie das wiedergeschenkte Leben mit dem Vorsatz beginnen , von nun an treu und schwesterlich zu Olly zu stehen ! "
" Ich will , Fräulein Richter ! "
Tief senkte sich der sonst so lustige Blondkopf .
Die Worte der Lehrerin waren der leichtsinnigen Senta so nahe gegangen , wie noch nie etwas in ihrem sechzehnjährigen Leben .
Am anderen Morgen , als Olly wieder erfrischt den Frühstückssaal betrat , machte sie erstaunt halte .
Die Pensionsschwestern hatten ihr eine Überraschung bereitet .
Ihr Platz war ganz und gar mit Rosen geschmückt , weiße , gelbe , rosa , rote , alle Farben .
Die Vorsteherin aber sprach einige warme , anerkennende Worte zu ihr und belobte sie wegen ihres Mutes und ihrer Geistesgegenwart .
Olly glaubte , in die Erde sinken zu müssen .
Sie , das verachtete , häßliche junge Entlein jetzt von allen geehrt - sie wurde glutrot vor Verlegenheit .
Zu Senta wagte sie gar nicht hinzusehen , gewiß neidete die ihr wieder den Triumph .
Aber als sie nach dem Frühstück in ihr Zimmer ging , um ihre Schulbücher zu holen , folgte ihr die Schwester .
In dem stillen Stübchen schlang sie plötzlich die Arme um die Zusammenfahrende und preßte den blonden Kopf gegen Ollys dunklen .
" Olly , ich weiß , daß ich dir für das , was du gestern für mich getan hast , nicht danken kann , ich will es dir durch die Tat beweisen , wie dankbar ich dir bin .
Ich war schlecht zu dir , aber - ich will mich besseren ! " so flüsterte sie halb lachend , halb weinend und drückte einen Kuß auf Ollys Lippen .
Das war ein anderer Kuß , als der gleichgültige Geburtstagskuß !
Olly wußte nicht , wie ihr geschah .
Sie hielt die Schwester in den Armen , und alles Glück , das sich das Schicksal für sie aufgespart , schien sich in diesem Augenblick auf sie herabzusenken .
" Ich bin auch schuld an unserem schlechten Verhältnis gewesen , Senta , " sagte sie weich , " aber wenn wir beide uns nur lieb haben wollen , dann wird es anders zwischen uns ! "
Die Schwestern schüttelten sich die Hand .
Es war noch nicht genug des Glücks .
Wenige Tage später kam ein Brief von Papa , an Fräulein Olly Hildebrandt adressiert .
Papa , der sonst immer nur an Senta schrieb und sie grüßen ließ , richtete jetzt ein eigenes Schreiben an sie !
" Ich habe von Deiner Heldentat erfahren , ich werde noch ganz stolz auf meine Tochter " , hieß es darin .
Dann kamen Ermahnungen für Senta , künftighin weniger leichtsinnig zu sein .
Und zum Schluß schrieb er noch einmal :
" Du bist ein mutiges Mädchen , Olly ! "
Nie erfuhr Olly , soviel sie auch fragte , mutmaßte und riet , wessen gütige Hand die Brücke geschlagen hatte zwischen dem Vaterherzen und dem seines Kindes. 13. Kapitel .
Wieder daheim Die schweren , tief niederhängenden Trauben über der Rebenbank , auf der Olly im Frühling eine andere geworden , hatten sich violett gefärbt .
Das Fest der Weinlese war , wie alljährlich , in der Pierreschen Pension mit Jubel begrüßt worden .
Da zogen sie alle , die blühenden jungen Mädchen , in weißen Kleidern , mit Weinlaubkränzen im blonden und dunklen Haar , in die Rebhügel .
Dort wurden die rötlichbeigen Trauben , welche der Gärtner und seine Angestellten schnitten , von emsigen Mädchenfingern sortiert und in Körbe verpackt .
Und emsige Mädchenlippen halfen ebenso eifrig wie die Hände die großen Mengen zu verringern .
Ei , da wurde geschmaust !
Helles Lachen erschallte hier , erschallte dort unter dichtem Rebengerank , junge Stimmen einten sich bei der fröhlichen Arbeit zu herzfreudigem Gesang .
Ollys Wangen glühten .
Sie war eine der eifrigsten .
Sie fühlte ordentlich wie ihre früher so müden , schwerfälligen Glieder Jugendkraft und Lebensfreude durchströmte .
Der alte , blinde Wilhelm , mit dem sie gemeinsam arbeitete , konnte ihr gar nicht schnell genug die herrlichen Trauben zureichen .
Die beiden waren inzwischen gute Freunde geworden .
Der Blinde hatte das junge Mädchen mit der dunkelgefärbten , samtweichen Stimme , die immer freundliche Worte zu sprechen wußte , in sein Herz geschlossen .
Und Olly vergaß es nicht , wieviel sie von dem einfachen Alten einst an Daseinsfreude gelernt hatte .
Fräulein Richter überwachte das Ganze .
Sie saß auf derselben Lattenbank , auf der sie an jenem Ostermorgen mit Olly gesessen .
Als das junge Mädchen , mit Körben beladen , an ihr vorüber wollte , hielt sie es an .
" Komme , Olly , leiste mir ein wenig Gesellschaft .
Du bist so erhitzt , Kind " , sie strich ihr liebevoll die Haare aus dem heißen Gesicht .
" Oh , das schadet nichts - man muß das Schöne genießen , solange es noch Sommer ist ! "
Das letzte klang ein wenig nachdenklich .
" Was , Olly , Herbstgedanken ?
Bei uns hier , am Genfer See , dauern die Sonnentage bis Weihnachten , und wenn wir uns Mühe geben , in unserer Pension sogar den ganzen Winter durch ! "
Olly lachte .
" Siehst du , Olly , wie fein du das Lachen bei uns gelernt hast !
Wenn ich daran denke , was für eine Tränenweide jetzt gerade vor einem halben Jahr hier neben mir gesessen hat , dann bin ich mit den verflossenen Monaten recht zufrieden . "
" Ich auch , Fräulein Richter . "
Olly drückte dankbar die Hand der gütigen Freundin .
" Nur . . . " sie verstummte .
" Na , was gibt es noch für ein » nur « dabei ?
Ich glaube , Olly , die baldige Abreise unserer Oktoberzöglinge liegt dir am Herzen .
Unsere lustige Wiener Lisi wird uns recht fehlen .
" Ja , aber das macht es nicht allein .
Der Hauptgedanke ist dabei für mich , daß nun auch meine herrliche Zeit hier ihren Höhepunkt erreicht hat und abwärts rollt . "
" Sie rollt dem Vaterhause zu , Kind .
Wohl dem , der noch eins hat !
Nicht undankbar sein ! "
Das junge Mädchen sah still vor sich nieder .
" Olly , wir suchen dich wie eine Stecknadel , wir wollen eine Winzerkönigin küren , komme schnell . "
Lisi und Senta standen vor ihr und zogen sie übermütig mit sich fort , hinein in das Jauchzen und Mädchenlachen .
Da mußten alle überflüssigen ernsten Gedanken schweigen .
Am Abend gab es einen Winzertanz im Schweizerhaus " Mon repos " , ohne Herren ; Senta meinte erst naserümpfend , das würde sicher mopsig werden .
Aber dann mußte sie selbst zugestehen , daß sie sich beinahe ebensogut amüsierte , wie an ihrem sechzehnten Geburtstage , für sie der Inbegriff alles Vergnügens .
Die Mädel stellten das Haus auf den Kopf .
Sie verkleideten sich und walzten unermüdlich .
Sie brachten sogar die steifbeinige Miß Pinshes dazu , im Galopp mitzuhopsen .
Nicht einmal Madame Pierres respektierte Persönlichkeit war heute vor der ausgelassenen Schar sicher .
Fräulein Richter bildete die Hauskapelle .
Sie war rührend in ihrer endlosen Geduld , aufzuspielen .
Dabei sah sie mit frohen Augen auf die anmutigen Mädel , die von Jugendlust überschäumten , wie der Most des jungen Weines bald schäumen würde , dessen Ernte man heute feierte .
Olly und Senta tanzten flott miteinander .
Die Schwestern waren sich seit jenem Gewittertage nähergekommen .
Senta , die Leichtsinnige , hatte diesmal Wort gehalten .
Sie blieb ihrem Versprechen treu .
Sie gab sich Mühe , Ollys ihrer eigenen Natur entgegengesetztes Wesen richtig zu würdigen .
Dadurch wurde sie selbst wahrer und weniger oberflächlich .
Sie gewöhnte sich , mit allen ihren Wünschen und Anliegen zuerst zur älteren Schwester zu kommen .
Freilich , der verzogene Egoismus des blonden Mädels trat doch noch oftmals dabei zutage .
Olly jedoch war froh , daß die Schwester Vertrauen zu ihr gefaßt hatte .
Ja , selbst wenn Senta in der ersten Zeit hin und wieder einmal in ihren früheren schnippischen Ton verfiel , hatte Olly jetzt Humor genug , in harmloser Weise ihre Glossen darüber zu machen .
Dann lachten sie alle beide , und der Frieden blieb unangetastet .
" Olly , " -
Senta machte mitten im Rheinländer einen erschreckten Sprung , - " wir haben ja Wolfgang Steinhardts Geburtstag ganz vergessen , übermorgen ist er ; wenn wir gleich eine Karte schreiben , kommt sie noch rechtzeitig an . "
Sie ließ ihre Tänzerin stehen und jagte davon , Schreibutensilien zu holen .
O nein , Olly hatte den 1. Oktober nicht vergessen !
Seit Tagen hatte sie schon an Wolfgangs Geburtstag gedacht , aber sie mochte Senta nicht daran erinnern , sie war froh , daß diese nicht davon sprach .
Nicht aus feindseligem Gefühl heraus wollte sie den Tag übergehen .
Ihre Empörung über die Kränkung des ehemaligen Freundes , die kein Verzeihen gekannt , hatte sich , wie ihr ganzes Wesen , auch hier in der sonnigen Atmosphäre gewandelt .
Sie hatte es nicht vergessen , was er ihr angetan - das würde sie wohl auch niemals können !
Aber sie hatte unter Fräulein Richters sanfter Einwirkung milder denken , sie hatte verzeihen gelernt .
Still schaute sie zu , wie Senta Zeile um Zeile übermütig auf das Papier kritzelte .
Fast ganz voll geschrieben hatte die Schwester die Karte in ihrem naiven Egoismus .
" Ach , Olly , du mußt ja auch noch eine Gratulation anquatschen , wirf die Karte dann gleich in den Kasten , der Briefträger kann jeden Augenblick abholen kommen . "
Senta wirbelte schon wieder im Tanze davon .
Olly aber starrte auf das Schreiben in ihrer Hand .
" Nochmals Gruß und Glückwunsch von Deinem Sentchen " , schloß es .
Da tauchte Olly die Feder ein und schrieb , auf die letzte Zeile reimend , mit ihren großen , energischen Schriftzügen unter die zierlichen Buchstaben der Schwester :
" Und von dem häßlichen jungen Entchen . "
" Olly , du siehst ja aus , als ob du einem Verbrecher sein Todesurteil ausschreibst , so finster blickst du ! " rief Fräulein Richter lachend vom Klavier herüber .
Das junge Mädchen zuckte bei dem Ton der lieben Stimme zusammen .
War sie ihrer Vornahme , sich innerlich zu veredeln , nicht soeben untreu geworden ?
Hatte sie nicht , statt eines freundlichen Wortes zum Geburtstag , nur scharfe Ironie gefunden ?
Wenn sie die Karte zerrisse . . . aber da hatte Senta ihr dieselbe mit den Worten :
" Der Briefträger ! " schon aus der Hand gerissen und aus dem Parterrefenster hinausgereicht .
Es war zu spät .
Die Karte , die nach Deutschland reiste , zu einem großen , braunbärtigen Mann , trug wirklich ein Todesurteil in sich .
Sie tötete Wolfgang Steinhardts Geburtstagsfreude .
Die Mahnung an das einzige Mal in seinem Leben , da er unwissentlich brutal gewesen , die aus weiter Ferne zu ihm drang , schmerzte den feinfühlenden Mann doppelt .
Er konnte sich nicht denken , daß Olly , wie der Kommerzienrat es erzählt hatte , sich vorteilhaft in der Pension verändert haben sollte .
Dann hätte sie doch sicher statt des gehässigen Wortes ein freundschaftliches zum Wiegenfest für ihn gehabt .
Seine Antwort fiel so kühl aus , daß Senta mit drollig erstauntem Gesicht rief :
" Du , Olly , Wolfgang Steinhardt scheint einen Rappel zu haben - ist das der Dank für unser nettes Schreiben ? "
Olly schwieg .
Sie wußte , für welches nette Schreiben das der Dank war .
" Mon repos " leerte sich .
Die Pensionsschwestern , die zu Oktober dort Einkehr gehalten , flatterten davon , lachend ins Leben hinaus .
Neue Gesichter füllten die alten Räume .
Die Monde wechselten .
Aber die Sonnentage blieben .
Nun saß man des Abends schon eifrig über den Weihnachtsarbeiten , die Mittage jedoch waren noch so wonnig , daß man sich nach wie vor im Freien tummeln konnte .
Dies Jahr war Olly nicht von der emsigen Weihnachtsvorfreude ausgeschlossen .
Sie lernte hier in der Fremde , wie so vieles andere , auch die Poesie des Lichterfestes und das selbstbeglückende Gefühl des Schenkens kennen .
Längst waren ihre Hände keine Neulinge mehr auf dem Gebiet der Fingerfertigkeit .
Sie , welche die Blumen besonders liebte , hatte es in der Handarbeitsstunde bei Fräulein Richter gelernt , ihre Lieblinge in allen Schattierungen kunstgerecht auf Leinen und Seidenstoffe zu zaubern .
Das machte ihr viel Freude .
Langeweile war ein Begriff , den sie überhaupt nicht mehr kannte .
Es gab ja so viele , die sie Weihnachten bedenken mußte .
Vor allen Dingen Papa .
Jetzt war Olly nicht mehr so unreif wie im vorigen Jahr , zu denken , daß Papa eine kleine Liebesarbeit seiner Tochter als Zudringlichkeit auffassen könnte .
Sie versuchte , das Kissen für seinen Schreibsessel so geschmackvoll als möglich zu sticken .
Die Geschwister durften dieses Jahr ebenfalls nicht leer ausgehen .
Rudi , der dem Briefschreiben abhold war , und von dem nur ab und zu fidele Bierkarten eintrafen , erhielt eine Briefmappe .
Für Senta , die kleine Eitelkeit , hatte Olly heimlich in ihren Mußestunden einen weißen Sonnenschirm in Madeirastickerei gearbeitet , sie war in den letzten Wochen jeden Tag eine Stunde früher aufgestanden , um fertig zu werden .
Herbertchen bekam eine gehäkelte Sportmütze für die Eisbahn .
Auch Katchen Lehmann wurde nicht vergessen .
Trotz der Trennung hielten die Freundinnen getreulich zusammen .
Am Ersten eines jeden Monats schrieb Olly , und am Fünfzehnten antwortete das flachshaarige Katchen .
So blieb man im Zusammenhäng .
Ollys Briefe machten die gutherzige Freundin von Mal zu Mal froher , sie erkannte daraus deutlich die günstige Wandlung , die mit Olly vorging .
Sie selbst war eine eifrige Seminaristin geworden .
Katchen mußte ganz besonders bedacht werden .
Olly stickte ihr eine Sommerbluse in Schweizer Art , wie man sie so viel in Lausanne sah .
Auch für Fräulein Richter wurde natürlich mit dem größten Eifer gestichelt .
Olly , die bisher noch kein Mensch dazu bekommen hatte , sich einmal photographieren zu lassen , tat es für die geliebte Lehrerin von selbst .
Fräulein Richter sollte sie nicht vergessen , wenn sie wieder daheim war .
Als sie das Bild erhielt , wagte sie nicht , es aus dem Papier zu nehmen .
Ihr Herz klopfte vor Erregung bis in den Hals hinein .
Und als sie sich dann endlich entschloß , es anzuschauen , machte sie ein geradezu entsetztes Gesicht .
Das war ja eine andere , bloß nicht sie , Olly Hildebrandt !
Ein wunderhübsches Mädchen blickte sie aus dem Bilde an , nein , so anmaßend konnte sie unmöglich sein und dies als ihre Photographie verschenken .
Lieber mochte der Rahmen , den sie dazu gearbeitet , unbenutzt bleiben .
Aber die anderen fanden das Bild so sprechend , so glänzend getroffen , daß Olly nicht mit ihrer Absicht durchdrang .
" Weißt du , Olly , " sagte Senta , mehr ehrlich als taktvoll , " du bist schön dumm , daß du nur dies eine Bild hast machen lassen .
Ich hätte überall mein holdes Konterfei hingeschickt , vor allem nach Hause , die hätten Mund und Nase aufsperren sollen , wie anständig du jetzt aussiehst .
Und Wolfgang hättest du auch eins schicken können , dann hätte er gewiß nicht mehr gesagt . . . "
" Schweige ! " unterbrach Olly sie brüsk .
Senta sah bei dem jetzt ungewohnten Ton ganz erstaunt auf .
Nanu , wollte Olly etwa wieder eklig werden ?
Es war eines Abends , kurz vor dem Fest .
Man saß am offenen , knisternden Kaminfeuer und legte die letzte Hand an die Weihnachtsarbeiten .
Nur ein kleiner Kreis der Zöglinge war versammelt , die meisten waren über die Weihnachtsferien heimgefahren .
Auch der Kommerzienrat hatte seinen Töchtern , trotz der weiten Reise , das Nachhausekommen freigestellt .
Aber Olly hatte Senta himmelhoch gebeten , doch lieber in der Pension zu bleiben , es war , als ob sie geradezu Furcht davor hatte , heimzukommen .
Die jüngere Schwester hatte ihr schließlich den Gefallen getan .
" Sage ' , Olly " , wandte sich Fräulein Richter , die eben Sentas Teedecke für die neue Mutter , die leider erst zur Hälfte fertig war , begutachtete , " könntest du Senta nicht an ihrer Arbeit helfen ?
Dann schenkt ihr sie beide zusammen , oder hast du schon etwas anderes vorbereitet ? "
Fräulein Richter wußte sehr wohl , daß Olly es noch nicht hatte über sich gewinnen können , auch für die neue Mutter eine Arbeit zu machen .
Das junge Mädchen errötete denn auch bis an den dunklen Scheitel .
Sie schüttelte nur den Kopf , aber sie sah Fräulein Richter dabei nicht an .
Nein - für Papas zweite Frau machte sie keinen Stich !
" Schade , daß man die schönen Schwäne jetzt gar nicht mehr draußen auf dem See sieht " , sagte Fräulein Richter harmlos , als ob sie ein neues Gesprächsthema anschnitte .
Olly verstand ihren Hinweis .
" Ich könnte ja Senta helfen - ohne - ohne daß wir die Arbeit zusammen schenken " , vermochte sie schließlich einzuräumen .
" Nein , Kind , du bist selbst viel zu ehrlich dazu , um deine Schwester zu einer Täuschung zu verleiten . "
Zum erstenmal war Fräulein Richter mit Olly nicht zufrieden .
Olly litt darunter , aber so schnell konnte sie sich nicht bezwingen .
Dazu war sie trotz ihrer Jugend ein zu gefestigter Charakter .
Doch am nächsten Tage griff sie stillschweigend nach der unvollendeten Deckenecke .
Fräulein Richter nickte ihr aufmunternd zu .
" Es soll ein Fest der Liebe sein , Olly ! " sagte sie leise , nur für ihr Ohr bestimmt .
Ein Fest der Liebe - die Worte wollten Olly nicht aus dem Sinn .
Hatte sie nicht noch mehr gutzumachen ?
Bei dem , der ihr voriges Jahr etwas Liebes hatte antun wollen , das sie schroff zurückgewiesen ?
Für den sie auch zum Geburtstag kein gutes Wort gefunden ?
Senta hatte , wie alljährlich , auch diesmal für Wolfgang Steinhardt eine Kleinigkeit gearbeitet : eine Zigarettentasche , trotzdem er so gut wie gar nicht rauchte .
Herrgott , was konnte man solchem Herrn auch schenken !
Alle , selbst die neue Frau des Hauses , für die Olly doch nichts weniger als Sympathie hegte , würde sie zu Weihnachten bedenken , und nur er , der sicherlich den Heiligabend wie alljährlich in ihrem Familienkreise zubrachte , sollte leer ausgehen ?
Zurückgesetzt werden , ausgeschlossen sein ?
Sie wußte doch , wie weh das tat .
Und ein Fest der Liebe sollte es sein . . . als Olly so weit mit ihrem Grübeln und ihrer Unentschlossenheit gekommen , war das Schwanken zu Ende .
Sie ließ sich aus grauem Leinen eine Mappe anfertigen , darauf stickte sie mit roter Seide " Maschinenmodellzeichnungen " .
Da arbeitete sie gleichzeitig für ihre lieben Maschinen .
Diesmal wurde es kein kühler Dank .
Wolfgang Steinhardt schrieb von Herzen erfreut über das Zeichen der früheren freundschaftlichen Gesinnung , welches den Ehrenplatz auf seinem Arbeitstisch bekommen , daß Olly sich recht schlecht vorkam .
Wie lange hatte sie ihn , der so reuig um Verzeihung gebeten , darauf warten lassen !
Noch ein Dankesschreiben kam .
Von der neuen Mutter .
Olly hatte bisher niemals an sie geschrieben , immer nur " Lieber Papa ! " über ihre Briefe gesetzt , und zum Schluß " viele Grüße an alle " gesandt .
Dadurch umging man so schön jede Anrede .
Nun schrieb die neue Mutter , wie sehr sie sich über die Arbeit ihrer Töchter gefreut habe .
Das gab Olly wieder einen Stich ins Herz , es kam ihr wie ein Verrat an ihrer verstorbenen Mama vor .
Aber mit Fräulein Richter wagte Olly nicht darüber zu sprechen , sie wußte ganz genau , wie deren Antwort ausfallen würde .
Trotzdem der Weihnachtsabend wunderhübsch und gemütlich verlaufen war und überreiche Gaben gebracht , hatte Olly sich heimgebangt .
Wonach , das wußte sie selbst nicht zu sagen .
Sie war doch dieses Jahr viel froher gewesen , als im vergangenen !
Und dennoch . . .
Nun waren die Feiertage vorüber , die Wandervögel kehrten zur Pension zurück , der Ernst des Werkeltages löste wieder die Festtagsstimmung ab .
Das heißt , wenn man siebzehn Jahre alt ist , bedeutet eigentlich jeder neue Tag ein Fest , und von Ernst war , abgesehen von den Schulstunden , wo auch noch gerade genug Allotria getrieben wurde , in der Pierreschen Pension nicht viel zu merken .
Und als eines schönen Tages auch noch über Nacht ganz leise und unhörbar der Winter von den Schneebergen herabgeschritten kam , und das ganze Tal am Morgen , wie ein großer Kuchen überzuckert , dalag , gab es des Jubels in " Mon repos " kein Ende .
Die Rodelschlitten , die auf dem Boden , von grauem Spinnweb überzogen , träumten , wurden aus ihrer Verborgenheit hervorgeholt .
Lachende Mädchengestalten , die Sportmütze unternehmungslustig ins Haar gedrückt , zogen sie die beschneiten Hügel hinauf .
Juchhei - gab das eine Lust , wenn eine nach der anderen zu Tal sauste , und wer auf der Nase lag , weich gebettet im Schnee , lachte am meisten .
Olly bekam der Aufenthalt in der frischen Winterluft vorzüglich .
Sie blühte wie eine Rose .
Ihr schönheitsdurstiges Auge schwelgte jetzt in der weißglitzernden Herrlichkeit des Schneereiches .
Aber ach - eines Morgens war die ganze schlohweiße Pracht wie weggepustet .
Droben aber , am zartblauen Himmel , stand die Frühlingssonne und lachte die mit ihren Schlitten zu Berg ziehenden Mädel weidlich aus .
Das Zeitenrad , das Olly so gern angehalten , rollte unaufhaltsam weiter , schon begannen die Hotels am Genfer See wieder zur Saison zu rüsten .
Das Pensionsjahr der Hildebrandtschen Schwestern ging zu Ende .
Kurz vor ihrer Heimkehr kam ein inhaltsvoller Brief , der Olly ganz ihrer Fassung beraubte .
Sie hatten noch ein Brüderchen bekommen !
Niemals hatte Olly an die Möglichkeit gedacht , daß sich ihr Familienkreis vergrößern könnte - und jetzt gab es da plötzlich in der Rokokovilla ein fremdes kleines Wesen , das Heimatsrechte dort hatte .
Ein Kuckucksei - seit langer Zeit hatte Olly nicht solch ein Gefühl der Bitterkeit gehabt .
Wieder etwas Neues , das Anspruch auf Papas Liebe und Zärtlichkeit machte , wie wollte er da wohl noch etwas für sie übrig haben ?
" Olly , ich glaube , du freust dich gar nicht , " meinte Senta erstaunt , " ich finde die Sache sehr ulkig .
Nur quaken darf das Wurm nicht ! "
Die Schwester antwortete nicht .
Olly schämte sich , etwas von ihren häßlichen Gefühlen verlauten zu lassen .
Und doch vermochte sie nicht , dieselben zu bezwingen .
Sogar Fräulein Richter gelang es nicht , das Empfinden der Abneigung , das Olly von der neuen Mutter auch auf das unschuldige kleine Brüderchen übertrug , ganz zu zerstreuen .
Zu ihren mahnenden Worten , daß der Kleine ein Bindeglied sein solle zwischen dem Herzen seiner Mutter und dem seiner großen Schwester , schüttelte sie ablehnend den Kopf .
Und dabei spannen sich die Tage jetzt mit einer geradezu unglaublichen Schnelligkeit von der Jahresspule .
Schon sah man das Ende des Schicksalsfadens , der Olly und Senta an den Genfer See knüpfte .
Der letzte Tag war herangenaht .
Die Koffer standen gepackt .
" Komme , Olly , wir wollen noch einen Spaziergang zu Zwei machen " , schlug Fräulein Richter , der das Scheiden von dem ihr lieb gewordenen Mädchen ebenfalls schwer wurde , vor .
Olly , die heute den ganzen Tag über in Abschiedsstimmung war , schob dankbar ihren Arm in den der verehrten Lehrerin .
Fräulein Richter schlug den Weg zur Rebenbank ein .
Der junge Wein begann gerade zu sprießen .
" Siehst du , Kind , hier hat es angefangen , und hier soll es aufhören .
Wenigstens räumlich .
In deinem Herzen und Sinnen , hoffe ich , wirst du noch manch liebes Mal bei uns am schönen Genfer See weilen . "
Die junge Lehrerin zog Olly zu sich auf die Rebenbank .
" Oh , Fräulein Richter , " Olly barg das Gesicht im Trennungsweh an ihre Schulter , " ich wünschte , ich dürfte immer hierbleiben . "
Ihre Tränen flossen , aber das waren andere als die , welche sie im vorigen Jahre hier geweint .
" Kind , ein jeder Mensch gehört in den Wirkungskreis , in den unser Herrgott ihn gestellt hat . "
" Ach , hätte ich einen Wirkungskreis - aber was soll ich zu Hause ?
Überflüssig werde ich dort sein wie früher , und dadurch wieder auf schlechte Gedanken kommen . "
Ollys Furcht vor dem Heimkehren formte sich zu Worten .
" Studieren durfte ich nicht , weil ich zu faul und zu dumm war ; und einen Beruf ergreifen - ja , wenn ich nicht die Tochter vom Kommerzienrat Hildebrandt wäre !
Wie gern würde ich den Reichtum , den ganzen klingenden Plunder hergeben - - - "
" Kind , Olly , du bist außer dir !
So habe ich dich ja bis auf das eine Mal hier nicht wieder gesehen .
Ich glaubte schon , mein Entlein wäre ein Schwan geworden !
Aber das graue Entenfederkleid kommt noch allenthalben unter dem neuen weißen Gefieder zum Vorschein . "
Olly senkte traurig den Kopf .
Da faßte Fräulein Richter ihre beiden Hände .
" Schau , Kind , es liegt nur an dir , deinen Reichtum , über den du dich beklagst , zu einem Segen für Viele werden zu lassen .
Es gibt so manchen Weg , auf dem ein junges Mädchen aus begütertem Hause , das keinen Beruf ergreift , ihre Kräfte und ihre Zeit edel verwerten kann .
Hast du niemals etwas von sozialer Frauenhilfe gehört ?
Da gibt es Kleinkinder-Krippen und Kindergärten , wo weiche Hände und junge , freundliche Gesichter gebraucht werden .
Volksküchen , Waisen- und Armenfürsorge , wo du dich nützlich machen kannst .
Altersversorgungen und Asyle , in denen solch junges Menschenkind , das für die alten Leutchen ein Stündchen zum Vorlesen übrig hat , mit Freuden begrüßt wird .
Du brauchst dich nicht überflüssig zu fühlen , du am wenigsten , Olly .
Hast du mir nicht von eurer ausgedehnten Fabrik mit ihren vielen hundert Arbeitern , für die du besonderes Interesse zu haben scheinst , erzählt ?
Nun wohl , kümmere dich um eure Arbeiter , schau nach ihren Kindern , die vielleicht ohne Aufsicht bleiben , wenn die Eltern beide in der Fabrik tätig sind .
Hilf ihre Kranken pflegen , Not und Elend nach Kräften steuern .
Da hast du einen edlen Lebenszweck vor dir ! "
Olly blickte hinaus auf den bläulichen See .
Goldene Bilder der Zukunft zogen da vor ihrem Auge vorüber .
Das , was sie selbst schon öfters gefühlt und gewünscht , das hatte Fräulein Richter mit ihrem reiferen Denken in die richtigen Bahnen gelenkt .
Ja , sie wollte - sie wollte den Armen zum Segen werden !
" Sie sind mein guter Engel , Fräulein Richter , " sagte sie warm , " wenn ich Sie nur nicht morgen verlassen müßte ! "
" Ein Engel kann uns auch unsichtbar umgeben , Olly " , lächelte die junge Lehrerin .
" Sei meiner Worte eingedenk , und du wirst meine Gegenwart empfinden .
Noch eins , Kind - ein Anliegen habe ich noch zum Schluß - willst du mir meine letzte Bitte erfüllen ? "
" Jede ! " sagte Olly ohne Besinnen .
" Nun , so komme deiner neuen Mutter nicht mit feindseliger Abneigung entgegen .
Versuche sie lieb zu haben und auch das Brüderchen ! "
" Das - das kann ich nicht ! "
" So hast du mich auch nicht lieb , Kind " , sagte Fräulein Richter traurig .
" Es ist mein innigster Wunsch für dich , ich kenne dich vielleicht besser als du dich selbst , und weiß es , daß du nicht eher froh und zufrieden in deinem Elternhause werden wirst ! "
Sie hatte Tränen im Auge .
" Ich werde es versuchen .
Fräulein Richter , weil Sie es wünschen ! "
Olly zog die Hand , welche die ihre umfaßt hielt , errötend an die Lippen .
Da hob die Lehrerin das junge Gesicht zu sich empor und drückte einen Kuß auf den jetzt purpurroten Mund .
" Brav , mein Mädel - nun ist der Schwan bald fertig ! "
Auf der Rebenbank , die ihr schon einmal zum Segen geworden , wurde Olly heute wiederum der richtige Weg gewiesen .
Diesmal der Lebensweg .
Am nächsten Morgen gab es einen tränenreichen Abschied .
Von dem lieben Haus und den lieben Menschen , unter denen sie selbst ein neuer Mensch geworden war .
" Ich will bei allem , was ich tue , an Sie denken , dann weiß ich , ob es das Rechte ist ! " flüsterte Olly noch ganz zuletzt ihrem lieben Fräulein Richter zu .
Diese sah mit schwimmenden Augen dem enteilenden Zuge nach .
Bis Heidelberg , wo wieder Station gemacht wurde , waren die Tränen längst getrocknet .
Zwei frohe Mädchengesichter lachten Rudi , dem schmucken Bruder Studio , der sie auf dem Bahnhof in Empfang nahm , entgegen .
Aber auch der lachte übers ganze Gesicht .
Ja , da soll einer wohl nicht lachen , wenn zwei so bildhübsche Mädel plötzlich vor einem auftauchen , und noch dazu seine Schwestern sind !
Daß die Senta ein netter Käfer war . das hatte er ja immer gewußt , aber Olly - " Bist du es denn wirklich , Mädel ? "
Er vermochte gar nicht , an diese Umwandlung zu glauben .
" Leibhaftig ! " Olly lachte - tatsächlich , sie lachte !
Wie ein Weltwunder staunte Rudi die Schwester an .
Jetzt aber schob Senta ihr zierliches Persönchen vor die sie fast um Kopfeslänge überragende .
" Du , Rudi , jenseits des Berges wohnen auch noch Leute ! " sagte sie mit niedlichem Schmollen .
Da packte Rudi die Schwarze rechts und die Blonde links , so zog er stolz , untergeärmelt , durch die alte Musenstadt .
Hei - wie flogen die bunten Studentenmützen in die Luft , wo der junge Mediziner mit seinen hübschen Begleiterinnen auftauchte .
Jetzt brauchte sich Rudi nicht mehr Ollys zu schämen , ihre aparte Erscheinung zog die bewundernden Blicke der Vorübergehenden fast noch mehr auf sich wie das rosige Puppengesicht des Blondchens .
Abends nahm Rudi sie mit zur Stammkneipe Perkeo .
Er mußte seine Schwestern doch mit den Kommilitonen bekannt machen .
Farbenfrohe Mützen , wohin man auch blickte , darunter frohe , junge Gesichter mit kecken Schmissen .
Hier war Senta mehr in ihrem Element als Olly .
Sie nahm die Huldigungen der Rotgrünweißen , der zu Rudis Burschenschaft Gehörenden , wie eine kleine Königin in Empfang .
Das war doch etwas anderes , als Pensionsmädel zu spielen .
Olly dagegen kamen die schönen Redensarten der jungen Herren banal vor , sie war trotz allem erlangten Jugendfrohsinn doch älter als ihre achtzehn Jahre .
Nun hieß es auch von Rudi wieder scheiden .
Ein stattlicher Kreis von rotgrünweißen Mützen gab den beiden Schwestern das Geleit .
Die ganze Verbindung war an der Bahn erschienen .
Es regnete Blumensträuße .
Und dann zogen sich gegen Abend wieder märkische Sandflächen längs des schwarzen Schienenbandes hin , Lichter strahlten auf , wie ein Riesennetz von gelblichen Leuchtkörpern spann es sich aus - ratternd fuhr der Zug in die Berliner Bahnhofshalle .
Olly klopfte das Herz zum Zerspringen .
Sie zitterte vor dem Moment des Wiedersehens .
Sollte sie Papa von selbst einen Kuß geben ?
Aber als sie ihren Vater jetzt auf dem Perron stehen sah , da gab es keine Überlegung mehr für sie .
Nur ein wehes Gefühl durchzitterte Olly .
War das wirklich ihr schöner , stattlicher Papa , den sie in voller Jugendkraft vor einem Jahr verlassen ?
Die Haltung war nicht mehr Strafe und stramm wie einst , das Gesicht bleich und müde , das blitzende Auge matt , und durch den blonden Schnurrbart zogen sich lichte Fäden .
Beide Arme schlang Olly in schmerzlicher Aufwallung um den Hals des Gealterten :
" Papa - lieber Papa ! "
Der sah mit großen , erschreckten Augen auf das schlanke Mädchen .
" Eugenie " - sagte er tonlos , und noch einmal " Eugenie ! "
Keinen Blick verwandte er von dem zarten Antlitz unter dem tiefschwarzen , weichen Scheitel .
Vergeblich schmiegte sein Liebling Senta den Blondkopf an seinen Arm .
" Ich bin es ja , Papa , die Olly " , sagte das junge Mädchen mit schüchternem Lächeln .
" Ja , ja , Olly - " der Kommerzienrat fuhr sich über die Stirn .
" Ich glaubte , die Toten kämen wieder , wie bist du deiner Mutter ähnlich geworden , Kind ! "
Das war der schönste Willkommensgruß , der Olly in der Heimat werden konnte .
Nun kam auch Senta zu ihrem Recht .
Der Kommerzienrat schüttelte mit Gewalt den Bann ab , der auf ihm lastete .
Und das übermütige , rosige Ding , das noch nicht einmal bemerkt hatte , daß der Vater ein anderer geworden , wußte im Augenblick alle grauen Schatten der Vergangenheit zu scheuchen .
Das Plappermäulchen stand nicht still , tausend Fragen tat es auf einmal .
Olly war schweigsam während der Heimfahrt .
Sie sah immer wieder auf den ersten Schnee in Papas blondem Haar .
Da lag die weiße Rokokovilla wieder vor ihr - als ob sie gar nicht fort gewesen wäre .
Und doch - anders war es hier geworden .
Wie riesengroße , schwarze Zeigefinger wiesen die Fabrikschlote in das Abendgrau .
Olly nickte ihren Freunden einen stillen Gruß zu .
Dann preßte sie tapfer beide Hände auf das klopfende Herz .
In den bläulichen Lichtschein der elektrischen Bogenlampe trat in einem rosa Hausgewande die neue Frau Kommerzienrat .
Ihre zweite Mutter .
" Ich will , Fräulein Richter - ich will ! " sprach Olly unhörbar , ohne daß sie die Lippen bewegte .
Dann trat sie mit möglichst freundlichem Gesicht auf die ehemalige Hausdame , die Senta im Arme hielt , zu .
" Guten Abend " , sagte sie leise .
Mehr wollte nicht über ihre Lippen .
Aber die neue Mutter faßte herzlich ihre beiden Hände .
" Olly , ist es denn die Möglichkeit - eine richtige junge Dame bist du geworden - jetzt haben wir zwei erwachsene Töchter " , der Mutter Blick glitt bewundernd an Ollys schlanker Gestalt herab .
Wenn sich das Mädel auch innerlich so zu ihrem Vorteil verändert hatte , wie äußerlich , konnte man zufrieden sein .
Herbertchen kam wie ein Pfeil aus einer Tür geschossen und umarmte Senta stürmisch mit Tintenfingern .
Vor Olly blieb er mit verdutztem Gesicht stehen .
Da beugte sich diese nieder und küßte den vor Staunen offenen Jungenmund .
" Das ist die Olle ? " Herbertchen , der inzwischen ein hoffnungsvoller Quintaner geworden , fand sich nicht mehr in der Welt zurecht .
Er hatte sich darauf gefreut , daß die Hänseleien mit der stets unfreundlichen großen Schwester jetzt von frischem beginnen würden .
Und nun stand da eine erwachsene junge Dame vor ihm , ein schönes Fräulein , und küßte ihn sogar !
Rührend war Murks in seiner Freude über das Wiedersehen .
Schwanzwedelnd sprang er von einer Schwester zur anderen , als wüßte er , daß die Entfremdung zwischen den beiden ausgeglichen .
Senta , der Wirbelwind , war bereits in der Kinderstube .
Sie mußte das neue Brüderchen bewundern .
Da lag das winzige Etwas , die rosigen Fäustchen gegen den Kopf gepreßt , in seinem mit duftigem Mull verhängten Wiegenkorb .
Senta jubelte so laut bei seinem Anblick , daß es die Augen aufschlug und den Mund jämmerlich verzog .
Olly folgte langsam an Papas Seite .
Jetzt kam das Schwerste für sie .
Als aber das mauzende dünne Stimmchen an ihr Ohr klang , wurde es ihr mit einem Male ganz merkwürdig zumute .
Ein hilfloses , kleines Wesen war das , und dem brachte sie Abneigung entgegen ?
Papa griff nach dem weinenden Bündel , nahm es im Kissen heraus und legte es mit einem sprechenden Blick , der viele ungesagte Worte in sich schloß , der neben ihm stehenden Ältesten in den Arm .
Da bedurfte es nicht mehr der Erinnerungen an Fräulein Richters Bitte .
Als Olly das unschuldige Brüderchen an ihrem Herzen hielt , da quoll nichts als warme Zärtlichkeit zu dem Kleinen in ihrer weichen Seele auf .
Sie neigte sich und drückte einen leisen Kuß auf eines der winzigen Fäustchen .
Dann legte sie das Brüderchen mit einem tiefen Atemzug in die Arme seiner Mutter zurück .
" Wie er dir gleicht -
Mama ! " sagte sie leise .
Zum erstenmal gebrauchte sie den Namen , den sie nie wieder auszusprechen geglaubt hatte .
14. Kapitel .
Streik Spät war es , als Olly am anderen Morgen in ihrem altvertrauten Balkonzimmer erwachte .
Ein regenschwerer Apriltag graute draußen .
Sie dehnte sich wohlig in den gestickten Kissen .
Es war doch etwas Eigenes um das Gefühl , wieder daheim zu sein .
Nur Papa machte ihr heftige Sorge .
War er krank ?
Sein elendes Aussehen ließ darauf schließen .
Aber jede dahin zielende Frage hatte er verneint .
War er nicht glücklich in seiner neuen Ehe ?
Auch dies schien nicht der Fall zu sein .
Das Verhältnis zu seiner jungen Frau war entschieden ein harmonisches .
Die Mutter sorgte , wie selbst Olly es sich hatte zugestehen müssen , mit liebevoller Aufmerksamkeit für den Gatten , und er hatte für ihre Bemühungen immer ein Lächeln , wenn auch ein müdes .
Aber was war mit Papa , was hatte ihn so verändert ?
Olly grübelte und grübelte .
Sie kam zu keinem Resultat .
Entschieden war er nervös , ihr schöner , starker Papa , der immer auf das schwache , nervöse Geschlecht verächtlich herabgesehen hatte .
Als sie ihm gestern abend zum " Gute Nacht " die Lippen bot , zum erstenmal wieder seit vielen Jahren , da hatte er Tränen im Auge gehabt .
So weich war Papa geworden , der immer von sich gesagt hatte , er sei hart wie seine Maschinen .
Die Maschinen - Olly setzte sich plötzlich jäh im Bette hoch .
Warum hörte man sie denn gar nicht , warum sangen sie ihr nicht den Willkommensgruß in der Heimat ?
Kein Rasseln und Rattern , kein Hämmern , alles still - totenstill . -
War denn Sonntag heute ? -
Nein , es war Wochentag , und dennoch feierte die Fabrik ?
Herrgott - was hatte das zu bedeuten ?
Am Ende war es noch gar nicht sechs , sie hätte ja sonst auch den gellenden Pfiff , der den Arbeitsbeginn meldete und sie früher stets zu wecken pflegte , hören müssen .
Sie griff nach der kleinen Taschenuhr , einem Erbstück ihrer Mutter .
Schon neun - Himmel , das konnte doch gar nicht sein , hatte sie vergessen die Uhr aufzuziehen ?
Aber das deutlich vernehmbare Ticken überzeugte Olly vom Gegenteil .
Sie sprang aus dem Bett und ans Fenster .
Kein Rauch wirbelte aus den hohen Schornsteinen da drüben auf , der Atem des gewaltigen Arbeitskörpers stand still .
Die ungewohnte Ruhe legte sich geradezu beklemmend auf das junge Mädchen , mit fliegender Hand zog es sich an .
Senta , die Langschläferin , blinzelte inzwischen auch gähnend .
Olly teilte der Schwester ihre beunruhigende Wahrnehmung mit .
" Pah " - Fräulein Leichtsinn lachte unbesorgt , " vielleicht hat Papa der Fabrik unserer Ankunft zu Ehren einen freien Tag bewilligt . "
Olly schüttelte den Kopf .
Sie kannte ihren Vater , trotzdem sie ihm die Jahre über ferngestanden , besser .
Das Frühstückszimmer war leer .
Papa pflegte schon um acht Uhr ins Büro zu gehen .
Herbert war in der Schule , und die gnädige Frau badete gerade Bubi , wie das servierende Hausmädchen meldete .
So nahm Olly ihr Frühstück nur in Gesellschaft von Murks ein .
Sie blickte sich um in dem gemütlichen , noch immer geheizten Raume .
Es stand alles wie sonst , die neue Mutter hatte keine Änderung der Einrichtung vorgenommen .
Das berührte Olly angenehm .
Aber das Brötchen wollte trotzdem nicht rutschen .
Die Unruhe wuchs im Alleinsein .
Selbst Murks ' Liebesbezeigungen vermochten sie nicht zu zerstreuen .
Aus dem durch das Bibliothekzimmer von ihr getrennten Rauch- und Arbeitszimmer des Vaters kamen gedämpfte Stimmen .
Olly strengte ihr Ohr an .
Papa zu dieser Zeit nicht drüben im Büro , das war ebenso merkwürdig wie das seltsame Feiern der Fabrik !
Wem gehörte die andere tiefe Männerstimme ?
Alles Blut drängte der jungen Lauscherin plötzlich zum Herzen .
Sie hatte die Stimme erkannt .
Niemals war Wolfgang Steinhardt zu so früher Morgenstunde in der Rokokovilla erschienen .
Sie mußte erfahren , was vorlag .
Sollte sie zur neuen Mutter gehen und sie befragen ?
Nein , ihr Verhältnis zueinander war vorläufig nur ein höflich-freundliches , Vertrauen konnte Olly , trotz aller guten Vornamen , noch nicht zu ihr fassen .
Senta , die mit blanken Augen am Kaffeetisch erschien , plauderte lustig drauflos .
Daß sie vormittags vor allen Dingen mit der Mama einen Frühjahrshut kaufen müßte , denn mit dem Winterhut konnte sie Irmgard von Buschen unmöglich mehr besuchen .
Ob Olly nicht auch mitkommen wollte ?
Olly schüttelte den Kopf .
Ihr war augenblicklich nicht nach neuen Frühjahrshüten zumute .
" Mädel , du bist ja heute so tranig " , Senta sah verwundert auf die in der Pension stets frohe Schwester .
" Ich weiß nicht , Senta , ich wünschte , ich hätte deine heitere Lebensauffassung .
Es liegt hier irgend etwas in der Luft , was jede Fröhlichkeit in mir niederdrückt .
Fühlst du es denn nicht ? "
Senta schnupperte mit ihrem feinen Näschen ähnlich wie Murks in der Luft umher .
" Nee " , sagte sie dann lachend , und entwischte in die Kinderstube zum Bubi .
Olly trat ans Fenster und blickte in den regenschweren Garten hinaus .
Hier war die Vegetation dies Jahr noch weit zurück , kaum die ersten grünen Spitzchen wagten sich ans Licht .
Ach , die Sonnentage am blauen Genfer See !
Eine starke Sehnsucht nach der lachenden Schönheit des gesegneten Fleckchens Erde wallte in ihr empor .
Dort war auch sie ein lachendes junges Menschenkind gewesen , und hier fühlte sie förmlich , wie die Schwere und der Ernst der nördlichen Heimat sich ihr wuchtig auf das für Sonnenschein so empfängliche Gemüt legte .
" Ein jeder Mensch gehört in den Wirkungskreis , in den unser Herrgott ihn gestellt hat ! "
War es nicht , als ob Fräulein Richters weiche Stimme eben den Raum durchzittert ?
Und doch schrie Bubi nur im Kinderzimmer nach seinem Fläschchen mit künftiger Feldherrnestimme .
Olly richtete sich Strafe auf .
Nein , sie wollte den Mut nicht gleich wieder sinken lassen .
Vor allem nicht ihrem früheren Fehler , dem untätigen Grübeln , aufs neue verfallen .
Sie hatte jetzt den Segen der Arbeit kennen gelernt .
Also frisch ans Auspacken und Einräumen ihrer Sachen .
Eher war sie nicht richtig daheim .
Als sie die Tür zur Diele öffnete , hemmte sie jäh den Schritt .
Denn nebenan hatte ebenfalls eine Tür geknarrt .
Wolfgang Steinhardt trat hinaus und griff nach seinem Mantel .
Olly zögerte .
Der Wunsch , von dem jungen Ingenieur zu erfahren , was in der Fabrik vorlag , war stark .
Stärker aber noch das Herzklopfen vor der ersten Begegnung mit dem einstigen Freunde .
Es benahm ihr fast den Atem .
Ehe Olly noch ihr pochendes Herz zur Ruhe gebracht , war aus der gegenüberliegenden Kinderstube Senta getreten .
" Wölfchen Steinhardt - - - " sie eilte mit alter Herzlichkeit auf ihn zu .
Beide Hände streckte sie ihm unbefangen entgegen .
" Sentchen - Mädel , was bist du für eine hübsche junge Dame geworden ! "
Wolfgang sah mit Freude auf die gleich einem hellen Sonnenstrahl in der regengrauen Diele Auftauchende .
Ollys Herz pochte nicht mehr erregt .
Es war sogar , als ob es seinen Schlag von Sekunde zu Sekunde verlangsamte .
Leise schloß sich die Tür zum Frühstücksraum .
Olly wollte die beiden in ihrer Wiedersehensfreude nicht stören .
Aber Sentas rosiges Ohr hatte den Schall aufgefangen .
" Olly , sieh nur , Wölfchen ist hier ! "
Sie zog die Schwester auf die Diele hinaus .
Wolfgang Steinhardt rührte sich nicht vom Platz .
Keinen Schritt kam er Olly entgegen .
Er blickte mit ungläubigen Augen auf die gertenschlanke Mädchengestalt im Rahmen des tiefroten Türvorhangs .
Wie auf etwas Unwirkliches , was der nächste Augenblick wieder in nichts zerfließen lassen könnte .
Ollys zartes Gesicht färbte sich mit warmer Glut .
Dann aber nahm sie sich zusammen .
Sie trat auf Wolfgang zu und reichte ihm mit einem Lächeln die Hand .
" Guten Tag , Herr Ingenieur , kennen Sie mich nicht mehr ? "
Ihr Mund lächelte und scherzte , aber die großen dunklen Augen wußten nichts davon .
Über denen lag es wie ein Schleier heimlichen Wehs .
" Olly " - - -nein , das ging doch nicht , daß er eine erwachsene junge Dame , die ihn mit " Herr Ingenieur " anredete , duzte - " Fräulein Olly , seien Sie willkommen daheim ! "
Er zog die schmale Hand des häßlichen jungen Entleins , die sich ihm als Zeichen der Verzeihung bot , dankbar an die Lippen .
" Ein Handkuß - und mir hast du nicht die Hand geküßt , du unhöflicher Mensch - ich verlange auch meinen respektvollen Handkuß , sonst kündige ich dir die Freundschaft und nenne dich ebenfalls » Herr Ingenieur « . "
Senta spitzte drollig geziert das rote Mäulchen und reichte Wolfgang mit hoheitsvollem Gesicht gnädig die kleine Grübchenhand zum Kusse .
Die merkwürdige Stimmung die den Raum noch eben durchwebte , war zerstoben .
Wolfgang lachte .
" Um Gottes Willen nicht , es ist genug an einer ! "
Auch Olly vermochte in das Lachen der beiden einzustimmen .
Der weiche , glockenhelle Ton , der seit dem Tode ihrer Mutter hier in diesen Räumen verstummt gewesen , ließ Wolfgang Steinhardt wieder mit stiller Bewunderung auf die so anmutig Gewordene schauen .
Er fand keine Worte , wie die anderen alle , für die kaum glaubhafte Verwandlung des häßlichen jungen Entleins .
Aus dem Rauchzimmer klang gedämpftes Husten .
Es erinnerte Olly an ihre für einige Minuten vergessene Sorge .
" Bitte , Herr Ingenieur , " sie wandte sich in zögerndem Ton an ihn , " geben Sie mir darüber Aufschluß , was bei uns hier vorgeht .
Papa steht elend aus , die Fabrik feiert - bitte sagen Sie , was hat das zu bedeuten ? "
Sie hob in ihrer Unruhe flehend die gefalteten Hände zu ihm empor .
Wolfgangs Gesicht war ernst geworden .
" Wir haben ein schweres Jahr durchlebt , Fräulein Olly .
Aber das kann ich Ihnen unmöglich hier draußen auseinandersetzen .
Wenn Sie gestatten , trete ich noch auf einen Augenblick ein .
Die Kinder des Hauses haben , meiner Ansicht nach , das Anrecht und die Pflicht , die Sorgen der Eltern zu teilen . "
Olly setzte sich dem jungen Ingenieur mit großen , angstvollen Augen gegenüber .
Was würde sie hören müssen ?
Senta wippte im Schaukelstuhl .
" Haben Sie nichts von dem allgemeinen Maschinenstreik gelesen ? " begann Wolfgang Steinhardt .
Olly schüttelte den Kopf .
Es war keine deutsche Zeitung in das Pierresche Pensionat gekommen .
" Es geht schon seit Monaten " , fuhr der junge Mann , die Stirn in Falten legend , fort .
" Zuerst das Murren und die Unzufriedenheit hier und dort unter der Arbeiterschaft .
Aber das wurde immer wieder zum Schweigen gebracht und gütlich beigelegt .
Ihr Vater hat stets freundschaftlich zu seinen Arbeitern gestanden .
Er wußte die Wellen des Aufruhrs , bevor sie überschäumten , zu glätten .
Aber solch ein Streik ist wie eine tückische Krankheit , wie eine Epidemie , welche auch die Besten und Zuverlässigsten überfällt .
In anderen Fabriken hatten sie längst schon die Arbeit niedergelegt .
Ja , sogar zu Ausschreitungen war es dort gekommen .
Wir konnten uns vor Aufträgen nicht retten , da ein großer Teil der Maschinenfabriken außer Betrieb gesetzt war .
Wir wußten nicht , wo wir genügend Hände herkriegen sollten , und stellten an Arbeitskräften ein , was sich uns bot .
Das war der Fehler .
So bekamen wir die Aufwiegler hier hinein , grüne , unreife Burschen , welche die erfahrenen Männer mit großprahlerischen Worten aufhetzten .
Sie kamen mit Lohnerhöhungen und Arbeitszeitkürzung .
Ihr Vater tat , was in seiner Macht stand , aber die Forderungen gingen zu weit .
Diese unreifen Burschen hatten alles Vertrauen zu ihrem Herrn in den erregten Arbeitergemütern zerstört , allenthalben Groll und Aufruhr gesät .
So kam es auch bei uns zum Streik .
Seit Wochen währt der Ausstand bereits , wie lange noch , ist gar nicht abzusehen .
Und Ihrem Vater hat die Aufregung , der Undank seiner Arbeiter und die mit dem Streik verknüpften Sorgen einen Teil seiner Lebenskraft gekostet ! "
Der Ingenieur schwieg und blickte teilnehmend auf die ihm Gegenübersitzende .
Sie hatte ihn durch keinen Laut unterbrochen , nur eine Träne löste sich von den langen , seidenweichen Wimpern .
Die Fabrik - ihre Fabrik , mit der sie seit frühester Kindheit aufs innigste vertraut und verwachsen , die alte , liebe Freundin , trat plötzlich als drohender Feind ihr gegenüber ?
Sie konnte es nicht fassen .
" Sind - hat Papa auch pekuniäre Schwierigkeiten durch den - Streik ? "
Das leiser gesprochene letzte Wort schien ihr geradezu körperlichen Schmerz zu bereiten .
Wie ernst und verständig das Mädchen war !
" Machen Sie sich keine Sorgen .
Fräulein Olly , die Firma Hildebrandt kann schon einer Streikepoche die Stirn bieten .
Freilich , allzu lange darf sie nicht mehr anhalten .
Auch das vollste Fass erschöpft sich schließlich ! "
" Ich finde die Sache eigentlich ganz famos " , Senta gab ihrem Schaukelstuhl einen kraftvollen Stoß .
" Solch Arbeiterausstand , das ist doch tausendmal interessanter als das ewige langweilige Maschinengerassel da drüben ! "
Sie lachte selbst in diesen ernsten Augenblicken .
" Du bist noch ebensolche ein Kindskopf wie du warst , Sentchen !
Ich wollte , wir hörten das langweilige Maschinengerassel recht bald wieder !
Weißt du , du solltest zum Vater gehen und ihn auf andere Gedanken bringen . Deinem lachenden Übermut werden die grauen Sorgengeister , die ihn nicht loslassen wollen , nicht standhalten .
Er braucht Sonnenschein ! "
Senta sprang erschreckt auf .
" Nee , Wölfchen , geht heute absolut nicht , ich habe ja über die interessanten Streikgeschichten ganz vergessen , mich fertigzumachen .
Mama wird gewiß schon auf mich warten .
Nee , heute muß ich mir notwendig einen neuen Frühjahrshut kaufen !
Aber morgen , Wölfchen - au revoir ! "
Damit war sie auch schon aus dem Zimmer gehuscht .
" Ja - freilich , der neue Frühlingshut ist notwendiger ! "
Wolfgang blickte kopfschüttelnd hinter dem sorglosen blonden Ding drein .
" Senta besitzt eine glückliche Natur , sie tanzt lachend über die Hindernisse , über die ein anderer strauchelt , hinweg .
Aber sie hat trotzdem ein gutes Herz ! "
Wolfgang sollte von dem Mädchen , das er lieb zu haben schien , nicht enttäuscht sein .
Er lächelte denn auch .
" Ich freue mich , Olly - Fräulein Olly , daß Ihr schwesterliches Verhältnis ein besseres geworden .
In dem einen Jahr hat sich vieles geändert - " er überflog ihre reizvolle Erscheinung - " ist es auch zwischen uns wieder anders geworden - sind wir dieselben guten Freunde wie einst ? "
" Ja " -
Olly atmete tief auf und blickte ihn voll an .
Ihrem künftigen Schwager durfte sie keine feindselige Empfindung mehr entgegenbringen , das war sie Senta schuldig .
" Dann will ich gern das » Sie « und den » Herrn Ingenieur « in den Kauf nehmen " , meinte er ein wenig schalkhaft .
" Und nun , Fräulein Olly , gehen Sie zu Ihrem Vater , ich fand ihn heute verstimmter als je .
Ihre Gegenwart wird ihm wohltun . "
Olly erfreuten diese letzten Worte besonders .
Ihre - des häßlichen jungen Entleins - Gegenwart sollte jemandem wohltun !
Sie sah ihn dankbar an .
" Ich vermag aber nicht soviel Sonnenschein zu verbreiten wie Senta " , sagte sie dann leise .
" Solch lachender , übermütiger Frühlingssonnenschein ohne Bestand ist nicht für jeden , Fräulein Olly .
Einem versorgten Gemüte wie das Ihres Vaters wird ein gleichmäßig von innen heraus warmer Sommersonnentag , wie Sie ihn zu bringen vermögen , mehr helfen !
Leben Sie wohl und - Kopf oben ! "
Er schüttelte ihr noch einmal die Hand und schritt hinaus .
Olly starrte auf die Tür , hinter der seine hohe Gestalt verschwunden .
Mit Anstrengung gab sie ihren Gedanken eine andere Richtung .
Sie mußte zu Papa .
Als Olly in das Arbeitszimmer trat , rührte sich Papa nicht .
Der tatkräftige Mann , den sie nie anders als beschäftigt gesehen , lehnte in seinem Ledersessel in unfruchtbarem Grübeln .
Über dem Schreibtisch hing nach wie vor das große Ölgemälde von Mama , nicht , wie sie gefürchtet hatte , von einem anderen Bilde verdrängt .
Nur auf dem Schreibtisch stand eine kleine Photographie der neuen Mutter .
Der dicke Smyrnateppich fing den Hall ihrer Schritte auf .
Langsam ging sie näher .
Bei dem grauen Tageslicht sah das Gesicht des Vaters noch grauer und abgespannter aus .
Sicher war er krank .
Ein schwerer Seufzer traf Ollys Ohr .
Da stand sie bei ihm und legte schüchtern den Arm um ihn .
" Papa - Wolfgang Steinhardt hat mir von deinen Sorgen erzählt - du mußt es dir nicht so zu Herzen nehmen , es wird sicher alles bald wieder gut werden ! " tröstete sie mit weicher Stimme .
Der Kommerzienrat fuhr empor .
Er blickte von der Tochter zu dem Bilde über dem Schreibtisch .
" Es ist fabelhaft - geradezu fabelhaft , wie du der Verstorbenen auch im Wesen ähnlich geworden bist , Olly .
Geradeso kam sie zu mir herein , legte den Arm um meine Schulter , geradeso war ihre Stimme - ja , damals , da wußten wir hier noch nichts von Aufwiegelei und Streik . "
" Du bist es ja nicht allein , Papa , dasselbe Los trifft doch auch viele andere Fabriken " , wagte Olly vorzustellen .
" Ich war wie ein Vater zu meinen Arbeitern , über zwanzig Jahre haben wir treulich zusammengehalten , und nun ist dies der Dank - Lumpen die ! "
Papas Stimme schwoll zu alter Heftigkeit .
" Sie sind sicher nur verblendet " -
Olly trat für ihre alten Freunde aus den Kindertagen ein .
" Hast du denn schon mit den langjährigen Arbeitern persönlich gesprochen ?
Die müßten doch einem verständigen Wort zugänglich sein ! "
" Wolfgang Steinhardt unterhandelt mit ihnen .
Er sagte mir soeben , daß die älteren die Arbeit ganz gern wieder aufnehmen würden .
Aber sie wagen es nicht , aus Furcht , als Streikbrecher zu gelten .
Da gibt es nur eins - die Bande aushungern ! "
" Papa ! " -
Olly rief es entsetzt - " aushungern , auch die armen , unschuldigen Kinder ?
Nein , das kann dein Ernst nicht sein ! "
" Sie wollen es ja nicht anders - lange können sie der arbeitslosen Zeit nicht standhalten .
Ihre Organisation vermag so viele hungrige Mäuler auf die Dauer auch nicht zu stopfen .
Dann müssen sie entweder zu Kreuze kriechen , oder es kommt , wie in verschiedenen anderen Betrieben , zu Aufruhr und Meuterei .
Am Ende zünden sie uns noch das Haus über dem Kopf an ! "
Olly preßte die Hand auf das Herz .
So stand es , so ?!
" Papa , " sie legte bittend die Hand auf seinen Arm , " versprich mir , bitte , eins .
Ich kann es mir denken , daß du durch die vielen Streikwochen große Verluste haben mußt .
Mache dir deshalb wenigstens keine Sorgen .
Du selbst hast uns Mal gesagt , daß unsere Mama sehr reich gewesen , und daß du ihr Geld für Senta und mich sicher angelegt hast .
Bitte , lieber Papa , nimm mein Geld , ich brauche es nicht und würde es für nichts lieber verwendet sehen , als für unsere Fabrik ! "
Der Kommerzienrat sah seine hochherzige Tochter , deren Wert er so wenig gekannt , schweigend an .
Schweigend zog er sie zu sich nieder .
Olly ruhte im Vaterarm .
Nun nahm sie gern alles Schwere , was hier in der Heimat ihrer wartete , in den Kauf .
" Ich will versuchen zu arbeiten , notwendige Briefe sind zu erledigen , aber ich fühle mich so unlustig und müde zu jeder Tätigkeit . "
Der Vater gab sie frei .
" Papa - könntest du mir nicht diktieren , ich würde dir schrecklich gern helfen . "
Olly sah den Vater bittend an .
" Du , Mädel , " - jetzt lächelte Papa wieder ein wenig - " ich halte nicht viel von Frauenarbeit - unter langen Haaren spuken allerlei Firlefanzgedanken , nur keine ernsten , zielbewußten .
Aber immerhin , wir können es ja versuchen . "
Olly nahm am Schreibtisch Platz , und Papa diktierte .
Es war nicht leicht , ihm zu folgen , denn der Kommerzienrat sprach schnell hintereinander ; er vergaß während der Arbeit , daß er seiner ungeübten Tochter diktierte und nicht einem Stenographen .
Aber Olly gab sich grenzenlose Mühe , nicht zurückzubleiben , die fremden Fachausdrücke richtig zu schreiben und den Vater zufriedenzustellen .
Mit vor Eifer brennenden Wangen legte sie zum Schluß die Feder nieder .
" Brav , Olly , " Papa durchflog das Geschriebene , " sieh Mal an , das hätte ich dir gar nicht zugetraut .
Ich werde dich zu meiner Sekretärin ausbilden . "
Nie war Ollys Herz so von freudigem Stolz erfüllt gewesen als in diesem Augenblick .
Da lag wieder eine Aufgabe vor ihr !
Stunde um Stunde verging , Papa diktierte unentwegt .
Olly konnte kaum noch die Hand rühren , das Gelenk schmerzte sie von der ungewohnten Anstrengung .
Aber sie mochte Papa nicht bitten , eine Pause zu machen .
Er sollte eine bessere Meinung von Frauenarbeit bekommen .
Als Senta mit der Mama von ihren Einkäufen heimkehrte und wie ein Wirbelwind in Papas Zimmer gestürmt kam , um ihr entzückendes Frühjahrshütchen bewundern zu lassen , machte Papa ein ganz erstauntes Gesicht .
Was - so spät war es schon , da hatte er doch wirklich über der gemeinsamen Arbeit mit der Tochter für mehrere Stunden seine Sorgen vergessen .
" Du siehst heute frischer aus , Ludwig . "
Die eintretende Mutter küßte den Vater erfreut auf die Stirn .
Olly fühlte in diesem Augenblick entschieden schon etwas wie Sympathie für sie .
Da reichte sie auch der Tochter freundlich die Hand .
" Wir haben uns ja heute noch gar nicht gesehen .
Olly ; ich glaubte , du würdest zu mir kommen und dir Bubi im Bade anschauen .
Er ist süß , der kleine Kerl , wenn er so strampelt . "
Das junge Mädchen wurde ein wenig verlegen .
" Ich war heute nicht so recht in der Stimmung wegen - wegen des Streiks " , setzte sie leiser , mit einem Blick auf den die Briefe unterschreibenden Vater hinzu .
Am Nachmittag stattete Olly dem Garten ihren Besuch ab .
Es hatte aufgehört zu regnen .
Sie war jetzt an Luft gewöhnt , am liebsten hätte sie einen weiten Spaziergang mit Senta unternommen .
Aber die war zu ihrer Freundin Irmgard gefahren .
Unter dem Reinettenbaum , ihrem Lieblingsplatz , stand Olly lange .
Sie blickte in das noch kahle , mit blitzenden Regentröpfchen in der vorbrechenden Aprilsonne wie Diamanten sprühende Gezweig . Bald würde die Sonne die Regentränen trockenen , wie sie auch jene getrocknet , die sie hier einst geweint .
Langsam schritt sie dem Fabrikterrain zu .
Ausgestorben lag es da .
Die Arbeitssäle leer , keine feurige Lohe prasselte aus der Esse hernieder .
Das rege Treiben der vielen Hunderte , die Stimme der Arbeit war verstummt .
Drohend reckten sich die rußgeschwärzten Schlote gen Himmel , wie eine verödete Stadt umfing es das einsame Mädchen .
Das war das Wiedersehen mit ihrer lieben Fabrik .
Hinter dem gewaltigen Eisenkran , mittels dessen die schweren Maschinenteile gehoben wurden , regte es sich .
Ein weißhaariger Kopf wurde sichtbar .
Olly kannte den Alten von klein auf .
" Guten Tag , Grundmann . "
Sie legte dem Zusammenfahrenden die Hand auf den schäbigen Rock .
Der blickte sie mit unsicheren Augen an .
Er sah schlecht aus , der alte Mann .
" Ist - sind Se 't denn wirklich ? "
Nein , das konnte doch unmöglich " die Häßliche " sein - der Alte schüttelte den Kopf und rückte verlegen an seiner Mütze .
" Doch , Grundmann , ich bin es - die Olly Hildebrandt , die Sie vor vielen Jahren manches Mal auf den Arm genommen haben .
Ich bin traurig , daß ich Sie hier draußen wiederfinde , und nicht dort drinnen ! "
Olly wies auf die tote Fabrik .
" Je - jnädiges Fräulein , " - der Alte kratzte sich das Ohr , - " det is eine verfluchte Sache mit es Streiken .
Der eine will und der andere will nicht !
Aber mitmachen , det müssen sie schließlich alle . "
" Ich verstehe das nicht , Grundmann , so ein alter Mann wie Sie , der hier im Dienst meines Vaters ergraut ist , der sollte doch ganz genau wissen , daß wir es gut mit euch meinen .
Der dürfte sich doch wirklich nicht von ein paar Grünschnäbeln aufhetzen lassen ! " sagte Olly ernst .
" Ja , sehen Sie , Freileinchen , " meinte der alte Mann vertraulich , " was ich bin , ich habe det Faulenzen bis hierher .
Ich möchte lieber heute als morjen wieder an meine Maschine ran .
Und wie mir , so Jet das auch noch 'nen ganzen Hümpel älterer Arbeiter .
Aber wa derfen nicht - nee , wa derfen nicht - sonst schimpfen se uns Streikbrecher !
Nee , det soll keiner nicht dem ollen Jrundemann nachsagen ! "
Er schlug sich auf die Brust .
" Ja , was wollen Sie dann aber noch hier ? " fragte das junge Mädchen traurig .
Der Hoffnungsstrahl , den sie beim Anblick des Alten hatte aufleuchten sehen , erlosch wieder .
" Et treibt mir immer wieder her , wie so 'n Hund , der viele Jahre an einen Ort treu jedient hat .
Und denn , man muß doch ooch kieken , ob es nicht doch wieder mit de Arbeit losjeht - was meine Enkelchen sind , die müssen nun schon seit Tagen hungrig zu Bette .
Gott , man is doch man ooch bloß 'n Mensch ! "
" Ihre Enkelchen sollen nicht mehr hungern , lassen Sie mich dafür sorgen , Grundmann " , sagte Olly , mit Tränen des Mitleids in den Augen .
" Hier , " - sie schüttete den Inhalt ihres Portemonnaies in die immer noch zwischen den Händen gehaltene Mütze des Alten - " und wenn_es zu Ende ist , kommen Sie wieder zu mir . "
" Jnädiges Freilein , nee , det tue ich Ihn mein Lebtag nicht jassen , det Se selbst in' Ausstand 'n Herz vor unsereins haben ! "
Der Alte lief , so schnell er konnte , mit dem geschenkten Gelde heim .
In der Tür des Bureaugebäudes aber erschien ein anderer - Wolfgang Steinhardt .
Er hatte vom Fenster des Ingenieurzimmers den Vorgang beobachtet .
Er sah sehr ernst aus .
" Fräulein Olly , Sie haben Unrecht gehandelt " , begann er vorwurfsvoll .
" Zum mindesten unüberlegt .
Sie haben sich von einer mitleidigen Regung fortreißen lassen , gegen Ihren eigenen Vater Partei zu ergreifen . "
" Was , " - Olly war erschreckt zusammengezuckt - " können wir es verantworten , daß unschuldige Kinder verhungern ? "
" Nein , soweit darf es nicht kommen , aber damit sie es nicht müssen , sollen die unvernünftigen Eltern ihre Arbeit wiederaufnehmen .
Wenn Sie die Streikenden unterstützen , machen Sie mit ihnen gemeinsame Sache gegen uns ! "
" Ich halte es für ein Unrecht , Menschen in Not zu lassen , wenn man dieselbe lindern kann " , sagte Olly , den Kopf senkend .
" Und ich glaube auch nicht , daß dies uns schaden wird , im Gegenteil , wenn die Leute sehen , daß man es gut mit ihnen meint . . . "
" Die Menschen denken nicht alle wie Sie , Fräulein Olly .
Sie sind jung und wissen zum Glück noch nicht , wieviel schlechte Elemente die guten zum Schweigen bringen , besonders in Zeiten des Aufruhrs .
Übrigens dürfen Sie jetzt nicht allein das Fabrikterrain betreten - ich bitte Sie darum !
Sie sind hier nicht sicher , überall lungern jetzt arbeitslose Burschen umher , es kann täglich zu Ausschreitungen kommen .
Sehen Sie , dort hinter dem Staket , das ist so einer von der Sorte , die nur darauf warten , die Fackel der Empörung in diese Stille zu schleudern ! "
Olly wandte den Kopf .
Böse Augen lugten durch das Gitter zu ihnen herüber - Barmherziger - was hielt der Kerl denn in der erhobenen Hand - war es eine Pistole - zielte er damit nicht nach Wolfgang Steinhardt ?
Da kam es auch bereits sausend durch die Luft - aber schon war Olly ohne Besinnen schützend vor den getreten , der ihr einst das größte Weh im Leben zugefügt hatte .
Der Stein traf ihre Stirn , statt die des Freundes .
Mit unterdrücktem Schmerzenslaut brach sie zusammen .
" Olly ! "
Entsetzt beugte sich Wolfgang über die Blutende .
Dann faßte er sie mit starken Armen und trug sie behutsam in das Ingenieurzimmer auf eine Chaiselongue .
Er riß sein Tuch aus der Tasche und versuchte das sickernde Blut zu stillen .
Gottlob - die Wunde schien nicht tief zu sein .
Der Stein des Bösewichts hatte nur ihre Schläfe gestreift Aber sie hielt die Augen fest geschlossen , der Schreck hatte sie überwältigt .
Mit warmem Blick schaute Wolfgang auf das schmale , liebliche Mädchengesicht .
Da regte sie sich , sie schlug die Augen auf .
" Olly - Fräulein Olly , haben Sie große Schmerzen , können Sie wohl schon zur Villa hinüber , müssen wir an den Arzt telephonieren ? " fragte er besorgt .
Olly richtete sich auf .
Sie schwankte noch ein wenig .
" Es wird schon gehen " , sagte sie , mühsam lächelnd .
" Wie soll ich Ihnen danken , Fräulein Olly - Sie sammeln glühende Kohlen auf mein Haupt ! "
Leise kamen die Worte von seinen Lippen .
" Bitte , sprechen Sie nicht davon . "
Noch immer ein wenig wankend und matt von dem Blutverlust , schritt sie , mit angstvoll spähenden Augen , an seiner Seite der Rokokovilla zu .
Am Abend des ersten Tages nach ihrer Heimkehr lag Olly in hohem Wundfieber .
An ihrem Lager wachte die neue Mutter .
Eine ganze Woche mußte Olly das Bett hüten .
Aber sie hatten doch etwas Gutes , diese Tage .
Sie webten ein Band zwischen sie und die Mutter , die sich getreulich in die Pflege mit Senta teilte .
Ollys dankbares Gemüt erkannte jetzt gern die guten Eigenschaften der sich um sie Mühenden an , ihre stets heitere Art brachte sie über manche Stunde quälender Sorge hinweg .
Denn noch immer währte der Streik .
Wolfgang sandte der Genesenden täglich die herrlichsten Blumen , bis Olly , die nun schon wieder im Lehnstuhl am Fenster sitzen konnte , ihn bat , davon abzusehen .
Trotzdem sie Blumen liebte , schmerzte es sie , daß dafür Geld verausgabt wurde , während Arbeiterfamilien darbten .
Rührend war Papa während dieser Zeit .
Seinen eigenen Zustand schien er ganz zu vergessen , er saß stundenlang am Bett seiner Tochter , hielt ihre Hand und erzählte ihr von früheren Tagen .
Als wollte er sie die Jahre , in denen sie seine väterliche Liebe entbehrt , vergessen machen .
Auch Katchen Lehmann stellte sich getreulich ein .
Trotz der Seminararbeit noch rosiger als sonst .
Und das hatte seinen Grund .
Denn , als die beiden Freundinnen allein waren , vertraute das flachshaarige Katchen unter Lachen und Weinen Olly an , daß sie heimlich mit Herrn von Treuenfels verlobt sei , jenem jungen Maler , der an dem Märchenabend in der Rokokovilla die lebenden Bilder gestellt hatte .
Nur ihre Eltern wußten davon , sonst keiner , denn sie mußten noch manches Jährchen warten .
Aber was schadete das - sie waren ja beide jung .
Olly nahm innigen Anteil an dem Glück der Freundin .
Aber auch Katchen sah mit herzlicher Freude , wie gut Olly das Pensionsjahr getan hatte .
Daß sie nicht mehr abseits von den anderen stand , daß sie jetzt erst richtig in ihrem Vaterhause daheim war .
" Habe ich es dir nicht gesagt , Olly , " flüsterte sie beim Fortgehen , " daß noch alles gut werden wird ?
Nun prophezeie ich dir wieder etwas :
Es wird nicht lange dauern , und du wirst ebenso glücklich sein , wie ich es jetzt bin ! "
Damit war sie zur Tür hinaus .
Olly aber schüttelte traurig den Kopf .
Wieder war eine Woche dahingegangen .
Immer noch mußte Olly die breite weiße Binde über der verletzten Stirn tragen .
Sie saß am Fenster und blickte hinaus in den Garten , in dem der Frühling jetzt an allen Ecken und Enden schaffte .
Das frische , junge Lenzgrün tat ihrem Auge und ihrem Herzen wohl .
Neben ihr lag im Wagen das kleine Brüderchen , strampelnd und krahlend .
Der lebendige Frühling !
Junge Hoffnungsfreude ringsum - da regte es sich auch in ihrem zagenden Herzen , es mußte doch nun bald besser werden !
Die Botschaft des Frühlings hatte ja auch im vergangenen Jahre nicht getrogen .
Lautes Gedröhn hallte wildlärmend in ihre lenzfreudigen Gedanken .
Es kam von der Fabrik herüber , Olly preßte erregt die Hände auf die Brust .
Erfüllte es sich schon , war der Streik zu Ende ?
Gellendes Gejohle - und dazwischen Krachen und ohrenbetäubende Schläge auf Eisen - war das die friedliche Arbeit , die sie ersehnt ?
Da stürmte , die Tür weit offen hinter sich lassend , Herbertchen ins Zimmer hinein .
Er trug seine buntfedrige Indianerausrüstung , in der Hand Köcher und Pfeile .
" Es geht los , Olly " , jubelte er .
" Sie ziehen heran in schwarzen Scharen , unsere Mädchen sagen es .
Jetzt gibt es Krieg , höre nur , sie zertrümmern die Maschinen in unserer Fabrik .
Aber ich werde sie beschleichen , ich werde euch als Häuptling vor den Pfeilen der Rothäute schützen ! "
Er wollte wieder zur Tür hinaus .
" Du bleibst hier ! "
Mit fester Hand hatte Olly den begeisterten Jungen , in dessen Kopf Indianergeschichten spukten , gepackt .
" Keinen Schritt gehst du aus diesem Zimmer ! "
Trotzdem ihre Stimme tonlos klang , machte sie auf den Knaben Eindruck .
Er sah scheu zu der erbleichenden Schwester auf .
Jeden dröhnenden Schlag , der ihren lieben Maschinen galt , empfand sie schmerzlich , als wäre er gegen den eigenen Körper gerichtet .
" Mein Kind - mein Kind - sie werden mir mein Kind töten ! "
In verzweifelter Aufregung stürzte die neue Mutter herein und warf sich schirmend über ihren harmlos lallenden Kleinen .
Hinter ihr Senta , weinend , die Ohren gegen das laut und lauter herüberdringende Getöse mit den Händen verschließend .
" Wo ist Papa ? "
Olly sah verstört von einem zum anderen .
" Wohl noch in seinem Zimmer - rufe ihn , Olly , er muß sofort die Polizei alarmieren - die wilde Rotte wird auch uns bedrohen - Gott schütze mein Kind ! "
Die Mutter war ganz außer sich .
Olly eilte in das Zimmer des Vaters .
Die Beine wollten ihr kaum gehorchen .
Papa saß regungslos auf seinem Platz , stierte vor sich hin und lauschte dem wachsenden Tumult .
" Papa - lieber Papa , komme zu uns herüber , Mama bedarf deines Zuspruchs , wir werden das Schwere gemeinsam leichter durchleben ! "
Der Kommerzienrat gab keine Antwort .
" Papa , wir brauchen dich , wir bedürfen deines Schutzes ! " flehte Olly .
Die stumme Starre des Vaters ängstigte sie mehr als die laute Verzweiflung der Mutter .
" Ihr braucht mich - mich - hahaha !
Ich soll euch schützen - und kann doch nicht einmal meine Lebensarbeit vor den rohen Händen der Zerstörer retten !
Hörst du es - dort drüben zertrümmern sie mein Lebenswerk , nur zu - nur weiter ! "
Mit zitternder Hand strich Olly über den ergrauenden Kopf des Vaters .
" Es ist nur totes Material , " flüsterte sie mit erstickter Stimme , " aber hier - hier sind deine Kinder , Papa ! "
Da erhob sich der Kommerzienrat schwerfällig .
Sich auf den Arm seiner Tochter stützend , schritt er mühsam zu seiner Familie - ein kranker Mann .
" Ludwig , du mußt die Polizei benachrichtigen , sie müssen uns Bedeckung schicken . "
Die junge Frau flog am ganzen Körper .
" Keine Waffengewalt auf meinem Grund und Boden . "
Der Kommerzienrat schüttelte langsam den Kopf .
" Olly , telephoniere an Wolfgang Steinhardt , er möchte sofort hinauskommen .
Solange ich noch einen Pfennig mein Eigen nenne , darf kein Blut fließen .
Ich will ihnen noch mehr entgegenkommen , Wolfgang soll mit ihnen unterhandeln - ich selbst vermag es nicht ! "
Er sank wieder teilnahmlos in sich zusammen .
Olly eilte ans Telefon .
" Sie kommen - sie kommen . . . "
Aus dem Souterrain stürzte die Köchin , den Schneeschläger kriegerisch in der Hand schwingend , herauf .
Hinterdrein die kreischenden Mädchen .
Olly , die gerade den Hörer wieder angehängt , stellte sich den schreienden Dienstboten mit zwingendem Ernst entgegen .
" Geht an eure Arbeit , sie werden euch nichts tun ! "
Wolfgang Steinhardts telephonische Worte :
" Keine Angst - ich bin in kurzer Zeit zur Stelle ! " hatten sie wunderbar beruhigt .
Wie eine schwarze Riesenschlange wälzten sich die Arbeitermassen von der Fabrik her unheilvoll auf die weiße Rokokovilla .
Schon waren sie im Garten , plumpe , schwere Männerstiefel zerstampften mitleidslos das frühlingsduftige zarte Grün .
" Olly , komme vom Fenster fort , sie werden wieder mit Steinen nach dir werfen . "
Senta verbarg jammernd den Kopf in die Sofakissen .
Herbertchen legte herzklopfend den ersten Pfeil in den Köcher .
Für ihn war das Furchtbare nur aufregendes Knabenspiel .
Die Mutter hielt Bubi fest gegen ihre Brust gepreßt .
Olly rückte sich einen Stuhl neben Papa und griff nach seiner Hand .
Er sollte in der schwersten , entmutigendsten Stunde seines arbeitsreichen Lebens fühlen , daß sein Kind mit ihm litt .
Näher und näher kam das Stimmgebrause und Gejohle .
Jetzt unterschied man schon schrille Rufe .
" Brot - Brot - wir wollen Brot ! "
- Dumpfes Murren durchtönte die Luft .
" Wo steckt der Kommerzienrat - er schwelgt im Überfluß , und unsere Kinder hungern ! "
Deutlich drangen die feindseligen Worte an Ollys aufs äußerste gespanntes Ohr .
Sie sprang auf .
" Olly , was willst du tun ? "
Die Mutter und Senta riefen es entsetzt wie aus einem Munde .
" Brot . . . "
Wie einziger , wilder Schrei durchgällte es wieder die Luft .
Da trat Olly entschlossen zur Verandatür .
" Laß mich zu ihnen sprechen , Papa , ich will sie zu beruhigen suchen , bis Wolfgang Steinhardt kommt ! "
Sie wartete keine Antwort des Vaters ab .
Sie hörte die angstvoll beschwörenden Bitten der anderen nicht mehr .
Schon stand sie draußen auf der vom ersten Grün umrankten Säulenveranda , schutzlos der entfesselten Menge gegenüber .
Das Schreien , Johlen und Murren verstummte plötzlich .
Man sah erstaunt auf das hochgewachsene liebliche Mädchen , das fast ebenso weiß war wie die Binde , die sich um ihren dunklen Scheitel legte .
Mit großen , traurigen Augen blickte Olly in die drohenden , finsteren Gesichter .
Da war manch einer darunter , mit dem sie in den Tagen der Kindheit gut Freund gewesen .
" Was wollt ihr ? " fragte sie , die Stimme zur Ruhe zwingend , und trat mutig an die Verandabrüstung .
" Brot - gebt uns Brot - wir hungern ! "
Wilder Tumult erhob sich wieder .
Vergeblich versuchte Olly , sich in demselben Gehör zu schaffen .
" Was will das Mädel hier - der Kommerzienrat soll kommen ! " wurden Stimmen laut , während unreife Burschen , welche die Arbeiter aufgehetzt , mit gellenden Pfiffen alles übertönten .
Da trat aus den ungezügelten Massen ein weißhaariger Alter .
Er schritt zur Veranda und stellte sich neben die Tochter des Kommerzienrats .
" Seid ruhig , " begann er , " sie hat es stets Jute mit uns Arbeitern jemeint .
Selbst jetzt , im Ausstand , hat sie mir Jeld jejeben , damit meine Enkelchens nicht hungern sollten . "
Beifälliges Gemurmel erhob sich .
Hier und da löste sich einer aus der Menge und trat zur Veranda .
Der Arbeiter Schulz , den Olly einst im Krankenhause besucht , und so mancher andere ihrer alten Freunde .
Wie eine schirmende Mauer stellten sie sich vor das furchtlose Mädchen .
" Ruhe - sie soll zu uns reden ! "
Die johlenden Burschen wurden zum Schweigen gebracht .
" Mein Vater ist krank von der Aufregung und dem Gram , den ihr ihm bereitet ; ihr könnt ihn nicht sprechen " , begann Olly mit gepreßter Stimme .
" Ich bin , wie ihr seht , von einem Stein verwundet , den Gehässigkeit aus eurer Mitte geschleudert . "
Sie mußte eine Pause machen , das Murren wurde wieder laut , aber diesmal galt es dem Missetäter .
" Ihr selbst hungert - das sind die Errungenschaften des Streiks ! " fuhr Olly mutiger fort .
" Viele , viele Jahre habt ihr treu mit uns zusammengehalten , mein Vater ist auch euch stets wie ein Vater gewesen .
Und das soll mit einem Male alles vergessen sein ?
Stets habe ich meine Freunde in euch gesehen , und nun seid ihr plötzlich meine Feinde geworden ! "
Es war , als ob die weiche Mädchenstimme die tosenden Wogen des Aufstandes zurückebben ließ .
Wieder traten einige der Streikenden mit gesenktem Kopf zu den an der Veranda Stehenden .
" Mein Vater hat es verschmäht , die Polizei gegen seine Arbeiter zu Hilfe zu rufen .
Er will friedlich mit euch unterhandeln und euren Forderungen , soweit es recht und billig ist , zu entsprechen suchen .
Wenn ihr die Arbeit ruhig wiederaufnehmt , wird er vergessen , wie ihr heute dort drüben " - sie wies nach der Fabrik - " gehaust habt .
Vor allem aber sollen eure unschuldigen Kinder nicht länger Hunger leiden .
Wer wieder arbeiten will , der trete hierher und nehme an Brot und Lebensmitteln in Empfang , was wir hier im Hause haben , soweit es reicht ; den anderen wird Geld zu Brot vorgeschossen . "
" Brot . . . "
Die hungernden Massen drängten unaufhaltsam nach vorn .
Umsonst ertönte hier und da der verächtliche Ruf : " Streikbrecher ! "
Keiner vernahm in dem Lärm das Rattern eines anfahrenden Autos .
Da stand neben der jungen Sprecherin plötzlich mit geladenem Revolver der Ingenieur Wolfgang Steinhardt .
" Zurück , " donnerte er , " wenn euch euer Leben lieb ist ! "
Er glaubte nicht anders , als der Ansturm entspränge feindlichen Absichten .
Olly legte ihm beschwichtigend die Hand auf den drohend erhobenen Arm .
" Nicht so - ordnen Sie es friedlich , die Leute sind bereit , die Arbeit wiederaufzunehmen , die Bedingungen müssen Sie mit ihnen besprechen .
Wir wollen nur erst für den ersten Hunger sorgen . "
Sie ließ von den Mädchen Körbe mit Eßwaren herbeischleppen , die sie unter die gierig danach Greifenden verteilte .
Am nächsten Tage arbeitete die Fabrik wieder .
Ihr Herr aber lag in schwerem Nervenfieber danieder .
Der Streik war zu Ende .
15. Kapitel .
Aus dem Entlein ist ein Schwan geworden Über ein Jahr war seit jenem Tage vergangen , da unbarmherzige Arbeiterfüße das lenzjunge Grün niedergetreten .
Im Garten blühten die Syringen .
Übermütig wirbelten krause Dampfwölkchen aus den Fabrikschornsteinen in den blauen Himmel hinein und erzählten von emsigem Treiben und Schaffen .
Friedliche Arbeit war nach den Tagen des Aufruhrs wieder an dieser Stätte eingekehrt .
In der weißen Rokokovilla freilich , die mit ihrem verschnörkelten Baustil so lustig dreinblickte , hatte es lange Zeit gebraucht , bis die Folgen der Schreckenstage getilgt waren .
Lange stand der düstere Sensenmann unsichtbar draußen an der Pforte , die Sichel gewetzt , um sie unerbittlich gegen das Haupt des Hauses zu schwingen .
Aber den treuen Pflegerinnen , die mit ihm rangen , wurde schließlich der Sieg .
Als der Arzt , aufatmend nach bösen Fiebertagen und - Nächten , sich vom Lager des Schwerkranken wandte und das eine Wort " Gerettet " sprach , da waren sich Olly und die neue Mutter , wortlos in ihrem Glücksempfinden , in die Arme gesunken .
Ihre Freudentränen mischten sich .
Nichts verbindet zwei Herzen so fest miteinander , wie das Band gemeinsamer Sorge .
Olly hatte in diesen Tagen der Krankheit des Vaters die neue Mutter in ihrer unermüdlichen Tatkraft und Selbstentäußerung dem Gatten gegenüber schätzen und lieben gelernt .
Senta war nicht im Krankenzimmer zu gebrauchen .
Sie war zu beweglich , ihr unruhiges Temperament scheuchte auch dem Fiebernden die Ruhe .
Sie hatte sich inzwischen Bubis angenommen , in die Kinderstube paßte ihre Sonnennatur besser als in das Krankenzimmer .
Monatelang konnte sich der Kommerzienrat nicht von jenen Tagen des Aufstandes , die sein innerstes Mark getroffen , erholen .
Und als er schließlich zum erstenmal wieder seine Fabrik betrat , da wandte sich manch Arbeitergesicht in schuldbewußt erschrecktem Gruße ihm zu .
Ein alter Mann mit schneeweißem Haar war es , der ihre Reihen durchschritt .
Kaum kannten sie ihren stattlichen , jugendschönen Herrn in dem Gebeugten , sich noch immer am Stock Vorwärtsschiebenden wieder .
Der Wetterstrahl zerschmettert zuerst die höchste , stolzeste Eiche .
Olly war Papas Sekretärin geworden , seine " rechte Hand " , wie er schmerzlich sagte .
Denn diese versagte ihm , trotz aller Massage und Elektrisierens , ihre Dienste .
Morgens , pünktlich mit dem Glockenschlage acht , trat sie ihr Amt an , und bis Mittag beugte sie , eifrig schreibend , den dunklen Kopf über die Papiere .
So hatte sich ihr Wunsch doch noch erfüllt , ihre Arbeitskraft für die Fabrik einzusetzen .
Zweimal in der Woche aber , während Senta Reitstunde hatte , fuhr sie nach Berlin hinein .
Sie hatte Fräulein Richters Worte nicht vergessen und sich als Helferin den sozialen Frauengruppen zur Verfügung gestellt .
Da hatte sie ihre bestimmten Pfleglinge , Waisen , die in Familien untergebracht waren , deren körperliches und geistiges Gedeihen sie überwachen mußte .
Da galt es , armen Kranken ein Labsal zu bringen , für ausreichende Pflege und ärztliche Behandlung zu sorgen .
Ihre liebsten Stunden aber waren die im Kinderasyl .
Sowohl bei den ganz Kleinen , die sie badete und wickelte , als auch bei den Größeren , mit denen sie spielte und lernte , und denen sie zur Belohnung für ihr Bravsein Geschichten erzählte .
Hier fand Olly auch ihr jugendfrohes Lachen , das sie während der Krankheitstage des Vaters fast verlernt hatte , wieder .
Tante Olly war die beliebteste Tante im Kinderasyl geworden .
Viele kleine Händchen streckten sich ihr jubelnd bei ihrem Erscheinen entgegen .
Keine verstand so schön mit ihnen zu spielen , tausend herrliche Dinge aus fast nichts zu zaubern .
Denn das war die Hauptsache , was das reiche , im Luxus aufgewachsene Mädchen hier lernte .
Alles mußte praktisch sein und mit möglichst geringen Kosten hergestellt werden .
Abends , wenn sie Abschied nahm , nachdem sie die Kleinen mit Milch und Brot versorgt hatte , da hingen sich die Händchen wie die Kletten an das Kleid der lieben Tante Olly .
Man wollte sie niemals fortlassen .
Dies Bewußtsein gab ihr , der einst als Backfisch allgemein Unbeliebten , reiches Glücksempfinden .
Für Senta , die Reitstunde mit Irmgard von Buschen zusammen hatte , existierte überhaupt nichts anderes mehr als " Tacky " , ihr graubraunes Reitpferd .
Allenfalls konnte sich daneben noch Irmgards Vetter , der lustige Leutnant Erwin von Treuenfels , ihr getreuer Kavalier im Tattersall , behaupten .
Papa hatte ihr mit Tacky , den sie zu ihrem achtzehnten Geburtstag erhielt , den heißesten Wunsch ihres Lebens erfüllt .
Auch Olly sollte ein Reitpferd bekommen .
Aber diese hatte den Vater gebeten , davon Abstand zu nehmen , und ihr lieber das Geld , das der Gaul wohl kosten würde , zu geben .
" Nanu , Mädel , ich habe ja gar nicht gewußt , daß ich solche geldgierige Tochter habe , - willst du Schätze scheffeln ? " hatte Papa amüsiert gefragt .
Da war Olly mit ihrem langgehegten Wunsch herausgerückt .
Baugelände wollte sie kaufen , das hier draußen noch billig war , und darauf ein Arbeiterkinderheim aufführen lassen .
" Siehst du , Papa , ich habe jetzt öfters die Familien unserer Arbeiter besucht und Umschau gehalten , ob eine Notwendigkeit dafür vorliegt .
Die Kinder sind fast überall , wenn die Eltern in der Fabrik tätig sind , sich selbst überlassen , haben selten warmes Essen , und verwahrlosen ohne Aufsicht .
Willst du mir etwas schenken , so gib mir , bitte , die Erlaubnis , von meinem Vermögen die Gelder für solch einen Bau zu nehmen . "
Der Kommerzienrat reichte seiner Tochter in stummer Anerkennung die Hand .
Auf ihrem Geburtstagstisch aber lag bald darauf die Schenkungsurkunde für soundsoviel Quadratruten Land , das sich an das Fabrikterrain anschloß .
Olly war " Großgrundbesitzerin " , wie Wolfgang Steinhardt sie lachend nannte .
Ein emsiges Leben und Treiben begann bald auf ihrem Grund und Boden .
Brettergerüste wurden aufgeschlagen , auf den Leitern kletterten kalkbespritzte Maurer auf und ab , ihr Hämmern einte sich mit dem Fabrikgetöse .
Stein fügte sich auf Stein , das Haus wuchs in die Höhe .
Jeden Tag stattete Olly ihrem Bau einen Besuch ab und blickte mit frohen Augen auf das Werk , das den Kindern der Arbeiter zum Segen werden sollte .
Sie hatte den Plan für die Verwaltung ihres Kinderheims schon vollständig im Kopf .
Morgens früh wurden die noch nicht schulpflichtigen Kleinen hingebracht , und abends nahmen die Eltern sie wieder mit nach Hause .
Da wurde ein großer , luftiger Babysaal gebaut für die Allerkleinsten .
Selbst weiße Gitterbettchen sollten darin aufgestellt werden , daß die Kinder zur Ruhe gebracht werden konnten .
Ein Zimmer war für die Arbeiterwaisen vorgesehen , die ständig im Kinderheim wohnen durften .
Dann gab es da einen großen , hellen Spiel- und Arbeitssaal , wo die Kinder nach der Schule ihre Aufgaben machen und spielen konnten , eine Küche , in der nahrhaftes Essen für die blassen Kinder der Armut gekocht wurde , und vor allem einen Garten .
Einen ganzen großen .
Mit grünen , weiten Rasenflächen , auf denen sich die Kinder tummeln sollten .
Apfel- und Birnbäume mußten darin aufgepflanzt werden , Olly hatte die sehnsüchtigen Blicke der Arbeiterkinder zu dem herrlichen Obstgarten des Kommerzienrats nicht vergessen .
Die Leitung des Kinderheims behielt Olly sich selbst vor .
Aber zur ständigen Aufsicht hatte sie bereits eine junge Lehrerin , eine Bekannte von Katchen Lehmann , verpflichtet .
Katchen wollte ihre freie Zeit ebenfalls gern der Freundin für ihr schönes Werk zur Verfügung stellen .
Auch einige Seminaristinnen hatte sie schon als Helferinnen dafür gewonnen .
Sogar Senta hatte sich herbeigelassen , einen Nachmittag in der Woche ihren Tacky im Stich zu lassen und sich der menschenfreundlichen Aufgabe zu widmen .
" Aber die Schmutznäschen wische ich fremden Kindern nicht ! " hatte das elegante junge Fräulein gleich dabei erklärt .
Selbst einen Arzt hatte Olly für ihr Kinderheim schon in Aussicht .
Freilich vorläufig nur einen angehenden .
Rudi , der jetzt in Berlin studierte , trug bereits seine erste Anstellung in der Tasche .
Wolfgang Steinhardt zeigte warmes Interesse für Ollys edles Unternehmen .
Er hatte ihr das Technische , das sie nicht beherrschen konnte , abgenommen , mit dem Architekten und den übrigen Fachleuten unterhandelt .
Sie war ihm von Herzen dankbar dafür .
Trotzdem wußte sie es einzurichten , daß sie so selten wie möglich mit ihm , der auch täglich auf dem Bau nach dem Rechten schaute , bei der Besichtigung zusammentraf .
Zu Ostern hatte die Hildebrandtsche Maschinenfabrik eine Umwälzung erfahren .
Der Kommerzienrat , der sich noch immer schonen mußte , hatte Wolfgang Steinhardt als Teilnehmer aufgenommen .
Olly glaubte bestimmt , daß diese Veränderung die Vorbotin einer ebensolchen innerhalb ihres Familienlebens bedeutete .
Täglich war sie darauf gefaßt , Sentas und Wolfgangs Verlobung zu erfahren .
Ein wonniger Maitag blaute über dem in voller Frühlingsblüte stehenden Garten .
Die großen weißen und rötlichblauen Syringenbüsche strömten betäubenden Duft aus .
Die unter ihrer blumigen Last tief niederhängenden Zweige des Rotdorns bildeten purpurne Heckenwege , und die Obstbäume hatten sich in schneeige Blütenschleier gehüllt .
In den Büschen jubilierten die Amseln , als wollten sie mit ihrem Sang das Rasseln und Hämmern , das aus den Maschinensälen erschallte , übertönen .
Ollys Balkon glich einer Blumenlaube .
Tiefblaue Klematisglocken schaukelten leise im Maienwind über dem dunklen Mädchenscheitel .
Olly sah zu ihrem Kinderheim hinüber .
Das Haus war fertig .
Mit seinem funkelnagelneuen weißen Sandsteinkleid , mit den grünen Fensterläden grüßte es seine junge Besitzerin gar freundlich und hoffnungsfroh .
Morgen sollte die Einweihung stattfinden .
Trotzdem schauten Ollys Augen nicht so freudig drein , wie sie es eigentlich hätten tun müssen .
Ihr Herz stimmte nicht in den Frühlingsjubel des Wonnemonats ein .
Irgendeine Vorahnung , die sie nicht in Worte zu fassen vermochte , lag ihr schwer auf der Brust .
Drunten im Garten machte Bubi jauchzend seine ersten Gehversuche .
Über ihrem Haupte segelten in weitem Bogen die glückbringenden Schwalben . Glück .
- Olly verzog wehmütig den roten Mund .
Aber gleich darauf sprach sie kopfschüttelnd zu sich selbst :
" Nicht undankbar werden , Olly , du hast nur Grund , froh und zufrieden zu sein ! "
Doch aller Philosophie zum Trotz stahl sich ein leiser Seufzer aus der jungen Brust .
In das gemeinsame Zimmer trat Senta mit heißen Wangen und gewehtem Blondhaar .
Sie kam soeben von einem Spazierritt nach Hause und war noch im Reitkleide .
Sie warf die Gerte auf den Tisch , schleuderte die Handschuhe daneben und trat zu Olly hinaus .
" Na , war_es schön , Sentchen ? "
Olly wandte sich der Schwester zu .
Diese nickte .
Ihre Wangen schienen sich noch tiefer zu färben .
Dann schlang sie plötzlich in jäher Erregung die Arme um den Hals der Älteren und lehnte aufschluchzend den Blondkopf an ihre Schulter .
Erschreckt umfing Olly die Fassungslose .
Senta , das Sonnenkind , weinte , was hatte das zu bedeuten ?
Da aber hob sie schon das Haupt , und wie nach einem Frühlingsregen lachte aus ihren vergißmeinnichtblauen Augen bereits wieder Sonnenschein .
" Olly - es soll zwar heute noch keiner wissen - er will morgen abend erst zu Papa kommen - aber dir muß ich es sagen - ich bin ja so unmenschlich glücklich ! "
Mechanisch streichelten Ollys Hände das weiche Blondhaar .
Wie ein eisiger Strom hatte es sich bei Sentas heißen Worten durch ihre Adern ergossen .
Es war ihr , als ob ihr Herz plötzlich still stand .
Jetzt kam es , das Vorhergeahnte !
" Du - hast dich - verlobt ? "
Wie aus weiter Ferne drangen Olly ihre eigenen Worte ins Ohr .
Senta nickte in heißem Erröten .
" Wir sind uns schon lange gut . . . "
Olly brachte ihr törichtes , dummes Herz mit Gewalt zum Schweigen .
Sie drückte die Schwester an sich .
" Mögest du recht , recht glücklich werden mit ihm - und ihn ebenso glücklich machen ! " sagte sie leise .
Ihre Stimme gehorchte ihr nicht weiter .
" Glaubst du , daß Papa nichts dagegen haben wird ?
Er ist noch so jung - - - "
" Ich denke , daß du ihm keinen lieberen Schwiegersohn zuführen kannst , Senta , und so jung ist er doch schließlich nicht , er ist ja über seine Jahre ernst " , Ollys Stimme klang noch weicher als sonst .
" Ernst - " Senta lachte hell auf .
" Ich glaube , er hat noch nie ein ernsthaftes Wort mit mir gesprochen , selbst heute beim Antrag nicht .
Wenn nur der Dienst nicht wäre , er ist fast den ganzen Tag in Anspruch genommen , wir werden wenig von unserer Verlobungszeit haben " , meinte Senta , das Reithütchen aus dem Goldhaar lösend .
" Papa ist ja kein Tyrann , er wird schon ein Einsehen mit euch haben und ihn mehr entlasten " , tröstete Olly .
" Papa - wie kommt denn Papa dazu , der ist doch nicht sein Vorgesetzter - - - "
" Jetzt freilich nicht mehr , seitdem er sein Sozius geworden , aber - - - "
" Um Himmels Willen , Olly , von wem sprichst du denn eigentlich ? "
Senta starrte die Schwester mit weit aufgerissenen Augen an .
" Von Wolfgang Steinhardt , deinem Verlobten - "
" Von Wölfchen - hahahaha - - - " Senta brach in ein helles Lachen aus .
Jetzt war es an Olly , die Schwester mit weit aufgerissenen Augen anzustarren .
" Senta - ich verstehe dich nicht - was bedeutet das - - - "
" Das bedeutet , daß ich mich mit Leutnant Erwin von Treuenfels verlobt habe - du Schäfchen - und nicht mit Wolfgang Steinhardt - Wölfchen , hahahaha - der Gedanke ist zu komisch ! "
Olly mußte nach dem neben ihr stehenden Stuhl greifen .
" Er - er wird sehr unglücklich werden durch deine Verlobung - er hat dich sicher lieb ! " sagte sie dann mit tonloser Stimme .
Kein Gefühl der Freude wallte in ihr auf , nur grenzenloses Mitleid mit dem enttäuschten Freunde .
" Wölfchen mich lieb - " Senta begann aufs neue zu lachen - " na ja , wie Rudi und Herbertchen mich auch lieb haben , nicht 'ne Spur anders !
Liebe schaut anders aus , komme du erst in meine Jahre ! "
Übermütig wollte sie die Schwester auf dem schmalen Balkon herumwirbeln .
Aber die machte sich frei .
" Laß mich , Senta , du siehst in deinem jubelnden Glück nicht die am Wege Weinenden .
Mir tut Wolfgang schrecklich leid - - - "
" Weißt du was , dann nimm du ihn , Olly ! " unterbrach Senta sie in ihrer impulsiven Art .
" Für dich paßt er auch viel besser - " sie konnte nicht weiter sprechen , der Schwester Hand legte sich ihr gebieterisch auf den die Worte heraussprudelnden Mund .
" Rede ' keinen Unsinn ! "
Senta sah der vom Balkon Gehenden verdutzt nach .
Nanu - es war doch nur ein Scherz gewesen - Olly pflegte doch längst nicht mehr eine harmlose Neckerei krumm aufzunehmen !
Olly tat in dieser Nacht kein Auge zu .
Wie sie sich hingelegt , erhob sie sich wieder .
In ihr stand es fest , daß Senta im Begriff war , das Lebensglück des Freundes zu zertrümmern .
Als der junge Morgen ins Fenster lugte , war sie mit sich im reinen .
Sie selbst wollte Wolfgang Steinhardt von Sentas Verlobung Mitteilung machen , in zarter , schonender Weise , es nicht dem jähen Zufall überlassen , ihm grausam die Kunde zuzutragen .
Papa blickte seine junge Sekretärin , die heute aus übernächtigten Augen schaute , prüfend an .
" Du siehst angegriffen aus , Kind , wir wollen unsere Arbeit heute lassen , es liegt nichts Dringendes vor .
Gehe ein paar Stunden spazieren , daß du nachmittags zu deiner Einweihung frisch bist " , sagte er gütig .
Olly nahm dankbar Papas Vorschlag an .
Es wäre ihr heute schwer geworden , ihre Gedanken zu konzentrieren .
Wolfgang Steinhardt hatte als Teilhaber der Fabrik jetzt sein eigenes Privatzimmer .
Als Olly es mit scheuem Gruß durchschritt , hielt er sie an .
" Sie sehen heute so bleich aus , Fräulein Olly , sind Sie krank ? " fragte er besorgt .
Sie schüttelte stumm das Haupt .
Einen Augenblick schwankte sie .
Sollte sie es ihm jetzt gleich sagen ?
Nein - nein , sie brachte es nicht über sich , den tödlichen Streiche gegen sein Glück zu führen .
Leutnant von Treuenfels wollte erst gegen Abend zu Papa kommen , inzwischen fand sie wohl noch einige Minuten Zeit , mit Wolfgang zu sprechen .
Die kosende Maienluft tat ihrem schmerzenden Kopf wohl .
Mit helleren Augen und zartgefärbten Wangen erschien sie bei Tisch .
Papa war mit ihr zufrieden .
Sie fand jetzt keine Zeit mehr , ihren Gedanken nachzuhängen .
Es gab noch allerlei im neuen Haus zum Empfang ihrer kleinen Schützlinge zu rüsten .
Die Fabrik hatte der Einweihung zu Ehren einen freien Nachmittag .
Um vier Uhr waren die Eltern mit ihren Kindern hinbestellt .
Olly schritt im weißen Sommerkleide ihrem neuen Reich zu .
Die Goldbuchstaben über dem Eingange " Arbeiter-Kinderheim " blitzten und funkelten in der Maisonne .
Mit zufriedenem Auge durchwanderte Olly die vor Sauberkeit leuchtenden Räume .
Hier würde manch verkümmertes Menschenblümchen aufleben und erstarken .
Ein frohes Gefühl überkam sie .
In der Küche war die neue Köchin damit beschäftigt , einen großen Kübel Schokolade zu kochen .
Die Kinder sollten eine schöne Erinnerung an die Einweihung ihres Heims behalten .
Auf den niedrigen Tischen in dem Arbeits- und Spielsaal stand vor jedem Platz ein blauer Emaillmilchbecher .
Olly schnitt von Riesennapfkuchen für jedes Kind zwei Stücke und legte sie neben die Becher .
Die Familie des Kommerzienrats war vollständig versammelt .
Auch Wolfgang Steinhardt nahm an der Einweihung Teil .
Er schritt mit bewunderndem Blick durch die ebenso praktischen , hygienischen , als auch dem Auge wohltuenden Räume .
Was Olly hier geschaffen , trug den Stempel ihrer vollgültigen Persönlichkeit .
Der junge Ingenieur fuhr sich mit der Hand lockernd in den Halskragen .
Der Gedanke an das , was er sich für diesen Tag vorgenommen , beengte ihn .
Er wollte heute mit Olly sprechen .
Ihr offen seine Neigung gestehen - er mußte endlich Gewißheit haben !
Dieses feige Versteckspielen ertrug er nicht länger , entweder - oder !
Der heutige frohe Festtag , ihr ganz besonderer Ehrentag , schien ihm dafür günstiger als jeder andere .
Die Fabrikuhr schlug vier .
In langen Scharen zogen die Arbeiter in sonntäglichen Kleidern dem Heim , das ihnen edle Menschenfreundlichkeit errichtet , zu .
Einige achtzig Kinder waren für den Anfang gemeldet .
An der Schwelle des neuen Hauses empfing Olly , in ihrem weißen Gewande wie eine gütige Fee anzuschauen , mit schlichtfreundlichem Gruß die Eintretenden .
Die Kinder nahmen ihre Plätze auf den Bänken ein , die Eltern ringsum Aufstellung .
Aus jungen , frischen Kehlen erklang es :
" Unseren Eingang segne Gott . "
Dann sprach Olly einige warm empfundene Worte , daß heute sich der größte Wunsch ihres Lebens erfüllt habe , und wie sie hoffe , daß sich die Kinder in ihrem Heim wohl fühlen würden und dort zu braven , pflichtgetreuen Menschen heranwachsen .
Während ihrer Rede dachte wohl so mancher der Arbeiter daran , daß der junge Mädchenmund schon einmal zu ihnen gesprochen in den Tagen der Gewalttat und der Empörung , und wie sie heute Böses mit Gutem an ihnen vergalt .
Die Gefühle der Treue gegen ihren Herrn und sein Haus erstarkte dieser Augenblick .
Es war eine Lust , zu sehen , wie es den Kleinen zum erstenmal in ihrem Reich mundete .
Das schleckte und leckte , stopfte und schlürfte , allenthalben sah man braune Schokoladenbärte in frischen Kindergesichtern .
Da wich der Druck , der auf Olly lastete , und sie war froh und heiter mit den Kleinen .
Aber als die Napfkuchenreste unter den Arbeiterfamilien verteilt , als das letzte " Vielen Dank ooch , jnädiges Fräulein ! " verklungen war , legte es sich wieder wie ein Zentnergewicht ihr auf die Seele .
Die Mutter war zu Bubi geeilt , Senta hatte sich in Papas Arm gehängt , um ihn auf den bevorstehenden Besuch vorzubereiten , Rudi , der Studio , mußte heute noch zu einer Fuchstaufe , und Herbertchen sich mit dem lateinischen Ablativ anfreunden .
Das neue Haus leerte sich .
Wolfgang brauchte keine Furcht zu haben , daß Olly ihm heute wieder entwischen würde .
Sie wartete auf ihn .
An seiner Seite schritt sie durch den im brennenden Abendkuß rosig erglühenden Frühlingsgarten .
Keiner sprach .
Keiner wagte von dem , was ihm am Herzen lag , zu beginnen .
Die duftigen Blüten streiften ihre Stirn .
Die Vöglein flogen zum Nest .
Sie standen unter dem Reinettenbaum .
" Ich muß mit Ihnen sprechen " , hob Wolfgang da plötzlich an , seine Stimme klang seltsam in die Abendstille hinein .
Olly atmete auf .
Gott sei Dank - wenigstens noch eine kurze Galgenfrist !
Sicher wollte er mit ihr die Abrechnung des Neubaues durchgehen .
" Sie sprachen vorhin zu den Arbeitern davon , daß der heutige Tag Ihnen den größten Wunsch Ihres Lebens erfüllt habe , Fräulein Olly .
Vielleicht bringt er auch meinem heißesten Lebenswunsche Erfüllung - - " er machte erregt eine Pause .
Olly preßte die Hände auf das erregt schlagende Herz .
Wollte er jetzt mit ihr von Senta sprechen ?
" Sie müssen es längst schon gemerkt haben , daß ich Sie liebe , daß ich keinen anderen Gedanken mehr habe , als Sie zu besitzen - Olly , können Sie mir kein Wort der Hoffnung geben ? "
Tief hatte sich das dunkle Mädchenhaupt gesenkt .
Ollys uneigennütziges Fühlen bezog das " Sie " ganz selbstverständlich auf die Schwester - es war ja nicht das erstemal in ihrem Leben , daß sie abseits stand - heute vom Glück .
Wenn sie nur ihm hätte das Weh ersparen können !
Sie kam sich vor wie der Henker , der Leben und Tod in seinen Händen hält .
Sie blickte in die zartduftige Blütenpracht des Apfelbaumes .
Hier hatte sie schon einmal die schwerste Stunde ihres Daseins durchlebt .
" Ich kann Ihnen keine Hoffnung machen , Wolfgang " , sagte sie mit weicher , tränenverschleierter Stimme .
In diesem Augenblick des Mitleids kam ihr der vertraute Name der Kinderzeit wieder auf die Lippen .
Er erbleichte .
Sie legte sanft die Hand auf seinen Arm .
" Senta liebt einen anderen , sie - "
" Senta , was frage ich in dieser Stunde nach Senta !
An dich nur denke ich , Olly , von dir will ich wissen , warum du mich mit meiner großen Liebe abweist - sage , hast du mir noch immer nicht verziehen ? "
" Mich - mich - das häßliche junge Entlein - ich glaubte Senta - - - " sie kam nicht weiter .
Wolfgangs Arme umfingen sie , seine Lippen preßten sich auf die kleine rote Narbe an ihrer Stirn .
" Mein Schwan - mein schöner , edler Schwan ! "
Und der alte Reinettenbaum ließ seinen bräutlichen Blütenregen herniederrieseln auf das glückliche junge Paar .
CC-BY

Rechtsinhaber*in
Bildungsroman Projekt

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Korpus. Kommerzienrats Olly. Kommerzienrats Olly. Bildungsromankorpus. Bildungsroman Projekt. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0ck.0