Man lernt hier sehr wenig , es fehlt an Lehrkräften , und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen , d. h. , wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein .
Der Unterricht , den wir genießen , besteht hauptsächlich darin , uns Geduld und Gehorsam einzuprägen , zwei Eigenschaften , die wenig oder gar keinen Erfolg versprechen .
Innere Erfolge , ja .
Doch was hat man von solchen ?
Geben einem innere Errungenschaften zu essen ?
Ich möchte gern reich sein , in Droschken fahren und Gelder verschwenden .
Ich habe mit Kraus , meinem Schulkameraden , darüber gesprochen , doch er hat nur verächtlich die Achsel gezuckt und mich nicht eines einzigen Wortes gewürdigt .
Kraus besitzt Grundsätze , er sitzt fest im Sattel , er reitet auf der Zufriedenheit , und das ist ein Gaul , den Personen , die galoppieren wollen , nicht besteigen mögen .
Seit ich hier im Institut Benjamenta bin , habe ich es bereits fertiggebracht , mir zum Rätsel zu werden .
Auch mich hat eine ganz merkwürdige , vorher nie gekannte Zufriedenheit angesteckt .
Ich gehorche leidlich gut , nicht so gut wie Kraus , der es meisterlich versteht , den Befehlen Hals über Kopf dienstfertig entgegenzustürzen .
In einem Punkt gleichen wir Schüler , Kraus , Schacht , Schilinski , Fuchs , der lange Peter , ich usw. , uns alle , nämlich in der vollkommenen Armut und Abhängigkeit .
Klein sind wir , klein bis hinunter zur Nichtswürdigkeit .
Wer eine Mark Taschengeld hat , wird als ein bevorzugter Prinz angesehen .
Wer , wie ich , Zigaretten raucht , der erregt ob der Verschwendung , die er treibt , Besorgnis .
Wir tragen Uniformen .
Nun , dieses Uniformtragen erniedrigt und erhebt uns gleichzeitig .
Wir sehen wie unfreie Leute aus , und das ist möglicherweise eine Schmach , aber wir sehen auch hübsch darin aus , und das entfernt uns von der tiefen Schande derjenigen Menschen , die in höchsteigenen aber zerrissenen und schmutzigen Kleidern dahergehen .
Mir z. B. ist das Tragen der Uniform sehr angenehm , weil ich nie recht wußte , was ich anziehen sollte .
Aber auch in dieser Beziehung bin ich mir vorläufig noch ein Rätsel .
Vielleicht steckt ein ganz , ganz gemeiner Mensch in mir .
Vielleicht aber besitze ich aristokratische Adern .
Ich weiß es nicht .
Aber das Eine weiß ich bestimmt :
Ich werde eine reizende , kugelrunde Null im späteren Leben sein .
Ich werde als alter Mann junge , selbstbewußte , schlecht erzogene Grobiane bedienen müssen , oder ich werde betteln , oder ich werde zugrunde gehen .
Wir Eleven oder Zöglinge haben eigentlich sehr wenig zu tun , man gibt uns fast gar keine Aufgaben .
Wir lernen die Vorschriften , die hier herrschen , auswendig .
Oder wir lesen in dem Buch " Was bezweckt Benjamenta's Knabenschule ? "
Kraus studiert außerdem noch Französisch , ganz für sich , denn fremde Sprachen oder irgend etwas derartiges gibt es gar nicht auf unserem Stundenplan .
Es gibt nur eine einzige Stunde , und die wiederholt sich immer .
" Wie hat sich der Knabe zu benehmen ? "
Um diese Frage herum dreht sich im Grunde genommen der ganze Unterricht .
Kenntnisse werden uns keine beigebracht .
Es fehlt eben , wie ich schon sagte , an Lehrkräften , d. h. die Herren Erzieher und Lehrer schlafen , oder sie sind tot , oder nur scheintot , oder sie sind versteinert , gleichviel , jedenfalls hat man gar nichts von ihnen .
An Stelle der Lehrer , die aus irgendwelchen sonderbaren Gründen totähnlich daliegen und schlummern , unterrichtet und beherrscht uns eine junge Dame , die Schwester des Herrn Institutvorstehers , Fräulein Lisa Benjamenta .
Sie kommt mit einem kleinen weißen Stab in der Hand in die Schulstube und Schulstunde .
Wir stehen alle von den Plätzen auf , wenn sie erscheint .
Hat die Lehrerin Platz genommen , so dürfen auch wir uns setzen .
Sie klopft mit dem Stab dreimal kurz und gebieterisch hintereinander auf die Tischkante , und der Unterricht beginnt .
Welch ein Unterricht !
Doch ich würde lügen , wenn ich ihn kurios fände .
Nein , ich finde das , was Fräulein Benjamenta uns lehrt , beherzigenswert .
Es ist wenig , und wir wiederholen immer , aber vielleicht steckt ein Geheimnis hinter all diesen Nichtigkeiten und Lächerlichkeiten .
Lächerlich ?
Uns Knaben vom Institut Benjamenta ist niemals lächerlich zumute .
Unsere Gesichter und unsere Manieren sind sehr ernsthaft .
Sogar Schilinski , der doch noch ein vollkommenes Kind ist , lacht sehr selten .
Kraus lacht nie , oder wenn es ihn hinreißt , dann nur ganz kurz , und dann ist er zornig , daß er sich zu einem so vorschriftswidrigen Ton hat hinreißen lassen .
Im allgemeinen mögen wir Schüler nicht lachen , d. h. wir können eben kaum noch .
Die dazu erforderliche Lustigkeit und Lässigkeit fehlt uns .
Irre ich mich ?
Weiß Gott , manchmal will mir mein ganzer hiesiger Aufenthalt wie ein unverständlicher Traum vorkommen .
Der jüngste und kleinste unter uns Zöglingen ist Heinrich .
Man ist diesem jungen Menschen gegenüber unwillkürlich zärtlich gesinnt , ohne dabei etwas zu denken .
Er steht vor den Schaufenstern der Kaufleute still , innig in den Anblick der Waren und Leckerbissen versunken .
Dann tritt er gewöhnlich ein und kauft sich etwas Süßes für einen Sechser .
Heinrich ist noch ganz Kind , aber er spricht und benimmt sich schon wie ein erwachsener Mensch von guter Führung .
Sein Haar ist immer ganz tadellos gekämmt und gescheitelt , was gerade mich zur Anerkennung hinreißen muß , da ich in diesem wichtigen Punkt sehr liederlich bin .
Seine Stimme ist so dünn wie ein zartes Vogelgezwitscher .
Man muß unbewußt den Arm um seine Schulter legen , wenn man mit ihm spazieren geht oder mit ihm spricht .
Er hat die Haltung eines Obersten und ist so klein .
Er besitzt keinen Charakter , denn er weiß noch gar nicht , was das ist .
Gewiß hat er noch nie über das Leben nachgedacht , und wozu ?
Er ist sehr artig , dienstfertig und höflich , aber ohne Bewußtsein .
Ja , er ist wie ein Vogel .
Das Trauliche gelangt an ihm überall zum Vorschein .
Ein Vogel gibt einem die Hand , wenn er sie gibt , ein Vogel geht so und steht so .
Alles ist unschuldig , friedfertig und glücklich an Heinrich .
Er will Page werden , sagt er .
Doch er sagt es ganz ohne unfeines Schmachten , und in der Tat , der Pagenberuf ist für ihn das durchaus Richtige und Angemessene .
Die Zierlichkeit des Benehmens und Empfindens strebt irgend wohin , und siehe , sie trifft das Rechte .
Was wird er für Erfahrungen machen ?
Werden sich an diesen Knaben überhaupt Erfahrungen und Erkenntnisse heranwagen ?
Werden die rohen Enttäuschungen sich nicht genieren , ihn zu beunruhigen , ihn , den Überzarten ?
Übrigens merke ich , daß er ein wenig kalt ist , es ist nichts Stürmisches und Herausforderndes an ihm .
Vielleicht wird er vieles , vieles , das ihn niederschlagen könnte , gar nicht bemerken , und vieles , das ihm seine Sorglosigkeit nehmen könnte , gar nicht fühlen .
Wer weiß , ob ich recht habe .
Aber ich stelle jedenfalls sehr , sehr gern solche Beobachtungen an .
Heinrich ist bis zu einer gewissen Grenze verständnislos .
Das ist sein Glück , und man muß es ihm gönnen .
Wenn er ein Prinz wäre , ich würde der erste sein , der das Knie vor ihm beugte und ihm huldigte .
Schade .
Wie dumm ich mich doch benommen habe , als ich hier ankam .
Ich entrüstete mich in erster Linie über die Ärmlichkeit des Treppenhauses .
Nun ja , es ist eben der Treppenaufgang eines gewöhnlichen großstädtischen Hinterhauses .
Dann klingelte ich , und ein affenähnliches Wesen öffnete mir die Türe .
Es war Kraus .
Aber damals hielt ich ihn einfach für einen Affen , während ich ihn heute , um des rein persönlichen Wesens Willen , das ihn ziert , hoch schätze .
Ich fragte , ob Herr Benjamenta zu sprechen sei .
Kraus sagte : " Jawohl , mein Herr , " und machte eine tiefe , dumme Verbeugung vor mir .
Diese Verbeugung jagte mir einen unheimlichen Schrecken ein , denn ich sagte mir sogleich , daß da irgend etwas nicht mit rechten Dingen zugehen müsse .
Und von da an hielt ich die Schule Benjamenta für Schwindel .
Ich trat zum Vorsteher herein .
Wie muß ich lachen , wenn ich an die nun folgende Szene denke .
Herr Benjamenta fragte mich , was ich wolle .
Ich erklärte ihm schüchtern , daß ich wünsche , sein Schüler zu werden .
Darauf schwieg er und las Zeitungen .
Das Büro , der Herr Vorsteher , der vorausgegangene Affe , die Türe , die Art , zu schweigen und Zeitungen zu studieren , alles , alles kam mir im höchsten Grad verdächtig , verderbenversprechend vor .
Plötzlich wurde ich nach meinem Namen gefragt und nach meiner Herkunft .
Jetzt hielt ich mich für verloren , denn ich fühlte mit einemmal , daß ich da nicht mehr loskäme .
Stotternd gab ich Auskunft , ich wagte sogar zu betonen , daß ich aus einem sehr guten Hause stamme .
Ich sagte unter anderem , mein Vater sei Großrat , und ich sei ihm davongelaufen , weil ich gefürchtet hätte , von seiner Vortrefflichkeit erstickt zu werden .
Wieder schwieg der Vorsteher eine Weile .
Meine Furcht , betrogen zu werden , stieg aufs höchste .
Ich dachte sogar an geheime Ermordung , stückweises Erdrosseln .
Da fragte mich der Vorsteher mit seiner Gebieterstimme , ob ich Geld bei mir hätte , und ich bejahte .
" So gib es her .
Rasch ! " befahl er , und merkwürdig , ich gehorchte augenblicklich , obschon mich der Jammer schüttelte .
Ich zweifelte nicht mehr daran , einem Räuber und Schwindler in die Hände gefallen zu sein , und trotzdem legte ich das Schulgeld Gehorsam hin .
Wie lächerlich mir meine damaligen Empfindungen jetzt doch vorkommen .
Man strich das Geld ein und schwieg wieder .
Da fand ich den Heldenmut , schüchtern um eine Quittung zu ersuchen , doch man gab mir folgendes zur Antwort : " Schlingel wie du erhalten keine Quittungen . "
Ich war einer Ohnmacht nahe , der Vorsteher klingelte .
Sofort stürzte der dumme Affe Kraus herein .
Der dumme Affe ?
O gar nicht .
Kraus ist ein lieber , lieber Mensch .
Ich verstand es nur damals noch nicht besser .
" Dies hier ist Jakob , der neue Schüler .
Führe ihn ins Schulzimmer . "
- Der Vorsteher hatte kaum gesprochen , so packte mich Kraus und schleppte mich vor das Antlitz der Lehrerin .
Wie kindisch ist man , wenn man sich fürchtet .
Es gibt kein so schlechtes Benehmen wie das , welches aus dem Mißtrauen und aus der Unkenntnis stammt .
So wurde ich Zögling .
Mein Schulkamerad Schacht ist ein seltsames Wesen .
Er träumt davon , Musiker zu werden .
Er sagt mir , er spiele vermittels seiner Einbildungskraft wundervoll Geige , und wenn ich seine Hand anschaue , glaube ich ihm das .
Er lacht gern , aber dann versinkt er plötzlich in schmachtende Melancholie , die ihm unglaublich gut zu Gesicht und Körperhaltung steht .
Schacht hat ein ganz weißes Gesicht und lange schmale Hände , die ein Seelenleiden ohne Namen ausdrücken .
Schmächtig , wie er von Körperbau ist , zappelt er leicht , es ist ihm schwer , unbeweglich zu stehen oder zu sitzen .
Er gleicht einem kränklichen , eigensinnigen Mädchen , er schmollt auch gern , was ihn einem jungen , etwas verzogenen weiblichen Wesen noch ähnlicher macht .
Wir , ich und er , liegen oft zusammen in meiner Schlafkammer , auf dem Bett , in den Kleidern , ohne die Schuhe auszuziehen , und rauchen Zigaretten , was gegen die Vorschriften ist .
Schacht tut gern das Vorschriften-Kränkende , und ich , offen gesagt , leider nicht minder .
Wir erzählen uns ganze Geschichten , wenn wir so liegen , Geschichten aus dem Leben , d. h. Erlebtes , aber noch viel mehr erfundene Geschichten , deren Tatsachen aus der Luft gegriffen sind .
Dann scheint es um uns her , Wände hinauf und hinunter , leise zu tönen .
Die enge , dunkle Kammer erweitert sich , es erscheinen Straßen , Säle , Städte , Schlösser , unbekannte Menschen und Landschaften , es donnert und lispelt , redet und weint usw .
Es ist hübsch , sich mit dem träumerisch angehauchten Schacht zu unterhalten .
Er scheint alles zu verstehen , was man ihm sagt , und er selber sagt von Zeit zu Zeit etwas Bedeutsames .
Und dann klagt er öfters , und das liebe ich an der Unterhaltung .
Ich höre gern klagen .
Man kann dann den Sprecher so ansehen und tiefes , inniges Mitleid mit ihm haben , und Schacht hat etwas Mitleiderweckendes an sich , auch ohne , daß er Betrübliches spricht .
Wenn feinsinnige Unzufriedenheit , d. h. die Sehnsucht nach etwas Schönem und Hohem , in irgend einem Menschen wohnt , dann hat sie es sich in Schacht bequem gemacht .
Schacht hat Seele .
Wer weiß , vielleicht ist er eine Künstlernatur .
Er hat mir anvertraut , daß er krank ist , und da es sich um ein nicht ganz anständiges Leiden handelt , hat er mich dringend gebeten , Schweigen zu beobachten , was ich ihm natürlich auf Ehrenwort versprochen habe , um ihn zu beruhigen .
Ich habe ihn dann gebeten , mir den Gegenstand der Erkrankung zu zeigen , doch da wurde er ein wenig böse und kehrte sich gegen die Wand .
" Du bist schamlos , " sagte er mir .
Oft liegen wir beide so , ohne ein Wort zu reden .
Einmal wagte ich , seine Hand leise zu mir zu nehmen , doch er entzog sie mir wieder und sagte : " Was machst du für Dummheiten ?
Laß das . "
- Schacht bevorzugt den Umgang mit mir , das merke ich nicht gerade deutlich , aber in solchen Dingen ist Deutlichkeit gar nicht nötig .
Ich habe ihn eigentlich riesig gern und sehe ihn als eine Bereicherung meines Daseins an .
Natürlich sage ich ihm so etwas nie .
Wir reden Dummheiten miteinander , oft auch Ernstes , aber unter Vermeidung großer Worte .
Schöne Worte sind viel zu langweilig .
Ah , an den Zusammenkünften mit Schacht in der Kammer merke ich es : wir Zöglinge des Instituts Benjamenta sind zu einem oft halbtagelangen seltsamen Müßiggang verurteilt .
Wir kauern , sitzen , stehen oder liegen immer irgendwo .
Ich und Schacht zünden in der Kammer zu unserem Vergnügen oft Kerzen an , das ist streng verboten .
Aber gerade deshalb macht es uns Spaß , es zu tun .
Vorschriften hin , Vorschriften her :
Kerzen brennen so schön , so geheimnisvoll .
Und wie sieht doch das Gesicht meines Kameraden aus , wenn die rötliche kleine Flamme es zart beleuchtet .
Wenn ich Kerzen brennen sehe , komme ich mir vermögend vor :
Im nächsten Augenblick kommt immer der Diener und reicht mir den Pelz .
Das ist Unsinn , aber dieser Unsinn hat einen hübschen Mund und lächelt .
Schacht hat eigentlich grobe Gesichtszüge , aber die Blässe , die über das Gesicht gezogen ist , verfeinert sie .
Die Nase ist zu groß , auch die Ohren .
Der Mund ist zugekniffen .
Manchmal , wenn ich Schacht so ansehe , ist mir , als müsse es diesem Menschen einmal bitter schlecht gehen .
Wie liebe ich solche Menschen , die diesen wehmütigen Eindruck hervorrufen .
Ist das Bruderliebe ?
Ja , kann sein .
Am ersten Tag habe ich mich ungeheuer zimperlich und muttersöhnchenhaft benommen .
Wurde mir da das Zimmer gezeigt , in dem ich mit den anderen , d. h. mit Kraus , Schacht und Schilinski , gemeinsam schlafen sollte .
Als vierter im Bund gleichsam .
Alles war zugegen , die Kameraden , der Herr Vorsteher , der mich grimmig anschaute , das Fräulein .
Nun , und da fiel ich dem Mädchen einfach zu Füßen und rief aus :
" Nein , in dem Zimmer zu schlafen ist mir unmöglich .
Ich kann da nicht atmen .
Lieber will ich auf der Straße übernachten . "
- Ich hielt , während ich so sprach , die Beine der jungen Dame fest umschlungen .
Sie schien ärgerlich zu sein und befahl mir aufzustehen .
Ich sagte : " Ich stehe nicht vorher auf , bis Sie mir versprochen haben , daß Sie mir einen menschenwürdigen Raum zum Schlafen anweisen wollen .
Ich bitte Sie , Fräulein , ich flehe Sie an , tun Sie mich an einen anderen Ort , meinetwegen in ein Loch , nur nicht hier hinein .
Hier kann ich nicht sein .
Ich will meine Mitschüler gewiß nicht beleidigen , und habe ich es schon getan , so tut es mir leid , aber bei drei Menschen schlafen , als vierter , und dazu noch in solch einem engen Raum ?
Das geht nicht .
Ach , Fräulein . "
- Schon lächelte sie , ich merkte es , ich fügte daher rasch , mich noch fester an sie schmiegend , hinzu :
" Ich will brav sein , ich verspreche es Ihnen .
Ich will allen Ihren Befehlen zuvorkommen .
Sie sollen sich nie , nie über mein Benehmen zu beklagen haben . " - Fräulein Benjamenta fragte :
" Ist das sicher ?
Werde ich mich nie zu beklagen haben ? "
- " Nein , gewiß nicht , gnädiges Fräulein , " erwiderte ich .
Sie wechselte einen bedeutenden Blick mit dem Bruder , dem Herrn Vorsteher , und sagte zu mir : " Stehe ' vor allen Dingen erst vom Boden auf .
Pfui .
Welch ein Flehen und Flattieren .
Und dann komme .
Meinetwegen kannst du auch anderswo schlafen . "
Sie führte mich zu der Kammer , die ich jetzt bewohne , zeigte sie mir und fragte :
" Gefällt dir die Kammer ? "
- Ich war so keck , zu sagen : " Sie ist eng .
Zu Hause gab_es Vorhänge an den Fenstern .
Und Sonne schien dort in die Gemächer .
Hier ist nur eine schmale Bettstelle und ein Waschgestell .
Zu Hause gab es vollständig möblierte Zimmer .
Aber werden Sie nicht böse , Fräulein Benjamenta .
Es gefällt mir , und ich danke Ihnen .
Zu Hause war es viel feiner , freundlicher und eleganter , aber hier ist es auch ganz nett .
Entschuldigen Sie , daß ich Ihnen mit Vergleichen von zu Hause und mit weiß der Kuckuck was noch alles komme .
Ich finde die Kammer aber sehr , sehr reizend .
Zwar , das Fenster da oben in der Mauer ist kaum ein Fenster zu nennen .
Und das Ganze hat entschieden etwas Ratten- oder Hundelochartiges .
Aber es gefällt mir .
Und ich bin unverschämt und undankbar , so zu sprechen , nicht wahr ?
Vielleicht wäre es das Beste , mir die Kammer , die ich wirklich hoch schätze , wieder zu nehmen und mir den strikten Befehl zu erteilen , bei den anderen zu schlafen .
Meine Kameraden fühlen sich sicher beleidigt .
Und Sie , Fräulein , sind böse .
Ich sehe es .
Ich bin sehr traurig darüber . "
- Sie sagte mir :
" Du bist ein dummer Junge , und du schweigst jetzt . "
Und doch lächelte sie .
Wie dumm das alles war , damals am ersten Tag .
Ich schämte mich , und ich schäme mich noch heute , daran denken zu müssen , wie unziemlich ich mich benommen habe .
Ich schlief in der ersten Nacht sehr unruhig .
Ich träumte von der Lehrerin .
Und was die eigene Kammer betrifft , so wäre ich es heute ganz zufrieden , wenn ich sie mit ein oder zwei anderen Personen teilen müßte .
Man ist immer halb irrsinnig , wenn man menschenscheu ist .
Herr Benjamenta ist ein Riese , und wir Zöglinge sind Zwerge gegen diesen Riesen , der stets etwas mürrisch ist .
Als Lenker und Gebieter einer Schar von so winzigen , unbedeutenden Geschöpfen , wie wir Knaben sind , ist er eigentlich auf ganz natürliche Weise zur Verdrießlichkeit verpflichtet , denn das ist doch nie und nimmer eine seinen Kräften entsprechende Aufgabe : über uns herrschen .
Nein , Herr Benjamenta könnte ganz anderes leisten .
Solch ein Herkules kann ja einer so kleinlichen Übung gegenüber , wie die ist , uns zu erziehen , gar nicht anders als einschlafen , d. h. brummend und grübelnd seine Zeitungen lesen .
An was hat eigentlich der Mann gedacht , als er sich entschloß , das Institut zu gründen ?
Er tut mir in einem gewissen Sinne weh , und dieses Gefühl erhöht noch den Respekt , den ich vor ihm habe .
Es gab übrigens zwischen ihm und mir im Anfang meines Hierseins , ich glaube , am Morgen des zweiten Tages , eine kleine , aber sehr heftige Szene .
Ich trat zu ihm ins Kontor , aber ich kam nicht dazu , meinen Mund zu öffnen .
" Gehe ' wieder hinaus .
Versuche , ob es dir möglich ist , wie ein anständiger Mensch ins Zimmer einzutreten , " sagte er streng .
Ich ging hinaus , und dann klopfte ich an , was ich ganz vergessen hatte .
" Herein , " rief es , und da trat ich ein und blieb stehen .
" Wo ist die Verbeugung ?
Und wie sagt man , wenn man zu mir eintritt ? "
- Ich verbeugte mich und sagte in kümmerlicher Tonart :
" Guten Tag , Herr Vorsteher . "
- Heute bin ich schon so gut dressiert , daß ich dieses " Guten Tag , Herr Vorsteher " nur so hinausschmettere .
Damals haßte ich diese Art , sich untertänig und höflich zu benehmen , ich wußte es eben nicht besser .
Was mir damals lächerlich und stumpfsinnig vorkam , erscheint mir heute schicklich und schön .
" Lauter reden , Bösewicht , " rief Herr Benjamenta .
Ich mußte den Gruß " Guten Tag , Herr Vorsteher " fünfmal wiederholen .
Erst dann fragte er mich , was ich wolle .
Ich war wütend geworden und sagte : " Man lernt hier gar nichts , und ich will nicht hier bleiben .
Bitte geben Sie mir das Geld zurück , und dann will ich mich zum Teufel scheren .
Wo sind hier die Lehrer ?
Ist überhaupt irgend ein Plan , ein Gedanke da ?
Nichts ist da .
Und ich will fort .
Niemand , wer es auch sei , wird mich hindern , diesen Ort der Finsternis und der Umnebelung zu verlassen .
Dazu , um mich hier von Ihren mehr als albernen Vorschriften plagen und verdummen zu lassen , komme ich denn doch aus viel zu gutem Hause .
Zwar , ich will durchaus nicht zu Vater und Mutter zurücklaufen , niemals , aber ich will auf die Straße gehen und mich als Sklave verkaufen .
Es schadet durchaus nichts . "
- Nun hatte ich geredet .
Heute muß ich mich beinahe krümmen vor Lachen , wenn ich mir dieses dumme Betragen wieder ins Gedächtnis zurückrufe .
Mir war es damals aber durchaus heilig ernst zumute .
Doch der Herr Vorsteher schwieg .
Ich war im Begriff , ihm irgend eine grobe Beleidigung ins Gesicht zu sagen .
Da sprach er ruhig :
" Einmal einbezahlte Geldbeträge werden nicht mehr zurückerstattet .
Was deine törichte Meinung betrifft , du könntest hier nichts lernen , so irrst du dich , denn du kannst lernen .
Lerne vor allen Dingen erst deine Umgebung kennen .
Deine Kameraden sind es wert , daß man wenigstens den Versuch macht , sich mit ihnen bekannt zu machen .
Sprich mit ihnen .
Ich rate dir , sei ruhig .
Hübsch ruhig . " - Dieses " hübsch ruhig " sprach er wie in tiefen , mich gar nicht betreffenden Gedanken versunken .
Er hielt die Augen niedergeschlagen , wie um mir zu verstehen zu geben , wie gut , wie sanft er es meine .
Er gab mir deutliche Beweise seiner Gedankenabwesenheit und schwieg wieder .
Was konnte ich machen ?
Schon befaßte sich Herr Benjamenta wieder mit Zeitunglesen .
Es war mir , als ob ein furchtbares unverständliches Gewitter mir von ferne drohe .
Ich verbeugte mich tief , fast bis herab zur Erde , vor demjenigen , der mir gar keine Beachtung mehr schenkte , sagte , wie die Vorschriften es geboten , " Adieu , Herr Vorsteher " , klappte die Schuhabsätze zusammen , stand stramm da , machte kehrt , d. h. nein , suchte mit den Händen den Türriegel , schaute immer auf das Gesicht des Herrn Vorstehers und schob mich , ohne mich umzudrehen , wieder zur Türe hinaus .
So endete ein Versuch , Revolution zu machen .
Seither sind keine störrischen Auftritte mehr vorgekommen .
Mein Gott , und geschlagen bin ich schon worden .
Er hat mich geschlagen , er , dem ich ein wahrhaft großes Herz zumute , und nicht gemuckst habe ich , nicht gezwinkert habe ich , und es hat mich nicht einmal beleidigt .
Nur weh hat es mir getan , und nicht um mich selber , sondern um ihn , den Herrn Vorsteher .
Ich denke eigentlich immer an ihn , an beide , an ihn und Fräulein , wie sie so dahinleben mit uns Knaben .
Was tun sie da drinnen in der Wohnung immer ?
Womit sind sie beschäftigt ?
Sind sie arm ?
Sind Benjamentas arm ?
Es gibt hier " innere Gemächer " .
Ich bin bis heute noch nie dort gewesen .
Kraus wohl , den man bevorzugt , weil er so treu ist .
Aber Kraus will keine Auskunft über die Beschaffenheit der Vorsteherswohnung geben .
Er glotzt mich nur an , wenn ich ihn über diesen Punkt ausfrage , und schweigt .
O , Kraus kann wahrhaft schweigen .
Wenn ich ein Herr wäre , ich nähme Kraus sogleich in meine Dienste .
Aber vielleicht dringe ich doch noch einmal in diese inneren Gemächer .
Und was werden dann meine Augen erblicken ?
Vielleicht gar nichts Besonderes ?
O doch , doch .
Ich weiß es , es gibt hier irgendwo wunderbare Dinge .
Eins ist wahr , die Natur fehlt hier .
Nun , das , was hier ist , ist eben einmal Großstadt .
Zu Hause gab es überall nahe und weite Aussichten .
Ich glaube , ich hörte immer die Singvögel in den Straßen auf und ab zwitschern .
Die Quellen murmelten immer .
Der waldige Berg schaute majestätisch auf die saubere Stadt nieder .
Auf dem nahegelegenen See fuhr man abends in einer Gondel .
Felsen und Wälder , Hügel und Felder waren mit ein paar Schritten zu erreichen .
Stimmen und Düfte waren immer da .
Und die Straßen der Stadt glichen Gartenwegen , so weich und reinlich sahen sie aus .
Weiße nette Häuser guckten schelmisch aus grünen Gärten hervor .
Man sah bekannte Damen , z. B. Frau Haag , innerhalb des Gartengitters im Park spazieren .
Dumm ist das eigentlich , nun , die Natur , der Berg , der See , der Fluß , der schäumende Wasserfall , das Grün und allerlei Gesänge und Klänge waren einem eben nahe .
Ging man , so spazierte man wie im Himmel , denn man sah überall blauen Himmel .
Stand man still , so konnte man sich gleich niederlegen und still in die Luft hinaufträumen , denn es war Gras- oder Moosboden .
Und die Tannen , die so wundervoll nach würziger Kraft duften .
Werde ich nie wieder eine Bergtanne sehen ?
Das wäre übrigens kein Unglück .
Etwas entbehren : das hat auch Duft und Kraft .
Unser großrätliches Haus hatte keinen Garten , aber das Ganze , was einen umgab , war ein hübscher , sauberer , süßer Garten .
Ich will nicht hoffen , daß ich mich sehne .
Unsinn .
Hier ist es auch schön .
Obschon es eigentlich an mir noch gar nichts Nennenswertes zu schaben gibt , renne ich doch von Zeit zu Zeit zum Friseur , nur so des damit verbundenen Straßenausfluges halber , und lasse mich rasieren .
Ob ich Schwede sei , fragt mich der Friseurgehilfe .
Amerikaner ?
Auch nicht .
Russe ?
Nun was denn ?
Ich liebe es , derartige nationalistisch angefärbte Fragen mit eisernem Schweigen zu beantworten und die Leute , die mich nach meinen Vaterlandsgefühlen fragen , im Unklaren zu lassen .
Oder ich lüge und sage , ich sei Däne .
Gewisse Aufrichtigkeiten verletzen und langweilen einen nur .
Manchmal blitzt die Sonne wie verrückt hier in diesen lebhaften Straßen .
Oder es ist alles verregnet , verschleiert , was ich auch sehr , sehr liebe .
Die Leute sind freundlich , obgleich ich zuweilen namenlos frech bin .
Oft sitze ich in der Mittagsstunde müßig auf einer Bank .
Die Bäume der Anlage sind ganz farblos .
Die Blätter hängen unnatürlich bleiern herunter .
Es ist , als wenn hier manchmal alles aus Blech und dünnem Eisen sei .
Dann stürzt wieder Regen und netzt das alles .
Schirme werden aufgespannt , Droschken rollen auf dem Asphalt , Menschen eilen , die Mädchen heben die Röcke .
Beine aus einem Rock hervorstechen zu sehen , hat etwas eigentümlich Anheimelndes .
So ein weibliches Bein , Strafe bestrumpft , man sieht es nie , und nun sieht man es plötzlich .
Die Schuhe kleben so schön an der Form der schönen weichen Füße .
Dann ist wieder Sonne .
Wind weht ein wenig , und da denkt man an zu Hause .
Ja , ich denke an Mama .
Sie wird weinen .
Warum schreibe ich ihr nie ?
Ich kann es nicht fassen , gar nicht begreifen , und doch kann ich mich nicht entschließen , zu schreiben .
Das ist es : ich mag nicht Auskunft geben .
Es ist mir zu dumm .
Schade , ich sollte nicht Eltern haben , die mich lieben .
Ich mag überhaupt nicht geliebt und begehrt sein .
Sie sollen sich daran gewöhnen , keinen Sohn mehr zu haben .
Jemandem , den man nicht kennt und der einen gar nichts angeht , einen Dienst erweisen , das ist reizend , das läßt in göttlich nebelhafte Paradiese blicken .
Und dann : im Grunde genommen gehen einen alle oder wenigstens fast alle Menschen etwas an .
Die da an mir vorübergehen , die gehen mich irgend etwas an , das steht fest .
Übrigens ist das schließlich Privatsache .
Ich gehe da so , die Sonne scheint , da sehe ich plötzlich ein Hündchen zu meinen Füßen winseln .
Sogleich bemerke ich , daß sich das Luxustierchen mit den kleinen Beinen im Maulkorb verwickelt hat .
Es kann nicht mehr laufen .
Da bücke ich mich , und dem großen , großen Unglück ist abgeholfen .
Nun kommt die Herrin des Hundes heranmarschiert .
Sie sieht , was los ist und dankt mir .
Flüchtig ziehe ich meinen Hut vor der Dame und gehe meiner Wege .
Ach , die da hinten denkt jetzt , daß es noch artige junge Menschen in der Welt gibt .
Gut , dann habe ich den jungen Menschen im allgemeinen einen Dienst erwiesen .
Und wie diese übrigens ganz unhübsche Frau gelächelt hat .
" Danke , mein Herr . "
Ah , zum Herrn hat sie mich gemacht .
Ja , wenn man sich zu benehmen weiß , ist man ein Herr .
Und wem man dankt , vor dem hat man Achtung .
Wer lächelt , ist hübsch .
Alle Frauen verdienen Artigkeiten .
Jede Frau hat etwas Feines .
Ich habe schon Wäscherinnen wie Königinnen sich bewegen sehen .
Das alles ist komisch , o so komisch .
Aber wie die Sonne geblitzt hat , und wie ich dann so davongelaufen bin ! -
Nämlich ins Warenhaus .
Ich lasse mich dort photographieren , Herr Benjamenta will eine Photographie von mir haben .
Und dann muß ich einen kurz abzufassenden , wahrheitsgetreuen Lebenslauf schreiben .
Dazu gehört Papier .
Nun , dann habe ich noch das Vergnügen , extra in einen Papierladen zu treten .
Kamerad Schilinski ist von polnischer Herkunft .
Er spricht ein hübsches , gebrochenes Deutsch .
Alles Fremdartige klingt nobel , ich weiß nicht , warum .
Schilinskis größter Stolz besteht in einer elektrisch entzündbaren Krawattennadel , die er sich zu verschaffen gewußt hat .
Auch zündet er gern , d. h. mit der größten Vorliebe , Wachsstreichhölzchen an .
Seine Schuhe sind immer glänzend geputzt .
Merkwürdig oft sieht man ihn seinen Anzug reinigen , seine Stiefel wichsen und seine Mütze bürsten .
Er schaut sich gern in einem billigen Taschenspiegel an .
Taschenspiegel besitzen wir Schüler übrigens alle , obschon wir eigentlich gar nicht wissen , was Eitelkeit alles bedeutet .
Schilinski ist schlank von Figur und hat ein sehr hübsches Gesicht und Lockenhaar , das er nicht oft genug während des Tages kämmen und pflegen kann .
Er sagt , er will zu einem Pferdchen .
Ein Pferd zu striegeln und zu putzen und dann auszufahren , das ist sein Lieblingstraum .
Recht karg steht es mit seinen Geistesgaben .
Er besitzt absolut keinen Scharfsinn , und von Feinsinn oder dergleichen darf man bei ihm nicht reden .
Und doch ist er durchaus nicht dumm , beschränkt vielleicht , aber ich nehme dieses Wort nicht gern in den Mund , wenn ich an meine Schulkameraden denke .
Daß ich der Gescheiteste unter ihnen bin , das ist vielleicht gar nicht einmal so sehr erfreulich .
Was nützen einem Menschen Gedanken und Einfälle , wenn er , wie ich , das Gefühl hat , er wisse nichts damit anzustellen ?
Nun also .
Nein , nein , ich will hell zu sehen versuchen , aber ich mag nicht hochmüteln , mich nie und nimmer über meine Umgebung erhaben fühlen .
Schilinski wird Glück im Leben haben .
Die Frauen werden ihn bevorzugen , so sieht er aus , ganz wie der zukünftige Liebling der Frauen .
Er hat einen an etwas Edles erinnernden bräunlichen , übrigens hellen Teint an Gesicht und Händen , und die Augen sind rehhaft schüchtern .
Es sind reizende Augen .
Er könnte mit seinem ganzen Wesen ein junger Landedelmann sein .
Sein Benehmen mahnt an ein Landgut , wo städtisches und bäurisches , feines und grobes Wesen in anmutige kräftige menschliche Bildung zusammenfließen .
Er geht besonders gern müßig und schlendert gern in den belebtesten Straßen herum , wobei ich ihm manchmal Gesellschaft leiste , zum Entsetzen von Kraus , der den Müßiggang haßt , verfolgt und verachtet .
" Seid ihr beide schon wieder auf dem Vergnügen gewesen ?
He ? " , so empfängt uns Kraus , wenn wir heimkommen .
Von Kraus werde ich sehr viel reden müssen .
Er ist der Redlichste und Tüchtigste unter uns Zöglingen , und Tüchtigkeit und Ehrlichkeit sind ja so unerschöpfliche und unermeßliche Gebiete .
Nichts kann mich so tief aufregen wie der Anblick und der Geruch des Guten und Rechtschaffenen .
Etwas Gemeines und Böses ist bald ausempfunden , aber aus etwas Bravem und Edlem klug zu werden , das ist so schwer und doch zugleich so reizvoll .
Nein , die Laster interessieren mich viel , viel weniger wie die Tugenden .
Nun werde ich Kraus schildern müssen , und davor ist mir direkt bange .
Zimperlichkeiten ?
Seit wann ?
Ich will es nicht hoffen .
Ich gehe jetzt jeden Tag ins Warenhaus , fragen , ob meine Photographien noch nicht bald fertig seien .
Ich kann jedesmal mit dem Aufzug ins oberste Stockwerk hinauffahren .
Ich finde das leider nett , und das paßt zu meinen vielen übrigen Gedankenlosigkeiten .
Wenn ich Lift fahre , komme ich mir so recht wie das Kind meiner Zeit vor .
Ob das anderen Menschen auch so geht ?
Den Lebenslauf habe ich immer noch nicht geschrieben .
Es geniert mich ein wenig , über meine Vergangenheit die schlichte Wahrheit zu sagen .
Kraus schaut mich von Tag zu Tag vorwurfsvoller an .
Das paßt mir sehr .
Liebe Menschen sehe ich gern ein wenig wütend .
Nichts ist mir angenehmer , als Menschen , die ich in mein Herz geschlossen habe , ein ganz falsches Bild von mir zu geben .
Das ist vielleicht ungerecht , aber es ist kühn , also ziemt es sich .
Übrigens geht das bei mir ein wenig ins Krankhafte .
So z. B. stelle ich es mir als unsagbar schön vor , zu sterben , im furchtbaren Bewußtsein , das Liebste , was ich auf der Welt habe , gekränkt und mit schlechten Meinungen über mich erfüllt zu haben .
Das wird niemand verstehen , oder nur der , der im Trotz Schönheitsschauer empfinden kann .
Elendiglich umkommen , um einer Flegelei , einer Dummheit Willen .
Ist das erstrebenswert ?
Nein , gewiß nicht .
Aber das alles sind ja Dummheiten gröbster Sorte .
Es fällt mir hier etwas ein , und ich sehe mich , aus , ich weiß nicht welchen , Ursachen , genötigt , es zu sagen .
Ich besaß vor einer Woche oder mehr Tagen an Geld noch zehn Mark .
Nun , jetzt sind diese zehn Mark verflogen .
Eines Tages trat ich in ein Restaurant mit Damenbedienung .
Ganz unwiderstehlich zog es mich hinein .
Ein Mädchen sprang mir entgegen und nötigte mich , auf einem Ruhebett Platz zu nehmen .
Halb wußte ich Bescheid , wie das ungefähr endigen konnte .
Ich wehrte mich , aber ganz und gar ohne Nachdruck .
Es war mir alles gleichgültig , und doch wieder nicht .
Es bereitete mir ein Vergnügen ohnegleichen , dem Mädchen gegenüber den feinen , herabschauenden Herrn zu spielen .
Wir befanden uns ganz allein , und nun trieben wir die nettesten Dummheiten .
Wir tranken .
Immer lief sie ans Büfett , um neue Getränke zu holen .
Sie zeigte mir ihr reizendes Strumpfband , und ich liebkoste es mit den Lippen .
Ah , ist man dumm .
Immer stand sie wieder auf und holte Neues zum trinken .
Und so rasch .
Sie wollte eben sehr schnell bei dem dummen Jungen ein hübsches Sümmchen Geld verdienen .
Ich sah das vollkommen ein , aber gerade das gefiel mir , daß sie mich für dumm ansah .
Solch eine sonderbare Verdorbenheit : sich heimlich zu freuen , bemerken zu dürfen , daß man ein wenig bestohlen wird .
Aber wie bezaubernd kam mir alles vor .
Rings um mich starb alles in flötender , kosender Musik .
Das Mädchen war Polin , schlank und geschmeidig und so entzückend sündhaft .
Ich dachte : " Weg sind meine zehn Mark . "
Nun küßte ich sie .
Sie sagte : " Sage ' , was bist du ?
Du benimmst dich wie ein Edelmann . "
Ich konnte gar nicht genug den Duft , der von ihr ausströmte , einatmen .
Sie bemerkte das und fand das fein .
Und in der Tat : Was ist man für ein Halunke , wenn man , ohne Liebe und Schönheit zu empfinden , an Orte hingeht , wo nur das Entzücken entschuldigt , was die Liederlichkeit unternommen hat ?
Ich log ihr vor , daß ich Stallbursche sei .
Sie sagte : " O nein , dafür benimmst du dich viel zu schön .
Sage ' mir guten Tag . "
Und da tat ich ihr das , was man an solchen Orten guten Tag sagen nennt , d. h. sie setzte es mir lachend und scherzend und mich küssend auseinander , und da tat ich es .
Eine Minute später befand ich mich auf der abendlichen Straße , ausgebrannt bis auf den letzten Pfennig .
Wie kommt mir das jetzt vor ?
Ich weiß es nicht .
Aber das eine weiß ich :
ich muß wieder zu einigem wenigen Geld kommen .
Aber wie mache ich das ?
Beinahe jeden frühen Morgen setzt es zwischen mir und Kraus ein geflüstertes Redegefecht ab .
Kraus glaubt immer , mich zur Arbeit antreiben zu sollen .
Vielleicht irrt er sich auch gar nicht , wenn er annimmt , daß ich nicht gern früh aufstehe .
Ja doch , ich stehe schon ganz gern vom Bett auf , aber wiederum finde ich es geradezu köstlich , ein wenig länger liegen zu bleiben , als ich soll .
Etwas nicht tun sollen , das ist manchmal so reizend , daß man nicht anders kann , als es doch tun .
Deshalb liebe ich ja so von Grund aus jede Art Zwang , weil er einem erlaubt , sich auf Gesetzeswidrigkeiten zu freuen .
Wenn kein Gebot , kein Soll herrschte in der Welt , ich würde sterben , verhungern , verkrüppeln vor Langeweile .
Mich soll man nur antreiben , zwingen , bevormunden .
Ist mir durchaus lieb .
Zuletzt entscheide doch ich , ich allein .
Ich reize das stirnrunzelnde Gesetz immer ein wenig zum Zorn , nachher bin ich bemüht , es zu besänftigen .
Kraus ist der Vertreter aller hier im Institut Benjamenta bestehenden Vorschriften , folglich forder ich den besten aller Mitschüler beständig ein bißchen zum Kampf auf .
Ich zanke so furchtbar gern .
Ich würde krank werden , wenn ich nicht zanken könnte , und zum Zanken und Reizen eignet sich Kraus wundervoll .
Er hat immer recht : " Willst du jetzt endlich aufstehen , du faules Tuch ! "
- Und ich habe immer Unrecht :
" Ja , ja , gedulde dich .
Ich komme . "
- Wer im Unrecht ist , der ist frech genug , den , der im Recht ist , stets zur Geduld aufzufordern .
Das Rechthaben ist hitzig , das Unrechthaben trägt stets eine stolze , frivole Gelassenheit zur Schau .
Derjenige , der es leidenschaftlich gut meint ( Kraus ) , unterliegt stets dem ( also mir ) , dem das Gute und Förderliche nicht gar so ausgesprochen am Herzen liegt .
Ich triumphiere , weil ich noch im Bett liege , und Kraus zittert vor Zorn , weil er immer vergeblich an die Türe klopfen , poltern und sagen muß : " Stehe ' doch auf , Jakob .
Mache endlich .
Herrgott , was ist das für ein Faulpelz . "
- Wer zürnen kann , ach , ist mir solch ein Mensch sympathisch .
Kraus zürnt bei jeder Gelegenheit .
Das ist so schön , so humorvoll , so edel .
Und wir beide passen so gut zueinander .
Dem Empörten muß doch immer der Sünder gegenüberstehen , sonst fehlte ja etwas .
Bin ich dann endlich aufgestanden , so tue ich , als stünde ich müßig da .
" Jetzt steht er noch da und gafft , der Tropf , statt Hand anzulegen , " sagt er dann .
Wie prächtig ist so etwas .
Das Gemurmel eines Mürrischen finde ich schöner als das Murmeln eines Waldbaches , beglitzert von der allerschönsten Sonntagvormittagsonne .
Menschen , Menschen , nur Menschen !
Ja , ich empfinde es lebhaft :
ich liebe die Menschen .
Ihre Torheiten und raschen Gereiztheiten sind mir lieber und wertvoller als die feinsten Naturwunder .
- Wir Zöglinge müssen morgens früh , bevor die Herrschaften erwachen , Schulstube und Kontor aufräumen .
Je zwei Leute besorgen das abwechslungsweise .
" Stehe ' doch auf .
Wird es bald ? " -
Oder : " Jetzt hört aber bald die Genügsamkeit auf . "
Oder : " Stehe ' auf , stehe auf .
Es ist Zeit .
Solltest schon längst den Besen in der Hand haben . "
- Wie ist das amüsant .
Und Kraus , der ewig böse Kraus , wie lieb ist er mir .
Ich muß noch einmal ganz zum Anfang zurückkehren , zum ersten Tag .
In der Unterrichtspause sprangen Schacht und Schilinski , die ich damals ja noch gar nicht kannte , in die Küche und brachten , auf Teller gelegt , Frühstück in die Schulstube .
Auch mir wurde etwas zum essen vorgelegt , aber ich hatte gar keinen Appetit , ich mochte nichts anrühren .
" Du mußt essen , " sagte mir Schacht , und Kraus fügte hinzu :
" Es muß alles , was da auf dem Teller liegt , sauber aufgegessen werden .
Hast du verstanden ? "
- Ich erinnere mich noch , wie widrig mich diese Redensarten berührten .
Ich versuchte zu essen , aber voll Abscheu ließ ich das meiste liegen .
Kraus drängte sich an mich heran , klopfte mir würdevoll auf die Schulter und sagte : " Neuling , der du hier bist , wisse , daß die Vorschriften gebieten , zu essen , wenn etwas zu essen da ist .
Du bist hochmütig , doch sei nur ruhig , der Hochmut wird dir schon vergehen .
Kann man etwa die butterbestrichenen und wurstbelegten Stücke Brot auf der Straße auflesen ?
Wie ?
Sei du nur ruhig und warte hübsch , vielleicht wirst du noch Appetit bekommen .
Jedenfalls mußt du das da aufessen , was hier noch herumliegt , wohlverstanden .
Es werden im Institut Benjamenta keine Eßreste auf den Tellern geduldet .
Vorwärts , esse .
Mache rasch .
Ist das eine sorgenvolle und feinseinwollende Bedenklichkeit .
Die Feinheiten werden dir bald vergehen , glaube es mir .
Du hast keinen Appetit , willst du mir sagen ?
Ich aber rate dir , Appetit zu haben .
Du hast nur aus Hochmut keinen , das ist es .
Gib her .
Für diesmal will ich dir helfen aufessen , obschon es total gegen alle Vorschriften ist .
So .
Siehst du , wie man das essen kann ?
Und das ?
Und das ?
Das war ein Kunststück , kann ich dir sagen . "
- Wie war mir das alles peinlich .
Ich empfand eine heftige Abneigung gegen die essenden Knaben , und heute ?
Heute esse ich so gut sauber auf wie nur irgend einer der Zöglinge .
Ich freue mich sogar jedesmal auf das hübsch zubereitete , bescheidene Essen , und nie im Leben würde es mir einfallen , es zu verschmähen .
Ja , ich war eitel und hochmütig im Anfang , gekränkt von ich weiß nicht was , erniedrigt auf ich weiß gar nicht mehr welche Weise .
Es war mir eben alles , alles noch neu und infolgedessen feindlich , und im übrigen war ich ein ganz hervorragender Dummkopf .
Ich bin auch heute noch dumm , aber auf feinere , freundlichere Art und Weise .
Und auf die Art und Weise kommt alles an .
Es kann einer noch so töricht und unwissend sein :
wenn er sich ein wenig zu schicken , zu schmiegen und zu bewegen weiß , ist er noch nicht verloren , sondern findet seinen Weg durch das Leben vielleicht besser als der Kluge und Mit-Wissen-Vollgepackte .
Die Art und Weise : ja , ja . -
Kraus hat es schon sehr schwer im Leben gehabt , bevor er hierher gekommen ist .
Er und sein Vater , der Schiffer ist , sind die Elbe hinauf und hinunter gefahren , auf schweren Kohlenkähnen .
Er hat schwer , schwer arbeiten müssen , bis er dann krank geworden ist .
Jetzt will er der Diener , der richtige Diener eines Herrn werden , und dazu ist er mit all seinen gutherzigen Eigenschaften auch wie geboren .
Er wird ein ganz wundervoller Diener sein , denn nicht nur sein Äußeres paßt zu diesem Beruf der Demut und des Entgegenkommens , nein , auch die Seele , die ganze Natur , das ganze menschliche Wesen meines Kameraden hat etwas im allerbesten Sinn Dienerhaftes .
Dienen !
Wenn nur Kraus einen anständigen Herrn bekommt , das wünsche ich ihm .
Gibt es doch Herren oder Herrschaften , kurz , Vorgesetzte , die es gar nicht lieben und wünschen , vollkommen bedient zu werden , die es gar nicht verstehen , wirkliche Dienstleistungen in Empfang zu nehmen .
Kraus hat Stil und gehört unbedingt zu einem Grafen , d. h. ganz , ganz vornehmen Herrn .
Man muß einen Kraus nicht arbeiten lassen wie einen gewöhnlichen Knecht oder Arbeiter .
Er kann vertreten .
Sein Gesicht ist dazu geschaffen , irgend einen Ton , eine Manier anzugeben , und auf seine Haltung und auf sein Betragen kann derjenige stolz sein , der ihn mieten wird .
Mieten ?
Ja , so sagt man .
Und Kraus wird eines Tages an jemanden vermietet , oder von irgend jemandem gemietet werden .
Und darauf freut er sich , und darum lernt er so eifrig Französisch in seinen etwas schwerfälligen Kopf hinein .
Etwas ist da , das ihm Kummer macht .
Er hat sich nämlich beim Friseur , wie er sagt , eine etwas garstige Auszeichnung geholt , einen Kranz von rötlichen kleinen Pflanzen , kurz gesagt Punkten , noch kürzer , und ganz unbarmherzig gesagt , Pickeln .
Nun ja , das ist allerdings übel , besonders , da er zu einem feinen und wirklich anständigen Herrn gehen will .
Was ist zu machen ?
Armer Kraus !
Mich z. B. würden die Punkte , die ihn verunzieren , nicht im mindesten hindern , ihn zu küssen , wenn es darauf ankäme .
Im Ernst : wirklich nicht , denn ich sehe so etwas gar nicht mehr , ich sehe es gar nicht , daß er unschön aussieht .
Ich sehe seine schöne Seele auf seinem Gesicht , und die Seele , das ist das Liebkosenswerte .
Aber der zukünftige Herr und Gebieter wird da allerdings ganz anders denken , und darum legt auch Kraus Salben auf die unfeinen Wunden , die ihn verunstalten .
Er gebraucht auch öfters den Spiegel , um die Fortschritte der Heilung zu beobachten , nicht aus leerer Eitelkeit .
Er würde , wenn er nicht diesen Makel trüge , nie in den Spiegel schauen , denn die Erde kann nichts Uneitleres , Unaufgeblaseneres hervorbringen als ihn .
Herr Benjamenta , der sich für Kraus lebhaft interessiert , läßt oft nach dem Übel und seinem zu erhoffenden Verschwinden fragen .
Kraus soll ja bald einmal ins Leben hinaus- und in Stellung treten .
Ich fürchte mich vor dem Augenblick seines Austrittes aus der Schule .
Aber es wird nicht so rasch gehen .
An seinem Gesicht kann er , glaube ich , noch ziemlich lange Doktoren , was ich ja eigentlich durchaus nicht wünsche , und doch wünsche .
Es würde mir so viel fehlen , wenn er abginge .
Er kann noch früh genug zu einem Herrn kommen , der seine Qualitäten nicht zu schätzen wissen wird , und ich werde früh genug einen Menschen , den ich liebe , ohne daß er es weiß , entbehren müssen .
An all diesen Zeilen schreibe ich meist abends , bei der Lampe , an dem großen Schultisch , an welchem wir Zöglinge so oft stumpfsinnig oder nicht stumpfsinnig sitzen müssen .
Kraus ist manchmal sehr neugierig und guckt mir über die Achsel .
Einmal habe ich ihn zurechtgewiesen :
" Aber Kraus , bitte sage mir , seit wann bekümmerst du dich um Sachen , die dich nichts angehen ? " -
Er war sehr ärgerlich , wie alle sind , die sich auf den heimlichen Pfaden der schleichenden Neugierde ertappen lassen .
Manchmal sitze ich ganz allein bis in die spätere Nacht müßig auf einer Bank im öffentlichen Park .
Die Laternen sind angezündet , das grelle elektrische Licht stürzt zwischen den Blättern der Bäume flüssig und brennend nieder .
Alles ist heiß und verspricht fremdartige Heimlichkeiten .
Leute spazieren hin und her .
Es flüstert zu den versteckten Parkwegen heraus .
Dann gehe ich heim und finde die Türe verschlossen .
" Schacht , " rufe ich leise , und der Kamerad wirft mir verabredetermaßen den Schlüssel auf den Hof hinunter .
Ich schleiche auf Fußspitzen , da das lange Ausbleiben verboten ist , in die Kammer und lege mich ins Bett .
Und dann träume ich .
Ich träume oft furchtbare Dinge .
So träumte mir eines Nachts , ich hätte Mama , die Liebe und Ferne , ins Gesicht geschlagen .
Wie schrie ich da auf und wie jäh erwachte ich .
Der Schmerz über die Scheußlichkeit meines eingebildeten Benehmens jagte mich zum Bett heraus .
Bei den Ehrfurcht einflößenden Haaren hatte ich die Heilige gerissen und sie zu Boden geworfen .
O , nicht an so etwas denken .
Die Tränen schossen wie schneidende Strahlen zu den mütterlichen Augen heraus .
Ich erinnere mich noch deutlich , wie der Jammer ihr den Mund zerschnitt und zerriß , und wie sie sich im Weh badete , und wie dann der Nacken nach hinten zurücksank .
Aber wozu mir diese Bilder von neuem vormalen ?
Morgen werde ich endlich den Lebenslauf schreiben müssen , oder ich laufe Gefahr , einen bösen Vorwurf zu ernten .
Abends , gegen neun Uhr , singen wir Knaben immer ein kurzes Gutenachtlied .
Wir stehen im Halbkreis nahe bei der Türe , die in die inneren Gemächer führt , und dann geht die Türe auf , Fräulein Benjamenta erscheint auf der Schwelle , ganz in weiße , wohlig herabfallende Gewänder gekleidet , sagt uns " gute Nacht , Knaben " , befiehlt uns , uns schlafen zu legen , und ermahnt uns , ruhig zu sein .
Dann löscht Kraus jedesmal die Schulzimmerlampe , und von diesem Augenblick an darf kein leisestes Geräusch mehr gemacht werden .
Auf den Zehn muß jeder gehen und sein Bett suchen .
Ganz merkwürdig ist das alles .
Und wo schlafen Benjamentas ?
Wie ein Engel sieht das Fräulein aus , wenn sie uns gute Nacht sagt .
Wie verehre ich sie .
Abends läßt sich der Herr Vorsteher überhaupt nie blicken .
Ob das nun merkwürdig ist oder nicht , jedenfalls ist es auffallend .
Es scheint , daß das Institut Benjamenta früher mehr Ruf und Zuspruch genossen hat .
An einer der vier Wände unseres Schulzimmers hängt eine große Photographie , auf der man die Abbildungen einer ganzen Anzahl Knaben eines früheren Schuljahrganges sehen kann .
Unser Schulzimmer ist im übrigen sehr trocken ausstaffiert .
Außer dem länglichen Tisch , einigen zehn bis zwölf Stühlen , einem großen Wandschrank , einem kleineren Nebentisch , einem kleineren zweiten Schrank , einem alten Reisekoffer und ein paar anderen geringfügigen Gegenständen enthält es kein Möbel .
Über der Türe , die in die geheimnisvolle unbekannte Welt der inneren Gemächer führt , hängt als Wandschmuck ein ziemlich langweilig aussehender Schutzmannssäbel mit dito quer darüber gelegtem Futteral .
Darüber thront der Helm .
Diese Dekoration mutet wie eine Zeichnung oder wie ein zierlicher Beweis der Vorschriften an , die hier gelten .
Was mich betrifft , ich möchte diese wahrscheinlich bei einem alten Trödler erhandelten Schmuckstücke nicht geschenkt erhalten .
Alle vierzehn Tage werden Säbel und Helm heruntergenommen , um geputzt zu werden , was eine sehr nette , obwohl sicher ganz stupide Arbeit genannt werden muß .
Außer diesen Verzierungen hängen im Schulzimmer noch die Bilder des verstorbenen Kaiserpaares .
Der alte Kaiser sieht unglaublich friedlich aus , und die Kaiserin hat etwas Schlicht-Mütterliches .
Oft putzen und waschen wir Zöglinge das Schulzimmer mit Seife und Warmwasser aus , daß nachher alles von Sauberkeit duftet und glänzt .
Alles müssen wir selber machen , und jeder von uns hat zu dieser Zimmermädchenarbeit eine Schürze umgebunden , in welchem an die Weiblichkeit gemahnenden Kleidungsstück wir alle ohne Ausnahme komisch aussehen .
Aber es geht lustig zu an solchen Aufräumetagen .
Der Fußboden wird fröhlich poliert , die Gegenstände , auch die der Küche , werden blank gerieben , wozu es Lappen und Putzpuder in Menge gibt , Tisch und Stühle werden mit Wasser überschüttet , Türklinken werden glänzend gemacht , Fensterscheiben angehaucht und abgeputzt , jeder hat seine kleine Aufgabe , jeder erledigt etwas .
Wir erinnern an solchen Putz- , Reib- und Waschtagen an die märchenhaften Heinzelmännchen , die , wie es bekannt ist , alles Grobe und Mühselige aus reiner übernatürlicher Herzensgüte getan haben .
Was wir Zöglinge tun , tun wir , weil wir müssen , aber warum wir müssen , das weiß keiner von uns recht .
Wir gehorchen , ohne zu überlegen , was aus all dem gedankenlosen Gehorsam noch eines Tages wird , und wir schaffen , ohne zu denken , ob es recht und billig ist , daß wir Arbeiten verrichten müssen .
An solch einem Putztag hat sich mir einmal Tremala , einer der Kameraden , der älteste unter uns allen , mit einem häßlichen Unfug genähert .
Er stellte sich leise hinter mich und griff mir mit der abscheulichen Hand ( Hände , die das tun , sind roh und abscheulich ) nach dem intimen Glied , in der Absicht , mir eine widerliche , an den Kitzel eines Tieres grenzende Wohltat zu erweisen .
Ich drehe mich jäh um und schlage den Verruchten zu Boden .
Ich bin sonst gar nicht so stark .
Tremala ist viel stärker .
Aber der Zorn verlieh mir unwiderstehliche Kräfte .
Tremala hebt sich empor und wirft sich auf mich , da geht die Türe auf , und Herr Benjamenta steht auf der Schwelle derselben .
" Jakob , Schlingel ! " ruft er , " Komme einmal her ! "
Ich trete zu meinem Vorsteher hin , und er fragt gar nicht , wer den Streit angefangen habe , sondern gibt mir einen Schlag an den Kopf und geht weg .
Ich will ihm nachlaufen , um es ihm entgegenzubrüllen , wie ungerecht er ist , doch ich beherrsche mich , besinne mich , werfe einen Blick über die gesamte Knabenschar und gehe wieder an meine Arbeit .
Mit Tremala rede ich seither kein Wort mehr , und auch er weicht mir stets aus , und er weiß warum .
Aber ob es ihm leid tut oder dergleichen , das ist mir vollkommen gleichgültig .
Die unzarte Angelegenheit ist schon längst , wie soll man sagen , vergessen .
Tremala ist früher schon auf den Meerschiffen gewesen .
Er ist ein verdorbener Mensch , und es scheint , er freut sich seiner schändlichen Anlagen .
Übrigens ist er rasend ungebildet , daher interessiert er mich nicht .
Verschmitzt und zugleich unglaublich dumm : wie uninteressant .
Aber das Eine hat mir dieser Tremala zu erfahren gegeben :
man muß auf alle möglichen Angriffe und Kränkungen stets ein wenig gefaßt sein .
Oft gehe ich aus , auf die Straße , und da meine ich , in einem ganz wild anmutenden Märchen zu leben .
Welch ein Geschiebe und Gedränge , welch ein Rasseln und Prasseln .
Welch ein Geschrei , Gestampf , Gesurre und Gesumme .
Und alles so eng zusammengepfercht .
Dicht neben den Rädern der Wagen gehen die Menschen , die Kinder , Mädchen , Männer und eleganten Frauen ; Greise und Krüppel , und solche , die den Kopf verbunden haben , sieht man in der Menge .
Und immer neue Züge von Menschen und Fuhrwerken .
Die Wagen der elektrischen Trambahn sehen wie figurenvollgepfropfte Schachteln aus .
Die Omnibusse humpeln wie große , ungeschlachte Käfer vorüber .
Dann sind Wagen da , die wie fahrende Aussichtstürme aussehen .
Menschen sitzen auf den hocherhobenen Sitzplätzen und fahren allem , was unten geht , springt und läuft über den Kopf weg .
In die vorhandenen Mengen schieben sich neue , und es geht , kommt , erscheint und verläuft sich in einem fort .
Pferde trampeln .
Wundervolle Hüte mit Zierfedern nicken aus offenen , schnell vorbeifahrenden Herrschaftsdroschken .
Ganz Europa sendet hierher seine Menschenexemplare .
Vornehmes geht dicht neben Niedrigem und Schlechtem , die Leute gehen , man weiß nicht wohin , und da kommen sie wieder , und es sind ganz andere Menschen , und man weiß nicht , woher sie kommen .
Man meint , es ein wenig erraten zu können und freut sich über die Mühe , die man sich gibt , es zu enträtseln .
Und die Sonne blitzt noch auf dem allem .
Dem einen beglänzt sie die Nase , dem anderen die Fußspitze .
Spitzen treten an Röcken zum glitzernden und sinnverwirrenden Vorschein .
Hündchen fahren in Wagen , auf dem Schoß alter , vornehmer Frauen , spazieren .
Brüste prallen einem entgegen , in Kleidern und Fassonen eingepreßte , weibliche Brüste .
Und dann sind wieder die dummen vielen Zigarren in den vielen Schlitzen von männlichen Mundteilen .
Und ungeahnte Straßen denkt man sich , unsichtbare neue und ebenso sehr menschenwimmelnde Gegenden .
Abends zwischen sechs und acht wimmelt es am graziösesten und dichtesten .
Zu dieser Zeit promeniert die beste Gesellschaft .
Was ist man eigentlich in dieser Flut , in diesem bunten , nicht endenwollenden Strom von Menschen ?
Manchmal sind alle diese beweglichen Gesichter rötlich angezärtelt und gemalt von untergehenden Abendsonnengluten .
Und wenn es grau ist und regnet ?
Dann gehen alle diese Figuren , und ich selber mit , wie Traumfiguren rasch unter dem trüben Flor dahin , etwas suchend , und wie es scheint , fast nie etwas Schönes und Rechtes findend .
Es sucht hier alles , alles sehnt sich nach Reichtümern und fabelhaften Glücksgütern .
Hastig geht man .
Nein , sie beherrschen sich alle , aber die Hast , das Sehnen , die Qual und die Unruhe glänzen schimmernd zu den begehrlichen Augen heraus .
Dann ist wieder alles ein Baden in der heißen , mittäglichen Sonne .
Alles scheint zu schlafen , auch die Wagen , die Pferde , die Räder , die Geräusche .
Und die Menschen blicken so verständnislos .
Die hohen , scheinbar umstürzenden Häuser scheinen zu träumen .
Mädchen eilen dahin , Pakete werden getragen .
Man möchte sich jemandem an den Hals werfen .
Komme ich heim , so sitzt Kraus da und spottet mich aus .
Ich sage ihm , man müsse doch ein wenig die Welt kennen lernen .
" Welt kennen lernen ? " sagt er , wie in tiefe Gedanken versunken .
Und er lächelt verächtlich .
Ungefähr vierzehn Tage nach meinem Eintritt in die Schule ist Hans in unseren Räumen erschienen .
Hans ist der rechte Bauernjunge , wie er in Grimms Märchenbuch steht .
Er kommt tief aus Mecklenburg , und er duftet nach blumigen üppigen Wiesen , nach Kuhstall und Bauernhof .
Schlank , grob und knochig ist er , und er spricht eine wunderliche , gutmütig-bäuerische Sprache , die mir eigentlich gefällt , wenn ich mir Mühe gebe , die Nasenlöcher zuzuhalten .
Nicht als ob Hans etwa übel dünste und dufte .
Und doch tut man irgend welche empfindlichen Nasen zu , meinetwegen geistige , kulturelle , seelische Nasen , und ganz unwillkürlich , womit man den guten Hans auch gar nicht kränken will .
Und er merkt so etwas ja gar nicht , dazu sieht , horcht und empfindet dieser Land-Mensch viel zu gesund und zu schlicht .
Etwas wie die Erde selber und Erdrinnen- und Krümmungen tritt einem entgegen , wenn man sich in den Anblick dieses Burschen vertieft , aber zu vertiefen braucht man sich gar nicht .
Hans fordert keinen gedankenvollen Tiefsinn heraus .
Er ist mir nicht gleichgültig , durchaus nicht , aber , wie soll ich sagen , ein wenig fern und leicht .
Man nimmt ihn ganz leicht , weil er nichts hat , das schwer zu ertragen wäre , weil es Empfindungen wachriefe .
Der Grimmsche Märchenbauernjunge .
Etwas Uralt-Deutsches und Angenehmes , verständlich und wesentlich auf den ersten , flüchtigen Blick .
Sehr wert , dem Ding ein guter Kamerad zu sein .
Hans wird im späteren Leben schwer arbeiten , ohne zu seufzen .
Er wird Mühen und Sorgen und Mißgeschicke kaum recht wahrnehmen .
Er strotzt ja von Kraft und Gesundheit .
Und dazu ist er nicht unhübsch .
Überhaupt : ich muß bald lachen über mich selber :
ich finde an allem und in allem irgend etwas Geringfügig-Hübsches .
Ich mag sie alle so gern leiden , meine Zöglinge da , die Schulkameraden .
Bin ich der geborene Großstädter ?
Sehr leicht möglich .
Ich lasse mich fast nie betäuben oder überraschen .
Etwas unsagbar Kühles ist trotz der Aufregungen , die mich überfallen können , an mir .
Ich habe die Provinz in sechs Tagen abgestreift .
Übrigens bin ich in einer allerdings ganz , ganz kleinen Weltstadt aufgewachsen .
Ich habe Stadtwesen und -empfinden mit der mütterlichen Milch eingesogen .
Ich sah als Kind johlende , betrunkene Arbeiter hin und her taumeln .
Die Natur ist mir schon als ganz klein als etwas Himmlisch-Entferntes vorgekommen .
So kann ich die Natur entbehren .
Muß man denn nicht auch Gott entbehren ?
Das Gute , Reine und Hohe irgend , irgendwo versteckt in Nebeln zu wissen und es leise , ganz , ganz still zu verehren und anzubeten , mit gleichsam total kühler und schattenhafter Inbrunst : daran bin ich gewöhnt .
Ich sah als Kind eines Tages einen im Blut schwimmenden , von zahlreichen Messerstichen durchbohrten welschen Fabrikarbeiter an einer Mauer tot daliegen .
Und ein anderes Mal , es war zu Ravachols Zeiten , hieß es unter der Jugend , es werden auch bei uns bald Bomben geschleudert werden usw .
Alte Zeiten .
Ich wollte von etwas ganz anderem sprechen , nämlich von Kamerad Peter , dem langen Peter .
Dieser hochaufgeschossene Knabe ist zu drollig , er stammt aus Teplitz in Böhmen und kann slawisch und deutsch sprechen .
Sein Vater ist Schutzmann , und Peter ist in einem Seilergeschäft kaufmännisch erzogen worden , er scheint aber den Unwissenden , Unbrauchbaren und Ungeratenen gespielt zu haben , was ich , ganz für mich , sehr niedlich finde .
Er sagt , er rede auch ungarisch und polnisch , wenn es von ihm verlangt werde .
Aber hier verlangt kein Mensch so etwas von ihm .
Was für ausgedehnte Sprachenkenntnisse !
Peter ist ganz entschieden der Dümmste und Unbeholfenste unter uns Eleven , und das belegt und bekränzt ihn in meinen unmaßgeblichen Augen mit Auszeichnungen , denn unglaublich lieb sind mir die Dummen .
Ich hasse das alles verstehenwollende , mit Wissen und Witz glänzende , und sich breitmachende Wesen .
Verschmitzte und gewitzigte Menschen sind mir ein unnennbarer Greuel .
Wie nett ist doch gerade in diesem Punkt Peter .
Schon , daß er so lang ist , zum Mittenentzweibrechen lang , ist schön , aber noch viel schöner ist die Gutherzigkeit , die ihm beständig einflüstert , er sei Kavalier und habe das Aussehen eines edlen und eleganten Verbummelten .
Zum Kugeln ist das .
Er redet immer von erlebten , aber sehr wahrscheinlich nicht erlebten Abenteuern .
Nun , das ist wahr , Peter besitzt den feinsten und zierlichsten Spazierstock der Welt .
Und nun zieht er stets los und geht in den belebtesten Straßen mit seinem Spazierstock spazieren .
Ich traf ihn einmal in der F ...straße .
Die F ... Straße ist der entzückende Brennpunkt des hiesigen Großstadtweltlebens .
Schon aus weiter Ferne winkte er mir mit Hand , Kopfnicken und Spazierstockschwenken .
Dann , wie ich in seiner Nähe war , schaute er mich väterlich-sorgenvoll an , als hätte er sagen wollen :
" Was , du auch hier ?
Jakob , Jakob , das ist noch nichts für dich . "
- Und dann verabschiedete er sich wie einer der Großen dieses Erdenlebens , wie ein Weltblattredakteur , der die hochkostbare Zeit nicht zu verlieren hat .
Und dann sah ich sein rundes dummes nettes Hütchen in der Menge anderer Köpfe und Hüte verschwinden .
Er tauchte , wie man so sagt , in der Maße unter .
Peter lernt absolut nichts , obgleich er es in so humorvoller Weise nötig hätte , und in das Institut Benjamenta ist er scheinbar nur deshalb eingetreten , um hier mit köstlichen Dummheiten zu glänzen .
Vielleicht wird er hier sogar noch um wesentliche Portionen dümmer , als er war , und warum sollte sich seine Dummheit denn eigentlich nicht entfalten dürfen ?
Ich z. B. bin überzeugt , daß Peter im Leben unverschämt viel Erfolg davontragen wird , und seltsam :
ich gönne es ihm .
Ja , ich gehe noch weiter .
Ich habe das Gefühl , und es ist ein sehr trostreiches , prickelndes und angenehmes , daß ich später einmal solch einen Herrn , Gebieter und Vorgesetzten bekommen werde , wie Peter einer sein wird , denn solche Dummen , wie er einer ist , sind zum Avancieren , Hochkommen , Wohlleben und Befehlen geschaffen , und solche in gewissem Sinn Gescheite , wie ich , sollen den guten Drang , den sie besitzen , im Dienst anderer blühen und entkräften lassen .
Ich , ich werde etwas sehr Niedriges und Kleines sein .
Die Empfindung , die mir das sagt , gleicht einer vollendeten , unantastbaren Tatsache .
Mein Gott , und ich habe trotzdem so viel , so viel Mut , zu leben ?
Was ist mit mir ?
Oft habe ich ein wenig Angst vor mir , aber nicht lange .
Nein , nein , ich vertraue mir .
Aber ist das nicht geradezu komisch ?
Für meinen Mitschüler Fuchs habe ich nur einen einzigen sprachlichen Ausdruck :
Fuchs ist schräg , Fuchs ist schief .
Er spricht wie ein mißlungener Purzelbaum und benimmt sich wie eine große , zu Menschenform zusammengeknetet Unwahrscheinlichkeit .
Alles an ihm ist unsympathisch , daher unbeherzigenswert .
Über Fuchs etwas zu wissen , das ist Mißbrauch , unfeiner , störender Überfluß .
Man kennt solche Schlingel nur , um sie zu verachten ; da man aber überhaupt nicht gern irgend etwas verächtlich finden will , vergißt oder übersieht man das Ding .
Ein Ding , ja , das ist er .
O Gott , muß ich heute böse reden ?
Fast möchte ich mich dafür hassen .
Fort , zu irgend etwas Schönerem . -
Herrn Benjamenta sehe ich sehr selten .
Zuweilen trete ich in das Büro ein , verbeuge mich bis zur Erde , sage " guten Tag , Herr Vorsteher " und frage den Herrscherähnlichen , ob ich ausgehen darf .
" Hast du den Lebenslauf geschrieben ?
Wie ? " werde ich gefragt .
Ich antworte : " Noch nicht .
Aber ich werde es tun . "
Herr Benjamenta tritt auf mich zu , d. h. bis zum Schalter , an welchem ich stehe , und drückt mir die riesige Faust vor die Nase .
" Du wirst pünktlich sein , Bursch , oder - - - du weißt , was es absetzt . "
- Ich verstehe ihn , ich verbeuge mich wieder und verschwinde .
Seltsam , wie viel Lust es mir bereitet , Gewaltausübende zu Zornesausbrüchen zu reizen .
Sehne ich mich denn eigentlich danach , von diesem Herrn Benjamenta gezüchtigt zu werden ?
Leben in mir frivole Instinkte ?
Alles , alles , selbst das Niederträchtigste und Unwürdigste , ist möglich .
Nun gut , bald werde ich den Lebenslauf ja schreiben .
Ich finde Herrn Benjamenta geradezu schön .
Ein herrlicher brauner Bart - was ?
Herrlicher brauner Bart ?
Ich bin ein Dummkopf .
Nein , am Herrn Vorsteher ist nichts schön , nichts herrlich , aber man ahnt hinter diesem Menschen schwere Schicksalswege und -schläge , und dieses Menschliche ist es , dieses beinahe Göttliche ist es , was ihn schön macht .
Wahre Menschen und Männer sind nie sichtbar schön .
Ein Mann , der einen wirklich schönen Bart trägt , ist ein Opernsänger oder der gutbezahlte Abteilungschef eines Warenhauses .
Scheinmänner sind in der Regel schön .
Immerhin kann es auch Ausnahmen und männliche Schönheiten , erfüllt von Tüchtigkeit , geben .
Herrn Benjamentas Gesicht und Hand ( die ich schon zu spüren bekommen habe ) haben Ähnlichkeit mit knorrigen Wurzeln , mit Wurzeln , die zu irgend einer traurigen Stunde schon irgendwelchen unbarmherzigen Beilhieben haben widerstehen müssen .
Wäre ich eine Dame von Noblesse und Geist , ich wüßte Männer , wie diesen scheinbar so armseligen Institutsvorsteher , unbedingt auszuzeichnen , aber wie ich vermute , verkehrt Herr Benjamenta gar nicht in der Gesellschaft , die die Welt bedeutet .
Er sitzt eigentlich immer zu Hause , er hält sich ohne Zweifel so auf eine Art im Verborgenen auf , er verkriecht sich " in der Einsamkeit " , und in der Tat , schauderhaft einsam muß dieser sicher edle und kluge Mann dahinleben .
Irgend welche Ereignisse müssen auf diesen Charakter einen tiefen , vielleicht sogar vernichtenden Eindruck gemacht haben , aber was weiß man ?
Ein Eleve des Institutes Benjamenta , was , was kann ein solcher wissen ?
Aber ich forsche wenigstens immer .
Um zu forschen , sonst um nichts anderen Willen trete ich öfters in das Kontor und richte so läppische Fragen , wie die : " Darf ich ausgehen , Herr Vorsteher ? " an den Mann .
Ja , dieser Mensch hat es mir angetan , er interessiert mich .
Auch die Lehrerin erweckt mein höchstes Interesse .
Ja , und deshalb , um etwas herauszukriegen aus all diesem Geheimnisvollen , reize ich ihn , damit ihm etwas wie eine unvorsichtige Bemerkung entfahre .
Was schadet es mir , wenn er mich schlägt ?
Mein Wunsch , Erfahrungen zu machen , wächst zu einer herrischen Leidenschaft heran , und der Schmerz , den mir der Unwille dieses seltsamen Mannes verursacht , ist nur klein gegen die bebende Begierde , ihn zu verleiten , sich ein wenig mir gegenüber auszusprechen .
O ich träume davon , - herrlich , herrlich , - dieses Menschen hervorbrechendes Vertrauen zu besitzen .
Nun , es wird noch lange dauern , aber ich glaube , ich glaube , ich bringe es fertig , in das Geheimnis der Benjamentas endlich noch einzudringen .
Geheimnisse lassen einen unerträglichen Zauber vorausahnen , sie duften nach etwas ganz , ganz unsäglich Schönem .
Wer weiß , wer weiß .
Ah - - - .
Ich liebe den Lärm und die fortlaufende Bewegung der Großstadt .
Was unaufhörlich fortläuft , zwingt zur Sitte .
Dem Dieb z. B. , wenn er all die regsamen Menschen sieht , muß unwillkürlich einfallen , was für ein Spitzbube er ist , nun , und der fröhlich-bewegliche Anblick kann Besserung in sein verfallenes , ruinenartiges Wesen schütten .
Der Prahlhans wird vielleicht etwas bescheidener und nachdenklicher , wenn er all die Kräfte , die sich schaffend zeigen , erblickt , und der Unschickliche sagt sich möglicherweise , wenn ihm die Schmiegsamkeit der Vielen ins Auge fällt , er sei doch ein entsetzlicher Wicht , derart auf der Breitspurigkeit und Anmaßung dumm und eitel zu thronen .
Die Großstadt erzieht , sie bildet , und zwar durch Beispiele , nicht durch trockene , den Büchern entnommene Lehrsätze .
Es ist nichts Professorales da , und das schmeichelt , denn die aufgetürmte Wissenswürde entmutigt .
Und dann ist hier noch so vieles , was fördert , hält und hilft .
Man kann es kaum sagen .
Wie schwer ist es , Feinem und Gutem lebendigen Ausdruck zu geben .
Man ist hier dem bescheidenen Leben schon dankbar , man dankt immer ein wenig , indem es einen treibt , indem man es eilig hat .
Wer Zeit zu verschwenden hat , weiß nicht , was sie bedeutet , und er ist der natürliche , blöde Undankbare .
In der Großstadt fühlt jeder Laufbursche , daß Zeit etwas wert ist , und jeder Zeitungsverkäufer will seine Zeit nicht vertrödeln .
Und dann das Traumhafte , das Malerische und Dichterische !
Menschen eilen und wirken immer an einem vorbei .
Nun , das hat etwas zu bedeuten , das regt an , das setzt den Geist in einen lebhafteren Schwung .
Während man zaudernd steht , sind schon Hunderte , ist bereits hunderterlei einem am Kopf und Blick vorübergegangen , das beweist einem so recht deutlich , welch ein Versäumer und träger Verschieber man ist .
Man hat es hier allgemein eilig , weil man jeden Augenblick der Meinung ist , es sei hübsch , etwas erkämpfen und erhaschen zu gehen .
Das Leben erhält einen reizenderen Atem .
Die Wunden und Schmerzen werden tiefer , die Freude frohlockt fröhlicher und länger als anderswo , denn wer sich hier freut , der scheint es stets sauer und rechtschaffen durch Arbeit und Mühe verdient zu haben .
Dann sind wieder die Gärten , die so still und verloren hinter den zierlichen Gittern liegen wie heimliche Winkel in englischen Parklandschaften .
Dicht daneben rauscht und poltert der geschäftliche Verkehr , als wenn es nie Landschaften oder Träumereien im Leben gegeben hätte .
Die Eisenbahnzüge donnern über die zitternden Brücken .
Abends glitzern die märchenhaft reichen und eleganten Schaufenster , und Ströme , Schlangen und Wellen von Menschen wälzen sich am ausgestellten , lockenden Industrie-Reichtum vorbei .
Ja , das alles erscheint mir gut und groß .
Man gewinnt , indem man mitten im Gestrudel und Gesprudel ist .
Man empfindet etwas Gutes an den Beinen , an den Armen und in der Brust , indem man sich Mühe gibt , sich schicklich und ohne viel Federlesens durch all den lebendigen Kram hindurchzuwinden .
Am Morgen scheint alles neu zu leben , und am Abend sinkt alles einer neuen , nie empfundenen Träumerei in die wildumschlingenden Arme .
Das ist sehr dichterisch .
Fräulein Benjamenta würde mich ganz gehörig zurechtweisen , wenn sie lesen würde , was ich hier schreibe .
Von Kraus nicht zu reden , der macht zwischen Dorf und Stadt keinen so leidenschaftlichen Unterschied .
Kraus erblickt erstens Menschen , zweitens Pflichten und drittens höchstens noch Ersparnisse , die er zurücklegen wird , wie er denkt , um sie seiner Mutter zu schicken .
Kraus schreibt immer nach Hause .
Er besitzt eine ebenso einfache wie rein menschliche Bildung .
Das Großstadtgetriebe mit all seinen vielen törichten glitzernden Versprechungen läßt ihn vollständig kalt .
Welch eine rechtschaffene , zarte , feste Menschenseele .
Endlich sind meine Photographien fertig geworden .
Ich blicke sehr , sehr energisch in die Welt hinein auf dem wirklich gut gelungenen Bild .
Kraus will mich ärgern und sagt , ich sehe wie ein Jude aus .
Endlich , endlich lacht er ein wenig .
" Kraus , " sage ich , " bitte , bedenke , auch die Juden sind Menschen . "
Wir zanken über den Wert und über den Unwert der Juden und unterhalten uns damit prachtvoll .
Ich wundere mich , welche guten Meinungen er hat .
" Die Juden haben alles Geld , " meint er .
Ich nicke dazu , ich bin einverstanden , und ich sage : " Das Geld macht die Menschen erst zu Juden .
Ein armer Jude ist kein Jude , und reiche Christen , ich pfeife , das sind noch die ärgsten Juden . "
- Er nickt .
Endlich , endlich einmal habe ich dieses Menschen Beifall gefunden .
Aber er ärgert sich schon wieder und sagt sehr ernsthaft : " Schwatz ' nicht immer .
Was soll das mit den Juden und mit den Christen .
Das gibt es gar nicht .
Es gibt liederliche und brave Menschen .
Das ist es .
Und was glaubst du , Jakob ?
Zu welcher Sorte gehörst du ? "
- Und nun unterhalten wir uns erst recht noch lange .
O , Kraus redet sehr gern mit mir , ich weiß es .
Die gute , feine Seele .
Er mag es nur nicht zugeben .
Wie liebe ich Menschen , die sich nicht gern Geständnisse machen .
Kraus hat Charakter :
Wie deutlich man das fühlt .
- Den Lebenslauf habe ich allerdings geschrieben , aber ich habe ihn wieder zerrissen .
Fräulein Benjamenta ermahnte mich gestern , aufmerksamer und folgsamer zu sein .
Ich habe die schönsten Vorstellungen von Gehorsamkeit und Aufmerksamkeit , und sonderbar :
es entwischt mir .
Ich bin tugendhaft in der Einbildung , aber wenn es darauf ankommt , Tugenden auszuüben ?
Wie dann ?
Nicht wahr , ja , dann ist es eben etwas ganz anderes , dann versagt man , dann ist man unwillig .
Übrigens bin ich unhöflich .
Ich schwärme sehr für die Ritterlichkeit und Höflichkeit , wenn es aber gilt , der Lehrerin vorauszueilen und ihr die Türe ehrfürchtig zu öffnen , wer ist dann der Flegel , der am Tisch sitzen bleibt ?
Und wer springt wie der Sturmwind , um sich artig zu erweisen ?
Ei , Kraus .
Kraus ist Ritter von Kopf bis zu Fuß .
Er gehört eigentlich ins Mittelalter , und es ist sehr schade , daß ihm kein zwölftes Jahrhundert zur Verfügung steht .
Er ist die Treue , der Diensteifer und das unauffällige , selbstlose Entgegenkommen selber .
Über Frauen hat er kein Urteil , er verehrt sie bloß .
Wer hebt das Fallengelassene vom Boden auf und reicht es eichhornhaft schnell dem Fräulein ?
Wer springt zum Haus hinaus auf Kommissionen ?
Wer trägt der Lehrerin die Markttasche nach ?
Wer scheuert die Treppe und Küche , ohne daß man es ihm hat befehlen müssen ?
Wer tut das alles und fragt nicht nach Dank ?
Wer ist so herrlich , so gewaltig in sich selbst froh ?
Wie heißt er ?
Ah , ich weiß es schon .
Manchmal möchte ich von diesem Kraus gehauen sein .
Aber Menschen wie er , wie könnten sie hauen .
Kraus will nur Rechtes und Gutes .
Das ist durchaus nicht übertrieben gesprochen .
Er hat nie schlechte Absichten .
Seine Augen sind erschreckend gut .
Dieser Mensch , was will er eigentlich in solch einer auf die Phrase , Lüge und Eitelkeit gestellten und abgerichteten Welt ?
Sieht man Kraus an , dann fühlt man unwillkürlich , wie unrettbar verloren die Bescheidenheit in der Welt ist .
Ich habe meine Uhr verkauft , um Zigarettentabak kaufen zu können .
Ich kann ohne Uhr , aber nicht ohne Tabak leben , das ist schändlich , aber es ist zwingend .
Ich muß irgendwie zu ein wenig Geld gelangen , sonst wird es mir bald an reiner Wäsche fehlen .
Saubere Hemdkragen sind mir ein Bedürfnis .
Das Glück eines Menschen hängt nicht und hängt doch von solchen Dingen ab .
Glück ?
Nein .
Aber man soll anständig sein .
Reinlichkeit allein ist ein Glück .
Ich schwatze .
Wie hasse ich all die treffenden Worte .
Heute hat Fräulein geweint .
Warum ?
Mitten in der Schulstunde stürzten ihr plötzlich die Tränen aus den Augen .
Das berührt mich seltsam .
Jedenfalls werde ich die Augen offen behalten .
Es macht mir Spaß , auf irgend etwas , was keinen Ton geben will , zu horchen .
Ich passe auf , und das verschönert das Leben , denn ohne aufpassen zu müssen , gibt es eigentlich gar kein Leben .
Es ist klar , Fräulein Benjamenta hat einen Kummer , und es muß ein heftiger Kummer sein , da sich unsere Lehrerin sonst sehr gut zu beherrschen weiß .
Ich muß Geld haben .
Übrigens habe ich den Lebenslauf jetzt geschrieben .
Er lautet folgendermaßen : Lebenslauf .
Unterzeichneter , Jakob von Gunten , Sohn rechtschaffener Eltern , den und den Tag geboren , da und da aufgewachsen , ist als Eleve in das Institut Benjamenta eingetreten , um sich die paar Kenntnisse anzueignen , die nötig sind , in irgend jemandes Dienste zu treten .
Ebenderselbe macht sich durchaus vom Leben keine Hoffnungen .
Er wünscht , streng behandelt zu werden , um zu erfahren , was es heißt , sich zusammenraffen müssen .
Jakob von Gunten verspricht nicht viel , aber er nimmt sich vor , sich brav und redlich zu verhalten .
Die von Gunten sind ein altes Geschlecht .
In früheren Zeiten waren sie Krieger , aber die Rauflust hat nachgelassen , und heute sind sie Großräte und Handelsleute , und der Jüngste des Hauses , Gegenstand dieses Berichtes , hat sich entschlossen , gänzlich von aller hochmütigen Tradition abzufallen .
Er will , daß das Leben ihn erziehe , nicht erbliche oder irgend adlige Grundsätze .
Allerdings ist er stolz , denn es ist ihm unmöglich , die angeborene Natur zu verleugnen , aber er versteht unter Stolz etwas ganz Neues , gewissermaßen der Zeit , in der er lebt , Entsprechendes .
Er hofft , daß er modern , einigermaßen geschickt zu Dienstleistungen und nicht ganz dumm und unbrauchbar ist , aber er lügt , er hofft das nicht nur , sondern er behauptet und weiß es .
Er hat einen Trotzkopf , in ihm leben eben noch ein wenig die ungebändigten Geister seiner Vorfahren , doch er bittet , ihn zu ermahnen , wenn er trotzt , und wenn das nichts nützt , zu züchtigen , denn dann glaubt er , nützt es .
Im übrigen wird man ihn zu behandeln wissen müssen .
Der Unterzeichnete glaubt , sich in jede Lage schicken zu können , es ist ihm daher gleichgültig , was man ihm zu tun befehlen wird , er ist der festen Überzeugung , daß jede sorgsam ausgeführte Arbeit für ihn eine größere Ehre sein wird als das müßig und ängstlich zu Hause Hinter- dem-Ofen-Sitzen .
Ein von Gunten sitzt nicht hinter dem Ofen .
Wenn die Ahnen des Gehorsam Unterzeichneten das ritterliche Schwert geführt haben , so handelt der Nachkomme traditionell , wenn er glühend heiß begehrt , sich irgendwie nützlich zu erweisen .
Seine Bescheidenheit kennt keine Grenzen , wenn man seinem Mut schmeichelt , und sein Eifer , zu dienen , gleicht seinem Ehrgeiz , der ihm befiehlt , hinderliche und schädliche Ehrgefühle zu verachten .
Zu Hause hat Immerderselbe seinen Geschichtslehrer , den ehrenwerten Herrn Doktor März , durchgeprügelt , eine Schandtat , die er bedauert .
Heute sehnt er sich danach , den Hochmut und die Überhebung , die ihn vielleicht zum Teil noch beseelen , am unerbittlichen Felsen harter Arbeit zerschmettern zu dürfen .
Er ist wortkarg und wird Vertraulichkeiten niemals ausplaudern .
Er glaubt weder an ein Himmelreich noch an eine Hölle .
Die Zufriedenheit desjenigen , der ihn engagiert , wird sein Himmel , und das traurige Gegenteil seine vernichtende Hölle sein , aber er ist überzeugt , daß man mit ihm und dem , was er leistet , zufrieden sein wird .
Dieser feste Glaube gibt ihm den Mut , der zu sein , der er ist .
Jakob von Gunten .
Ich habe den Lebenslauf Herrn Vorsteher überreicht .
Er hat ihn durchgelesen , ich glaube , sogar zweimal , und das Schreiben scheint ihm gefallen zu haben , denn es trat etwas wie ein schimmerndes Lächeln auf seine Lippen .
O gewiß , ich habe meinen Mann scharf beobachtet .
Ein wenig gelächelt hat er , das ist und bleibt Tatsache .
Also endlich ein Zeichen von etwas Menschlichem .
Was muß man doch für Sprünge machen , Menschen , denen man die Hände küssen möchte , zu einer nur ganz flüchtigen freundlichen Regung zu bewegen .
Absichtlich , absichtlich habe ich den Lauf meines Lebens so stolz und frech geschrieben :
" Da lies es .
Wie ?
Reizt es dich nicht , mir das Ding ins Gesicht zu schmeißen ? " -
Das sind meine Gedanken gewesen .
Und da hat er ganz schlau und fein gelächelt , dieser schlaue und feine Herr Vorsteher , den ich leider , leider Gottes über alles verehre .
Und ich habe es bemerkt .
Es ist ein Vorpostengefecht gewonnen .
Heute muß ich unbedingt noch irgend einen Streiche verüben .
Ich muß mich sonst kaputtfreuen , kaputtlachen .
Aber Fräulein Vorsteher weint ?
Was ist das ?
Warum bin ich so seltsam glücklich ?
Bin ich verrückt ?
Ich muß jetzt etwas berichten , was vielleicht einigen Zweifel erregt .
Und doch ist es durchaus Wahrheit , was ich sage .
Es lebt ein Bruder von mir in dieser gewaltigen Stadt , mein einziger Bruder , ein meiner Ansicht nach außerordentlicher Mensch , Johann heißt er , und er ist so etwas wie ein namhaft bekannter Künstler .
Ich weiß um seine jetzige Stellung in der Welt nichts Bestimmtes , da ich es vermieden habe , ihn zu besuchen .
Ich werde nicht zu ihm gehen .
Begegnen wir uns zufällig auf der Straße und erkennt er mich und tritt auf mich zu : schön , dann ist es mir lieb , seine brüderliche Hand kräftig zu schütteln .
Aber herausfordern werde ich solch ein Begegnen nie , nie im Leben .
Was bin ich , und was ist er ?
Was ein Zögling des Institutes Benjamenta ist , das weiß ich , es liegt auf der Hand .
Solch ein Zögling ist eine gute runde Null , weiter nichts .
Aber was mein Bruder zur Stunde ist , das kann ich nicht wissen .
Er ist vielleicht umgeben von lauter feinen , gebildeten Menschen und von weiß Gott was für Formalitäten , und ich respektiere Formalitäten , deshalb suche ich nicht einen Bruder auf , wo mir möglicherweise ein soignierter Herr unter gezwungenem Lächeln entgegentritt .
Ich kenne ja Johann von Gunten von früher her .
Er ist ein durchaus ebenso kühl abwägender und berechnender Mensch wie ich und wie alle Gunten , aber er ist viel älter , und im Altersunterschied zweier Menschen und Brüder können unübersteigliche Grenzen liegen .
Jedenfalls ließe ich mir von ihm keine guten Lehren erteilen , und das ist es gerade , was ich befürchte , das er tun wird , wenn er mich zu Gesicht bekommt , denn wenn er mich so arm und unbedeutend vor sich sieht , wird es ihn , den Gutsituierten , doch ganz sicher reizen , mich meine niedrige Position von oben herab leicht fühlen zu lassen , und das würde ich nicht ertragen können , ich würde den von Guntenschen Stolz hervorkehren und entschieden grob werden , was mir hinterher dann doch nur weh täte .
Nein , tausendmal nein .
Was ?
Von meinem Bruder , vom selben Blut Gnade annehmen ?
Tut mir sehr leid .
Das ist unmöglich .
Ich stelle mir ihn sehr fein vor , die beste Zigarette der Welt rauchend , und liegend auf den Kissen und Teppichen der bürgerlichen Behaglichkeit .
Und wie ?
Ja , es ist jetzt in mir so etwas Unbürgerliches , so etwas durchaus Entgegengesetzt-Wohlanständiges , und vielleicht ruht mein Herr Bruder mitten drinnen im schönsten , prächtigsten Welt-Anstand .
Es ist beschlossen :
wir beide sehen uns nicht , vielleicht nie !
Und das ist auch gar nicht nötig .
Nicht nötig ?
Gut , lassen wir das .
Ich Schafskopf , da rede ich wie eine ganze würdevolle Lehrerschaft per wir . -
Um meinen Bruder herum gibt es sicher das beste , gewählteste Salon-Benehmen .
Merci .
O , ich danke .
Da werden Frauen sein , die den Kopf zur Türe herausstrecken und schnippisch fragen :
" Wer ist denn jetzt wieder da ?
Wie ?
Ist es vielleicht ein Bettler ? "
- Verbindlichsten Dank für solch einen Empfang .
Ich bin zu gut , um bemitleidet zu werden .
Duftende Blumen im Zimmer !
O ich mag gar keine Blumen .
Und gelassenes Weltwesen ? - Scheußlich .
Ja , gern , sehr gern sähe ich ihn .
Aber wenn ich ihn so sähe , so sähe im Glanz und im Behagen : futsch wäre die Empfindung , hier stehe ein Bruder , und ich würde nur Freude lügen dürfen , und er auch .
Also nicht .
In der Unterrichtsstunde sitzen wir Schüler , starr vor uns herblickend , da , unbeweglich .
Ich glaube , man darf sich nicht einmal die persönliche Nase putzen .
Die Hände ruhen auf den Kniescheiben und sind während des Unterrichtes unsichtbar .
Hände sind die fünffingrigen Beweise der menschlichen Eitelkeit und Begehrlichkeit , daher bleiben sie unter dem Tisch hübsch verborgen .
Unsere Schülernasen haben die größte geistige Ähnlichkeit miteinander , sie scheinen alle mehr oder weniger nach der Höhe zu streben , wo die Einsicht in die Wirrnisse des Lebens leuchtend schwebt .
Nasen von Zöglingen sollen stumpf und gestülpt erscheinen , so verlangen es die Vorschriften , die an alles denken , und in der Tat , unsere sämtlichen Riechwerkzeuge sind demütig und schamhaft gebogen .
Sie sind wie von scharfen Messern kurzgehauen .
Unsere Augen blicken stets ins gedankenvolle Leere , auch das will die Vorschrift .
Eigentlich sollte man gar keine Augen haben , denn Augen sind frech und neugierig , und Frechheit und Neugierde sind von fast jedem gesunden Standpunkt aus verdammenswert .
Ziemlich ergötzlich sind die Ohren von uns Zöglingen .
Sie wagen alle kaum zu horchen vor lauter gespannten Horchens .
Sie zucken immer ein wenig , als fürchteten sie , von hinten plötzlich mahnend gezogen und in die Weite und Breite gerissen zu werden .
Arme Ohren das , die derart Angst ausstehen müssen .
Schlägt der Ton eines Rufes oder Befehls an diese Ohren , so vibrieren und zittern sie wie Harfen , die berührt und gestört worden sind .
Nun , es kommt ja auch vor , daß Zöglingsohren gern ein wenig schlafen , und wie werden sie dann geweckt !
Es ist eine Freude .
Das Dressierteste an uns ist aber doch der Mund , er ist stets Gehorsam und devot zugekniffen .
Es ist ja auch nur zu wahr : ein offener Mund ist die gähnende Tatsache , daß der Besitzer desselben mit seinen paar Gedanken meist anderswo sich aufhält als im Bereich und Lustgarten der Aufmerksamkeit .
Ein festgeschlossener Mund deutet auf offene , gespannte Ohren , daher müssen die Türen da unten , unter den Nasenflügelfenstern , stets sorgsam verriegelt bleiben .
Ein offener Mund ist ein Maul ohne weiteres , und das weiß jeder von uns genau .
Lippen dürfen nicht prangen und lüstern blühen in der bequemen natürlichen Lage , sondern sie sollen gefalzt und gepreßt sein zum Zeichen energischer Entsagung und Erwartung .
Das tun wir Schüler alle , wir gehen mit unseren Lippen laut bestehender Vorschrift sehr hart und grausam um , und daher sehen wir alle so grimmig wie kommandierende Wachtmeister aus .
Ein Unteroffizier will die Mienen seiner Soldaten bekanntlich genau so schnauzig und grimmig haben wie seine , das paßt ihm , denn er hat Humor in der Regel .
Im Ernst : Gehorchende sehen meist genau aus wie Befehlende .
Ein Diener kann gar nicht anders als die Masken und Allüren seines Herrn annehmen , um sie gleichsam treuherzig fortzupflanzen .
Unser verehrtes Fräulein ist ja nun gar kein solcher Feldwebel , im Gegenteil , sie lächelt sehr oft , ja , sie gestattet sich manchmal , uns Murmeltiere von vorschriftenbefolgenden Menschenkindern einfach auszulachen , aber sie gewärtigt eben , daß wir sie ruhig , und ohne unsere Mienen zu verändern , lachen lassen , und das tun wir auch , wir tun so , als hörten wir den süßen Silberton ihres Gelächters überhaupt gar nicht .
Was sind wir für aparte Käuze .
Unser Haar ist stets sauber und glatt gekämmt und gebürstet , und jeder hat sich einen geraden Scheitel in die Welt da oben auf dem Kopf einzuschneiden , einen Kanal in die tiefschwarze oder blonde Haar-Erde .
So gehört sich_es .
Scheitel sind nun einmal auch vorschriftsmäßig .
Und daher , weil wir so reizend frisiert und gescheitelt sind , sehen wir uns alle eigentlich ähnlich , was für einen Schriftsteller z. B. zum Totlachen wäre , wenn er uns besuchte , um uns in unserer Herrlichkeit und Wenigkeit zu studieren .
Mag dieser Herr Schriftsteller zu Hause bleiben .
Windbeutel sind das , die nur studieren , malen und Beobachtungen anstellen wollen .
Man lebe , dann beobachtet sich es ganz von selber .
Unser Fräulein Benjamenta würde übrigens solch einen hergewandeten , -geregneten und -geschneiten Artikelschreiber derart anherrschen , daß er vor Schreck über die Unfreundlichkeit des Empfangs zu Boden fiele .
Nun , dann würde die Lehrerin , die es liebt , selbstherrlich zu verfahren , vielleicht zu uns sagen : " Geht , helft dem Herrn von der Erde aufstehen . "
Und dann würden wir Zöglinge des Institutes Benjamenta dem ungebetenen Gast zeigen , wo die Türe ist .
Und das Stück neugierigen Schriftstellertums würde wieder verschwinden .
Nein , das sind Phantasien .
Zu uns kommen Herrschaften , die uns Knaben engagieren wollen , und nicht Leute mit Schreibfedern hinter den Ohren .
Entweder sind die Lehrer unseres Institutes gar nicht vorhanden , oder sie schlafen noch immer , oder sie scheinen ihren Beruf vergessen zu haben .
Oder streiken sie vielleicht , weil man ihnen die Monatslöhne nicht ausbezahlt ?
Wunderliche Gefühle ergreifen mich , wenn ich an die armen Eingeschlummerten und Geistesabwesenden denke .
Da sitzen sie nun , oder kauern an den Wänden eines extra für die Ruhebedürftigen eingerichteten Zimmers .
Da ist Herr Wächli , der vermeintliche Naturgeschichtslehrer .
Sogar im Schlaf hält er noch immer seine Tabakspfeife im Mund eingeklemmt .
Schade , er hätte vielleicht besser getan , Bienenzüchter zu werden .
Wie rot sein Kopf doch ist und wie fett seine ältliche , weichliche Hand .
Und hier nebenan , ist das nicht Herr Blösch , der sehr geehrte Französischlehrer ?
Ei ja doch , das ist er wahrhaftig , und er lügt , wenn er zu schlafen vorgibt , er ist ein ganz schrecklicher Lügner .
Auch seine Schulstunden sind immer nur eine Lüge und papierne Maske gewesen .
Wie blaß er aussieht , und wie böse !
Er hat ein schlechtes Gesicht , dicke harte Lippen , grobe unbarmherzige Züge :
" Schläfst du , Blösch ? "
- Er hört nicht .
Er ist eigentlich widerwärtig .
Und das , wer ist denn das da ?
Herr Pfarrer Strecker ?
Der lange , dürre Herr Pfarrer Strecker , der den Religionsunterricht erteilt ?
Zum Teufel , ja er selber ist es .
" Schlafen Sie , Herr Pfarrer ?
Nun , dann schlafen Sie .
Es schadet nichts , daß Sie schlafen .
Sie versäumen nur Zeit mit Religionsunterrichterteilen .
Religion , sehen Sie , taugt heute nichts mehr .
Der Schlaf ist religiöser als all Ihre Religion .
Wenn man schläft , ist man Gott vielleicht noch am nächsten .
Was meinen Sie ? "
- Er hört nicht .
Ich will anderswo anklopfen .
He , wer ist denn das hier , der so bequeme Stellungen wählt ?
Ist es März , Doktor März , der die Geschichte Roms lehrt ?
Ja , er ist es , ich erkenne ihn am Spitzbart .
" Sie scheinen mir böse zu sein , Herr Doktor März .
Nun , schlafen Sie und vergessen Sie die unpassenden Auftritte , die zwischen Ihnen und mir vorgefallen sind , zürnen Sie nicht in Ihren Spitzbart hinein .
Übrigens tun Sie gut , zu schlafen .
Die Welt dreht sich seit einiger Zeit um Geld und nicht mehr um Geschichte .
All die uralten Heldentugenden , die Sie auspacken , spielen ja , wie Sie selbst wissen werden , längst keine Rolle mehr .
Ich verdanke Ihnen einige wundervolle Eindrücke .
Schlafen Sie wohl . "
- Hier aber , wie ich sehe , scheint sich Herr von Bergen , der Knabenquäler von Bergen , angesiedelt zu haben .
Tut , als wenn er träume , und erteilt doch so gern , mit so kitzlig-himmlischer Vorliebe , " Tatzen " .
Oder er kommandiert " Rumpfbeuge vorwärts " , und dann ist es ihm solch ein Genuß , aufs Hinterestück des armen Jungen ein Meerrohrgeschenk anzuflicken .
Sehr elegante Pariser-Erscheinung , aber grausam . -
Und wer ist dieser hier ?
Progymnasialdirektor Weiß ?
Sehr nett .
Bei rechtlichen Leuten braucht man sich nicht lange aufzuhalten .
Und wer ist hier ?
Bur ?
Lehrer Bur ?
" Ich bin entzückt , Sie zu sehen . "
Bur ist der genialste gewesene Rechenlehrer des Kontinents .
Fürs Institut Benjamenta ist er nur zu freisinnig und zu geistvoll .
Kraus und die anderen sind keine Schüler für ihn .
Er ist zu hervorragend und stellt zu hohe Ansprüche .
Hier im Institut existieren keine solchen überspannten Voraussetzungen .
Aber ich träume wohl von meinen heimatlichen Lehrern ?
Dort im Progymnasium gab es Kenntnisse die Menge , hier gibt es etwas ganz anderes .
Uns Zöglinge hier wird etwas ganz anderes gelehrt .
Werde ich bald Stellung erhalten ?
Ich hoffe es .
Meine Photographien und mein Bewerbeschreiben machen zusammen , wie ich mir einbilde , einen günstigen Eindruck .
Neulich bin ich mit Schilinski in einen ersten Cafe-Konzert-Raum getreten .
Wie hat da Schilinski am ganzen Leib gebebt vor Schüchternheit .
Ich benahm mich ungefähr wie sein liebevoller Vater .
Der Kellner wagte es , indem er uns von unten bis oben fixierte , uns sitzen zu lassen ; da ich ihn aber mit enorm strenger Miene ersuchte , uns gefälligst zu bedienen , wurde er sogleich höflich und brachte uns in hohen , zierlich-geschliffenen Kelchen helles Bier .
Ah , man muß auftreten .
Wer sich mit gemessenem Anstand in die Brust zu werfen weiß , der wird als Herr behandelt .
Man muß Situationen beherrschen lernen .
Ich verstehe es ausgezeichnet , meinen Kopf , so , als wenn ich über etwas empört , nein , nur erstaunt wäre , zurückzuwerfen .
Ich blicke um mich her , als wollte ich sagen : " Was ist das ?
Wie ?
Ist man denn hier toll ? " -
Das wirkt .
Auch habe ich mir ja im Institut Benjamenta gottlob Haltung angeeignet .
O mir ist manchmal , als hätte ich es in der Gewalt , mit der Erde und all den Dingen darauf beliebig spielen zu können .
Ich verstehe mit einemmal das liebliche Wesen der Frauen .
Ihre Koketterien amüsieren mich , und ich erblicke Tiefsinn in ihren trivialen Bewegungen und Redensarten .
Wenn man sie nicht versteht , wenn sie eine Tasse zum Mund führen oder den Rock raffen , so versteht man sie nie .
Ihre Seelen trippeln mit den hochausgeschweiften Absätzen ihrer süßen Stiefelchen , und ihr Lächeln ist beiderlei : eine alberne Angewohnheit und ein Stück Weltgeschichte .
Ihr Hochmut und ihr geringer Verstand sind reizend , reizender als die Werke der Klassiker .
Oft sind ihre Untugenden das Tugendhafteste unter der Sonne , und wenn sie erst wütend werden , und zürnen ?
Nur Frauen verstehen zu zürnen .
Doch still .
Ich denke an Mama .
Wie heilig ist mir das Andenken an die Augenblicke , wo sie zürnte .
Doch ruhig , doch still .
Was kann ein Schüler des Institutes Benjamenta über alles das wissen ?
Ich habe mich nicht bezwingen können , ich bin ins Büro gegangen , habe mich gewohnheitsgemäß tief verbeugt und habe zu Herrn Benjamenta folgendes gesprochen :
" Ich habe Arme , Beine und Hände , Herr Benjamenta , und ich möchte arbeiten , und daher erlaube ich mir , Sie zu bitten , mir recht bald Arbeit und Geldverdienst zu verschaffen .
Sie haben allerlei Beziehungen , ich weiß es .
Zu Ihnen kommen die allerfeinsten Herrschaften , Leute , die Kronen auf den Aufschlägen ihrer Mäntel tragen , Offiziere , die mit den schneidigen Säbeln rasseln , Damen , deren Schleppen wie kichernde Wellen daherrauschen , ältere Frauen mit enorm viel Vermögen , Greise , die ein halbes Lächeln mit einer Million bezahlen , Menschen von Stand , aber ohne Geist , Menschen , die im Automobil vorfahren , mit einem Wort , Herr Vorsteher , die Welt kommt zu Ihnen . "
- " Hüte dich , frech zu werden , " warnte er mich , doch ich weiß nicht , ich empfand gar keine Furcht mehr vor seinen Fäusten , und ich sprach weiter , die Worte flogen mir nur so heraus :
" Verschaffen Sie mir unbedingt irgend eine anregende Tätigkeit .
Übrigens ist meine Meinung die : eine jede Tätigkeit ist anregend .
Ich habe schon so viel gelernt bei Ihnen , Herr Vorsteher . "
- Er sagte ruhig :
" Du hast noch gar nichts gelernt . "
- Da nahm ich wieder den Faden auf und sagte : " Gott selbst gebietet mir , ins Leben hinaus zu treten .
Doch was ist Gott ?
Sie sind mein Gott , Herr Vorsteher , wenn Sie mir erlauben , Geld und Achtung verdienen zu gehen . "
- Er schwieg eine Weile , dann sagte er :
" Du machst jetzt , daß du zum Kontor hinauskommst .
Augenblicklich . "
- Das ärgerte mich furchtbar .
Ich rief laut aus :
" Ich erblicke in Ihnen einen hervorragenden Menschen , aber ich irre mich , Sie sind gewöhnlich wie das Zeitalter , in dem Sie leben .
Ich werde auf die Straße gehen und dort irgend einen Menschen anhalten .
Man zwingt mich , zum Verbrecher zu werden . "
- Ich erkannte die Gefahr , in der ich schwebte .
Zugleich mit den Worten , die ich aussprach , war ich zur Türe gesprungen , und jetzt schrie ich wütend :
" Adieu , Herr Vorsteher , " und drückte mich mit wunderbarer Geschmeidigkeit zur Türe hinaus .
Im Korridor blieb ich stehen und lauschte am Schlüsselloch .
Es blieb alles ganz mäuschenstill drinnen im Büro .
Ich ging ins Schulzimmer und vertiefte mich in die Lektüre des Buches :
" Was bezweckt die Knabenschule ? "
Unser Unterricht besteht aus zwei Teilen , einem theoretischen und einem praktischen Teil .
Aber beide Abteilungen muten mich auch noch heute wie ein Traum , wie ein sinnloses und zugleich sehr sinnreiches Märchen an .
Auswendiglernen , das ist eine unserer Hauptaufgaben .
Ich lerne sehr leicht auswendig , Kraus sehr schwer , daher ist er immer am Lernen .
Die Schwierigkeiten , die er zu überwinden hat , sind das Geheimnis seines Fleißes und dessen Lösung .
Er hat ein schwerfälliges Gedächtnis , und doch prägt er sich , wenn auch mit vieler Mühe , alles fest ein .
Das , was er weiß , ist dann in seinem Kopf sozusagen in Metall graviert , und er kann es nicht wieder vergessen .
Von Verschwitzen oder dergleichen ist bei ihm keine Rede .
Wo wenig gelehrt wird , da paßt ein Kraus hin , demnach paßt er ins Institut Benjamenta vorzüglich .
Einer der Grundsätze unserer Schule lautet : " Wenig aber gründlich " .
Nun , in diesem Prinzip steckt Kraus fest , der einen etwas harten Schädel mit auf die Welt bekommen hat .
Wenig lernen !
Immer wieder dasselbe !
Nach und nach fange auch ich an , zu begreifen , was für eine große Welt hinter diesen Worten verborgen ist .
Etwas sich in der Tat fest , fest einprägen , für immer !
Ich sehe ein , wie wichtig , vor allen Dingen , wie gut und wie würdig das ist .
Der praktische oder körperliche Teil unseres Unterrichtes ist eine Art fortwährend wiederholtes Turnen oder Tanzen , ganz gleich , wie man das nennen will .
Der Gruß , das Eintreten in eine Stube , das Benehmen gegenüber Frauen oder ähnliches wird geübt , und zwar sehr langfädig , oft langweilig , aber auch hier , wie ich jetzt merke und empfinde , steckt ein tiefverborgener Sinn .
Uns Zöglinge will man bilden und formen , wie ich merke , nicht mit Wissenschaften vollpfropfen .
Man erzieht uns , indem man uns zwingt , die Beschaffenheit unserer eigenen Seele und unseres eigenen Körpers genau kennen zu lernen .
Man gibt uns deutlich zu verstehen , daß allein schon der Zwang und die Entbehrungen bilden , und daß in einer ganz einfachen , gleichsam dummen Übung mehr Segen und mehr wahrhaftige Kenntnisse enthalten sind , als im Erlernen von vielerlei Begriffen und Bedeutungen .
Wir erfassen eines ums andere , und haben wir etwas erfaßt , so besitzt es uns quasi .
Nicht wir besitzen es , sondern im Gegenteil , was wir scheinbar zu unserem Besitz gemacht haben , herrscht dann über uns . Uns prägt man ein , daß es von wohltuender Wirkung ist , sich an ein festes , sicheres Weniges anzupassen , d. h. sich an Gesetze und Gebote , die ein strenges Äußeres vorschreibt , zu gewöhnen und zu schmiegen .
Man will uns vielleicht verdummen , jedenfalls will man uns klein machen .
Aber man schüchtert uns durchaus nicht etwa ein .
Wir Zöglinge wissen alle , der eine so gut wie der andere , daß Schüchternheit strafbar ist .
Wer stottert und Furcht zeigt , setzt sich der Verachtung unseres Fräuleins aus , aber klein sollen wir sein und wissen sollen wir es , genau wissen , daß wir nichts Großes sind .
Das Gesetz , das befiehlt , der Zwang , der nötigt , und die vielen unerbittlichen Vorschriften , die uns die Richtung und den Geschmack angeben : das ist das Große , und nicht wir , wir Eleven .
Nun , das empfindet jeder , sogar ich , daß wir nur kleine , arme , abhängige , zu einem fortwährenden Gehorsam verpflichtete Zwerge sind .
So benehmen wir uns auch : demütig , aber äußerst zuversichtlich .
Wir sind alle ohne Ausnahme ein wenig energisch , denn die Kleinheit und Not , in der wir uns befinden , veranlassen uns , fest an die paar Errungenschaften , die wir gemacht haben , zu glauben .
Unser Glaube an uns ist unsere Bescheidenheit .
Wenn wir an nichts glauben würden , wüßten wir nicht , wie wenig wir sind .
Immerhin , wir kleinen jungen Menschen sind irgend etwas .
Wir dürfen nicht ausschweifen , nicht phantasieren , es ist uns verboten , weit zu blicken , und das stimmt uns zufrieden und macht uns für jede rasche Arbeit brauchbar .
Die Welt kennen wir sehr schlecht , aber wir werden sie kennen lernen , denn wir werden dem Leben und seinen Stürmen ausgesetzt sein .
Die Schule Benjamenta ist das Vorzimmer zu den Wohnräumen und Prunksälen des ausgedehnten Lebens .
Hier lernen wir Respekt empfinden und so tun , wie diejenigen tun müssen , die an irgend etwas emporzublicken haben .
Ich z. B. bin ein wenig erhaben über alles das , gut , um so besser tun mir auch alle diese Eindrücke .
Gerade ich habe nötig , Hochachtung und zutraulichen Respekt vor den Gegenständen der Welt fühlen zu lernen , denn wohin würde ich gelangen , wenn ich das Alter mißachten , Gott leugnen , Gesetze bespotten und meine jugendliche Nase schon in alles Erhabene , Wichtige und Große stecken dürfte ?
Meiner Ansicht nach krankt gerade hieran die gegenwärtige junge Generation , die Zeter und Mordio schreit und nach Papa und Mama miaut , wenn sie sich Pflichten und Geboten und Beschränkungen ein wenig beugen soll .
Nein , nein , hier sind Benjamentas meine lieben leuchtenden Leitsterne , der Herr Bruder sowohl wie das Fräulein , seine Schwester .
Ich werde mein Lebenlang an sie denken .
Ich bin meinem Bruder Johann begegnet , und zwar im dichtesten Menschengewimmel .
Unser Wiedersehen hat sich sehr freundlich gestaltet .
Es war ungezwungen und herzlich .
Johann hat sich sehr nett benommen , und ich wahrscheinlich mich auch .
Wir sind in ein kleines , verschwiegenes Restaurant getreten und haben dort geplaudert .
" Bleibe ' nur der , der du bist , Bruder , " sprach Johann zu mir , " fange von tief unten an , das ist ausgezeichnet .
Solltest du Hilfe brauchen - - "
Ich machte eine leichte , verneinende Handbewegung .
Er fuhr fort :
" Denn sieh , oben , da lohnt es sich kaum noch zu leben .
Sozusagen nämlich .
Verstehe mich recht , lieber Bruder . "
- Ich nickte lebhaft , denn es leuchtete mir schon zum voraus ein , was er mir sagte , aber ich bat ihn , weiterzureden , und er sprach :
" Oben , da herrscht solch eine Luft .
Nun , es herrscht eben eine Atmosphäre des Genuggetanhabens , und das hemmt und engt ein .
Ich hoffe , du verstehst mich nicht ganz , denn wenn du mich verstündest , Bruder , dann wärest du ja eigentlich gräßlich . "
- Wir lachten .
O , mit einem Bruder zusammen lachen zu können , das ist sehr hübsch .
Er sagte : " Du bist jetzt sozusagen eine Null , bester Bruder .
Aber wenn man jung ist , soll man auch eine Null sein , denn nichts ist so verderblich wie das frühe , das allzufrühe Irgendetwasbedeuten .
Gewiß : dir bedeutest du etwas .
Bravo. Vortrefflich .
Aber der Welt bist du noch nichts , und das ist fast ebenso vortrefflich .
Immer hoffe ich , du verstehst mich nicht ganz , denn wenn du mich vollkommen verstündest - - "
" Wäre ich ja gräßlich , " fiel ich ihm ins Wort .
Wir lachten von neuem .
Es war sehr lustig .
Ein merkwürdiges Feuer fing an , mich zu beseelen .
Meine Augen brannten .
Das liebe ich übrigens sehr , wenn es mir so verbrannt zumute ist .
Mein Kopf ist dann ganz rot .
Und Gedanken voll Reinheit und Hoheit pflegen mich dann zu bestürmen .
Johann fuhr fort , er sagte folgendes :
" Bruder , bitte , unterbrich mich nicht immer .
Dein dummes junges Gelächter hat etwas Ideenerstickendes .
Höre .
Paß gut auf .
Was ich dir sage , kann dir vielleicht eines Tages von Nutzen sein .
Vor allen Dingen : komme dir nie verstoßen vor .
Verstoßen , Bruder , das gibt es gar nicht , denn es gibt vielleicht auf dieser Welt gar , gar nichts redlich Erstrebenswertes .
Und doch sollst du streben , leidenschaftlich sogar .
Aber damit du nie allzu sehnsüchtig bist :
präge dir ein : nichts , nichts Erstrebenswertes gibt es .
Es ist alles faul .
Verstehst du das ?
Sieh , ich hoffe immer , du könntest das alles nicht so recht verstehen .
Ich mache mir Sorgen . "
- Ich sagte :
" Leider bin ich zu intelligent , um dich , wie du hoffst , mißverstehen zu können .
Aber sei ohne Sorgen .
Du erschreckst mich durchaus nicht mit deinen Enthüllungen . "
- Wir lächelten uns an .
Dann bestellten wir uns Neues zu trinken , und Johann , der übrigens sehr elegant aussah , fuhr fort zu sprechen :
" Es gibt ja allerdings einen sogenannten Fortschritt auf Erden , aber das ist nur eine der vielen Lügen , die die Geschäftemacher ausstreuen , damit sie um so frecher und schonungsloser Geld aus der Menge herauspressen können .
Die Maße , das ist der Sklave von heute , und der Einzelne ist der Sklave des großartigen Massengedankens .
Es gibt nichts Schönes und Vortreffliches mehr .
Du mußt dir das Schöne und Gute und Rechtschaffene träumen .
Sage mir , verstehst du zu träumen ? "
- Ich begnügte mich , mit dem Kopf zweimal zu nicken und ließ Johann , indem ich gespannt aufhorchte , Fortreden : " Versuche es , fertig zu kriegen , viel , viel Geld zu erwerben .
Am Geld ist noch nichts verpfuscht , sonst an allem .
Alles , alles ist verdorben , halbiert , der Zier und der Pracht beraubt .
Unsere Städte verschwinden unaufhaltsam vom Erdboden .
Klötze nehmen den Raum ein , den Wohnhäuser und Fürstenpaläste eingenommen haben .
Das Klavier , lieber Bruder , und das damit verbundene Klimpern !
Konzert und Theater fallen von Stufe zu Stufe , auf einen immer tieferen Standpunkt .
Es gibt ja allerdings noch so etwas wie eine tonangebende Gesellschaft , aber sie hat nicht mehr die Fähigkeit , Töne der Würde und des Feinsinnes anzuschlagen .
Es gibt Bücher - - mit einem Wort , sei niemals verzagt .
Bleibe arm und verachtet , lieber Freund .
Auch den Geld-Gedanken schlage dir weg .
Es ist das Schönste und Triumphierendste , man ist ein ganz armer Teufel .
Die Reichen , Jakob , sind sehr unzufrieden und unglücklich .
Die reichen Leute von heutzutage :
sie haben nichts mehr .
Das sind die wahren Verhungerten . "
- Ich nickte wieder .
Es ist wahr , ich sage sehr leicht ja zu allem .
Übrigens gefiel mir und paßte mir , was Johann sagte .
Es war Stolz in dem , was er sprach , und Trauer .
Nun , und dies beides , Stolz und Trauer , ergibt immer einen guten Klang .
Wieder bestellten wir Bier , und mein Gegenüber sagte :
" Du mußt hoffen und doch nichts hoffen .
Schau empor an etwas , ja gewiß , denn das ziemt dir , du bist jung , unverschämt jung , Jakob , aber , gestehe dir immer , daß du_es verachtest , das , an dem du respektvoll emporschaust .
Du nickst schon wieder ?
Teufel , was bist du für ein verständnisvoller Zuhörer .
Du bist geradezu ein Baum , der voll Verständnis behangen ist .
Sei zufrieden , lieber Bruder , strebe , lerne , tu womöglich irgend jemandem etwas Liebes und Gutes .
Komme , ich muß gehen .
Sage , wann treffen wir uns wieder ?
Du interessierst mich , offen gesagt . "
- Wir gingen , und draußen auf der Straße nahmen wir Abschied voneinander .
Lange schaute ich meinem lieben Bruder nach .
Ja , er ist mein Bruder .
Wie freut mich das .
Mein Vater hat Wagen und Pferde und einen Diener , den alten Fehlmann .
Mama hat ihre eigene Theaterloge .
Wie beneiden sie die Frauen der Stadt mit den achtundzwanzigtausend Einwohnern darum .
Mutter ist eine noch in den vorgeschrittenen Jahren hübsche , ja schöne Frau .
Ich erinnere mich an ein hellblaues , enganschließendes Kleid , das sie einmal trug .
Sie hielt den zartweißen Sonnenschirm offen .
Die Sonne schien .
Es war prächtiges Frühlingswetter .
In den Straßen duftete es nach Veilchen .
Die Menschen promenierten , und unter dem Grün der Anlage-Bäume spielte die Stadtmusik Promenadenkonzert .
Wie süß und hell war alles .
Ein Brunnen plätscherte , und Kinder , hell angezogene , lachten und spielten .
Und ein feiner liebkosender Wind strich mit Düften , Sehnsucht nach Unsagbarem erweckend , umher .
Aus den Fenstern der Neuquartierplatzhäuser schauten Leute .
Mutter hatte lange hellgelbe Handschuhe an den schmalen Händen und lieben Armen .
Johann war damals schon in der Fremde .
Aber Vater war dabei .
Nein , nie nehme ich je Hilfe ( Geld ) von den zärtlich verehrten Eltern an .
Mein verletzter Stolz würde mich aufs Krankenlager werfen , und futsch wären die Träume von einer selbsterrungenen Lebenslaufbahn , vernichtet für immer diese mir in der Brust brennenden Selbsterziehungspläne .
Das ist es ja : um mich quasi selbst zu erziehen , oder mich auf eine künftige Selbsterziehung vorzubereiten , deshalb bin ich Zögling dieses Institutes Benjamenta geworden , denn hier macht man sich auf irgend etwas Schweres und Düster-Daherkommendes gefaßt .
Und deshalb schreibe ich ja auch nicht nach Hause , denn schon das Berichterstatten allein würde mich an mir irre machen , würde mir den Plan , ganz von unten anzufangen , vollkommen verleiden .
Etwas Großes und Kühnes muß in aller Verschwiegenheit und Stille geschehen , sonst verdirbt und flaut es , und das Feuer , das schon lebendig erwachte , stirbt wieder .
Ich kenne meinen Geschmack , das genügt . -
Ach so , ja .
Ganz recht .
Von unserem alten Diener Fehlmann , der noch lebt und dient , habe ich eine lustige Geschichte auf Lager .
Die Sache ist die :
Fehlmann ließ sich eines Tages ein grobes Verfehlen zuschulden kommen und sollte entlassen werden .
" Fehlmann , " sagte Mama , " Sie können gehen .
Wir brauchen Sie nicht mehr . "
- Da stürzte der arme Alte , der einen am Krebs gestorbenen Jungen noch vor kurzer Zeit begraben hatte ( lustig ist das nicht ) , meiner Mutter zu Füßen und bat um Gnade , direkt um Gnade .
Der arme Teufel , er hatte Tränen in den alten Augen .
Mama verzeiht ihm , ich erzähle den Auftritt anderen Tags meinen Kameraden , den Brüdern Weibel , und die lachen mich fürchterlich aus und verachten mich .
Sie entziehen mir ihre Freundschaft , weil es , wie sie meinen , in unserem Haus zu royalistisch zugeht .
Das Zu-Füßen-fallen finden sie verdächtig , und sie gehen hin und verleumden mich und Mama in der abgeschmacktesten Weise .
Wie echte Buben , ja , aber auch wie echte kleine Republikaner , denen das Waltenlassen persönlicher und herrschaftlicher Gnade oder Ungnade ein Greuel und ein Gegenstand des Abscheus ist .
Wie kommt mir das jetzt komisch vor .
Und doch , wie bezeichnend ist dieser kleine Vorfall für den Lauf der Zeiten .
So wie die Buben Weibel , so urteilt heute eine ganze Welt .
Ja , so ist es :
man duldet nichts Herren- oder Damenhaftes mehr .
Es gibt keine Herren mehr , die machen können , was sie wollen , und es gibt längst keine Herrinnen mehr .
Soll ich darüber traurig sein ?
Fällt mir nicht ein .
Bin ich verantwortlich für den Geist des Zeitalters ?
Ich nehme die Zeit , wie sie ist , und behalte mir nur vor , im stillen meine Beobachtungen zu machen .
Der gute Fehlmann : ihm , ihm ist noch auf altväterliche Art verziehen worden .
Tränen der Treue und Anhänglichkeit , wie schön ist das . -
Von drei Uhr nachmittags an sind wir Eleven fast ganz uns selbst überlassen .
Niemand kümmert sich mehr um uns .
Vorstehers sind in den inneren Räumen verborgen , und im Schulzimmer herrscht Öde , eine Öde , die einen beinahe krank macht .
Lärm soll nicht vorkommen .
Es darf nur gehuscht und geschlichen und nur im Flüstertone gesprochen werden .
Schilinski schaut sich im Spiegel , Schacht schaut zum Fenster hinaus , oder er gestikuliert mit dem Küchenmädchen von gegenüber , und Kraus lernt auswendig , indem er Lektionen vor sich hinmurmelt .
Eine Grabesstille herrscht überall .
Der Hof liegt verlassen da wie eine viereckige Ewigkeit , und ich stehe meist aufrecht und übe mich , auf einem Bein zu stehen .
Oft halte ich zur Abwechslung den Atem lang an .
Auch eine Übung , und es soll sogar , wie mir einmal ein Arzt sagte , eine gesundheitfördernde sein .
Oder ich schreibe .
Oder ich schließe die unmüden Augen , um nichts mehr zu sehen .
Die Augen vermitteln Gedanken , und daher schließe ich sie von Zeit zu Zeit , um nichts denken zu müssen .
Wenn man so da ist und nichts tut , spürt man plötzlich , wie penibel das Dasein sein kann .
Nichtstun und dennoch Haltung beobachten , das fordert Energie , der Schaffende hat es leicht dagegen .
Wir Zöglinge sind Meister in dieser Art Anstand .
Sonst fangen die Nichtstuer aus Langeweile etwa an , ein wenig zu flegeln , zu strampeln , hochaufzugähnen oder zu seufzen .
Das tun wir Eleven nicht .
Wir pressen die Lippen fest und sind unbeweglich .
Über unseren Köpfen schweben immer die mürrischen Vorschriften .
Manchmal , wenn wir so dasitzen oder dastehen , geht die Türe auf , und das Fräulein geht langsam , uns sonderbar anschauend , durchs Schulzimmer .
Wie ein Geist mutet sie mich dann an .
Es ist , als wenn da jemand von weit , weit her käme .
" Was macht ihr , Knaben ? " fragt sie dann etwa , wartet aber gar keine Antwort ab , sondern geht weiter .
Wie schön sie ist .
Welch eine üppige Fülle von tiefschwarzen Haaren .
Meist sieht man sie gesenkten Auges .
Sie hat Augen , die sich zum Niederschlagen herrlich eigenen .
Ihre Augendeckel ( o , ich beobachte das alles scharf ) sind üppig gewölbt und der raschen Bewegung wundersam fähig .
Diese Augen !
Sieht man sie einmal , so blickt man in etwas Abgrund-Banges und Tiefes hinein .
Diese Augen scheinen in ihrer glänzenden Schwärze nichts und zugleich alles Unsagbare zu sagen , so bekannt und so unbekannt zugleich muten sie an .
Die Augenbrauen sind bis zum Zerreißen dünn und rund darüber gezeichnet und gezogen .
Wer sie betrachtet , fühlt Stiche .
Sie sind wie Mondsicheln an einem krankhaft blassen Abendhimmel , wie feine , aber um so stechendere Wunden , innerlich schneidende .
Und ihre Wangen !
Das stille Sehnen und Zagen scheint Feste darauf zu feiern .
Unverstandene Zartheit und Zärtlichkeit weint darauf auf und nieder .
Zuweilen erscheint auf dem schimmernden Schnee dieser Wangen ein leises bittendes Rot , ein rötliches , schüchternes Leben , eine Sonne , doch nein , nur der schwache Abglanz einer solchen .
Dann ist es , als lächelten plötzlich die Wangen , oder als fieberten sie ein wenig .
Wenn man Fräulein Benjamentas Wangen ansieht , vergeht einem die Lust , weiterzuleben , denn dann hat man das Gefühl , als müsse das Leben ein Höllengewimmel voller schnöder Roheiten sein .
Etwas so Zartes läßt in etwas so Schweres und Bedrohliches fast gebieterisch blicken .
Und ihre Zähne , die man hervorschimmern sieht , wenn der üppig-gütige Mund lächelt .
Und wenn sie weint .
Die Erde , meint man , müsse aus den Punkten ihres Halts herabstürzen , aus Scham und aus Weh , sie weinen zu sehen .
Und wenn man sie erst weinen - - hört ?
O , dann vergeht man .
Neulich hörten wir es , mitten in der Schulstunde .
Wir alle haben gezittert wie Espenlaub .
Ja , wir alle , wir lieben sie .
Sie ist unsere Lehrerin , unser höheres Wesen .
Und sie leidet an etwas , das ist klar .
Ist sie krank ?
Fräulein Benjamenta hat mit mir ein paar Worte gesprochen , in der Küche .
Ich wollte gerade in die Kammer hineingehen , da fragte sie mich , ohne mich im übrigen eines Blicks zu würdigen :
" Wie geht es dir , Jakob ?
Geht es dir gut ? "
Ich nahm sogleich Achtungstellung an , wie es sich schickt , und sagte im Ton der Unterwürfigkeit : " O ganz gewiß , gnädiges Fräulein .
Mir kann es nicht anders als gut gehen . "
- Sie lächelte schwach und fragte :
" Wie meinst du das ? "
- So über die Schulter fragte sie das .
Ich antwortete : " Es fehlt mir an nichts . "
- Sie blickte mich kurz an und schwieg .
Nach einer Weile sagte sie :
" Du kannst gehen , Jakob .
Du bist frei .
Du brauchst nicht dazustehen . "
- Ich erwies ihr die vorgeschriebene Ehre , indem ich mich verneigte , und drückte mich in die Kammer .
Es vergingen keine fünf Minuten , so wurde geklopft .
Ich stürzte an die Türe .
Ich kannte das Klopfen .
Sie stand vor mir .
" Du , Jakob , " fragte sie , " sage einmal , wie verträgst du dich mit den Kameraden ?
Nicht wahr , es sind nette Menschen ? " -
Ich gab zur Antwort , daß sie mir alle , ohne Ausnahme , liebens- und achtenswert vorkämen .
Die Lehrerin blinzelte mich mit den schönen Augen listig an und machte : " Na , na .
Und mit Kraus zankst du dich doch .
Ist Zanken bei dir das Zeichen der Liebe und Achtung ? "
- Ich erwiderte ohne Zaudern :
" In gewissem Sinne ja , Fräulein .
Übrigens ist dieses Zanken nicht gar so ernst gemeint .
Wenn Kraus Scharfsinn besäße , würde er merken , daß ich ihn sogar allen anderen vorziehe .
Ich achte Kraus sehr , sehr .
Es würde mich schmerzen , wenn Sie mir das nicht glaubten . "
- Sie erfaßte meine Hand und drückte sie leicht und sagte : " Beruhige dich nur .
Sieh einmal , wie du in Hitze kommst .
Du Hitzkopf .
Wenn es so ist , wie du sagst , so muß ich ja wohl zufrieden mit dir sein .
Ich bin es auch , wenn du fortfährst , artig zu sein .
Ja , das merke dir :
Kraus ist ein prachtvoller Junge , und du kränkst mich , wenn du Kraus unartig begegnest .
Sei nett zu ihm .
Ganz ausdrücklich wünsche ich das .
Aber sei nicht traurig .
Sieh doch , ich mache dir ja keine Vorwürfe .
Welch ein verzogener , verwöhnter Aristokratensohn !
Kraus ist ein so guter Mensch .
Nicht wahr , Kraus ist ein guter Mensch , Jakob ? "
- Ich sagte :
" Ja . "
Nichts weiter als ja , und dann mußte ich plötzlich ziemlich dumm lachen , ich wußte gar nicht warum .
Sie schüttelte den Kopf und ging .
Warum ich nur habe lachen müssen ?
Noch jetzt weiß ich es nicht .
Aber die Sache ist ja auch viel zu unbedeutend .
Wann werde ich zu Geld gelangen ?
Diese Frage scheint mir bedeutsam .
Das Geld besitzt in meinen Augen gegenwärtig einen vollkommen idealen Wert .
Wenn ich mir den Klang eines Goldstückes vorstelle , werde ich beinahe rasend .
Ich habe zu essen : Pfui .
Ich möchte reich sein und den Kopf zerschmettert haben .
Ich mag bald überhaupt nichts mehr essen .
Wenn ich reich wäre , würde ich keineswegs um die Erde reisen .
Zwar , das wäre ja gar nicht so übel .
Aber ich sehe nichts Berauschendes dahinter , das Fremde flüchtig kennen zu lernen .
Im allgemeinen würde ich es verschmähen , mich , wie man so sagt , weiter auszubilden .
Mich würde eher die Tiefe , die Seele , als die Ferne und Weite locken .
Das Naheliegende zu untersuchen würde mich reizen .
Ich kaufte mir auch gar nichts .
Ich würde mir keinen Besitz anschaffen .
Elegante Kleider , feine Wäsche , einen Zylinder , bescheidene goldene Manschettenknöpfe , lange Lackschuhe , das wäre ungefähr alles , damit würde ich losziehen .
Kein Haus , keinen Garten , keinen Diener , doch , ja , einen Diener , einen würdevollen braven Kraus würde ich mir engagieren .
Und nun könnte es losgehen .
Da würde ich im dampfenden Nebel auf die Straße gehen .
Der Winter mit seiner melancholischen Kälte würde vorzüglich zu meinen Goldstücken passen .
Die Banknoten trüge ich in der einfachen Brieftasche .
Zu Fuß ginge ich einher , ganz wie gewöhnlich , in der unbewußt-geheimen Absicht , es mich nicht so sehr merken zu lassen , wie fürstlich reich ich wäre .
Vielleicht würde es auch schneien .
Mir egal , im Gegenteil , mir sehr recht .
Weicher Schneefall zwischen den abendlich leuchtenden Laternen .
Das würde glitzern , reizend .
Nie im Leben würde es mir einfallen , in eine Droschke zu steigen .
Das tun Leute , die es entweder eilig haben oder nobel tun wollen .
Ich aber würde weiter gar nicht nobel tun wollen , und eilig hätte ich es schon ganz und gar nicht .
Gedanken würden mir kommen , indem ich so ginge .
Plötzlich würde ich irgend jemanden grüßen , sehr höflich , und siehe , es wäre ein Mann .
Ganz artig würde ich nun den Mann anschauen , und da würde ich sehen , daß es ihm schlecht geht .
Merken würde ich das , nicht sehen , so etwas merkt man , man sähe es kaum , aber an irgend etwas sähe man es .
Nun , und dieser Mann würde mich fragen , was ich will , und es läge Bildung in der Frage .
Diese Frage wäre ganz sanft und einfach gestellt worden , und das würde mich erschüttern .
Denn ich wäre ja auf etwas Barsches durchaus gefaßt gewesen .
" Etwas Tief-Wundes muß der Mann haben , " würde ich mir sogleich sagen , " sonst wäre er ärgerlich geworden . "
- Und dann würde ich gar nichts , absolut nichts sagen , sondern ich begnügte mich , ihn mehr und mehr anzuschauen .
Nicht scharf , o nein , ganz einfach , vielleicht sogar ein wenig fröhlich .
Und nun wüßte ich , wer er wäre .
Ich öffnete meine Brieftasche , entnähme ihr glatt zehntausend Mark in zehn einzelnen Noten und gäbe diese Summe dem Mann .
Darauf würde ich den Hut ebenso artig wie vorhin lüften , gute Nacht sagen und gehen .
Und es würde fortfahren zu schneien .
Im Gehen würde ich gar nichts mehr denken , ich könnte nicht , es wäre mir viel zu wohl zu so etwas .
Einem eklig darbenden Künstler , das wüßte ich ganz bestimmt , hätte ich es gegeben , das Geld .
Ja , das wüßte ich , denn ich würde mich nicht haben täuschen können .
O , eine große , eine heiße , eine aufrichtige Sorge würde es weniger in der Welt geben .
Nun , und in der folgenden Nacht würde ich vielleicht auf ganz andere Einfälle kommen .
Jedenfalls reiste ich nicht um die Erde , sondern ich beginge lieber irgend welche Tollheiten und Torheiten .
So z. B. könnte ich ja auch ein wahnsinnig reiches und lustbeladenes Gastmahl geben und Orgien nie_gesehener Art veranstalten .
Ich wollte es mich Hunderttausend kosten lassen .
Ganz bestimmt müßte das Geld auf sinnverwirrende Art und Weise verbraucht werden , denn nur das echt vertane Geld wäre ein schönes Geld - - gewesen .
Und eines Tages würde ich betteln , und da schiene die Sonne , und ich wäre so froh , über was , das würde ich gar nicht zu wissen begehren .
Und da käme Mama und fiele mir um den Hals - - . Nette Träumereien sind das !
Kraus hat etwas Altes in Gesicht und Wesen , und dieses Alte , das er ausstrahlt , führt den , der ihn anschaut , nach Palästina .
Abrahams Zeiten werden auf dem Antlitz meines Mitschülers wieder lebendig .
Das alte patriarchalische Zeitalter mit seinen mysteriösen Sitten und Landschaftsgegenden taucht hervor und schaut einen väterlich an .
Es ist mir , als wenn es damals lauter Väter mit steinalten Gesichtern und langen braunen , verwickelten Bärten gegeben hätte , was ja natürlich nur Unsinn ist , und doch ist vielleicht etwas , das Tatsachen entspricht , an dieser sonst ganz einfältigen Empfindung .
Ja , damals !
Schon dieses Wort : damals : wie elterlich und häuslich mutet es an .
Zu den alt-israelitischen Zeiten durfte es ruhig noch hin und wieder einen Papa Isaac oder Abraham geben , er genoß eben Achtung und lebte seine alten Tage in einem natürlichen Reichtum , der in Länderbesitz bestand , dahin .
Damals wob um das graue Alter etwas wie Majestät .
Greise waren damals wie Könige , und die gelebten Jahre bedeuteten dasselbe wie ebensoviele erworbene Hoheitsrechte .
Und wie jung diese Alten blieben .
Sie schufen noch mit hundert Jahren Söhne und Töchter .
Damals gab es noch keine Zahnärzte , und darum muß man annehmen , daß es damals überhaupt keine verdorbenen Zähne gab .
Und wie schön ist z. B. Joseph in Ägypten .
Kraus hat etwas von Joseph in Potiphars Haus .
Da ist er als jugendlicher Sklave verkauft worden , und siehe , man bringt ihn zu einem schwerreichen , redlichen und feinen Mann .
Da ist er nun Haussklave , aber er hat es ganz schön .
Die Gesetze waren damals vielleicht unhuman , gewiß , aber die Sitten und Gebräuche und Anschauungen waren dafür um so zarter und feiner .
Heute hätte es ein Sklave viel schlechter , Gott behüte !
Übrigens gibt es sehr , sehr viele Sklaven mitten unter uns modernen , hochmütig-fix und fertigen Menschen .
Vielleicht sind wir heutigen Menschen alle so etwas wie Sklaven , beherrscht von einem ärgerlichen , peitscheschwingenden , unfeinen Weltgedanken . -
Gut , und da verlangt nun eines Tages die Herrin des Hauses von Joseph , er solle ihr willig sein .
Wie merkwürdig , daß man solche uralten Treppen- und Türensachen heute genau noch weiß , daß es in alle Zeiten , von Mund zu Mund , fortlebt .
In allen Primarschulen wird die Geschichte gelehrt , und da will man an den Pedanten etwas aussetzen ?
Ich verachte die Leute , die die schöne Pedanterie unterschätzen , das sind durchaus geistlose , urteilsschwächliche Menschen .
Schön , und da weigert sich Kraus , wollte sagen Joseph .
Aber es könnte ganz gut Kraus sein , denn er hat so etwas Joseph-in-Ägypten- hafte .
" Nein , gnädige Frau , so etwas tue ich nicht .
Ich bin meinem Herrn Treue schuldig . "
- Da geht nun die übrigens reizende Frau und verklagt den jungen Diener , er habe eine Schnödigkeit begangen und habe seine Gebieterin zu einem Fehltritt verführen wollen .
Aber weiter weiß ich nichts .
Merkwürdig , ich weiß nicht , was jetzt Potiphar sagte und machte .
Den Nil sehe ich aber immer ganz deutlich .
Ja , Kraus könnte so gut Joseph sein wie nur irgend etwas .
Haltung , Gestalt , Gesicht , Frisur und Gebärde passen unvergleichlich .
Sogar seine leider Gottes immer noch nicht geheilte Hautauszeichnung .
Pickel sind etwas Biblisches , Orientalisches .
Und die Moral , der Charakter , der feste Besitz keuscher Jünglingstugenden ?
Wundervoll paßt das .
Joseph in Ägypten muß auch ein kleiner , sattelfester Pedant gewesen sein , sonst würde er der lüsternen Frau gehorcht und seinem Herrn die Treue gebrochen haben .
Kraus würde genau wie sein altägyptisches Ebenbild handeln .
Die Hände würde er beschwörend hochheben und mit halb flehender , halb strafender Miene sagen : " Nein , nein , das tue ich nicht " usw .
Der liebe Kraus .
Immer zieht es mich in Gedanken wieder nach ihm hin .
An ihm sieht man so recht , was das Wort Bildung eigentlich bedeutet .
Kraus wird später im Leben , wohin er auch kommen wird , immer als brauchbarer , aber als ungebildeter Mensch angesehen werden , für mich aber ist gerade er durchaus gebildet , und zwar hauptsächlich deshalb , weil er ein festes , gutes Ganzes darstellt .
Man kann gerade ihn eine menschliche Bildung nennen .
Das flattert um Kraus herum nicht von geflügelten und lispelnden Kenntnissen , dafür ruht etwas in ihm , und er , er ruht und beruht auf etwas .
Man kann sich mit der Seele selber auf ihn verlassen .
Er wird nie jemanden hintergehen oder verleumden , nun , das vor allen Dingen , dieses Nicht-Schwatzhafte , nenne ich Bildung .
Wer schwatzt , ist ein Betrüger , er kann ein ganz netter Mensch sein , aber seine Schwäche , alles , was er gerade denkt , so herauszuschwatzen , macht ihn zum gemeinen und schlechten Gesellen .
Kraus bewahrt sich , er behält immer etwas für sich , er glaubt , es nicht nötig zu haben , so drauf los zu reden , und das wirkt wie Güte und lebhaftes Schonen .
Das nenne ich Bildung .
Kraus ist unliebenswürdig und oft ziemlich grob gegen Menschen seines Alters und seines Geschlechtes , und gerade deshalb mag ich ihn so gern , denn das beweist mir , daß er sich auf den brutalen und gedankenlosen Verrat nicht versteht .
Er ist treu und anständig gegen alle .
Denn das ist es ja : aus gemeiner Liebenswürdigkeit pflegt man meist hinzugehen und Ruf und Leben seines Nachbarn , seines Kameraden , ja seines Bruders auf die entsetzlichste Weise zu schänden .
Kraus kennt wenig , aber er ist nie , nie gedankenlos , er unterwirft sich immer gewissen selbstgestellten Geboten , und das nenne ich Bildung .
Was an einem Menschen liebevoll und gedankenvoll ist , das ist Bildung .
Und dann ist ja noch so vieles .
So von aller und jeder , auch der kleinsten Selbstsucht entfernt , dagegen aber der Selbstzucht so nah zu sein , wie Kraus , das ist es , wie ich denke , was Fräulein Benjamenta veranlaßt hat zu sagen :
" Nicht wahr , Jakob , Kraus ist gut ? " -
Ja , er ist gut .
Wenn ich diesen Kameraden verliere , gehen mir Himmelreiche verloren , ich weiß es .
Und ich fürchte mich jetzt fast , ferner mit Kraus in ausgelassener Weise zu zanken .
Ich möchte ihn nur noch anschauen , immer , immer anschauen , denn ich werde mich ja später mit seinem Bild begnügen müssen , da uns beide ja doch das gewaltsame Leben trennen wird .
Ich verstehe jetzt auch , warum Kraus keine äußeren Vorzüge , keine körperlichen Zierlichkeiten besitzt , warum ihn die Natur so zwerghaft zerdrückt und verunstaltet hat .
Sie will irgend etwas mit ihm , sie hat etwas mit ihm vor , oder sie hat von Anfang an etwas mit ihm vorgehabt .
Dieser Mensch ist der Natur vielleicht zu rein gewesen , und deshalb hat sie ihn in einen unansehnlichen , geringen , unschönen Körper geworfen , um ihn vor den verderblichen äußeren Erfolgen zu bewahren .
Vielleicht ist es auch anders gewesen , und die Natur ist ärgerlich und boshaft gewesen , als sie Kraus schuf .
Aber wie leid muß es ihr jetzt tun , ihn stiefmütterlich behandelt zu haben .
Und wer weiß .
Vielleicht freut sie sich des anmutlosen Meisterwerkes , das sie hervorgebracht hat , und wirklich , sie hätte Ursache , sich zu freuen , denn dieser ungraziöse Kraus ist schöner als die graziösesten und schönsten Menschen .
Er glänzt nicht mit Gaben , aber mit dem Schimmer eines guten und unverdorbenen Herzens , und seine schlechten , schlichten Manieren sind vielleicht trotz alles Hölzernen , das ihnen anhaftet , das Schönste , was es an Bewegung und Manier in der menschlichen Gesellschaft geben kann .
Nein , Erfolg wird Kraus nie haben , weder bei den Frauen , die ihn trocken und häßlich finden werden , noch sonst im Weltleben , das an ihm achtlos vorübergehen wird .
Achtlos ?
Ja , man wird Kraus nie achten , und gerade das , daß er , ohne Achtung zu genießen , dahinleben wird , das ist ja das Wundervolle und Planvolle , das An-den-Schöpfer-Mahnende .
Gott gibt der Welt einen Kraus , um ihr gleichsam ein tiefes unauflösbares Rätsel aufzugeben .
Nun , und das Rätsel wird nie begriffen werden , denn siehe :
man gibt sich ja gar nicht einmal Mühe , es zu lösen , und gerade deshalb ist dieses Kraus-Rätsel ein so Herrliches und Tiefes : weil niemand begehrt , es zu lösen , weil überhaupt gar kein lebendiger Mensch hinter diesem namenlos unscheinbaren Kraus irgend eine Aufgabe , irgend ein Rätsel oder eine zartere Bedeutung vermuten wird .
Kraus ist ein echtes Gott-Werk , ein Nichts , ein Diener .
Ungebildet , gut genug gerade , die sauerste Arbeit zu verrichten , wird er jedermann vorkommen , und sonderbar : darin , nämlich in diesem Urteil , wird man sich auch nicht irren , sondern man wird durchaus recht haben , denn es ist ja wahr : Kraus , die Bescheidenheit selber , die Krone , der Palast der Demut , er will ja geringe Arbeiten verrichten , er kann_es und er will_es .
Er hat nichts anderes im Sinn , als zu helfen , zu gehorchen und zu dienen , und das wird man gleich merken und wird ihn ausnutzen , und darin , daß man ihn ausnutzt , liegt eine so strahlende , von Güte und Helligkeit schimmernde , goldene , göttliche Gerechtigkeit .
Ja , Kraus ist ein Bild rechtlichen , ganz , ganz eintönigen , einsilbigen und eindeutigen Wesens .
Niemand wird die Schlichtheit dieses Menschen verkennen , und deshalb wird ihn auch niemand achten , und er wird durchaus erfolglos bleiben .
Reizend , reizend , dreimal reizend finde ich das .
O , was Gott schafft , ist so gnädig , so reizvoll , mit Reizen und Gedanken über und über behangen .
Man wird denken , das sei sehr überspannt gesprochen .
Nun , das ist , ich muß es gestehen , noch lange nicht das Überspannteste .
Nein , kein Erfolg , kein Ruhm , keine Liebe werden Kraus je blühen , das ist sehr gut , denn die Erfolge haben nur die Zerfahrenheit und einige billige Weltanschauungen zur unabstreifbaren Begleitschaft .
Man spürt es sofort , wenn Menschen Erfolge und Anerkennung aufzuweisen haben , sie werden quasi dick von sättigender Selbstzufriedenheit , und ballonhaft bläst sie die Kraft der Eitelkeit auf , zum Niewiedererkennen .
Gott behüte einen braven Menschen vor der Anerkennung der Menge .
Macht es ihn nicht schlecht , so verwirrt und entkräftet es ihn bloß .
Dank , ja .
Dank ist etwas ganz Anderes .
Doch einem Kraus wird man nicht einmal danken , und auch das ist durchaus nicht nötig .
Alle zehn Jahre wird jemand vielleicht einmal zu Kraus sagen : " Danke , Kraus " , und dann wird er ganz dumm , gräßlich dumm lächeln .
Liederlichen wird mein Kraus nie , denn es werden sich ihm immer große , lieblose Schwierigkeiten entgegenstellen .
Ich glaube , ich , ich bin einer der ganz wenigen , vielleicht der einzige , oder vielleicht sind es zwei oder drei Menschen , die wissen werden , was sie an Kraus besitzen oder besessen haben .
Das Fräulein , ja , die weiß es .
Auch Herr Vorsteher vielleicht .
Ja ganz gewiß .
Herr Benjamenta ist gewiß tiefblickend genug , um wissen zu können , was Kraus wert ist .
Ich muß aufhören , heute , mit Schreiben .
Es reißt mich zu sehr hin .
Ich verwildere .
Und die Buchstaben flimmern und tanzen mir vor den Augen .
Hinter unserem Haus liegt ein alter , verwahrloster Garten .
Wenn ich ihn morgens früh vom Bureaufenster aus sehe ( ich muß mit Kraus zusammen jeden zweiten Morgen aufräumen ) , tut er mir leid , daß er so unbesorgt daliegen muß , und ich hätte jedesmal Lust , hinunterzugehen und ihn zu pflegen .
Das sind übrigens Sentimentalitäten .
Mag der Teufel die irreführenden Weichseligkeiten holen .
Es gibt bei uns im Institut Benjamenta noch ganz andere Gärten .
In den wirklichen Garten zu gehen , ist verboten .
Kein Zögling darf ihn betreten , warum eigentlich , weiß ich nicht .
Aber wie gesagt , wir haben einen anderen , vielleicht schöneren Garten als der tatsächliche ist .
In unserem Lehrbuch :
" Was bezweckt die Knabenschule " heißt es auf Seite acht : " Das gute Betragen ist ein blühender Garten . " -
Also in solchen , in geistigen und empfindlichen Gärten , dürfen wir Schüler herumspringen .
Nicht übel .
Führt sich einer von uns schlecht auf , so wandelt er wie von selber in einer garstigen , finsteren Hölle .
Hält er sich aber brav , so geht er unwillkürlich zum Lohn zwischen schattigem , sonnenbetupftem Grün spazieren .
Wie verführerisch !
Und es liegt meiner armseligen Knabenmeinung nach etwas Wahres in dem netten Lehrsatz .
Benimmt sich einer dumm , so muß er sich schämen und ärgern , und das ist die peinliche Hölle , in welcher er schwitzt .
Ist er dagegen aufmerksam gewesen und hat er sich geschmeidig benommen , so nimmt ihn jemand Unsichtbares an der Hand , etwas Trauliches , Genienhaftes , und das ist der Garten , die gute Fügung , und er lustwandelt nun unwillkürlich in traulichen , grünlichen Gefilden .
Darf ein Schüler des Institutes Benjamenta zufrieden mit sich sein , was selten vorkommt , da es bei uns von Vorschriften hagelt , blitzt , schneit und regnet , so duftet es um ihn herum , und das ist der süße Duft des bescheidenen , aber wacker erkämpften Lobes .
Lobt Fräulein Benjamenta , dann duftet es , und rügt sie , dann wird es im Schulzimmer finster .
Welch eine sonderbare Welt : unsere Schule .
Ist ein Zögling artig und schicklich gewesen , so wölbt sich plötzlich über seinem Kopf irgend etwas , und das ist der blaue , unersetzliche Himmel über dem eingebildeten Garten .
Sind wir Eleven recht geduldig gewesen , und haben wir uns in der Anstrengung recht brav aufrecht gehalten , haben wir , was man warten und ausharren nennt , können , dann goldet es mit einem Mal vor unseren etwas ermüdeten Augen , und dann wissen wir , daß es die himmlische Sonne ist .
Dem , der sich aufrichtig und berechtigt müde fühlt , scheint die Sonne .
Und haben wir uns auf keinen unlauteren Wünschen zu ertappen brauchen , was immer so unglücklich macht , so horchen wir : ei , was ist das ?
Da singen ja Vögel !
Nun , dann sind es eben die glücklichen , schönbefiederten kleinen Sänger unseres Gartens gewesen , die da gesungen und anmutig gelärmt haben .
Jetzt sage man selber : Brauchen wir Zöglinge des Institutes Benjamenta noch sonstige Gärten , als die , die wir uns selbst schaffen ?
Wir sind reiche Herren , wenn wir uns zierlich und anständig aufführen .
Wenn z. B. ich wünsche , Geld zu besitzen , was leider nur allzu oft vorkommt , dann sinke ich in die tiefen Schlünde des hoffnungslosen , wütenden Begehrens , o , dann leide und schmachte ich , und ich muß am Erretten zweifeln .
Und blicke ich dann Kraus an , dann erfaßt mich ein tiefes , murmelndes , quellenhaftes , wundervolles Behagen .
Das ist der friedliche Bescheidenheitsquell , der in unserem Garten auf und nieder plätschert , und ich bin dann so glücklich , so gut aufgelegt , so gestimmt auf das Gute .
Ah , und ich sollte Kraus nicht lieben ?
Ist einer von uns , d. h. wäre einer von uns ein Held gewesen , hätte er etwas Mutiges mit Gefahr seines Lebens vollbracht ( so heißt es im Lehrbuch ) , so würde er in das marmorne , mit Wandmalereien geschmückte Säulenhaus treten dürfen , das im Grün unseres Gartens heimlich verborgen liegt , und dort würde ihn ein Mund küssen .
Was für ein Mund , das steht nicht im Lehrbuch .
Und wir sind ja doch keine Helden .
Wozu auch !
Erstens fehlt uns die Gelegenheit , uns heroisch zu benehmen , und zweitens , ich weiß nicht recht , ob z. B. Schilinski oder der lange Peter für Aufopferungen zu haben wären .
Unser Garten ist auch ohne Küsse , Helden und Säulenpavillons eine hübsche Einrichtung , glaube ich .
Mich friert es , wenn ich von Helden rede .
Da schweige ich lieber .
Ich fragte Kraus neulich , ob er nicht auch von Zeit zu Zeit etwas wie Langeweile empfinde .
Er schaute mich vorwurfsvoll mit zurechtweisenden Augen an , überlegte ein wenig und sagte : " Langeweile ?
Du bist wohl nicht ganz gescheit , Jakob .
Und erlaube mir , dir zu sagen , daß du ebenso naive wie sündhafte Fragen stellst .
Wer wird sich in der Welt langweilen ?
Vielleicht du .
Ich nicht , das sage ich dir .
Ich lerne hier aus dem Buch auswendig .
Nun ?
Habe ich da Zeit , mich zu langweilen ?
Welch törichte Fragen .
Noble Leute langweilen sich vielleicht , nicht Kraus , und du langweilst dich , sonst würdest du gar nicht auf den Gedanken kommen , und würdest gar nicht hierher zu mir kommen , so etwas zu fragen .
Man kann immer , wenn nicht nach außen , so doch wenigstens nach innen , ein wenig tätig sein , man kann murmeln , Jakob .
Gewiß wolltest du mich schon oft auslachen wegen meines Murmelns , aber , höre und sage mir , weißt du denn , was ich murmle ?
Worte , lieber Jakob .
Ich murmle und wiederhole immer Worte .
Das ist gesund , kann ich dir sagen .
Verschwinde mit deiner Langeweile .
Langeweile gibt es bei Menschen , die da immer gewärtigen , es solle von außen her etwas Aufmunterndes auf sie zutreten .
Wo üble Laune , wo Sehnsucht ist , da ist Langeweile .
Gehe nur , belästige mich nicht , laß mich lernen , gehe du an irgend ein Stück Aufgabe .
Plag dich an etwas , dann langweilst du dich gewiß nicht mehr .
Und bitte , vermeide in Zukunft solcherlei einen fast aus aller Fassung bringende , über und über dumme Fragen . "
- Ich fragte :
" Hast du jetzt ausgeredet , Kraus ? " und lachte .
Doch er blickte mich nur ganz mitleidig an .
Nein , Kraus kann sich nie , nie langweilen .
Ich wußte das ja zur Genüge , ich habe ihn nur wieder einmal reizen wollen .
Wie unschön ist das von mir , und wie leer .
Ich muß mich entschieden besseren .
Wie schlecht das ist , Kraus immer äffen und ärgern zu wollen .
Und doch : wie reizend .
Seine Vorwürfe klingen so lustig .
Es ist etwas so Vater-Abraham-mäßiges in seinen Ermahnungen .
Was hat mir doch vor ein paar Tagen Furchtbares geträumt .
Ich war im Traum ein ganz schlechter , schlechter Mensch geworden , wodurch , das wollte sich mir nicht offenbaren .
Roh war ich vom Wirbel bis zur Sohle , ein aufgedonnertes , unbeholfenes , grausames Stück Menschenfleisch .
Ich war dick , es ging mir scheinbar ganz glänzend .
Ringe blitzten an den Fingern meiner unförmigen Hände , und ich besaß einen Bauch , an dem zentnerschwere , fleischige Würde nachlässig herabhing .
Ich fühlte so recht , daß ich befehlen und Launen losschießen durfte .
Neben mir , auf einem reichbesetzten Tisch , prangten die Gegenstände einer nicht zu befriedigenden Eß- und Trinkbegierde , Wein- und Likörflaschen , und die auserlesensten kalten Gerichte .
Ich konnte nur zulangen , und das tat ich von Zeit zu Zeit .
An den Messern und Gabeln klebten die Tränen zugrunde gerichteter Gegner , und mit den Gläsern klangen die Seufzer vieler armer Leute , aber die Tränenspuren reizten mich nur zum Lachen , während mir die hoffnungslosen Seufzer wie Musik ertönten .
Ich brauchte Tafelmusik und ich hatte sie .
Anscheinend hatte ich sehr , sehr gute Geschäfte auf Kosten des Wohlergehens anderer gemacht , und das freute mich in alle Gedärme hinein .
O , o , wie mich doch das Bewußtsein , einigen Mitmenschen den Boden unter den Füßen weggezogen zu haben , erlabte !
Und ich griff zur Klingel und schellte .
Ein alter Mann trat herein , Pardon , kroch herein , es war die Lebensweisheit , und sie kroch an meine Stiefel heran , um sie zu küssen .
Und ich erlaubte dem entwürdigten Wesen das .
Man denke : die Erfahrung , der gute edle Grundsatz :
er leckte mir die Füße .
Das nenne ich Reichtum .
Weil es mir gerade so einfiel , klingelte ich wieder , denn es juckte mich , ich weiß nicht mehr , wo , nach sinnreicher Abwechslung , und es erschien ein halbwüchsiges Mädchen , ein wahrer Leckerbissen für mich Wüstling .
Kindliche Unschuld , so nannte sie sich , und begann , die Peitsche , die neben mir lag , flüchtig mit dem Auge streifend , mich zu küssen , was mich unglaublich auffrischte .
Die Angst und die frühzeitige Verdorbenheit flatterten in den schönen rehgleichen Augen des Kindes .
Als ich genug hatte , klingelte ich wieder , und es trat auf : der Lebensernst , ein schöner , schlanker , junger , aber armer Mensch .
Es war einer meiner Lakaien , und ich befahl ihm stirnrunzelnd , mir das Ding da , wie hieß es schon , nun ja , habe ich es endlich , mir die Lust zur Arbeit hereinzuführen .
Bald darauf trat der Eifer herein , und ich machte mir das Vergnügen , ihm , dem Voll-Menschen , dem prachtvoll gebauten Arbeitsmann , eins mit der Peitsche überzuknallen , mitten ins ruhig wartende Gesicht , zum rein Kaputtlachen .
Und das Streben , das urwüchsige Schaffen , es ließ sich es gefallen .
Nun allerdings lud ich es mit einer trägen , gönnerhaften Handbewegung zum Glas Wein ein , und das dumme Luder schlürfte den Schandewein .
" Gehe , sei für mich tätig , " sagte ich , und es ging .
Nun kam die Tugend , eine weibliche Gestalt von für jeden Nicht-ganz-Hartgefrorenen überwältigender Schönheit , weinend herein .
Ich nahm sie auf meinen Schoß und trieb Unsinn mit ihr .
Als ich ihr den unaussprechlichen Schatz geraubt hatte , das Ideal , jagte ich sie höhnisch hinaus , und , nun pfiff ich , und es erschien Gott selber .
Ich schrie : " Was ?
Auch du ? "
Und erwachte schweißtriefend , - wie froh war ich doch , daß es nur ein böser Traum war .
Mein Gott , ich darf noch hoffen , es werde noch eines Tages etwas aus mir .
Wie im Traum doch alles an die Grenze des Wahnsinns streift .
Kraus würde mich schön anglotzen , wenn ich ihm das erzählte .
Die Art , wie wir Fräulein verehren , ist doch eigentlich komisch .
Aber ich z. B. bin sehr fürs Komische , es enthält unbedingt Zauber .
Um acht beginnt immer der Unterricht .
Nun , da sitzen wir Zöglinge schon zehn Minuten vorher voll Spannung und Erwartung an unseren Plätzen und schauen unbeweglich nach der Türe , in welcher die Vorgesetzte erscheinen soll .
Auch für diese Art von vorauseilender Respektsbezeugung haben wir exakte Vorschriften .
Es gilt als Gesetz , nach derjenigen hinzuhorchen , ob sie bald komme , die dann und dann bestimmt eintreten wird .
Wir Schüler sollen uns echt dummjungenhaft zehn Minuten lang auf das Aufstehen von unseren Plätzen vorbereiten .
Eine kleine Entehrung liegt in all diesen kleinlichen Forderungen , die eigentlich lächerlich sind , aber uns soll nichts an unserer persönlichen , sondern uns soll alles an der Ehre des Institutes Benjamenta gelegen sein , und das ist wahrscheinlich auch das Richtigste , denn hat ein Schüler Ehre ?
Keine Rede .
Recht bevormundet und gezwiebelt zu werden , das höchstens kann eine Ehre für uns sein .
Gedrillt werden ist für Zöglinge ehrenhaft , sonnenklar ist das .
Aber wir rebellieren auch gar nicht .
Würde uns nie einfallen .
Wir haben , zusammengerechnet , ja so wenig Gedanken .
Ich habe vielleicht noch die meisten Gedanken , leicht möglich ist das , aber ich verachte im Grunde genommen mein ganzes Denkvermögen .
Ich schätze nur Erfahrungen , und die sind in der Regel von allem Denken und Vergleichen vollkommen unabhängig .
So schätze ich an mir , wie ich eine Türe öffne .
Im Türöffnen liegt mehr verborgenes Leben als in einer Frage .
Nun ja , es regt eben alles zum Fragen und Vergleichen und Erinnern an .
Gewiß muß man auch denken , sehr sogar .
Aber sich fügen , das ist viel , viel feiner als denken .
Denkt man , so sträubt man sich , und das ist immer so häßlich und Sachen-verderbend .
Die Denker , wenn sie nur wüßten , wieviel sie verderben .
Einer , der geflissentlich nicht denkt , tut irgend etwas , nun , und das ist nötiger .
Zehntausende von Köpfen arbeiten in der Welt überflüssig .
Sonnen-sonnenklar ist das .
Der Lebensmut geht den Menschengeschlechtern verloren mit all dem Abhandeln und Erfassen und Wissen .
Wenn z. B. ein Zögling des Institutes Benjamenta nicht weiß , daß er artig ist , dann ist er es .
Weiß er es , dann ist seine ganze unbewußte Zier und Artigkeit weg , und er begeht irgend einen Fehler .
Ich laufe gern Treppen hinunter .
Welch ein Geschwätz .
Es ist hübsch , bis zu einem gewissen Grad wohlhabend zu sein und seine weltlichen Verhältnisse ein wenig geordnet zu haben .
Ich bin in der Wohnung meines Bruders Johann gewesen , und ich muß sagen , sie hat mich angenehm überrascht , sie ist geradezu Alt- Von Guntensch eingerichtet .
Schon daß der Fußboden ganz mit einem weichen , mattblauen Teppich belegt und bedeckt ist , hat mir außerordentlich imponiert .
Überall in den Zimmern herrscht Geschmack , doch nicht auffälliger Geschmack , sondern nur bestimmte , feine Wahl .
Die Möbel sind anmutig verteilt , das mutet gleich beim Eintritt in die Wohnung wie ein höflicher , zarter Gruß an .
Spiegel sind an den Wänden .
Es ist sogar ein ganz großer Spiegel da , der vom Boden bis an die Decke hinaufreicht .
Die einzelnen Gegenstände sind alt und doch nicht , elegant und doch nicht , reich und doch nicht .
Es ist Wärme und Sorgfalt in den Räumen , das fühlt man , und das ist angenehm .
Ein freier sorglicher Wille hat die Spiegel aufgehängt und dem zierlich geschweiften Ruhebett seinen Platz angewiesen .
Ich müßte kein von Gunten sein , wenn ich das nicht merkte .
Sauber und staubfrei ist alles , und doch glänzt das alles eigentlich nicht , sondern es blickt einen alles ruhig und heiter an .
Nichts will scharf in die Augen stechen .
Nur das zusammenhängende Ganze hat einen vielbedeutenden , liebevollen Ausdruck .
Eine schöne schwarze Katze lag auf einem dunkelroten Plüschsessel , wie die schwärzliche weiche Behaglichkeit , eingebettet in Rot .
Sehr hübsch .
Wäre ich Maler , so würde ich die Traulichkeit solch eines Tierbildes malen .
Der Bruder kam mir sehr freundlich entgegen , und wir Stunden einander gegenüber wie wohlabgemessene Weltleute , die wissen , was in der Schicklichkeit für ein Vergnügen liegen kann .
Wir plauderten .
Da kam ein großer , schlanker , schneeweißer Hund auf uns zugesprungen , in anmutigen , Freude ausdrückenden Sätzen .
Nun , ich streichelte das Tier natürlich .
Alles ist schön an der Wohnung Johanns .
Er hat alle einzelnen Gegenstände und Stücke mit Liebe und Mühe in Althändlerläden aufgestöbert , bis er das Wohnlichste und Anmutigste zusammenhatte .
Mit dem Einfachen hat er verstanden , etwas in bescheidenen Grenzen Vollkommenes zu schaffen , derart , daß in seiner Wohnung das Taugliche und Nützliche sich mit dem Schönen und Graziösen wie zu einem Stuben-Gemälde verbindet .
Bald darauf , indem wir so dasaßen , erschien eine junge Frau , welcher Johann mich vorstellte .
Wir tranken später Tee und waren sehr heiter .
Die Katze miaute nach Milch , und der große schöne Hund wollte von dem Gebäck zu essen haben , das auf dem Thetisch lag .
Beider Tiere Wünsche wurden dann auch befriedigt .
Es wurde Abend , und ich mußte nach Hause gehen .
Man lernt hier im Institut Benjamenta Verluste empfinden und ertragen , und das ist meiner Meinung nach ein Können , eine Übung , ohne die der Mensch , mag er noch so bedeutend sein , stets ein großes Kind , eine Art weinerlicher Schreihals bleiben wird .
Wir Zöglinge hoffen nichts , ja , es ist uns streng untersagt , Lebenshoffnungen in der Brust zu hegen , und doch sind wir vollkommen ruhig und heiter .
Wie mag das kommen ?
Fühlen wir über unseren glattgekämmten Köpfen etwas wie Schutzengel hin und her schweben ?
Ich kann es nicht sagen .
Vielleicht sind wir heiter und sorgenlos aus Beschränktheit .
Auch möglich .
Aber ist deshalb die Heiterkeit und Frische unserer Herzen weniger wert ?
Sind wir überhaupt dumm ?
Wir vibrieren .
Unbewußt oder bewußt nehmen wir auf vieles ein wenig Bedacht , sind da und dort mit den Geistern , und die Empfindungen schicken wir nach allen möglichen Windrichtungen aus , Erfahrungen und Beobachtungen einsammelnd .
Uns tröstet so vieles , weil wir im allgemeinen sehr eifrige , sucherische Leute sind , und weil wir uns selber wenig schätzen .
Wer sich selbst sehr schätzt , ist vor Entmutigungen und Herabwürdigungen nie sicher , denn stets begegnet dem selbstbewußten Menschen etwas Bewußtseinfeindliches .
Und doch sind wir Schüler durchaus nicht ohne Würde , aber es ist eine sehr , sehr bewegungsfähige , kleine , bieg- und schmiegsame Würde .
Übrigens legen wir sie an und ab je nach Erfordernissen .
Sind wir Produkte einer höheren Kultur , oder sind wir Naturkinder ?
Auch das kann ich nicht sagen .
Das eine weiß ich bestimmt : wir warten !
Das ist unser Wert .
Ja , wir warten , und wir horchen gleichsam ins Leben hinaus , in diese Ebene hinaus , die man Welt nennt , aufs Meer mit seinen Stürmen hinaus .
Fuchs ist übrigens ausgetreten .
Mir ist das sehr lieb .
Ich wußte mit diesem Menschen nichts anzufangen .
Ich habe mit Herrn Benjamenta gesprochen , d. h. er hat mit mir gesprochen .
" Jakob , " sagte er zu mir , " sage mir , findest du nicht , daß das Leben , das du hier führst , karg ist , karg ?
Was ?
Ich möchte gern deine Meinung wissen .
Sprich offen . "
- Ich zog es vor , zu schweigen , doch nicht aus Trotz .
Der Trotz ist mir längst vergangen .
Aber ich schwieg , und zwar ungefähr so , als wenn ich hätte sagen wollen :
" Mein Herr , gestatten Sie mir , zu schweigen .
Auf eine solche Frage könnte ich höchstenfalls etwas Unziemliches sagen . " - Herr Benjamenta schaute mich aufmerksam an , und ich glaubte , er verstehe mein Schweigen .
Es war auch tatsächlich so , denn er lächelte plötzlich und sagte :
" Nicht wahr , Jakob , du wunderst dich ein wenig , wie wir hier im Institut so träge , so gleichsam geistesabwesend dahinleben ?
Ist es so ?
Ist dir das aufgefallen ?
Doch ich will dich durchaus nicht zu unverschämten Antworten verleiten .
Ich muß dir ein Geständnis machen , Jakob .
Höre , ich halte dich für einen klugen , anständigen jungen Menschen .
Jetzt , bitte , werde frech .
Und ich fühle mich veranlaßt , dir noch etwas anderes zu gestehen : ich , dein Vorsteher , ich meine es gut mit dir .
Und noch ein drittes Geständnis :
Ich habe eine seltsame , eine ganz eigentümliche , jetzt nicht mehr zu beherrschende Vorliebe für dich gewonnen .
Du wirst jetzt mir gegenüber recht frech sein , nicht wahr , Jakob ?
Nicht wahr , junger Mensch , jetzt , nachdem ich mir vor dir eine Blöße gegeben habe , wirst du es wagen , mich mit Wegwerfung zu behandeln ?
Und du wirst jetzt trotzen ?
Ist es so , sage , ist es so ? "
- Wir beide , der bärtige Mann und ich , der Junge , schauten einander in die Augen .
Es glich einem innerlichen Wettkampf .
Schon wollte ich den Mund öffnen und irgend etwas Unterwürfiges sagen , doch ich vermochte mich zu beherrschen und schwieg .
Und nun bemerkte ich , daß der riesenhaft gebaute Herr Vorsteher leise , leise zitterte .
Von diesem Augenblick an war etwas Bindendes zwischen uns getreten , das fühlte ich , ja , ich fühlte es nicht nur , ich wußte es sogar .
" Herr Benjamenta achtet mich , " sagte ich mir , und infolge dieser wie ein Blitz auf mich niederstrahlenden Erkenntnis fand ich es für schicklich , ja sogar für geboten , zu schweigen .
Wehe mir , wenn ich ein einziges Wort gesagt hätte .
Ein einziges Wort würde mich zum unbedeutsamen kleinen Eleven erniedrigt haben , und soeben hatte ich doch eine ganz unzöglinghafte , menschliche Höhe erklommen .
Das alles empfand ich tief , und wie ich jetzt weiß , habe ich mich in jenem Moment ganz richtig benommen .
Der Vorsteher , der dicht zu mir getreten war , sagte dann folgendes :
" Es ist etwas Bedeutendes an dir , Jakob . "
- Er hielt inne , und ich fühlte sogleich , warum .
Er wollte ohne Zweifel sehen , wie ich mich jetzt benähme .
Ich merkte das , und daher verzog ich auch nicht eine einzige Muskel meines Gesichtes , sondern schaute starr , wie gedankenlos , vor mich hin .
Dann schauten wir uns wieder an .
Ich blickte meinen Herrn Vorsteher streng und hart an .
Ich heuchelte irgend welche Kälte , irgend welche Oberflächlichkeit , während ich doch am liebsten hätte in sein Gesicht lachen mögen , vor Freude .
Aber ich sah es zu gleicher Zeit :
er war zufrieden mit meiner Haltung , und er sagte endlich :
" Mein Junge , gehe wieder an deine Arbeit .
Beschäftige dich mit etwas .
Oder gehe dich mit Kraus unterhalten .
Gehe . "
- Ich verbeugte mich tief , ganz gewohnheitsgemäß , und entfernte mich .
Draußen im Korridor blieb ich wieder , wie schon einmal früher , eigentlich auch ganz gewohnheitsgemäß , stehen und horchte durchs Schlüsselloch , ob sich da drinnen etwas rege .
Aber es war alles still .
Ich mußte leise und glücklich lachen , ganz dumm lachen , und dann ging ich ins Schulzimmer , wo ich Kraus im Halbdunkel , scheinbar von einem bräunlichen Lichtstrahl umflossen , sitzen sah .
Ich blieb lange stehen .
Tatsächlich , lange stand ich so , denn ich konnte etwas , irgend etwas , nicht ganz begreifen .
Es war mir , als sei ich zu Hause .
Nein , es war mir , als sei ich noch nicht geboren , als schwämme ich in etwas Vor-Gebürtigem .
Es wurde mir heiß und meerhaft-undeutlich vor den Augen .
Ich ging zu Kraus und sagte ihm :
" Du , Kraus , ich habe dich lieb . " - Er knurrte , was das für Redensarten seien .
Rasch zog ich mich in meine Kammer zurück .
- Und jetzt ?
Sind wir Freunde ?
Sind Herr Benjamenta und ich Freunde ?
Jedenfalls besteht zwischen uns beiden ein Verhältnis , aber was für eins ?
Ich verbiete mir , mir das erklären zu wollen .
Ich will hell , leicht und heiter bleiben .
Fort mit den Gedanken .
Noch immer habe ich keine Stelle .
Herr Benjamenta sagt mir , er bemühe sich .
In ganz schroffem Gebieterton sagt er das und fügt hinzu :
" Wie ?
Ungeduldig ?
Kommt alles .
Warte ! " -
Von Kraus heißt es unter den Zöglingen , daß er vielleicht bald abgehe .
Abgehen , das ist ein so berufshaft-komischer Ausdruck .
Kraus geht bald fort ?
Hoffentlich sind das nur leere Gerüchte , Institut-Sensationen .
Es gibt auch unter uns Zöglingen etwas wie einen aus Luft und Nichts herausgegriffenen Zeitungenklatsch .
Die Welten , merke ich , sind überall dieselben .
Ich bin übrigens wieder bei meinem Bruder Johann von Gunten gewesen , und dieser Mensch hat den Mut gehabt , mich unter Leute zu führen .
Ich habe am Tisch reicher Leute gegessen , und ich werde die Art und Weise , wie ich mich benommen habe , nie vergessen .
Einen alten , aber immerhin feierlichen Gehrock habe ich angehabt .
Gehröcke machen alt und gewichtig .
Nun , und da habe ich getan wie ein Mann von jährlich zwanzigtausend Mark Einkommen , mindestens .
Ich habe mit Leuten geredet , die mir den Rücken gedreht hätten , wenn sie hätten ahnen können , wer ich bin .
Frauen , die mich total verachten würden , wenn ich ihnen sagte , ich sei nur Zögling , haben mir zugelächelt und mir gleichsam Kurage zugewunken .
Und ich bin verblüfft gewesen über meinen Appetit .
Wie gelassen man doch an fremden reichen Tischen zugreift .
Ich sah , wie es alle machten , und ich machte es talentvoll nach .
Wie gemein ist das .
Ich empfinde etwas wie Scham darüber , dort , nämlich in jenen Kreisen , ein fröhliches Eß- und Trinkgesicht gezeigt zu haben .
Von feiner Sitte habe ich wenig bemerkt .
Dagegen merkte ich , daß man mich als schüchternen Jungen empfunden hat , während ich doch ( in meinen Augen ) platzte vor Frechheit .
Johann benimmt sich gut in Gesellschaft .
Er besitzt die leichte angenehme Fasson eines Menschen , der etwas gilt , und der das auch weiß .
Sein Betragen ist für die Augen , die es betrachten , ein Labsal .
Rede ich zu gut von Johann ?
O nein .
Ich bin durchaus nicht verliebt in meinen Bruder , aber ich bemühe mich , ihn zu sehen , ganz , nicht nur halb .
Vielleicht ist das allerdings Liebe .
Meinetwegen .
Sehr schön war es auch im Theater , doch ich will mich darüber nicht weiter verbreiten .
Den feinen Rock habe ich dann wieder abgestreift .
O , es ist hübsch , in eines geschätzten Menschen Kleidern zu gehen und herumzuschwirren .
Ja , schwirren !
Das ist es .
Man zirpt und schwirrt so herum , dort , in den Kreisen der Gebildeten .
Dann bin ich wieder ins Institut gekrochen und in meinen Zöglingsanzug .
Ich bin gern hier , ich fühle es , und ich werde mich dummerweise später wahrscheinlich nach Benjamentas zurücksehnen , später , wenn ich etwas Großes geworden bin , doch ich werde ja nie , nie irgend etwas Großes , und ich zittere vor eigentümlicher Genugtuung , daß ich das zum voraus bestimmt weiß .
Ein Schlag wird mich eines Tages treffen , so ein recht vernichtender Schlag , und dann wird alles , werden alle diese Wirrnisse , diese Sehnsucht , diese Unkenntnis , dies alles , diese Dank- und Undankbarkeit , diese Lügen und Selbstbetruge , dies Wissen- Meinen und dies Doch-nie- etwas-Wissen zu Ende sein .
Doch ich wünsche zu leben , gleichviel wie .
Etwas mir Unverständliches ist vorgefallen .
Vielleicht hat es auch gar nichts zu bedeuten .
Ich bin sehr wenig geneigt , mich von Mysterien bewältigen zu lassen .
Ich saß , es war schon halb Nacht , ganz allein in der Schulstube .
Plötzlich stand Fräulein Benjamenta hinter mir .
Ich hatte sie nicht eintreten gehört , sie mußte also ganz leise die Türe geöffnet haben .
Sie fragte mich , was ich da mache , doch in einem Ton , daß ich gar nicht zu antworten brauchte .
Sie sagte sozusagen , indem sie fragte , sie wisse es schon .
Da gibt man natürlich keine Antwort mehr .
Sie legte , wie wenn sie müde gewesen wäre und der Stütze bedurft hätte , die Hand auf meine Achsel .
Da fühlte ich so recht , daß ich ihr gehörte , d. h. ihr gehörte ? -
Ja , einfach so ihr Angehörte .
Ich bin immer mißtrauisch gegenüber Empfindungen .
Aber daß ich da ihr , dem Fräulein , quasi gehörte , das war wahr empfunden .
Wir gehörten zusammen .
Natürlich mit Unterschied .
Doch wir Stunden uns mit einmal sehr nahe .
Immer , immer aber mit Unterschied .
Ich hasse es geradezu , so gar wenig oder keine Unterschiede zu empfinden .
Darin , daß Fräulein Benjamenta und ich zwei sehr verschieden geartete und gestellte Wesen waren , das zu spüren , darin lag für mich ein Glück .
Ich verachte es im übrigen , mich zu belügen .
Die Auszeichnungen und Vorteile , die nicht ganz , ganz echt sind , betrachte ich als meine Feinde .
Es war da also ein großer Unterschied .
Ja , was ist denn das ?
Komme ich über gewisse Unterschiede nicht hinaus ?
Doch da sagte das Fräulein plötzlich : " Komme ' mit .
Stehe auf und komme .
Ich will dir etwas zeigen . "
- Wir gingen zusammen .
Vor unseren Augen , wenigstens vor den meinigen ( vor ihren vielleicht nicht ) , lag alles in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt .
" Das sind die inneren Gemächer , " dachte ich , und ich täuschte mich auch nicht .
Es verhielt sich so , und meine liebe Lehrerin schien entschlossen zu sein , mir eine bisher verborgen gewesene Welt zu zeigen .
Doch ich muß Atem schöpfen .
Es war , wie gesagt , zuerst ganz dunkel .
Das Fräulein nahm mich bei der Hand und sagte in freundlicher Tonart :
" Siehe , Jakob , so wird es dunkel um dich sein .
Und da wird dich jemand dann an der Hand führen .
Und du wirst froh darüber sein und zum erstenmal tiefe Dankbarkeit empfinden .
Sei nicht mißgestimmt .
Es kommen auch Helligkeiten . "
- Kaum hatte sie das gesagt , so brannte uns ein weißes , blendendes Licht entgegen .
Ein Tor zeigte sich , und wir gingen , sie voran , ich dicht hinter ihr , durch die Öffnung hindurch , ins herrliche Licht-Feuer hinein .
Ich hatte noch nie etwas so Glanzvolles und Vielsagendes gesehen , daher war ich auch wie betäubt .
Das Fräulein sprach lächelnd , noch freundlicher wie vorher :
" Blendet dich das Licht ?
Dann strenge dich an , es zu ertragen .
Es bedeutet Freude , und man muß sie zu empfinden und zu ertragen wissen .
Du kannst meinetwegen auch denken , es bedeute dein zukünftiges Glück , doch sieh , was geschieht da ?
Es schwindet .
Das Licht zerfällt .
Also , Jakob , sollst du kein langes , kein anhaltendes Glück haben .
Schmerzt dich meine Aufrichtigkeit ?
Nicht doch .
Komme weiter .
Wir müssen uns ein wenig beeilen , denn noch manche Erscheinung soll durchwandert und durchzittert werden .
Sage , Jakob , verstehst du auch meine Worte ?
Doch schweig .
Du darfst hier nicht reden .
Glaubst du , daß ich etwa eine Zauberin sei ?
Nein , ich bin keine Zauberin .
Gewiß , ein ganz klein wenig zu zaubern , zu verführen , das verstehe ich schon .
Jedes Mädchen versteht das .
Doch komme jetzt . "
- Mit diesen Worten öffnete das verehrte Mädchen eine Bodenluke , wobei ich ihr helfen mußte , und wir stiegen zusammen , sie immer voran , in einen tiefgelegenen Keller hinunter .
Zuletzt , als die steinernen Stufen aufhörten , traten wir auf feuchte weiche Erde .
Es war mir , als befänden wir uns in der Mitte der Erdkugel , so tief und einsam kam es mir vor .
Wir schritten einen langen , finsteren Gang entlang , Fräulein Benjamenta sagte :
" Wir sind jetzt in den Gewölben und Gängen der Armut und Entbehrung , und da du , lieber Jakob , wahrscheinlich dein Lebenlang arm bleibst , so versuche bitte schon jetzt , dich an die Finsternis und an den kalten , schneidenden Geruch , die hier herrschen , ein wenig zu gewöhnen .
Erschrick nicht und sei ja nicht böse .
Gott ist auch hier , er ist überall .
Man muß die Notwendigkeit lieben und pflegen lernen .
Küsse die nasse Kellererde , ich bitte dich , ja , tu ' es .
Damit lieferst du den sinnlichen Beweis deiner willigen Unterwerfung in die Schwere und in die Trübnis , die dein Leben , wie es scheint , zum größten Teil ausmachen werden . "
- Ich gehorchte ihr , warf mich zur kalten Erde nieder und küßte sie voller Inbrunst , wobei mich ein unnennbarer kalter und zugleich heißer Schauer durchrann .
Wir gingen weiter .
Ah , diese Gänge des Not-Leidens und der furchtbaren Entsagung schienen mir endlos , und sie waren es vielleicht auch .
Die Sekunden waren wie ganze Lebensläufe , und die Minuten nahmen die Größe von leidvollen Jahrhunderten an .
Genug , endlich langten wir an einer trübseligen Mauer an , Fräulein sagte : " Gehe ' und liebkose die Mauer .
Es ist die Sorgenwand .
Sie wird stets vor deinen Blicken aufgerichtet sein , und du bist unklug , wenn du sie hassest .
Ei , man muß das Starre , das Unversöhnliche eben zu erweichen versuchen .
Gehe und probier es . "
- Ich trat rasch , wie in leidenschaftlicher Eile , zur Mauer heran und warf mich ihr an die Brust .
Ja , an die steinerne Brust , und sagte ihr einige gute , beinahe scherzende Worte .
Und sie blieb , wie zu erwarten war , unbeweglich .
Ich spielte Komödie , schon meiner Lehrerin zulieb , gewiß , und doch war es wiederum nichts weniger als Komödie , was ich tat .
Und doch lächelten wir beide , sie , die Meisterin sowohl , wie ich , ihr unreifer Schüler .
" Komme ' , " sagte sie , " wir wollen uns jetzt ein wenig Freiheit , ein wenig Bewegung gönnen . "
- Und damit berührte sie mit dem kleinen weißen bekannten Herrin-Stab die Mauer , und weg war der ganze garstige Keller , und wir befanden uns auf einer glatten , offenen , schlanken Eis- oder Glasbahn .
Wir schwebten dahin wie auf wunderbaren Schlittschuhen , und zugleich tanzten wir , denn die Bahn hob und senkte sich unter uns wie eine Welle .
Es war entzückend .
Ich hatte nie so etwas gesehen , und ich rief vor lauter Freude :
" Wie herrlich . "
- Und über uns schimmerten die Sterne in einem sonderbarerweise ganz blaßblauen und doch dunklen Himmel , und der Mond starrte , überirdisch leuchtend , auf uns Eisläufer herab .
" Das ist die Freiheit , " sagte die Lehrerin , " sie ist etwas Winterliches , Nicht-lange-zu-Ertragendes .
Man muß sich immer , so wie wir es hier tun , bewegen , man muß tanzen in der Freiheit .
Sie ist kalt und schön .
Verliebe dich nur nicht in sie .
Das würde dich nachher nur traurig machen , denn nur momentelang , nicht länger , hält man sich in den Gegenden der Freiheit auf .
Bereits sind wir etwas zu lang hier .
Sieh , wie die wundervolle Bahn , auf der wir schweben , langsam sich wieder auflöst .
Jetzt kannst du die Freiheit sterben sehen , wenn du die Augen aufmachst .
Im späteren Leben wird dir dieser herzbeklemmende Anblick noch oft zuteil werden . "
- Kaum hatte sie ausgesprochen , so sanken wir von der erklommenen Höhe und Lustigkeit in etwas Müdes und Trauliches hinunter , es war ein kleines , mit raffiniertem Wohlbehagen ganz gefüttertes und erfülltes , köstlich nach Träumereien duftendes , reich mit allerhand lüsternen Szenen und Bildern tapeziertes Ruhe-Gemach .
Es war ein geradezu gemächliches Gemach .
Oft schon hatte ich von richtigen Gemächern geträumt .
Hier befand ich mich nun in einem solchen .
Musik rieselte an den bunten Wänden wie Anmutsschnee herunter , man sah es direkt musizieren , die Töne glichen einem bezaubernden Schneegestöber .
" Hier , " sagte das Fräulein , " kannst du ruhen .
Sage dir selber , wie lange . "
- Wir lächelten beide über diese rätselhaften Worte , und obgleich mich ein unsagbar zartes Bangen beschlich , zögerte ich nicht , es mir in dem Lustgemach auf einem der Teppiche , die da vor mir lagen , bequem zu machen .
Eine Zigarette von selten gutem Geschmack flog mir von oben herab in den unwillkürlich geöffneten Mund , und ich rauchte .
Ein Roman schwirrte herbei , mir gerade in die Hände , und ich konnte ungestört darin lesen .
" Das ist nichts für dich .
Lies nicht in solchen Büchern .
Stehe auf .
Komme lieber .
Die Weichlichkeit verführt zur Gedankenlosigkeit und Grausamkeit .
Hörst du , wie es zornig einherdonnert und -rollt ?
Das ist das Ungemach .
Du hast jetzt in einem Gemach Ruhe genossen .
Nun wird das Ungemach über dich herabregnen und Zweifel und Unruhe werden dich durchnässen .
Komme .
Man muß tapfer ins Unvermeidliche hineingehen . "
- So sprach die Lehrerin , und kaum hatte sie zu Ende gesprochen , da schwamm ich in einem dickflüssigen , höchst unangenehmen Strom von Zweifel .
Durch und durch entmutigt , wagte ich gar nicht , mich umzuschauen , ob sie noch neben mir sei .
Nein , die Lehrerin , die Herrvorzauberin all dieser Erscheinungen und Zustände , war verschwunden .
Ich schwamm ganz allein .
Ich wollte schreien , aber das Wasser drohte mir in den Mund zu laufen .
O dieses Ungemach .
Ich weinte , und ich bereute bitter , mich der lüsternen Bequemlichkeit hingegeben zu haben .
Da plötzlich saß ich wieder im Institut Benjamenta , in der dunkelnden Schulstube , und Fräulein Benjamenta stand noch hinter mir , und sie streichelte mir die Wangen , aber nicht so , als wenn sie mich , sondern , als wenn sie sich selber trösten müsse .
" Sie ist unglücklich , " dachte ich .
Da kamen Kraus , Schacht und Schilinski von einem gemeinsamen Ausgang zurück .
Rasch zog das Mädchen die Hand von mir weg und ging in die Küche , um das Abendbrot zuzubereiten .
Träumte ich ?
Aber wozu mich fragen , wenn es jetzt doch ans Abendessen geht ?
Es gibt Zeiten , wo ich entsetzlich gern esse .
Ich kann dann in die dümmsten Speisen hineinbeißen wie ein hungriger Handwerksbursche , ich lebe dann wie in einem Märchen und nicht mehr als Kulturmensch in einem Kulturzeitalter .
Sehr amüsant sind manchmal unsere Turn- und Tanzstunden .
Geschick zeigen zu müssen , das ist nicht ohne Gefahr .
Wie kann man sich doch blamieren .
Zwar , wir Zöglinge lachen uns nicht aus .
Nicht ?
O doch .
Man lacht mit den Ohren , wenn man mit dem Mund nicht lachen darf .
Und mit den Augen .
Die Augen lachen so gern .
Und den Augen Vorschriften zu machen , das ist zwar ganz gut möglich , aber doch ziemlich schwer .
So z. B. darf hier nicht geblinzelt werden , blinzeln ist spöttisch und daher zu vermeiden , aber man blinzelt halte doch manchmal .
So ganz die Natur zu unterdrücken , das geht eben doch nicht .
Und doch geht_es .
Aber hat man sich auch die Natur total abgewöhnt , es bleibt immer ein Hauch , ein Rest übrig , das zeigt sich immer .
Der lange Peter z. B. kann sich die höchsteigene , persönliche Natur sehr schlecht abgewöhnen .
Manchmal , wenn er tanzen , sich graziös bewegen und erweisen soll , besteht er gänzlich aus Holz , und das Holz ist bei Peter eben Naturanlage , gleichsam Gottesgeschenk .
O wie muß man doch über ein Klafter Holz , wenn es in Form eines langen Menschen erscheint , lachen , so prächtig in die Brust hineinlachen .
Ein Gelächter ist das reine Gegenteil von einem Stück Holz , es ist etwas Entzündendes , etwas , was da in einem drinnen Streichhölzer anzündet .
Streichhölzer kichern , genau wie ein unterdrücktes Gelächter .
Ich mag mich sehr , sehr gern am Herausschallen des Lachens verhindern lassen .
Das kitzelt so wunderbar :
es nicht loslassen zu dürfen , was doch so gern herausschießen möchte .
Was nicht sein darf , was in mich hinab muß , ist mir lieb .
Es wird dadurch peinlicher , aber zugleich wertvoller , dieses Unterdrückte .
Ja ja , ich gestehe , ich bin gern unterdrückt .
Zwar .
Nein , nicht immer zwar .
Herr Zwar soll mir abmarschieren .
Was ich sagen wollte : etwas nicht tun dürfen , heißt , es irgendwo anders doppelt tun .
Nichts ist fader als eine gleichgültige , rasche , billige Erlaubnis .
Ich verdiene , erfahre gern alles , und z. B. ein Lachen bedarf auch der Durch-Erfahrung .
Wenn ich innerlich zerspringe vor Lachen , wenn ich kaum noch weiß , wo ich all das zischende Pulver hintun soll , dann weiß ich , was Lachen ist , dann habe ich am lächerigsten gelacht , dann habe ich eine vollkommene Vorstellung dessen gehabt , was mich erschütterte .
Ich muß demnach unbedingt annehmen und es als feste Überzeugung aufbewahren , daß Vorschriften das Dasein versilbern , vielleicht sogar vergolden , mit einem Wort reizvoll machen .
Denn wie mit dem verbotenen reizenden Lachen ist es doch sicher mit fast allen anderen Dingen und Gelüsten ebenfalls .
Nicht weinen dürfen z. B. , nun , das vergrößert das Weinen .
Liebe entbehren , ja , das heißt lieben .
Wenn ich nicht lieben soll , liebe ich zehnfach .
Alles Verbotene lebt auf hundertfache Art und Weise ; also lebt nur lebendiger , was tot sein sollte .
Wie im Kleinen , so ist es im Großen .
Recht hübsch , recht alltäglich gesagt , aber im Alltäglichen ruhen die wahren Wahrheiten .
Ich schwatze wieder ein wenig , nicht wahr ?
Gebe es gern zu , daß ich schwatze , denn mit etwas müssen doch Zeilen ausgefüllt werden .
Wie entzückend , wie entzückend sind verbotene Früchte .
Vielleicht schwebt jetzt zwischen Herrn Benjamenta und mir etwas wie eine beiden Teilen sichtbare , verbotene Frucht .
Doch wir beide drücken uns nicht deutlich aus .
Wir scheuen vor der offenen Sprache zurück , und das ist gewiß nur zu billigen .
Mir z. B. ist eigentlich die Freundlichkeit der Behandlung unsympathisch .
Ich rede im allgemeinen .
Gewisse Leute , die mir zugetan sind , sind mir zuwider , ich kann das hier nicht nachdrücklich genug betonen .
Natürlich finde auch ich an der Milde , am Herzlichen Geschmack .
Wer könnte so roh sein , alle Vertraulichkeit , alles wärmere Wesen gänzlich zu verabscheuen .
Aber ich hüte mich stets , nahezutreten , und ich weiß nicht , ich muß darin Talent besitzen , jemanden von der Unklugheit gewisser Annäherungen stumm zu überzeugen , wenigstens halte ich es für schwierig , sich in mein Vertrauen zu stehlen .
Und meine Wärme ist mir kostbar , sehr kostbar , und derjenige , der sie besitzen will , muß äußerst vorsichtig vorgehen , und das will nun Herr Vorsteher .
Dieser Herr Benjamenta will , wie es scheint , mein Herz besitzen und Freundschaft mit mir schließen .
Vorläufig behandle ich ihn aber eisig kalt , und wer weiß : ich will vielleicht gar nichts von ihm wissen .
" Du bist jung , " sagt Herr Vorsteher zu mir , " du strotzest von Lebensaussichten .
Wart Mal , habe ich da etwas sagen wollen und es jetzt vergessen ?
Du mußt wissen , Jakob , ich habe dir eine Menge Dinge zu sagen , und da kann man das Schönste und Tiefste , ehe man bis drei gezählt hat , vergessen .
Und du schaust drein , siehst du , wie das gute , frische Gedächtnis selber , während meines schon altet .
Mein Kopf , Jakob , ist am Sterben .
Entschuldige , wenn ich etwas zu weich , zu vertraulich rede .
Ich muß einfach lachen .
Da bitte ich dich , mich zu entschuldigen , während ich dich durchprügeln könnte , wenn ich es für nötig fände .
Wie hart mich deine jungen Augen anblicken .
Ei , ei , und ich könnte dich da an die Wand werfen , daß dir Hören und Sehen für immer vergingen .
Ich weiß es gar nicht , wie es hat kommen können , daß ich mich dir gegenüber so aller Vorgesetztengewalt entkleidet habe .
Du lachst mich wohl heimlich aus .
Leise gesagt :
Hüte dich da .
Du mußt wissen , mich packen Wildheiten an , und ehe ich mich verhindern kann , sind alle meine Besinnungen geschwunden .
O mein kleiner Bursch , nein , fürchte dich nicht .
Es ist ja so gänzlich , so gänzlich unmöglich , dir etwas zuleide zu tun , aber sage , was wollte ich dich doch fragen .
Sage , du fürchtest dich wohl gar nicht ein bißchen ?
Und jung bist du und hast Hoffnungen , und jetzt wirst du ja wohl bald in eine dir ziemende Stellung kommen ?
Nicht ?
Ja eben , das ist es .
Ja , das ist es , was mir leid tut , denn denke dir , manchmal ist mir , als seiest du mein junger Bruder oder sonst etwas Natürlich-Nahes , so verwandt kommst du mir , kommen mir deine Gebärden , die Sprache , der Mund , alles , nun , mit einem Wort , du , mir vor .
Ich bin ein abgesetzter König .
Du lächelst ?
Ich finde es einfach köstlich , weißt du , daß dir jetzt gerade , wo ich von abgesetzten , ihrer Throne enthobenen Königen spreche , ein Lächeln , solch ein spitzbübisches Lächeln entflieht .
Du hast Verstand , Jakob .
O , man kann sich mit dir so hübsch unterhalten .
Es ist prickelnd reizvoll , sich dir gegenüber ein wenig schwach und weicher , als gewöhnlich , zu benehmen .
Ja , du forderst geradezu heraus zu Fahrlässigkeiten , zur Lockerung , zur Preisgabe der Würde .
Man mutet dir , glaubst du das , Edelsinn zu , und da reizt es einen ganz mächtig , sich vor dir in schönen , wohltuenden Erklärungen und Geständnissen zu verlieren , so z. B. ich , dein Herr , vor dir , meinem jungen armen Wurm , den ich , wenn es mich gelüstete , zermalmen könnte .
Gib mir die Hand .
So .
Laß mich dir sagen , daß du es verstanden hast , mir Respekt vor dir abzunötigen .
Ich achte dich hoch , und - ich - darf - es dir sagen .
Und nun habe ich eine Bitte an dich : willst du mein Freund , mein kleiner Vertrauter sein ?
Ich bitte dich , sei es .
Doch ich will dir Zeit lassen , das alles zu bedenken , du darfst gehen .
Bitte , gehe , laß mich allein . "
- So spricht zu mir mein Herr Vorsteher , der Mann , der , wie er selber sagt , mich zermalmen kann , sobald er nur will .
Ich verbeuge mich jetzt nicht mehr vor ihm , es würde ihm weh tun .
Was er da nur von abgesetzten Königen gesprochen hat ?
Ich werde über diese ganze Sache keine Gedanken verlieren , wie er mir anempfiehlt , sondern ich werde einfach fortfahren , Form zu bewahren .
Jedenfalls heißt es aufpassen .
Er spricht von Wildheit ?
Nun , ich muß sagen , das ist sehr ungemütlich .
Zum an der Wand zerquetscht zu werden , dazu bin ich mir denn doch zu gut .
Ob ich es dem Fräulein sage ?
O pfui , nicht doch .
Ich habe Mut genug , über etwas Seltsames Schweigen zu bewahren , und Verstand genug , mit etwas Zweifelhaftem allein fertig zu werden .
Vielleicht ist Herr Benjamenta verrückt .
Jedenfalls gleicht er dem Löwen , ich aber der Maus .
Nette Zustände sind das , die sich da jetzt im Institut eingeschlichen haben .
Nur niemandem etwas sagen .
Eine verschwiegene Angelegenheit ist manchmal schon eine gewonnene .
Das alles sind Dummheiten .
Basta .
Was ich manchmal für Einbildungen habe !
Es grenzt beinahe an das Absurde .
Mit einem Mal , ohne daß ich es habe verhindern können , war ich Kriegsoberst geworden , so ums Jahr 1400 herum , nein , etwas später , zur Zeit der mailändischen Feldzüge .
Ich und meine Herren Offiziere , wir tafelten .
Es war nach einer gewonnenen Schlacht , und unser Ruhm mußte sich in den nächsten Tagen durch ganz Europa verbreiten .
Wir tranken und waren lustig .
Nicht etwa in einem Zimmer hielten wir Tafel , nein , auf freiem Feld .
Die Sonne war eben am Untergehen , da wurde vor meine Augen , deren Strahl Schlachtenangriff und -sieg bedeutete , eine Kreatur geführt , ein ganz armer Teufel , ein ertappter Verräter .
Der unglückliche Mensch schaute zitternd zu Boden , wohl wissend , daß er nicht das Recht hatte , den Feldherrn anzuschauen .
Ich sah ihn an , ganz leicht , dann schaute ich diejenigen ebenso leicht und schnell an , die ihn hergeführt hatten , dann widmete ich mich dem volleingeschenkten Glas Wein , das vor mir stand , und diese drei Bewegungen bedeuteten : " Geht .
Und henkt ihn . "
Sogleich ergriffen ihn die Leute , doch da schrie der Verruchte wie verzweifelt , noch mehr , wie zerrissen , zum voraus zerrissen von tausend entsetzlichen Martertoden .
Meine Ohren hatten in den Gefechten und Kämpfen , die mein Leben erfüllten , schon allerlei Töne gehört , und meine Augen waren an den Anblick des Furchtbaren und Jammervollen mehr wie gewöhnt , doch merkwürdig , das konnte ich nicht ertragen .
Wieder drehte ich mich nach dem Verdammten um , außerdem winkte ich meinen Soldaten .
" Laßt ihn laufen , " sagte ich , das Glas an der Lippe , um es kurz zu machen .
Da geschah etwas ebenso Ergreifendes wie Widerwärtiges .
Der Mann , dem ich das Leben geschenkt hatte , das Verbrecher- und Verräterleben , stürzte wie unsinnig zu meinen Füßen und küßte den Staub meiner Schuhe .
Ich stieß ihn weg .
Ich war von Ekel und Grauen erfaßt worden .
Mich berührte die Gewalt , die ich ausübte , die Macht , mit der ich frei spielen konnte , wie der Sturmwind mit Blättern , peinlich , ich lachte daher und befahl dem Menschen , sich zu entfernen .
Er hatte beinahe den Verstand verloren .
Eine tierische Freude brach sich ihm durch Augen und Mund Bahn , er lallte Dank , Dank und kroch weg .
Wir anderen ergaben uns bis in die Nacht hinein einem ausgelassenen Gesöffe und Gelage , und am frühen Morgen , noch immer saßen wir bei der Tafel , empfing ich mit einer Würde , einer Hoheit , die selbst mir beinahe ein Lächeln abnötigte , den Gesandten des Papstes .
Ich war der Held , der Herr des Tages .
Von meiner Laune , meiner Zufriedenheit hing der Frieden von halb Europa ab .
Doch ich spielte den diplomatischen Herren gegenüber den Dummen , den Guten , es paßte mir so , ich war etwas ermüdet , mich begehrte , in die Heimat zurückzukehren .
Ich ließ mir die Vorteile , die mir der Krieg zuerteilte , wieder abnehmen .
Natürlich bin ich später in den Grafenstand erhoben worden , dann habe ich geheiratet , und jetzt bin ich so tief gesunken , daß es mich gar nicht geniert , ein niedriger , kleiner Eleve des Institutes Benjamenta zu sein und Kameraden zu haben wie Kraus , Schacht , Hans und Schilinski .
Man muß mich nackt auf die kalte Straße werfen , dann stelle ich mir vielleicht vor , ich sei der allesumfassende Herrgott .
Es ist Zeit , daß ich die Feder aus der Hand lege .
Für so Kleine und Niedrige , wie wir Zöglinge sind , gibt es nichts Komisches .
Der Entwürdigte nimmt alles ernst , aber auch alles leicht , beinahe frivol .
Mir kommt unsere Tanz- , Anstands- und Turnstunde wie das öffentliche , wichtige , große Leben selber vor , und dann verwandelt sich vor meinen Augen die Schulstube in ein herrschaftliches Zimmer , in eine Straße voller Menschenverkehr , in ein Schloß mit alten , langen Korridoren , in eine Amtsstube , in ein Gelehrtenkabinett , in einen Damen-Empfangsraum , je nachdem , in alles Mögliche .
Wir müssen eintreten , grüßen , uns verneigen , sprechen , eingebildete Geschäfte oder Aufträge erledigen , Bestellungen ausrichten , dann plötzlich sitzen wir bei Tisch und essen auf hauptstädtische Manier , und Diener bedienen uns .
Schacht , oder vielleicht gar Kraus , stellt eine hocharistokratische Dame vor , und ich übernehme es , sie zu unterhalten .
Wir sind dann alle Kavaliere , der lange Peter nicht ausgenommen , der sich ja sowieso stets als Kavalier fühlt .
Dann tanzen wir .
Wir hüpfen umher , verfolgt von den lächelnden Blicken der Lehrerin , und plötzlich rennen wir einem Verwundeten zu Hilfe .
Er ist auf der Straße überfahren worden .
Wir schenken scheinbaren Bettlern irgend eine Kleinigkeit , schreiben Briefe , brüllen unseren Burschen an , gehen in die Versammlung , suchen Orte auf , wo man französisch spricht , üben uns im Hutabnehmen , sprechen von Jagd , Finanzen und Kunst , küssen Damen , die wir uns gewogen wissen wollen , untertänig die gnädig ausgestreckten fünf hübschen Finger , bummeln als Bummler , schlürfen Kaffee , essen Schinken in Burgunder , schlafen in eingebildeten Betten , stehen ebenso scheinbar wieder des Morgens in aller Frühe auf , sagen : " Guten Tag , Herr Amtsrichter , " prügeln uns , denn das kommt ja im Leben oft auch vor , und tun eben alles , was im Leben vorkommt .
Sind wir müde von all den Dummheiten , so klopft Fräulein mit dem Stab gegen eine Kannte und sagt : " Allons , vorwärts , Jungen .
Arbeiten ! " -
Dann wird wieder gearbeitet .
Wir treiben uns im Zimmer umher wie Wespen .
Man kann das gar nicht recht schildern , und sind wir wieder ermattet , so ruft die Lehrerin :
" Wie ?
Ist euch das öffentliche Leben so rasch verleidet ?
Macht , macht .
Zeigt , wie das Leben ist .
Es ist leicht , aber man muß munter sein , sonst wird man vom Leben zertreten . "
- Und frisch geht es wieder los .
Wir reisen , wobei unsere Bedienten Dummheiten machen .
Wir sitzen in Bibliotheken und studieren .
Wir sind Soldaten , echte Rekruten , und müssen liegen und schießen .
Wir treten in Kaufläden , um zu kaufen , in Badeanstalten , um zu baden , in Kirchen , um zu beten : " Gott , führe uns nicht in Versuchung . "
Und im nächsten Augenblick sitzen wir mitten in der gröbsten Verfehlung und sündigen .
" Hört auf .
Genug für heute , " sagt dann , wenn es Zeit ist , das Fräulein .
Dann ist das Leben erloschen , und der Traum , den man menschliches Leben nennt , nimmt eine andere Richtung .
Meist gehe ich dann auf eine halbe Stunde spazieren .
Ein Mädchen begegnet mir immer in der Anlage , wo ich auf einer Bank sitze .
Sie scheint Verkäuferin zu sein .
Sie biegt jedesmal den Kopf nach mir um und sieht mich lang an .
Sie schmachtet zu sehr .
Übrigens hält sie mich für einen Herrn mit monatlichem Salär .
Ich sehe so gut , nach etwas so Rechtem aus .
Sie irrt sich , und ich ignoriere sie daher .
Dann und wann spielen wir auch Theater , und zwar Lustspiel , das ins Possenhafte ausartet , bis uns die Lehrerin einen Wink erteilt , aufzuhören :
Die Mutter : " Ich kann Ihnen meine Tochter nicht zur Frau geben .
Sie sind zu arm . "
Der Held : " Armut ist keine Schande . "
- Die Mutter :
" Papperlappa , Redensarten .
Was haben Sie denn für Aussichten ? " -
Die Liebhaberin : " Mama , ich muß Sie bei aller Verehrung , die ich für Sie empfinde , bitten , höflicher mit dem Mann , den ich liebe , zu reden . " - Mutter : " Schweige !
Eines Tages wirst du mir danken , daß ich ihn mit unnachsichtlicher Strenge behandelt habe .
- Mein Herr , sagen Sie , wo haben Sie denn eigentlich studiert ? "
- Der Held ( er ist Pole und wird von Schilinski dargestellt ) :
" Gnädige Frau , ich bin aus dem Institut Benjamenta hervorgegangen .
Verzeihen Sie den Stolz , mit dem ich das sage . "
- Die Tochter : " Ach , Mama , sehen Sie doch , wie er sich benimmt .
Welche feinen Manieren . " - Mutter ( streng ) :
" Schweige von Manieren .
Auf aristokratisches Benehmen kommt es doch längst nicht mehr an .
Sie , mein Herr , bitte , sagen Sie mir gefälligst :
Was haben Sie denn dort im Institut Bagnamenta gelernt ? " -
Der Held : " Verzeihen Sie : Benjamenta , nicht Bagnamenta , heißt die Lehranstalt .
Was ich gelernt habe ?
Nun allerdings , ich muß sagen , ich habe dort sehr wenig gelernt .
Aber es kommt doch heutzutage gar nicht mehr aufs viele Wissen an .
Das müssen Sie selbst zugeben . "
- Die Tochter :
" Hören Sie , liebe Mama ? " -
Die Mutter : " Schweige ' mir , du Mißratene , vom Anhören oder gar Ernstnehmen solch eines Geschwätzes .
Mein hübsch aussehender junger Herr , Sie würden mir einen Gefallen erweisen , wenn Sie sich auf Nimmerwiedersehen entfernen wollten . "
- Der Held : " Was wagt man mir da zu bieten ? -
Nun , sei es .
Adieu , ich gehe . "
- Er tritt ab usw. usw.
Der Inhalt unserer kleinen Dramen nimmt stets Bezug auf die Schule und auf die Zöglinge .
Ein Zögling erlebt allerhand bunt durcheinandergeworfene Schicksale , gute und schlechte .
Er hat Erfolg in der Welt oder äußersten Mißerfolg .
Das Ende des Stückes ist immer die Verherrlichung und Versinnbildlichung bescheidenen Dienens .
Das Glück dient : das ist die Moral unserer dramatischen Literatur .
Unser Fräulein pflegt während der Darstellungen die Zuschauerwelt zu spielen .
Sie sitzt gleichsam in einer Loge und blickt durch das Augenglas auf die Bühne , d. h. auf uns Spielende .
Kraus ist der schlechteste Schauspieler .
So etwas liegt ihm gar nicht .
Am besten spielt entschieden der lange Peter .
Auch Heinrich ist reizend auf der Bühne .
Ich habe die etwas beleidigende Empfindung , als wenn ich in der Welt immer zu essen haben werde .
Ich bin gesund , und ich werde es bleiben , und man wird mich stets zu irgend etwas brauchen können .
Ich werde meinem Staat , meiner Gemeinde nie zur Last fallen .
Das zu denken , d. h. zu denken , daß man als ein niedriger Mensch sein tägliches Brot zu essen haben wird , würde mich tief verwunden , wenn ich noch der frühere Jakob von Gunten wäre , wenn ich noch der Abkömmling , der Sproß meines Hauses wäre , aber ich bin ja ein ganz , ganz anderer geworden , ein gewöhnlicher Mensch bin ich geworden , und daß ich gewöhnlich geworden bin , das verdanke ich Benjamentas , und das erfüllt mich mit einer unnennbaren , vom Tau der Zufriedenheit glänzenden und tropfenden Zuversicht .
Ich habe den Stolz , die Ehren-Arten gewechselt .
Wie komme ich dazu , so jung schon so zu entarten ?
Aber ist das Entartung ?
In gewisser Hinsicht ja , andernteils ist es Erhaltung der Art .
Ich bleibe vielleicht als irgendwo im Leben verlorener und verschollener Mensch ein echterer , stolzerer Gunten , als wenn ich , auf den Stammbaum pochend , zu Hause verdürbe , entherzte und verknöcherte .
Nun , mag das sein , wie es sein will .
Ich habe Wahl getroffen , und dabei bleibt es .
In mir lebt eine sonderbare Energie , das Leben von Grund auf kennen zu lernen , und eine unbezwingliche Lust , Menschen und Dinge zu stacheln , daß sie sich mir offenbaren .
Hier fällt mir Herr Benjamenta ein .
Aber ich will an etwas anderes denken , d. h. ich mag an nichts mehr denken .
Ich habe eine Anzahl Menschen kennen gelernt , durch Johanns Freundlichkeit .
Es sind Künstler darunter , und es scheinen nette Menschen zu sein .
Nun , was kann man sagen bei so flüchtiger Berührung .
Eigentlich gleichen sich die Leute , die sich bemühen , Erfolg in der Welt zu haben , furchtbar .
Es haben Alle dieselben Gesichter .
Eigentlich nicht , und doch .
Alle sind einander ähnlich in einer gewissen , rasch dahinsausend Liebenswürdigkeit , und ich glaube , das ist das Bangen , das diese Leute empfinden .
Sie behandeln Menschen und Gegenstände rasch herunter , nur damit sie gleich wieder das Neue , das ebenfalls Aufmerksamkeit zu fordern scheint , erledigen können .
Sie verachten niemanden , diese guten Leute , und doch , vielleicht verachten sie alles , aber das dürfen sie nicht zeigen , und zwar deshalb nicht , weil sie fürchten , plötzlich etwa eine Unvorsichtigkeit zu begehen .
Sie sind liebenswürdig aus Weltschmerz und nett aus Bangen .
Und dann will ja jeder Achtung vor sich selber haben .
Diese Leute sind Kavaliere .
Und sie scheinen sich nie ganz wohl zu befinden .
Wer kann sich wohl befinden , wer auf die Achtungsbezeugungen und Auszeichnungen der Welt Wert legt ?
Und dann , glaube ich , fühlen diese Menschen , da sie doch einmal Gesellschafts- und durchaus keine Naturmenschen mehr sind , stets den Nachfolger hinter sich .
Jeder spürt den unheimlichen Überrumpler , den heimlichen Dieb , der mit irgend einer neuen Begabung dahergeschlichen kommt , um Schädigungen und Herabsetzungen aller Art um sich herum zu verbreiten , und deshalb ist in diesen Menschenkreisen der ganz Neu-Auftretende immer der Gesuchteste und Bevorzugteste , und wehe den Älteren , wenn sich dieser Neue durch Geist , Talent oder Naturgenie irgendwie auszeichnet .
Ich drücke mich übrigens etwas zu einfach aus .
Es ist da noch etwas ganz anderes .
Es herrscht unter diesen Kreisen der fortschrittlichen Bildung eine kaum zu übersehende und mißzuverstehende Müdigkeit .
Nicht die formelle Blasiertheit etwa des Adels von Abstammung , nein , eine wahrhafte , eine ganz wahre , auf höherer und lebhafterer Empfindung beruhende Müdigkeit , die Müdigkeit des gesunden-ungesunden Menschen .
Sie sind alle gebildet , aber achten sie einander ?
Sie sind , wenn sie ehrlich nachdenken , zufrieden mit ihren Weltstellungen , aber sind sie auch zufrieden ?
Übrigens gibt es reiche Menschen unter ihnen .
Von denen rede ich hier nicht , denn das Geld , das ein Mann besitzt , zwingt zu ganz anderen , ganz neuen Voraussetzungen zu der Beurteilung solch eines Mannes .
Doch es sind alles höfliche und in ihrer Art bedeutende Menschen , und meinem Bruder muß ich sehr , sehr dankbar sein , daß er mich ein Stück Welt hat kennen lernen lassen .
Man liebt es jetzt schon , mich dort , nämlich in jenen Kreisen , den kleinen von Gunten zu nennen , zum Unterschied von Johann , den sie den großen von Gunten getauft haben .
Das sind Späße , die Welt liebt eben Späße .
Ich nicht , aber das alles ist ja so unbedeutend .
Ich fühle , wie wenig mich das angeht , was man Welt nennt , und wie mir groß und hinreißend vorkommt , das , was ich Welt nenne , ganz im stillen .
Mein Bruder hat sich indes Mühe gegeben , mich unter Menschen zu führen , und es ist Pflicht für mich , mir viel daraus zu machen .
Und es ist ja auch viel .
Mir ist alles , sogar das Kleinste , viel .
Ein paar Menschen vollkommen kennen zu lernen , dazu bedürfte es eines Menschenlebens .
Das sind nun wieder Benjamentasche Grundsätze , und wie unähnlich sind Benjamentas dem , was Welt bedeutet .
Ich will schlafen gehen .
Ich vergesse nie , daß ich ein Abkömmling bin , der nun von unten , von ganz unten anfängt , ohne doch die Eigenschaften , die nötig sind , emporzugelangen , zu besitzen .
Vielleicht , ja .
Es ist alles möglich , aber ich glaube nicht an die eitlen Stunden , in denen ich mir Glück , verbunden mit Glanz , vorspiegle .
Ich habe gar keine Emporkömmlingstugenden .
Ich bin manchmal frech , aber nur aus Laune .
Der Emporkömmling aber ist von einer permanenten bescheiden-tuenden Frechheit , oder von einer frechen , fortwährend frechen Unbedeutendheitsgebärde .
Und es gibt viele Emporkömmlinge , und was sie errungen haben , das halten sie stupide fest , und das ist ausgezeichnet .
Sie können auch nervös sein , ungehalten , verdrießlich und " all der Dinge " müde , aber der Überdruß dringt nicht tief beim wahrhaften Emporkömmling .
Emporkömmlinge sind Herren , und solch einem Herrn , einem vielleicht etwas protzigen Herrn , werde ich Abkömmling , oder was ich sonst bin , dienen , und ehrenhaft dienen , treu , verläßlich , fest , ganz gedankenlos , ganz unerpicht auf persönliche Vorteile , denn nur so , nämlich ganz anständig , werde ich überhaupt jemandem dienen können , und jetzt merke ich , daß ich Verwandtes mit Kraus habe , und ich schäme mich beinahe ein wenig .
Nie und nimmer erreicht man mit Empfindungen , wie die sind , mit denen ich der Welt gegenüberstehe , je Großes , es sei denn , man pfeife aufs glitzernde Große und nenne das groß , was ganz grau , still , hart und niedrig ist .
Ja , dienen werde ich , und Verpflichtungen , deren Erfüllung nichts weniger als schimmert , werde ich immer und immer übernehmen , immer wieder , und ich werde kreuzdumm vor Seligkeit erröten , wenn man mir leichthin Dank sagt .
Dumm ist das , aber durchaus wahr , und ich bin nicht fähig , über diese Wahrnehmung traurig zu sein .
Ich muß es bekennen : ich bin nie traurig , ich fühle mich nie , nie vereinsamt , und auch das ist dumm , denn mit der Sentimentalität , mit dem , was man den Schrei nennt , macht man die besten , die emporkömmlichsten und bekömmlichsten Geschäfte .
Aber ich bedanke mich für die Mühseligkeiten , für die unfeinen Anstrengungen , auf solche Art zu Ehre und Ansehen zu gelangen .
Zu Hause , bei Vater und Mutter , duftete es alle Wände entlang nach Takt .
Nun gut , das meine ich nur so .
Es war vornehm bei uns zu Hause .
Und so hell .
Der ganze Haushalt glich einem graziösen , gütigen Lächeln .
Mama ist ja so fein .
Schon gut .
Also Abkömmling und verurteilt , zu dienen und die Person sechsten Ranges im Weltleben zu spielen .
Meiner Ansicht nach paßt das , denn , o wie sagte doch Johann :
" Die Mächtigen , das sind die Verhungerten . "
- Ich glaube so etwas nicht gern .
Und habe ich es überhaupt nötig , mich trösten zu lassen ?
Kann man einen Jakob von Gunten trösten ?
So lange ich gesunde Glieder habe , ist das ausgeschlossen .
Wenn ich will , wenn ich es mir befehle , kann ich alles verehren , sogar das schlechte Benehmen , aber es muß von Gold strotzen .
Die üblen Manieren müssen Zwanzigmarkstücke hinter sich fallen lassen , dann verneige ich mich vor , sogar noch hinter ihnen .
Herr Benjamenta ist übrigens auch dieser Meinung .
Er sagt , es sei unrichtig , das Geld und den Vorteil , die aus unschönen Händen kommen , zu verachten .
Ein Eleve des Institutes Benjamenta soll das Meiste eben achten , nicht verachten .
- Zu was anderem .
Turnen , das ist schön .
Ich liebe es leidenschaftlich , und ich bin selbstverständlich ein guter Turner .
Mit einem edlen Menschen Freundschaft schließen und Turnen , das sind wohl zwei der schönsten Sachen , die es auf der Welt gibt .
Tanzen , und einen Menschen finden , der mir Achtung entlockt , ist mir ein und dasselbe .
Ich bewege so gern die Geister und Glieder .
Nur allein Beinschwingen , ist das doch hübsch !
Turnen ist auch dumm , es führt auch zu nichts .
Muß denn eigentlich alles , was ich liebe und bevorzuge , zu nichts führen ?
Aber horch !
Was ist das ?
Man ruft mich .
Ich muß abbrechen .
" Strebst du auch noch aufrichtig , Jakob ? " fragte mich die Lehrerin .
Es war gegen Abend .
Es war irgendwo etwas Rötliches , wie ein Abglanz von einem gewaltig-schönen Sonnenuntergang .
Wir Stunden an meiner Kammertüre .
Ich hatte eben eintreten und mich meinen Ahnungen so ein wenig überlassen wollen .
" Fräulein Benjamenta , " sagte ich , " zweifeln Sie am Ernst und an der Ehrlichkeit meines Strebens ?
Bin ich ein Schwindler , ein Gaukler in Ihren hochverehrten Augen ? "
- Ich glaube , ich blickte geradezu tragisch , als ich das sagte .
Sie wandte mir ihr schönes Gesicht zu und sagte : " Bewahre , aber bewahre .
Du bist ein netter Junge .
Heftig bist du , aber du bist mir lieb , recht , anständig und angenehm .
Bist du zufrieden ?
He ?
Was ?
Du bringst auch dein Bett immer noch hübsch jeden Morgen in Ordnung ?
Nicht ?
Und den Vorschriften allen gehorchst du wohl auch schon längst nicht mehr ?
Auch nicht ?
Oder doch ?
O du bist ein ganz braver Mensch , ich glaube es .
Und man kann dich nicht genug mit Lobeserhebungen überschütten .
Nicht genug .
Ganze Eimer voll schmeichelnder Lobsprüche , denke , ganze Kübel und Kannen voll .
Mit dem Besen muß man sie zusammenwischen , die vielen anerkennenden schönen Worte , die dein Betragen betreffen .
Nein , Jakob , jetzt ganz im Ernst , höre .
Ich muß dir etwas ins Ohr sagen .
Magst du es hören , oder willst du jetzt lieber da hinein in deine Kammer schlüpfen ? "
- " Sprechen Sie , gnädiges Fräulein .
Ich höre , " sagte ich voll angstvoller Erwartung .
Die Lehrerin schauderte plötzlich jählings zusammen .
Sie faßte sich aber rasch und sagte : " Ich gehe , Jakob , ich gehe .
Es geht mit mir .
Doch ich kann es dir nicht sagen .
Vielleicht ein anderes Mal .
Ja ?
Ja , nicht wahr , vielleicht morgen , oder in acht Tagen erst .
Es ist dann noch immer Zeit genug , es dir zu sagen .
Sage mir , Jakob , hast du mich ein wenig lieb ?
Bedeute ich deiner Brust , deinem jungen Herzen irgend etwas ? "
- Sie stand mit wütend zusammengekniffenen Lippen vor mir da .
Ich beugte mich schnell auf ihre Hand , die unsagbar wehmütig an ihrem Gewand herabhing , hinunter und küßte sie .
Ich war so glücklich , es ihr so sagen zu dürfen , was ich für sie immer empfunden hatte .
" Schätzest du mich ? " fragte sie mit ganz hoher , nach der Höhe zu schon fast erstickter , gestorbener Stimme .
Ich sagte : " Wie können Sie zweifeln ?
Ich bin unglücklich . "
- Aber mich empörte es , daß ich fast weinen mußte .
Ich ließ ihre Hand schroff fahren und nahm respektvolle Haltung an .
Und sie ging , indem sie mich beinahe bittend anschaute .
- Wie hat sich hier im einst so herrischen Institut Benjamenta alles verändert !
Es schrumpft alles zusammen , die Übungen , der Schneide , die Vorschriften .
Lebe ich in einem Toten- oder in einem überirdischen Freuden- und Wonnenhause ?
Etwas ist los , aber ich fasse es noch nicht .
Ich wagte es , Kraus gegenüber eine Bemerkung über Benjamentas fallen zu lassen .
Es mute mich , sagte ich , wie eine Trübung des Glanzes an , den das Institut immer besessen habe .
Was das sei ?
Ob Kraus vielleicht etwas wisse ? -
Er wurde ärgerlich und sprach :
" Mensch , du bist wohl schwanger mit albernen Einbildungen .
Was für Ideen .
Schaffe du .
Mache du , dann fällt dir nichts Auffallendes auf .
Dieser Schnüffler .
Will sich in Meinungen und Ansichten hineinschnüffeln .
Gehe mir aus den Augen .
Ich kann dich bald überhaupt nicht mehr ansehen . "
- " Seit wann bist du grob ? " sagte ich , doch ich zog es vor , ihn in Ruhe zu lassen .
- Im Laufe des Tages hatte ich Gelegenheit , mich mit Fräulein Benjamenta über Kraus zu unterhalten .
Sie sagte mir : " Ja , Kraus ist gar nicht wie andere Menschen .
Er sitzt da , bis man seiner bedarf , ruft man ihn , dann kommt er in Bewegung und kommt herbeigesprungen .
Von solchen Menschen , wie er einer ist , macht man kein Rühmens und Aufhebens .
Man rühmt Kraus eigentlich nie , und kaum ist man ihm dankbar .
Man verlangt nur von ihm : Tu ' das , und dann wieder :
Tue dies .
Und man spürt kaum , daß man , und wie vollkommen , bedient worden ist , so vollkommen ist man bedient worden .
Die Person Kraus ist gar nichts , nur der Schaffer , der Ausüber Kraus ist etwas , aber der macht sich gar nicht bemerkbar .
Z. B. dich , Jakob , lobt man , es macht einem Freude , dir wohl zu tun .
Für Kraus hat man kein Wort , keine Neigung übrig .
Du bist ganz liederlich , Jakob , gegenüber Kraus .
Doch du bist der Nettere .
Anders sage ich es dir nicht , denn das würdest du nicht verstehen .
Und Kraus verläßt uns jetzt bald .
Das ist ein Verlust , Jakob , o das ist ein Verlust .
Wenn kein Kraus mehr da ist , wer ist dann noch da ?
Du , ja .
Das ist ja eigentlich wahr , und du bist mir jetzt böse , nicht wahr .
Ja , du bist mir böse , weil ich betrübt bin , daß Kraus weggeht .
Bist du eifersüchtig ? "
- " Nicht doch .
Auch ich bedaure lebhaft , daß Kraus uns verläßt , " sagte ich .
Ich sprach mit Absicht sehr förmlich .
Auch mir war es weh zumute geworden , doch ich fand es passend , ein wenig Kälte zu zeigen .
Später versuchte ich , mit Kraus ins Gespräch zu kommen , aber er verhielt sich unglaublich ablehnend .
Finster saß er am Tisch und sprach zu niemandem ein Wort .
Auch er empfindet , daß irgend etwas hier nicht gut geht , er sagt nur nichts , nur sich sagt er es .
Oft habe ich die Empfindung von einer großen inneren Niederlage .
Dann stelle ich mich mitten in der Stube auf und treibe Unfug , übrigens ganz kindischen Unfug .
Ich setze Kraus ' Mütze auf meinen Kopf , oder ein volles Glas Wasser usw .
Oder Hans ist da .
Mit Hans kann man gemeinschaftlich Hüte auf Köpfe hinauflancieren , daß sie oben sitzen und kleben bleiben .
Wie verachtet uns Kraus jedesmal dafür .
Schacht ist in Stellung gewesen , drei Tage , aber er ist wieder zurückgekehrt , voll Mißmut und allerhand zornigen , schmerzlichen Ausflüchten . Habe ich es nicht früh schon gesagt , daß es Schacht draußen in der Welt übel ergehen wird ?
Er wird immer in Ämter , Aufgaben und Stellungen hineinzappeln , und es wird ihm nirgends gefallen .
Jetzt sagt er , er habe zu schwer arbeiten müssen , und er erzählt von listigen , boshaften , faulen Halb-Vorgesetzten , die es gleich bei seinem Antritt unternommen hätten , ihn mit ungebührlichen Pflichten schalkhaft zu überhäufen und ihn zu Boden zu quälen und zu übervorteilen .
Ach , ich glaube das Schacht .
Nur zu willig , d. h. ich halte für absolut wahr , was er sagt , denn kränklichen , empfindsamen Leuten gegenüber ist die Welt ja so unbegreiflich roh , gebieterisch , launisch und grausam .
Nun , Schacht wird vorläufig wieder hier bleiben .
Ein wenig ausgelacht haben wir ihn , als er ankam , das muß auch sein , Schacht ist ein junger Mensch , und er darf schließlich auch nicht der Meinung sein , für ihn gäbe es besondere Stufen , Vorteile , Handhaben und Rücksichten .
Er hat jetzt eine erste Enttäuschung erlebt , und ich bin überzeugt , daß er zwanzig Enttäuschungen hintereinander erleben wird .
Das Leben mit seinen wilden Gesetzen ist überhaupt für gewisse Personen nur eine Kette von Entmutigungen und schreckenerregenden bösen Eindrücken .
Menschen wie Schacht sind zur fortlaufenden , leidenden Abneigung geboren .
Er möchte anerkennen und willkommen heißen , aber er kann eben einmal nicht .
Das Harte und Mitleidlose tritt ihm zehnfach hart und unmitleidvoll entgegen , er empfindet es eben schärfer .
Armer Schacht .
Er ist ein Kind , und er sollte in Melodien schwelgen und sich in gütige , weiche , sorgenlose Dinge betten können .
Für ihn sollte es heimliches Plätschern und Vogelgezwitscher geben .
Ihn sollten blasse zarte Abendhimmelwolken tragen in das Reich : " Ach , wie ist mir ? "
- Seine Hände taugen zu leichten Gebärden , nicht zur Arbeit .
Vor ihm sollten Winde wehen , und hinter ihm sollten süße freundliche Stimmen flüstern .
Seine Augen sollten selig geschlossen bleiben dürfen , und Schacht sollte wieder ruhig einschlummern dürfen , wenn er des Morgens in den warmen , lüsternen Kissen erwachte .
Für ihn gibt es im Grunde genommen keine ziemliche Tätigkeit , denn jede Beschäftigung ist für ihn , der so aussieht , unziemlich , widernatürlich und unpassend .
Ich bin der reine grobknochige Knecht gegen Schacht. Ah , zerschmettert wird er werden , und eines Tages wird er im Krankenhaus verenden , oder er wird , verdorben an Leib und Seele , in einem von unseren modernen Gefängnissen schmachten .
Jetzt drückt er sich so in den Ecken der Schulstube herum , schämt sich und zittert vor dem ihm widerwärtigen , unbekannten Zukünftigen .
Das Fräulein sieht ihn besorgt an , doch ist sie jetzt vom eigentümlichen Eigenen viel zu sehr in Anspruch genommen , als daß sie sich sehr um Schacht bekümmern könnte .
Übrigens könnte sie ihm nicht helfen .
Ein Gott müßte und könnte das vielleicht tun , doch es gibt keine Götter , nur einen Einzigen , und der ist zu erhaben zur Hilfe .
Zu helfen und zu erleichtern , das würde dem Allmächtigen gar nicht ziemen , so fühle ich wenigstens .
Fräulein Benjamenta spricht nun jeden Tag ein paar Worte mit mir , sei es in der Küche , sei es in der manchmal ganz stillen und vereinsamten Schulstube .
Kraus tut , als wenn er noch ein Jahrzehnt gewärtigte , hier im Institut zu verbleiben .
Er lernt seine Lektionen trocken und unverdrossen , ja doch , eigentlich verdrossen , aber verdrossen hat er ja immer ausgesehen , das will nichts zu bedeuten haben .
Dieser Mensch ist keiner Voreiligkeit , keiner Ungeduld fähig .
" Abwarten , " so steht es ihm auf der ruhigen Stirn beinahe hoheitsvoll geschrieben .
Ja , Fräulein sagte das auch schon einmal , sie sagte , Kraus besitze Hoheit , und das ist wahr , die Unscheinbarkeit seines Wesens hat etwas Unsichtbar-Herrscherartiges .
Zu meinem Fräulein wagte ich gestern zu sagen :
" Wenn ich Ihnen nur ein einziges , nur ein verschwindend kleines einziges Mal selbstbewußter gegenübergetreten bin , als ganz befangen von Gefühlen und Fesseln der lautersten Ehrfurcht , so will ich mich hassen , verfolgen , an Stricken aufhängen , mit Giften tötendster Art vergiften , mit Messern , gleichviel was für welchen , mir den Hals abschneiden .
Nein , es ist ganz unmöglich , Fräulein .
Ich konnte Sie nie verletzen .
Schon Ihre Augen .
Wie sind sie mir immer der Befehl und das unantastbare schöne Gebot gewesen .
Nein , nein , ich lüge nicht .
Ihr Erscheinen an der Türe !
Ich habe hier nie einen Himmel nötig gehabt , nie Mond , Sonne und Sterne .
Sie , ja Sie sind mir die höhere Erscheinung gewesen .
Ich rede wahr , Fräulein , und ich muß annehmen , daß Sie empfinden , wie fern von aller , aller Schmeichelei diese Worte sind .
Ich hasse alles zukünftige Wohlergehen , ich verabscheue das Leben .
Ja , ja .
Und doch muß ich bald auch , wie Kraus , austreten , ins hassenswerte Leben hinaus .
Sie sind mir die körperliche Gesundheit gewesen . Habe ich in einem Buch gelesen , so waren Sie es , nicht das Buch , Sie waren das Buch .
Doch , doch .
Oft habe ich mich unartig benommen .
Ein paarmal mußten Sie mich vor dem Hochmut , der mich fressen und unter Trümmer unschicklicher Einbildungen begraben wollte , warnen .
Wie sank er da , wie blitzschnell .
Wie habe ich dem gelauscht , was das Fräulein Benjamenta sprach .
Sie lächeln ?
Ja , das Lächeln , es ist mir immer ein Antrieb zum Guten , Tapferen und Wahren gewesen .
Wie sind Sie stets gut zu mir gewesen .
Viel , viel zu gut zu mir Trotzkopf .
Und an Ihrem Anblick herunter stürzten meine vielen Fehler , um Verzeihung flehend , herunter , zu Ihren Füßen .
Nein , ich mag nicht in das Leben , nicht in die Welt hinaustreten .
Ich verachte alles Zukünftige .
Wenn Sie in die Stube eintraten , war ich froh , dann schalt ich mich stets einen Dummkopf .
Oft habe ich Sie , denken Sie sich , ja , ich muß es gestehen , im geheimen der Würde und der Größe berauben wollen , aber ich fand in all meinem zusammengepeitscht Geist kein Wort , nicht ein einziges kleines Wort der Schmähung und Schmälerung dessen , was ich ein wenig verletzen wollte .
Und die Strafe war jedesmal meine Reue und Unruhe .
Ja , immer , Fräulein , immer habe ich Sie verehren müssen .
Sind Sie ungehalten , daß ich so spreche ?
Ich , ich bin froh , daß ich so spreche . "
- Sie schaute mich blinzelnd an und lächelte .
Sie spottete ein wenig , war aber doch ganz zufrieden .
Außerdem , das merkte ich , war sie in Gedanken mit etwas Fernabliegendem beschäftigt .
Sie war wie geistesabwesend , und daher , einzig daher habe ich ja auch nur so zu sprechen gewagt .
Ich werde mich hüten , es wieder zu tun .
Es geht mich ja gar nichts an , gewiß , aber es fällt mir auf , daß keine neuen Schüler ins Institut eintreten .
Sollte der Ruf , den Herr Benjamenta in der Umwelt als Erzieher genießt oder genossen hat , im Abnehmen oder gar im Verschwinden sein ?
Das wäre traurig .
Doch vielleicht ist das alles nur meine überreizte Empfindung .
Ich bin hier ein wenig nervös geworden , wenn man eine gewisse Spannung und zugleich Mattigkeit der Beobachtungskräfte so nennen darf .
Es ist hier alles so zart , und man steht wie in der bloßen Luft , nicht wie auf festem Boden .
Und dann dieses immerwährende Gefaßt- und Bewußtsein , auch das macht es vielleicht aus .
Leicht möglich .
Man wartet hier immer auf etwas , nun , das schwächt doch schließlich .
Und wieder verbietet man sich streng das Horchen und Warten , weil das unzulässig ist .
Nun , auch das nimmt Kräfte in Anspruch .
Oft steht das Fräulein am Fenster und sieht lange hinaus , als lebe sie schon anderswo .
Ja , das ist es , das nicht ganz Gesunde und Natürliche , was hier webt :
wir alle , Herrschaft sowohl wie Elevenschaft , wir leben beinahe schon anderswo .
Es ist , als wenn wir nur noch vorübergehend hier atmeten , äßen , schliefen und wach stünden und Unterricht erteilten und genössen .
Etwas wie treibende , schonungslose Energie schlägt hier rauschend die Flügel zusammen .
Horchen wir alle hier auf das Spätere ? auf irgend welches Nachherige ?
Auch möglich .
Und was dann , wenn wir jetzigen Zöglinge alle ausgetreten sind und doch keine neuen mehr kommen ?
Was dann ?
Sind dann Benjamentas arm und verlassen ?
Wenn ich mir das ausmale , werde ich krank , einfach krank .
Nein , niemals , niemals .
Das , das wird nicht sein dürfen .
Und doch wird es sein müssen .
Sein müssen ?
Rüstig sein heißt , sich nicht lange besinnen , sondern rasch und ruhig hineingehen in das , was erfüllt werden soll .
Naß werden von den Regengüssen des Bemühens , hart und stark werden an den Stößen und Reibungen dessen , was die Notwendigkeit fordert .
Ich hasse solche klugen Redensarten .
Ich wollte an etwas ganz anderes denken .
Aha , ich habe es , es betrifft Herrn Benjamenta .
Ich war wieder bei ihm im Büro .
Ich necke ihn immer wegen der zu erlangenden , baldigen Anstellung .
So fragte ich ihn auch diesmal wieder , wie es denn jetzt sei , ob ich gewärtigen dürfe usw .
Er wollte wütend werden .
O , er will auch jetzt immer noch wütend werden , und ich bin stets sehr kühn , wenn ich ihn reize .
Ganz laut , barsch und unverschämt fragte ich .
Der Vorsteher wurde ganz verlegen , er fing sogar an , sich hinter den großen Ohren zu reiben .
Er hat natürlich nicht das , was man große Ohren zu nennen pflegt , seine Ohren sind verhältnismäßig durchaus nicht zu groß , nur ist eben alles groß an dem Mann , folglich auch seine Ohren .
Schließlich trat er auf mich zu , lachte mich merkwürdig gutmütig an und sprach :
" In die Arbeit hinaus willst du treten , Jakob ?
Ich aber sage dir , bleibe du lieber noch .
Hier ist es doch für dich und deinesgleichen ganz schön .
Oder nicht ?
Zögere du noch ein wenig .
Ich möchte dir sogar anraten , ein wenig schlendrianisch , vergeßlich und gedankenträge zu werden .
Denn siehst du , das , was man Untugenden nennt , das spielt im Dasein des Menschen eine so große Rolle , das ist so wichtig , fast möchte ich sagen , notwendig .
Wenn Untugenden und Fehler nicht wären , es würde der Welt an Wärme , Reiz und Reichtum fehlen .
Die Hälfte der Welt , und vielleicht die im Grunde schönere , würde mit den Lässigkeiten und Schwächen dahinsterben .
Nein , sei du träge .
Nun , nun , verstehe mich bitte recht , sei so , wie du bist und hier wurdest , aber spiele , bitte , ein wenig den Saumseligen .
Willst du ?
Sagst du ja ?
Mich würde es freuen , dich ein wenig den Träumereien verfallen zu sehen .
Hänge den Kopf , sei voll Gedanken , blicke betrübt , nicht wahr ?
Denn du bist mir fast ein wenig zu voll von Willen , zu voll von Charakter .
Und stolz bist du , Jakob !
Was denkst du dir eigentlich ?
Meinst du , in der offenen Welt Großes erreichen , erringen zu können ?
Zu müssen ?
Hast du ernstliche Absichten auf etwas Bedeutungsvolles ?
Fast machst du mir - leider - diesen etwas gewaltsamen Eindruck .
Oder dann willst du vielleicht , vielleicht wie zum Trotz , ganz klein bleiben ?
Auch das mute ich dir zu .
Du bist ein bißchen zu festlich , zu heftig , zu triumphatorisch aufgelegt .
Doch das alles ist ja so gleichgültig , du bleibst noch , Jakob . Dir gebe ich keine Stelle , dir verschaffe ich noch lange nichts derartiges .
Weißt du , mich verlangt , dich noch zu haben .
Kaum besitze ich dich Burschen , so willst du fortrennen ?
Das gibt es nicht .
Langeweile dich hier im Institut so gut als du eben kannst .
O , kleiner Welteroberer , in der Welt , draußen in der Welt erst , im Beruf , im Streben , im Erringen , da , da werden dir Meere von Langeweile , Öde und Vereinsamung entgegengähnen .
Bleibe du hier .
Sehne du dich noch ein Weilchen .
Du glaubst ja gar nicht , welch eine Seligkeit , welch eine Größe im Sehnen , also im Warten , liegt .
Also warte .
Laß es dich immerhin innerlich drängen .
Aber nicht zu sehr .
Höre , mich würde dein Weggehen schmerzen , es würde mir eine Wunde , eine ganz unheilbare , beibringen , es würde mich fast töten .
Töten ?
Ich muß dich bitten , mich auszulachen , aber fest .
Lach mich ganz unverschämt aus , Jakob .
Ich erlaube es dir .
Doch , sage du , was habe jetzt eigentlich ich dir zukünftig noch zu gestatten und zu verbieten ?
Ich , der ich dich soeben davon überzeugt habe , daß ich fast , fast abhängig von dir bin ?
Mich schaudert , mich empört und beglückt es zu gleicher Zeit , Jakob , was ich da angestellt habe .
Doch ich liebe zum erstenmal einen Menschen .
Doch das fassest du nicht .
Gehe .
Marsch .
Mache daß du hinauskommst .
Ungezogener , wisse , daß ich noch strafen kann .
Fürchte dich . " - Nun , da hatte ich es , er war eben mit einmal wieder wütend geworden .
Rasch verschwand ich aus seinen finster mich durchbohrenden Augen .
Das sind Augen , das !
Die des Herrn Vorstehers .
Ich muß hier bemerken , daß ich im Verduften aus einem Lokal eine unglaubliche Fertigkeit besitze .
Ich bin förmlich zum Kontor hinausgeflogen , nein , hinausgepfiffen , wie Wind pfeift , als der Herr mir sagte : " Fürchte dich . " O ja , man muß sich schon zuweilen vor ihm fürchten .
Ich würde es unanständig finden , wenn ich keine Furcht kennte , denn dann hätte ich ja auch gar keinen Mut , der doch nichts anderes ist als das Furchtüberwindende .
Wieder horchte ich draußen im Korridor am Schlüsselloch , und wieder blieb es ganz still .
Ich streckte sogar ganz läppisch und echt zöglinghaft die Zunge heraus , und dann mußte ich lachen .
Ich glaube , ich habe noch nie so gelacht .
Natürlich ganz leise .
Es war das denkbar echteste unterdrückte Gelächter .
Wenn ich so lache , nun , dann steht nichts mehr über mir .
Dann bin ich etwas an Umfassen und Beherrschen nicht zu Überbietendes .
Ich bin in solchen Momenten einfach groß .
Ja , so ist es : noch bin ich im Institut Benjamenta , noch habe ich die hier geltenden Satzungen zu fürchten , noch wird Unterricht erteilt , Fragen werden gestellt und beantwortet , noch fliegen wir alle auf Kommando , noch immer klopft morgens früh Kraus mit seinem ärgerlichen " Stehe ' auf , Jakob " und mit seinem zornig gebogenen Finger an meine Kammertüre , noch sagen wir Zöglinge :
" Guten Tag , Fräulein , " wenn sie erscheint , und : " Gute Nacht " , wenn sie abends sich zurückzieht .
Wir stecken noch immer in den eisernen Klauen der zahlreichen Vorschriften und ergehen uns immer noch in lehrhaften , eintönigen Wiederholungen .
Ich bin übrigens jetzt endlich in den wirklichen inneren Gemächern gewesen , und ich muß sagen , es existieren gar keine .
Zwei Zimmer sind da , aber diese beiden Räume sehen nach nichts Gemachartigem aus .
Sie sind möbliert wie die Sparsamkeit und Gewöhnlichkeit selber , und sie enthalten durchaus nichts Geheimnisvolles .
Seltsam .
Wie bin ich nur auf die wahnsinnige Idee gekommen , daß Benjamentas in Gemächern wohnen ?
Oder träumte ich , und habe ich jetzt ausgeträumt ?
Es sind allerdings Goldfische da , und Kraus und ich müssen das Bassin , in welchem diese Tiere schwimmen und leben , regelmäßig entleeren , säubern und mit frischem Wasser auffüllen .
Ist das aber etwas nur entfernt Zauberhaftes ?
Goldfische können in jeder preußischen mittleren Beamtenfamilie vorkommen , und an Beamtenfamilien klebt nichts Unverständliches und Absonderliches .
Wunderbar !
Und ich habe so felsenfest an die inneren Gemächer geglaubt .
Ich dachte , es müsse da hinter der Türe , durch welche das Fräulein stets aus- und eingeht , von schloßartigen Zimmern und Gelassen wimmeln .
Zierlich gewundene Wendeltreppen und breite steinerne , teppichbelegte andere Treppen sah ich im Geist hinter der einfachen Türe .
Auch eine uralte Bibliothek war vorhanden , und Korridore , lange heitere , mattenbedeckte Korridore zogen sich in meiner Phantasie von einem Ende des " Gebäudes " zum anderen .
Ich kann mit all meinen Ideen und Dummheiten bald eine Aktiengesellschaft zur Verbreitung von schönen , aber unzuverlässigen Einbildungen gründen .
Kapital , scheint mir , ist genug da , an Fonds wird es nicht fehlen , und Abnehmer solcher Papiere kommen überall vor , wo der Gedanke und Glaube ans Schöne noch nicht ganz ausgestorben ist .
Was stellte ich mir nicht alles vor .
Einen Park natürlich .
Ohne Park kann ich doch gar nicht existieren .
Ebenso eine Kapelle , aber merkwürdigerweise keine romantisch-ruinenhafte , sondern eine sauber renovierte , ein kleines protestantisches Gotteshaus .
Der Pfarrer saß am Frühstückstisch .
Und was noch alles .
Man dinierte , man veranstaltete Jagden .
Man tanzte abends im Rittersaal , an dessen hohen dunkelhölzernen Wänden die Bilder der Ahnen des Geschlechtes hingen .
Was für eines Geschlechtes ?
Ich stammle das , denn in der Tat , ich kann es nicht sagen .
Nun , ich bereue tief , derart geträumt und gedichtet zu haben .
Schnee fliegen sah ich auch , nämlich in den Schloßhof .
Es waren nasse , große Schneeflocken , und es war morgens früh , immer war es dunkle , winterliche Frühe .
Ach , und etwas ganz Schönes , eine Halle , ja , eine Halle sah ich .
Reizend !
Drei edle vornehme Greisinnen saßen beim kichernden , knisternden Kaminfeuer .
Sie häkelten .
Welch eine Phantasie , nicht weiter zu sehen als bis dort , wo gestrickt und gehäkelt wird .
Aber mich berauschte eben gerade das .
Wenn ich Feinde hätte , würden sie sagen , das sei krankhaft , und sie würden Grund zu haben glauben , mich zu verabscheuen samt der lieben traulichen Häkelei .
Dann gab es wieder ein wunderbares Nachtessen , wobei Kerzen von silbernen Leuchtern herabstrahlten .
Die Tafelfreude glitzerte , blendete und plauderte .
Ich stellte mir das wahrhaft schön vor .
Und Frauen , was für Frauen .
Die eine sah einer veritablen Prinzessin ähnlich , und sie war es auch .
Ein Engländer war auch da .
Wie die weiblichen Kleider rauschten , wie die Brüste , die nackten , auf und nieder wogten !
Das Eßzimmer war von Parfüms wie von schlangenhaften Linien durchzogen .
Die Pracht vereinigte sich mit der Sittsamkeit , der gute Ton mit dem Genuß , die Freude mit der Feinheit , und an der Eleganz hing der Adel der Geburt .
Dann schwamm das wieder , und es kam anderes , Neues .
Ja , die inneren Gemächer , sie lebten , und jetzt sind sie mir quasi gestohlen worden .
Die karge Wirklichkeit : was ist sie doch manchmal für ein Gauner .
Sie stiehlt Dinge , mit denen sie nachher nichts anzufangen weiß .
Es macht ihr eben einmal , wie es scheint , Spaß , Wehmut zu verbreiten .
Wehmut ist mir allerdings wieder sehr lieb , schätzens- , sehr schätzenswert .
Sie bildet .
Heinrich und Schilinski sind ausgetreten .
Hand geschüttelt und adieu gesagt .
Und fort .
Sehr wahrscheinlich auf Niewiedersehen .
Wie kurz die Abschiede sind .
Man will etwas sagen , hat aber gerade das Passende vergessen , und so sagt man nichts oder irgend eine Dummheit .
Abschiednehmen und -geben ist greulich .
In solchen Momenten rüttelt es am Menschenleben , und man fühlt lebhaft , wie nichts man ist .
Rasche Abschiede sind unliebevoll , und lange sind unerträglich .
Was tut man ?
Nun , man sagt dann eben etwas Einfältiges .
- Fräulein Benjamenta sagte mir etwas sehr Sonderbares .
" Jakob , " sagte sie , " ich sterbe .
Erschrick nicht .
Laß mich zu dir ganz ruhig reden .
Sage , warum bist du nur so mein Vertrauter geworden ?
Ich habe dich gleich von Anfang an , als du hier eintratest , für nett gehalten , für zart .
Bitte , mache keine falsch-aufrichtigen Einwendungen .
Du bist eitel .
Bist du eitel ?
Höre , ja , es geht zu Ende mit mir .
Kannst du schweigen ?
Du mußt nämlich schweigen über das , was du jetzt erfährst .
Vor allen Dingen darf dein Herr Vorsteher , mein Bruder , nichts wissen , präge dir das fest ein .
Doch ich bin vollkommen ruhig , und du bist es auch , ich sehe es , und du wirst Wort halten und deinen Mund halten können , ich weiß es .
Es nagt an mir , und ich sinke in etwas hinein , und ich weiß , was das ist .
Das ist so traurig , mein lieber junger Freund , so traurig .
Ich mute dir Stärke zu , nicht wahr , Jakob ?
Aber ich weiß es ja gerade , daß du stark bist .
Du hast Herz .
Kraus würde mich nicht zu Ende anhören können .
Ich finde es so hübsch , daß du nicht weinst .
O es würde mich widerlich berühren , wenn jetzt schon , jetzt schon deine Augen feucht würden .
Das alles hat noch Zeit .
Und du horchst so schön .
Du hörst meine elende Geschichte an wie etwas Kleines , Feines und Gewöhnliches , wie etwas , das einfach nur Aufmerksamkeit heischt , weiter nichts , und so horchst du .
Du kannst dich ganz riesig gut benehmen , wenn du dir recht Mühe gibst .
Freilich , hochmütig bist du ja , das kennen wir , nicht wahr ?
Still , keinen Ton jetzt .
Ja , Jakob , der Tod ( o was für ein Wort ) steht dicht hinter mir .
Sieh , so , wie ich jetzt dich anatme , so atmet er mir von hinten seinen kalten scheußlichen Atem an , und ich sinke , sinke vor diesem Atem .
Die Brust preßt es mir ab. Habe ich dich traurig gemacht ?
Sprich .
Ist das traurig für dich ?
Ein wenig , nicht wahr .
Doch du mußt das alles jetzt noch vergessen , hast du gehört ?
Vergessen !
Ich komme wieder zu dir , so wie heute , und dann sage ich dir , wie es mir geht .
Nicht wahr , du wirst es zu vergessen suchen .
Doch komme her .
Laß mich dir die Stirn berühren .
Du bist brav . "
- Sie zog mich ganz leicht an sich und drückte mir so etwas wie Hauch auf die Stirn .
Von Berühren , wie sie sagte , war gar keine Rede .
Dann entfernte sie sich still und überließ mich meinen Gedanken .
Gedanken ?
I wo .
Ich dachte wieder einmal daran , daß mir Geld mangle .
Das war mein Gedanke .
So bin ich , so roh und so gedankenlos .
Und dann ist die Sache ja die : herzliche Erschütterungen senken etwas wie Eiseskälte in meine Seele hinein .
Unmittelbar zur Trauer veranlaßt , entschlüpft mir die Trauer-Empfindung vollständig .
Ich lüge nicht gern .
Überhaupt mir gegenüber lügen :
was hätte das für einen Sinn ?
Ich lüge wo anders , aber nicht hier , vor mir selber .
Nein , weiß der Kuckuck , da lebe ich , und Fräulein Benjamenta sagt so etwas Entsetzliches , und ich , der ich sie anbete , weiß nichts von Tränen ?
Ich bin gemein , das ist es .
Doch halte .
Zu sehr heruntermachen will ich mich auch nicht .
Ich bin stutzig , und deshalb - - . Lügen sind das , lauter Lügen .
Ich habe das ja alles eigentlich gewußt .
Gewußt ?
Das ist wieder eine Lüge .
Es ist mir nicht möglich , mir die Wahrheit zu sagen .
Jedenfalls gehorche ich Fräulein und schweige über diese Geschichte .
Ihr gehorchen dürfen !
So lange ich ihr gehorche , ist sie am Leben .
- Angenommen , ich wäre Soldat ( und ich bin meiner Natur nach ein ausgezeichneter Soldat ) , gemeiner Fußsoldat , und ich diente unter Napoleons Fahnen , so marschierte ich eines Tages ab nach Rußland .
Mit meinen Kameraden stünde ich gut , denn das Elend , die Entbehrungen und die vielen gemeinsam begangenen rohen Taten verbänden uns wie zu etwas zusammenhängend Eisernem .
Grimmig würden wir vor uns herstarren .
Ja , der Grimm , der unbewußte , stumpfe Zorn , der verbände uns .
Und wir marschierten , immer das Gewehr umgehängt .
In den Städten , durch die wir zögen , würde uns eine müßige , schlaffe , durch den Tritt unserer Füße entmoralisierte Menschenmenge begaffen .
Aber dann würde es keine Städte mehr geben , oder nur noch ganz selten , sondern unabsehbare Länderstrecken würden sich vor unseren Augen und Beinen nach dem dünnen Horizont hinschleichen .
Das Land kröche und schliche förmlich .
Und nun würde der Schnee kommen und uns einschneien , aber immer würden wir weitermarschieren .
Die Beine , das wäre jetzt alles .
Stundenlang würde mein Blick zur nassen Erde gesenkt sein .
Ich würde Muße haben zur Reue , zu endlosen Selbstanklagen .
Doch immer würde ich Schritt halten , Beine hin und her werfen und vorwärtsmarschieren .
Übrigens gliche unser Marschieren jetzt mehr einem Trotten . Hin und wieder erschien in weiter , weiter Ferne ein äffender Höhenzug , dünn wie die Kannte eines Taschenmessers , eine Art Wald .
Und da würden wir wissen , daß jenseits dieses Waldes , an dessen Rand wir nach vielen Stunden anlangten , sich weitere endlose Ebenen ausdehnten .
Von Zeit zu Zeit fielen Schüsse .
Bei diesen vereinzelten Tönen würden wir uns an das erinnern , was käme , an die Schlacht , die da eines Tages geschlagen werden würde .
Und wir marschierten .
Die Offiziere würden mit traurigen Mienen umherreiten , Adjutanten peitschten ihre Rosse , wie gejagt von ahnungsvollem Entsetzen , am Zug vorüber .
Man würde an den Kaiser , an den Feldherrn denken , nur ganz dunkel , aber immerhin , man würde ihn sich vorstellen , und das gewährte Trost .
Und immer weiter marschierte man .
Zahllose kleine , aber furchtbare Unterbrechungen hemmten für kurze Zeiten den Marsch .
Doch das würde man kaum merken , sondern marschierte weiter .
Dann kämen mir die Erinnerungen , nicht deutliche , und doch überdeutliche .
Sie würden mir am Herzen fressen wie Raubtiere an der willkommenen Beute , sie würden mich ins Heimatlich-Trauliche versetzen , an den goldenen , von zarten Nebeln bekränzten , rundlichen Rebhügel .
Ich würde Kuhglocken schallen und ans Gemüt schlagen hören .
Ein liebkosender Himmel böge sich wasserfarbig und tonreich über mir .
Der Schmerz würde mich beinahe verrückt machen , doch ich marschierte weiter .
Meine Kameraden zur linken und zur rechten Hand , der Vorder- und der Hintermann , das bedeutete alles .
Das Bein würde arbeiten wie eine alte , aber immer noch gefügige Maschine .
Brennende Dörfer würden den Augen ein täglich wiederholter , schon ganz uninteressanter Anblick sein , und über Grausamkeiten unmenschlicher Art würde man sich nicht wundern .
Da fiele eines Abends , in der immer bitterer werdenden Kälte , mein Kamerad , er könnte ja Tscharner heißen , zu Boden .
Ich würde ihm aufhelfen wollen , aber :
" Liegen lassen ! " würde der Offizier befehlen .
Und man marschierte weiter .
Dann , eines Mittags , sähen wir unseren Kaiser , sein Gesicht .
Doch er würde lächeln , er würde uns bezaubern .
Ja , diesem Menschen fiele es nicht ein , seine Soldaten durch eine düstere Miene zu entnerven und zu entmutigen .
Siegesgewiß , zum voraus schon zukünftige Schlachten gewonnen , marschierten wir in dem Schnee weiter .
Und dann , nach endlosen Märschen , würde es endlich zum Schlagen kommen , und es ist möglich , daß ich am Leben bliebe und wieder weitermarschierte .
" Jetzt geht es nach Moskau , du ! " würde einer in unserer Reihe sagen .
Ich verzichtete aus ich weiß nicht was für Gründen darauf , ihm zu antworten .
Ich wäre nur noch der kleine Bestandteil an der Maschine einer großen Unternehmung , kein Mensch mehr .
Ich wüßte nichts mehr von Eltern , nichts von Verwandten , Liedern , persönlichen Qualen oder Hoffnungen , nichts vom heimatlichen Sinn und Zauber mehr .
Die soldatische Zucht und Geduld würde mich zu einem festen , undurchdringlichen , fast ganz inhaltlosen Körper-Klumpen gemacht haben .
Und so ginge es weiter , nach Moskau zu .
Ich würde das Leben nicht verfluchen , dazu wäre es längst zu fluchwürdig geworden , kein Weh mehr empfinden , das Weh mit all seinen jähen Zuckungen würde ich längst ausempfunden und fertigempfunden haben .
Das ungefähr , glaube ich , hieße Soldat unter Napoleon sein .
" Du bist mir ein Rechter , du ! " sagte Kraus zu mir , eigentlich ganz ungerechtfertigt , " du gehörst zu denen , die sich , so wertlos sie sein mögen , über gute Lehren erhaben vorkommen wollen .
Ich weiß es schon , schweig nur .
Du willst in mir einen sauren Pädagogen und Rechthaber erblickt haben .
Gehe mir .
Und was fühlst du denn , du und deinesgleichen , Prahlhanse , was ihr seid , was ernst- sein und achtsam- sein eigentlich sagen will .
Du bildest dir auf deine springerische und tänzerische Leichtfertigkeit ganz gewiß , und mit ohne Zweifel ebenso viel Recht , nicht wahr , Königreiche ein ?
Du Tänzer , o ich durchschaue dich .
Immer lachen über das Richtige und Ziemliche , das kannst du , das verstehst du vortrefflich , ja , ja , darin seid ihr , du und deine Stammesbrüder , Meister .
Aber gebt acht , gebt acht .
Euch zuliebe sind die Ungewitter , Blitz und Donner und Schicksalsschläge , gewiß noch nicht abgeschafft worden .
Wegen eurer Grazie , ihr Künstler , was ihr doch seid , bieten sich dem Schaffenden , überhaupt Lebendigen , gewiß nicht plötzlich weniger Schwierigkeiten .
Lerne du auswendig , das , was dir als Lektion vorschweben sollte , statt mir zeigen zu wollen , daß du auf mich herablachen kannst .
Ist das ein Herrchen !
Es will mir dartun , daß es sich brüsten kann , wenn es ihm paßt .
Laß dir sagen , daß Kraus solche armseligen Schauspielereien einfach verachtet .
Mache etwas !
Man kann dir das nicht dutzendmal genug auf die hochmütige Nase binden .
Weißt du was , Jakob , Herr des Daseins : laß mich in Ruhe .
Ziehe auf Eroberungen .
Ich bin überzeugt , es fallen dir welche vor die Füße , und du wirst sie nur aufzulesen brauchen .
Alles schmeichelt euch ja , alles kommt euch entgegen , euch Besenbinder .
Was ?
Du hast die Hände noch in der Tasche ?
Zwar , ich begreife es .
Wem gebratene Tauben in den Mund fliegen , warum sollte der sich noch je überhaupt Mühe geben , so auszusehen wie einer , auf den eine Tat , eine Arbeit , eine händefordernde Anstrengung hinzutreten könnte ?
Bitte , gähne noch ein wenig .
Es macht sich dann besser .
So siehst du zu gefaßt , zu beherrscht , zu bescheiden aus .
Oder willst du mir ein paar Vorschriften erteilen ?
Tu's nur .
Ich bin sehr gespannt .
Ach , mache daß du wegkommst .
An deiner albernen Gegenwart werde ich sonst noch ganz und gar an mir selbst irre , du altes - - - ich hätte jetzt doch bald Mal etwas gesagt .
Verleitet einen zu sündhaften Ausdrücken , der Ärgerniserreger , was er ist .
Mache dich unsichtbar oder beschäftige dich mit etwas .
Und allen Anstand verlierst du auch , ja du , vor Vorstehers .
Ich habe es schon gesehen .
Aber wozu rede ich mit einem Lachbenzen ?
Gestehe , daß du ganz nett wärest , wenn du kein Narr wärst .
Wenn du mir das gestehst , will ich dir um den Hals fallen . "
- " O Kraus , liebster aller Menschen , " sagte ich , " du höhnst , du spottest ?
Kann das Kraus ?
Ist das möglich ? "
- Ich lachte hell auf und schlenderte in meine Kammer .
Bald ist hier im Institut Benjamenta alles überhaupt nur noch ein Schlendern .
Es sieht hier aus , als wenn so etwas wie " die Tage gezählt " wären .
Aber man irrt sich .
Vielleicht irrt sich auch Fräulein Benjamenta .
Vielleicht auch Herr Vorsteher .
Wir irren uns vielleicht alle .
Ich bin jetzt ein Krösus .
Zwar , was das schätzenswerte Geld anbetrifft - - still , nicht von Geldern reden .
Ich führe ein sonderbares Doppelleben , ein geregeltes und ein ungeregeltes , ein kontrolliertes und ein unkontrollierbares , ein einfaches und ein höchst kompliziertes .
Was will Herr Benjamenta sagen , wenn er bekennt , noch nie einen Menschen geliebt zu haben ?
Was hat es zu bedeuten , daß er mir , seinem Eleven und Sklaven , das sagt ?
Nun ja , Eleven sind Sklaven , junge , den Zweigen und Stämmen entrissene , dem unbarmherzigen Sturmwind überlieferte , übrigens schon ein wenig gelbliche Blätter .
Ist Herr Benjamenta ein Sturmwind ?
Sehr wohl denkbar , denn ich habe ja schon oft Gelegenheit gehabt , das Brausen und Zürnen und dunkle Siechentladen dieses Sturmwindes zu spüren .
Und dann ist er ja so allmächtig , und ich Zögling , wie winzig bin ich .
Still , nicht von Allmacht reden .
Man irrt sich stets , wenn man große Worte in den Mund nimmt .
Herr Benjamenta ist der Erschütterung und Schwäche so fähig , so sehr fähig , daß es beinahe zum Lachen , vielleicht sogar zum Grinsen ist .
Ich glaube , alles , alles ist schwach , alles muß wie Würmer zittern .
Nun ja , und diese Erleuchtung , diese Gewißheit macht mich zum Krösus , d. h. zum Kraus .
Kraus liebt und haßt nichts , daher ist er ein Krösus , es grenzt etwas in ihm ans Unanfechtbare .
Wie ein Felsen ist er , und das Leben , die stürmische Welle , zerspritzt sich an seinen Tugenden .
Seine Natur , sein Wesen ist ganz voll behangen von Tugenden .
Man kann ihn kaum lieben , von hassen schon gar keine Rede .
Das Hübsche , Anziehende mag man gern , und daher ist auch das Schöne und Hübsche der Gefahr des Gefressenwerdens oder Mißbrauchtwerdens in so hohem Maße ausgesetzt .
An Kraus heran wagen sich keine verzehrenden , fressenden Lebens-Zärtlichkeiten .
Wie verloren eigentlich , aber doch , wie fest , wie unnahbar steht er da .
Wie ein Halbgott .
Doch das versteht niemand , und auch ich - - - manchmal rede und denke ich geradezu über den eigenen Verstand .
Ich hätte daher vielleicht Pfarrer , Anführer einer religiösen Sekte oder Strömung werden sollen .
Nun , das kann ich ja noch .
Ich kann noch alles Mögliche aus mir machen .
Aber Benjamenta ?
- Ich weiß es genau , er wird mir jetzt bald einmal seine Lebensgeschichte erzählen .
Es wird ihn drängen zu Offenheiten , zu Erzählungen .
Sehr wahrscheinlich .
Und merkwürdig : manchmal ist mir , als wenn ich mich von diesem Mann , diesem Riesen , nie trennen sollte , nie mehr , als ob wir beide in Eines verschmolzen wären .
Aber man irrt sich ja immer .
Gefaßt , einigermaßen gefaßt sein , das will ich .
Auch nicht zu sehr , nein .
Zu sehr gefaßt sein hieße zu frech sein .
Wozu Bedeutsames im Leben gewärtigen ?
Muß das sein ?
Ich bin ja etwas so Kleines .
Daran , daran halte ich ungebunden fest , daran , daß ich klein , klein und nichtswürdig bin .
Und Fräulein Benjamenta ?
Wird sie wirklich sterben ?
An das wage ich nicht zu denken , und ich darf auch nicht .
Ein höheres Empfinden verbietet es mir .
Nein , ich bin kein Krösus .
Und was das Doppelleben betrifft , so führt jedermann eigentlich ein solches .
Wozu sich da brüsten ?
Ach , all diese Gedanken , all dieses sonderbare Sehnen , dieses Suchen , dieses Hände-Ausstrecken nach einer Bedeutung .
Mag es träumen , mag es schlafen .
Ich lasse es einfach nun kommen .
Mag es kommen .
Ich schreibe in fliegender Hast .
Ich bebe am ganzen Körper .
Es flackert vor meinen Augen wie auf und ab tanzende Irrlichter .
Etwas Furchtbares ist geschehen , scheint geschehen , kaum bin ich meiner selber und dessen bewußt , was vorfiel .
Herr Benjamenta hat einen Anfall gehabt und hat mich - erwürgen wollen .
Ist das wahr ?
O weh , alle meine Gedankenkräfte schwinden , und ich kann mir nicht sagen , ob alles das wahr ist , was da vorging .
Aber ich merke an der Zerrüttung , die mich beherrscht , daß es wahr ist .
Der Vorsteher kam in eine unbeschreibliche Wut hinein .
Er glich einem Simson , jenem Mann aus der Geschichte Palästinas , der an den Säulen eines hohen , menschenerfüllten Hauses rüttelte , bis der festliche , lüsterne Palast , bis der steinerne Triumph , bis die Bosheit zusammenstürzte .
Zwar hier , d. h. vor kaum einer Stunde , war ja durchaus keine Bosheit , keine Niedertracht umzuwerfen , und Säulen und Pfeiler gab es ebenfalls keine , aber es sah doch so aus , genau so , und ich geriet in eine nie vorher gekannte , hasenartige , schreckliche Angst hinein .
Ja , ein Hase war ich , und in der Tat , ich hatte auch Ursache zur hasenartigen Flucht , sonst wäre es mir sicher elend ergangen .
Ich entschlüpfte mit , ich kann es nicht anders sagen , wunderbarer Behendigkeit seinen zusammenschnürenden Fäusten , und ich glaube , ich habe ihn , den großen Herrn Benjamenta , den Riesen Goliath , sogar in den Finger gebissen .
Vielleicht rettete der rasche , energische Bis mir das Leben , denn es ist leicht möglich , daß der Schmerz , den die Wunde ihm beibrachte , ihn plötzlich wieder an Art und Weise , an Vernunft und Menschlichkeit erinnerte , derart , daß ich einer groben Verletzung des zöglinghaften Anstands möglicherweise das Leben zu verdanken habe .
Gewiß , die Gefahr , erdrückt zu werden , lag nahe , aber , wie ist das alles gekommen , wie war das alles möglich ?
Gleich einem Rasenden hat er sich auf mich gestürzt .
Geworfen hat er sich mit seinem mächtigen Körper auf mich wie ein dunkles Stück verrückt gewordenen Jähzornes ; wie eine Meerwelle kam es auf mich zu , um mich zu zerschmettern an den harten Wasserwänden .
Ich fable da von Wasser .
Das ist Unsinn , gewiß , aber ich bin eben noch ganz benommen , ganz verwirrt und erschüttert .
" Was machen Sie da , verehrter , lieber Herr Vorsteher ?
He ? " schrie ich aus und rannte wie besessen zur Bureautüre hinaus .
Und da horchte ich wieder .
So wie ich mit heiler Haut im Korridor stand , schob ich , allerdings zitternd mit all meinen Gliedern , mein Ohr ans Schlüsselloch und horchte .
Da hörte ich es leise lachen .
Ich stürzte hierher an den Schultisch , und hier bin ich , und ich weiß nicht , ob ich das geträumt , oder ob ich das tatsächlich erlebt habe .
Nein , nein , es ist , es ist Tatsache .
Wenn doch nur Kraus käme .
Mir ist doch ein wenig bange .
Wie nett wäre es , wenn der gute Kraus käme und mir wieder ein wenig , wie schon so oft , die Leviten läse .
Ich möchte ein wenig ausgeschimpft , abgekanzelt , verknurrt und verdonnert werden , das würde mir unsagbar wohltun .
Bin ich ein Kind ? -
Ich war eigentlich nie Kind , und deshalb , glaube ich zuversichtlich , wird an mir immer etwas Kindheitliches haften bleiben .
Ich bin nur so gewachsen , älter geworden , aber das Wesen blieb .
Ich finde an dummen Streichen noch ebenso viel Geschmack wie vor Jahren , aber das ist es ja , ich habe eigentlich nie dumme Streiche gemacht .
Meinem Bruder habe ich ganz früh einmal ein Loch in den Kopf geschlagen .
Das war ein Geschehnis , kein dummer Streiche .
Gewiß , Dummheiten und Jungenhaftigkeiten gab es die Menge , aber der Gedanke interessierte mich immer mehr als die Sache selber .
Ich habe früh begonnen , überall , selbst in den dummen Streichen , Tiefes herauszuempfinden .
Ich entwickle mich nicht .
Das ist ja nun so eine Behauptung .
Vielleicht werde ich nie Äste und Zweige ausbreiten .
Eines Tages wird von meinem Wesen und Beginnen irgend ein Duft ausgehen , ich werde Blüte sein und ein wenig , wie zu meinem eigenen Vergnügen , duften , und dann werde ich den Kopf , den Kraus einen dummen , hochmütigen Trotzkopf nennt , neigen .
Die Arme und Beine werden mir seltsam erschlaffen , der Geist , der Stolz , der Charakter , alles , alles wird brechen und welken , und ich werde tot sein , nicht wirklich tot , nur so auf eine gewisse Art tot , und dann werde ich vielleicht sechzig Jahre so dahinleben und -sterben .
Ich werde alt werden .
Doch ich habe kein Bangen vor mir .
Ich flöße mir durchaus keine Angst ein .
Ich respektiere ja mein Ich gar nicht , ich sehe es bloß , und es läßt mich ganz kalt .
O in Wärme kommen !
Wie herrlich !
Ich werde immer wieder in Wärme kommen können , denn mich wird niemals etwas Persönliches , Selbstisches am Warmwerden , am Entflammen und am Teilnehmen verhindern .
Wie glücklich bin ich , daß ich in mir nichts Achtens- und Sehenswertes zu erblicken vermag .
Klein sein und bleiben .
Und höbe und trüge mich eine Hand , ein Umstand , eine Welle bis hinauf , wo Macht und Einfluß gebieten , ich würde die Verhältnisse , die mich bevorzugten , zerschlagen , und mich selber würde ich hinabwerfen ins niedrige , nichtssagende Dunkel .
Ich kann nur in den unteren Regionen atmen .
Ich gehe durchaus mit den Vorschriften , die hier - immer noch - gelten , einig , wenn sie befehlen , daß die Augen des Zöglings und Lebenslehrlings glänzen müssen vor Munterkeit und gutem Willen .
Ja , Augen müssen Festigkeit der Seele ausstrahlen .
Ich verachte Tränen , und doch habe ich geweint .
Allerdings mehr innerlich , aber das ist vielleicht gerade das Schauderhafteste .
Fräulein Benjamenta sagte zu mir :
" Jakob , ich sterbe , weil ich keine Liebe gefunden habe .
Das Herz , das kein Würdiger zu besitzen , zu verwunden begehrt hat , es stirbt jetzt .
Ich sage dir adieu , Jakob , schon jetzt .
Ihr Knaben , Kraus , du und die anderen , ihr werdet dann ein Lied singen am Bett , in dem ich liegen werde .
Klagen werdet ihr , leise klagen .
Und jeder von euch , ich weiß es , wird eine frische , vielleicht gar vom Naturtau noch feuchte Blume auf das Laken legen .
Laß mich dich , junges Menschenherz , ganz ins geschwisterliche , ins lächelnde Vertrauen ziehen .
Ja , dir , Jakob , etwas anzuvertrauen , das ist so natürlich , denn man meint , du , der du so aussiehst wie jetzt , du müßtest für alles und jedes , selbst für das Unsagbare und Unhörbare , ein Ohr , eine horchende Brust , ein Auge , eine Seele und ein mitleidendes , mitempfindendes Verständnis haben .
Ich gehe am Unverständnis derjenigen , die mich hätten sehen und fassen sollen , am Wahn der Vorsichtigen und Klugen , und an der Lieblosigkeit des Zauderns und des Nicht-Recht-Mögens zugrunde .
Man glaubte mich eines Tages zu lieben , und mich zu haben zu wünschen , doch man zauderte , man ließ mich stehen , und auch ich zauderte , aber ich bin ja ein Mädchen , ich mußte zaudern , ich durfte und sollte es .
Ah , wie hat mich die Untreue betrogen , wie haben mich Leerheit und Fühllosigkeit eines Herzens gepeinigt , an das ich glaubte , weil ich glaubte , es sei voll von echten , drängenden Gefühlen .
Etwas , das überlegen und unterscheiden kann , ist kein Gefühl .
Ich spreche zu dir von dem Mann , an den anmutige süße Träume mich glauben , unbedenklich glauben hießen .
Ich kann dir nicht alles sagen .
Laß mich lieber schweigen .
O das Vernichtende , das mich tötet , Jakob .
Die Trostlosigkeiten alle , die mich brechen ! -
Doch genug .
Sage , hast du mich lieb , wie junge Brüder Schwestern lieb haben ?
Schon gut .
Jakob , nicht wahr , es ist alles ganz gut , so wie es ist ?
Nein , nicht wahr , wir beide , wir wollen nicht grollen , nicht zweifeln ?
Und nicht wahr , nie wieder irgend etwas zu begehren haben , ist schön ?
Oder nicht ?
Ja , ja doch .
Das ist schön .
Komme und laß mich dich küssen , ein einziges unschuldiges Mal .
Sei weich .
Ich weiß , du weinst nicht gern , aber jetzt laß uns ein wenig zusammen weinen .
Und ganz still jetzt , ganz still . "
Sie fügte nichts mehr hinzu .
Es war , als wenn sie vieles noch hätte sagen wollen , doch als wenn sie für ihre Empfindungen keine Worte mehr fände .
Draußen im Hof schneite es in nassen großen Flocken .
Das erinnerte mich an den Schloßhof , an die inneren Gemächer , wo es ebenfalls in nassen großen Flocken geschneit hatte .
Die inneren Gemächer !
Und ich dachte mir immer , Fräulein Benjamenta sei die Herrin dieser inneren Gemächer .
Ich habe sie mir immer als zarte Prinzessin gedacht .
Und jetzt ?
Fräulein Benjamenta ist ein leidender feiner weiblicher Mensch .
Keine Prinzessin .
Sie wird also eines Tages da drinnen im Bett liegen .
Der Mund wird starr sein , und um die leblose Stirn werden sich die Haare trügerisch kräuseln .
Doch wozu sich das ausmalen ?
Jetzt gehe ich zum Vorsteher .
Er hat mir sagen lassen , ich solle zu ihm kommen .
Auf der einen Seite eine Mädchenklage und -leiche , auf der anderen Seite ihr Bruder , der noch gar nicht gelebt zu haben scheint .
Ja , Benjamenta kommt mir wie ein ausgehungerter , eingesperrter Tiger vor .
Und wie ?
Ich , ich begebe mich in den gähnenden Rachen hinein ?
Nur hinein !
Mag er seinen Mut kühlen an einem wehrlosen Zögling .
Ich stehe ihm zur Verfügung .
Ich fürchte ihn , und zugleich ist etwas in mir , das ihn auslacht .
Außerdem ist er mir ja noch die Erzählung seiner Lebensgeschichte schuldig .
Er hat mir das fest versprochen , und ich werde ihn daran zu erinnern wissen .
Ja , so kommt er mir vor : noch gar nicht gelebt hat er .
Will er sich jetzt etwa an mir ausleben ?
Nennt er etwa gar Verbrechenausüben Ausleben ?
Das wäre dumm , sehr dumm , und gefährlich .
Aber es zwingt mich !
Ich muß zu diesem Menschen hineingehen .
Eine Seelengewalt , die ich nicht verstehe , nötigt mich , ihn immer wieder von neuem aushorchen , ausforschen zu gehen .
Mag mich der Vorsteher fressen , mit anderen Worten , mir Leid und Schmach antun .
Jedenfalls bin ich dann an etwas Großherzigem zugrunde gegangen .
Hinein jetzt ins Kontor .
Die arme Lehrerin ! -
Ein wenig verächtlich , muß ich sagen , sonst aber ganz zutraulich ( ja , eben deshalb so zutraulich , weil verächtlich ) , klopfte mir der Vorsteher mit der Hand auf die Schulter und lachte mich mit seinem breiten aber wohlgeformten Mund an .
Die Zähne kamen dabei zum Vorschein .
" Herr Vorsteher , " sagte ich unglaublich zornig , " ich muß bitten , mich mit etwas weniger kränkender Freundlichkeit zu behandeln .
Noch bin ich Ihr Zögling .
Im übrigen verzichte ich , und das nicht ausdrücklich genug , auf Gnaden .
Seien Sie einem Lumpen gegenüber herablassend und gütig .
Mein Name ist Jakob von Gunten , und das ist ein zwar junger , aber trotzdem seiner Würde bewußter Mensch .
Ich bin nicht zu entschuldigen , das sehe ich , aber auch nicht zu beleidigen , das verhindere ich . "
- Und mit diesen geradezu lächerlich anmaßenden Worten , mit diesen so wenig ins gegenwärtige Zeitalter passenden Worten stieß ich die Hand des Herrn Vorstehers zurück .
Darauf lachte Herr Benjamenta noch fröhlicher und sagte : " Ich muß mich einfach halten , ich muß dich anlachen , Jakob , und ich muß mich halten , daß ich dich nicht küsse , du prachtvoller Bursche . "
- Ich rief aus :
" Mich küssen ?
Sind Sie verrückt geworden , Herr Vorsteher ?
Ich will nicht hoffen . "
- Ich staunte selber über die Ungeniertheit , mit der ich das sagte , und ich trat , wie um einem Hieb auszuweichen , unwillkürlich einen Schritt zurück .
Herr Benjamenta aber , die Güte und Schonung selber , sagte mit vor seltsamer Genugtuung bebenden Lippen :
" Junge , Knabe , du bist köstlich .
Mit dir zusammen in Wüssten oder auf Eisbergen im nördlichen Meere zu leben , das würde mich locken .
Komme her .
Ei , der Teufel , fürchte dich doch , bitte , nicht vor mir .
Nichts tue ich dir .
Was könnte , was vermöchte ich dir denn anzutun ? Dich wertvoll und selten empfinden , sieh , das muß ich , das tue ich , aber davor brauchst du doch keine Angst zu haben .
Im übrigen , Jakob , und jetzt ganz ernsthaft gesagt , höre : Willst du ganz , ganz bei mir bleiben ?
Du verstehst das nicht recht , also laß dir das ruhig auseinandersetzen .
Hier geht es zu Ende , verstehst du das ? "
- Ich platzte dumm heraus mit den Worten : " Ah , Herr Vorsteher , meine Ahnungen ! " -
Er lachte von neuem und sprach : " Sieh da , geahnt hast du es schon , daß das Institut Benjamenta gleichsam heute noch lebt und morgen nicht mehr .
Ja , so kann man sagen .
Du bist der letzte Schüler gewesen .
Ich nehme keine Zöglinge mehr an .
Blicke mich an .
Mich freut es so mächtig , verstehst du , daß ich dich , den jungen Jakob , noch habe kennen lernen dürfen , einen so rechtgearteten Menschen , bevor ich hier zuschließe für immer .
Und nun frage ich dich , Schelm , der du mich mit so eigenartigen fröhlichen Ketten fesselst , willst du mit mir gehen , wollen wir zusammenbleiben , zusammen irgend etwas anfangen , etwas unternehmen , wagen , schaffen , wollen wir beide , du der Kleine , ich der Große , zusammen versuchen , wie wir das Leben bestehen ?
Bitte , antworte sogleich . "
- Ich erwiderte :
" Meiner Ansicht nach hat die Beantwortung dieser Frage noch Zeit , Herr Vorsteher .
Aber was Sie sagen , interessiert mich , und ich werde mir die Sache , etwa bis morgen , überlegen .
Doch glaube ich , daß ich mit ja antworten werde . " - Herr Benjamenta konnte sich , wie es schien , nicht enthalten , zu sagen : " Du bist entzückend . "
- Nach einer Pause nahm er das Wort wieder und sagte :
" Denn schau , mit dir ließe sich so etwas wie eine Gefahr , wie ein kühnes , abenteuerliches , entdeckerisches Unternehmen bestehen .
Aber es kann ruhig auch irgend etwas Feines und Sittsames sein , das wir machen können .
Du bist von beiderlei Blut , von zartem und unerschrockenem .
Mit dir vereint wagt man entweder etwas Mutiges oder etwas sehr Delikates . "
- " Herr Vorsteher , " sagte ich , " schmeicheln Sie mir nicht , das ist garstig und erregt Verdacht .
Und dann halte !
Wo ist die Geschichte Ihrer Vergangenheit , die Sie mir zu erzählen versprochen haben , wie Sie sich wohl noch erinnern werden ? "
- In diesem Augenblick riß jemand die Türe auf .
Kraus , er war es , stürzte atemlos , ganz blaß im Gesicht , und unfähig , die Meldung , die er offenbar auf den Lippen hatte , vorzutragen , ins Zimmer herein .
Er machte nur eine hastige Geste , wir sollten kommen .
Wir alle drei traten in die dunkelnde Schulstube .
Was wir hier sahen , machte uns erstarren .
Am Boden lag das entseelte Fräulein .
Der Vorsteher ergriff ihre Hand , ließ sie aber , wie von Schlangen gebissen , fahren und schauderte , von Entsetzen gepackt , zurück .
Dann kam er wieder in die Nähe der Toten , schaute sie an , entfernte sich wieder , um gleich wieder heranzutreten .
Kraus kniete zu ihren Füßen .
Ich hielt den Kopf der Lehrerin in beiden Händen , damit er den harten Boden nicht zu berühren brauchte .
Die Augen standen noch offen , nicht sehr weit , sondern gleichsam blinzelnd .
Herr Benjamenta schloß sie .
Auch er kniete am Boden .
Wir alle drei sprachen kein Wort , aber wir waren nicht in " tiefe Gedanken versunken " .
Wenigstens ich konnte an nichts Ausgeprägtes denken .
Aber ich war ganz ruhig .
Ich kam mir sogar , so eitel das auch klingt , gut und schön vor .
Ich hörte von irgend woher ein ganz dünnes Geriesel von Melodien .
Linien und Strahlen bogen sich vor meinen Augen hin und her .
" Ergreift sie , " sagte leise Herr Vorsteher , " kommt .
Tragt sie ins Wohnzimmer .
Sachte , sachte , o sachte anfassen .
Sorgsam , Kraus .
Um Gotteswillen , nicht so rauh .
Jakob , gib acht , ja ?
Nicht irgendwo anstoßen .
Ich will euch helfen .
Ganz langsam vorwärts .
So .
Und einer strecke die Hand aus und öffne die Türe .
So , so .
Es geht .
Nur sorgfältig . "
- Er sprach meiner Ansicht nach überflüssige Worte .
Wir trugen Fräulein Lisa Benjamenta aufs Bett , dessen Decke der Vorsteher rasch wegriß , und nun lag sie da , wie sie es mir zum voraus gleichsam angekündigt hatte .
Und dann kamen die Schulkameraden , und alle sahen es , und dann standen wir alle so da , am Bett .
Herr Vorsteher gab uns einen verständlichen Wink , und wir Eleven und Knaben fingen an , im Chor gedämpft zu singen .
Das war die Klage , die das Mädchen gewünscht hatte zu vernehmen , wenn sie auf dem Lager läge .
Und jetzt , so bildete ich es mir ein , vernahm sie den leisen Gesang .
Es war uns , glaube ich , allen , als wäre es Unterrichtsstunde , und wir sängen auf Befehl der Lehrerin , der wir immer so rasch gehorchten .
Als das Lied zu Ende gesungen war , trat Kraus aus dem Halbkreis , den wir gebildet hatten , vor und sprach , ein wenig langsam , aber um so eindringlicher , folgendes :
" Schlafe , Ruhe süß , verehrtes Fräulein .
( Er sprach sie , die Tote , mit du an .
Mir gefiel das . )
Entwunden bist du den Schwierigkeiten , entfesselt vom Bangen , befreit von den Sorgen und Schicksalen der Erde .
Wir haben dir am Bett gesungen , Verehrte , wie du es befahlst .
Sind wir , deine Zöglinge , nun verlassen ?
So scheint es , so ist es .
Doch du , Frühgestorbene , wirst unseren Gedächtnissen nie , nie entschwinden .
Du wirst am Leben bleiben in unseren Herzen .
Wir , deine Knaben , die du gemeistert und beherrscht hast , wir werden uns im flatterhaften und mühevollen Leben , Gewinn und Unterkommen suchend , zerstreuen , so , daß vielleicht alle alle nie wieder finden und sehen .
Aber wir alle werden an dich denken , Erzieherin , denn die Gedanken , die du uns eingeprägt , die Lehren und Kenntnisse , die du in uns befestigt hast , werden uns immer an dich , die Schöpferin des Guten , was in uns ist , erinnern .
Ganz von selber .
Essen wir , so wird uns die Gabel sagen , wie du wünschtest , daß wir sie führen und handhaben sollen , und wir werden anständig zu Tisch sitzen , und das Bewußtsein , daß wir das tun , wird uns an dich zurückdenken machen .
In uns herrschest , gebietest , lebst , erziehst und fragst und tönst du weiter .
Irgend einer von uns Zöglingen , der es etwas weiter als der andere im Leben bringt , wird vielleicht seinen zurückgebliebenen ärmeren Kameraden , wenn er ihn antrifft , nicht mehr kennen wollen .
Gewiß .
Doch dann denkt er unwillkürlich ans Institut Benjamenta zurück und an die Herrin , und er wird sich schämen , deine Grundsätze so rasch und so hochmütig verleugnet und vergessen zu haben .
Und er wird dem Kameraden , dem Bruder , dem Menschen ohne alle Überlegung die Hand zum Gruß reichen .
Was lehrtest du uns , Verblichene ?
Du sagtest uns stets , wir sollten bescheiden und willig bleiben .
Ah , das werden wir nie vergessen , so wenig wie wir die liebe Person , die es ausgesprochen hat , werden überwinden und vergessen können .
Schlaf ' wohl , du Verehrte .
Träume !
Schöne Einbildungen mögen dich flüsternd umschweben .
Die Treue , die glücklich ist , dir nahe zu sein , beuge ihr Knie vor dir , und die dankbare Anhänglichkeit und das erinnerungslüsterne , zärtliche Nie-Vergessen- Können streuen Blüten , Zweige , Blumen und Worte der Liebe dir um Stirn und Hände .
Wir , deine Zöglinge , wir wollen jetzt noch eines singen , und dann haben wir die Gewißheit , daß wir an deinem Totenlager , das uns das Lustlager frohen und hingebungsvollen Gedenkens sein wird , gebetet haben .
So lehrtest ja du uns beten .
Du sagtest : Singen sei Beten .
Und du wirst uns hören , und wir werden uns einbilden , du lächeltest . Uns will es die Herzen zerschneiden , dich hier liegen zu sehen , dich , deren Bewegungen uns vorgekommen sind wie dem Durstigen frisches , belebendes Quellwasser .
Ja , schmerzvoll ist das .
Doch wir beherrschen uns , und gewiß wünschtest auch du das .
So sind wir gefaßt .
So gehorchen wir dir und singen . "
- Kraus trat vom Lager zu uns zurück und wir sangen noch ein Lied , das ebenso leise dahin- und daherklang wie das erste .
Dann traten wir , einer hinter dem anderen , ans Bett , und jeder drückte einen Kuß auf die Hand des toten Mädchens .
Und jeder von den Eleven sprach etwas .
Hans sagte : " Ich will es Schilinski erzählen .
Und Heinrich muß es auch wissen . "
- Schacht meinte :
" Lebe wohl , du warst immer so gut . "
Peter : " Ich will deine Gebote befolgen . "
Dann traten wir in die Schulstube zurück , indem wir den Bruder bei der Schwester , den Vorsteher bei der Vorsteherin , den Lebendigen bei der Toten , den Einsamen bei der Einsamen , den Schmerzgebeugten bei der Vollendeten , Herrn Benjamenta bei Fräulein Benjamenta allein ließen .
Ich habe von Kraus Abschied nehmen müssen .
Kraus ist gegangen .
Ein Licht , eine Sonne ist geschwunden .
Mir ist es , als wenn es von jetzt ab in der Welt und Umwelt nur noch Abend sein könnte .
Bevor eine Sonne untertaucht , wirft sie noch rötliche Strahlen über die dunkelnde Gegenwart , ähnlich Kraus .
Er hat mich , bevor er ging , rasch noch einmal ausgescholten , und der ganze veritable Kraus ist dabei noch ein letztes Mal zum leuchtenden Vorschein gekommen .
" Adieu , Jakob , bessere dich , ändere dich , " sagte er zu mir , indem er mir , beinahe ärgerlich darüber , daß er es tun mußte , die Hand reichte .
" Ich gehe jetzt fort , in die Welt , in den Dienst .
Das wirst auch du hoffentlich bald tun müssen .
Schaden wird es dir sicher nicht .
Ich wünsche dir Hiebe auf deinen Unverstand hinauf .
Man soll dich tüchtig bei den ungezogenen Ohren nehmen .
Lache nur nicht noch beim Abschied .
Übrigens ziemte dir das .
Und wer weiß , vielleicht sind die Verhältnisse dieser Welt so töricht , daß sie dich in die Höhe heben .
Dann kannst du in der Unverschämtheit , im Trotz , in der Überhebung und in der lächelnden Trägheit , in Spott und allen möglichen Sorten Unarten ruhig und frech fortfahren und sorgenlos bleiben , was du bist .
Dann kannst du dich brüsten bis zum Zersprengen , mit all dem , was du dir hier im Institut Benjamenta nicht hast abgewöhnen wollen .
Aber ich hoffe , daß Sorgen und Mühen dich in ihre harte , untugendenzerschmetternde Schule nehmen .
Sieh , Kraus spricht hart .
Und doch meine ich es vielleicht besser mit dir Bruder Lustig , als die , die dir Glück in den Schoß und ins offene Maul wünschen würden .
Arbeite mehr , wünsche weniger , und noch etwas : bitte vergiß mich ganz .
Ich würde mich nur ärgern , wenn ich dächte , du habest für mich irgend einen abgelegten alten , schäbigen , solch einen tänzelnden Komme ich heute nicht-komm' ich Morgen-Gedanken übrig .
Nein , Bürschchen , merke dir_es , Kraus braucht keinen von deinen von Guntenschen Späßen . "
- " Liebloser , lieber Mensch , " rief ich voller banger Abschiedsahnungen und -empfindungen aus .
Und ich wollte ihn umarmen .
Doch er verhinderte das auf die einfachste Art der Welt , indem er sich rasch , und für immer , entfernte .
" Heute noch ein Institut Benjamenta und morgen keines mehr , " sprach ich laut zu mir selber .
Ich trat zu Herrn Vorsteher herein .
Es war mir , als wenn die Welt einen glühend-zündend-klaffenden Riß von einer räumlichen Möglichkeit bis zur entgegengesetzten anderen bekommen hätte .
Mit Kraus war die Hälfte des Lebens gegangen .
" Von jetzt ab ein anderes Leben ! " murmelte ich .
Es ist übrigens ganz einfach :
ich war betrübt und ein wenig bestürzt .
Wozu sich in großen Worten ergehen ?
Vor dem Vorsteher verneigte ich mich förmlicher als je , und es erschien mir schicklich , " guten Tag , Herr Vorsteher " zu sagen .
" Bist du toll , alter Junge ? " rief er .
Er kam mir entgegen und würde mich umarmt haben , aber ich verhinderte das , indem ich ihm einen Schlag auf den ausgestreckten Arm versetzte .
" Kraus ist gegangen , " sagte ich tiefernst .
Wir schwiegen und begnügten uns , uns ziemlich lange anzuschauen .
" Ich habe , " sagte dann Herr Benjamenta in ruhigem , männlichem Ton , " den anderen allen , deinen Kameraden , heute Stellungen verschafft .
Nur noch wir drei , du , ich und sie , die da drinnen auf dem Bett liegt , bleiben noch hier .
Die Tote ( warum nicht ruhig über die Toten reden ?
Sie leben ja .
Nicht wahr ? ) , sie wird morgen abgeholt werden .
Das ist ein häßlicher , aber notwendiger Gedanke .
Heute sind wir drei noch zusammen .
Und wir werden die Nacht über wach bleiben .
Wir beide werden reden an ihrem Lager .
Und wenn ich nun so denke , wie du da eines Tages mit der Bitte , Forderung und Frage anlangtest , in die Schule aufgenommen zu werden , packt mich eine unerhörte Lebens- und Lachlust .
Ich bin über Vierzig .
Ist das alt ?
Es war alt , doch jetzt , wie du so da bist , Jakob , bedeutet es grünende und kräftig knospende Jugend , dieses Vierziger-Alter .
Mit dir , du Gemüt von einem Jungen , ist frisches , ist überhaupt erst Leben über mich und in mich hineingekommen .
Ich habe hier , siehst du , hier im Büro , schon verzweifelt , bin hier schon ganz eingetrocknet , habe mich hier geradezu begraben .
Ich haßte , haßte , haßte die Welt .
Unsagbar ist von mir alles dies Wesen , Bewegen und Leben gehaßt und gemieden worden .
Da tratest du ein , frisch , dumm , unartig , frech und blühend , duftend von unverdorbenen Empfindungen , und ganz natürlich schnauzte ich dich mächtig an , aber ich wußte es , so wie ich dich nur sah , daß du ein Prachtbursche seiest , mir , wie es mir vorkam , vom Himmel heruntergeflogen , von einem alleswissenden Gott mir gesandt und geschenkt .
Ja , dich brauchte ich gerade , und ich lächelte immer heimlich , wenn du von Zeit zu Zeit zu mir eintratest , um mich mit deinen reizenden Frechheiten und Grobheiten , die mir wie gutgelungene Gemälde erschienen , zu belästigen .
O nein , zu betören .
Ruhig , Benjamenta , ruhig . -
Hast du es , sage mir das , nie bemerkt , daß wir Zwei Freunde waren ?
Doch still .
Und wenn ich dann so meine Würde vor dir bewahrte , o dann hätte ich sie zerreißen mögen , zerreißen in Fetzen .
Wie rasend förmlich du dich sogar heute noch vor mir verbeugt hast !
Doch höre , wie ist es eigentlich nur mit dem Wutanfall von neulich ? Habe ich dir wehtun wollen ?
Wollte ich mir selber einen tödlichen Streiche versetzen ?
Vielleicht weißt du es , Jakob ?
Ja ?
Dann , bitte , kläre mich sofort auf .
Sofort , hast du verstanden !
Wie ist mir ?
Wie ?
Was sagst du ? "
- " Ich weiß es nicht .
Ich hielt Sie für wahnsinnig , Herr Vorsteher , " sagte ich .
Es überlief mich kalt angesichts der überströmenden Zärtlichkeit und Lebenslust , die aus den Augen des Mannes hervorbrachen .
Wir schwiegen eine Weile .
Plötzlich kam mir der Einfall , Herrn Benjamenta an die Geschichte seines Lebens zu erinnern .
Das war sehr gut .
Das konnte ihn unter Umständen zerstreuen , ihn von mörderischen neuen Anfällen abhalten .
Ich war in diesem Moment fest überzeugt , daß ich mich in den Krallen eines halb-Verstandlosen befände , und ich sagte daher rasch , indem mir der Schweiß über die Stirn herabrann : " Ja , Ihre Geschichte , Herr Vorsteher ?
Wie ist es damit ?
Wissen Sie , daß ich Andeutungen verabscheue ?
Sie haben mir dunkel angedeutet , daß Sie ein entthronter Herrscher seien .
Nun wohlan .
Bitte , drücken Sie sich deutlich aus .
Ich bin sehr gespannt . "
- Er kraute sich ganz verlegen hinter dem Ohr .
Dann wurde er plötzlich geradezu böse , kleinlich böse , und er herrschte mich im Feldwebelston an :
" Abtreten .
Mich allein lassen ! "
- Nun , ich ließ mir das nicht zweimal sagen , sondern verschwand augenblicklich .
Schämte er sich , grämte er sich um irgend etwas , dieser König Benjamenta , dieser Löwe im Käfig ?
Jedenfalls war ich wieder einmal recht froh , draußen im Korridor stehen und lauschen zu können .
Es herrschte Totenstille .
Ich ging in die Kammer , zündete einen Kerzenstumpf an und vertiefte mich in den Anblick des Bildes von Mama , das ich stets sorgsam aufbewahrt hatte .
Später klopfte es an die Türe .
Es war der Vorsteher , er war ganz schwarz angezogen .
" Komme , " befahl er mit eiserner Strenge .
Wir gingen ins Wohnzimmer , um bei der Entschlafenen zu wachen .
Herr Benjamenta wies mir mit einer leichten Handbewegung meinen Platz an .
Wir setzten uns .
Gottlob , ich spürte wenigstens gar keine körperliche Müdigkeit .
Das war mir sehr lieb .
Das Gesicht der Toten war schön geblieben , ja , es schien sogar noch anmutiger geworden zu sein , und noch etwas : von Moment zu Moment schien immer mehr Schönheit , Rührung und Anmut darauf niederzufallen .
Etwas wie lächelnde Vergebung jeder Art Fehltritts schien im Wohnzimmer zu schweben und leise zu tönen .
Es zirpte so .
Und es war auf so helle , lichte Art ernst in der Stube .
Nichts , nichts Unheimliches .
Mir wurde es schön zumute , denn schon das allein , daß ich hier wachte , ließ mich die Ruhe , die in einer stillen Pflichterfüllung liegt , angenehm empfinden .
" Später , Jakob , " ergriff der Vorsteher das Wort , indem wir so saßen , " später erzähle ich dir alles .
Wir werden ja doch zusammenbleiben .
Ich glaube ganz fest , sogar felsenfest an deine Zustimmung .
Du wirst morgen , wenn ich dich nach deinen Entscheidungen frage , nicht nein sagen , das weiß ich .
Für heute muß ich dir sagen , daß ich kein wirklicher abgesetzter König bin , ich meinte , ich sagte dir das nur so , des Bildes halber .
Wohl aber gab es Zeiten , wo dieser Benjamenta , der hier neben dir sitzt , sich als Herr , als Eroberer und als König fühlte , wo das Leben vor mir zum Erfassen dalag , wo alle meine Sinne an Zukunft und an Größe glaubten , wo meine Schritte mich elastisch dahin wie über teppichähnliche Wiesen und Begünstigungen trugen , wo ich besaß , was ich anschaute , genoß , an was ich nur flüchtig dachte , wo alles bereit war , mich mit Befriedigung zu krönen , mit Erfolgen und Errungenschaften mich zu salben , wo ich König war , ohne es kaum zu ahnen , groß , ohne daß ich nötig hatte , mir eine bewußte Rechenschaft davon abzulegen .
In diesem Sinne , Jakob , bin ich hoch gewesen , d. h. einfach jung und vielversprechend , und in diesem Sinne geschah die Entfürstung und Entthronung .
Ich stürzte .
Und ich zweifelte an mir und an allem .
Wenn man verzweifelt und trauert , lieber Jakob , ist man so jammervoll klein , und immer mehr Kleinheiten werfen sich über einen , gefräßigem , raschem Ungeziefer gleich , das uns frißt , ganz langsam , das uns ganz langsam zu ersticken , zu entmenschen versteht .
Also das mit dem König war eine Phrase .
Ich bitte dich , kleiner Zuhörer , um Entschuldigung , wenn ich dich an Zepter und Purpurmantel habe glauben machen .
Doch glaube ich , daß du es eigentlich wußtest , wie es mit diesen gestammelten und geseufzten Königreichen im Grunde gemeint war .
Nicht wahr , ein wenig gemütlicher komme ich dir jetzt vor ?
Jetzt , da ich kein König mehr bin ?
Denn das gibst du doch selbst zu , daß solche Herrscher , wenn sie genötigt sind , Unterricht usw. zu erteilen und Institute zu eröffnen , gewiß unheimliche Patrone wären .
Nein , nein , ich war nur zukunftsstolz und -froh :
das sind meine Ländereien und königlichen Einkünfte gewesen .
Dann war ich lange , lange Jahre entmutigt und entwürdigt .
Und nun bin ich wieder , d. h. fange an , wieder ich selber zu sein , und es ist mir , als hätte ich eine Million geerbt , ach was , Million geerbt , nein , es ist mir , als wäre ich - - zum Herrscher erhoben und gekrönt worden .
Allerdings kommen mir immer wieder die dunklen , grauenhaft dunklen Stunden , wo mir alles schwarz vor den Augen und hassenswert vor dem gleichsam , verstehe ' mich , verbrannten und verkohlten Gemüt wird , und in solchen Stunden zwingt es mich , zu zerreißen , zu töten . O meine Seele , du , würdest du , trotzdem du das nun weißt , bei mir bleiben ?
Könntest du dich , vielleicht aus einfacher menschlicher Neigung zu mir , oder aus irgend einer anderen dir zusagenden Empfindung , dazu entschließen , der Gefahr , die dir mit dem Zusammensein mit mir Unmenschen droht , zu trotzen ?
Kannst du hohen Herzens trotzen ?
Bist du solch ein Trotzkopf ?
Und nimmst du das alles nicht übel ?
Übel ?
Ach was , Dummheiten .
Übrigens weiß ich es ja , Jakob , daß wir zusammen leben werden .
Es ist entschieden .
Wozu dich noch fragen ?
Siehe , ich kenne doch ja meinen früheren Zögling .
Jetzt , Jakob , bist du nicht mehr mein Zögling .
Ich will nicht mehr bilden und lehren , sondern ich will leben und lebend etwas wälzen , etwas tragen , etwas schaffen .
O , es läßt sich so herrlich , so herrlich leiden mit solch einem Herzen von Kameraden .
Ich besitze , was ich besitzen wollte , und darum ist mir , könnte ich alles , ertrüge und litte ich fröhlich alles .
Kein Gedanke , kein Wort mehr .
Bitte , schweige .
Du sagst mir morgen , nachdem man mir dieses Leben da , das da auf dem Bett liegt , weggetragen hat , nachdem ich die rein äußerliche Feierlichkeit habe abstreifen dürfen und in eine innerliche habe umwandeln dürfen , deine Meinung .
Du sagst ja , oder du sagst nein .
Wisse , du bist ja jetzt vollkommen frei .
Du kannst sagen und tun , was dir beliebt . "
- Ich sagte ganz leise , zitternd vor Verlangen , diesen mir etwas allzu zuversichtlichen Menschen ein wenig zu erschrecken :
" Aber der Brotkorb , Herr Vorsteher ?
Den anderen verschaffen Sie Unterkommen , und gerade mir nicht ?
Das finde ich seltsam .
Das ist nicht recht .
Und ich bestehe darauf .
Es ist Ihre Pflicht , mir einen ordentlichen Arbeitsposten zu vermitteln .
Ich will unbedingt in Stellung und Amt gehen . " - Ah , er zuckte zusammen .
Er erschrak .
Wie mußte ich innerlich kichern .
Teufeleien sind doch das Netteste am Leben .
Herr Benjamenta sagte traurig :
" Du hast recht .
Es ziemt sich , dir auf Grund deines Abgangszeugnisses eine Stelle zu verschaffen .
Gewiß , du hast vollkommen recht .
Nur dachte ich , nur - dachte ich - - , du machtest eine Ausnahme . "
- Ich rief wie in zündender Entrüstung :
" Ausnahme ?
Ich mache keine Ausnahmen .
Niemals .
Das schickt sich nicht für den Sohn eines Großrates .
Meine Bescheidenheit , meine Geburt , alles , was ich empfinde , verbietet mir , mehr zu wollen , als was meine Schulgenossen bekommen haben . "
- Von da an sprach ich kein Wort mehr .
Mir gefiel es , Herrn Benjamenta einer sichtbaren , für mich schmeichelhaften Unruhe zu überlassen .
Den Rest der Nacht verbrachten wir schweigend .
Aber während ich so saß und wachte , überfiel mich doch der Schlaf .
Zwar nicht lang , eine halbe Stunde , oder vielleicht noch etwas länger , war ich der Wirklichkeit entrückt .
Mir träumte ( der Traum schoß von der Höhe , ich erinnere mich , gewaltsam , mich mit Strahlen überwerfend , auf mich nieder ) , ich befände mich auf einer Bergmatte .
Sie war ganz dunkelsamtgrün .
Und sie war mit Blumen wie mit blumenhaft gebildeten und geformten Küssen bestickt und besetzt .
Bald erschienen mir die Küsse wie Sterne , bald wieder wie Blumen .
Es war Natur und doch keine , Bildnis und Körper zugleich .
Ein wunderbar schönes Mädchen lag auf der Matte .
Ich wollte mir einreden , es sei die Lehrerin , doch sagte ich mir rasch : " Nein , das kann es nicht .
Wir haben keine Lehrerin mehr . "
Nun , dann war es halte jemand anderes , und ich sah förmlich , wie ich mich tröstete , und ich hörte den Trost .
Es sagte deutlich :
" Ah bah , laß das Deuten . "
- Das Mädchen war schwellend und glänzend nackt .
An dem einen der schönen Beine hing ein Band , das im Wind , der das Ganze liebkoste , leise flatterte .
Mir schien , als wehe , als flattere der ganze spiegelblanke süße Traum .
Wie war ich glücklich .
Ganz flüchtig dachte ich an " diesen Menschen " .
Natürlich war es Herr Vorsteher , an den ich so dachte .
Plötzlich sah ich ihn , er war hoch zu Roß und war bekleidet mit einer schimmernd schwarzen , edlen , ernsten Rüstung .
Das lange Schwert hing an seiner Seite herunter , und das Pferd wieherte kampflustig .
" Ei , sieh da !
Der Vorsteher zu Pferde , " dachte ich , und ich schrie , so laut ich konnte , daß es in den Schluchten und Klüften ringsum widerhallte :
" Ich bin zu einem Entschluß gekommen . "
- Doch er hörte mich nicht .
Qualvoll schrie ich :
" Heda , Herr Vorsteher , hören Sie . "
Nein , er wandte mir den Rücken .
Sein Blick war in die Ferne , ins Leben hinab- und hinausgerichtet .
Und nicht einmal den Kopf bog er nach mir .
Mir scheinbar zuliebe rollte jetzt der Traum , als wenn er ein Wagen gewesen wäre , Stück um Stück weiter , und da befanden wir uns , ich und " dieser Mensch " , natürlich niemand anders als Herr Benjamenta , mitten in der Wüste .
Wir wanderten und trieben mit den Wüstenbewohnern Handel , und wir waren ganz eigentümlich belebt von einer kühlen , ich möchte sagen , großartigen Zufriedenheit .
Es sah so aus , als wenn wir beide dem , was man europäische Kultur nennt , für immer , oder wenigstens für sehr , sehr lange Zeit entschwunden gewesen seien .
" Aha , " dachte ich unwillkürlich , und wie mir schien , ziemlich dumm :
" Das war es also , das ! " -
Aber was es war , was ich da dachte , konnte ich nicht enträtseln .
Wir wanderten weiter .
Da erschien ein Haufen von uns feindlich gesinnten Menschen , wir aber zerstreuten ihn , ohne daß ich eigentlich sah , wie das zuging .
Die Erdgegenden schossen mit den Wandertagen blitzartig vorüber .
Ich empfand die Erfahrung von ganzen vorüberwinkenden , langen , schwer zu ertragen gewesenen Jahrzehnten .
Wie war doch das eigentümlich .
Die einzelnen Wochen sahen sich an wie kleine , glitzernde Steinchen .
Es war lächerlich und herrlich zugleich .
" Der Kultur entrücken , Jakob .
Weißt du , das ist famos , " sagte von Zeit zu Zeit der Vorsteher , der wie ein Araber aussah .
Wir ritten auf Kamele .
Und die Sitten , die wir sahen , entzückten uns .
Es war etwas Unverständlich-Mildes und Zartes in den Bewegungen der Länder .
Ja , mir war es , als marschierten , nein eher , als flögen die Länder .
Das Meer zog sich majestätisch dahin wie eine große blaue nasse Welt von Gedanken .
Bald hörte ich Vögel schwirren , bald Tiere brüllen , bald Bäume über mir rauschen .
" Also bist du nun doch mitgekommen .
Ich wußte es ja , " sagte Herr Benjamenta , den die Indier zum Fürsten erhoben hatten .
Wie toll !
So grauenhaft überspannt es ist : Tatsache war , daß wir in Indien Revolution machten .
Und scheinbar glückte uns der Streiche .
Es war so köstlich zu leben , das fühlte ich in allen Gliedern .
Das Leben prangte vor unseren weitausschauenden Blicken wie ein Baum mit Zweigen und Ästen .
Und wie Stunden wir fest .
Und durch Gefahren und Erkenntnisse wateten wir wie in eiskaltem , aber unserer Hitze wohltuendem Flußwasser .
Ich war immer der Knappe , und der Vorsteher war der Ritter .
" Schon gut , " dachte ich mit einmal .
Und wie ich das dachte , erwachte ich und schaute mich im Wohnzimmer um .
Herr Benjamenta war ebenfalls eingeschlafen .
Ich weckte ihn , indem ich ihm sagte :
" Wie können Sie einschlafen , Herr Vorsteher .
Doch erlauben Sie mir , Ihnen zu sagen , daß ich mich entschlossen habe , mit Ihnen zu gehen , wohin Sie wollen . "
- Wir gaben einander die Hand , und das bedeutete viel .
Ich packe .
Ja , wir beide , der Vorsteher und ich , wir sind mit Packen , mit richtigem Zusammenpacken , Abbrechen , Aufräumen , Auseinanderzerren , Schieben und Rücken beschäftigt .
Wir werden reisen .
Schon gut .
Mir paßt dieser Mensch , und ich frage mich nicht mehr , warum .
Ich fühle , daß das Leben Wallungen verlangt , nicht Überlegungen .
Meinem Bruder werde ich heute Adieu sagen .
Ich werde hier nichts hinterlassen .
Mich bindet nichts , verpflichtet nichts , zu sagen : " Wie wäre es , wenn ich - - " Nein , es gibt nichts mehr zu wären und zu wähnen .
Fräulein Benjamenta liegt unter der Erde .
Die Eleven , meine Kameraden , sind zerstoben in allerlei Ämtern .
Und wenn ich zerschelle und verderbe , was bricht und verdirbt dann ?
Eine Null .
Ich einzelner Mensch bin nur eine Null .
Aber weg jetzt mit der Feder .
Weg jetzt mit dem Gedankenleben .
Ich gehe mit Herrn Benjamenta in die Wüste .
Will doch sehen , ob es sich in der Wildnis nicht auch leben , atmen , sein , aufrichtig Gutes wollen und tun und nachts schlafen und träumen läßt .
Ach was .
Jetzt will ich an gar nichts mehr denken .
Auch an Gott nicht ?
Nein !
Gott wird mit mir sein .
Was brauche ich da an ihn zu denken ?
Gott geht mit den Gedankenlosen .
Nun denn adieu , Institut Benjamenta .

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CC-BY
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TextGrid Repository (2025). Walser, Robert. Jakob von Gunten. Bildungsromankorpus. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0d2.0