Vierter Band Erstes Kapitel Der borghessische Fechter Auf dem niedrigen Ofen meines Arbeitszimmers stand eine fast drei Fuß hohe Gipsfigur des borghesischen Fechters .
Der Abguß war vorzüglich , obschon etwas angebräunt ; denn er stammte von einem früheren Insassen her und ging von einem Nachfolger zum anderen .
Jeder übernahm den rüstigen Kämpfer gegen eine Entschädigung an die Wirtsleute , die so von der Arbeit des wackeren Agasias nach zweitausend Jahren noch einen periodischen Nutzen zu ziehen wußten .
Als meine Augen von der Türe , hinter welcher Erikson und Reinhold mit ihren Frauen verschwunden waren , hinwegglitten , fielen sie auf den danebenstehend Fechter und blieben an dem schönen Bildwerke haften .
Ich trat ihm näher wie einem willkommenen Hausgenossen in einsamer Stunde und schaute ihn zum ersten Male vielleicht recht an .
Rasch räumte ich Bilder und Staffeleien weg , rückte sie an die Wände , trug die Figur in die Mitte des Zimmers auf ein Tischchen und stellte sie ins Licht .
Ein helleres Licht ging aber trotz dem geräucherten Zustande von dem Bilde aus , in welchem das Leben im goldenen Zirkel von Verteidigung und Angriff sich selbst erhielt .
Von der erhobenen Faust des linken Armes über die Schultern weg bis zur gesenkten des rechten , von der Stirn bis zur Zehe , dem Nacken bis zur Ferse wallte von Muskel zu Muskel , von Form zu Form die Bewegung , der Schritt aus der Not zum Siege oder zum rühmlichen Untergange .
Und welche Formen in ihrer Verschiedenheit !
Alle diese Organe glichen einer kleinen Republik von Wehrmännern , welche von einem Willen beseelt vorandrangen , um ihren Verband gegen die Zerstörung zu schützen .
Unversehens suchte ich einen reinen Bogen Papier , spitzte einen Kohlenstengel sorgfältig zu und begann mich in den Umrissen dieses und jenes Gliedes zu versuchen , dann , als hiermit nicht viel herauskommen wollte , den linken Arm bis in die Achselhöhle und die von da fortlaufende Bewegung bis in die linke Weichengegend in ganzer Form rasch zu packen ; aber die Hand war ungeübt hierfür , und erst als die Kohle sich etwas abgestumpft hatte , wollte der Strich von selbst leibhafter werden und ein gewisses Leben in die Finger fahren .
Aber nun war das Auge nicht gewöhnt , angesichts der menschlichen Gestalt der Hand rasch genug vorzuleuchten ; ich mußte aufstehen und die Begrenzungen und Übergänge genauer untersuchen und , weil ich doch schon zu alt war , in einsichtsloser Art fortzufahren , über die Dinge und ihren Zusammenhäng nachdenken .
So brachte ich in ein paar Tagen die ganze Figur leidlich zustande , drehte sie und bezwang sie auch von den übrigen Seiten .
Da fiel mir plötzlich ein , sie in Gedanken aufzurichten und den Fechter in ruhender Stellung zu zeichnen , gleichsam als Probe der erworbenen Kenntnis .
An dem anatomisch gut gearbeiteten Vorbilde hatte ich wohl gesehen , was als Knochen oder Muskel , Sehne oder Gefäß sich darstellte ; als es nun aber galt , alles dies in seine veränderte Lage und Form zu bringen , mangelte mir jeder bestimmte Einblick in den Zusammenhäng dessen , was unter der Haut ist und vor sich geht , und da es sich nicht um eine unklare freche Skizzierung handeln konnte , die hier keinen Zweck gehabt hätte , so sah ich mich genötigt , den Stift wegzulegen .
Das begab sich in einem Augenblicke , wo ich schon so manches Jahr der Kunst beflissen gewesen und einem ersten Abschluß zusteuern sollte .
Ich hätte diesen Erfolg genau voraussehen können , ehe ich den Stift angesetzt , und wie ich nun , die Hände im Schoß , über meine Torheit nachsann , wunderte ich mich darüber , daß ich einst nicht die Darstellung des Menschen zum Berufe gewählt hatte anstatt seines bloßen landschaftlichen Wohn- und Schauplatzes .
Und als ich über diese unheimliche Zufälligkeit weiter nachdachte , verwunderte ich mich aufs neue , wie es über Haupt möglich gewesen sei , daß ich , noch in den Kinderschuhen stehend , meinen unberatenen Willen so leicht habe durchsetzen können in einer das ganze lange Leben bestimmenden Sache .
Ich war noch nicht über die Jugendidee hinaus , daß eine solche Selbstbestimmung im zartesten Alter das Rühmlichste sei , was es geben könne ; allein es begann mir jetzt doch unerwartet die Einsicht aufzugehen , das Ringen mit einem streng bedächtigen Vater , der über die Schwelle des Hauses hinauszublicken vermag , sei ein besseres Stahlbad für die jugendliche Werdekraft als unbewehrte Mutterliebe .
Zum ersten Male meines Erinnerns wurde ich dieses Gefühles der Vaterlosigkeit deutlicher inne , und es wallte mir augenblicklich heiß bis unter die Haarwurzeln hinauf , als ich mir rasch vergegenwärtigte , wie ich durch das Leben des Vaters der frühen Freiheit beraubt , vielleicht gewaltsamer Zucht unterworfen , aber dafür auch auf gesicherte Wege geführt worden wäre .
Indem ich bei dieser Vorstellung von Sehnsucht und Widerspruch , von einem mir unbekannten , aber süßen Gefühle des Gehorsams und trotziger Freiheitslust gleichzeitig erglühte , suchte ich die mir fast gänzlich verwischte Gestalt heraufzuführen , vermochte es aber im Wogen der Gedanken zuletzt nur durch das Auge der Mutter , wie sie den Abgeschiedenen im Traume gesehen .
Im Verlaufe der Zeit hatte sie nämlich wiederholt , aber immer nur nach jahrelangen Unterbrechungen , vom Vater geträumt , vielleicht zwei oder drei Male , gleichsam zum Wahrzeichen , wie selten solche geheimnisvolle Lichtblicke tiefsten Glückes uns vergönnt sind .
Jedesmal aber hatte sie am Morgen das Begebnis , das nach langem Ausbleiben so unerwartet gekommen , mit dankbarer Freude erzählt und die Art und Weise der Erscheinung beschrieben .
So war es ihr einst im Schlafe , als ergehe sie sich an einem Sonntage mit dem verstorbenen Gatten im Freien wie ehemals ; aber sie fand ihn doch nicht sich zur Seite , sondern sah ihn plötzlich aus der Ferne herkommen auf einer unabsehbaren Feldstraße .
Er war sonntäglich fein gekleidet , trug aber ein schweres Felleisen auf dem Rücken ; in der Nähe angelangt , stand er still , nahm den Hut vom Kopfe und wischte den Schweiß von der Stirn ; dann winkte er liebevoll gegen die Mutter und sagte mit wohltönender Stimme :
" Es ist weit , weit zu gehen ! " worauf er an seinem Stabe rüstig weiterwanderte , bis er ihren Augen entschwand .
Dieses Gesicht , welches ihr statt eines Ausruhenden einen mit belastetem Rücken in unendliche Fernen Dahinziehenden gezeigt , hatte die Mutter bei näherem Nachdenken traurig gemacht , da sie ohne Aberglauben oder Traumdeuterei doch die Empfindung oder Vorstellung von einer großen Mühsal erlitt , in welcher sich der Abgeschiedene bewege .
Mir hingegen erweckte jetzt das Gedenken dieses unverdrossenen Wanderns des freundlichen Geistes durch die unbekannte Ewigkeit eher das vorbildliche Anschauen eines nicht zu brechenden Lebensmutes , des rastlosen Verfolgens eines Zieles .
Ich sah den Mann selbst dahinschreiten und mir zuwinken , und als das Bild allmählich sich von der Tafel der Erinnerung löste und verschwand , sagte ich mir entschlossen :
Was kann es helfen !
Du darfst nicht länger säumen und mußt die fehlende Kenntnis nachholen !
Ich nahm mir also vor , mich unverweilt an das Studium der Anatomie zu machen , soweit dieselbe wenigstens zu Verständnis und Darstellung der menschlichen Gestalt unentbehrlich ist ; und da die öffentliche Kunstschule zwar etwelche unvollkommene Gelegenheit hierfür bot , ich aber nicht zu ihren Angehörigen zählte , so suchte ich sofort einen jener Studierenden auf , die mir in dem unsinnigen Duellhandel mit Ferdinand Lys beigestanden .
Es war ein der Medizin Beflissener , dem Ende seiner Studienzeit entgegengehend und fast nur noch in den Krankensälen sowie an den Operationstischen tätig .
Sogleich bereit , mir seine anatomischen Atlanten und Bücher zu leihen und mich vorderhand in ein Hörzimmer der Knochenlehre zu führen , riet er mir jedoch nach einigem Besinnen , mit ihm die soeben beginnenden Vorträge über Anthropologie zu besuchen , die von einem vortrefflichen Lehrer gehalten würden .
Er selbst , bemerkte er , gehe hin , nicht um der längst zurückgelegten Lehrstufe Willen , sondern wegen der ausgezeichneten Form und des geistigen Gehaltes jener Vorlesungen , welche an sich ein lehrreicher Genuß seien .
Übrigens , wie der Anatom ein rückwärtsgehender , sozusagen abtragender Bildhauer zu nennen sei , so gehe der bildende Künstler am besten auf dem entgegengesetzten Wege nicht nur von dem Knochengerüste , sondern von der allgemeinen Anschauung des Organischen und seines Werdens aus , und habe er den Einzug der Sinne in das Gezelt der ehrlichen Menschenhaut mit angesehen , so werde er zwar hierdurch kein Michelangelo werden , wenn es nicht sonst in ihm stecke , aber es könne andere , jetzt verlorengegangene Fakultäten vergangener Zeiten ersetzen .
Ich sah den kundigen Landsmann nun erst recht an und glaubte kaum , daß der Sprecher der gleiche sei , der mir vor Wochen so bereitwillig ein Loch in die Haut eines Menschen wollte stechen helfen .
Wenn junge Leute , die sich bei leichtsinnigem Treiben befreundet , nachher ernstere Eigenschaften aneinander entdecken , so gereicht ihnen das immer zur Genugtuung , welche gern einem entschiedenen Einflusse stattgibt .
Ich zögerte daher nicht , dem Ratgeber zu folgen , und betrat mit ihm das weitläufige Universitätsgebäude , auf dessen Treppen und Fluren die eigentliche Staatsjugend der verschiedensten Länder durcheinanderströmte .
In dem betreffenden Hörsaale waren die Bänke noch leer .
Die kahle Wand , die schwarze Tafel an derselben , die zerschnittenen und beklecksten Tische , alles erinnerte mich beinahe beklemmend an die Schulstube , die ich seit so vielen Jahren schon nicht mehr gesehen .
Das unterbrochene Lernen fiel mir aufs Herz und machte mir zu Mut , als ob ich , auf einer dieser Bänke sitzend , plötzlich aufgerufen und beschämt werden könnte ; denn ich dachte nicht daran , daß hier jeder in vollkommener Freiheit lebe für eine Spanne Zeit , keiner auf den anderen sehe und jedem der Tag seiner Abrechnung noch in der Zukunft schlummere .
Doch allmählich füllte sich der Saal , und mit Verwunderung überschaute ich die gedrängte Versammlung .
Neben einer Menge junger Leute meines Alters , welche rücksichtslos ihre Plätze einnahmen und behaupteten , erschienen manche in vorgerückteren Jahren , gut oder schlecht gekleidet , die schon stiller und bescheidener unterzukommen suchten ; und sogar einige alte Herren mit weißem Haar , selbst rühmliche Lehrer , nahmen entlegene Seitenplätze ein , um zu suchen , was es noch zu lernen gebe .
Da ahnte ich freilich meine Beschränktheit , in der ich gewähnt , daß gerade in den Räumen der Wissenschaft das Lernen für irgend jemanden eine Schande sei .
So mochten über hundert Zuhörer versammelt sein , welche des Vortragenden harrten , als derselbe unversehens in die Türe trat , rasch nach seinem Kanzelchen eilte und dort mit anständiger Anrede begann , das Bild unserer Leiblichkeit und ihrer Lebensbedingungen zu entwerfen , wie es der damaligen Wissenschaft entsprach , die wie gewöhnlich den bisher denkbar höchsten Stand soeben erstiegen hatte .
Allein dergleichen Prunk kehrte er keineswegs hervor , sondern führte seine Hörer mit ruhig und klar ohne irgendeinen Anstoß dahinfließender Rede durch das wohlgeordnete Gebiet , ohne Übereilung sowie ohne unnützen Aufenthalt , ohne das Überraschende oder etwa notgedrungen Witzige mit Reklamen der Gebärde oder des Wortes anzukündigen und zu begleiten .
Auf mich wirkte schon die erste Stunde so , daß ich den Zweck , der mich hergeführt , und alles vergaß und allein gespannt war auf die zuströmende Erfahrung .
Hauptsächlich beschäftigte mich alsobald die wunderbar scheinende Zweckmäßigkeit der Einzelheiten des tierischen Organismus ; jede neue Tatsache schien mir ein Beweis zu sein von der Scharfsinnigkeit und Geschicklichkeit Gottes , und obgleich ich mir mein Leben lang die Welt nur als vorgedacht und erschaffen vorgestellt hatte , so dünkte mich nun bei diesem ersten Einblicke , als ob ich bisher eigentlich gar nichts gewußt hätte von der Erschaffung der Kreatur , dagegen jetzt mit der tiefsten Überzeugung wider jedermann das Dasein und die Weisheit des Schöpfers behaupten könne und wolle .
Aber nachdem der Lehrer die Trefflichkeit und Unentbehrlichkeit der Dinge auf das schönste geschildert , ließ er sie unvermerkt in sich selbst ruhen und so ineinander übergehen , daß die ausschweifenden Schöpfergedanken ebenso unvermerkt zurückkehrten und in den geschlossenen Kreis der Tatsachen gebannt wurden .
Und wo ein Teil noch unerklärlich war und in die Dämmerung zurücktrat , da holte der Redner ein helles Licht aus dem Erklärten und ließ es in jene Dunkelheit glänzen , so daß der Gegenstand wenigstens unberührt und jungfräulich seiner Zeit harrte , wie eine ferne Küste im Frühlichte .
Selbst da , wo er entsagen zu müssen glaubte , tat er dies mit der überzeugenden Hinweisung , daß doch alles mit rechten Dingen zuginge und in der Grenze des menschlichen Wahrnehmungsvermögens keineswegs eine Grenze der Folgerichtigkeit und Sicherheit der Naturgesetze läge .
Hierbei brauchte er keinerlei gewaltsame Reden und vermied gewisse theologische Ausdrücke so sorgfältig wie den Widerspruch dagegen .
Die Voreingenommenen merkten auch von allem nichts und schrieben unverdrossen nieder , was ihnen zweckdienlich schien für Eigenliebe und aufzustellende Meinungen , während die Unbefangenen alle Hintergedanken fahrenließen und bei des Lehrers klugen Wendungen mit frohem Sinne die Achtung vor dem reinen Erkennen lernten .
Auch in mir traten die willkürlichen Voraussetzungen und Nutzanwendungen bald in den Hintergrund , ohne daß ich wußte , wie es geschah , als ich mich den Einwirkungen der einfachen oder reichen Tatsachen hingab ; das Suchen nach Wahrheit ist ja immer ohne Arg , unverfänglich und schuldlos ; nur in dem Augenblicke , wo es aufhört , fängt die Lüge an bei Christ und Heide .
Ich versäumte keine Stunde in dem Hörsaal .
Wie ein Alp fiel es mir vom Herzen , als ich nun doch noch etwas zu lernen anfing ; das Glück des Wissens gehört auch dadurch zum wahren Glücke , daß es einfach und rückhaltlos und , ob es früh oder spät eintritt , immer ganz das ist , was es sein kann ; es weiset vorwärts und nicht zurück und läßt über dem unabänderlichen Leben des Gesetzes die eigene Zerbrechlichkeit vergessen .
Ich wurde von Wohlwollen gegen den beredten Lehrer erfüllt , von dem ich nicht gekannt war ; denn es ist wohl nicht die schlimmste Eigenschaft des Menschen , wenn er für geistige Guttaten dankbarer ist als für leibliche , und zwar in dem Maße , daß die Dankbarkeit wächst , je weniger selbst die geistige Wohltat irgendeinen unmittelbaren äußerlichen Nutzen mit sich bringt .
Nur wenn leibliches Wohltun so beschaffen ist , daß es Zeugnis gibt von einer geistigen Kraft , welche dem Empfänger wiederum zu einer moralischen Erfahrung wird , erreicht seine Dankbarkeit eine schönere Höhe , die ihn selber veredelt .
Die Überzeugung , daß reine Tugend und Güte irgendwo sind , ist ja die beste , die uns werden kann , und selbst die Seele des Lasterhaften reibt sich vor Vergnügen ihre unsichtbaren dunklen Hände , wenn sie wahrnimmt , daß andere für sie gut und tugendhaft sind .
Indem die Lehre von unserer Menschennatur sich zusehends abrundete , bemerkte ich nicht ohne Verwunderung , wie die Dinge neben ihrer sachlichen Form in meiner Einbildung zugleich eine phantastisch typische Gestalt annahmen , welche zwar die Kraft des Vorstellens in den Hauptzügen erhöhte , hingegen das genauere Erkennen des Einzelkleinen gefährdete .
Das rührte von der Gewöhnung des malerischen Bildwesens her , die sich jetzt einmischte , wo das Gedankenwesen herrschen sollte , während dieses sich wiederum an die Stelle drängte , die jenem gebührte .
So sah ich den Kreislauf des Blutes gleich in Gestalt eines prächtigen Purpurstromes , an welchem wie ein bleiches Schemen das weißgraue Nervenwesen saß , eine gespenstische Gestalt , die , in den Mantel ihrer Gewebe gehüllt , begierig trank und schlürfte und die Kraft gewann , sich proteusartig in alle Sinne zu verwandeln .
Oder ich sah die Millionen sphärischer Körper , weiche ebenso ungezählt und dem bloßen Auge ebenso unsichtbar wie die Heerscharen Himmelskörper das Blut bilden , durch tausend Kanäle dahin stürmen und auf ihren Fluten unaufhörlich die Blitze des Nervenlebens einherfahren in Zeiträumen , die im Auge der Weltordnung ebenso lange oder so kurz sind wie diejenigen , welche die Sterne zu ihrer Wanderschaft und Geschickserfüllung bedürfen .
Auch die Wiederholung der ungeheuren Vielzahl und Zusammengesetztheit der ganzen kosmischen Natur in jedem einzelnen hinfälligen Schädelrunde dehnte sich mir zu der ungeheuerlichen Vorstellung aus , als ob ein monadenkleines Forscherlein tief im Gehirne sitzen und ebenso leicht sein Fernrohr durch freie Räume richten könnte wie der Astronom das seine durch den Weltäther , trotz aller scheinbaren Dichtigkeit der Materie im ersteren Rundgebiete ; ja vielleicht sei das Oszillierer der Nervenmassen des Gehirns nichts anderes als das wirkliche Wandern der Gedanken- oder Begriffskörperchen durch die Räume der Hemisphären , und was dergleichen Späße mehr waren .
Doch der Ernst des Lehrers und die ebenmäßige Ruhe seiner Rede überwanden schließlich solche Störungen und stellten eine Aufmerksamkeit her , die bis zum Schlusse andauerte , hier aber einer gewissen Betroffenheit Platz machte .
Denn nachdem er die Lehre von der Sinnesentwicklung mit der Entstehung des menschlichen Bewußtseins abgeschlossen , endigte er , aus seiner Zurückhaltung heraustretend , mit der unverhohlenen Bestreitung der Existenz eines sogenannten freien Willens .
Er tat es mit wenigen gemäßigten Worten , die , wenn auch sanft und friedlich , doch keineswegs triumphierend oder selbstzufrieden tönten ; vielmehr klang ein so herbes Entsagen deutlich hindurch , daß ich mich sofort dagegen auflehnte , da die Jugend nie gewillt ist , etwas für gut und köstlich Geltendes so leicht dahinzugeben .
Zweites Kapitel Vom freien Willen Je höher der Mann in meiner Achtung stand , um so eifriger machte ich mir zu schaffen , die geliebte Freiheit des Willens , welche ich von jeher zu besitzen und tapfer auszuüben glaubte , wiederherzustellen .
Unter den wenigen Gegenständen , die sich aus jenen Tagen erhalten , gibt es noch ein kleines Schreibbuch .
Es enthält einige hastige Aufzeichnungen , und ich lese die mit Bleistift beschriebenen Seiten jetzt mit bescheideneren Gefühlen , aber nicht ohne Rührung wieder :
" Die Verneinung des Professors ist es an sich nicht , die mich abstößt oder erschreckt .
Es gibt eine Redensart , daß man nicht nur niederreißen , sondern auch wissen müsse aufzubauen , welche Phrase Voll gemütlichen und oberflächlichen Leuten allerwegs angebracht wird , wo ihnen eine sichtende Tätigkeit unbequem entgegentritt .
Diese Redensart ist da am Platze , wo obenhin abgesprochen oder aus törichter Neigung verneint wird ; sonst aber ist sie ohne Verstand .
Denn man reißt nicht stets nieder , um wieder aufzubauen ; im Gegenteil , man reißt recht mit Fleiß nieder , um freien Raum für Licht und Luft zu gewinnen , welche überall sich von selbst einfinden , wo ein sperrender Gegenstand weggenommen ist .
Wenn man den Dingen ins Gesicht schaut und sie mit Aufrichtigkeit behandelt , so ist nichts negativ , sondern alles ist positiv , um diesen Pfefferkuchenausdruck zu gebrauchen .
Wenn die Freiheit des Willens nun bei den unteren Stufen unseres Geschlechtes und verwahrlosten einzelnen auch nicht vorhanden war , so mußte sie sich doch einfinden und entwickeln , sobald die Frage nach ihr sich einfand , und wenn Voltaires Trumpf : » Gäbe es keinen Gott , so müßte man einen erfinden ! « eher eine Blasphemie als ein » positive « gute Rede war , so verhält es sich nicht also mit der Willensfreiheit , und hier dürfte man nach Menschenpflicht und - recht sagen Lasst uns diese Freiheit schaffen und in die Welt bringen !
Die Schule des freien Willens kann man am füglichsten mit einer Reitbahn vergleichen .
Der Boden derselben ist das Leben dieser Welt , über welches auf gute Manier hinwegzukommen es sich handelt , und er kann zugleich den festen Grund der Materie vorstellen .
Das wohlgeartete und geschulte Pferd ist das besondere , immer noch materielle Organ , der Reiter darauf der gute menschliche Wille , welcher jenes zu beherrschen und zum freien Willen zu werden trachtet , um auf edlere Weise über jenen derben Grund hinwegzukommen ; der Stallmeister endlich mit seinen hohen Stiefeln und seiner Peitsche ist das moralische Gesetz , das aber einzig und allein auf die Natur und Gestalt des Pferdes gegründet ist und ohne dieses gar nicht vorhanden wäre .
Das Pferd aber würde ein Unding sein , wenn nicht der Boden existierte , auf welchem es traben kann , so daß also sämtliche Glieder dieses Kreises durch einander bedingt sind und keines sein Dasein ohne das andere hat , ausgenommen den Boden der Materie , welcher daliegt , ob jemand darüber reite oder nicht .
Nichtsdestoweniger gibt es gute und schlechte Reitschüler , und zwar nicht allein nach der körperlichen Befähigung , sondern vorzüglich auch infolge des entschlossenen Zusammennehmens .
Den Beweis liefert das erste beste Reiterregiment , das uns über den Weg reitet .
Die Scharen der Gemeinen , welche keine Wahl hatten , mehr oder weniger aufmerksam zu lernen , und nur durch eine eiserne Disziplin in den Sattel gewöhnt wurden , sind alle beinahe gleich zuverlässige Reiter ; keiner zeichnet sich besonders aus und keiner bleibt zurück , und um das Bild eines ordentlichen Schlendrians des Lebens zu vollenden , kommen ihnen die zusammengedrängten und in die Reihe gewöhnten Pferde auf halbem Wege entgegen ; und was etwa der Reiter versäumen sollte , tut sein Organ , das Pferd , von selbst .
Erst wo dieser Zwang und Schlendrian , das bitter Notwendige der Maße aufhört , beim löblichen Offizierskorps , gibt es sogenannte gute Reiter , schlechtere und vorzügliche Reiter ; denn diese haben es in ihrer Gewalt , über das geforderte Maß hinaus mehr oder weniger zu leisten .
Das Ausgezeichnete und Kühne , was der Gemeine erst im Drange der Schlacht , in unausweichlicher Gefahr und Not unwillkürlich und unbewußt tut , die großen Sätze und Sprünge , übt der Offizier alle Tage zu seinem Vergnügen , aus freiem Willen und sozusagen theoretisch ; doch fern ist es von ihm , daß er deswegen allmächtig sei und nicht trotz allem Mute und aller Kraft einmal abgeworfen oder von seinem allzu widerspenstigen Tiere bewogen werden könne , durch ein anderes Sträßlein zu reiten , als er gewollt hat .
Wird aber der Steuermann , um auf ein anderes Bild zu kommen , zufälliger Stürme wegen , die ihn verschlagen können , der Abhängigkeit wegen von günstigen Winden , wegen schlechtbestellten Fahrzeuges und unvermuteter Klippen , wegen verhüllter Leitsterne und verdunkelter Sonne sagen : » Es gibt keine Steuermannskunst ! « und es aufgeben , nach bestem Vermögen sein vorgestecktes Ziel zu erreichen ?
Nein , gerade die Unerbittlichkeit , aber auch die Folgerichtigkeit der tausend ineinandergreifenden Bedingungen müssen uns reizen , das Steuer nicht fahrenzulassen und wenigstens die Ehre eines tüchtigen Schwimmers zu erkämpfen , welcher in möglichst gerader Richtung über einen stark ziehenden Strom schwimmt .
Nur zwei werden nicht hinübergelangen : derjenige , der sich nicht die Kraft zutraut , und der andere , der vorgibt , er brauche gar nicht zu schwimmen , er wolle fliegen und nur noch warten , bis es ihm recht gefalle .
Ja , ein verantwortlichkeitsschwangeres Wesen treibt in den Dingen und kräuselt den Spiegel der ruhigen Seele : die Frage nach einem gesetzmäßigen freien Willen ist zugleich in ihrem Entstehen die Ursache und Erfüllung desselben , und wer einmal diese Frage getan , hat die Verantwortung für eine sittliche Bejahung auf sich genommen ! "
Ich erinnere mich , daß es im Monat August und in abgelegener Gegend eines öffentlichen Parkes war , als ich diese Worte schrieb .
Von ihrem Gewichte nicht gerade niedergedrückt , wandelte ich nach vollbrachter Tat gemächlich weiter und gelangte an eine Hecke wilder Rosenstrauche , zwischen denen die ausgespannten Netze vieler Spinnen hingen .
Es war eine Art kleiner gelber Kreuzspinnen , die hier eine Kolonie zu bilden schienen und alle in wacher Tätigkeit schwebten .
Die eine saß still in der Mitte ihres Kunstwerkes und lauerte aufmerksam auf einen Fange ; die andere klomm geruhig an den Fäden umher , um hie und da einen Schaden auszubessern , während die dritte mit Unfrieden einen bösen Nachbar beobachtete .
Denn an der Grenzmark eines jeden Netzes , im Blattwerke verborgen , saßen gleichfarbige , aber ganz dünnleibige Spinnen , welche keine eigenen Netze bauten , sondern sich darauf beschränkten , den Erwerbe der fleißigen Künstlerinnen für sich zu packen .
Ein leichter Wind bewegte das Gesträuche und mit demselben die luftige Stadt dieser Ansiedler , so daß der allgemeine Weltlauf auch hier in aller Stille Leidenschaft und Unruhe hervorbrachte .
Ich haschte ein Fliege und warf sie auf ein Gewebe , dessen Inhaberin reglos im Mittelpunkte hing .
Sogleich stürzte sie über das unglückliche Tier her , drehte und wendete es einigemal zwischen den Pfoten , schnürte ihm mit vorläufigen Stricken Flügel und Beine zusammen , überzog es dann mit dichtem Gespinste , indem sie abermals den Raub mit größter Fertigkeit zwischen den Hinterfüßen drehte gleich dem Braten am Spieße , und stellte so ein handliches Paket her , das sie bequem nach ihrem Sitze schleppte .
Aber schon war die parasitische Raubspinne von ihrem Lauerposten mit kurzen Rucken halbwegs herangenaht , bereit , dem rechtmäßigen Jäger die Beute zu entreißen , und kaum ersah dieser den Feind , als er den Weidsack an das Gitter seines Burgsitzes hing und sich wie der Blitz gegen den Angreifer wendete .
Mit funkelnden Augen und ausgestreckten Vorderfüßen gingen sie sich entgegen , versuchten sich wie förmliche Fechter und rannten sich an .
Die Spinne , die im wohlerworbenen Rechte war , schlug die andere nach entschlossenem Kampfe in die Flucht und kehrte zu ihrer Beute zurück ; die war jedoch inzwischen von einem zweiten , von entgegengesetzter Seite herbeigekommenen Räuber weggeholt worden , der soeben mit der Fliege nach seinem Schlupfwinkel abzog .
Da dieser glücklichere Geselle bereits im Besitze war , so trieb er nun seinerseits die ihn verfolgende rechtmäßige Besitzerin von sich ab und entzog sich ihrer Gewalt , indem er schleunigst das Netz verließ .
Aufgeregt ging jene umher , brachte das Gewebe , wo es durch die Ereignisse beschädigt war , in Ordnung und setzte sich endlich wieder in den Mittelpunkt .
Da brachte ich eine neue Fliege herbei ; die Spinne packte sie wie die frühere ; allein schon machte sich der erste Wegelagerer wieder herbei , dem der Hunger keine Wahl lassen mochte ; und nun , statt das neue Opfer kunstgerecht einzuwickeln , nahm sie es kurzweg zwischen die Freßzangen und trug es , wie der Bär das Lamm , nicht nach dem Mittelsitze , sondern aus dem Netze heraus nach einem Refugium .
Sie erreichte es nicht ; denn der Feind rannte ihr den Weg ab , so daß sie eine andere Zuflucht suchen mußte , weil sie ihren Fange nicht fahrenlassen und deshalb den Kampf nicht aufnehmen konnte .
So entwickelte sich ein noch ärgeres Irrsal für das geplagte Tierchen , indem zu gleicher Zeit der Wind stärker wurde und das Netz so heftig schaukeln machte , daß eine Hauptstütze desselben zerriß , nämlich einer der stärkeren Fäden , an welchen es aufgehangen war .
Darüber ging die Fliege verloren , der Gegner machte sich auch aus dem Staube , und nur die Spinne blieb auf dem Platze , um ihre Pflicht zu tun .
Wie während des Sturmes ein Matrose im Takelwerk seines Schiffes hängt , so kletterte sie mit zitternden Gliedern an dem schwankenden Netze auf und nieder und suchte zu retten , was zu retten war , unbekümmert um die Windstöße , welche sie samt ihrem Werke umherwarfen .
Erst als ich einen Zweig brach und das ganze Gebäude plötzlich hinwegstreifte , floh sie vor der höheren Gewalt in das Gebüsche .
Nun wird sie für heute genug haben ! dachte ich und ging weiter .
Als ich aber eine Viertelstunde später an demselben Ort vorüberkam , hatte die Spinne schon ein neues Werk begonnen und bereits die Radialtaue gespannt .
Jetzt zog sie die feineren Querfäden , zwar nicht mehr so gleichmäßig und zierlich wie die zerstörten ; es gab lockere oder zu enge Stellen , hier fehlte eine Linie , dort zog sie eine solche zweimal , kurz , sie betrug sich wie einer , über den Schweres und Hartes ergangen ist und der sich bekümmert und mit zerstreuten Sinnen wieder an die Arbeit gemacht hat .
Ja freilich , es war unverkennbar , die kleine Kreatur sagte sich :
Es hilft nichts !
Ich muß in Gottes Namen wieder anfangen !
Hierüber erstaunte ich nicht wenig ; denn eine solche Entschlußfähigkeit in dem winzigen Gehirnchen erhob sich beinahe zu der menschlichen Willensfreiheit , die ich behauptete , oder sie zog diese zu sich herunter in den Bereich des blinden Naturgesetzes , des leidenschaftlichen Antriebes .
Um diesem zu entrinnen , erhöhte ich sofort meine sittlichen Ansprüche , da es beim Bau von Luftschlössern auf ein Mehr oder Weniger an Unkosten ja niemals ankommt .
Ob auch Luftschlösser sich verwirklichen oder ob sie mindestens dazu dienen , eine goldene Mittelstraße zu schützen , wie das römische Castrum einst den Heerweg , wird wohl das Geheimnis einer Erfahrung sein , welches erworbene Bescheidenheit nicht immer preisgibt .
So war ich also mit dem glänzenden Schwerte der Willensfreiheit bewaffnet , ohne aber ein Fechter zu sein .
Daß ich erst beabsichtigt hatte , einige anatomische Einsicht behufs der Darstellung der menschlichen Gestalt zu holen , wußte ich fast nicht mehr und unterließ jedes weitere Vorgehen in dieser Richtung .
Ohne zu wissen , wie es geschehen , war ich schon im gleichen Sommer in ein vorbereitendes Kollegium über Rechtswissenschaft geraten und hatte nur wenige Stunden versäumt , da mir bald unerträglich dünkte , das nicht zu kennen , wovon ich vor kurzem nichts gewußt und was niemand von mir verlangte .
Von neuen Bekanntschaften , die ich dabei gemacht und die jetzt in die Ferien gereist , hatte ich Bücher geliehen und das eine oder andere auch selbst erworben .
Darin las ich nun tage- und nächtelang , als ob eine Prüfung vor der Türe stände , und als im Herbste die Säle sich wieder auftaten , fand ich mich bei dem ersten Lehrer des römischen Rechtes als Hörer ein , keineswegs in der Absicht , etwa ein Jurist zu werden , sondern lediglich , um zu erfahren , was es mit diesen Dingen auf sich habe , und die Textur derselben zu sehen .
Meines Bleibens war hier freilich nur so lange , bis ich ein vernünftigeres Gelüste nach der Geschichte des römischen Staates und Volkes überhaupt empfand , und von hier aus lag es nahe , die Hand auch nach den griechischen Geschichten auszustrecken , welche ich in ihrer ersten dürftigen Schulgestalt mitten im Kurs einst mußte fahrenlassen , als ich aus der Schule geschickt worden .
Ich verhielt mich jetzt sehr still und ruhig und ließ die Herrlichkeiten mit frohem Behagen auf mich wirken , niemals ohne mir die schönen Landschaften , die Inseln und Vorgebirge zu vergegenwärtigen , wenn ihre wohllautenden Namen genannt wurden .
Unversehens aber stieß ich auf die Bände deutscher Rechtsaltertümer , Weistümer , Sagen und Mythologie , welche damals in der Blüte ihres Ruhmes standen ; hier führten alle Pfade wieder in die Urzeit der eigenen Heimat zurück , und ich lernte mit neuer Verwunderung die wachsende Freude an Recht und Geschichte derselben kennen .
Zu jener Zeit begann auch schon am Horizonte der Brünhildenkultus als Sehnsucht nach der Germanenjugend aufzutauchen und den Schatten der wackeren Hausfrau Thusnelda zu verdrängen , wie die dämonische Medea dem überreizten Sinne besser gefällt als die menschliche Iphigenia .
Insbesondere manchem schwächlichen Ritterlein schien für das Herzensbedürfnis die unverstandene gewaltige Heldenjungfrau gerade gut genug , und sie wurde in ihren Wolkenschleiern nachträglich vielfach angeliebelt .
Immerhin aber warf das glänzende Luftbild helle Lichtstreifen über die Landschaften der Vorzeit und rief das Gegenpostulat der Siegfriedsgestalt wach , die im Schatten der Wälder verborgen schlief .
So phantasiegeborene Anschauungen verzogen sich jedoch bald vor Gedanken nüchterner Art , als ich mich mehr an das Betrachten der Geschichte gewöhnte und ich wie ein neuer Sancho Pansa beinahe mit ein paar platten Sprichwörtern ausreichte , um die Ergebnisse zusammenzufassen .
Ich sah , daß jede geschichtliche Erscheinung genau die Dauer hat , welche ihre Gründlichkeit und lebendige Innerlichkeit verdient und der Art ihres Entstehens entspricht .
Ich sah , wie die Dauer jedes Erfolges nur die Abrechnung der verwendeten Mittel und die Prüfung des Verständnisses ist und wie gegen die ununterbrochene Ursachenreihe auch in der Geschichte weder Hoffen noch Fürchten , weder Jammern noch Toben , weder Übermut noch Verzagtheit etwas hilft , sondern Bewegung und Rückschlag ihren wohlgemessenen Rhythmus haben .
Ich versuchte daher achtzugeben auf dieses Verhältnis in der Geschichte und verglich den Charakter der Ereignisse und Zustände mit ihrer Dauer und dem Wechsel ihrer Folge welche Art von länger anhaltenden Zuständen z.B. ein plötzliches oder aber ein allgemach Ende nehmen oder welche Art von unerwarteten , rasch einfallenden Ereignissen dennoch einen dauernden Erfolg haben ? welche Bewegungsarten einen schnellen oder langsamen Rückschlag hervorrufen , welche von ihnen scheinbar täuschen und in die Irre führen und welche den erwarteten Gang offen gehen ? in welchem Verhältnisse überhaupt die Summe des moralischen Inhaltes zu dem Rhythmus der Jahrhunderte , der Jahre , der Wochen und der einzelnen Tage in der Geschichte stehe ?
Hierdurch dachte ich mich zu befähigen , schon im Beginn einer Bewegung je nach ihren Mitteln und nach ihrer Natur die Hoffnung oder Furcht zu beschränken , die auf sie zu setzen war , wie es einem besonnenen freien Weltbürger geziemte .
Denn " wie man_es treibt , so geht_es ! " meinte ich , sei auch in der Geschichte glücklicherweise kein Gemeinplatz , sondern eine eiserne Wahrheit .
Für das gegenwärtige Leben sei daher die Erkenntnis nützlich alles , was wir an unseren Gegnern tadelnswert und verwerflich finden , das müssen wir selber vermeiden und nur das an sich Rechte tun , nicht allein aus Neigung , sondern recht aus Zweckmäßigkeit und geschichtlichem Bewußtsein .
Mein liebster Aufenthalt waren nun die Stätten , wo gelehrt wurde , und ich trieb mich als eine Art von Halbstudent um , der da alles zu vernehmen und zu sehen begehrte , gleich einem jungen Herrensohn , der zu seiner allgemeinen Ausbildung auf der hohen Schule weilt , sonst es aber gerade nicht nötig hat .
Wo von Physikern , Chemikern , Zoologen oder Anatomen merkwürdige Demonstrationen angekündigt und von Redemeistern besonders berühmte Kapitel abgehandelt wurden , befand ich mich stets im Strome der Neugierigen , welche sich hinzudrängten .
Und nach bestandenem Abenteuer war ich inmitten der Studentenhaufen zu sehen , wenn sie vor Tisch ihre burschikosen Frühschoppen tranken .
Denn erst jetzt handelte ich dem Rate des Eichmeisters zuwider , vor Abend niemals ins Wirtshaus zu gehen , weil es mich trieb , über das Erfahrene sprechen zu hören und mich selbst auszusprechen .
Zuweilen gedieh ich im Eifer sogar zum lauten Wortführer , fast genau wie zu jener Zeit , als ich meine Sparbüchse verschwendete , ein Großsprecher unter den Knaben war und einem tragischen Unheil entgegenging .
Drittes Kapitel Lebensarten Es gab allerdings wieder eine Sparbüchse , welche ihrer Verwendung harrte .
Am Tage nach meiner Abreise vor nunmehr länger als drei Jahren hatte die Mutter sogleich ihre Wirtschaft geändert und beinahe vollständig in die Kunst verwandelt , von nichts zu leben .
Sie erfand ein eigentümliches Gericht , eine Art schwarzer Suppe , welches sie jahraus , jahrein , einen Tag wie den anderen um die Mittagszeit kochte , auf einem Feuerchen , welches gleichermaßen fast von nichts brannte und eine Ladung Holz eine Ewigkeit dauern ließ .
Sie deckte an den Werktagen nicht mehr den Tisch , da sie nun ganz allein aß , nicht um die Mühe , sondern die Kosten der Wäsche zu sparen , und setzte ihr Schüsselchen auf ein einfaches Strohmettchen , das immer sauber blieb , und indem sie ihren abgeschliffenen Dreiviertelslöffel in die Suppe tauchte , rief sie pünktlich den lieben Gott an , denselben für alle Leute um das tägliche Brot bittend , besonders aber für ihren Sohn .
Nur an den Sonn- und Festtagen deckte sie den Tisch mit reinlichem Weißlinnen und setzte ein Stückchen Rindfleisch darauf , welches sie am Sonnabend eingekauft .
Diesen Einkauf selber machte sie weniger aus Bedürfnis - denn sie hätte sich für ihre Person auch am Sonntage noch mit der spartanischen Suppe begnügt , wenn es hätte sein müssen - als vielmehr , um einen Zusammenhäng mit der Welt und die Gelegenheit zu haben , wenigstens einmal die Woche auf dem alten Markte zu erscheinen und den Weltlauf zu sehen .
So marschierte sie denn still und eifrig , ein Körbchen am Arme , erst nach den Fleischbänken ; und während sie dort klug und bescheiden hinter dem Gedränge der großen Hausfrauen und Mägde stand , die lärmend und verwegen ihre Körbe füllen ließen , stellte sie kritische Betrachtungen über das Behaben der Weiber an und ärgerte sich sonderlich über die munteren leichtsinnigen Dienstmägde , welche sich von den lustigen Metzgerknechten also betören ließen , daß diese während des Scherzes und Gelächters unvermerkt eine ungeheure Menge Knochen und Luftröhrenfragmente in die Waagschale warfen , so daß es die Frau Elisabeth Lee fast nicht mit ansehen konnte .
Wenn sie die Herrin solcher Mädchen gewesen wäre , so hätten diese ihre Verliebtheit an den Fleischbänken teuer büßen und jedenfalls die Knorpeln und Röhren der trügerischen Gesellen selbst essen müssen .
Allein es ist dafür gesorgt , daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen , und diejenige , welche von allen anwesenden Frauen vielleicht die gestrengste gewesen wäre , hatte dermalen nicht mehr Macht als über ihr eigenes Pfündlein Fleisch , das sie mit Umsicht und Ausdauer einkaufte .
Sobald sie es im Körbchen hatte , richtete sie ihren Gang nach dem Gemüsemarkt am Wasser und erlabte ihre Augen an dem Grün der Kräuter , den bunten Farben der Früchte , an allem , was aus Gärten und Feldern herbeigeschafft war .
Sie wandelte von Korb zu Korb und über die schwanken Bretter von Schiff zu Schiff , das aufgehäufte Wachstum übersehend und an dessen Schönheit und Billigkeit die Wohlfahrt des Staates und dessen innewohnende Gerechtigkeit ermessend , und zugleich tauchten in ihrer Erinnerung die grünen Landstriche und die Gärten ihrer Jugend auf , in welchen sie einst selbst so gedeihlich gepflanzt hatte , daß sie zehnmal mehr wegzuschenken imstande war , als sie jetzt bedächtig einkaufen mußte .
Hätte sie noch große Vorräte für einen zahlreichen Haushalt zu ordnen gehabt , so würde das ein Ersatz gewesen sein für das Säen und Pflanzen ; aber auch der war ihr genommen und die Handvoll grüner Bohnen , Spinatblättchen oder gelber Rübchen , welche sie endlich in ihr Körbchen tat , nachdem sie manchen scharfen Zuspruch wegen Überteuerung ausgeteilt , für sie nur ein notdürftiges Symbol der Vergangenheit , samt dem Büschelchen Petersilie oder Schnittlauch , das sie als Dreingabe erkämpfte .
Das weiße Stadtbrot , das bislang in ihrem Hause gegolten , hatte sie auch abgeschafft und bezog alle acht Tage ein billigeres rauhes Brot , welches sie so sparsam aß , daß es zuletzt steinhart wurde ; aber zufrieden dasselbe bewältigend , schwelgte sie ordentlich in ihrer freiwilligen Askese .
Um die gleiche Zeit wurde sie karg und herb gegen jedermann , im gesellschaftlichen Verkehr vorsichtig und zurückhaltend , um alle Ausgaben zu vermeiden ; sie bewirtete niemanden oder , wenn es geschah , so knapp und ängstlich , daß sie bald für geizig und ungefällig gegolten , hätte sie nicht durch eine verdoppelte Bereitwilligkeit mit dem , was sie durch die Mühe ihrer Hände , ohne andere Kosten , bewirken konnte , jene herbe Sparsamkeit aufgewogen .
Überall , wo sie mit Rat und Tat beistehen konnte , war sie immer wach und rüstig bei der Hand , keine Ausdauer scheuend , und da sie für sich bald fertig war , so verwendete sie eine schöne Zeit zu solchen Dienstleistungen , bald in diesem , bald in jenem Hause , wo Krankheit oder Tod die Menschen bedrängten .
Aber überallhin brachte sie ihre genaue Einteilungskunst mit , so daß die behäbigeren Leute , während sie dankbar sich die unermüdliche Hilfe gefallen ließen , doch hinter ihrem Rücken sagten , es wäre doch eigentlich eine Sünde von der Frau Lee , daß sie gar so ängstlich , so spröde sei und dem lieben Gott nichts überlassen könne oder wolle .
Sie hingegen überließ freilich der Vorsehung Gottes alles , was sie nicht verstand , vorerst die Verwicklungen der moralischen Welt , mit denen sie nicht viel zu tun hatte , weil sie sich nicht in Gefahr begab .
Nichtsdestoweniger war Gott ihr auch der Grundpfeiler in der Ernährungsfrage ; aber diese schien ihr so wichtig , daß sie niemals zauderte , sich zuerst selber zu wehren , so daß es den Anschein gewann , als ob sie nur auf sich allein vertraute .
Mit eherner Treue hielt sie an ihrer Weise fest ; weder durch Sonnenblicke der Fröhlichkeit noch durch düsteres Unbehagen , weder im Scherz noch im Ernste ließ sie sich verleiten , auch die kleinste unnötige Ausgabe zu machen .
Sie legte Groschen zu Groschen , und wo diese einmal lagen , waren sie so sicher aufgehoben wie im Kasten des eingefleischten Geizes .
Mit der Ausdauer des Geizes sammelte sie Geld , aber nicht zur Augenlust ; denn das Gesammelte beschaute sie niemals und überzählte es nie , wenigstens nicht zum zweiten Mal , und noch weniger stellte sie sich vor , was alles dafür herbeizuschaffen und zu genießen sei .
Ich indessen war seit geraumer Zeit mit den Mitteln an ein Ende gekommen , die zu meiner Ausbildung bestimmt gewesen .
Schon saß ich in einem ordentlichen Gewebe von Schuldbeziehungen gefangen und war ohne alle Schwierigkeit hineingeraten , und zwar durch den studentischen Verkehr , der sich von der Lebensart der Kunstjünger wesentlich unterscheidet .
Diese sind von Anfang an auf die Benutzung des Tageslichtes durch unausgesetzte Handübung angewiesen ; das bringt allein schon einen anderen wirtschaftlichen Zustand mit sich , welcher den guten alten Handwerkssitten verwandt ist .
Während meines Umganges mit dem reichen Lys und dem an sorgloses Leben auch gewöhnten Erikson war ich meiner bescheidenen Verhältnisse nie innegeworden .
Wir sahen uns immer nur des Abends , und da lebten sie in der Regel nicht anders , als ich und ähnliche wenig bemittelte Leute auch leben durften ; von einem gegenseitigen Anreize zu schädlichen Ausgaben war nicht die Rede , und was gute Laune oder ein Fest etwa an Ausnahmen herbeiführten , störte niemals in nachhaltiger Weise das Gleichgewicht .
Der Student dagegen lebt einstweilen und bis zum Tage des Gerichtes in jedem Sinne unter dem Panier der Freiheit .
Er beansprucht , selber in jugendlichem Vertrauen schwärmend , ein außerordentliches Vertrauen ; Unfleiß und Geldmangel gereichen ihm nicht zum Nachteil , vielmehr werden beide durch besondere Lieder gefeiert , sogar das Vertun der letzten Habe , das Hänseln der Gläubiger in alten und neuen rituellen Gesängen gepriesen .
Ist alles dies bei der heutigen besseren Sitte auch mehr euphemistisch gemeint , so ist es doch immer noch das Wahrzeichen von Freiheiten , die eine gewisse allgemeine Redlichkeit zur Voraussetzung haben .
Da ich mich eines Morgens ohne Vorbedacht und Willen von einigen Schulden belästigt sah , stellte ich nachträgliche Betrachtungen über das Vorkommnis an und setzte mich mit demselben ungefähr folgendermaßen auseinander :
Hätte ich einen Sohn mit guten Lehren zu versehen , so würde ich zu ihm sagen :
" Mein Sohn , wenn du ohne Not und sozusagen zu deinem Vergnügen Schulden machst , so bist du in meinen Augen nicht sowohl ein Leichtsinniger als vielmehr eine niedrige Seele , die ich im Verdachte eines schmutzigen Eigennutzes habe , einer Selbstsucht , die andere unter dem Deckmantel traulicher Hilfsbedürftigkeit absichtlich um das Ihrige bringt .
Wenn aber ein solcher von dir borgen will , so weise ihn ab ; denn es ist besser , du lachest über ihn als er über dich !
Wenn du hingegen in Not gerätst , so borge , soviel es genaugenommen sein muß , und ebenso diene deinen Freunden , ohne zu rechnen , und alsdann trachte für deine Schulden aufzukommen , Verluste verschmerzen oder zu dem Deinigen gelangen zu können , ohne zu wanken und ohne schimpflichen Zank .
Denn nicht nur der Schuldner , der seine Verpflichtungen einhält , sondern auch der Gläubiger , der ohne Zank dennoch zu dem Seinigen kommt , beweist , daß er ein wohlbestellter Mann ist , welcher Ehrgefühl um sich verbreitet .
Bitte keinen zweimal , der dir nicht borgen will , und laß dich ebensowenig drängen ; denke immer , daß dein guter Ruf an die Bezahlung von Schulden geknüpft , oder vielmehr denke das nicht einmal , denke an gar nichts , als daß soundso viel zu bezahlen sei im Leben oder im Tode .
Kann dir aber ein anderer das gegebene Versprechen nicht halten , so richte nicht gleich über ihn , sondern überlaße lieber das Urteil der Zeit .
Vielleicht bist du noch einmal froh , wenn er dir als Sparbüchse gedient hat .
Nach dem Maße aber , in welchem du dich in Verpflichtungen begibst und die in dir selbst liegenden Kräfte dabei schätzest , wird es sich zeigen , was du wert bist .
Du wirst die Abhängigkeit unseres Daseins menschlich fühlen gelernt haben und das Gut der Unabhängigkeit auf eine edlere Weise zu brauchen wissen , als der nichts geben und nichts schuldig sein will .
Bedarfst du in der Not das Vorbild und Ideal eines redlichen Schuldenmachers , so denke an den spanischen Cid , welcher den Juden eine Kiste voll Sand versetzte und ihnen sagte , es sei gutes Silber darin !
Sein Wort war allerdings so gut wie Silber ; und doch welche Verdrießlichkeit , wenn ein Neugieriger oder Mißtrauischer vor der Zeit die Kiste geöffnet hätte !
Dennoch wäre es derselbe Cid gewesen , dessen Leiche am Schwert ruckte , als ein Jude sie am Barte zupfen wollte . "
Diese großen Worte , mit denen ich mir den Rat eines weisen Vaters ersetzte , regten mein Gewissen doch so kräftig an , daß ich Anstalt traf , die Tore des Erwerbes aufzutun .
Ohne längeres Säumen machte ich mich an den Entwurf eines Landschaftsbildes von bescheidenem Umfang , dessen Verkaufe nicht von vornherein unwahrscheinlich war .
Zugrunde lag ein ansehnliches Studienblatt aus der Heimat , welches einen gerodeten Bergwald darstellte .
Von diesem zog sich ein stehengebliebener Saum von Eichbäumen einen höheren Grat entlang und stieg auf demselben ins Tal herunter an einen schäumenden Waldbach , wie ein Zug schreitender Riesen , die sich unten sammeln und Rat halten .
Als ich mit dem Entwurfe fertig war , fühlte ich das Bedürfnis , die Ansicht eines Kunstgenossen einzuholen , um nichts zu unterlassen , was ein Gelingen herbeiführen konnte .
Denn der Ernst der Sache wurde mir mit jedem Striche fühlbarer .
Glücklicherweise begegnete ich zu dieser Zeit einem eben im Flor stehenden Landschafter , mit dem ich in Eriksons Gesellschaft ein paarmal zusammengetroffen und auf einem gewöhnlichen Bekanntschaftsfuße stand .
Der Mann besaß eine sichere und wirksame Technik ; er brachte sozusagen keinen Pinselstrich zuviel oder zuwenig an , und jeder leuchtete mit ungebrochener Kraft ; also waren auch seine Bilder überall gern gesehen , und er kam mit solchem Fleiße der Nachfrage entgegen , daß er schon begann , Mangel an Gegenständen zu empfinden , und mehr Gemälde lieferte , als er Ideen dazu im Vorrat besaß .
Er wiederholte sich öfter und war sogar um einzelne Wolken- oder Erdformen verlegen , da er alle schon ein oder mehrere Male irgendwie gebraucht hatte , obschon er noch nicht vierzig Jahre alt war .
Denn er besaß eine stattliche Frau und eine Schar Kinder , die ernährt sein wollten , und da er bei dieser Bemühung einmal im glücklichen Schusse war , so gedachte er gleich auch wohlhabend zu werden .
Wenn man für die alten Tage sorgen will , pflegte er zu sagen , so muß man das in den jungen Tagen tun .
Auch sei es ihm unmöglich , die einzelnen seiner Kinder in der Armut zu denken ; darum müsse er sie alle dagegen schützen und zugleich hierdurch bewirken , daß sie einstmals für ihre Kinder ebenso gesinnt seien ; so nähmen die Dinge auf lange hin ihren guten Verlauf , einzig infolge eines entschlossen angewandten Grundsatzes .
Er fragte mich , was ich treibe , und ich benutzte die Gelegenheit , ihn um seinen Rat zu ersuchen .
Bereitwillig kam er zu mir und sah etwas überrascht meine Arbeit oder vielmehr die ihr zugrund liegende Naturstudie .
Die Bäume , als die aus einem ehemaligen Hochwalde ausgeschnittenen Überbleibsel , zeigten alle so eigentümlich malerische Formen , wie man sie nicht leicht vorfindet oder zum zweiten Male antrifft , und die lichte Ordnung , in welcher sie sich besonders über die Höhe hin bewegten , war nicht weniger original .
Da überdies die Eichen seither vermutlich auch niedergelegt und in ihrer Entlegenheit von einem anderen Zeichner kaum wiedergegeben worden , so erhielt der Gegenstand der Studie wie des entworfenen Bildes ohne mein Verdienst den Charakter einer wertvollen Seltenheit .
Dieser Umstand mochte den erfahrenen Landschafter anregen , sich lebhaft mit dem Entwurfe zu beschäftigen .
Er begann erst mit Worten die zu große Fülle desselben , die sich selbst im Wege stand , zu sichten , das Überflüssige oder Hindernde auszusondern und das Wesentliche zusammenzurücken .
Dann ergriff er , von Eifer hingerissen , Stift und Papier und brachte , fortwährend sprechend , mit fester Hand , seine Meinung so trefflich in sichtbare Gestalt , daß binnen einer halben Stunde eine Meisterskizze fertig war , die in jeder Sammlung guter Handzeichnungen ihren bestimmten Rang einnehmen konnte .
Ich sah freilich mit geheimem Bedauern mehr als ein sinniges und frommes Motiv , das ich nicht hatte opfern wollen , verschwinden , bemerkte aber auch mit Wohlgefallen , wie gerade dadurch eine neue stärkere Wirkung des übrigen zum Vorschein gelangte und auch eine glückliche Ausführung erleichtert werden mußte .
Ich freute mich , den Mann zu guter Stunde gefunden zu haben , und sah mich schon an der Arbeit .
Allerdings mußte ich einen frischen Entwurf herstellen , da der Meister nach beendigter Beratung sein Blatt ruhig zusammenfaltete , in die Tasche steckte und mich freundlich meiner dankbaren Gesinnung überließ .
Bei der Ausführung des Bildes suchte ich nun mein Bestes zu tun und hielt mich fleißig und hoffnungsvoll an die Arbeit , bei welcher ich so gut als möglich der Kritik des Meisters folgte .
Es wollte mir zwar nachträglich vorkommen , als ob in der Komposition etwas allzu stark aufgeräumt worden sei für meine bescheidene Farbengebung , bei der ich , da es sich endlich um ein ordentliches Vollenden handelte , mit den ersten Regeln zu kämpfen hatte .
Dennoch war ich nach Verfließen einer Anzahl Wochen nicht unzufrieden mit dem Erzeugnis , wie es sich innerhalb meiner vier Wände darstellte ; ich ließ es mit einem einfachen , unvergoldeten Rahmen versehen , der den Ernst künstlerischer Gesinnung , die nicht nach Prunkmitteln hascht , ausdrücken sollte und auch meinen Verhältnissen entsprach , und sandte das Bild in die Ausstellungsräume , wo das Neueste wöchentlich aufgehangen und der Verkaufe vermittelt wurde .
So war nun der Zeitpunkt da , von welchem ich vor der ländlichen Vormundschaftsbehörde so zuversichtlich gesprochen hatte , der Beginn eines rühmlichen Erwerbes .
Als ich am nächsten Sonntage die Säle betrat , in denen eine geputzte Menge sich drängte , gedachte ich deutlich jener stolzen Worte , aber jetzt mit kleinem Mute , da schon zuviel von der Sache abhing .
Sobald ich das unscheinbare Bild von weitem bemerkte , getraute ich mich nicht , in der Nähe zu weilen , weil ich mir plötzlich wie ein armes Kind vorkam , das sein aus einem Flöcklein Baumwolle und etwas Flittergold verfertigtes Schäfchen am Weihnachtsmarkte mit den vier steifen Beinchen auf einen trockenen Stein gesetzt hat und ängstlich harrt , ob von den tausend Vorübergehenden einer seinen Blick darauf werfe .
Das war nicht Hochmut , sondern das Gefühl , daß ich es als einen glücklichen Zufall preisen müßte , wenn sich ein geneigter Käufer für mein Weihnachtslämmchen fände .
Aber auch von einem solchen Zufall konnte schon keine Rede mehr sein ; denn als ich in den nächsten Saal ging , sah ich meine Landschaft , von meinem Ratgeber ausgestellt , mit allem Glanze seines Können es gemalt , von der Wand leuchten , umgeben von einem Rahmen , der allein mehr kostete , als ich für mein Bild zu fordern wagte .
Ein daranhängender Zettel verkündete den bereits erfolgten Ankauf des gelungenen Werkes .
Eine Gruppe von Künstlern unterhielt sich vor demselben .
" Woher mag nur das famose Motiv sein ? " sagte einer , " er hat schon lange nicht so was Neues gehabt ! "
" Dort vorn " , erwiderte ein anderer , der soeben herzugetreten , " dort hängt das Motiv noch einmal , offenbar von einem Neuling , der noch nicht recht zu untermalen und noch weniger zu lasieren versteht ! "
" Dann hat er_es dem gestohlen , der Spitzbube ! " lachten die übrigen und gingen hin , mein Schicksal zu betrachten .
Ich blieb vor der siegreichen Arbeit stehen und dachte seufzend :
Wer es kann , der macht_es !
Wie ich aber das Bild länger studierte , glaubte ich zu entdecken , daß die von dem Maler getroffenen Abänderungen wohl für seinen technischen Standpunkt gut und nützlich , dagegen für meine platonische Art eher schädlich gewesen seien .
Denn da mir der energische Glanz seines Pinsels nicht zu Gebote stand , so wäre die tiefere Innerlichkeit meines ersten Entwurfes , die nachwirkende Unmittelbarkeit der reichen Naturstudie mit ihrer Formenfülle für den Liebhaber ein etwelcher Ersatz gewesen .
Als ich im Weggehen einen Augenblick vor meinem verlassenen Bilde weilte , überzeugte ich mich , daß es , statt besser zu werden durch den Ratschlag des Meisters , förmlich verarmt , zum Beweis , daß auch in diesen Dingen der Fink nichts von der Drossel lernt .
Nach der bestehenden Ordnung mußte ich mein Werk acht Tage auf der Ausstellung lassen , während welcher keine Seele nach seinem Preise fragte .
Dann holte ich es weg und lehnte es einstweilen an die Wand .
Dann ging ich in das nebenliegende Schlafzimmerchen hinein und setzte mich auf meinen dort stehenden Reisekoffer , was meine Gewohnheit war , wenn ich etwas Kritisches zu überlegen hatte , weil der Koffer ein Stück heimatlichen Gerätes war .
So verlief der Ausgang meines ersten Versuches , ein Stück Brot zu erwerben .
Was ist Erwerbe und was ist Arbeit ? fragte ich mich ; hier führt ein bloßes Wollen , ein glücklicher Einfall ohne Mühe zu reichlichem Gewinne , dort eine geordnete , nasshaltige Mühe , welche mehr wirklicher Arbeit gleicht , aber ohne innere Wahrheit , ohne notwendigen Zweck , ohne Idee .
Hier heißt Arbeit , lohnt sich und wird zur Tugend , was dort Müßiggang , Nutzlosigkeit und Torheit ist .
Hier nützt und hilft etwas stückweise , ohne wahr zu sein ; dort ist etwas wahr und natürlich , ohne zu helfen , und immer ist der Erfolg der König , der den Ritterschlag erteilt .
- Ein Spekulant gerät auf die Idee der Revalenta arabica ( so nennt er es wenigstens ) und bebaut dieselbe mit aller Umsicht und Ausdauer ; sie gewinnt eine ungeheure Ausdehnung und gelingt glänzend ; tausend Menschen werden in Bewegung gesetzt und Hunderttausende , vielleicht Millionen gewonnen , obgleich jedermann sagt :
Es ist ein Schwindel !
Und doch nennt man sonst Schwindel und Betrug , was ohne Arbeit und Mühe Gewinn schaffen soll .
Niemand aber wird sagen können , daß das Revalentageschäft ohne Arbeit betrieben werde ; es herrschen da gewiß so gute Ordnung , Fleiß und Betriebsamkeit , Um- und Übersicht wie in dem ehrbarsten Handelshause oder Staatsgeschäfte ; auf den Einfall des Spekulanten gegründet , ist eine umfassende Tätigkeit , eine wirkliche Arbeit entstanden .
Die Beschaffung des Mehles , die Anfertigung der Büchsen , das Verpacken und Versenden erhält viele Arbeiter ; ebenso viele werden beschäftigt durch die zahllosen marktschreierischen Ankündigungen , mit der größten Mühe und Umsicht betrieben .
Keine Stadt der verschiedenen Kontinente gibt es , in welcher nicht Setzer und Drucker mit der Herstellung der Inserate und Reklamen Nahrung finden , kein Dorf , in welchem nicht ein Wiederverkäufer eine kleine Steuer darauf erhebt .
Diese läuft in tausend Äderchen zusammen und wird in hundert Bankhäusern von ehrwürdigen Buchhaltern , lakonischen Kassieren weitergeleitet bis an die Quelle der Idee zurück .
Dort sitzen die Urheber in ihrem Comptoir mit ernster Miene in tiefsinniger Tätigkeit ; denn sie haben nicht nur das tägliche Geschäft zu überwachen und fortzuführen , sie haben schon auch ihre Handelspolitik zu studieren , um dem Bohnenmehl neue Bahnen zu eröffnen , es in diesem , in jenem Weltteile vor drohender Konkurrenz zu schützen .
Doch nicht immer waltet die tiefe Geschäftsstille , die unverbrüchliche Strenge der Arbeit in diesen Räumen ; es gibt Tage der Erholung , der Freude , der sittlichen Belohnung , welche den heiligen Ernst lieblich unterbrechen .
Das Zutrauen der Mitbürger hat das Haupt des Hauses mit Magistratischen Würden geehrt , und es findet eine anständige Bewirtung aller Schutzbefohlenen statt .
Oder es wird die Hochzeit der ältesten Tochter gefeiert , ein Ehrentag für alle , die es angeht ; denn es hat sich die durchaus ebenbürtige Verbindung mit der angesehensten Familie des Stadtviertels vollzogen ; die Reichtümer sind auf beiden Seiten so gleichmäßig abgewogen , daß keine vernünftige Störung des ehelichen Glückes denkbar ist .
Schon am Vorabend wurden Wagenladungen von Palmen und Myrtenbäumen ins Haus gebracht und die Blumenkränze aufgehangen ; am Morgen füllt sich die Gasse mit Neugierigen , und das Volk weicht ehrerbietig vor den Kutschen zurück , die in endloser Reihe auffahren , wegfahren und wieder zurückkehren , bis das Festmahl unter schmetternden Fanfaren seinen Anfang nimmt .
Bald aber tritt lautlose Stille ein , als der Brautvater an das Glas schlägt und mit bescheidener Rührung , ohne das Schicksal herauszufordern , seinen Lebensgang schildert und das höhere Walten preist , das ihn , den Unwürdigen , so weit geführt habe , wie jetzt allen Augen sichtbar sei .
Mit nacktem Wanderstab , der noch im stillen Kämmerlein aufbewahrt werde , sei er einst in diese werte Stadt gekommen und habe Schritt für Schritt mit Not und Sorge , aber unverdrossenem Fleiße gekämpft und öfters fast den Mut verloren ; allein die edle Gattin , die Mutter seiner Kinder , zur Seite , habe er sich immer wieder aufgerichtet und seine Blicke auf das eine , das Große geheftet , was da Not getan !
Einsame lange Nächte hindurch habe er mit dem schöpferischen Gedanken gerungen , dessen Früchte nun einer Welt zum Segen gereichen und allerdings nebenbei auch sein redliches Streben gelohnt , einen bescheidenen Wohlstand bereitet haben usw .
So wird aber Revalenta arabica gemacht in noch vielen Dingen , nur mit dem Unterschiede , daß es nicht immer unschädliches Bohnenmehl ist , aber mit der nämlichen rätselhaften Vermischung von Arbeit und Täuschung , innerer Hohlheit und äußerem Erfolg , Unsinn und weisem Betriebe , bis der Herbstwind der Zeit alles hinwegfegt und auf dem Blachfelde nichts übrigläßt als hier einen Vermögensrest , dort ein verfallendes Haus , dessen Erben nicht mehr zu sagen wissen , wie es vordem entstanden , oder es nicht zu sagen lieben .
Will ich nun , grübelte ich weiter , ein Beispiel wirkungsreicher Arbeit , die zugleich ein wahres und vernünftiges Leben ist , betrachten , so ist es das Leben und Wirken Friedrich Schillers .
Dieser , aus dem Kreise hinausfliehend , zu welchem Familie und Landherr ihn bestimmt , alles im Stiche lassend , was ihn nach ihrem Willen beglücken sollte , stellte sich in früher Jugend auf eigene Faust , nur das tuend , was er nicht lassen konnte , und schaffte sich sogar durch eine Ausschweifung , eine überschwengliche und wilde Räubergeschichte , Luft und Licht ; aber sobald er dies gewonnen , veredelte er sich unablässig von innen heraus , und sein Leben wurde nichts anderes als die Erfüllung seines innersten Wesens , die folgerechte kristallinische Arbeit des Idealen , das in ihm und seiner Zeit lag .
Und dieses einfach fleißige Dasein verschaffte ihm endlich alles , was seinem persönlichen Wesen genügte .
Denn da er , mit Respekt zu melden , ein gelehrter Stubensitzer war , so lag es eben nicht in ihm , ein reicher und glänzender Weltmann zu sein .
Eine kleine Abweichung in seinem leiblichen und geistigen Wesen , die eben nicht Schillerisch war , und er wäre es auch geworden .
Aber nach seinem Tode erst , kann man sagen , begann sein ehrliches , klares und wahres Arbeitsleben seine Wirkung und seine Erwerbsfähigkeit zu äußeren , und wenn man ganz absieht von der geistigen Erbschaft , die er hinterlassen , so muß man erstaunen über die materielle Bewegung , über den bloß leiblichen Nutzen , den er durch das treue Hervorkehren seiner Ideale hinterließ .
So weit die deutsche Sprache reicht , sind in den Städten nicht viele Häuser , in welchen seine Werke nicht stehen , und auf den Dörfern sind sie wenigstens in einem oder zwei Häusern zu finden .
Je weiter aber die Bildung der Nation sich verbreitet , desto größer wird diese Vervielfältigung werden und zuletzt in die niederste Hütte dringen .
Hundert Gewinnhungrige lauern nur auf das Erlöschen des Privilegiums , um die edle Lebensarbeit Schillers so massenhaft und wohlfeil zu verbreiten wie die Bibel , und der umfangreiche Nutzverkehr , der während der ersten Hälfte eines Jahrhunderts stattgefunden , wird während der zweiten Hälfte um das Doppelte wachsen .
Welch eine Menge von Papiermachern , Druckersleuten , Verkäufern , Angestellten , Laufburschen , Lederhändlern , Buchbindern verdienten und werden ihr Brot noch verdienen .
Dies ist , im Gegensatze zu der Revalenta arabica manches Treibens , auch eine Bewegung und doch nur die rohe Schale eines süßen Kernes , eines unvergänglichen nationalen Gutes .
Das war ein einheitliches organisches Dasein ; Leben und Denken , Arbeit und Geist dieselbe Bewegung .
Aber es gibt doch auch ein getrenntes , gewissermaßen unorganisches Leben von gleicher Ehrlichkeit und Friedensfülle : das ist , wenn einer täglich ein bescheidenes dunkles Werk verrichtet , um die stille Sicherheit für ein freies Denken zu gewinnen , Spinoza , der optische Gläser schleift .
Aber schon bei Rousseau , der Noten schreibt , verzerrt sich das gleiche Verhältnis ins Widerwärtige , da er weder Frieden noch Stille darin sucht , vielmehr sich wie die anderen quält , er mag sein , wo er will .
Was ist nun zu tun ?
Wo liegt das Gesetz der Arbeit und die Erwerbsehre , und wo decken sie sich ?
Dergestalt spintisierte ich über etwas , worin ich zunächst gar keine Wahl hatte ; denn die Not und der Ernst des Lebens standen zum ersten Mal wirklich vor der Türe .
Das fiel mir auch endlich ein ; ich gedachte auch jener Spinne , die ihr zerstörtes Netz von neuem herstellte , und sagte mir , indem ich mich erhob Es hilft nichts , ich muß wieder anfangen !
Ich sah mich unter meinen Habseligkeiten um und suchte nach Gegenständen , welche zu einer zierlich bunten Behandlung in anspruchslosen kleinen Schildereien geeignet schienen .
Nichts Minderes führte ich plötzlich im Sinne , als eine derartige Praktik aufzutun , welche sich , wie ich wähnte , jederzeit beiseite legen ließ .
Es handelte sich nicht um jene höhere Schönmalerei , wie sie der Motive stibitzende Meister handhabte , ich aber nicht bewältigen konnte , sondern um ein Herabsteigen auf eine tiefere Stufe , wo der Glanz der gemalten Teebretter und Dosendeckel beginnt .
Freilich nicht ganz so tief wollte ich gehen ; ich dachte immerhin einen gewissen Wert zu verarbeiten , dabei aber auf die Urkunde und den roheren Geschmack des unteren Marktes Rücksicht zu nehmen mit allerhand billigen Effekten .
Aber so eifrig , ja ängstlich ich auch in meinen Mappen suchte , so dünkte mich doch alles , was ich in die Hand bekam , jedes Studienblatt , jeder kleine Entwurf zu gut dafür , es war zu schade darum .
Wollte ich meine früheren Arbeitsfreuden nicht gewaltsam selbst verderben , so mußte ich noch tiefer gehen und eigene Erfindungen machen , an denen nichts verlorenging .
Indem ich dieses genauer bedachte , trat mein Vorhaben in ein sehr ungünstiges Licht ; ich ließ mutlos das Blatt sinken , das ich eben hielt , und setzte mich wieder auf den Reisekoffer .
Das sollte also das Ende so langer Lehrjahre und die Erfüllung so großer Hoffnungen und zuverlässiger Worte sein !
Der Selbstausschluß vom Gebiete gebildeter Kunst und ein unrühmliches Verschwinden in der Dunkelheit , wo arme Teufel mit Nichtswürdigkeiten das Leben fristen !
Ich bedachte nicht einmal , daß ich ja mit einer ernsthaften Arbeit auftreten gewollt , ein diebischer Routinier mich aber des Erfolges beraubt hatte ; ich suchte nur den Punkt meiner Fehlbarkeit , weil ich zu hochfahrend war , mich für einen Pechvogel zu halten , und endigte , ohne klar zu sein , mit einem Seufzer nach Aufschub , den ich mir schon früher gewährt und nutzlos vertan hatte , soweit es den nächsten notwendigen Zweck betraf .
Da saß ich nun , den Kopf abermals in die Hände begraben , und schweifte mit den Gedanken umher , bis sie in der Heimat anlangten und mir von dort aus die neue Sorge zusandten , daß die Mutter meine Lage ahnen und sich darüber bekümmern könnte .
Ich hatte ihr sonst regelmäßig und in einem heiteren Tone geschrieben , ihr allerlei von den fremden Sitten und Gebräuchen erzählt , die ich sah , und manche Schwänke und Schnurren eingeflochten , um sie aus der Ferne zum Lachen zu bringen und wohl auch mit meiner Fröhlichkeit großzutun .
Sie antwortete mit treulichen Berichten über den Weltlauf zu Hause , und jeden Spaß vergalt sie mit einer Hochzeit oder einem Todesfall , mit dem Schiffbruch einer Haushaltung oder dem verdächtigen Glücke einer anderen .
Auch der Oheim war gestorben , und die Kinder hatten sich zerstreut im verworrenen Getümmel der Heerstraße und zogen schon ihre Kinderkärrchen hinter sich her , gleich den Juden in der Wüste .
Seit einiger Zeit waren jedoch meine Briefe seltener und einsilbiger geworden ; die Mutter schien sich zu scheuen , nach dem Grunde zu fragen , wofür ich ihr dankbar war , da ich doch nichts Rechtes zu melden wußte .
Seit einigen Monaten hatte ich gar nicht mehr geschrieben , und sie hielt sich auch still .
Als ich jetzt so in der Stille saß , klopfte es sachte an der Türe des äußeren Zimmers ; ein Kind kam herein und brachte mir einen Brief , der Schrift und Siegel der Mutter zeigte .
Sie wollte die Ungewißheit oder vielmehr die Furcht nicht länger ertragen , daß es nicht nach Wunsch und Hoffnung mit mir stehe ; sie verlangte daher Aufschluß über meine Umstände und Aussichten , besorgte , daß ich bereits Schulden habe , weil sie von keinem Erwerbe wisse und das kleine Erbe doch lange aufgebraucht sei .
Für den Fall der Not habe sie einige Ersparnisse am Überflüssigen gemacht , die jetzt bereitlägen , ihren Dienst zu tun , wenn ich nur offen berichten wolle .
Das Kind , welches den Brief gebracht , stand noch da , als ich ihn schnell gelesen ; ich hatte es beim Zeichnen des Jesuskindes in jener christlich-mythologischen oder geologischen Landschaft als Modell benutzt , um ihm die nötigsten Verhältnisse abzusehen , und da das Bild durch mein Herumsuchen zufällig in den Vordergrund geraten , so stand das Knabchen vor demselben und sagte : " Das bin ich ! " indem es den Finger auf das Himmelskind legte .
Durch diese anmutige Fügung erhielt der Vorgang einen übernatürlichen Anklang ; der kleine Träger der guten Botschaft erschien gewissermaßen als ein Abgesandter der göttlichen Vorsehung selbst , und sowenig ich an ein Wunder , etwa in Gestalt eines allgütigen Scherzes derselben , glaubte , gehe mir das kleine Abenteuer doch über die Maßen wohl und machte mir den mütterlichen Brief doppelt erquicklich .
Es ist nicht anders zu sagen genau betrachtet mußte die gleiche Figur , mit der ich in dem Entwurf jenes Bildes eine tiefsinnige Ironie zu begehen der Meinung war , jetzt meine Angelegenheiten wenigstens mit einer artigen Parabel verzieren helfen , sie mit einem Bezuge auf das Unendliche veredeln .
Alles schien jetzt gut und jede Erfüllung wieder möglich , ja wahrscheinlich zu sein ; keinen Augenblick zögerte ich , das Opfer anzunehmen , und schrieb meine Antwort etwas kleinlaut und doch offen und wohlgemut .
Dabei ermangelte ich nicht , meiner wunderlichen Universitätsstudien zu erwähnen und dieselben als eine für die Gegenwart allerdings nachteilige , für die Zukunft aber doch irgendwie Nutzen bringende Störung darzustellen ; und schließlich landete ich wieder an dem Kap der guten Hoffnungen und Verheißungen .
Als die Mutter diesen Brief empfing und ihn gelesen hatte , schloß sie die Stubentüre zu und ihren alten Schreibtisch auf und brachte aus dessen Fächern zum ersten Mal den Schatz ihrer Ersparnisse ans Licht .
Sie fügte die Taler zu Rollen und diese zu einem unförmlichen Pakete , umwand es mehrmals mit starkem Papier und dieses mit Schnüren , beträufelte es überall mit Siegellack und drückte das Petschaft darauf , alles sehr unkaufmännisch mit überflüssiger Mühe , denn es war schon lange fest genug ; aber es war doch jedenfalls fest .
Dann schob sie das schwere Paket in eine taftene Handtasche oder Retiküle , legte es auf den Arm und eilte auf Seitenwegen zur Post ; denn sie wünschte nicht gesehen zu werden , weil sie nicht gesonnen war zu antworten , wenn jemand sie befragt hätte , wo sie mit dem Gelde hinwolle .
Mühselig und mit zitternder Hand streifte sie das seidene Säcklein von dem Geldkloben , reichte ihn durch das Schiebfensterchen und gab ihn mit einem Gefühl der Erleichterung aus der Hand .
Der Beamte besah die Adresse , dann die Frau , machte seine umständlichen Verrichtungen , gab ihr den Empfangschein , und sie begab sich , ohne sich umzuschauen , hinweg , als ob sie soviel Geld jemandem genommen anstatt gegeben hätte .
Der linke Arm , auf dem sie die Last getragen , war steif und ermüdet , und so kehrte sie etwas angegriffen in ihre Behausung zurück , stillschweigend durch ein Gedränge von Leuten , welche keinen Gulden für ihre Kinder hergeben , ohne damit zu prahlen , zu lärmen oder darüber zu jammern und zu klagen .
Zu jener Zeit , als mein Oheim lebte und noch predigte , hatte er einmal gesagt :
" Gott weiß wohl , welche Leute bescheiden und still sind und welche nicht , und er zwickt die letzteren gelegentlich ein wenig , ohne daß sie wissen , woher es kommt ; und ich habe ihn im Verdacht , daß das ihm alsdann einen kleinen Spaß macht ! "
Zu Hause fand die Mutter die Klappe des Schreibtisches noch geöffnet und die Schublädchen aufgezogen , die nun leer waren ; sie schloß dieselben und öffnete beiläufig dasjenige , in welchem für ihr tägliches Bedürfnis ein unbeträchtliches Häuflein Münze in einem Schälchen lag und verkündigte , daß zunächst nun jede Wahl verschwunden war zwischen Gütlichtun und weitem Darben und daß die gute Frau jetzt mit dem besten Willen sich keine guten Tage mehr hätte machen können .
Allein das wurde von ihr weder bemerkt , noch kam es in Frage .
Sie stieß auch dies Lädchen sogleich wieder zu , versorgte Schreibzeug und Siegellack , verschloß den Schrank und setzte sich auf das alte Sorgenstühlchen ohne Lehnen , um von ihren Taten auszuruhen , aufrecht wie ein Tännlein .
So sehe ich sie jetzt noch , obgleich ich nicht dabei war , dank der Kenntnis ihrer Gewohnheiten , ähnlich wie der Altertumskundige mit seinen Hilfsmitteln und Anhaltspunkten die Ansicht eines zerstörten Denkmales wiederherstellt .
Viertes Kapitel Das Flötenwunder Das Geldpack wurde mir nicht wie der Brief von dem Hauswirtskinde , sondern von dem Postboten selbst aufs Zimmer gebracht .
Sein gewichtiges Treppensteigen , das so lange ausgeblieben , belebte die Leute sofort mit einer vorläufigen Genugtuung über das ungebrochene Vertrauen , das sie mir geschenkt ; mit dankbarer Gesinnung empfingen sie dann ihr ziemlich aufgelaufenes Guthaben , nachdem ich das Geld nicht ohne Mühe von den vielen Hüllen und Schnüren befreit und den neuen Brief rasch durchflogen hatte , der von unsicherer , ihren Gegenstand nicht übersehender Sorge geschrieben war .
Auch der Schneider , der Schuhmacher und die übrigen Lieferanten unterschrieben ihre Rechnungen mit freundlicher Zufriedenheit und empfahlen sich für weitere Kundschaft .
Das machte mir alles so viel Vergnügen , als ob es mein eigenes Verdienst wäre und ich die lieben Zahlungsmittel selbst erworben hätte .
Fast bedauerte ich , daß nicht noch mehr zu bezahlen und die Herrlichkeit so bald zu Ende war ; doch wurde der Übermut gedämpft , als ich noch am gleichen Tage auch bar Geliehenes an gute Bekannte zurückzahlte und dieselben das Geld mit vollkommener Gleichgültigkeit beiseite legten .
Hieran sah ich , daß ich in ihren Augen nicht etwas besonders Merkwürdiges getan hatte , und zog die Hörnlein der Selbstzufriedenheit wieder ein .
Dennoch war ich leichten Mutes , betrachtete die Zahlungsfähigkeit der Mutter gewissermaßen als meine eigene und feierte am Abend ein kleines Befreiungsfest , mit dessen Aufwand , so bescheiden er war , das Mütterchen sich einen halben Monat lang erhalten konnte .
Ich sang sogar in rascherem Takte , als seit manchen Tagen geschehen , ein Lied voll Sorgenverachtung , wie wenn ich aller Übel der Welt ledig wäre .
Allein gleich am Morgen gewahrte ich , daß noch ein Ende der Kette vorhanden in Gestalt des Häufleins Taler , welches von meinem Schatze übriggeblieben war .
Denn als ich denselben erst jetzt genauer berechnete und abzählte und die letzte schon angebrochene Papierhülse vollends auseinanderschlug , zeigte es sich , daß ich höchstens ein Vierteljahr daran zu leben hatte .
Ich wunderte mich nicht wenig , wie die Sorge so behende wieder hereingeschlüpft , und vermutete zuletzt , sie sei gar nicht von der Stelle gegangen , gleich der Frau des Schwingels , die im Wettlaufe mit dem Hasen ruhig in der Furche saß und rief : " Ich bin allhier ! "
Doch zögerte ich nicht , einen neuen Auslauf nach dem Erwerbe zu unternehmen ; mit Überlegung schlug ich , wie ich glaubte , einen klugen Mittelweg ein , indem ich ein paar kleinere Landschaften ohne Anspruch auf geistreichen Stil oder Phantasie , dagegen mit sorgfältiger Rücksicht auf Gefälligkeit zu malen begann , immerhin aber eine gewähltere Naturwahrheit zugrunde legte und nicht mit Gewalt das einmal zierlich Gewachsene ins Plumpe , das Geformte ins Formlose verwandelte .
Auf diesem Wege vermeinte ich einen glücklicheren Erfolg nicht verfehlen zu können , während mir unterderhand das angestrebte Gefällige der Ausführung nur zu einer gewissen reinlichen Bescheidenheit geriet , die Form aber für den roheren Blick sofort wieder einen verdächtigen Anschein von Stil gewann .
Das war freilich wieder nicht zweckmäßig ; denn die gleichen Menschen , welche die Angelegenheiten ihres täglichen Lebens nur mit großen Worten und erhabenen Wendungen behandeln , sind es ja , die sogleich die Nase zurückziehen , wenn sie in der Kunst etwas wittern , das wie Stil oder Form aussieht .
Neben der Vorsicht , die ich an die Arbeit verwandte , beschäftigte mich noch das Abwägen der fliehenden Zeit mit der täglichen Abnahme meines Barvorrates ; dies alles , mit einem geruhigen Maße von Furcht und Hoffnung durchwirkt , läßt mir jene kleine Spanne Zeit samt ihren kleinen Verhältnissen als ein Stück wohlverbrachten friedlichen Daseins erscheinen , gleichmäßig erfüllt von bescheidenem Anspruch , redlicher Tätigkeit und tröstlicher Erwartung des unbekannten Erfolges .
Fehlt einem solchen Zustande einstweilen das tägliche Brot nicht , während das kommende Bedürfnis doch die Seelenkräfte wach erhält , so wäre er lebenslang leicht zu ertragen .
Das erkennt man erst , wenn die Hoffnungen gebrochen sind und man den früheren Zustand , wo sie noch ungewiß waren , wieder herbeiwünscht .
Als ich beide Zwillingsbilder fertig hatte , war es mit dem zufriedenen Leben vorbei , und ich mußte auf den Handel ausgehen .
Sie der öffentlichen Ausstellung anzuvertrauen , konnte ich mich nach jenem plagiatorischen Unglück nicht schon wieder entschließen , was allerdings ein Zeichen des Anfänger oder Dilettantentums war ; denn eine volle Begabung kann dergleichen leicht verschmerzen und braucht sich nicht darum zu kümmern , wie das Schattenvolk sich um das Eigentum von Ideen und Erfindungen zankt .
Ich begab mich nun zu einem angesehenen Händler , Beherrscher der Auktionen und Aufkäufer von Künstlernachlässen , welcher auch ganz neue Bilder kaufte , wenn sie vor seiner Kennerschaft Gnade fanden oder seine Gewinnlust sonst durch irgendeinen geheimnisvollen Vorzug reizten .
In einem schönen Hause war das Erdgeschoß mit sogenannten alten Meistern und neueren Gemälden angefüllt , und hinter den Fenstern waren stets einige zu sehen , aber niemals etwas , für das der Mann keinen Namen hatte .
War es eine gewisse Geziertheit , oder war es Schüchternheit , ich ging zuerst ohne meine Landschaften hin , um sie dem Händler anzubieten in der Form , daß ich anfragte , ob ich dieselben herbringen lassen oder seinen Besuch zur Besichtigung erwarten dürfe .
Mein Eintreten in die Handelsgalerie blieb gänzlich unbeachtet , da der Inhaber mit einem Häuflein Herren und Kenner dicht vor einem kleinen Rähmchen stand , dessen Inhalt sie mit zusammengesteckten Köpfen und Vergrößerungsgläsern beguckten , während er seine Lehrsätze über die Rarität vortrug .
Plötzlich führte er , die Lupe in der Hand , den Trupp in ein anstoßendes Zimmer , um dort vor einem ähnlichen Gegenstande vergleichende Studien vorzunehmen , und ich blieb ein Weilchen allein in dem Raume .
Endlich kehrten die Herren in aufgelöster Ordnung , in lebhaftem Gespräche begriffen , zurück , indem sie eine große Heilswahrheit zu vereinbaren und zu redigieren schienen ; es handelte sich offenbar weniger um ein Geschäft als um eine jener Liebhaberkonferenzen , durch die solche Bildermänner ihrem Hasardspiel einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben pflegen .
Indessen bemerkte der Kaufherr meine Anwesenheit und fragte nach meinem Begehren .
Ich brachte das Anliegen ziemlich betreten vor , im Gefühl , daß ich etwas erbitte , was kein Mensch mir zu gewähren schuldig sei , und hatte es auch kaum getan , als der Mann , ohne nur zu fragen , wer ich sei , kurz und trocken sagte , er kaufe die Sachen nicht , und sich wegkehrte .
Hiermit war mein Geschäft abgetan ; ich hatte keine Veranlassung , auch nur eine Minute länger dazubleiben , und befand mich eine Viertelstunde später wieder zu Hause bei den zwei Bildchen .
Ich unternahm an diesem Tage nichts Weiteres , durch ein unheimliches Gefühl von Ärger und Sorge beklemmt .
Ich konnte mir nicht klarmachen , daß das Verhalten des Händlers dasjenige der meisten Leute war , die alles , was sie nicht von sich aus wünschen und suchen , durch die immergrüne Hecke der abschlägigen Antwort von sich abhalten und es darauf ankommen lassen , was zu ihrem Nutzen sich allenfalls dennoch hindurchdrücken wolle und könne .
Am nächsten Tage machte ich mich abermals auf den Weg , nahm aber klüglich die in ein Tuch gewickelten Bilder mit , damit sie wenigstens angesehen wurden .
Ich suchte einen Händler von minderem Range auf , bei dem die Verkehrssummen schon beträchtlich niedriger standen als bei dem vorigen , obschon er mit den Gegenständen besser umzugehen , sie sogar selber zu reinigen , auszubessern und neu zu firnissen verstand .
Ich traf ihn in einem ziemlich dunklen Lokale inmitten seiner Töpfchen und Gläser , wie er eben die Löcher einer alten bemalten Leinwand ausflickte .
Er hörte mich aufmerksam an und stellte meine Landschaften selbst in ein möglichst günstiges Licht , und nachdem er die Hände an der Schürze abgewischt , schob er sein Samtkäppchen über den kahlen Vorderkopf zurück , stützte die Hände gegen die Hüfte und sagte sogleich , ohne sich lange zu besinnen :
" Die Sachen sind nicht übel , aber sie sind nach alten Kupferstichen gemacht , und zwar nach guten ! "
Erstaunt und verdrießlich erwiderte ich :
" Nein , diese Bäume habe ich selbst alle nach der Natur gezeichnet , und sie stehen wahrscheinlich jetzt noch ; auch das übrige existiert beinahe alles , wie es hier ist , nur liegt es etwas mehr auseinander ! "
" In diesem Falle kann ich die Bilder erst recht nicht brauchen ! " versetzte er , indem er die betrachtende Stellung aufgab und das Käppchen wieder zurechtrückte ; " man wählt nach der Natur keine Motive , die wie aus alten Kupferstichen aussehen !
Man muß mit der Zeit leben und vorwärtsschreiten ! "
Da hatte ich die ganze Stilfrage in einer Nuß .
Ich packte meine Bilder zusammen und warf im Abgehen einen wehmütigen Blick auf die Sammlung roher Zufälligkeiten und gemalter Düngerhaufen , welche als Zeitgemäßes oder eigentlich eher die Zukunft Ahnendes die Wände bedeckten , da es die Arbeiten armer Teufel waren , die aus Ungeschick mit billigem Pinsel und im Dunklen das schufen , was seither anspruchsvoll ins Licht getreten ist .
Ich stand allerdings selber höchst kümmerlich auf der Gasse , kehrte jedoch mit dem Stolze eines verarmten Hidalgo dem Hause den Rücken und wanderte weiter .
Unentschlossen , ob ich nicht lieber nach meiner Wohnung zurück wolle , durchirrte ich mehrere Straßen und geriet vor den Kaufladen eines israelitischen Schneiders , der zugleich mit neuen Kleidern und mit neuen Bildern handelte .
Manche Künstler ließen sich von ihm bekleiden , und er mochte dadurch , indem er an Zahlungsstatt zuweilen eine Malerei zu übernehmen oder zu pfänden genötigt war , zu einem kleinen Galeriebesitzer geworden sein , der schon mehr als einen guten Schnitt gemacht hatte , wenn er entweder die Arbeiten bedrängter Kunstjünger erworben , die nachher zu Ruf gekommen , oder wenn er , ohne es zu wissen , von anderen Unkundigen ein wertvolles Stück erwischte .
Vor demjenigen Teil seines Geschäftslokales , worin die Bilder aufgestellt waren , sah ich einen Augenblick durch das Fenster , und da der Raum wenigstens von reinlicher Ordnung und Sorgfalt zu zeugen schien , so lockte mich das , einzutreten und mein Angebot aber Mals vorzubringen .
Der Handelsmann zeigte sich gleich bereitwillig , die Sachen anzusehen , betrachtete sie mit lüsterner Neugierde , ließ sich alles Wie , Was und Wo erklären und fragte zuletzt , ob ich die Dinger wirklich selbst gemacht habe und ob sie gut gemalt seien ?
Das war gar nicht so naiv , wie es aussah ; denn er blickte mich in der Zeit genau an , um aus meiner Miene den Grad eines berechtigten oder eitlen Selbstvertrauens zu lesen , wie er einen anderen , der ihm einen goldenen Ring antrug , zunächst fragte , ob derselbe auch echt sei ; im letzteren Fall erkannte er das Gold schon vorher und wollte durch die Frage erfahren , mit welchem Menschen er zu tun habe ; in meinem Falle dagegen wußte er den Menschen im voraus zu beurteilen , durch dessen Verhalten aber wollte er erfahren , wie er das Handelsobjekt anzufassen habe .
Als ich zögernd erwiderte , ich hätte die Bilder so gut gemacht , als es nur möglich gewesen , ohne daß es mir anstehe , sie zu loben ; auch werden sie wohl nicht sehr vortrefflich sein , sonst würde ich nicht damit hier stehen ; immerhin aber seien sie des bescheidenen Preises wert , den ich verlange - schien ihm das nicht übel zu gefallen , und er wurde freundlich und gesprächig , indem er dazwischen die Bilder ab und zu ebenso unentschlossen als wohlwollend betrachtete .
Ich begann die gute Hoffnung zu schöpfen , daß sich jetzt etwas ereignen werde ; allein es erfolgte nichts weiter als das plötzliche Anerbieten , die Bilder in Kommission zu übernehmen , in seinem Lokale auszustellen und so vorteilhaft als tunlich zu verkaufen .
Hierbei blieb es denn auch ; denn zu etwas Weitem hätte sich der Mann nicht verstanden , und sein Vorschlag war nicht unbillig , sein Verhalten aber menschlich , da es mir Hoffnung ließ und ich mit leichtem Herzen meine Wohnung aufsuchen konnte , als wenn ich die Bilder wieder hätte hintragen müssen .
So blieb mir für einmal die Welt des Erwerbes wie durch eine Mauer verschlossen , an welcher ich keine Türe fand , nicht ein Schlupfloch , durch welches eine Katze gekrochen wäre .
Ich hatte freilich auf den drei Gängen gewiß nicht hundert Worte verloren , allein auch ein hundertundeintes hätte nicht geholfen ; wäre Erikson noch dagewesen , so würde er mir die Bilder mit wenig Worten verkauft haben , indem er hinging und sagte : " Was fällt Euch ein ?
Ihr müßt sie nehmen ! "
Oder Ferdinand Lys hätte sie mich ausstellen lassen und mit seinem Ansehen als reicher Mann einem anderen Reichen empfohlen , und ich wäre wie hundert andere auf einen leidlich breiten Weg geraten und auf ihm geblieben .
Aber beide Freunde hatten sich von der Kunst selbst abgewendet und lebten , wo ich nicht wußte , gleich Abgeschiedenen , die dem Zurückgebliebenen fernher zuzuwinken schienen :
Gehe du dort auch weg !
Sonst besaß ich , was man gute Bekanntschaften nennt , in der Künstlerwelt nicht mehr , weil ich fast ausschließlich mit Studierenden und angehenden Gelehrten umging und als ein geselliger Hospitant ihre Spruch- und Lebensarten teilte .
In demselben Maße büßte ich erst den äußeren , dann auch halbwegs den inneren Habitus eines Kunstjüngers ein .
Während Wahl und Pflicht mich an das körperliche Schaffen banden , gewöhnte sich der Geist an das Leben in seiner eigenen Bewegung ; das langsame , kaum mehr von Hoffnung beseelte Hervorbringen eines einzigen Gedankens durch die Hände schien voll unnützer Mühsal zu sein , wenn in der gleichen Zeit tausend Vorstellungen auf den Flügeln des unsichtbaren Wortes vorüberzogen .
Diese verkehrte Empfindung beschlich mich um so unbewachter , als meine Teilnahme an wissenschaftlichen Dingen sich auf Hören und Lesen , auf bloßes Empfangen und Genießen beschränkte und ich die Arbeit wissenschaftlichen Hervorbringens nicht aus Erfahrung kannte .
So drehte ich mich gleich einem Schatten umher , der durch zwei verschiedene Lichtquellen doppelte Umrisse und einen verfließenden Kern erhält .
Mit dieser Beschaffenheit trat ich nun abermals in den unfreien Zustand des Borgens über , als der letzte Taler wirklich ausgegeben war .
Der Anfang fiel mir diesmal , als eine untröstliche Wiederholung , schwerer , der Fortgang aber machte sich wie in dumpfem Traume von selbst , bis die Zeit wieder erfüllt war und das Erwachen folgte mit der Not des Bezahlens und des Weiterlebens .
Erst jetzt entschloß ich mich , die Zuflucht nochmals zur Mutter zu nehmen , wie es ja ein Kennzeichen des Menschengeschlechtes ist , daß das Junge , solang es immer angeht , zum Alten zurückkehrt .
Jugend , welche sich reiner Absichten und eines guten Willens bewußt ist , weist mit ihrem allgemeinen Weltvertrauen auf ihre lange Zukunft hin , freilich vergessend , daß sie dieselbe leichtlich , ja wahrscheinlich allein erlebt und schließlich die Bitterkeit des Volkswortes nach rückwärts und vorwärts kosten muß , daß eine Mutter eher sieben Kinder erhält als sieben Kinder die Mutter .
Die neuen Ersparnisse , die sie ohne Zweifel gemacht hatte , konnten nicht soviel betragen , als ich jetzt bedurfte ; ich wollte daher gründlich zu Werke gehen und schlug ihr in einem Briefe , worin ich mich noch leichter stellte , als mir zu Mut war , die Erhebung eines Anleihens auf das Haus vor .
Das sei , meinte ich , eine unverfängliche ruhige Sache , welche nach gefundenem Glücksanfang durch meinen Fleiß ebenso ruhig wieder ausgeglichen werde und höchstens einige Zinsen koste .
Die Mutter erschrak heftig über diesen Brief , an dessen Stadt sie mich selber jeden Tag sehnlich erwartete , wenn auch nicht mit rühmlichem Glücke , so doch in zufriedenem Zustande .
Sie sah alles wieder in unbekannte Ferne gerückt .
Ersparnisse besaß sie diesmal nur wenige , da sie an unseren Mietern Verluste erlitten ; denn der gute Eichmeister war seinen beruflichen Trinkproben erlegen und mit Hinterlassung von Schulden gestorben , und der unzufriedene Beamte hatte in einem Anfalle von Entrüstung über fortwährendes Hintansetzen eine kleine Sportelnkasse geleert und war nach Amerika gegangen , um dort gerechtere Vorgesetzte zu suchen .
Dabei hatte er auch meine Mutter mit einem Jahreszinse im Stiche gelassen , so daß mein Unheil sich mit diesen Unglücksfällen in unheimlicher Weise vermengte .
Dazu kam die Vereinsamung durch den Tod der Nahestehenden : nach dem Oheim war auch Annas Vater , der Schulmeister , sowie der und jener gute alte Freund gestorben , und noch andere waren aus der Welt gegangen , wie denn zuweilen , wenn die Jahre vorrücken , viele auf einmal gehen , die ihre Zeit erreicht haben .
Sie hätte zwar alle diese Toten nicht befragt , was zu tun sei ; allein die Einsamkeit vergrößerte ihren Schrecken , und um nur wieder in Bewegung zu kommen und das Lebendige zu spüren , erfüllte sie mein Begehren .
Sie suchte einen Geschäftsmann auf , der die verlangte Summe mit allen möglichen Umständen und Formen beschaffte , wobei sie als schüchterne Gesuchstellerin dazustehen hatte .
Dann besorgte sie auf erhaltenen Rat mit sauren Gängen noch eine Handelsanweisung , die sie an mich abzusenden endlich froh war .
In ihrem Briefe beschränkte sie sich auf eine Beschreibung dieser Mühen , anstatt sich in Ermahnungen und Klagen zu ergehen .
Nun hatte ich , als ich meinen Brief geschrieben , im letzten Augenblicke und in der Furcht , zuviel zu verlangen , die Höhe der berechneten Summe fast auf die Hälfte heruntergesetzt und gedacht , es müsse auch so gehen .
Der Betrag des Wechsels reichte daher kaum zur Bezahlung der Schulden aus , und auch so war ich genötigt , wenn ich nur auf kurze Frist etwas übrigbehalten wollte , für freundschaftlich Geliehenes da oder dort , wo kein Bedürfnis drängte , um Stundung zu bitten .
An dem zögernden Gewähren merkte ich , daß die Bitte unerwartet kam , und so zwang mich die Beschämung , sie zurückzuziehen .
Nur einer , der mein Erröten sah , wies das Geld zurück , obschon er in Bälde abzureisen Willens war .
Ich solle es ihm wiedergeben , wenn es mir leichter falle , er könne es jetzt entbehren und werde schon gelegentlich von sich hören lassen .
Durch diese Nachsicht sah ich mich auf eine Reihe von Wochen noch geborgen .
Aber der ganze Vorgang erweckte mir ein ernsteres Nachdenken über meine Lage und über mich selbst nach der inneren Seite hin .
Plötzlich kaufte ich einige Bücher Schreibpapier und begann , um mir mein Werden und Wesen einmal recht anschaulich zu machen , eine Darstellung meines bisherigen Lebens und Erfahrens .
Kaum war ich aber recht an der Arbeit , so vergaß ich vollkommen meinen kritischen Zweck und überließ mich der bloß beschaulichen Erinnerung an alles , was mir ehedem Lust oder Unlust erweckt hatte ; jede Sorge der Gegenwart entschlief , während ich schrieb vom Morgen bis zum Abend und einen Tag wie den anderen , aber nicht wie ein Sorgenschreiber , sondern wie einer , der während schöner Frühlingswochen in seinem Gartensaale sitzt , ein Glas alten Landweines zur Rechten und einen Strauß jünger Feldblumen zur Linken .
Ich hatte in der trüben Dämmerung , die mich schon geraume Zeit umgab , das Gefühl bekommen , als ob ich eigentlich keine Jugend erlebt hätte ; und nun entwickelte sich unter meiner Hand eine Bewegung jungen Lebens , die trotz aller Bescheidenheit der Zustände und Verhältnisse mich gefangennahm , beschäftigte und bald mit glückseligen , bald mit reumütigen Empfindungen erfüllte .
So gelangte ich bis zu der Stunde , da ich als Rekrut auf dem Felde stand und die schöne Judith auswandern sah , ohne mich regen zu dürfen .
Hier legte ich die Feder weg , weil das seither Erlebte mir noch gegenwärtig war .
Die vielen beschriebenen Blätter brachte ich unverweilt zu einem Buchbinder , um sie mittels grüner Leinwand in meine Leibfarbe kleiden zu lassen und das Buch in die Lade zu legen .
Nach einigen Tagen ging ich vor Tisch hin , es zu holen .
Da hatte der Handwerker mich mißverstanden und den Einband so fein und zierlich gemacht , wie es mir nicht eingefallen war , ihn zu bestellen .
Stadt Leinwand hatte er Seidenstoff genommen , den Schnitt vergoldet und metallene Spangen zum Verschließen angebracht .
Ich trug die Barschaft , die ich noch besaß , bei mir ; sie hätte noch für mehrere Tage ausreichen sollen , jetzt mußte ich sie bis auf den letzten Pfennig hinlegen , um den Buchbinder zu bezahlen , was ich ohne weitere Besinnung tat , und anstatt zum Mittagessen zu gehen , konnte ich mich mit dem unnützesten Werke der Welt in der Hand nach Hause verfügen .
Zum ersten Male in meinem Leben saß ich nicht zu Tisch , wohl fühlend , daß es mit dem Borgen und Bezahlen vorbei sei .
In einigen Tagen wäre das merkwürdige Ereignis allerdings doch eingetreten ; dennoch überraschte es mich jetzt mit sehr stiller , aber unerbittlicher Gewalt .
Ich verbrachte die zweite Hälfte des Tages auf meinem Zimmer und legte mich abends , früher als gewöhnlich , ungegessen zu Bett .
Dort erinnerte ich mich plötzlich der weisen Tischreden der Mutter , wenn ich als kleiner Junge das Essen getadelt hatte und sie mir dann vorhielt , wie ich einst vielleicht froh sein würde , nur solches Essen zu haben .
Die nächste Empfindung war ein Gefühl der Achtung vor der ordentlichen Folgerichtigkeit der Dinge , wie alles so schön eintreffe ; und in der Tat ist nichts so geeignet , den notwendigen Weltlauf gründlich einzuprägen , als wenn der Mensch hungert , weil er nichts gegessen hat , und nichts zu essen hat , weil er nichts besitzt , und dies , weil er nichts erworben hat .
An diesen einfachen und unscheinbaren Gedankengang reihen sich von selbst alle weiteren Folgen und Untersuchungen , und indem ich nun völlige Muße hatte und von keiner irdischen Nahrung beschwert war , überdachte ich von neuem mein Leben , trotz des grünseidenen Buches , das auf dem Tische lag , und gedachte meiner Sünden , welche jedoch , da der Hunger mich unmittelbar zum Mitleid mit mir selber stimmte , sich ziemlich glimpflich darstellten .
Hierüber schlief ich friedfertig ein .
Zu gewöhnlicher Zeit erwachte ich , auch zum ersten Mal ohne zu wissen , was ich am heutigen Tage essen würde .
Ich hatte seit einiger Zeit das Frühstück abgeschafft , da ich es überflüssig gefunden ; nun wäre ich froh gewesen , es noch zu bekommen , allein die Wirtsleute durften nicht erfahren , daß ich hungerte , so wie es mir jetzt klar wurde , daß das erste Erfordernis meiner neuen Lage die strengste Geheimhaltung sei .
Weil ich als ein Überbleibsel schon abgezogener Jugendvölker lebte , besaß ich in diesem Augenblicke nicht einen einzigen Vertrauten , dem man eine so auffällige Tatsache eröffnen konnte .
Denn wer , ohne ein Bettler zu sein , eines Tages mitten in der Gesellschaft faktisch nicht mehr essen kann , macht ein Aufsehen wie ein Hund , dem man den Suppenlöffel an den Schwanz gebunden hat .
Stadt mich hinter meinen gemalten Wäldern still verborgen halten zu können , war ich daher gezwungen , um die Mittagszeit auszugehen .
Es lag die hellste Frühlingssonne auf den Straßen ; alles eilte vergnüglich durcheinander , jeder nach seinem Tischorte .
Ich ging gefaßt hindurch , ohne mir etwas ansehen zu lassen , und bemerkte hierbei , daß die Begierde zunächst nicht sowohl nach einer guten Mahlzeit als nach einem der frischen bräunlichen Brote ging , die ich vor den Bäckerläden liegen sah ; so schnell richtete sich der Wunsch des Bedürfnisses nur auf dieses einfachste und allgemeinste Nahrungsmittel , das uralte Wort vom täglichen Brote zu Ehren bringend .
Aber nun galt es wieder , im Vorübergehen das gierige Auge nicht eine Sekunde daran haften zu lassen , damit die Herrschaft des geistigen Menschen aufrechterhalten blieb , und so ging ich auch , anstatt unentschlossen zu schlendern , raschen Schrittes in eine öffentliche Gemäldesammlung , um dort die Zeit anständig mit Betrachtung der Meisterwerke zu verbringen , deren Urheber in ihren Lebtagen auch dies und jenes hatten erfahren müssen .
Es gelang mir , die nagenden Naturkräfte während einiger Stunden zu bändigen und den zwischen ihnen und mir schwebenden Streithandel zu vergessen .
Als die Säle geschlossen wurden , ging ich sogleich aus der Stadt und lagerte mich am Flusse in einem frischbelaubten Gehölze , wo ich in leidlicher Ruhe verborgen blieb , bis es dunkel war .
Seit zwei langen Tagen an den unheimlichen Zustand schon etwas gewöhnt , beschlich mich eine traurige Geduld , welcher derselbe allenfalls erträglich schien , wenn es nur nicht ärger käme .
Ich hörte , wie alle Vögel allmählich ihr Zwitschern einstellten und die Nachtruhe der Kreatur eintrat , während das Geräusch der fröhlichen Stadt herübersummte .
Als aber in der Nähe plötzlich das Geschrei eines Vogels ertönte , der von einem Marder oder Wiesel erwürgt wurde , raffte ich mich auf und ging nach Hause .
Ähnlich verlief der dritte Tag , nur daß ich jetzt in allen Gliedern müde wurde , langsamer dahinschlenderte und auch in meinen zerstreuten Gedanken zusehends herunterkam .
Eine fast gleichgültige Neugierde , wie es eigentlich werden solle , behielt die Oberhand , bis am vorgerückten Nachmittage , als ich ziemlich weit von Hause in einem offenen Garten saß , der Hunger so heftig und peinlich sich erneuerte , daß ich vollständig das Gefühl hatte , wie wenn ich in menschenleerer Wüste von einem Tiger oder Löwen angefallen wäre .
Eine Art Todesgefahr war jetzt augenscheinlich ; aber sie bezwang gerade in dieser höchsten Not meinen neubestärkten Vorsatz nicht , keine Hilfe anzusprechen .
Ich marschierte so ordentlich , als es gehen wollte , nach meiner Wohnung und legte mich zum dritten Male ungegessen zu Bette ; glücklicherweise mit dem Gedanken , daß das kein anderes und kein schmählicheres Abenteuer sei , als wenn ich mich etwa im Gebirge verirrt hätte und dort drei Tage ohne Nahrung zubringen müßte .
Ohne diesen Trost würde ich eine sehr schlimme Nacht verlebt haben , während ich wenigstens gegen Morgen in einen schlafähnlichen Zustand geriet , aus welchem ich erst erwachte , als die Sonne schon hoch am Himmel stand .
Freilich fühlte ich mich jetzt ernstlich schwach und unwohl und wußte nicht , was zu tun sei .
Erst jetzt wurde ich recht ärgerlich und etwas weinerlich und gedachte der Mutter , nicht viel anders als ein verlaufenes Kind .
Wie ich aber dieser Geberin meines Lebens gedachte , fiel mir auch ihr höchster Schutzpatron und Oberproviantmeister , der liebe Gott , wieder ein , der mir zwar immer gegenwärtig war , jedoch nicht als Kleinverwalter .
Und da in der Christenheit das objektlose Gebet damals noch nicht eingeführt war , so hatte ich mich auf der glatten See des Lebens aller solcher Anrufungen längst entwöhnt .
Diejenige , nach welcher sich unmittelbar der unkluge Römer eingefunden , war meines Erinnerns die letzte gewesen .
In diesem Augenblicke der Not aber sammelten sich meine paar Lebensgeister und hielten Ratsversammlung , gleich den Bürgern einer belagerten Stadt , deren Anführer darniederliegt .
Sie beschlossen , zu einer außerordentlichen verjährten Maßregel zurückzukehren und sich unmittelbar an die göttliche Vorsehung zu wenden .
Ich hörte aufmerksam zu und störte sie nicht , und so sah ich denn auf dem dämmernden Grunde meiner Seele etwas wie ein Gebet sich entwickeln , wovon ich nicht erkennen konnte , ob es ein Krebslein oder ein Fröschlein werden wollte .
Mögen sie es in Gottes Namen probieren , dachte ich , es wird jedenfalls nicht schaden , etwas Böses ist es nie gewesen !
Also ließ ich das zustande gekommene Seufzerwesen unbehindert gen Himmel fahren , ohne daß ich mich seiner Gestalt genauer zu erinnern vermöchte .
Ein paar Minuten hielt ich die Augen geschlossen .
Du wirst doch aufstehen müssen ! sagte ich mir und nahm mich zusammen .
Wie ich nun so vor mich hinblickte , sah ich aus einer Ecke des Zimmers einen kleinen Glanz herüberleuchten , wie von einem goldenen Fingerring , nahe dem Boden .
Es blinkte ganz seltsam und lieblich , da sonst dergleichen Licht keines im Zimmer war .
So stand ich auf , die Erscheinung zu untersuchen , und fand , daß der Glanz von der metallenen Klappe meiner Flöte herrührte , die seit Monaten ungebraucht in jener Ecke lehnte gleich einem vergessenen Wanderstab .
Ein einziger Sonnenstrahl traf das Stückchen Metall durch die schmale Ritze , welche zwischen den verschlossenen Fenstervorhängen offengelassen war ; allein woher , da das Fenster nach Westen ging und um diese Zeit dort keine Sonne stand ?
Es zeigte sich , daß der Strahl von der goldenen Spitze eines Blitzableiters zurückgeworfen war , die auf einem ziemlich entfernten Hausdache in der Sonne funkelte , und so seinen Weg gerade durch die Vorhangspalte fand .
Indessen hob ich die Flöte empor und beschaute sie .
Die brauchst du auch nicht mehr ! dachte ich , wenn du sie verkaufst , so kannst du wieder einmal essen !
Diese Erleuchtung kam wie vom Himmel , gleich dem Sonnenstrahl .
Ich kleidete mich an , trank ein großes Glas Wasser , an welchem ich keinen Mangel litt , und begann die Flöte auseinanderzunehmen und die Stücke vom Staube sorgfältig zu reinigen .
Dann rieb ich sie mit einem Restchen Firnis und wollenen Läppchen tüchtig ab , salbte sie auch inwendig mit weißem Mohnöl , in Ermangelung von Mandelöl , das man sonst nimmt , damit das Instrument auch tönte , wenn es etwa geprüft wurde .
Dann suchte ich das alte Flötenkästchen hervor und legte die Querpfeife so feierlich hinein , als ob ihr die wunderbarsten Kräfte einwohnten , und nun machte ich mich ohne längeres Säumen , und so rasch mich die matten Beine trugen , auf den Weg , einen Käufer für die alte Jugendfreundin zu suchen .
Es dauerte nicht lange , so stieß ich in einer Seitengasse auf den kleinen dunklen Laden eines Trödlers , hinter dessen Fenster ich neben etwas altem Porzellangeschirr eine Klarinette stehen sah ; an dem anderen Fenster hingen ein paar vergilbte Kupferstiche , in einem Rähmchen das verblichene Miniaturbildnis einer Militärperson in verschollener Uniform sowie eine Taschenuhr , auf deren Zifferblatt eine Schäferszene gemalt war .
Hier ging ich hinein und fand inmitten seines Trödels ein seltsames ältliches Männchen , kurz und wohlbeleibt , in einen langen Hausrock gemummt und darüber noch eine weiße Frauenschürze vorgebunden .
Auf dem rundlichen Kopfe trug er eine wunderliche Schirmmütze , die wie die Muschel des Papiernautilus gebaut war .
Diese Figur stand eben über einen kleinen Kochherd gebückt und rührte in einem Topfe , als ich eintrat .
Das Trödelmännchen sah auf und fragte mich nicht unfreundlich , was ich wünsche , worauf ich mit leiser Stimme sagte , ich hätte eine Flöte zu verkaufen .
Neugierig öffnete er das Kästchen , gab es aber sogleich zurück und sagte :
" Richten Sie einmal das Ding zusammen , so weiß ich ja nicht , was es ist ! "
Als ich die drei Bestandteile gehörig zusammengesetzt hatte , nahm er das Instrument in die Hand und betrachtete es von allen Seiten , sah auch darüber weg , ob es nicht etwa krumm oder verzogen sei .
" Warum wollen Sie es denn verkaufen ? " fragte er , und ich meinte , weil ich es nicht mehr haben wolle .
" Aber tönt sie auch , die Flöte ?
Dort habe ich schon lang ein Klarinette stehen , das keinen Laut von sich gibt , da bin ich mit angeschmiert worden .
Blasen Sie Mal ! "
Ich blies eine Tonleiter , er wollte aber ein ganzes Stücklein hören ; ich fing also , obschon mir nicht musizilich zu Mut war , mit schwachem Atem die Arie aus der Freischützoper an :
Und ob die Wolke sie verhülle , Die Sonne bleibt am Himmelszelt .
Es waltet dort ein heiliger Wille , Nicht blindem Zufall dient die Welt .
Es war das erste Musikstück , das ich vor Jahren einst gelernt hatte und das mir daher jetzt am ehesten einfiel .
Nicht nur aus Schwäche , sondern auch in einem wehmütigen Gefühle meiner Lage und der Erinnerung an jene sorglosen Zeiten fiel der Vortrag ein wenig tremulierend oder Zitterhaft aus , und ich gelangte nur bis zum zehnten oder zwölften Takte .
Allein das Männchen verlangte die Fortsetzung , und ich blies aus Furcht , der Handel könnte sich zerschlagen , in erbärmlicher Demütigung weiter , indessen der Trödler kein Auge von mir wandte .
Ich kehrte mich ab und schaute mit bitter nassen Augen durch das Fenster .
Da blickte gleich einem Sonnenaufgang das schönste Mädchengesicht herein , heiter wie der Frühlingstag , lachte holdselig und klopfte mit feinbeschuhter Hand an die Scheibe .
Es war ein offenbar vornehmes Frauenzimmer , und der Trödelgreis beeilte sich eifrig , das Fenster so weit zu öffnen , als es wegen der hinter demselben befindlichen Trödelware anging .
" Na , Mannerl , was haben es denn da für ein Konzert ? " sagte sie im vertraulichen Landesdialekt , den sie nur aus Freundlichkeit zu brauchen schien ; dann aber , ehe das überraschte Männlein eine Antwort fand , fragte sie nach gewissen chinesischen Tassen , die er zu liefern versprochen habe .
Ich hatte mich inzwischen auf eine Kiste gesetzt und schaute , ausruhend von dem mühseligen Spiele , das liebliche Frauenwesen an , das nach rasch beendigter Rücksprache noch einen unbefangenen Blick in den Raum warf und dessen Glanz auch über meine traurige Person hinlaufen ließ .
" Schaffen's , daß ich die alten Tassel bekomme , und jetzt können_es mit der Musik fortfahren ! " rief sie noch und verschwand mit anmutigem Gruße vom Fenster .
Der Alte war von der unverhofften Erscheinung ganz aufgeregt ; der Maiglanz dieses Gesichtes hatte ihn unzweifelhaft erwärmt und in die beste Stimmung versetzt .
" Die Flöten geht ja ganz ordentlich " , sagte er zu mir ; " was wollen's denn dafür haben ? "
Als ich nicht wußte , was ich fordern sollte , holte er einen und einen halben Gulden hervor , in zwei funkelneuen Stücken .
" Sein es zufrieden damit ? " sagte er , " machen es kein Umstände , das ist ein schönes Geld ! "
Ich war zufrieden und dankte sogar in der Eile aufrichtig nach Maßgabe meines Rettungsgefühles , was in seinem Verkehre nicht oft vorkommen mochte .
Er klopfte mir gemütlich auf die Achsel und ließ sich zeigen , wie die Flöte auseinanderzunehmen und in das Futteral zu legen sei .
Das Kästchen stellte er sodann geöffnet hinter das Fenster .
Auf der Straße besah ich die beiden Münzen genauer , um mich nochmals zu versichern , daß ich wirklich die Macht in der Hand halte , den Hunger zu stillen .
Der helle Silberglanz , der Glanz der vorhin gesehenen , noch nachwirkenden zwei Augen und der Sonnenstrahl , der am Morgen kurz nach dem Gebete mir die vergessene Flöte gezeigt hatte , schienen mir alle aus der nämlichen Quelle zu kommen und eine transzendente Wirkung zu sein .
Mit dankbarer Rührung , aller Lebenssorge ledig , wartete ich die Mittagsstunde ab , überzeugt , daß der liebe Gott doch unmittelbar geholfen habe .
Es wird deswegen ja doch mit rechten Dingen zugehen , dachte ich in meiner so hart angefochtenen Eigenliebe , und ich kann mir dies still bescheidene Wunder wohl gefallen lassen und darf Gott rechtmäßig danken .
Schon der Symmetrie wegen fügte ich dem heutigen Morgengebetchen jetzt ein kurzes Dankgebet bei , ohne den großen Weltherrn mit vielen oder lauten Worten belästigen zu wollen .
Nun aber säumte ich nicht länger , das gewohnte Speisehaus aufzusuchen , das ich seit einem Jahre nicht mehr betreten zu haben glaubte , so lang dünkten mich die drei Tage .
Ich aß einen Teller kräftiger Suppe , ein Stück Ochsenfleisch mit gutem Gemüse und eine landesübliche Mehlspeise .
Dazu ließ ich mir einen Krug Bier geben , das herrlich schäumte , und alles schmeckte mir so trefflich , wie wenn ich am feinsten Gastmahle gesessen hätte .
Ein unverheirateter Arzt , der auch dort zu speisen pflegte , bemerkte freundlich , er habe vorhin geglaubt , ich sei krank , so übel sehe ich aus ; allein da ich so frischen Appetit habe , so scheine es doch nicht gefährlich zu sein .
Ich entnahm hieraus , daß ich mich wenigstens einer guten Gesundheit erfreute , woran ich bisher nicht gedacht hatte , und hierfür war ich der Vorsehung auch dankbar ; denn einem kränklichen oder schwächlichen Gesellen hätte die Strapaze schlimmer ablaufen können .
Nach Tisch begab ich mich in ein Kaffeehaus , um dort bei einer Tasse schwarzen Trankes auszuruhen und dabei die Zeitungen zu lesen und zu sehen , was in der Welt vorging .
Denn auch darin war ich die drei Tage wie in der Wüste gewesen , daß ich mit niemand gesprochen und keinerlei Neuigkeit vernommen hatte .
Ich fand auch allerlei Nachrichten und Weltbegebenheiten , die sich in der Zeit angesammelt ; über dem behaglichen Lesen kehrten aber zusehends meine Leibes- und Verstandeskräfte zurück , und als ich den Bericht las , wie in einer Stadtkirche das Volk zusammenlaufe , weil ein Marienbild dort die Augen bewegen solle , kam ich betroffen auf mein stilles Privatwunder zu denken und sagte mir nach einigem Besinnen , in ganz verändertem Seelentenor , als ich vor dem Essen gehabt :
Bist du denn besser als diese Bildanbeter ?
Da kann man wohl sagen , wenn der Teufel hungrig ist , so frißt er Fliegen , und der Heinrich Lee schnappt nach einem Wunder !
Und doch zögerte ich , mich der wohltuenden Empfindung einer unmittelbaren Vorsorge und Erhörung , eines persönlichen Zusammenhanges mit der Weltsicherheit zu entledigen .
Schließlich , um dieses Vorteils nicht verlustig zu gehen und doch das Vernunftgesetz zu retten , erklärte ich mir den Vorgang so , daß die ererbte Gewohnheit des Gebetes an die Stelle einer energischen Zusammenfassung der Gedankenkräfte getreten sei , durch die damit verbundene Herzenserleichterung jene Kräfte frei und sie fähig gemacht habe , das einfache Rettungsmittel , das bereitlag , zu erkennen oder ein solches zu suchen ; daß aber eben dieser Prozeß göttlicher Natur sei und Gott in diesem Sinne ein für allemal die Appellation des Gebetes den Menschen delegiert habe , ohne im einzelnen Fall einzugreifen , auch ohne sich für den jedesmaligen unbedingten Erfolg zu verbürgen .
Vielmehr habe er die Anordnung getroffen , daß , um den Mißbrauch seines Namens zu verhüten , Selbstvertrauen und Tatkraft , solange sie irgend ausreichen , Gebeteswert haben und vom Erfolge gesegnet sein sollen .
Noch heute lache ich weder über die Geringfügigkeit jener Not noch über den vorübergehenden Wunderglauben , noch über die pedantische Abrechnung , die demselben folgte .
Ich würde die Erfahrung , einmal im Leben den starken Hunger gespürt zu haben , das Wunder des lieblichen Sonnenblickes nach dem Gebete und die kritische Auflösung desselben nach erfolgter Leibesstärkung nicht hergeben ; denn Leiden , Irrtum und Widerstandskraft erhalten das Leben lebendig , wie mich dünkt .
Fünftes Kapitel Die Geheimnisse der Arbeit Das Geldchen , das ich für die Flöte erhalten , reichte auch für einen zweiten Tag aus , da ich es klüglich eingeteilt hatte .
Ich erwachte also diesmal ohne die Sorge , heute hungern zu müssen , und das war wiederum ein kleines , zum ersten Mal erlebtes Vergnügen , da diese Sorge mir früher unbekannt gewesen und ich erst jetzt den Unterschied empfand .
Dies neue Gefühl , mich gegen den Untergang mangels Nahrung gesichert zu wissen , gefiel mir so gut , daß ich mich schnell nach weiteren Habseligkeiten umsah , die ich der Flöte nachsenden könne ; ich entdeckte aber durchaus nichts Entbehrliches mehr als den bescheidenen Bücherschatz , der sich über meinen wissenschaftlichen Grenzüberschreitungen aufgestapelt und verwunderlicherweise noch vollständig beisammen war .
Ich öffnete einige Bände und las stehend Seite auf Seite , bis es elf Uhr schlug und Mittag heranrückte .
Da tat ich mit einem Seufzer das letzte Buch zu und sagte : " Fort damit !
Es ist jetzt nicht die Zeit solchen Überflusses , später wollen wir wieder Büchersammeln ! "
Ich holte rasch einen Mann , der den ganzen Pack mit einem Stricke zusammenband , auf den Rücken schwang und mir auf dem Wege zu einem Antiquarius damit folgte .
In einer halben Stunde war ich aller Gelehrsamkeit entledigt und trug dafür die Mittel in der Tasche , das Leben während einiger Wochen zu fristen .
Das dünkte mich schon eine unendliche Zeit ; allein auch sie ging vorüber , ohne daß meine Lage sich änderte .
Ich mußte also auf eine neue Frist denken , um die Wendung zum Besseren und den Glücksanfang abzuwarten .
Die einen Menschen verhalten sich unablässig höchst zweckmäßig , rührig und ausdauernd , ohne einen festen Grund unter den Füßen und ein deutliches Ziel vor Augen zu haben , während es anderen unmöglich ist , ohne Grund und Ziel sich zweckmäßig und absichtlich zu verhalten , weil sie eben aus Zweckmäßigkeit nicht aus nichts etwas machen können und wollen .
Diese halten es dann für die größte Zweckmäßigkeit , sich nicht am Nichtssagenden aufzureiben , sondern Wind und Wellen über sich ergehen zu lassen , jeden Augenblick bereit , das leitende Tau zu ergreifen , wenn sie nur erst sehen , daß es irgendwo befestigt ist .
Sind sie dann am Lande , so wissen sie , daß sie wieder Meister sind , indessen jene immer auf ihren kleinen Balken und Brettchen herumschwimmen und aus lauter Ungeduld vom Ufer wegzappeln .
Ich war nun allerdings keine große Figur in der Geisterwelt , um ein so vornehmes Mittel , wie die Geduld ist , gebrauchen zu dürfen ; allein ich hatte damals kein anderes zur Hand , und im Notfall bindet der Bauer den Schuh mit Seide .
Das letzte , was ich außer meinen unverkäuflichen Bildern und Entwürfen besaß , waren die mit meinen Naturstudien angefüllten Mappen .
Sie enthielten fast den ganzen Fleiß meiner Jugend und stellten ein kleines Vermögen dar , weil sie lauter reale Dinge aufwiesen .
Ich nahm zwei der besseren Blätter , von ansehnlichem Format , welche ich schon im Freien als Ganzes abgeschlossen und in zufällig glücklicher Weise leicht gefärbt hatte . Dieselben wählte ich , um wegen der größeren Wirkung sicherzugehen , da ich keinen der oberen Kunsthändler , sondern das freundliche Trödelmännchen heimzusuchen gedachte und von vornherein nicht einen wirklichen Wert zu erhaschen hoffte .
Vor seinem Geschäfts- und Wohnwinkel angekommen , sah ich erst durch das Fenster und bemerkte die alten Gegenstände dahinter , die Klarinette wie die Kupferstiche und Bildchen , dagegen nicht mehr das Flötenkästchen .
Dadurch ermutigt , trat ich bei dem Alten ein , der mich sogleich erkannte und fragte , was ich Neues bringe .
Er war günstig gelaunt und ließ mich wissen , daß er jene Flöte längst verkauft habe .
Als ich die Blätter entrollt und auf seinem Tische so gut als möglich ausgebreitet , fragte er zuvörderst , gleich dem israelitischen Bild- und Kleiderhändler , ob ich sie selbst gemacht , und ich zögerte mit der Antwort ; denn noch war ich zu hochmütig für das Geständnis , daß die Not mich mit meiner eigenen Arbeit in seine Spelunke treibe .
Er schmeichelte mir jedoch ohne Verzug die Wahrheit ab , deren ich mich nicht zu schämen brauche , vielmehr zu rühmen hätte ; denn die Sachen schienen ihm in der Tat nicht übel , und er wolle es damit wagen und ein Erkleckliches daranwenden .
Er gab mir auch so viel dafür , daß ich ein paar Tage davon leben konnte , und mir schien das ein nicht zu verachtender Gewinn , obgleich ich seinerzeit lust- und fleißerfüllte Wochen über den Gebilden zugebracht hatte .
Jetzt wog ich das winzige Sümmchen nicht gegen den Wert derselben , sondern gegen die Not des Augenblickes ab , und da erschien mir der ärmliche Handelsgreis mit seiner kleinen Kasse noch als ein schätzenswerter Gönner ; denn er hätte mich ja auch abweisen können .
Und das wenige , was er mit gutem Willen und drolligen Gebärden gab , war so viel , als wenn reiche Bilderhändler größere Summen für eine unsichere Laune ihres zweifelnden Urteiles hingeben .
Aber noch in meiner Anwesenheit befestigte der Kauz die unglücklichen Blätter an seinem Fenster , und ich machte , daß ich fortkam .
Auf der Straße warf ich einen flüchtigen Blick auf das Fenster und sah die sonnigen Waldeinsamkeiten aus der Heimat wehmütig an diesem dunklen Pranger der Armut stehen .
Nichtsdestoweniger ging ich in zwei Tagen abermals mit einem Blatte zu dem Manne , der mich munter und freundschaftlich empfing .
Die zwei ersten Zeichnungen waren nicht mehr zu sehen ; das Männchen , oder Herr Joseph Schmalhöfe , wie er eigentlich laut seinem kleinen alten Ladenschilde hieß , wollte aber keineswegs sagen , wo sie geblieben seien , sondern verlangte zu sehen , was ich gebracht habe .
Wir wurden bald des Handels einig ; ich machte zwar eine kleine Anstrengung , einen barmherzigeren Kaufpreis zu erwischen , war aber bald froh , daß der Alte nur kauflustig blieb und mich aufmunterte , ihm ferner zu bringen , was ich fertigmachte , immer hübsch bescheiden und sparsam zu sein , wobei aus dem kleinen Anfang gewiß etwas Tüchtiges erwachsen würde .
Er klopfte mir wieder vertraulich auf die Achsel und lud mich ein , nicht so trübselig und einsilbig dreinzuschauen .
Der ganze Inhalt meiner Mappen wanderte nun nach und nach in die Hände des immer kaufbereiten Hökers .
Er hing die Sachen nicht mehr ans Fenster , sondern legte sie sorgfältig zwischen zwei Pappdeckel , die er mit einem langen Lederriem zusammenschnallte .
Ich bemerkte wohl , daß sich die Blätter , große und kleine , farbige wie Bleistiftzeichnungen , zuweilen längere Zeit ansammelten , bis der Behälter plötzlich wieder dünn und leer war ; allein niemals verriet er mit einem Worte , wohin meine Jugendschätze verschwanden .
Sonst aber blieb sich der Alte immer gleich ; ich fand , solang ich ein Blatt zu verkaufen hatte , eine sichere Zuflucht bei ihm , und endlich war ich froh , auch ohne Handelsverkehr etwa ein Stündchen mit Geplauder bei ihm zu verbringen und seinem Treiben zuzusehen .
Wollte ich dann weggehen , so forderte er mich auf , nicht ins Wirtshaus zu laufen und das Geldchen zu vertun , sondern an seinem Tische mitzuhalten , und erzwang es am Ende auch .
Übrigens war der allein lebende alte Gnom ein guter Koch und hatte stets ein leckeres Gericht im Hafen auf dem Herde oder im Ofen seines düstern Gewölbes .
Bald briet er eine Ente , bald eine Gans , bald schmorte er ein kräftiges Gemüse mit Schöpfenfleisch , oder er verwandelte billige Flußfische durch seine Kunst in treffliche Fastenspeise .
Als er mich eines Tages zu seiner Mahlzeit eingefangen hatte , sperrte er plötzlich das Fenster auf , wegen der Wärme , wie er sagte , im Grunde aber , um meinen Bettelstolz zu zähmen und mich den Vorübergehenden zu zeigen .
Das merkte ich an seinen schlauen Äuglein und scherzhaften Worten , womit er die Anzeichen von Verlegenheit und Unwillen bekriegte , die ich sehen ließ .
Ich ging ihm auch nicht mehr in die Falle und betrachtete meine Bedürftigkeit als mein Eigentum , über das er auf diese Art nicht zu verfügen habe .
Seltsamerweise fragte er mich nie , wie oder warum ich arm geworden sei , obgleich er mir Namen und Herkunft längst abgehört .
Den Grund seines Verhaltens fand ich in der Vorsicht , jede Erörterung zu vermeiden , um nicht zu etwas menschlicheren Kaufsangeboten moralisch genötigt zu werden .
Aus gleicher Ursache beurteilte er auch nie mehr , was ich ihm brachte , als gut oder zufriedenstellend , und mit immer gleicher Beharrlichkeit verschwieg er , wohin er die Sachen verkaufe .
Ich fragte auch nicht mehr danach .
Wie ich nun gestimmt war , gab ich gern alles hin für das kärgliche Brot , das die Welt mir gewährte , und empfand dabei die Genugtuung , es verschwenderisch zu bezahlen .
Das konnte ich mir um so eher einbilden , als das wenige , das ich erhielt , der erste Gewinn war , den ich eigener Arbeit verdankte ; denn nur der Gewinn aus Arbeit ist völlig vorwurfsfrei und dem Gewissen entsprechend , und alles , was man dafür einhandelt , hat man sozusagen selbst geschaffen und gezogen , Brot und Wein wie Kleid und Schmuck .
So erhielt ich mich ungefähr ein halbes Jahr , so wenig mir der Alte für die mannigfaltigen Studienblätter und Skizzen gab ; denn sie wollten fast kein Ende nehmen , was freilich eines Tages dennoch geschah .
Ich war aber nicht bereit , sofort wieder zu hungern .
Daher löste ich meine großen gefärbten oder grauen Kartons von den Blendrahmen , zerschnitt jeden sorgfältig in eine Anzahl gleich großer Blätter , die ich in einen Umschlag aufeinanderlegte , und trug diese merkwürdigen , immer noch stattlichen Hefte eines nach dem anderen zu dem Herren Joseph Schmalhöfe .
Er beschaute sie mit großer Verwunderung ; sie sahen auch wunderbar genug aus .
Die große kecke Zeichnung , die ohne Ende durch alle die Fragmente ging , die starken Federstriche und breiten Tuschen erschienen auf den kleineren Bruchstücken doppelt groß und gaben ihnen als Teilen eines unbekannten Ganzen einen geheimnisvollen fabelhaften Anstrich , so daß der Alte sich nicht zu helfen wußte und wiederholt fragte , ob das auch etwas Rechtes sei ?
Ich machte ihm aber weiß , das müßte so sein , die Blätter könnten zusammengesetzt werden und machten alsdann ein großes Bild ; sie hätten indessen auch einzeln für sich ihre Bedeutung , und es sei auf jedem etwas zu sehen , kurz , ich drehte ihm zum Spaß eine Nase und dachte mir dabei , wenn sie ihm auch auf dem Halse blieben , so sei das nur eine kleine Einbuße an dem Gewinne , den er von mir gezogen .
Das Trödelgreischen rieb sich verlegen das Bein , welches mit einer juckenden Flechte behaftet war , ließ aber die sibyllinischen Bücher nicht fahren , sondern verkaufte sie eines Tages alle miteinander , ohne daß ich erfuhr , wohin sie gekommen .
Als ich den Ertrag dieses letzten Verkaufes aufgebraucht hatte , war mein Latein für einmal wieder zu Ende .
Versuchsweise ging ich zu dem Bild- und Kleiderhändler , um nach den zwei Ölbildern zu sehen .
Sie hingen an der alten Stelle , und ich bot sie dem Manne zu Eigentum an auch für den bescheidensten Preis , den er ansetzen würde .
Er war jedoch nicht geneigt , irgend etwas Bares dafür auszulegen , und ermunterte mich zur Geduld , wobei ich ja ein besseres Geschäft machen werde .
Ich war das auch zufrieden und hatte somit immer noch eine kleine Hoffnung in der Welt hängen und einen schwebenden Handel .
Von da ging ich weiter und kehrte bei meinem Schmalhöfe an , ihm einen guten Tag zu wünschen .
Er blickte mir sofort auf die leeren Hände ; ich sagte jedoch , ich hätte nichts mehr zu veräußern .
" Nur munter , Freundchen ! " rief er und nahm mich bei der Hand ; " wir wollen sogleich eine Arbeit beginnen , die sich sehen lassen wird ! letzt sind wir gerade auf dem rechten Punkt , da darf nicht gefeiert werden ! "
Und er führte und schob mich in ein noch dunkleres Verlies , das hinter dem Laden lag und sein Licht nur durch eine schmale Schießscharte empfing , die in der feuchten schimmligen Mauer sich auftat .
Nachdem ich mich einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt , erblickte ich das Gewölbe angefüllt mit einer Unzahl hölzerner Stäbe und Stangen , ganz neu , rund und glatt gehobelt , von allen Größen , lastweise an den Wänden stehend .
Auf einer uralten Feueresse , dem Denkmal irgendeines Laboranten , der vielleicht vor hundert Jahren hier sein Wesen getrieben , stand ein Eimer voll weißer Leimfarbe inmitten mehrerer Töpfe mit anderen Farben , jeder mit einem mäßigen Streicherpinsel versehen .
" In vierzehn Tagen " , lispelte und schrie der Alte abwechselnd , " wird die Braut des Thronfolgers in unsere Residenz einziehen !
Die ganze Stadt wird geschmückt und verziert werden , Tausende und Abertausende von Fenstern , Türen und Gucklöchern werden mit Fahnen in unseren und den Landesfarben der Braut besteckt ; Fahnen von jeder Größe werden die nächsten zwei Wochen die gesuchteste Ware sein !
Schon ein paarmal habe ich die Unternehmung bestanden und ein gut Stück Geld verdient .
Wer der erste , Schnellste und Billigste ist , hat den Zulauf .
Darum frisch dran hin , keine Zeit ist zu verlieren !
Habe mich schon vorgesehen und Stöcke machen lassen , weitere Lieferungen sind bestellt , das Zuschneiden des Tuches und das Nähen wird ebenfalls beginnen .
Ihr aber , Freundchen , seid wie vom Himmel ausersehen , die Stangen anzustreichen !
Bst ! nicht gemuckst !
Hier für diese großen gebe ich einen Kreuzer das Stück , für diese kleineren einen halben ; von diesen ganz kleinen aber , welche für die Mauslöcher und Blinzelfensterchen der armen Reichsleute und Untertanen bestimmt sind , müssen vier Stück auf den Kreuzer gehen !
Jetzt aber merkt auf , wie das zu machen ist , alles will gelernt sein ! "
Er hatte schon mehrere Stänglein halb und ganz vorgearbeitet ; nachdem der Stecken mit der weißen Grundfarbe bestrichen , welche für beide Königreiche dieselbe war , wurde er mit einer Spirallinie von der anderen Farbe umwunden .
Der Alte legte eine der grundierten Stangen in die Schießscharte , hielt sie in der linken Hand waagrecht , und indem er , den Pinsel eintauchend , mich aufmerksam machte , wie dieser weder zu voll noch zu leer sein dürfe , damit eine sichere und saubere Linie in einem Zuge entstände , begann er die Stange langsam zu drehen und von oben an die himmelblaue Spirale zu ziehen , womöglich ohne zu zittern oder eine unvollkommene Stelle nachholen zu müssen .
Er zitterte aber doch , auch geriet ihm der weiße Zwischenraum und die Breite der blauen Linie nicht gleichmäßig , so daß er das misslungene Werk wegwarf und rief : " Item ! auf diese Art wird_es gemacht !
Eure Sache ist es nun , das Ding besser anzugreifen ; denn wozu seid Ihr jung ? "
Ohne mich einen Augenblick zu besinnen , ergriff ich einen Stab , legte ihn auf und versuchte neugierig die seltsame Arbeit , und bald ging sie gut vonstatten .
Eifrig fuhr ich fort , bis um die Mittagszeit ; als ich da aus dem Finsterloche hervortrat , fand ich den Alten zwischen drei oder vier Nähterinnen hausend , denen er das Fahnenzeug zumaß und hundert Lehren erteilte , wie sie zwar nicht liederlich , doch auch nicht zu gut nähen sollten , sondern so , daß die Arbeit rüstig vorrücke und die Fahnen dennoch zusammenhielten , wenn sie im Winde flatterten , ohne daß sie hinwiederum eine Ewigkeit zu dauern brauchten .
Die Weiber lachten , und ich lachte auch , als ich hindurchging und das Männchen mir nachrief , in einer Stunde unfehlbar wieder dazusein .
Das geschah , und ich brachte die folgenden Tage bis ans Ende mit der neuen Beschäftigung zu .
Draußen glänzte anhaltend der lieblichste Spätsommer ; Sonnenschein lag auf der Stadt und dem ganzen Lande , und das Volk trieb sich bewegter als sonst im Freien herum .
Der Laden des Meister Joseph war fortwährend angefüllt mit Leuten , welche Fahnen holten oder bestellten , mit zuschneidenden und nähenden Mädchen , mit Tischlern , die frische Stangen brachten ; der Alte regierte und lärmte in bester Laune dazwischen herum , nahm Geld ein , zählte Fahnen , und ab und zu kam er in das Finsterloch herein , wo ich mutterseelenallein in dem blassen Lichtstrahl der Mauerritze stand , den weißen Stab drehte und die ewige Spirale zog .
Er klopfte mir dann etwa sachte auf die Schulter und flüsterte mir ins Ohr : " So recht , mein Sohn !
Dies ist die wahre Lebenslinie ; wenn du die recht akkurat und rasch ziehen lernst , so hast du vieles erreicht ! "
In der Tat fand ich in dieser einfachen Beschäftigung allmählich einen solchen Reiz , daß mir die in dem Loch zugebrachten Tage wie Stunden vergingen .
Es war die unterste Ordnung von Arbeit , wo dieselbe ohne Nachdenken und Berufsehre und ohne jeglichen anderen Anspruch als denjenigen auf augenblickliche Lebensfristung vor sich geht ; wo der auf der Straße daherziehende Wanderer die Schaufel ergreift , sich in die Reihe stellt und an selbiger Straße mitschaufelt , solang es ihm gefällt und das Bedürfnis ihn treibt .
Unablässig zog ich das gewundene Band , rasch und doch vorsichtig , ohne einen Klecks zu machen , einen Stab ausschießen zu müssen oder einen Augenblick durch Unschlüssigkeit oder Träumerei zu verlieren , und während sich die bemalten Stäbe unaufhörlich häuften und weggingen , während ebenso beständig neue ankamen , wußte ich doch jeden Augenblick , was ich geleistet , und jeder Stecken hatte seinen bestimmten Wert .
Ich brachte es so weit , daß der ganz verblüffte Joseph mir schon am dritten Abend nicht weniger als zwei Kronentaler als Tagelohn auszahlen mußte , mehr , als er mir für die beste Zeichnung gegeben hatte .
Erst sperrte er sich dagegen und schrie , er habe sich verrechnet , es sei nicht die Meinung gewesen , daß ich so viel an dem Zeug verdienen solle !
Ich dagegen verstand keinen Spaß und beharrte auf der Abrede mit der Behauptung , die erworbene Fertigkeit ginge ihn nichts an und er solle froh sein , wenn er dank derselben so viele Fahnen liefern könne ; genug , ich fühlte mich hier ganz auf einem sicheren Grunde und schüchterte das Männchen dermaßen ein , daß es sich schleunig zufriedengab und mich aufforderte , nur so fortzufahren , die Sache sei bestens im Gange .
Er hatte auch einen gewaltigen Zulauf und versorgte einen guten Teil der Stadt mit seinen Huldigungspanieren .
Ich aber drehte unverdrossen den Stab und durchwanderte mit meinen Gedanken auf der unablässig sich abwickelnden blauen Linie eine Welt der Erinnerung und der Ausschau in die Zukunft .
Ich hatte nicht im Sinne , zugrunde zu gehen , und konnte doch nicht den Ausgang sehen , der ja unzweifelhaft vorhanden war , da der Glaube an eine göttliche Weltordnung mir nach wie vor im Blute wohnte , wenn ich mich auch in acht nahm , abermals die Angel nach einem kleinen Gebetswunder auszuwerfen .
Zuletzt begnügte ich mich mit dem Bewußtsein der unmittelbaren Sicherheit , daß ich für diesen und eine Reihe von Tagen ja zu leben habe .
Ein ledernes Geldbeutelchen , das ich mir nach Art der Fuhr- und Schiffleute angeschafft , hervorziehend , überzeugte ich mich , wie der bescheidene Schatz von Silberstücken , der wohlverschnürt darin ruhte , sich zusehends vermehrte .
Bis jetzt hatte ich das Geld immer offen in der Westentasche getragen ; als ein angehender Geldhamster nahm ich mir nun vor , nie mehr ohne Beutel zu wirtschaften , und setzte eifrig meine ruhmlose und zufriedene Arbeit fort .
Am Abend suchte ich dann irgendein entlegenes Gasthaus , setzte mich unter unbekanntes Volk und verzehrte ein spärliches Nachtmahl , welches ich , in meinem Beutel herumklaubend , bedächtig und vorsichtig bezahlte als einer , der weiß , woher es kommt .
Endlich war indessen der Einzugstag herangerückt .
Noch in der letzten Stunde kamen einzelne ärmere oder knauserige Leute , ein Fähnchen oder zwei nach reiflichem Entschluss zu holen , und feilschten um den Preis ; dann wurde der Laden still und leer , der Alte zählte seine Einnahme , und vollauf damit beschäftigt , forderte er mich auf hinauszugehen , den festlichen Einzug der künftigen Herrscherin mit anzuschauen und mir gütlich zu tun .
" Sie machen sich wohl nichts daraus , wie ? " fügte er hinzu , als er sah , daß ich keine besondere Lust bezeigte ; " sehen Sie , so wird man gesetzt und klug !
Schon weiser geworden in der kurzen Zeit , bei der alten Feueresse !
So muß es kommen !
Aber geht dennoch ein bißchen hinaus , Lieber , und wäre es nur , um die schöne Luft und die Sonne zu genießen ! "
Das fand ich billig und ratsam ; ich durchstrich die Stadt , die sich mit einem Schlage ganz in Farben , Gold und grünes Laub gehüllt hatte , daß es von allen Enden flatterte und schimmerte .
Durch die Straßen wogte eine ungezählte Menschenmenge , glänzende Reiterzüge , Fußvolk , Zünfte , Korporationen und Bruderschaften mit allen möglichen seltsamen Fahnen bewegten sich dem Tore zu , und außerhalb desselben , das ich mit durchschritt , ergoß sich dieses Freudenheer nach dem Weichbilde hin auf das freie Feld , in eine Volksmenge hinein , die es schon besetzt hielt , da Bauerschafte , ländliche Schulen , Schützen aus weitem Umkreise herangezogen waren .
Dazwischen drängte sich ebenso zahlreich das zuschauende Publikum , mit welchem ich mich schieben ließ .
Plötzlich ertönte Geschützdonner , Glockengeläute über der weitgedehnten Stadt ; Musikchöre , Trommelschlag und der betäubende Zuruf des Volkes verkündeten , daß die erwartete Fürstin herannahe .
Ich sah im Glanze der Nachmittagssonne die Schwerter der Voranrasselnden Reiter blinken und darauf in einem Blumenwagen das junge Frauenwesen vorüberschweben über den Köpfen der wogenden Menge , wie in einem Schiffe , das über ein rauschendes Meer gleitet , da ich weder Pferde noch Räder sehen konnte .
Erst erfreute mich das ungeheure Geräusch , dann aber belästigte es mich als etwas Fremdes und erweckte meine republikanische Eifersucht gegen die Macht eines monarchischen Lebens , mit dem ich nichts zu schaffen hatte , an welchem ich nichts mehren und nichts minderen konnte .
Freilich hast du geschafft und gemehrt ! rief in mir die Stimme des politischen Gewissens , du hast seit Wochen davon gelebt und trägst sogar den Sündenlohn noch in der Tasche !
So habe ich wenigstens nicht auf diese Untertanen geschossen , erwiderte die Selbstbeschönigung , wie so oft die Schweizergarden im Fürstendienste getan haben ; und in diesem Augenblicke stehen noch vollzählige Regimenter am Fuße von Thronen , die schlechter sind , als der hier gefeiert wird !
Die Vorstellung der Schweizerregimenter in fremden Diensten brachte wieder eine andere Phantasie hervor ; ich sah im Geiste die mehreren Tausende der von mir gesprenkelten Fahnenstecken gleich einem unabsehbaren Zaune aufgestellt und mich als den Feldhauptmann der hölzernen Armee mitten vor derselben stehend , den ledernen Geldbeutel in der Hand .
Der Vergleich dieses Ehrenpostens mit demjenigen eines weiland schweizerischen Marschalls im französischen oder hispanischen Heere schien zu mei einen Gunsten auszufallen , da wenigstens kein Tropfen Blut daran klebte .
Mein Bewußtsein erheiterte sich wieder , sprach sich frei , und ich marschierte an der Spitze des Gewalthaufens meiner unsichtbaren Stangengeister durch die langsam zurückflutenden Massen nach der Stadt zurück .
Gemächlich wandelte ich nun durch die geschmückten Straßen und besah mir alle Zierwerke und Veranstaltungen genauer ; dann ging ich mit dem sinkenden Abend wieder hinaus , wo alle Trinkstätten und Tanzgärten angefüllt waren .
Ich hielt mich aber nirgends auf , bis ich mit aufgehendem Monde zu einer mit hundertjährigen Silberpappeln bewachsenen Flußinsel kam , in deren Mitte ein volkstümliches Zech- und Tanzgebäude hell erleuchtet war und von Geigen , Pauken und Trompeten tönte .
Da suchte ich ein einsames Plätzchen unter den Bäumen und möglichst nah am Wasser , dessen fließende Wellen im Mondlichte glänzten .
Andere hatten jedoch den gleichen Geschmack , und so ging ich vergeblich an manchen Tischen vorbei ; zuletzt mußte ich mich entschließen , an einem Platz zu nehmen , an welchem schon Leute saßen , einige junge Frauenzimmer mit ihren Freunden oder Verwandten .
Das Halbdunkel der hohen Bäume war durch eine bunte Papierlaterne etwas erhellt , aber nicht genug , daß das mondbeschienene Wasser um seine freundliche Wirkung ge kommen wäre und das Gestirn matter durch die liste gefunkelt hätte .
Als ich , leicht den Hut rückend , mich niederließ , versicherten mich zwei der Mädchen , die zunächst saßen , mit schalkhaftem Lächeln , es sei für einen guten Bekannten und Arbeitsgenossen Raum genug vorhanden , und erst jetzt erkannte ich in ihnen zwei der Fahnennäherinnen aus Schmalhöfers Laden .
Sie hatten sich gar anmutig herausgeputzt , und ich war überrascht , so hübsche Geschöpfe in ihnen zu finden , die ich während der ganzen Zeit kaum angesehen und gegrüßt , wenn ich durch den Laden in das finstere Loch ging oder aus demselben kam .
Die ältere von ihnen stellte mich der Gesellschaft , welche aus jungen Arbeitsleuten verschiedener Profession zu bestehen schien , als Standesgenossen vor ; denn sie hatten auch von dem Alten meinen Namen erfahren .
Man hielt mich offenbar für einen wackeren Tünchergesellen ; die jungen Männer boten mir treuherzig ihre Bierkrüge dar , ich tat Bescheid , versah mich selbst mit einem Kruge , und froh , nach langer Einsamkeit unter Menschen zu sein , überließ ich mich der einfachen Geselligkeit , ohne meinen etwas höheren Rang zu verraten , was mir auch übel angestanden hätte .
Der kleine Kreis bestand aus drei Liebespaaren , an der Art kenntlich , wie sie sich unbefangen umfaßt hielten .
Zwischen Hoffnung und Furcht schwebend , dauernd verbunden oder wieder getrennt zu werden , verloren sie keine Zeit , sich ihrer Gegenwart zu versichern .
Ein viertes Mädchen schien überzählig zu sein ; denn es saß ohne Galan zunächst an meiner Seite , vielleicht wegen zu großer Jugend , da es höchstens siebzehn Jahre alt sein mochte .
Ich hatte die glänzenden Augen der Kleinen im Trödlerladen schon bemerkt , weil sie immer aufgeblickt , wenn man durchging .
Jetzt sah ich auch ihre außerordentlich feine Gestalt , in einen ziemlich feinen weißen Sonntagsshawl gehüllt ; auf dem Tische lag die zierlichste kleine Hand , deren zarte Fingerspitzen freilich von unzähligen Nadelstichen eine rauhere Haut bekommen hatten , und rechnete man hinzu das weiche braune Haar , das unter dem luftigen Hütchen hervorquoll , sowie das Licht des jungen Busens , wenn das helle Tuch sich einen Augenblick lüftete , so erschien hier im Schatten der Armut ein Schatz von Reizen verborgen , wie ihn mancher Reichtum vergeblich wünschte .
Selbst die Blässe des Gesichtes , deren ich mich zu erinnern glaubte , diente jetzt einem Lichtspiele zur Unterlage , indem bald der rötliche Schimmer der im Luftzuge schwankenden Papierlaterne , bald der silberbläuliche Abglanz des Flusses darüberflog und zusammen mit dem Lächeln ihres Mundes , wenn sie sprach , ein geheimnisvolles Leben und Weben bildete .
Zum Überflusse hieß sie noch Hulda .
Ich fragte sie , ob sie wirklich so heiße oder ob sie den Namen bloß angenommen habe , wie das bei Frauenzimmern des arbeitenden und dienenden Standes , dem wir angehörten , zuweilen vorkomme ?
" Nein " , erwiderte sie , " ich habe den Namen nebst vier anderen von meinen Eltern bei der Taufe erhalten .
Es sind arme Schustersleute gewesen , die bei meiner Taufe weder einen Schmaus auszurichten noch solche Paten herbeizuziehen vermochten , von denen irgendein Angebinde zu hoffen war .
Weil sie nun dennoch einen gewissen vornehmen Tick besaßen , so statteten sie mich dafür mit fünf Namen aus .
Ich habe sie aber alle abgeschafft bis auf den kürzesten ; denn da unsereins immer zu den Behörden laufen muß , um seine Beschreibung in Ordnung zu erhalten , so wurde ich von den Beamten jedesmal angefahren , ob meine Namen bald zu Ende seien oder ob sie vielleicht einen neuen Bogen anbrechen müßten , um sie alle aufzuschreiben . "
" Und Sie haben doch den schönsten von den fünf Namen behalten ? " sagte ich , von dem Ernste belustigt , mit welchem sie die Geschichte erzählte .
" Nein , nur den kürzesten !
Die anderen waren alle länger und prachtvoller !
Aber Sie tragen ja zuviel Geld bei sich herum , das muß man nicht tun ! "
Ich hatte meinen wohlgerundeten Geldbeutel auf den Tisch gestellt , um einen neuen Krug Bier zu zahlen , den man mir brachte , da ich durstig gewesen und mit dem ersten schon fertig geworden .
" Das ist mein Verdienst von den Fahnenstangen " , sagte ich , " ich werde es schon versorgen , wenn ich es nicht brauche ! "
" Himmel !
So viel haben Sie bei dem Alten verdient ?
Und ich habe es kaum auf vierzehn Gulden gebracht ! "
" Ich habe es vom Stück , da kann man sich an den Laden legen und dem Patron die Nase lang machen ! "
" Hört , Leute , der hat_es vom Stück ! " rief sie den anderen zu , " der verdient ein Geld !
Wo stehen Sie eigentlich in Arbeit ? oder sind Sie für sich ? "
" Ich bin augenblicklich ohne Meister und denke es zu bleiben , solang es geht . "
" Es wird gewiß gehen , denn fleißig sind Sie ja von früh bis spät , das haben wir gesehen und oft zueinander gesagt !
Wenn er nur nicht so hochmütig wäre , meinten die anderen , aber ich hielt dafür , Sie seien eher traurig oder langweilig .
Haben Sie denn schon zu Nacht gegessen ? "
" Noch nicht !
Und Sie ? "
" Auch noch nicht !
Wissen Sie was , da ich allein bin , so könnten wir zusammenlegen und miteinander essen , dann stellen wir auch ein Bärlein vor ! "
Ich fand diesen Vorschlag sehr angenehm und klug und wurde von einem Wohlgefühl erwärmt , unversehens so gut untergebracht zu sein .
Ich lud die artige Hulda daher ein , mir das Traktament zu überlassen ; allein sie tat es durchaus nicht anders als auf gemeinschaftliche Kosten , und als das bestellte Essen anlangte , holte sie ein anständig versehenes Täschchen hervor und ruhte nicht , bis ich ihren Anteil hinnahm .
So spießen wir denn vertraulich und waren guter Dinge ; nur wollte das anziehende Wesen nicht von den Kartoffeln nehmen , die ich zu den Karbonaten , die sie gewünscht , bestellt hatte .
Vielmehr sagte sie , es scheine , daß ich noch nie einen Schatz besessen , ansonst mir bekannt wäre , daß Arbeitsmädel , wenn sie feiertags zum Vergnügen gehen , keine Kartoffeln essen wollen .
Wie ich das wissen könne , fragte ich , und was denn das für ein Geheimnis sei ?
" Weil sie die Woche hindurch sich fast nur von Kartoffeln nähren und davon genug bekommen ! " erklärte sie .
Ich drückte mein Mitleid aus , ohne zu gestehen , daß ich schon schlechtere Tage gesehen ; denn das hätte mir ihre Achtung schwerlich erworben , wie ich wenigstens dachte .
Inzwischen war von der übrigen Gesellschaft bald das eine , bald das andere Paar zu einem Tanze in den Saal gegangen und wieder erschienen , wodurch unser Tisch abwechselnd leer oder wieder bevölkert wurde .
Unerwartet kehrten jetzt zwei Paare in höchster Aufregung zurück und setzten am Tische einen Streit fort , der im Saale ausgebrochen sein mochte .
Das eine der Mädchen weinte , die andere schalt , und die dazugehörigen jungen Männer hatten zu tun , den Sturm zu besänftigen und allerlei Angriffe von sich selbst abzuhalten .
" Da ist die Geschichte wieder los ! " sagte Hulda ; sich dicht an mich schmiegend , erzählte sie mir mit gedämpfter Stimme , das sei eine Liebschaft übers Kreuz .
" Die eine hier hatte nämlich früher den anderen zum Schatz und die andere diesen jetzigen ; dann haben sie alle vier , hast du nicht gesehen , gewechselt , und es hat diese jenen und jene diesen zum Liebsten .
Aber alle Fronfasten gibt es ein jammervolles Gewitter , daß beinahe die Welt untergeht .
Ein so überzwerches vierspänniges Zeug tut halte nicht gut , es dürfen nur zwei bei einer Sache sein ! "
" Aber warum gehen sie denn zusammen , anstatt sich auszuweichen ? "
" Das weiß Gott warum !
Immer Laufens an die gleichen Orte hin und hocken beieinander , wie wenn sie behext wären ! "
Ich war ebenso verwundert über das Phänomen wie Über die Reden meiner blutjungen Freundin .
Der Streit , der sich um unverständliche , scheinbar nichtige Dinge drehte , wurde zuletzt so erregt , daß das dritte Liebespaar , welches im Frieden lebte , sich einmischte und mit Mühe einen Waffenstillstand zuweg brachte .
Die Krüge , aus denen je zwei der Leutchen tranken , wurden neu gefüllt .
Die streitbaren Mädchen schmollten jedoch nicht nur unter sich , sondern auch mit ihren Geliebten .
Die Unparteiischen schritten abermals ein , und es wurde auf Huldas Vorschlag beschlossen , die zwei Paare sollten zur gewaltsamen Bezwingung aller Eifersucht und Unfriedfertigkeit einmal wieder jedes mit dem früheren Gesponsen tanzen und keines dürfe dazu scheel sehen .
Das wurde denn auch ausgeführt ; die ausgetauschten Paare kamen nach einem langen Tanze zurück , jedes der Mädchen am Arme seines alten Genossen ; allein statt sich nun wieder zu trennen , nahmen beide neu ausgewechselten Parteien ihre Sachen zusammen und zogen , ohne ein Wort zu sagen , auf verschiedenen Wegen von dannen .
Ganz verblüfft blickten wir Zurückbleibenden ihnen nach , bis sie verschwanden , und brachen dann in ein helles Gelächter aus .
Nur Hulda schüttelte den Kopf und sagte : " Das Lumpenvolk ! "
In der Tat hatten sie in dem Tanze nicht die gehoffte sittliche Ausgleichung , sondern lediglich einen neuen Anreiz ihrer Willkür gefunden und mochten sich nun beeilen , nach so langer Trennung die Lustbarkeiten einer Wiedervereinigung zu genießen .
Bevor ich mich von meinem Erstaunen über die freien Sitten dieses einfachen Völkchens erholt hatte , fühlte ich die weiche Hand des jungen Mädchens auf der Schulter , das endlich auch einen Tanz zu tun begehrte .
Obgleich ich nicht daran gedacht , dergleichen Belustigung zu suchen oder zu finden , mußte ich dennoch willfahren , da sie das als selbstverständlich ansah , auch Hut und Schal schon der Freundin anvertraute , die mit ihrem Gesellen noch da war .
Erst im Lichte des Tanzsaales , in der freien Bewegung sah ich vollends , wie hübsch sie war .
Aber bald sah ich sie nicht mehr , sondern fühlte nur noch ihre leichte Last , weich wie eine Flaumfeder , wenn sie einem Geiste gleich dahinflog .
Mußten wir aber anhalten , so sah ich bloß die wohlwollend warmen Augen und das zufriedene Lächeln ihres Mundes , während sie mir die gelockerte Halsbinde ordnete oder mich aufmerksam machte , daß am Hemde ein Knopf fehle .
Ein heißes Leben schien in dem zartgegliederten Geschöpfe zu atmen und sich als hingebende Güte zu äußeren für alles , was ihm nahetrat .
Eine mir rätselhafte Zärtlichkeit begann das Wesen von den Augen bis in alle Fingerspitzen zu überwallen , ohne mit einer Spur von falscher Schmeichelei oder gar Gemeinheit vermischt zu sein ; vielmehr war ihr Regen und Bewegen bei alledem so in anmutige Bescheidenheit gehüllt , daß in dem Gedränge der Tanzenden keine Seele etwas davon wahrnahm .
Und doch schien sie nicht der mindesten Vorsicht oder Selbstbeherrschung zu bedürfen .
Als durch das Ungeschick einiger Leute der Tanz ins Stocken geriet und Hulda an mich gedrückt wurde , verspürte sie meine klopfenden Pulse , legte die Hand an meine Brust , nickte mit großer Freundlichkeit und sagte : " Lassen es schaun , haben es wirklich ein Herz ? "
" Ich glaube , ja ! " antwortete ich und sah das liebreizende , ganz nahe Gesicht mit offenem Munde an .
Sie nickte nochmals , und wir wollten in dem wieder gelösten Tanzwirbel dahinfahren , als Huldas Freundin uns fand , anhielt und ihr Hut und Tuch mit der Ankündigung übergab , sie wolle jetzt heimgehen , da sie in der Frühe wieder zur Arbeit müsse .
" Auch ich muß um sieben Uhr dahinter sein ! " rief Hulda lachend ; " denn ich habe wegen der Fahnenschneiderei meine gewohnte Kundschaft vertröstet und soll_es nun nachholen !
Aber ich mag doch nicht gleich jetzt nach Hause ! "
" Nun , du kannst ja noch ein Weilchen bleiben " , sagte die andere , " unser guter Bekannter und Freund geleitet dich nachher schon sicher heim , nicht wahr , Sie sind so gut , Herr Stangenmacher ? "
Ich versprach gern , den Dienst zu übernehmen , worauf das letzte der Liebespaare sich verabschiedete , Hulda dagegen mit mir an den verlassenen Tisch zurückkehrte .
Wir saßen nun allein unter den Silberpappeln ; der Mond stand hoch am Himmel , uns daher nur noch durch den grauen Schimmer bemerkbar , der in den obersten Gewölben der Baumkronen lagerte ; unten war es ziemlich dunkel , denn auch der Fluß glänzte nicht mehr an jener Stelle , und die Laterne war erloschen .
" Da wollen wir noch ein klein wenig ausruhen und dann auch gehen ! " sagte sie und lehnte sich ohne Bedenken in meinen Arm , den ich um ihre Hüften legte .
Ich zog indessen den Arm zurück , um ein Glas Punsch oder heißen Wein herbeizuschaffen .
Allein sie verhinderte mich und stellte selbst die alte Lage wieder her .
" Nicht trinken ! " sagte sie leis , " die Liebe ist eine ernstliche Sache und will nicht betrunken sein , auch wenn sie nur Scherz ist ! "
" Was wissen Sie denn schon so viel von Liebe , schönstes Kind , das ja in der Tat fast noch ein Kind ist ? "
" Ich ?
Gerade siebzehn Jahre bin ich !
Seit fünf Jahren stehe ich ganz einzig in der Welt und habe mich jeden Tag , vom zwölften Jahr an , mit Arbeit ehrlich erhalten und viel erfahren .
Darum lieb ich die Arbeit , sie ist mir Vater und Mutter !
Und nur eines gibt_es , das ich ebenso liebhabe , nämlich die Liebe .
Eher sterben als nicht lieben ! "
" Ei , du süßes Zuckerbrot ! " sagte ich und suchte den rosigen Mund zu erkennen , welcher solche Worte hervorbrachte .
" Bin ich ? " flüsterte Hulda ; " glaubten Sie , ich sei von dem Holz , aus welchem man Essig macht ?
Schon zwei Liebhaber sind in diesem Herzen gewesen ! "
" Himmel , schon zwei !
Wo sind sie hin ? "
" Nun , der erste war noch zu jung und hier in der Fremde ; der mußte weiterwandern und hat mir dann geschrieben , daß er in der Heimat ein Liebchen habe , das er einst heiraten werde .
Da gab es Tränen ; aber das konnte mir nicht helfen .
Dann kam der zweite , der wollte aber nicht arbeiten , und ich mußt ihn beinahe ganz erhalten ; das ging nicht auf die Dauer , auch schämt ich mich für ihn und ließ ihn laufen !
Denn wer nicht arbeitet , soll nicht nur nicht essen , sondern braucht auch nicht zu lieben ! "
" Und läuft dieser hier in der Stadt herum ? "
" Leider nicht , denn er ist eingesperrt , weil er etwas Schlechtes verübt hat , als ich ihm nichts mehr gab .
Darüber habe ich mich so geschämt und gegrämt , daß ich ein halbes Jahr lang niemand anzusehen wagte ! "
" Aber jetzt kann es wieder angehen ? "
" Gewiß !
Wer wollte sonst leben ? "
Ich wurde immer verwirrter , das jugendliche Geschöpf mit solchem Bewußtsein , solcher Bestimmtheit und Leichtfertigkeit sprechen zu hören , eine so zarte , zerbrechliche Existenz sich erklären zu hören , daß sie in Arbeit und Liebe aufgehe und sonst nichts von der Welt begehre .
Und doch war es wiederum wie eine Erscheinung aus der alten Fabelwelt , die ihr eigenes Sittengesetz einer fremden Blume gleich in der Hand trug .
Es wurde mir zu Mut , als ob eine wirkliche Huldin sich aus der Luft verdichtet hätte und mit warmem Blute in meinen Armen läge .
Unser Reden war bereits ein leises Kosen geworden ; nach einem Weilchen flüsterte sie mir zu :
" Und wie steht es denn mit Ihnen ?
Sind Sie frei ? "
" Leider ganz und gar seit Jahren ! "
" Nun denn , so lassen Sie uns ganz still und gemächlich eine Bekanntschaft anfangen und ruhig sehen , wohin sie uns führt ! "
Diese prosaisch gemeinen Gewohnheitsworte sagte sie aber mit der Stimme und dem Ausdrucke eines Mägdleins , das sein erstes Geständnis preisgibt , oder gewissermaßen mit dem Tone eines jener unsterblichen Wesen , das die Gestalt einer armen Dienstmagd angenommen hat , um in ewiger Jugend und Neuheit einen Liebeshandel zu eröffnen .
Freilich lag hierin auch die Sicherheit , daß sie über meinen Verlust ebenso unbeschädigt zur Tagesordnung gehen würde wie über jeden anderen .
Das fühlte ich deutlich und suchte dennoch ihre kleine Hand und ihren Mund , der mir mit ambrosischer Frische entgegenkam , so rein und duftig wie eine aufgehende Rose .
" Nun wollen wir gehen ! " sagte sie ; " wenn Sie so gut sein wollen , mich bis zu meiner Wohnung zu begleiten , so sehen Sie das Haus .
Sonnabends kommen Sie so um die neun Uhr vor dasselbe , und wir reden alsdann ab , was wir sonntags beginnen wollen .
Die Woche durch aber schaffen wir still und zufrieden drauflos !
O wie lieb ist die Arbeit , wenn man dabei an was Liebes zu denken hat und sicher ist , am Sonntag mit ihm zusammen zu sein .
Und wenn wir erst so weit sind , daß wir im Stübchen bleiben und uns zusammentun , so mag es regnen und stürmen , wir sitzen ruhig und lachen den Himmel aus ! "
" Aber woher weißt du denn , du gutes liebes Kind , daß alles so erwünscht ausfallen und gehen wird , was mich betrifft ?
Woher kennst du mich denn ? "
" Da sei ohne Sorge , ich kenne dich schon so ein wenig , und etwas wagen muß das Herz und früh auf sein , wenn es leben will !
Wenn du wüßtest , was ich schon gesehen und erfahren habe !
Und wenn es dir an Arbeit fehlen sollte , so kann ich sie dir verschaffen , ich komme weit herum und höre und sehe mehr , als mancher glaubt ! "
Sie hatte sich an meinen Arm gehängt und ging fest und munter neben mir her , ein kleines Liebeslied summend und immer dasselbe wiederholend .
Ich traute meinen Sinnen kaum , mitten in der Not und Bedrängnis , in die ich geraten war , auf der vermeintlich dunkelsten Tiefe des Daseins so urplötzlich vor einem Quell klarster Lebenswonne , einem reichen Schatze goldenen Reizes zu stehen , der wie unter Schutt und dürrem Moose verborgen hervorblinkte und schimmerte !
Den Teufel auch ! dachte ich , das Völklein hat ja wahre Hörsälberge unter sich eingerichtet , wo der prächtigste Ritter keine Vorstellung davon hat ; wie es scheint , muß man selbst arm werden , um die Herrlichkeit zu finden !
" Was studieren Sie denn so fleißig ? " sagte Hulda , ihr Liedchen unterbrechend .
" Nun , ich betrachte mir eben das schöne Glück , das ich so unverhofft gefunden habe !
Darüber darf man doch ein bißchen erstaunt sein ? "
" Ei , was sind das für aufgeputzte Worte !
Wie aus einem Lesebuch !
Aber wenn ich es bedenke , so habe ich schon ein paarmal gemeint , du redest und tätest nicht wie ein richtiger Arbeitsgesell .
Du hast vielleicht schon bessere Zeit gehabt und eigentlich nicht ein Handwerker werden sollen ? "
" Ja , es ist so was !
Aber nun bin ich zufrieden , besonders heute ! "
" Komme , komme ! " sagte sie , umhalste mich und küßte mich mit süßester Innigkeit , daß ich wie im Rausche weiter mit ihr ging ; denn unser Weg war lang .
Ich hatte aber meine vorhinnigen Worte nicht gelogen , sondern setzte sie in Gedanken fort :
Warum sollst du nicht untertauchen in diese glückselige Verborgenheit , allem ideal- und ruhmsüchtigen Treiben entsagend ?
Warum solltest du nicht gleich morgen wieder solcher Arbeit nachgehen , wie du seit Wochen verrichtet hast , ein Arbeiter unter Arbeitern sein , deines bescheidenen Brotes jeden Tag gewiß und jeden Abend deine stille Ruhe findend an diesem zarten Busen , der einer so langen Jugend entgegenblüht ?
Schlichte Arbeit , goldene Liebe bei zufriedenem Brot , was willst du mehr !
Und kann am Ende nicht noch etwas Besseres dabei herauskommen , insofern es irgend zu wünschen ist ?
Als wir endlich vor der Haustüre der Hulda anlangten , war ich überzeugt , ein echtes und glückhaftes Abenteuer erlebt zu haben , und versprach , am nächsten Samstagabend unfehlbar dazusein .
Andere spät Heimkehrende verhinderten eine letzte Abschiedszärtlichkeit , und sie schlüpfte nach einigen höflichen Dankesworten für die Begleitung rasch neben jenen hinein .
Der Mond näherte sich seinem Untergange .
Ein starker Wind bewegte die Tausende von Fahnen in den stillgewordenen Straßen , daß es überall , in der Tiefe und auf der Höhe der Häuser und Türme , wallte und flatterte , wie von Geisterhänden bewegt .
Aber auch in meinem Inneren , durch alle Adern wogte und rauschte erst jetzt die erwachte Leidenschaft , wild und sanft , süß und frech zugleich , die Hoffnung , ja Gewißheit , in wenigen Tagen von einem Schatze geheimer Glücksgüter Besitz zu nehmen , die ich mir vor Stunden noch nicht hätte träumen lassen .
So kehrte ich in meine verödete Wohnung zurück , die ich seit der letzten Morgenfrühe nicht mehr betreten hatte .
Sechstes Kapitel Heimatsträume Der Tod war in dem Hause eingekehrt , in welchem ich wohnte ; ich mußte ihm sozusagen auf der Treppe begegnet sein .
Am Nachmittage war die Wirtin in die Wochen gekommen , und nun lag sie mit zerstörtem Leben in der matt erleuchteten Stube neben einem toten Kinde .
Ich mußte an der offenen Türe vorübergehen ; eine Wehmutter und eine Nachbarin räumten auf und beschwichtigten die weinenden Kinder , die aus ihrer Schlafkammer hervorgebrochen waren .
Auf einem Stuhle saß der kurz vor mir heimgekehrte Mann , der seit dem Mittage den Aufzügen und Lustbarkeiten nachgegangen und erst kurz vor mir angekommen , da man ihn an den gewohnten Orten nirgends hatte finden können .
Er übte seinen Beruf außer dem Hause auf mir unbekannte Art , und was er verdiente , brauchte er zum größten Teil für sich allein .
Die tote Frau war der Eckstein und die Erhalterin der Familie gewesen .
Nun saß der Mann wortlos , ratlos und bleich mitten in dem Jammer ; denn die Röte der herumschweifenden Heiterkeit war gründlich aus seinem Gesichte gewichen , und statt den Schlaf suchen zu können , mußte er wach bleiben , ohne zu nützen oder zu helfen .
Er betrachtete mit scheuem Blicke das in ein Tüchlein gewickelte undeutliche Wesen , welches in einem Getümmel von Schmerzen und Leiden vergangen war , noch ehe es den Tag gesehen .
Er schüttelte schaudernd den Kopf und schaute auf die Mutter ; die lag starr und teilnahmlos , wie es einer erfahrenen Toten geziemt ; weder Mann noch Kinder noch Nachbaren rührten sie ; selbst das Kleine an ihrer Seite ging sie nichts an , trotzdem sie vor kurzem noch ihr Leben für dasselbe geopfert hatte .
Die Kinder , welche während der Todesnot eingesperrt und vernachlässigt worden , hungerten und schrien mitten in ihren erbärmlichen Klagen um die Mutter nach Nahrung , bis der Mann sich aufraffte und mit gelähmten Gliedern herumtastete , wo die Frau die letzte Speise mochte besorgt oder gelassen haben .
Er sah sich unfreiwillig nach ihr um , als ob sie rufen müßte Dort gehe hin , da steht die Milch , dort liegt das Brot , in der Mühle steckt noch der Kaffee !
Sie sagte aber nichts .
Erschüttert trat ich dem Jammer näher und fragte , ob ich irgend etwas tun könne .
Eine der Frauen sagte , die Ärzte hätten die sofortige Überführung nach dem Leichenhause anbefohlen ; es wäre gut , wenn die Leichen gleich in der Frühe geholt würden , allein niemand sei da , wenn der Mann nicht hingehe , die Bestellung zu machen .
Ich anerbot mich , die Sache zu verrichten , und zog zehn Minuten später die Glocke an der Wachstube des Todes .
Nachdem ich dem Wächter das Nötige mitgeteilt , blickte ich durch eine Glastüre in den Saal , wo sie von allen Ständen und Lebensaltern ausgestreckt lagen , wie Marktleute , die den Morgen erwarten , oder Auswanderer , die am Hafenplatz auf ihren Siebensachen schlafen .
Darunter sah ich auch ein junges Mädchen auf Blumen ruhen .
Die kaum erblühte Brust warf zwei blasse Schatten auf das Totenhemd ; da erinnerte ich mich dessen , was ich in dieser Nacht schon erlebt und mir vorgenommen , und eilte , voll Zweifel und Unruhe , Schrecken und Müdigkeit , den Schlaf zu finden .
Derselbe war aber stürmisch bewegt und unerquicklich .
Bald von den traurigen Vorgängen im Hause geweckt , bald von halbwachen Traumbildern umfangen , in denen Lebendiges und Grabfertiges , buhlende Liebesworte und Totenklagen sich unablässig vermischten , atmete ich auf , als es Tag wurde und ich wenigstens meine Gedanken sammeln konnte .
Sie gerieten jedoch sofort miteinander in Streit ; denn als ich mich aufrichtete und , die Hand an der Stirn , mich besann , was eigentlich geschehen und was ich zunächst tun wollte , schwankte ich , ob ich vor den ernsten Todesschatten , die mich gewarnt , zurückweichen oder dem Liebesbild dennoch folgen solle , das mich in Gestalt der arbeitenden Armut lockte .
Die Verlockung blieb siegreich ; es schien mir gerade das Beste zu sein , an dem weichen Busen eines jungen Lebens Trost und Vertrauen und mich selbst wiederzufinden , und je ernster das Gewissen warnte , in solcher Lage den Liebeshandel anzufangen und ein so bedenkliches Bündnis einzugehen , desto reichlicher flossen die Gründe des Worthaltens , der Ehre und Tapferkeit für die Ausführung des Vorsatzes .
Ich beschloß sogar , das reizvolle Geschöpf schon am nächsten Abend aufzusuchen statt erst zu Ende der Woche , vorher aber den alten Trödler zu beraten , ob er mir ferner dergleichen anspruchlose Beschäftigung zuzuwenden wisse wie neulich .
So schritt ich mit lebensdurstigen Augen und Lippen aus der Trauerwohnung hinweg , aus welcher schon vor Stunden die Leiche der Mutter und ihres letzten Kindes fortgebracht worden .
Ich achtete nicht der verlassenen Kleinen , die bei offener Türe still an einem Häuflein saßen .
Wie ich dann aus dem Hause trat und die Straße hinuntereilte , stieß ich auf einen jungen Mann , der ein hübsches Frauenzimmer am Arme führte .
Beide waren wohlgekleidet in sauberer Reisetracht , augenscheinlich bemüht , eine Hausnummer zu finden , die sie auf einem Zettelchen vor sich hatten .
Der Mann kam mir bekannt vor , ohne daß ich in meiner Zerstreutheit etwas dabei dachte ; indem ich aber ausweichen wollte , sah er mich genauer an und sagte in den Lauten des Heimatdialektes :
" Da ist er ja !
Sind Sie nicht der Herr Heinrich Lee , den wir eben suchen ? "
Erfreut und erschrocken zugleich erkannte ich einen benachbarten Handwerksmann unserer Stadt , der vor Jahren ungefähr um die gleiche Zeit mit mir in die Fremde gewandert , längst zurückgekehrt und Meister geworden , sein väterliches Geschäft übernommen und ausgedehnt hatte und jetzt auf der Hochzeitsreise begriffen war .
Die machte er aber nicht ohne klügliche Nebenzwecke , da die wohlhabende Bürgerstochter , die er als Gattin am Arme führte , ihm die Mittel für alle ersprießlichen Unternehmungen zugebracht .
Er richtete mir mm die Grüße meiner Mutter aus , die er zu diesem Zwecke vor der Abreise besucht hatte .
Sie war mit einiger Beschämung gezwungen gewesen , dem Nachbaren zu gestehen , daß sie nicht einmal bestimmt wisse , wo ich sei oder ob ich noch am alten Orte wohne ; doch wünschte sie um so sehnlicher Nachricht zu erhalten .
Ich aber war ebenso verlegen , viel nach ihr zu fragen , weil ich dadurch verriet , daß ich nichts von ihr wisse ; doch widerstand ich dem Bedürfnisse nicht lang und fragte fleißig , was mich zu erfahren verlangte .
" Nun , wir sprechen noch von allem " , sagte der Landsmann , indem er mich aufmerksamer betrachtete .
" Ihr habt Euch aber doch ziemlich verändert , nicht wahr , Frau ?
Du hast doch den Herrn Heinrich früher auch gekannt ? "
" Ich glaube mich zu erinnern , obgleich ich damals noch ein Schulkind war ! " erwiderte sie , während mir ihre ausgewachsene Fraulichkeit als vollkommen fremd erschien .
Indessen fühlte ich , wie ihr Auge die geringe Pracht meines Anzuges überlief , der allerdings weder neu noch wohlgehalten war ; zum ersten Mal fühlte ich die Demütigung , schlecht gekleidet dazustehen , und noch verlegener wurde ich , als der Landsmann fragte , ob wir nicht in meine Wohnung hinaufsteigen wollten ?
Glücklicherweise diente mir der Todesfall zum Vorwand , daß es jetzt dort nicht wirtlich aussehe und ich selbst deswegen ausgegangen sei .
" So dürfen wir Sie einladen , den Tag mit uns zuzubringen ?
Wir sind schon gestern angekommen ; da habe ich aber Geschäfte besorgt .
Morgen früh reisen wir weiter , so werden Sie mit uns nicht eben viel Zeit verlieren ; denn wir möchten Sie in Ihren Arbeiten keineswegs aufhalten ! "
Der gute Landsmann ahnte nicht , wie schmerzlich mich diese Rede traf ; ich versicherte ihn jedoch , es habe keine Gefahr und ich sei nicht so übermäßig fleißig .
Nachdem ich sodann das Reisepaar während einiger Stunden herumgeführt , ging ich mit den Leutchen in das bürgerlich bescheidene Gasthaus , in welchem sie Quartier genommen , und teilte mit ihnen das Mittagsmahl .
Die langentbehrte Gewohnheit , in der Mundart des Heimatlandes und von altvertrauten Dingen zu reden , ließ mich die Gegenwart um so leichter vergessen , als eine Flasche guten Rheinweines ihren Duft verbreitete .
Das ruhig freundliche Benehmen des Paares , das durch keinerlei lästige Zärtlichkeiten seinen neuen Ehestand verriet , vermehrte das Behagen , welches mich wie ein flüchtiger Sonnenblick überkam aus schwül bewegtem Wolkenhimmel .
Als nun der Landsmann eine zweite Flasche bestellte und die übrigen Gäste die Wirtstafel verlassen hatten , zog sich die junge Frau in ihr Zimmer zurück , um sich ein wenig auszuruhen , wie sie sagte .
Wir anderen wurden um so gesprächiger , bis der gute Nachbar sich selbst unterbrach und , nach wohlgemeinten Worten suchend , begann :
" Ich will es Ihnen nicht verhehlen , Herr Lee , daß Ihre Mutter sehr Ihrer Rückkunft bedarf , und ich würde Ihnen raten , so bald als möglich heimzukommen ; denn während die brave Frau den tiefsten Kummer und die Sehnsucht nach Ihnen zu verbergen sucht , sehen wir wohl , wie sie sich darin aufzehrt und Tag und Nacht nichts anderes denkt .
Ich weiß nicht , ob ich mich irre , aber es will mir fast scheinen , es stehe nicht zum besten mit Ihnen , und erachte ich , daß Sie in dem Stadium sind , wo die Herren Künstler allerlei durchmachen müssen , um endlich mit stattlichem Ansehen aus dem Kampfe hervorzugehen .
Allein es hat alles sein Maß !
Sie sollten eine Unterbrechung machen und einmal die Heimat wiedersehen , auch wenn Sie nicht als ein Sieger kommen .
Die Dinge lassen sich da öfter von einer neuen Seite betrachten und anpacken . "
Er ergriff sein Glas und stieß mit mir auf das Wohl von Heimat und Mutter an , besann sich ein weniges und fuhr fort : " Vorlaute und unverständige Weibsen und auch ebensolche Männer in unserer Stadt , wo es ruchbar geworden , daß Ihre Mutter gewisse Summen an Sie gewendet und ihr eigenes Auskommen bedeutend dadurch geschmälert hat , ließen es sich einfallen , dieselbe hinter ihrem Rücken hart zu tadeln und auch ungefragt ihr ins Gesicht zu sagen , daß sie Unrecht getan und sowohl ihrem Sohne schlecht gedient als sich selbst überhoben habe .
Jeder , der die Frau kennt , weiß , daß alles eher als dieses der Fall ist ; aber das unverständige Geschwätz hat sie vollends eingeschüchtert , daß sie fast mit niemand zusammenkommt und so in Einsamkeit und Selbstverleugnung dahinlebt .
Sie sitzt den ganzen Tag am Fenster und spinnt ; sie spinnt jahraus und - ein , als ob sie sieben Töchter auszusteuern hätte , damit doch mittlerweile etwas angesammelt würde , wie sie sagt , und wenigstens der Sohn für sein Leben lang und für sein ganzes Haus genug Leinwand finde .
Wie es scheint , glaubt sie durch diesen Vorrat weißen Tuches , das sie jedes Jahr weben läßt , Ihr Glück herbeizulocken , gleichsam wie in ein aufgespanntes Netz , damit es durch einen tüchtigen Hausstand ausgefüllt werde , wie die Gelehrten und Schriftsteller etwan durch ein Buch weißes Papier gereizt werden sollen , ein gutes Werk darauf zu schreiben , oder die Maler durch eine ausgespannte Leinwand , ein Bild darauf zu malen . "
Bei diesem letzteren Vergleich des wackeren Redners konnte ich mich eines bitteren Lächelns nicht enthalten .
Das schien ihm wohl die Richtigkeit seiner Vermutungen zu bestätigen , und er fuhr fort :
" Zuweilen stützt sie ausruhend den Kopf auf die Hand und blickt unverwandt in das Feld hinaus , über die Dächer weg oder in die Wolken ; wenn es aber dämmert , so läßt sie das Rad stillstehen und bleibt so im Dunklen sitzen , ohne Licht anzuzünden , und wenn der Mond oder ein fremder Lichtstrahl auf ihr Fenster fällt , so kann man alsdann unfehlbar ihre Gestalt in demselben sehen , wie sie immer gleicherweise ins Weite schaut .
Wahrhaft melancholisch aber ist es anzusehen , wenn sie die Betten sonnt ; anstatt sie mit Hilfe anderer auf unseren Platz hinzutragen , wo der große Brunnen steht , schleppt sie dieselben auf das hohe schwarze Dach Eures Hauses , breitet sie dort an der Sonnenseite aus , geht emsig auf dem abschüssigen Dache umher , ohne Schuhe zwar , aber bis an den Rand hin , klopft die Kissen und Pfühle aus , kehrt sie , schüttelt sie und hantiert so seelenallein in der Höhe unter dem offenen Himmel , daß es höchst verwegen und sonderbar anzusehen ist , zumal wenn sie innehaltend die Hand über die Augen hält und droben in der Sonne stehend nach der Ferne hinausblickt .
Ich konnte es einst nicht länger ansehen von meinem Hofe aus , wo ich bei den Gesellen stand ; ich ging hinüber , stieg bis unter das Dach hinauf und hielt unter der Luke eine Anrede an sie , indem ich ihr die Gefahr ihres Tuns vorstellte .
Sie lächelte aber nur und bedankte sich für die gute Meinung .
Es ist daher meine Ansicht , daß Sie nach Haus reisen sollten , je eher , je lieber !
Kommen Sie gleich mit uns ! "
Ich schüttelte aber den Kopf ; denn ich konnte mich nicht entschließen , meinen Schiffbruch kundzutun und so aus der Schule zu laufen .
Ich gedachte das Übel allein zu verwinden und mit geklärtem Schicksal , so oder anders , zur geeigneten Zeit zurückzukehren .
Mit unbestimmten Reden , in denen ich weder ein zu großes Selbstvertrauen heuchelte noch meine wirkliche Lage eingestand , behalf ich mir den übrigen Teil des Tages , bis ich am späten Abend von den Landsleuten Abschied nahm , die am frühen Morgen wegreisen wollten .
Dennoch hatte das Bild der in die Ferne schauenden Mutter ein starkes Gefühl von Heimweh wachgerufen , das mich bisher nur im Schlafe besuchte .
Seit ich nämlich die Phantasie und ihr angewöhntes Gestaltungsvermögen nicht mehr am Tage beschäftigte , regten sich ihre Werkleute während des Schlafes mit selbständigem Gebaren und schufen mit anscheinender Vernunft und Folgerichtigkeit ein Traumgetümmel in den glühendsten Farben und buntesten Formen .
Ganz wie es wiederum jener irrsinnige Meister und erfahrene Lehrer mir vorausgesagt , sah ich nun im Traume bald die Vaterstadt , bald das Dorf auf wunderbare Weise verklärt und verändert , ohne je hineingelangen zu können , oder , wenn ich endlich dort war , mit einem plötzlichen freudelosen Erwachen .
Ich durchreiste die schönsten Gegenden des Vaterlandes , die ich in Wirklichkeit nie gesehen , schaute Gebirge , Täler und Ströme mit unerhörten und doch wohlbekannten Namen , die wie Musik klangen und doch etwas Lächerliches an sich hatten .
Über den Mitteilungen des Landsmannes waren mir das Mädchen Hulda von gestern abend und die heutigen Morgenpläne aus dem Gedächtnisse geschwunden ; ermüdet eilte ich den Schlaf zu suchen und verfiel auch gleich wieder dem geschäftigen Traumleben .
Ich näherte mich der Stadt , worin das Vaterhaus lag , auf merkwürdigen Wegen , am Rande breiter Ströme , auf denen jede Welle einen schwimmenden Rosenstock trug , so daß das Wasser kaum durch den ziehenden Rosenwald funkelte .
Am Ufer pflügte ein Landmann mit milchweißen Ochsen und goldenem Pfluge , unter deren Tritten große Kornblumen sproßten .
Die Furche füllte sich mit goldenen Körnern , welcher der Bauer , indem er mit der einen Hand den Pflug lenkte , mit der anderen aufschöpfte und weithin in die Luft warf , worauf sie als ein goldener Regen auf mich niederfielen .
Ich fing ihrer mit dem Hute auf , soviel ich konnte , und sah mit Vergnügen , daß sie sich in lauter goldene Schaumünzen verwandelten , auf welchen ein alter Schweizer mit langem Barte und zweihändigem Schwerte geprägt war .
Ich zählte sie eifrig und konnte sie doch nicht auszählen , füllte aber alle Taschen damit ; die ich nicht mehr hineinbrachte , warf ich wieder in die Luft .
Da verwandelte sich der Goldregen in einen prächtigen Goldfuchs , der wiehernd an der Erde scharrte , aus welcher dann der schönste Hafer hervorquoll , den das Pferd mutwillig verschmähte .
Jedes Haferkorn war ein süßer Mandelkern , eine Rosine und ein neuer Pfennig , die zusammen in rote Seide gewickelt und mit einem Endchen Schweinsborste eingebunden waren , welches das Pferd angenehm kitzelte , als es sich darin wälzte , so daß es rief : " Der Hafer sticht mich ! "
Ich jagte aber den Goldfuchs auf , bestieg ihn , da er schön gesattelt war , ritt beschaulich am Ufer hin und sah , wie der Bauersmann in die schwimmenden Rosen hineinpflügte und mit seinem Gespann darin versank .
Die Rosen nahmen ein Ende , zogen sich zu dichten Scharen zusammen und schwammen in die Ferne , am Horizonte eine Röte ausbreitend ; der Fluß aber erschien jetzt als ein unermeßliches Band fließenden blauen Stahles .
Der Pflug des Landmannes hatte sich inzwischen in ein Schiff verwandelt ; darin fahre derselbe , steuerte mit der goldenen Pflugschar und sang : " Das Alpenglühen rückt aus und geht um das Vaterland herum ! "
Hierauf bohrte er ein Loch in den Schiffsboden ; darein steckte er das Mundstück einer Posaune , sog kräftig daran , worauf es mächtig erklang gleich einem Harsthorn und einen glänzenden Wasserstrahl ausstieß , der den herrlichsten Springbrunnen in dem fahrenden Schifflein bildete .
Der Bauer nahm den Strahl , setzte sich auf den Rand des Schiffes und schmiedete auf seinen Knien und mit der rechten Faust ein mächtiges Schwert daraus , daß die Funken stoben .
Als das Schwert fertig war , prüfte er dessen Schärfe an einem ausgerissenen Barthaare und überreichte es höflich sich selbst , indem er sich plötzlich in den Wilhelm Tell verwandelte , welchen jener beleibte Wirt im Telespiel vorgestellt hatte , zur Zeit meiner früheren Jugend .
Dieser nahm das Schwert , schwang es und sang mächtig :
" Heio , heio ! bin auch noch da Und immer meines Schießens froh !
Heio , heio ! die Zeit ist weit , Der Pfeil des Tellen fliegt noch heute !
Wo guckt ihr hin ?
Seht ihr ihn nicht ?
Dort oben tanzt er hoch im Licht !
Man weiß nicht , wo er steckenbleibt , Heio , es ist immer , wie man_es treibt ! "
Dann hieb der dicke Tell mit dem Schwerte von der Schiffswand , die nun eine Speckseite war , einen tüchtigen Span herunter und trat mit demselben feierlich in die Kajüte , einen Imbiß zu halten .
Indessen ritt ich auf dem Goldfuchs weiter und befand mich unversehens mitten in dem Dorfe , darin der Oheim gewohnt .
Ich erkannte es kaum wieder , da fast alle Häuser neu gebaut waren .
Die Bewohner saßen alle hinter den hellen Fenstern um die Tische herum und aßen , und niemand blickte auf die menschenleere Straße .
Dessen war ich aber höchlich froh ; denn erst jetzt entdeckte ich , daß ich auf meinem glänzenden Pferde in alten anbrüchigen Kleidern saß .
Ich bestrebte mich daher , ferner ungesehen hinter das Haus des Oheims zu gelangen , das ich fast nicht finden konnte .
Zuletzt erkannte ich es , wie es über und über mit Efeu bewachsen und außerdem von den alten Nußbäumen überhangen , so daß weder Stein noch Ziegel zu sehen war und nur hie und da ein handgroßes Stückchen Fensterscheibe durch das Grüne blinkte .
Ich sah , daß sich etwas dahinter bewegte , konnte aber nichts Deutliches wahrnehmen .
Der Garten war von einer Wildnis wuchernder Feldblumen bedeckt , aus denen die aufgeschossenen Gartengewächse baumhoch emporragten , Rosmarin und Fenchelstauden , Sonnenblumen , Kürbisse und Johannisbeeren .
Schwärme wild gewordener Bienen brausten auf der Blumenwildnis umher ; im Bienenhause aber lag der alte Liebesbrief , den der Wind einst dahin getragen , verwittert und offen , ohne daß ihn die Jahre her jemand gefunden .
Ich nahm ihn und wollte ihn einstecken ; da wurde er mir aus der Hand gerissen , und als ich mich umsah , huschte Judith damit lachend hinter das Bienenhaus und küßte mich dabei durch die Luft , daß ich es auf meinem Munde fühlte .
Der Kuß war aber eigentlich ein Stück Apfelkuchen , welches ich begierig aß .
Da es jedoch den Hunger , den ich im Schlafe empfand , nicht stillte , überlegte ich , daß ich wahrscheinlich träume und daß der Kuchen wohl von den Äpfeln herrühre , die ich einst küssend mit der Judith zusammen gegessen .
Ich fand es also um so geratener , in das Haus zu gehen , wo gewiß eine Mahlzeit bereit sein würde .
Ich packte einen schweren Mantelsack aus , der sich plötzlich auf dem Pferde zeigte , als ich es an den zerfallenden Gartenzaun band .
Aus dem Mantelsack rollten die schönsten Kleider hervor und ein feines neues Hemde , dessen Brust mit einer Stickerei von Weintraubchen und Maiglöckchen verziert war .
Wie ich aber dies Staatshemd auseinanderfaltete , wurden zweie daraus , aus den zwei vier , aus den vieren acht , kurz , eine Menge der schönsten Leibwäsche breitete sich aus , welche wieder in den Mantelsack zu schieben ich mich vergeblich abmühte .
Immer wurden es mehr Hemden und Kleidungsstücke und bedeckten den Boden umher ; ich empfand die größte Angst , von meinen Verwandten bei dem sonderbaren Geschäft überrascht zu werden .
In der Verzweiflung ergriff ich endlich eines von den Hemden , um es anzuziehen , und stellte mich schamhaft hinter einen Nussbaum ; allein man konnte aus dem Hause an diese Stelle sehen , und ich schlüpfte beschämt hinter einen anderen , und so immer fort von einem Baume zum anderen , bis ich , dicht an das Haus und in den Efeu hineingedrückt , in Verwirrung und Eile den Anzug wechselte , die schönen Kleider anzog und doch fast nicht fertig werden konnte , und als ich es endlich war , befand ich mich wieder in größter Not , wo ich das traurige Bündel der alten Kleider bergen solle .
Wohin ich es auch trug , immer fiel ein zerlumptes Stück auf die Erde ; zuletzt gelang es mit saurer Mühe , das Zeug in den Bach zu werfen , wo es aber durchaus nicht weiterschwimmen wollte , sondern sich auf der gleichen Stelle gemächlich herumdrehte .
Ich erwischte eine vermorschte Bohnenstange und quälte mich , die dämonischen Fetzen in die Strömung zu stoßen ; aber die Stange brach und brach immer wieder bis auf das letzte Stümpfchen .
Da berührte ein Hauch meine Wangen , und Anna stand vor mir und führte mich in das Haus .
Ich stieg Hand in Hand mit ihr die Treppe hinauf und trat in die Stube , wo der Oheim , die Tante , die Basen und Vettern sämtlich versammelt waren .
Aufatmend sah ich mich um die alte Stube war sonntäglich geputzt und so sonnenhell , daß ich nicht begriff , wo all das Licht durch den dichten Efeu hindurch herkomme .
Oheim und Tante waren in ihren besten Jahren , die Bäschen und Vettern blühender als je , der Schulmeister ebenfalls ein schöner Mann und aufgeräumt wie ein Jüngling , und Anna sah ich als Mädchen von vierzehn Jahren im rotgeblümten Kleide mit der lieblichen Halskrause .
Was aber sehr sonderbar war , alle , Anna nicht ausgenommen , trugen lange irdene Pfeifen in den Händen und rauchten einen wohlriechenden Tabak , und ich desgleichen .
Dabei standen sie , die Verstorbenen und die Lebendigen , keinen Augenblick still , sondern gingen mit freundlich frohen Mienen unablassig die Stube auf und nieder , hin und her , und dazwischen niedrig am Boden hin die Jagdhunde , das Reh , der zahme Marder , Falken und Tauben in friedlicher Eintracht , nur daß die Tiere den entgegengesetzten Strich der Menschen verfolgten und so ein wunderbares Gewebe durcheinanderlief .
Der schwere Nußbaumtisch auf seinen gewundenen Füßen war mit einem weißen Damasttuche gedeckt und mit einem aufgerüsteten duftenden Hochzeitessen besetzt .
Mir wässerte der Mund , und ich sagte zum alten Oheim : " Ei , ihr scheint euch da recht wohl sein zu lassen ! "
- " Versteht sich ! " erwiderte er , und alle wiederholten :
" Versteht sich ! " mit angenehm klingenden Stimmen .
Plötzlich befahl der Oheim , daß man zu Tische sitze ; alle stellten die Pfeifen pyramidenweise zusammen auf den Boden , je drei und drei , wie Soldaten ihre Gewehre .
Darauf schienen sie schon wieder zu vergessen , daß sie essen gewollt ; denn sie gingen zu meinem Verdrusse nach wie vor umher und fingen allmählich an zu singen :
" Wir träumen , wir träumen , Wir träumen und wir säumen , Wir eilen und wir weilen , Wir weilen und wir eilen , Sind da und sind doch dort , Wir gehen bleibend fort , Wem konveniert es nicht ?
Wie schön ist dies Gedicht !
Hallo , hallo !
Es lebe , was auf Erden stolziert in grüner Tracht , Die Wälder und die Felder , die Jäger und die Jagd ! "
Weiber und Männer sangen mit rührender Harmonie und Lust , und das Hallo stimmte der Oheim mit gewaltiger Stimme an , daß die ganze Schar mit verstärktem Gesange darein tönte und rauschte und zugleich , blaß und blasser werdend , sich in einen wirren Nebel auflöste , während ich bitterlich weinte und schluchzte .
Ich erwachte in Tränen gebadet , und auch das Kopfkissen war davon benetzt .
Als ich mich mit Mühe gesammelt , war das erste , dessen ich mich erinnerte , der wohlgedeckte Tisch ; denn ich hatte nach den Eröffnungen des Landsmannes am Abend nichts mehr essen können und war erst im Schlafe wieder hungrig geworden .
Wie ich nun die Gier bedachte , mit welcher ich trotz des Schmuckes der unbeherrschten Phantasie gezwungen war , schließlich immer nur von Gold und Gut , Kleidern und Essen zu träumen , brach ich über diese Erniedrigung neuerdings in Tränen aus , bis ich abermals einschlief .
Siebentes Kapitel Weiterträumen In einem großen Walde fand ich mich wieder und ging auf einem wunderlichen schmalen Brettersteige , welcher sich hoch durch die liste und Baumkronen wand , eine Art endlosen hängenden Brückenbaues , indessen der bequeme Boden unten nach richtiger Traumsart unbenutzt blieb .
Aber es war schön , hin abzuschauen auf den Waldgrund , da er ganz aus grünem Moose bestand , das in tiefer Dunkelheit lag .
Auf dem Moose wuchsen viele einzelne sternförmige Blumen auf schwankem Stängel , und sie wendeten sich immer nach dem oben gehenden Beschauer ; bei jeder Blume stand ein kleines Erdmännchen oder Moosweiblein , das mittels eines in goldenem Laternchen strahlenden Karfunkels die Blume beleuchtete , daß sie aus der Tiefe heraufschimmerte wie ein blauer oder roter Stern , und indem sich diese Blumengestirne , welche oft in schönen Bildern zusammenstanden , langsamer er oder schneller drehten , gingen die winzigen Leutchen mit ihren Laternchen um sie herum und lenkten sorgfältig den Lichtstrahl auf die Kelche .
So sah sich das kreisende Leuchten in der Tiefe von dem hohen Balken oder Bretterwege wie ein unterirdischer Sternhimmel an , nur daß er grün war und die Sterne in allen Farben strahlten .
Entzückt ging ich auf der Hängebrücke weiter und schlug mich tapfer durch die Buchen- und Eichenkronen , da ich begriff , ein so zierlicher Grund und Boden sei nicht dazu da , darauf mit Füßen zu wandeln .
Manchmal kam ich in eine Föhrengruppe hinein , welche etwas lichter war ; das rote , von der Sonne durchglühte , stark duftende Holzwerk der Fichtenkronen bot einen fabelhaften Anblick und Aufenthalt , weil es wie künstlich bearbeitet , gezimmert und mit seltsamem Bildwerk verziert schien und doch ein natürliches Ästewesen war .
Manchmal führte der Steg auch ganz über die Bäume hinweg unter den offenen Himmel und Sonnenschein , und ich stellte mich auf das schwanke Geländer , um zu sehen , wo es eigentlich hinausginge ; allein nichts war zu erblicken als ein endloses Meer von grünen Baumwipfeln , so weit das Auge reichte , auf dem ein heißer Sommertag flimmerte und Tausende von wilden Tauben , Hähern , Mandelkrähen , Spechten und Weihen herumschwärmten , und das Wunderbare war nur , daß man auch die allerfernsten Vögel deutlich erkannte und ihre Gestalt und Farben unterscheiden konnte .
Nachdem ich mich sattsam umgeschaut , blickte ich wieder in die dunkle Tiefe , wo ich jetzt eine Felsschlucht entdeckte , die für sich allein von der Sonne erhellt war .
Auf dem tiefsten Grunde lag eine kleine Wiese an einem klaren Bache ; mitten auf derselben saß auf ihrem kleinen Strohsessel meine Mutter in einem braunen Einsiedlerkleide und mit eisgrauen Haaren .
Sie war alt und gebeugt , und ich konnte ungeachtet der fernen Tiefe jeden ihrer Züge genau erkennen .
Mit einer grünen Rute hütete sie eine kleine Herde Silberfasanen , und wenn einer weglaufen wollte , schlug sie leise auf seine Flügel , worauf einige glänzende Federn emporschwebten und in der Sonne spielten .
Am Bächlein aber stand ihr Spinnrad , das rings mit Schaufeln versehen und eigentlich ein kleines Mühlrad war und sich blitzschnell drehte .
Sie spann nur mit der einen Hand den glänzenden Faden , der sich nicht auf die Spule wickelte , sondern kreuz und quer an dem Abhange herumzog und sich da sofort zu großen Flächen blendender Leinwand gestaltete .
Diese stieg höher und höher heran ; plötzlich fühlte ich ein schweres Gewicht auf der Schulter und merkte , daß ich den vergessenen Mantelsack trug , der von den feinen Hemden ganz geschwollen war .
Jetzt sah ich freilich , woher dieselben kamen .
Während ich mich mühselig damit schleppte , entdeckte ich , daß die Fasanen alles schöne Bettstücke waren , welche die Mutter eifrig sonnte und ausklopfte .
Dann raffte sie dieselben zusammen und trug sie geschäftig herum und eines ums andere in den Berg hinein .
Wenn sie wieder herauskam , so schaute sie , mit der Hand über den Augen , sich um und sang leise , was ich aber deutlich vernahm :
" Mein Sohn , mein Sohn , O schöner Ton !
Wann kommt er bald , Geht durch den Wald ? "
Da ersah sie mich in der Höhe wie in der Luft schwebend und sehnlich zu ihr hinabblickend .
Sie stieß einen lauten Freudenruf aus und huschte wie ein Geist davon über Fels und Stein , ohne zu gehen , daß sie mir immer ferner zu entschwinden drohte , während ich vergeblich rufend nacheilte und der Steg sich bog und krachte , die Baumkronen schwankten und rauschten .
Da war der Wald aus , und ich sah mich auf dem Berge stehen , welcher der Heimatstadt gegenüberliegt ; aber welchen Anblick bot diese !
Der Fluß war zehnmal breiter als sonst und glänzte wie ein Spiegel ; die Häuser waren alle so groß wie sonst die Münsterkirche , von der fabelhaftesten Bauart , und glänzten im Sonnenschein , die Fenster mit einer Fülle von Blumen geziert , die schwer über die mit Bildwerken bedeckten Mauern herabhingen .
Die Linden stiegen unabsehbar in den dunkelblauen durchsichtigen Himmel hinein , der ein einziger Edelstein schien , und die riesigen Lindenwipfel wehten dran hin und her , als ob sie ihn noch blanker fegen wollten , und zuletzt wuchsen sie in die durchsichtige blaue Kristallmasse hinein .
Zwischen den grünen Laubgebirgen der Linden stiegen die Münstertürme empor , während das ungeheure Steinschiff unter Hügeln von Millionen herzförmiger Lindenblätter lag und nur da oder dort eine purpurrote oder blaue Glasscheibe hervorfunkelte , von einem verlorenen Sonnenstrahl durchschossen .
Die goldenen Kronen aber , welche die Turmknöpfe bildeten , schimmerten in der Himmelshöhe und waren voll junger Mädchen ; die streckten ihre Lockenköpfe rings durch den gotischen Zierat in die Welt hinaus .
Obgleich ich jedes Lindenblatt scharf umrissen erkannte , vermochte ich doch nicht zu sehen , wer alle diese Mädchen waren , und ich beeilte mich hinüberzukommen , da es mich sehr wundernahm , wer alle diese Mitbürgerinnen sein möchten .
Zur rechten Zeit sah ich den Goldfuchs neben mir stehen , legte ihm den Mantelsack auf und begann den jähen Staffelweg hinunterzureiten , der zur Brücke führte .
Jede Staffel war aber ein geschliffener Bergkristall , und darin eingeschlossen lag ein spannelanges Weibchen gleichsam schlafend , von unbeschreiblichem Ebenmaß und Schönheit der Gliederchen .
Während der Goldfuchs den halsbrechenden Weg hinunterstieg und jeden Augenblick seinen Reiter in die Tiefe zu stürzen drohte , bog ich mich links und rechts vom Sattel und suchte mit sehnsuchtsvollen Blicken in den Kern der Kristallstufen zu dringen .
" Tausend noch einmal ! " rief ich lüstern vor mich hin , " was mögen das nur für allerliebste Wesen sein in dieser verwünschten Treppe ? "
Ohne daß ich mich im geringsten wunderte , fing das Pferd plötzlich an zu sprechen , indem es den Kopf zurückwandte und antwortete :
" Was wird_es sein ?
Das sind nur die guten Dinge und Ideen , welche der Boden der Heimat in sich schließt und die derjenige herausklopft , der im Lande bleibt und sich redlich nährt ! "
" Zum Teufel ! " rief ich , " ich werde gleich morgen hier herausgehen und mir einige Stufen aufschlagen ! "
Und ich konnte meine Blicke nicht wegwenden von der langen Treppe , die sich schon glänzend hinter mir den Berg hinan schmiegte .
Das Pferd aber sagte , das sei nur eine leichte Ahnschürfung , der ganze Boden stecke voll von solchen Sachen .
Wir langten jetzt unten bei der Brücke an .
Das war aber nicht mehr die alte Holzbrücke , sondern ein Marmorpalast , der in zwei Stockwerken eine endlose Säulenhalle bildete und so als eine nie_gesehene Prachtbrücke über den Fluß führte .
Was sich doch alles verändert und vorwärtsschreitet , wenn man nur einige Jahre weg ist ! dachte ich , als ich gemächlich und neugierig in die weite Brückenhalle ritt .
Während das Gebäude von außen nur in weißem , rötlichem und schwarzem Marmor glänzte , waren die Wände des Inneren mit zahllosen Malereien bedeckt , welche die ganze Geschichte und alle Tätigkeiten des Landes darstellten .
Das ganze abgeschiedene Volk war sozusagen bis auf den letzten Mann , der soeben gegangen , an die Wand gemalt und schien mit dem lebendigen , das auf der Brücke verkehrte , eines zu sein ; ja manche der gemalten Figuren traten aus den Bildern heraus und wirkten unter den Lebendigen mit , während von diesen manche unter die Gemalten gingen und an die Wand versetzt wurden .
Beide Parteien bestanden aus Helden und Weibern , Pfaffen und Laien , Herren und Bauern , Ehrenleuten und Lumpenhunden ; der Eingang und Ausgang der Brücke aber war offen und unbewacht , und indem der Zug über dieselbe beständig im Gange blieb und der Austausch zwischen dem gemalten und wirklichen Leben unausgesetzt stattfand , schien auf dieser wunderbar belebten Brücke Vergangenheit und Zukunft nur ein Ding zu sein .
" Nun möchte ich wohl wissen , was das für eine muntere Sache ist ! " summte ich in mich hinein , und das Pferd antwortete auf der Stelle :
" Dies nennt man die Identität der Nation ! "
" Ei , du bist ein sehr gelehrter Gaul ! " rief ich , " der Hafer muß dich wirklich stechen !
Woher nimmst du derartige Brocken ? "
" Erinnere dich " , sagte der Goldfuchs , " auf wem du reitest !
Bin ich nicht aus Gold entstanden ?
Gold aber ist Reichtum , und Reichtum ist Einsicht . "
Bei diesen Worten merkte ich sogleich , daß mein Mantelsack statt mit Gewand jetzt gänzlich mit jenen goldenen Münzen angefüllt war .
Stadt zu grübeln , woher sie so unvermutet wiedergekommen , fühlte ich mich höchst zufrieden in ihrem Besitze , und obschon ich dem weisen Gaule nicht mit gutem Gewissen recht geben konnte , daß Reichtum Einsicht sei , fand ich mich doch unvermutet so einsichtsvoll , daß ich wenigstens nichts erwiderte und gemütlich weiterritt .
" Nun sage mir , du weiser Salomo ! " begann ich nach einer Weile von neuem , " heißt eigentlich die Brücke die Identität oder die Leute , so darauf sind ?
Welches von beiden nennst du so ? "
" Beide zusammen sind die Identität , sonst spräche man ja nicht davon ! "
" Der Nation ? "
" Der Nation , versteht sich ! "
" Also ist die Brücke auch eine Nation ? "
" Ei , seit wann " , rief das Pferd unwillig , " kann denn ein Vehikel , so schön es ist , eine Nation sein ?
Nur Leute können eine sein , folglich sind es die Leute hier ! "
" So ! und doch sagtest du soeben , die Nation und die Brücke machen zusammen eine Identität aus ! "
" Das sagt ich auch und bleibe dabei ! "
" Nun also ? "
" Wisse " , antwortete der Gaul bedächtig , indem er sich auf allen vieren spreizte , " wisse , wer diese heikle Frage zu beantworten und den Widerspruch zu lösen versteht , der ist ein Meister und arbeitet an der Identität selber mit .
Wenn ich die richtige Antwort , die mir wohl so im Munde herumläuft , rund zu formulieren verstände , so wäre ich nicht ein Pferd , sondern längst hier an die Wand gemalt .
Übrigens erinnere dich , daß ich nur ein von dir geträumtes Pferd bin und also unser ganzes Gespräch eine Ausgeburt und Grübelei deines eigenen Gehirnes ist .
Mithin magst du fernere Fragen dir nur selbst beantworten aus der allerersten Hand ! "
" Ha ! du widerspenstige Bestie ! " schrie ich und stieß dem Tiere die Fersen in die Weichen , " um so mehr , du undankbarer Klepper , bist du mir zu Rede und Antwort verpflichtet , da ich dich aus meinem so mühselig ergänzten Blute erzeugen und diesen Traum lang speisen und nähren muß ! "
" Hat auch was Rechtes auf sich ! " sagte das Pferd gelassen .
" Dieses ganze Gespräch , überhaupt unsere ganze werte Bekanntschaft ist das Werk und die Dauer von kaum drei Sekunden und kostet dich kaum einen Hauch von deinem geehrten Körperlichen ! "
" Wie , drei Sekunden ?
Ist es nicht wenigstens eine Stunde , seit wir auf dieser endlosen Brücke reiten ? "
" Drei Sekunden dauert der Hufschlag des nächtlichen Reiters , der meine Erscheinung in dir hervorgerufen ; mit ihm wird sie verschwinden , und du kannst wieder zu Fuß gehen ! "
" Um des Himmels Willen !
So verliere keine weitere Zeit , sonst geht der Augenblick vorüber , ehe ich über diese schöne Brücke im reinen bin ! "
" Es eilt gar nicht !
Alles , was wir für jetzt zu erleben und zu erfahren haben , geht vollkommen in das Maß des wackeren Pferdetrittes hinein , und wenn der richtig denkende Psalmist den Herren seinen Gott anschrie :
» Tausend Jahre sind vor dir wie ein Augenblick ! « so ist diese Hypothese von hinten gelesen eine und dieselbe Wahrheit :
Ein Augenblick ist wie tausend Jahre !
Wir könnten noch tausendmal mehr sehen und hören während dieses Hufschlages , wenn wir nur das Zeug dazu in uns hätten , lieber Mann !
Alles Drängen oder Zögern hilft da nichts , alles hat seine bequemliche Erfüllung , und wir können uns ganz gemächlich Zeit lassen mit unserem Traum , er ist , was er ist , und nicht mehr noch minder ! "
Ich hörte nicht länger auf die Reden des Pferdes , weil ich bemerkte , daß ich von allen Seiten mit biederer Achtung begrüßt wurde ; denn schon mehr als einer der Vorübergehenden hatte mit eigentümlichem Griffe meinen strotzenden Mantelsack betastet , ungefähr wie die Metzger tun , wenn sie in den Bauernställen oder auf Märkten ein Stück Rindvieh auf seine Fettigkeit prüfen und ihm Kreuz und Lenden bekneifen .
" Das sind ja absonderliche Manieren ! " sagte ich endlich ; " ich glaubte , es kenne mich kein Mensch hier ! "
" Es gilt auch nicht dir " , meinte der Goldfuchs , " sondern deinem Quersack , deiner dicken Goldwurst , die mir das Kreuz drückt ! "
" So ? also das ist die Lösung und das Geheimnis deiner ganzen Identitätsfrage , das gemünzte Gold ?
Denn du bist ja aus gleichem Stoffe , ohne daß dich ein einziger betastet ! "
" Hm ! " machte das Pferd , " das ist nicht so genau zu nehmen .
Die Leute haben allerdings ihr Augenmerk darauf gerichtet , ihre Identität , die sie in diesem Falle Unabhängigkeit nennen , zu behaupten und gegen jeglichen Angriff zu verteidigen .
Nun wissen sie aber , daß ein kampffähiger guter Soldat wohlgenährt sein und ein Frühstück im Magen haben muß , wenn er sich schlagen soll .
Da dies aber nur durch allerhand Gemünztes zu erreichen und zu sicheren ist , so betrachten sie jeden , der damit versehen , als einen gerüsteten Verteidiger und Unterstützer der Identität und sehen ihn darum an .
Da läuft es denn freilich mit unter , daß sie ihre Privatsachen mit den öffentlichen Dingen für identisch halten , wie man denn in der Übung jeglicher Energie nicht leicht zuviel tun kann , und so gewinnt dieser oder jener das Ansehen eines habsüchtigen Esels .
Sei dem , wie ihm wolle , ich rate dir , dein Kapital hier noch ein wenig in Umlauf zu setzen und zu vermehren .
Wenn die Meinung der Leute im allgemeinen auch eine irrige ist , so steht es doch jedem frei , sie für sich zu einer Wahrheit und so seine Stellung zu einer angenehmen zu machen . "
Ich griff in den Sack und warf einige Hände voll Goldmünzen in die Höhe , welche sogleich von hundert in der Luft zappelnden Händen aufgefangen und weitergeworfen wurden , nachdem jeder das Gold erst besehen und an seinem eigenen Golde gerieben hatte , wodurch beide Stücke sich verdoppelten .
Bald kehrten alle meine Münzen in Gesellschaft von anderem Golde zurück und hingen sich an das Pferd ; es regnete förmlich Gold , welches sich klumpenweise an alle seine vier Beine setzte , gleich dem Blumenstaub , der den Bienen Höschen macht , so daß es bald nicht mehr gehen konnte .
Es bildeten sich aber noch große Flügel an dem Tiere , und es glich zuletzt einer Riesenbiene und flog wie eine solche über die Köpfe des Volkes weg .
Erst jetzt schütteten wir zusammen einen rechten Goldregen nieder , so daß zuletzt ein ungeheures Gesindel von Goldhungrigen hinter uns her war .
Alte und Junge , Weiber und Männer purzelten übereinander , das Gold zu raffen .
Diebe , die von Wächtern transportiert wurden , stürzten sich samt diesen in den Haufen ; Bäckerlehrlinge warfen ihr Brot in das Wasser und füllten ihre Körbe mit Gold ; Priester , die zur Kirche gingen , um zu predigen , schürzten ihre Talare wie bohnenpflückende Bäuerinnen die Röcke und schöpften Gold hinein ; Magistratspersonen , die vom Rathause kamen , schlichen herbei und schoben verschämt ein paar zur Seite rollende Stücklein in die Tasche ; selbst aus einem an die Wand gemalten Gerichte liefen die toten Richter vom Tische , ließen den Angeklagten stehen und stiegen herunter , um hinter mir herzustreichen , und schließlich kam der gemalte Verbrecher auch noch gesprungen , um nach Gold zu schreien .
Ganz geschwollen vom Bewußtsein des Reichtums , schwebte ich endlich aus der Brückenhalle hinaus und schwang mich auf dem goldenen Bienenpferde hochmütig in die Luft , wo ich hoch den Münsterkronen kreiste wie ein Falke , mich bald wählig niederließ , bald wieder aufstieg und das kindische Traumvergnügen des Fliegens und Reitens zugleich in vollen Zügen genoß .
Aus den Kronen fingerten hundert weiße Hände nach meinem Golde empor , Augen und Wangchen blühten wie Vergißmeinnicht und Rosen im Sonnenschein .
Das Pferd sagte : " Nun wähle , das sind die heiratsfähigen Mägdlein des Landes !
Das Beste ist eine artige Frau ! "
Ich äugelte auch richtig stolz und lüstern auf sie hinunter und gedachte meine Irrfahrten und erlebten Kümmernisse mit einer konvenablen Heirat abzuschließen , als plötzlich eine harte Stimme erscholl , die rief : " Ist denn niemand da , den Landverderber aus der Luft herabzuholen ? "
" Ich bin schon da ! " antwortete der dicke Wilhelm Tell , der in einer Lindenkrone verborgen saß , die Armbrust auf mich anlegte und mich mit seinem Pfeile herunterschoß .
Ein neuer Ikarus , stürzte ich samt dem Goldfuchs prasselnd aufs Kirchendach und rutschte von dort jämmerlich auf die Straße hinab , woran ich erwachte und mich erschüttert fand , wie wenn ich wirklich gefallen wäre .
Der Kopf schmerzte mich fieberhaft , während ich das Geträumte zusammenlas .
Diese verkehrte Welt , in welcher das im Wachen müßige Gehirn bei nachtschlafender Zeit auf eigene Faust zusammenhängende Märchen und buchgerechte Allegorien , nach irgendwo gelesenen Mustern , mit Schulwörtern und satirischen Beziehungen ausheckte und fortspann , begann mich zu ängstigen wie der Vorbote einer schweren Krankheit ; ja , es beschlich mich sogar wie ein Gespenst die Furcht , auf diese Art könnten meine dienstbaren Organe mich , das heißt meinen Verstand , zuletzt ganz vor die Türe setzen und eine tolle Dienstbotenwirtschaft führen .
Als ich der Sache weiter nachdachte , empfand ich die Gefahr , die darin liegt , sich gegen Natur und Gewohnheit mit dem völlig Geistlosen beschäftigen und nähren zu wollen , und doch wußte ich nicht , wie aus dem Banne hinauszukommen wäre .
Darüber schlief ich wieder ein , und das Träumen ging neuerdings an ; doch verlor sich das unheimliche Allegorienwesen , und das Gesetzlose regierte fort .
Ich trieb jetzt das halbzerbrochene und schwer mit Säcken beladene Pferd eine bergige Straße hinauf nach dem Hause der Mutter ; es dauerte eine qualvolle Ewigkeit , bis ich endlich anlangte .
Da fiel das Tier zusammen und verwandelte sich in die schönsten und reichsten Gegenstände und Merkwürdigkeiten aller Art , von welchen sich auch die Säcke entleerten , Dinge , wie man sie von großen Reisen als Geschenke mitzubringen pflegt .
Ich stand aber peinlich verlegen bei dem aufgetürmten Haufen von Kostbarkeiten , der sich offen auf der Straße ausbreitete , und ich suchte vergeblich den Drücker der Haustüre und den Glockenzug .
Ratlos und ängstlich die Reichtümer hütend , sah ich an dem Hause empor und bemerkte erst jetzt , wie seltsam es sich darstellte .
Es war gleich einem alten edlen Schrank- und Täferwerke ganz von dunklem Nußbaumholz gebaut mit unzähligen Gesimsen , Kassettierungen , Füllungen und Galerien , alles auf das feinste gearbeitet und spiegelhell poliert .
Es war eigentlich das nach außen gekehrte Innere eines Hauses .
Auf den Gesimsen und Galerien standen altertümliche silberne Kannen und Becher , Porzellangefäße und kleine Marmorbilder aufgereiht .
Fensterscheiben von Kristallglas funkelten mit geheimnisvollem Glanz vor einem dunklen Hintergrunde zwischen gemaserten Zimmer- oder Schranktüren , in denen blanke Stahlschlüssel steckten .
Über dieser seltsamen Fassade wölbte sich der Himmel dunkelblau , und eine halb nächtliche Sonne spiegelte sich in der dunklen Pracht des Nußbaumholzes , im Silber der Krüge und in den Fensterscheiben .
Endlich sah ich auch , daß reichgeschnitzte Treppen zu den Galerien hinaufführten , und bestieg dieselben , Einlaß suchend .
Wenn ich aber eine Türe öffnete , so sah ich nichts als ein Gelaß vor mir , welches mit Vorräten der verschiedensten Art angefüllt war .
Hier tat sich eine Bücherei auf , deren Lederbände von Vergoldung strotzten ; dort war Geräte und Geschirr übereinandergeschichtet , was man nur wünschen mochte zur Annehmlichkeit des Lebens ; dort wieder türmte sich ein Gebirge feiner Leinwand , oder ein duftender Schrank öffnete sich mit hundert Kästchen voll Spezereien .
Ich machte eine Türe nach der anderen wieder zu , wohlzufrieden mit dem Gesehenen und nur ängstlich , weil ich nirgends die Mutter fand , um mich in dem trefflichen Heimwesen sofort einrichten zu können .
Suchend drückte ich mich an eines der Fenster und hielt die Hand an die Schläfe , um die Spiegelung der Kristallscheibe aufzuheben ; da sah ich , statt in ein Gemach hinein , in einen reizenden Garten hinaus , der im Sonnenlichte lag , und dort glaubte ich zu sehen , wie die Mutter im Glanze der lugend und Schönheit , angetan mit seidenen Gewändern , zwischen Blumenbeeten wandelte .
Ich wollte das Fenster aufmachen , ihr zurufen , fand aber durchaus keinen Riegel oder Knopf , denn ich war ja außerhalb des Hauses , obschon ich aus dem Inneren nach einem Garten hinausschaute .
Am Ende stand ich nur an einer reichgetäferten Wand auf einem schmalen Gesimse , das meinen Füßen kaum genügenden Raum bot .
Als ich mich hinausbog , um zu sehen , wie ich von der gefährlichen Stelle hinuntersteigen könne , sah ich auf der Gasse einen verkniffenen Knirps von Knaben mit grauen verwelkten Haaren , der mit einem Stecken meine Herrlichkeiten aufeinanderstörte .
Sogleich erkannte ich den Jugendfeind , jenen vom Turme gestürzten Knaben Meierlein , und kletterte eilig hinunter , ihn zu verjagen .
Der aber fing wütend an zu schelten und als Kindswucherer und Gläubiger aufs neue , nach so viel Jahren , seine Forderung geltend zu machen , indem er die Hand an den vom Sturze zerschlagenen Kopf drückte .
Er wolle mich jetzt endlich auspfänden , rief er mit giftigen Worten , daß er zu seiner verschriebenen Sache komme ; seine Rechnung sei pünktlich in Ordnung .
" Du lügst , du kleiner Schuft " , schrie ich ihm zu , " mache , daß du fortkommst ! "
Da erhob er seinen Stock gegen mich , wir gerieten einander in die Haare und rauften uns unbarmherzig .
Der wütende Gegner riß mir alle die schönen Kleider , die ich trug , in Fetzen , und erst als ich ihn keuchend und verzweifelnd am Halse würgte , entschwand er mir unter den Händen und ließ mich in der schattigen kalten Straße stehen .
Ermattet sah ich mich mit bloßen Füßen dastehen .
Das Haus war aber das wirkliche alte Haus , jedoch halb verfallen , mit zerbröckelndem Mauerkalk , erblindeten Fenstern , in denen leere oder verdorrte Blumenscherben standen , und mit Fensterläden , die im Winde klapperten und nur noch an einer Angel hingen .
Von meiner trefflichen Traumeshabe war nichts mehr zu sehen als einige zertretene Reste auf dem Pflaster , welche von nichts Besonderem herzurühren schienen , und in der Hand hielt ich nichts als den meinem bösen Feinde abgerungenen Stecken .
Ich trat entsetzt auf die andere Seite der Straße und blickte kummervoll nach den öden Fenstern empor , wo ich deutlich meine Mutter , alt und grau und bleich , hinter der dunklen Scheibe sitzen sah , wie sie in tiefem Sinnen ihren Faden spann .
Ich streckte die Arme nach dem Fenster empor ; als sich die Mutter aber leis bewegte , verbarg ich mich hinter einem Mauervorsprung und suchte bang aus der stillen dämmerigen Stadt zu entkommen , ohne gesehen zu werden .
Ich drückte mich längs den Häusern hin und wanderte alsbald an meinem schlechten Stabe auf einer unabsehbaren Landstraße dahin zurück , woher ich gekommen war .
Ich wanderte und wanderte rastlos und mühselig , ohne mich umzusehen .
In der Ferne sah ich auf einer ebenso langen Straße , die sich mit der meinigen kreuzte , meinen Vater vorüberwandern mit seinem schweren Felleisen auf dem Rücken .
Als ich erwachte , fiel mir ein Stein vom Herzen , so traurig war mir dieser letzte Teil der geträumten Abenteuer .
So ging es nächtelang fort , obgleich zuweilen auch etwas mäßiger , so daß der erträumte Zustand an eine Art ruhiger Zufriedenheit grenzte .
Einmal träumte mir , daß ich an dem Rande des Vaterlandes auf einem Berge säße , der von Wolkenschatten verdunkelt war , während das Land in hellem Scheine vor mir ausgebreitet lag .
Auf den weißen Straßen , den grünen Fluren wallten und zogen Scharen von Volk und Leuten und sammelten sich zu heiteren Festen , zu verschiedenen Handlungen und Lebensübungen , was alles ich aufmerksam beobachtete .
Wenn aber solche Scharen oder Aufzüge nah an mir vorübergingen und ich von den Leuten erkannt wurde , schalten sie mich im Vorbeigehen , wie ich , teilnahmlos in Trauer verharrend , nicht sehe , was um mich her geschehe , und sie forderten mich auf , ihnen zu folgen .
Ich verteidigte mich aber freundlich und rief ihnen zu , ich sähe alles genau , was sie bewege , und nähme Teil daran .
Nur sollten sie sich jetzt nicht um mich kümmern , so sei mir wohler .
Diese Vorstellung hatten meine emsigen Traumgeister offenbar folgenden Versen eines Unbekannten entwendet , die ich am Abend vorher in einigen zerrissenen Druckblättern gelesen :
Klagt mich nicht an , daß ich vor Leid Mein eigen Bild nur könne sehen !
Ich sehe durch meines Leides Flor Wohl eure Gestalten gehen .
Und durch den starken Wellenschlag Der See , die gegen mich verschworen , Geht mir von euerem Gesang , Wenn auch gedämpft , kein Ton verloren .
Und wie die müde Danaiden wohl , Das Sieb gesenkt , neugierig um sich blicket , So schau ich euch verwundert nach , Besorgt , wie ihr euch fügt und schicket !
Achtes Kapitel Der wandernde Schädel So ging es in den Nächten zu .
Wie ich die Tage damals verbracht , weiß ich mir kaum mehr vorzustellen ; es war die verwunderlichste Übung der Geduld mit dem Schicksal , das will sagen , mit sich selbst .
Und wie ich vorahnend gedacht , löste sich der Ausgang auf diese Weise am leichtesten von den Dingen .
Es dauerte nicht viele Tage , so zeigte es sich , daß mein verwitweter Hauswirt ohne seine Frau nicht bestehen konnte und sich genötigt sah , die Haushaltung aufzulösen , die Kinder einstweilen den Eltern der Verstorbenen zuzuschicken und die Wohnung zu räumen .
Schon waren die Kleinen fort , als der Mann mir mürrisch und gleichgültig anzeigte , ich habe eine andere Unterkunft zu suchen , da er selbst am nächsten Tage ausziehe .
Ich hatte nun alle die Jahre her in dem Hause gewohnt , und da ein übles Geschick meine fahrende kleine Habe auseinandergeblasen , so beschloß ich auf der Stelle , nach der Heimat zu gehen , statt einen bettelhaften Einzug in eine neue Wohnung zu halten .
Ich änderte auch den Entschluß nicht , als mir nach Abtrag dessen , was ich dem Manne und anderen noch etwa schuldig war , von dem bei Herren Joseph Schmalhöfe erworbenen Reichtume nicht so viel übrigblieb , womit ich hätte fahren können .
Es reichte vielmehr zur Not für eine Fußwanderung hin , wenn ich das Geld genau einteilte , Tag und Nacht im Freien blieb und nur wenig Nahrung genoß .
Um nun aber in den abgetragenen Kleidern nicht völlig einem Landfahrer ähnlich zu sehen , griff ich zum letzten Hilfsmittel , nämlich zu den Bildchen , die ich bei dem jüdischen Kunstschneider hängen hatte .
Ohne Zeit zu verlieren , ging ich zu ihm , nahm auch jenes etwas größere , auf der Ausstellung verunglückte Stück mit und fragte ihn , ob er mich für die drei Malereien neu und gut kleiden und was er noch an barem Gelde herauszahlen wolle .
Zu letztem war er natürlich nicht zu bewegen ; dafür fiel der Anzug leidlich gut aus , den zu liefern er nach seiner Geschäftsmaxime gleich bereit war ; er ließ sich sogar zur Leistung eines festen stattlichen Hutes herbei , dessen Rand den Hals gegen den Regen zu schützen versprach .
Ich fand mich bei alledem wohl bedient und beraten und schied zufrieden von dem Nothelfer , nachdem ich in einer Hinterstube die Kleider gewechselt und ihm den abgelegten Habit als Zeichen meiner Erkenntlichkeit für menschenfreundliche Behandlung überlassen .
Auf dem Rückwege schwankte ich , ob ich nicht den alten Schmalhöfe noch aufsuchen und von ihm Abschied nehmen solle .
Ich besorgte jedoch , er könnte mich von neuem zu einem nichts entscheidenden und geisttötenden Arbeitsgewinne verlocken ; also vermied ich sein Haus , holte bei der Behörde noch meine Ausweispapiere und eilte , da der Abend nahte , nach Hause ; denn ich wollte mit angebrochener Nacht unverweilt die Wanderschaft antreten .
Das war auch geraten , da der Wirt bereits den sämtlichen Hausrat fortgebracht und auch mein Bett weggeräumt hatte , unbekümmert , wo ich diese letzte Nacht noch schlafen möge .
Ich fand ihn , wie er ganz allein in der stillen Wohnung stand , die von unseren Tritten und Worten einen ungewohnten Widerhall hören ließ , weil sie gänzlich leer war .
Nur etwas Kleider und kleines Geräte lagen noch beieinander , was er nicht zusammenzupacken wußte , da es ihm an einer Kiste fehlte .
Ich sagte ihm , er könne sich meines großen Koffers bedienen , den ich zunächst nicht brauche .
Das nahm er ohne Dank an , wofür ich ihm auch einen Streiche spielte .
Denn als ich nun in meine zwei Zimmer ging , in eine Reisetasche ein Restchen Wäsche und meine schön gebundene Jugendgeschichte gesteckt hatte und mich umsah , was etwa noch zu tun wäre , entdeckte ich zu meinem Schrecken noch den Schädel des Albertus Zwiehan , der allein unversorgt zurückblieb .
Erschüttert nahm ich das unselige Sphäroid , das nicht zur Ruhe kommen konnte , in die Hand und fühlte Gewissensbisse .
Armer Zwiehan ! dachte ich , du bist einst von Ostindien nach der Schweiz gereist , von da nach Grönland und wieder zurück , dann hierher , und nun mag Gott wissen , was aus dir wird , den ich so leichtfertig vom Friedhofe genommen habe !
Aber das half nun nichts ; ich hob den Deckel meines leeren Koffers und legte den alten Schädel hinein , die weitere Fürsorge dem auf dem Sprunge stehenden Hauswirte überlassend , der sich in seinem Unstern so wenig liebenswürdig gegen mich benahm , obgleich ich seit länger als fünf Jahren an den Unterhalt seiner Familie so manchen guten Taler beigetragen .
Dann trat ich mit umgehängter Tasche aus meiner besonderen Trauerwohnung in die allgemeine hinaus , gab dem Manne rasch die Hand und stieg die Treppe hinunter .
Kaum war ich aber auf dem Flur angelangt , so rief der Unhold von oben her meinen Namen und schrie :
" Da , nehmen_es den auch mit , der gehört Ihnen ! " Gleichzeitig kollerte und polterte der Totenkopf die lange hölzerne Treppe herunter und schlug mir unsanft an die Fersen .
Ich hob ihn auf ; in der vorgerückten Dämmerung ließ er erbärmlich den Unterkiefer fallen , der in Drähten hing , und schien so zu bitten , ihn nicht zurückzulassen .
" So komme mit " , sagte ich , " wir wollen wieder zusammen heimgehen !
Es war eine merkwürdige Reise ! "
Ich zwängte den Schädel mit Mühe in die Wandertasche , wodurch diese ein unförmliches Aussehen gewann , wie wenn ein Kommißbrot oder ein Kohlkopf darinsteckte .
Nun hatte ich noch ein einziges Geschäft zu verrichten , das mir nicht leichtfiel .
Seit dem sonderbaren und unverhofften Liebesabenteuer mit Hulda war ein Sonnabend von mir unbenutzt verstrichen und jetzt eben der zweite da .
Durch die Nachrichten des hochzeitreisenden Landsmannes sowie durch die erfahrenen Traumgesichte waren mir Mut und Lust zur Verwirklichung der tannhäuserlichen Glückspläne vergangen ; und doch drängte mich jetzt ein Gefühl von warmer Dankbarkeit , selbst von zärtlicher Zuneigung und Erinnerung , nicht ohne ein Wort des Abschiedes , der Verständigung davonzugehen .
Ich hoffte , das süße und ehrenwerte Geschöpf mit dem Geständnisse , daß ich kein Handwerksgeselle , sondern ein verarmter Künstler sei , der nicht wisse , was noch aus ihm werden solle , und vorerst das Land verlassen müsse , unschwer von seinen Gedanken abzubringen , über den abermaligen Verlust eines Liebhabers zu trösten und so im Frieden zu scheiden .
Mit Tasche und Stab schon auf der Wanderschaft , schlug ich die Richtung nach der Straße ein , wo sie wohnte .
Da es noch etwas zu früh war , trat ich in ein Gastbaus , um ein letztes Abendbrot in dieser Stadt zu mir zu nehmen .
Dann fand ich bald im Laternenlichte das Haus und setzte mich im Schatten einer gegenüberstehenden Brunnensäule auf ein kleines Bänklein .
Nun kam die anmutige Gestalt geschritten , im Werkeltagsgewande , aber nicht allein ; ein schlanker junger Mensch begleitete sie , dem Anscheine nach ein Studierender oder Künstler , der eindringlich zu ihr redete .
In der Nähe der Haustüre ging sie etwas langsamer , und ich vernahm , da sie jetzt zu sprechen anfing , die mir bekannte liebliche und offenherzige Stimme , die nur etwas trauriger oder weicher klang als an jenem Abend .
" Die Liebe ist eine ernstliche Sache " , sagte sie , " selbst im Scherze !
Aber es gibt wenig Treue und Ehrlichkeit in der Welt .
Nun , wir wollen die Bekanntschaft probieren , wenn Sie mich morgen auf den Tanz führen mögen ; es wundert mein Herz , wie es ist , wenn es mit einem Herrn geht ! "
Der neue Sponsiere antwortete mit leiser Flüsterstimme etwas , was ich nicht verstand ; ich hörte einen leisen Kuß , ein " Gute Nacht ! " worauf das Mädchen hinter der Haustüre verschwand und dieselbe zuschlug , der junge Mann aber raschen Schrittes seiner Wege ging .
Das ist auch eine Freisprechung ! dachte ich und erhob mich mit erleichtertem Gewissen , jedoch mit einer sehr krausen Empfindung .
Ohne mich indessen weiter umzusehen oder eine Minute länger in der Stadt aufzuhalten , eilte ich dem Tore zu und wanderte wenige Zeit später auf der nächtlichen Heerstraße in der Richtung meines Heimatlandes fort .
Zufrieden mit der klaren und fertigen Form , welche mein Geschick nun angenommen hatte , setzte ich ohne Hast und ohne Aufenthalt Fuß für Fuß , als einziges Ziel im Auge , unter das Dach der Mutter zu treten , gleichviel ob arm oder reich .
Stundenlang ging es so weiter ; ich beachtete nicht , daß ich auf einem Kreuzungspunkte war und von der Hauptstraße auf eine unmerklich schmälere Seitenstraße geriet , daß sich eine solche Abzweigung nochmals wiederholte , bis ich mich auf einem ländlichen Fahrwege befand .
Da ich aber nach dem Stande der Gestirne ungefähr nach der richtigen Himmelsgegend zog , so kam es mir nicht so sehr darauf an , ich rechnete eine etwelche Abirrung zu den nötigen Erlebnissen eines Landfahrers .
Ich ging durch Gehölze , über Feld- und Wiesenfluren , an Dörfern vorbei , deren schwache Umrisse oder verlorene Lichter weit vom Wege lagen .
Die tiefste Einsamkeit waltete auf Erden , als es Mitternacht wurde und ich über weite Feldgemarkungen ging ; um so belebter waren die mit den langsam rückenden Sternbildern durchwirkten Lüfte , denn die unsichtbaren Schwärme der Zugvögel rauschten und lärmten in der Höhe .
Noch nie hatte ich diesen herbstlichen Nachtverkehr des Himmels so deutlich wahrgenommen .
Ich kam in einen großen Forst , und die Dunkelheit wurde vollkommen .
Still huschte der Kauz an meinem Gesichte vorüber , und aus der Tiefe schrie der Uhu .
Als ich aber durchfröstelt und ermüdet war , stieß ich in einer Waldlichtung auf einen rauchenden Kohlenmeiler , dessen Hüter in seiner Erdhütte lag und schlief .
Ich setzte mich still an den heißen Meiler , wärmte mich und schlief ein , bis ein Flug hellschreiender Wanderfalken , deren silberblaue Flügel und weiße Brüste im ersten Frührot blitzten , über den Wald flog und mich weckte .
Wie ich mich ermunterte , begann der Köhler aus der Hütte zu kriechen , die Füße voran ; vor ihm stehend wie ein eben angekommener Wandersmann , wünschte ich ihm einen guten Morgen und fragte nach der Gegend und der rechten Straße .
Er wußte nicht viel zu sagen , als daß ich mehr westwärts zu gehen habe .
Der Wald nahm ein Ende , und ich trat in eine weite deutsche Herbstmorgenlandschaft hinaus .
Waldige und dunkle Gebirgszüge streckten sich am Horizont ; durch das Land wand sich ein rötlicher Fluß , weil der halbe Himmel im Morgenrot flammte und die purpurn angeglühten Wolkenschichten über Feldern , Höhen , Dörfern und einer betürmten Stadt hingen .
Die Nebel rauchten an den Waldhängen und zu Füßen der schwarzblauen Berge .
Schlösser , Stadttore und Kirchtürme glänzten rot ; dazu entrollte sich ein hallender Jagdlärm in den Wäldern , Hörner tönten , Hunde musizierten fern und nah , und ein schöner Hirsch sprang an mir vorüber , als ich eben den Forst verließ .
Das Morgenrot verkündete freilich ein nasses Abendbrot und gab mir keine gute Aussicht .
Wenn ich meinen Wanderplan innehalten wollte , so durfte ich nicht daran denken , ein Nachtlager zu suchen , weil das mich für einen Tag der Nahrung berauben konnte .
Ich dachte daher mit einigem Schrecken an die kommenden Fluten und daß ich durchnäßt die zweite Nacht hindurch wandern müsse .
Die Nässe und der Schmutz besiegeln jeglichen schlechten Humor des Schicksals und nehmen dem Verlassenen noch den letzten Trost , sich etwa auf die mütterliche Erde zu werfen , wo es niemand sieht .
Überall kältet ihm die unerbittliche Feuchte entgegen , und er ist genötigt , aufrecht zu bleiben .
In wenigen Stunden verhüllte auch ein graues Nebeltuch alles Licht , und das Tuch begann sich langsam in nasse Fäden zu entfasern , bis ein gleichmäßiger starker Regen weit und breit herniederfuhr , der den ganzen Tag anhielt .
Nur manchmal wechselte das naßkalte Einerlei mit noch kräftigeren Regengüssen , die , vom Winde gepeitscht , einen bewegteren Rhythmus in das Wasserleben brachten ; das Land und Wege überschwemmte .
Ich schritt unverdrossen durch die Fluten , froh , daß ich meinen neuen Anzug von tüchtigem Stoffe gewählt , der etwas aushielt .
Erst zur Mittagszeit , dann aber pünktlich , kehrte ich in einem Dorfe ein und aß eine warme Suppe mit etwas Fleisch und Gemüse nebst einem großen Stück Brot .
Auch ruhte ich eine Stunde und ging darauf wieder in den Regen hinaus .
Denn wenn ich in acht Tagen , welche ich mindestens brauchte , nach Hause gelangen wollte , so mußte ich mich genau in jeder Hinsicht an die vorgesteckte Ordnung halten und durfte dabei nicht einmal erschöpft oder gar krank werden .
Nur so blieb ich bis zuletzt Meister meiner selbst und hatte niemanden zu fürchten .
Nach einigen Stunden ging ich abermals auf einem Waldwege , immer bestrebt , die große Hauptstraße zu erreichen , mit deren Längsachse meine Richtung allmählich wieder zusammenfallen mußte .
Als ich abseits vom Wege eine große Buche sah , deren gelbes Laub noch genügend dicht saß , ging ich hin und fand auf einer ihrer aus dem Boden ragenden Wurzeln eine ziemlich geschützte Ruhestelle und ließ mich nieder .
Da kam ein altes Mütterchen dahergetrippelt , welches mit der einen Hand ein elendes Bündelchen kurzen Reisigs auf dem grauen Kopfe trug , dessen Haare so rauh und zerzaust waren wie das Gestrüppe darauf ; mit der anderen Hand schleppte sie mühselig ein abgebrochenes kleines Birkenbäumchen hinter sich her .
Mit zitternden Schrittchen zerrte sie emsig und keuchend , viele ängstliche Seufzer ausstoßend , den widerspenstigen Busch über alle Hindernisse weg , gleich der Ameise , die einen zu schweren Halm nach dem Bau schafft .
Ich sah dem armen Weibe voll Mitleid zu und mußte mir gestehen , daß es dieser Kreatur wohl noch schlimmer ging als mir und sie doch nicht rastete , sich zu wehren .
Und doch war ich wiederum elend genug daran , da ich ihr nicht einmal irgend etwas helfen oder geben konnte .
Wie ich über diese Ohnmacht beschämt hinstarrte , kam soeben ein Waldhüter des Weges , wohl so alt wie das Weib , aber mit rotem Gesicht , großem Schnurrbart , kleinen Ringen in den Ohren und töricht rollenden Augen .
Der machte sich sogleich über die Frau her , welche den Busch erschrocken fahrenließ , und schrie :
" Hast wieder Holz gestohlen , du Strolchin ? "
Bei allen Heiligen beteuerte die Alte , daß sie das Birkenbäumchen also geknickt auf dem Wege gefunden habe .
Er rief aber :
" Lügen tust du auch noch ?
Wart , ich will dir_es austreiben ! "
Und der alte Mann nahm die alte Graue beim vertrockneten Ohr , das unter einem verschobenen Kattunkäppchen hervorguckte , zerrte sie daran und wollte sie dergestalt mit sich fortschleppen , daß es unnatürlich anzusehen war .
Durch einen plötzlichen Einfall erleuchtet , holte ich meinen Totenkopf aus der Reisetasche , stülpte ihn auf den Stock und streckte ihn durch das Laubwerk des Unterholzes , hinter welchem ich selbst verborgen war .
Zugleich rief ich mit zorniger Stimme :
" Laß das Weib gehen , du schlechter Kerl ! " und schüttelte den Schädel ein wenig , daß die Zähne zusammenklappten und das Laub raschelte , aus welchem er hinausguckte .
Es mußte für die Leutchen draußen aussehen , wie wenn der Tod in dem Busch wäre .
Der Waldhüter blickte nach dem Orte hin , woher die Stimme erscholl , erstarrte förmlich , wurde fahl wie schlecht gebackenes Brot und ließ das Ohr des Mütterchens fahren .
Ich zog das Gespenst sachte zurück ; der Waldhüter starrte bewegungslos her ; als ich es aber weiter oben aus dem Gebüsche tauchen ließ , irrten seine rundlichen Augen ihm dorthin nach , worauf er , so schnell ihn die schlotternden Beine tragen wollten , sich davonmachte , ohne einen Laut von sich zu geben .
Erst in bedeutender Entfernung , wo der Weg sich abbog , blieb er einen Augenblick stehen und schaute behutsam zurück .
Da ließ ich den Schädel etwas wackeln , und sogleich verschwand der Flüchtling um die Ecke und war nicht mehr zu sehen .
Er hatte freilich durchaus keinen Grund anzunehmen , daß bei diesem Wetter und zugunsten des armen Weibchens ein bloßer Hokuspokus im tiefen Walde aufgeführt werde , und überdies zeigten die Ohrringe genügsam an , daß er ein abergläubischer Mensch war .
Das alte Mütterchen , das in seinem Schrecken nichts als die Flucht des Peinigers gesehen , wußte nicht , wie ihm geschah , ließ alles liegen und machte sich ebenfalls aus dem Staube ; mit den zitternden Händen ruderte sie eifrig in der Luft und redete vor sich hin .
Meinesteils packte ich das alte gelbliche Kopfgeräte wieder ein , das so gute Dienste geleistet .
Ich war von dem Scherze ordentlich erwärmt worden und ruhte noch ein Weilchen aus , wie ein Sieger auf dem Kampfplatz , mit dem erquicklichen Gefühle , daß selten einer so übel daran sei , der nicht durch irgendeine kleine Wendung über die Dinge gestellt werden könne .
Ich betrachtete in Gedanken den aus dem Felde geschlagenen Unhold und bemühte mich , die Grundlage seines bestialischen Wesens aufzufinden .
Ich sah die rund glänzenden Augen , die hochroten Gesichtspolster , den grauen , trefflich gepflegten Schnurrbart , die blanken Knöpfe seines Dienstrockes und glaubte zu fühlen , daß das Fundament all des anmaßlich brutalen Gebausches eine grenzenlose Eitelkeit sei , die sich , als einem dumm rohen Menschen innewohnend , nicht anders als in solcher Weise zu äußeren wußte .
Dieser Kerl , dachte ich , welcher vielleicht der sorglichste Vater und Gatte ist und ein guter Gesell unter seinesgleichen , insofern er nur nicht im Prahlen und Ausbreiten seiner Art behindert wird , dieser Kerl gefiel sich ausnehmend wohl und hielt sich nach Maßgabe seiner Dummheit für einen Helden , als er das schwache Weib am Ohr zerrte .
Nicht daß er etwa in der Kirche oder im Beichtstuhle nicht zuweilen einsähe , daß er fehlbar sei ; der Rausch der Eitelkeit und Selbstgefälligkeit ist es , der ihn alle Augenblicke fortreißt und seinem Götzen frönen läßt .
Um so genauer sieht er das Laster an seinem Vorgesetzten , dieser an dem seinigen , und so stufenweise fort , indem einer es am anderen gar wohl bemerkt , aber nie unterläßt , der eigenen Unart voll Wut den Zügel schießen zu lassen , um nicht zu kurz zu kommen und sich herrlich darzustellen .
Alle die tausend voneinander Abhängigen , die sich gegenseitig so erziehen , streichen ihre grauen Schnurrbärte und lassen die Augen rollen , nicht aus Bosheit , sondern aus kindischer Eitelkeit .
Sie sind eitel im Befehlen und im Gehorchen , eitel im Stolz und in der Demut ; sie lügen aus Eitelkeit und sagen die Wahrheit nicht um ihrer selbst Willen , sondern weil sie ihnen für diesmal gut ansteht .
Neid , Habsucht , Hartherzigkeit , Verleumdungssucht , Trägheit , alle diese Laster lassen sich bändigen oder einschläfern ; nur die Eitelkeit ist immer wach und verstrickt den Menschen unaufhörlich in tausend lügenhafte oder wenigstens unnötige Dinge , Brutalitäten und kleinere oder größere Gefahren , die alle zuletzt ein ganz anderes Wesen aus ihm machen , als er eigentlich zu sein wünscht .
Das ist dann die Folge , eine krankhafte Abirrung von seinem Selbst statt der angestrebten Befestigung desselben .
Das ist aber nur die gröbere Hälfte , die Schar der Armen im Geiste .
Die feinere Hälfte , die Schar der Begabten und Gebildeten , irrt nicht von sich ab , die hat einen Zaubersegen , der heißt :
Wir wissen es und wollen es sein , nämlich eitel !
" Die unschuldige Eitelkeit , sie ist die gutartige Verzierung des Daseins !
Das goldene Hausmittelchen der Menschlichkeit und das Gegengift für die grobe , bösartige Eitelkeit !
Die schöne Eitelkeit , als die zierliche Vervollkommnung und Ausrundung des eigenen Wesens , bringt alle Keimlein zum Blühen , die uns brauchbar und annehmlich machen für die Welt ; sie ist zugleich der feinste Richter und Regulator ihrer selbst und treibt uns an , das Gute und Wahre , das sonst verborgen bliebe , in edler Gestalt an den Tag zu bringen .
Selbst Christus war ein bißchen eitel , denn er hielt Haar und Bart gelockt und ließ sich die Füße salben ! "
So klingt dieses schöne Lied , und diese Eitelkeit ist erst der wahre Moloch , dessen gelindes Feuer Menschen und Kieselsteine frißt .
Er bleibt stets er selbst , der Moloch , und fürchtet sich nicht und lächelt sein ehernes Lächeln , während sein heißhungriger Bauch glüht .
An ihm versengen sich Freundschaft , Liebe , Freiheit und Vaterland und alle guten Dinge , und wenn er nichts mehr zu fressen hat , wird er ein kalter Ofen voll Asche .
Während dieser eifrigen Predigt , die ich mir selber hielt , war ich weitergewandert , und da mir das Gedankenspinnen die kühle Zeit vertrieb , so setzte ich es fort .
Ich prüfte nun mich selber und meine Manieren und untersuchte für den Fall , daß ich von dem Laster mäßig frei sein sollte oder je würde , die Stellung , in welcher man sich der eitlen Welt gegenüber befindet .
Gewiß ist , dachte ich , daß die Eitlen die Sklaven der Freien sind , um deren Beifall sie buhlen ; aber Sklaven empören sich und werden grausam wie die Neger von St. Domingo .
In beiden Fällen gilt es , durch sie hindurchzugehen und mit ihnen auszukommen , ohne Schaden an der Seele oder am Leibe zu nehmen .
Aber warum soll man sich denn von ihnen unterscheiden , sich über sie erheben ?
Um auf dieses Erhobensein selbst wieder eitel zu werden ?
Hier befand ich mich in einer Sackgasse , und indem ich den Ausgang suchte , wurde die Grübelei von einem Windstoße unterbrochen , der einen Baum so gewaltig schüttelte , daß dieser seine aufgesammelten Wasser mir jählings auf Schultern und Rücken warf .
Ich schüttelte mich ebenfalls und sah mich nach einer Zuflucht um , die aber nicht vorhanden und mir auch nicht gestattet war .
Dennoch verlangte mich nach irgendeiner Erleichterung ; zuletzt fand ich dieselbe in dem Zwiehansschädel , der mehr seiner unbequemlichen Form als seines Gewichtes wegen mich zu drücken begann .
Allein im Begriff , ihm seitwärts in einem Dickicht sachte niederzulegen , überkam mich plötzlich der Wunsch und das Bedürfnis , in meiner Zwangslage etwas Freiwilliges zu tun und mich dadurch , wenn auch nur eines Daumens hoch , über dieselbe emporzuheben .
Also packte ich den asketischen Gegenstand wieder auf und setzte die mühselige Wanderschaft fort , die mich zum Überfluß noch auf allerlei verlorene und schwierige Pfade brachte .
Neuntes Kapitel Das Grafenschloß So ging es bis zur Abenddämmerung , wo die Ermüdung , Frost und jegliche Schwäche so überhandnahmen , daß ein moralischer Zusammenbruch nur durch die ärgerliche Betrachtung verhindert wurde es könne ja keine Rede davon sein , etwa umzukommen oder unterzugehen , und das schlechte Abenteuer wäre also als bloße Vexation durchaus entbehrlich .
Ich raffte mich nochmals zusammen und bekam wieder die Oberhand .
Endlich trat ich aus den Forsten heraus und sah ein breites Tal vor mir , in welchem ein großes Herrengut zu liegen schien ; denn schöne Parkbäume zeigten sich anstatt des Waldes und umgaben eine Dächergruppe , und weiterhin lag zwischen Feldern und Weidegründen eine weitläufige Dorfschaft zerstreut .
Zunächst vor mir sah ich eine kleine Kirche stehen , deren Türen geöffnet waren .
Ich ging hinein , wo es schon ziemlich dunkel war und das Ewige Licht wie ein trübrötlicher Stern vor dem Altare schwebte .
Die Kirche war offenbar sehr alt , die Fenster zum Teil noch aus gemalten Scheiben bestehend und Wand und Boden mit Grabsteinen und Malern bedeckt .
" Hier will ich die Nacht zubringen " , sagte ich zu mir selbst , " und mich im Schatten dieses Tempels ausruhen ! "
Ich setzte mich in einen schrankartigen Beichtstuhl , in welchem ein dickes Kissen lag , und wollte eben das Vorhängelchen zuziehen , um augenblicklich einzuschlafen , als eine Hand das grüne Seidenfähnchen festhielt und der Küster , der mir in weichen Hausschuhen nachgegangen , vor mir stand und sagte :
" Wollt Ihr etwa hier übernachten , guter Freund ?
Ihr könnt nicht dableiben ! "
" Warum nicht ? " sagte ich .
" Weil ich sogleich die Kirche schließen werde !
Geht nur hinaus ! " erwiderte der Küster .
" Ich kann nicht gehen " , sagte ich , " laßt mich hier sitzen , nur einige Stunden , die Mutter Gottes wird es Euch nicht übelnehmen ! "
" Geht jetzt sogleich ! " rief er , " Ihr könnet durchaus nicht hierbleiben ! "
Ich schlich also trübselig aus der Kirche , und der wachsame Seilzieher machte sich daran , die Türen zu verschließen .
Ich stand jetzt auf dem Kirchhofe , welcher einem wohlgepflegten Garten glich ; jedes Grab war für sich oder mit anderen zusammen ein Blumenbeet , in freier Anordnung ; besonders die Kindergräblein waren anmutig verteilt , bald als eine kleine Versammlung auf einer Raseninsel , bald einsam in einem lieblichen Schmollwinkel unter einem Baume , bald zwischen Gräbern der Alten , gleich Kindern , die den Müttern an der Schürze hängen .
Die Wege waren mit Kies bedeckt und sorgfältig gerecht und führten ohne Scheidemauer unter die dunklen Bäume eines Lustwaldes , Ahorne , Ulmen und Eschen .
Der Regen hatte nachgelassen ; doch fielen noch zahlreiche Tropfen , indes im Westen ein Streifen feurigen Abendrotes lag und einen schwachen Schein auf die Leichensteine warf .
Ich ließ mich unwillkürlich auf eine Gartenbank nieder , die mitten in den Gräbern stand .
Da kam ein schlankes weibliches Wesen aus dem tiefen Schatten der Bäume hervor , mit raschen Schritten , welches reiche dunkle Locken im Winde schüttelte und mit der einen Hand eine Mantille über der Brust zusammenhielt , während die andere einen leichten Regenschirm trug , der aber nicht aufgespannt war .
Diese sehr anmutige Gestalt eilte gar wohlgemut zwischen den Gräbern herum und schien dieselben aufmerksam zu besichtigen , ob die Gewächse von Sturm und Regen nicht gelitten hätten .
Hier und da kauerte sie nieder , warf den leichten Schirm auf den Kiesweg und band eine flatternde Spätrose frisch auf oder schnitt mit einem glänzenden Scherchen eine Aster oder dergleichen ab , worauf sie weitereilte .
Erschöpft wie ich war , sah ich die schöne Erscheinung vor mir hinschweben und dachte nicht viel dabei , als der Küster wieder zum Vorschein kam .
" Hier könnt Ihr auch nicht bleiben , guter Freund ! " redete er mich abermals an ; " dieser Gottesacker gehört gewissermaßen zu den herrschaftlichen Gärten , und kein Fremder darf sich da zur Nachtzeit herumtreiben . "
Ich antwortete gar nichts , sondern sah ratlos vor mich hin ; denn ich konnte mich beinahe nicht entschließen aufzustehen .
" Nun , hört Ihr nicht ?
Auf !
Steht in Gottes Namen auf ! " rief er etwas lauter und rüttelte mich an der Schulter , wie man einen auf der Wirtsbank Eingeschlafenen aufmuntert .
In diesem Augenblicke kam die Dame in die Nähe und hielt ihren sorglosen Gang an , um dem Handel zuzuschauen .
Ihre Neugierde war von so kindlich anmutiger Gebärde und die Person so schönäugig , soviel in der Dämmerung zu sehen , von so unverhohlener natürlicher Freundlichkeit , daß ich für den Augenblick neu belebt mich erhob und mit dem Hut in der Hand vor ihr stand .
Ich schlug jedoch verlegen die Augen nieder , als sie mich in meinem durchnäßten und beschmutzten Aufzug aufmerksam betrachtete .
Inzwischen sagte sie zu dem Kirchendiener :
" Was gibt es hier mit diesem Manne ? "
" Ei , gnädiges Fräulein ! " antwortete der Küster , " Gott weiß , was das für ein Mensch mag sein !
Er will durchaus hier einschlafen ; das kann doch nicht geschehen , und wenn er ein armer Vagabund ist , so schläft er gewiß besser im Dorf in irgendeiner Scheuer ! "
Die junge Dame sagte freundlich , zu mir gewendet :
" Warum wollen Sie denn hier schlafen ?
Lieben Sie die Toten so sehr ? "
" Ach , mein Fräulein " , erwiderte ich aufblickend , " ich hielt sie für die eigentlichen Inhaber und Gastwirte der Erde , die keinen Müden abweisen ; aber wie ich sehe , sind sie nicht viel vermögend und wird ihre Intention ausgelegt , wie es denen gefällt , die über ihren Köpfen einhergehen ! "
" Das sollen Sie nicht sagen " , versetzte lächelnd das Fräulein , " daß wir hierzulande schlimmer gesinnt seien als die Toten !
Wenn Sie sich nur erst ein bißchen ausweisen wollen und sagen , wie es Ihnen geht , so werden Sie uns Lebendige hier schon als leidliche Leute finden ! "
" Darf ich Ihnen zum Anfang meine Schriften vorweisen ? "
" Die können falsch sein !
Verfahren Sie lieber mündlich ! "
" Nun , ich bin guter Leute Kind und eben im Begriff , sosehr ich kann , zu laufen , woher ich gekommen bin !
Leider geht es nicht unaufgehalten , wie es scheint ! "
" Und woher kamen Sie denn ? "
" Aus der Schweiz .
Seit einigen Jahren lebte ich als Künstler in Ihrer Hauptstadt , um zu entdecken , daß ich keiner sei .
So bin ich nun ohne bequeme Reisemittel auf dem Heimwege und glaubte , ohne jemandem lästig zu fallen , nur so durchlaufen zu können .
Das hat der Regen verhindert ; darum hoffte ich ungesehen die Nacht in dieser Kirche zuzubringen und in aller Frühe still weiterzuziehen .
Wenn hier ganz in der Nähe ein Vordach oder ein offener Schuppen ist , denn weiter kann ich nicht mehr , so befehlen Sie großmütig , daß man mich dort ruhen läßt und tut , als ob ich gar nicht da wäre , und am Morgen werde ich dankbar wieder verschwunden sein ! "
" Sie sollen ein besseres Quartier haben , kommen Sie jetzt mit mir , ich will es vorläufig über mich nehmen , bis mein Vater erscheint , der bald von seiner Jagdpartie zurückkehren wird . "
Obschon ich vor kalter Nässe schlotterte , seit ich dastand , zögerte ich doch , ihr zu folgen .
Als das Fräulein mich wartend ansah , bat ich um Entschuldigung , ich sei trotz meiner wunderlichen Lage kein Bettler , und ihr Anerbieten kreuze meinen Plan , ohne fremde Hilfe nach Hause zu gelangen .
" Sie sind aber ja ganz durchnäßt und frieren wie ein Pudel , mein stolzer Herr !
Wenn Sie im Freien bleiben , so können Sie bis zum Morgen das schönste Fieber haben und sind dann erst recht verhindert , ohne Hilfe und Pflege weiterzukommen .
Sie sollen sich vorderhand auch nur in einem Gartenhause aufhalten , wo ich den Tag zugebracht habe und ein warmes Feuer brennt .
So sperren Sie sich denn nicht länger , damit wir Sie nach Ihrem Wünsche am sichersten und aufs bäldest wieder loswerden !
Und Ihr , Küster , folgt uns als dienstbare Begleitung , zur Strafe dafür , daß Ihr diesen frommen Pilgrim so ungastlich behandelt habt ! "
" Und was würde man mir sagen , gnädigstes Fräulein " , brummte der Küster ganz unwirsch , " was würde man mit mir anfangen , wenn ich nachts die Kirche offenließe oder einen Fremden darin einschlösse ?
Hat man noch nie von nächtlichem Kirchenraub gehört ?
Wurden noch keine Leuchter , Kelche und Patenen gestohlen ? "
Hier mußte ich lachen und sagte :
" Haltet Ihr mich für einen Shakespeareschen Bardolph , der in Frankreich wegen der gestohlenen Monstranz gehängt wurde ? "
" Nachdem er schon in England einen Lautenkasten entwendet , zwölf Stunden weit getragen und für drei Kreuzer verkauft hatte ? " fügte das vortreffliche Frauenzimmer bei , indem sie mit einem hellen Antwortlachen mich anblickte .
Da versetzte ich meinerseits :
" Wenn Sie im Gebrauche gemeinschädlicher Zitate so schlagfertig sind , darf ich es doch wagen , Ihnen zu folgen ; denn wir gehören ja einem öffentlichen Geheimorden an , der sein Dasein billig durch gegenseitiges Wohltun nützlich machen mag . "
" Sehen Sie , so hat alles in der Welt seine gute Seite ! " sagte sie und schritt vorwärts ; ich ging mit , und der Küster folgte uns verblüfft und mißtrauisch durch den dunklen Park .
Bald leuchteten durch die Bäume die erhellten Fenster eines geräumigen Gartenhauses , das in einiger Entfernung vom Wohngebäude stehen mochte .
Wir traten in einen kleinen Saal , der nur durch eine Glastüre vom Parke getrennt war ; ein schönes Feuer brannte im Kamin , die Dame rückte einen Lehnstuhl von Rohrgeflecht herbei und forderte mich auf , nunmehr auszuruhen .
Ohne Säumen setzte ich mich in den Stuhl , fand mich aber durch meine unförmige Reisetasche einigermaßen belästigt .
" So legen Sie doch die Tasche ab ! " sagte die Herrschaftstochter , " oder tragen Sie wirklich einen gestohlenen Lautenkasten darin herum , weil Sie sich nicht davon trennen können ? "
" Es ist so was ! " meinte ich dagegen , entledigte mich aber des von dem Schädel geschwollenen Umhängesels , welches der Küster auf einen Wink des Fräuleins mir abnahm und in einen Winkel lehnte .
Mit der Fußspitze befühlte er dabei fast unmerklich die rundliche Erhöhung , ob nicht wenigstens eine geraubte Melone dahinterstecke , da er aus dem Lautenkasten nicht klug wurde .
Das Fräulein , das inzwischen sich zu schaffen gemacht , kam jetzt wieder , stellte sich vor mich hin und fragte mitleidig :
" Wie heißen Sie denn ?
Oder wollen Sie ganz inkognito reisen ? "
" Heinrich Lee " , sagte ich .
" Herr Lee , geht es Ihnen durchaus schlecht ?
Ich habe keinen rechten Begriff davon .
Sie sind doch am Ende nicht so arm , daß Sie auch nichts zu essen haben ? "
" Es hat nichts zu bedeuten , aber im Augenblicke ist es allerdings so ; denn wenn ich mehr als einmal im Tag esse , so reicht meine Kriegskasse nicht aus , bis ich nach Hause komme . "
" Aber warum tun Sie das ?
Wie kann man sich so der Not aussetzen ? "
" Nun , mit Absicht habe ich es gerade nicht getan ; da es aber einmal so ist , so nehme ich es sogar dankbar hin , insoweit der Zwang einen Dank verdient .
Man lernt an allem etwas .
Für Frauen sind dergleichen Übungen nicht notwendig , da sie immer nur tun , was sie nicht lassen können ; für unsereinen sind so recht handgreifliche Exerzitien gut ; denn was wir nicht sehen und fühlen , sind wir selten zu glauben geneigt oder halten es für unvernünftig und nicht der Beachtung wert ! "
Sogleich holte sie mit Hilfe des Küsters einen kleinen Tisch herbei , auf welchem ein paar Teller mit einigem Essen standen .
" Hier ist zum Glück gerade mein Abendbrot .
Nehmen Sie vorläufig etwas zu sich , bis Papa nach Haus kommt und für Sie sorgt .
Geht schnell ins Haus hinüber , Küster , und laßt Euch von der Haushälterin eine Flasche Wein geben , hört Ihr ?
Trinken Sie lieber weißen oder Rotwein , Herr Lee ? "
" Roten ! " sagte ich unhöflich , weil ich jetzt wieder verlegen war , in diesem Zustande zwischen einem hilfsbedürftigen und unbekannten Landfahrer und einem gut behandelten Angehörigen der Gesellschaft das rechte Wort zu treffen .
" So soll man Euch von unserem roten Tischwein geben ! " rief sie dem abgehenden Küster nach und zog dann an einer Klingelschnur , worauf ein ländlich gekleidetes Mädchen herbeigelaufen kam , welches , von meinem Anblick überrascht , stehenblieb und mich mit Erstaunen betrachtete .
Es war die Tochter eines Gärtners , der unter dem gleichen Dache seine Wohnung hatte ; wie sich mit der Zeit ergab , stellte sie die Dienerin und Vertraute des Fräuleins in einer Person vor und stand mit der Herrentochter auf du und du .
" Wo steckst du , Röschen ? " rief die letztere , " hurtig zünde Licht an , wir haben eine Heimsuchung und bleiben vorerst noch hier ! "
Ich unterdessen hatte Gabel und Messer ergriffen , um einer Schnitte kalten Bratens zuzusprechen , war aber neuerdings verlegen .
Das silberne Werkzeug war ein offenbar lange gebrauchtes Kinderbesteck ; auf der kleinen Gabel war in gotischer Schrift der Name " Dorothea " sauber eingegraben , und da das neuangekommene Röschen die Herrin soeben Dortchen nannte , hielt ich unzweifelhaft ihr eigenes Eßgeräte in der Hand .
Ich legte dasselbe nieder ; Röschen bemerkte gleichzeitig den Umstand und rief : " Was machst du denn , Dortchen ?
Du hast ja dem Manne dein eigenes Besteck gegeben ! "
Leicht errötend sagte das sogenannte Fräulein Dortchen :
" Wahrhaftig , so geht es , wenn man zerstreut ist !
Entschuldigen Sie , daß ich Sie mit meinen Kinderwaffen versehen habe !
Sollten Sie indessen nicht davor ekeln , so dürften Sie nur ruhig fortfahren , und ich selbst gewänne das Ansehen einer heiligen Elisabeth , welche die Armen aus ihrem eigenen Teller speist . "
Auf diesen artigen Scherz wußte ich nichts mehr einzuwenden .
Doch wollte es mit dem Essen nicht recht gehen ; ich empfand auf einmal keinen Appetit , vielmehr bedrückte mich ein Gefühl , als ob ich am unrechten Orte wäre , und wünschte , draußen auf der Landstraße und in der Freiheit zu sein , wußte aber freilich , daß es nicht gut gehen würde .
Es wurde mir etwas behaglicher zu Mute , als ich ein Glas Wein ausgetrunken , das mir Röschen eingeschenkt , mich mit kritischen Äuglein musternd .
Dann lehnte ich mich zurück und sah dem Treiben der beiden Personen zu .
Das Fräulein hatte sich inmitten des Saales an einen großen runden Tisch gesetzt , und die Gärtnerstochter stand neben ihr .
Auf dem Tische befanden sich allerlei Gläser und Krügelchen mit Blumen und bunten Waldsachen , wie sie der Herbst zu bringen pflegt , rote und schwarze Beerenbüschel .
Dazwischen lag merkwürdiges , purpurrotes oder goldgelbes Blattwerk , gefiedert und herzförmig , glänzend grüne Efeublätter von besonderer Schönheit , Schilf , alles bereit , zu einem Strauße vereinigt zu werden oder auch so zur Augenweide zu dienen .
Die Blumen schienen von dem Kirchhofe zu kommen , wie ich denn sah , daß das Fräulein auch die heute gepflückten eben in ein Glas mit frischem Wasser stellte .
Einige Sträußchen waren frisch , andere verwelkt oder halb verwelkt , was anzuzeigen schien , daß die Schöne eine liebevolle Freundin und Pflegerin der Toten sein müsse .
Das erinnerte mich an die Sage von der heiligen Elisabeth , die als Kind mit ihren Genossen gern auf Gräbern gespielt und von den Toten gesprochen hatte , und da diese Dorothea selbst in jenen Legenden bewandert war , so verlieh dies alles ihrem Wesen den Goldglanz einer tieferen Gemütsart , während ihr freies und entschiedenes Benehmen die Voraussetzung einer kirchlichen Bigotterie nicht aufkommen ließ .
Ich blickte mit einer Art einschläfernden Wohlgefallens nach dem Tische hin , sah und hörte mit halboffenen Augen und Ohren noch eine Weile , was sie taten und sprachen , ohne darauf zu merken , bis ich wirklich einschlief .
Auf einem Stuhle neben sich hatte das Fräulein eine umfangreiche Mappe stehen , aus welcher sie größere und kleinere Blätter nahm , die auf Bogen starken Papieres zu heften sie beschäftigt war , daß die Blätter geschützt und mit einem breiten Rande versehen wurden .
Das bewerkstelligte sie mit kleinen Papierstreifchen und etwas arabischem Gummi , und Röschen hielt ihr diese Dinge bereit .
" Nun müssen wir wieder Papier zuschneiden " , sagte sie , als der Vorrat der Unterlagen soeben zu Ende ging .
Sie schoben die hindernde Unordnung des Tisches eifrig zur Seite , um Raum zu gewinnen , legten neue Bogen auf und begannen mit ihren Arbeitsscheren darin zu wirtschaften , wie wenn sie Leinwand vor sich hätten und Handtücher zuschnitten .
Da das Papier keine leitenden Fäden besaß , so schrumpfte es stellenweise auf der Klinge zusammen , oder die Scheren fuhren ins Krumme , und die Mädchen erlitten allerhand kleinen Verdruß , den sie sich scherzend vorwarfen .
" Ei , Kind " , rief Dorothea , " du machst ja lauter gefranste Ränder , Papa wird unsere Arbeit gewiß kassieren , wenn er sie sieht , und sich endlich selbst dahintermachen ! "
" Und du mit deinem Augenmaß !
Sieh , wie schief die Landkarte dort sitzt !
Da machen wir es besser , der Vater und ich , wenn wir die Gemüsebeete abteilen ! "
" So schweige doch , ich weiß es ja schon !
Es sind aber auch gar zu große Dinger darunter , man kann sie gar nicht ordentlich übersehen !
Da haben wir im Institut vernünftigeres Format gehabt , wenn wir unsere Blumenbildchen malten ; nun , der Papa bringt die Sachen nachher schon mit Lineal und Bleistift in die Richte .
Die Hauptsache ist , daß wir kein Blatt zu klein schneiden ; denn er will alle von der gleichen Größe haben .
Er hat schon einen Kasten dafür machen lassen , worin sie liegen sollen wie in Abrahams Schoß ; auch ein paar hölzerne Rahmen mit Gläsern hat er für sein Studierzimmer bestellt , um abwechselnd dies oder jenes Blatt darin aufzuhängen , das ihm besonders gefällt .
Diese Rahmen werden auf der Rückseite mit bequemen Schiebern versehen sein . "
" Was nur an diesen Sachen zu gucken ist ?
Zu was braucht man sie denn ? "
" Ei , du Närrchen , zum Vergnügen !
Man muß sie kennen oder verstehen , das ist das Vergnügen !
Siehst du denn nicht , wie lustig dies aussieht , alle diese Bäume , wie das kribbelt und krabbelt von Zweigen und Blättern und wie die Sonne darauf spielt ?
Und alles das hat einer lernen müssen , um es hervorzubringen ! "
Röschen legte die Arme auf den Tisch , neigte das Näschen gegen ein Blatt und sagte : " Wahrhaftig , ja , ich sehe_es !
Wie meines Vaters grüne Sonntagsweste !
Ist das hier ein See ? "
" Warum nicht gar ein See , du Heuschrecke !
Das ist ja der blaue Himmel , der über den Bäumen steht !
Seit wann sind denn die Bäume unten und das Wasser oben ? "
" Gehe doch , der Himmel ist ja rund und gewölbt , und das Blaue hier ist flach und viereckig , wie unser großer Teich , wo der Herr die jungen Linden darum hat pflanzen lassen .
Gewiß hast du das Bild verkehrt aufgeklebt !
Wend es einmal um , dann ist das Wasser unten , und die Bäume sind ordentlich oben ! "
" Ja , auf dem Kopf stehend !
Das ist ja nur ein Stück vom Himmel , du Kind !
Guck durchs Fenster , so siehst du auch nur ein solches Viereck , du Viereck ! "
" Und du Fünfeck ! " sagte Röschen und schlug der Herrin mit der flachen Hand sanft auf den Rücken .
Ich schlief über dem Mädchengezwitscher , das sich bis hierher ohne meine Teilnahme mir ins Gehör geschmeichelt , wirklich ein , erwachte aber einige Minuten später über einer ganz nah vor mir stattfindenden wohllautenden Ausrufung meines Namens .
Die Gärtnerin hatte nämlich nach einem Weilchen , indem sie das aufgezogene Blatt weglegte , in einer Ecke desselben Namen und Jahreszahl zufällig bemerkt und gesagt :
" Was steht denn hier geschrieben ? "
- " Was wird da stehen ! " hatte Dorothea erwidert , " der Name des Künstlers , der die Studien gemacht hat ; denn das nennt man Studien , Landschaftsstudien !
Heinrich Lee heißt er , alles in dieser Mappe ist von ihm ! "
Dann hatte sie sich plötzlich selbst unterbrochen , nach mir hergesehen und gerufen :
" Wie kann man so gedankenlos sein !
Das sind ja meistens Schweizerlandschaften , wie Papa sagt ! "
Als ich jetzt die Augen aufschlug , stand sie dicht vor mir und hielt einen großen Bogen , zierlich an den oberen Ecken gefaßt , vor der Brust , wie eine Kirchenstandarte , den schönen Mund noch geöffnet von dem Ausrufe : " Herr Heinrich Lee ! "
Ich war aber schon so schlaftrunken , daß ich die ersten Augenblicke nicht wußte , wo ich mich befand .
Ich sah nur ein reizendes Wesen vor mir stehen , das mit freundlichen Augensternen über ein Bild herblickte .
Voll traumhafter Neugierde beugte ich mich vor und starrte auf das Bild , bis mir erst die Waldlandschaft als bekannt erschien und ich mich dann auch meiner Jugendarbeit erinnerte .
Es war ein überhöhtes Bild , welches zwischen schlanken Stämmen eine helvetische Schneefirne schimmern ließ .
Ich erkannte es besonders auch an einer großen , breit wuchernden Schierlingspflanze , deren weiße , auf tiefem Helldunkel schwebende Blütenbüschel hell vom Lichte gestreift wurden .
Diese malerische Pflanze hatte mir in jenen vergangenen Tagen so viel Freude gemacht , daß ich sie mit glücklicherem Fleiße als gewöhnlich nachgebildet , und sie war auch so reichhaltig und gelungen in ihren speziellen Stengel- und Blätterkünsten , daß ich nie einer zweiten Schierlingsstudie bedurfte , solang ich dieses Blatt besaß .
Auch hatte ich ihr ein wehmütiges Fahrewohl gesagt , als ich mich davon trennte .
Aber von dem Bilde weg blickte ich in das Gesicht hinauf , welches darüber lächelte , und auch dieses erschien mir in dieser Nähe und der glänzenden Beleuchtung des Feuers plötzlich als altvertraut ; und doch wußte ich nicht , wo ich es schon gesehen .
Ich sann und sann , denn die Erscheinung reichte über diesen Tag , dessen Erlebnisse mir übrigens auch nicht gleich gegenwärtig waren , in das Vergangene zurück .
Unversehens erkannte ich an einem grüßenden Winken der Augen und der geöffneten Lippen das schöne Frauenzimmer , welches einst bei dem alten Trödler ins Fenster geschaut und nach chinesischen Tassen gefragt hatte ; und nun zweifelte ich nicht länger , daß ich noch in einem jener Träume von der mißlungenen Heimkehr begriffen sei , und hielt demnach die ganze Erscheinung für ein neckendes Traumbild und meine Gedanken hierüber für das scheinbare Bewußtwerden des Träumenden , der zu erwachen und sich im alten Elende zu finden fürchtet .
Da ich aber in der Tat erwacht war und mit lebendigem Verstande arbeitete , so empfand ich alles um , so deutlicher und stärker , und als ich den Blick wieder auf die unschuldige Landschaft wandte , in welcher ich jeden bunten Stein und jedes Gras wiederzuerkennen mir bewußt war , wurden mir die Augen naß , und ich drehte den Kopf zur Seite , um das Traumbild verschwinden zu lassen .
Nach Jahren noch entnehme ich dieser kleinen Begebenheit , daß das Erlebte zuweilen doch so schön ist wie das Geträumte , und dabei vernünftiger ; und auf die Dauer kommt es ja nicht an .
Dorothea war verstummt und sah mit Rührung und Teilnahme meinem Verhalten zu ; sie vermochte sich nicht zu bewegen und verharrte daher eine Minute in ihrer anmutvollen Stellung .
Endlich rief sie wiederholt meinen Namen und sagte : " So sprechen Sie doch !
Sind Sie es , der dies gemacht hat ? "
Von dem vollen Ton ihrer Stimme ermuntert , stand ich auf , ergriff den Bogen und nahm denselben prüfend in beide Hände .
" Gewiß habe ich das gemacht " , sagte ich ; " wie kommen Sie dazu ? "
Zugleich wurde ich nachträglich auch der übrigen Sachen vollständig gewahr , mit denen ich die Frauenzimmer im Halbwachen hatte hantieren sehen ; ich ging zum Tische hin , nahm einige Blätter in die Hand , störte auch mit ein paar Griffen in der Mappe herum , alle waren es meine Zeichnungen und Studien ; nichts schien zu fehlen , sie lagen beieinander , wie sie einst in meinem Besitze getan .
" Welch ein Abenteuer ! " rief ich nun selbst voll Verwunderung ; " wer würde glauben , dergleichen zu erfahren ! "
Dann blickte ich wieder auf das Fräulein , das meinen Bewegungen mit ebenso gespannter als erfreuter Neugierde und offenen Auges folgte ; und ich sagte : " Aber auch Sie habe ich schon gesehen , und ich weiß jetzt , wo Sie die Sachen geholt haben !
Haben Sie nicht eines Tages dem alten Joseph Schmalhöfe ins Fenster gesehen und nach alten Tassen gefragt , als einer dort auf der Flöte blies ? "
" Freilich , freilich ! " rief sie ; " aber lassen Sie Mal sehen ! "
Ohne sich zu scheuen , schaute sie mich genau an , indem sie die Hände auf meine Schultern legte .
" Wo habe ich heute nur meine Gedanken ? " sagte sie mit neuem Erstaunen ; " es ist so !
Ich habe dies Gesicht gesehen in der Höhle des Hexentrödlers , wie ihn der Vater nennt .
» Und ob die Wolke sie verhülle « , haben Sie geflötet , nicht wahr , Herr Heinrich - Herr Heinrich Lee ?
Wie heißt es nur weiter ? "
" » Die Sonne bleibt am Himmelszelt ! es waltet dort ein heiliger Wille , nicht blindem Zufall dient die Welt ! «
Was soll ich nun davon denken ? "
" Nun , wenn wir durchaus Mythologie treiben wollen , so mag die allerliebste Gottheit des Zufalls herrschen , solange sie so artige Streiche macht !
Man sollte ihr nur junge Rosen und Mandelmilch opfern , damit sie immer so leicht , so leis und so wohltätig regiert !
Jetzt aber sollen Sie auch in aller Ordnung aufgenommen sein , wie es der denkwürdigen Begebenheit und den Umständen gemäß ist !
Im Hause hier ist ein einfaches Gastzimmer .
Ich will sogleich die nötige Vorkehr treffen , daß Sie sich vorderhand umkleiden können .
Bleibe so lang hier , Röschen , daß dem ärmsten Herrn Lee niemand etwas tut ! "
Worauf sie forteilte .
Ich wußte nicht , ob ich diese neue Wendung für ein Glück erachten sollte , und beschaute seufzend meine Zeichnungen , die ich so unerwartet wiedergefunden , um sie abermals zu verlieren .
Das gute Mädchen Rosine , welches sich schnell in die gute Laune der Herrin gefunden und mich für schüchtern halten mochte , sagte freundlich :
" Machen Sie sich gar nichts daraus !
Der Herr Graf und das Fräulein tun immer , was ihnen beliebt und was recht ist .
Und wie sie es tun , so meinen sie es auch und kümmern sich nicht um das , was andere Herrschaften sagen . "
" Also bin ich gar noch bei einem Grafen ? " versetzte ich , mehr erschrocken als angenehm überrascht .
" Das wissen Sie nicht ?
Beim Grafen Dietrich zu W... Berg ! "
Da kam nun nach allem noch die Unkunde hinzu , mit Leuten mir gänzlich fremder Rangklassen umzugehen ; ich hatte in meinem Leben nie mit einem sogenannten Grafen verkehrt und hegte abenteuerliche Vorstellungen von den persönlichen Lebensarten und Ansprüchen solcher Herren , die meinen angeborenen bürgerlichen Gleichheitssinn beeinträchtigten .
Bedachte ich aber , daß ich , selbst wenn der Hausherr ein Bauer wäre , in meinen Schuhen schon nicht mehr auf gleichen Füßen mit ihm stände , so geriet ich in neue Verwirrung über die Wendung , die meine Wanderschaft genommen .
Das Mädchen fahre jedoch gutmütig fort , mir Mut einzuflößen .
" Der Herr wird sich ganz gewiß verwundern und freuen , Sie so unvermutet zu finden ; denn als er seinerzeit die ersten Bilder aus der Residenz gebracht und später immer noch welche anlangten , hat die Herrschaft sie alle Tage betrachtet , und die Mappe mußte immer bereitstehen . "
Nach einiger Zeit kam Dortchen zurück .
" Tun Sie mir nun den Gefallen und gehen Sie eine Treppe höher ! " sagte sie ; " Röschen wird Ihnen hinaufleuchten und ihr Vater die weitere Handreichung tun .
Machen Sie sich so bequem , als es in der Schnelligkeit möglich ist , damit Sie in guter Verfassung noch den Papa begrüßen können und ich keinen Verweis wegen versäumter Menschenpflichten erhalte ! "
Ich ergriff meine Reisetasche , welche mir Röschen jedoch abnahm und nebst einem Leuchter vorantrug , und so wanderte ich in Gottes Namen in den oberen Stock des Gartenhauses und in die Wohnstube des Gärtners .
Dieser saß mit dem Küster beim Abendtrunk und empfing mich schon als einen Ankömmling , bei dem alles in Ordnung ist ; auch der Küster betrachtete mich jetzt als einen Gast , der wohl empfohlen und erwartet wurde , sich aber offenbar mit der Art seines Auftretens einen eigentümlichen Scherz gemacht hat .
Der Gärtner führte mich noch einige Stufen höher , wo auf der dem Schlosse zugewendeten Rückseite des Gartenhauses ein auf hölzernen Säulen ruhendes Sälchen hinausgebaut war .
Dies angehängte Lustgebäudchen war außen von den Säulenfüßen bis zum Dache mit purpurrotem Geißblatt bekleidet ; inwendig enthielt das Gemach ein Bett und anderes Geräte in so genügender Wahl , daß man nicht nur Nächte , sondern auch Tage darin wohnen konnte .
Auf Stühlen lagen schon bequemliche Kleidungsstücke bereit , deren mich zu bedienen der Gärtner die Einladung ergehen ließ .
Um sie nicht anziehen zu müssen , zog ich jedoch vor , mich gleich zu Bette zu legen , zumal ich die Augen zu schließen wünschte , und ich bat den Gärtner , meine nassen Kleider zu holen , sobald jenes geschehen sei , damit sie getrocknet und gereinigt würden .
Als ich nach allem diesem endlich im Dunklen lag , hörte ich Geräusch von Pferden und Wagen , auch Gebell von Hunden .
Das war ohne Zweifel der heimkehrende vornehme Herr , vor welchen heute nicht mehr hintreten zu müssen ich als schätzbaren Aufschub betrachtete .
Zehntes Kapitel Glückswandel Der Schlaf war so fest und andauernd , daß ich erst um die Mitte des Vormittags munter wurde .
Meine Kleider waren in gutem Zustande längst geräuschlos in das Zimmer gebracht worden ; als ich sie erblickte , pries ich den Handel , den ich mit dem freundlichen Hebräer abgeschlossen .
So gibt der Augenblick den Dingen stets ihren besonderen Wert : der geringe Ertrag meiner Arbeit erschien mir jetzt in Gestalt eines anständigen Kleides willkommener , als mir die doppelte oder vierfache Summe zu anderer Zeit gewesen wäre .
Während ich mit dem Anziehen beschäftigt war , klopfte jemand an der Türe .
Auf mein " Herein ! " öffnete sich dieselbe weit , und ein großer schöner Mann stand darin , die Klinke in der Hand , das Gemach samt seinem Insassen aufmerksam überschauend .
Er trug einen damals noch ungewöhnlichen Vollbart , der wie das Haupthaar leicht angegraut war , und einen grauen kurzen Jagdrock mit Knöpfen von Hirschhorn .
" Guten Tag ! lassen Sie sich nicht stören ! " sagte er mit frischem kräftigem Klang der Stimme ; " ich will nur sehen , wie es meinem Gaste geht ! "
" Es geht mir ja sehr wohl , Herr Graf , insofern ich die Ehre habe , in Ihnen wirklich den Herren des Hauses zu begrüßen ! " antwortete ich etwas verlegen , indem ich den Kamm weglegte , den ich gerade handhabte , und mich verbeugte , so gut ich es verstand .
" Bitte , fahren Sie fort in Ihrem Geschäfte , und tun Sie nicht anders , als wenn Sie zu Haus wären !
Zuerst aber seien Sie mir willkommen ! "
Er trat mit diesen Worten vollends in das Zimmer und schüttelte mir die Hand , und von dem Augenblick an verlor ich ihm gegenüber jede Befangenheit , denn in seiner Hand , seinem Blicke und seiner Stimme kündigte sich der freie Mensch an , der über den zufälligen Dingen steht .
" Nun sagen Sie aber " , rief er lebhaft , indem er sich ans offene Fenster setzte , um mir Raum zu lassen , " sind Sie in der Tat unser Mann , unser Heinrich Lee , der auf den Zeichnungen überall geschrieben steht ?
Ihre Bestätigung würde mir das größte Vergnügen machen .
Ich habe nämlich in früheren Jahren selbst dergleichen getrieben , gab es aber wegen zu großer Ungeschicklichkeit auf ; dagegen freute ich mich jedesmal , wenn es mir gelang , das eine und andere nach der Natur geschaffene Blatt zu erwerben , was indessen nicht oft vorkommt .
Nichts konnte mir daher willkommener sein als der Besitz sozusagen eines ganzen derartigen Vermögens , das die vollständige Entwicklung eines redlich Strebenden und zugleich eine Menge reeller Gegenstände in sich begreift .
Als wir die Gelegenheit bei dem schnurrigen Winkelmäzenaten aufstöberten , sorgte ich sogleich dafür , daß alles in meine Hand gelange , suchte auch die Quelle direkt zu erfahren ; allein der Alte wußte sie beharrlich geheimzuhalten ! "
Ich hatte aus meiner Reisetasche ein Bäcklein hervorgesucht , das neben den Briefen der Mutter meinen Reisepaß enthielt .
Denselben entfaltend , hielt ich dem Grafen die Urkunde hin , welche meinen Namen und Stand amtlich bezeichnete .
" Es ist nicht anders , Herr Graf ! " sagte ich , wohlgemut lachend ; " ein romantisches Geschick vergönnt mir , die bescheidenen Früchte meiner Jugendjahre nochmals zu sehen und gut verwahrt zu wissen , ehe ich dahin zurückkehre , wo sie entstanden sind . "
Der Graf nahm den Paß und las ihn aufmerksam , um sich die Tatsache recht einzuprägen und nicht aus Zweifel an meinen Worten , wie er sich ausdrückte .
" Es ist ein köstlicher Zufall " , setzte er hinzu ; " nun kann aber zunächst von Weiterreisen keine Rede sein , wenn wir ihm die gebührende Ehre antun wollen !
Mich wundert , wie Sie in Ihre mißliche Lage geraten sind und wie sich ein solches Leben gestaltet , was Sie ferner zu tun gedenken , und alles ist vergnüglich zu besprechen , während Sie sich bei uns , soviel als nötig ist , erholen - " Plötzlich blickte er mit großen Augen auf den Tisch , von dem ich achtlos ein Handtuch weggenommen , um die Hände zu trockenen , die ich inzwischen gewaschen .
Dieses Tuch hatte ich vorhin rasch über den Inhalt meiner Wandertasche geworfen , als an der Türe geklopft wurde , und nun lagen der Schädel und das eingebundene Manusskriptum meiner Jugendgeschichte offen da .
" Das ist ja ein mysteriöses Reisegepäck ! " rief er , an den Tisch herantretend , " ein Totenschädel und ein grünseidener Quartant mit goldenem Schloß !
Sind Sie ein Geisterbeschwörer und Schatzgräber ? "
" Leider nicht , wie Sie sehen ! " erwiderte ich und gab in wenigen Zügen die verdrießliche Geschichte mit dem Schädel zum besten , und da das bißchen Sonnenschein mich schon fröhlicher und redseliger machte , so erzählte ich auch noch den gestrigen Scherz , den ich mit dem Waldhüter vorgehabt .
Mit seinen ruhig leuchtenden Augen sah mich der Graf durchdringend an .
" Und das Buch , was ist_es mit dem ? "
" Das habe ich geschrieben , als ich nichts mehr zu tun und zu leben wußte ; es enthält einfach die Beschreibung meiner jungen Jahre , mit welcher ich mir eine Selbstprüfung auferlegte ; es ist dann aber ein bloßes Erinnerungsvergnügen daraus geworden .
An dem tollen Einband bin ich nicht schuld . "
Ich erzählte , wie ich durch das Mißverständnis des Buchbinders um meine letzten Gulden gekommen , alsdann den Hunger kennengelernt habe und durch das Flötenwunder zu dem Trödler geraten sei .
" Also das ist die Geschichte , wo Dorothea Sie die Flöte blasen hörte ? " rief der Graf mit herzlichem Lachen ; " aber weiter !
Was ist seither geschehen ? "
Ich fügte noch das Abenteuer mit den Fahnenstangen hinzu und die stille Befriedigung , die mir dasselbe gebracht , sowie den Tod der Hauswirtin und so weiter bis zum Schädelwurf des Wirtes , den ich schon erzählt hatte .
Die kurze Begegnung mit Hulda und das übrige verschwieg ich .
Der Graf ergriff das Buch .
" Darf man es aufmachen oder gar darin lesen ? " fragte er , und ich bejahte es gern , wenn es ihm nicht zu langweilig sei .
" So wollen wir jetzt hinübergehen und etwas frühstücken , denn wir essen erst in drei Stunden . "
Er nahm das Buch unter den einen Arm , mich unter den anderen , und wir begaben uns nach dem Schlosse , wie das Hauptgebäude genannt wurde , das zu Anfang des vorigen Jahrhunderts erbaut sein mochte .
Der Graf führte mich in seine Zimmer im Erdgeschosse , deren Mittelpunkt ein heller Bibliotheksaal mit geräumigen Arbeitstischen bildete .
Auf einem derselben stand ein Frühstück bereit , und da neben lag auch schon die Mappe mit meinen Studien .
Während Graf Dietrich kameradschaftlich die Erfrischung mit mir teilte , schlug er die Mappe auf .
" Sie müssen mir die Sachen etwas ordnen " , sagte er , " und können sich zunächst die Zeit damit vertreiben .
Viele der Blätter tragen kein Datum , während die Manieren und Fertigkeiten , Sorgfältiges und Nachlässiges , glücklich Gelungenes und Mißratenes , alles zugleich mit ungleicher Sicherheit oder Unsicherheit begleitet , so durcheinandergehen , daß ich die gewünschte Einordnung nach der Zeitfolge nicht recht zustande bringe .
Ich weiß nicht , ob Sie mich verstehen !
Hier ist ein Blatt , welches bei unentwickeltem Können , das offenbar auf frühere Anfänge zurückweist , dennoch den Nagel auf den Kopf getroffen hat und mit anmutigem naivem Gelingen gekrönt ist ; dort paart eines mit vorgeschrittener Sicherheit des Machwerks ein sichtliches Fiasko des Gewollten , kurz , alles dies ist mir interessant , und ich wünschte die Sammlung so chronologisch genau als möglich geordnet zu sehen , das heißt , dasjenige vorbehalten , was wir überhaupt darüber noch beschließen werden .
Ich habe heute früh schon in dieser Hinsicht nachgedacht ! "
Ich war überrascht von dem richtigen Verständnis , mit welchem er durch hervorgezogene Beispiele sein Urteil belegte .
Doch holte er aus einem Schranke noch einige Hefte herbei .
" Hier ist aber noch ein Fall , aus dem ich nicht recht klug werde ; sind diese Gebilde wirklich auch von Ihnen ?
Ich sehe , daß es zerschnittene Sachen sind , weiß sie aber nicht zusammenzubringen . "
Es waren meine gewesenen Kartonkompositionen .
Das Trödelmännchen hatte aber die Blätter der verschiedenen Hefte durcheinandergeworfen , bunte und grau in grau gehaltene , größere und kleine jedem Hefte zugeteilt und so nach seiner Meinung einen gleichmäßigeren Wert der Mannigfaltigkeit in die tolle Sammlung gelegt .
Auch mochte der Graf dieselbe noch nicht gründlich untersucht haben , und ich begriff , daß auf diese Weise es schwierig war , einen Zusammenhäng herauszufinden .
Ich begann , die vielen Blätter rasch auszusondern , wählte eine hinlänglich freie Fläche des Zimmerbodens und fügte dort den altgermanischen Eichenhain zusammen .
Der Graf betrachtete das große Wesen stillschweigend , bis er sagte : " Also dergleichen haben Sie getrieben ?
Warum ist es denn zerschnitten ? "
" Weil ich es nur auf diese Art dem Alten aufbinden konnte ; denn er hätte mir für diesen ganzen bunten Karton kaum mehr gegeben , als ich dann für die einzelnen Bruchstücke erhielt .
Auch hätte ich , offen gestanden , nicht gewünscht , daß die ungeheuerlichen Fahnen in seiner Unglücksspelunke gesehen und von da weiß Gott wohin verschlagen worden wären .
Es konnte ja einem Bierwirt einfallen , seine Kegelbahn damit zu tapezieren , und ich wäre , da das Vorhandensein dieser Versuche in der Künstlerschaft nicht unbekannt geblieben ist , auf eine melancholische Weise sprichwörtlich geworden !
So aber war es weniger wahrscheinlich ! "
Ich nahm die Blätter wieder auf und legte die Urstierjagd hin , dann die mittelalterliche Stadt und die übrigen Erfindungen .
" Nun weiß ich doch , was Sie gewollt haben ! " sagte der Graf ; " Sie sind aber ein Barbar , denn wie können wir die Schilderei wiederherstellen ohne Verderbnis ? "
" Man läßt beim nächsten Schreiner leichte Blendrahmen von Tannenholz anfertigen , bespannt diese mit einem billigen Gewebe und leimt einfach die Blätter darauf , wie sie gewesen sind ; es wird ein Netz von feinen Fugen sichtbar bleiben , das nichts schadet .
Aber was in aller Welt wollen Sie damit anfangen ? "
" Über den Bücherschränken hier sollen sie hängen .
Dunkelfarbig eingerahmt und übrigens teilweise nicht ganz fertig , wie sie sind , werden sie als Denkmale des Studiums und der Arbeit an ihrem Platze und für mich , zumal der Urheber selbst in diesem Hause gewohnt hat , ein stattliches Konkretum sein . "
In der Tat boten die Wände des hohen Zimmers oberhalb der eichenen Schränke noch hinlänglichen Raum ; wenn ich mir die seltsamen Früchte meiner Arbeit dort aufbewahrt vorstellte , so mußte ich mich des freundlichen Geschickes erfreuen , das ihnen doch noch vergönnt war .
Denn über ihnen erhob sich feierlich die halb gewölbte Decke des Saales , und einige antike Büsten , Glauben und dergleichen , die auf den Eichenschränken standen , zierten und schmückten die Bilder eher , als daß sie dieselben verbargen oder verunstalteten .
Der Graf jedoch fuhr fort :
" Ihre Frage muß ich Ihnen zurückgeben :
Was gedenken Sie denn mit sich selbst jetzt anzufangen ? "
" Das ist mir in diesem Augenblicke zum Teil klargeworden , insoweit ich jetzt mit äußerlichen Ehren , sozusagen mit versöhntem Herzen , der Halbheit , die ich betrieben , Valet sagen und mich in letzter Stunde einem Leben zuwenden kann , das mir besser ziemt , wenn es auch bescheidener ist .
Was es sein wird , weiß ich freilich noch nicht ; doch werde ich nicht lange zaudern . "
" Entscheiden Sie sich nicht zu früh , obgleich ich Ihre Stimmung zu verstehen glaube !
Vor allem wollen wir , fällt mir ein , das Geschäft bereinigen !
Wollen Sie die Studien wiederhaben , und , wenn nicht , unter welchen Bedingungen wollen Sie mir dieselben lassen ? "
" Sie sind ja Ihr Eigentum ! " sagte ich verwundert .
" Was Eigentum !
Sie werden doch nicht glauben , daß ich , nun ich Sie kenne und in meinem Hause habe , Ihre Mappe um das geringe Geld behalten will ; denn denken Sie nicht etwa , daß ich dem Kauze viel habe bezahlen müssen ; er hat sich mit einem höchst bescheidenen Gewinne begnügt .
Oder wollen Sie mich etwa schon beschenken ? "
" Ich meine , daß die Mappe ihr Schicksal erfüllt und ihren Dienst geleistet hat .
Sie hat mir zur Zeit der Not das Leben gefristet ; jeder Groschen , den sie mir eintrug , hatte für mich den Wert eines Talers , und so habe ich mich ihrer zu Recht bestehend entäußert .
Was hin ist , soll man fahrenlassen ! "
" Dies würde mir gefallen , wenn die Umstände anders beschaffen wären .
So aber ist es eine Ziererei , die wir lassen wollen .
Ich bin reich und würde die Sammlung um jeden annehmbaren Preis kaufen , auch wenn Sie selber gar nichts davon bekämen , also ohne Rücksicht auf Sie .
Lernen Sie auf Ihrem Rechte bestehen , wenn es niemand drückt und ängstigt , auch wenn es nur ein moralisches ist , und nehmen Sie den Wert , der Ihnen gebührt , ohne Scheu ; nachher können Sie damit tun , was Sie wollen !
Also nennen Sie einen Preis , wie er Ihnen gut dünkt , und ich werde froh sein , die Sachen zu behalten ! "
" Gut denn " , erwiderte ich lächelnd und nicht ohne geheime Lust , meine Umstände so schnell gebessert zu sehen , " so wollen wir den Handel gründlich abschließen !
Es müssen ungefähr achtzig ausgeführtere gute Blätter sein , die durchschnittlich in einem ordentlichen Verkehre , bei gerechter Schätzung , jedes seine zwei Louisdors gelten dürften , einzelne mehr , andere weniger ; dann werden gegen hundert geringere Abschnitzel und Skizzen dasein , die teilweise bis zur Wertlosigkeit herabreichen .
Diese rechnen wir zu einem Gulden ineinander , und von der Summe , welche sich ergibt , ziehen Sie diejenige ab , die Sie dem Herren Schmalhöfe im ganzen bezahlt haben ! "
" Sehen Sie " , sagte der Graf , " das ist vernünftig gesprochen !
Ich kann Ihnen gleich sagen , daß ich dem Trödler für die Sachen , die Kartons mit eingeschlossen , dreihundertundzweiundfünfzig Gulden und achtundvierzig Kreuzer bezahlt habe . "
" Dann hat er wirklich nicht so viel verdient , wie ich gedacht " , versetzte ich , " da ich ungefähr die Hälfte dieser Summe erhalten habe . "
" Das macht , er hat sich eben auf diesen Zweig seines blühenden Geschäftes nicht sonderlich verstanden !
Um aber auf die Kartons zurückzukommen , die Sie beinahe vernichtet haben , so verhandeln wir dieselben später , wann sie wiederhergestellt sind .
Jetzt zählen wir den Inhalt der Mappe ab , damit Sie , wenn wir zu Tisch sitzen , Ihr Vermögen kennen und der Sorge dieses Tages ledig sind ! "
Ich errichtete nun zwei Haufen für die leichtere und schwerere Ware und warf die Blätter nach ihrer Beschaffenheit ohne langes Besinnen auf einen derselben .
Der Graf rettete mehrmals ein zu leicht erfundenes Blatt und legte es auf die bessere Seite .
Am Ende wurden beide Haufen gezählt und berechnet , worauf der Mann sich in ein inneres Zimmer begab und mit der Summe , die über anderthalbtausend Gulden anstieg , zurückkehrte .
Er legte sie in Gold aufgezählt vor mich hin ; ich dankte ihm mit freudeheißem Gesicht , zog mein Lederbeutelchen hervor , in welchem das kümmerliche Reisegeldchen weilte , nahm dieses heraus und tat das Gold hinein , von dem der Beutel ganz rund anschwellt .
Ich wußte nun , daß ich in besseren Umständen nach Hause gehen und der Mutter einen Teil des für mich Geopferten wiederbringen konnte .
" Wie ist Ihnen jetzt zu Mut ? " sagte der Graf , als er meine frohe Zufriedenheit bemerkte , da ich eine wirkliche Handvoll jenes Traumgoldes in der Tasche barg ; " fahlen Sie nicht die Lust , abermals umzukehren und die Sache doch noch ein Weilchen fortzusetzen ?
Denn nach diesem Anfang , den herbeizuführen mir vergönnt ist , kann ja die Wendung zum Besseren leicht ihren Fortgang haben ! "
" Nein , das wird sie nicht !
Dazu trägt mir das ganze Abenteuer zu sehr das Gepräge einer Einzigkeit , die sich nicht wiederholt .
Auch liegt mein Entschluß bereits in einer tieferen Schicht als in derjenigen des leidlichen Fortkommens ; ich habe bessere Leute gesehen , als ich bin , die ihn ausgeführt haben , mitten in lohnender Tätigkeit , weil ihre Seele eben nicht recht dabei war . "
Ich erzählte ihm die Geschichte von Erikson und Lys .
Er schüttelte aber den Kopf und meinte :
" Diese Fälle sind ja unter sich verschieden und beide wieder von dem Ihrigen !
Allerdings sind auch Sie nicht einfach ein dummer Pfuscher , und wären Sie ein solcher , so hätte das Verlassen des Berufes gar keine Bedeutung und könnte uns hier nicht weiter beschäftigen .
Allerdings , ich gestehe es , gefällt es mir unter Umständen sehr wohl und erscheint mir als ein Zug geistiger Kraft , ein Handwerk , das man versteht , durchschaut und empfindet , wegzuwerfen , weil es uns nicht zu erfüllen vermag .
Allein Sie haben sich , wie mich dünkt , noch nicht genug geprüft .
Gerade weil Sie die äußere Höhe , die Sicherheit jener beiden Männer noch nicht erreicht haben , scheinen Sie mir noch nicht berechtigt zu sein , den stolzen Schritt der Resignation zu tun ! "
Ich lachte , indem ich an die Kostspieligkeit eines derartigen Verfahrens für meine Umstände dachte , sagte aber hiervon nichts , sondern bemerkte bloß :
" Sie täuschen sich , Herr Graf !
Ich habe meinen bescheidenen Höhepunkt erreicht und kann wirklich nichts Besseres machen ; ich würde auch unter günstigeren Verhältnissen höchstens ein dilettantischer Akademist werden , der etwas Absonderliches vorstellen will und nicht in Welt und Zeit paßt ! "
" Nicht so !
Ich sage Ihnen , es war nur Ihr guter Instinkt , der Sie nicht das Gewünschte zuweg bringen ließ .
Ein Mensch , der zum Besseren taugt , macht das Schlechtere immer schlecht , solang er es gezwungen macht .
Denn nur das Höchste , was er überhaupt hervorbringen kann , macht der Unbefangene recht ; in allem anderen macht er Unsinn und Dummheiten .
Ein anderes ist es , wenn er aus purem Übermut das Beschränktere wieder vornimmt , da mag es ihm spielend gelingen .
Und dies wollen wir , denke ich , noch versuchen !
Sie müssen nicht so jämmerlich davonlaufen , sondern mit gutem Anstand von dem Handwerk Ihrer Jugend scheiden , daß keiner Ihnen ein schiefes Gesicht nachschneiden kann !
Auch was wir aufgeben , müssen wir mit freier Wahl aufgeben , nicht wie der Fuchs die Trauben ! "
Zu diesen Worten schüttelte ich meinerseits den Kopf , nur darauf bedacht , mit meiner unverhofften Beute die Heimat so bald als möglich zu erreichen .
Doch wurde das Gespräch durch die Ankunft eines geistlichen Herren , des Ortskaplanes , unterbrochen , der , durch den Küster von dem Erscheinen des abenteuerlichen Gastes unterrichtet , von seinem Rechte , sich nach Gefallen etwa zur Tafel einzufinden , Gebrauch machte , um die Neugierde zu stillen .
Die Beine in hohe glänzende Stiefel gestellt , im wohlgebürsteten schwarzen Rocke , Hut und Stock in der einen Hand , schwenkte er die andere im Bogen und stellte sich mit humoristisch tiefen Verbeugungen als den Abgesandten der Schloßdame dar .
Sie ließ sagen , daß der Tisch gedeckt sei und sie uns auf der Gartenterrasse erwarte .
" Denn " , sagte er scherzend , " ich ermüde nicht , ihre Ketten so lang zu tragen , bis ich sie daran in den Himmel hinaufgezogen habe ! "
Ich wurde vorerst dem Herren bekannt gemacht , worauf wir uns nach dem bezeichneten Orte begaben .
Das Fräulein spazierte auf der Terrasse in dem milden Sonnenscheine , der heute auf dem Lande lag .
Sie begrüßte mich freundlich , sagte , wir hätten uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen , und fragte , wie es mir gehe .
Stadt aber die Antwort abzuwarten , forderte sie den Kaplan auf , ihr den Arm zu geben , was derselbe mit einer sich immer gleichbleibenden spaßhaften Umständlichkeit tat , und so schritt sie dem Grafen und mir voran in das Haus und die breite Treppe hinauf , bis wir in das Speisezimmer gelangten .
Schon dieser kleine Aufzug durch das stattliche Treppenhaus und die langen Korridore ließ mich an den Pfad der Mühsal denken , den ich vor kaum vierundzwanzig Stunden gewandelt , und als wir vier Personen nun um den runden Tisch saßen , von einem schwarzgekleideten stillen Manne bedient , der weiße Handschuhe trug , war ich ganz betreten von dem wunderlichen Schicksalswechsel , der doch wiederum mit meiner Hände Arbeit und den entschwundenen eigenen Lebensjahren zusammenhing .
Das Mittagsmahl war indessen so wenig prunkhaft und weitläufig und der Ton so frei und unbefangen , daß ich mich bald dem ruhigsten Behagen hingab und den lieben Gott einen guten Mann sein ließ .
Der Kaplan trug hauptsächlich die Kosten der Unterhaltung , indem er mit dem Fräulein zahlreiche Witzworte wechselte , deren Bedeutung mir nicht klar wurde .
" Sie müssen nämlich wissen " , wandte er sich unversehens zu mir , " daß unsere Gnädigste mich zu ihrem lustigen Rat , zu deutsch zu ihrem geistlichen Hofnarren erkoren hat und daß ich mich diesem schwierigen Amte nur unterziehe , um doch noch deren ungläubige Seele zu erretten , was keineswegs ausbleiben wird ! "
" Glauben Sie es nicht ! " sagte Dorothea ; " Se. Ehrwürden spielen im Gegenteil mit mir , deren Seele sie ohnehin für verloren halten , wie ein mutwilliges Kätzlein einen Schmetterling zerpflückt ! "
" Laßt euch nicht zu stark auf mit eueren Witzen , Leutchen ! " warf der Graf dazwischen ; " unser Freund hat es auch hinter den Ohren und führt ebenfalls einen Schalksnarren mit sich , mit dem er sich sogar in die Weltregierung einmischt . "
Er teilte den Tischgenossen den Vorfall mit dem Waldhüter und dem Totenkopfe mit .
Die Verwunderung und der Beifall , welchen die Begebenheit fand , verlockten mich , nun die eigentliche Geschichte des Albertus Zwiehan , wie sie mir ein für allemal als fable convenue galt , vorzubringen , namentlich , wie er durch die beiden Schönen , Cornelie und Afra , oder vielmehr durch das Schwanken zwischen ihnen um Erbe und Leben gekommen sei .
Dorothea hörte mit halbgeöffnetem Munde zu , während die blühenden Lippen ein Lächeln umspielte und in der Kehle kleine abgebrochene Glockentöne ein wirkliches Lachen verrieten , das sie aber nicht aufkommen ließ .
" Dem ist aber recht geschehen ! " rief sie aus , " der war ja ein schändlicher Patron ! "
" Ich möchte ihn nicht so grausam verurteilen " , wagte ich zu antworten ; " nach Herkommen und Erziehung war er ja ein halber Wilder und tappte mit dem Egoismus eines Kindes nach jeder Flamme , die vor ihm aufleuchtete , ohne zu wissen , was Liebe ist und daß die Dinger brennen ! "
Über diesen kennerhaften Ausspruch wurde ich je doch selbst ganz heiß im Gesicht und bereute sogleich , ihn zum besten gegeben zu haben ; nicht nur bemerkte ich , daß der Kaplan mit seiner von einem studentischen Säbelhiebe eingedrückten Nase ein humoristisches Gesicht gegen das Fräulein machte , sondern ich fühlte auch die Schwäche meiner eigenen Lebensgeschichten , ohne welche ich ja nicht hierher verschlagen worden wäre .
Ich nahm mir im stillen vor , den Stab so bald als möglich weiterzusetzen , und als nach Tisch davon die Rede war , wie der Rest des Tages zuzubringen sei , drückte ich den Wunsch aus , vor allem einen Handwerker zu finden , der die Blendrahmen für die wiederherzustellenden Kartons anfertigen könne .
Der Kaplan anerbot sich , mich zum Dorfschreiner zu bringen , welcher der einfachen Arbeit ohne Zweifel gewachsen sei .
Als man nun auch der Unterlage für die zusammenzufügenden Fragmente gedachte , zeigte es sich , daß in der Pfarrwohnung , deren Unterhaltungspflicht dem Grafen als Patronatsherren oblag , soeben ein Tapezierer aus der Nachbarstadt beschäftigt war , die Wohnstube des Kaplans mit einem frischen Wandschmucke zu versehen .
" Er hat genug Papierwerk bei sich , um die Rahmen zu beziehen " , sagte der Geistliche , " langes Maschinenpapier , das er unter die Tapete legt , damit ich hübsch warm bekomme ! "
" Das genügt mir nicht " , versetzte der Graf , " es muß ein festes Tuch sein , damit es vorhält .
Da der Mann zugleich Matratzen macht , so wird er dergleichen wohl beibringen können .
Indessen macht ihm Herr Lee vorläufig die nötige Bestellung .
Dann mögen beide , der Tischler und der Tapezierer , jener mit den gehobelten Leisten , dieser mit dem Tuche , hierherkommen und die Rahmen unter Aufsicht nach den genauen Maßen zuschneiden und fertigmachen ! "
Der Betätigung froh , begab ich mich mit dem Kaplan auf den Weg nach dem sehr ansehnlichen Worte in welchem die Hauptkirche von neuerer Bauart stand .
Den Namen führte es gemeinschaftlich mit dem Grafen- oder früheren Freiherrengeschlecht , und der Kaplan , der mich fortwährend kurzweilig unterhielt , zeigte mir auf einem Bergrücken die grauen Trümmer des ursprünglichen Stammsitzes .
Vergnüglich besorgte ich unter seiner Führung das kleine Geschäft und kehrte nach einem langen Spaziergange , den ich für mich allein unternahm , in das Schloß zurück .
Der Graf war ausgeritten ; nach dem Fräulein zu fragen , hielt ich nicht für schicklich .
Ich verweilte daher einsam auf der Terrasse und besah mir die Abendwolken , diese freundlichen Begleiter , die sich unermüdlich auflösen und wieder bilden , um zu Tausenden von Malen die irrenden Augen an sich zu ziehen und auf sich ruhen zu lassen .
Welch ein Haus halte , dachte ich , drin das unentbehrlichste Existenzmittel zugleich einen unerschöpflichen Überfluß an Schaugebilden schafft für arm und reich , jung und alt , in allen Lagen ein Spiegel des Gemütes und sein stiller Richter , der alles sieht !
Aus dieser sanftmütigen Betrachtung weckte mich Dorotheas elastischer Schritt , der mir bereits nicht mehr unbekannt war .
Sie stieg rasch die Stufen der Terrasse herauf , mein schönes grünes Buch in der Hand .
" So allein läßt man Sie ? " rief sie mir entgegen ; " wissen Sie , wo ich herkomme ?
Von dem Kirchhof , dort habe ich in Ihrem Schreibbuche gelesen , die Geschichte von der kleinen Meret , die nicht beten wollte !
Durfte ich es auch , und darf ich mehr darin lesen ?
Papa hat ein paar Stunden heute nachmittag darüber zugebracht und mir dann das Buch gegeben , damit ich die Geschichte lese .
Sehen Sie , hier habe ich ein Efeublatt von einem Kindergrabe hineingelegt !
Aber nun müssen Sie unsereinem auch die Hand geben , wenn man sich begegnet ; denn nun sind Sie uns schon näher bekannt ! "
Elftes Kapitel Dortchen Schönfund Nach einigen Tagen war ich mit dem Ordnen der Studienblätter und der Wiederherstellung der größeren und kleineren Kartonlandschaften zu Ende .
Die letzteren waren vorläufig , bis die aus der Hauptstadt zu beziehenden Einfassungen anlangten , an die ihnen bestimmten Orte gehängt worden , wo der Graf sie abwechselnd mit Zufriedenheit betrachtete .
Ohne einen größeren Wert beanspruchen zu können , erhöhten sie in der Tat den malerisch ernsten Anblick des Bibliotheksaales und verschafften mir das wohltuende Gefühl , sie als Zeugnisse ehrlichen Wollen_es an solcher Stelle gerettet zu wissen , wie ich schon bemerkt habe .
Dazu ließ es der Graf nicht an aufrichtenden Äußerungen fehlen .
" Mögen Sie die künstlerische Laufbahn fortsetzen oder nicht " , sagte er , " so werden mir die Bilder fast gleich wert bleiben , im ersten Falle als Wegezeichen eines Entwicklungsganges , im anderen als Illustration oder Ergänzung Ihrer Jugendgeschichte , die ich nun durchgelesen habe .
Jeder braucht Liebhabereien ; die meinigen dehne ich nun aus auf das Wahrnehmen eines Lebensganges , wie der Ihrige sich darbietet .
Sie sind ein wesentlicher Mensch , aber Sie leben in Symbolen , sozusagen , und das ist ein gefährliches Handwerk , besonders wenn es in so naiver Weise geschieht !
Doch wollen wir darüber uns jetzt keine grauen Haare wachsen lassen , wenigstens nicht Sie ; denn was mich betrifft , so kann ich dies Sprichwort leider nicht mehr gut anwenden .
Was mir zunächst obliegt , ist die Vergütung , die ich Ihnen für diesen Schmuck meines Büchersaales zu leisten habe ! "
" Das haben Sie ja schon getan ! " sagte ich fast erschrocken , daß ich schon wieder Geld erhalten solle , so verdächtig war mir dies ungewohnte Glück ; und doch zierte ich mich eher , als daß es mir Ernst war , ohne doch die Ziererei zu beabsichtigen .
Denn der Graf dauerte mich in meine eigene Armut hinein ob so starken Ausgaben .
Er rief aber :
" Mädchen Sie keine Umstände , mein Lieber !
Es soll nicht ein Kaufpreis sein , denn ich weiß wohl , daß solche Sachen nicht leicht an Mann zu bringen und für jedermann brauchbar wären ; es ist vielmehr eine Diskretionsfrage für mich und für Sie eine Notwendigkeit .
Da das also so zusammentrifft und außerdem zur Durchführung unseres ungewöhnlichen Abenteuers beiträgt , warum sollten wir demselben die Ehre nicht antun ? "
Hiermit schob er mir eine Papierhülle voll Banknoten in die Brusttasche ; es war , wie ich später fand , eine gleiche Summe , wie er mir schon ausbezahlt , so daß ich also schon doppelt so reich dastand als nur vor einigen Tagen .
" Nun " , fuhr er fort , " sprechen wir von der Hauptsache , davon nämlich , was Sie beginnen wollen ?
Ich fühle auch , daß Sie umsatteln sollten ; für einen biederen Landschafter ist Ihre Einrichtung zu weitläufig , zu winkelig , zu irrgänglich und unruhig , da muß ein anderer Hausmeister hinein !
Aber nicht so trübselig und unfreiwillig muß es geschehen , sondern , wie wir schon gesagt , mit dem Anstand eines freien Entschlusses , der allenfalls auch anders zu fassen war ! "
" Dem Anstand ist ja schon Genüge getan durch die Aufnahme , welche Sie meinen zweifelhaften Erzeugnissen gewähren ! "
" Nein , in meinem Sinne nicht !
Sie müssen sich selbst noch den Beweis leisten , daß Sie , wenn auch nicht glänzend , doch mit Ehren bestehen könnten bei dem Berufe , den Sie gewählt ; dann erst mögen Sie sich bedanken und daran vorbeigehen !
Malen Sie bei uns ein fertiges Bild , mit gesammelter Kraft , aber leichten Herzens , keck und ohne Sorgen , und ich will wetten , wir verkaufen es ! "
Ich schüttelte abermals den Kopf , da ich an die Monate dachte , welche ein solches Unterfangen noch kosten würde .
" Diese Tat " , sagte ich , " selbst wenn sie gelänge , würde ja wieder nichts anderes als eines der Symbole sein , von denen Sie sagen , Herr Graf , daß ich in ihnen lebe , und in diesem Falle eines , das mir doch zu kostspielig wäre !
Auch haben Sie selbst mit Ihrer Großmut dahin gewirkt , daß die Heimreise mir nun in den Gliedern liegt ! "
" Hören Sie an ! " versetzte er , " wir wollen ohne längeres Zaudern vorgehen !
Aber eine Nacht müssen Sie die Frage noch beschlafen .
Machen Sie sich auf morgen früh reisefertig , der Wagen soll bereitstehen ; dann bringe ich Sie je nach Ihrem letzten Worte entweder zur Station der nach der Schweiz durchgehenden Post , oder wir fahren zusammen nach der Hauptstadt , wo ich ohnedies zu tun habe und Sie die für Ihre Arbeit nötigen Einkäufe besorgen .
Soll es gelten ? "
Ich schlug ein , zweifelte aber nicht , daß ich den Weg in die Heimat wählen werde .
Diesen Tag sollte das Essen in dem sogenannten Rittersaale eingenommen werden , einem in den oberen Stockwerken liegenden und mir noch unbekannten Raume .
Dorothea kam in die Bibliothek , uns das zu verkünden .
Es sei dort vermöge der Sonnenseite heute eine so milde Temperatur , daß der Saal nicht brauche geheizt zu werden und der schöne Herbsttag zu den Fenstern hereinspazieren könne .
Sie selber sah , wie ich mit stillem Erstaunen wahrnahm , einem hellen Junitage gleich ; auch der Graf betrachtete sie überrascht einen Augenblick .
Sie war in schwarzen Atlas gekleidet , trug um Hals und Brust eine vornehme Spitzenzierde , und in dieser verlor sich eine Perlenschnur .
Die dunkle Lockenlast aber war heute mit besonderem Schwunge nach dem Nacken zurückgeworfen , während die hierdurch zutage tretenden lichten Felder der Schläfengegend dem Kopfe einen Ausdruck von Freiheit , wo nicht von Stolz verliehen .
" Was hast du denn vor , daß du dich so aufgeputzt ? " sagte der Graf , " erwartest du Gäste , von denen ich nichts weiß ? "
" Nichts weiter habe ich vor " , erwiderte sie , " als daß ich dem schönen Wetter und dem Saale zu Ehren ein bißchen Staat machen will .
Dazu hoffe ich , durch das Ensemble aller dieser Dinge unserem Freunde , dem Herren Lee , einen bunten Eindruck zu verschaffen ; vielleicht , wenn er seine Geschichten fortsetzt , beschreibt er es einst auf einer halben Seite , und mit dem Saale schmuggelt sich meine fragwürdige Figur zugleich in das Buch hinein !
Heute steht überdies Narzissus im katholischen und im protestantischen Kalender , und da dürfen wir uns allerseits ein wenig der Eitelkeit hingeben , nicht so , Herr Heinrich ? "
Obgleich sie diese Rede in einer halb weichmütig ernsten , halb anmutig lächelnden Weise vorbrachte , welche keine böse Absicht verriet , so schien mir doch das Wort Narziß eine Stichelei auf die Selbstbespiegelung meines Schreibbuches zu sein , zumal mir nicht recht wohl dabei war , es aus der Hand gegeben zu haben .
Aus welcher Tiefe , sei es des Urteils oder des bloßen Scherzes , solche Stichelei aufsteigen mochte , sie dünkte mich gleichermaßen beschämend , und ich fühlte die Röte im Gesicht , ohne ein Wort der Erwiderung zu finden .
Sie beachtete das aber nicht und merkte nichts davon , so daß ich ihr wohl zuviel Absicht zugetraut haben mochte .
Der erwähnte Saal war wirklich bunt genug , aber mit Würde und Feierlichkeit .
Ein scharlachroter Teppich spannte sich über den ganzen Fußboden ; der Plafond war in seiner Länge und Breite von einem einzigen Freskogemälde bedeckt , der Wandraum zwischen demselben und der etwa mannshohen dunklen Holzbekleidung durchaus mit den Bildnissen der Vorfahren behangen .
Über einem schwarzen Marmorkamine türmten sich alte Waffen und Rüstungen empor ; andere feinere Waffen glänzten in Glasschränken , besonders kostbare Degen und Schwerter , deren Abbilder man auf manchem Bildnisse ihrer ehemaligen Träger wiedererkannte .
Aber es waren auch Waffenstücke aus Jahrhunderten da , in welche keine Bilder zurückreichten .
So zeigte ein kleiner dreieckiger Schild noch kaum erkennbar das älteste einfache Wappenbild des Geschlechtes , das nur eines von den zwanzig Feldern des jetzigen Wappenschildes ist , auf dessen oberem Rande vier gekrönte Helme sitzen wie vier Hähne auf einer Stange .
Ich konnte mich nicht enthalten , eifrig umherzugehen und die Augen an all den schönen Dingen zu weiden ; der Graf erklärte mir ein und anderes , Dorothea brachte Schlüssel herbei und öffnete die wohlverwahrten Schränklein eines großen Buffets , in welchen ein altertümlicher Silberschatz schimmerte .
Andere Schränke waren in das Holzgetäfer der Wände eingelassen und enthielten Handschriften auf Pergament mit glänzenden Miniaturen , viele Urkunden mit hängenden Siegeln in Holz- oder Silberkapseln , auch ohne Kapseln und halb zerbröckelt .
Der Graf zog ein paar solcher Urkunden hervor und entfaltete sie ; ich konnte sie aber nicht lesen , denn sie stammten aus dem zwölften oder gar elften Jahrhundert und waren kaiserliche Briefe , die sich auf den Fleck Landes bezogen , auf welchem wir standen .
Als ich meine Verwunderung über so reiche Erinnerungen und Denkmäler bezeugte , dergleichen ich noch nie gesehen , bemerkte der Graf , er habe eben den ganzen Familienkram in diesem Saale aufgestapelt , wo derselbe sein Dasein genießen möge , ohne die Lebenden auf Schritt und Tritt zu behelligen .
Seine Freude daran sei nur eine mäßige und nicht größer , als sie etwa jeder Sammler auch empfinde .
" Ei " , sagte ich , " solche Anschaulichkeit und Durchsichtigkeit einer langen Vergangenheit , die sich auf uns selbst bezieht , läßt sich doch nicht willkürlich vergessen und verwischen , und man sollte sich ihrer freuen können , ohne sie unfreisinnig zu mißbrauchen ! "
" Man sollte es denken ; wer aber die Erfahrung davon hat , weiß , daß man unter Umständen der sechs oder sieben Jahrhunderte müde werden kann .
Ich habe mir auch schon gewünscht , in einem freien Rechtsstaate einer erhaltenden Aristokratie anzugehören vermöge der Abkunft , das Wort Aristokratie natürlich nur im Sinne erhöhter freiwilliger Leistungen verstanden .
Allein das sind Träume , aus verschiedenen Gründen , und so bleibt einem Adelsmüden nur der Ausweg , gelegentlich im allgemeinen Volkstum aufzugehen .
Das hat aber auch seine Schwierigkeiten und ist ohne glückliche Ereignisse nicht so leicht auszuführen , und so läßt sich auch hier das Schicksal weniger lenken , als man glauben sollte .
Mein Vater , der lediglich durch seine Geburt ein Reiterfahrer war , ist in der Heeresfolge des französischen Revolutionswesens in Rußland elend ums Leben gekommen .
Mein älterer Bruder , der für einen Querkopf galt , ging nach Südamerika , um in seiner Art ein neues Leben zu beginnen ; allein da fiel er erst recht dem unvernünftigen Zufall anheim und verlor frühzeitig in dortigen Händeln das Leben .
Von einer iberischen Adelsdame , mit der er sich kurz vorher ehelich verbunden haben soll , ist uns niemals eine weitere Nachricht zugekommen .
Nun bin ich der Majoratsherr , und die ganze Herrlichkeit steht auf meinen zwei Augen , da ich absolut der Letzte unserer Linie bin .
Hätte ich einen Sohn , so wäre ich schon mit ihm nach der Neuen Welt gegangen , um in der verjüngenden Volksflut unterzutauchen .
Für mich allein lohnt es nicht mehr der Mühe , sintemal ich im übrigen mich mit dem Leben nicht unzufrieden fühle !
Doch setzen wir uns zu Tisch , da es unserer Dame einmal gefällt , die Ahnfrau zu spielen ! "
" Das tu ich !
Mir gefällt es einstweilen recht wohl in diesem Saale , der nicht zu unterschätzen ist ! " ließ sich Dorothea mit einiger Gemessenheit vernehmen , die mich wieder verlegen machte , weil ich diese neue Laune nicht verstand und sie weder tadeln noch bewundern konnte .
Indessen war der Aufenthalt in der Tat feierlich sowohl durch die hereinflutend sonnige Luft als durch den Duft eines feinen Räucherwerkes , das vorher in dem Raume verbrannt worden war .
Die Farbenpracht , die uns umgab , schien hierdurch noch an Kraft und Tiefe zu gewinnen .
Nachdem wir eine Weile in mehr abgebrochener flüchtiger Unterhaltung gesessen , wendete sich Dorothea mit freundlich herablassendem , jedoch halb gleichgültigem Wesen , ganz wie eine große Dame , an mich und sagte : " Nun , Herr Lee , auch Sie sind ja nicht unempfindlich für ein gutes Herkommen , und in Ihrem bürgerlichen Stande freuen Sie sich Ihrer wackeren Eltern und versichern sich beim Beginn Ihrer Aufzeichnungen , daß Sie wohl auch zweiunddreißig brave Ahnen besitzen , wenn auch unbekannterweise ? "
" Allerdings " , gab ich mit Selbstzufriedenheit und gelindem Trotze zur Antwort , " allerdings bin ich auch nicht auf der Straße gefunden ! "
Da klatschte sie plötzlich jubelnd in die Hände , indem sie ihre gewöhnliche natürliche Art wieder aufnahm , und rief fröhlich :
" Nun habe ich Sie gefangen , mein wohlgeborener Herr !
Ich bin nämlich auf der Straße gefunden , wie Sie mich da sehen ! "
Ich sah sie verblüfft an und wußte nicht , was das heißen sollte , indessen sie fortfuhr , sich zu freuen , und sagte : " Ja , ja , mein gestrenger Herr von braver Abkunft !
Ich bin das richtigste Findelkind und heiße mit Namen Dortchen Schönfund und nicht anders , so hat mich mein lieber Pflegevater getauft ! "
Nun blickte ich verwundert den Grafen an , der lachte :
" Ist das also nun das Ziel deines Witzes ?
Wir mußten nämlich dieser Tage lachen , als wir Ihre Worte lasen : wenn Sie sich selbst bei der Nase nehmen , so seien Sie sattsam überzeugt , daß Sie zweiunddreißig Ahnen besitzen .
Als wir dann weiterlasen , wie Sie sich doch nicht enthalten können , über die Vorfahren einige Betrachtungen anzustellen , schmollte unser Kind hier und klagte , daß alle , Adelige wie Bürger und Bauern , sich ihrer Abkunft freuen und nur sie allein sich schämen müsse und gar keine Herkunft habe .
Denn ich habe sie wirklich auf der Straße gefunden , und sie ist meine brave und kluge Pflegetochter ! "
Er strich ihr liebevoll die Locken zurück , die aus ihrer Verbannung im wohlgebauten Nacken an den gebührenden Platz neben den errötenden Wangen zurückstrebten .
Betroffen und gerührt bat ich um Verzeihung für die unbewußte Verletzung ihrer Gefühle , die ich begangen .
Meine eigene Beschämung , fügte ich bei , habe ich verdient , da ich mich verlocken ließ , die vermeintliche stolze Gräfin abtrumpfen zu wollen , anstatt sie in ihrer Art und Weise ungeschoren zu lassen .
Übrigens sei ihr Herkommen doch noch das vornehmste , denn sie komme so recht unmittelbar aus Gottes Hand , und man könne sich ja die höchsten und wunderbarsten Dinge darunter denken !
" Nein " , versetzte der Graf , " wir wollen keine verwunschene Prinzessin aus ihr machen .
Der einfache Hergang ist übrigens hier jedermann bekannt , und was jedes Kind weiß , dürfen Sie auch erfahren .
Vor zwanzig Jahren , als meine Frau , die einzige , gestorben war , trieb ich mich schmerzlich und trostlos im Lande herum .
Eines Abends stieg ich an der österreichischen Donau in einem unserer Stadthäuser ab , das die Geliebte gern und häufig bewohnt hatte .
Als ich ins Haus ging , sah ich ein schönes zwei- bis dreijähriges Kind still auf der Steinbank neben dem Portale sitzen , ohne seiner zu achten .
Ich ging nochmals aus , um das Abendrot über dem breiten Strome zu sehen , das die Verstorbene so oft aufgesucht ; das Kind schlief nun .
Als ich eine halbe Stunde später zurückkam , weinte es leise und furchtsam .
Ich rief jetzt den Hausmeister herbei , der in seiner Teilnahmlosigkeit von nichts wissen wollte , als daß ein Haufen Auswanderer die Stadt durchschwärmt habe , denen das Kind wohl angehöre .
Ich befahl , es ins Haus zu nehmen und zu pflegen , und da die Sache langsam und widerwillig vonstatten ging , nahm ich es zu mir und gab ihm von meinem eigenen Essen .
Die Auswanderer waren allerdings dagewesen , aber schon auf Flößen und Schiffen die Donau hinuntergefahren .
Laut den erhobenen polizeilichen Nachforschungen kamen sie aus Schwaben und gingen nach dem südlichen Rußland ; allein weder in ihrer alten noch in der neuen Heimat wollte jemand etwas von dem Kinde wissen ; nirgends wurde ein solches vermißt , nirgends war es in Büchern oder Schriften der Ausgewanderten eingetragen .
Eine Bande Zigeuner , die in der Nähe der Stadt erschien , gab Anlaß zu neuen Untersuchungen .
Aber auch da kam nichts heraus .
Kurz , das Kind verblieb mir als Findelkind schönster Sorte , wie Sie es da vor sich sehen !
Ich verschaffte ihm eine schöne gesicherte Findlingsexistenz , erklärte meine tote Frau zu seiner Patin und nannte es mit ihrem Namen Dorothea .
Den Zunamen Schönfund ließ ich durch Amtsgewalt festsetzen , und als die Person sich später gar so gut anließ und ich sie an Kindesstatt in aller Form Rechtens adoptierte , ließ ich noch den hiesigen Orts-und Hausnamen dranhängen .
So heißt sie nun Schönfund-W...berg .
Zu einer Gräfin konnte ich sie freilich nicht machen , es ist auch nicht nötig ! "
" Bin ich nun mehr zu bemitleiden oder zu beneiden ? " fragte mich das schöne Wesen mit leicht geneigtem Haupte .
" Gewiß nur zu beneiden " , sagte ich , aus meiner gerührten Verwunderung erwachend ; " Sie gleichen einfach einem Stern , der aus der Tiefe des Himmels neu erschienen ist und dem man einen Namen gegeben hat .
Ein Stern kann aber wieder verschwinden , während die unsterbliche Seele , die jetzt Ihren Namen trägt , nie mehr vergeht . "
Sie bewegte aber den Kopf leise wie zu einem Nein und sagte :
" Mit diesem Troste wollen wir uns nicht stark brüsten !
Der Findling wird sich so still wieder drücken , wie er gekommen ist ! "
Als ich diese Worte nicht recht zu deuten wußte , weil ich die eigene Rede , die sie hervorgerufen , über ihrem Anblicke schon vergessen hatte , sagte der Graf zu mir :
" Sie müssen nämlich wissen , es ist Dörtchens Wahrzeichen , daß sie ganz auf eigene Faust nicht an Unsterblichkeit glaubt , und zwar nicht etwa infolge eingeschulter Dinge oder durch fremden Einfluß , sondern auf ursprüngliche Weise , sozusagen von Kindsbeinen auf ! "
Dorothea schämte sich wie über ein verratenes Herzensgeheimnis ; sie drückte das errötende Gesicht auf den Damast des Tischtuches , daß die Locken sich auf dessen Fläche ausbreiteten .
Auf mich aber machte der Vorgang einen Eindruck , welcher dem uns befallenden sanften Schreck oder Schauder gleicht , wenn ein Wesen , das uns bereits mit Wohlgefallen umsponnen hat , mit irgendeiner entschiedenen Eigenschaft plötzlich dicht an die Seele herantritt .
" Da ich nun ganz erkannt bin und durchschaut werde " , sagte sie unversehens , sich mit holdem Lächeln aufrichtend , " will ich mich zurückziehen und sorgen , daß wir einen traulichen Winkel für unseren Kaffee finden . "
Als ich später den Grafen auf seinen Geschäftsgängen begleitete , da er die Hauptaufsicht über seine Güter selber führte , befrag ich ihn um das Nähere .
" Es ist in der Tat so " , antwortete er , " seit sie ihr Urteil nur ein wenig rühren konnte und diese Dinge nennen hörte , wir wissen die Zeit kaum anzugeben , sagte sie mit aller Unbefangenheit , aus dem kindlichsten und reinsten Herzen heraus , daß sie gar nicht absehen und glauben könne , wie die Menschen unsterblich sein sollten .
Es kommt allerdings nicht selten vor , daß rechtliche Leute aus allen Ständen dies ursprüngliche schlichte Vergänglichkeitsgefühl ohne weiteres aus der Mutter Natur schöpfen und , ohne skeptischer oder kritischer Art zu sein , dasselbe unbekümmert bewahren wie eine harmlose Selbstverständlichkeit .
Aber so lieblich und natürlich wie bei diesem Kinde ist mir die Erscheinung noch nie vorgekommen , und ihre unschuldige Überzeugung veranlaßte mich , der ich Gott und Unsterblichkeit hatte liegenlassen , wie sie lagen , meinen philosophischen Bildungsgang noch einmal vorzunehmen , und als ich auf dem Wege des Denkens und der Bücher wieder da anlangte , wo das Mädchen von Hause aus gewesen , und Dortchen mir über die Schultern mit in die Bücher guckte , da war es erst merkwürdig , wie sich das gedanklich bestärkte Gefühl in ihr gestaltete .
Wer sagt , daß es ohne Unsterblichkeitsglauben weder Poesie noch Lebensweihe in der Welt gebe , der hätte sie sehen müssen ; nicht nur Natur und Leben um sie herum , sondern sie selbst wurde wie verklärt .
Das Licht der Sonne schien ihr tausendmal schöner als anderen Menschen , das Dasein aller Dinge wurde ihr heilig , und ebenso der Tod , den sie sehr ernsthaft nimmt , ohne ihn zu fürchten .
Sie gewöhnte sich , zu jeder Stunde an ihn zu denken , mitten in der heiteren Freude und im Glücksgefühl , und daß wir einst ohne allen Spaß und für immer abscheiden müssen .
Das ganze vorübergehende Dasein unserer Persönlichkeit und ihr Begegnen mit den anderen vergänglichen , belebten und unbelebten Dingen , unser aufblitzendes und verschwindendes Tanzen im Weltlichte hat für sie einen zarten leichten Anhauch bald von milder Trauer , bald von zierlicher Fröhlichkeit , welche den Druck der schwerfälligen Ansprüche des einzelnen nicht aufkommen läßt , während das Gesamtwesen doch besteht .
Und welche Pietät und Teilnahme hegt sie für die Sterbenden und Toten !
Ihnen , welche ihren Lohn dahin haben und abziehen mußten , wie sie sagt , schmückt sie die Gräber , und es vergeht kein Tag , an welchem sie nicht eine Stunde auf dem Kirchhofe zubringt .
Dieser ist ihr Lustgarten und ihr Schmollwinkel , und bald kehrt sie fröhlich und übermütig , bald still und nachdenklich davon zurück . "
Solch anmutige Art eignete sich freilich einstweilen nur für ein so sorgloses , leidenfreies und feingebildetes Leben und für die gesunde Jugendkraft ; dennoch vermehrte die Schilderung derselben meine Teilnahme und Befangenheit .
" Glaubt sie denn auch nicht an Gott ? " fragte ich .
" Schulgerecht " , erwiderte der Graf , " sind allerdings beide Fragen unzertrennlich ; nach Frauenart macht sie sich jedoch nicht viel aus der Logik , da sie hier mit ihren Begriffen nicht fertig ist .
» Du lieber Gott « , sagt sie , » was kann ich ärmstes Ding wissen !
Bei Gott ist alles möglich , auch daß er existiert ! «
Weiter geht sie aber mit so drolligen Wendungen nicht , vielmehr verursacht ihr in Gespräch und Lektüre eine zu große Freiheit oder Frechheit im Ausdrucke nur Mißbehagen , und allzu grobe Ausfälle duldet sie nicht .
Sie sehe nicht ein , sagt sie , warum man gegen den lieben Gott , auch wenn man von seiner Abwesenheit überzeugt sei und ihn nicht fürchte , brauche grob und unverschämt zu sein .
Das erscheine ihr mehr als eine schäbige denn tapfere Manier . "
Nach der Rückkehr von unserem Gange suchte ich mein idyllisches Quartier im Gartenhaus auf , wo ich mich zu lassen gebeten hatte , als ich nach dem Schlosse übersiedeln sollte .
Ich fand jedoch das kleine Gemach bewohnt ; denn Dorothea , die sich nach ihrer Übung wieder einmal im unteren Saale aufgehalten , war mit der Gärtnerstochter hinaufgestiegen , um nachzusehen , ob es an nichts fehle .
Als ich eintrat , sah ich , daß zwei prachtvolle hohe Schilfrohre mit ihren Blütenbüscheln kreuzweise hinter den Spiegel gesteckt waren Unter dem Spiegel , der in einem verblichenen Rahmen von versilbertem getriebenem Kupfer steckte , lag der Zwiehansschädel auf der Kommode , auf einem Postamente von grünem Moose weich gebettet , und um den Scheitel wand sich ein Kränzlein von Immergrün .
Mit den Ellbogen auf das bauchig geschweifte Möbel gestützt , stand Röschen übergelehnt und betrachtete den Kopf aufmerksam mit gerümpftem Näschen und possierlich gespitztem Munde .
Etwas zurück stand die Herrin , die Hände auf dem Rücken verschränkt , wie es schien in ernsthaften Gedanken das Werk ihrer Hände gleichfalls beschauend .
" Bewundern Sie unsere Tapezierkünste ! " wandte sie sich zu mir , " wir haben Ihrem stummen Reisekameraden den Aufenthalt etwas verschönert und Sie dabei mitgemeint .
Soeben bedenke ich aber , daß Sie sich des Gefährten entledigen und ihm die Ruhe gönnen sollten .
Wir wollen ihn gelegentlich auf unserem Gottesacker begraben , ich habe just eine wohlgeborgene kleine Kopfstelle unter den Bäumen für ihn ausgedacht , die niemals umgegraben wird . "
Dieses " gelegentlich " , das wie ein Rosenblatt ohne alles Gewicht von ihren Lippen fiel , erklang so gastfreundlich , daß es mir sogleich das Herz erfreute .
Doch erwiderte ich , der Schädel müsse nach meinem Vorsatze mit mir in die Heimat zurück , und dort wolle ich ihn endlich wieder der Erde übergeben , wenn das auch als eine leere und unnütze Handlung erscheine .
" Wann gehen Sie denn ? " sagte Dortchen .
" Ich denke morgen , wie ausgemacht ! "
" Sie gehen nicht , sondern tun , was der Papa rät !
Kommen Sie , ich zeige Ihnen was Hübsches ! "
Sie öffnete ein altes eingelegtes Schränkchen , das in der Ecke stand , und nahm einige sehr bunte feine und echte chinesische Täßchen aus demselben hervor .
" Sehen Sie , die habe ich von Ihrem und unserem Trödelmännchen erwischt ; er hat mir noch mehrere in Aussicht gestellt , aber nicht Wort gehalten bis jetzt .
Wir haben sie hierhergebracht , damit Sie uns einmal zum Kaffee bei sich einladen können , oder unten im Saal , und damit auch etwas Artiges in Ihrem Zimmer ist !
Schau auf , Röschen , so hat Herr Lee Flöte gespielt , als ich ihn zuerst gesehen ! "
Sie nahm meinen Stock , hielt ihn wie eine Flöte an den Mund und sang dazu ein paar Zeilen der Freischützarie " Und ob die Wolke sie verhülle " , und den Stock weglegend , sang sie in beschleunigtem Tempo , sie übermütig abhaspelnd , die Schlußverzierung mit einer Schönheit und Sicherheit der Stimme , die mich in neues Erstaunen versetzte .
Sie sang aber keine Note länger , als sich mit einer kurzen Aufwallung guter Laune vertrug , und das Lied verklang ebenso unerwartet , wie es begonnen .
Plötzlich sah sie den Kaplan über den Platz gehen und rief ihm aus dem Fenster zu :
" Ehrwürden ! kommen Sie ein bißchen zu uns herauf , wir schwatzen hier , bis wir zum Tee wandern , und machen unserem herrlichen Dulder Odysseus den Hof .
Röschen stellt die Nausikaa vor , Sie die heilige Macht Alkinoos' , des edlen Phäakenbeherrschers , und ich die Mama Arete , Tochter des göttergleichen Rhexenor ! "
" Da wären Sie ja meine Gemahlin , gnädigste Heidin ! " sagte der geistliche Herr schnaufend , als er in der Tat herangestiegen kam .
" Merken Sie was , o geschorener Diener der Heiligen Jungfrau " , lachte sie , " welche den Äther beherrscht und thronet auf goldenen Altären ? "
" Diese Unterhaltung geht über meinen Horizont ! " rief Röschen , nachdem sie dem Kaplan einen der wenigen Stühle zugerückt hatte , und zog sich zurück , indessen jener ein lustiges Plaudern begann und den Krieg mit dem Fräulein fortführte .
Schließlich kam noch der Graf , um zu sehen , wo wir alle blieben , und nahm an dem Geplauder Teil , bis es dunkelte und der Mond über den Parkbäumen stand , der seinen Schein in das Zimmer hereinsandte .
An seiner Gestalt erkannte ich , daß nun vier Wochen verflossen seien , seit ich mit den Arbeitermädchen unter den Silberpappeln am Flusse gesessen , und wunderte mich über den Wechsel der Dinge in einem so einfachen Lebenslauf .
Im Schlosse saß die kleine Gesellschaft dann noch lange beisammen .
Im Anfange schien Dortchen noch aufgeregt fröhlich ; allmählich wurde sie stiller und begnügte sich , zuweilen an dem großen Flügel kurze Sätze anzuschlagen ; zuletzt verschwand sie ohne Abschied .
Ich konnte in jener Nacht keinen Schlaf finden , bis der Morgen graute , ohne daß ich mich deswegen übel befand .
Kaum hatte ich eine kurze Zeit geschlafen , so wurde ich geweckt , weil die Stunde der Abreise da war .
Verwirrt und in Übereilung kleidete ich mich an und lief hinüber , wo der Graf schon beim Frühstücke saß , der Wagen vor der Türe stand und der Kutscher bei den Pferden .
Als wir eingestiegen waren , sagte der Graf :
" Nun , wohin soll es gehen ? "
Keine Dorothea ließ sich sehen , und doch wagte ich weder nach ihr zu fragen , da ich die Unbefangenheit allbereits eingebüßt , noch vermochte ich ohne Abschied aus dem Lande zu gehen .
Ich sagte daher , nachdem ich mich eine Minute besonnen , im letzten Augenblicke , ich wolle dem Vorschlage des Herren Grafen folgen .
" Gut so ! " erwiderte er und ließ die Richtung nach der Stadt einschlagen , von welcher ich , hergekommen .
Zwölftes Kapitel Der gefrorene Christ Auf der Nordseite des Schlosses bezeichnete ein höheres Fenster den Raum , in welchem die Hauskapelle eingebaut war .
In diesem Jahrhundert hatte sie schwerlich noch einen Gottesdienst gesehen ; doch war kirchlicher Zier- und Hausrat noch an den Wänden vorhanden , das Gewölbe noch bemalt und nur der Fliesenboden längst von der Bestuhlung geräumt .
Dafür stand jetzt in der Mitte desselben ein eiserner Ofen , der den Raum mit seinem Körper und seinen Rohren sattsam erwärmte , und auf einer großen Strohmatte eine Staffelei , vor welcher ich saß und ziemlich rührig arbeitete , während ein leichter Schnee auf der Landschaft lag .
Die lange Unterbrechung , die Erlebnisse , der Beschluß der Entsagung hatten ohne Zweifel eine Freiheit des Blickes und eine Neuheit der Dinge in mir bewirkt oder vielmehr aus dem Schlafe gerufen , die mir jetzt zustatten kamen .
Schon während des letzten Aufenthaltes in der Residenz hatte ich alte und neue Bilder gewissermaßen mit neuen Augen angesehen ; es war mir wie Schuppen von denselben gefallen und fiel so noch fort , da ich jetzt eifrig und kühl , stürmisch , sorglos und vorsichtig zugleich arbeitete , indem bei jedem Zug ich an den folgenden dachte , ohne durch Zögern den Fluß erstarren zu lassen .
Die Erscheinung , daß man später etwas kann , und zwar ohne Zwischenübung , was man früher nicht zustande gebracht , sei es durch bloße Ruhe der Geisteskräfte , sei es durch Geschickswechsel , mag wohl öfter vorkommen , als man annimmt .
Hier war es der Fall , natürlich innerhalb der Grenzen , die mir überhaupt gezogen sind .
Ich hatte zwei Bilder zugleich begonnen , welche auf diese Weise ordentlich vorwärtsschritten , von einer nachhaltig erhellten und erwärmten Stimmung getragen .
Das eigentliche schaffende Feuer jedoch war die erwachte Neigung , Liebe oder Verliebtheit , oder wie man den Zustand nennen mag , der erst zu nennen , wenn er durch die Zeit zum Austrag gekommen , stets aber eine alltägliche Erscheinung ist , wie alle großen Notwendigkeiten .
Ich hatte Meinerzeit das Herz auch einen Muskel und ein mechanisches Pumpwerk nennen gelernt ; nun unterlag ich dennoch der Täuschung , daß es das Wohnhaus der Bewegungen sei , die von den Liebeshändeln ausgehen ; und trotz der üblichen Scherze über seine heraldische Form auf den Lebkuchen , Spielkarten und anderen Volkssymbolen behauptete es sein altes Ansehen , als Dorotheas Gestalt mit dem Nimbus ihrer dunklen Geburt , ihrer eigentümlichen Weltanschauung , Schönheit und Bildung den Einzug scheinbar in das Herz und nicht in den Kopf hielt ; oder wenigstens verrichtete dieser in seinen offenen Licht- und Schallstübchen einen bloßen Pförtner und Wahrnehmungsdienst , um das Wahrgenommene in die dunkle Purpurmühle der Leidenschaft hinunterzusenden .
Selbst die Vernunft leistete ihr Frondienste und tat ein übriges , ihr gerecht zu werden .
Die Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit des Lebens , durch Dörtchens Augen gesehen , ließ mir die Welt bald ebenso in einem stärkeren und tieferen Glanze erscheinen , wie es bei ihr der Fall war ; ein sehnsüchtiges Glücksgefühl durchschauerte mich , wenn ich mir nur die Möglichkeit dachte , für das kurze Leben mit ihr in dieser schönen Welt zusammen zu sein .
Ich hörte daher ohne alle Bedenklichkeit vom Sein oder Nichtsein jener Dinge sprechen und fühlte ohne Freude oder Schmerz , ohne Spott und ohne Schwere die anerzogenen Gedanken von Gott und Unsterblichkeit sich in mir lösen und beweglich werden .
Die Veranlassung solcher Freiheit war allerdings eine Unfreiheit und für einen Mann nicht gerade rühmlich ; im Gefühle hiervon suchte ich mich mit Gründen zu schulen und nahm die Zuflucht zu der Bücherei des Grafen .
Ich kannte die groben Umrisse der philosophischen Geschichte , aus denen die letzten Fragen für den Unerfahrenen nicht klar hervorgehen .
Jetzt griff ich zu den eben in der Verbreitung begriffenen Werken des lebenden Philosophen , der nur diese Fragen in seiner klassisch monotonen , aber leidenschaftlichen Sprache , dem allgemeinen Verständnisse zugänglich , um und um wendete und gleich einem Zaubervogel , der im einsamen Busche sitzt , den Gott aus der Brust von Tausenden hinwegsang .
Der Graf gehörte geistig und zum Teil auch persönlich dem Verbande von Männern an , welche den begeisterten Kultus des Philosophen förderten , wenn er auch nicht die Ansicht und die Hoffnung teilte , daß er zunächst die politische Freiheit unfehlbar bringen müsse .
Er hatte mich als Gastfreund nicht auf die Sache stoßen wollen ; als ich aber jetzt den gewöhnlichen Anfangswiderstand gegen die neuen Einflüsse erhob und die Veränderungen untersuchte , welchen ich in moralischer Hinsicht ausgesetzt sein dürfte , begann ein gewisses Kannegießern über den lieben Gott , welches mich freilich von den Kinderschuhen an begleitet hat .
Über diese Dinge längst beruhigt , wurde der Graf etwas ungeduldig und sagte : " Es ist mir ganz gleichgültig , ob Sie an den lieben Gott glauben oder nicht !
Denn ich halte Sie für einen Menschen , bei welchem es nicht darauf ankommt , ob er den Grund seines Daseins und Bewußtseins außer sich oder in sich verlegt , und wenn dem nicht so wäre , wenn ich denken müßte , Sie wären ein anderer mit Gott und ein anderer ohne Gott , so würde ich nicht das Vertrauen zu Ihnen hegen , das ich wirklich empfinde .
Dies es auch , was diese Zeiten zu vollbringen und herbeizuführen haben nämlich vollkommene Sicherheit von Recht und Ehre bei jedem Glauben und jeder Anschauung , und zwar nicht nur im Staatsgesetz , sondern auch im persönlichen vertraulichen Verhalten der Menschen zueinander .
Es handelt sich nicht um Atheismus und Freigeisterei , um Frivolität , Zweifelsucht und Weltschmerz , und welche Spitznamen man alles erfunden hat für kränkliche Dinge !
Es handelt sich um das Recht , ruhig zu bleiben im Gemüt , was auch die Ergebnisse des Nachdenkens und des Forschens sein mögen .
Übrigens geht der Mensch in die Schule alle Tage , und keiner vermag mit Sicherheit vorauszusagen , was er am Abend seines Lebens glauben werde .
Darum wollen wir die unbedingte Freiheit des Gewissens nach allen Seiten .
Aber dahin muß die Welt gelangen , daß sie mit eben der guten Ruhe , mit welcher sie ein unbekanntes Naturgesetz , einen neuen Stern am Himmel entdeckt , auch die Vorgänge und Ergebnisse des geistigen Lebens hinnimmt und betrachtet , auf alles gefaßt und stets sich selbst gleich , als eine Menschheit , die in der Sonne steht und sagt :
Hier stehe ich ! "
Es dauerte jedoch nicht lang , so bedurfte ich der Zurechtweisungen des freidenkenden Grafen nicht mehr , sondern wandelte selbständig auf demselben Pfade weiter und fand mich in der eintönig erregten Sprache des großen Gottesfreundes zurecht , wenn man ironischer- oder auch Ernsthafterweise denjenigen so nennen darf , der sich ein Leben lang von seinem geliebten Gegenstande nicht trennen konnte .
Wie alle Neubekehrten wurde ich sogar eifriger als die anderen , und die Fackel , mit der ich in meine alten Gedankenwälder hineinleuchtete , brannte um so heißer , als sie an dem Feuer der Liebe angezündet war .
Ich kannegießerte nun in entgegengesetztem Sinne , besonders während der länger gewordenen Abende , wo der wunderliche Kaplan , angezogen von dem Streite , sich einfand , um den neuen Abgefallenen in seiner Art zur Rechenschaft zu ziehen .
Dieser Mann war vorzüglich drei Dinge , nämlich ein leidenschaftlicher Esser und Trinker , ein großer religiöser Idealist und ein noch größerer Humorist , und zwar letzteres fast nur in dem Sinne , daß er alle Viertelstunden das Wort Humor gebrauchte und es zum Maßstabe und Kriterium alles dessen machte , was irgendwie vorfiel und gesprochen wurde .
Alles , was er selbst tat , redete und fühlte , gab er zunächst für humoristisch aus , und obgleich es dies nur in den minderen Fällen war und mehr in einem maßlosen Klappern und Feuerwerken mit Gegensätzen , Bildern und Gleichnissen bestand , so erzeugte dies Wesen dennoch einen gewissen Humor , besonders wenn wir alle zusammensaßen und er uns mit ungeheurem Wortschwall erklärte , was Humor sei und wie wir dieser Gottesgabe auch nicht eines Senfkörnleins groß besäßen .
Er las eifrigst alle humoristischen Schriften und alle , welche vom Humor handelten , und hatte ein ordentliches System über dies Feuchte , Flüssige , Ätherische , Weltumplätschernde , wie er es nannte , aufgebaut , das ziemlich mit dem Charakter seiner Theologie zusammenhing .
Cervantes führte er ebensooft im Munde wie Shakespeare , aber er fand den größten Gefallen an den unzähligen Prügeln , welche Sancho und der Ritter bekommen , an den Einseifungen , Prellereien und derben Sachen aller Art. Sowenig er die Schätze von Weisheit und Edelsinn bemerkte , die dem manchanischen Herren vom Autor in den Mund gelegt waren , in rapidem Wechsel mit den Ausbrüchen der Torheit , sowenig konnte oder wollte er den feineren Spott sehen , besonders wenn er wie auf ihn selbst gemünzt erschien , was dann zu den Versicherungen seines eigenen Humors den ergötzlichsten Gegensatz bildete .
So sah er in dem Abenteuer in der Höhle des Montesinos nur eine äußerliche komische Schnurre .
Den Humor , der in dem langen Seile liegt , das ganz nutzlos abgerollt wird , indessen der Ritter schon im Anfange die Augen schließt , wie alle , die sich selbst belügen und damit andere terrorisieren , und die Art , wie er sich nachher immer wieder wegen des in der Höhle Gesehenen benimmt , dies alles gewahrte er nicht oder rümpfte unmerklich die Nase dazu .
Sein Idealismus , und er nannte sich bald rühmend , bald entschuldigend einen Idealisten , bestand darin , daß er gegenüber seinen Zuhörern , welche alles Wirkliche und Geschehende , sofern es sein eigenes Wesen ausreichend und gelungen ausdrückt und darstellt , für ideal hielten , eben dieses Wirkliche und Gewordene materiellen und groben Mist oder Staub schalt und dagegen alles Nie_gesehene , Nichtbegriffene , Namenlose und Unaussprechliche ideal hieß , was ebensogut war , als wenn man einen leeren Raum am Himmel Vorpommern nennen wollte .
So nannte er auch jedes dilettantische pfuschende Treiben , aus dem nichts werden konnte , eine ideale Bestrebung , wenn es auch noch so verkehrt und anmaßlich war ; die aufopfernde ernste Arbeit in Wissenschaft und Kunst dagegen , die zum Gelingen führte , war ihm ein am Irdischen klebendes Haschen nach Erfolg , nach Ehre und Gut .
Den Baumeister , dessen Kirchtürme zusammenfielen , pries er als einen tragisch gestellten Idealisten , denjenigen , dem sie stehenblieben , einen materialistischen Glücksjäger .
Als katholischer Priester war er duldsam und über seine Kirche hinaus ; hierüber schwieg er bescheiden und rühmte sich nicht .
Den aufgeklärten Deismus aber , welchem er huldigte , vertrat er fanatischer als irgendein Pfaffe seine Satzungen .
Er suchte einen rechten Höllenzwang auszuüben mit idealen und humoristischen Redensarten und baute seine Scheiterhaufen aus Antithesen , hinkenden Gleichnissen und gewaltsamen Witzen , auf denen er den Verstand , den guten Willen und sogar das Gewissen der Gegner zu verbrennen trachtete , seiner eigenen Meinung zum angenehmen Brandopfer .
Diese tapfere Lieblingsbeschäftigung , nebst der Gastfreundschaft des Grafen , führte ihn häufig in das Haus , und da er zugleich ein ehrlicher Gesell und redlicher Helfer bei wohltätigen Unternehmungen war , so gereichte er zum Nutzen wie zur bleibenden Heiterkeit des Hauses .
Besonders Dorothea wußte ihn mit der leichtesten Anmut in den Irrgärten seines fanatischen Humors herumzuführen , neckisch vor ihm herzuhuschen und durch die Buschwerke seines krausen Witzes zu schlüpfen .
Unergründlich war es dabei , ob mehr ein heiteres Wohlwollen oder ein bedenklicher Mutwillen im Spiele lag ; denn ebensooft , als sie dem Kaplane Gelegenheit gab zu glänzen , verlockte sie seine Eitelkeit auf das Eis , wo sein Witz das Bein brach .
Das war nun der richtige Mann , an welchem ich meine neuen Waffen zu üben Gelegenheit fand , und ich tat es um so rücksichtsloser , als ich gegen Unarten focht , denen ich selber schon in mehr als einer Hinsicht gefrönt hatte .
Nach dem ersten wehmütigen Erstaunen über meinen Abfall holte er mit verdoppelter Kraft aus , um mich niederzustrecken ; da ich aber das schonende Maß , dessen er gewohnt war , mit weniger Lebensart als Neophyttische Kampflust überschritt , ihm phantastische Ausfälle und humoristische Stiche in gleicher schlechter Münze zurückgab , wurde er verstimmt und ging mehr als einmal der geselligen Erholung verlustig , welche er nach tagelangem Messelesen und Ministrieren gesucht hatte .
Hierüber wurde ich meinerseits betroffen ; ich verwunderte mich , wie wenig der Mensch sich zu ändern imstande ist , wenn ich an das Erlebnis mit Ferdinand Lys zurückdachte , wo ich mich sogar einer schlimmeren Aufführung schuldig gemacht und mit einem Degen in der Hand auf der entgegengesetzten Seite , derjenigen des Kaplans , gestanden hatte .
Ich faßte den Vorsatz , mich zu mäßigen und zu besseren , verfiel aber von neuem in den alten Fehler .
Dadurch wurde ich als ein angehender Ruhestörer selbst der Schonung bedürftig , fühlte es und wurde selber betrübt .
Allein es war schon dafür gesorgt , daß dem bedrängten Kaplan eine unerwartete Hilfe kommen sollte .
Eines Tages rasselte ein offenes Fuhrwerk , bespannt mit einem schwerfälligen Bauernpferde , vor das Schloß .
Auf dem Bock saß ein ländlicher Kutscher mit einer Tabakspfeife im Munde , in dem beckenförmigen Kasten dagegen , wie in der Muschel der Venus , ein seltsamer Mann mit einem großen Schlapphute , ebenfalls eine Pfeife im Munde tragend .
Neben ihm lehnte ein mannshoher Kornsack , der aber mit vielen größeren und kleineren , eckigen und runden Gegenständen gefüllt schien und oben mit Mühe zusammengeschnürt war , so daß sich auf dem Haupte nur ein niedriges Faltenkrönlein hatte bilden können .
Diesen Sack hielt der Insasse des Fuhrwerkes mit der einen Hand aufrecht , vor allem besorgt , daß er mit Vorsicht abgeladen würde .
Als das geschehen , sprang er gleich nach und blieb bei dem Sacke stehen , denselben aufrecht haltend , weil er ihn um keinen Preis auf die etwas feuchte Erde wollte fallen lassen .
Das machte ihm den nun folgenden Wortwechsel mit dem Fuhrmann schwierig zu führen , der sich wegen der Bezahlung des Fahrgeldes nicht wollte aufhalten lassen , während der Reisende sowohl die Höhe des geforderten Lohnes bestritt als einen Aufschub verlangte , bis er seine Briefe abgegeben und seine Ankunft auf dem Grafensitze gehörig ausgeführt habe .
Mit sprudelndem Munde , immer neben der Pfeife redend , suchte er sich mit dem Fahrknechte zu verständigen , sah sich aber stets in den nötigen Gebärden und im Hervorsuchen der Briefe gehindert , weil der Sack umfallen wollte , wenn er ihn losließ .
Endlich kam ein Hausdiener herbei , der nach seinen Angelegenheiten fragte .
" Dies ist mein Gepäcke , guter Freund ! " sagte der Mann , " halten Sie_es ein wenig , damit ich meine Empfehlungsbriefe an den Herren Grafen finden kann , den ich herbeizurufen bitte ! "
Der Diener hielt den Sack , der Reisende holte ein paar Briefe aus einer dicken Brieftasche und gab sie dem Diener , worauf dieser ins Haus ging und jener den Sack wieder selbst hielt .
Nach einiger Zeit erschien der Graf mit einem der Briefe in der Hand , um nach dem Ankömmling zu sehen .
Dieser streckte ihm , an seiner Sacksäule stehend , die freie Hand entgegen und rief : " Ich grüße Sie , edler Mann und Genosse !
Ist es nicht eine Freude zu leben , mit Hutten zu reden ? "
" Habe ich die Ehre , Herrn Peter Gilgus zu sehen , der mir hier von den Freunden empfohlen wird ? " antwortete Graf Dietrich " Der bin ich !
Ist es nicht eine Freude zu leben ? "
" Gewiß !
Aber machen Sie es sich doch etwas bequemer !
Wollen Sie Ihr Gepäcke nicht abgeben und ins Haus treten ? "
" Ich kann nicht , bevor ich ein Wort mit Ihnen gesprochen ! "
Der Graf näherte sich dem Manne , der ihm eine vertrauliche Mitteilung machte , worauf jener dem Fuhrmann bedeutete , daß er werde zufriedengestellt werden und mit seinem Fahrzeuge nur vorerst nach den Wirtschaftsgebäuden gehen und samt dem Pferde etwas zu sich nehmen möge .
Hierauf wurde der Sack wohlbehalten von zwei Leuten in das Haus getragen und der Fremde vom Grafen auf sein Zimmer genommen , wo er weitere Rücksprache mit demselben pflegte .
Herr Peter Gilgus war ein im mittleren Deutschland weggelaufener Schullehrer und ein Apostel des Atheismus , der im wörtlichen Sinne ausgezogen war , die Welt zu sehen und zu genießen , nachdem der liebe Gott aus derselben weggeschickt worden .
Dies Ereignis hielt er für einen unberechenbaren Glücksfall , und er rief unaufhörlich , wo er hinkam :
" Es ist eine Freude zu leben ! " als ob die Welt in der Tat von ihrem größten Feinde und Bedrücker soeben befreit worden wäre , seit er die Werke des Philosophen gelesen .
Er betrug sich demgemäß , wie wenn es fortwährend Sonntag und der Braten am Spieße wäre , oder wie die Bevölkerung eines kleinen Herzogtums , dessen Tyrann entflohen , oder wie ein Nest voll Mäuse , wenn die Katz aus dem Hause ist .
Als Schulmeister mochte er von der Geistlichkeit freilich arg gedrückt worden sein ; allein er freute sich über die Vertreibung Gottes doch mehr als billig .
Immer von neuem erstaunte er über die Herrlichkeit des Gedankens , von dem unseligen Begriffe frei und jeder größeren oder kleineren Abhängigkeit von demselben ledig zu sein .
Immer wieder ballte er die Faust gegen die ganze lange Vergangenheit voll anthropomorphischer Götter ; aufs neue bestieg er jeden kleinen Hügel , reckte die Hand aus und pries die Schönheit der grünen Welt , jubelte über die wolkenlose tiefe Bläue des entgötterten Himmels und trank bäuchlings liegend aus Quellen und Bächen , welche noch nie so reines und frisches Wasser geliefert hätten wie jetzt .
Das hinderte ihn jedoch nicht , sobald eine anhaltende Kälte oder ein langes Regenwetter eintrat , sehr ungehalten zu werden und einen persönlichen Groll mit altherkömmlichen Fluchworten zu äußeren , wie man sie nur gegen persönlich existierende Urheber von widerwärtigen Wirkungen braucht .
Nach seinem Auszuge hatte er zuerst das Haupt der Schule , den Philosophen , aufgesucht , acht Tage lang verehrt und ihm zur Weiterreise die geringe Barschaft abgeborgt , welche der in freiwilliger Armut und Bedürfnislosigkeit lebende Weltweise gerade besaß .
Derselbe gab ihm ein paar Briefe an wohlhabendere Verehrer mit , diese sandten ihn wieder an deren Freunden zu , und so zog er seit einem Jahre von Stadt zu Stadt , von einem Landgut zum anderen , lebte herrlich und in Freuden und lobte die angebrochene neue Ära .
Jetzt war er endlich auch zum Grafen Dietrich gekommen , der schon von ihm wissen mochte .
Als er mit dem neuen Gaste zu Tisch kam , war er schon ein wenig ermüdet von dessen lauten Gesprächen und Ausrufungen ; der Gast aber , indem er den Löffel in die gute Suppe tauchte , rief und sprudelte über dicke Lippen hinaus :
" Es ist eine Freude zu leben ! "
In mir witterte er augenblicklich einen Schützling und Mitgast des Hauses , machte sich nach dem Essen an mich und zwang mich , ihn auf das ihm bestimmte Zimmer zu begleiten ; unter tausend Fragen begann er sich einzurichten und seinen Sack auszupacken , der ihm als Reisekoffer diente .
Neben einer Anzahl verschiedener Kleidungsstücke , von denen keines zum anderen recht paßte , kamen die wunderlichsten Habseligkeiten zum Vorschein , und auf jedes Stück legte er einen Affektionswert .
Jeden Band in ein besonderes Tüchlein gewickelt , förderte er die in rotes Leder gebundenen Werke des Meisters zutage und stellte sie feierlich auf den Schreibtisch , der im Zimmer war .
Dann zog er ein dickes Stück von ungebleichtem Zwillich , viele Ellen , heraus , wovon er sich im Sommer eine deutsche Turnerkleidung dachte anfertigen zu lassen .
Hierauf kamen andere Bücher ; hierauf rollten einige Metzen schöne Borsdorfer Apfel hervor , von einer schönen Gutsfrau geschenkt , wie er sagte ; sodann folgte ein Stück Pökelfleisch , in Papier gewickelt ; hierauf eine blaue zusammengelegte Steppdecke , zwischen welcher ein Bund Strickgarn lag zu neuen Strümpfen .
Beim Anblick aller dieser Dinge mußte man ihm lassen , daß er die Vorsehung Gottes leidlich zu ersetzen und an alles zu denken verstehe , dessen er etwa bedürftig werden könnte .
Nachdem er noch einiges aus der Tiefe des Sackes hervorgeholt , unter anderem eine kleine Schwarzwälderuhr , kroch er mit dem Kopfe hinein und zog aus dem untersten Grunde einen zusammengerollten rotblumigen Hausrock hervor .
Denselben entfaltend , enthüllte er eine mäßige Schachtel , in welcher das Modell eines Auges von der Größe eines Kindskopfes gebettet lag .
Gilgus öffnete die Schachtel und nahm das Auge sorgfältig heraus , um zu sehen , ob es nicht Schaden gelitten .
Es war von Wachs und Glas angefertigt und konnte zerlegt werden , um zu Unterrichtszwecken den Bau des menschlichen Auges vorzuweisen .
Bei seinem Auszug hatte er das Auge aus der kleinen Naturaliensammlung seiner Schule mitlaufen lassen , und es liefen deshalb überall kleine amtliche Verfolgungen hinter ihm drein , sooft sein Aufenthalt ausgemittelt wurde ; allein er gab es nicht wieder her .
Jetzt blies er den Staub davon , setzte es feierlich auf den Schreibtisch und rief : " Das ist das wahre Auge Gottes ! "
Dieses Auge Gottes hatte natürlich nur die allergröbste Einrichtung , und Gilgussens Kenntnis ging über dieselbe nicht hinaus ; dennoch mußte sie ihm dazu dienen , seine Freudenbotschaft mit dem Mantel der Naturwissenschaften zu schmücken , und er führte das Auge gleichsam als Wahrzeichen mit sich für jene Erscheinung im großen , wenn die gedachten Wissenschaften beim Beginn einer neuen Reihe von Entdeckungen dem Unendlichen jedesmal zuschreien : Holla !
Wir wissen jetzt , wie_es gemacht wird !
Außerdem diente ihm das Auge noch als Geheimarchiv und Schatzkammer .
Er öffnete den Apfel und leerte den hohlen Innenraum , dessen Inhalt vom Fahren durcheinandergerüttelt worden .
Aus einer großen Flocke Baumwolle wickelte er eine goldene Busennadel , ein silbernes Uhrkettchen , ein paar Fingerringe und zeigte mir diese Schätze mit Wohlgefallen .
Auf ein Bündelchen Rechnungen , ein Punschrezept , ein Bündelchen Liebesbriefe , die er von den Stubenmädchen seiner Gastfreunde erhalten , wies er mehr andeutend hin , wogegen er ein Lotterie los mit ernster Miene entfaltete , wie wenn es eine Staatsobligation wäre , und es standen allerdings mehrere Hunderttausende in großen und kleinen Posten darauf gedruckt ; eine kleine , in Papier eingeschlagene Barschaft bezeichnete er als Reservefonds , welchen er unter keinen Umständen angreife und deshalb hier aufbewahre .
Ein vertrocknetes Blumensträußchen ergänzte die Sammlung und knüpfte versöhnend an das menschlich Liebenswürdige an .
Alles das war in dem Auge , und er legte das Gefüllsel nun in die leere Schachtel und verschloß diese in einer Schublade ; denn er dachte das anatomische Modell in den bevorstehenden lehrreichen Gesprächen zum Vorschein zu bringen .
Gleich am ersten Abend , als der Kaplan zur Gesellschaft kam , nahm er diesen zum Zielpunkt seines apostolischen Eifers , und es entstand ein gewaltiger Lärm , bis der Geistliche die Karikatur in dem Ankömmling erkannte , plötzlich mit vergnügtem Augenblinzeln seine Fechtart veränderte und dem lärmenden , mit blasphemischen Kühnheiten um sich werfenden Peter Gilgus zu schmeicheln begann .
Er schätze sich glücklich , sagte er , eine so ausgesprochene und in ihrer Art vollkommene Erscheinung begrüßen und studieren zu können ; alles absolut Entgegengesetzte müsse sich stärker anziehen als das Halbe und sich schließlich in einem höheren Elemente vereinigen .
Ein leidenschaftlicher Liebhaber Gottes und ein leidenschaftlicher Leugner Gottes zögen im Grunde an demselben Wagen , von dem der eine sowenig los kommen könne als der andere , und so biete er ihm als treuer Gefährte seine Freundschaft an .
Eine so fleißige und beharrliche Gottesleugnerei sei eigentlich nur eine andere Art von versteckter Gottesfurcht , wie es in den ersten Zeiten Heilige gegeben habe , welche den Schein großer Lasterhaftigkeit zur Schau trugen , um in der Verachtung um so ungestörter der göttlichen Inbrunst sich hinzugeben .
Der verdutzte Gilgus wußte nicht , wie ihm geschah , und suchte sich mit sprudelnder Ungebärdigkeit zu helfen ; doch der fröhliche Kaplan umwickelte ihn so dicht mit hundert zärtlichen Späßchen , tröstete ihn , der Herrgott habe schon längst ein Auge auf ihn und es werde noch alles gut werden , daß er sich doch gewissermaßen geschmeichelt fühlte und sich auf den nächsten Tag zu einem guten Pfarrfrühstück bei dem Kaplan einladen ließ .
Dort lieferten sie sich zuerst wieder eine Wortschlacht ; dann zechten sie und schlossen Freundschaft , zogen miteinander über Feld und in den Wirtshäusern herum , wo der Kaplan immer neue Späße mit seinem Freunde anstellte ; denn er blieb immer bei Sinnen und boshaft , während Gilgus den Verstand verlor , sobald er angetrunken war , und über die Größe seines Schicksals , über die Feierlichkeit der Zeit , wo es eine Freude zu leben sei , jämmerlich zu weinen begann .
Wenn der Kaplan ihn in solcher Verfassung abends oder mittags ins Schloß bringen konnte , so erreichte sein Vergnügen den höchsten Gipfel .
Der Graf lächelte bald heiter , bald verdrießlich , Dorothea dagegen lachte voll neugieriger Lustbarkeit , da sie dergleichen noch nie gesehen , besonders wenn Gilgus vor ihr auf die Knie fiel und weinend den Saum ihres Gewandes küßte ; denn er hatte die Gärtnerstochter , mit der er zuerst schöngetan , sogleich stehenlassen , als er vernahm , daß Dortchen keine Gräfin und eine starkgeistige , freigesinnte Person sei , und offenbar hielt er sie vorläufig für dazu bestimmt , die Freude am großen Weltaugenblick und am Leben mit ihm zu teilen .
War er dann nach manchem Auftritte derart wieder nüchtern geworden , so verfiel er in tiefsinnige Trauer , und um die Scharte auszuwetzen , beging er allerhand Kraftstücke .
Trotz der kühlen Jahreszeit stürzte er sich badend in Teiche und Mühlbäche , so daß man in der Nähe oder Ferne unvermutet seine nackte Gestalt auf- und untertauchen sah .
Mit blauem Gesicht und nassen Haaren stellte er sich dann als neu- und wiedergeboren vor , und der Kaplan sowohl als Dortchen und selbst das mutwillige Röschen fanden ihre tägliche Belustigung an seinem Treiben .
Der Kaplan wußte bereits , daß die Bauern davon sprachen , den heidnischen Wassermann einmal aufzufischen und mit Habestroh trockenzubürsten , und auch hierauf freute er sich im voraus .
Ich aber wurde durch den ganzen Vorgang nicht nur veranlaßt , die eigene Streitlust zu mäßigen , ja sogar mich stillzuhalten , sondern ich fühlte mich beschämt , neben dem sonderbaren Gesellen als ein kaum minder abenteuerlicher Gast dazustehen .
Vollends die Art , wie jener sein Auge auf die Schönheit des Hauses geworfen , erinnerte mich daran , daß ich selbst ja das gleiche getan und noch tue , wenn ich auch noch nichts verraten oder zu verraten bis zur Stunde Willens gewesen sei .
Und das holde Gelächter , welches Dorothea in allen Züchten öfter hören ließ , verdiente ich ja selbst schon in meinem innersten Herzen .
Wenn ich aufrichtig gegen mich sein wollte , so mußte ich gestehen , ich sei allein um Dorotheas Willen noch dageblieben , nur besaß ich nicht den Mut , es merken zu lassen oder etwas zu hoffen .
Ich war also womöglich noch närrischer als der Peter Gilgus .
Ich geriet durch all diese widersprechenden Empfindungen und Gedanken in eine Art von Erstarrung , in welcher ich mich auf meine Arbeit und das stille Studium der philosophischen Bücher zurückzog , ohne an den Disputationen weiter teilzunehmen .
Die Verliebtheit dauerte dabei fort , aber wie das Blühen der Pflanzen , das in eingetretener Frühlingskühle eine Weile unentschieden bei halbgeöffneten Kelchen anhält .
Und gleichmäßig verharrte ich in der Verachtung einer Nebenbuhlerschaft , als welche ich das Verhalten des Gilgus hinsichtlich der neuen Weltanschauung sowohl als dem Weibe gegenüber betrachtete , was freilich weder zeitgemäß noch sehr menschlich war .
Eines Vormittags kam er aufgeregt und geputzt zu mir gestürzt , als ich ziemlich gesammelt und dennoch herb wie eine alte Jungfer an meiner Arbeit saß .
Er trug auf dem Leibe einen braunen Frack mit vergoldeten Knöpfen , auf dem Kopf eine hellfarbige Reisemütze , obgleich es Winter war .
Die Angelegenheit mit Dorothea , rief er , müsse sich entscheiden ; eine Verbindung eines Mannes wie er mit einer Person wie Dorothea wäre zu typisch , als daß sie unterbleiben dürfte ; sie sei geradezu eine philosophiegeschichtliche Pflicht , denn die Erlösung der Welt von der Gottesidee müsse sich erst recht vollziehen durch die Vermählung freier Geschlechtsrepräsentanten , und so weiter .
Ich war von der schlechten Gesellschaft in meiner Neigung so beschämt und vergrämt , daß ich über die Narrheit nicht einmal zu lachen imstande war .
Überhaupt belustigte mich die Sache keineswegs , indem sie selbst einen leichten Schatten auf das unbefangene Dortchen zu werfen schien .
Ich fragte ihn daher unwirsch , ob er in seinem Fracke schon auf dem Weg sei , den Heiratsantrag zu machen ?
" Nein " , sagte er , " heute noch nicht !
Ich will mich erst einige Tage nur etwas sorgfältiger tragen , wie es sich auf Freiersfüßen geziemt .
Steht mir dieser Frack nicht gut ?
Ich habe ihn von einem atheistischen Bankier geschenkt bekommen , einem großen Gönner unseres Bundes , der freilich des Sonntags noch in die Kirche geht ; denn er hat Rücksichten zu nehmen .
Oh , wenn mein armes Mütterchen das Glück noch erlebt hätte , das ich haben werde ! "
" Ihr Mütterchen ?
Ist es tot ? "
" Schon seit zwei Jahren !
Sie hat die Befreiung des Menschengeschlechtes nicht mehr gesehen !
Die trockenen Blumen , die ich im Auge Gottes aufbewahre , hat sie mir noch an meinem letzten Geburtstage geschenkt , den sie erlebte !
Sie hat dieselben um einen Kreuzer auf dem Markte eingehandelt ! "
Ein neuer Stich ging mir ins Herz ; auch auf eine liebende Mutter behauptete der Narr Anspruch zu machen , und am Ende war er noch ein besserer Sohn als ich , der ich dasaß und die meinige so gut als vergaß , obschon ich wußte , daß sie meiner harrte .
So ist unser Leben aus Wirrsal gewebt , daß wir dem Nächsten kaum einen Tadel zuwenden , den wir nicht , noch ehe er ihn vernommen , auf uns selbst beziehen können .
Einige Minuten nachdem Gilgus fortgestürmt war , trat Dorothea mit einem Körbchen voll schöner Trauben und Birnen herein .
" Sie sind jetzt so fleißig und zurückgezogen " , sagte sie , " daß man Ihnen die kleinen Erquicklichkeiten nachtragen muß .
Essen Sie von diesen Früchten , sonst werden Sie mir zu trocken !
Dafür sollen Sie uns einen guten Rat geben !
Malen Sie jedoch weiter , ich sehe Ihnen gerne zu ! "
Sie nahm einen Stuhl und setzte sich zu mir .
" Papa schreibt Briefe " , fuhr sie fort , " mit denen er Herrn Gilgus fortschicken will ; denn er mag ihn nicht mehr dahaben .
Gilgus hat heute früh die Ackerleute , die auf dem Felde pflügen , angepredigt wie Jonas die Leute zu Ninive , sie sollten Buße tun und von ihrem heidnischen Gottesglauben ablassen .
Das kann so nicht weitergehen .
Papa will ihn heute noch wegschicken , in ziemliche Entfernung , und mit wohlmeinenden Uriasbriefen dahin wirken , daß er weiterhin versorgt und an eine vernünftige Beschäftigung gebunden wird . "
" Und was kann ich denn dazu raten ? " fragte ich .
" Nicht sowohl raten als helfen !
Sie sollen ihm , sofern er sich sträubt , zureden und die Reise als etwas Notwendiges und Vergnügliches darstellen .
Dann stehen ein paar Koffer bereit , welche den Inhalt seines schrecklichen Sackes wohl aufnehmen werden .
Da Sie ihm in seinem letzten Stündlein beistehen werden , so müssen Sie ihn überzeugen , daß der Sack un schicklich und verdächtig sei , und wie zufällig die Koffer herbeischaffen .
Es könnte sich nämlich ereignen , daß er störrisch wäre und sie nicht wollte , und doch mag der Vater ihn nicht mit dem Kornsacke aus seinem Hause abreisen sehen . "
Ich befürchtete zwar nicht , daß Gilgus die Koffer zurückweise , versprach aber , mein Bestes zu tun .
Sie aber sagte :
" Nun schau ich noch ein wenig zu , wenn es erlaubt ist ! " schlug die Arme ineinander und saß eine Viertelstunde neben mir , ohne daß sie oder ich etwas dazu sprach .
Als ich endlich einen mißlungenen Stein , der im Vordergrunde meines Bildes lag , mit der Spachtel wegräumte , sagte sie " Hopsa ! Weg damit ! "
Dann erhob sie sich , dankte mir für geneigte Audienz und zog sich zurück , indem sie mir zugleich empfahl , mich vor Tisch sehen zu lassen , um zu erfahren , wie es gehe in der bewußten Sache .
Es ging auch ohne Schwierigkeit alles vonstatten , wie man wünschte ; Gilgus fuhr ganz still und weichmütig mit wohlbepacktem Gefährte von hinnen , nach der nächsten Posthalterei , um von dort am frühen Morgen weiterzureisen .
Als der Kaplan abends zum Tee erschien , fand er es so still und friedlich , wie wenn eine Mühle abgestanden wäre .
Er hatte in der letzten Zeit zuweilen einen der älteren deutschen Mystiker mitgebracht , in der Absicht , das grundtiefe und kühne Wesen solcher Geister dem neuesten Geiste gegenüberzustellen , der ebenso tiefgehend und kühn war selbst in der verzerrten Darstellung durch Gilgus , und da es ihm hauptsächlich um das Phantasienährende und Parabolische zu tun war , dem er nachjagte , so gab es manche Ausbeute bald zu seinen Gunsten , bald zugunsten der anderen .
Für heute hatte er des Angelus Silesius Cherubinischen Wandersmann aufgegriffen und bedauerte , daß Gilgus nicht mehr da war , da er denselben durch den Vortrag der wunderlichen Reime zugleich zu reizen und zu bannen , uns aber in spaßhafte Verlegenheit zu setzen hoffte .
Wir baten ihn , dennoch vorzulesen , und die kleine Gesellschaft empfand die größte Freude über den vehementen Gottesschauer , seine lebendige Sprache und poetische Glut .
Das wollte ihm aber auch nicht recht passen ; er begann immer eifriger und nachdrücklicher zu lesen , und mit jeder Seite , die er umschlug , erhöhte sich die Teilnahme an der munteren Geisteserscheinung , bis er das Büchlein halb ärgerlich und ermüdet weglegte .
Nun nahm es der Graf in die Hand , blätterte darin und sagte dann :
" Es ist ein recht wesentliches und charaktervolles Büchlein !
Wie richtig und trefflich fängt es gleich an mit dem Reimpaar : » Rein wie das feinste Gold , steif wie ein Felsenstein , Ganz lauter wie Kristall soll dein Gemüte sein . «
Kann man treffender die Grundlage aller solcher Übungen und Denkarten , seien sie bejahend oder verneinend , und den Wert bezeichnen , den man von vornherein hinzubringen muß , wenn die ganze Sache erheblich sein soll ?
Wenn wir uns aber weiter umsehen , so finden wir mit Vergnügen , wie die Extreme sich berühren und im Umwenden eines in das andere umschlagen kann .
Glaubt man nicht , unseren Ludwig Feuerbach zu hören , wenn wir die Verse lesen : » Ich bin so groß als Gott , Er ist als ich so klein , Er kann nicht über mich , ich unter Ihm nicht sein « - ?
Ferner : » Ich weiß , daß ohne mich Gott nicht ein Nun kann leben , Werde ich zunichte , Er muß vor Not den Geist aufgeben . «
Auch dies :
» Daß Gott so selig ist und lebet ohne Verlangen , Hat Er sowohl von mir als ich von Ihm empfangen . «
Oder : » Ich bin so reich als Gott , es kann kein Stäublein sein , Das ich ( Mensch , glaube mir ) mit Ihm nicht habe gemein . «
Und nun gar : » Was man von Gott gesagt , das genüget mir noch nicht ; Die Über-Gottheit ist mein Leben und mein Licht . «
» - Wo soll ich dann nun hin ?
Ich muß noch über Gott in eine Wüssten ziehen . «
Und wie einfach wahr findet man das Wesen der Zeit besungen in diesem Sinngedichtchen :
» Man muß sich überschwenken Mensch ! wo du deinen Geist schwingst über Ort und Zeit , So kannst du jeden Blick sein in der Ewigkeit . «
Dann : » Der Mensch , ist Ewigkeit Ich selbst bin Ewigkeit , wann ich die Zeit verlasse Und mich in Gott und Gott in mich zusammenfasse . «
Und : » Die Zeit ist Ewigkeit Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit , So du nur selber nicht machst einen Unterschied . «
Alles dies macht beinahe vollständig den Eindruck , als ob der gute Angelus nur heute zu leben brauchte und er nur einiger veränderter äußerer Schicksale bedürfte , und der kräftige Gottesschauer wäre ein ebenso kräftiger und schwungvoller Philosoph unserer Zeit geworden ! "
" Das wird mir denn doch zu bunt " , rief der Kaplan ; " aber Sie vergessen nur , daß es zu Schefflers Zeiten doch auch schon Denker , Philosophen und besonders auch Reformatoren gegeben hat und daß eine kleinste in ihm vorhandene Ader von Verneinung vollkommen Gelegenheit gehabt hätte , sich auszubilden ! "
" Sie haben recht ! " erwiderte ich , " aber nicht ganz in Ihrem Sinne .
Was ihn abgehalten hätte und wahrscheinlich noch heute abhalten würde , ist der Gran von Frivolität und Geistreichigkeit , mit welcher sein glühender Mystizismus versetzt ist ; diese kleinen Elementchen würden ihn bei aller Energie des Gedankens auch jetzt noch im meistagogischen Lager festhalten ! "
" Frivolität ! " rief der Kaplan , " immer besser !
Was wollen Sie damit sagen ? "
" Auf dem Titel " , versetzte ich , " benennt der fromme Dichter sein Buch mit dem Zusatz : Geistreiche Sinn- und Schlußreime .
Allerdings hat das Wort geistreich im damaligen Sprachgebrauch nicht ganz die jetzige Bedeutung ; wenn wir aber das Büchlein aufmerksamer durchgehen , so finden wir , daß es in der Tat auch im heutigen Sinne etwas allzu geistreich und zuwenig einfach ist , so daß jene Bezeichnung jetzt wie eine ironische Voraussage erscheint .
Dann sehen Sie aber auch die Widmung an , die Dedikation , worin der Mann seine Verse dem lieben Gott dediziert , indem er ganz die Form nachahmt , selbst in der Anordnung des Drucksatzes , in welcher man damals großen Herren ein Buch zuzueignen pflegte , bis zur Unterschrift Sein allezeit sterbender Johannes Angelus .
Betrachten Sie den bitterlich ernsten Gottesmann , den heiligen Augustinus , und gestehen Sie aufrichtig : trauen Sie ihm zu , daß er ein Buch , worin er sein religiöses Herzblut ergossen , mit solch einer witzelnden , affektierten Dedikation versehen hätte ?
Glauben Sie überhaupt , daß es demselben möglich gewesen wäre , ein so kokett launiges Büchlein zu schreiben , wie dies eines ist ?
Er hatte Geist so gut als einer , aber wie streng hält er ihn in der Zucht , wo er es mit Gott zu tun hat !
Lesen Sie seine Bekenntnisse , wie rührend und erbaulich ist es , wenn man sieht , wie ängstlich er alle sinnliche und geistreiche Bilderpracht , alle Selbsttäuschung oder Täuschung Gottes durch das sinnliche Wort flieht und meidet .
Wie er vielmehr jedes seiner strikten und schlichten Worte unmittelbar an Gott selbst richtet und unter dessen Augen schreibt , damit ja kein ungehöriger Schmuck , keine Illusion , keine Art von Schöntun mit Unreinem in seine Geständnisse hineinkomme !
Ohne mich zu solchen Propheten und Kirchenvätern zählen zu wollen , kann ich doch diesen ganzen und ernstgemeinten Gott mitfühlen , und erst jetzt , wo ich ihn nicht mehr habe , erkenne ich die willkürliche und humoristische Manier meiner lugend , in welcher ich mit meiner vermeintlichen Religiosität die göttlichen Dinge zu behandeln pflegte , und ich müßte mich nachträglich selber der Frivolität zeihen , wenn ich nicht annehmen könnte , daß jene verblümte und spaßhafte Art eigentlich nur die Hülle der völligen Geistesfreiheit gewesen sei , die ich mir endlich erworben habe . "
" Haha ! " lachte der Priester jetzt aus vollem Halse , " da haben wir es wieder !
Geistesfreiheit , Frivolität !
Da zappelt der Fisch wieder an der langen Schnur und hält sich für einen Luftspringer !
Bald wird er nach Luft schnappen !
Den Teufel spürt das Völkchen nie ! möchte man fast ausrufen , wenn es nicht den lieben Herrgott anginge , verzeih mir Gott die Sünde ! "
Ärgerlich , daß ich dem humoristischen Fliegenfänger nun doch wieder ins Garn gefallen , entzog ich mich der Unterhaltung und trat schweigend an ein Fenster , wo ich die Sterne des Großen Wagens ihren stillen Weg fahren sah .
Auf einmal rief Dorothea , welche inzwischen das Buch in die Hand genommen hatte : " Beim Himmel , da steht das artigste Frühlingsliedchen , das ich je gesellen !
Hört : » Blüh auf , gefrorener Christ !
Der Mai ist vor der Tür , Du bleibest ewig tot , Blühst du nicht jetzt und hier ! « "
Sie eilte ans Klavier , spielte und sang diese Worte in einem altertümlichen Choralsatze von sehnsüchtig lockendem Tone , doch trotz der kirchlichen Form mit einem verliebt zitternden , weltlichen Ausdruck ihrer Stimme .
Dreizehntes Kapitel Das eiserne Bild Obgleich noch nicht Weihnacht da war , schien gegen die Ordnung der Natur in der Tat der Lenz kommen zu wollen .
Während die Worte und die Melodie von Dorotheas Frühlingslied mir in den Ohren klangen , hörte ich die ganze Nacht den Südwind wehen , den schmelzenden dünnen Schnee von den Dächern tropfen , und am Morgen lag eine unnatürlich warme Sonne auf den getrockneten Gefilden , während die Bäche voller dahinrauschten und murmelten .
Nur die Blumen , die Maßliebchen und die Schneeglöckchen , fehlten .
Dennoch tönte es noch fortwährend in mir :
" Der Mai ist vor der Tür , du bleibest ewig tot , blühst du nicht jetzt und hier ! "
Noch gestern hatte ich geglaubt , mit meiner verschwiegenen Verliebtheit hoch über allem zu stehen , was ich je über Liebe gedacht und empfunden , und nun mußte ich erfahren , daß ich keine Ahnung gehabt von der Veränderung , die in dieser falschen Frühlingsnacht vorging .
Das Gattungsmäßige im Menschen erwachte mit aller Gewalt seines Wesens in mir ; das Gefühl der Schönheit und Vergänglichkeit des Lebens verdoppelte sich , und zugleich schien mir alles Heil der Welt nur auf diesen zwei schönen Augen zu stehen ; während ich sie aber aus Dankbarkeit schon für ihr bloßes Dasein liebte und ehrte , verschmähte ich , sie auch nur in Gedanken mit meiner Person zu behelligen aus lauter Demut und Furcht , und doch war Demut wie Furcht wieder eine Lüge , wenn sie zwanzigmal mit unbestimmten Hoffnungen , mit Vorstellungen von Glück und Freude wechselten , statt zum Entschluss weiser Flucht zu führen .
Mit Ruhe und Arbeit war es nun vorbei ; denn so wie ich etwas in die Hand nehmen wollte , verirrten sich meine Augen in das Weite , und alle Gedanken flohen dem Bilde der Geliebten nach , welches , ohne einen einzigen Augenblick zu weichen , überall um mich her schwebte , während es zu derselben Zeit schwer wie aus Eisen gegossen in meinem Herzen lag , schön , aber unerbittlich hart und schwer .
Von diesem eisernen Drucke , der mir sehr neu und grausam vorkam , war ich nur in Dörtchens Gegenwart frei ; kaum sah oder hörte ich sie nicht mehr , so stellte er sich wieder ein , und ich konnte ihn füglich ebensowohl als ein körperliches wie als ein moralisches Übel betrachten .
Die Heftigkeit des Zustandes wurde keineswegs durch das beschämende Bewußtsein gemildert , daß ich an dem eben verbannten Peter Gilgus einen drolligen Genossen besaß ; wie ich überhaupt nicht viel von der Meinung halte , physische oder geistige Leiden seien leichter zu tragen , wenn sie mit anderen geteilt werden .
War Gilgus auch in seiner Art von mir verschieden , so standen wir uns doch darin gleich , daß beide als arme Zuflüchtige in das Haus gekommen und mit dem Begehren nach der Tochter endeten .
Der unzeitige Frühling hielt wochenlang an ; in den Gehölzen blühte schon der Zeidelbast , so daß ich am Weihnachtsabend , da ich nichts anderes hatte , eine Handvoll der roten duftenden Zweige auf den Bescherungstisch legen konnte .
Es wurde übrigens nur den Angestellten und Dienstleuten beschert und ohne weitere Festlichkeit ; denn der Graf sagte , es zieme sich nicht , mit den Kirchlichen nur die Lustbarkeiten , nicht aber die Peinlichkeiten und die Andachten zu teilen .
Als der Tisch geleert und das Volk abgezogen war , lag mein Strauß noch da .
Dorothea ergriff ihn und sagte : " Wem gehört denn eigentlich die schöne Daphne ?
Gewiß mir , ich sehe es ihr an ! "
" Wenn Ihnen die Jahrszeit nicht allzu verdächtig ist " , sagte ich , " so erbarmen Sie sich dieser zu früh gekommenen Sendboten ! "
" Ei was , man muß das Gute nehmen , wie es kommt .
Haben Sie Dank ; wir wollen die Zweige gleich ins Wasser stellen , sie sollen uns das ganze Haus durchduften ! "
Dorothea war nicht nur an diesem Abend , sondern über die ganze Festzeit aufgeräumt und von lieblichster Laune , besonders am Neujahrstage , wo zum ersten Male , seit ich im Hause war , sich eine größere Gesellschaft zu einem Festmale einfand .
Nicht nur der Kaplan , sondern auch der Pfarrherr , der Arzt , ein Oberamtmann und einige Edelleute !
Jugendgenossen des Grafen , welche trotz seiner verpönten Gesinnungen ihm zugetan blieben , waren da .
Selbst ein paar aufgeweckte ältere Damen kamen angefahren und verbreiteten sogleich den guten freien oder den freien guten Ton , der in gewissen Zeiten oft nur noch in der Gewalt der alten Frauen steht , die andere Tage gesehen haben und für sich nichts mehr fürchten noch hoffen .
Es wurde nichts gesagt , was der einzelne nicht hören durfte , und doch auch nichts verschwiegen , was irgend mit wohlwollender Heiterkeit anzubringen war .
Jeder fand seine Gelegenheit , ein Wort mitzusprechen , und keiner mißbrauchte sie , weil das Treffendere und deshalb scheinbar Neuere schon gesagt war , sofern einer darauf ausging , dergleichen zu leisten .
Selbst der Kaplan übte seine Künste mit höflicher Mäßigkeit , und der Pfarrherr , ein rechtgläubiger , aber nicht bösartiger Katholik , zog von vornherein eine so generose Linie des allenfalls zu Dulden den um seine behagliche Person , daß die Überschreitung der Grenzwehr niemandem einfiel und sogar nicht einmal eine merkliche Annäherung versucht wurde .
Ungeachtet dieses heiteren Daseins nahm ich meine Zeit wahr , um mich für einmal zurückzuziehen , da ich durch mein Dableiben weder aufzufallen noch zu stören wünschte .
Für den Augenblick etwas ruhiger geworden , begab ich mich in die alte Hauskapelle und machte mir dort einiges mit meinen Bildern zu schaffen , die halb eingetrocknet dastanden .
Wie ich mich so in der Stille befand , kam mir plötzlich die Mutter in den Sinn , welche in der fernen Heimat saß und nicht wußte , wo ich war , indessen es mir hier wohlerging .
Längst hätte ich ihr nun Nachricht geben können und sollen , da sich die Umstände ja für einmal tröstlich verändert hatten ; daß ich es dennoch immer verschob , geschah aus unklar ineinanderfließenden Ursachen .
Erstlich hielt ich allerdings meine Angelegenheiten nicht mehr für so sehr wichtig und besprechenswert , seit ich aus der Not erlöst war ; dann dachte ich wieder , durch die Freude einer unvermuteten Ankunft alles gutzumachen , bis wohin die kurze Spanne Zeit , gegenüber den verflossenen Jahren , nicht mehr in Betracht käme ; endlich aber scheute ich mich unbewußt , bei dem jetzigen inneren Zustande irgendeinen Laut von mir zu geben , zumal die geheime Selbstliebe trotz aller gegenteiligen Gedankengänge und Vorsätze sich doch nicht eingestehen wollte , daß jede Entscheidung undenkbar sei .
Als ich nun in einiger Ruhe dies Wirrsal beschaute , faßte ich doch den Entschluß , die stille Stunde zu benützen und der Mutter zu schreiben , wo ich sei , wie es mir gehe und daß ich bald heimkehren werde .
Zu diesem Zwecke ging ich nach dem Gartenhause hinüber , wo ich etwas Bücher und Schreibzeug liegen hatte .
Auf dem Wege dahin bemerkte ich , daß die Gesellschaft sich in dem wie im Frühlingslichte ruhenden Park erging ; das konnte mir als merkwürdiges Bild eines Neujahrstages und meines Aufenthaltes gleich zum Eingange des Briefes dienen .
Kaum war ich aber in meinem Zimmer oder Schlafsälchen angelangt , so klopfte es , und Röschen die Gärtnerin erschien in der Sonntagstracht der Landesgegend vom zierlichsten Schnitte ; die wollene pelzverbrämte Jacke trug sie der warmen Luft wegen nur am Arme , so daß die Brustbekleidung von grüner Seide mit ihren silbernen Häkchen und Knöpfchen den Wuchs des hübschen Mädchens um so feiner zeichnete .
Ein kleines Gehäube , von schwarzem Samt und Spitzen zusammengesetzt , bekleidete den Ausgang der starken goldenen Zöpfe , von denen der eine wie aus Übermut über die Schulter nach vorn gezogen war und mit der Jacke auf dem Arme lag .
Sie war von Seite des Fräuleins an mich abgesandt mit der Aufforderung , sogleich nebst der Botin zu ihr zu kommen und den Frauenzimmern den Ort zu zeigen , wo ich den blühenden Zeidelbast gefunden habe .
Das Mädchen lächelte artig und schalkhaft bei seiner Verrichtung , seines vorteilhaften Aussehens wohlbewußt ; der schöne Anblick saß mir auch fest im Auge , doch nahm ich denselben lediglich zugunsten der Herrin , deren Schönheit ich ihn zurechnete .
Ohne Zögern ließ ich liegen , was ich vorgehabt , und eilte mit dem Mädchen durch Bäume und Herrschaften nach dem Kirchhofe , wo Dorothea wartete .
" Wo stecken Sie denn ? " rief sie mir entgegen ; " wir wollen noch mehr von dem blühenden Zeiland suchen , das kann man nicht alle Neujahrstage .
Überdies sind wir die einzigen jungen Leute hier und dürfen uns auf unsere Weise auch ein bißchen des Lebens freuen ! "
Sie ergriff somit meinen Arm , und wir gingen , von Röschen begleitet , nach dem Buchenwald , den wir in acht oder zehn Minuten erreichten .
Der Waldboden war trocken wie im Sommer , und sobald wir ihn betraten , fing Dortchen an zu singen , und zwar ein wirkliches Volkslied und im Tone , wie das Volk selber singt , treuherzig und selbst mit den kleinen Schnörkeln verziert , die jenes anzuhängen pflegt .
Röschen fiel alsbald mit der zweiten Stimme ein , etwas tief und derb , so daß es klang , wie wenn zwei gesunde Landmädchen durch den sonntäglichen Wald gingen .
Natürlich waren es von den wehmütigen Liebesgeschichten , die sie eine nach der anderen anstimmten und andächtig zu Ende führten , ohne daß Dortchen meinen Arm fahrenließ , bis ein rötlicher Glanz uns anzeigte , daß einige Sträucher der gesuchten Pflanze in der Nähe waren ; denn die sinkende Sonne streifte durch die Buchenstämme und traf die blühenden Zweige der Daphnen , wie Dortchen sie mit dem botanischen Titel nannte , der mir unbekannt gewesen .
Sie jauchzte fröhlich auf , und beide Mädchen liefen sogleich hin , von den narkotisch duftenden Zweigen die schönsten zu brechen , während ich mich auf den Stamm eines gefällten Baumes setzte und ihnen zuschaute , mit Wohlgefallen jeder ihrer Bewegungen mit den Augen folgend .
Als sie ihre Ernte gehalten , ging Röschen weiter , noch mehr Sträucher aufsuchend , und das Mädchen verlor sich allmählich hinter den Bäumen .
Dorothea hingegen kam und ließ sich bei mir nieder , indem sie mir ihren Blütenstrauß unter die Nase hielt .
" Ist es nun nicht hübsch hier " , sagte sie , " und sind Sie nicht froh , daß wir Sie aus Ihrem Schlupfwinkel geholt haben ? "
" Ich wollte an meine Mutter schreiben " , antwortete ich .
" Haben Sie ihr denn nicht schon früher auf den heutigen Tag einen Neujahrsbrief geschickt ? "
" Ich habe ihr noch nicht geschrieben , seit ich hier bin ; sie weiß gar nicht , wo ich lebe ! "
" Sie weiß es gar nicht ?
Wie können Sie so was tun ? "
Ich blickte seitwärts und kratzte mit den Fingern ein kleines Moosgärtlein weg , das auf der silbergrauen Rinde des Stammes saß .
Dann sagte ich , daß ich einen so langen Aufenthalt nicht vorhergesehen und endlich gedacht hätte , die Mutter um so froher zu überraschen , wenn ich schließlich selber käme .
" Das muß ich sagen " , rief sie , " morgen müssen Sie aber schreiben , ich leid es nicht länger !
Wer ein solches Mütterchen hat , sollte seinem Schöpfer danken !
Wissen Sie , daß Ihr Buch aussieht wie ein Herbarium ?
Überall , wo mir etwas Freude machte oder wo ich Ihnen gern die Leviten gelesen hätte , legte ich ein grünes Blatt oder Gras hinein .
Es liegt in meinem Sekretär eingeschlossen .
Mehr als einmal , wenn ich von Ihrer Mutter las , dachte ich : Könntest du doch bei einem solchen Mütterchen mit unterkriechen , die du keines gekannt hast !
Aber morgen wird geschrieben !
Sie müssen auf meinem Zimmer schreiben , und ich gehe Ihnen nicht von der Seite , bis der Brief fertig und zugemacht ist , und wenn Sie folgsam sind , so schreibe ich selbst noch einen Gruß mit hinein ! "
" Das wird doch nicht wohl angehen ! " sagte ich .
" Warum denn nicht ?
O gefrorener Christ !
Warum denn nicht ?
Darf ich Ihre Mutter nicht grüßen ?
Und wollen Sie nicht schreiben ? "
Stadt zu antworten , arbeitete ich fleißig weiter an der Ausreutung des Moosfleckes ; denn das eiserne Abbild Dörtchens drehte sich in meinem Herzen um , während ich neben dem Urbilde saß , was es sonst nie tat , und es war , als ob es mit furchtbarem Druck der schweren Eisenhände sich gegen die Wände seiner dunklen Behausung stemmte .
Indessen ergriff sie meine Hand und wiederholte mit leiserer Stimme :
" Warum wollen Sie nicht ?
Oder soll ich für Sie schreiben , gleichsam in Ihrem Auftrage ?
Nein , das geht auch nicht !
Aber diktieren will ich Ihnen , was ich denke , daß es der Mutter Vergnügen macht , und Sie brauchen bloß nachzuschreiben !
Nun ? "
Ehe ich aber antworten konnte , war Röschen mit einer ganzen Schürze voll Märzglöckchen herbeigesprungen , die sie gefunden , und es war Zeit , zum Schlosse zurückzugehen .
Dortchen ließ das Gespräch fallen .
Sie nahm auf dem Rückwege meinen Arm nicht wieder , ging aber dicht neben mir her .
Plötzlich sagte sie :
" Röschen , leihe mir deine Jacke , wenn du sie nicht brauchst !
Es fängt doch an , mich zu frösteln ! "
Röschen reichte ihr das Kleidungsstück ; es fand sich aber , daß es für den höheren Wuchs der Dorothea zu klein und eng war , so daß sie es nicht anziehen konnte .
" Wollen Sie sich nicht meines Rockes bedienen ? " sagte ich mit unbeholfenem Scherze , und sie antwortete :
" Nein , in Ihrer Haut mag ich nicht stecken , Sie kalter Fisch ! "
Ins Schloß zurückgekehrt , hatte sie dem Tee vorzustehen , der noch eingenommen wurde , und nachher der Verabschiedung der einzelnen Gäste beizuwohnen .
Als ich mit dem Grafen und dem Kaplane noch bei einem Glase Punsch zusammensitzen mußte , kam sie , gute Nacht zu wünschen .
Sie legte dem ersteren den Arm um die Schultern und sagte scherzhaft weinerlich :
" So eine Adoptivtochter fahrt doch ein elendes Leben !
Nicht einmal ihrem Vater darf sie einen Kuß geben , wenn sie zu Bett geht ! "
" Was fällt dir ein , du Närrchen ? " sagte der Graf lachend ; " das geht allerdings nicht und würde sich nicht schicken ! "
Hier wendete sich das Eisen wieder in meinem Herzen und drückte mich jämmerlich die ganze Nacht .
Dazu fing es an , mir den Hals zuzuschnüren , und ich konnte nicht anders Luft bekommen als durch den Ausbruch einer Tränenflut und erbärmlichen Schluchzens , zum ersten Mal in meinem Leben wegen Liebessachen .
Der Unwillen über diese Schwachheit vermehrte das Übel , so wie auch die unliebsame Entdeckung , daß durch die wahre Leidenschaft , als welche ich die Geschichte ansah , die Freiheit der Person und jede vernünftige Selbstbestimmung verlorengehe , mich elend machte .
Als es endlich Tag wurde , war der falsche Lenz vorüber , und es fiel ein mit Schnee vermischter Regen .
Dortchen sagte , als ich im Schlosse erschien , nichts mehr vom Schreiben , und ich selbst vermochte erst recht nicht , mich daranzumachen .
Eine abermalige neue Erfahrung war der Widerwillen gegen das Essen , welchen aus solchen Ursachen zu empfinden ich nie für möglich gehalten hätte .
Denselben zu verbergen , damit er nicht auffiel und weil er ein trübseliges Aussehen mit sich brachte , kostete die größte Mühe , und alles das in einem Alter , wo ich doch auch kein Konfirmand mehr war .
Auch bedauerte ich , diese schöne brotsparende Leidenschaft nicht zur Zeit meiner Hungersnot besessen zu haben , wo sie mir die besten Dienste geleistet hätte .
Diese realökonomische Observation hinwieder nicht der Dorothea zu ihrer Belustigung mitteilen zu dürfen , drückte mir fast das Herz ab .
Dortchen dagegen schien nicht übel aufgelegt und sogar mit jedem Tage besser , ohne sich stark um mich zu kümmern .
Sie machte Geldstücke wie Kreisel über den Tisch tanzen , brachte Kinder herbei und setzte ihnen Papiermützen auf die Köpfe , ließ auf dem Hofe Hunde apportieren , und was dergleichen unschuldige Schwänke mehr waren , und alles dünkte mich unergründlich merkwürdig , reizvoll und bestrickte mich .
Alle die kleinen Teufeleien verrieten täglich heller eine ursprüngliche Anmut und Beweglichkeit des Gemütes und zeigten mit federleichten Wendungen , daß sie tausend Nücken unter den Locken sitzen hatte .
Wenn nun erst die offene , klare Herzensgüte , was man so die Holdseligkeit am Weibe nennt , uns gewinnt , so bringt uns nachher , wenn wir in unserer Einfalt entdecken , daß die Geliebte nicht nur schön und gut , sondern auch gescheit und beweglich ist , die fröhliche Kinderbosheit des Herzens vollends um Ruhe und Verstand ; und so ging auch mir ein neues Licht auf , und es befiel mich ein heftiger Schreck , nun gewiß nie wieder ruhig zu werden , da ich gerade dies kurzweilige Frauenleben niemals mein nennen könne .
Denn wenn die Liebe nicht nur schön und tief , sondern auch recht eigentlich kurzweilig ist , so erneut sie sich selbst in jedem Augenblick das bißchen Leben hindurch und verdoppelt den Wert desselben , und nichts macht trauriger , als ein solches Leben möglich zu sehen , ohne es zu gewinnen ; ja die allertraurigsten Leute sind die , welche glauben , das Zeug dazu zu haben , recht lustig zu sein , und dennoch traurig sein müssen aus Mangel an guter Gesellschaft .
So dachte und fühlte ich damals , weil ich nicht wußte , daß es wichtigere und dauerhaftere Dinge in der Welt gibt als jene jugendliche Kurzweil .
Da das schöne Wesen mir mit jedem Tage anders und unbegreiflicher erschien , obgleich sie immer dieselbe war , so verlor ich zuletzt alle Unbefangenheit des Verkehrs , und um die Heilung meiner Krankheit zu versuchen , zog ich mich wie ein Einsiedler in die Wildnis zurück ; d.h. unter dem Vorgeben , die Gegend , Land und Leute recht anzusehen , fing ich an , bei jeder Witterung , gut oder schlecht , den Tag im Freien zuzubringen .
Ich hielt mich aber meist auf den waldigen Höhen auf , unter alten Tannenbeständen oder in verlassenen Köhlerhütten , ohne menschliche Gesellschaft , was schon aus dem Grunde gut war , weil ich , immer nur mit dem einen Gegenstande beschäftigt und die Herrschaft über mich selbst vergessend , laut zu denken und zu sprechen begann , besonders mit der Klage über den schmählichen Druck , der mir wie eine fremde Krankheit angeworfen war und den ich hundertmal mit der Hand wegzuwischen suchte .
" Ist diese Teufelei also die wirkliche Liebe ? " sagte ich eines Tages laut vor mich hin , als ich unter Bäumen einsam hockte und über das Land wegblickte .
" Habe ich nur ein Stück Brot weniger gegessen , als Anna krank war ?
Nein ! Habe ich eine Träne vergossen , als sie starb ?
Nein !
Und doch tat ich so schön mit meinen Gefühlen !
Ich schwor , der Toten ewig treu zu sein ; dieser Lebendigen aber Treue zu schwören wäre mir nicht einmal möglich , da sich das ja von selbst versteht und ich mir nichts anderes denken kann !
Wenn diese schwer erkranken oder gar sterben sollte , würde ich dann imstande sein , dem Ereignis so aufmerksam zuzusehen und es gar zu beschreiben ?
O nein , ich fühle , es würde mich brechen und die Welt verfinstern !
Und welch ein praktischer Kerl bin ich dennoch gewesen , als ich so platonisch , so ganz nach dem Schema liebte und ein grüner Junge war !
Wie unverschämt habe ich da geküßt , die Kleine und die Große , zum Morgen- und Abendbrot !
Und jetzt , da ich so manches Jahr älter bin und ein Stück Welt gesehen habe , wird es mir schon bang , wenn ich nur daran denke , diese schöne und gute Person zu unbestimmter Zeit irgendeinmal küssen zu dürfen ! "
Dann starrte ich wieder in die Luft hinaus ; doch kaum waren einige Minuten vergangen , während welcher ich neugierig eine Wolke oder einen Gegenstand am Horizont oder ein schwankendes Reis zu meinen Füßen betrachtete , so kehrten die Gedanken wieder zu ihrer alten Last zurück ; denn das eiserne Bild erlaubte nicht , daß sie länger anderswo spazierengingen .
Als ich eines Abends einen steilen Klippenpfad hinunterstieg , trat ich in der traurigen Zerstreutheit fehl und torkelte wie ein Sinnloser über die Felsen , daß ich nicht wußte , wie ich unten ankam , und mich zu meiner Kränkung und Beschämung ziemlich verletzte .
Ein anderes Mal saß ich im Feld auf einem verlassenen Pfluge , der in der abgebrochenen Ackerfurche stand , und machte wohl ein sehr betrübt dummes Gesicht ; denn ein vergnügt grinsender Feldlümmel , der mit einem irdenen Selterskrüglein , das ihm am Rücken hing , dachergeschlenkert kam , stand vor mir still , gaffte mich an und begann endlich unbändig zu lachen , indem er sich mit dem Ärmel über Mund und Nase fuhr .
Schon das arme Krüglein tat mir in den Augen weh , da es so stillvergnügt und unverschämt von der Schulter dieses Burschen baumelte , der wahrscheinlich seinen Vespertrunk darin mitgeführt hatte .
Wie konnte man ein solches Krügelchen herumtragen , als ob es kein Dortchen in der Welt gäbe ?
Da der grobe Gesell nicht aufhörte , dazustehen und mir ins Gesicht zu lachen , stand ich auf , trat weinerlich und leidvoll auf ihn zu und schlug ihn dergestalt hinter das Ohr , daß der arme Kerl zur Seite taumelte ; und ehe er sich wieder fassen konnte , prügelte ich all das Weh auf den fremden Rücken und zerschlug auch seinen Krug , daß mir die Hand blutete , bis der Feldlümmel , welcher glaubte , der Teufel sei hinter ihm her , sich aus dem Staube machte und erst aus einiger Entfernung anfing , mit Steinen nach mir zu werfen .
Nach dieser humanen Heldentat ging ich langsam davon , schüttelte den Kopf und seufzte über soviel Herzeleid , das in der Welt sei !
Von solcher Aufführung selbst angegriffen , dachte ich nicht , mich daran aufzureiben , sondern suchte den Weg , mich aus dem Irrsal zu befreien .
Ich musterte und verglich alle Umstände , um feststellen zu können , daß ich nicht der Mensch sei , eine Neigung wie diejenige Dörtchens erwecken zu können .
Was dem einen recht , ist dem anderen billig ! und :
Wie du mir , so ich dir ! sind zwei goldene Sprüche auch in Liebeshändeln , wenigstens für sonst verständige Menschen , und die beste Kur für ein krankes Herz ist die unzweifelhafte Gewißheit , daß sein Leiden nicht geteilt wird .
Nur eigensinnige und selbstsüchtige Verfassungen laufen Gefahr , sich aufzulösen , wenn sie von denen nicht geliebt werden , die ihnen gefallen .
Aber was hätte sein können und nicht geworden ist , macht unglücklich , und der Trost hilft nicht , daß die Welt weit sei und hinter dem Berge auch noch Leute wohnen ; nur das Gegenwärtige , was man kennt , ist heilig und tröstlich .
Nachdem ich nun ausgemacht hatte , daß Dortchen nicht an mich denke , wurde ich etwas ruhiger und begann zu ratschlagen , ob ich zum Danke für ihre Liebenswürdigkeit ihr die Sache entdecken wolle oder nicht .
Ich gedachte im ersten Falle , gelegentlich , ehe ich abreiste , ihr lachend und manierlich zu gestehen , welchen Rumor sie mir angerichtet , und sie zugleich zu bitten , sich nicht darum zu kümmern ; denn nun sei alles wieder gut und ich wohl und munter .
Auf der anderen Seite aber tauchte die Besorgnis auf , ein derartiges Geständnis möchte doch als schlaue Liebeswerbung angesehen werden und mich in ein schiefes Licht bringen , der Geliebten aber einen trüben Tag bereiten .
Ich verfiel daher wieder in ein unruhiges und trauriges Nachsinnen , ob ich es tun solle oder nicht , bis zuletzt es mir doch möglich schien , mit unbefangenem Vertrauen ihr durch offene Darstellung des über mich gekommenen Ungewitters , unter Scherz und Lachen , eine kleine Erheiterung zu gewähren , die sie wohl verdiene , und mir zugleich die verlorene Ruhe zu verschaffen .
Und zwar nahm ich mir vor , es sofort zu tun .
Es war eben Sonnabend und das gute Wetter auch für den kommenden Tag in Aussicht .
Ich beschloß daher , den Sonntagmorgen mit seinem stillen Glanze zu der verwegenen Verhandlung zu benutzen , heute aber mich nicht mehr sehen zu lassen , um nicht durch neue Eindrücke irre zu werden in meinen Vorsätzen .
Der Morgen geriet auch auf das schönste ; ein wirklicher Vorfrühling lachte mit seinem wolkenreinen Himmel durch alle Fenster , und ich war trotz einiger süßen Bangigkeit doch guter Dinge , da ich meiner baldigen Freiheit und Erlösung von der schmählichen Beklemmung entgegensah und mir einbildete , nichts anderes erreichen , zu wollen .
Und dennoch beruhte die ganze süße Aufregung , in welcher ich mich feiertäglich herausputzte und fortwährend auf neue Scherze sann , die ich in die bevorstehende Plauderei verflechten wollte , auf dem Selbstbetruge , mit dem ich mir verbarg , daß mich nur der Wunsch beseelte , mit Dorothee wohl oder übel von Liebe zu sprechen .
Aber es fand sich , daß sie schon am Sonnabend meilenweit weggefahren war , um eine Freundin zu besuchen , daß sie von dort nach der Residenz gehen und überhaupt mehrere Wochen abwesend sein werde .
Damit war alle meine Hoffnung zunichte und der blaue Himmel in meinen Augen schwarz wie die Nacht .
Das erste , was ich tat , war , daß ich wohl zwanzigmal den Weg vom Gartenhaus nach dem Kirchhof hin und zurück ging und mich dabei auf die Seite des Pfades drückte , an welcher Dortchen mit dem Saume ihrer Gewänder hinzustreifen pflegte .
Aber auf diesen Stationen brachte ich nichts heraus , als daß das alte Elend mit verstärkter Gewalt wieder da war und die Vernunft wie weggeblasen .
Das Gewicht im Herzen war auch wieder da und drückte fleißig darauf los .
Der Graf hatte die ganze Zeit über seiner einzigen Leidenschaft , der Jagd , gelebt und war daher wenig zu Hause geblieben .
Jetzt schien er der Sache etwas müde zu sein und begann mich wieder aufzusuchen .
Er fand mich in der Kapelle , da ich keinen Grund mehr hatte , in die Wildnis zu laufen , und hier am einsamsten war .
" Wie steht es denn mit den Bildern , Meister Heinrich ? " sagte er , mir auf die Schulter klopfend , " rücken sie vor ? "
" Nicht sonderlich ! " erwiderte ich kleinlaut und trübselig .
" Es eilt ja nicht , Sie sind uns noch lange willkommen !
Dennoch sehe ich Ihnen am Gesicht an , daß es gut ist , wenn Sie von der Sache mit guter Manier bald frei werden . "
Du triffst es besser , als du weißt ! dachte ich und machte mich plötzlich mit so grimmiger Entschlossenheit an die Arbeit , daß ich vor Ablauf von drei Wochen mit den Bildern fertig war .
Während sie zum Trockenen an der Luft standen , bestellte ich beim Tischler die Kisten , in denen sie nach der Hauptstadt gesendet werden sollten .
Dann stellte ich einige Streifereien an , um nicht stilliegen zu müssen , und als ich eines Abends spät nach Hause kehrte , sah ich vom Garten aus Dorothees Zimmer erleuchtet .
Mit dem Schlaf , den ich während der letzten fleißigen Tage wiedergefunden , war es nun abermals aus , obgleich ich noch nicht wußte , daß sie wirklich da war .
Am Morgen erschien Röschen und berief mich zum Frühstücke , welches ihrer Ankunft zu Ehren gemeinsam eingenommen werde .
Als ich ins Schloß kam , erklang ihre Stimme durch das Haus ; sie spielte und sang wie eine Nachtigall am Pfingstmorgen , und alles war voll Leben und Fröhlichkeit ; nur ich war traurig und einsilbig , da das Scheiden nun doch vor der .
Türe stand .
Sie schien aber nichts davon zu merken , sondern trieb allerlei Mutwillen , der mich immer wieder aufregte und verwirrte ; dabei wandte sie sich immer an andere und brauchte vorzüglich das dienstfertige Röschen als Trägerin und Gehilfin ihrer Possen .
Als dieses gelegentlich ein kleines Silberlachen hören ließ , das ich auf meine düstere Laune bezog , lief ich dem Mädchen nach , packte es und faßte es in den Arm , indem ich mit der anderen Hand sein Köpfchen festhielt .
" Wer wird hier ausgelacht , und was willst du denn , du Gänseblümchen ? " rief ich .
Das blühende Kind zappelte und sträubte sich , lachte aber fort .
Unversehens hielt es still und flüsterte mir ins Ohr :
" Lassen Sie uns doch lachen !
Das gnädige Fräulein ist so vergnügt und zufrieden , daß sie wieder da ist !
Wissen Sie warum ? "
Als ich das schlimme Geschöpf verblüfft und errötend freiließ , legte es mir die Hand auf die Schulter und lispelte weiter :
" Sie war so traurig die ganze Zeit , denn sie ist verliebt !
Wissen Sie , in wen ? "
Ich fühlte das Herz beinahe stillstehen und sagte tonlos :
" Nun , in wen denn ? "
" Ein Rittmeister bei den Kürassieren ! " hauchte sie nun ganz leise , " himmelblaue Tracht , schneeweißer Mantel , Stahlharnisch und hoher Silberhelm , ein geschwungener Kamm darauf , und das Ganze schön wie ein Hektor , sagt sie , obgleich unser schwarzer Hund so heißt ! "
Damit sprang sie davon und eilte der Herrin nach , die schon vorher entschlüpft war .
Ich merkte freilich , daß Scherz getrieben wurde ; allein die Schilderung eines schönen Reiteroffiziers bekam mir an sich schon nicht gut in solchem Zusammenhänge .
Glücklicherweise langten die Kisten für die Bilder an , welche sofort eingepackt wurden .
Ich schlug selbst die Nägel in die Deckel , daß die Kapelle von den zornigen Schlägen widerhallte ; denn mit jedem Schlage nahm ich mir gewisser vor , am nächsten Tage fortzugehen , und so dünkte es mir , als nagle ich den eigenen Sarg zu .
Aber nach , jedem Schlage schallte ein klangreiches Gelächter oder ein fröhlicher Triller von den Korridoren und Treppen her , die Mädchen jagten hin und wider und schlugen Türen auf und zu .
Das bewirkte , daß ich in meine Gartenwohnung ging und gleich auch den Reisekoffer packte , den ich samt neuem Inhalt bei meinem letzten Aufenthalt in der Residenz gekauft hatte .
Als ich damit fertig war , ging ich höchst schwermütig , aber gefaßt ins Freie und nach dem Kirchhofe ; dort setzte ich mich auf Dörtchens Lieblingsbank und hoffte , sie werde etwa herkommen und ich wenigstens noch einige Minuten bei ihr sitzen können ohne Bosheit noch Gefährde , um sie nochmals recht anzusehen .
Sie kam auch richtig nach einer Viertelstunde herangerauscht , aber von der Gärtnerstochter und dem schwarzen Hektor begleitet .
Da entfernte ich mich eiligst , im Glauben , sie hätten mich noch nicht gesehen , und lief hinter die Kirche .
Als ich dort die Mädchen wieder sprechen und lachen hörte , ging ich in der Verwirrung in das Dorf und betrat das Pfarrhaus , um beim Kaplan Zuflucht zu suchen , angeblich aber um meine Abreise anzukündigen .
Ich fand ihn essend am Tische sitzen , über den die Nachmittagssonne wegschien .
" Ich esse hier mein Vesperbrötchen " , sagte er , " wollen Sie nicht mithalten ? "
" Ich danke " , erwiderte ich ; " wenn Sie es erlauben , so will ich Ihnen sonst ein wenig Gesellschaft leisten ! "
" Das sind mir junge Leute heutzutage " , sagte der Hochwürdige , " das hat ja gar keinen ordentlichen deutschen Appetit mehr !
Na , die Gedanken sind auch danach , da kann freilich nicht viel anderes herauskommen als nichts und wieder nichts ! "
" Seit wann sind Hochwürden so materialistisch ? "
" Verwechseln Sie mir nicht das Erschaffene mit dem Unerschaffenen , unseliger Adept , und nehmen Sie Platz !
Ein Schluck Bier wird Ihnen mindestens nicht zu schwer sein ! "
So beschäftigte er sich eifrig weiter mit der großen Schüssel , die vor ihm stand .
Dieselbe enthielt die Anhängsel und Profilstücke eines frischgeschlachteten Schweines , die Ohren , die Schnauze und den Ringelschwanz , alles soeben gekocht und dem Geistlichen lieblich in die Nase duftend .
Er pries das aufgetürmte Gericht als unübertrefflich an einfacher Zartheit und Unschuld und trank einen tüchtigen Krug goldenbraunen Bieres dazu .
Als ich etwa zehn Minuten dagesessen hatte , klopfte es an der Türe , und Dorothea trat , nur von dem schönen Hunde begleitet , anmutig und höflich herein , schien aber ein klein wenig befangen zu sein .
" Ich will die Herren nicht stören " , sagte sie , " und wollte nur den Herrn Kaplan bitten , heute abend bei uns zu sein , da Herr Lee morgen fortreist .
Sie sind doch nicht abgehalten ? "
" Gewiß werde ich kommen ! " erwiderte der Pfarrer , der sich schon wieder gesetzt hatte und seine angenehme Arbeit fortsetzte , " bitte , mein Liebster , holen Sie doch einen Stuhl für das gnädige Fräulein ! "
Das tat ich mit großem Eifer und stellte einen zweiten Stuhl an den Tisch , mir gerade gegenüber .
Dorothea dankte mit freundlichem Lächeln und sah bescheiden vor sich nieder , indem sie Platz nahm .
Nun war ich doch glückselig , da ich in der wohnlichen und sonnigen Priesterstube ihr gegenübersaß und sie sich so gutmütig und still verhielt .
Der Kaplan sprach essend und immer allein , und wir brauchten ihm nur zuzuhören , indes der Hund mit feurigen Augen und offenem Manne auf Schüssel , Hände und Mund des Hochwürdigen starrte .
" Ach , der arme Hund , wie es ihn gelüstet ! " sagte Dortchen , " essen Sie dies auch , Herr Kaplan , oder erlauben Sie , daß ich es ihm gebe ? "
Sie zeigte hierbei auf das krumme Schwänzchen , das sich manierlich auf dem Rande der Schüssel darstellte .
" Dies Sauschwänzchen ? " sagte der Kaplan , " nein , mein Fräulein , das können Sie ihm nicht geben , daß eße ich selber !
Warten Sie , hier ist etwas für ihn ! " und er setzte dem lüsternen Tier einen Teller vor , in welchen er allerhand Knöchelchen und Knorpelwerk geworfen hatte .
Dortchen und ich sahen uns unwillkürlich an und mußten lächeln , weil die ungetrübte Freude des Geistlichen an dem bescheidenen Gegenstande uns erheiterte .
Auch der Hund , der sich begierig mit seinem Teller unterhielt , vermehrte durch seine Behaglichkeit die gute Stimmung .
Dortchen streichelte ihm den Kopf , als ich eben mit der Hand über seinen glänzenden Rücken fuhr , und als sie achtlos Gefahr lief , mir mit ihrer Hand zu begegnen , zog ich die meinige höflich zurück , wofür sie mich schnell mit einem halben Lächeln anblickte .
Am offenen Fenster wehten die Vorhänge , sachte von der Luft bewegt , und vor demselben tanzte ein Schwarm schimmernder Mücklein in der Sonne , die einzelnen kaum erkennbar , mit einer Hast und Leidenschaft durcheinander , als ob sie die Kürze der ihnen verliehenen Frist gekannt hätten , die sich vielleicht nach halben Stunden berechnete .
In diesem Augenblick wurde der geistliche Herr von der Haushälterin abgerufen , um an Stelle des abwesenden Pfarrers einem Vorbeschiedenen unfriedfertigen Ehepaar Audienz zu erteilen .
" Das muß doch immer gezankt haben , es ist ein Graus mit diesen Eheleuten ! " rief der über die Störung ungehaltene Zölibatär ; " räumt den Tisch ab , Therese , ich esse nachher nicht mehr ! "
Damit lief er nach dem Studierzimmer des Pfarrers , ohne uns zu verabschieden , und wir waren so veranlaßt , an dem weißgedeckten Tische sitzen zu bleiben ; denn die Wirtschafterin nahm bloß Schüssel und Teller mit und ließ das Tuch liegen .
Ich blickte wortlos auf die runde weiße Fläche , die , von der jungen Sonne beleuchtet , zwischen uns glänzte .
Das Wort " Eheleute " , das der Geistliche zuletzt ausgesprochen , klang gleichsam noch in der Luft , da niemand sprach ; denn auch Dortchen saß schweigend da , die Hand auf den Kopf des Hundes gelegt , der mit seinem Schmause auch fertig war .
Das verfängliche Wort klang aber nicht mit seinem Zusammenhänge nach , sondern erweckte mir die Vorstellung von zwei Leutchen , die glücklich in häuslicher Abgeschlossenheit am Tische sich gegenübersitzen .
Es war , als ob das weiße Rund sich mit Bildern des Glückes belebte , und es ergriff mich ein tiefes Leiden um Dortchen , da es mir beim Himmel nicht möglich schien , daß sie anders als an meiner Seite glücklich und zufrieden alt werden könne .
Mit einem Seufzer richtete ich die feucht werdenden Augen auf und sah erschrocken , wie Dörtchens Augen mit Teilnahme auf mir zu ruhen schienen , während den geschlossenen Lippen ein weicher , nicht unfreundlicher Ernst den schönsten Ausdruck gab und das Haupt nachdenklich sich leicht seitwärts neigte .
Auch nachdem ich aufgeblickt , veränderte sie Haltung und Ausdruck nicht sofort , und erst als ihre Augen auch einen feuchteren Glanz bekamen , nahm sie sich zusammen .
Das Bild dieses Augenblickes ist mir auch geblieben gleich dem stillen Glanz eines Sternes , den man einmal in ungewöhnlich klarer Luft leuchten sah und niemals vergißt .
Ich rang nach Worten , um das Schweigen zu unterbrechen , und Dortchen , mit dem gleichen Bestreben schneller fertig , öffnete eben den Mund , als die Wirtschafterin des Pfarrhauses wieder eintrat und nicht mehr wegging , da sie sich berufen fühlen mochte , die junge Herrschaftsdame zu unterhalten .
Es dauerte nicht lang , so kehrte auch der Kaplan von seinem Geschäft zurück , das er rascher erledigt , als er gehofft hatte , und da sich nun ein haushälterisches Gespräch abzuspinnen begann , benutzte ich die Gelegenheit , grüßte und entfernte mich , um mein volles Herz hinauszuflüchten .
Dortchen sah mir nach und rief mir zu , ich möge doch nicht zu spät im Schlosse erscheinen .
Nach einigem Herumstreifen gelangte ich an die Stelle , wo ich bei meiner Ankunft aus dem Walde herausgetreten war und die abendliche Regenlandschaft mit dem Gute und der alten Kirche erblickt hatte .
Ich ging auf die Kirche zu und in dieselbe hinein , und da ein altes Mütterchen darin kniete und ihr Gebet murmelte , schlich ich hinter ihr weg in eine Art Krypta , welche den ältesten Teil des Gebäudes und einen halbdunklen Raum bildete , dessen romanische Fenster zur Hälfte vermauert waren .
In diesem Raum waren im Laufe der Zeit eine Menge Gegenstände untergebracht worden , die ihn verengten .
Vorzüglich tat dies ein Grabmal von schwarzem Kalkstein , auf welchem ein langer Ritter ausgestreckt lag , die Hände auf der Brust gefaltet .
An seiner Seite , auf dem Rande des Sarkophages , stand eine fest verschlossene und verlötete Büchse von Bronze in Form einer kleinen Urne , zierlich gegossen und ziseliert und mit einer schlanken Kette vom nämlichen Metall an dem Brustharnisch des steinernen Ritters befestigt .
Nach der Überlieferung enthielt die Büchse das einbalsamierte und vertrocknete Herz des Beigesetzten , und das Gefäß wie die Kette war gänzlich oxydiert und schillerte grünlich im Zwielicht der Krypta .
Das Grabmal aber gehörte einem burgundischen Ritter an , der gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts , von wilder und unsteter , aber ehrlicher Natur , von allerhand Unstern und Frauenmißhandlung verfolgt , durch die Länder geirrt war und bei den Vorfahren des Grafen hier seine letzte Zuflucht gefunden hatte , wo das Herz dann endlich an einem letzten Verrate gebrochen sein sollte .
Das Grabmal hatte er sich selbst gestiftet und den einsamen Platz dazu ausgebeten ; die Gruft des gräflichen Geschlechtes war schon damals in die größere Kirche verlegt worden .
An das Herz in der Büchse knüpften sich verschiedene Sagen , die vom Volke erzählt wurden , wie zum Beispiele der " verliebt Burgauner " verordnet habe , sein Herz solle so lang auf seinem Grab angebunden bleiben , bis lebendig oder tot eine gewisse Dame komme und es in das Vaterland heimhole , und geschehe es nicht , so sollte sie sowenig die ewige Ruhe finden , als er sie zu finden hoffe ; ein jedes andere Weibsstück aber , so die Büchse mit dem Herzen in die Hand zu nehmen sich erdreiste , soll gehalten sein , dieselbe dreimal zu küssen und drei Vaterunser zu beten , sonst werde der verliebt Burgauner ihr die Hand lahm machen oder ein Knie brechen und dergleichen .
Solche Überlieferungen mochten auch bewirkt haben , daß die Kapsel samt der Kette sich so lange Zeit an Ort und Stelle erhalten hatte .
Dem romantischen Denkmale gegenüber saß ich in einem dunklen Winkel zwischen ausgedienten Tabernakeln und Prozessionsgerätschaften und überließ mich den Gedanken über die bevorstehende Trennung , die um so trauriger waren , als ich in dieser letzten Stunde mir sagen mußte , bei aller Abenteuerlichkeit des Erlebten werde das Glück schwerlich so weit gehen , mir auch noch mit einer Eroberung so glänzender Art aufzuwarten , wie sie mir im Sinne lag .
Zu dieser planen Einsicht drängte mich die Not des entscheidenden Augenblickes , und hierzu gesellte sich die Beschämung Über die kindische Art , in die ich verfallen , sofort nach dem Glänzenden zu greifen .
Mit solchen Gefühlen ringend , suchte sich dann die versöhnte Neigung , die , nichts für sich hoffend , nur dem Geliebten zugetan sein will , emporzuarbeiten , soweit sie nicht auch wieder eine verkleidete Begehrlichkeit war ; kurz , ich brachte dergestalt die Zeit in der Dämmerung der Krypta zu , bis ich von der äußeren Kirche her ein Getrippel leichter Schritte und zugleich weibliche Stimmen vernahm .
Aufhorchend erkannte ich sie als Dorotheas und Röschens Stimmen .
Die Mädchen schienen diesmal nicht zu lachen , sondern angelegentlich etwas zu beraten .
Doch bald dauerte ihnen der Ernst zu lang ; denn sie kamen über die paar Stufen herunter in die Krypta gehuscht , und Dorothea rief :
" Komme , Röschen , wir wollen wieder einmal den verliebten Ritter besehen ! "
Sie stellten sich vor das Grabmal und schauten dem steinernen Manne neugierig in das dunkle ehrliche Gesicht .
" O Gott !
ich fürchte mich " , flüsterte Röschen und wollte entfliehen .
Dortchen aber hielt jene fest und sagte laut : " Warum denn , Närrchen ?
Der tut niemand was zu leid !
Sieh , wie es ein guter Kerl ist ! "
Sie nahm das erzene Gefäß in die Hand und wog es bedächtig in derselben ; aber plötzlich schüttelte sie es , so stark sie konnte , auf und nieder , daß das eingetrocknete Etwas , das seit vierhundert Jahren darin verschlossen lag , deutlich zu hören war und die Kette dazu klang .
Dortchen atmete heftig ; da ein Strahl des Tages auf ihr Gesicht fiel , sah ich , wie dasselbe die Farbe wechselte und von einer rosigen Röte in Marmorblässe überging .
" Höre die Klappernuß , wie sie raschelt ! " rief sie , " da , klappre auch damit ! "
Sie drückte dem zitternden Röschen das Gefäß in die Hände ; aber es tat einen Schrei und ließ das Herz fallen , und Dortchen fing es mit aller Gewandtheit auf und ließ es abermals klappern .
Ich , von dessen Gegenwart sie keine Ahnung hatten , schaute ganz erstaunt dem Spiele zu .
Wart , du Teufel ! dachte ich , dich will ich schön erschrecken !
Schnell trocknete ich die nassen Augen , stieß einen hohlen Seufzer aus und sprach mit einer traurigen Stimme , die ich gar nicht sehr zu verstellen brauchte , in älterem Französisch :
" Dame , s' il vous plaist , laissez cestuy cueur en repos ! "
Mit einem Doppelschrei flohen die Mädchen aus der Krypta und der Kirche wie besessen , Dortchen voraus , welche mit einem schwungvollen Satz über die Stufen und die Schwelle der Kirchentüre hinaussprang , schneebleich , aber immer noch lachend ihr Kleid zusammennahm und über den Kirchhof wegeilte , bis sie zu ihrer Ruhebank kam und sich auf dieselbe warf , was ich alles durch eines der Fenster beobachten konnte , das ich rasch erklettert hatte .
Dortchen , deren Gesicht fast die Farbe ihrer weißen Zähne hatte , lehnte sich zurück , die Hände um das Knie geschlungen , und Röschen rief :
" Du großer Gott , es hat gespukt ! "
" Jawohl , es spukt , es spukt ! " sagte Dortchen und lachte wie eine Tolle .
" Du Gottlose !
Fürchtest du dich denn gar nicht ?
Klopft dein Herz nicht schrecklicher , als das tote Herz dort geklappert hat ? "
" Mein Herz ? " antwortete Dortchen , " ich sage dir , es ist guter Dinge ! "
" Was hat es denn gerufen ? " fragte Röschen , die immerfort beide Hände an ihr eigenes Herz hielt und abwechselnd prüfte , ob sie noch beweglich seien ; " was hat das französische Gespenst gesagt ? "
" » Fräulein « , hat es gesagt , » wenn es Euch gefällt , so nehmt dies Herz und macht es zu Eurem Nadelkissen ! «
Gehe wieder hin und sage , wir wollten uns bedenken !
Gehe , gehe , gehe ! "
Sie sprang auf , als ob sie die hübsche Dienerin wirklich nach der Kirche zurückschieben wollte , umhalste sie aber unversehens und drückte ihr heftige Küsse auf die Wangen .
Dann verschwanden beide unter den Bäumen .
Eine gute Weile später stieg ich auch aus meinem Schlupfwinkel hervor , um die letzten Dinge zu besorgen , die noch übrig waren .
Ich ging in das Parkhaus und stellte die Reisefertigkeit vollständig her ; richtig war der Schädel beim Packen des Koffers wieder vergessen worden , weshalb ich nochmals Raum schaffen mußte .
Zuletzt war auch er untergebracht , und zwar als die einzige Habseligkeit von denen , die ich einst aus der Heimat in die Fremde mitgenommen hatte .
Darum war mir auch , als ich es recht bedachte , die arme Scherbe erst jetzt wert ; lange Jahre schon hatte sie in der heimatlichen Erde gelegen , dann mit mir die Kammer geteilt und , wenn auch als ein stummes Geräte , meine vergangenen Tage gesehen , und so kehrte ich wenigstens nicht ganz vor der alten Ausstattung entblößt zurück .
Dies verrichtet , begab ich mich zum Grafen , die Unterredung mit ihm zu halten , die durch die letzten Stunden meines Hierseins sowie schon von der Pflicht der Dankbarkeit gefordert wurde .
Er wollte aber jetzt nichts von solchen Verhandlungen wissen , sondern bestand darauf , mich abermals nach der Hauptstadt zu begleiten und Zeuge zu sein , wie ich es mit meinen Bildern anfangen und es mir ergehen würde .
Man müsse verhüten , sagte er , daß ich nicht schon nach dem ersten Anlaufe wieder einen Trödler aufsuche .
Das wäre nicht zu befürchten , antwortete ich , weil ich ja nun reich genug wäre , die Bilder für einstweilen zu behalten und mit nach Hause zu bringen , wo sie sogar Zeugnis über die Art , wie ich die Zeit verbracht , ablegen könnten .
Nichts da , meinte er , in der Kunststadt müßten sie ihre Wirkung tun , sonst habe mein bevorstehender Entschluß nicht die rechte Grundlage .
Vom Grafen hinweg ging ich auf die Terrasse , wo ich die kurze Zeit bis zur Stunde der abendlichen Zusammenkunft zubringen wollte .
Auf einem Tische des dahin führenden Gemaches stand eine Schüssel mit feineren Zuckersachen , wie man sie in buntes Papier zu wickeln und mit allerlei Sinnsprüchen oder sogenannten Devisen zu begleiten pflegt .
Dorothea hatte die Gewohnheit , dergleichen Naschwerk selber zu wickeln und statt der gewöhnlichen trivialen Reimereien gute Sinngedichte , Distichen und Liederstrophen einzulegen , welche sie aus allen möglichen Dichtern und verschiedenen Sprachen zusammensuchte .
Sie ließ ganze Sammlungen solcher Zierlichkeiten auf Bogen drucken , die man nach Bedürfnis zerschneiden konnte , und besaß das Talent , jeweilig eine so artige Auswahl zusammenzubringen , daß die Gesellschaft beim Nachtische durch anmutig heitere oder witzige und spitzige Vorstellungen oder auch beides abwechselnd nicht selten in angeregte Stimmung versetzt wurde .
Auch trieb sie allerhand Schwank , indem sie oft zwei Zeilen aus verschiedenen Dichtern zusammenfügte , und man glaubte , Bekanntes zu lesen , indessen die neue Wendung , der entgegengesetzte Sinn , welchen das Unbekannt-Bekannte ergab , die Leser in die Irre führte .
Einen Vorrat dieses so zubereiteten Naschwerkes , in einem Körbchen von Silberdraht geordnet , das sie beim Gebrauche noch mit Blumen schmückte , hielt sie jederzeit bereit und bot es bei gegebener Veranlassung selbst herum .
Mir sagte die Spielerei eigentlich nicht sehr zu ; doch hielt ich sie aus verliebter Rechtgläubigkeit , wo nicht für großartig , mindestens für verzeihlich und liebenswürdig , wie man ja immer froh ist , kleine Mängel an geliebten Personen zu finden , um sie nur ohne Verzug verzeihen und sogar mitlieben zu können .
Jetzt war Dortchen offenbar beschäftigt , ein solches Körbchen neu zu füllen , und wahrscheinlich von der Arbeit unerwartet abgerufen worden .
Da ich mich durch den Auftritt in der Krypta und den bevorstehenden Abschied freier fühlte als sonst und mir nichts daraus machte , von der Zurückkehrenden betroffen zu werden , setzte ich mich an den Tisch und besah mir , was Dorothea heute betrieb .
Sie hatte in der Tat schon eine gute Zahl süßer viereckiger Täfelchen in glänzendes Papier eingeschlagen und in das Körbchen gelegt ; als ich nachschaute , was für eine Art von Versen und Epigrammen sie bereithielt , fand ich ein Büschel kleiner , auf zartes grünes Papier gedruckter Zettel , auf welchen allen dasselbe und einzige Gedichtlein zu lesen war :
Hoffnung hintergehet zwar , Aber nur , was wankelmütig ; Hoffnung zeigt sich immerdar Treugesinnten Herzen gütig ; Hoffnung senket ihren Grund In das Herz , nicht in den Mund !
Wo ich das kleine Papierbüschel sachte auseinanderschlug ( es war von einem grünseidenen Bändchen zusammengehalten ) , überall blickten mir diese einfachen , treuherzigen und doch so aufregenden Worte entgegen .
Vorsichtig griff ich das eine und andere der bereits fertigen Täfelchen aus dem Körbchen , machte es ein wenig auf und fand in jeder Hülle das gleiche grüne Liedchen .
Es klang mir wie der tröstende Ruf einer Wachtel im einsamen Feld oder der leis an schwellende und traulich abbrechende halbe Gesang einer Drossel in der Tiefe des Waldes .
Da meines Wissens heute keine größere Gesellschaft da war , die einen Nachtisch erheischen konnte , so mußte die Absicht von Dörtchens diesmaligem Einfall einer zukünftigen Gelegenheit vorbehalten sein , die mir ein Geheimnis war .
Plötzlich ließ ich alles liegen und schlüpfte auf die Terrasse hinaus , wo ich mich auf einen Stuhl warf und mit nachdenklichen Seufzern die noch übrige Zeit verbrachte .
Es dauerte nicht lange , so erschien Dortchen mit einigen jungen blaßroten Rosen , die sie ohne Zweifel im Treibhause geholt , und mit einem brennenden Handleuchter , weil die Dämmerung begann , zur Dunkelheit zu werden .
Sie setzte unbesorgt ihre Arbeit fort , packte noch ein halbes Dutzend Zucker- und Vanillestücke und dergleichen mit den Zetteln zusammen und summte dazu mit halber Stimme mehrmals die zwei Zeilen :
Hoffnung hintergehet zwar , Aber nur , was wankelmütig , bis sie mit dem letzten Stücke auf den Schluß übersprang :
Hoffnung senket ihren Grund In das Herz , nicht in den Mund ! und denselben mit weiß Gott welcher Melodie und etwas lauter in den tiefsten Tönen verklingen ließ , deren ihre Stimme fähig war .
Dann barg sie rasch den ungebrauchten Rest der feinen Zettelchen in einer Tasche ihres Kleides , besteckte das Körbchen mit den Rosen und eilte mit der ganzen reizenden Veranstaltung , den Leuchter zur Hand nehmend , aus dem Saale , und ich hatte dem lieblichen Tun durch eines der hohen Fenster zugeschaut , freilich von den Florbehängen desselben halb verhüllt .
Die vergnügliche Stimme des Kaplans ließ sich hören ; ich säumte nicht , über die Terrassenstufen hinunter- und ihm entgegenzugehen , und betrat in seiner Gesellschaft wieder das Haus und die Räume , in welchen die Abende zugebracht wurden .
Mit diesem künstlichen Umwege verhütete ich , daß Dortchen irgendwie ahnen könne , ich wisse das sonderbare Geheimnis ihres Körbchens .
Als wir nun zu viert am Tische saßen , verlief die Zeit mir nur allzu schnell ; denn die Eigenliebe erfreute sich an dem Wohlwollen , welches meine Person zum Gegenstande der letzten Unterhaltung machte , und die Gewißheit , daß ich wirklich zum letzten Male Dörtchens Gegenwart genieße , verkürzte die Stunden um das Doppelte .
Der Graf meinte , er habe sich an meine Gesellschaft gewöhnt , und wenn es sich nur um ihn handelte , so ließe er mich noch lange nicht ziehen ; der Kaplan aber rief nein , ich müsse gehen , damit ich , was er sicher hoffe , durch die Luftveränderung und in meinem schönen Vaterlande die verlorenen Ideale wiederfinde .
Lachend versetzte ich , nach gewissen Weissagungen meiner Träume werde ich jedenfalls zu neuen Ideen kommen , und ich erzählte von der kristallenen Treppe , in deren Stufen die Ideen in Gestalt kleiner Frauensleutchen schliefen .
Der Kaplan wunderte sich hierüber und guckte mich immer verdutzter an , als ich fortfuhr , jene Ausgeburten des Schlafes in unglücklicher Zeit zu schildern ; denn hiermit bewies ich ihm , daß ich im Schlafe noch toller , das heißt idealischer sein könne nach seinen Begriffen als er im Wachen .
Ich erzählte von der Brücke der Identität , von dem Goldregen , den ich auf dem fliegenden Pferde gemacht , und wie ich über das Kirchendach heruntergepurzelt und endlich in Trübseligkeit vor dem mütterlichen Hause gestanden sei , nachdem mir dasselbe erst wunderbar in die Augen geglänzt habe .
Da ich von dem feurigen Extraweine , welchen wir tranken , etwas vorlauter Laune geworden , schmückte ich diese Dinge noch mit manchen Zutaten und Hirngespinsten aus und endigte zuletzt wie ein Märchenerzähler , der dem Volke seinen blauen Dunst vorgemacht .
" Der hat ja ein Maul wie eine laufende Schuld ! " sagte der Kaplan , in seiner Verwirrung über die großartige Flunkerei zu dem gröblichen Volksausdrucke greifend ; denn ich schien ihm arg ins Handwerk gepfuscht zu haben , indem ich ein wirklich Erlebtes schilderte , das doch ein Nichts , ein Traum war ; der Graf sagte : " Diese Beredsamkeit haben wir allerdings bisher an unserem Freunde nicht entdecken können !
Ist es aber nun geschehen , so hindert mich nichts , mir zu denken , daß ich sie eines Tages zu ernsteren Dingen verwendet sehe .
Wir wollen auf unser aller gute Zukunft anstoßen ! "
Er schenkte die Gläser voll , und wir ließen dieselben zusammenklingen , ohne daß ich mich jedoch bemühte , über den Sinn seiner Worte klarzuwerden ; denn ich sah unversehens Dorothea mit dem rosengeschmückten Körbchen herankommen .
" Auch ich will einen Spruch tun " , sagte sie , als sie mir zur Seite stand ; " aber ich überlasse die Abfassung dem Zufall dieses wohlbekannten Orakelkorbes ; nehmen Sie sich ein Bonbon heraus , nur eines , aber vorsichtig und bedächtig ! "
Ich sah erstaunt und fragend zu ihr auf ; denn ich wußte ja , daß in jedem der zierlichen Paketchen der gleiche Spruch lag .
" Welches raten Sie mir denn zu nehmen ? " fragte ich mit innerer Bewegung ; allein gleichmütig erwiderte sie :
" Ich darf mich nicht dareinmischen , wenn das Orakel wirken soll ! "
" Soll ich dieses nehmen ? "
" Ich weiß nicht ! "
" Oder dieses ? "
" Ich sage nichts , weder ja noch nein ! "
" So nehme ich dieses und bedanke mich schönstens ! " rief ich , indem ich das Papierchen öffnete und Dortchen rasch das Körbchen zurückzog .
" Nun , was steht darin ? " rief der Kaplan , über welche Frage ich froh war , da ich die Verse kaum vernehmbar vorzutragen vermochte .
Ich gab ihm den Zettel mit der Bitte , denselben selbst zu lesen .
Das tat er mit gutem Ausdruck .
" Ein ganz schöner Spruch ! " sagte er ; " damit können Sie zufrieden sein ; er beruht auf einer frommen und getreuen Weltanschauung , dergleichen nicht mehr allzu häufig ist !
Aber nun , Gnädigste ! reichen Sie mir das Körbchen auch dar , und lassen Sie mich sehen , was ich als Dableibender erhalten werde ! "
Er griff begierig nach dem Körbchen .
Sie versetzte aber :
" Nächsten Sonntag dürfen Sie etwas zum Dableiben auswählen , Hochwürden !
Heute bekommt nur der , welcher geht ! "
Damit eilte sie weg und verschloß das Körbchen sorgfältig in einem Schranke .
Als am nächsten Vormittag der Graf und ich bereits in dem bequemen Reisewagen saßen , sagte Dorothea , die uns beiden schon die Hand gegeben und jetzt plötzlich nochmals zum Wagen trat : " Nun ist doch etwas vergessen !
Ihr grünes Buch , Herr Heinrich , liegt noch in meiner Verwahrung !
Soll ich es rasch holen ? "
" Laß nur ! " sagte mein Reisegefährte ; " es hält uns zu lange auf ; wenn er uns , wie zu hoffen , bald schreibt , so können wir ihm das Buch wohlbehalten nachsenden , nicht so ? "
Ich nickte nur froh aufatmend meine Zustimmung , da mit dem Buche ein Teil meiner selbst in der unmittelbaren Nähe Dörtchens zu bleiben schien .
" Ich will es in sicherem Verschluß halten , und es soll ihm nichts geschehen ! " , sagte sie und winkte mir , während wir wegfuhren , mit vollem freundlichem Blicke zu .
Damals habe ich das schöne Wesen dennoch zum letzen Mal in meinem Leben gesehen .
Vierzehntes Kapitel Die Rückkehr und ein Ave Cäsar Zwei breite Goldrahmen , im voraus bestellt , waren fertig , als wir in der Stadt ankamen , die wir nun zum zweiten Male gemeinschaftlich besuchten .
Mein Beschützer machte sich sofort daran , den Einfluß zu benutzen , der ihm der Titel und auch seiner Person wegen in unverfänglichen Dingen nicht verkümmert war ; die Bilder hingen deshalb nach wenigen Tagen im besten Lichte der Ausstellungsräume , in welchen ich einst so ungeschickt und dunkel aufgetreten .
Sie waren freilich keine Meisterwerke , aber auch nicht gehaltlos und konnten ebensowohl einen Fortschritt als den Stillstand begrenzter Fähigkeit in sich bergen , das ewige Ausruhen von einem einmaligen Anlaufe , wo der Anläufe in sich gegangen ist und am Wegbord der goldenen Mittelstraße , der vielbegangenen , sitzen bleibt .
Zu meiner Verwunderung hingen auch jene zwei kleinen Bilder daneben , die von mir dem israelitischen Schneider und Gemäldehändler um ein Kleid überlassen worden .
Der Graf hatte sie , da er von der Sache wußte , aufgestöbert und aus dritter Hand an sich gebracht .
Jetzt waren sie mit Zetteln verziert , worauf das stattliche Wort " Verkauft " geschrieben stand .
Diese List des Grafen erweckte ein günstiges Vorurteil für die ganze kleine Sammlung der vier Stücke , und in dem nächsten Kunstbericht einer verbreiteten großen Zeitung war ihrer schon in einigen aufmunternden Zeilen gedacht , wenn auch nicht mit sehr zutreffenden Worten .
Kurz , nach wenigen Tagen meldete sich ein bedeutender Kunsthändler , welcher die deutschen Malerschulen bereiste , um ganze Bildersammlungen für entlegene Hintereländer zu erwerben .
Durch diesen Käufer , der meine Bilder zu bescheidenem Preise anzukaufen hoffte , würde mein Name den Zusatz " Mitglied der X'er Schule " erhalten haben , eine Ehre , die ich mir nicht hätte träumen lassen .
Der Graf jedoch meinte , die Bilder müßten an einen Liebhaber und nicht an einen Handelsmann verkauft werden und er sei einem solchen bereits auf der Spur .
Nach abermals einigen Tagen aber übergab mir der Kustos der Ausstellung einen für mich aus dem Norden angekommenen Brief .
Er war von Erikson , welcher schrieb :
" Lieber Heinrich , ich lese eben in der dortigen Zeitung , die ich meiner Frau wegen halte , daß Du noch dort bist und vier Arbeiten ausgestellt hast , zwei kleine und zwei größere .
Wenn Du für die einen oder anderen noch keine Bestimmung weißt , so überlasse mir eines der beiden Paare und schick es mir ; ich zähle darauf !
Den Preis setze auf anständigem Fuße und nicht zu schüchtern an ; denn Du mußt wissen , daß es mir gut geht .
Ich habe den Stand unseres Hauses wiederherstellen können , ohne das Geld meiner Frau zu brauchen , und überdies Ersparnisse gemacht , nämlich zwei Bübchen , von denen der ältere neulich schon den Teufel an die Wand gemalt hat , und zwar mit Kirschmus , als er die Mama sagen hörte , man solle das gerade nicht tun .
Ein nettes Kräutchen , und ist noch nicht drei Jahr alt !
Kann ich die Bilder bekommen , so schreibe recht viel dazu ! "
Ich entschied mich ohne Zaudern für dies Freundesangebot , das meinen Entschluß , der Kunst zu entsagen , am leichtesten bestehen ließ ; denn ein solcher Ankauf aus freundschaftlichem Wohlwollen war ja noch kein Beweis für den wahren Künstlerberuf .
Der Graf mußte mir beistimmen , obgleich ich den Verdacht hegte , daß es mit seinem Verkaufsprojekte nicht viel anders beschaffen sein mochte .
Die Bilder wurden an Erikson abgesandt .
In meinem Briefe , den ich wegen zu vollen Herzens nicht so ausführlich schrieb , wie er wünschte , bat ich ihn , er möge die Kaufsumme mir in die Heimat schicken , wohin ich abzugehen im Begriffe sei ; so brachte ich also nicht nur eine für meine bisherigen Verhältnisse ansehnliche Barschaft mit nach Hause , sondern auch ausstehendes Guthaben , dessen Eingang aus weiter Ferne , nachdem ich selbst so wohlbehalten angekommen und das erste Aufsehen vorüber war , von erfreulichster Wirkung sein mußte .
Allein als ob das unglückliche Träumen von Gold und Gut im kleinen zur Wahrheit werden wollte , war es hiermit noch nicht genug .
Nachdem mein neuer Aufenthalt den Behörden bekannt geworden und eben wieder zu Ende gehen sollte , erhielt ich eine gerichtliche Vorladung , um gewisse Eröffnungen entgegenzunehmen .
Schon früher hatte ich meinem alten freundlichen Trödelmännchen Joseph Schmalhöfe einen Besuch abstatten wollen , seine dunkle Behausung jedoch verschlossen gefunden und erfahren , daß der einsame Mensch seit vielen Wochen tot sei .
Zu meinem großen Erstaunen wurde mir jetzt auf der Gerichtskanzlei mitgeteilt , daß der Alte , der keine Erben hinterließ , sein nicht ganz unbeträchtliches Vermögen einer wohltätigen Stiftung vergabt und meine Person in seinem letzten Willen mit einem Legate von viertausend Gulden bedacht habe .
Sofern ich mich nun darüber ausweisen könne , daß ich wirklich die von dem Legator gemeinte Person sei , so liege die genannte Summe zur Auszahlung bereit , nachdem alle bisherigen Erkundigungen nutzlos geblieben seien .
Es handle sich namentlich um die Frage , ob ich derjenige wäre , der dem Verstorbenen eine größere Zahl gewisser Handzeichnungen usw. verkauft und bei Gelegenheit einer fürstlichen Vermählungsfeier Fahnenstangen angestrichen habe .
Den durchschlagendsten Nachweis konnte der Graf mit zwei Worten leisten , soweit es die Zeichnungen betraf , und für das übrige genügte seine Glaubwürdigkeit dem Gerichtsbeamten vollkommen , als er erklärte , der , welcher die Stecken bemalt , könne kein anderer sein als ich .
Also wurden mir vier öffentliche Schuldtitel von je tausend Gulden aushingegeben ; der Graf verkaufte dieselben und besorgte mir gute Wechsel für den Betrag , so daß ich nun mit Vermögensteilen in dreifacher Form ausgestattet war mit barem Gelde , mit Forderungen und mit Wechseln .
" Wenn jetzt nur nicht der dicke Tell mit seinem Pfeil und das Kirchendach kommt ! " sagte ich , als wir an der Mittagstafel unseres Gasthofes saßen , wo ich zum Überflusse auch noch der Gast des Grafen war ; " ich muß trachten , daß ich fortkomme , sonst zerfließt mir das viele unnatürliche Glück zuletzt doch noch zu einem Traum ! "
Ich fühlte mich in der Tat ordentlich beklemmt und fing an , dem Glückswandel nicht mehr recht zu trauen .
" Was spintisieren Sie mir wieder über der Kümmerlichkeit ! " sagte der Graf ; " bei allem , was Sie nun besitzen und was Ihnen so ungeheuer erscheint , ist nicht ein Pfennig , dessen rechtmäßige Quelle Sie nicht in sich selbst zu suchen haben !
Und wie können Sie von Traum und Glücksfall reden , wo Sie gegenüber den paar Gulden mit Ihren schönen Jahren so im Verluste sind ? "
" Aber die Geschichte mit dem Legat ist doch gewiß das reine Glücksabenteuer ! "
" Auch dies nicht !
Auch sie hat ihre Wurzel nur in Ihnen selbst !
Ich habe vergessen , Ihnen ein beschriebenes Papier zu geben , das sich in den Falten eines der Schuldbriefe gefunden hat , als ich die Werttitel meinem Bankier brachte .
Hier ist der Zettel , den der Alte Ihnen hinterließ ! "
Der Graf gab mir ein Fetzchen Papier , auf welchem mit der mir bekannten unbehilflichen Handschrift des Trödlers , die zudem von eingetretener Körperschwäche noch verschlimmert sein mochte , zu lesen : " Du bist nicht wieder zu mir gekommen , mein Söhnchen , und ich weiß nicht , wo Du zu finden bist .
Ich möchte aber , weil ich fürchte , daß der Tod mich bei kurzen Tagen in meinem Kram heimsucht , Dir etwas erweisen und zuwenden , was ich nachher doch nicht mehr brauchen kann , leider !
Ich tu es aber , weil Du alleweil mit dem zufrieden gewesen bist , was ich Dir für Deine Malerei gegeben habe , und vornehmlich , weil Du so still und fleißig bei mir gearbeitet hast .
Wenn es in Deine Hände kommt , was ich in langen Jahren erspart habe mit Geduld und Vorsicht und Dir jetzt verehren tue , so genieße es mit Gesundheit und Verstand , weil ich leider davon abscheiden muß , und hiermit behüte Dich Gott , mein Männchen ! "
" Es ist doch gut " , sagte ich mit neuer Verwunderung , " daß es für alle Gebarungen zweierlei Richter gibt !
Was andere mir als Leichtsinn , wo nicht Verkommenheit auslegen würden , erhält von dem braven Alten einen Tugendpreis ! "
" Darum wollen wir auf seine Seligkeit anstoßen , weil er so gerecht gerichtet hat ! " erwiderte der Graf wohlgemut ; " und jetzt wollen wir unsere Freundschaft leben lassen und Brüderschaft trinken , wenn es Ihnen recht ist ! " fuhr er fort , indem er die Gläser von neuem füllte .
Ich stieß an und trank aus , sah dabei aber so überrascht und verschüchtert drein , daß er es wohl bemerkte , als er mir die Hand schüttelte ; denn der Unterschied des Alters und der Lebensverhältnisse hatten mich dergleichen doch nicht erwarten lassen .
" Sei nur nicht verdutzt , wenn es gilt , sich zu duzen ! " sagte er fröhlich ; " ich betrachte es als Gewinn , mit einem Stammesbruder aus anderer Staatsform und von jüngerem Lebensalter auf du und du zu sein .
Und auch du darfst dich der guten deutschen Sitte füglich unterwerfen , nach welcher zuzeiten Jünglinge , Männer und Greise , welche auf dasselbe Ziel losgehen , Brüderschaft schließen .
Nun aber wollen wir von dir allein reden !
Was gedenkst du zu beginnen in deinem Lande ? "
" Ich denke meine unterbrochenen Studien am borghesischen Fechter wieder aufzunehmen ! " antwortete ich .
Auf seine Frage , was das heiße , erzählte ich kurz , wie ich durch die so genannte Figur auf das Studium des Menschen hinübergeleitet worden sei und nun zwar nicht mehr dessen Gestalt , sondern dessen lebendiges Wesen und Zusammensein zum Berufe wählen möchte .
Da mir jetzt Zeit und Mittel durch das Glück gegeben seien , so hoffe ich auf rasche und zweckmäßige Weise noch die nötigen Kenntnisse nachzuholen , um mich dem öffentlichen Dienste widmen zu können .
" So was habe ich mir auch gedacht " , sagte der gräfliche Duzbruder ; " allein wie die Dinge einmal stehen , würde ich mit besonderen Studien keine Zeit mehr verlieren , zumal ihr ja keine Hierarchie mit Zwangsfolge habt .
An deiner Stelle würde ich mich ruhig erst ein wenig umsehen und dann , nötigenfalls als Freiwilliger , ein unteres Amt übernehmen und schwimmen lernen , indem du sofort ins Wasser springst .
Machst du es zur Regel , jeden Tag daneben einige Stunden staatswissenschaftliche Sachen zu lesen und zu überdenken , so bist du in wenig Zeit ein praktischer und hinlänglich gebildeter Amtsmann zugleich , und die Unterschiede der Schulweisheit gleichen sich mit den wachsenden Jahren vollständig aus , während das hervorzutreten beginnt , was den eigentlichen Mann ausmacht .
Das Gerichtswesen , und was daran hängt , würde ich freilich den gründlich geschulten Juristen überlassen und dahin wirken , daß auch die anderen es tun .
Die Hauptsache ist , daß du später in der Gesetzgebung weißt , wo sie hingehören und wo ihnen das Wort zu geben ist , und daß du sie in Ehren hältst , solange sie das Recht lebendig machen und nicht es töten und das Volk verderben .
Am wenigsten dulde feige Richter im Land , sondern stürze sie und gib sie der Verachtung preis - "
" Halt , Grave ! " rief ich , da er sich in lauten Eifer hineinzureden begann und meine gegenwärtige Sache vergaß ; " noch bin ich weder Konsul noch Tribun ! "
" Gleichviel ! " rief er jetzt noch viel lauter ; " hast du aber gleichzeitig einen feigen und einen ungerechten Richter nebeneinander , so laß beiden die Köpfe abschlagen , und dann setze dem ungerechten den Kopf des feigen und dem feigen den Kopf des ungerechten auf !
So sollen sie weiter richten , so gut sie können ! "
Erst jetzt schwieg er , trank und sagte wieder : " Ungefähr so mein ich_es , du wirst mich wohl verstehen ! "
Ich hatte den sonst so ruhigen Mann nie so aufgeregt gesehen ; die bloße Vorstellung , daß ich unmittelbar in eine Republik gehe und mich an deren öffentlichem Leben beteiligen werde , schien ihm andere verwandte Vorstellungen und alte Leiden der Unzufriedenheit zu erwecken .
Indessen war die Stunde des Abschiedes endlich da und kein Grund des Aufschubes mehr vorhanden .
Da er meine Angelegenheit geordnet und mich reisefertig sah , fuhr der Graf gleich nach Tisch weg , um sein Gut am gleichen Tage noch zu erreichen , während ich den Bahnhof suchte , der um diese Zeit zum ersten Mal eröffnet worden .
Denn einige Bruchstücke von Eisenstraßen des oberen Deutschlands hatten ihren ersten Zusammenhäng erhalten , und ich konnte auf dem neuen Wege rascher die Schweizergrenze erreichen , wenn auch nicht in gerader Richtung .
An dieser Veränderung mochte ich die Länge meiner Abwesenheit bemessen .
Als ich den Rhein überschritt und das Land betrat , war dieses gerade mit dem Getöse jener politischen Aktionen erfüllt , welche mit dem Umwandlungsprozesse eines fünfhundertjährigen Staatenbundes in einen Bundesstaat abschlossen , ein organischer Prozeß , der über seiner Energie und Mannigfaltigkeit die äußere Kleinheit des Landes vergessen ließ , da an sich nichts klein und nichts groß ist und ein zellenreicher , summender und wohlbewaffneter Bienenkorb bedeutsamer ist als ein mächtiger Sandhaufen .
Beim schönsten Frühlingswetter sah ich Straßen und Wirtshäuser angefüllt und hörte das zornige Geschrei über gelungene oder mißlungene Gewalttat .
Man lebte mitten in der Reihe von blutigen oder trockenen Umwälzungen , Wahlbewegungen und Verfassungsänderungen , die man Putsche nannte , und Schachzüge waren auf dem wunderlichen Schachbrette der Schweiz , wo jedes Feld eine kleinere oder größere Volkssouveränität war , die eine mit Vertretung , die andere demokratisch , diese mit , jene ohne Veto , diese von städtischem Wesen , jene von ländlichem , und wieder eine andere mit theokratischem Öle salbt , daß sie nicht aus den Augen sehen konnte .
Sogleich übergab ich mein Gepäck der Postanstalt und beschloß , den Rest der Reise zu Fuß zurückzulegen , um unverweilt eine vorläufige Kenntnis der Zustände aus eigener Anschauung zu erwerben ; denn gerade auf meinem Wege rauchte und schwelte es an mehreren Orten .
Und doch lag überall das Land im himmelblauen Duft , aus welchem der Silberschein der Gebirgszüge und der Seen und Ströme funkelte , und die Sonne spielte auf dem jungen betauten Grün .
Ich sah die reichen Formen der Heimat , in Ebenen und Gewässern ruhig und waagrecht , im Gebirge steil und kühn gezackt , zu Füßen blühende Erde und in der Nähe des Himmels eine fabelhafte Wüste , alles unaufhörlich wechselnd und überall die zahlreich bewohnten Tal- und Wahlschaften bergend .
Mit der Gedankenlosigkeit der Jugend und des kindischen Alters hielt ich die Schönheit des Landes für ein historisch politisches Verdienst , gewissermaßen für eine patriotische Tat des Volkes und gleichbedeutend mit der Freiheit selbst , und rüstig schritt ich durch katholische und reformierte Gebietsteile , durch aufgeweckte und eigensinnig verdunkelte , und wie ich mir so das ganze große Sieb voll Verfassungen , Konfessionen , Parteien , Souveränitäten und Bürgerschaften dachte , durch welches die endlich sichere und klare Rechtsmehrheit gesiebt werden mußte , die zugleich die Mehrheit der Kraft , des Gemütes und des Geistes war , der fortzuleben fähig ist , da wandelte mich die begeisterte Lust an , mich als einzelner Mann und widerspiegelnder Teil des Ganzen zum Kampfe zu gesellen und mitten in demselben mich mit regen Kräften fertigzuschmieden zum tüchtigen und lebendigen Einzelmann , der mit ratet und tatet und rüstig drauf aus ist , das edle Wild der Mehrheit erjagen zu helfen , von der er selbst ein Teil , die ihm aber deswegen nicht teurer ist als die Minderheit , die er besiegt , weil diese hinwieder mit der Mehrheit vom gleichen Fleisch und Blut ist .
" Aber die Mehrheit " , rief ich vor mir her , " ist die einzige wirkliche und notwendige Macht im Lande , so greifbar und fühlbar wie die körperliche Natur , an die wir gefesselt sind .
Sie ist der einzig untrügliche Halt , immer jung und immer gleich mächtig ; daher gilt es , sie unvermerkt vernünftig und klar zu machen , wo sie es nicht ist .
Dies ist das höchste und schönste Ziel .
Weil sie notwendig und unausweichlich ist , so kehren sich die verkehrten Köpfe aller Extreme gegen sie , indessen sie stets abschließt und selbst den Unterliegenden beruhigt , während ihr ewig jugendlicher Reiz ihn zu neuem Ringen mit ihr lockt und so sein eigenes geistiges Leben erhält und nährt .
Sie ist immer liebenswürdig und wünschbar , und selbst wenn sie irrt , hilft die gemeine Verantwortlichkeit den Schaden ertragen .
Wenn sie den Irrtum erkennt , so ist das Erwachen aus demselben ein frischer Maimorgen und gleicht dem Anmutigsten , was es gibt .
Sie läßt es sich nicht einfallen , sich stark zu schämen , ja die allgemein verbreitete Heiterkeit läßt den begangenen Fehltritt kaum ungeschehen wünschen , da er ihre Erfahrung bereichert , die Lust der Besserung hervorgerufen hat und auf das schwindende Dunkel das Licht erst recht hell erscheinen läßt .
Sie ist die reizende Aufgabe , an welcher sich ihr einzelner messen kann , und indem er dies tut , wird er erst zum ganzen Mann , und es tritt eine wundersame Wechselwirkung ein zwischen dem Ganzen und seinem lebendigen Teile .
Mit großen Augen beschaut sich erst die Menge den einzelnen , der ihr etwas vorsagen will , und dieser , mutig ausharrend , kehrt sein bestes Wesen heraus , um zu siegen .
Er denke aber nicht , ihr Meister zu sein ; denn vor ihm sind andere dagewesen , nach ihm werden andere kommen , und jeder wurde von der Menge geboren ; er ist ein Teil von ihr , welchen sie sich gegenüberstellt , um mit ihm , ihrem Kind und Eigentum , ein Selbstgespräch zu führen .
Jede wahre Volksrede ist nur ein Monolog , den das Volk selber hält .
Glücklich aber , wer in seinem Lande ein Spiegel seines Volkes sein kann , der nichts widerspiegelt als das Volk , während dieses selbst nur ein kleiner Spiegel der weiten lebendigen Welt ist und sein soll . "
Dergestalt redete ich mich in eine hohe Begeisterung hinein , je blauer der Himmel glänzte und je näher ich der Vaterstadt kam .
Freilich ahnte ich nicht , daß Zeit und Erfahrung die idyllische Schilderung der politischen Mehrheiten nicht ungetrübt lassen würden ; noch weniger merkte ich , daß ich im gleichen Augenblicke , wo ich mich selbsttätig zu verhalten gedachte , auch schon die Lehren der Geschichte vergaß , noch bevor ich nur den ersten Schritt getan .
Daß große Mehrheiten von einem einzigen Menschen vergiftet und verdorben werden können und zum Danke dafür wieder ehrliche Einzelleute vergiften und verderben - daß eine Mehrheit , die einmal angelogen , fortfahren kann , angelogen werden zu wollen , und immer neue Lügner auf den Schild hebt , als wäre sie nur ein einziger bewußter und entschlossener Bösewicht - daß endlich auch das Erwachen des Bürgers und Bauersmannes aus einem Mehrheitsirrtum , durch den er sich selbst beraubt hat , nicht so rosig ist , wenn er in seinem Schaden dasteht - das alles bedachte und kannte ich nicht .
Aber auch mit diesen Schatten wäre ja das Unausweichliche und Notwendige der Mehrheit , ohne deren Zustimmung der mächtigste Selbstherrscher in Rauch aufgeht , und ihre reine Größe , wenn sie unverderbt ist , stark genug gewesen , meine Vorsätze zu tragen und den Durst nach der neuen Lebensluft nicht erlöschen zu lassen .
So griffen denn meine Schritte immer kecker und Unternehmungslustiger aus , bis ich plötzlich das Pflaster der Stadt unter den Füßen fühlte und ich doch mit klopfendem Herzen ausschließlicher der Mutter gedachte , die darin lebte .
Meine Sachen mußten inzwischen auf der Post angekommen sein .
Ich lenkte die Schritte zuerst dahin , um sogleich eine Schachtel an Hand zu nehmen , die meine bescheidenen Reisegrüße für sie enthielt , nämlich den Stoff für ein feineres Kleid , welches zu tragen ich sie zu überreden hoffte , und einen Vorrat aus ländischen Gebäckes , das , würzig und haltbar , ihr einen guten Mund machen sollte .
Diese Schachtel an der Hand , ging ich am noch lichten Nachmittage durch unsere alte Straße ; sie erschien mir belebter als vor Jahren ; auch sah ich , daß manche neue Verkaufsmagazine errichtet und alte ruhige Werkstätten verschwunden , mehrere Häuser umgebaut und andere wenigstens frisch verputzt waren .
Nur das unsrige , ehemals eines der saubersten , sah schwarz und räucherig aus , als ich mich näherte und an die Fenster unserer Stube hinaufblickte .
Sie standen offen und waren mit Blumentöpfen besetzt ; aber fremde Kindergesichter schauten heraus und verschwanden wieder .
Niemand bemerkte oder kannte mich , als ich eben in die bekannte Türe treten wollte , ein Mann ausgenommen , der mit einem Zollstab und Bleistift in der Hand über die Gasse geeilt kam .
Es war der Handwerksmeister , der mich einst auf seiner Hochzeitsreise besucht hatte .
" Seit wann sind Sie da , oder kommen Sie eben ? " rief er , eilig mir die Hand reichend .
" Diesen Augenblick komme ich " , sagte ich , und er antwortete und bat mich , schnell eine Minute bei ihm drüben einzutreten , ehe ich hinaufginge .
Ich tat es mit ängstlicher Spannung und fand mich in einem schönen Verkaufsladen , in dessen Hintergrund die junge Frau am Schreibpulte saß .
Sofort kam auch sie mir entgegen und sagte : " Um Gottes Willen , warum kommen Sie so spät ? "
Erschreckt stand ich da , ohne noch erraten zu können , was es sein möchte , das die Leute so erregte .
Der Nachbar aber säumte nicht , mich aufzuklären .
" Ihre gute Mutter ist erkrankt , so schwer , daß es vielleicht nicht ratsam ist , wenn Sie unangekündigt und plötzlich bei ihr erscheinen .
Seit heute früh haben wir nichts gehört ; nun aber ist es am besten , meine Frau geht schnell hinüber und sieht nach , wie es steht .
Sie warten indessen hier ! "
Ohne an eine so traurige Wendung glauben zu wollen , und doch bekümmert , ließ ich mich wortlos auf einen Stuhl sinken , die Schachtel auf den Knien .
Die Frau lief über die Gasse und verschwand in der Türe , die mir wie einem Fremden noch verschlossen sein sollte .
Die Augen voll Tränen , kehrte die Nachbarin zurück und sagte mit verschleierter Stimme :
" Kommen Sie schnell , ich fürchte , sie macht es nicht mehr lang , ein Geistlicher ist dort !
Die arme Frau scheint nicht mehr bei Bewußtsein ! "
Sie eilte wieder vor mir her , um hilfreich bei der Hand zu sein , wenn es Not tat , und ich folgte mit zitternden Knien .
Die Nachbarin erklomm rasch und leicht die Treppen ; auf den verschiedenen Stockwerken standen feierlich Leute unter ihren Türen , leise sprechend , wie in einem Sterbehause .
Auch vor unserer Wohnung standen solche , die ich nicht kannte ; meine Führerin im alten Vaterhause eilte auch an diesen vorüber , und ich folgte ihr bis auf den Dachboden , wo ich unseren Hausrat dicht aufeinanderstehen sah und die Mutter in einem Kämmerchen wohnte .
Leise öffnete die Nachbarin dessen Türe ; da lag die Arme auf dem Sterbebett , die Arme über die Decke hingestreckt , das todesbleiche Gesicht weder rechts noch links wendend und langsam atmend .
In den ausgeprägten Zügen schien ein tiefer Kummer auszuleben und der Ruhe der Ergebung oder der Ohnmacht Platz zu machen .
Vor dem Bette saß der Diakon der Kirchgemeinde und las ein Sterbegebet .
Ich war geräuschlos eingetreten und hielt mich still , bis er geendet .
Die Nachbarin trat , als er das Buch sachte zuschlug , zu ihm und flüsterte ihm zu , der Sohn sei angekommen .
" In diesem Fall kann ich mich zurückziehen " , sagte er , sah mich einen Augenblick aufmerksam an , grüßte und begab sich hinweg .
Die Nachbarin trat jetzt an das Bett , nahm ein Tüchlein und trocknete sanft die feuchte Stirn und die Lippen der Kranken ; dann , während ich immer noch wie ein vor ein Gericht Gerufener dastand , den Hut in der Hand , die Schachtel zu Füßen , neigte sie sich nieder und sagte ihr mit zarter Stimme , welche die Leidende unmöglich erschrecken konnte :
" Frau Lee ! der Heinrich ist da ! "
Obgleich diese Worte bei aller Weichheit so vernehmlich gesprochen waren , daß auch die vor der offenen Türe versammelten Weiber sie hörten , gab sie doch kein anderes Zeichen , als daß sie die Augen leise nach der Sprechenden hinwendete .
Indessen benahm mir außer der Trauer auch die dumpfe dämmerige Luft des Kämmerchens den Atem ; denn der Unverstand der Wärterin , die in einem Winkel hockte , hielt nicht nur das kleine Fenster verschlossen , sondern auch die grüne Gardine davor , und ich mußte daran erkennen , daß heute noch kein Arzt dagewesen sei .
Unwillkürlich schlug ich die Gardine zurück und öffnete das Fenster .
Die reine Frühlingsluft und das mit ihr einströmende Licht bewegten das erstarrende ernste Gesicht mit einem Schimmer von Leben ; auf der Höhe der hageren Wangen zitterte leicht die Haut ; sie regte energisch die Augen und richtete einen langen fragenden Blick auf mich , als ich mich , ihre Hände ergreifend , zu ihr niederbeugte ; das Wort aber , das ihre ebenfalls zitternden Lippen bewegte , brachte sie nicht mehr hervor .
Die Nachbarin nahm die Wärterin mit sich hinaus , drückte leise die Türe zu !
und ich fiel an dem Bett nieder mit dem Rufe " Mutter ! Mutter ! " und legte den Kopf weinend auf die Decke .
Ein röchelndes stärkeres Atmen hieß mich wieder emporschnellen , und ich sah die treuen Augen gebrochen .
Ich nahm den leblosen Kopf in die Hände und hielt dies Haupt vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben so in der Hand , wenigstens so weit ich mich entsinnen konnte .
Allein es war für immer vorbei .
Es fiel mir ein , daß ich ihr wohl die Augen zudrücken sollte , daß ich ja dafür da sei und sie es vielleicht noch fahlen würde , wenn ich es unterließe ; und da ich neu und ungeübt in diesem bitteren Geschäfte war , tat ich es mit zager , scheuer Hand .
Die Frauen traten nach einer Weile herein , und als sie sahen , daß die Mutter verschieden war , erboten sie sich , das Nötige zu tun und die Leiche für den Sarg einzukleiden .
Da ich einmal da war , verlangten sie von mir die Anweisung eines Totengewandes .
Ich öffnete einen der auf dem Dachboden stehenden Schränke , der voll guter Kleider hing , die seit Jahren geschont und gespart und nicht nach der Mode geschnitten waren .
Die Wärterin aber sagte , es müsse ein Totenkleid vorhanden sein , von welchem die Selige gesprochen , und wirklich fand man dasselbe , in ein weißes Tuch eingeschlagen , im Fuße des Schrankes liegen .
Zu welcher Zeit sie es anfertigen ließ , war mir unbekannt .
Die Frauen sprachen auch davon , wie wenig Mühe die Tote während ihrer Krankheit verursacht , wie still und geduldig sie gelegen und fast nie etwas verlangt habe .
Fünfzehntes Kapitel Der Lauf der Welt Während die Frauen nun Bett und Leiche in den erforderlichen Stand brachten , folgte ich der Einladung der Nachbarin , in ihr Haus hinüberzugehen und dort auszuruhen .
Der Nachbar suchte vorsichtig , ehe er im Gespräche weiterging , meine Glücksumstände und Erlebnisse zu erfahren .
Ich verhehlte ihm nicht , daß ich zur Zeit seiner Anwesenheit in jener Stadt übel daran gewesen , ließ ihn dann aber die bessere Wendung der Dinge wissen , erzählte ihm alles , den Liebeshandel ausgenommen , und gleichsam als eine Art Rechtfertigung zeigte ich ihm unter Tränen die Geldwerte , die ich bei mir führte .
Ich schob Geld und Papiere weg und stützte den Kopf wieder weinend auf den Tisch des fremden Mannes .
Betroffen und schweigend saß er da , und erst als ich mich etwas beruhigt , zeigte er eine gewisse Entrüstung über den unglücklichen Verlauf der Dinge und konnte sich nicht enthalten , mich damit bekannt zu machen .
Nachdem die Mutter schon längere Zeit auf meine Heimkehr oder wenigstens auf Nachrichten geharrt und schon etwas gekränkelt hatte , erhielt sie eines Tages die Aufforderung , vor der Polizeibehörde zu erscheinen .
Es war , wie wir jetzt annehmen mußten , die Nachforschung des deutschen Gerichtes nach meiner Person wegen des Legates des Joseph Schmalhöfe .
Sei nun die plumpe Versäumnis , die Ursache dieser Nachforschung anzuzeigen , schon von jener Gerichtsstelle aus begangen worden oder nicht , genug , als meine Mutter , nach meinem Aufenthalte befragt , denselben nicht nennen konnte , erschrocken dastand und zitternd fragte , um was es sich handle , wurde ihr geantwortet , man wisse es nicht , es sei einfach eine Vorladung für mich , vor dem Gerichte zu erscheinen ; ich werde wahrscheinlich vor Schulden oder etwas Ähnlichem geflohen sein .
Diese Auslegung sprach sich auch weiter herum , und die arme Frau wurde durch allerlei Anspielungen in der Meinung bestärkt , daß ich verschuldet und im Mangel in der Welt herumirre .
Nicht lange darauf , als sie die Zinsen für das auf das Haus entlehnte Kapital , die sie kümmerlich zusammengehalten , abtrug , wurde ihr das letztere gekündigt , und nun mußte sie mitten in ihren kummervollen Sorgen um ein neues Anleihen ausgehen .
Es gelang ihr aber nicht , das Geld zu finden , denn es bestand eben die Absicht , sie vom Hause zu bringen , und es steckten Gewinnlustige hinter der Sache , unter denen der inzwischen etwas emporgekommene , immer noch im Hause wohnende Spenglermeister mitwirkte , in der Hoffnung , selber den Sitz zu erwerben .
Auch hier war endlich der Bau einer Schienenstraße in Aussicht getreten , der Bahnhof mußte unfern unserer Gasse zu liegen kommen , und es begann der Wert der Grundstücke beinahe täglich zu steigen , ohne daß die Mutter in ihrer Abgeschiedenheit von diesen Dingen wußte .
Die doppelte und dreifache Sorge hat unzweifelhaft ihr Leben verkürzt ; denn der Zahlungstermin rückte mit jeder Woche näher .
" Hätte ich eine Ahnung von der Sachlage gehabt " , sagte nun der Nachbar , " so hätte ich leicht raten können ; allein die Verschwiegenheit Ihrer Mutter erleichterte das Bestreben der Spekulanten , den Handel geheimzuhalten , und erst seit ein paar Tagen hörte ich zufällig davon , seit die Herren der Beute sicher zu sein glauben .
Jetzt , wo Sie da sind , genügt weniger als der zehnte Teil dessen , was da vor Ihnen liegt , die Schuld abzutragen und das Haus wieder frei zu machen , das ja sonst unbedeutend belastet ist , soviel ich weiß , und Ihnen jetzt schon einen schönen Gewinn abwerfen würde , wenn Sie es verkaufen wollten .
Denn obgleich das Haus alt und unansehnlich aussieht , so ist es dennoch fest gebaut und enthält viel unbenützten Raum , der mit Leichtigkeit wohnbar zu machen ist .
Und nun hat es so kommen müssen ! "
Der Gedanke , daß unglücklicher Zufall und die Arglist Gewinnsüchtiger die Hand im Spiele gehabt , erleichterte keineswegs die Last , welche jählings auf mein Gewissen fiel mit einem Gewichte , gegen welches der Druck von Dorotheas eisernem Bilde leicht wie eine Flaumfeder schien ; oder auch umgekehrt ich möchte sagen , daß die Schwere in ein Gefühl der Leerheit überging , wie der höchste Kältegrad einem Brennen gleicht .
Es war fast , wie wenn meine eigene Person aus mir wegzöge .
Die Aufforderung der freundlichen Nachbarsleute , das Nachtlager bei ihnen zu nehmen , lehnte ich ab , weil es mir unmöglich schien , die Mutter allein zu lassen .
Ich ging mit der anbrechenden Abenddämmerung in unser Haus zurück .
Jetzt stand auch der schwärzliche Spenglermeister unter seiner Stubentüre ; ich grüßte ihn , und er und mich mit forschendem Blick ein , bei ihm anzuckern , was ich ausschlug , indem ich nur um ein Licht bat .
Mit einem solchen versehen , stieg ich wieder unter das Dach hinauf , trat in das Kämmerchen und zündete das alte Messinglämpchen an , bei dessen Schein ich sie die Jahrzehnte hindurch in den langen Winterabenden hatte sitzen sehen .
Das Lämpchen war vernachlässigt und nicht mehr blank , jedoch mit Öl gefüllt .
Da lag sie nun in ihrem Frieden , und ich , der ich so gedankenlos gezögert , zu ihr zu kommen , fand jetzt nur noch einigen Trost an ihrer stillen Gegenwart , an deren Aufhören ich nicht denken durfte .
Ich machte mir mit meiner unglücklichen Schachtel zu schaffen , öffnete dieselbe und zog den feinen Wollenstoff hervor , den ich zu einem Kleide bestimmt hatte .
Im Begriff , das Stück auseinanderzufalten und es als leichte schützende Decke über das Bett und die Leiche zu legen , um es ihr nur irgendwie noch nahe zu bringen , fiel mir doch die Nutzlosigkeit einer so gezierten Handlung in so ernster Stunde auf die Seele ; ich wickelte das Zeug zusammen und verbarg es wieder in der Schachtel .
Obschon ich von der mehrtägigen Fußreise ermüdet war , brachte ich nun die Nacht aufrecht auf dem Strohsesselchen am Fenster zu und schlief dennoch zeitweise , wobei allerdings das Erwachen jedesmal zwiefach schmerzlich war , wenn ich mich aufs neue der Gegenwart der stillen Mutter versicherte .
Am anderen Tag kam der Bote eines Begräbnisvereines , den der Vater noch hatte gründen helfen , und traf alle Anordnungen ; ich brauchte keinen Schritt zu tun .
Auch die Kosten waren schon lange gedeckt durch die pünktlichen Beiträge der Mutter ; es wurde nachträglich sogar noch eine kleine Rückzahlung angeboten .
So war sie auch in dieser Hinsicht ohne jegliche Beschwernis für andere aus der Welt gegangen .
Als ich die betreffenden Papiere in ihrem Nachlasse suchte , mußte ich überhaupt Schrank und Schreibtisch öffnen und fand manche Heimlichkeiten , die ich noch nie gesehen .
In einem mit Zinn verzierten hölzernen Kästchen lagen vergilbte Putzsachen ihrer Jugendzeit , wie künstliche Blumen , ein Paar weiße Atlasschuhe , Bänder zusammengepreßt und kaum oder nie gebraucht .
Dabei einige alte vergoldete Almanache , wahrscheinlich längst verjährte Geschenke , und , was mich am meisten überraschte , ein Buch mit einer kleinen Sammlung abgeschriebener Gedichte oder Lieder , die ihr als Mädchen mochten gefallen haben .
Zwischen den Blättern lag ein zusammengefaltetes loses Blatt , ebenfalls von ihrer damaligen erblichenen Handschrift , worauf zu lesen war : Verlorenes Recht , verlorenes Glück Recht im Glücke , goldenes Los , Land und Leute machst du groß !
Glück im Rechte , fröhlich Blut , Wer dich hat , der treibt es gut !
Recht im Unglück , herrlich Schaun , Wie das Meer im Wettergraun !
Göttlich grollt_es am Klippenrand , Perlen wirft es auf den Sand !
Einen Seemann , grau von Jahren , Sah ich auf den Wassern fahren , War wie ein Medusenschild Der erstarrten Unruhe Bild .
Und er sang " Vieltausendmal Glitt ich in das Wellental , Fuhr ich auf zur Wogenhöh , Ruht ich auf der stillen See !
Und die Woge war mein Knecht , Denn mein Kleinod war das Recht ; Gestern noch mit ihm ich schlief -
Ach , nun liegt es da unten tief !
In der dunklen Tiefe fern Schimmert ein gefallener Stern ; Und schon ist es wie tausend Jahr , Daß das Recht einst meines war .
Wenn die See nun wieder tobt , Niemand mehr den Meister lobt Hab ich Glück , verdiene ich es nicht , Glück wie Unglück mich zerbricht ! "
Welch ein Gefallen war es gewesen , das ein so junges Mädchen einstmals dies seltsame Gedicht hatte abschreiben und aufbewahren lassen ?
Ich fand noch andere schriftliche Überbleibsel , und zwar aus den letzten Jahren , wo nicht aus letzter Zeit .
In einem Mäppchen , das einen geringen Vorrat von Briefpapier enthielt , lag ein Blatt , das offenbar zu einem Briefe als Fortsetzung gehörte , indem die Schrift ganz oben in der linken Ecke anfing .
Das Fragment aber lautete :
" Wenn es nun Gott wirklich geschehen läßt , daß mein Sohn unglücklich werden und ein irrendes Leben führen sollte , so tritt die Frage an mich heran , ob nicht mich , seine Mutter , die Verschuldung trifft , insofern ich es in meiner Unwissenheit an einer festen Erziehung habe mangeln lassen und das Kind einer zu schrankenlosen Freiheit und Willkür anheimgestellt habe .
Hätte ich nicht suchen sollen , daß unter Mitwirkung Erfahrener einiger Zwang angewendet und der Sohn einem sicheren Erwerbsberufe zugewendet wurde , statt ihn , der die Welt nicht kannte , unberechtigten Liebhabereien zu überlassen , die nur geldfressend und ziellos sind ?
Wenn ich sehe , wie wohlgestellte Väter ihre Söhne zwingen , oft schon vor dem zwanzigsten Jahre ihr Brot zu verdienen , und wie das solchen Söhnen nur zu nützen scheint , so fällt der traurige , altbekannte Selbstvorwurf mir doppelt schwer , und ich hätte in meiner Arglosigkeit nie gedacht , daß eine solche Erfahrung mich jemals heimsuchen könnte .
Freilich habe ich seinerzeit um Rat gefragt ; als man aber den Wünschen des Kindes nicht zustimmte , hörte ich auf zu fragen und ließ es gewähren .
Damit habe ich mich über meinen Stand erhoben und , indem ich mir einbildete , ein Genie in die Welt gesetzt zu haben , die Bescheidenheit verletzt und das Kind geschädigt , daß es sich vielleicht niemals erholen wird .
Wo soll ich nun die Hilfe suchen ? "
Hier brach die Schrift ab ; denn vom nächsten Worte stand nur noch der Anfangsbuchstabe .
An wen der Brief gerichtet war , ob er mit oder ohne obiges Bruchstück oder gar nicht abgegangen , wußte ich nicht , und eine Antwort fand sich unter den aufbewahrten Briefschaften nicht vor .
Wahrscheinlich hatte sie die Sache doch unterdrückt .
Dagegen verschmolz sich nun die in dem Gedichte von dem verlorenen Glücke aufgeworfene wunderliche Rechtsfrage mit derjenigen des Brieffragmentes und fiel mir zu Lasten als dem einzigen haftbaren Inhaber der Schuld .
So war nun der Spiegel , welcher das Volksleben widerspiegeln sollte , zerschlagen und der Einzelmann , der an der Volksmehrheit so hoffnungsreich mitwachsen wollte , rechtlos geworden .
Denn da ich die unmittelbare Lebensquelle , die mich mit dem Volke verband , vernichtet hatte , so besaß ich kein Recht , unter diesem Volke mitwirken zu wollen , nach dem Worte Wer die Welt will verbessern helfen , kehre erst vor seiner Türe .
Nachdem das Grab der Ärmsten sich geschlossen , bewohnte ich einige Zeit das Stübchen , worin sie gestorben .
Dann verkaufte ich mit dem Rate des Nachbars das Haus und gewann in der Tat mehrere Tausende an dem Handel , so daß ich nun mit dem , was ich hergebracht , und dem Gewinn zusammen ein kleines Vermögen besaß , aus welchem ich bescheiden und zurückgezogen leben konnte .
Das zufällige Wesen aber , das dem winzigen Reichtum anhaftete , ließ mich seiner nicht froh werden , noch weniger ein müßiges Leben darauf bauen ; und da überdies der Mensch nicht nur von dem leiblichen , sondern auch von einem moralischen Selbsterhaltungstriebe beseelt ist , so nahm ich doch einige Studien vor , wie der Graf sie mir angeraten , nicht um mich hervorzutun , sondern lediglich , soviel nötig war , mich für die Verwaltung eines anspruchslosen und stillen Amtes vorzubereiten und die Ordnung , in welche es eingebaut war , einigermaßen zu übersehen .
Im übrigen las ich teils schwerere , teils schönere Sachen allgemeiner Natur , um meinen befangenen und bedrängten Gedanken einige Freiheit und Zerstreuung zu verschaffen .
Denn während das Reuleid wegen der Mutter allmählich zu einem düstern , aber gleichmäßig ruhigen Hintergrunde von Freudlosigkeit wurde , begann sich das Bild der Dorothea wieder lebendiger zu regen , ohne Licht in das Dunkel zu bringen .
Ich trug den Spruch von der Hoffnung , auf das grüne Papier gedruckt , noch immer in meinem Brief-und Schreibtäschchen auf der Brust und las ihn zuweilen mit ungläubigem Seufzen und Kopfschütteln .
Den Glücksfall vorausgesetzt , den die schlichten Worte zu verkünden schienen , war ich doch in der Lage , ihn fürchten zu müssen , und fast in der Stimmung eines Prahlers , der in der Ferne eine glänzende Schöne an sich gezogen hat , welcher er die schlechte Hütte nicht zeigen darf , darin er wohnt .
Sogar zum bloßen freundlichen Verkehr in die Weite schien ich mir jetzt nicht fähig , da ich die Wahrheit meines Zustandes zu gestehen mich scheute und doch auch nicht lügen mochte .
Die Zeit zu scherzhaften Flunkereien und Phantasiespielen , auch im harmlosen Sinne des Wortes , war für einmal vorbei .
Es vergingen wohl zehn Monate , bis ich über mich vermochte , an den Grafen zu schreiben , ohne unwahr zu sein oder allzu elend zu erscheinen .
Er vergalt mir die Saumseligkeit nicht mit gleicher Münze ; vielmehr erhielt ich bald einen längeren Brief von ihm , in welchem er meine Lage , soweit er sie begriff , mit guten Worten besprach und als den Lauf der Welt darstellte , wie er durch Paläste und Hütten gehe , Gerechte und Ungerechte heimsuche und seiner Natur gemäß unablässig sich verändere .
" Was unser Dortchen betrifft " , fuhr er fort , " so erfährt sie , und wir andere mit ihr , in gehäuftem Maße auch ihr Teil .
Seit Du weg bist , hat sich das Abenteuer begeben , daß sie - meine blutsverwandte Nichte und nichts anderes geworden ist !
Ich kann Dir den Hergang nicht des weiteren auseinandersetzen , nur mit ein paar Strichen andeuten Von der bald nach dem Tode meines in den südamerikanischen Händeln umgekommenen Bruders ebenfalls verstorbenen Witwe ist durch Letzten Willen verordnet worden , es solle das Kind durch zuverlässige Leute seinen deutschen Verwandten zugesandt werden .
Diese Leute sind aber untreu gewesen .
Um gewisse Vermögensteile , die man unvorsichtigerweise ihnen zugleich mitgegeben hat ( übrigens unbedeutende Summen ) , behalten zu können , haben sie mir das Kind auf dem Wege der Aussetzung in die Hände gespielt .
Sie haben sich richtig bei jenen Auswanderern nach Südrußland befunden oder sich ihnen vielmehr auf dem Wege in der Donaugegend angeschlossen und die Sache sehr schlau angestellt .
Da aus Amerika nie mehr eine Nachfrage anlangte , sowenig als früher ein Bericht von der Absendung des Kindes und dem Tode der Mutter , so hat alles so geschehen können .
Erst neuerlich , weil das alt gewordene Sünderpaar vom Gewissen , wahrscheinlich auch von dem Gelüste nach einer Gnadenbelohnung geplagt wurde , haben sich die Leutchen mit allen in solchen Wiederfindungsgeschichten üblichen wohlaufgehobenen Beweisen gemeldet , und wir haben also eine Gräfin mehr im deutschen Vaterlande !
Wie lange es dauert , bis sie zum Gegenstande eines oder mehrerer Romane gemacht wird , steht dahin ; ich habe sie auch auf einige Volksschauspiele und Melodramen vorbereitet .
Allein sie hört nicht darauf , da sie bereits die Ausarbeitung des zweiten Teiles des Romanes begonnen hat .
Vor vier Wochen hat sich Gräfin Dorothea W... Berg ( eigentlich heißt sie von Haus aus Isabel ) mit einem jungen Freiherrn Theodor von W... Berg verlobt .
Das ist nämlich ein hübscher und wackerer Gesell aus einer Linie der so benamsten Leute , welche die unsrige seit Jahrhunderten nichts mehr angeht .
Man wird ihm den Grafentitel verschaffen , und ich werde gestatten , daß das Majorat auf ihn übergeht .
Denn ich habe ebensowenig Grund , das Fortbestehen des Namens zu hindern , als dasselbe zu wünschen .
Wie die Dinge stehen , ist es mir absolut gleichgültig , wenn ich etwa von dem Vergnügen absehe , das ich dem Kinde mache , indem ich seinem Bräutigam gefällig bin .
Nun kommt aber noch eine Betrachtung , die uns beide angeht , lieber Freund Heinrich !
Ich habe gut gesehen , daß Du Dich in Dortchen verliebt hast !
Ich habe getan , als sähe ich es nicht , weil ich mich in dergleichen nicht mische , wo die Leute sich selbst helfen können und wissen , was sie zu tun haben .
Besonders die langhaarige Nation ist so unberechenbar , daß es nicht lohnend ist , sich ohne Not mit gutem Rate bloßzustellen .
Auch Du bist dem Kinde nicht gleichgültig gewesen und auch jetzt noch gut angeschrieben , und es stellt sich die Sache ungefähr so : Hättest Du , was Du als ein maßhaltender Mensch nicht getan hast , während Deines Hierseins die Zeit und Deinen Vorteil wahrgenommen oder hättest Du bald nach der Ankunft in Deinem Vaterlande von Dir hören lassen , so wäre , glaube ich , Dorothea bis zur Stunde die Deinige geblieben .
Nachdem Du aber eine so rätselhafte Zeit hast verstreichen lassen , ist sie über diese Kluft weggesprungen , als der entschlossene Freier erschien , der sie zugleich in so glücklicher Weise wieder in die weltliche Ordnung einreibt .
Aber auch von diesem Begreiflichen abgesehen , müssen wir die Unbeständigkeit des Kindes , soweit eine solche vorhanden ist , nicht hart beurteilen .
Die guten Weiblein sind so auf sich selbst angewiesen und müssen im Grunde die Suppe , die sie sich einbrocken , oft so ganz allein ausessen mit allerlei Leiden und Schmerzen , daß sich hieraus die Plötzlichkeit wohl erklären läßt , mit der ihre Instinkte zuweilen umschlagen .
Ihre Blütenzeit geht so rasch vorbei , daß sie , solang kein entscheidendes Wort gefallen ist , auf ein Warten , das sich einstellen zu wollen scheint , nicht gut zu sprechen sind und sich jeden Entschluß im stillen vorbehalten .
Wenn sie Hoffnung gegeben haben und nicht rechtzeitig dabei behaftet werden , so gehen sie zur Tagesordnung über ; denn sie wollen ihre Kinder als junge Weiber und nicht als halbe Matronen haben und erziehen .
Gerade die Schönsten und Gesündesten eilen ihrem Berufe energisch entgegen und verschmähen dann häufig die Heirat , wenn sie den besten Augenblick verfehlt haben .
Meine eigene Ehe galt für eine Art Unicum , und die Leute sagten , es müsse so sein , weil zwei Unica sich geheiratet haben .
Soweit das sich auf meine Person bezog , war es natürlich der Spott über meine Abtrünnigkeit von den Vorurteilen ; auf die Frau aber war das Wort in seinem besten Sinne gut angewendet ; und dennoch hatte es an einem Haar gehangen , daß sie nicht ein anderer heimgeführt .
Das ist eben auch ein Stück Weltlauf ! "
Es bedurfte dieser traulichen Vertröstung des älteren Freundes nicht , die Geister der Leidenschaft in mir zu bannen .
Die bloße Tatsache , daß Dorothea verlobt war und Isabel Gräfin zu W... Berg hieß , vergegenwärtigte mir den Zustand , in welchen ich sie gebracht hätte , selbst wenn sie das Findelkind geblieben , ich weniger zurückhaltend gewesen und eine Verbindung zwischen uns erfolgt wäre .
Es kam mir vor , wie wenn man einen großen Sommervogel in einen kleinen Grillenkäfig hätte setzen wollen .
Die geheime Sorge , einer solchen Beschämung durch die schönste Glückserfüllung ausgesetzt zu werden , fiel mir wie ein Stein vom Herzen , und in diesem blieb nur die stille Sehnsucht nach der Verlorenen einträchtig neben der Trauer um die Mutter wohnen .
Freilich kam mir dieser Weltlauf etwas teuer zu stehen ; denn der Umweg über das Grafenschloß hatte mich nicht nur die Mutter , sondern auch den Glauben an ihr Wiedersehen und an den lieben Gott selbst gekostet , alles Dinge indessen , deren Wert nicht aus der Welt fällt und immer wieder zum Vorschein kommt .
Sechzehntes Kapitel Der Tisch Gottes Etwa ein Jahr später besorgte ich die Kanzlei eines kleinen Oberamtes , welches an dasjenige grenzte , worin das alte Heimat Dorf lag .
Hier konnte ich bei bescheidener und doch mannigfacher Wirksamkeit in der Stille leben und befand mich in einer Mittelschicht zwischen dem Gemeindewesen und der Staatsverwaltung , so daß ich den Einblick nach unten und oben gewann und lernte , wohin die Dinge gingen und woher sie kamen .
Allein sie vermochten die Schatten nicht aufzuhellen , die meine ausgeplünderte Seele erfüllten , und weil alles , was ich wahrnahm , durch die Düsternis gefärbt wurde , so erschienen mir auch die Menschlichkeiten , denen ich auf dem neuen Gebiete begegnete , dunkler , als sie an sich waren .
Wenn ich sah , daß auch hier die Neigung zum Nachlassen und zur Pflichtvergessenheit zum Vorschein kam oder jeder die Wässerlein auf seine Mühle zu leiten suchte , daß Neid und Eifersucht auch in den kleinsten Amtsverhältnissen störend sich einnisteten , so war ich geneigt , das Übel dem Charakter des ganzen Volkes und Gemeinwesens zuzuschreiben , das in der Erinnerung und aus der Entfernung mich so täuschend angelockt habe .
Wenn ich aber meines belasteten Bewußtseins gedachte , so schwieg ich , anstatt bei guter Gelegenheit meine Meinung offen herauszusagen .
Ich begnügte mich , meine Obliegenheiten so regelmäßig und geräuschlos als möglich zu erfüllen , um die Zeit zu verbringen , ohne Unruhe , aber auch ohne Hoffnung eines frischeren Lebens .
Das hielten nun die Leute für das Muster einer ordentlichen Amtsführung , und da sie besser und wohlwollender waren , als ich dachte , so machten sie mich nach ein paar weiteren Jahren , ohne mein Zutun und gegen meinen Wunsch , zum Vorsteher des Amtskreises .
In dieser Stellung konnte ich nicht umhin , mehr unter die Leute zu gehen und an Zusammenkünften verschiedener Art teilzunehmen , immer als der ziemlich melancholische und einsilbige Amtsmann , der ich war .
Jetzt lernte ich , da ich die politische Bewegung im großen und mehr in der Nähe sah , ein Übel kennen , das mir wirklich neu , obgleich es zum Glücke nicht gerade herrschend war .
Ich sah , wie es in meiner geliebten Republik Menschen gab , die dieses Wort zu einer hohlen Phrase machten und damit umherzogen , wie die Dirnen , die zum Jahrmarkt gehen , etwa ein leeres Körbchen am Arme tragen .
Andere betrachteten die Begriffe Republik , Freiheit und Vaterland als drei Ziegen , die sie unablässig melkten , um aus der Milch allerhand kleine Ziegenkäslein zu machen , während sie scheinheilig die Worte gebrauchten , genau wie die Pharisäer und Tartüffe .
Andere wiederum , als Knechte ihrer eigenen Leidenschaften , witterten überall nichts als Knechtschaft und Verrat , gleich einem armen Hunde , dem man die Nase mit Quarkkäse verstrichen hat und der deshalb die ganze Welt für einen solchen hält .
Auch dies Knechtschaftswittern hatte einen gewissen kleinen Verkehrswert , doch stand das patriotische Eigenlob immerhin noch höher .
Alles zusammen war ein schädlicher Schimmel , der ein Gemeinwesen zerstören kann , wenn er zu dicht wuchert ; doch befand sich die Hauptschar in gesundem Zustande , und sobald sie sich ernstlich rührte , stäubte der Schimmel von selbst hinweg .
Ich dagegen sah in meiner kranken Stimmung den Schaden des Unechten zehnmal größer , als er war , und schwieg dennoch , anstatt den falschen Schwätzern auf die Füße zu treten ; damit verschwieg ich auch manches , was ich mit wirklichem Nutzen hätte sagen können .
Ich fühlte , daß das kein Leben hieß und so nicht fortgehen könne , und begann darüber zu brüten , wie aus dieser neuen Gefangenschaft des Geistes herauszukommen sei .
Zuweilen regte sich , und immer vernehmlicher , der Wunsch , gar nicht mehr dazusein .
Eines Tages hatte ich mehrere Stunden auf den Straßen meines Verwaltungsbezirkes zugebracht , um in Begleitung des Baumeisters den Zustand derselben zu untersuchen .
Nach verrichtetem Geschäfte trennte ich mich von dem Manne , da ich das Verlangen spürte , noch einen Gang in Einsamkeit zu machen .
So gelangte ich in ein enges abgeschiedenes Tal zwischen zwei grünen Berglehnen , wo es so still war , daß man die Luft in entfernten Baumwipfeln konnte säuseln hören .
Auf einmal erkannte ich das Tal als zu der Heimatgegend gehörig , obgleich es so schlicht von Gestaltung war , daß es nirgends eine eigentümliche Form darbot , und kein menschliches Gebäude zeigte sich dem Auge .
Ungefähr in der Mitte des Weges , der das Tälchen durchschnitt , warf ich mich an eine kleine begrünte Erdwelle und überließ mich der schmerzlichen Erinnerung an alles , was ich schon gehofft und verloren , geirrt und verfehlt hatte .
Auch zog ich Dorothees grünen Zettel einmal wieder hervor , der noch immer zwischen einer Falte meiner Schreibtafel steckte .
" Hoffnung zeigt sich immerdar treugesinnten Herzen gütig ! " las ich und wunderte mich , daß ich das falsche Wechselchen noch bei mir trug .
Da eben ein schwacher Luftzug dicht über der sommerwarmen Erde hinwallte , ließ ich es fahren , und es flatterte gemächlich über Gras und Heideblumen weg , ohne daß ich ihm weiter nachblickte .
Am besten wäre es , dachte ich , du lägest unter die sehr sanften Erdbrust und wüßtest von nichts !
Still und lieblich wäre es hier zu ruhen !
Nach diesem mir nicht mehr neuen Seufzer ließ ich die Augen von ungefähr an der gegenüberliegenden Berghalde schweifen , an deren halber Höhe ein Felsband von grauer Nagelflühe zutage trat .
Ebenso von ungefähr sah ich eine leichte Gestalt von der gleichen grauen Farbe längs dem Felsbande hingleiten oder schweben , und da die Halde von der Abendsonne beleuchtet war , so sah man gleichzeitig auch den Schatten der Gestalt an der Wand mitgleiten .
Ich wußte , daß ein schmaler Pfad dort das Felsgesimse entlanglief , und verfolgte mit den Augen die Erscheinung , die sich mit einem sichtlichen Rhythmus bewegte , der mich an ein irgendwo schon Gesehenes erinnerte .
Als die Gestalt , die unverkennbar eine weibliche war , das Ende der Felswand erreicht hatte , wandte sie sich und kehrte denselben Weg wieder zurück ; es sah aus , als ob der Geist des Berges aus dem Gestein herausgetreten wäre , um im Abendscheine auf und ab zu wandeln .
Froh , meine schweren Gedanken ein wenig zu verscheuchen , erhob ich mich , ging über den Weg und drang durch das Gehölz empor , das den Fuß der jenseitigen Berglehne bekleidete bis unterhalb der Nagelflühe , an welcher der Pfad hinführte .
In wenigen Minuten hatte ich diesen erreicht .
Man blickte dort aus dem Tale hinaus und sah in der Ferne einerseits die Ortschaft im Abendlichte schimmern , wo mein Amtssitz lag .
Dieser Aussicht zugewendet sah ich die Gestalt an jenem Ende des Felsbandes stehen und hinüberschauen .
Dann kehrte sie sich abermals und kam den Weg zurück , gerade mir entgegen .
Kaum war sie mir etwas näher , so erkannte ich die Judith , von der ich seit zehn Jahren nicht ein Wort vernommen , trotz der fremdartigen Tracht , in die sie gekleidet war .
Stadt der halb ländlichen Tracht , in der ich sie zuletzt gesehen , trug sie jetzt ein Damenkleid von leichtem grauem Stoffe und einen grauen Schleier um Hut und Hals gewickelt , alles aber so ungezwungen , ja bequem , daß man sah , ihre ungebrochenen Bewegungen hatten sich in einem reichlicheren und breiteren Faltenwurfe von selbst Raum verschafft , ohne daß sie im mindesten schlotterig oder auch eckig ausgesehen hätte .
In jenem Augenblicke stellte ich natürlich derartige Beobachtungen nicht an ; sie erklären nur den Eindruck , welchen die unverhoffte Erscheinung auf mich hervorbrachte .
An dem Gesichte hatten die zehn Jahre keine andere Veränderung bewirkt , als daß es selbstbewußter geworden und durch einen sibyllenhaften Anhauch eher veredelt als entstellt war .
Erfahrung und Menschenkenntnis lagerten um Stirn und Lippen , und doch leuchtete aus den Augen noch immer die Treuherzigkeit eines Naturkindes .
So sah ich sie , die Augen erstaunt auf sie gerichtet , mir nahe kommen und die Schritte verlangsamen , als sie meiner ansichtig wurde .
Mein Anblick mußte sich mehr verändert haben als der ihre ; denn sie schien unschlüssig , ging jetzt etwas rascher und hielt doch wieder an sich , im Begriff , an mir vorüberzugehen .
Dadurch wäre ich beinahe auch unsicher geworden , und erst als ich ganz dicht vor ihr stand auf dem schmalen Pfade , konnte ich nicht mehr irren und rief :
" Judith ! "
Aber gleichzeitig überflog eine unverstellte und doch unbeschreiblich milde Freude ihr schönes Gesicht ; meine Hand lag in ihrer warmen festen Hand , und nach alter Volksweise öffnete sie dieselbe nicht so bald .
" Sind Sie es ? " sagte sie , ohne meinen Namen zu nennen , und ich wagte auch nicht , den ihrigen zu wiederholen , da ich noch weniger wußte , wie ich sie eigentlich nennen sollte ; denn es war durchaus nicht wahrscheinlich , daß eine solche Person allein geblieben sei .
Ich fragte daher unbeholfen nur , wo sie herkomme ?
" Aus Amerika ! " erwiderte sie ; " seit vierzehn Tagen bin ich hier ! "
" Wo hier ?
In unserem Dorf ? "
" Wo anders denn ?
Ich wohne im Wirtshaus , da ich sonst niemanden mehr habe ! "
" Sind Sie allein da ? "
" Gewiß ; wer soll bei mir sein ? "
Ohne daß ich irgendwie weiterdachte , machte mich diese Antwort glücklich ; Jugendglück , Heimat , Zufriedenheit , alles schien mir seltsamerweise mit Judith zurückgekehrt oder vielmehr wie aus dem Berge herausgewachsen zu sein .
Indessen waren wir ohne Plan auf dem Pfade weitergegangen , bald dicht aneinandergedrängt , bald eins hinter dem anderen , wie es der Raum erlaubte .
" Wissen Sie , wo ich Sie das letzte Mal gesehen habe ? " sagte sie jetzt , indem sie sich nach mir zurückwandte ; " als ich auf einem Wagen aus dem Lande fuhr und sie als Soldat auf dem Felde standen in einer kleinen Reihe von Leuten .
Da drehtet ihr euch alle , wie an einer Schnur gezogen , plötzlich um , und ich dachte Den bekommst du nie mehr zu sehen ! "
Ein Weilchen gingen wir schweigend ; dann fragte ich , wo sie denn hingehen wolle und ob ich sie eine Strecke begleiten dürfe ?
" Ich habe nur einen Spaziergang gemacht " , sagte sie , " und denke , ich muß jetzt wieder nach Haus .
Würde es Ihnen zu weit sein , mit mir bis ins Dorf zu gehen ? "
" Ich komme gern mit Ihnen und will in Ihrem Wirtshause zu Nacht essen " , antwortete ich ; " nachher lasse ich mich in des Wirts kleinem Fuhrwerk heimführen ; denn von dort sind es drei gute Wegstunden . "
" Oh , das ist schön von Ihnen !
Ich haue doch heute früh schon eine Ahnung , daß mir etwas Gutes geschehen würde , und nun ist der Heinrich Lee bei mir , der Herr Vetter und Oberamtmann ! "
Wir fanden bald einen breiteren Weg und wanderten in traulichem Geplauder nach dem Dorfe ; aber noch ehe wir dasselbe erreichten , hatten wir uns unbewußt zu duzen angefangen , was wir als Blutsverwandte auch füglich tun durften .
Das erste Haus , an dem wir vorübergingen , war das meines verstorbenen Oheims ; aber es waren fremde Leute darin , seine Kinderwaren zerstoben .
Kleine fremde Kinder liefen uns nach und riefen :
" Die Amerikanerin ! "
Einige boten ihr ehrfürchtig die Hand , und sie schenkte ihnen kleine Münzen .
Als wir bei ihrem Hause vorbeikamen , standen wir einen Augenblick still .
Der jetzige Besitzer hatte es umgebaut , aber der schöne Baumgarten , wo sie einst Äpfel pflückte , stand unverändert .
Sie warf nur einen halben Blick auf mich , schlug ihn dann nieder und errötete sanft , indem sie eilig weiterschritt .
Da sah ich , daß dieses Weib , das die Meere durchschifft , sich in einer neuen werdenden Welt herumgetrieben und zehn Jahre älter geworden , zarter und besser war als in der Jugend und in der stillen Heimat .
Das nennt man Rasse , würden rohe Sportsleute sagen ! dachte ich bei dem lieblichen Anblick .
Im Wirtshause angekommen , wunderte ich mich , mit welcher Umsicht und geräuschlosen Sorgfalt , mit wenig Worten , sie eine gute Bewirtung anzuordnen wußte und so aufmerksam für mich sorgte wie ein Hausmütterchen .
Das ließ mich vermuten , daß sie in Amerika ihre Zeit in Städten und guten Häusern zugebracht habe ; allein die Erzählungen und Schilderungen ihres Schicksals , die sie während des Nachtessens mit anmutiger Laune mir sowohl als den mit zuhorchenden Wirtsleuten zum besten gab , deuteten im Gegenteil darauf hin , daß sie im Kampfe mit der Not der Menschen , und indem sie ihre Auswanderungsgenossen geradezu erziehen und zusammenhalten mußte , sich selbst notgedrungen veredelt und höhegehoben hatte .
Als sie nämlich mit ihren Landsleuten an Ort und Stelle der Ansiedlung gelangt und andere dazugestoßen waren , zeigte sich fast die ganze Gesellschaft als nicht ausdauernd und ungeschickt bei Widerwärtigkeiten , so wie sich auch die übrigen Eigenschaften , welche die Auswanderung veranlaßt , nicht sogleich verloren .
Judith , als die meisten Mittel besitzend , hatte den größten Teil des Bodens angekauft ; sie ließ jedoch ihr Land von den anderen benutzen und begnügte sich , eine Art Handelskontor für die verschiedenen Bedürfnisse der kleinen Kolonie zu führen .
Wie sie aber sah , daß die Genossen sie am Schaden ließen und sie verarmen würde , änderte sie das Verfahren .
Sie zog ihr Land wieder an sich , ließ es um den Tagelohn von denen bearbeiten , die für eigene Rechnung zu träg dazu gewesen , und so brachte sie alle miteinander dazu , sich zu rühren .
Sie setzte den Weibern die Köpfe zurecht , pflegte die kranken Kinder und erzog die gesunden , kurz , der Selbsterhaltungstrieb war mit einer großen Opferfähigkeit so glücklich in ihr gemischt , daß sie die Leute und mit ihnen sich selbst so lange über Wasser hielt , bis ein bedeutender Verbindungsweg in die Nähe der Ansiedlung kam und mit demselben eine wachsende Zahl von kräftigeren Elementen , die schon geschult waren , so daß zusehends die Wendung zum Besseren für alle eintrat .
Während der ganzen Zeit aber hatte sie die Bewerbungen um ihre Person abzuwehren , was sie mehr im Scherze andeutete als ernsthaft erwähnte ; zeitweise , wenn gefährliche Abenteurer sich herbeimachten und die Sicherheit bedrohten , hielt sie sich sogar Waffen und verließ sich nur auf sich selber .
Als aber das Kalb durch den Bach gezogen , das Gedeihen begründet und die Ansiedlung mit dem Namen irgendeiner berühmten Stadt der Alten Welt vor Christi Geburt versehen war , zog sie sich zurück und überließ sich einer ruhigeren Lebensart ; denn sie war weder eine gewohnheitsmäßige Pädagogin noch eine vorsätzliche Tatverrichterin .
Dagegen vervielfachte sie durch den Verkaufe ihres Landes ihr ursprüngliches Vermögen und beschaute sich zuweilen während einiger Wochen das Leben in der Hauptstadt des Staates oder anderen größeren Städten , oder sie fuhr auf den breiten Flüssen , wenn sich Gesellschaft fand , landeinwärts , bis sie die wilden Indianer zu sehen bekam .
Alles das erzählte sie bruchstückweise und ungezwungen mit solcher Kurzweiligkeit , daß wir nicht müde wurden zuzuhören , zumal jedes Wort den Stempel der Wahrheit an sich trug .
Inzwischen war die Zeit wie ein Augenblick für mich verstrichen , da ich seit Jahren nicht so sorglos und glücklich an einem Tische gesessen , und der Einspänner des Wirtes , der mich nach Hause bringen sollte , stand bereit , weil ich für die Morgenfrühe mehrere Amtsgeschäfte anberaumt hatte .
Ich dankte der Judith beim Abschiede für die Gastfreundschaft und lud sie ein , sich bald bei mir schadlos zu halten , wo wir zwar auch im Wirtshause essen müßten , weil ich keine Haushaltung führe .
" Ich werde schon in den nächsten Tagen angefahren kommen " , sagte sie , " in diesem gleichen Triumphwagen , und mich bezahlt machen ! "
Als ich schon im Gefährte saß , drückte sie mir in der Dunkelheit schweigend die Hand und blieb lautlos stehen , bis ich weggefahren war .
Das neue Glück , das mich erfüllte , trabte sich jedoch schon am anderen Morgen , als ich bedachte , daß ich ihr nun das Geheimnis meines Gewissens und das Schicksal der Mutter enthüllen müsse .
Denn wenn es jetzt ein Urteil gab , das ich fürchtete , so war es dasjenige dieser einfachen und wundersamen Frauenerscheinung , und doch war mir weder Freundschaft noch Liebe zwischen ihr und mir denkbar , wenn sie nicht alles wußte .
Ich erwartete sie deshalb mit ebensoviel Furcht als Ungeduld , bis sie am zweiten Vormittage kam .
Eine gewisse Niedergeschlagenheit war in die Freude des Wiedersehens gemischt , und zwar bei ihr wie bei mir .
Nachdem sie sich in meiner Wohnung ein wenig umgeschaut , sagte sie , Hut und Überwurf weglegend :
" Es ist doch recht hübsch in diesem großen Amtsdorfe , fast wie in einer Stadt .
Ich hätte Lust , hierher zu ziehen und mehr in deiner Nähe zu sein , wenn nur - "
Sie hielt verschüchtert inne , gleich einem jungen Mädchen , fuhr dann aber : " Sieh , Heinrich , schon mehrmals bin ich seit meiner Ankunft auf dem Bergpfade gewesen , wo du mich getroffen hast , um hier herüberzuschauen , da ich mir nicht zu kommen getraute ! "
" Nicht getraut !
Eine so tapfere Person ! "
" Sieh , das ging so zu : Du liegst mir einmal im Blut , und ich habe dich nie vergessen , da jeder Mensch etwas haben muß , woran er ernstlich hängt !
Nun erschien vor einiger Zeit in unserer Kolonie ein neuer Landsmann aus dem Dorfe , der sich jedoch auch schon einige Jahre drüben herumgetrieben hat .
Da von den heimatlichen Dingen gesprochen wurde , fragte ich beiläufig nach dir und ob man im Dorfe nichts von dir wisse , hoffte aber nicht , etwas zu erfahren , woran ich längst gewöhnt war .
Der Mann besann sich ein Weilchen und sagt : » Ja , wartet , wie ist denn das ?
Ich habe davon gehört « , und nun erzählte er . "
" Was erzählte er ? " fragte ich traurig .
" Er habe gehört , daß du verarmt in der Fremde herumgezogen seist , die Mutter in Schulden gebracht und darüber habest sterben lassen und daß du dann in elendem Zustande heimgekehrt seiest und als ein Schreiberlein irgendwo dein Leben fristest .
Als ich so dein Unglück vernahm , packte ich unverzüglich auf , um zu dir zu kommen und bei dir zu sein ! "
" Judith , das hast du getan ? " rief ich .
" Was meinst du denn ?
Sollte ich , die dich als grünen Knaben einst so herzlich geliebt und gekost hat , dich nun in Not und Kummer wissen , ohne zu dir zu kommen ? -
Aber da ich nun kam , da war alles nicht wahr !
Zwar die Mutter ist gestorben , du aber bist in guten Zuständen aus der Fremde gekehrt und stehst jetzt beim Regierungswesen und in Ehre und Ansehen , wie ich wohl merke , obgleich man sagt , du seiest etwas stolz und unfreundlich !
Dies letztere ist nun freilich auch nicht wahr ! "
" Und du bist also meinetwegen aus Amerika aufgebrochen , obgleich du mich für schlecht gehalten hast ? "
" Wer sagt das ?
Ich habe dich trotzdem nicht für schlecht , nur für unglücklich gehalten ! "
" Das Schlimmste an dem Unglück ist aber dennoch wahr , meine Verschuldung !
Ich habe wirklich meine Mutter in Kummer und Sorgen gebracht und bin eben recht gekommen , der daran Sterbenden die Augen zuzudrücken ! "
" Wie ist das denn zugegangen ?
Erzähle mir alles , denke aber nicht , daß ich mich von dir werde abwendig machen lassen ! "
" Dann hat dein Urteil keinen Wert , wenn es nur durch deine gütige Zuneigung bedingt wird ! "
" Eben diese Neigung ist Urteils genug , und du mußt es anerkennen !
Doch erzähle nur ! "
Ich tat es in ausführlicher Weise , so ausführlich , daß ich gegen das Ende hin die Aufmerksamkeit auf meine Rede verlor und zerstreut wurde ; denn ich spürte inzwischen den alten Druck von der Seele weichen und wußte , daß ich frei und gesund war .
Plötzlich unterbrach ich mich und sagte : " Es nützt nichts , länger zu schwatzen !
Du hast mich erlöst , Judith , und dir danke ich_es , wenn ich wieder munter bin ; dafür bin ich dein , solang ich lebe ! "
" Das läßt sich hören ! " erwiderte sie mit glänzenden Augen und mit einem Ausdrucke von Zufriedenheit in ihren schönen Gesichtszügen , daß der Anblick mich in der Erinnerung immer wieder irremachte , wenn ich im Laufe der Jahre zu erwägen hatte , wie mit der Schönheit der Dinge doch nicht alles getan und der einseitige Dienst derselben eine Heuchelei sei wie jede andere .
Ja , neben der Erinnerung an Dörtchens Angesicht am Tische des Kaplans leuchtet mir Judiths Anblick fort wie ein Doppelstern .
Beide Sterne sind gleich schön und doch nicht beide gleich in ihrem wahren Wesen .
" Nun habe ich Hunger und möchte essen , wenn du was hast ! " sagte Judith ; " aber richte dich ein , den übrigen Tag mit mir im Freien zuzubringen ; unter Gottes freiem Himmel wollen wir unsere Sachen zu Ende führen ! "
Wir stellten fest , daß ich nach Tisch mit ihr heimwärts fahre , daß wir aber am Eingange des Tales , wo wir uns zuerst getroffen , den Wagen weiterschicken und den Berg mit der Nagelflühe besteigen wollten .
Fröhlich und zufrieden aßen wir zusammen im Herrenstübchen des Gasthauses zum goldenen Stern .
In einem der Fenster leuchtete eine zweihundertjährige gemalte Scheibe mit den Wappen eines Ehepaares , das nun schon lange zu Staub geworden .
Über den beiden Wappen stand die Inschrift :
" Andreas Mayer , Vogt und Wirt zum gülden Stern , und Emerentia Juditha Hollenbergerin sind ehelich verbunden am 1. Mai 1650 . "
Der Hintergrund , auf welchem die zwei Wappen standen , zeigte ein Gartenland mit einer Gesellschaft zechender Engelsfigürchen zwischen Rosenbüschen .
Ein geschmücktes Paar , die Handschuhe in den Händen , sah den kleinen Trinkgesellen wohlgefällig zu .
Zuunterst aber quer über die Scheibe stand auf einem breiten Bande der Spruch :
Hoffnung hintergehet zwar , Aber nur , was wankelmütig ; Hoffnung zeigt sich immerdar Treugesinnten Herzen gütig !
Hoffnung senket ihren Grund In das Herz , nicht in den Mund !
Die gemeinsame Quelle , aus welcher beide Schreiber , die so weit auseinander lebten , der alte Glasmaler und das Fräulein im Grafenschloß , geschöpft hatten , mußte somit ein sehr altes Buch sein .
Mich aber berührte diese Aufdringlichkeit des Zufalls , die aus der ganzen Schilderei leuchtete , eher ängstlich und beklemmend als freudig ; denn dieser Machthaber schien sich förmlich zu meinem Führer aufwerfen zu wollen , und der Spruch konnte eine neue Täuschung verkünden .
Judith las denselben , ohne auf das Bildwerk zu achten , und sagte lächelnd :
" Welch ein schöner Vers und gewißlich wahr ; man muß ihn nur richtig verstehen ! "
Wir begaben uns also auf den Weg , schickten den Wagen am Fuße jenes mäßigen Berges weg und wanderten gemächlich hinauf , und zwar auf die Scheitelhöhe .
Dort standen , weit in das Land ragend , zwei mächtige uralte Eichbäume , unter welchen eine Bank und ein steinerner , ganz bemooster Tisch sich befanden .
Vor der christlichen Zeit sollte hier eine Kultusstätte , später eine Dingstätte gewesen sein und von letzterer Bestimmung der Tisch herrühren .
Auf der Bank im Schatten der mächtig ausgreifenden Aste sitzend , schauten wir Hand in Hand in die bläuliche Ferne der Rundsicht .
Judith hatte ihren Hut und Sonnenschirm auf den Tisch gelegt .
Nach einer Weile , als sie auch den Tisch betrachtet und sich die Bedeutung desselben hatte erklären lassen , sagte sie mit bedächtigen und bewegten Worten :
" Wie nennt man es denn in den Ländern , wo es Könige gibt , wenn diese gekrönt werden und an den Altären stehen ? "
Ich wußte nicht gleich , was sie meinte , und sann nach .
Da ich sie aber unverwandt auf den alten Steintisch schauen sah und sie sogar Hut und Schirm wegnahm , wie um die Sache deutlicher zu machen , fiel es mir ein , und ich sagte : " Es heißt , sie nehmen die Krone von Gottes Tisch ! "
Da sah sie mich zärtlich an und flüsterte : " Ja , so heißt es !
Sieh , und nun könnten wir hier auch das Glück von Gottes Tisch nehmen , was die Welt das Glück nennt , und uns zu Mann und Frau machen !
Aber wir wollen uns nicht krönen !
Wir wollen jener Krone entsagen und dafür des Glückes um so sicherer bleiben , das uns jetzt , in diesem Augenblicke , beseligt ; denn ich fühle , daß du jetzt auch glücklich und zufrieden bist ! "
Ich schwieg erschüttert still .
Doch fuhr sie fort : " Schau , ich habe es mir schon auf dem Meere und während eines Sturmes überlegt , als die Blitze um die Masten zuckten , die Wellen über Deck schlugen und ich in der Todesangst deinen Namen ausrief , und die letzten Nächte wieder habe ich es hin und her gewendet und mir gelobt Nein , du willst sein Leben nicht zu deinem Glücke mißbrauchen !
Er soll frei sein und sich durch die Lebenstrübheit nicht noch mehr abziehen lassen , als es schon geschehen ist ! "
Ich schüttelte aber den Kopf und sagte betroffen :
" Ich will nicht unbescheiden sein , Judith , allein ich habe es mir doch anders gedacht .
Wenn du mir in der Tat gut bist , willst du nicht lieber bei mir leben , als immer so einsam sein , so allein stehen in der Welt ? "
" Wo du bist , da werde ich auch sein , solange du allein bleibst ; du bist noch jung , Heinrich , und kennst dich selber nicht .
Aber abgesehen hiervon , glaube mir , solange wir so sind wie jetzt , in dieser Stunde , wissen wir , was wir haben , und sind glücklich !
Was wollen wir denn mehr ? "
Ich begann zu fühlen und zu verstehen , was sie bewegte ; sie mochte zuviel von der Welt gesehen und geschmeckt haben , um einem vollen und ganzen Glücke zu vertrauen .
Ich sah ihr ins Gesicht und strich ihr weiches braunes Haar zurück , indem ich rief : " Ich habe ja gesagt , ich sei dein , und will es auf jede Art sein , wie du es willst ! "
Sie schloß mich heftig in die Arme und an ihre gute Brust ; auch küßte sie mich zärtlich auf den Mund und sagte leis : " Nun ist der Bund besiegelt !
Aber für dich nur auf Zusehen hin ; du bist und sollst sein ein freier Mann in jedem Sinne ! "
Und so ist es auch zwischen uns geblieben .
Noch zwanzig Jahre hat sie gelebt ; ich habe mich gerührt und nicht mehr geschwiegen , auch nach Kräften dies oder jenes verrichtet , und bei allem ist sie mir nahe gewesen .
Wenn ich den Wohnort verändern mußte , so ist sie mir das eine Mal gefolgt , das andere nicht , aber sooft wir wollten , haben wir uns gesehen .
Wir sahen uns zuweilen täglich , zuweilen wöchentlich , zuweilen des Jahres nur einmal , wie es der Lauf der Welt mit sich brachte ; aber jedesmal , wo wir uns sahen , ob täglich oder nur jährlich , war es uns ein Fest .
Und wenn ich in Zweifel und Zwiespalt geriet , brauchte ich nur ihre Stimme zu hören , um die Stimme der Natur selbst zu vernehmen .
Sie starb , als eine verderbliche Kinderkrankheit herrschte und sie sich mit ihren hilfsbereiten Händen in eine ratlose Behausung armer Leute stürzte , die mit kranken Kindern angefüllt und von den Ärzten abgesperrt war .
Sonst hätte sie leicht noch zwanzig Jahre leben können und wäre ebensolang mein Trost und meine Freude gewesen .
Ich hatte ihr einst zu ihrem großen Vergnügen das geschriebene Buch meiner Jugend geschenkt .
Ihrem Willen gemäß habe ich es aus dem Nachlaß wiedererhalten und den anderen Teil dazugefügt , um noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln .

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TextGrid Repository (2025). Keller, Gottfried. Der grüne Heinrich: Teil 4. Bildungsromankorpus. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0g0.0