Zweites Buch Erstes Kapitel Jeder , der mit lebhaften Kräften vor unseren Augen eine Absicht zu erreichen strebt , kann , wir mögen seinen Zweck loben oder tadeln , sich unsere Teilnahme versprechen ; sobald aber die Sache entschieden ist , wenden wir unser Auge sogleich von ihm weg ; alles , was geendigt , was abgetan daliegt , kann unsere Aufmerksamkeit keineswegs fesseln , besonders wenn wir schon frühe der Unternehmung einen Übeln Ausgang prophezeit haben .
Deswegen sollen unsere Leser nicht umständlich mit dem Jammer und der Not unseres verunglückten Freundes , in die er geriet , als er seine Hoffnungen und Wünsche auf eine so unerwartete Weise zerstört sah , unterhalten werden .
Wir überspringen vielmehr einige Jahre und suchen ihn erst da wieder auf , wo wir ihn in einer Art von Tätigkeit und Genuß zu finden hoffen , wenn wir vorher nur kürzlich so viel , als zum Zusammenhäng der Geschichte nötig ist , vorgetragen haben .
Die Pest oder ein böses Fieber rasen in einem gesunden , vollsaftigen Körper , den sie anfallen , schneller und heftiger , und so wurde der arme Wilhelm unvermutet von einem unglücklichen Schicksale überwältigt , daß in einem Augenblicke sein ganzes Wesen zerrüttet war .
Wie wenn von ungefähr unter der Zurüstung ein Feuerwerk in Brand gerät und die künstlich gebohrten und gefüllten Hülsen , die , nach einem gewissen Plane geordnet und abgebrannt , prächtig abwechselnde Feuerbilder in die Luft zeichnen sollten , nunmehr unordentlich und gefährlich durcheinander zischen und sausen : so gingen auch jetzt in seinem Busen Glück und Hoffnung , Wollust und Freuden , Wirkliches und Geträumtes auf einmal scheiternd durcheinander .
In solchen wüsten Augenblicken erstarrt der Freund , der zur Rettung hinzueilt , und dem , den es trifft , ist es eine Wohltat , daß ihn die Sinne verlassen .
Tage des lauten , ewig wiederkehrenden und mit Vorsatz erneuerten Schmerzens folgten darauf ; doch sind auch diese für eine Gnade der Natur zu achten .
In solchen Stunden hatte Wilhelm seine Geliebte noch nicht ganz verloren ; seine Schmerzen waren unermüdet erneuerte Versuche , das Glück , das ihm aus der Seele entfloh , noch festzuhalten , die Möglichkeit desselben in der Vorstellung wieder zu erhaschen , seinen auf immer abgeschiedenen Freuden ein kurzes Nachleben zu verschaffen .
Wie man einen Körper , solange die Verwesung dauert , nicht ganz tot nennen kann , solange die Kräfte , die vergebens nach ihren alten Bestimmungen zu wirken suchen , an der Zerstörung der Teile , die sie sonst belebten , sich abarbeiten ; nur dann , wenn sich alles aneinander aufgerieben hat , wenn wir das Ganze in gleichgültigen Staub zerlegt sehen , dann entsteht das erbärmliche , leere Gefühl des Todes in uns , nur durch den Atem des Ewiglebenden zu erquicken .
In einem so neuen , ganzen , lieblichen Gemüte war viel zu zerreißen , zu zerstören , zu ertöten , und die schnellheilende Kraft der Jugend gab selbst der Gewalt des Schmerzens neue Nahrung und Heftigkeit .
Der Streiche hatte sein ganzes Dasein an der Wurzel getroffen .
Werner , aus Not sein Vertrauter , griff voll Eifer zu Feuer und Schwert , um einer verhaßten Leidenschaft , dem Ungeheuer , ins innerste Leben zu dringen .
Die Gelegenheit war so glücklich , das Zeugnis so bei der Hand , und wieviel Geschichten und Erzählungen wußte er nicht zu nutzen .
Er trieb_es mit solcher Heftigkeit und Grausamkeit Schritt vor Schritt , ließ dem Freunde nicht das Labsal des mindesten augenblicklichen Betruges , vertrat ihm jeden Schlupfwinkel , in welchen er sich vor der Verzweiflung hätte retten können , daß die Natur , die ihren Liebling nicht wollte zugrunde gehen lassen , ihn mit Krankheit anfiel , um ihm von der anderen Seite Luft zu machen .
Ein lebhaftes Fieber mit seinem Gefolge , den Arzneien , der Überspannung und der Mattigkeit ; dabei die Bemühungen der Familie , die Liebe der Mitgeborenen , die durch Mangel und Bedürfnisse sich erst recht fühlbar macht , waren so viele Zerstreuungen eines veränderten Zustandes und eine kümmerliche Unterhaltung .
Erst als er wieder besser wurde , das heißt , als seine Kräfte erschöpft waren , sah Wilhelm mit Entsetzen in den qualvollen Abgrund eines dürren Elendes hinab , wie man in den ausgebrannten , hohlen Becher eines Vulkans hinunterblickt .
Nunmehr machte er sich selbst die bittersten Vorwürfe , daß er nach so großem Verlust noch einen schmerzenlosen , ruhigen , gleichgültigen Augenblick haben könne .
Er verachtete sein eigen Herz und sehnte sich nach dem Labsal des Jammers und der Tränen .
Um diese wieder in sich zu erwecken , brachte er vor sein Andenken alle Szenen des vergangenen Glücks .
Mit der größten Lebhaftigkeit malte er sie sich aus , strebte wieder in sie hinein , und wenn er sich zur möglichsten Höhe hinaufgearbeitet hatte , wenn ihm der Sonnenschein voriger Tage wieder die Glieder zu beleben , den Busen zu heben schien , sah er rückwärts auf den schrecklichen Abgrund , labte sein Auge an der zerschmetternden Tiefe , warf sich hinunter und erzwang von der Natur die bittersten Schmerzen .
Mit so wiederholter Grausamkeit zerriß er sich selbst ; denn die Jugend , die so reich an eingehüllten Kräften ist , weiß nicht , was sie verschleudert , wenn sie dem Schmerz , den ein Verlust erregt , noch so viele erzwungene Leiden zugesellt , als wollte sie dem Verlorenen dadurch noch erst einen rechten Wert geben .
Auch war er so überzeugt , daß dieser Verlust der einzige , der erste und letzte sei , den er in seinem Leben empfinden könne , daß er jeden Trost verabscheute , der ihm diese Leiden als endlich vorzustellen unternahm .
Zweites Kapitel Gewöhnt , auf diese Weise sich selbst zu quälen , griff er nun auch das übrige , was ihm nach der Liebe und mit der Liebe die größten Freuden und Hoffnungen gegeben hatte , sein Talent als Dichter und Schauspieler , mit hämischer Kritik von allen Seiten an .
Er sah in seinen Arbeiten nichts als eine geistlose Nachahmung einiger hergebrachten Formen , ohne inneren Wert ; er wollte darin nur steife Schulexerzitien erkennen , denen es an jedem Funken von Naturell , Wahrheit und Begeisterung fehle .
In seinen Gedichten fand er nur ein monotones Silbenmaß , in welchem , durch einen armseligen Reim zusammengehalten , ganz gemeine Gedanken und Empfindungen sich hinschleppten ; und so benahm er sich auch jede Aussicht , jede Lust , die ihn von dieser Seite noch allenfalls hätte wieder aufrichten können . Seinem Schauspielertalente ging es nicht besser .
Er schalt sich , daß er nicht früher die Eitelkeit entdeckt , die allein dieser Anmaßung zum Grunde gelegen .
Seine Figur , sein Gang , seine Bewegung und Deklamation mußten herhalten ; er sprach sich jede Art von Vorzug , jedes Verdienst , das ihn über das Gemeine emporgehoben hätte , entscheidend ab und vermehrte seine stumme Verzweiflung dadurch auf den höchsten Grad .
Denn wenn es hart ist , der Liebe eines Weibes zu entsagen , so ist die Empfindung nicht weniger schmerzlich , von dem Umgange der Musen sich loszureißen , sich ihrer Gemeinschaft auf immer unwürdig zu erklären und auf den schönsten und nächsten Beifall , der unserer Person , unserem Betragen , unserer Stimme öffentlich gegeben wird , Verzicht zu tun .
So hatte sich denn unser Freund völlig resigniert und sich zugleich mit großem Eifer den Handelsgeschäften gewidmet .
Zum Erstaunen seines Freundes und zur größten Zufriedenheit seines Vaters war niemand auf dem Comptoir und der Börse , im Laden und Gewölbe tätiger als er ; Korrespondenz und Rechnungen , und was ihm aufgetragen wurde , besorgte und verrichtete er mit größtem Fleiß und Eifer .
Freilich nicht mit dem heiteren Fleiße , der zugleich dem Geschäftigen Belohnung ist , wenn wir dasjenige , wozu wir geboren sind , mit Ordnung und Folge verrichten , sondern mit dem stillen Fleiße der Pflicht , der den besten Vorsatz zum Grunde hat , der durch Überzeugung genährt und durch ein inneres Selbstgefühl belohnt wird ; der aber doch oft , selbst dann , wenn ihm das schönste Bewußtsein die Krone reicht , einen vordringenden Seufzer kaum zu ersticken vermag .
Auf diese Weise hatte Wilhelm eine Zeitlang sehr emsig fortgelebt und sich überzeugt , daß jene harte Prüfung vom Schicksale zu seinem Besten veranstaltet worden .
Er war froh , auf dem Wege des Lebens sich beizeiten , obgleich unfreundlich genug , gewarnt zu sehen , anstatt daß andere später und schwerer die Mißgriffe büßen , wozu sie ein jugendlicher Dünkel verleitet hat .
Denn gewöhnlich wehrt sich der Mensch so lange , als er kann , den Toren , den er im Busen hegt , zu verabschieden , einen Hauptirrtum zu bekennen und eine Wahrheit einzugestehen , die ihn zur Verzweiflung bringt .
So entschlossen er war , seinen liebsten Vorstellungen zu entsagen , so war doch einige Zeit nötig , um ihn von seinem Unglücke völlig zu überzeugen .
Endlich aber hatte er jede Hoffnung der Liebe , des poetischen Hervorbringens und der persönlichen Darstellung mit triftigen Gründen so ganz in sich vernichtet , daß er Mut faßte , alle Spuren seiner Torheit , alles , was ihn irgend noch daran erinnern könnte , völlig auszulöschen .
Er hatte daher an einem kühlen Abende ein Kaminfeuer angezündet und holte ein Reliquienkästchen hervor , in welchem sich hunderterlei Kleinigkeiten fanden , die er in bedeutenden Augenblicken von Mariane erhalten oder derselben geraubt hatte .
Jede vertrocknete Blume erinnerte ihn an die Zeit , da sie noch frisch in ihren Haaren blühte ; jedes Zettelchen an die glückliche Stunde , wozu sie ihn dadurch einlud ; jede Schleife an den lieblichen Ruheplatz seines Hauptes , ihren schönen Busen .
Mußte nicht auf diese Weise jede Empfindung , die er schon lange getötet glaubte , sich wieder zu bewegen anfangen ?
Mußte nicht die Leidenschaft , über die er , abgeschieden von seiner Geliebten , Herr geworden war , in der Gegenwart dieser Kleinigkeiten wieder mächtig werden ?
Denn wir merken erst , wie traurig und unangenehm ein trüber Tag ist , wenn ein einziger durchdringender Sonnenblick uns den aufmunternden Glanz einer heiteren Stunde darstellt .
Nicht ohne Bewegung sah er daher diese so lange bewahrten Heiligtümer nacheinander in Rauch und Flamme vor sich aufgehen .
Einigemal hielt er zaudernd inne und hatte noch eine Perlenschnur und ein flornes Halstuch übrig , als er sich entschloß , mit den dichterischen Versuchen seiner Jugend das abnehmende Feuer wieder aufzufrischen .
Bis jetzt hatte er alles sorgfältig aufgehoben , was ihm , von der frühsten Entwicklung seines Geistes an , aus der Feder geflossen war .
Noch lagen seine Schriften in Bündel gebunden auf dem Boden des Koffers , wohin er sie gepackt hatte , als er sie auf seiner Flucht mitzunehmen hoffte .
Wie ganz anders eröffnete er sie jetzt , als er sie damals zusammenband !
Wenn wir einen Brief , den wir unter gewissen Umständen geschrieben und gesiegelt haben , der aber den Freund , an den er gerichtet war , nicht antrifft , sondern wieder zu uns zurückgebracht wird , nach einiger Zeit eröffnen , überfällt uns eine sonderbare Empfindung , indem wir unser eigenes Siegel erbrechen und uns mit unserem veränderten Selbst wie mit einer dritten Person unterhalten .
Ein ähnliches Gefühl ergriff mit Heftigkeit unseren Freund , als er das erste Paket eröffnete und die zerteilten Hefte ins Feuer warf , die eben gewaltsam aufloderten , als Werner hereintrat , sich über die lebhafte Flamme verwunderte und fragte , was hier vorgehe .
" Ich gebe einen Beweis " , sagte Wilhelm , " daß es mir Ernst sei , ein Handwerk aufzugeben , wozu ich nicht geboren wurde " ; und mit diesen Worten warf er das zweite Paket in das Feuer .
Werner wollte ihn abhalten , allein es war geschehen .
" Ich sehe nicht ein , wie du zu diesem Extrem kommst " , sagte dieser .
" Warum sollen denn nun diese Arbeiten , wenn sie nicht vortrefflich sind , gar vernichtet werden ? "
" Weil ein Gedicht entweder vortrefflich sein oder gar nicht existieren soll ; weil jeder , der keine Anlage hat , das Beste zu leisten , sich der Kunst enthalten und sich vor jeder Verführung dazu ernstlich in acht nehmen sollte .
Denn freilich regt sich in jedem Menschen ein gewisses unbestimmtes Verlangen , dasjenige , was er sieht , nachzuahmen ; aber dieses Verlangen beweist gar nicht , daß auch die Kraft in uns wohne , mit dem , was wir unternehmen , zustande zu kommen .
Sieh nur die Knaben an , wie sie jedesmal , sooft Seiltänzer in der Stadt gewesen , auf allen Planken und Balken hin und wider gehen und balancieren , bis ein anderer Reiz sie wieder zu einem ähnlichen Spiele hinzieht .
Hast du es nicht in dem Zirkel unserer Freunde bemerkt ?
Sooft sich ein Virtuose hören läßt , finden sich immer einige , die sogleich dasselbe Instrument zu lernen anfangen .
Wie viele irren auf diesem Wege herum !
Glücklich , wer den Fehlschluß von seinen Wünschen auf seine Kräfte bald gewahr wird ! "
Werner widersprach ; die Unterredung wurde lebhaft , und Wilhelm konnte nicht ohne Bewegung die Argumente , mit denen er sich selbst so oft gequält hatte , gegen seinen Freund wiederholen .
Werner behauptete , es sei nicht vernünftig , ein Talent , zu dem man nur einigermaßen Neigung und Geschick habe , deswegen , weil man es niemals in der größten Vollkommenheit ausüben werde , ganz aufzugeben .
Es finde sich ja so manche leere Zeit , die man dadurch ausfüllen und nach und nach etwas hervorbringen könne , wodurch wir uns und anderen ein Vergnügen bereiten .
Unser Freund , der hierin ganz anderer Meinung war , fiel ihm sogleich ein und sagte mit großer Lebhaftigkeit :
" Wie sehr irrst du , lieber Freund , wenn du glaubst , daß ein Werk , dessen erste Vorstellung die ganze Seele füllen muß , in unterbrochenen , zusammengegeizt Stunden könne hervorgebracht werden .
Nein , der Dichter muß ganz sich , ganz in seinen geliebten Gegenständen leben .
Er , der vom Himmel innerlich auf das köstlichste begabt ist , der einen sich immer selbst vermehrenden Schatz im Busen bewahrt , er muß auch von außen ungestört mit seinen Schätzen in der stillen Glückseligkeit leben , die ein Reicher vergebens mit aufgehäuften Gütern um sich hervorzubringen sucht .
Sieh die Menschen an , wie sie nach Glück und Vergnügen rennen !
Ihre Wünsche , ihre Mühe , ihr Geld jagen rastlos , und wonach ?
Nach dem , was der Dichter von der Natur erhalten hat , nach dem Genuß der Welt , nach dem Mitgefühl seiner selbst in anderen , nach einem harmonischen Zusammensein mit vielen oft unvereinbaren Dingen .
Was beunruhiget die Menschen , als daß sie ihre Begriffe nicht mit den Sachen verbinden können , daß der Genuß sich ihnen unter den Händen wegstiehlt , daß das Gewünschte zu spät kommt und daß alles Erreichte und Erlangte auf ihr Herz nicht die Wirkung tut , welche die Begierde uns in der Ferne ahnen läßt .
Gleichsam wie einen Gott hat das Schicksal den Dichter über dieses alles hinübergesetzt .
Er sieht das Gewirre der Leidenschaften , Familien und Reiche sich zwecklos bewegen , er sieht die unauflöslichen Rätsel der Mißverständnisse , denen oft nur ein einsilbiges Wort zur Entwicklung fehlt , unsäglich verderbliche Verwirrungen verursachen .
Er fühlt das Traurige und das Freudige jedes Menschenschicksals mit .
Wenn der Weltmensch in einer abzehrenden Melancholie über großen Verlust seine Tage hinschleicht oder in ausgelassener Freude seinem Schicksale entgegengeht , so schreitet die empfängliche , leichtbewegliche Seele des Dichters wie die wandelnde Sonne von Nacht zu Tag fort , und mit leisen Übergängen stimmt seine Harfe zu Freude und Leid .
Eingeboren auf dem Grund seines Herzens wächst die schöne Blume der Weisheit hervor , und wenn die anderen wachend träumen und von ungeheuren Vorstellungen aus allen ihren Sinnen geängstigt werden , so lebt er den Traum des Lebens als ein Wachender , und das Seltenste , was geschieht , ist ihm zugleich Vergangenheit und Zukunft .
Und so ist der Dichter zugleich Lehrer , Wahrsager , Freund der Götter und der Menschen .
Wie ! willst du , daß er zu einem kümmerlichen Gewerbe heruntersteige ?
Er , der wie ein Vogel gebaut ist , um die Welt zu überschweben , auf hohen Gipfeln zu nisten und seine Nahrung von Knospen und Früchten , einen Zweig mit dem anderen leicht verwechselnd , zu nehmen , er sollte zugleich wie der Stier am Pfluge ziehen , wie der Hund sich auf eine Fährte gewöhnen oder vielleicht gar , an die Kette geschlossen , einen Meierhof durch sein Bellen sicheren ? "
Werner hatte , wie man sich denken kann , mit Verwunderung zugehört .
" Wenn nur auch die Menschen " , fiel er ihm ein , " wie die Vögel gemacht wären und , ohne daß sie spinnen und weben , holdselige Tage in beständigem Genuß zubringen könnten !
Wenn sie nur auch bei Ankunft des Winters sich so leicht in ferne Gegenden begäben , dem Mangel auszuweichen und sich vor dem Froste zu sicheren ! "
" So haben die Dichter in Zeiten gelebt , wo das Ehrwürdige mehr erkannt wurde " , rief Wilhelm aus , " und so sollten sie immer leben .
Genügsam in ihrem Innersten ausgestattet , bedurften sie wenig von außen ; die Gabe , schöne Empfindungen , herrliche Bilder den Menschen in süßen , sich an jeden Gegenstand anschmiegenden Worten und Melodien mitzuteilen , bezauberte von jeher die Welt und war für den Begabten ein reichliches Erbteil .
An der Könige Höfen , an den Tischen der Reichen , vor den Türen der Verliebten horchte man auf sie , indem sich das Ohr und die Seele für alles andere verschloß , wie man sich seligpreist und entzückt stillsteht , wenn aus den Gebüschen , durch die man wandelt , die Stimme der Nachtigall gewaltig rührend hervordringt !
Sie fanden eine gastfreie Welt , und ihr niedrig scheinender Stand erhöhte sie nur desto mehr .
Der Held lauschte ihren Gesängen , und der Überwinder der Welt huldigte einem Dichter , weil er fühlte , daß ohne diesen sein ungeheures Dasein nur wie ein Sturmwind vorüberfahren würde ; der Liebende wünschte sein Verlangen und seinen Genuß so tausendfach und so harmonisch zu fühlen , als ihn die beseelte Lippe zu schildern verstand ; und selbst der Reiche konnte seine Besitztümer , seine Abgötter , nicht mit eigenen Augen so kostbar sehen , als sie ihm vom Glanz des allen Wert fühlenden und erhöhenden Geistes beleuchtet erschienen .
Ja , wer hat , wenn du willst , Götter gebildet , uns zu ihnen erhoben , sie zu uns herniedergebracht , als der Dichter ? "
" Mein Freund " , versetzte Werner nach einigem Nachdenken , " ich habe schon oft bedauert , daß du das , was du so lebhaft fühlst , mit Gewalt aus deiner Seele zu verbannen strebst .
Ich müßte mich sehr irren , wenn du nicht besser tätest , dir selbst einigermaßen nachzugeben , als dich durch die Widersprüche eines so harten Entsagens aufzureiben und dir mit der einen unschuldigen Freude den Genuß aller übrigen zu entziehen . "
" Darf ich dir_es gestehen , mein Freund " , versetzte der andere , " und wirst du mich nicht lächerlich finden , wenn ich dir bekenne , daß jene Bilder mich noch immer verfolgen , sosehr ich sie fliehe , und daß , wenn ich mein Herz untersuche , alle frühen Wünsche fest , ja noch fester als sonst darin haften ?
Doch was bleibt mir Unglücklichem gegenwärtig übrig ?
Ach , wer mir vorausgesagt hätte , daß die Arme meines Geistes so bald zerschmettert werden sollten , mit denen ich ins Unendliche griff und mit denen ich doch gewiß ein Großes zu umfassen hoffte , wer mir das vorausgesagt hätte , würde mich zur Verzweiflung gebracht haben .
Und noch jetzt , da das Gericht über mich ergangen ist , jetzt , da ich die verloren habe , die anstatt einer Gottheit mich zu meinen Wünschen hinüberführen sollte , was bleibt mir übrig , als mich den bittersten Schmerzen zu überlassen ?
O mein Bruder " , fuhr er fort , " ich leugne nicht , sie war mir bei meinen heimlichen Anschlägen der Kloben , an den eine Strickleiter befestigt ist ; gefährlich hoffend schwebt der Abenteurer in der Luft , das Eisen bricht , und er liegt zerschmettert am Fuße seiner Wünsche .
Es ist auch nun für mich kein Trost , keine Hoffnung mehr !
Ich werde " , rief er aus , indem er aufsprang , " von diesen unglückseligen Papieren keines übriglassen . "
Er faßte abermals ein paar Hefte an , riß sie auf und warf sie ins Feuer .
Werner wollte ihn abhalten , aber vergebens .
" Laß mich ! " rief Wilhelm , " was sollen diese elenden Blätter ?
Für mich sind sie weder Stufe noch Aufmunterung mehr .
Sollen sie übrigbleiben , um mich bis ans Ende meines Lebens zu peinigen ?
Sollen sie vielleicht einmal der Welt zum Gespötte dienen , anstatt Mitleiden und Schauer zu erregen ?
Weh über mich und über mein Schicksal !
Nun verstehe ich erst die Klagen der Dichter , der aus Not weise gewordenen Traurigen .
Wie lange hielt ich mich für unzerstörbar , für unverwundlich , und ach ! nun sehe ich , daß ein tiefer früher Schade nicht wieder auswachsen , sich nicht wieder herstellen kann ; ich fühle , daß ich ihn mit ins Grab nehmen muß .
Nein ! keinen Tag des Lebens soll der Schmerz von mir weichen , der mich noch zuletzt umbringt , und auch ihr Andenken soll bei mir bleiben , mit mir leben und sterben , das Andenken der Unwürdigen - ach , mein Freund !
wenn ich von Herzen reden soll - der gewiß nicht ganz Unwürdigen !
Ihr Stand , ihre Schicksale haben sie tausendmal bei mir entschuldigt .
Ich bin zu grausam gewesen , du hast mich in deine Kälte , in deine Härte unbarmherzig eingeweiht , meine zerrütteten Sinne gefangengehalten und mich verhindert , das für sie und für mich zu tun , was ich uns beiden schuldig war .
Wer weiß , in welchen Zustand ich sie versetzt habe , und erst nach und nach fällt mir es aufs Gewissen , in welcher Verzweiflung , in welcher Hilflosigkeit ich sie verließ !
War es nicht möglich , daß sie sich entschuldigen konnte ?
War es nicht möglich ?
Wieviel Mißverständnisse können die Welt verwirren , wieviel Umstände können dem größten Fehler Vergebung erflehen ! -
Wie oft denke ich mir sie , in der Stille für sich sitzend , auf ihren Ellenbogen gestützt .
- » Das ist « , sagt sie , » die Treue , die Liebe , die er mir zuschwur !
Mit diesem unsanften Schlag das schöne Leben zu endigen , das uns verband ! « " - Er brach in einen Strom von Tränen aus , indem er sich mit dem Gesichte auf den Tisch warf und die übergebliebenen Papiere benetzte .
Werner stand in der größten Verlegenheit dabei .
Er hatte sich dieses rasche Auflodern der Leidenschaft nicht vermutet .
Etlichemal wollte er seinem Freunde in die Rede fallen , etlichemal das Gespräch woandershin lenken , vergebens !
er widerstand dem Strome nicht .
Auch hier übernahm die ausdauernde Freundschaft wieder ihr Amt .
Er ließ den heftigsten Anfall des Schmerzens vorüber , indem er durch seine stille Gegenwart eine aufrichtige , reine Teilnehmung am besten sehen ließ , und so blieben sie diesen Abend ; Wilhelm ins stille Nachgefühl des Schmerzens versenkt und der andere erschreckt durch den neuen Ausbruch einer Leidenschaft , die er lange bemeistert und durch guten Rat und eifriges Zureden überwältigt zu haben glaubte .
Drittes Kapitel Nach solchen Rückfällen pflegte Wilhelm meist nur desto eifriger sich den Geschäften und der Tätigkeit zu widmen , und es war der beste Weg , dem Labyrinthe , das ihn wieder anzulocken suchte , zu entfliehen .
Seine gute Art , sich gegen Fremde zu betragen , seine Leichtigkeit , fast in allen lebenden Sprachen Korrespondenz zu führen , gaben seinem Vater und dessen Handelsfreunde immer mehr Hoffnung und trösteten sie über die Krankheit , deren Ursache ihnen nicht bekannt geworden war , und über die Pause , die ihren Plan unterbrochen hatte .
Man beschloß Wilhelms Abreise zum zweitenmal , und wir finden ihn auf seinem Pferde , den Mantelsack hinter sich , erheitert durch freie Luft und Bewegung , dem Gebirge sich nähern , wo er einige Aufträge ausrichten sollte .
Er durchstrich langsam Täler und Berge mit der Empfindung des größten Vergnügens .
Überhangende Felsen , rauschende Wasserbäche , bewachsene Wände , tiefe Gründe sah er hier zum erstenmal , und doch hatten seine frühsten Jugendträume schon in solchen Gegenden geschwebt .
Er fühlte sich bei diesem Anblicke wieder verjüngt ; alle erduldeten Schmerzen waren aus seiner Seele weggewaschen , und mit völliger Heiterkeit sagte er sich Stellen aus verschiedenen Gedichten , besonders aus dem " Pastor fido " vor , die an diesen einsamen Plätzen scharenweise seinem Gedächtnisse zuflossen .
Auch erinnerte er sich mancher Stellen aus seinen eigenen Liedern , die er mit einer besonderen Zufriedenheit rezitierte .
Er belebte die Welt , die vor ihm lag , mit allen Gestalten der Vergangenheit , und jeder Schritt in die Zukunft war ihm voll Ahnung wichtiger Handlungen und merkwürdiger Begebenheiten .
Mehrere Menschen , die aufeinanderfolgend hinter ihm herkamen , an ihm mit einem Gruße vorbeigingen und den Weg ins Gebirge , durch steile Fußpfade , eilig fortsetzten , unterbrachen einigemal seine stille Unterhaltung , ohne daß er jedoch aufmerksam auf sie geworden wäre .
Endlich gesellte sich ein gesprächiger Gefährte zu ihm und erzählte die Ursache der starken Pilgerschaft .
" Zu Hochdorf " , sagte er , " wird heute abend eine Komödie gegeben , wozu sich die ganze Nachbarschaft versammelt . "
" Wie ! " rief Wilhelm , " in diesen einsamen Gebirgen , zwischen diesen undurchdringlichen Wäldern hat die Schauspielkunst einen Weg gefunden und sich einen Tempel aufgebaut ? und ich muß zu ihrem Feste wallfahrten ? "
" Sie werden sich noch mehr wundern " , sagte der andere , " wenn Sie hören , durch wen das Stück aufgeführt wird .
Es ist eine große Fabrik in dem Orte , die viel Leute ernährt .
Der Unternehmer , der sozusagen von aller menschlichen Gesellschaft entfernt lebt , weiß seine Arbeiter im Winter nicht besser zu beschäftigen , als daß er sie veranlaßt hat , Komödie zu spielen .
Er leidet keine Karten unter ihnen und wünscht sie auch sonst von rohen Sitten abzuhalten .
So bringen sie die langen Abende zu , und heute , da des Alten Geburtstag ist , geben sie ihm zu Ehren eine besondere Festlichkeit . "
Wilhelm kam zu Hochdorf an , wo er übernachten sollte , und stieg bei der Fabrik ab , deren Unternehmer auch als Schuldner auf seiner Liste stand .
Als er seinen Namen nannte , rief der Alte verwundert aus : " Ei , mein Herr , sind Sie der Sohn des braven Mannes , dem ich so viel Dank und bis jetzt noch Geld schuldig bin ?
Ihr Herr Vater hat so viel Geduld mit mir gehabt , daß ich ein Bösewicht sein müßte , wenn ich nicht eilig und fröhlich bezahlte .
Sie kommen eben zur rechten Zeit , um zu sehen , daß es mir Ernst ist . "
Er rief seine Frau herbei , welche ebenso erfreut war , den jungen Mann zu sehen ; sie versicherte , daß er seinem Vater gleiche , und bedauerte , daß sie ihn wegen der vielen Fremden die Nacht nicht beherbergen könne .
Das Geschäft war klar und bald berichtigt ; Wilhelm steckte ein Röllchen Gold in die Tasche und wünschte , daß seine übrigen Geschäfte auch so leicht gehen möchten .
Die Stunde des Schauspiels kam heran , man erwartete nur noch den Oberforstmeister , der endlich auch anlangte , mit einigen Jägern eintrat und mit der größten Verehrung empfangen wurde .
Die Gesellschaft wurde nunmehr ins Schauspielhaus geführt , wozu man eine Scheune eingerichtet hatte , die gleich am Garten lag .
Haus und Theater waren , ohne sonderlichen Geschmack , munter und artig genug angelegt .
Einer von den Malern , die auf der Fabrik arbeiteten , hatte bei dem Theater in der Residenz gehandlangt und hatte nun Wald , Straße und Zimmer , freilich etwas roh , hingestellt .
Das Stück hatten sie von einer herumziehenden Truppe geborgt und nach ihrer eigenen Weise zurechtgeschnitten .
So wie es war , unterhielt es .
Die Intrige , daß zwei Liebhaber ein Mädchen ihrem Vormunde und wechselsweise sich selbst entreißen wollen , brachte allerlei interessante Situationen hervor .
Es war das erste Stück , das unser Freund nach einer so langen Zeit wieder sah ; er machte mancherlei Betrachtungen .
Es war voller Handlung , aber ohne Schilderung wahrer Charaktere .
Es gefiel und ergötzte .
So sind die Anfänge aller Schauspielkunst .
Der rohe Mensch ist zufrieden , wenn er nur etwas vorgehen sieht ; der gebildete will empfinden , und Nachdenken ist nur dem ganz ausgebildeten angenehm .
Den Schauspielern hätte er hie und da gerne nachgeholfen ; denn es fehlte nur wenig , so hätten sie um vieles besser sein können .
In seinen stillen Betrachtungen störte ihn der Tabaksdampf , der immer stärker und stärker wurde .
Der Oberforstmeister hatte bald nach Anfang des Stücks seine Pfeife angezündet , und nach und nach nahmen sich mehrere diese Freiheit heraus .
Auch machten die großen Hunde dieses Herrn schlimme Auftritte .
Man hatte sie zwar ausgesperrt ; allein sie fanden bald den Weg zur Hintertür herein , liefen auf das Theater , rannten wider die Akteurs und gesellten sich endlich durch einen Sprung über das Orchester zu ihrem Herrn , der den ersten Platz im Parterre eingenommen hatte .
Zum Nachspiel wurde ein Opfer dargebracht .
Ein Porträt , das den Alten in seinem Bräutigamskleide vorstellte , stand auf einem Altar , mit Kränzen behangen .
Alle Schauspieler huldigten ihm in demutvollen Stellungen .
Das jüngste Kind trat , weiß gekleidet , hervor und hielt eine Rede in Versen , wodurch die ganze Familie und sogar der Oberforstmeister , der sich dabei an seine Kinder erinnerte , zu Tränen bewegt wurde .
So endigte sich das Stück , und Wilhelm konnte nicht umhin , das Theater zu besteigen , die Aktricen in der Nähe zu besehen , sie wegen ihres Spiels zu loben und ihnen auf die Zukunft einigen Rat zu geben .
Die übrigen Geschäfte unseres Freundes , die er nach und nach in größeren und kleineren Gebirgsorten verrichtete , liefen nicht alle so glücklich noch so vergnügt ab .
Manche Schuldner baten um Aufschub , manche waren unhöflich , manche leugneten .
Nach seinem Auftrage sollte er einige verklagen ; er mußte einen Advokaten aufsuchen , diesen instruieren , sich vor Gericht stellen und was dergleichen verdrießliche Geschäfte noch mehr waren .
Ebensoschlimm erging es ihm , wenn man ihm eine Ehre erzeigen wollte .
Nur wenig Leute fand er , die ihn einigermaßen unterrichten konnten ; wenige , mit denen er in ein nützliches Handelsverhältnis zu kommen hoffte .
Da nun auch unglücklicherweise Regentage einfielen und eine Reise zu Pferd in diesen Gegenden mit unerträglichen Beschwerden verknüpft war , so dankte er dem Himmel , als er sich dem flachen Lande wieder näherte und am Fuße des Gebirges in einer schönen und fruchtbaren Ebene , an einem sanften Flusse , im Sonnenscheine ein heiteres Landstädtchen liegen sah , in welchem er zwar keine Geschäfte hatte , aber eben deswegen sich entschloß , ein paar Tage daselbst zu verweilen , um sich und seinem Pferde , das von dem schlimmen Wege sehr gelitten hatte , einige Erholung zu verschaffen .
Viertes Kapitel Als er in einem Wirtshause auf dem Markte abtrat , ging es darin sehr lustig , wenigstens sehr lebhaft zu .
Eine große Gesellschaft Seiltänzer , Springer und Gaukler , die einen starken Mann bei sich hatten , waren mit Weib und Kindern eingezogen und machten , indem sie sich auf eine öffentliche Erscheinung bereiteten , einen Unfug über den anderen .
Bald stritten sie mit dem Wirte , bald unter sich selbst ; und wenn ihr Zank unleidlich war , so waren die Äußerungen ihres Vergnügens ganz und gar unerträglich .
Unschlüssig , ob er gehen oder bleiben sollte , stand er unter dem Tore und sah den Arbeitern zu , die auf dem Platze ein Gerüst aufzuschlagen anfingen .
Ein Mädchen , das Rosen und andere Blumen herumtrug , bot ihm ihren Korb dar , und er kaufte sich einen schönen Strauß , den er mit Liebhaberei anders band und mit Zufriedenheit betrachtete , als das Fenster eines an der Seite des Platzes stehenden anderen Gasthauses sich auftat und ein wohlgebildetes Frauenzimmer sich an demselben zeigte .
Er konnte ungeachtet der Entfernung bemerken , daß eine angenehme Heiterkeit ihr Gesicht belebte .
Ihre blonden Haare fielen nachlässig aufgelöst um ihren Nacken ; sie schien sich nach dem Fremden umzusehen .
Einige Zeit darauf trat ein Knabe , der eine Frisierschürze umgegürtet und ein weißes Jäckchen anhatte , aus der Türe jenes Hauses , ging auf Wilhelm zu , begrüßte ihn und sagte : " Das Frauenzimmer am Fenster läßt Sie fragen , ob Sie ihr nicht einen Teil der schönen Blumen abtreten wollen ? "
- " Sie stehen ihr alle zu Diensten " , versetzte Wilhelm , indem er dem leichten Boten das Bouquet überreichte und zugleich der Schönen ein Kompliment machte , welches sie mit einem freundlichen Gegengruß erwiderte und sich vom Fenster zurückzog .
Nachdenkend über dieses artige Abenteuer ging er nach seinem Zimmer die Treppe hinauf , als ein junges Geschöpf ihm entgegensprang , das seine Aufmerksamkeit auf sich zog .
Ein kurzes seidenes Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln , knappe lange Beinkleider mit Puffen standen dem Kinde gar artig .
Lange schwarze Haare waren in Locken und Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden .
Er sah die Gestalt mit Verwunderung an und konnte nicht mit sich einig werden , ob er sie für einen Knaben oder für ein Mädchen erklären sollte .
Doch entschied er sich bald für das letzte und hielt sie auf , da sie bei ihm vorbeikam , bot ihr einen guten Tag und fragte sie , wem sie angehöre , ob er schon leicht sehen konnte , daß sie ein Glied der springenden und tanzenden Gesellschaft sein müsse .
Mit einem scharfen schwarzen Seitenblick sah sie ihn an , indem sie sich von ihm losmachte und in die Küche lief , ohne zu antworten .
Als er die Treppe hinaufkam , fand er auf dem weiten Vorsaale zwei Mannspersonen , die sich im Fechten übten oder vielmehr ihre Geschicklichkeit aneinander zu versuchen schienen .
Der eine war offenbar von der Gesellschaft , die sich im Hause befand , der andere hatte ein weniger wildes Ansehn .
Wilhelm sah ihnen zu und hatte Ursache , sie beide zu bewundern , und als nicht lange darauf der schwarzbärtige , nervige Streiter den Kampfplatz verließ , bot der andere mit vieler Artigkeit Wilhelm das Rapier an .
" Wenn Sie einen Schüler " , versetzte dieser , " in die Lehre nehmen wollen , so bin ich wohl zufrieden , mit Ihnen einige Gänge zu wagen . "
Sie fochten zusammen , und obgleich der Fremde dem Ankömmling weit überlegen war , so war er doch höflich genug zu versichern , daß alles nur auf Übung ankomme ; und wirklich hatte Wilhelm auch gezeigt , daß er früher von einem guten und gründlichen deutschen Fechtmeister unterrichtet worden war .
Ihre Unterhaltung wurde durch das Getöse unterbrochen , mit welchem die bunte Gesellschaft aus dem Wirtshause auszog , um die Stadt von ihrem Schauspiel zu benachrichtigen und auf ihre Künste begierig zu machen .
Einem Tambour folgte der Entrepreneur zu Pferde , hinter ihm eine Tänzerin auf einem ähnlichen Gerippe , die ein Kind vor sich hielt , das mit Bändern und Flintern wohl herausgeputzt war .
Darauf kam die übrige Truppe zu Fuß , wovon einige auf ihren Schultern Kinder , in abenteuerlichen Stellungen , leicht und bequem dahertrugen , unter denen die junge , schwarzköpfige , düstere Gestalt Wilhelms Aufmerksamkeit aufs neue erregte .
Pagliasso lief unter der andringenden Menge drollig hin und her und teilte mit sehr begreiflichen Späßen , indem er bald ein Mädchen küßte , bald einen Knaben pritschte , seine Zettel aus und erweckte unter dem Volke eine unüberwindliche Begierde , ihn näher kennenzulernen .
In den gedruckten Anzeigen waren die mannigfaltigen Künste der Gesellschaft , besonders eines Monsieur Narziß und der Demoiselle Landrinette herausgestrichen , welche beide als Hauptpersonen die Klugheit gehabt hatten , sich von dem Zuge zu enthalten , sich dadurch ein vornehmeres Ansehn zu geben und größere Neugier zu erwecken .
Während des Zuges hatte sich auch die schöne Nachbarin wieder am Fenster sehen lassen , und Wilhelm hatte nicht verfehlt , sich bei seinem Gesellschafter nach ihr zu erkundigen .
Dieser , den wir einstweilen Laertes nennen wollen , erbot sich , Wilhelm zu ihr hinüber zu begleiten .
" Ich und das Frauenzimmer " , sagte er lächelnd , " sind ein paar Trümmer einer Schauspielergesellschaft , die vor kurzem hier scheiterte .
Die Anmut des Orts hat uns bewogen , einige Zeit hier zu bleiben und unsere wenige gesammelte Barschaft in Ruhe zu verzehren , indes ein Freund ausgezogen ist , ein Unterkommen für sich und uns zu suchen . "
Laertes begleitete sogleich seinen neuen Bekannten zu Philines Türe , wo er ihn einen Augenblick stehenließ , um in einem benachbarten Laden Zuckerwerk zu holen .
" Sie werden mir es gewiß danken " , sagte er , indem er zurückkam , " daß ich Ihnen diese artige Bekanntschaft verschaffe . "
Das Frauenzimmer kam ihnen auf einem Paar leichten Pantöffelchen mit hohen Absätzen aus der Stube entgegengetreten .
Sie hatte eine schwarze Mantille über ein weißes Neglige geworfen , das , eben weil es nicht ganz reinlich war , ihr ein häusliches und bequemes Ansehn gab ; ihr kurzes Röckchen ließ die niedlichsten Füße von der Welt sehen .
" Sein Sie mir willkommen ! " rief sie Wilhelm zu , " und nehmen Sie meinen Dank für die schönen Blumen . "
Sie führte ihn mit der einen Hand ins Zimmer , indem sie mit der anderen den Strauß an die Brust drückte .
Als sie sich niedergesetzt hatten und in gleichgültigen Gesprächen begriffen waren , denen sie eine reizende Wendung zu geben wußte , schüttete ihr Laertes gebrannte Mandeln in den Schoß , von denen sie sogleich zu naschen anfing .
" Sehen Sie , welch ein Kind dieser junge Mensch ist ! " rief sie aus , " er wird Sie überreden wollen , daß ich eine große Freundin von solchen Näschereien sei , und er ist_es , der nicht leben kann , ohne irgend etwas Leckeres zu genießen . "
" Lassen Sie uns nur gestehen " , versetzte Laertes , " daß wir hierin , wie in mehrerem , einander gern Gesellschaft leisten .
Zum Beispiel " , sagte er , " es ist heute ein sehr schöner Tag ; ich dächte , wir führen spazieren und nähmen unser Mittagsmahl auf der Mühle . "
- " Recht gern " , sagte Philine , " wir müssen unserem neuen Bekannten eine kleine Veränderung machen . "
Laertes sprang fort , denn er ging niemals , und Wilhelm wollte einen Augenblick nach Hause , um seine Haare , die von der Reise noch verworren aussahen , in Ordnung bringen zu lassen .
" Das können Sie hier ! " sagte sie , rief ihren kleinen Diener , nötigte Wilhelm auf die artigste Weise , seinen Rock auszuziehen , ihren Pudermantel anzulegen und sich in ihrer Gegenwart frisieren zu lassen .
" Man muß ja keine Zeit versäumen " , sagte sie ; " man weiß nicht , wie lange man beisammen bleibt . "
Der Knabe , mehr trotzig und unwillig als ungeschickt , benahm sich nicht zum besten , raufte Wilhelm und schien so bald nicht fertig werden zu wollen .
Philine verwies ihm einigemal seine Unart , stieß ihn endlich ungeduldig hinweg und jagte ihn zur Türe hinaus .
Nun übernahm sie selbst die Bemühung und kräuselte die Haare unseres Freundes mit großer Leichtigkeit und Zierlichkeit , ob sie gleich auch nicht zu eilen schien und bald dieses , bald jenes an ihrer Arbeit auszusetzen hatte , indem sie nicht vermeiden konnte , mit ihren Knien die seinigen zu berühren und Strauß und Busen so nahe an seine Lippen zu bringen , daß er mehr als einmal in Versuchung gesetzt wurde , einen Kuß darauf zu drücken .
Als Wilhelm mit einem kleinen Pudermesser seine Stirn gereinigt hatte , sagte sie zu ihm :
" Stecken Sie es ein , und gedenken Sie meiner dabei . "
Es war ein artiges Messer ; der Griff von eingelegtem Stahl zeigte die freundlichen Worte :
" Gedenkt mein " .
Wilhelm steckte es zu sich , dankte ihr und bat um die Erlaubnis , ihr ein kleines Gegengeschenk machen zu dürfen .
Nun war man fertig geworden .
Laertes hatte die Kutsche gebracht , und nun begann eine sehr lustige Fahrt .
Philine warf jedem Armen , der sie anbettelte , etwas zum Schlage hinaus , indem sie ihm zugleich ein munteres und freundliches Wort zurief .
Sie waren kaum auf der Mühle angekommen und hatten ein Essen bestellt , als eine Musik vor dem Hause sich hören ließ .
Es waren Bergleute , die zu Zither und Triangel mit lebhaften und grellen Stimmen verschiedene artige Lieder vortrugen .
Es dauerte nicht lange , so hatte eine herbeiströmende Menge einen Kreis um sie geschlossen , und die Gesellschaft nickte ihnen ihren Beifall aus den Fenstern zu .
Als sie diese Aufmerksamkeit gesehen , erweiterten sie ihren Kreis und schienen sich zu ihrem wichtigsten Stückchen vorzubereiten .
Nach einer Pause trat ein Bergmann mit einer Hacke hervor und stellte , indes die anderen eine ernsthafte Melodie spielten , die Handlung des Schürfens vor .
Es währte nicht lange , so trat ein Bauer aus der Menge und gab jenem pantomimisch drohend zu verstehen , daß er sich von hier hinwegbegeben solle .
Die Gesellschaft war darüber verwundert und erkannte erst den in einen Bauer verkleideten Bergmann , als er den Mund auftat und in einer Art von Rezitativ den anderen schalt , daß er wage , auf seinem Acker zu hantieren .
Jener kam nicht aus der Fassung , sondern fing an , den Landmann zu belehren , daß er recht habe , hier einzuschlagen , und gab ihm dabei die ersten Begriffe vom Bergbau .
Der Bauer , der die fremde Terminologie nicht verstand , tat allerlei alberne Fragen , worüber die Zuschauer , die sich klüger fühlten , ein herzliches Gelächter aufschlugen .
Der Bergmann suchte ihn zu berichten und bewies ihm den Vorteil , der zuletzt auch auf ihn fließe , wenn die unterirdischen Schätze des Landes herausgewühlt würden .
Der Bauer , der jenem zuerst mit Schlägen gedroht hatte , ließ sich nach und nach besänftigen , und sie schieden als gute Freunde voneinander ; besonders aber zog sich der Bergmann auf die honorabelste Art aus diesem Streite .
" Wir haben " , sagte Wilhelm bei Tische , " an diesem kleinen Dialog das lebhafteste Beispiel , wie nützlich allen Ständen das Theater sein könnte , wie vielen Vorteil der Staat selbst daraus ziehen müßte , wenn man die Handlungen , Gewerbe und Unternehmungen der Menschen von ihrer guten , lobenswürdigen Seite und in dem Gesichtspunkte auf das Theater brächte , aus welchem sie der Staat selbst ehren und schützen muß .
Jetzt stellen wir nur die lächerliche Seite der Menschen dar ; der Lustspieldichter ist gleichsam nur ein hämischer Kontrolleur , der auf die Fehler seiner Mitbürger überall ein wachsames Auge hat und froh zu sein scheint , wenn er ihnen eins anhängen kann .
Sollte es nicht eine angenehme und würdige Arbeit für einen Staatsmann sein , den natürlichen , wechselseitigen Einfluß aller Stände zu überschauen und einen Dichter , der Humor genug hätte , bei seinen Arbeiten zu leiten ?
Ich bin überzeugt , es könnten auf diesem Wege manche sehr unterhaltende , zugleich nützliche und lustige Stücke ersonnen werden . "
" Soviel ich " , sagte Laertes , " überall , wo ich herumgeschwärmt bin , habe bemerken können , weiß man nur zu verbieten , zu hindern und abzulehnen ; selten aber zu gebieten , zu befördern und zu belohnen .
Man läßt alles in der Welt gehen , bis es schädlich wird ; dann zürnt man und schlägt drein . "
" Laßt mir den Staat und die Staatsleute weg " , sagte Philine , " ich kann mir sie nicht anders als in Perücken vorstellen , und eine Perücke , es mag sie aufhaben , wer da will , erregt in meinen Fingern eine krampfhafte Bewegung ; ich möchte sie gleich dem ehrwürdigen Herrn herunternehmen , in der Stube herumspringen und den Kahlkopf auslachen . "
Mit einigen lebhaften Gesängen , welche sie sehr schön vortrug , schnitt Philine das Gespräch ab und trieb zu einer schnellen Rückfahrt , damit man die Künste der Seiltänzer am Abende zu sehen nicht versäumen möchte .
Drollig bis zur Ausgelassenheit , setzte sie ihre Freigebigkeit gegen die Armen auf dem Heimwege fort , indem sie zuletzt , da ihr und ihren Reisegefährten das Geld ausging , einem Mädchen ihren Strohhut und einem alten Weibe ihr Halstuch zum Schlage hinauswarf .
Philine lud beide Begleiter zu sich in ihre Wohnung , weil man , wie sie sagte , aus ihren Fenstern das öffentliche Schauspiel besser als im anderen Wirtshause sehen könne .
Als sie ankamen , fanden sie das Gerüst aufgeschlagen und den Hintergrund mit aufgehängten Teppichen geziert .
Die Schwungbretter waren schon gelegt , das Schlappseil an die Pfosten befestigt und das Strafe Seil über die Böcke gezogen .
Der Platz war ziemlich mit Volk gefüllt und die Fenster mit Zuschauern einiger Art besetzt .
Pagliaß bereitete erst die Versammlung mit einigen Albernheiten , worüber die Zuschauer immer zu lachen pflegen , zur Aufmerksamkeit und guten Laune vor .
Einige Kinder , deren Körper die seltsamsten Verrenkungen darstellten , erregten bald Verwunderung , bald Grausen , und Wilhelm konnte sich des tiefen Mitleidens nicht enthalten , als er das Kind , an dem er beim ersten Anblicke teilgenommen , mit einiger Mühe die sonderbaren Stellungen hervorbringen sah .
Doch bald erregten die lustigen Springer ein lebhaftes Vergnügen , wenn sie erst einzeln , dann hintereinander und zuletzt alle zusammen sich vorwärts und rückwärts in der Luft überschlugen .
Ein lautes Händeklatschen und Jauchzen erscholl aus der ganzen Versammlung .
Nun aber wurde die Aufmerksamkeit auf einen ganz anderen Gegenstand gewendet .
Die Kinder , eins nach dem anderen , mußten das Seil betreten , und zwar die Lehrlinge zuerst , damit sie durch ihre Übungen das Schauspiel verlängerten und die Schwierigkeit der Kunst ins Licht setzten .
Es zeigten sich auch einige Männer und erwachsene Frauenspersonen mit ziemlicher Geschicklichkeit ; allein es war noch nicht Monsieur Narziß , noch nicht Demoiselle Landrinette .
Endlich traten auch diese aus einer Art von Zelt hinter aufgespannten roten Vorhängen hervor und erfüllten durch ihre angenehme Gestalt und zierlichen Putz die bisher glücklich genährte Hoffnung der Zuschauer .
Er ein munteres Bürschchen von mittlerer Größe , schwarzen Augen und einem starken Haarzopf ; sie nicht minder wohl und kräftig gebildet ; beide zeigten sich nacheinander auf dem Seile mit leichten Bewegungen , Sprüngen und seltsamen Posituren .
Ihre Leichtigkeit , seine Verwegenheit , die Genauigkeit , womit beide ihre Kunststücke ausführten , erhöhten mit jedem Schritt und Sprung das allgemeine Vergnügen .
Der Anstand , womit sie sich betrugen , die anscheinenden Bemühungen der anderen um sie gaben ihnen das Ansehn , als wenn sie Herr und Meister der ganzen Truppe wären , und jedermann hielt sie des Ranges wert .
Die Begeisterung des Volks teilte sich den Zuschauern an den Fenstern mit , die Damen sahen unverwandt nach Narzissen , die Herren nach Landrinette .
Das Volk jauchzte , und das feinere Publikum enthielt sich nicht des Klatschens ; kaum daß man noch über Pagliassen lachte .
Wenige nur schlichen sich weg , als einige von der Truppe , um Geld zu sammeln , sich mit zinnernen Tellern durch die Menge drängten .
" Sie haben ihre Sache , dünkt mich , gut gemacht " , sagte Wilhelm zu Philine , die bei ihm am Fenster lag , " ich bewundere ihren Verstand , womit sie auch geringe Kunststückchen , nach und nach und zur rechten Zeit angebracht , gelten zu machen wußten , und wie sie aus der Ungeschicklichkeit ihrer Kinder und aus der Virtuosität ihrer Besten ein Ganzes zusammenarbeiteten , das erst unsere Aufmerksamkeit erregte und dann uns auf das angenehmste unterhielt . "
Das Volk hatte sich nach und nach verlaufen , und der Platz war leer geworden , indes Philine und Laertes über die Gestalt und die Geschicklichkeit Narzisses und Landrinettes in Streit gerieten und sich wechselsweise neckten .
Wilhelm sah das wunderbare Kind auf der Straße bei anderen spielenden Kindern stehen , machte Philine darauf aufmerksam , die sogleich nach ihrer lebhaften Art dem Kinde rief und winkte und , da es nicht kommen wollte , singend die Treppe hinunterklapperte und es heraufführte .
" Hier ist das Rätsel " , rief sie , als sie das Kind zur Türe hereinzog .
Es blieb am Eingange stehen , eben als wenn es gleich wieder hinausschlüpfen wollte , legte die rechte Hand vor die Brust , die linke vor die Stirn und bückte sich tief .
" Fürchte dich nicht , liebe Kleine " , sagte Wilhelm , indem er auf sie losging .
Sie sah ihn mit unsicherem Blick an und trat einige Schritte näher .
" Wie nennest du dich ? " fragte er .
- " Sie heißen mich Mignon . "
- " Wieviel Jahre hast du ? "
- " Es hat sie niemand gezählt . "
- " Wer war dein Vater ? "
- " Der große Teufel ist tot . "
" Nun , das ist wunderlich genug ! " rief Philine aus .
Man fragte sie noch einiges ; sie brachte ihre Antworten in einem gebrochenen Deutsch und mit einer sonderbar feierlichen Art vor ; dabei legte sie jedesmal die Hände an Brust und Haupt und neigte sich tief .
Wilhelm konnte sie nicht genug ansehen .
Seine Augen und sein Herz wurden unwiderstehlich von dem geheimnisvollen Zustande dieses Wesens angezogen .
Er schätzte sie zwölf bis dreizehn Jahre ; ihr Körper war gut gebaut , nur daß ihre Glieder einen stärkeren Wuchs versprachen oder einen zurückgehaltenen ankündigten .
Ihre Bildung war nicht regelmäßig , aber auffallend ; ihre Stirn geheimnisvoll , ihre Nase außerordentlich schön , und der Mund , ob er schon für ihr Alter zu sehr geschlossen schien und sie manchmal mit den Lippen nach einer Seite zuckte , noch immer treuherzig und reizend genug .
Ihre bräunliche Gesichtsfarbe konnte man durch die Schminke kaum erkennen .
Diese Gestalt prägte sich Wilhelm sehr tief ein ; er sah sie noch immer an , schwieg und vergaß der Gegenwärtigen über seinen Betrachtungen .
Philine weckte ihn aus seinem Halbtraume , indem sie dem Kinde etwas übriggebliebenes Zuckerwerk reichte und ihm ein Zeichen gab , sich zu entfernen .
Es machte seinen Bückling wie oben und fuhr blitzschnell zur Türe hinaus .
Als die Zeit nunmehr herbeikam , daß unsere neuen Bekannten sich für diesen Abend trennen sollten , redeten sie vorher noch eine Spazierfahrt auf den morgenden Tag ab .
Sie wollten abermals an einem anderen Orte , auf einem benachbarten Jägerhause , ihr Mittagsmahl einnehmen .
Wilhelm sprach diesen Abend noch manches zu Philines Lobe , worauf Laertes nur kurz und leichtsinnig antwortete .
Den anderen Morgen , als sie sich abermals eine Stunde im Fechten geübt hatten , gingen sie nach Philines Gasthofe , vor welchem sie die bestellte Kutsche schon hatten anfahren sehen .
Aber wie verwundert war Wilhelm , als die Kutsche verschwunden , und wie noch mehr , als Philine nicht zu Hause anzutreffen war .
Sie hatte sich , so erzählte man , mit ein paar Fremden , die diesen Morgen angekommen waren , in den Wagen gesetzt und war mit ihnen davongefahren .
Unser Freund , der sich in ihrer Gesellschaft eine angenehme Unterhaltung versprochen hatte , konnte seinen Verdruß nicht verbergen .
Dagegen lachte Laertes und rief : " So gefällt sie mir !
Das sieht ihr ganz ähnlich !
Lassen Sie uns nur gerade nach dem Jagdhause gehen ; sie mag sein , wo sie will , wir wollen ihretwegen unsere Promenade nicht versäumen . "
Als Wilhelm unterwegs diese Inkonsequenz des Betragens zu tadeln fortfuhr , sagte Laertes :
" Ich kann nicht inkonsequent finden , wenn jemand seinem Charakter treu bleibt .
Wenn sie sich etwas vornimmt oder jemanden etwas verspricht , so geschieht es nur unter der stillschweigenden Bedingung , daß es ihr auch bequem sein werde , den Vorsatz auszuführen oder ihr Versprechen zu halten .
Sie verschenkt gern , aber man muß immer bereit sein , ihr das Geschenkte wiederzugeben . "
" Dies ist ein seltsamer Charakter " , versetzte Wilhelm .
" Nichts weniger als seltsam , nur daß sie keine Heuchlerin ist .
Ich liebe sie deswegen , ja ich bin ihr Freund , weil sie mir das Geschlecht so rein darstellt , das ich zu hassen so viel Ursache habe .
Sie ist mir die wahre Eva , die Stammmutter des weiblichen Geschlechts ; so sind alle , nur wollen sie es nicht Wort haben . "
Unter mancherlei Gesprächen , in welchen Laertes seinen Haß gegen das weibliche Geschlecht sehr lebhaft ausdrückte , ohne jedoch die Ursache davon anzugeben , waren sie in den Wald gekommen , in welchen Wilhelm sehr verstimmt eintrat , weil die Äußerungen des Laertes ihm die Erinnerung an sein Verhältnis zu Mariane wieder lebendig gemacht hatten .
Sie fanden nicht weit von einer beschatteten Quelle unter herrlichen alten Bäumen Philine allein an einem steinernen Tische sitzen .
Sie sang ihnen ein lustiges Liedchen entgegen , und als Laertes nach ihrer Gesellschaft fragte , rief sie aus :
" Ich habe sie schön angeführt ; ich habe sie zum besten gehabt , wie sie es verdienten .
Schon unterwegs setzte ich ihre Freigebigkeit auf die Probe , und da ich bemerkte , daß sie von den kargen Naschern waren , nahm ich mir gleich vor , sie zu bestrafen .
Nach unserer Ankunft fragten sie den Kellner , was zu haben sei , der mit der gewöhnlichen Geläufigkeit seiner Zunge alles , was da war , und mehr als da war , hererzählte .
Ich sah ihre Verlegenheit , sie blickten einander an , stotterten und fragten nach dem Preise .
» Was bedenken Sie sich lange « , rief ich aus , » die Tafel ist das Geschäft eines Frauenzimmers , lassen Sie mich dafür sorgen . «
Ich fing darauf an , ein unsinniges Mittagmahl zu bestellen , wozu noch manches durch Boten aus der Nachbarschaft geholt werden sollte .
Der Kellner , den ich durch ein paar schiefe Mäuler zum Vertrauten gemacht hatte , half mir endlich , und so haben wir sie durch die Vorstellung eines herrlichen Gastmahls dergestalt geängstigt , daß sie sich kurz und gut zu einem Spaziergange in den Wald entschlossen , von dem sie wohl schwerlich zurückkommen werden .
Ich habe eine Viertelstunde auf meine eigene Hand gelacht und werde lachen , sooft ich an die Gesichter denke . "
Bei Tische erinnerte sich Laertes an ähnliche Fälle ; sie kamen in den Gang , lustige Geschichten , Mißverständnisse und Prellereien zu erzählen .
Ein junger Mann von ihrer Bekanntschaft aus der Stadt kam mit einem Buche durch den Wald geschlichen , setzte sich zu ihnen und rühmte den schönen Platz .
Er machte sie auf das Rieseln der Quelle , auf die Bewegung der Zweige , auf die einfallenden Lichter und auf den Gesang der Vögel aufmerksam .
Philine sang ein Liedchen vom Kuckuck , welches dem Ankömmling nicht zu behagen schien ; er empfahl sich bald .
" Wenn ich nur nichts mehr von Natur und Naturszenen hören sollte " , rief Philine aus , als er weg war ; " es ist nichts unerträglicher , als sich das Vergnügen vorrechnen zu lassen , das man genießt .
Wenn schön Wetter ist , geht man spazieren , wie man tanzt wenn aufgespielt wird .
Wer mag aber nur einen Augenblick an die Musik , wer ans schöne Wetter denken ?
Der Tänzer interessiert uns , nicht die Violine , und in ein Paar schöne schwarze Augen zu sehen , tut einem Paar blauen Augen gar zu wohl .
Was sollen dagegen Quellen und Brunnen und alte , morsche Linden ! "
Sie sah , indem sie so sprach , Wilhelm , der ihr gegenüber saß , mit einem Blick in die Augen , dem er nicht wehren konnte , wenigstens bis an die Türe seines Herzens vorzudringen .
" Sie haben recht " , versetzte er mit einiger Verlegenheit , " der Mensch ist dem Menschen das Interessanteste und sollte ihn vielleicht ganz allein interessieren .
Alles andere , was uns umgibt , ist entweder nur Element , in dem wir leben , oder Werkzeug , dessen wir uns bedienen .
Je mehr wir uns dabei aufhalten , je mehr wir darauf merken und Teil daran nehmen , desto schwächer wird das Gefühl unseres eigenen Wertes und das Gefühl der Gesellschaft .
Die Menschen , die einen großen Wert auf Gärten , Gebäude , Kleider , Schmuck oder irgend ein Besitztum legen , sind weniger gesellig und gefällig ; sie verlieren die Menschen aus den Augen , welche zu erfreuen und zu versammeln nur sehr wenigen glückt .
Sehen wir es nicht auch auf dem Theater ?
Ein guter Schauspieler macht uns bald eine elende , unschickliche Dekoration vergessen , dahingegen das schönste Theater den Mangel an guten Schauspielern erst recht fühlbar macht . "
Nach Tische setzte Philine sich in das beschattete hohe Gras .
Ihre beiden Freunde mußten ihr Blumen in Menge herbeischaffen .
Sie wand sich einen vollen Kranz und setzte ihn auf ; sie sah unglaublich reizend aus .
Die Blumen reichten noch zu einem anderen hin ; auch den flocht sie , indem sich beide Männer neben sie setzten .
Als er unter allerlei Scherz und Anspielungen fertig geworden war , drückte sie ihn Wilhelm mit der größten Anmut aufs Haupt und rückte ihn mehr als einmal anders , bis er recht zu sitzen schien .
" Und ich werde , wie es scheint , leer ausgehen " , sagte Laertes .
" Mitnichten " , versetzte Philine .
" Ihr sollt Euch keineswegs beklagen . "
Sie nahm ihren Kranz vom Haupte und setzte ihn Laertes auf .
" Wären wir Nebenbuhler " , sagte dieser , " so würden wir sehr heftig streiten können , welchen von beiden du am meisten begünstigst . "
" Da wärt ihr rechte Toren " , versetzte sie , indem sie sich zu ihm hinüberbog und ihm den Mund zum Kuß reichte , sich aber sogleich umwendete , ihren Arm um Wilhelm schlang und einen lebhaften Kuß auf seine Lippen drückte .
" Welcher schmeckt am besten ? " fragte sie neckisch .
" Wunderlich ! " rief Laertes .
" Es scheint , als wenn so etwas niemals nach Wermut schmecken könne . "
" Sowenig " , sagte Philine , " als irgend eine Gabe , die jemand ohne Neid und Eigensinn genießt .
Nun hätte ich " , rief sie aus , " noch Lust , eine Stunde zu tanzen , und dann müssen wir wohl wieder nach unseren Springern sehen . "
Man ging nach dem Hause und fand Musik daselbst .
Philine , die eine gute Tänzerin war , belebte ihre beiden Gesellschafter .
Wilhelm war nicht ungeschickt , allein es fehlte ihm an einer künstlichen Übung .
Seine beiden Freunde nahmen sich vor , ihn zu unterrichten .
Man verspätete sich .
Die Seiltänzer hatten ihre Künste schon zu produzieren angefangen .
Auf dem Platze hatten sich viele Zuschauer eingefunden , doch war unseren Freunden , als sie ausstiegen , ein Getümmel merkwürdig , das eine große Anzahl Menschen nach dem Tore des Gasthofes , in welchem Wilhelm eingekehrt war , hingezogen hatte .
Wilhelm sprang hinüber , um zu sehen , was es sei , und mit Entsetzen erblickte er , als er sich durchs Volk drängte , den Herrn der Seiltänzergesellschaft , der das interessante Kind bei den Haaren aus dem Hause zu schleppen bemüht war und mit einem Peitschenstiel unbarmherzig auf den kleinen Körper losschlug .
Wilhelm fuhr wie ein Blitz auf den Mann zu und faßte ihn bei der Brust .
" Laß das Kind los ! " schrie er wie ein Rasender , " oder einer von uns bleibt hier auf der Stelle . "
Er faßte zugleich den Kerl mit einer Gewalt , die nur der Zorn geben kann , bei der Kehle , daß dieser zu ersticken glaubte , das Kind losließ und sich gegen den Angreifenden zu verteidigen suchte .
Einige Leute , die mit dem Kinde Mitleiden fühlten , aber Streit anzufangen nicht gewagt hatten , fielen dem Seiltänzer sogleich in die Arme , entwaffneten ihn und drohten ihm mit vielen Schimpfreden .
Dieser , der sich jetzt nur auf die Waffen seines Mundes reduziert sah , fing gräßlich zu drohen und zu fluchen an : die faule , unnütze Kreatur wolle ihre Schuldigkeit nicht tun ; sie verweigere , den Eiertanz zu tanzen , den er dem Publikum versprochen habe ; er wolle sie totschlagen , und es solle ihn niemand daran hindern .
Er suchte sich loszumachen , um das Kind , das sich unter der Menge verkrochen hatte , aufzusuchen .
Wilhelm hielt ihn zurück und rief : " Du sollst nicht eher dieses Geschöpf weder sehen noch berühren , bis du vor Gericht Rechenschaft gibst , wo du es gestohlen hast ; ich werde dich aufs Äußerste treiben ; du sollst mir nicht entgehen . "
Diese Rede , welche Wilhelm in der Hitze , ohne Gedanken und Absicht , aus einem dunklen Gefühl oder , wenn man will , aus Inspiration ausgesprochen hatte , brachte den wütenden Menschen auf einmal zur Ruhe .
Er rief : " Was habe ich mit der unnützen Kreatur zu schaffen !
Zahlen Sie mir , was mich ihre Kleider kosten , und Sie mögen sie behalten ; wir wollen diesen Abend noch einig werden . "
Er eilte darauf , die unterbrochene Vorstellung fortzusetzen und die Unruhe des Publikums durch einige bedeutende Kunststücke zu befriedigen .
Wilhelm suchte nunmehr , da es stille geworden war , nach dem Kinde , das sich aber nirgends fand .
Einige wollten es auf dem Boden , andere auf den Dächern der benachbarten Häuser gesehen haben .
Nachdem man es allerorten gesucht hatte , mußte man sich beruhigen und abwarten , ob es nicht von selbst wieder herbeikommen wolle .
Indes war Narziß nach Hause gekommen , welchen Wilhelm über die Schicksale und die Herkunft des Kindes befragte .
Dieser wußte nichts davon , denn er war nicht lange bei der Gesellschaft , erzählte dagegen mit großer Leichtigkeit und vielem Leichtsinne seine eigenen Schicksale .
Als ihm Wilhelm zu dem großen Beifall Glück wünschte , dessen er sich zu erfreuen hatte , äußerte er sich sehr gleichgültig darüber .
" Wir sind gewohnt " sagte er , " daß man über uns lacht und unsere Künste bewundert ; aber wir werden durch den außerordentlichen Beifall um nichts gebessert .
Der Entrepreneur zahlt uns und mag sehen , wie er zurechtkommt . "
Er beurlaubte sich darauf und wollte sich eilig entfernen .
Auf die Frage , wo er so schnell hinwolle , lächelte der junge Mensch und gestand , daß seine Figur und Talente ihm einen solideren Beifall zugezogen , als der des großen Publikums sei .
Er habe von einigen Frauenzimmern Botschaft erhalten , die sehr eifrig verlangten , ihn näher kennenzulernen , und er fürchte , mit den Besuchen , die er abzulegen habe , vor Mitternacht kaum fertig zu werden .
Er fuhr fort , mit der größten Aufrichtigkeit seine Abenteuer zu erzählen , und hätte die Namen , Straßen und Häuser angezeigt , wenn nicht Wilhelm eine solche Indiskretion abgelehnt und ihn höflich entlassen hätte .
Laertes hatte indessen Landrinette unterhalten und versicherte , sie sei vollkommen würdig , ein Weib zu sein und zu bleiben .
Nun ging die Unterhandlung mit dem Entrepreneur wegen des Kindes an , das unserem Freunde für dreißig Taler überlassen wurde , gegen welche der schwarzbärtige , heftige Italiener seine Ansprüche völlig abtrat , von der Herkunft des Kindes aber weiter nichts bekennen wollte , als daß er solches nach dem Tode seines Bruders , den man wegen seiner außerordentlichen Geschicklichkeit den großen Teufel genannt , zu sich genommen habe .
Der andere Morgen ging meist mit Aufsuchen des Kindes hin .
Vergebens durchkroch man alle Winkel des Hauses und der Nachbarschaft ; es war verschwunden , und man fürchtete , es möchte in ein Wasser gesprungen sein oder sich sonst ein Leide_es angetan haben .
Philines Reize konnten die Unruhe unseres Freundes nicht ableiten .
Er brachte einen traurigen , nachdenklichen Tag zu .
Auch des Abends , da Springer und Tänzer alle ihre Kräfte aufboten , um sich dem Publikum aufs beste zu empfehlen , konnte sein Gemüt nicht erheitert und zerstreut werden .
Durch den Zulauf aus benachbarten Ortschaften hatte die Anzahl der Menschen außerordentlich zugenommen , und so wälzte sich auch der Schneeball des Beifalls zu einer ungeheuren Größe .
Der Sprung über die Degen und durch das Fass mit papiernen Böden machte eine große Sensation .
Der starke Mann ließ zum allgemeinen Grausen , Entsetzen und Erstaunen , indem er sich mit dem Kopf und den Füßen auf ein Paar auseinandergeschobene Stühle legte , auf seinen hohlschwebenden Leib einen Amboß heben und auf demselben von einigen wackeren Schmiedegesellen ein Hufeisen fertig schmieden .
Auch war die sogenannte Herkulesstärke , da eine Reihe Männer , auf den Schultern einer ersten Reihe stehend , abermals Frauen und Jünglinge trägt , so daß zuletzt eine lebendige Pyramide entsteht , deren Spitze ein Kind , auf den Kopf gestellt , als Knopf und Wetterfahne ziert , in diesen Gegenden noch nie gesehen worden und endigte würdig das ganze Schauspiel .
Narziß und Landrinette ließen sich in Tragsesseln auf den Schultern der übrigen durch die vornehmsten Straßen der Stadt unter lautem Freudengeschrei des Volks tragen .
Man warf ihnen Bänder , Blumensträuße und seidene Tücher zu und drängte sich , sie ins Gesicht zu fassen .
Jedermann schien glücklich zu sein , sie anzusehen und von ihnen eines Blicks gewürdigt zu werden .
" Welcher Schauspieler , welcher Schriftsteller , ja welcher Mensch überhaupt würde sich nicht auf dem Gipfel seiner Wünsche sehen , wenn er durch irgendein edles Wort oder eine gute Tat einen so allgemeinen Eindruck hervorbrächte ?
Welche köstliche Empfindung müßte es sein , wenn man gute , edle , der Menschheit würdige Gefühle ebenso schnell durch einen elektrischen Schlag ausbreiten , ein solches Entzücken unter dem Volke erregen könnte , als diese Leute durch ihre körperliche Geschicklichkeit getan haben ; wenn man der Menge das Mitgefühl alles Menschlichen geben , wenn man sie mit der Vorstellung des Glücks und Unglücks , der Weisheit und Torheit , ja des Unsinns und der Albernheit entzünden , erschüttern und ihr stockendes Innere in freie , lebhafte und reine Bewegung setzen könnte ! "
So sprach unser Freund , und da weder Philine noch Laertes gestimmt schienen , einen solchen Diskurs fortzusetzen , unterhielt er sich allein mit diesen Lieblingsbetrachtungen , als er bis spät in die Nacht um die Stadt spazierte und seinen alten Wunsch , das Gute , Edle , Große durch das Schauspiel zu versinnlichen , wieder einmal mit aller Lebhaftigkeit und aller Freiheit einer losgebundenen Einbildungskraft verfolgte .
Fünftes Kapitel Des anderen Tages , als die Seiltänzer mit großem Geräusch abgezogen waren , fand sich Mignon sogleich wieder ein und trat hinzu , als Wilhelm und Laertes ihre Fechtübungen auf dem Saale fortsetzten .
" Wo hast du gesteckt ? " fragte Wilhelm freundlich , " du hast uns viel Sorge gemacht . "
Das Kind antwortete nichts und sah ihn an .
" Du bist nun unser " , rief Laertes , " wir haben dich gekauft . "
- " Was hast du bezahlt ? " fragte das Kind ganz trocken .
" Hundert Dukaten " , versetzte Laertes ; " wenn du sie wiedergibst , kannst du frei sein . "
- " Das ist wohl viel ? " fragte das Kind .
- " O ja , du magst dich nur gut aufführen . "
- " Ich will dienen " , versetzte sie .
Von dem Augenblicke an merkte sie genau , was der Kellner den beiden Freunden für Dienste zu leisten hatte , und litt schon des anderen Tages nicht mehr , daß er ins Zimmer kam .
Sie wollte alles selbst tun und machte auch ihre Geschäfte , zwar langsam und mitunter unbehilflich , doch genau und mit großer Sorgfalt .
Sie stellte sich oft an ein Gefäß mit Wasser und wusch ihr Gesicht mit so großer Emsigkeit und Heftigkeit , daß sie sich fast die Backen aufrieb , bis Laertes durch Fragen und Necken erfuhr , daß sie die Schminke von ihren Wangen auf alle Weise loszuwerden suche und über dem Eifer , womit sie es tat , die Röte , die sie durchs Reiben hervorgebracht hatte , für die hartnäckigste Schminke halte .
Man bedeutete sie , und sie ließ ab , und nachdem sie wieder zur Ruhe gekommen war , zeigte sich eine schöne braune , obgleich nur von wenigem Rot erhöhte Gesichtsfarbe .
Durch die frevelhaften Reize Philines , durch die geheimnisvolle Gegenwart des Kindes mehr , als er sich selbst gestehen durfte , unterhalten , brachte Wilhelm verschiedene Tage in dieser sonderbaren Gesellschaft zu und rechtfertigte sich bei sich selbst durch eine fleißige Übung in der Fecht- und Tanzkunst , wozu er so leicht nicht wieder Gelegenheit zu finden glaubte .
Nicht wenig verwundert und gewissermaßen erfreut war er , als er eines Tages Herrn und Frau Melina ankommen sah , welche gleich nach dem ersten frohen Gruße sich nach der Direktrice und den übrigen Schauspielern erkundigten und mit großem Schrecken vernahmen , daß jene sich schon lange entfernt habe und diese bis auf wenige zerstreut seien .
Das junge Paar hatte sich nach ihrer Verbindung , zu der , wie wir wissen , Wilhelm behilflich gewesen , an einigen Orten nach Engagement umgesehen , keines gefunden und war endlich in dieses Städtchen gewiesen worden , wo einige Personen , die ihnen unterwegs begegneten , ein gutes Theater gesehen haben wollten .
Philine wollte Madame Melina , und Herr Melina dem lebhaften Laertes , als sie Bekanntschaft machten , keineswegs gefallen .
Sie wünschten die neuen Ankömmlinge gleich wieder los zu sein , und Wilhelm konnte ihnen keine günstigen Gesinnungen beibringen , ob er ihnen gleich wiederholt versicherte , daß es recht gute Leute seien .
Eigentlich war auch das bisherige lustige Leben unserer drei Abenteurer durch die Erweiterung der Gesellschaft auf mehr als eine Weise gestört ; denn Melina fing im Wirtshause ( er hatte in ebendemselben , in welchem Philine wohnte , Platz gefunden ) gleich zu markten und zu quengeln an .
Er wollte für weniges Geld besseres Quartier , reichlichere Mahlzeit und promptere Bedienung haben .
In kurzer Zeit machten Wirt und Kellner verdrießliche Gesichter , und wenn die anderen , um froh zu leben , sich alles gefallen ließen und nur geschwind bezahlten , um nicht länger an das zu denken , was schon verzehrt war , so mußte die Mahlzeit , die Melina regelmäßig sogleich berichtigte , jederzeit von vorn wieder durchgenommen werden , so daß Philine ihn ohne Umstände ein wiederkäuendes Tier nannte .
Noch verhaßter war Madame Melina dem lustigen Mädchen .
Diese junge Frau war nicht ohne Bildung , doch fehlte es ihr gänzlich an Geist und Seele .
Sie deklamierte nicht übel und wollte immer deklamieren ; allein man merkte bald , daß es nur eine Wortdeklamation war , die auf einzelnen Stellen lastete und die Empfindung des Ganzen nicht ausdruckte .
Bei diesem allen war sie nicht leicht jemanden , besonders Männern , unangenehm .
Vielmehr schrieben ihr diejenigen , die mit ihr umgingen , gewöhnlich einen schönen Verstand zu :
denn sie war , was ich mit einem Worte eine Anempfinderin nennen möchte ; sie wußte einem Freunde , um dessen Achtung ihr zu tun war , mit einer besonderen Aufmerksamkeit zu schmeicheln , in seine Ideen so lange als möglich einzugehen , sobald sie aber ganz über ihren Horizont waren , mit Ekstase eine solche neue Erscheinung aufzunehmen .
Sie verstand zu sprechen und zu schweigen und , ob sie gleich kein tückisches Gemüt hatte , mit großer Vorsicht aufzupassen , wo des anderen schwache Seite sein möchte .
Sechstes Kapitel Melina hatte sich indessen nach den Trümmern der vorigen Direktion genau erkundigt .
Sowohl Dekorationen als Garderobe waren an einige Handelsleute versetzt , und ein Notarius hatte den Auftrag von der Direktrice erhalten , unter gewissen Bedingungen , wenn sich Liebhaber fänden , in den Verkaufe aus freier Hand zu willigen .
Melina wollte die Sachen besehen und zog Wilhelm mit sich .
Dieser empfand , als man ihnen die Zimmer eröffnete , eine gewisse Neigung dazu , die er sich jedoch selbst nicht gestand .
In so einem schlechten Zustande auch die geklecksten Dekorationen waren , so wenig scheinbar auch türkische und heidnische Kleider , alte Karikaturröcke für Männer und Frauen , Kutten für Zauberer , Juden und Pfaffen sein mochten , so konnte er sich doch der Empfindung nicht erwehren , daß er die glücklichsten Augenblicke seines Lebens in der Nähe eines ähnlichen Trödelkrams gefunden hatte .
Hätte Melina in sein Herz sehen können , so würde er ihm eifriger zugesetzt haben , eine Summe Geldes auf die Befreiung , Aufstellung und neue Belebung dieser zerstreuten Glieder zu einem schönen Ganzen herzugeben .
" Welch ein glücklicher Mensch " , rief Melina aus , " könnte ich sein , wenn ich nur zweihundert Taler besäße , um zum Anfange den Besitz dieser ersten theatralischen Bedürfnisse zu erlangen .
Wie bald wollt ich ein kleines Schauspiel beisammen haben , das uns in dieser Stadt , in dieser Gegend gewiß sogleich ernähren sollte . "
Wilhelm schwieg , und beide verließen nachdenklich die wieder eingesperrten Schätze .
Melina hatte von dieser Zeit an keinen anderen Diskurs als Projekte und Vorschläge , wie man ein Theater einrichten und dabei seinen Vorteil finden könnte .
Er suchte Philine und Laertes zu interessieren , und man tat Wilhelm Vorschläge , Geld herzuschießen und Sicherheit dagegen anzunehmen .
Diesem fiel aber erst bei dieser Gelegenheit recht auf , daß er hier so lange nicht hätte verweilen sollen ; er entschuldigte sich und wollte Anstalten machen , seine Reise fortzusetzen .
Indessen war ihm Mignons Gestalt und Wesen immer reizender geworden .
In alle seinem Tun und Lassen hatte das Kind etwas Sonderbares .
Es ging die Treppe weder auf noch ab , sondern sprang ; es stieg auf den Geländern der Gänge weg , und ehe man sich_es versah , saß es oben auf dem Schranke und blieb eine Weile ruhig .
Auch hatte Wilhelm bemerkt , daß es für jeden eine besondere Art von Gruß hatte .
Ihn grüßte sie seit einiger Zeit mit über die Brust geschlagenen Armen .
Manche Tage war sie ganz stumm , zuzeiten antwortete sie mehr auf verschiedene Fragen , immer sonderbar , doch so , daß man nicht unterscheiden konnte , ob es Witz oder Unkenntnis der Sprache war , indem sie ein gebrochenes , mit Französisch und Italienisch durchflochtenes Deutsch sprach .
In seinem Dienste war das Kind unermüdet und früh mit der Sonne auf ; es verlor sich dagegen abends zeitig , schlief in einer Kammer auf der nackten Erde und war durch nichts zu bewegen , ein Bette oder einen Strohsack anzunehmen .
Er fand sie oft , daß sie sich wusch .
Auch ihre Kleider waren reinlich , obgleich alles fast doppelt und dreifach an ihr geflickt war .
Man sagte Wilhelm auch , daß sie alle Morgen ganz früh in die Messe gehe , wohin er ihr einmal folgte und sie in der Ecke der Kirche mit dem Rosenkranze knien und andächtig beten sah .
Sie bemerkte ihn nicht , er ging nach Hause , machte sich vielerlei Gedanken über diese Gestalt und konnte sich bei ihr nichts Bestimmtes denken .
Neues Andringen Melinas um eine Summe Geldes zur Auslösung der mehr erwähnten Theatergerätschaften bestimmte Wilhelm noch mehr , an seine Abreise zu denken .
Er wollte den Seinigen , die lange nichts von ihm gehört hatten , noch mit dem heutigen Posttage schreiben ; er fing auch wirklich einen Brief an Wernern an und war mit Erzählung seiner Abenteuer , wobei er , ohne es selbst zu bemerken , sich mehrmals von der Wahrheit entfernt hatte , schon ziemlich weit gekommen , als er zu seinem Verdruß auf der hinteren Seite des Briefblatts schon einige Verse geschrieben fand , die er für Madame Melina aus seiner Schreibtafel zu kopieren angefangen hatte .
Unwillig zerriß er das Blatt und verschob die Wiederholung seines Bekenntnisses auf den nächsten Posttag .
Siebentes Kapitel Unsere Gesellschaft befand sich abermals beisammen , und Philine , die auf jedes Pferd , das vorbeikam , auf jeden Wagen , der anfuhr , äußerst aufmerksam war , rief mit großer Lebhaftigkeit :
" Unser Pedant !
Da kommt unser allerliebster Pedant !
Wen mag er bei sich haben ? "
Sie rief und winkte zum Fenster hinaus , und der Wagen hielt stille .
Ein kümmerlich armer Teufel , den man an seinem schabten , graulich-braunen Rocke und an seinen übelkonditionierten Unterkleidern für einen Magister , wie sie auf Akademien zu vermodern pflegen , hätte halten sollen , stieg aus dem Wagen und entblößte , indem er , Philine zu grüßen , den Hut abtat , eine übelgepuderte , aber übrigens sehr steife Perücke , und Philine warf ihm hundert Kußhände zu .
So wie sie ihre Glückseligkeit fand , einen Teil der Männer zu lieben und ihre Liebe zu genießen , so war das Vergnügen nicht viel geringer , das sie sich sooft als möglich gab , die übrigen , die sie eben in diesem Augenblicke nicht liebte , auf eine sehr leichtfertige Weise zum besten zu haben .
Über den Lärm , womit sie diesen alten Freund empfing , vergaß man , auf die übrigen zu achten , die ihm nachfolgten .
Doch glaubte Wilhelm die zwei Frauenzimmer und einen ältlichen Mann , der mit ihnen hereintrat , zu kennen .
Auch entdeckte sich es bald , daß er sie alle drei vor einigen Jahren bei der Gesellschaft , die in seiner Vaterstadt spielte , mehrmals gesehen hatte .
Die Töchter waren seit der Zeit herangewachsen ; der Alte aber hatte sich wenig verändert .
Dieser spielte gewöhnlich die gutmütigen , polternden Alten , wovon das deutsche Theater nicht leer wird und die man auch im gemeinen Leben nicht selten antrifft .
Denn da es der Charakter unserer Landsleute ist , das Gute ohne viel Prunk zu tun und zu leisten , so denken sie selten daran , daß es auch eine Art gebe , das Rechte mit Zierlichkeit und Anmut zu tun , und verfallen vielmehr , von einem Geiste des Widerspruchs getrieben , leicht in den Fehler , durch ein mürrisches Wesen ihre liebste Tugend im Kontraste darzustellen .
Solche Rollen spielte unser Schauspieler sehr gut , und er spielte sie so oft und ausschließlich , daß er darüber eine ähnliche Art sich zu betragen im gemeinen Leben angenommen hatte .
Wilhelm geriet in große Bewegung , sobald er ihn erkannte ; denn er erinnerte sich , wie oft er diesen Mann neben seiner geliebten Mariane auf dem Theater gesehen hatte ; er hörte ihn noch schelten , er hörte ihre schmeichelnde Stimme , mit der sie seinem rauhen Wesen in manchen Rollen zu begegnen hatte .
Die erste lebhafte Frage an die neuen Ankömmlinge , ob ein Unterkommen auswärts zu finden und zu hoffen sei , wurde leider mit Nein beantwortet , und man mußte vernehmen , daß die Gesellschaften , bei denen man sich erkundigt , besetzt und einige davon sogar in Sorgen seien , wegen des bevorstehenden Krieges auseinandergehen zu müssen .
Der polternde Alte hatte mit seinen Töchtern aus Verdruß und Liebe zur Abwechslung ein vorteilhaftes Engagement aufgegeben , hatte mit dem Pedanten , den er unterwegs antraf , einen Wagen gemietet , um hierherzukommen , wo denn auch , wie sie fanden , guter Rat teuer war .
Die Zeit , in welcher sich die übrigen über ihre Angelegenheiten sehr lebhaft unterhielten , brachte Wilhelm nachdenklich zu .
Er wünschte den Alten allein zu sprechen , wünschte und fürchtete , von Mariane zu hören , und befand sich in der größten Unruhe .
Die Artigkeiten der neuangekommenen Frauenzimmer konnten ihn nicht aus seinem Traume reißen ; aber ein Wortwechsel , der sich erhob , machte ihn aufmerksam .
Es war Friedrich , der blonde Knabe , der Philine aufzuwarten pflegte , sich aber diesmal lebhaft widersetzte , als er den Tisch decken und Essen herbeischaffen sollte .
" Ich habe mich verpflichtet " , rief er aus , " Ihnen zu dienen , aber nicht , allen Menschen aufzuwarten . "
Sie gerieten darüber in einen heftigen Streit .
Philine bestand darauf , er habe seine Schuldigkeit zu tun , und als er sich hartnäckig widersetzte , sagte sie ihm ohne Umstände , er könnte gehen , wohin er wolle .
" Glauben Sie etwa , daß ich mich nicht von Ihnen entfernen könne ? " rief er aus , ging trotzig weg , machte seinen Bündel zusammen und eilte sogleich zum Hause hinaus .
" Gehe , Mignon " , sagte Philine , " und schaffe uns , was wir brauchen ; sage es dem Kellner , und hilf aufwarten ! "
Mignon trat vor Wilhelm hin und fragte in ihrer lakonischen Art : " Soll ich ? darf ich ? "
Und Wilhelm versetzte : " Tu , mein Kind , was Mademoiselle dir sagt . "
Das Kind besorgte alles und wartete den ganzen Abend mit großer Sorgfalt den Gästen auf .
Nach Tische suchte Wilhelm mit dem Alten einen Spaziergang allein zu machen :
es gelang ihm , und nach mancherlei Fragen , wie es ihm bisher gegangen , wendete sich das Gespräch auf die ehemalige Gesellschaft , und Wilhelm wagte zuletzt , nach Mariane zu fragen .
" Sagen Sie mir nichts von dem abscheulichen Geschöpf ! " rief der Alte , " ich habe verschworen , nicht mehr an sie zu denken . "
Wilhelm erschrak über diese Äußerung , war aber noch in größerer Verlegenheit , als der Alte fortfuhr , auf ihre Leichtfertigkeit und Liederlichkeit zu schmälen .
Wie gern hätte unser Freund das Gespräch abgebrochen ; allein er mußte nun einmal die polternden Ergießungen des wunderlichen Mannes aushalten .
" Ich schäme mich " , fuhr dieser fort , " daß ich ihr so geneigt war .
Doch hätten Sie das Mädchen näher gekannt , Sie würden mich gewiß entschuldigen .
Sie war so artig , natürlich und gut , so gefällig und in jedem Sinne leidlich .
Nie hätte ich mir vorgestellt , daß Frechheit und Undank die Hauptzüge ihres Charakters sein sollten . "
Schon hatte sich Wilhelm gefaßt gemacht , das Schlimmste von ihr zu hören , als er auf einmal mit Verwunderung bemerkte , daß der Ton des Alten milder wurde , seine Rede endlich stockte und er ein Schnupftuch aus der Tasche nahm , um die Tränen zu trockenen , die zuletzt seine Rede unterbrachen .
" Was ist Ihnen ? " rief Wilhelm aus .
" Was gibt Ihren Empfindungen auf einmal eine so entgegengesetzte Richtung ?
Verbergen Sie mir es nicht ; ich nehme an dem Schicksale dieses Mädchens mehr Anteil , als Sie glauben ; nur lassen Sie mich alles wissen . "
" Ich habe wenig zu sagen " , versetzte der Alte , indem er wieder in seinen ernstlichen , verdrießlichen Ton überging , " ich werde es ihr nie vergeben , was ich um sie geduldet habe .
Sie hatte " , fuhr er fort , " immer ein gewisses Zutrauen zu mir ; ich liebte sie wie meine Tochter und hatte , da meine Frau noch lebte , den Entschluß gefaßt , sie zu mir zu nehmen und sie aus den Händen der Alten zu retten , von deren Anleitung ich mir nicht viel Gutes versprach .
Meine Frau starb , das Projekt zerschlug sich .
Gegen das Ende des Aufenthalts in Ihrer Vaterstadt , es sind nicht gar drei Jahre , merkte ich ihr eine sichtbare Traurigkeit an ; ich fragte sie , aber sie wich aus .
Endlich machten wir uns auf die Reise .
Sie fuhr mit mir in einem Wagen , und ich bemerkte , was sie mir auch bald gestand , daß sie guter Hoffnung sei und in der größten Furcht schwebe , von unserem Direktor verstoßen zu werden .
Auch dauerte es nur kurze Zeit , so machte er die Entdeckung , kündigte ihr den Kontrakt , der ohnedies nur auf sechs Wochen stand , sogleich auf , zahlte , was sie zu fordern hatte , und ließ sie , aller Vorstellungen ungeachtet , in einem kleinen Städtchen , in einem schlechten Wirtshause zurück .
" Der Henker hole alle liederlichen Dirnen ! " rief der Alte mit Verdruß , " und besonders diese , die mir so manche Stunde meines Lebens verdorben hat .
Was soll ich lange erzählen , wie ich mich ihrer angenommen , was ich für sie getan , was ich an sie gehängt , wie ich auch in der Abwesenheit für sie gesorgt habe .
Ich wollte lieber mein Geld in den Teich werfen und meine Zeit hinbringen , räudige Hunde zu erziehen , als nur jemals wieder auf so ein Geschöpf die mindeste Aufmerksamkeit wenden .
Was war_es ?
Im Anfang erhielt ich Danksagungsbriefe , Nachricht von einigen Orten ihres Aufenthalts , und zuletzt kein Wort mehr , nicht einmal Dank für das Geld , das ich ihr zu ihren Wochen geschickt hatte .
O die Verstellung und der Leichtsinn der Weiber ist so recht zusammengepaart , um ihnen ein bequemes Leben und einem ehrlichen Kerl manche verdrießliche Stunde zu schaffen ! "
Achtes Kapitel Man denke sich Wilhelms Zustand , als er von dieser Unterredung nach Hause kam .
Alle seine alten Wunden waren wieder aufgerissen und das Gefühl , daß sie seiner Liebe nicht ganz unwürdig gewesen , wieder lebhaft geworden ; denn in dem Interesse des Alten , in dem Lobe , das er ihr wider Willen geben mußte , war unserem Freunde ihre ganze Liebenswürdigkeit wieder erschienen ; ja selbst die heftige Anklage des leidenschaftlichen Mannes enthielt nichts , was sie vor Wilhelms Augen hätte herabsetzen können .
Denn dieser bekannte sich selbst als Mitschuldigen ihrer Vergehungen , und ihr Schweigen zuletzt schien ihm nicht tadelhaft ; er machte sich vielmehr nur traurige Gedanken darüber , sah sie als Wöchnerin , als Mutter in der Welt ohne Hülfe herumirren , wahrscheinlich mit seinem eigenen Kinde herumirren ; Vorstellungen , welche das schmerzlichste Gefühl in ihm erregten .
Mignon hatte auf ihn gewartet und leuchtete ihm die Treppe hinauf .
Als sie das Licht niedergesetzt hatte , bat sie ihn zu erlauben , daß sie ihm heute abend mit einem Kunststücke aufwarten dürfe .
Er hätte es lieber verbeten , besonders da er nicht wußte , was es werden sollte .
Allein er konnte diesem guten Geschöpfe nichts abschlagen .
Nach einer kurzen Zeit trat sie wieder herein .
Sie trug einen Teppich unter dem Arme , den sie auf der Erde ausbreitete .
Wilhelm ließ sie gewähren .
Sie brachte darauf vier Lichter , stellte eins auf jeden Zipfel des Teppichs .
Ein Körbchen mit Eiern , das sie darauf holte , machte die Absicht deutlicher .
Künstlich abgemessen schritt sie nunmehr auf dem Teppich hin und her und legte in gewissen Maßen die Eier auseinander , dann rief sie einen Menschen herein , der im Hause aufwartete und die Violine spielte .
Er trat mit seinem Instrumente in die Ecke ; sie verband sich die Augen , gab das Zeichen und fing zugleich mit der Musik , wie ein aufgezogenes Räderwerk , ihre Bewegungen an , indem sie Takt und Melodie mit dem Schlage der Kastagnetten begleitete .
Behende , leicht , rasch , genau führte sie den Tanz .
Sie trat so scharf und so sicher zwischen die Eier hinein , bei den Eiern nieder , daß man jeden Augenblick dachte , sie müsse eins zertreten oder bei schnellen Wendungen das andere fortschleudern .
Mitnichten !
Sie berührte keines , ob sie gleich mit allen Arten von Schritten , engen und weiten , ja sogar mit Sprüngen und zuletzt halb kniend sich durch die Reihen durchwand .
Unaufhaltsam wie ein Uhrwerk lief sie ihren Weg , und die sonderbare Musik gab dem immer wieder von vorne anfangenden und losrauschenden Tanze bei jeder Wiederholung einen neuen Stoß .
Wilhelm war von dem sonderbaren Schauspiele ganz hingerissen ; er vergaß seiner Sorgen , folgte jeder Bewegung der geliebten Kreatur und war verwundert , wie in diesem Tanze sich ihr Charakter vorzüglich entwickelte .
Streng , scharf , trocken , heftig und in sanften Stellungen mehr feierlich als angenehm zeigte sie sich .
Er empfand , was er schon für Mignon gefühlt , in diesem Augenblicke auf einmal .
Er sehnte sich , dieses verlassene Wesen an Kindes Stadt seinem Herzen einzuverleiben , es in seine Arme zu nehmen und mit der Liebe eines Vaters Freude des Lebens in ihm zu erwecken .
Der Tanz ging zu Ende ; sie rollte die Eier mit den Füßen sachte zusammen auf ein Häufchen , ließ keines zurück , beschädigte keines und stellte sich dazu , indem sie die Binde von den Augen nahm und ihr Kunststück mit einem Bücklinge endigte .
Wilhelm dankte ihr , daß sie ihm den Tanz , den er zu sehen gewünscht , so artig und unvermutet vorgetragen habe .
Er streichelte sie und bedauerte , daß sie sich es habe so sauer werden lassen .
Er versprach ihr ein neues Kleid , worauf sie heftig antwortete :
" Deine Farbe ! "
Auch das versprach er ihr , ob er gleich nicht deutlich wußte , was sie darunter meine .
Sie nahm die Eier zusammen , den Teppich unter den Arm , fragte , ob er noch etwas zu befehlen habe , und schwang sich zur Türe hinaus .
Von dem Musikus erfuhr er , daß sie sich seit einiger Zeit viele Mühe gegeben , ihm den Tanz , welches der bekannte Fandango war , so lange vorzusingen , bis er ihn habe spielen können .
Auch habe sie ihm für seine Bemühungen etwas Geld angeboten , das er aber nicht nehmen wollen .
Neuntes Kapitel Nach einer unruhigen Nacht , die unser Freund teils wachend , teils von schweren Träumen geängstigt zubrachte , in denen er Mariane bald in aller Schönheit , bald in kümmerlicher Gestalt , jetzt mit einem Kinde auf dem Arm , bald desselben beraubt sah , war der Morgen kaum angebrochen , als Mignon schon mit einem Schneider hereintrat .
Sie brachte graues Tuch und blauen Taft und erklärte nach ihrer Art , daß sie ein neues Westchen und Schifferhosen , wie sie solche an den Knaben in der Stadt gesehen , mit blauen Aufschlägen und Bändern haben wolle .
Wilhelm hatte seit dem Verlust Marianes alle munteren Farben abgelegt .
Er hatte sich an das Grau , an die Kleidung der Schatten , gewöhnt , und nur etwa ein himmelblaues Futter oder ein kleiner Kragen von dieser Farbe belebte einigermaßen jene stille Kleidung .
Mignon , begierig , seine Farbe zu tragen , trieb den Schneider , der in kurzem die Arbeit zu liefern versprach .
Die Tanz- und Fechtstunden , die unser Freund heute mit Laertes nahm , wollten nicht zum besten glücken .
Auch wurden sie bald durch Melinas Ankunft unterbrochen , der umständlich zeigte , wie jetzt eine kleine Gesellschaft beisammen sei , mit welcher man schon Stücke genug aufführen könne .
Er erneuerte seinen Antrag , daß Wilhelm einiges Geld zum Etablissement vorstrecken solle , wobei dieser abermals seine Unentschlossenheit zeigte .
Philine und die Mädchen kamen bald hierauf mit Lachen und Lärmen herein .
Sie hatten sich abermals eine Spazierfahrt ausgedacht :
denn Veränderung des Orts und der Gegenstände war eine Lust , nach der sie sich immer sehnten .
Täglich an einem anderen Orte zu essen war ihr höchster Wunsch .
Diesmal sollte es eine Wasserfahrt werden .
Das Schiff , womit sie die Krümmungen des angenehmen Flusses hinunterfahren wollten , war schon durch den Pedanten bestellt .
Philine trieb , die Gesellschaft zauderte nicht und war bald eingeschifft .
" Was fangen wir nun an ? " sagte Philine , indem sich alle auf die Bänke niedergelassen hatten .
" Das kürzeste wäre " , versetzte Laertes , " wir extemporierten ein Stück .
Nehme jeder eine Rolle , die seinem Charakter am angemessensten ist , und wir wollen sehen , wie es uns gelingt . "
" Fürtrefflich ! " sagte Wilhelm , " denn in einer Gesellschaft , in der man sich nicht verstellt , in welcher jedes nur seinem Sinne folgt , kann Anmut und Zufriedenheit nicht lange wohnen , und wo man sich immer verstellt , dahin kommen sie gar nicht .
Es ist also nicht übel getan , wir geben uns die Verstellung gleich von Anfang zu und sind nachher unter der Maske so aufrichtig , als wir wollen . "
" Ja " , sagte Laertes , " deswegen geht sich es so angenehm mit Weibern um , die sich niemals in ihrer natürlichen Gestalt sehen lassen . "
" Das macht " , versetzte Madame Melina , " daß sie nicht so eitel sind wie die Männer , welche sich einbilden , sie seien schon immer liebenswürdig genug , wie sie die Natur hervorgebracht hat . "
Indessen war man zwischen angenehmen Büschen und Hügeln , zwischen Gärten und Weinbergen hingefahren , und die jungen Frauenzimmer , besonders aber Madame Melina , drückten ihr Entzücken über die Gegend aus .
Letztere fing sogar an , ein artiges Gedicht von der beschreibenden Gattung über eine ähnliche Naturszene feierlich herzusagen ; allein Philine unterbrach sie und schlug ein Gesetz vor , daß sich niemand unterfangen solle , von einem unbelebten Gegenstande zu sprechen ; sie setzte vielmehr den Vorschlag zur extemporierten Komödie mit Eifer durch .
Der polternde Alte sollte einen pensionierten Offizier , Laertes einen vazierenden Fechtmeister , der Pedant einen Juden vorstellen , sie selbst wolle eine Tirolerin machen und überließ den übrigen , sich ihre Rollen zu wählen .
Man sollte fingieren , als ob sie eine Gesellschaft weltfremder Menschen seien , die soeben auf einem Marktschiffe zusammenkomme .
Sie fing sogleich mit dem Juden ihre Rolle zu spielen an , und eine allgemeine Heiterkeit verbreitete sich .
Man war nicht lange gefahren , als der Schiffer stillhielt , um mit Erlaubnis der Gesellschaft noch jemand einzunehmen , der am Ufer stand und gewinkt hatte .
" Das ist eben noch , was wir brauchten " , rief Philine , " ein blinder Passagier fehlte noch der Reisegesellschaft . "
Ein wohlgebildeter Mann stieg in das Schiff , den man an seiner Kleidung und seiner ehrwürdigen Miene wohl für einen Geistlichen hätte nehmen können .
Er begrüßte die Gesellschaft , die ihm nach ihrer Weise dankte und ihn bald mit ihrem Scherz bekannt machte .
Er nahm darauf die Rolle eines Landgeistlichen an , die er zur Verwunderung aller auf das artigste durchsetzte , indem er bald ermahnte , bald Histörchen erzählte , einige schwache Seiten blicken ließ und sich doch im Respekt zu erhalten wußte .
Indessen hatte jeder , der nur ein einziges Mal aus seinem Charakter herausgegangen war , ein Pfand geben müssen .
Philine hatte sie mit großer Sorgfalt gesammelt und besonders den geistlichen Herrn mit vielen Küssen bei der künftigen Einlösung bedroht , ob er gleich selbst nie in Strafe genommen wurde .
Melina dagegen war völlig ausgeplündert , Hemdenknöpfe und Schnallen und alles , was Bewegliches an seinem Leibe war , hatte Philine zu sich genommen ; denn er wollte einen reisenden Engländer vorstellen und konnte auf keine Weise in seine Rolle hineinkommen .
Die Zeit war indes auf das angenehmste vergangen , jedes hatte seine Einbildungskraft und seinen Witz aufs möglichste angestrengt und jedes seine Rolle mit angenehmen und unterhaltenden Scherzen ausstaffiert .
So kam man an dem Ort an , wo man sich den Tag über aufhalten wollte , und Wilhelm geriet mit dem Geistlichen , wie wir ihn seinem Aussehn und seiner Rolle nach nennen wollen , auf dem Spaziergange bald in ein interessantes Gespräch .
" Ich finde diese Übung " , sagte der Unbekannte , " unter Schauspielern , ja in Gesellschaft von Freunden und Bekannten sehr nützlich .
Es ist die beste Art , die Menschen aus sich heraus- und durch einen Umweg wieder in sich hineinzuführen .
Es sollte bei jeder Truppe eingeführt sein , daß sie sich manchmal auf diese Weise üben müßte , und das Publikum würde gewiß dabei gewinnen , wenn alle Monate ein nicht geschriebenes Stück aufgeführt würde , worauf sich freilich die Schauspieler in mehreren Proben müßten vorbereitet haben . "
" Man dürfte sich " , versetzte Wilhelm , " ein extemporiertes Stück nicht als ein solches denken , das aus dem Stegreife sogleich komponiert würde , sondern als ein solches , wovon zwar Plan , Handlung und Szeneneinteilung gegeben wären , dessen Ausführung aber dem Schauspieler überlassen bliebe . "
" Ganz richtig " , sagte der Unbekannte , " und eben was diese Ausführung betrifft , würde ein solches Stück , sobald die Schauspieler nur einmal im Gang wären , außerordentlich gewinnen .
Nicht die Ausführung durch Worte , denn durch diese muß freilich der überlegende Schriftsteller seine Arbeit zieren , sondern die Ausführung durch Gebärden und Mienen , Ausrufungen und was dazu gehört , kurz , das stumme , halblaute Spiel , welches nach und nach bei uns ganz verlorenzugehen scheint .
Es sind wohl Schauspieler in Deutschland , deren Körper das zeigt , was sie denken und fühlen , die durch Schweigen , Zaudern , durch Winke , durch zarte , anmutige Bewegungen des Körpers eine Rede vorzubereiten und die Pausen des Gesprächs durch eine gefällige Pantomime mit dem Ganzen zu verbinden wissen ; aber eine Übung , die einem glücklichen Naturell zu Hülfe käme und es lehrte , mit dem Schriftsteller zu wetteifern , ist nicht so im Gange , als es zum Troste derer , die das Theater besuchen , wohl zu wünschen wäre . "
" Sollte aber nicht " , versetzte Wilhelm , " ein glückliches Naturell , als das Erste und Letzte , einen Schauspieler wie jeden anderen Künstler , ja vielleicht wie jeden Menschen , allein zu einem so hochaufgesteckten Ziele bringen ? "
" Das Erste und Letzte , Anfang und Ende möchte es wohl sein und bleiben ; aber in der Mitte dürfte dem Künstler manches fehlen , wenn nicht Bildung das erst aus ihm macht , was er sein soll , und zwar frühe Bildung ; denn vielleicht ist derjenige , dem man Genie zuschreibt , übler daran als der , der nur gewöhnliche Fähigkeiten besitzt ; denn jener kann leichter verbildet und viel heftiger auf falsche Wege gestoßen werden als dieser . "
" Aber " , versetzte Wilhelm , " wird das Genie sich nicht selbst retten , die Wunden , die es sich geschlagen , selbst heilen ? "
" Mitnichten " , versetzte der andere , " oder wenigstens nur notdürftig ; denn niemand glaube die ersten Eindrücke der Jugend überwinden zu können .
Ist er in einer löblichen Freiheit , umgeben von schönen und edlen Gegenständen , in dem Umgange mit guten Menschen aufgewachsen , haben ihn seine Meister das gelehrt , was er zuerst wissen mußte , um das übrige leichter zu begreifen , hat er gelernt , was er nie zu verlernen braucht , wurden seine ersten Handlungen so geleitet , daß er das Gute künftig leichter und bequemer vollbringen kann , ohne sich irgend etwas abgewöhnen zu müssen , so wird dieser Mensch ein reineres , vollkommeneres und glücklicheres Leben führen als ein anderer , der seine ersten Jugendkräfte im Widerstand und im Irrtum zugesetzt hat .
Es wird so viel von Erziehung gesprochen und geschrieben , und ich sehe nur wenig Menschen , die den einfachen , aber großen Begriff , der alles andere in sich schließt , fassen und in die Ausführung übertragen können . "
" Das mag wohl wahr sein " , sagte Wilhelm , " denn jeder Mensch ist beschränkt genug , den anderen zu seinem Ebenbild erziehen zu wollen .
Glücklich sind diejenigen daher , deren sich das Schicksal annimmt , das jeden nach seiner Weise erzieht ! "
" Das Schicksal " , versetzte lächelnd der andere , " ist ein vornehmer , aber teurer Hofmeister .
Ich würde mich immer lieber an die Vernunft eines menschlichen Meisters halten .
Das Schicksal , für dessen Weisheit ich alle Ehrfurcht trage , mag an dem Zufall , durch den es wirkt , ein sehr ungelenkes Organ haben .
Denn selten scheint dieser genau und rein auszuführen , was jenes beschlossen hatte . "
" Sie scheinen einen sehr sonderbaren Gedanken auszusprechen " , versetzte Wilhelm .
" Mitnichten !
Das meiste , was in der Welt begegnet , rechtfertigt meine Meinung .
Zeigen viele Begebenheiten im Anfange nicht einen großen Sinn , und gehen die meisten nicht auf etwas Albernes hinaus ? "
" Sie wollen scherzen . "
" Und ist es nicht " , fuhr der andere fort , " mit dem , was einzelnen Menschen begegnet , ebenso ?
Gesetzt , das Schicksal hätte einen zu einem guten Schauspieler bestimmt ( und warum sollt es uns nicht auch mit guten Schauspielern versorgen ? ) , unglücklicherweise führte der Zufall aber den jungen Mann in ein Puppenspiel , wo er sich früh nicht enthalten könnte , an etwas Abgeschmacktem teilzunehmen , etwas Albernes leidlich , wohl gar interessant zu finden und so die jugendlichen Eindrücke , welche nie verlöschen , denen wir eine gewisse Anhänglichkeit nie entziehen können , von einer falschen Seite zu empfangen . "
" Wie kommen Sie aufs Puppenspiel ? " fiel ihm Wilhelm mit einiger Bestürzung ein .
" Es war nur ein willkürliches Beispiel ; wenn es Ihnen nicht gefällt , so nehmen wir ein anderes .
Gesetzt , das Schicksal hätte einen zu einem großen Maler bestimmt , und dem Zufall beliebte es , seine Jugend in schmutzige Hütten , Ställe und Scheunen zu verstoßen , glauben Sie , daß ein solcher Mann sich jemals zur Reinlichkeit , zum Adel , zur Freiheit der Seele erheben werde ?
Mit je lebhafterem Sinn er das Unreine in seiner Jugend angefaßt und nach seiner Art veredelt hat , desto gewaltsamer wird es sich in der Folge seines Lebens an ihm rächen , indem es sich , inzwischen daß er es zu überwinden suchte , mit ihm aufs innigste verbunden hat .
Wer früh in schlechter , unbedeutender Gesellschaft gelebt hat , wird sich , wenn er auch später eine bessere haben kann , immer nach jener zurücksehnen , deren Eindruck ihm zugleich mit der Erinnerung jugendlicher , nur selten zu wiederholender Freuden geblieben ist . "
Man kann denken , daß unter diesem Gespräch sich nach und nach die übrige Gesellschaft entfernt hatte .
Besonders war Philine gleich vom Anfang auf die Seite getreten .
Man kam durch einen Seitenweg zu ihnen zurück .
Philine brachte die Pfänder hervor , welche auf allerlei Weise gelöst werden mußten , wobei der Fremde sich durch die artigsten Erfindungen und durch eine ungezwungene Teilnahme der ganzen Gesellschaft und besonders den Frauenzimmern sehr empfahl , und so flossen die Stunden des Tages unter Scherzen , Singen , Küssen und allerlei Neckereien auf das angenehmste vorbei .
Zehntes Kapitel Als sie sich wieder nach Hause begeben wollten , sahen sie sich nach ihrem Geistlichen um ; allein er war verschwunden und an keinem Orte zu finden .
" Es ist nicht artig von dem Manne , der sonst viel Lebensart zu haben scheint " , sagte Madame Melina , " eine Gesellschaft , die ihn so freundlich aufgenommen , ohne Abschied zu verlassen . "
" Ich habe mich die ganze Zeit her schon besonnen " , sagte Laertes , " wo ich diesen sonderbaren Mann schon ehemals möchte gesehen haben .
Ich war eben im Begriff , ihn beim Abschiede darüber zu befragen . "
" Mir ging es ebenso " , versetzte Wilhelm , " und ich hätte ihn gewiß nicht entlassen , bis er uns etwas Näheres von seinen Umständen entdeckt hätte .
Ich müßte mich sehr irren , wenn ich ihn nicht schon irgendwo gesprochen hätte . "
" Und doch könntet ihr euch " , sagte Philine , " darin wirklich irren .
Dieser Mann hat eigentlich nur das falsche Ansehen eines Bekannten , weil er aussieht wie ein Mensch und nicht wie Hans oder Kunz . "
" Was soll das heißen " , sagte Laertes , " sehen wir nicht auch aus wie Menschen ? "
" Ich weiß , was ich sage " , versetzte Philine , " und wenn ihr mich nicht begreift , so laßt es gut sein .
Ich werde nicht am Ende noch gar meine Worte auslegen sollen . "
Zwei Kutschen fuhren vor .
Man lobte die Sorgfalt des Laertes , der sie bestellt hatte .
Philine nahm neben Madame Melina , Wilhelm gegenüber , Platz , und die übrigen richteten sich ein , so gut sie konnten .
Laertes selbst ritt auf Wilhelms Pferde , das auch mit herausgekommen war , nach der Stadt zurück .
Philine saß kaum in dem Wagen , als sie artige Lieder zu singen und das Gespräch auf Geschichten zu lenken wußte , von denen sie behauptete , daß sie mit Glück dramatisch behandelt werden könnten .
Durch diese kluge Wendung hatte sie gar bald ihren jungen Freund in seine beste Laune gesetzt , und er komponierte aus dem Reichtum seines lebendigen Bildervorrats sogleich ein ganzes Schauspiel mit allen seinen Akten , Szenen , Charaktern und Verwicklungen .
Man fand für gut , einige Arien und Gesänge einzuflechten ; man dichtete sie , und Philine , die in alles einging , paßte ihnen gleich bekannte Melodien an und sang sie aus dem Stegreife .
Sie hatte eben heute ihren schönen , sehr schönen Tag ; sie wußte mit allerlei Neckereien unseren Freund zu beleben ; es wurde ihm wohl , wie es ihm lange nicht gewesen war .
Seitdem ihn jene grausame Entdeckung von der Seite Marianes gerissen hatte , war er dem Gelübde treu geblieben , sich vor der zusammenschlagenden Falle einer weiblichen Umarmung zu hüten , das treulose Geschlecht zu meiden , seine Schmerzen , seine Neigung , seine süßen Wünsche in seinem Busen zu verschließen .
Die Gewissenhaftigkeit , womit er dies Gelübde beobachtete , gab seinem ganzen Wesen eine geheime Nahrung , und da sein Herz nicht ohne Teilnehmung bleiben konnte , so wurde eine liebevolle Mitteilung nun zum Bedürfnisse .
Er ging wieder wie von dem ersten Jugendnebel begleitet umher , seine Augen faßten jeden reizenden Gegenstand mit Freuden auf , und nie war sein Urteil über eine liebenswürdige Gestalt schonender gewesen .
Wie gefährlich ihm in einer solchen Lage das verwegene Mädchen werden mußte , läßt sich leider nur zu gut einsehen .
Zu Hause fanden sie auf Wilhelms Zimmer schon alles zum Empfange bereit , die Stühle zu einer Vorlesung zurechtgestellt und den Tisch in die Mitte gesetzt , auf welchem der Punschnapf seinen Platz nehmen sollte .
Die deutschen Ritterstücke waren damals eben neu und hatten die Aufmerksamkeit und Neigung des Publikums an sich gezogen .
Der alte Polterer hatte eines dieser Art mitgebracht , und die Vorlesung war beschlossen worden .
Man setzte sich nieder .
Wilhelm bemächtigte sich des Exemplars und fing zu lesen an .
Die geharnischten Ritter , die alten Burgen , die Treuherzigkeit , Rechtlichkeit und Redlichkeit , besonders aber die Unabhängigkeit der handelnden Personen wurden mit großem Beifall aufgenommen .
Der Vorleser tat sein möglichstes , und die Gesellschaft kam außer sich .
Zwischen dem zweiten und dritten Akt kam der Punsch in einem großen Napfe , und da in dem Stücke selbst sehr viel getrunken und angestoßen wurde , so war nichts natürlicher , als daß die Gesellschaft bei jedem solchen Falle sich lebhaft an den Platz der Helden versetzte , gleichfalls anklingt und die Günstlinge unter den handelnden Personen hochleben ließ .
Jedermann war von dem Feuer des edelsten Nationalgeistes entzündet .
Wie sehr gefiel es dieser deutschen Gesellschaft , sich ihrem Charakter gemäß auf eigenem Grund und Boden poetisch zu ergötzen !
Besonders taten die Gewölbe und Keller , die verfallenen Schlösser , das Moos und die hohlen Bäume , über alles aber die nächtlichen Zigeunerszenen und das heimliche Gericht eine ganz unglaubliche Wirkung .
Jeder Schauspieler sah nun , wie er bald in Helm und Harnisch , jede Schauspielerin , wie sie mit einem großen stehenden Kragen ihre Deutschheit vor dem Publikum produzieren werde .
Jeder wollte sich sogleich einen Namen aus dem Stücke oder aus der deutschen Geschichte zueignen , und Madame Melina beteuerte , Sohn oder Tochter , wozu sie Hoffnung hatte , nicht anders als Adelbert oder Mechtilde taufen zu lassen .
Gegen den fünften Akt wurde der Beifall lärmender und lauter , ja zuletzt , als der Held wirklich seinem Unterdrücker entging und der Tyrann gestraft wurde , war das Entzücken so groß , daß man schwor , man habe nie so glückliche Stunden gehabt .
Melina , den der Trank begeistert hatte , war der lauteste , und da der zweite Punschnapf geleert war und Mitternacht herannahte , schwor Laertes hoch und teuer , es sei kein Mensch würdig , an diese Gläser jemals wieder eine Lippe zu setzen , und warf mit dieser Beteuerung sein Glas hinter sich und durch die Scheiben auf die Gasse hinaus .
Die übrigen folgten seinem Beispiele , und ungeachtet der Protestationen des herbeieilenden Wirtes wurde der Punschnapf selbst , der nach einem solchen Feste durch unheiliges Getränk nicht wieder entweiht werden sollte , in tausend Stücke geschlagen .
Philine , der man ihren Rausch am wenigsten ansah , indes die beiden Mädchen nicht in den anständigsten Stellungen auf dem Kanapee lagen , reizte die anderen mit Schadenfreude zum Lärm .
Madame Melina rezitierte einige erhabene Gedichte , und ihr Mann , der im Rausche nicht sehr liebenswürdig war , fing an , auf die schlechte Bereitung des Punsches zu schelten , versicherte , daß er ein Fest ganz anders einzurichten verstehe , und wurde zuletzt , als Laertes Stillschweigen gebot , immer gröber und lauter , so daß dieser , ohne sich lange zu bedenken , ihm die Scherben des Napfes an den Kopf warf und dadurch den Lärm nicht wenig vermehrte .
Indessen war die Scharwache herbeigekommen und verlangte , ins Haus eingelassen zu werden .
Wilhelm , vom Lesen sehr erhitzt , ob er gleich nur wenig getrunken , hatte genug zu tun , um mit Beihilfe des Wirts die Leute durch Geld und gute Worte zu befriedigen und die Glieder der Gesellschaft in ihren mißlichen Umständen nach Hause zu schaffen .
Er warf sich , als er zurückkam , vom Schlafe überwältigt , voller Unmut unausgekleidet aufs Bette , und nichts glich der unangenehmen Empfindung , als er des anderen Morgens die Augen aufschlug und mit düsterem Blick auf die Verwüstungen des vergangenen Tages , den Unrat und die bösen Wirkungen hinsah , die ein geistreiches , lebhaftes und wohlgemeintes Dichterwerk hervorgebracht hatte .
Elftes Kapitel Nach einem kurzen Bedenken rief er sogleich den Wirt herbei und ließ sowohl den Schaden als die Zeche auf seine Rechnung schreiben .
Zugleich vernahm er nicht ohne Verdruß , daß sein Pferd von Laertes gestern bei dem Hereinreiten dergestalt angegriffen worden , daß es wahrscheinlich , wie man zu sagen pflegt , verschlagen habe und daß der Schmied wenig Hoffnung zu seinem Aufkommen gebe .
Ein Gruß von Philine , den sie ihm aus ihrem Fenster zuwinkte , versetzte ihn dagegen wieder in einen heiteren Zustand , und er ging sogleich in den nächsten Laden , um ihr ein kleines Geschenk , das er ihr gegen das Pudermesser noch schuldig war , zu kaufen , und wir müssen bekennen , er hielt sich nicht in den Grenzen eines proportionierten Gegengeschenks .
Er kaufte ihr nicht allein ein Paar sehr niedliche Ohrringe , sondern nahm dazu noch einen Hut und Halstuch und einige andere Kleinigkeiten , die er sie den ersten Tag hatte verschwenderisch wegwerfen sehen .
Madame Melina , die ihn eben , als er seine Gaben überreichte , zu beobachten kam , suchte noch vor Tische eine Gelegenheit , ihn sehr ernstlich über die Empfindung für dieses Mädchen zur Rede zu setzen , und er war um so erstaunter , als er nichts weniger denn diese Vorwürfe zu verdienen glaubte .
Er schwor hoch und teuer , daß es ihm keineswegs eingefallen sei , sich an diese Person , deren ganzen Wandel er wohl kenne , zu wenden ; er entschuldigte sich , so gut er konnte , über sein freundliches und artiges Betragen gegen sie , befriedigte aber Madame Melina auf keine Weise , vielmehr wurde diese immer verdrießlicher , da sie bemerken mußte , daß die Schmeichelei , wodurch sie sich eine Art von Neigung unseres Freundes erworben hatte , nicht hinreiche , diesen Besitz gegen die Angriffe einer lebhaften , jüngern und von der Natur glücklicher begabten Person zu verteidigen .
Ihren Mann fanden sie gleichfalls , da sie zu Tische kamen , bei sehr üblem Humor , und er fing schon an , ihn über Kleinigkeiten auszulassen , als der Wirt hereintrat und einen Harfenspieler anmeldete .
" Sie werden " , sagte er , " gewiß Vergnügen an der Musik und an den Gesängen dieses Mannes finden ; es kann sich niemand , der ihn hört , enthalten , ihn zu bewundern und ihm etwas weniges mitzuteilen . "
" Lassen Sie ihn weg " , versetzte Melina , " ich bin nichts weniger als gestimmt , einen Leiermann zu hören , und wir haben allenfalls Sänger unter uns , die gern etwas verdienten . "
Er begleitete diese Worte mit einem tückischen Seitenblicke , den er auf Philine warf .
Sie verstand ihn und war gleich bereit , zu seinem Verdruß den angemeldeten Sänger zu beschützen .
Sie wendete sich zu Wilhelm und sagte : " Sollen wir den Mann nicht hören , sollen wir nichts tun , um uns aus der erbärmlichen Langenweile zu retten ? "
Melina wollte ihr antworten , und der Streit wäre lebhafter geworden , wenn nicht Wilhelm den im Augenblick hereintretenden Mann begrüßt und ihn herbeigewinkt hätte .
Die Gestalt dieses seltsamen Gastes setzte die ganze Gesellschaft in Erstaunen , und er hatte schon von einem Stuhle Besitz genommen , ehe jemand ihn zu fragen oder sonst etwas vorzubringen das Herz hatte .
Sein kahler Scheitel war von wenig grauen Haaren umkränzt , große blaue Augen blickten sanft unter langen weißen Augenbrauen hervor .
An eine wohlgebildete Nase schloß sich ein langer weißer Bart an , ohne die gefällige Lippe zu bedecken , und ein langes dunkelbraunes Gewand umhüllte den schlanken Körper vom Halse bis zu den Füßen ; und so fing er auf der Harfe , die er vor sich genommen hatte , zu präludieren an .
Die angenehmen Töne , die er aus dem Instrumente hervorlockte , erheiterten gar bald die Gesellschaft .
" Ihr pflegt auch zu singen , guter Alter " , sagte Philine .
" Gebt uns etwas , das Herz und Geist zugleich mit den Sinnen ergötze " , sagte Wilhelm .
" Das Instrument sollte nur die Stimme begleiten ; denn Melodien , Gänge und Läufe ohne Worte und Sinn scheinen mir Schmetterlingen oder schönen bunten Vögeln ähnlich zu sein , die in der Luft vor unseren Augen herumschweben , die wir allenfalls haschen und uns zueignen möchten ; da sich der Gesang dagegen wie ein Genius gen Himmel hebt und das bessere Ich in uns ihn zu begleiten anreizt . "
Der Alte sah Wilhelm an , alsdann in die Höhe , tat einige Griffe auf der Harfe und begann sein Lied .
Es enthielt ein Lob auf den Gesang , pries das Glück der Sänger und ermahnte die Menschen , sie zu ehren .
Er trug das Lied mit so viel Leben und Wahrheit vor , daß es schien , als hätte er es in diesem Augenblicke und bei diesem Anlasse gedichtet .
Wilhelm enthielt sich kaum , ihm um den Hals zu fallen ; nur die Furcht , ein lautes Gelächter zu erregen , zog ihn auf seinen Stuhl zurück ; denn die übrigen machten schon halblaut einige alberne Anmerkungen und stritten , ob es ein Pfaffe oder ein Jude sei .
Als man nach dem Verfasser des Liedes fragte , gab er keine bestimmte Antwort ; nur versicherte er , daß er reich an Gesängen sei und wünsche nur , daß sie gefallen möchten .
Der größte Teil der Gesellschaft war fröhlich und freudig , ja selbst Melina nach seiner Art offen geworden , und indem man untereinander schwatzte und scherzte , fing der Alte das Lob des geselligen Lebens auf das geistreichste zu singen an .
Er pries Einigkeit und Gefälligkeit mit einschmeichelnden Tönen .
Auf einmal wurde sein Gesang trocken , rauh und verworren , als er gehässige Verschlossenheit , kurzsinnige Feindschaft und gefährlichen Zwiespalt bedauerte , und gern warf jede Seele diese unbequemen Fesseln ab , als er , auf den Fittichen einer vordringenden Melodie getragen , die Friedensstifter pries und das Glück der Seelen , die sich wiederfinden , sang .
Kaum hatte er geendigt , als ihm Wilhelm zurief :
" Wer du auch seist , der du als ein hülfreicher Schutzgeist mit einer segnenden und belebenden Stimme zu uns kommst , nimm meine Verehrung und meinen Dank ! fühle , daß wir alle dich bewundern , und vertraue uns , wenn du etwas bedarfst ! "
Der Alte schwieg , ließ erst seine Finger über die Saiten schleichen , dann griff er sie stärker an und sang : " Was hör ich draußen vor dem Tor , Was auf der Brücke schallen ?
Laßt den Gesang zu unserem Ohr Im Saale widerhallen ! "
Der König sprach_es , der Page lief , Der Knabe kam , der König rief : " Bringe ihn herein , den Alten ! "
" Gegrüßt seid , ihr hohen Herrn , Gegrüßt ihr , schöne Damen !
Welch reicher Himmel !
Stern bei Stern !
Wer kennet ihre Namen ?
Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit Schließt , Augen , euch , hier ist nicht Zeit , Sich staunend zu ergötzen . "
Der Sänger drückt ' die Augen ein Und schlug die vollen Töne ; Der Ritter schaute mutig drein , Und in den Schoß die Schöne .
Der König , dem das Lied gefiel , Ließ ihm , zum Lohne für sein Spiel , Eine goldene Kette holen .
" Die goldene Kette gib mir nicht , Die Kette gib den Rittern , Vor deren kühnem Angesicht Der Feinde Lanzen splittern .
Gib sie dem Kanzler , den du hast , Und laß ihn noch die goldene Last Zu anderen Lasten tragen .
Ich singe , wie der Vogel singt , Der in den Zweigen wohnet .
Das Lied , das aus der Kehle dringt , Ist Lohn , der reichlich lohnet ; Doch darf ich bitten , bitte ich eins :
Laß einen Trunk des besten Weins In reinem Glase bringen . "
Er setzt es an , er trank es aus : " O Trank der süßen Labe !
Oh ! dreimal hochbeglücktes Haus , Wo das ist kleine Gabe !
Ergeht_es euch wohl , so denkt an mich , Und danket Gott so warm , als ich Für diesen Trunk euch danke . "
Da der Sänger nach geendigtem Liede ein Glas Wein , das für ihn eingeschenkt dastand , ergriff und es mit freundlicher Miene , sich gegen seine Wohltäter wendend , austrank , entstand eine allgemeine Freude in der Versammlung .
Man klatschte und rief ihm zu , es möge dieses Glas zu seiner Gesundheit , zur Stärkung seiner alten Glieder gereichen .
Er sang noch einige Romanzen und erregte immer mehr Munterkeit in der Gesellschaft .
" Kannst du die Melodie , Alter " , rief Philine , " » Der Schäfer putzte sich zum Tanz « ? "
" O ja " , versetzte er ; " wenn Sie das Lied singen und aufführen wollen , an mir soll es nicht fehlen . "
Philine stand auf und hielt sich fertig .
Der Alte begann die Melodie , und sie sang ein Lied , das wir unseren Lesern nicht mitteilen können , weil sie es vielleicht abgeschmackt oder wohl gar unanständig finden könnten .
Inzwischen hatte die Gesellschaft , die immer heiterer geworden war , noch manche Flasche Wein ausgetrunken und fing an , sehr laut zu werden .
Da aber unserem Freunde die bösen Folgen ihrer Lust noch in frischem Andenken schwebten , suchte er abzubrechen , steckte dem Alten für seine Bemühung eine reichliche Belohnung in die Hand , die anderen taten auch etwas , man ließ ihn abtreten und ruhen und versprach sich auf den Abend eine wiederholte Freude von seiner Geschicklichkeit .
Als er hinweg war , sagte Wilhelm zu Philine :
" Ich kann zwar in Ihrem Leibgesange weder ein dichterisches oder sittliches Verdienst finden ; doch wenn Sie mit ebender Naivetät , Eigenheit und Zierlichkeit etwas Schickliches auf dem Theater jemals ausführen , so wird Ihnen allgemeiner , lebhafter Beifall gewiß zuteil werden . "
" Ja " , sagte Philine , " es müßte eine recht angenehme Empfindung sein , sich am Eise zu wärmen . "
" Überhaupt " , sagte Wilhelm , " wie sehr beschämt dieser Mann manchen Schauspieler .
Haben Sie bemerkt , wie richtig der dramatische Ausdruck seiner Romanzen war ?
Gewiß , es lebte mehr Darstellung in seinem Gesang als in unseren steifen Personen auf der Bühne ; man sollte die Aufführung mancher Stücke eher für eine Erzählung halten und diesen musikalischen Erzählungen eine sinnliche Gegenwart zuschreiben . "
" Sie sind ungerecht ! " versetzte Laertes , " ich gebe mich weder für einen großen Schauspieler noch Sänger ; aber das weiß ich , daß , wenn die Musik die Bewegungen des Körpers leitet , ihnen Leben gibt und ihnen zugleich das Maß vorschreibt ; wenn Deklamation und Ausdruck schon von dem Kompositeur auf mich übertragen werden : so bin ich ein ganz anderer Mensch , als wenn ich im prosaischen Drama das alles erst erschaffen und Takt und Deklamation mir erst erfinden soll , worin mich noch dazu jeder Mitspielende stören kann . "
" Soviel weiß ich " , sagte Melina , " daß uns dieser Mann in einem Punkte gewiß beschämt , und zwar in einem Hauptpunkte .
Die Stärke seiner Talente zeigt sich in dem Nutzen , den er davon zieht . Uns , die wir vielleicht bald in Verlegenheit sein werden , wo wir eine Mahlzeit hernehmen , bewegt er , unsere Mahlzeit mit ihm zu teilen .
Er weiß uns das Geld , das wir anwenden könnten , um uns in einige Verfassung zu setzen , durch ein Liedchen aus der Tasche zu locken .
Es scheint so angenehm zu sein , das Geld zu verschleudern , womit man sich und anderen eine Existenz verschaffen könnte . "
Das Gespräch bekam durch diese Bemerkung nicht die angenehmste Wendung .
Wilhelm , auf den der Vorwurf eigentlich gerichtet war , antwortete mit einiger Leidenschaft , und Melina , der sich eben nicht der größten Feinheit befliss , brachte zuletzt seine Beschwerden mit ziemlich trockenen Worten vor .
" Es sind nun schon vierzehn Tage " , sagte er , " daß wir das hier verpfändete Theater und die Garderobe besehen haben , und beides konnten wir für eine sehr leidliche Summe haben .
Sie machten mir damals Hoffnung , daß Sie mir soviel kreditieren würden , und bis jetzt habe ich noch nicht gesehen , daß Sie die Sache weiter bedacht oder sich einem Entschluß genähert hätten .
Griffen Sie damals zu , so wären wir jetzt im Gange .
Ihre Absicht zu verreisen haben Sie auch noch nicht ausgeführt , und Geld scheinen Sie mir diese Zeit über auch nicht gespart zu haben ; wenigstens gibt es Personen , die immer Gelegenheit zu verschaffen wissen , daß es geschwinder weggehe . "
Dieser nicht ganz ungerechte Vorwurf traf unseren Freund .
Er versetzte einiges darauf mit Lebhaftigkeit , ja mit Heftigkeit und ergriff , da die Gesellschaft aufstand und sich zerstreute , die Türe , indem er nicht undeutlich zu erkennen gab , daß er sich nicht lange mehr bei so unfreundlichen und undankbaren Menschen aufhalten wolle .
Er eilte verdrießlich hinunter , sich auf eine steinerne Bank zu setzen , die vor dem Tore seines Gasthofs stand , und bemerkte nicht , daß er halb aus Lust , halb aus Verdruß mehr als gewöhnlich getrunken hatte .
Zwölftes Kapitel Nach einer kurzen Zeit , die er , beunruhigt von mancherlei Gedanken , sitzend und vor sich hin sehend zugebracht hatte , schlenderte Philine singend zur Haustüre heraus , setzte sich zu ihm , ja man dürfte beinahe sagen auf ihn , so nahe rückte sie an ihn heran , lehnte sich auf seine Schultern , spielte mit seinen Locken , streichelte ihn und gab ihm die besten Worte von der Welt .
Sie bat ihn , er möchte ja bleiben und sie nicht in der Gesellschaft allein lassen , in der sie vor Langeweile sterben müßte ; sie könne nicht mehr mit Melina unter einem Dache ausdauern und habe sich deswegen herüberquartiert .
Vergebens suchte er sie abzuweisen , ihr begreiflich zu machen , daß er länger weder bleiben könne noch dürfe .
Sie ließ mit Bitten nicht ab , ja unvermutet schlang sie ihren Arm um seinen Hals und küßte ihn mit dem lebhaftesten Ausdrucke des Verlangens .
" Sind Sie toll , Philine ? " rief Wilhelm aus , indem er sich loszumachen suchte , " die öffentliche Straße zum Zeugen solcher Liebkosungen zu machen , die ich auf keine Weise verdiene !
Lassen Sie mich los , ich kann nicht und ich werde nicht bleiben . "
" Und ich werde dich festhalten " , sagte sie , " und ich werde dich hier auf öffentlicher Gasse so lange küssen , bis du mir versprichst , was ich wünsche .
Ich lache mich zu Tode " , fuhr sie fort ; " nach dieser Vertraulichkeit halten mich die Leute gewiß für deine Frau von vier Wochen , und die Ehemänner , die eine so anmutige Szene sehen , werden mich ihren Weibern als ein Muster einer kindlich unbefangenen Zärtlichkeit anpreisen . "
Eben gingen einige Leute vorbei , und sie liebkoste ihn auf das anmutigste , und er , um kein Skandal zu geben , war gezwungen , die Rolle des geduldigen Ehemannes zu spielen .
Dann schnitt sie den Leuten Gesichter im Rücken und trieb voll Übermut allerhand Ungezogenheiten , bis er zuletzt versprechen mußte , noch heute und morgen und übermorgen zu bleiben .
" Sie sind ein rechter Stock ! " sagte sie darauf , indem sie von ihm abließ , " und ich eine Törin , daß ich so viel Freundlichkeit an Sie verschwende . "
Sie stand verdrießlich auf und ging einige Schritte ; dann kehrte sie lachend zurück und rief : " Ich glaube eben , daß ich darum in dich vernarrt bin , ich will nur gehen und meinen Strickstrumpf holen , daß ich etwas zu tun habe .
Bleibe ja , damit ich den steinernen Mann auf der steinernen Bank wiederfinde . "
Diesmal tat sie ihm Unrecht :
denn sosehr er sich von ihr zu enthalten strebte , so würde er doch in diesem Augenblicke , hätte er sich mit ihr in einer einsamen Laube befunden , ihre Liebkosungen wahrscheinlich nicht unerwidert gelassen haben .
Sie ging , nachdem sie ihm einen leichtfertigen Blick zugeworfen , in das Haus .
Er hatte keinen Beruf , ihr zu folgen , vielmehr hatte ihr Betragen einen neuen Widerwillen in ihm erregt ; doch hob er sich , ohne selbst recht zu wissen warum , von der Bank , um ihr nachzugehen .
Er war eben im Begriff , in die Türe zu treten , als Melina herbeikam , ihn bescheiden anredete und ihn wegen einiger im Wortwechsel zu hart ausgesprochenen Ausdrücke um Verzeihung bat .
" Sie nehmen mir nicht übel " , fuhr er fort , " wenn ich in dem Zustande , in dem ich mich befinde , mich vielleicht zu ängstlich bezeige ; aber die Sorge für eine Frau , vielleicht bald für ein Kind , verhindert mich von einem Tag zum anderen , ruhig zu leben und meine Zeit mit dem Genuß angenehmer Empfindungen hinzubringen , wie Ihnen noch erlaubt ist .
Überdenken Sie , und wenn es Ihnen möglich ist , so setzen Sie mich in den Besitz der theatralischen Gerätschaften , die sich hier vorfinden .
Ich werde nicht lange Ihr Schuldner und Ihnen dafür ewig dankbar bleiben . "
Wilhelm , der sich ungern auf der Schwelle aufgehalten sah , über die ihn eine unwiderstehliche Neigung in diesem Augenblicke zu Philine hinüberzog , sagte mit einer überraschten Zerstreuung und eilfertigen Gutmütigkeit :
" Wenn ich Sie dadurch glücklich und zufrieden machen kann , so will ich mich nicht länger bedenken .
Gehen Sie hin , machen Sie alles richtig .
Ich bin bereit , noch diesen Abend oder morgen früh das Geld zu zahlen . "
Er gab hierauf Melinan die Hand zur Bestätigung seines Versprechens und war sehr zufrieden , als er ihn eilig über die Straße weggehen sah ; leider aber wurde er von seinem Eindringen ins Haus zum zweitenmal und auf eine unangenehmere Weise zurückgehalten .
Ein junger Mensch mit einem Bündel auf dem Rücken kam eilig die Straße her und trat zu Wilhelm , der ihn gleich für Friedrich erkannte .
" Da bin ich wieder ! " rief er aus , indem er seine großen blauen Augen freudig umher und hinauf an alle Fenster gehen ließ ; " wo ist Mamsell ?
Der Henker mag es länger in der Welt aushalten , ohne sie zu sehen ! "
Der Wirt , der eben dazugetreten war , versetzte :
" Sie ist oben " , und mit wenigen Sprüngen war er die Treppe hinauf , und Wilhelm blieb auf der Schwelle wie eingewurzelt stehen .
Er hätte in den ersten Augenblicken den Jungen bei den Haaren rückwärts die Treppe herunterreißen mögen ; dann hemmte der heftige Krampf einer gewaltsamen Eifersucht auf einmal den Lauf seiner Lebensgeister und seiner Ideen , und da er sich nach und nach von seiner Erstarrung erholte , überfiel ihn eine Unruhe , ein Unbehagen , dergleichen er in seinem Leben noch nicht empfunden hatte .
Er ging auf seine Stube und fand Mignon mit Schreiben beschäftigt .
Das Kind hatte sich eine Zeit her mit großem Fleiße bemüht , alles , was es auswendig wußte , zu schreiben , und hatte seinem Herrn und Freund das Geschriebene zu korrigieren gegeben .
Sie war unermüdet und faßte gut ; aber die Buchstaben blieben ungleich und die Linien krumm .
Auch hier schien ihr Körper dem Geiste zu widersprechen .
Wilhelm , dem die Aufmerksamkeit des Kindes , wenn er ruhigen Sinnes war , große Freude machte , achtete diesmal wenig auf das , was sie ihm zeigte ; sie fühlte es und betrübte sich darüber nur desto mehr , als sie glaubte , diesmal ihre Sache recht gut gemacht zu haben .
Wilhelms Unruhe trieb ihn auf den Gängen des Hauses auf und ab und bald wieder an die Haustüre .
Ein Reiter sprengte vor , der ein gutes Ansehn hatte und der bei gesetzten Jahren noch viel Munterkeit verriet .
Der Wirt eilte ihm entgegen , reichte ihm als einem bekannten Freunde die Hand und rief : " Ei , Herr Stallmeister , sieht man Sie auch einmal wieder ! "
" Ich will nur hier füttern " , versetzte der Fremde , " ich muß gleich hinüber auf das Gut , um in der Geschwindigkeit allerlei einrichten zu lassen .
Der Graf kommt morgen mit seiner Gemahlin , sie werden sich eine Zeitlang drüben aufhalten , um den Prinzen von *** auf das beste zu bewirten , der in dieser Gegend wahrscheinlich sein Hauptquartier aufschlägt . "
" Es ist schade , daß Sie nicht bei uns bleiben können " , versetzte der Wirt , " wir haben gute Gesellschaft . "
Der Reitknecht , der nachsprengte , nahm dem Stallmeister das Pferd ab , der sich unter der Türe mit dem Wirt unterhielt und Wilhelm von der Seite ansah .
Dieser , da er merkte , daß von ihm die Rede sei , begab sich weg und ging einige Straßen auf und ab .
Dreizehntes Kapitel In der verdrießlichen Unruhe , in der er sich befand , fiel ihm ein , den Alten aufzusuchen , durch dessen Harfe er die bösen Geister zu verscheuchen hoffte .
Man wies ihn , als er nach dem Manne fragte , an ein schlechtes Wirtshaus in einem entfernten Winkel des Städtchens und in demselben die Treppe hinauf bis auf den Boden , wo ihm der süße Harfenklang aus einer Kammer entgegenschallte .
Es waren herzrührende , klagende Töne , von einem traurigen , ängstlichen Gesange begleitet .
Wilhelm schlich an die Türe , und da der gute Alte eine Art von Phantasie vortrug und wenige Strophen teils singend , teils rezitierend immer wiederholte , konnte der Horcher nach einer kurzen Aufmerksamkeit ungefähr folgendes verstehen :
Wer nie sein Brot mit Tränen aß , Wer nie die kummervollen Nächte Auf seinem Bette weinend saß , Der kennt euch nicht , ihr himmlischen Mächte .
Ihr führt ins Leben uns hinein , Ihr laßt den Armen schuldig werden , Dann überlaßt ihr ihn der Pein ; Denn alle Schuld rächt sich auf Erden .
Die wehmütige , herzliche Klage drang tief in die Seele des Hörers .
Es schien ihm , als ob der Alte manchmal von Tränen gehindert würde fortzufahren ; dann klangen die Saiten allein , bis sich wieder die Stimme leise in gebrochenen Lauten dareinmischte .
Wilhelm stand an dem Pfosten , seine Seele war tief gerührt , die Trauer des Unbekannten schloß sein beklommenes Herz auf ; er widerstand nicht dem Mitgefühl und konnte und wollte die Tränen nicht zurückhalten , die des Alten herzliche Klage endlich auch aus seinen Augen hervorlockte .
Alle Schmerzen , die seine Seele drückten , lösten sich zu gleicher Zeit auf , er überließ sich ihnen ganz , stieß die Kammertüre auf und stand vor dem Alten , der ein schlechtes Bette , den einzigen Hausrat dieser armseligen Wohnung , zu seinem Sitze zu nehmen genötigt gewesen .
" Was hast du mir für Empfindungen rege gemacht , guter Alter ! " rief er aus , " alles , was in meinem Herzen stockte , hast du losgelöst ; laß dich nicht stören , sondern fahre fort , indem du deine Leiden linderst , einen Freund glücklich zu machen . "
Der Alte wollte aufstehen und etwas reden , Wilhelm verhinderte ihn daran ; denn er hatte zu Mittage bemerkt , daß der Mann ungern sprach ; er setzte sich vielmehr zu ihm auf den Strohsack nieder .
Der Alte trocknete seine Tränen und fragte mit einem freundlichen Lächeln :
" Wie kommen Sie hierher ?
Ich wollte Ihnen diesen Abend wieder aufwarten . "
" Wir sind hier ruhiger " , versetzte Wilhelm , " singe mir , was du willst , was zu deiner Lage paßt , und tue nur , als ob ich gar nicht hier wäre .
Es scheint mir , als ob du heute nicht irren könntest .
Ich finde dich sehr glücklich , daß du dich in der Einsamkeit so angenehm beschäftigen und unterhalten kannst und , da du überall ein Fremdling bist , in deinem Herzen die angenehmste Bekanntschaft findest . "
Der Alte blickte auf seine Saiten , und nachdem er sanft präludiert hatte , stimmte er an und sang :
Wer sich der Einsamkeit ergibt , Ach ! der ist bald allein ; Ein jeder lebt , ein jeder liebt Und läßt ihn seiner Pein .
Ja ! laßt mich meiner Qual !
Und kann ich nur einmal Recht einsam sein , Dann bin ich nicht allein .
Es schleicht ein Liebender lauschend sacht , Ob seine Freundin allein ?
So überschleicht bei Tag und Nacht Mich Einsamen die Pein , Mich Einsamen die Qual .
Ach werde ich erst einmal Einsam im Grabe sein , Da läßt sie mich allein !
Wir würden zu weitläufig werden und doch die Anmut der seltsamen Unterredung nicht ausdrücken können , die unser Freund mit dem abenteuerlichen Fremden hielt .
Auf alles , was der Jüngling zu ihm sagte , antwortete der Alte mit der reinsten Übereinstimmung durch Anklänge , die alle verwandten Empfindungen rege machten und der Einbildungskraft ein weites Feld eröffneten .
Wer einer Versammlung frommer Menschen , die sich , abgesondert von der Kirche , reiner , herzlicher und geistreicher zu erbauen glauben , beigewohnt hat , wird sich auch einen Begriff von der gegenwärtigen Szene machen können ; er wird sich erinnern , wie der Liturg seinen Worten den Vers eines Gesanges anzupassen weiß , der die Seele dahin erhebt , wohin der Redner wünscht , daß sie ihren Flug nehmen möge , wie bald darauf ein anderer aus der Gemeinde in einer anderen Melodie den Vers eines anderen Liedes hinzufügt und an diesen wieder ein dritter einen dritten anknüpft , wodurch die verwandten Ideen der Lieder , aus denen sie entlehnt sind , zwar erregt werden , jede Stelle aber durch die neue Verbindung neu und individuell wird , als wenn sie in dem Augenblicke erfunden worden wäre ; wodurch denn aus einem bekannten Kreise von Ideen , aus bekannten Liedern und Sprüchen für diese besondere Gesellschaft , für diesen Augenblick ein eigenes Ganzes entsteht , durch dessen Genuß sie belebt , gestärkt und erquickt wird .
So erbaute der Alte seinen Gast , indem er durch bekannte und unbekannte Lieder und Stellen nahe und ferne Gefühle , wachende und schlummernde , angenehme und schmerzliche Empfindungen in eine Zirkulation brachte , von der in dem gegenwärtigen Zustande unseres Freundes das Beste zu hoffen war .
Vierzehntes Kapitel Denn wirklich fing er auf dem Rückwege über seine Lage lebhafter , als bisher geschehen , zu denken an und war mit dem Vorsatze , sich aus derselben herauszureißen , nach Hause gelangt , als ihm der Wirt sogleich im Vertrauen eröffnete , daß Mademoiselle Philine an dem Stallmeister des Grafen eine Eroberung gemacht habe , der , nachdem er seinen Auftrag auf dem Gute ausgerichtet , in höchster Eile zurückgekommen sei und ein gutes Abendessen oben auf ihrem Zimmer mit ihr verzehre .
In eben diesem Augenblicke trat Melina mit dem Notarius herein ; sie gingen zusammen auf Wilhelms Zimmer , wo dieser , wiewohl mit einigem Zaudern , seinem Versprechen Genüge leistete , dreihundert Taler auf Wechsel an Melina auszahlte , welche dieser sogleich dem Notarius übergab und dagegen das Dokument über den geschlossenen Kauf der ganzen theatralischen Gerätschaft erhielt , welche ihm morgen früh übergeben werden sollte .
Kaum waren sie auseinandergegangen , als Wilhelm ein entsetzliches Geschrei in dem Hause vernahm .
Er hörte eine jugendliche Stimme , die zornig und drohend durch ein unmäßiges Weinen und Heulen durchbrach .
Er hörte diese Wehklage von oben herunter an seiner Stube vorbei nach dem Hausplatze eilen .
Als die Neugierde unseren Freund herunterlockte , fand er Friedrich in einer Art von Raserei .
Der Knabe weinte , knirschte , stampfte , drohte mit geballten Fäusten und stellte sich ganz ungebärdig vor Zorn und Verdruß , Mignon stand gegenüber und sah mit Verwunderung zu , und der Wirt erklärte einigermaßen diese Erscheinung .
Der Knabe sei nach seiner Rückkunft , da ihn Philine gut aufgenommen , zufrieden , lustig und munter gewesen , habe gesungen und gesprungen bis zur Zeit , da der Stallmeister mit Philine Bekanntschaft gemacht .
Nun habe das Mittelding zwischen Kind und Jüngling angefangen , seinen Verdruß zu zeigen , die Türen zuzuschlagen und auf und nieder zu rennen .
Philine habe ihm befohlen , heute abend bei Tische aufzuwarten , worüber er nur noch mürrischer und trotziger geworden ; endlich habe er eine Schüssel mit Ragout , anstatt sie auf den Tisch zu setzen , zwischen Mademoiselle und den Gast , die ziemlich nahe zusammen gesessen , hineingeworfen , worauf ihm der Stallmeister ein paar tüchtige Ohrfeigen gegeben und ihn zur Türe hinausgeschmissen .
Er , der Wirt , habe darauf die beiden Personen säubern helfen , deren Kleider sehr übel zugerichtet gewesen .
Als der Knabe die gute Wirkung seiner Rache vernahm , fing er laut zu lachen an , indem ihm noch immer die Tränen an den Backen herunterliefen .
Er freute sich einige Zeit herzlich , bis ihm der Schimpf , den ihm der Stärkere angetan , wieder einfiel , da er denn von neuem zu heulen und zu drohen anfing .
Wilhelm stand nachdenklich und beschämt vor dieser Szene .
Er sah sein eigenes Innerstes mit starken und übertriebenen Zügen dargestellt ; auch er war von einer unüberwindlichen Eifersucht entzündet ; auch er , wenn ihn der Wohlstand nicht zurückgehalten hätte , würde gern seine wilde Laune befriedigt , gern mit tückischer Schadenfreude den geliebten Gegenstand verletzt und seinen Nebenbuhler ausgefordert haben ; er hätte die Menschen , die nur zu seinem Verdrusse dazusein schienen , vertilgen mögen .
Laertes , der auch herbeigekommen war und die Geschichte vernommen hatte , bestärkte schelmisch den aufgebrachten Knaben , als dieser beteuerte und schwor : der Stallmeister müsse ihm Satisfaktion geben , er habe noch keine Beleidigung auf sich sitzen lassen ; weigere sich der Stallmeister , so werde er sich zu rächen wissen .
Laertes war hier gerade in seinem Fache .
Er ging ernsthaft hinauf , den Stallmeister im Namen des Knaben herauszufordern .
" Das ist lustig " , sagte dieser ; " einen solchen Spaß hätte ich mir heute abend kaum vorgestellt . "
Sie gingen hinunter , und Philine folgte ihnen .
" Mein Sohn " , sagte der Stallmeister zu Friedrich , " du bist ein braver Junge , und ich weigere mich nicht , mit dir zu fechten ; nur da die Ungleichheit unserer Jahre und Kräfte die Sache ohnehin etwas abenteuerlich macht , so schlage ich statt anderer Waffen ein Paar Rapiere vor ; wir wollen die Knöpfe mit Kreide bestreichen , und wer dem anderen den ersten oder die meisten Stöße auf den Rock zeichnet , soll für den Überwinder gehalten und von dem anderen mit dem besten Weine , der in der Stadt zu haben ist , traktiert werden . "
Laertes entschied , daß dieser Vorschlag angenommen werden könnte ; Friedrich gehorchte ihm als seinem Lehrmeister .
Die Rapiere kamen herbei , Philine setzte sich hin , strickte und sah beiden Kämpfern mit großer Gemütsruhe zu .
Der Stallmeister , der sehr gut focht , war gefällig genug , seinen Gegner zu schonen und sich einige Kreidenflecke auf den Rock bringen zu lassen , worauf sie sich umarmten und Wein herbeigeschafft wurde .
Der Stallmeister wollte Friedrichs Herkunft und seine Geschichte wissen , der denn ein Märchen erzählte , das er schon oft wiederholt hatte und mit dem wir ein andermal unsere Leser bekannt zu machen gedenken .
In Wilhelms Seele vollendete indessen dieser Zweikampf die Darstellung seiner eigenen Gefühle :
denn er konnte sich nicht leugnen , daß er das Rapier , ja lieber noch einen Degen selbst gegen den Stallmeister zu führen wünschte , wenn er schon einsah , daß ihm dieser in der Fechtkunst weit überlegen sei .
Doch würdigte er Philine nicht eines Blicks , hütete sich vor jeder Äußerung , die seine Empfindung hätte verraten können , und eilte , nachdem er einigemal auf die Gesundheit der Kämpfer Bescheid getan , auf sein Zimmer , wo sich tausend unangenehme Gedanken auf ihn zudrängten .
Er erinnerte sich der Zeit , in der sein Geist durch ein unbedingtes , hoffnungsreiches Streben emporgehoben wurde , wo er in dem lebhaftesten Genusse aller Art wie in einem Elemente schwamm .
Es wurde ihm deutlich , wie er jetzt in ein unbestimmtes Schlendern geraten war , in welchem er nur noch schlürfend kostete , was er sonst mit vollen Zügen eingesogen hatte ; aber deutlich konnte er nicht sehen , welches unüberwindliche Bedürfnis ihm die Natur zum Gesetz gemacht hatte und wie sehr dieses Bedürfnis durch Umstände nur gereizt , halb befriedigt und irregeführt worden war .
Es darf also niemand wundern , wenn er bei Betrachtung seines Zustandes , und indem er sich aus demselben herauszudenken arbeitete , in die größte Verwirrung geriet .
Es war nicht genug , daß er durch seine Freundschaft zu Laertes , durch seine Neigung zu Philine , durch seinen Anteil an Mignon länger als billig an einem Orte und in einer Gesellschaft festgehalten wurde , in welcher er seine Lieblingsneigung hegen , gleichsam verstohlen seine Wünsche befriedigen und , ohne sich einen Zweck vorzusetzen , seinen alten Träumen nachschleichen konnte .
Aus diesen Verhältnissen sich loszureißen und gleich zu scheiden , glaubte er Kraft genug zu besitzen .
Nun hatte er aber vor wenigen Augenblicken sich mit Melina in ein Geldgeschäft eingelassen , er hatte den rätselhaften Alten kennenlernen , welchen zu entziffern er eine unbeschreibliche Begierde fühlte .
Allein auch dadurch sich nicht zurückhalten zu lassen , war er nach lang hin und her geworfenen Gedanken entschlossen oder glaubte wenigstens entschlossen zu sein .
" Ich muß fort " , rief er aus , " ich will fort ! "
Er warf sich in einen Sessel und war sehr bewegt .
Mignon trat herein und fragte , ob sie ihn aufwickeln dürfe .
Sie kam still ; es schmerzte sie tief , daß er sie heute so kurz abgefertigt hatte .
Nichts ist rührender , als wenn eine Liebe , die sich im stillen genährt , eine Treue , die sich im verborgenen befestigt hat , endlich dem , der ihrer bisher nicht wert gewesen , zur rechten Stunde nahe kommt und ihm offenbar wird .
Die lange und streng verschlossene Knospe war reif , und Wilhelms Herz konnte nicht empfänglicher sein .
Sie stand vor ihm und sah seine Unruhe .
" Herr ! " rief sie aus , " wenn du unglücklich bist , was soll aus Mignon werden ? "
- " Liebes Geschöpf " , sagte er , indem er ihre Hände nahm , " du bist auch mit unter meinen Schmerzen .
- Ich muß fort . "
Sie sah ihm in die Augen , die von verhaltenen Tränen blinkten , und kniete mit Heftigkeit vor ihm nieder .
Er behielt ihre Hände , sie legte ihr Haupt auf seine Knie und war ganz still .
Er spielte mit ihren Haaren und war freundlich .
Sie blieb lange ruhig .
Endlich fühlte er an ihr eine Art Zucken , das ganz sachte anfing und sich durch alle Glieder wachsend verbreitete .
" Was ist dir , Mignon ? " rief er aus , " was ist dir ? "
Sie richtete ihr Köpfchen auf und sah ihn an , fuhr auf einmal nach dem Herzen , wie mit einer Gebärde , welche Schmerzen verbeißt .
Er hob sie auf , und sie fiel auf seinen Schoß ; er drückte sie an sich und küßte sie .
Sie antwortete durch keinen Händedruck , durch keine Bewegung .
Sie hielt ihr Herz fest , und auf einmal tat sie einen Schrei , der mit krampfigen Bewegungen des Körpers begleitet war .
Sie fuhr auf und fiel auch sogleich wie an allen Gelenken gebrochen vor ihm nieder .
Es war ein gräßlicher Anblick !
" Mein Kind ! " rief er aus , indem er sie aufhob und fest umarmte , " mein Kind , was ist dir ? "
Die Zuckung dauerte fort , die vom Herzen sich den schlotternden Gliedern mitteilte ; sie hing nur in seinen Armen .
Er schloß sie an sein Herz und benetzte sie mit seinen Tränen .
Auf einmal schien sie wieder angespannt , wie eins , das den höchsten körperlichen Schmerz erträgt ; und bald mit einer neuen Heftigkeit wurden alle ihre Glieder wieder lebendig , und sie warf sich ihm , wie ein Ressort , das zuschlägt , um den Hals , indem in ihrem Innersten wie ein gewaltiger Riß geschah , und in dem Augenblicke floß ein Strom von Tränen aus ihren geschlossenen Augen in seinen Busen .
Er hielt sie fest .
Sie weinte , und keine Zunge spricht die Gewalt dieser Tränen aus .
Ihre langen Haare waren aufgegangen und hingen von der Weinenden nieder , und ihr ganzes Wesen schien in einen Bach von Tränen unaufhaltsam dahinzuschmelzen .
Ihre starren Glieder wurden gelinde , es ergoß sich ihr Innerstes , und in der Verirrung des Augenblickes fürchtete Wilhelm , sie werde in seinen Armen zerschmelzen und er nichts von ihr übrigbehalten .
Er hielt sie nur fester und fester .
" Mein Kind ! " rief er aus , " mein Kind !
Du bist ja mein !
Wenn dich das Wort trösten kann .
Du bist mein !
Ich werde dich behalten , dich nicht verlassen ! "
Ihre Tränen flossen noch immer .
Endlich richtete sie sich auf .
Eine weiche Heiterkeit glänzte von ihrem Gesichte .
" Mein Vater ! " rief sie , " du willst mich nicht verlassen ! willst mein Vater sein ! -
Ich bin dein Kind ! "
Sanft fing vor der Türe die Harfe an zu klingen ; der Alte brachte seine herzlichsten Lieder dem Freunde zum Abendopfer , der , sein Kind immer fester in Armen haltend , des reinsten , unbeschreiblichsten Glückes genoß .

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Goethe, Johann Wolfgang von. Wilhelm Meisters Lehrjahre: Teil 2. Bildungsromankorpus. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0fn.0