Der Knabe im Zwinger Im Zwinger steht noch das Haus , rissig und grauwandig , allen Winden offen , den milden wie den rauhen , die sich an den vier Ecken stoßen .
Dicht unter dem First hängt die Dachstube vor , einem Vogelbauer ähnlich , klein , eng , bescheiden in sich geduckt .
Heulend blies der Wind in einer Märznacht des Jahres 1886 um das graue Haus .
Das dürftige Lichtlein in der Dachstube bebte und zitterte .
Jeden Augenblick wollte es erlöschen , den aussichtslosen Kampf aufgeben gegen den grimmigen Nordsturm .
Dann wäre die Welt ganz finster gewesen , die zu beschreiten Ernst Löhner sich eben anschickte .
Übermäßig hell war die Welt wohl auch jetzt nicht , doch ein kleines , freundliches Lämpchen spendete immerhin schwachen Schein und ließ die weise Frau sehen , daß sie einem Knäblein hilfreichen Dienst tat .
" Jessas !
Der macht ja net einmal an rechtschaffenen Maßkrug voll " , urteilte die rundliche Hebamme , während sie das Kind aller herkömmlichen Weihen unterzog , die der Mensch bei seiner leiblichen Ankunft zu ertragen hat .
Drei oder vier Weiber der Nachbarschaft waren trotz der frühen Stunde anwesend .
Sie wollten ihre überschüssigen Tränen loswerden , zu welchem Zweck ihnen Entbindung , Kindtaufe oder Begräbnis gleich wert ist .
Es gibt Menschen , die darin ein Vergnügen finden .
Die Weiber füllten den schmalen Raum zwischen Tisch und Wochenbett , steckten die Köpfe zusammen wie Gänse , wenn es donnert , und erzählten erbauliche Geschichten von schweren Entbindungen .
Johannes Löhner saß mitten unter ihnen .
Aufgeregt , fast hilfloser als sein Erstgeborener , und erstaunt aufzuckend , wenn aus dem Stubenwinkel der schrille Diskant des Söhnleins dem Leben einen sehr zornigen Hymnus sang .
Johannes war enttäuscht .
Die auffällige Kleinheit seines Sprossen verletzte sein einfaches Gemüt , denn seine vierkantige Art schätzte am Menschen besonders die Brustweite .
Damit schien es bei seinem Stammhalter nun allerdings nicht hervorragend bestellt .
Gutmütig lächelnd trug die Hebamme den mörderisch schreienden Bengel durch die Stube , hielt ihn seinem Erzeuger unter die Nase und orakelte , auf eine kleine Falte an der Nasenwurzel deutend :
" Der Bub hat Verstand .
Ich kenne mich da aus .
Vor dreißig Jahren ist es gewesen ... "
Andächtig horchte Johannes Löhner auf die Geschichte eines Kindes mit einer Falte unter der Nasenwurzel , das später eine Leuchte im Leben wurde .
Er besaß die unbegrenzte Hochachtung einfacher Menschen vor geistigen Gaben .
Unklar war ihm nur , woher sein Kind solche Gaben haben sollte .
Er wußte von sich genau , daß er die elende Dorfklippschule bis zur Entlassung in der zweiten Klasse geschwänzt hatte .
Doch diese Unklarheit konnte ihn nicht groß anfechten .
Mit gelassenem Stolz nahm er die Glückwünsche von Hebamme und Nachbarinnen entgegen , fuhr übernächtig in den gipsbestaubten Arbeitsrock und ging schwerschrittig in den grauenden Morgen hinaus , seiner täglichen Arbeit nach .
Auf der Straße noch zeterte das gellende Kreischen aus der Dachstube hinter ihm her und gutlaunig brummte er :
" Ob der Saubub wohl noch immer brüllt , wenn ich zum Mittag komme ... "
Wieder war ein Kind vor der Hochzeit gekommen .
Der Zwinger - wo werden arme Leute anders geboren als im Zwinger ? - nahm das Ereignis bemerkenswert ruhig hin .
Die alte Geschichte ...
Der Soldat lernt das Mädchen kennen , genießt bescheidene Sonntagsfreuden und bleibt eines Abends zu lang mit dem Schatz auf der Bank sitzen , was ist da schon dabei ?
Johannes Löhner war wenigstens hernach nicht davongelaufen .
Das wurde ihm von der Welt im Zwinger gutgeschrieben , und selbst Maria Mal glaubte an ein ungewöhnliches Glück , weil sie wußte , daß es nicht alle Männer so halten .
Seit der Entlassung Johannes Löhners vom Militär wohnten die zwei Leutchen zusammen .
Hoch oben in der Dachstube des grauen Hauses führten sie den kleinen Hausstand , so gut das gehen wollte .
Erste Sorge war , arbeitsfähig zu sein .
Das graue Gespenst , das treppauf , treppab durch die Welt des Zwingers schlich , ging nur an Türen vorüber , hinter denen es gesunde , kräftige Arme wußte .
Darum schleppte Johannes Löhner täglich elf Stunden Mörtel und Ziegelsteine , und Maria Mal knüpfte Silberborten , daß ihre Augen brannten .
Das Kind stand dem Sinn eines solchen Lebens im Weg .
Eine Mutter , die arbeiten muß , kann die eigene Nacht nicht opfern .
Der kleine Ernst kam also in Pflege .
Eine bejahrte Witfrau , die gute , alte Lina Sindelmann , nahm den ewigen Schreihals ins Haus .
Sie war eine liebe Seele .
Die fleischgewordene Geduld schleppte sie ihren Pflegling durch alle Räume der bescheidenen Wohnung - es gab nur zwei , ein Zimmer und die giftgrün bemalte Küche - und war eigentlich nur am Sonntag mit der Welt unzufrieden , weil da die Eltern das Kind heimholten .
Sie fühlte sich ganz als Mutter des kleinen Ernst Mal und war es auch , wenn eine Mutter mehr ist als die körperliche Herberge während der neun Monate .
Sie entdeckte das erste Lächeln , sie lenkte die ersten Schritte , und das erste deutliche Wort des Kindes galt ihr .
Von diesen kleinen Begebenheiten wußte Maria Mal nur aus den Berichten der Pflegefrau .
Sie saß diese ganze Zeit im dumpfen Fabriksaal und knüpfte alle Sehnsucht ihres mütterlichen Gefühls in goldene und silberne Schnüre .
Manchmal stieg wohl eine zornige Traurigkeit in Maria Mal darüber auf , daß sie Mutter geworden war , es aber nicht sein durfte .
Diese Traurigkeit zerbrach aber an der harten Einsicht , daß arme Leute geboren sind , zu arbeiten .
Ernst Mal ging ins fünfte Jahr , als sich die Hüterin seiner ersten Kindheit legte und die Welt so geräuschlos verließ , wie sie darin geschaltet hatte .
Am Nachmittag winkte die runzelige Hand noch hinter den Geranien- und Fuchsienstöcken hervor , am Abend lief es durch die ganze Nachbarschaft :
" Die alte Sindelmännin hat der Schlag getroffen ! "
So kam die erste Nacht , die Ernst unter dem elterlichen Dach verbrachte .
Unfaßliches Entsetzen hielt das Lind wach .
Was war mit Mutter Sindelmann geschehen ?
Die zwei nächsten Tage waren voll aufregender Erlebnisse .
Am Mittag gingen Vater und Mutter in ihren besten Kleidern fort , die Mutter einen mächtigen Kranz in der Hand mit einer weißen Schleife daran .
Ernst sollte nicht aus dem Hoftor gehen .
Er machte sich aber , kaum waren die Eltern außer Sicht , auf die Suche nach Mutter Sindelmann .
Sie hatte nur einige Häuser straßab gewohnt , und Ernst stand bald vor dem niedrigen , schmucklosen Haus .
In den engen Hausflur führten vier ausgetretene Staffeln .
Das Haus lag ausgestorben da .
Alles war zum Begräbnis fort , und niemand hörte , als Ernst Mal zaghaft an der Türe von Mutter Sindelmanns Wohnung klopfte .
Hilflos schluchzend sank das Kind auf den alten Abstreifer hin , saß dort , von herzbrechendem Weinen geschüttelt , und rief von Zeit zu Zeit den Namen der Toten .
Da keine Antwort kam , schlug es verzweifelt gegen die Tür und schlief endlich , des Weinens und Wartens satt , auf der Schwelle ein .
Spät abends fand ihn die Mutter immer noch schlafend , die geballten Hände gegen die Wohnung der Toten streckend .
Ein anderes Leben begann jetzt .
Die Eltern fanden , Ernst sei alt genug , sich selbst zu hüten .
Sie freuten sich herzlich des ersparten Kostgeldes und redeten ernsthaft mit ihrem Sohn , sich der Freiheit wert zu erweisen .
Jeden Morgen hieß es , mit den Eltern aufstehen .
Bei armen Leuten ist alles genau ausgerechnet , auch der Schlaf .
Dann zog Maria Mal den schlaftrunkenen Buben an , strählte das im Wirbel borstig abstehende Braunhaar und drückte Ernst eine Brotscheibe in die Hand .
Dabei stand sie immer schon mit einem Fuß auf der Treppe .
Da blinzelte nun der kleine Ernst in den nebelnden Herbstmorgen , das ausgewaschene Zwillichröcklein am Leib , unter dem die halblangen Hosen neugierig vorguckten .
Das schäbige Zwillichröcklein schützte mütterliche Wirtschaftlichkeit noch durch eine Wachstuchschürze .
Langsam trollte Ernst über die Straße , zog die Hosen an , die heftig zum Herunterfallen neigten und verschlug sich in das wellige Gelände von Schutthaufen , kleinen Kehrichthalden und Schottersteinbergen , die er von der elterlichen Wohnung aus ständig sah .
Dort saßen schon ein Dutzend Spielgenossen , ältere und jüngere , ernst und sachlich mit der Untersuchung der verschiedenen Haufen befaßt .
Ernst hatte nur wenig Glück bei diesem Bergwerksbetrieb .
Mehr als rostige Nägel oder einen invaliden Kochtopf hatte er noch nicht gefördert .
Daran läßt sich leicht das Glück ermessen , daß er eines Tages einen Öldruck ausgrub .
Es war darauf ein Reiter zu sehen , der mit gezogenem Schwert vor sich hinwies .
Er hatte einen herrlich blauen Panzer an und auf dem Kopf einen adlergeschmückten Helm .
Die anderen Buben kamen in Bewegung und an seiner blutigen Nase konnte Ernst ermessen , wie groß ihr Neid war .
Nach heftigem Geräuf war er in den Hof geflüchtet und saß jetzt im hintersten Winkel der sicheren Zuflucht , trunken von Glückseligkeit über dem wunderbaren Schatz .
Im Übermaß der Wonne streckte sich Ernst bäuchlings auf den Boden , breitete den Bogen vor sich hin und beschwerte die Ecken mit Steinen , die er als rechter Bub immer in den Taschen trug .
Dann vertiefte er sich in die grellfarbige Herrlichkeit , prägte sich jeden kleinsten Zug des Bildes ein und fand vornehmlich den langen Pferdeschwanz wunderschön .
Beim Mittagessen gab es Kopfnüsse , weil Ernst nach jedem Löffel Suppe vom Tisch wegrannte .
Er fürchtete , der blaugepanzerte Reiter könnte auf Nimmerwiedersehen fortreiten .
Vom Vater wollte Ernst eine Erklärung des Bildes und war sehr befriedigt , daß der Reiter Bismarck hieß und ein Preuße war .
Er wollte auch ein Preuße sein , vorausgesetzt , daß die Preußen wirklich alle reiten und blaue Panzer tragen .
Ob das der Fall sei ?
Der Vater bestritt die Möglichkeit nicht , und Ernst träumte lange nur von Preußen , blauen Panzern und langen Pferdeschwänzen .
So vergingen die Tage bei mageren Suppen und fetten Einbildungen .
Immer hatte Ernst schmutzige Hände und auch sein unkindliches , weil zu scharf geschnittenes Gesicht prangte in allen Zeichen eifriger Wühlarbeit .
Die Mutter schalt , aber davon wurde Ernst nicht sauberer .
Arme Kinder haben keine Gärten mit reinlichen Sandwegen .
Sie treiben sich in Schuttgruben und Bauplätzen umher , fallen wohl auch in eine Mörtelpfanne und riechen selten gut .
Ernst trug seinen Zwillichrock nun schon im dritten Jahr .
Er war ihm noch nicht zu eng .
Wachteln und Kaldaunen kamen daheim nicht auf den Tisch , und blaue Griessuppe ist kein Mästfutter .
Bis ihm vom Wohlleben die Knöpfe aus dem Zwillichrock sprangen , hatte es gute Weile .
Manches liebe Mal saß er auf seiner Schutthalde und trug herzliches Verlangen nach einer Scheibe Brot , wenn ihm doch jetzt ein kleineres Mädchen in den Weg laufen wollte , das an einem Schmalzbrot kaute !
Was glaubt ihr würde Ernst machen ?
Natürlich seinen Teil von dem Brot nehmen , wenn das Mädchen nicht freiwillig abgeben wollte , und es würde schon nicht wollen .
Eifrig spähte Ernst die pfützendurchwirkte Straße entlang , ob ihm nichts in den Weg laufen wollte .
Nichts , gar nichts ...
Nur ein Wagen lenkte um die Biegung und schaukelte leicht stoßend näher .
Sonst war Ernst den Wagen nicht abgeneigt .
Doch was sollten jetzt Steine , wo er Lust auf Brot hatte ?
Der Kutscher dröselte neben dem Fuhrwerk her , holte zu einem knallenden Peitschenschlag aus und pfiff gedankenlos durch die gespitzten Lippen .
Ernst sah gelangweilt und hungrig auf Wagen , Pferde und Kutscher , plötzlich riß es ihn von seinem Platz .
Starr den Blick auf das Handpferd gerichtet , kreuzte Ernst knapp vor dem Wagen die Straße , wofür er einen elenden Lausbuben zu hören bekam , lief einige Schritte voraus , blieb stehen und ließ das Fuhrwerk vorbei .
Dieses Spiel wiederholte er mehrmals .
Neben einem stumpfen , abgearbeiteten Fuchs ging ein hochbeiniger Schimmel im Zug .
Der stolze Bau des Schimmels , seine edle Kopfhaltung rissen Ernst mächtig hin und lösten eine dumpfe , unklare Ergriffenheit aus .
Jeden Tag kreiste seine Sehnsucht um das Tier .
Er wartete auf den Wagen , nahm die polternden Schimpfreden des Kutschers verächtlich hin , wenn er ganze Straßen weit neben dem Schimmel herging und war ganz dem Bild des edlen Tieres verfallen .
Ernst träumte nachts von seinem Schimmel und bewahrte lange den Glanz aus diesen Träumen .
Auf dem Schimmel ritt Ernst aus dem grauen Land seiner Kindheit .
Ernst ging gern in die Schule .
Darin bewies sich die Unkindlichkeit seines Wesens .
Die anderen Gören des Zwingers sträubten sich gegen die Schule und gingen durch , wo sie nur konnten .
Anders Ernst .
Stolz die Schiefertafel unter die Achsel geklemmt , sah ihn der Zwinger täglich viermal über die Straße laufen .
Das Schwämmchen flatterte an einer Schnur lustig hinterdrein .
Die geheimnisvolle Welt des Abcs hatte für ihn gar keine Schrecken .
Hinter jedem Buchstaben witterte er unerhörte Abenteuer , die zu erleben er heftig den jungen Geist spornte .
Die Lehrer wunderten sich über die leichte Auffassung und hielten den Taglöhnersbuben für einen ausgemachten Windhund .
Rasch begriff Ernst seinen Vorteil .
Er war stolz und gönnerhaft gegen die weniger Begabten , hämisch und ausfallend gegen einige , die ihm glücklich nachstrebten und verschlossen gegen alle , Lehrer wie Mitschüler , als hätte er ein tiefes Geheimnis zu hüten .
Von großer Reizbarkeit griff Ernst mit Worten und mit den Fäusten jeden an , der etwa auf sein oder der anderen armen Kinder Aussehen anspielte .
In der dritten Klasse saß auf der Bank vor ihm ein derber , breiter Bengel , Sohn eines protzigen Pfragners .
Der liebte es , mit noch ewigen gleichgestimmten Seelen , ärmere Kinder zu hänseln .
Die Mutter achtete sonst peinlich auf alle Löcher in des Buben Kleidung .
Aber einmal mußte sie doch einen Riß in Ernstes Hose übersehen haben , denn mit triumphierendem Geheul zerrte der dicke Pfragnersbub Ernst das Hemd aus dem Hosenboden .
Blutrot stand Ernst vor dem Ausbruch schallenden Jubels und duckte sich , das Übel zu verbergen , scheu in seine Bank .
Draußen wartete er zitternd vor Wut auf den Feind .
Ohne Plänkeleien einzuleiten , über die Bubenkämpfe selten gedeihen , sprang er den Pfragnerssohn an .
In wütender Umschlingung wälzten sich die beiden Körper durcheinander .
Ernst war nur ein schmächtiger , wenig ansehnlicher Knabe , doch er besaß die gefährliche Flinkheit aller Kinder , die sich viel im Freien tummeln .
Bald kniete er auf dem schwerfälligen Gegner und drosch sinnlos auf ihn ein .
" Du Hund , da ... du Hund ... da ... da ... "
Er zitterte am ganzen Körper , und die hellen Tränen kollerten über das verschrammte Gesicht .
Bis eine kräftige Faust ihn unsanft von seinem Opfer riß und derbe Ohrfeigen um seine Backen prasselten .
Der Vater des Besiegten hatte eingegriffen .
" Wart , du Bankert ! Dir will_es ich_es versalzen , ehrlicher Leute Kinder zu prügeln , wo du froh sein kannst , daß sie überhaupt mit dir zusammen sein mögen ... "
Ernst spürte die Schläge eigentlich gar nicht .
Nur die rohen Worte klangen ihm donnernd in die Ohren .
Er stand einen Augenblick wie in tiefer Überlegung , rannte dann blitzschnell zu einem Steinhaufen , wo er eine Handvoll Steine aufraffte , und schleuderte unter unflätigen Worten dem Mann die Steine nach .
Der begnügte sich , mit der Faust zu drohen .
Noch speiend vor Wut rannte Ernst geraden Laufs zur Mutter .
Er wollte wissen , was ein " Bankert " ist .
Maria Mal hatte die Frage noch nicht richtig gehört , da stürmte sie auch schon in die Wohnung des Pfragners .
Wenige Minuten später lag der halbe Zwinger in den Fenstern und lauschte vergnügt dem Stimmengewirr aus dem Neidnerschen Laden .
Maria , schnell zu Entladungen bereit , fragte mit schallender Stimme , ob man vielleicht erst einen vollgefressenen Heringsreiter fragen müßte , ob er etwas zu dem Buben zahle , ob er sich vielleicht nochmal unterstehe , den Buben zu schlagen , und ob sie ihm den Korb ins Gesicht werfen solle , wenn er nicht hinter dem Ladentisch bleibe .
Am Abend kam für Ernst das Nachspiel in Gestalt einer Tracht Prügel .
Man hatte bei dem Pfragner bisher borgen können .
Das war nun vorbei , und Ernst mußte dafür mit Fug und Recht büßen .
Wilder Groll verblieb Ernst aus diesem Erlebnis .
Er grübelte umsonst , warum er gehauen worden war .
Die Kinder um ihn hatten es schwer .
Ernst puffte und knuffte alles , was schwächer war und stürzte sich in jedes Handgemenge zwischen feindlichen Brüdern , mochte es ihn angehen oder nicht .
Außerdem wurde er noch scheuer und zog sich ganz in eine selbstgeschaffene Einsamkeit zurück , die er mit bedenklichen Bücherhelden bevölkerte .
Rinaldo Rinaldini , der bayrische Hiesl , Leichtweiss und ähnliche Romanhelden der Vorstadt waren die Gäste seiner Einsamkeit .
Die billigen Hefte lagen überall herum , und wer hätte Zeit und Verständnis gehabt , Ernst vor dieser ehrenwerten Gesellschaft zu warnen ?
Vier Klassen Volksschule hatte Ernst hinter sich , als es einem gutherzigen Mann einfiel , ihn zu verpflanzen .
Der Vikar Blume nahm den kleinen Ernst gelegentlich in seine Wohnung und fragte nach den häuslichen Verhältnissen .
Der junge Vikar war ein Christenmensch .
Das erkannte jeder , der ihn nur einmal " Jesus " sagen hörte .
Es lag darin eine kindlich gläubige Betonung , ganz fern jener anmaßlichen Vertraulichkeit zünftiger Kirchenlichter , die immer so tun , als wären sie Gott Vater , Sohn und heiligem Geist persönlich bekannt .
Der Vikar wolle mit ihnen sprechen , richtete Ernst eines Tages den Eltern aus .
Johannes beutelte den schwarzen Wollschopf und Maria wechselte in zwei Minuten dreimal die Schürze .
Immer wieder blies sie ein gar nicht vorhandenes Stäubchen von den billigen Abzahlungsmöbeln .
Als der Vikar endlich kam , knickste Maria Mal aufgeregt , wischte zum zehnten Male Staub und lud den Besucher ein , sich zu setzen .
Johannes gab den Versuch einer Verbeugung schnell auf , kaute einen halben Gruß und hielt die schweren Arbeitshände krampfhaft hinter dem Rücken .
Er verließ sich ganz auf Maria und auf sein frischgewaschenes Hemd .
Er starrte den Besuch in unverhohlener Hochachtung an , und alles schien ihm an dem jungen Geistlichen bemerkenswert .
Der langschößige Rock aus schwarzem Tuch , die goldene Brille , vornehmlich aber die weißen , gepflegten Hände , die sicher auf der Tischdecke ruhten .
Gottes Wunder !
Solche Hände gab es also auch auf der Welt .
Maria hatte sich bald gefaßt .
Sie war nicht umsonst in der Großstadt aufgewachsen .
Ohne zu reden , schoß sie aus der Tür .
Mit Schwarzbrot , Butter , Käse und einem riesigen Rettich kehrte sie zurück .
Diese Leckerheiten stellte sie vor den Gast , hielt erst einen ziemlichen Vortrag über Wert und gute Beschaffenheit der einzelnen Waren zusamt den Quellen , aus denen sie flossen , und endete mit der Aufforderung , zuzugreifen .
Johannes fühlte dunkel , daß er nun auch etwas tun müsse .
Er fingerte bedächtig im rechten Hosensack , holte ein Markstück heraus und händigte es Ernst mit den gewichtigen Worten ein :
" Lauf , Bub !
A Maß Bier für 'n Herrn Pfarrer ! "
Vikar Blume fühlte hinter der plumpen Form die gute Absicht und hinderte nicht .
Rettich und Bier schlug er allerdings aus und bat dafür um eine Tasse Milch , was Johannes zu der tiefen Überlegung bewog , ob nun Bier oder Milch besser für den Menschen sei .
Dann kam der Zweck des Besuchs an die Reihe .
Vikar Blume wollte Ernst in die Realschule geben , was die Eltern dazu sagten ?
Allerhand Einwendungen , in sehr gedrücktem Ton vorgebracht , brachten das Gespräch schließlich auf den Kern der Sache .
Der Vikar möchte wissen , was die Eltern in der Woche verdienen .
Vater Johannes spielte im Leben meist den stummen Zuschauer .
Die unvermittelte Frage verwirrte ihn deshalb .
Als wäre die Antwort auf dem Grund des Bierkrugs zu finden , tat er einen gedankenvollen Schluck , bevor er herausdruckste :
" Sind halte bloß 28 Pfennig die Stunde und elf Stunden arbeiten wir .
Dann gibt es a Nacht oder an Sonntag Kalk löschen .
Dafür zahlt der Meister 40 Pfennig . "
Der Vikar war schnell mit der Rechnung fertig .
Der Mann 18 , das Mädchen 6-7 Mark , jedenfalls nicht über 25 Mark , in der Woche :
Da ließ sich allerdings nicht ans Studium denken .
Er versprach tatkräftige Beihilfe und bekam die Zusage .
Vikar Blume war aber auch Geistlicher , und die Gemeinschaft der zwei Leutchen gefiel ihm nicht .
Weder Johannes Löhner noch sein Mädchen hatten es bislang notwendig gefunden , auf einem roten Samtschemel zu knien und das berühmte laute und deutliche " Ja " zu sagen .
Johannes wußte sich ganz frei von diesem Bedürfnis , denn einmal redete er nicht gerne , und dann war die Unehelichkeit in seiner Familie Überlieferung .
Seit drei Geschlechtern hatte es in der Familie keine Trauung gegeben vom Großvater ab .
Weiter reichte die Überlieferung nicht .
Wesentlich lebhafter griff Maria den Gedanken auf .
Sie empfand es lächerlich , daß ein Mädchen von zweiunddreißig Jahren , Mutter von vier Kindern , immer noch " Fräulein " angeredet wurde .
Vikar Blume hatte an ihr eine Verbündete , und da Johannes nur gleichmütig die Augenwimpern hob , nahm er auch sein Einverständnis an .
Die besorgten Hinweise auf die Kosten der Hochzeit beschwichtigte der Vikar mit der Zusage seiner Unterstützung .
Sehr befriedigt über den Besuch erhob sich Blume vom Plüschsessel ( Maria hatte ihn von der Nachbarin entliehen ) und nahm herzlichen Abschied .
Er reichte Johannes und Maria die Hand , strich Ernst gütig über das drahtige Haar und verließ freundlich grüßend die Wohnung .
Maria dienerte , bis der letzte Zipfel des schwarzen Rockes verschwunden war , und Johannes rieb tiefsinnig die schwieligen Hände aneinander .
Er dachte über die weiche Hand des Geistlichen nach und murmelte kopfschüttelnd vor sich hin : " wie Butter ... wie Butter ... "
Ernst ging zur Realschule .
Die Aufnahme war spielend bewältigt worden .
Er tat sich viel zu gut , trug auf steifem Halse das Abzeichen seiner neuen Würde - eine grüne Mütze mit weißblauem Band - und verachtete aus ehrlichem Gemüt die Kameraden der gewöhnlichen Volksschule .
Das hinderte aber nicht , ihnen die Zunge krampfhaft herauszustrecken , wenn sie seinen Weg kreuzten oder ein hitziges Gefecht anzubinden , was immer geschah , sobald einer nach der grünen Mütze schielte .
Diese Mützen waren den Volksschülern ein Dorn im Auge .
Konnten sie eine erschnappen , so war der Jubel groß .
Ernst verteidigte sein Heiligtum stets siegreich und bläute manchen guten Freund darum brav aus .
Sein Hochmut fachte Erbitterung bei den Kindern des Zwingers an .
Ernst merkte bald , daß er Feinde hatte , die ihm den Verrat an der Vergangenheit nicht vergessen wollten .
Aber er reckte die Nase nur noch höher und verschwor laut , jemals wieder mit einem Volksschüler zu spielen .
War Ernst aus dem alten Kreis getreten , der neue Kreis nahm ihn nicht ohne weiteres auf .
Die Söhne wohlhabender Metzger und Wirte taten Ernst durchaus nicht den Gefallen , zu hofieren .
Sie suchten ihn wohl gelegentlich bei Schularbeiten auszunützen , gingen aber nicht gern mit ihm auf der Straße , weil Ernst ziemlich schäbig und fadenscheinig daherkam .
Auch die sonderbare Doppeltheit seines Namens war ihnen unheimlich .
Sie hießen alle wie ihre Väter .
Der Tagelöhnerssohn trug den Mutternamen .
Woher das kam , erfuhren sie auf Umwegen .
Diese auffällige Eigenschaft sollte Ernst übrigens bald verlieren .
Der Same des Vikars Blume ging auf .
Die Eltern würden heiraten .
Daheim verlautete kein Sterbenswörtlein davon .
Durch den Kassenvorstand erfuhr Ernst von der Hochzeit der Eltern .
Er wurde für einen Tag beurlaubt .
Der seltene Festtag brach für Ernst wenig verheißungsvoll an .
Er wollte die Festlichkeit mit längerem Schlaf anfangen .
Das fand die Mutter nicht notwendig , und sie goß ihm , als alles Rütteln und Schütteln nichts half , Wasser über den Kopf .
Ernst bemurrte diesen nassen Anfang , beruhigte sich aber , als ihn der Vater mit einigen Ohrfeigen abtrocknete .
Um Platz zu schaffen , war das Zimmer zu räumen , worin die Familie wohnte und schlief .
Mit dem Vater schleppte Ernst die Betten auf den Speicher , im Waschboden wurden sie verstaut .
Der Vater klemmte sich zum Überfluß den Finger bei dieser Arbeit , was die Stimmung nicht hob .
Aber es sah in der Wohnung doch prächtig aus .
Die sonst in zwei Zimmer geteilte , enge Wohnung war eine neue Einheit , die Ernst gleich abmessen mußte .
Genau neunzehn Schritte von einer Wand zur anderen .
Drei Tische ( zwei davon freundnachbarlich ausgeborgt ) bildeten eine lange Tafel .
Die Tische waren verschieden hoch , so daß es auf der Fläche bergan und bergab ging .
Mit hochrotem Kopf kam Johannes Löhner aus der Nachbarswohnung , die als Ankleideraum diente .
Nach heftiger Anstrengung war die stämmige Gestalt in den Gehrock geschlüpft , prustend nestelte Johannes den engen Kragen zurecht und mühte sich umsonst , die breiten Fäuste in die Stoffhandschuhe zu zwängen .
Der gequetschte Daumen spottete aller Mühe .
Schließlich erlaubte Maria , die Handschuhe im Rockschoß unterzubringen .
Besser ging es mit der bräutlichen Einkleidung .
Maria sah in ihrem weißen Kleid sogar recht vorteilhaft aus .
Mit 32 Jahren , und wenn man seit der Schulentlassung in die Fabrik geht , ist die Schönheit weg .
Heute lebte Maria wieder einmal auf ; froher Glanz lag in den Augen und sanftrosiger Schein über den Wangen .
Drunten polterte der Hochzeitswagen vor .
Ein behendes Männlein schoß eilig in das Haus und bremste knapp vor dem Hochzeitspaar , die aufgeregt fliegenden Rockschöße in elegantem Schwung beruhigend .
Von dem Lohndiener begleitet , der um sie sprang wie ein Dackelhund um ein Katzenpaar , bestiegen Johannes und Maria die Kutsche .
Bewundernde Anmerkungen des ganzen Zwingers folgten nach .
Ernst , der sich keine Einzelheit des Tages entgehen lassen wollte , erhaschte bei der Abfahrt noch , daß dem Vater der angejahrte Zylinderhut entsprang , was ihm so köstlich vorkam , daß er aus vollem Halse lachte .
Armer Leute Fest hat den Magen zum besten Gast .
Auch bei dieser Hochzeit wurde geschmort und gebraten , gebacken und gerührt , daß der ganze Zwinger nach den Wohlgerüchen duftete .
Die Hochzeiter kamen zurück .
Johannes lachte dröhnend über die reichlich schwülstigen Glückwünsche , drehte sich mit vom Leib abgehaltenen Rockschößen zweimal um die Achse und hieb seine neue Frau derb auf die Schulter .
" Ätzt hätte mersch , Alte !
Ätzt darf ka Mensch mehr " Fräulein " zu dir sagen . "
Fast zwei Stunden vergingen mit Kauen und Schlucken .
Punkt drei Uhr öffnete Johannes den letzten Westenknopf und meinte stillvergnügt , der Mensch müßte eigentlich zwei Mägen haben .
Dann stand er auf , blickte unsicher durchs Fenster und verschwand mit fliegendem Rock , was sollte er jetzt daheim machen , wo die Weiber ihren Kaffeeklatsch vorbereiteten ?
Da ging ein vernünftiger Mann lieber zum Bier .
Im Wirtshaus " Zum roten Roß " fanden sich nur zwei Gäste , fragwürdige Gestalten , bei der Erfindung der Arbeit sicher unbeteiligt .
Bei der Ankunft des feierlich gekleideten Hochzeiters steckten sie die Köpfe zusammen und schnupperten erwartungsvoll .
Sie witterten billiges Vergnügen und die Witterung trog nicht .
Bald ächzte der Tisch unter dem Aufprall harter Knöchel und weil ein rechtschaffener Kartenspieler immer findet , daß nur der andere Fehler macht , setzte es nach jedem Spiel laute Bemerkungen .
Dabei wurden aber nicht die vollen Krüge vergessen , denen der Wirt wahrhaft rührende Aufmerksamkeit widmete .
Vollkommen zufrieden mit seinem Hochzeitstag spielten Johannes und die Tagediebe bis in die Dämmerung .
Möglich , daß der neue Ehemann überhaupt auf die häusliche Feier vergessen hätte , wären nicht Abgesandte erschienen , die an die Pflicht mahnten .
Die festliche Gesellschaft war inzwischen angetreten .
Vikar Blume war auch gekommen und sah befriedigt auf sein christliches Werk .
Die Traurede vom Vormittag ergänzte er durch erbauliche Betrachtungen über die Schönheiten des Ehestandes , von allen Anwesenden andächtig hingenommen .
Als der Vikar einen Lobgesang auf die Häuslichkeit anhob , rutschte Johannes schuldbewußt auf seinem Stuhl , denn Maria rühmte seine Abneigung gegen außerhäusliches Leben .
Wuchtige Schritte polterten die Treppe herauf .
Johannes knuffte hinter dem Rücken des Vikars nach Maria , die entschuldigend zu Blume meinte : " Arbeitskollegen von ihm !
Lauter Landsmänner ... "
In der Tür tauchte ein baumlanger Kerl auf .
Er trug den breitgekrempten Filzhut der ehrsamen Maurerzunft tief in die Stirn gedrückt ; das Gesicht war beschattet und nur ein brandroter Schnurrbart von der Dicke eines Mädchenzopfes zu sehen .
Die Türe war sichtlich für kleinere Menschen berechnet .
" Auweh , Hannes !
Da hat scheint_es der Zimmermo nach an Schneider gemessen .
Hast an niederen Stuhl , sonst hau i a Loch in die Decken . "
Hinter dem Langen drängten weitere vier Männer nach , der Wehner Sixt , ein untersetzter Kerl mit einer Faschingslarve als Gesicht , der Hartl , dürr wie ein Postklepper , der Lengefelder , ein hübscher Bursch in geckischem Anzug und endlich der Herr " Polier " , kenntlich an einer mächtigen Glatze und an dem Zollstock , der zwischen der hinteren Hosentasche und dem Rock achtunggebietend ragte .
Jeder trug ein Paket unterm Arm , der lange Klebe außerdem eine Ziehharmonika am Riemen über der Schulter .
Dem Pfarrer war die Ankunft der rauhen Gesellen unheimlich .
Doch denen war die Anwesenheit des Pfarrers noch unheimlicher .
Sie wagten kaum einen Scherz und benahmen sich recht manierlich .
Ernsthafte und verständige Reden über das Wetter wurden geführt , dabei besonders erörtert , wie lang noch im Freien gearbeitet werden könnte , und einer achtete auf den anderen , daß er beim Trinken nicht zu lange im Krug blieb .
Alles wegen des Vikars !
Nur der lange Klebe rückte unruhig auf seinem Platz .
Schließlich ging er aus dem Zimmer , kam aber gleich wieder zurück , breites Schmunzeln im Gesicht und einen schwärzlichen Hauch auf dem fuchsigen Schnurrbart .
Er war begeisterter Schnupfer und hatte den Zwiespalt von Anstand und Leidenschaft durch sein Austreten gelöst .
Das freute die ehrliche Haut innig .
Als der Vikar aufbrach , gab es ein allgemeines Scharren und Kratzen der Füße und Verbeugungen , wie ehrsame Maurer und Mörtelmacher sie eben im Gelenk haben .
" Feiner Mann , der junge Herr Pfarrer " , urteilte der lange Klebe .
" Aber ich halte es mit die Pfarrer doch wie derselbige Bauer , der gesagt hat : Weißt , Nachbar , unseren Pfarrer siegh i am liebsten in der Kirche .
Da kann i ihm ausweichen ...
Net einmal rechtschaffen schnupfen kannst .
Aber ätzt san mir unter uns Pfarrerstöchter .
Magst , Hannes ? "
Die Dose wanderte reihum und schnell war die erbauliche Stimmung verschwunden .
Johannes legte den Rock und den zerweichten Hemdkragen ab .
In so bequemem Anzug setzte er sich an das Kopfende der Tafel .
Alle anderen folgten dem Beispiel , bis auf den Lengefelder , der nicht schlecht gehänselt wurde , weil er als einziger Rock und Kragen anbehielt .
Er griente aber bloß und zupfte herausfordernd die großgeblümte Binde vor .
Der lange Klebe bearbeitete sein Maurerklavier nach allen Regeln der Kunst .
Er zog den Balg mit athletischer Kraft und machte keine sehr reine , aber eine sehr laute Musik .
Märsche , Lieder , Tänze wechselten .
Hartel und der " Polier " , die sich für verkannte Sänger hielten , wetteiferten mit dem langen Klebe um die Oberherrschaft im Reich der Töne und setzten ihre ganze Stimmkraft daran .
Bald sang alles , die Hochzeiter eingeschlossen .
Gestern Abend , spat in stiller Ru-hu , hört ich im Wald wohl einer Amsel zu-hu .
Und als ich draußen saß und meiner ganz vergaß , da kam die Amsel , sie schmeichelt sich an mi-hich und küsset mi-hich .
Die Endsilben jeder Zeile wurden endlos hinausgezogen und erstarben in sanftem Säuseln .
Die werbende Wirkung blieb nicht aus .
Zuerst bezogen die Hausgenossen Posten im Flur ; bei schicklicher Gelegenheit wollten sie einer Einladung folgen .
Dann kamen die Nachbarn , und bald saßen wohl an zwanzig Menschen im Zimmer , dazu noch ein halbes Dutzend Flurgäste .
Hochzeitliche Kleider hatten außer dem jungen Ehepaar und vielleicht dem Lengefelder kein Mensch an . wie sie dem Zug ihres Herzens gefolgt waren , in Pantoffeln , in Schlappschuhen , ohne Weste und im Unterrock saßen die Menschen da und freuten sich wie Schneekönige .
Es gab reichlich zu essen und überreichlich zu trinken , denn man wußte im Zwinger , was man bei einer Hochzeit zu fordern hat .
Ernst stand betäubt mitten in dem Trubel .
Angenehme Schlaffheit besaß ihn .
Zuweilen bewegte ihn der heftige Drang , mitzutun .
Dann griff er nach einem leeren Glas und reichte es dem langen Klebe , der das Amt des Kellermeisters versah .
Der zwinkerte mit den schon etwas biertrüben Augen , munterte den Buben zu vollen Zügen auf und Ernst machte es den anderen treulich nach .
Merkwürdig , daß er so viel klarer und schärfer sah und für Augenblicke über dem Fest schwebte , als wäre es weit , weit weg von hier .
Er trank weiter , wurde aber mit jedem Schluck widerstandsloser gegen die andringende Erschöpfung .
Teilnahmslos setzte er sich auf einen Stuhl und starrte krampfhaft in das Geflirre der wirbelnden Menschen .
Er sah die Mutter mit dem Lengefelder walzen , der noch immer standhaft in Rock und Kragen aushielt ; er glaubte , die Mutter lächeln zu sehen , doch ging alles unter in dem übermäßigen Wunsch nach Schlaf , nach Ruhe , nach Fernsein .
Sich aus dem Zimmer tastend , kroch Ernst die Bodentreppe hinauf und sank in den Kleidern auf die Betten nieder , wie aus weiter Entfernung hörte er noch grölen , dann fiel alles : Fest , Eltern , Menschen und eigenes Bewußtsein in ein endlos tiefes , schwarzes Loch ...
Die Löhners tauchten wieder im Alltag unter .
Nach vierundzwanzig Stunden war die Welle ihres Hochzeitsfestes verrauscht .
Johannes schleppte seine Ziegelsteine , die nicht leichter wurden , weil sie jetzt auf verheiratete Schultern drückten .
Die Stunden setzten ihren grauen Reigen fort und längst stand der Hochzeitstag wie ein seltsamer Fremdling aus Traumland abseits des trüben Kreises .
Ernst kostete die Eltern Geld .
Wohl war er Freischüler , und sein Gönner , der Vikar Blume , trug manche kleine Last .
Die Eltern rechneten aber jeden Pfennig aus und mußten rechnen , und seufzten über jeden Zeichenbogen , der notwendig war .
Nur die wirklich ausfallenden Fortschritte des Buben ließen es gewagt scheinen , das angefangene Studium vorzeitig abzubrechen .
Die Eltern sonnten sich in dem Gedanken , ihren Sohn einmal als Lehrer zu sehen , und dieser Gedanke erleichterte die drückende Last der Ausgaben .
Ernst war mit der Schule unzufrieden .
Er lernte leicht , tat überhaupt nichts , weil er sich auf sein wunderbares Gedächtnis verlassen konnte , und raunzte mit den Eltern , weil er nicht besser angezogen war .
Gelegentlich mit Kameraden in deren elterlichem Haus stieg ihm der Unterschied schmerzhaft auf zwischen guter Bürgerlichkeit und dem eigenen Heim .
Da quoll manchmal wilde Bitterkeit auf .
Warum mußten gerade seine Eltern arm sein ?
Der dumme Kraft kam schon wieder im schönen , blauen Matrosenanzug daher .
Er ging das zweite Jahr in seiner grauen Kammgarnhose , die sieben Flecken aufgenäht zeigte .
Donnerstag nachmittag von 4-5 Uhr war Turnstunde .
Davor zitterte Ernst seit Tagen .
Seine Schuhsohlen waren durch und trotz inständiger Bitten hatte er bei der Mutter die Reparatur nicht erreicht .
Ernst , fiebernd vor Angst und vorerlebte Scham , stand in Reih und Glied .
Er dachte , den Lehrer wegen Unwohlseins um Befreiung zu bitten .
Es war nichts damit , weil Notenturnen stattfinden sollte .
Immer näher kam die Reihe an Ernst , der sich wirklich krank fühlte .
Jetzt hieß es auch schon antreten .
Der Turnlehrer verstand den flehenden Blick des Knaben nicht .
Ungerührt kommandierte er seine Übungen und fuhr Ernst barsch an , der vor dem Reck beim Aufsprung zögerte .
Halb sinnlos und doch von grausam bohrenden Gedanken wachgehalten , führte Ernst das Hochheben der Beine in die Waghalte aus .
Langsam hoben sich die zerrissenen Schuhsohlen und enthüllten ihr Geheimnis .
Im Wegtreten hörte Ernst leises Kichern und sah grausam spöttische Augen auf die Stelle gerichtet , wo sein Fuß durch den Schuh die blanke Erde trat .
Aufgebracht stieß Ernst die nächsten im Glied zur Seite , stellte sich verkniffenen Gesichtes an seinen Platz und schaute starr , ohne sich während der ganzen Stunde vom Fleck zu rühren .
Dieses Erlebnis bewirkte eine Wandlung im Betragen Ernst Löhners .
Er war beileibe kein musterhafter Schüler , doch hatte er sich bisher den Schulvorschriften angepaßt .
Jetzt war ihm alles gleich .
Es regnete in den nächsten Wochen Vermahnungen , Verweise , Arreststrafen , ohne die ingrimmige Aufsässigkeit des Knaben zu berühren .
Wo er etwas gegen die geheiligte Ordnung unternehmen konnte , tat Ernst es voll ehrlicher Wonne .
Er ärgerte Lehrer , Mitschüler und alle , die ihm in den Weg kamen .
Im deutschen Aufsatz mußte das bekannte Schwabsche Gedicht " Der Reiter und der Bodensee " nacherzählt werden .
Ernst ließ den Reiter nach seinem glücklichen Ritt nicht sterben , wie die Vorlage verlangt , sondern erfand einen glücklichen Ausgang des Abenteuers .
Diese Selbständigkeit wurde mit einer schlechten Note bestraft , was Ernst ärgerte , weil er gerade im deutschen Aufsatz keinen Mitschüler vor sich duldete .
Als der Lehrer die Note verlas und hinzusetzte , daß die Arbeit sehr gut , aber nicht nach der Vorlage sei , ballte Ernst die Fäuste unter seiner Bank .
Natürlich grölte die ganze Bande vor Vergnügen über den Schluß , den er zur Strafe vorlesen mußte .
Auf dem Heimweg schlug Ernst dem lautesten Schreier die Nase blutig , was eine Stunde Arrest trug .
Dem Pedell der Schule war Ernst gar nicht grün und als dieser Vorhaltungen über sein Benehmen machen wollte , warf ihm Ernst Schulschwamm , Lineal und zwei Hefte an den Kopf .
Diese Tat machte Ernst zum Helden der ganzen Schule .
Verstohlene Zeichen allgemeiner Hochachtung begleiteten Ernst , der in der Freiviertelstunde vom Pedell dem Rektorat vorgeführt wurde .
Der weißhaarige Rektor sprach Machtworte .
Ernst verteidigte sich trotzig und aufgebracht , redete verächtlich vom Pedell und weigerte sich unbedingt , die verlangte Abbitte zu leisten .
Vier Stunden Karzer und schärfste Androhung des Hinauswurfs waren die Folge .
Erbittert über die hohe , seinem Empfinden nach ungerechte Strafe fiel Ernst im Schulhof mit beißenden Redensarten über den Pedell her und riß sich wütend los , als der Mann Miene machte , ihn am Arm zu fassen .
Unter lautem Beifallsjohlen der Kameraden verbat sich Ernst jede körperliche Berührung .
Von da ab hatte er den Pedell zum unversöhnlichen Feind .
Doch kümmerte diese Feindschaft Ernst nicht groß .
Ernst hatte seit dem Erlebnis in der Turnstunde die Achse seines innerlichen Lebens aus der Schule verlegt .
Lebte er doch auch im Alter der Freundschaften und gemeinsamer Schwärmereien .
Das Armeleutviertel im Zwinger konnte dazu nichts geben .
Außerhalb des Zwingers freundlichere , hellere Welten zu betreten , strebte Ernst nach allerhand Bekanntschaften .
Mit einigen Muttersöhnen , die feinere Hemden auf dem Leibe trugen als er , paukte er Lehrstoff ein , Jahreszahlen und Schlachtdaten , Logarithmen und Gleichungen .
Ihm war das Spielerei , den anderen war es saure Arbeit , die man sich gern durch das fabelhafte Gedächtnis des Taglöhnersknaben erleichtern ließ .
Ernst wurde von den Nutznießern seiner Gedächtniskraft manchmal auch zum Spiel zugelassen , durfte selbst Blicke in ihre Wohnungen tun und verlor immer mehr die Lust am eigenen Daheim .
Schöne , wilde Zeit der Knabenspiele !
Ernst floß über vor Schwärmerei , hielt seine Freunde für Halbgötter und erlesene Wesen und opferte ihnen bestes Gefühl .
Namentlich Otto Lier schien ihm vom Himmel gefallen , weil in allem der eigene Gegensatz .
Sah man den schmalschultrigen , hohlwangigen Ernst , nur die seltsam erregten Augen konnten anziehen , zusammen mit dem großen , gut entwickelten Lockenkopf , dann war die gegenseitige Neigung nicht faßlich .
Ernst hing leidenschaftlich an dem schönen Knaben .
Er gab keine Gelegenheit frei , Otto körperlich nahe zu sein und wählte bei den Ringkämpfen immer ihn zum Gegner .
Sein Blut , das sonst noch ruhig floß , wallte höher unter der Berührung des Freundes .
Ernst stand diesem Gefühl ratlos gegenüber , schämte sich seiner und verbarg es ängstlich .
Erlösung aus dieser ersten Not des erwachenden Blutes brachte die Bekanntschaft mit Ottos Schwester .
Sie wurde an einem Mittwochnachmittag im Garten vor der Stadt gemacht .
Dort versammelten sich regelmäßig die Freunde , gelesene Heldentaten aus Homer oder Lederstrumpf nachzuahmen .
Ernst stellte sich den Garten nach seiner Einbildung vor : Dichtes Baum- und Strauchwerk , ein Springbrunnen in der Mitte , rund herum eine grüne , undurchdringliche Mauer , die der gemeinen Welt den Blick in das Paradies verwehrt .
Von dieser Romantik fand er nichts .
Der Garten war ein Stück Kartoffelfeld , ohne jeden Strauch , wo Ernst den Springbrunnen geträumt hatte , lag halb in die Erde versenkt ein Wasserfaß .
Ernst haßte jede Wirklichkeit , die ihm eine schöne Einbildung zerstörte .
So ging es auch mit dem Garten .
Gleichgültig stocherte Ernst in den Kartoffelbeeten und schob die Oberlippe verächtlich in die Höhe .
Daß aus einer dürftigen Laube Kichern und Tuscheln kam , erhöhte die Laune nicht .
Ernst verachtete die Mädchen .
Er hielt sie für entsetzlich dumm und fand ihre Zöpfe lächerlich .
Ernst kümmerte sich nicht um die vier Mädchen in der Laube .
Er guckte angestrengt zum Himmel und warf Otto patzig hin , mit Mädchen spiele er nicht .
Otto rieb sich verlegen die Hände und dachte nach , wie der Bär zu kirren wäre .
Ernst storchte indessen gelangweilt durch den Garten , fest entschlossen , nicht mitzutun , wenn Mädchen dabei sein sollten .
Ein Bündel Kartoffelkraut flog ihm ins Genick , und als er wütend kehrtmachte , sah er ganz nahe vor seinen Augen ein weiches , sanftes Mädchengesicht .
Die lustigen , rehbraunen Augen schauten jetzt leicht betreten .
Ernst schnitt auch ein zu saures Gesicht .
Zur rechten Zeit tauchte Otto auf und stellte seine Schwester Gertrud vor .
Der hübsche , muntere Backfisch ging schnippisch in eine Kniebeuge , wobei die Augen lockend auf Ernst zielten , wirbelte dann aus dem zierlichen Absatz um die Achse und flog falterleicht zu der anderen Gesellschaft .
Nun schien es Ernst doch , als hätte er just keine sehr glückliche Rolle gespielt .
Verärgert stopfte er beide Hände in die Taschen und blieb breitspurig vor Otto stehen .
An den Spielen beteiligte sich Ernst nicht .
Er hätte am liebsten geheult , weil er sich selbst ausgeschlossen hatte .
Doch jetzt nachgeben , wäre ihm wie elender Verrat erschienen .
Die anderen neckten und hänselten , konnten aber den Stock nicht bewegen .
Als die Dämmerung anhuschte , häufte die Gesellschaft Kartoffelkraut und zündete den Haufen an .
Der eklig beizende Rauch kroch am Boden hin und zog lange , zähe Fäden durch die Beete .
Otto als Gymnasiast wußte um die Geschichte des Mucius Scävola , der seine Hand ins Feuer hielt , bis sie verkohlt war .
Mutig forderte er zur Nachfolge dieses erhabenen Beispiels auf .
Die vier Gespielen Ottos schauten bedenklich .
Ernst lächelte höhnisch , verschränkte die Arme über die Brust und wippte in den Hüften .
Das waren schon die rechten Helden , die mit Mädchen spielten .
Er wollte ihnen aber zeigen , was ein Mann ertragen müsse , der in zwei oder drei Jahren mit dem " springenden Hirsch " auf die Büffeljagd ritt .
Ernst las eifrig Indianergeschichten und war gerade aufgelegt zu einer Probe stumpfsinnigen Heldentums .
Stülpte also die Ärmel hoch und reckte die Hand über die Glut des niedergebrannten Strunkhaufens .
Ernst dachte sich bei der ganzen Sache nichts .
Wie oft hatte er schon ähnliche Proben ausgehalten , sich tätowiert mit Stecknadeln und Kienruß in die Zeichnung gerieben , am Marterpfahl gehangen und starre Gesichter geschnitten , wenn die Schläge auf die Fußsohlen klatschten .
Daran dachte Ernst jetzt und hielt die Handfläche regungslos über die Glut .
Es prickelte und brannte höllisch , und die Linien um Ernstes Mund wurden scharf , als wären sie mit dem Grabstichel gearbeitet .
Zwei braune Mädchenaugen ruhten dunkel und hart auf seinem Gesicht .
Ein fast grausamer Zug spielte lächelnd um den Kindermund , und Ernst ahnte , dieser Mund würde jetzt gleich laut auflachen , wenn nur das kleinste Zeichen von Schwäche dazu Ursache gab .
Ernst schloß die Augen , atmete tief und senkte langsam die Hand auf die Glut .
Bevor er sie noch berührte , fühlte Ernst den Arm heftig zurückgerissen .
Das Mädchen sah ihn blitzend an .
Das Funkeln ihres Auges verblaßte , als sich ihm der schwermütige Glanz des Knabenblicks verband , und ein sanfter , schüchterner Ausdruck stellte sich ein .
Ernst aber fühlte allen Trotz und Groll in sich schmelzen , wenig hätte gefehlt , und er hätte geweint .
Das herbstlich sanfte Lied der Sonne klang ab .
Hinter den Türmen der nahen Stadt verhallte zartes Abendrot .
Eingehakt gingen die Kinder heimwärts , Ernst und Otto voraus , die Mädchen tuschelnd hinterdrein .
Manchmal sah Ernst verstohlen zurück und suchte Gertruds Augen .
Sie glänzten ganz sanft und zärtlich und spiegelten den weichen Schein des abendlichen Himmels wieder .
Ernst bebte in allen Grundfesten seines Gemüts .
Der sichere Bau des Knabenlebens wankte .
Vorstellungen stürzten ein und erschlugen im Fallen alle mühsam errichteten Stützen der jungen Welt . war er denn bis jetzt taub gewesen ?
Stimmen riefen sich in ihm erkennend an , die lange stumm geruht hatten .
Ernst schwang sich aus allen Schranken seiner Welt .
Er raffte das Blaue von unbekannten Himmeln , stahl Sterne und Sonnen und schuf sich eine Erde ganz aus eigenem Stoff .
Bei guter Laune hatte er schon früher zum Gaudium der Klasse gereimt .
Er hatte mit Worten gespielt und staunte oft , wenn er sah , wie sich verwandte Worte finden , ohne daß Verstand die Wege weisen muß .
Jetzt aber dichtete Ernst voll verbissener Hartnäckigkeit .
Er schloß die Augen , um seine nächsten Pflichten nicht zu sehen , rannte , die Nase hoch in der Luft , wunderlichen Schatten nach und hielt Zwiesprache mit dem Wind , dem guten Mond und allen Geistern , die im Wesenlosen schalten .
Die Schule konnte ihm da nur Hemmnis sein .
Er kümmerte sich keinen Deut um Aufgaben und Zeugnisse , saß , von innerlicher Unrast gepeinigt , die langweiligen Stunden ab und warf die Bücher in die Ecke , wenn die Schulglocke ausgeschlagen hatte .
Die Eltern trauten ihm unbedingt .
Sie verstanden gar nichts von Aufgaben und Zensuren und glaubten gern , Ernst schriebe einen deutschen Aufsatz , derweil er einen Reim suchte zu einem neuen Einfall .
Kamen sie am Abend todmüde heim , so waren sie froh , von Ernst nicht geplagt zu werden mit Fragen und Bitten .
Sehr stolz auf den klugen Sohn , hielten sie sich selbst für dümmer , als einem Verhältnis von Eltern und Kind zuträglich ist und dachten nicht daran , einmal auch die Wege des Knaben zu begehen .
Herrliches Schlendern im anbrechenden Abend durch die Straßen der großen Stadt , die heimlicher und traulicher werden , je weiter das Licht entweicht !
Ernst stand an der Anschlagsäule , den Rücken der Gaslaterne zugekehrt und starrte unverwandt nach den Fenstern des ansehnlichen Bürgerhauses gegenüber .
Dort wohnte Gertrud .
Gleich mußte das Licht in der Wohnung aufgehen .
Man konnte da manchmal Schatten hinter den Vorhängen sehen , und es war schmerzseliger Genuß , aus den Umrissen eine Gestalt zu suchen .
Was Gertrud jetzt gerade tat ?
Wo lag eben ihre Hand ?
Ernst wünschte jeden Abend sehnlich , von dieser Hand berührt zu werden .
Gegenstand ihres Zimmers zu sein , beneidenswertes Los !
Ob sie auch im gleichen Zimmer mit Vater und Mutter schlief ?
Vielleicht würde sie sich gerade ausziehen .
Sie mußte schlank und weiß sein , o ja , schlank und weiß wie die Figur , die Ernst heute in der Kunsthandlung gesehen hatte .
In den Groschenheften ist zu lesen , daß der Räuberhauptmann in die Kammer der Gräfin geht .
Was die da drinnen wohl tun mögen ?
Wenn er doch jetzt auch mit Gertrud allein in der Kammer wäre ... "
Erregt atmete Ernst bei diesem Gedanken auf .
Sonderbar , dieses Sausen in den Ohren und Flimmern vor den Augen !
Ging ein Gespenst eben vorbei ?
Er hatte doch ganz deutlich Gertrud gesehen , im Hemd , nein ... ganz nackt ...
Dumme Gedanken , was wollte er denn von dem Mädchen ?
Mädchen sind doch alle entsetzlich dumm und haben lange Zöpfe .
Nein , schrie da wieder eine Stimme , Gertrud ist gar nicht dumm .
Sie ist ein schönes , schlankes Mädchen und verdient , daß man ihr den Mond zu Füßen legt .
Matt ging hinter den Häusern der Mond auf .
Nachdenklich folgte Ernst seiner Bahn , fühlte , wie der weiche Glanz magnetisch an seinen Augen sog und schwärmte fessellos ins ausgebreitete All .
So weich und rund war auch Gertruds Gesicht , und der Glanz ihrer Augen konnte genau so kühl über die Wangen streifen ...
Was tat sie jetzt ?
Wo lag eben ihre Hand ?
... Das Karussell in Ernstes Kopf war wieder an alter Stelle und drehte den gleichen Kreis von vorne .
Drehte den Kreis oft , bis das letzte Licht in dem Hause erlosch und nachtkalter Hauch von den Sternen wehte .
Taumelnd und tief verwirrt machte sich Ernst dann heimwärts , den Kopf schwer gesenkt und Gefühle wälzend , die bis zum Morgen auf seinen Schlaf drückten ...
Die Mutter schüttelte den Kopf zu seinem Aussehen , glaubte aber , daß er zu Besuch bei einem Freund gewesen und mit diesem Schulaufgaben gemacht hätte .
Dreimal besuchte Ernst die Kirche an jedem Sonntag .
Es dünkte ihm nicht genug , im Hauptgottesdienst gewesen zu sein .
Anschließend blieb er auch gleich zum Kindergottesdienst und jeden Sonntagabend sah er die Sonne durch gemalte Kirchenfenster untergehen .
Warum das ?
Aus großer Frömmigkeit und Gottesfurcht ?
Aus Gefühl innersten Zwangs und inniger Erhebung ?
Gott wohnt besser als die meisten Menschen .
Selbst in der ärmlichsten Dorfkirche ist noch ein Schimmer von Schönheit und Augenweide .
Die alte Kirche St. Bartholomä , die Ernst besuchte , ist ein Schatzkästlein einfacher , reiner Formen , und wenn sie am Sonntagvormittag von den sauber gekleideten Leuten besetzt war , konnte man schon glauben , daß die Welt gut und ordentlich bestellt ist .
Daheim verlor Ernst jeden Glauben an diese Ordnung der Welt .
Sie waren fünf Personen und wohnten in zwei Zimmern , keines größer als ein rechtschaffener Schweinestall .
Das eine Zimmer sah zum Hof hinaus , der immer , solang Ernst sich erinnerte , voll Schmutz und Gerümpel lag .
Gleich unter dem Wohnungsfenster stank eine Dunggrube zum Himmel .
Diesen Hof roch Ernst , auch wenn er nicht daheim war .
Der Geruch haftete an seinem ganzen Jugendleben .
Wie anders in der Kirche !
Wenn er die Pforte überschritt , fühlte Ernst eine Welt übler Düfte hinter sich verwehen .
Das verlohnte wohl , ein feierliches Gesicht zu schneiden und die sonst recht aufgeregte Gehweise auf würdige Gemessenheit zu sänftigen .
Dicht vor dem Altar hatte sich Ernst einen in die Wand gelassenen Klappsitz ausgesucht .
Kirchenschiff und Empore ließen sich von da gut überschauen , und wenn Ernst die Augen hinter sich warf , äugelte er drei Reihen zurück mit den Mädchen .
Aus Leibeskräften sang er : Dir , dir Jehova will ich singen , denn wo ist noch ein solcher Gott wie du ? Dir will ich meine Lieder bringen .
O , gib mir deines Geistes Kraft dazu !
Daß ich es tu im Namen Jesu Christ , so wie es dir durch ihn gefällig ist .
Am liebsten hätte er die ganze Stunde gesungen , weil das schöner klang , als wenn von der Kanzel Pfarrer Bäumlein greinte und durch die Nase sprach .
Zauberhafte Stimmung bannte Ernst besonders in die Abendandachten .
Das Schiff atmete in seltsamem Zwielicht .
Die bunten Kirchenfenster lebten stark farbiges Leben , und drunten saßen die Menschen , eins mit dem dämmerigen Halbdunkel , davon sie sich nur manchmal durch eine Bewegung lösten .
Die Orgel rauschte gedämpfter als am Vormittag ; sanft brach sich das Wellen und Schwellen der Töne in den Winkeln , und des Predigers Stimme wiegte sich darüber wie eine weiße Taube .
Ganz verkrochen und klein lehnte Ernst in seinem Sitz , mochte kaum atmen und gab sich völlig auf im Tanz der Lichter und Schatten .
Gott und alle steinernen Heiligen tanzten .
Es waren Märchenstunden ; Welt und Zeit schienen Ernst verwunschen und in das Dornröschenschloß gebannt .
So köstlich war dieses Erleben , daß Ernst keine äußere Berührung zuließ .
Niemand merkte seine Ergriffenheit , die Eltern am wenigsten .
Ihnen war Gott und Kirche weit aus dem Sinn gerückt , obwohl die Mutter streng auf den Kirchenbesuch der anderen hielt und selbst kein Begräbnis versäumte .
Sie wußte sich keine höhere Erbauung , als Grabreden anzuhören .
Doch das eigene Leben nach den Lehren der Kirche zu gestalten , sittlich aus Kirchgang und Grabrede zu gewinnen , lag nicht im Kreis ihrer Entschlüsse , und da Vorbilder immer stärker sein werden als Worte , zog auch Ernst keine Nutzanwendung aus seiner kirchlichen Liebhaberei .
Das Leben predigte nach einem anderen Text als die Ranzel .
Dazu predigte es jede Stunde , nicht wie der Pfarrer nur am Sonntag .
Schön war diese Predigt nicht , o wirklich , gar nicht !
... Ernst sah , wie seine Familie aus dem Leim ging .
Vater Johannes war gewiß ein lieber Mann von beschränkter Ehrlichkeit und unbeholfener Güte .
Jeden Tag , ob es blühte oder schneite , war er mit der Sonne auf , trank den dünnen Kaffee und strich das Zehrgeld vom Tisch , das die Mutter bestimmt hatte .
Wenn der Mond aufging , krachte die Stiege wieder unter dem harten Schritt .
So jahraus , jahrein ohne Änderung und Stockung !
Wie der Gang in einem Göpel , war der Tageslauf des Vaters , und die gleiche Gewalt trieb auch die Mutter ihren Weg .
Nur daß sie nicht stumpf in diesem Zwang wurde , sondern scharf und spitz .
Scharf und spitz in Worten , Meinungen und Taten .
Untrennbar an den Mann geschlossen , empfand der die Stacheln und Dornen zunächst und vornehmlich .
Die Eltern waren sich am Anfang gewiß herzlich gut .
Doch das Leben schmiedete sie enger zusammen , als dem persönlichen Eigennutz genehm ist .
Jeder empfand des anderen Last als eigene Last .
Was geteilte Bürde sein wollte , wurde doppelte Beschwerung .
Was Wunder , daß jedes strebte , von der Kette loszukommen !
Die heftigen Bedrängungen des Lebens erbitterten die beiden Leute gegeneinander und da ihnen die Armut jeden Ausweg verrammelte , stießen sie sich im Käfig ihrer Ehe wund und blutig .
Einer drückte dem anderen die Dornenkrone , die er vom Leben trug , fester und tiefer in die Stirn und hielt sich für den Gekreuzigten .
Schon gleich nach der Hochzeit wurde das Kreuz aufgerichtet .
Bis dahin hatten sich Johannes und Maria schlecht und recht einander angepaßt .
Das gelang ohne viel Aufwand von Rücksicht und doch ohne Roheit .
Mit der Ehe war das vorbei .
Marias herrschsüchtige Art drängte nach dem Zügel , den sie auch bald in der Hand hielt .
Wäre diese Hand nur stark und zielfest gewesen !
Aber sie lenkte nach Laune und Wallung , und da Maria mehr Launen als Haare hatte , ging es in der Familie immer holterdiepolter .
Bei armen Leuten ist Herr im Haus , wer das Geld in der Hand hält .
Maria wußte das sehr genau und wachte mißtrauisch über Johannes .
Seine Arbeit wie sein Vergnügen wurden von ihr geregelt , und da Johannes doch zuviel Mann war , um als Gnade hinzunehmen , was seinem einfachen Sinn Recht schien , rissen die Kämpfe nicht ab .
Es waren immer nur Kämpfe ums Geld , weil mit dem Kampf ums Geld in der kleinen Welt alles zu entscheiden ist .
Freitag war Vaters Zahltag .
Das war immer ein Sturmtag , der sich schon am Morgen finster ankündigte , wenn Maria den Mann zur Arbeit entließ .
Die an den anderen Tagen angesammelte Spannung wetterleuchtete drohend in spitzigen Redensarten und hinwerfenden Bemerkungen .
Am Abend brach dann Blitz und Donner los .
Maria fuhrwerkte in der Küche unter Schüsseln und Tassen , murrte dumpf über das elende Leben und schob Johannes das karge Essen hin , während jede Miene des harten Gesichtes zuckte und zitterte .
Suchte der Vater nach seiner gutmütigen Natur den Ausbruch mit einem schwermütigen Scherzwort zu hemmen , dann setzte Maria ihre bösesten Augen auf , ihre schrille Stimme brach los , und oft endete das Gewitter in einem endlos grollenden Zanken und Reifen .
Johannes , sehr geduldig und nachgiebig , sprach meist gar nichts , schob den Wochenverdienst weiter die Tischkante hinauf und löffelte gelassen weiter .
Diese Ruhe reizte Maria aufs äußerste .
Sie tat jede Rücksicht ab , stampfte wütend auf und schlug die Türen knallend ins Schloß .
Dann erhob sich Johannes bedächtig , wischte den Mund mit dem Hemdärmel und schlüpfte in den Rock .
Die großen Kinderaugen fest auf Maria geheftet , schritt er rückwärts aus der Tür und wurde nicht mehr gesehen .
Im Morgengrauen wankte er heim , die sonst so klaren , guten Augen trüb und gläsern und pfiff eine dumme Wirtshausweise unbeherrscht und doch auftrumpfend vor sich hin .
Ernst stand zwischen den Eltern .
Die kämpfenden Parteien warben um ihn , die Mutter eifrig und unbesonnen , der Vater durch kleine Gefälligkeiten und durch Preisgabe manches väterlichen Sonderrechtes .
Ernst durfte mit ins Wirtshaus , bekam sein eigenes Bierglas und vertrat den Vater beim Tarockspielen , wenn der gerade anderes zu tun hatte .
Die Mutter zog ihn noch näher ins Vertrauen .
Er bekam von ihr Geld zu Naschereien und manchen Bissen , den die Familie nicht zu sehen kriegte .
Er hatte eine feste Stütze , wenn er Dummheiten anrichtete , woran es nie fehlte .
Dann hielt ihm die Mutter eine Stange gegen den Vater und ersparte ihm manche wohlverdiente Tracht Prügel .
Innerlich stand Ernst dem Vater näher .
Die ruhige , sichere , zuverlässige Art des Vaters schien ihm bessere Gewähr als die lebhafte , aber wandelbare , wortschnelle , doch selten aufrichtige Art Marias .
Die größeren Vorteile verschaffte aber zweifellos das Bündnis mit ihr .
Zwischen Neigung und Vorteil eingeklemmt , schwankte Ernst zwischen den Eltern , stand heute auf dieser , morgen auf jener Seite und trug auf allen Achseln Wasser .
Einig ging er mit den Eltern , daß dieses Leben nicht schön sei .
Daß es bei diesem häuslichen Krieg auch für Ernst nicht ohne Wunden abging , zeigte sich schnell unnachhaltig .
Sein Gemüt sollte noch lange die Narben dieser Kämpfe tragen .
Das Leben daheim haßte Ernst tief , und wenn er überall lieber weilte , als im Mutterhaus , geschah es in der Ahnung , daß er mit jeder Stunde , die er nicht daheim war , einer Gefahr entging .
Die Straße im abendlichen Lichtglanz , die Kirche , ganz in Orgelklang und Altarschimmer getaucht , eines Freundes schönere Wohnung waren ihm Zuflucht und Obdach .
Dort gediehen alle Erlebnisse , die in der Stickluft daheim welkten und duftlos abfielen .
Heimatlos und einsam irrte die erwachende Seele durch die große Stadt , ließ sich nur manchmal zur Rast in Kirchenschiffen und an den Erkerfenstern des bewußten Hauses nieder und wußte kein Nest , sicher zu wohnen vor den Stürmen , die sich im Blut regten .
Der erste Sturm warf Ernst aus der Bahn seiner Bildung .
Das Verhältnis zur Schule war unhaltbar geworden .
Obwohl leicht allen Forderungen des Unterrichtes gewachsen , wurde Ernst vorzeitig aus der Schule entlassen .
Seine Aufsässigkeit nahm mit jedem Tag zu .
Der öde Gedächtnisdrill störte Ernst in den besten Gedanken , und ärgerlich stellten die Lehrer fest , daß der ausgezeichnete Schüler ihren Weisheiten gar keine Achtung erwies .
Das war undankbar , aber kein Grund zum Hinauswurf .
Dafür gab es genug andere Gründe .
Eine sehr weise , sicher erzieherisch gedachte Einrichtung der Schule wollte , daß sich jeder Schüler seine Strafen von den Eltern im " Sittenbüchel " bestätigen lasse .
Zu solcher Bestätigung hätte Ernst jeden Augenblick Anlaß gehabt .
Er dachte aber , daß es eigentlich eine doppelte Strafe ist , zuerst eingesperrt , dann daheim auch noch verhauen zu werden , und ersparte sich die Hälfte .
Alle Einträge ins " Sittenbüchel " untermalte er fein säuberlich mit ungelenken Buchstaben , die den Vatersnamen ersetzten .
Dadurch hatte er sich Prügel , dem Vater Ärger , leider aber auch der Schule die Genugtuung erspart , daß ein Ketzer zweimal verbrannt wird .
Andere Schulgenossen sahen die Vorteile dieses Betriebes auch ein , und bald hätte die ganze Klasse Urkunden gefälscht .
Denn mit dem Anspruch einer Urkunde trat der elende Wisch auf .
Doch wachte die Gerechtigkeit .
Eine peinliche Untersuchung stellte alles sonnenklar ins Licht , und da Ernst auch noch anderer Schandtaten verdächtig war , warf man ihn aus der Schule und schlug die Türe hart hinter ihm zu .
Ernst sah alles kommen .
Er war einfach nicht mehr zur Schule gegangen , sondern hatte sich zwei Tage ins Bett gelegt .
Die Eltern ahnten nichts , weil Ernst ganz unbefangen tat .
Er las sich im Bett über sein Herzklopfen weg , denn recht geheuer kam ihm dieser Ausgang seiner Schulzeit selbst nicht vor .
Daß die Eltern einmal alles erfahren mußten , war gar nicht zu hindern .
Aber Ernst wollte es ihnen auf gar keinen Fall sagen .
Am dritten Tag erschien sein alter Freund , der Pedell , auf der Bildfläche und deckte alles auf .
Der Biedermann war von seiner Leistung sichtlich befriedigt .
Die Mutter stand fassungslos vor dieser Offenbarung .
Sie schlug die Hände über den Kopf , bedachte Ernst mit schlimmen Schimpfreden und überlegte doch zu gleicher Zeit , wie dem Vater die Geschichte recht harmlos und mundgerecht vorzubringen sei .
Johannes nahm die Kunde ruhiger auf , als Ernst befürchtete .
Seine Antwort bestand in einem abschätzigen Blick , der Ernst durch Mark und Bein ging .
Geredet wurde weiter nichts .
Schwerer begrub die Mutter ihre Träume von des Sohnes Zukunft .
Sie hatte ihn zu gern und zu oft als Lehrer gesehen , um die jähe Wendung gelassen hinzunehmen .
Auf jeden Bissen bekam Ernst gestrichen , wie stark die mütterliche Enttäuschung war , und solches Brot schmeckt bitter .
Ernst sah die Schule noch einmal .
Da holte er sein Zeugnis ab , welche Gnade ihm die Schulleitung gewährte .
Es hieß darin , daß der Schüler Ernst Löhner bei tadelswertem Betragen und ungleichmäßigem Fleiß sehr gute Leistungen erreicht habe .
Dann prangten in langer Reihe lauter Einser .
Sehr stolz auf dieses Zeugnis wartete Ernst das Ende des Unterrichtes ab , um bei den Kameraden zu prangen .
Einige seufzten , als sie die Noten sahen , aber jeder war froh , nicht in Ernst Löhners Haut zu stecken .
Daß sie ihn nicht mehr als zugehörig betrachteten , fühlte Ernst deutlich .
Er rächte sich dafür mit großartigen Schildereien seiner Pläne und stellte lockend das Bild des freien Lebens auf , dem sie noch lange umsonst nachjagen müßten .
Im Torbogen kehrte sich Ernst kurz nach dem Schulhof um .
Vier ereignisvolle Jahre seines Werdens waren eingerahmt von dieser grauen Mauer , die ihn jetzt mürrisch aus ihrer Haft entließ .
Vor ihm lag die breite , munter bewegte Straße , die ins Leben führte , ins Leben , das irgendwo mit ausgebreiteten Armen auf Ernst Löhner wartete ...
Das Argus-Haus Herzogstraße 9 lag mitten im Geschäftsviertel .
Ernst Löhner stieg die breite , läuferbelegte Treppe des Kontorhauses " Argus " zögernd hinauf .
Er überzeugte sich wiederholt , am rechten Ort zu sein .
Hier stand es einwandfrei zu lesen , Seite drei des Stellenanzeigers , erste Spalte :
" Intelligenter , junger Mann gesucht , der rasch und gut begreift , unbedingt vertrauenswürdig ist , und Lust zu kaufmännischen Spezialarbeiten hat .
Beste Ausbildung zugesichert .
Vorzustellen im Kontorhaus » Argus « , Herzogstraße 9 . "
Zu dumm !
Bis zum Augenblick hatte sich Ernst im sicheren Besitz aller verlangten Eigenschaften gefühlt .
Warum traute er denn jetzt dem Gefühl nicht mehr ganz ?
Aufgeregt den schwarzen Tuchanzug glättend , klinkte Ernst endlich im zweiten Stockwerk die Türe auf , nachdem er das Emailschild lang und nachdenklich gemustert hatte .
" Auskunftei Argus " war darauf zu lesen .
Zwei scharfe Brillengläser wendeten sich Ernst zu , und eine halblaute , verbindlich flötende Stimme fragte nach seinem Begehre .
Er wolle sich also um die Stellung bewerben .
Herr Alfons Beißer stand auf , ging um den betroffen äugenden Ernst im Kreis und lächelte höflich .
" Haben Sie Zeugnisse , junger Mann ? ...
Ein Schulzeugnis ?
.. .
In Stellung waren Sie noch nicht ?
... Wollen Sie Mal sehen lassen ?
... "
Ernst errötete freudig .
Der fein gekleidete Herr hatte " Sie " gesagt .
" Na ja ...
Dumm scheinen Sie den Noten nach nicht zu sein ...
Aber » tadelnswertes Betragen « ...
Was heißt das ?
... Warum sind Sie eigentlich geflogen ?
... Kneipereien ... hm , hm ...
Etwas früh , junger Mann , etwas sehr früh ...
Sie müssen sich jedenfalls das abgewöhnen , wenn ich Sie in meinem Haus anstellen soll . "
Natürlich beeilte sich Ernst , höchst und heiligst zu versichern , er wolle ganz nach Wunsch des Herrn Alfons Beißer leben .
" Wir werden das ja sehen , junger Mann ...
In unserem Geschäft sind nur nüchterne Leute zu gebrauchen , die reinen Mund halten ...
Verstehen Sie mich ?
... Ich will Ihnen nichts dreinreden .
O nein !
Wir sind hier nicht in der Schule .
Aber wenn Sie bei uns warm werden möchten , lassen Sie solche Dummheiten ...
Fräulein Rascher !
... "
Ein untersetztes Mädchen erschien aus dem Nebenraum .
Die sommerlich leichte Bluse bauchte um die volle Brust , und die stark geschnürten Hüften wölbten sich drängend aus dem platzend gespannten Rock .
Runde , feuchte Kuhaugen schauten neugierig auf Ernst .
" Ich stelle Ihnen da den jungen Mann vor , der bei uns lernen soll .
Nehmen Sie ihn unter Ihre schützenden Fittiche ... was Ihnen das Fräulein sagt , haben Sie zu tun , Herr Löhner ...
Jetzt gehen Sie Mal gleich mit Fräulein Rascher ins Archiv .
Sie wird Ihnen zeigen , was dort zu tun ist . "
Das Archiv war ein gewöhnliches Zimmer .
Regale standen an den Wänden , bis unter die Decke vollgestopft mit Mappen und Kästen .
Die schwarzen Pappkästen waren alphabetisch geordnet und auf der Stirnseite sauber in Rundschrift beschrieben .
Diese Kisten hatte Ernst abzustauben , eine Arbeit , die ihm ein bedenklicher Anfang seiner kaufmännischen Laufbahn schien .
Es gab aber doch bald andere Arbeit als Staubwischen .
Ernst erwies sich gewandt und anstellig , was Herrn Alfons Beißer Anlaß war , ihn näher an den Geist des Betriebes zu führen .
" Sehen Sie , Herr Löhner , heute ist das nun Mal im kaufmännischen Leben nicht anders .
Vertrauen ist eine seltene Ware , aber jedes Geschäft muß auf Vertrauen gemacht werden , weil wir nicht mehr in der guten , alten Zeit sind , wo der Kaufmann seinen Kunden persönlich kannte und in die Verhältnisse eingeweiht war .
Heutzutage überschaut der Geschäftsmann seine Verbindungen kaum noch im Hauptbuch .
Von einer persönlichen Verbindung kann keine Rede sein ...
Dazu sind eben wir da .
Wir müssen uns um die Verhältnisse aller Leute kümmern .
Wir müssen wissen , wie es um den Kredit , um den Ruf , um die Familienangelegenheiten der Leute steht ...
Haben Sie wohl gedacht , daß in unserem Archiv das bürgerliche und geschäftliche Ansehen der halben Stadt liegt ?
Eine große Verantwortung lastet auf uns .
Es heißt sehr aufpassen , wenn wir nicht zu Schaden kommen sollen .
Die Haftpflichtgesetze sind streng ...
Wir können von den soliden Leuten nicht leben .
Wer heute mit dem Kommerzienrat Blaufeld Geschäfte machen will , fragt nicht uns , sondern die Bank ...
Aber da haben Sie den Agenten Rothfuß .
Der Mann ist schon dreimal verkracht und hofft noch dreimal pleite zu gehen , wenn er gesund bleibt .
Bei Gott und der Welt bestellt er .
Zahlen kann er nie .
Jede Woche laufen sechs Anfragen nach Rothfuß ein , jede zu zwei Mark gerechnet ...
Sie verstehen vielleicht , daß uns an dem Mann mehr gelegen sein muß als an dem Kommerzienrat Blaufeld , der immer zahlt . "
Ernst dachte bei sich , daß er dann ja von Spitzbuben lebe , hütete sich aber wohl , den Gedanken zu äußeren .
Er lauschte vielmehr hochachtungsvoll den Weisheiten seines Herrn und Meisters , der nachdenklich an seiner Zigarre sog und verklärten Gesichtes fortfuhr :
" Wir sind überhaupt nicht die gewöhnlichen Federknechte .
Was heißt heute nicht alles Laufmann ?
Wir sind sozusagen eine Behörde , die kaufmännische Polizei , Spähleute des Kredites ... prägen Sie sich das nur recht fest ein und halten Sie stets auf die Würde unseres Hauses . "
Ernst prägte sich nicht alles ein , doch einiges behielt er immerhin .
Daß er Behörde sei , erfüllte ihn mit Stolz .
Daß er die Nase in anderer Leute Sachen stecken konnte , sagte ihm auch zu .
Hoffentlich erkundigte sich recht bald wer nach dem Herrn Rektor von der Realschule oder nach dem Pedell .
Er wollte schon mit einer Auskunft dienen .
Seine Stellung erheischte entsprechendes Auftreten .
Gleich vom ersten Monatsgehalt erschwang Ernst ein zierliches Stöckchen , Tombakgriff ( Täuschung für Nichtkenner : Silber ) .
Das schlenkerte er leichtsinnig , hielt die Zigarette lässig im Mundwinkel und trabte schwungvoll morgens und abends durch die belebte Stadt .
Kein Mensch sah , daß nur fünfundzwanzig Mark Monatsgehalt hinter dieser Kavalierspose standen .
Im Geschäft war Ernst eifrig und glückhaft bestrebt , hochzukommen .
Er lernte Kurzschrift , hatte schnell alle Handgriffe der Schreibmaschine im Gelenk und schrieb Geschäftsbriefe in einem flotten und zutraulichen Stil .
Herr Alfons Beißer rieb sich zufrieden die Hände und lobte mit berechnender Vorsicht den brauchbaren Jüngling .
Nicht oft und ausschweifend , weil man junge Leute nicht verwöhnen darf und weil Herr Alfons Beißer nicht viel Zeit übrig hatte .
Er kam morgens ins Kontor , hielt den Einlauf vor die kurzsichtigen Augen und empfahl sich dann mit höflichem Gruß .
Vom Kaffeehaus rief er nachmittags gelegentlich an , doch nur , wenn ihn die ewige Tarockpartie einen Augenblick freiließ .
Um sieben Uhr abends unterzeichnete Herr Alfons Beißer die Briefe , schwenkte gönnerhaft den steifen Filz und wurde nicht mehr gesehen .
Fräulein Rascher versah in der Hauptsache das ganze Geschäft .
Ernst war eine wertvolle Stütze geworden .
Zu arbeiten gab es immer , doch hatten Einteilung und Berechnung der Zeit fertiggebracht , daß den zwei Leuten manche freie Stunde übrigblieb .
Da drehte sich dann Fräulein Lene Rascher auf dem hohen Kontorbock abwärts , strich die Falten der Bluse aus und lächelte Ernst aufmunternd an .
Ernst wußte dunkel , wohin das Mädchen zielte .
Aber Lene war fünf Jahre älter , sah in ihrer reifen Fülle einer wissenden Frau gleich und hatte kleine Annäherungen des jungen Menschen bisher stets zurückgewiesen .
Ernst brachte nicht den rechten Mut seiner Begierde auf , wurde aber durch das zweideutige Verhalten Lenes in Spannung gehalten und schwankte unsicher in allen Vorsätzen .
An einem Tag der Faschingszeit war ihnen wieder ein freies Stündchen erblüht .
Ernst überlegte ein vergnügtes Vorhaben für den Abend und guckte stirnrunzelnd über den Tisch fort gerade auf Lenes Bluse .
Eine Papierkugel flog ihm ins Gesicht .
" Schauen Sie nicht so schafsdämlich , Herr Löhner !
Was ist denn an meiner Bluse zu sehen ?
... "
Fräulein Rascher strich langsam die stattliche Büste herab und sah hartnäckig in die jungen Augen , die ihrer Hand folgten .
Richtig !
Er hatte gar nicht nach der Bluse geguckt , sondern nach Lenes Busen .
Das war Ernst aber erst deutlich geworden , als Lene über die Bluse fuhr .
Scheu wandte Ernst den Blick fort , drehte aber schnell den Kopf wieder nach dem Mädchen .
" Wir könnten übrigens das Kassabuch abschließen .
Helfen Sie mir doch , Herr Löhner ?
Sie sind ja ein guter Rechner . "
Glutströme schossen Ernst durch den Leib , als er sich ganz dicht zu Lene setzen mußte .
Die Wärme ihrer Körper mischte sich .
Ein fast betäubender Duft hauchte von dem Mädchen , das lächelnd über Ernst gebeugt stand und die Hüfte gegen seine Schulter stemmte .
Jäh warf Ernst den Arm um Lene und riß sie auf seinen Schoß .
Sie drückte sein Gesicht mit beiden Händen von ihrer Brust , drängte langsam , ganz langsam den Leib aus der Umarmung und ging wiegend auf die andere Tischseite .
Dort hob sie scheindrohend den Zeigefinger und - lächelte Ernst weiter an .
Fräulein Rascher wurde nie in Herrenbegleitung gesehen .
Streng lebte sie nach den Sittenvorschriften ihrer kleinbürgerlichen Welt , und nur am Montag schatteten übernächtige Ringe die sonst wasserblauen Augen .
Im Kontor nahm sich das Mädchen nicht ganz so sittsam aus .
An der Bluse fingerte sie viel öfter , als ersichtlicher Grund war , und mit Ernst allein knöpfte sie auch beherzt die obersten zwei Knöpfe auf .
Sie gönnte dem jungen Mann gern den Anblick ihres weißen Hemdbesatzes und der darunter wogenden Erhöhung .
Das war doch auch weiter nichts !
Der Bub war ja erst fünfzehn Jahre .
Man konnte die Knöpfe ja schließen , wenn er frech werden sollte .
Ernst benahm sich aber gar nicht dumm .
Obwohl es alle Mühe kostete , die Wallung zu bemeistern , übersah er doch meist , fein und erfahren lächelnd , den unordentlichen Anzug Fräulein Rascheres .
Er stellte sich taub und blind , ganz von den Pflichten des Tages besessen und trommelte auf der Schreibmaschine eilfertig weiter .
Fräulein Rascher löste dann gewöhnlich noch einen Knopf ihrer Bluse , warf eine Bemerkung über die schreckliche Hitze im Zimmer hin und wartete verstohlen auf die Wirkung ihrer Preisgabe .
Das Spiel ging Wochen , ohne mehr zu werden , als läppische Kinderei .
Heimlich aber schwelte das Feuer in beiden und wartete nur des Windhauchs , der es über ihre Köpfe trieb .
Lene liebte sicher mehr das Spiel mit dem Feuer , als das Feuer selbst ; sie vergaß aber über dem Spiel , daß auch sie nicht feuerfest sei .
Die Zeit war Tändeleien günstig .
Fastnacht rückte nahe ; es gab Musik auf Platz und Gasse , Tänze allerwärts , und der kommende Frühling wühlte den Menschen im Geblüt .
Fräulein Rascher nestelte auch den untersten Blusenknopf los und duldete die Hände des jungen Freundes auf Brust und Hüften .
Am Tag aller Narren schlossen Ernst und Lene ihre Tätigkeit früher .
Herr Alfons Beißer hatte schon um drei Uhr die Post erledigt und war , bunte Papierbänder um den korrekten Filzhut , trällernd abgegangen .
Großes Leben wogte in der Stadt .
Die Menschen schoben und drängten sich in den Hauptstraßen , warfen Konfetti und Papierschlangen durcheinander und fuhren sich mit Pfauenfedern um Mund und Nase .
Kreischen und Quieken der Weiber , wiehernde Stimmen der Männer , zornige Schreie von Kopfhängern , denen kollerndes Gelächter antwortete , das Gewühl vermummter , ausschweifend und abenteuerlich belarvter Gestalten : ein Meer leichter Lebenslust warf seine Spritzer bis unter die Dachfenster und schlug auch über Ernst und Lene zusammen , die eng geschmiegt , im heftigsten Strudel trieben .
Das gut gebaute Mädchen lenkte die männliche Liebenswürdigkeit reich auf sich , , zum großen Ärger ihres Begleiters , der wütende Blicke nach den zudringlichen Bewerbern schoß .
Ernst nahm Lenes Arm an sich , was ruhig gestattet wurde , und steuerte aus dem Trubel .
Vor einer Konditorei kam ihm der Einfall , Lene möchte vielleicht nichts gegen eine kleine Näscherei haben , und da er noch drei Mark und vierzig Pfennige besaß , kaufte er ein Pfund Praline .
Das süße Zeug naschten beide im Weitergehen und , ohne recht auf den Weg zu achten , standen sie plötzlich wieder vor dem Geschäftshaus " Argus " .
Fräulein Rascher leckte katzenhaft die Lippen sauber und lächelte dankbar .
" Ich habe vorhin mein Taschentuch droben gelassen .
Wollen wir es holen ? "
Ernst ahnte den Vorwand .
Er glühte vor Erwartung und mußte gewaltsam an sich halten , seine Erwartung nicht zu zeigen .
Das Haus war dämmerig und menschenleer .
Alle Geschäfte hatten geschlossen , niemand hörte die Schritte auf der Stiege .
Im Kontor herrschte Dunkelheit .
Ernst zückte schon ein Streichholz , Licht zu machen , unterließ es aber , weil Fräulein Rascheres unterdrückte , wie er zu hören glaubte , heisere Stimme ihm ins Ohr zischte , ob er denn so furchtsam sei .
Mit hängenden Armen stand Ernst mitten im Zimmer .
Die Luft bedrängte ihn , und um seine Ohren sauste es stürmisch .
" Kommen Sie doch her , Ernst , und helfen Sie mir suchen !
Hier herum muß es liegen . "
Wieder fiel Ernst der seltsam klanglose , beinahe heisere Ton der Mädchenstimme auf .
Folgsam tappend ging er , die Hände vorgestreckt , auf den Umriß los , der sich verschwommen in einem Zimmerwinkel bewegte .
" Fürchten Sie sich ?
Es weiß doch kein Mensch , daß wir hier sind .
Sie dürfen aber auch nichts sagen !
Ja ? "
Ernst nickte nur eifrig , beugte sich zu Lene und ... warf sich mit ganzem Leib auf das Mädchen .
Lene kicherte lockend , drehte den Kopf nach Ernst und fing seine sinnlosen Liebkosungen mit dem Gesicht auf .
Sie küßte mit breitem , nassem Mund , saugend und gierig , atmete erregt und sank rückwärts in die Arme des jungen Freundes .
Ernst bebte im Sturm seiner Begier .
Er wühlte die Hände tief in die Brüste des Mädchens , zog Lene auf die Kiste und verschüttete sie tief in Zärtlichkeiten .
Ungestört verhallte das verliebte Seufzen und Stöhnen im abendlichen Haus .
Die Laternen brannten schon , als Ernst und Lene das Haus verließen , mißtrauisch die Straße abspähend , ob ihr Geheimnis keinen Wisser hatte ...
Daß Ernst nun eine Geliebte hatte , war tief in seiner Brust begraben .
Lenes Angst , er könnte doch vielleicht unbedacht schwatzen , zerschmolz rasch in Wohlgefallen über das männlich verschlossene Betragen des jungen Liebhabers .
Jeden Tag gab Lene diesem Wohlgefallen Ausdruck .
Eine Augensprache hatte sich zwischen ihnen gebildet , die immer geredet wurde , wenn Ernst und Lene nicht allein waren .
Herrn Alfons Beißers Kurzsichtigkeit war so entwickelt , daß er gar nichts von dem Verhältnis seiner Angestellten sah .
Daß zwei junge , stundenlang allein gelassene Menschen an anderes denken könnten als an Hauptbuch und Kladde , fiel Herrn Alfons Beißer nicht im Traum bei .
Dafür bezahlte er die Leute doch nicht .
Das Verhältnis setzte sich munter fort .
Fräulein Rascher war ein vorsichtiges Mädchen , wer durfte glauben , daß sie sich mit dem jungen Menschen abgeben würde ?
Das war ja ein ganz grüner Junge .
Kein Dummkopf , aber auch kein Frechling .
Er verehre sie zwar , wie Jungen von sechzehn Jahren das eben machen .
Sie sei freundlich mit ihm , aber mehr , als sich gelegentlich heimbegleiten lassen , erlaube sie nicht .
Ernst wußte manches anders .
Lene war ein kräftiges , blutvolles Mädchen , sinnlich bis unter die Haarwurzeln und von fragloser Gemeinheit , was ihren Körper betraf .
Sie schenkte Ernst nur Teile ihres Körpers , gewährte vieles , um schließlich alles zu versagen , und heizte ihre begehrlichen Sinne an der unverbrauchten Kraft des Jünglings .
Ernst fühlte sich in dem Verhältnis immer gereizt und nie befriedigt , schweifte in Gedanken noch mehr aus als im Verkehr mit Lene und stumpfte unmerklich gegen viele Feinheiten der Sinne ab .
Für den Augenschein kam Ernst Löhner gut voran .
Er ging flott angezogen , rauchte fleißig Zigaretten und war Stammgast in einer ganzen Reihe von Unterhaltungsstätten .
Fröhlich pfeifend schwang er sich durch die belebten Straßen , und sein weißer Stehkragen wetteiferte an würgender Höhe mit jedem anderen .
Die Eltern hatten sich halb und halb mit den Dingen versöhnt .
Daß Ernst Geld verdiente , und für seinen Unterhalt zahlte ( nicht reich , doch recht annehmbar ) , schaffte ihm daheim neues Ansehen , und da Ernst als zahlendes Mitglied der Familie nicht gewillt war , unter einer Fuchtel zu stehen , forderte er bald seinen eigenen Hausschlüssel .
Nicht etwa bittend und gutes Betragen zusichernd , sondern entschieden , ja unverschämt und mit dem Hinweis auf seine wöchentliche Beisteuer zum Haushalt .
Selbst die Andeutung , als möblierter Herr zu gehen , leistete er sich .
Die glücklich eroberte Schlüsselgewalt gebrauchte Ernst umfassend .
In Wirtshäusern und Singspielhallen saß er fast jeden Abend , und sein Auftreten verblüffte viel ältere Leute .
Eine Kneipe suchte Ernst wochenlang besonders gern heim wegen des schönen , braunen Wirtstöchterleins , das aber gar nichts von ihm wissen wollte .
Abend um Abend hockte er in dem rauchigen Lokal , warf sehr freimütige Redensarten in Fülle um sich und erstaunte erfahrene Spieler durch seine Geschicklichkeit in allen Kartengeheimnissen .
Den älteren Gästen war sein Benehmen nicht angenehm , und ein älterer Handwerksmeister hieß Ernst einmal kurzweg einen Lausbuben , der schon längst ins Bett gehörte .
Ernst steckte die Hände in die Hosentaschen , räkelte sich herausfordernd und erwiderte , daß er ein Lausbub sei , wäre seines Vaters Schuld und täte ihm gar nicht weh ; aber daß ihm das einer ( nämlich ein Lausbub ) sage , brauche er sich nicht gefallen zu lassen .
Der wackere Meister verfärbte sich vor Wut und zeigte nicht übel Lust , Ernst eins hinter die Löffel zu geben .
Der saß vollkommen gelassen da , hatte aber die Hand am Bierglas und sah fest seinem Widersacher in die Augen .
Solche und andere Ereignisse brachten Ernst in den Ruf eines tüchtigen , schlagfertigen jungen Mannes , der zu den besten Hoffnungen berechtige .
Die Wirte des Viertels grüßten Ernst ausnehmend freundlich .
Sie sprachen überhaupt sehr wohlwollend von der Familie Löhner , die zwei so wackere , bierfeste Männer hatte wie Johannes Löhner und seinen Sohn Ernst .
Herr Alfons Beißer hätte sich gewiß die Haare ausgerissen , wäre ihm kund geworden , daß dieses flotte Leben auf seine Kosten ging .
Ernst führte seit kurzem die kleine Kasse .
Daraus waren tägliche Ausgaben von geringer Höhe zu bestreiten , Briefporto , Straßenbahn usw .
Als guter Rechner verstand Ernst bald , Überschüsse zu machen , die er in die eigene Tasche steckte .
Schade , daß diese Überschüsse eigentlich nur Buchgewinne waren , durch Ernst Löhners verwickelte Aufschreibungen erzielt .
Es kamen dabei aber doch immer einige Mark heraus , die Ernst gut und anständig unter die Menschen brachte .
Weil das Geschäft ein ganzes Jahr glatt und rund ging , wurde Ernst mit der Zeit kühn , ja frech .
Er hatte sich eine neue Möglichkeit ausgedacht , die er gleich zu erproben beschloß .
Wenn man von den fünfzig bis hundert Briefen , die täglich in alle Welt gingen , fünf oder sechs nicht freimachte , trug das zwar nur eine Kleinigkeit ein ; das Monat durch rechnete es aber doch .
Die Kunden der Auskunftei " Argus " zogen verdutzte Gesichter , als sie Strafporto zahlen mußten .
Doch liefen Beschwerden zunächst nicht ein , was Ernst als Aufforderung betrachtete , ruhig fortzufahren .
Dabei sicherte er sich aber stets den Rücken , indem er den Fehlbetrag seiner Kasse für den Fall einer Untersuchung bereithielt .
Schlecht gelaunt erschien Herr Alfons Beißer eines Tages im Kontor .
Das Tarockspiel mußte diese letzten Tage auch nicht nach Wunsch gegangen sein .
" Donnerwetter nochmal !
Was ist denn das für eine Schlamperei , Fräulein Rascher ?
Gleich drei Beschwerden über unfrankierte Briefe !
Ich bitte mir doch aus , daß die Augen aufgemacht werden , wofür zahle ich Ihnen sonst das Gehalt ?
... Kommen Sie doch Mal mit dem Kassabuch und dem Markenbestand her , Löhner ! "
Ernst folgte unbewegten Gesichtes diesem Befehl .
Er lächelte innerlich , denn er wußte Buch und Bestand in schönster Ordnung .
Herr Alfons Beißer rechnete , rechnete wieder , rechnete dreimal .
Eine Marke zuviel war das Ergebnis .
" Donnerwetter nochmal !
Da haben Sie Dösdabbel noch einen Brief unfrankiert fortgeschickt , wenn mir das wieder vorkommt , schick ich dem Kunden das Porto und ziehe Ihnen die Kosten vom Gehalt ab .
Verstehn Sie mich ? "
Den hatte er schön hereingelegt .
Doch durfte die Geschichte jetzt nicht mehr fortgesetzt werden , sonst konnte es zu guter Letzt schiefgehen .
Ernst gab das Steuergeschäft vorerst auf und sah zu , wie er mit dem Gehalt auskam .
Schon am achten Tag wechselte er die letzte Mark von den dreißig Märkern und begab sich für den Rest des Monats in die Kreide seines Stammwirtes .
Denn daheimbleiben , fiel Ernst gar nicht ein .
Ernst sah den Wirt Zahl unter Zahlen schreiben und rechnete am Monatsende bare achtundzwanzig Mark heraus .
Was half es , daß er sich auf die Knöchel bis und den Daumennagel nachdenklich kaute ?
Davon wurde der Wirt nicht bezahlt .
Die Kasse mußte also wieder helfen .
Fräulein Rascher hatte keinen Teil an diesen Geschäften ihres jungen Liebhabers .
Sie ahnte nicht einmal , daß er den Kassenvorrat meistens in der Westentasche trug und manche kleine Näscherei aus diesem Geld bestritt , die sie guten Gewissens schleckte .
Mit solchen Dingen wollte Fräulein Rascher nichts gemein haben .
Ernst dachte sich das auch und versteckte vor Lene alles , was ihren Verdacht erwecken konnte .
Das Verhältnis dauerte schon zwei Jahre .
Kaum ein Tag war vergangen ohne verschwiegene Liebkosung .
Die zwei wurden sich nicht satt , Lene , weil ihr Trieb überhaupt nicht zu sättigen war , Ernst , weil er immer noch vornehmlich vom Duft und Dunst des prallen Körpers lebte .
Seine Leidenschaft hungerte bei dieser mageren Kost , kreiste aber hartnäckig um Lene und ließ sich von keinem anderen Weib abziehen .
Lene verstand sich auf die kleinen Kniffe der Liebe gut , täuschte sich jedoch über die Gelehrsamkeit ihres Schülers .
Zuerst hatte der junge Heißsporn geschäumt , wenn sie am Montag erzählte , wie gestern ihr Tänzer ausgesehen habe , wie er von ihr schwärmte und was der freche Kerl heimwärts wollte .
Lene freute sich über das heftige Aufbrausen des verliebten Ernst , der schwor , nächstens jedem den Schädel einzuschlagen , der Lene anzublicken wage .
Ernst hatte keinen Schädel eingeschlagen und schwor auch nicht einmal mehr , es vielleicht zu tun .
Dafür sprach er von seinen Eroberungen , die er aus den Fingern sog , stellte sich wissend , ja erfahren und reizte Lene durch diese Gelassenheit , wie sie ihn mit ihren Erzählungen aufbrachte .
So gleichgültig war ihr der junge Freund doch nicht , daß sie ihn mit jedem beliebigen Mädchen teilen mochte .
Eifersucht , wenn sie gegenseitig ist , befeuert die Neigung .
Nie waren Ernst und Lene heißer aufeinander , als nach Stunden wechselseitiger Wut , wenn eins dem anderen die eigene Untreue wie Peitschenhiebe um die Ohren geknallt hatte .
Dann schmolzen Ärger , Trotz und verliebter Haß zu heftiger Brunst , die alles fordern und gewähren hieß .
Lene übertölpelte sich selbst , als sie Ernst in die Eifersucht trieb .
Unversehens sprang die Flamme , die sie schürte , auf Lene über und brannte ihre kühle Vorsicht , die Ängstlichkeit ihres kleinbürgerlichen Gemüts und die Furcht vor natürlichen Folgen aus .
In den roten Feuermantel restloser Hingabe gehüllt , schritt das Paar über die letzte Schranke fort und wendete kein Auge mehr zurück in die Welt klar entschiedener Verhältnisse .
Ihr Verhältnis war weder klar noch entschieden .
Zwar hatte sich Ernst schon öfter beim abendlichen Heimgang männlich aufgerichtet und das Wort " Verlobung " gesprochen .
Allein Lene schüttelte jedesmal den Kopf ungläubig und strich Ernst dankbar übers Haar .
Verstand sie die edle Wallung , die Ernst zu diesem Wort zwang ?
Sie sah den jungen , schmächtigen Menschen an ihrer Seite und seufzte bedrückt .
Es stand zuviel zwischen ihnen .
Die Ungleichheit ihres Wesens , gleich nur in der Unbeherrschtheit der Sinne , der Altersunterschied , elterliche Hoffnungen und die eigenen Wege , auf denen Lene dem jungen Freund nicht folgen konnte .
Ernst hatte diese Wege wieder eingeschlagen , gedrängt durch die mißliche Lage seiner Verhältnisse .
Er hatte Schulden , gemein quetschende Schulden bei Wirten und Händlern , die ihm keine Nachsicht gaben .
Um sie loszuwerden , griff Ernst tiefer als je in die Kasse und mußte bald feststellen , daß ihm die Dinge über den Kopf wuchsen .
Hatte nun Herr Alfons Beißer doch etwas bemerkt , oder war ihm Ungünstiges über seinen Angestellten zugetragen worden , gleich im Beginn des neuen Jahres hielt er überraschende Nachschau .
Die Bücher müßten abgeschlossen und vorgelegt werden .
Bei Fräulein Rascher stimmte alles aufs schönste , bei Ernst fehlten in der Kasse hundertdreiundsechzig Mark , Herr Alfons Beißer raste .
Verzweifelt angelten die dürren , dicht behaarten Hände durch die Luft , der Kneifer fiel zehnmal von der hochstrebenden Himmelfahrtsnase , und die sonst so verbindlich flötende Stimme kreischte scharf und grell .
" Kommen Sie her , Löhner !
Wenn ich bitten darf , auch Sie , Fräulein Rascher ...
Wo ist das Geld hingekommen , Sie ganz gefährlicher Schwindler ?
Wollen Sie das gefälligst sagen ?
... Hundertdreiundsechzig Mark Manko sind in der Kasse , Fräulein Rascher .
Haben Sie Töne ?
... "
Ernst hatte sich ganz gefaßt .
Kaltblütig lächelnd räumte er ein , daß hundertdreiundsechzig Mark fehlen .
Er habe sie aus der Kasse genommen , um Verpflichtungen zu decken .
Sein Gehalt hätte nicht zum Leben gereicht ...
Herr Alfons Beißer verfärbte sich .
Den Kneifer hoheitsvoll in die Höhe reckend , begann er vorwurfsvoll :
" Was sagen Sie da ?
Ihr Gehalt hat nicht zum Leben gereicht ?
.. .
Ich zahle Ihnen vierzig Mark .
Bringen Sie mir den Lehrling erst Mal her , der dieses Gehalt anderswo bekommt ...
Dabei schämen Sie sich nicht , mich zu betrügen .
Von meinem Geld decken Sie Ihre Verpflichtungen .
Von meinem Geld ...
Was gehen mich , in drei Teufels Namen , Ihre Verpflichtungen an ?
... Ich will Ihnen was sagen , Löhner :
Die Polizei holen , hat keinen Zweck .
Die gibt mir das Geld auch nicht .
Aber schauen Sie bloß , daß Sie schleunigst aus dem Haus verschwinden .
Sonst reut mich vielleicht mein guter Wille doch ... "
Fräulein Rascher war dem Schauspiel atemlos gefolgt .
Erst verstand sie nicht recht , dann wurde ihr schnell klar , was vorging .
Entgeistert starrte sie Ernst an , der gleichmütig die Wände absuchte .
Mit diesem Menschen hatte sie sich eingelassen ...
Ernst sah die vollen Schultern beben , ein sprühender Blick brannte auf seinem Gesicht .
Lene wandte sich an Herrn Alfons Beißer :
" Ich bitte um meine Entlassung , Herr Beißer , wenn Sie glauben , daß ich ... "
" Aber was denken Sie , Fräulein Rascher !
Ihre Bücher sind doch in bester Ordnung .
Ich glaube von Ihnen nur das beste .
Der Bursch hat Sie ebenso hinters Licht geführt , wie er mich hintergangen hat ...
Ist er schon fort ? "
Ernst stand unter der Tür , im Arm ein kleines Bündel .
Seine wenigen Habseligkeiten ...
Als er die Tür öffnete , kehrte sich Fräulein Rascher kurz um .
Ernst zog den Hut fast bis auf den Boden und senkte den Kopf tief .
Täuschte er sich , oder hatte Lene wirklich den Kopf wenig , nur ein ganz klein wenig geneigt ?
Aus der Treppe sah Ernst die entsetzten Augen des Mädchens vor sich hergehen ...
Die Jagd nach dem Leben Wer vielleicht glaubt , Ernst wäre nun geknickt und beschämt gewesen , kennt die menschliche Natur wenig .
Er schritt vielmehr ruhig und gelassen in das Stadtinnere , zündete eine Zigarette an und schnippte die Asche sorgsam mit dem kleinen Finger fort .
Geld hatte Ernst nur einige Mark , doch genügte ihm das Bewußtsein , überhaupt Geld zu haben .
In der Stehkosthalle trank er zwei Glas Bier und fand , es wäre eigentlich doch viel feiner , durch die Stadt zu spazieren , als im langweiligen Kontor der Auskunftei " Argus " zu sitzen .
Der Gedanke an Herrn Alfons Beißer belustigte ihn beinahe , was hatte der Mann für Augen gemacht ?
Schade , daß er nicht fester in die Kasse gegriffen hatte .
Ob es Herr Alfons Beißer im Tarockieren verlor , oder ob er es auf seine Art ausgab , wo ist der Unterschied ?
Lene würde er zunächst wohl nicht sehen .
Das Mädchen war doch zu blöd .
Ein lieber Kerl , aber so altmodisch und ohne Unternehmungsgeist .
Das Gefühl , an Lene zu denken , war aber doch nicht behaglich .
Sie hatte ihn ja angeguckt , als hätte er ein Kind gefressen .
Dumm , zu dumm , diese Anständigkeit ... Daheim versah sich keine Seele der Geschichte .
Ernst verschwieg seine Entlassung , hielt alle Zeiten genau ein , als wäre er noch immer im alten Gleis , und schaute inzwischen nach einer anderen Stelle aus .
Denn eine neue Stelle mußte her , bevor der Letzte kam . wenn er nur daheim pünktlich zahlte , war alles andere Nebensache , woher das Geld kam , fragte die Mutter nicht .
Sie nahm es unbesehen , nur durfte kein Pfennig am Betrag fehlen .
Ernst hatte unbändiges Glück .
Nach vierzehn Tagen saß er schon wieder auf einem Kontorbock und hatte zehn Mark mehr Gehalt als bei Herrn Alfons Beißer .
Das Geschäft - Zuckerwarengroßhandlung Bolz & Harrer - schien dringend Leute zu brauchen .
Ohne nach Zeugnissen zu fragen , überhaupt ohne jeden Umstand wurde Ernst angenommen und erhielt - die kleine Kasse .
War das nicht ein Wink , fortzufahren , wo man vor zwei Wochen aufgehört hatte ?
Die ersten Tage widerstand Ernst der Anfechtung , weil er das entgeisterte Gesicht Lenes vor Augen hatte .
Doch nur zu bald war der erste Schritt gemacht .
Der Teufel mußte in Ernst Löhner gefahren sein .
Bei Herrn Alfons Beißer hatte er vorsichtig gehandelt , sich immer den Rücken gedeckt , solang es irgend ging .
Jetzt schaltete er kühn und unbesonnen mit fremdem Geld , und was einst anderthalb Jahre Zeit gebrauchte , erzielte Ernst in wenigen Wochen .
Zwei Monate waren noch nicht voll im Land , als Ernst es geraten fand , nicht mehr bei Bolz & Harrer zu erscheinen .
Sechshundertneunzig Mark hatte die Firma zu beklagen .
Sie besaß nicht die philosophische Ruhe des Herrn Alfons Beißer , sondern zeigte den Schaden bei Gericht an .
Ernst lebte in Saus und Braus .
Die gewöhnlichen Bierlokale waren ihm nicht mehr fein genug .
Obwohl ohne Geschmack für Wein , hielt er sich viel in Kneipen mit Damenbedienung auf , fiel gewitzigten Weibern in die Hände und blutete schwer aus dem Geldbeutel .
Nach Hause kam er seit zehn Tagen nicht mehr .
Er hatte einen Brief geschrieben , daß er verreisen wolle und nicht wissen könne , ob er je wieder zurückkäme .
Daß die Polizei auf ihn gehetzt war , dachte sich Ernst beiläufig .
Um ihn zu fangen , müßten sie aber früher aufstehen .
Alle Listen und Finten , von denen Ernst aus Räubergeschichten , aus gelesenen Gerichtsberichten , aus aufgefangenen Erzählungen wußte , spielte er aus , den Häschern ein Schnippchen zu schlagen .
Den ganzen Tag trieb er sich vor der Stadt herum .
Gut angezogen , sah er wie ein harmloser Spaziergänger aus .
Die Abende und die halben Nächte verkroch er sich in die Kneipen , hielt sich in keiner lange auf und war nie zu bewegen , in einer zu nächtigen .
Lieber fror er die paar Stunden bis zum Morgen tüchtig aus , als daß er sich einer Streife der Polizei aussetzte .
Drei Wochen dauerte dieses Haschspiel .
Innig freute sich Ernst , wenn er in einer Kneipe vernahm , um die und die Zeit habe ein Herr nach ihm gefragt .
Was für ein Herr , stellte sich Ernst ingrimmig vor .
Aber der Menschenfänger sollte noch etwas in Bewegung bleiben .
Er wolle ihn an der Nase führen , daß ihm die Augen übergingen .
Guter Laune schien der Geheimpolizist nicht , wütend hätte er seinen roten Schnurrbart zerbissen , wenn Ernst nicht war , wo er ihn suchte .
Die Mädchen beschrieben ihm den roten Herrn eingehend und fragten , ob sie beim nächsten Male etwas bestellen könnten .
Ein schöner Maitag brachte das Verhängnis .
Ernst überquerte eben den Georgsplatz , um in dem Gewirr von Gassen und Winkeln zu verschwinden , das hinter der Georgskirche beginnt .
Eine feste Hand faßte an seine Schulter , und eine barsche Stimme flüsterte :
" Kommen Sie ohne Aufsehen mit , Herr Löhner !
Sonst muß ich Sie an die Zange nehmen . "
Das war der Schatten , der fast einen Monat über jeden Weg gefallen war , den Ernst ging .
Den Kopf gesenkt , schritt Ernst neben dem Geheimpolizisten her , dem die Befriedigung des Fanges aus den grauen Augen leuchtete .
" Wir suchen Sie seit fast vier Wochen .
Wo haben Sie die Zeit über gesteckt ?
Immer waren Sie gerade fortgegangen , wenn wir gekommen sind .
Die Sache wäre vielleicht schon vorbei , wenn Sie sich selbst gestellt hätten .
Den Kopf wird es nicht kosten ... "
Lautlos lachte Ernst auf .
Am liebsten hätte er dem Mann ins Gesicht gebrüllt , daß sie alle miteinander Schafsköpfe wären , denen ein heller Junge , wann und wo er will , durch die Lappen geht .
Er begnügte sich aber , zu erwidern , daß er immer in der Stadt gewesen sei , nur hätten sie sich leider immer verfehlt .
Den leisen Hohn seiner Antwort mochte der Polizist überhört haben .
Er schwieg jedenfalls und lieferte Ernst dem Untersuchungsrichter ab .
Die Jagd war Ernst doch auf die Nerven gegangen .
In vier Wochen keine Nacht richtig zu schlafen , verlangt eine starke Natur .
Ernst fühlte sich müde , sehr müde .
Deshalb begrüßte er beinahe , daß der Untersuchungsrichter die Haft über ihn verhängte .
Nun konnte er doch wenigstens wieder einige Nächte ruhig schlafen , brauchte nicht von Kneipe zu Kneipe rennen und elend frieren mit allem Geld in der Tasche .
Als der Wärter die Tür hinter ihm zuschloß , schaute Ernst sich nur flüchtig in der kahlen Zelle um , klappte den Sitz herab und schlief mit verschränkten Armen tief und friedlich .
Die Sache ging glatt und schnell .
Nach kaum drei Wochen stand Ernst vor den Richtern .
Er begriff die Zierlichkeit der Handlung nicht , bedauerte den kleinen Herrn Bolz , der gegen ihn zeugen wollte , aber gar nicht zur Vernehmung kam , weil Ernst alles rundweg zugab , und nickte gedankenlos , als der Gerichtsleiter fragte , ob er sich bei der ausgesprochenen Strafe bescheide .
Drei Monate Gefängnis bekam Ernst für seine Streiche bei Bolz & Harrer .
Das Gefängnis hatte sich Ernst viel schlimmer vorgestellt .
Das sollte eine Strafe sein ?
Dreimal täglich zu essen , ein ganz annehmbares Bett und Arbeit , die beim besten Willen nicht in Schweiß bringt !
In der gemeinschaftlichen Arbeitszelle machte Ernst die Bekanntschaft manches vorzüglichen Mannes , der ihm das und jenes offenbarte , was nicht ohne Nutzen sein konnte , wenn man wieder unter die Räder kam .
Er war nur mit kleinen Übeltätern zusammen , die ehrlich und mühsam ihr bescheidenes Auskommen ergaunerten , am Sonntag Gott den Herrn in der Gefängniskirche lobten und im übrigen verständige und nette Menschen waren .
Wenn Ernst von ihnen wissen wollte , welchen Sinn es eigentlich hat , eingesperrt zu sein , empfing er die milde und weise Auskunft , das Gefängnis sei eben nicht für die Gänse gebaut .
Die Leute lebten sehr regelmäßig , strengten den Geist weiter nicht an und strichen jeden Tag , der vergangen war , aus ihrem Gedächtnis .
Ernst sah in der ganzen Haft nichts weiter , als einen notwendigen Aufenthalt , um nach den Anforderungen des Lebens einmal ruhiger zu schnaufen .
Sich auf anderes zu besinnen , als auf die kommende Zeit der Freiheit , die wieder gelebt sein will , fiel ihm nicht ein .
Besserung ?
Umkehr ?
... Blech mit Schlagrahm !
Das sind Redensarten , dem Pfarrer ums Maul geschmiert , wenn er in die Zelle kommt .
Einige schöne Sommerwochen genoß Ernst noch in der wiedergewonnenen Freiheit .
Es war doch sonderbar gewesen , als das Tor hinter Ernst zufiel . wieder hingehen dürfen , wo es beliebte , keinen Aufpasser hinter sich , der mahnend mit dem Schlüsselbund rasselt , frei sein ... ganz gleichgültig ist es doch nicht , wo man in der Welt sich aufhält .
Soweit war Ernst mit der Lage zufrieden .
Nur eins bohrte und nagte in ihm .
Wovon leben und nicht stehlen ?
... Den Stellenanzeiger suchte er täglich ab , schrieb um kleine Posten und Gelegenheitsdienste und schnappte selten genug auch kurze Handreichungen auf , die schlecht bezahlt und schnell getan waren .
Sich dauernd an eine Arbeit binden , wies Ernst weit ab .
Freilich , ein gelernter Kaufmann , der den Fabrikhof kehren müßte !
... Das wäre so ein Ding , weil aber der Magen taub gegen alle Einbildungen blieb und eigensinnig auf seiner täglichen Füllung bestand , mußte Ernst wohl oder übel ein Stück nach dem anderen von seiner Standeswürde opfern .
Alle Hoffnungen , das Glück würde ihn doch noch einmal in ein warmes Eck schieben , welkten mit den Blättern .
Der Herbst kam kühl .
Kleidung und Schuhwerk zehrten von den letzten Resten einstiger Herrlichkeit , Kragen und Vorhemd ruhten auf einer Kehrichtmulde , und die Haare wuchsen lang und wild über die knochige Stirn . Heimgehen ...
Den verlorenen Sohn spielen ...
Ernst dachte der Augen des Vaters , der spitzigen , pfeilscharfen Worte der Mutter , der ganzen , in Bedauern und Verachtung schwelgenden Welt des Zwingers und kniff die Lippen grimmig ein .
Lieber einen Winkel aufsuchen und dort stumm verrecken ...
Oder noch besser !
Man drehte ein Ding , sah zu , wie lange die Leute auf den Leim kriechen , und schlüpfte für den Winter in der warmen Zelle unter .
Wenn man Einschlagpapier kaufte und Klebadressen , Lumpen und wertloses Zeug packte und die Nachnahme bei den Boten der Umgegend aufgab !
... Sie zahlten sofort aus und konnten dann ja sehen , was sie mit den Wertsendungen anfingen .
Den ganzen Nachmittag wälzte Ernst das Plänchen , erwog hin und her und kam schließlich zu einem klaren Vorsatz .
Schlau angefangen , mußte die Sache gelingen .
Aus seiner Tätigkeit bei Herrn Alfons Beißer wußte Ernst um die Verhältnisse vieler Leute und war um Aufschriften für seine Pakete nicht verlegen .
Der erste Streiche gelang .
In zwei Minuten hatte Ernst zwanzig Mark verdient , die das Herzklopfen und Kniezittern schon entschädigten , das er denn doch ausgestanden hatte , als der ehrliche Botengänger den Packen hin und her drehte , die Aufschrift prüfte und sie in ein Buch schrieb .
Ernst legte sich besseres Schuhwerk zu , die langen Haare fielen unter dem Schermesser , und ein reichliches Abendbrot hob Stimmung und Zuversicht .
Die kleine Beute erschien Ernst unerschöpflich .
Nun konnte man wieder einige Zeit leben .
Im Gasthof übernachtete Ernst und wiegte sich noch den ganzen nächsten Morgen in erinnerndem Behagen an sein wirklich gutes Bett .
Mit einigen Reclamheften im Sack verschlug sich Ernst vor die Stadt , wanderte die Waldsteige ab und schlürfte den milden Schein des Oktobertags .
Auf einer Lichtung machte er halte , schnitt das Bändchen auf und las sich in tiefes Vergessen .
Der Mensch trägt Adler in dem Haupte und steckt mit seinen Füßen doch in Kot !
Wer war so toll , daß er ihn schuf ?
Wer würfelte aus Eselsohren und aus Löwenzähnen ihn zusammen ?
was ist toller als das Leben ?
Was ist toller als die Welt ?
Allmächtiger Wahnsinn ist_es , der sie erschaffen hat Wahr , zu wahr !
... Laut las Ernst die Stelle aus Grabbe " Herzog von Gothland " , sprang federnd auf und schritt hastig zwischen den Bäumen auf und ab .
Wie diese starken Worte hallten !
Sie schlugen an seine Seele wie der Klöppel an die Glocke und brachten sein ganzes Wesen ins Tönen .
Schreien müßte man jetzt , mit Riesentrompetenstimme schreien , daß der Himmel , so weit er lag , aufgellte ... " Allmächtiger Wahnsinn ... allmächtiger Wahnsinn ... " Außer sich rannte Ernst auf die Lichtung hinaus , das Buch zu den Baumwipfeln reckend und einen wilden Raubvogelschrei ausstoßend ...
Nach vier Tagen war Ernst blank und führte den Streiche gleich bei zwei verschiedenen Boten aus .
Wieder ohne sonderlichen Zwischenfall und mit erklecklichem Nutzen .
Sein Anzug wanderte in den Fluß , und ein beim Trödler erstandener Anzug trat an die Stelle .
Das Wetter stand Ausflügen im Weg .
Es regnete , war kalt und trüb , und Ernst brachte seine Zeit mit Sitzen im Bahnhof , in Museen und in der Lesehalle hin .
Manchen Nachmittag suchte er eine versteckte Winkelkneipe auf , hockte finster brütend hinter dem Bierglas und las wirr durcheinander , was ihm eben in die Hand geriet .
Was früher gewesen , lag weit , weit dahinten .
Dicke , graue Nebel schieden Ernst von den Gegenden der Vergangenheit .
Nur eine halbe Stunde räumlich getrennt , schienen doch Welten und Meere dazwischen geschoben .
Ernst stützte den Kopf in die Hände , atmete tief aus und verlor den Blick im träge ziehenden Zigarettenrauch .
Gertruds Gesicht tauchte auf , der erschreckte Blick Lenes , Vater , Mutter , eine ganze Welt ...
Dumpf schlug Ernst Löhners Kopf auf die Tischplatte , seine Schultern zuckten , doch keine Träne linderte die Glut der brennenden Augen .
Den Hut hart über die Augen gezogen , eilte Ernst rastlos durch den nebelnden Abend , unwissend , wohin und wozu ...
Die Insel der Verlorenen Eines Tages wurde Ernst geschnappt .
Die Polizei hatte diesmal leichtes Spiel , denn er tat gar nichts , ihr zu entgehen .
Als er im grünen Wagen saß , lehnte Ernst müde den Kopf an die harte Bretterwand und schloß die Augen , ohne sich um die Gesellschaft im Wagen zu kümmern .
Weihnachten war ganz nahe , als Ernst Löhners Fall zum gerichtlichen Aufruf kam .
Die Untersuchungshaft hatte Ernst mit alten Bekannten zusammengeführt , die ihm einen hübschen Knast ( Strafe ) voraussagten und dringend empfahlen , nichts einzugestehen , was nicht hoffnungslos nachgewiesen sei .
Daran dachte Ernst eben und gab auf die Frage des Vorsitzenden , ob er sich schuldig bekenne , keine Antwort .
Die kalten , scharfen Augen des Gerichtsrates stachen in seinem Gesicht herum .
Der Mann war unangenehm , und Ernst beschloß , nun erst recht bockig und mundfaul zu sein .
Zu leugnen gab es eigentlich nichts , denn der Fall lag sonnenklar .
Doch wollte Ernst den Herren auch nicht die Freude eines gar zu schnellen Urteils bereiten .
Sie sollten ihr Gehalt nur verdienen .
Die gesamte Zeugenschaft wurde verhört .
Ernst verstand nicht recht , warum die Leute wütende Blicke nach ihm warfen und herzlich Lust bezeugten , ihn zu prügeln .
Sie klagten doch ; er hatte das Gericht nicht bemüht .
Die Fragen des Vorsitzenden und des Anklägers beantwortete Ernst mit Kopfschütteln , Achselzucken und Gesichtsverrenkungen .
Aber kein einziges Wort kam über seine Lippen .
Er frohlockte innerlich über die flehenden Blicke der Herren , die den stummen Sünder zweifelvoll prüfend musterten .
Zehn Monate Gefängnis , lautete der Spruch .
Ernst erschrak nicht .
Kundige hatten ihm ein Jahr mindestens vorausgesagt .
Das waren aber immer noch zwei Monate weniger .
Die Zellengenossen wünschten Ernst Glück zu diesem Ausgang und meinten , der Herr Staatsanwalt müßte entschieden seine gutmütigsten Hosen angehabt haben .
Zum heiligen Abend wurde Ernst eröffnet , er würde noch heute in das Gefängnis Hohburg abgeschoben .
Gern hätte Ernst Weihnachten in seiner vertrauten Zelle gefeiert , wenn es aber nicht sein sollte , gut !
Ein untersetzter Mann führte Ernst zum Bahnhof .
Die wappengeschmückte Mütze war das einzige Abzeichen seiner Stellung .
Den derben Knotenstock hätte auch ein Viehtreiber tragen können .
Vor dem Abgang hatte der Mann Ernst Löhner einen Revolver gezeigt und eine Schließkette und ihn ermahnt , vernünftig zu sein .
Es mache ihm selbst keine Freude , aufzufallen , wenn er einen gefesselten Menschen heute am ersten Weihnachtstag durch die Straßen führte .
Diese ruhige , nicht ohne Teilnahme vorgebrachte Aufklärung rührte Ernst , warum sollte er sich und dem Mann , der doch auch nichts für sein Amt konnte , Schwierigkeiten machen ?
Der Weg ging mitten durch die Stadt .
Ein Gemisch von Schnee und Schmutz quatschte unter den Schritten .
Ernst hielt den Hals steif , schaute unternehmend in die Welt und warf die Blicke der Menschen kühl zurück .
Sein Wächter spann ein Gespräch an , wie Ernst dankbar zu merken glaubte , um jedes Aufsehen zu vermeiden .
An der alten Georgskirche vorbei , die belebte Bahnhofstraße aufwärts und über den Bahnhofplatz weg durch ein Seitenpförtchen zum Zug .
Diesen Weg ist Ernst Löhner später noch hundertmal gegangen , ohne einen Begleiter mit Revolver und Schließkette , von Bekannten freundschaftlich begrüßt , und in dem sicheren Bewußtsein des Menschen , dessen Leistungen auf den Fortschritt der Welt zielen .
Jetzt wurde ihm doch jeder Schritt schwerer , die alten Mauern und Türme nickten teilnahmsvoll , und der Stadtwall , kahl und schwärzlich im Winterdunst , würde einen Frühling blühen , den er nicht sah ...
Von der Bahn ist eine halbe Stunde Weg nach dem Gefängnis Hohburg .
Ernst Löhners Reisebegleiter übernahm noch einen Häftling , und da er wohl nicht für geraten hielt , beide frei wandern zu lassen , schloß er sie mit den Handgelenken aneinander .
Der Kamerad war ein großer , schwerer Mensch und kam mit neun Monaten Gefängnis aus einem anderen Gerichtsbezirk .
Er murrte dumpf bei jedem zweiten Schritt , fluchte halblaut auf Staat , Polizei und Gericht und zerrte unwirsch an der Kette , wenn Ernst es gar zu eilig hatte .
Ein fahlgelbes Haus lagerte breit und wuchtig am Abschluß der Landstraße .
Ein altes Kloster , dachte Ernst .
Der Kamerad beugte sich leicht herüber , stieß Ernst an und grollte :
" Das Kittchen ! "
Ernst wußte , daß damit das Gefängnis gemeint war , und heftete den Blick gespannt auf den Bau , der ihm für ein kleines Jahr Heimat und Welt sein sollte .
Drei Soldaten standen vor dem Eingang .
Ein Posten pendelte die Stirnseite des Gebäudes auf und ab , guckte gelangweilt nach den zwei Ankömmlingen und drehte knirschend auf dem derben Absatz dicht vor Ernst um .
Ein enger , finsterer Flur empfing sie .
Es roch dumpf und faul , und plötzlich guckte Ernst daheim im Zwinger aus dem Wohnungsfenster in den Hof , wo die Dunggrube noch immer zum Himmel stank .
Einen mächtigen Schlüsselbund an der Seite , tauchte überraschend ein Aufseher aus dem Halbdunkel .
Der Mann hatte falsche , lauernde Augen , einen spöttischen Zug im Gesicht und den schleichenden , unhörbaren Gang großer Katzen .
" Was sind denn das für Vögel ?
... Wie lange hast du ? "
Ernst begriff nicht gleich , daß er gemeint sei , war überhaupt ganz benommen von den Eindrücken und schwieg .
Der Oberaufseher fuhr ihn barsch an , ob er wohl das Maul verloren habe .
Er würde ihn nicht immer zweimal fragen .
Ernst gab die verlangte Auskunft , wurde mit einigen spitzigen Anwürfen wegen seines Alters , seiner mangelnden Arbeitslust , überhaupt seiner echt großstädtischen Verdorbenheit bedacht und vernahm staunend , daß man ihn hier schon ziehen werde .
Das dürfe er gern glauben .
Nachdem alles in einen Sack gesteckt worden war , was er mitgebracht hatte , kam Ernst in einen Raum , den vier oder fünf Kerle in grauweißen Drillichkleidern bevölkerten .
Einer davon winkte Ernst heran , fragte ihn nach Herkunft , Sünde und Strafe aus und meckerte höhnisch , als Ernst gedrückt seine zehn Monate gestand .
" Da wirst du nicht alt bei uns , Junge !
... Zehn Monat !
Dafür gibt es nicht Mal einen Löffel .
Bis du richtig essen willst , ist die Zeit ja schon vorbei ... "
Was die Kerle eigentlich wollten , ging Ernst nicht ein .
Sie tasteten ihn frech und zudringlich von Kopf zu Füßen ab , rissen Witze über sein Aussehen und hätten wohl noch länger fortgemacht , wäre nicht urplötzlich der Oberaufseher dagestanden .
Wie der Mann eigentlich ging , war sein eigenstes Geheimnis .
Er war da und war fort , plötzlich und unverhofft , ohne daß man einen Schritt hörte .
Die Sträflinge verstummten , krümmten sich schlangenhaft und glitten um den Aufseher , der mit grauen , rohen Augen jede Bewegung verfolgte .
" Was treibt ihr denn da ?
Schneide dem Zugang das Haar , und du schaffe die Uniform her .
Aber schnell , sonst mache ich euch Beine ... "
Ernst fühlte das kalte Eisen im Genick .
Sein langes , eitel und hingebend erhaltenes Haar fiel auf die Steinfliesen , und ehe fünf Minuten um waren , stand Ernst kurz geschoren vor dem Aufseher , der ihn befriedigt umdrehte .
" So , und jetzt in die Uniform , dann bist du , wie du sein mußt . "
Das grobe , dickfaserige Hemd scheuerte auf der Haut , und die Hosen waren viel zu lang ; ratlos wog Ernst ein meterlanges Tuch in der Hand , bis ihm bedeutet wurde , das sei um den Hals zu tragen .
Ernst Löhner merkte überrascht , daß gleiche Kleider schnell gleiche Menschen schaffen .
Sein Anzug hatte gar nicht zu dieser Welt gepaßt .
Jetzt fühlte er sich vertrauter und heimischer , und da ihm auch noch die flache Mütze aufgestülpt wurde , unterschied er sich gar nicht mehr von den anderen Sträflingen .
Büßer sehen sich zum Verwechseln ähnlich , und jeder ist der Doppelgänger aller anderen .
Durch einen langen , trüben Gang schritt Ernst hinter dem Oberaufseher drein .
Dumpf polterndes Rasseln brandete an den Wänden hoch , schauerlich den Hall verschollener Zeiten weckend .
Ein großer , wild blickender Sträfling kam ihnen entgegen ; er setzte die Beine zwangvoll nach den Seiten ; über den Knöcheln wuchteten breite , schwere Eisenringe , durch eine dicke Kette verbunden .
Bei jedem Schritt klirrten die Ringe laut und klagend .
" Der Bruder hat ausbrechen wollen .
Dafür hat er die Springer gekriegt und kommt vier Wochen in strengen Arrest .
Schau dir es nur genau an .
Vielleicht vergeht dir die Lust aufs Durchbrennen .
Man hat schon Mittel , euch Bande zu zwingen . "
Die hämische , aufreizend bösartige Stimme des Büttels peitschte Ernst aus seiner Versunkenheit .
Wo war er denn hingeraten ?
Erinnerungen stürmten auf ihn von vormals gelesenen Geschichten .
Hexenhammer und peinliches Gericht , die Folterkammer , die er so oft gruselnd betrachtet hatte , Daumenschrauben und spanischer Stiefel ... das ganze Mittelalter tanzte den höllischen Reigen um Ernst Löhner , der fest die Zunge zwischen die Zähne nahm , um nicht aufzuschreien .
Hier lebte also noch die Grausamkeit und das Entsetzen einer Zeit , die er sonst nur an hohen , traumhaft schönen Kirchen , an heiteren , edel maßvollen Häusern , an kindlich frommen Madonnen erkannt hatte .
Hier hatten sich Finsternis und Roheit ihre Burg gebaut und widerstanden allen Anläufen der Menschlichkeit und erwachter Vernunft .
Die Zugangszelle war ein großer , viereckiger Raum , dämmerig und erstickend , mit schweren Gitterrahmen an den Fenstern und einer klotzig dicken , eisenbeschlagenen Bohlentür .
Halb geblendet taumelte Ernst Löhner über die Schwelle , hörte Riegel und Schlösser schnappen und blieb mit hängenden Armen wie angenagelt stehen .
" Na , bist du auch fertig ?
... Laß dich anschauen , wie du hergerichtet bist !
... Pfui Teufel , Junge , schau 'n wir aus !
... "
Sein Genosse vom Bahnhof war es .
Er stand von einer Bettstelle gemächlich auf , ging langsam um Ernst im Kreis , den Kopf aufgebracht schüttelnd , und zog Ernst mit sich in den Hintergrund .
" Heute haben wir unsere Ruhe ...
Jeder Zugang bleibt eine Nacht in diesem Affenkasten .
Morgen werden wir eingeteilt und kommen zu den anderen ... Junge , Kopf hoch !
Durch die Tür sind wir herein , durch die Tür gehen wir auch wieder hinaus .
Der Tag hat auch im Kittchen bloß vierundzwanzig Stunden ... "
Der Mann redete gern .
Er fragte Ernst in fünf Minuten mehr , als in einer Stunde zu beantworten war , flocht saftige Flüche und Schmähreden auf König und Vaterland ein , ballte die Fäuste , rollte die Augen und spuckte in kunstvollem Bogen nach den hoch angebrachten Fenstern .
" Feines Weihnachtsfest , nicht ?
... Himmelkreuzbombenundblutiges Kreuz !
Jetzt könnten wir beim Bockbier sitzen wie andere Spitzbuben auch und mopsen uns derweil in dem Ziegenstall ...
Wenn man nur wenigstens rauchen oder schnupfen könnte .
Hast du nichts geladen gehabt , Junge ? "
Ernst verneinte mit Kopfschütteln .
Er verspürte auch nicht schlecht Lust nach einer Zigarette , und siedend dachte er daran , wie er wohl zehn Monate ohne das geliebte Laster durchhalten sollte .
" Ich habe dafür was mit .
Der bucklige Hund von Oberaufseher hat sich die Augen ja ausgeglotzt , aber gefunden hat er doch nichts .
Da , nimm eine Prise .
Es tut wohl .
Du wirst es bald spüren ... "
Ernst nahm die Prise Gehorsam .
Eine Zigarette wäre ihm lieber gewesen .
Der Tabak britzelte und bis abscheulich auf die Schleimhäute , doch unterdrückte Ernst heldenhaft den Drang zum Niesen , weil ihn der Kamerad inständig beschwor , doch an sich zu halten .
Das Luder , der Oberaufseher , schlich sicher draußen herum , und wenn er niesen hörte , wären sie beide geliefert .
" Der Schleicher täte sich den Buckel voll lachen , wenn er uns morgen gleich zum Rapport führen könnt ' ... Du gefällst mir nicht schlecht , Junge , aber ich müßte dir die Knochen entzweischlagen , käme jetzt der schielende Gauner und filzte uns nach .
Ich muß meine Prise haben , sonst bin ich krank .
Du wirst schon noch merken , daß hier im Haus alles auf Tabak verrückt ist , und daß sich die besten Freunde um eine Prise umbringen möchten ...
Es ist nicht leicht , so was hereinzubringen , der Oberaufseher ist wie ein Teufel dahinter ... " Grünwald , ein oberfränkischer Korbflechter , erzählte Ernst nun , wie er es angestellt habe , Schnupfpulver durchzuschmuggeln .
Im Schubgefängnis ist Tabak erlaubt .
Davon tat er sich einen Teil zurück , knetete eine längliche , in Goldschlägerhaut gehüllte Rolle und führte sie tief in den After ein .
" Der windige Oberputz hätte nur was merken sollen .
Ich hätte Süßholz saufen müssen , bis ich vorn und hinten in die Luft gegangen wäre .
Und das bucklige Luder hätte dazu gegrinst .
Aber er hat nichts bemerkt und sich umsonst die Augen ausgekegelt .
Das freut mich tüchtig , Junge , weil der Oberaufseher ein hundsgemeiner Schuft ist , der uns hängt , wo er bloß kann .
Nimm dich vor dem in acht ... "
Was für eine Welt !
Ernst hatte sich das Gefängnis vorgestellt als eine stille , weltabgewandte , beschauliche Klause , darin irrende und verirrte Menschen über Vergangenes nachdachten und ernstlichen Vorsatz faßten , sich für ein neues Leben zu erheben .
Gesetzte , reife Menschen würden den Sträflingen Beispiel und Vorbild sein in Wort und Tat , würden fest und doch mild Triebe und Gedanken auf ein sittliches Ziel richten , um den im ärgsten Verbrecher noch schlummernden Menschen wieder aus dem verhängnisvollen Schlaf aufzuwecken .
Nun mußte er gleich in allererster Stunde erkennen , daß hier ein wilder , maßlos erbitterter Krieg zwischen Häftling und Aufseher tobte , ein mit allen Listen und Finten durchgefochtener Kampf um die Befriedigung einfachster Bedürfnisse .
Grünwald sprach vom Oberaufseher als von einem " Gauner " und heimtückischen " Schleicher " , und Ernst gab zu , sein Eindruck von dem Menschen bestätige diese rohen Bezeichnungen .
Wie stellt man sich zu einer solchen Welt ?
Offenheit und guter Vorsatz sind hier wohl gänzlich verraten und verkauft .
Schlau sein , anders tun , als man denkt , Minen legen und selbst vor Minen auf der Hut sein : nach diesen Grundsätzen scheint hier gehandelt zu werden .
Einige Stunden hatten Ernst Löhner und Grünwald verplaudert .
Ernst gab sich vorsichtig , entschleierte nur Strecken seines Lebensganges und wußte genau , daß auch Grünwald nicht alles sagte .
Er war wegen Diebstahl da , keine besondere Sache , ohne eigenen Gedanken angepackt und bald aufgekommen .
Ernst lauschte den selbstgefälligen Schilderungen dieses durchschnittlichen Langfingers herzlich dankbar , weil ein Mensch sprach , ein Mensch mit menschlicher Stimme in dieser grauen , toten , Verwesung hauchenden Welt des Hauses .
Hätte Grünwald einen Menschen umgebracht und es erzählt , Ernst wäre ihm nicht weniger dankbar gewesen für die Erzählung , denn zwischen diesen Mauern schien es so natürlich , daß sich die Menschen umbringen .
Bald kam die Nacht .
Eher als die freie Welt draußen hüllte grauer , rauchig trüber Abend Haus Hohburg in tiefe Schatten .
Die Zelle lag in dicker Dunkelheit , als noch eine Schüssel Bohnen hereingereicht und verzehrt wurde .
Grünwald streckte sich gleich auf die Pritsche und schlief in kurzem fest und tief .
Manchmal murmelte er im Schlaf und zischte unverständliche Worte durch die Zähne .
Die Augen groß in die Dunkelheit geheftet , lag Ernst auf dem Rücken .
Die Luft kam ihm wie gemauert vor .
Sie drückte hart und felsig aus alle Glieder .
Klein und winzig glitten die Bilder des Tages vorüber .
Die verlassene Stadt , die auf lange verlorenen Wälle und Türme , der stampfende Eisenbahnzug in der winterlich öden und kargen Landschaft , die Soldaten vor dem Tor , der Teufel in der Uniform des Oberaufsehers ... hoch dehnte sich die Brust im Übermaß der wechselnden Fülle und des wehen Glanzes , der auf allen Dingen lag .
Draußen stapfte der Posten plump die Mauer entlang , ein schlürfender , zögernd tastender Fuß im Zellengang , sonst kein Laut in der wuchtenden Stummheit ringsum .
Horch !
Ein fernes , taktmäßiges Klappern , dunkeltonig und fremd !
Der Mann mit den Springern lief wohl in der Arrestzelle auf und ab .
Im Halbschlaf wälzte sich Ernst Löhner auf die andere Seite , zog die Wolldecke über den Kopf , dem unbarmherzigen , marternden Klirren und Klingen zu entgehen , und blieb doch an den Klang gefesselt , Stunde um Stunde , hilflos und fieberisch den Augenblick herbeisehnend , der den ruhelos schreitenden Kettenträger einhalten hieß .
Schwindendes Wissen um sich selbst mischte das Klirren in die Erinnerung einst gehörter Weihnachtsglocken , die längst , längst versunken waren und nur noch ganz fern und schwach aus tiefem Grund läuteten ... Fahrten ins Himmelblaue Ernst Löhner kam zu den Flickschneidern .
Damit keine falsche Meinung aufkommt :
Es gab weder etwas zu schneidern , noch etwas zu flicken , sondern siebzig Männer saßen in einer Doppelreihe auf rohen , ungestrichenen Dreibeinen und - strickten Strümpfe .
Für fromme Missionsvereine , für knauserige Fabrikanten , die Gefängnisarbeit ausbeuten , für wohltätige Stiftungen , arme Kinder zu kleiden : darum kümmerten sie sich weiter nicht .
Die Nadeln klapperten von morgens sechs Uhr bis abends sieben Uhr , und Millionen Maschen wurden in einem Tag aneinandergereiht .
Ernst hätte gern andere Arbeit geleistet .
Von allen Demütigungen , die er bis jetzt erlitten , schien ihm die ärgste , daß er Strümpfe stricken mußte .
Das taten sonst nur Schulmädchen und alte Weiblein ; in diesen Kreis geschoben zu sein , fand Ernst schmählich .
Doch eine Versetzung zu anderer , mehr männlicher Arbeit war ziemlich aussichtslos .
Zu schwitzen gab es bei der Tätigkeit nichts .
Die größte Anstrengung war wohl das Sitzen .
Hatte man dazu noch leichte Finger , so war das ganze Handwerk mehr Spiel als Leistung .
Einen Vorzug hatte die Beschäftigung :
man konnte denken , konnte an anderes als an die Arbeit denken .
Davon machte Ernst ausschweifenden Gebrauch .
Er setzte sich morgens hin und fabulierte bis zum Mittagessen eine märchenhafte Geschichte aus .
Gegenstand : die Zukunft Ernst Löhners !
Wenn du nach Amerika gehst ...
Man fährt auf dem Schiff nach Amerika , lieber Ernst , man geht nicht .
Also , wenn du im Oktober nach Amerika fährst ...
Ernst Löhner ist schon drüben .
Er hat Erfindungen gemacht , die in eigenen Fabriken ausgebeutet werden .
Zwanzigtausend Arbeiter schaffen in seinen Werken .
Der fürstliche Palast liegt wunderbar an der teuersten Straße von Neuyork .
Breite , kiesgestampfte Auffahrten leiten durch ein Tor , das ein Meisterwerk von Kunstschmiedearbeit ist .
Ernst ruft den Hausmarschall an , die Jacht seefertig zu machen .
Er will die alte Heimat besuchen .
In der Vaterstadt herrscht große Aufregung .
Der berühmte Erfinder und Multimillionär Ernst Löhner ist angekommen .
Das herrliche auto rattert durch die Straßen hinaus in die Stadt der kleinen Leute .
Die Leute zeigen sich das auto und flüstern halblaut den berühmten Namen .
Vor dem grauen Haus läßt Ernst halten , steigt aus und befiehlt dem galonierten Diener laut , zu warten .
Sein Gesicht ist eisenhart , er schaut mit großartigen Augen um sich .
Der Vater reibt sich die Hand am Rockärmel , bevor er sie Ernst gibt .
Die Mutter rennt aufgeregt durch die Wohnung und stäubt alle Stühle ab .
Jetzt spricht Ernst mit den Eltern , zieht eine große Brieftasche und legt fünfzigtausend Dollar auf den Tisch ...
" Du spinnst wohl schon wieder , Nummer Sechsundzwanzig ?
Denke an deine Arbeit oder ... "
Der krummbeinige Aufseher stand , die Hände hinter dem Rücken verschränkt , vor Ernst und schaute ihn durchdringend an .
Der gelbe Säbelkorb glänzte aufdringlich .
Ernst war aus allen Himmeln gestürzt .
Wie schön hatte er sich doch alles ausgemalt , die Fahrt übers Wasser , seine Fabriken , die Jacht und das Wiedersehen .
Jedes örtliche Bewußtsein zerfloß vor diesen Einbildungen .
Er hatte frei und fessellos geschwebt und sich ganz der Hohburger Wirklichkeit ledig gefühlt .
Nach zehn Minuten begann Ernst sachte wieder zu schwärmen .
Diesmal blieb er im Land und nährte sich redlich .
Er war ein berühmter Schriftsteller geworden , dessen Bücher in allen Schaufenstern lagen .
Sein Name leuchtete Sternenhaft , soweit deutsch geschrieben und gelesen wurde .
Letzthin hatte er einen Roman abgeschlossen , der bald erscheinen sollte .
Darin war sein ganzes Leben ausgebreitet , und alle Menschen kamen vor , die ihm lieb waren .
" Gertrud " hieß der Roman .
Gertrud ???
... Wo weilte sie jetzt ?
Sie war sicher ein großes , schönes Fräulein , ging ins Theater , und die Studenten nahmen ihr den Mantel ab .
Gellendes läutete die Glocke Mittag .
Die Dreibeine scharrten und rückten , weißgraue Arme fuhren durch die Luft , und laute Gespräche wirrten ineinander .
Die Essenträger kamen , und Ernst holte sich auch seinen Blechnapf aus dem Ständer .
Es gab dicke Bohnen , die er gern mochte .
Eigentlich hatte er nichts zu klagen .
Draußen war Februar ; klirrende Kälte knirschte unter den groben Schuhen , wenn man über den Gefängnishof ging .
In der Schanze war es mollig warm .
Zwar der Gedanke , frei zu sein , weckte auch wohlige Wärme , aber es war doch sehr fraglich , ob diese Wärme lang vorhalten würde , wenn man jetzt frei wäre ... Dummheit !
Unsinn !
Es war schon alles richtig und in Ordnung .
Der Frühling kam .
Schreiend und gekernt flogen die ersten Schwalben um das Haus und jagten sich mutwillig immer höher ins Blaue .
Die Gefangenen sahen versonnen dem Spiel zu , mancher strich sich das Haar aus der Stirn und atmete schwerer .
Ernst Löhner schwang sich beim täglichen Spazierlauf im Gefängnishof über alle Mauern und Dächer beherzt auf einen Vogelrücken und flog selig durch lauter rieselnde , zart erwärmte Luft .
Auf jedem Baumast hockte er nieder und zählte die Blätter und Knospen .
Bald mußte blühende Zeit kommen .
Auch der Sommer erschien .
Sonne nahm die Welt in die glühenden Hände , preßte Mauern und Dächer , daß sie sich zitternd und flimmernd krümmten , und kannte kein Erbarmen in ihrem feurigen Reifewerk .
Ernst war tief benommen von der Glut , taumelte heiß durch Höfe und Gänge und hing jeder Stunde Flügel an , die Zeit zu beschwingen .
Sieben Monate seiner Haft waren vergangen ; wie ihm vorkam , schnell und ohne Verweilen .
Nun schrie Unrast in ihm auf , murrend , drängend und ungestüm .
Die Sonne ist ein schlechter Freund des Gefangenen .
Jeden Morgen predigte sie mit feurigen Himmelszungen von Freiheit und offenen Straßen , von endlos wogenden Wäldern und von Gebreiten , die ohne Ziel und Schranke sind .
Ernst vernahm die Aufrufe täglich und wünschte , Wolken möchten die Sonne verstummen machen .
Regnen müßte es , regnen , bis seine Stunde geschlagen hatte , die ersehnte , goldene Stunde der Freiheit und Heimkehr .
Es rang und raufte in Ernst Löhner .
Der er war , würgte sich stöhnend ab mit jenem anderen , der er sein wollte .
Sie zerrten sich hin und her , schrien und stritten um die arme Seele , die ratlos dazwischen stand , und konnten zu keinem Ende kommen .
Auf braunes Packpapier hatte Ernst eine Abrechnung seines Lebens geschrieben .
" Die Metamorphose meiner Weltanschauung unter dem Einfluß des Christentums . "
Das war eine Frucht der Gefängniskirche und des sehr lebhaften , eifervollen Geistlichen , der immer krachend auf die Kanzel schlug , wenn er predigte , und mit deutlichen Worten der weißgrauen Gemeinde das Gesicht in den Spiegel stieß .
Der Mann meinte es gewiß zum besten , und daß er nicht in Filzsocken durch das Heiligtum seines Herrn schlich , sondern mit derben , genagelten Bauernschuhen darin umherpolterte , fand Ernst Löhner neu und anregend .
Obwohl das Schreiben streng verboten und mit Arrest belegt war , zeichnete Ernst mit einem Stumpf von Zimmermannsblei eine Reihe Gedanken auf braunes Packpapier und überlegte tagelang , wie er diesen Aufsatz dem Geistlichen in die Hände spielen sollte .
Dazu reimte er ernst und ausdauernd lehrhafte Fabeln , die irgendeine sittliche Erkenntnis oder Folgerung aussprachen .
Diese geistigen Spaziergänge mußten unter strengstem Ausschluß der Öffentlichkeit geschehen , denn sie verstießen gegen die Hausordnung und hätten Ernst nur ins Loch gebracht , wenn jemand dahinter gekommen wäre .
Morgen schlug Ernst Löhners Stunde .
Zum letztenmal ging es im Zug der anderen in die gemeinschaftliche Schlafzelle .
Die Kameraden kamen zu Ernst ans Bett , auf die Gefahr hin , eingelocht zu werden , und banden ihm Grüße und kleine Aufträge ins Gewissen .
" Du wirst doch hoffentlich nicht unterwegs wieder verschütte gehen !
... Stecke die Hand wenigstens so lange in die eigene Tasche , bis du daheim bist und ausgerichtet hast , was du ausrichten sollst .
Dann kannst du von mir aus wieder kommen , wenn die Sehnsucht so groß ist . "
Ernst mußte lächeln .
Sie sollten ganz beruhigt sein , er denke nicht so rasch an ein Wiedersehen .
" Das hat noch jeder gesagt , Junge , und übermorgen war er schon wieder im Kittchen .
Wenn die Schwalben heimwärts ziehen ...
Was ? "
Es fiele ihm gar nicht ein , diesen Saustall nochmals von innen anzuschauen , er hätte vollständig genug .
" Nichts verreden , Junge , bloß nichts verreden !
Vielleicht kommst du das nächstemal als Aufseher , was willst du dagegen machen ? "
Die wildspöttischen Scherz- und Neckreden dauerten noch eine ganze Weile .
Die Glocke schnitt sie kurz und lärmend ab .
Fünf Sträflinge kamen mit Ernst Löhner zur Entlassung .
Die Abgangszelle ist der einzige helle Raum im ganzen Gefängnis .
Äußerlich gleicht sie jeder anderen Zelle .
Sie ist nicht weniger dumpf und dunkel , und die Eisengitter zerbrechen den Blick hier wie überall im Haus .
Doch alle Gedanken kreisen um diesen Raum , schmücken ihn aus mit besten und schönsten Gefühlen , und noch keiner hat seine letzte Strafnacht hier verlebt ohne festesten Vorsatz , nie wieder hinter Mauern zu kommen .
Solange diese Zelle schon steht und soviel Tausende sie beherbergt hat , geschlafen wurde in ihr noch nicht viel , weil keiner schlafen will , dem morgen die Welt wieder geschenkt wird , die tolle , wirre und so heißgeliebte Welt .
Ernst strich über seine Kleider .
Zehn Monate hatten sie in einem Sack gelegen , rochen durchdringend nach Kämpfer und waren ihm wunderlich fremd geworden .
Immer wieder zog er die Weste stramm , schnellte die Hosenträger vor , die ihm ein Wunder schienen , und stapfte , die Brust vorgestreckt , in der Zelle hin und her .
Die anderen taten desgleichen .
Die Gesichter leuchteten , die Worte flogen leicht und spielerisch wie Bälle , und die Stimmen blühten förmlich auf .
Die Erwartung hatte alles Rauhe und Graue der Haft von den Blicken gestreift .
Sonst versenkt , trübe und wie mit Spinnweben bezogen , blitzten die Augen nun wieder frisch und klar .
Es war heimlicher Jubel über den Leuten , ein kinderfroher Geist , bereit , die Welt zu nehmen wie Kinder ihre Gaben vom Weihnachtstisch .
Licht hinter Gittern Grau und unwirsch wich die Stadt vor Ernst Löhner zurück , der auf dem Bahnhofplatz stand und sich umschaute .
Das also hatte er verlassen !
Hatte er fast ein ganzes Jahr nicht mehr vor Augen gehabt !
Die weit gedehnte Flucht der Straßen und Häuser füllte wieder seinen Blick .
Er folgte ihr bis zu dem fernen , feinen Strich , der die Stadt vom Himmel schied , von einem grauen , mürrischen , verdrossenen Himmel .
Die feuchte , rauchig schmeckende Luft mit vollen Nüstern saugend , fühlte sich Ernst Löhner bis in die letzte Faser getränkt mit altem , vertrautem Duft , der von gewesenen Freuden und Schmerzen jetzt noch feinen Hauch herantrug .
Die Menschen hasteten um ihn , ganz in eigene Absichten versponnen , und achtlos für den großen , liebevoll umfassenden Blick des jungen Menschen im verdrückten Rock .
Ernst hätte jedem die Hand reichen und ihn Freund heißen mögen , so übervoll war das Herz von bewegter Freude .
Wohin jetzt ?
Zu den Eltern ?
... Ernst mußte lächeln .
Er dachte schnell an seinen Flug über den Ozean , an den millionenreichen Erfinder und an die fünfzigtausend Dollar , die er doch auf den Tisch zählen wollte .
Siebzehn Mark und siebenunddreißig Pfennige waren sein Reichtum , der Lohn seiner zehnmonatigen Arbeit in Haus Hohburg .
Damit konnte er nicht heim ...
Aber ein Glas Bier müßte jetzt munden und einige Zigaretten nebenher ... Ziemlich benebelt ging Ernst einige Stunden später aus dem Gasthof .
Man war doch geschwächt und konnte noch nichts vertragen .
Die alten Kneipen würden ihn wohl noch kennen .
Über den St. Georgsplatz schwankend , verzog sich Ernst in die abgelegene Kneipe " Zum König von Portugal " .
Dort brachte er sich für die nächste Zeit unter .
Zwei oder drei Tage lief Ernst wieder durch die Stadt , bemüht , irgend etwas zu finden , was auf anständige Art zu leben erlaubte .
Hinter jeder kleinen Möglichkeit , zu arbeiten , war Ernst her , ohne den geringsten Erfolg .
Für körperliche Arbeit sah er zu schwächlich aus , für bessere Arbeit fehlte es an der Kleidung , die fadenscheinig und zweifelhaft geworden war , und den scharfen Kampfergeruch nicht aufgeben wollte .
Die Tage gingen , die Barschaft schmolz trotz aller Rechenkünste und zwei Wochen nach seiner Entlassung stand Ernst vor dem vollkommenen Nichts .
Schon eine ganze Woche fristete er sein Dasein in der öffentlichen Lesehalle .
Der angenehme , freundlich durchwärmte Saal hielt ihn von mittags bis abends umschlossen .
Zeitungen und Bücher blätternd tat Ernst für Stunden das Bewußtsein ab , und schob Welt und Wirklichkeit aus dem Kreis seiner Gedanken .
Ohne zu wissen , was er gerade las , gab sich Ernst dem Gedruckten hin und trank das Knistern und Rauschen umgeschlagener Blätter wie Verheißung schönerer Zeit .
Langsam leerte sich der Saal .
Es wurde Zeit zum Aufbruch .
Vorsichtig kramte Ernst seine Taschen aus .
Ein Loch ... noch ein Loch ... da - ein harter Gegenstand , ein Fünfpfennigstück , das sich in dem Spalt - Gott weiß , wie lang ! -
schon verkrochen hatte , die Quittungskarte , ein Reclambändchen - Hebbels Leben - ein Wust zerknüllter , bleistiftbeschmierter Blätter und ein Briefumschlag .
Sinnend weilte Ernst Löhners Blick auf dem Umschlag .
Er zog das Blatt heraus und überlas die steilen , eckigen Schriftzüge .
" An den lieben Gott ! "
" Ich lebe , obwohl es besser für mich wäre , etwas anderes zu tun .
Warum lebe ich ?
Weil du es zugelassen hast aus deiner unerforschlichen Gnade und Barmherzigkeit , ohne mich erst zu fragen , mich , der dich nicht um sein Leben gebeten hat .
Ich könnte mich ja umbringen .
Dann wäre alles aus , und ich hätte dir das Geschenk vor die Füße geworfen , das du mir einst aufgedrungen hast .
Aber ich werde leben bleiben .
Denn ich glaube an mich , nur an mich , und mutmaße , daß eben das der Grund deiner Mißgunst ist .
Ich forder dich nun erst recht heraus .
Ungleich ist der Kampf , ich weiß es . Dir steht alle Macht und Herrlichkeit zu Gebot , ich habe nichts als meinen Willen , meinen stahlharten Willen .
Er steht über uns beiden .
An ihm wird einer von uns zerbrechen .
Ich weiß , daß du es sein wirst .
Wüßte ich das nicht so felsenfest , mein Kampf gegen dich wäre nur Luftfechterei .
Heute bin ich ohne Obdach .
Du schläfst in deinen siebenmal sieben Himmeln , wohin kein Nordwind eisig bläst. Kahlkopf komme heraus !
Hetze wieder die Bären auf mich , und freue ' dich , wenn sie den vorwitzigen Buben zerreißen .
Du freust dich ja über alles , was vor der Zeit fällt .
Wären alle Buben , die deiner gespottet haben , Männer geworden , deines Reiches Ende wäre nahe .
Und nun gehe ich hinaus in die kalte Nacht , dir zu Tort und Trotz , und befehle mich der Hut des dreieinigen Teufels .
Amen !
Der Held im Schatten . "
Heiß heizte der Zorn dieser Zeilen die durchfrorene Seele .
Die Faust grimmig geballt , ging Ernst aus der Halle , wohin jetzt ?
... Geld hatte er keins , Schulden gab es in der Kneipe nicht , Taler würde es wohl diese Nacht auch keine regnen , also , was anfangen ?
... Einstweilen schlenderte Ernst langsam dem Bahnhof zu .
Dort konnte man sich mit etwas Glück , und wenn die Aufsicht nicht allzu dienstlich gelaunt war , bis Mitternacht halten .
Zwei Zigaretten gab es auch noch um das unverhofft gefundene Geldstück .
Der Wartesaal dritter Klasse summte wie ein Bienenstock .
Die Menschen kamen und gingen .
Hastig , zielbewußt , wie aus einer Pistole geschossen .
Ein versteckter Winkel nahm Ernst auf .
Er saß dort , kämpfte mit Schlaf und Hunger , nahm , sich wachzuhalten , ein Blatt Papier vor und schrieb Verse auf , die ihm tagsüber gelungen waren .
Kurz nach Mitternacht wurde der Saal geräumt .
Die Menschen wurden auf die Straße gekehrt .
Ernst rieb die Hände warm und schritt geradeaus .
Schwarz , sternenlos hing das Tuch der Nacht vom Firmament .
Es rauschte kühl auf , wenn der Wind blies .
Kleine Schauer spritzten hinein und Ernst wurde naß bis auf die Haut .
Er achtete die Nässe nicht .
Ganz in sich verkrampft , schritt er stürmisch unter dem wolkenüberjagten Himmel und wälzte seinen Willen vor sich her wie einen ungeheuren Felsblock .
Die Welt ist nur für einen Menschen geschaffen .
Für zwei Menschen ist sie schon zu klein .
Lächerliches Schauspiel des Tages , wenn die Ameisen kribbeln und geschäftig sind , heimzutragen und aufzuspeichern !
Wie klein und eng ist die Welt doch zur Nacht !
Da schreitet ein Mensch durch die Straßen , den Kopf tief geneigt , und steigt mit jedem Schritt über Welten von Geschlechtern weg .
Wuchtig gegliedert drücken die runden Türme Himmel und Nacht zur Seite , ruhen stolz in eigenem Gewicht , und stoßen den Wind verächtlich ab , der an ihnen heulend zerrt .
Ernst Löhner hemmte den Fuß und blieb gebannt vor dem Turm stehen .
Ihm war , als reichte der starke Gesell eine Hand herüber und brummte :
" Nur nicht gewankt !
Solang du Grund unter den Beinen fühlst , wird gestanden ! "
Die ganze Umwallung zwischen innerer Stadt und Vororten hatte Ernst umkreist , ein Weg von zwei Stunden .
Wenn er den Gang wieder vollendet hatte , war der Morgen da .
Nachtschwärmer kreuzten den Weg , in warme Mäntel gewickelt , den Kragen aufgeschlagen , und vergnügt vor sich hin pfeifend .
" Holla , Nachbar , langsam !
Sie haben ja Ihren Überzieher vergessen ! "
Verächtlich ausspuckend , murmelte Ernst nur : " Blöde Gesellschaft !
Viehzeug ! " und setzte seinen Gang fort .
Die Kerle hockten sich jetzt wahrscheinlich noch in eine warme Kneipe , schwatzten dumm und quälten sich Witze ab über den Mann ohne Überzieher .
Tiere sind es , die zufällig aufrecht laufen !
Zieht man ihnen den Schneider aus , so bleibt nur eine mit Dummheit und Gemeinheit ausgestopfte Haut .
Hatten diese Kerle seit Stunden etwas gedacht ?
Sein kleiner Finger enthielt mehr Gehirn , als die Bande im Kopf trug .
Sie rumorten in der Nacht herum , die ihm die besten und tiefsten Gedanken schenkt , und bringen nichts davon als einigen Lärm , der bald wieder verpufft ist .
Sein Beruf ist , die Welt zu fühlen .
Ein schmerzlicher Beruf und doch überschwänglich schön !
Millionen Menschen schlafen jetzt im weichen Bett .
Sie denken nichts und fühlen nichts , treiben ganz auf dem Grund der Welt , der sie wie ein Strom überspült , und ziehen morgens nur elende Trümmer an den Strand des Bewußtseins .
Er war für alle Zeit zum Wächter bestellt , zum Wächter der schlafenden Welt , er , Ernst Löhner , ein Auserwählter in Geist und Gnade .
Den Schritt an das Maß der Verse bindend , sprach Ernst erschüttert und wunderbar gestärkt : Du hast mich , o gewaltiger Gott , zu deinem Rüstzeug auserwählt , hast mit Begeisterung , Zorn und Spott mich durch und durch für dich gestählt .
Ich bin ein irrer Funke bloß aus deinem ewigen Feuermeer , doch vor der Menschheit schreit ich groß noch durch Jahrhunderte einher .
Soll denn mein ganzer Lebenslauf ein einziger Wonneschauer sein ?
Ein heißes Dankgebet hinauf ?
Ein weicher Freudtränenschein ?
Nein , Herr , ich raffe mich empor , mich rüttelnd , daß mein Harnisch dröhnt !
Erst an des Todes dunklem Tor sei Schlachtgesang zum Psalm verschönt .
Die beiden Schlußzeilen wiederholte Ernst mit starker , geraffter Stimme langsam Wort für Wort .
Sein Gesicht , hager , scharf gebuchtet und ganz Ausdruck des inneren Gelübdes , war nach Osten gewendet .
Dort stießen sich graue , dickbäuchige Wolken in wirre Haufen geballt und jedes Licht mit breiten Rücken verdeckend ...
Vom Turm der Georgskirche schwangen sich fünf dumpfe Glockenschläge .
Sie flatterten wie große , schwarze Vögel und schwebten langsamen Fluges über die Stadt .
Die Volksküche wurde geöffnet .
Nach dem vierstündigen Marsch in kühler , feuchter Novembernacht spürte Ernst Verlangen , sich hinzusetzen , auszuruhen , vielleicht auch zu döseln , wenn niemand dagegen war .
Zwanzig Menschen warteten schon auf Einlaß .
Alte und junge Streuner , dazwischen einige Gesichter von gutem , frischgeschlafenem Aussehen , Arbeiter , die ihr Frühstück hier einnahmen , einige Frauen und ein wohlhabend riechender Herr mittleren Alters .
Ernst taumelte die wenigen Steinstufen hinauf .
Der kahle , von trüben Gasflammen erhellte Raum schwang im Kreis , erst langsam , dann schneller .
Dunkle Ringe mit blauzitterndem Rand zerflossen vor Ernst .
Er hatte das Gefühl , Steine fielen in seine Augen und zogen Ringe wie in einem Teich .
Gierig blickte er den anderen nach , die ein Frühstück kaufen gingen .
Er hatte keinen Pfennig mehr .
" Sie schaun aber bös aus , Nachbar !
Fehlt Ihnen was ? "
Ein sauber gekleideter Mann stieß Ernst über den Tisch an .
Er hatte eine Schaufel neben sich lehnen .
Ernst lächelte schwach , gab aber keine Antwort .
Dem freundlichen Menschen zu sagen , daß er die ganze Nacht auf den Beinen gewesen , hemmte ein dummes Gefühl .
" Haben es wohl ka Geld zum Kaffee ?
... Mir soll_es auf an Kaffee net ankommen ... "
Unter dem Tisch spürte Ernst ein Geldstück in seine Hand gleiten .
Er wußte nicht , sollte er nehmen , sollte er zurückweisen , sollte er dem Mann danken ...
Schwankend ging er zum Ausschank , holte sich Kaffee und Semmel und kehrte an den Platz zurück .
Der Geber guckte ihm mit gefalteter Stirn zu , während er genoß , und unter der Wirkung des warmen Getränkes sichtlich auflebte .
" Wollens arbeiten ?
Ich brauche an Mann , der mir ausladen hilft .
Leicht is das Geschäft ja nöte , aber Sie sind doch jung . "
Das war ein glückhafter Morgen .
Er hatte gegessen und getrunken , und nun bot man ihm auch Arbeit an , die er so nötig brauchte .
Es wallte hoch auf in Ernst , als er dem Mann die Hand über den Tisch reichte und einschlug .
Ernst lud auf dem Güterbahnhof Kohlen .
Morgens um sechs Uhr ging es los , abends um sechs Uhr war es aus .
Ernst tat die Arbeit nur notgedrungen , denn er konnte seinen innersten Widerwillen gegen körperliche Tätigkeit nicht überwinden .
Arbeit adelt , sagt der Volksmund !
Dann ist jeder Droschkengaul zum mindesten Reichsfreiherr , was ihm gegönnt sei ...
Ernst verstand nicht , wie ein Mensch Tag für Tag und Jahr um Jahr den gleichen Handgriff machen konnte .
Ihn erschreckte der Gedanke , das auch zu müssen .
Im Grund war diese Abneigung verkapptes Unvermögen .
Ernst ermüdete körperlich rasch , war überhaupt nicht sehr leistungsfähig und hielt nur durch , wenn er seinen zähen Willen vorspannte .
Raffte er sich aus irgendeinem Grund nicht auf , so blieb die Arbeit eben liegen , was oft geschah .
Ernst spannte seinen Willen gewaltig an , er überspannte ihn öfter unbewußt , Kurzschluß trat ein , und alle mühsam eingebauten Sicherungen brannten im Nun aus .
Ernst klappte völlig zusammen , trieb tagelang ziellos herum und wurde von der Flut in Ecken und Winkel gespült .
Er führte sein Leben ohne Richtung und Schwerpunkt , lebte eigentlich gar nicht , sondern wurde von jeder Stunde gelebt und verlor jeden Halt und Anhalt .
Sein Herz war an diesem Leben unbeteiligt , sann nichts Gutes und nichts Böses und erstarrte immer mehr .
Ernst wurde ein harter , unempfindlicher Mensch .
Sein Gesicht gab keine Auskunft über sein Alter .
Es verlor die Fähigkeit , Leben zu spiegeln , glich einer Steinmaske und erschreckte andere Menschen durch den kalten , abweisenden Ausdruck .
Das Leben hatte sich in diese Züge gestampft wie in Beton .
Ernst Löhner liebte nur einen Menschen in der Welt : den Ernst Löhner von übermorgen , verachtete , was sonst noch war , und riegelte alle Türen zu , die in die Welt und zu Menschen führten .
Einsamkeit war sein frei erwähltes Los , tiefe Einsamkeit inmitten der großen , zudringlichen Stadt , die er trotzdem nicht verlassen wollte , weil ihm eine Ahnung sagte , die Stätte seiner Kämpfe müsse auch die Walstatt seines Sieges werden .
Die Vaterstadt verlassen , schien ihm ein Geständnis seiner Niederlage .
Er wollte aber und mußte siegen und schmiedete in aller Heimlichkeit Waffen zum entscheidenden Kampf .
Ein Klausner des Geistes sann Ernst Löhner stündlich über den Sinn der Welt .
Dieser Sinn war für ihn vorhanden .
Was hatte er zu suchen , was zu finden ?
Diese Fragen seines persönlichen Ziels schlossen alle anderen Fragen ohne weiteres ein .
Wußte er Antwort , dann wußte er auch , welchen Sinn die Welt hat .
Ernst verneinte diesen Sinn nicht , weil er erst sich hätte verneinen müssen .
Dazu war er aber viel zu hochmütig .
Er war so hochmütig , daß er allen Ernstes Wohl und Wehe der Welt von seinem eigenen Ergehen abhängig glaubte .
Freute er sich , dann hatte auch die Welt ein Recht auf Freude .
Schmerzte ihm etwas , dann war es Pflicht der ganzen Welt , mit ihm zu trauern .
Stündlich wurde dieser Hochmut widerlegt .
Die Welt raste an Ernst vorüber , ohne nach ihm zu fragen .
Er beharrte eigensinnig auf sich selbst , stemmte sich gegen Notwendigkeiten , die er bestritt , weil sie nicht von ihm geschaffen waren , und härtete ständig ab gegen Fußtritte des Schicksals .
Wenn er Hebbel oder Kleist , Shakespeare oder Otto Ludwig las , lächerte ihn die Frage nach Brot und Arbeit , nach geregeltem Dasein und bürgerlicher Sicherheit .
Ist der Geist nicht selbstherrlich ?
Zwei Zeilen eines schönen Gedichtes sind mehr Reichtum , als ein gutes Essen , warme Betten und saubere Kleider .
Ernst haderte mit seinem Magen .
Dieser grobe , verfressene Geselle war doch ein rechter Bürger , war der Bürger im Menschen überhaupt .
Wie voll und satt sich Ernst Löhner auch bei seinen geistigen Festmalen fühlte , der Magen stand hungrig auf und begehrte gemeine Speise , die zu beschaffen Arbeit kostete .
Ernst ging wieder einige Tage in den Strang , den Magen zu sänftigen .
Ruhte dieser , so wandelte er wieder die Wege abseits aller Alltäglichkeit .
Noch führte der Winter die Herrschaft .
Klingende Kälte harfte nächtlich am klaren Himmel .
Ernst zog von Kneipe zu Kneipe , solange Geld in seinem Beutel war , schlief in Spelunken um wenig Geld und sehnte die Sonne herbei .
Manchmal war er ohne jeden Pfennig , dann rannte er um die Stadt , bis der Morgen kam , stand sich über den Luftschächten der Hotels den Leib warm , und schlüpfte gelegentlich in den Sandkasten .
Das Lager war nicht weich , aber es zog wenigstens nicht und die grimmigste Kälte konnte auch nicht bei .
Wieder saß Ernst in der Lesehalle .
Der Tag war gläsern kalt .
Vor der kommenden Nacht bangte Ernst zum erstenmal .
Wohin ?
Plattmachen war bei dieser Kälte ausgeschlossen ; schon der Gedanke daran bis frierend in die Knochen .
Den Abend über saß ein älterer , schnapsduftender Mann neben Ernst .
Er rückte , Ernst forschend im Auge , näher und flüsterte :
" Auch blank , Kamerad ? -
Gehe doch mit Knackemachen . wenigstens erfriert man im Asyl nicht . "
Richtig !
Das Asyl für Obdachlose hatte er ganz vergessen .
Ernst nickte einverstanden .
Sie gingen miteinander los .
Eiskalter Wind empfing sie , der im Augenblick die angesammelte Wärme aus den Kleidern jagte .
" Wollen erst einen heben gehen , Kamerad !
... Hast du Draht ? "
Elf Pfennige waren die Barschaft Ernst Löhners , siebzehn Pfennig das Besitztum Schallhofs .
" Immer her damit , Freundchen !
Zweimal können wir doch die Glocke ziehen ... Du magst keinen Schnaps ? ...
Ja , ja , ihr jungen Leute ' !
... Ich habe auch Mal Milch lieber getrunken .
Das ist aber schon fünfzig Jahr her ...
Was willst du sagen , Mensch ?
Neunzehn Jahr sollt ich noch Mal alt sein und wissen , was ich jetzt weiß ...
Ich bin halte vierundfünfzig gewesen , könnte dein Großvater sein ...
Wenn ich Schnaps trinke , kannst du es auch .
Also los ! "
Ekelhaft säuerlicher Dunst schlug Ernst aus dem niedrigen Laden entgegen .
Die zweifelhaft sauberen Regale rasch überfliegend , las er die Aufschriften : Mehl , Gries , Kaffee , Zucker ; ein Petroleumautomat grinste aus der Ecke , braune Tüten hingen auf dem Ladentisch , der mit grünen , gelben , roten Gläsern bestellt war , darin die verschiedenen Flüssigkeiten leuchten .
Drei Männer und ein schwammiges Frauenzimmer gröhlten ausgelassen .
Schallhof tippte auf die grüne Flüssigkeit , zwinkerte mit den Augen , als er das Gläschen ansetzte und goß den Fusel glucksend hinunter .
Den struppigen Bart wischend , stieß er Ernst in die Seite .
" Na also , Kamerad !
Die Augen zu und das Maul auf !
Er beißt nicht ...
Wollte Gott , ich könnte alle Tage so ein feines Schnäpschen heben ...
Die feinsten Leute machen das ... Besonders , wenn sie fett gegessen haben .
Jetzt einen Schweinebraten , recht saftig mit brauner Kruste ...
Das gibt_es , mein Lieber , wirklich und wahrhaftig , das gibt_es ...
Nur haben wir kein Geld dazu ...
Die Geld haben , wissen schon , wo es zu kriegen ist ...
Hätten wir das Geld , könnten wir es auch essen .
So essen es andere ...
Das ist nun Mal so in der Welt : die einen fressen sich voll , die anderen wischen das Maul ab ...
Ja , ja ! "
Schallhof wackelte tiefsinnig mit dem Kopf , als bewundere er die weise Weltordnung , hockte auf ein umgestülptes Fass hin und zog Ernst neben sich auf einen Stapel Kleinholz .
" Du mußt nämlich wissen , ich bin Buchbinder ... O , ich habe dir die Apostel fein geklopft , und die vier großen und sechzehn kleinen Propheten in Schweinsleder gebunden , daß es ein Staat war ...
Ich habe schöne Stellen gehabt und Geld verdient ...
Daß der Mensch nicht jünger wird ...
Das ist dumm eingerichtet ...
Die Knochen geben nach und dann wollen sie nichts mehr von dir wissen ...
Sechs Jahr Lauf ich nach Arbeit .
Hört aber so ein Krauter , daß ich über Fünfzig bin , dann ist es auch schon aus .
Was bleibt einem Menschen da übrig ?
Man putzt die Klingeln , scharrt sich die paar Kröten für Schnaps zusammen und wartet ab , wie lange das Gefrett noch dauert ...
Wäre ' ich bloß noch Mal Zwanzig alt ... "
Das einfache Schicksal dieses alt und schwach gewordenen Arbeiters rührte Ernst nicht sonderlich .
Was ging ihn das an ?
Er würde nicht so unter die Räder kommen .
Dafür sollte schon gesorgt werden .
" Du hast auch keinen Draht mehr , Kamerad ?
... Dann ist ausgeläutet , wir müssen auch losgehen , wenn wir noch einen Platz erwischen wollen ... "
Der weinerliche Ton Schallhofs erregte Ernst die Galle , was gab es denn zu winseln ?
Man schlief heute Nacht im Asyl .
Schön !
Morgen schlief man vielleicht wieder im Bett .
Als wäre das nicht ganz gleichgültig .
Die Schultern aufgezogen und die Hände in den löcherigen Taschen vergraben , trabten Schallhof und Ernst aus der Stadt .
Das Asyl lag in der westlichen Vorstadt , im Flußgrund .
Die spärlichen Laternen wiesen einen Weg nach dem versteckten Winkel , wo das frostig aussehende Gebäude rückwärts der Straße lag .
" Aha , der Herr Schallhof !
Sie geben uns auch wieder die Ehre ? "
Kaum durch die Tür gegangen , wurde der Begleiter vom Hausvater also spöttisch begrüßt , einem riesigen Polizeimenschen , der übellaunig sein Buch zuschlug .
" Wen haben Sie denn da mitgebracht ?
... Hast du Papiere , mein Sohn ?
... Gib Mal her ...
Neunzehn Jahre alt und schon arbeitsscheu !
... Scheinst ein nettes Früchtchen ... "
Ernst trat einen Schritt näher .
Sein Gesicht war ganz unbewegt , nur die Augen flammten .
" Was kümmert das Sie ?
Ich bin obdachlos , sonst wäre ich wahrscheinlich nicht da .
Haben wir übrigens schon Säue getrieben , weil Sie mich duzen ? "
Die um den Hausvater versammelten Asylbrüder glotzten groß .
Einige nickten , andere tuschelten , alle sahen dem Verwalter schadenfroh ins feiste Antlitz , das sich vor Wut verfärbte .
Der Mann stand in seiner vollen Länge auf und pflanzte sich breitbeinig vor der vergnügten Gesellschaft auf .
" Lachen könnt ihr also noch ?
Das soll euch ausgetrieben werden .
Dem Grünschnabel da besonders ...
Und jetzt marsch , hinein ! "
Ein hoher , viereckiger Raum schluckte die Leute .
Die geweißte Decke lastete auf kahlen Wänden ; an der Seite lief ein meterhoher Holzbau bis etwa in die Mitte des Raumes .
Die schräg erhöhte Kopfleiste stellte das Bett vor .
Darauf stürzte alles hin .
Schallhof zog Ernst am Rockschoß mit .
" Weißt , Kamerad , in der Mitte ist es am besten .
Da ist man von der Wand genügend weit weg .
Die Wände sind verflucht kalt hier ...
Nur keine Bescheidenheit hier , Kamerad , sonst bist du verkauft ! "
Ernst stieß die Nächsten zur Seite , ohne sich um das Murren zu scheren und legte sich neben Schallhof nieder .
Der hatte den Rock ausgezogen , sorgfältig gefaltet , und schob dieses Bündel eben unter den Kopf .
Dann probte er diesen Kopfkeil sachverständig aus und grunzte wohlwollend , als Ernst alles getreulich nachahmte .
Im Raum flackerte spärliches Zwielicht .
Es kam von einer in Drahtglas verwahrten Gaslaterne , die auf dem Gang hing .
Das grelle Licht grenzte sich scharf auf der Decke ab und ließ die Ecken im Halbschatten .
Die Gesichter steckten in Dunkelheit wie in einer schwarzen Larve .
Keiner sah des anderen Züge , nur an den Stimmen kannte sich Freund und Feind .
Ein grauenvoller Geruch dünstete durch den Raum , ein Duft , wie ihn nur Blüten des Elends hauchen .
Die heiseren , zuchtlosen Stimmen schwirrten aufgeregt von Winkel zu Winkel .
Eine raufende Sperlingsrotte tschilpte und lärmte durcheinander .
Abgerissene Fetzen der Unterhaltungen klatschten um Ernst Löhners Ohren .
Von Bettelgängen war meist die Rede , von Arbeitsaufträgen und Polizeihetzen , vom wilden , erbarmungslosen Kampf um die geringste Notdurft eines unmenschlichen Lebens .
In einer Ecke klangen abgepaßte Stimmen auf , leise und pröbelnd erst , dann sicher und klar .
Ein lächerlich tränenseliges Lied von Alpenschönheit und Bergluft , von Mädchenliebe und Burschentreu ...
Die Gespräche erstarben .
Alle lauschten , die hängenden Häupter in die Hand gestützt .
Durch die Seelen der Elenden wehte ein Traum ferner Schönheit .
Hohe Berggipfel , märchenhaft funkelnd in reinem Firnenlicht , schauten über die kahlen Wände des Asyls .
" Dort , wo die Glocken klingen hell , liegst du im Tal , mein Bayrischzell ! "
Die großen , wachen Augen Ernst Löhners irrten über Decke und Wand , haschten nach jedem aufzuckenden Lichtschein und blieben auf der Spiegelung an der Decke haften .
Scharf zeichneten sich die vergitterten Fenster dort oben ab .
Zwischen den eisernen Schatten huschten Lichter hin und her , als suchten sie ängstlich nach einem Ausweg .
Licht hinter Gittern !
Dein Leben , Ernst Löhner !
So bist auch du gefangen im Gefängnis der Schatten .
Rastlos mißt die Seele den Kerker aus , rüttelt an den Stahlstäben und erkennt nun , daß sie unzerbrechlich sind .
Gefangener des Schattens sein , ist dein Los. Licht , das hinter Gittern erlischt !
Drängende Unruhe brauste in Ernst Löhner auf .
Er wollte aufspringen , mit den Fäusten die Türe trommeln und schreien :
Macht auf !
Laßt mich hinaus !
Ich muß ersticken !
Die Gedanken schossen wie Blitze durch das Gehirn , leuchteten fahl in die nächtlich gestimmte Seele , um sich wie Soldaten auf Anruf in Reih und Glied zu ordnen .
Mitten in tiefster Nacht trat forderndes Gefühl vor ihn hin , schwermütig und herb , und heischte Gestalt .
Stoßweise rang es sich von der Seele :
Rings umschattet mich die Dunkelheit .
Nacht auf allen Wegen , weit und breit !
Fiebernd sucht mein Auge den kleinsten Riß in der Zelle dieser Finsternis .
Nirgends aber eine Fuge klafft in den Mauern meiner dunklen Haft , und der suchend irre Blick zerschellt , wo er auf die schwarzen Wände fällt .
Wie in Stein gemauert rings umstarrt mich der Raum , erdrückend schwer und hart , daß mir der gepreßte Schrei entquoll :
Licht !
... O Lichtes nur ein Auge voll !
Die Schläfer hörten nichts .
Sie stöhnten und schnarchten , warfen sich herum und schliefen weiter .
Ernst hatte sich aufgerichtet .
Immer wieder flossen ihm die Verse von den Lippen .
Der Schrei nach Licht zischte einer unterdrückten Flamme gleich durch die finstere Zelle .
Zwanzigmal sagte Ernst das Gedicht auf , sog jedes Wort wie ein köstliches Getränk und berauschte sich am dunklen Duft seiner lichthungrigen Schwermut ...
Gegen Morgen schlief Ernst im Sitzen ein .
Seine Lippen waren halb geöffnet und blühten in höherem Glanz .
Das oft Gesagte Wort " Licht " hatte Abglanz auf seinem Gesicht gelassen .
Es hatte in der Nacht stark geschneit .
Die Asylleute wurden gegen vier Uhr geweckt und es wurde ihnen eröffnet , daß sie beim Schneeräumen Geld verdienen sollten .
Zwanzig Mann gingen sofort hinaus in den kalten , düsteren Morgen .
Ernst hatte sich angeschlossen .
Nur nicht mehr hier zur Nacht bleiben !
Lieber erfrieren !
Die Schaufel geschultert , zog Ernst mit einem Trupp zum Schneeräumen aus .
Eben war Tag geworden .
Die Arbeiter gingen ihren Fabriken zu , die herrischen Sirenen kreischten noch immer gellendes nach ihnen , Wagen rollten vorbei und schnitten tiefe Furchen in den reinen , blendenden Schnee , der Weg und Steg verhüllte .
Taktmäßig schob Ernst den Schnee über den Straßenrand , wie er es von den anderen sah .
Nach einer halben Stunde stellte Ernst überrascht fest , daß der Schnee auch naß ist , sogar arg naß , denn er ging nun schon bis auf die Haut und brannte die bloßen Füße , daß sie glühten .
Dieses Gefühl war ganz und gar unromantisch und verdarb jeden Genuß an der weißen Schönheit , die langsam angraute und sich schon in glitschige Brühe verwandelte .
Ganze Stiefel sind doch keine unwesentliche Sache .
In ihnen empfand sich die Welt entschieden nicht so unangenehm naß .
Die Menschen mit ganzen Stiefeln am Fuß , womöglich gar noch Gummischuhen darüber , können gar nicht wissen , wie einem zumute ist , der mit blanken Füßen auf die beschneite Erde tritt .
Den halben Vormittag sinnierte Ernst Löhner über die auffällige Tatsache , daß nicht alle Menschen auf der Welt heile Stiefel haben .
Er baute sich eine vollständige Philosophie der zerrissenen Schuhe aus und kam zu dem Schluß , den lieben Gott könnte wohl nur ein Pfarrer erfunden haben , der noch nie mit zerrissenen Schuhen im Schnee gegangen war .
Ernst neigte überhaupt , dem lieben Gott für alle Unbilden die Verantwortung aufzuhalsen .
Warum mußte gerade er Schnee räumen ?
Das eiskalte Wasser stand ihm über die Knöchel heraus .
Dort drüben ging eben ein Herr im Pelz vorbei .
Dem wäre vielleicht Schneeschippen eine Wonne .
Gummiüberschuhe müßten innen schön warm und trocken sein .
Als die drei Mark in seiner Hand klimperten , hatte Ernst seine Weisheiten längst wieder vergessen .
Für zehn Stunden Schneeräumen sind drei Mark nicht eben viel , aber wenn man gar nichts hat , so ist das noch weniger , wenigstens konnte sich Ernst für diesen und den nächsten Tag wieder einen warmen Löffel genehmigen .
Der nackte Mensch Auch der Winter nahm ein Ende .
Ernst kannte keinen schlimmeren , solange er zurückdachte .
Er hatte gehungert und gefroren , hatte manchen Tag den Hund um sein Fell beneidet , und war elend herunter , seit die Pforten von Haus Hohburg hinter ihm zugefallen waren .
Aber er triumphierte .
Einen solchen Winter überstehen , allein auf sich angewiesen , ohne Heim und Anhang , ohne liebende Sorge und herzlichen Zuspruch , hieß ein Wesen von Stahl sein .
Er hätte leicht warm und gesättigt sein können .
Manches liebe Mal waren ihm Kameraden von Hohburg über den Weg gelaufen , um ihn einzuladen , bei einer kitzlichen Sache mitzutun .
Er wollte nicht , weil er einen Weg in der Welt sah , den er gehen wollte .
Nicht Angst vor der Polizei hielt Ernst zurück .
Er folgte seinem wahren Wesen , triebhaft , tastend , nachtwandlerisch noch , aber jeden Tag bewußter und einsichtsvoller .
Der Weg lag nicht eben und kurvenlos vor Ernst .
Krümmungen und Senkungen hielten den Schritt oft zweifelnd an .
War er nun recht oder ging er doch verirrt ?
Dann sprach wieder die Stimme :
Gehe deinen Weg und laß die Leute reden .
Es war wilde Gärung in Ernst Löhner diesen ganzen Winter durch .
Zu Zeiten schwankte er und trat neben den festen Grund .
Ernst zerfloß manchmal ins Wässerig-Wesenlose .
Dann brauchte es nur einen Druck der Außenwelt , um wieder in feste Form zu gerinnen .
Die Welt von außen , sein harter Wille von innen waren Kräfte , zwischen denen fauchend und zischend die glühenden Massen der brodelnden Seele eingepreßt flossen .
Ausbrüche gab es immer noch .
Der siedende Stoff wallte zornig über .
Ernst haßte die Ordnung , die er um sich sah , haßte Menschen in guten Kleidern und mit zufriedenen Gesichtern , und tat ihnen Tort , wo er konnte .
Der Krieg mit der Polizei ging heftig weiter .
In ihr verabscheute Ernst Löhner jene Macht , die zu besseren unfähig , ihn und seinesgleichen nur jagen und hetzen konnte .
Menschenjäger hieß Ernst jeden Schutzmann , und als Polizei galt ihm , was irgendwie für Ordnung , Sicherheit und Gesetzmäßigkeit Sorge trug .
Ihnen blieb Ernst Löhner zunächst noch unlieb bekannt .
Jeder öffentliche Auflauf fand Ernst im wildesten Strudel .
Hatte ein Polizist mit einem Menschen zu schaffen , so stellte sich Ernst unbesehen gegen die Polizei .
Ging Ernst nachts an einer Wache vorüber , so pfiff er schrill auf den Fingern oder auf dem Schlüssel , donnerte an die eisernen Rollbalken und bestand heftige Wortgefechte mit den so gestörten Wachmännern .
Es wurde keine Polizeistunde in einem von Ernst besuchten Gasthaus geboten , gegen die er nicht höhnisch Verwahrung einlegte .
Kurz : Ernst Löhner glaubte fest , gegen die Polizei hat der Mensch immer recht .
Ein gutes Dutzend kleinerer Strafen von einigen Tagen bis zu einem Monat Gefängnis war die Wirkung dieses Glaubens .
Sie schreckte ihn gar nicht , fachte seinen Eifer im Gegenteil an .
Ernst legte sich selbst diese Strafen als ehrenvolle Zeugnisse einer aufrechten und kampflustigen Männlichkeit aus , und fand für diese Deutung in seinem Kreis reiche Zustimmung .
Drei Wochen saß Ernst eben wieder im Vollzugsgefängnis ab , munter gelaunt und fest entschlossen , nächstens einige Fenster der Polizeiwache einzuschlagen .
Früh erschien der Aufseher , entfaltete ein feierlich aussehendes Schriftstück und verlas einige Namen .
Die Verlesenen mußten zur Musterung .
Um zehn Uhr sei Abfahrt .
Musterung ?
... Schattenhaft erinnerte sich Ernst , vor mehreren Monaten einen Befehl erhalten zu haben , der ihn zur Musterung lud .
Befehl ?
... Das stellten sich die Herrschaften ja recht einfach vor :
Man pfeift und der Hund gehorcht .
Ernst hatte seine Wohnung nicht gemeldet , weil er nirgends ständig wohnte , hatte das Papier in einen Ausguß geworfen und sich dabei gedacht :
Fangt ihn , dann habt ihr ihn .
Der Musterung war er fern geblieben .
Er und Soldat !
Lachhafte Vorstellung !
Der Wagen fuhr vor , von lautem Johlen der schon kräftig angebeutelten Vaterlandsverteidiger empfangen .
Ernst streckte einem Brüller die Zunge heraus , drohte unmißverständlich einem anderen Prügel an und schritt herausfordernd durch die Gasse der besoffenen Hanse .
Er war aufgelegt , dem nächsten , der zu nahe kam , eins auf den Schädel zu geben , daß die Ohren wackelten .
Was wollten die Maulaffen mit ihrem blöden Gebrüll ?
Sie wußten ja gar nicht , weshalb er eingelocht war .
Die handfeste Laune dauerte nur kurz .
Als Ernst sich auskleiden sollte , schämte er sich ganz furchtbar .
Das Hemd , wußte er , war zerfetzt , und mit diesem Hemd vor die nett gekleideten jungen Leute zu treten , schien ihm schrecklich , nachdem er eben noch so forsch aufgetreten war .
Blutsauer wurde ihm das Ablegen von Rock und Hose , und er glaubte , hundert Augen auf das löcherige Hemd und die nackten Hautstellen gerichtet .
In der Tat scherte sich kein Mensch um sein trauriges Hemd .
" Sie sind doch gesund ?
... Natürlich sind Sie gesund .
Mit ihrer ausgezeichneten Lunge muß man ja gesund sein ...
Rechten Fuß hoch !
Linken Fuß hoch !
... Tauglich , Infanterie ! "
Ungläubig guckte Ernst dem untersuchenden Arzt ins Gesicht .
Er sollte Soldat werden !
Aber das ging doch gar nicht .
Zum Teufel , woran dachte der Doktor denn .
Jetzt , wo er eben im Begriff war , langsam an die Oberfläche zu kommen , wollte man ihn wieder einstecken .
Das sollte ihnen nicht gelingen .
Bis zum Oktober laufen viele Züge nach Hamburg .
In einem wird Ernst Löhner sitzen , ihr werten Herren !
Vor ihm war ein kräftiger , breitbrüstiger Bursch gemustert und zurückgestellt worden .
Wenn solche Bären freikommen , sollte er sich zwicken und drillen lassen ?
Aber in das Widerstreben mischte sich doch auch ein klein wenig Eitelkeit .
" Man ist doch ein Kerl , gesund , gerade gewachsen , schlank und sehnig wie ein Windhund , nicht umzubringen ... "
Ernst hatte im Grund eine angenehme Empfindung .
Es schien ihm eine Bestätigung seiner Kraft und Ausdauer , ein verheißungsvolles Zeichen für die Zukunft .
Nach fast dreijähriger Flucht kehrte Ernst Löhner in den Zwinger zurück .
Daß er einrücken mußte , hatte Wunder bewirkt .
Man wollte ihn die paar Wochen noch daheim haben , ehe er in den kleinen , hundert Kilometer entfernten Standort verzog .
Dem Vater , der selbst gern an seine Soldatenzeit dachte , rückte Ernst Löhner durch die Aushebung wieder näher .
Daß er zum Soldaten taugte , galt als teilweise Wiederherstellung der Familienehre , die Ernst bisher so schlecht gewahrt hatte .
Die häuslichen Verhältnisse waren gediehen , wie es im Zwang der Umstände beschlossen lag .
Vater und Mutter lebten schlecht zusammen .
Zwei Kater in einem Sack konnten nicht mehr aufeinander fauchen .
Ernst betrachtete den Vater nach der langen Trennung nachdenklich .
Er fand ihn zermürbt , aufgeschwemmt und innerlich angefressen .
Der starke Mann bröckelte ab und glich einem Haus , das langsam , aber unaufhaltbar aus den Grundmauern weicht .
Weniger Wandlung zeigte die Mutter .
Ihr Gesicht war noch spitziger geworden , die dünnen Lippen verschwanden fast im Gesicht und in der Stimme , von jeher scharf und schrill , schwang ein Oberton streitsüchtiger Unzufriedenheit .
Ernst beschloß , den Riß in der Familie nicht zu erweitern .
Er nahm Arbeit , wo er sie fand , bis die Zähne hart zusammen und wich dem Zank in weitem Bogen aus .
Für die Mutter war er nur Rechenposten .
Sie kümmerte sich bloß um sein Tun und Lassen , wenn er Geld abliefern sollte .
Um ihr keinen Pfennig schuldig zu bleiben , überwand Ernst Leichtsinn und Lässigkeit , und arbeitete geregelter als je vorher .
Heimisch fühlte er sich jedoch nur mit dem Vater zusammen im Wirtshaus .
Sie verabredeten insgeheim diese Gänge , trafen sich beim Bier und spielten Karten bis in die erste Frühe .
Arm in Arm schwankten sie einträchtig heim , schüttelten die Schauer des häuslichen Gewitters kaltsinnig ab , und redeten der Mutter gemeinsam zu , sich aufs Ohr zu legen und den Rest auf den anderen Tag zu sparen .
Den Vater glaubte Ernst jetzt zu verstehen .
Seine wortkarge Verschlossenheit , die unbeholfene Schwermut des gutartigen Menschen , der schweigend alles hinnimmt , was das Leben bringt , berührten Verwandtes in ihm .
Nur die haltlose Schwäche der Mutter gegenüber brachte ihn auf .
Dieser Hüne von Mann flatterte wie ein Lappen im Wind , wenn die scharfe Stimme zeterte .
Ernst wollte wissen , wie man mit der Mutter umzugehen hatte .
Er war grob und barsch mit ihr , schnauzte sie an und erreichte durch hartes Zugreifen wirklich , daß sie sich besser beherrschte .
Der Vater müßte es nur auch so halten , ging es nicht anders , mit der Faust dreinschlagen , sie würde schnell kuschen und ihre unausstehliche Zunge zügeln .
Als Ernst entschieden dafür eintrat , daß er endlich die Hosen anziehe , schüttelte der Vater abwehrend den Kopf .
Es war zu spät .
Dachte Ernst an die letzten drei Jahre , so hielt er immer für großes Glück , nicht daheim gewesen zu sein .
Diese Zustände hätten ihn noch mehr in die Tiefe getaucht , hätten ihn wohl überhaupt nicht mehr über Wasser kommen lassen .
Beinahe ungeduldig rief er jetzt den Einrückungstag herbei , der ihn auf weitere zwei Jahre diesem Kreis von Haß , Zank und Raserei entzog .
Und so schieden sich Licht und Finsternis ...
Was Ernst verschworen hatte , je freiwillig zu tun , geschah nun doch aus fremdem Zwang .
Er verließ seine Vaterstadt an einem sonnenklaren Oktobertag in Gesellschaft von tausend jungen , blühenden Menschen , gleich ihm der Kaserne auf zwei Jahre verschrieben .
Wunderliche Gedanken waren seine Begleiter im engen , drängend gestopften Abteil .
Als der Zug anfuhr und die hohen Kirchtürme immer weiter zurückblieben , lösten sich Erinnerungen und Empfindungen von süßer Schmerzlichkeit .
Nun standen die Umrisse der Stadt fern , wie von Kinderhand ausgeschnitten und auf den blauen Himmelsgrund geklebt .
Er war dieser Stadt verbunden .
Ihre Mauern und Türme umzirkten das Kampffeld seiner dunkel verirrten Jugend .
Jubel und Grauen , Hoffnung und Klage hatte sie vernommen und in ihre tausendjährige Seele geschlossen .
Er konnte sich nicht denken ohne diese große , wunderlich zwischen den Zeiten liegende Stadt , in der sich die Geister von Jahrhunderten ansprechen .
Zwei Jahre war er jetzt von ihr geschieden .
Wie würden sie sich wiedersehen und erkennen ?
.. .
Die Versunkenheit Ernst Löhners stach seltsam ab vom frischen , unbeschwerten Leben ringsumher .
Die Rekruten sangen und rauchten , schrien hell in die klare Mittagsluft und plantschten in den Wellen einer frohen Laune wie Buben in einer Regenkuhle .
Fort mit den trüben Gedanken !
Ein neues Leben fing nun an , ein Dasein voll neuer , nie gewesener Taten .
Auch dieser Strom will durchschwommen sein , auch jetzt heißt es wieder , Luft anziehen und sich kräftig rühren .
Ernst empfand sich frischer und biegsamer als lange Zeit .
Er stürzte sich mitten in die tollste Ausgelassenheit , und da seine Laune , einmal entbunden , hinreißend strömen konnte , nahm er bald das ganze Abteil mit .
Sprudelnd von Schnurren und Schnacken , weckte er tosendes Gelächter mit einer aus dem Ärmel geschüttelten Ansprache des Feldwebels an die einrückenden Rekruten .
" Stillgestanden ! ...
Wenn das gescherte Rübenloch dahinten noch Mal die Ohren rührt , lass ich ihn tanzen , daß er nicht mehr weiß , ist er ein Männlein oder ein Weiblein ...
Sperrt eure Löffel auf und strengt das bißchen Hirn an , das ihr hoffentlich nicht ganz in Mutters Freßkober gelassen habt .
Ihr seid nun Soldaten !
Wißt ihr auch , was das heißt ?
... Gar keine Ahnung habt ihr davon , ihr krummen Zivillatscher .
Bis ihr Soldaten seid , halbwegs richtige Soldaten , habe ich mir wohl mein Endchen Lunge gar herausgeschrien und kann in Pension gehen .
Glotzt nicht so dämlich !
Euch wird schon noch ein Seifensieder aufgehen , wenn euch die Hammelknochen wehtun , daß ihr am liebsten in ein Mauseloch kriechen möget .
Lieber will ich Tag und Nacht Holz hacken , als aus so einer krummen Bande Soldaten machen , die den Namen in Ehren verdienen ...
Darum Rat ' ich euch bloß : Reißt euch zusammen und lümmelt nicht herum .
Wir sind hier kein Regelklub und ich danke für die Ehre , euer Vorstand zu sein .
Wer gefragt wird , macht das Maul auf , so weit er kann .
Beim Menagieren könnt ihr das sicher alle ausgezeichnet .
Wer nicht gefragt wird , hält die Klappe ...
Der Soldat erhält regelmäßig seine Gebührnisse .
Sperrt die Augen nicht so geistreich auf !
Ich zahle euch die Gebührnisse bloß aus .
Wenn es von meinem Geld gehen sollte , täte ich mich schön bedanken , und wüßte was Besseres damit anzufangen , als es einer solchen Rasselbande an den Hals zu werfen .
Zweiundzwanzig Pfennig im Tag sind ein schöner Haufen Geld , wenn man sie auf einmal versaufen kann .
Das habt ihr ja doch alle vor .
Ihr wüßte nun Bescheid , was ein ehrliebender Soldat zu tun und nicht zu tun hat .
Daß mir später keiner kommt und sagt , er hätte das und jenes nicht gewußt .
Weggetreten !
... "
Die Zeit schwand bei solchen Possen , und eher als die lustige Sippschaft dachte , war das Ziel erreicht ...
Buchstadt liegt wunderschön im Bergkessel , rund von Höhen eingerahmt , die den Blick begrenzen .
Die Kasernen lagern vor dem Städtchen in einer Senkung .
Die nächsten Wochen fanden Ernst in übelster Laune .
Kein Wunder !
Er hatte bislang gedacht , der Mensch geht , wie es am bequemsten ist .
Hier sollte er plötzlich die Fußspitzen abwärts und gleichzeitig auswärts setzen , sollte die Knie durchdrücken und mit ganzer Sohle auf den Boden treten , wozu die Umstände ?
Ernst schwitzte Blut und verwünschte die vertrackten Vorschriften , die nur ein abgefeimter Folterknecht ausgeknobelt haben konnte .
Obwohl nicht schwerfällig , tat sich Ernst doch sauer bei den Übungen , weil er seinen Körper allzulange vernachlässigt und gar nichts für seine Muskeln getan hatte .
Auch das Kopfhängen schaffte üble Pein .
Er war gewohnt , die Nase hängen zu lassen , was als unerhörter Verstoß gegen die vorschriftsmäßige Haltung eines Soldaten gerügt und bis zum Erbrechen beredet wurde .
Eben hauchte der Ausbilder ihn wieder an :
" Nehmen Sie Ihren verdammten Dickschädel hoch , Löhner !
Sie finden hier keinen Hundertmarkschein ... "
Anschreien wirkte auf Ernst wie Peitschenschlag .
Er hielt darum den Kopf hartnäckig gesenkt und preßte trotzig die Lippen .
Der Abrichter stellte ihn dem Leutnant vor .
" Hören Sie Mal , mein Lieber , bei uns gibt es diese Späßchen nicht .
Draußen können Sie machen , was Ihnen paßt .
Hier wird pariert oder wir streichen Ihnen das Lederzeug an , daß Ihnen schwarz vor den Augen wird ... Unteroffizier , nehmen Sie den Löhner allein vor .
Wenn er in zehn Minuten die Nase immer noch im Sand hat , wird er dem Herrn Hauptmann vorgestellt . "
Es geschah zum erstenmal , daß auf Ernst Löhners bürgerliche Vergangenheit angespielt wurde .
Daß sie nicht unbekannt war , ahnte Ernst .
Er dachte seinen Teil und nahm sich vor , in keinem Zug dem Bild zu gleichen , das seine Strafliste gab .
Einmal über dir erste schwere Zeit der Ausbildung weg , fand sich Ernst gewandt in die neue Lage .
Ohne ein Mustersoldat zu sein , fiel er bei den Übungen nicht mehr auf , tat im inneren Dienst , was von ihm verlangt werden konnte , und legte vernünftiges und beherrschtes Wesen zur Schau .
Sein Gesicht war den Ausbildern rasch bekannt , in den wenigen Angelegenheiten , die vom Soldaten Geist erfordern , war Ernst besser zu Haus , als die meisten anderen , und der Feldwebel überlegte nicht lange , Ernst als Schreiber anzurichten .
Ernst führte alle Kanzleiarbeiten rasch und zuverlässig aus , kam dabei den Anforderungen des gemeinen Dienstes immer noch nach und hatte so in einigen Monaten seine sichere Stellung bei der Kompanie .
Der Hauptmann mochte ihn nicht , war aber ein unbestechlich gerechter Mensch und schloß Ernst von seiner Gerechtigkeit nicht aus .
Ernst erkannte , daß in ihm eine gründliche Wandlung vorging .
Er war ruhig und gesetzt , immer noch sehr schweigsam und verschlossen , selten aufgelegt , zu sprechen oder gar zu singen .
Doch hatte er nie vorher dieses Gefühl inneren Gleichgewichtes gehabt .
Über Vergangenes dachte er ohne Unmut nach , wenn auch der bittere Geschmack der Erinnerungen auf die Zunge bis , lebte ganz in den Pflichten der Gegenwart und hoffte heimlich , die Zukunft , die schön und strahlend hinter den Bergen saß , an denen jeden Tag sein Blick hing , würde ihm alles lohnen .
Die Berge schauten gelassen und unbewegt herein in sein stilles , regelrechtes Leben .
Ernst grüßte sie jeden Morgen und Abend , sah den Mond in ihren gewaltigen Kuppen hängen , und empfand ihre große Ruhe wie ein Spiegelbild der eigenen Seele .
Die große Ruhe war auch über ihn gekommen .
Seit er in der einsamen Kaserne , angesichts der reinen Höhenzüge , tat , was der Tag forderte , füllte Zufriedenheit sein Wesen , Zufriedenheit , die nicht Faulheit des Gemütes , die wohltuender Ausgleich von Willen und Sein ist .
Nicht für die gemeinste Notdurft sorgen müssen , die aufreibende Hetze um Arbeit und Brot hinter sich wissen , nicht den Geruch der Armut und des Elends atmen , sondern reine , frische Waldluft : Ernst spürte , wie sein Wesen sich aus dem Bann von Trieben rang , die in der Großstadt empfangen und genährt , in der neuen Umwelt langsam abdorrten .
Kneipendunst roch Ernst nicht mehr .
Er blieb dem Wirtshaus fern .
Wenn die Kameraden ihre sonntäglichen Sauffahrten rüsteten , streckte er sich auf die Klappe und las die Bücherei der Kompanie auf .
Außer der Löhnung bekam Ernst kein Geld in die Hand .
Es war ihm auch ganz gleichgültig .
Nun heißt es :
Ein Soldat ohne Geld ist der Gar_nichts in der Welt !
Ernst teilte sein Geringes sorgsam ein , was er früher nie getan hätte , hielt eisern an dem vorgenommenen Ausgabeplan fest und rückte nicht um Haaresbreite von seinen Grundsätzen .
Einst waren ihm Grundsätze nur Ausreden für mangelndes Temperament gewesen .
Duckmäuser wurde Ernst nicht .
Die Abendunterhaltungen im Zimmer oder in der Kantine sahen ihn kreuzvergnügt .
Als Vorsinger und Stimmführer erfreute sich Ernst guten Rufes bei allen liederfrohen Seelen , und wurde geschimpft , so schimpfte Ernst kräftig und überzeugt mit .
Sein liebster Aufenthalt war die Schreibstube .
Feldwebel Müller war ein barscher , hitzköpfiger Unteroffizier von zwanzig Dienstjahren , gefürchtet in der ganzen Kompanie für seine wahrhaft hanebüchene Grobheit , und dabei stark unter dem Pantoffel seiner raschen , zungenfertigen Frau Feldwebel .
Unerbittlich im Dienst , zwang Feldwebel Müller doch manchmal sein faltenreiches Antlitz zu saurem Lächeln , wenn Ernst Löhner die befohlene Arbeit lange vor der Zeit ablieferte .
Dafür hatte Ernst allerhand Gründe .
Die Arbeit war ihm eigentlich herzlich gleichgültig .
Doch die freie Zeit , die er bei früherer Ablieferung für sich herausschlug , schien ihm jede Anstrengung wert .
" Sie müssen schnell noch diese Verfügungen ausschreiben , Löhner .
Ich brauche sie unbedingt .
Hurtig also , daß ich morgen früh nicht aufsitze .
Wenn es nötig ist , bleiben Sie über Zapfenstreich hier in der Schreibstube .
Der Unteroffizier vom Tag wird verständigt .
Los , los . "
Viel eher , als Feldwebel Müller ahnte , war die Verfügung ausgeschrieben .
Doch blieb Ernst ruhig in der Schreibstube sitzen , rauchte in das gelbe Gaslicht und reimte lustig drauflos .
Er hatte ja Zeit , und der Zapfenstreich , der eben vom Spielmann hingebend geblasen wurde , galt nicht für ihn .
Nur wenige Minuten fehlten auf Mitternacht , als Ernst seine lange Epistel beschloß .
Sie gefiel ihm ausnehmend , denn kein einziger unreiner Reim warf einen Flecken auf das saubere Versgewand .
Zufrieden mit der Leistung , öffnete er das Fenster und ließ mit dem Rauch auch die Muse entschweben .
Dichtende Soldaten sind lächerlich und rührend .
Das waren aber gerade Eigenschaften , die Ernst Löhner gar nicht schätzte .
Er verkramte jedes Zipfelchen Poesie vor anderen Augen und war sehr bestürzt , als ihm Feldwebel Müller eines Tages doch ein Papier unter die Nase hielt und davon mit entsetzlich falscher Betonung ablas : Heraus , o nur heraus aus diesem Schwarm der Allzuvielen und des Allgemeinen , der dumpfen Seelen , bettelhaft und arm , die das zu sein nicht wagen , was sie scheinen .
In diesem Stil ging es durch ein Dutzend Strophen fort .
Der Feldwebel rückte die Brille weiter die Stirn hinauf , schnaubte in das ungeheuerlich rote Nasentuch und fragte verlegen und vorwurfsvoll , was das eigentlich zu bedeuten habe .
Ernst schwitzte vor Scham und Unbehagen , und redete sich auf den unbekannten Dichter hinaus , von dem er die Verse abgeschrieben hätte .
Hinterher nahm er sich selbst bei den Ohren und schalt sich einen elenden Feigling , der seine eigenen Kinder verleugnet , weiter begutachtete er , in Zukunft nie wieder eine Handschrift in der Kompagniekanzlei liegen zu lassen .
Er fühlte sich einige Wochen von seinem Feldwebel mißtrauisch beobachtet .
Buchstadt ist ein herrliches Stückchen Welt , wenn die Sonne heiß auf den Fluß schien und in jeder Welle aufleuchtend strahlte , die Wälder grün rauschten und der blaue Himmelsbogen um die Höhen schwang , war es schön , Posten zu stehen , und in guter Ruhe vor dem langen Gartenzaun auf und ab zu gondeln , die gelben Kuhblumen zu hüten und sich vorzustellen , man sei eigens da , den Frühling zu bewachen .
In der Nacht flegelte der Mond breit auf den Sandwegen , rauschte das Wehr der nahen Mühle träumerisch , und köstlicher Harzduft wehte von den Wäldern , die starr und schwarz überm Fluß standen .
Da schnallte man den Leibriemen zwei Loch weiter , klemmte das Gewehr unter den Arm und pfiff sich leise eins von den guten , alten Volksliedern .
Ernst zog gern auf Wache .
Einen ganzen Tag lang frei und über alle anderen gestellt sein , denken , was man wollte , und wieviel man wollte , dem langweiligen Gamaschendienst zuschauen und selbst nicht mitzutun brauchen :
er verstand , weshalb der lose Soldatenmund sang : Arrest und Wachen sind beim Haufen die feinsten Sachen ...
Ernst brannte seine zwei Stunden , haschte in guter Weile Verse , wie andere Mücken fangen , und drosch in der Wachtstube mit den Kameraden Schafskopf , wenn er nicht lieber auf der Holzpritsche lag und sich seine gesammelten Werke abhörte .
Vollkommen war das Glück , wenn Ernst mit dem Einjährigen Weiß aufzog .
Der junge Lehrer war selbst ein heimlicher Dichter und deshalb entzückt , eine verstehende Seele in Ernst zu finden .
Hockten sie in einem Winkel , so stießen sich die anderen Leute prustend in die Rippen , tippten bedeutungsvoll ihre Stirn und schwangen die Hände in großartigen Gebärden durch die Luft .
Die beiden Reimer achteten längst nicht mehr darauf , stritten sich die Köpfe warm über die Reize von Sonetten , Ghaselen , Ritornellen und Blankversen , wobei Ernst fast ständig den Widerpart hielt , und einigten sich nach Stunden auf einen Versuch mit lauter männlichen Reimen .
Der Einjährige Weiß kniff die unwahrscheinlich blauen Märchenaugen ein , was seinem guten Bubengesicht vortrefflich stand , und dichtete , daß jedes Haar auf seinem Haupte dampfte .
Unterdessen staffelte Ernst seinen Posten vorschriftsmäßig ab und tat desgleichen .
Die Ergebnisse wurden nachher verglichen und unter großem Aufwand von Fachworten gegen Neid und Mißgunst verteidigt .
Ein herrlicher Sommerabend fand unsere beiden Dichter wieder vereint auf Kasernenwache .
Man hatte den halben Nachmittag weidlich Kunst und Literatur gepaukt und war endlich beim guten , alten Vater Claudius gelandet , den Weiß eifervoll rühmte und eine Seele von deutschem Menschen und Dichter hieß .
Die Sonne rollte über die messerscharf vom Abendhimmel weggezackten Firste und Dächer Buchstadt , schwebte wundervoll leicht und frei in goldsprühenden Nebeln und sank plötzlich weg wie verschluckt .
Das uralt herrliche Schauspiel hatte ergriffene Zuschauer .
Um Mitternacht drückte Ernst dem Einjährigen ein verknülltes Papier in die Finger .
Er las :
Die Sonne geht zur Rüste , nimmt nach der goldenen Küste des Abends Ziel und Lauf .
Nun steigen mit den Sternen aus unbekannten Fernen Gefühle , fremd und wunderlich , herauf .
Des Tages Vollgesichte verblassen mit dem Lichte und gleiten aus dem Raum .
Ich stehe und empfinde , wie ich mir selbst entschwinde und tastend wandle zwischen Tag und Traum .
" Menschenskind , das ist ja prachtvoll !
Das ist ja so schön wie heute abend , als die Sonne unterging und wir nachgeschaut haben ... Mensch , Löhner , Sie sind ja ein wirklicher Dichter ...
Ich möchte das auch so sagen können ... "
Er war ein wirklicher Dichter ?
Schafskopf !
Das hätte er doch schon längst sehen können , der gute Freund Weiß .
Aber er glaubt halte doch auch , ein Lehrer müßte so was besser können .
Nun sollte er aber sehen , wie ein wirklicher Dichter sich benimmt .
" Das ist doch gar nichts Besonderes ...
Sie müßten erst meine wirklichen Gedichte kennen .
Sonnenuntergang , was denn ?
Das haben schon hundert andere gesehen und gedichtet .
Aber ich will , was noch keiner gesehen und gesagt hat .
Kennen Sie Hebbel ?
Das ist ein Kerl .
Dem muß man es gleichtun . "
Natürlich war Ernst im Grund sehr stolz auf die Anerkennung , doch diese Freude zeigen , schien ihm unwürdig .
Er sprach breit und hochtrabend von Auffassung und Anschauung , von der Idee im Kunstwerk und wie sie beschaffen sein müßte , von den Dichtern , die nur leiern , weil sie nicht denken können , und von vielem , was er sich in den letzten Jahren kraus und bunt zusammengepflastert hatte .
Der Einjährige ließ verwundert den Redestrom über sich erbrausen , flammte selbst auf , als Ernst Mörike einen butterweichen Säusler nannte , und balgte sich bis zum Morgengrauen mit ihm um die Preisfrage :
Was ist ein vollkommenes Gedicht ?
Ernst hatte " Über allen Wipfeln ist Ruhe " angeführt , die " Zwei Wanderer " Hebbels , " Kilchberg " von Meyer und hatte wütend bestritten , daß Schillers " Glocke " ein Gedicht , daß Schiller überhaupt ein Dichter ist .
Sehr gekränkt forderte Weiß Widerruf dieser Ketzerei und pries Schiller als den größten deutschen Dichter .
Ernst verwahrte sich feierlich gegen diese Einschätzung .
Kleist , Grabbe , Georg Büchner und Hebbel wären viel größere Dichter als Schiller , der ja für Schulkinder ausgezeichnet geeignet , für selbstdenkende Menschen jedoch längst überwunden sei .
Der Einjährige gestand , Grabbe und Büchner gar nicht , Kleist und Hebbel nur teilweise zu kennen , und mußte eine begeisterte Lobrede auf die vier " hellsten Sterne am deutschen Dichterhimmel " anhören .
Es geschah zum erstenmal , daß Ernst über die wichtigste Angelegenheit der Welt - das waren Kunst und Künstler für ihn - mit einem anderen Menschen sprach .
Bisher hatte er sich alles selbst vorgeredet , hatte auch den Widerspruch aus sich selbst geholt und war überzeugt , keinen besseren Zuhörer zu finden als sich .
Der Einjährige Weiß sah vieles anders .
Ein lieber , für Schönes begeisterter Mensch war er dank behüteter Jugend und ruhiger Entwicklung nicht von der krassen Einseitigkeit Ernst Löhners , der in der Welt weiter nichts suchte als das eigene Bild .
Er fand bald heraus , daß Ernst mehr dachte , als gut war , überhaupt das Denken stark überschätzte und aus dieser Überschätzung unduldsam wurde .
Dagegen suchte er auf seine Weise zu wirken .
Er wies Ernst Löhner an die Musik als die unmittelbarste Kunst .
Ernst war platt .
Musik ?
Das ist doch ein ganz sinnloses Geräusch von Schafsdärmen und Roßhaaren , Messingblechen und Holzlöchern .
Er lehnte es leidenschaftlich ab , zuzugeben , daß Musik die unmittelbar ansprechende Kunst sein soll .
" Sagen Sie doch selbst :
Was bleibt von einem Konzert , selbst wenn klassische Musik gespielt wird ?
Man duselt in allerhand unbestimmten Empfindungen , besinnt sich umsonst , warum gerade jetzt die Trommel Lärm machen muß , und sieht die komisch aufgeblasenen Backen des Flötisten in der ernsthaftesten Musik ... Stecken die Musiker ihre Instrumente in den Sack , dann ist alles aus und vorbei .
Man hat eine Stunde wirren Lärm gemacht , hat niemandem etwas gesagt und heißt das dann eine Kunst .
Ich halte nur das für Kunst , was mir einen neuen Gedanken gibt , was mir den Sinn der Welt deutlicher macht , und was mich klüger gehen läßt , als ich gekommen bin .
Ich finde , die Musik verschleiert geradezu den Sinn der Welt , schwächt den Willen zum Denken und ist eine Erbauung für Kinder und junge Mädchen ... Wenn in der Welt mehr gedacht und weniger Trompete geblasen würde , hätten wir alle Nutzen davon . "
Ob er denn ganz unmusikalisch sei , nie selbst Geige oder Klavier gespielt und dabei gar nichts empfunden habe ?
... Ernst runzelte finster die Brauen .
Er hörte die Musik seiner Jugend .
Die grelle Stimme der Mutter , das Kreischen windschiefer Türen , das Rasseln von Ketten !
Er könne sich nicht erinnern , jemals von Musik ergriffen worden zu sein .
" Ich bin mit Musik aufgewachsen .
Daheim hat es Musik gegeben , solang ich denken kann .
Der Vater war Lehrer und hat seine Geige fast jeden Abend am Fenster gespielt .
Das ist die schönste Erinnerung meiner Kinderzeit .
Ich liebe gute Musik über alles , spiele selbst , so gut es gehen will , Klavier und kann ganz vergehen über eine Sonate von Chopin ...
Ich will Ihnen nicht wehe tun , Löhner , aber ich halte einen Menschen für arm , der nichts für Musik empfindet . "
Er täte ihm gar nicht weh , dürfte aber auch nicht übelnehmen , daß er in seinen Augen eben ein Mensch sei , der sich die Gedanken aus dem Kopf dudeln läßt , weil er nicht denken will oder nicht denken kann .
Es stehe für ihn fest , daß die Musik bei den Künsten nichts zu suchen hat .
Sie ist ein Gewerbe , schlau genug erfunden , die Menschen dumm zu halten .
Das sehe man doch überall .
In der Kirche wird musiziert , beim Militär , bei Hochzeit und Kirchweih , überall , wo gewisse Leute Vorteil davon haben , daß die Menschen in das Quieken und Schmettern vernarrt sind , statt zu denken , wo sie sind und wozu sie da sind .
Keinem Menschen falle es ein , gute Gedichte in Kirchen und Kasernen vorzutragen .
Bei Gedichten läßt sich etwas denken , und Denken ist unerwünscht .
Die Verdammung der Musik durch Ernst Löhner und ihre Verteidigung durch den Einjährigen Weiß geschah von beiden aus heißem Trieb zur Wahrheit .
Ernst widerlegte jeden guten und begründeten Einwand durch zwei noch besser erklügelte Vorwürfe und begab sich auf wunderliche Abwege , seinem Mangel die Farbe eines Vorzugs anzuschminken .
Im Grund war er doch nicht voll überzeugt von der Wertlosigkeit der Musik .
So manches liebe Mal war er selbst nach hartem Marsch aufgelebt , wenn die Musik des Bataillons eingesetzt hatte .
Daß eine Kraft von der Musik ausging , ließ sich nicht bestreiten , um so eifriger deutete Ernst deshalb die Wirkung dieser Kraft als lähmend und schwächend aus .
Lehnte Ernst nun auch die Musik selbst ab , die Gespräche über ihren Sinn und Zweck führte er lebhaft und voll Anteil .
Triumph , wenn es gelang , Freund Weiß auf seine Seite zu ziehen !
Wenn sich der Gedanke stärker erweisen würde als der Ton und ein neuer Gläubiger gewonnen würde für die allein seligmachende Kraft der Idee .
Ernst führte die Sache mit Eifer und Nachdruck , setzte Weiß Gründe und Zwittergründe vor und erschien sich sehr verdienstlich in dieser verneinenden Stellung .
Nicht zur Musik allein , auch zu vielem anderen in der Welt sagte Ernst unbedingt " nein " .
Er war geneigt , der Schöpfung in Bausch und Bogen weise Zweckmäßigkeit abzusprechen , und versah die Hefte des lieben Gottes reichlich mit roten Fehlerzeichen .
Daraus entwickelten sich viele Reden und Widerreden , denn Weiß ergriff die Partei des lieben Gottes und fand die Welt wohl und weislich geordnet .
Es warm da zwei wackere deutsche Schädel beisammen .
Jeder suchte dem anderen weiszumachen , er wisse , wer der liebe Gott ist .
Der Gewinn für Ernst Löhner lag in einer neuen Richtung , die sein Blick nahm .
Die letzten vier Jahre hatte er immer auf der Stelle getreten .
Was er nicht betrat , war nicht in der Welt .
Daß die Welt doch größer sein müsse als sein Gehirn , daß auch unter anderem Haar gedacht , unter anderem Hemd gefühlt wurde , und daß es besser war , nicht alle Türen in die Welt zu vernageln , bedachte Ernst zuweilen .
Die Dienstzeit ging zu Ende .
Ernst wunderte sich oft , wenn er zurückdachte .
Nie vorher hatte sein Leben diesen starken , kräftigen Pulsschlag gehabt .
Nie war Zeit so schnell und brausend durch ihn geströmt .
Sann er über die zwei Soldatenjahre , so drängte sich die Erkenntnis vor , ein neuer , ein ganz anderer Mensch sei in seine Haut gewachsen .
Wo war die Scheu geblieben vor Menschen und fremden Zuständen ?
Er konnte freier in die Welt blicken , seit er vorgefaßte Gedanken wegschob , die zwischen seinem Sinn und dem wahren Bild der Welt standen .
Er war zweifelnd geworden , ob es wirklich seine Vorstellung von der Welt war , die er diese Jahre her bildete .
Hatte er nicht Grabbe oder Hebbel auf die Nase gesetzt und durch sie das Leben wie durch eine Brille gesehen ?
Ein Gefühl langsamen Erwachens reckte sich , dumpf und schläfrig noch manchmal , und Willens , wieder hinzusinken in wüssten Halbschlaf , wach zu werden , den Tag zu grüßen , der schon ungeduldig die hellen Schwingen regte , war Ernst Löhners Sehnsucht , die er brütend mitnahm in die Vaterstadt ... Frührot Anders als bei seiner letzten Rückkehr grüßte Ernst Löhner die große Stadt .
Sie war nicht geändert , streckte und dehnte sich wie immer in die flache Weite des reizarmen Landes und trug die alte Burg stolz wie einen Stirnreif .
Die gewaltig beharrende Kraft des Lebens predigte in Ernst Löhners Sinnen .
Die alten , grauen Türme und Mauern sind noch , die sein Streben und Irren , seine Wonne und seinen Wahn geschaut , die gleichen , die unbeweglichen Gesichtes dem gewechselten Menschen ins Auge blicken .
Fühlten sie mit den Menschen , der stumm drunten stand und gelobte , das Leben hinfort zu tragen , es sei Lust , es sei Last , dem Leben treu zu bleiben , ob es ihn mit Glanz beschütten oder in Schatten begraben wollte .
Die Türme hielten weiter hohe Schau , und ihre verwitterten Stirnen leuchteten im dünnen , glaszarten Glast der Herbstsonne .
Ernst sprang geschlossenen Auges in den Kampf .
Mit geschlossenen Augen , weil er nicht sehen mochte , wie die alten Schatten sein äußeres Leben wieder in die Arme nahmen .
Nichts sehen und nichts hören , was über die Stunde hinauswies , und in dieser Stunde nur wissen , daß dem Menschen gesetzt ist , zu arbeiten , wenn er leben will .
Die Träume von Ruhm und Reichtum waren nicht gestorben , aber sie mußten schlafen , tief und fest schlafen , sollte das Leben ertragen und einem Ziel zugebracht werden .
An dieses Ziel mochte Ernst nicht denken .
Dachte er daran , so umwehte ihn kalter Grabgeruch .
Arbeiten , später ein kleines Mädchen nehmen und Kinder zeugen , gab es ein Ausweichen auf diesem unerbittlich vorgeschriebenen Weg , den seit Geschlechtern jeder im Zwinger gegangen ist ?
Das Bild des Vaters schritt diesen Weg vor , schwermütig lächelnd und wortlos .
So würde es auch bei ihm sein : ein kurzes , einfaches Glück , Entzweiung dann , ein schrecklicher Kampf in den vier Wänden und die Flucht in betrunkenes vergessen ...
Der Vater ruhte von Kampf und Flucht .
Er war gestorben , als Ernst im ersten Frühjahr Soldat war .
Ernst flickte eben den weißen Drillichrock , da kam der schwarzgeränderte Brief mit der Nachricht ...
In dritter Garnitur , Helm und Lederzeug blank geputzt , ging Ernst hinter dem Sarg drein und fand Trost in dem Gedanken , daß der Tote sich wohl freuen würde , wenn er eine Uniform in seinem letzten Geleit sehen könnte .
Trauer brachte Ernst nicht zuwege .
Sie schien ihm Heuchelei .
Der Vater hatte seinen harten , atemlosen Kampf hinter sich und schlief nach dem bösen , giftigen Traum seines Lebens tiefen , tiefen Schlaf .
Hatte er in diesen Schlaf ein schönes Bild gerettet ?
Eine Wiese im heimatlichen Frankendorf , die Peterskirche , die der Schustergeselle auf der Wanderschaft gesehen , und die in seinem einfachen Denken der Gipfel aller Größe war , die Spieluhr , deren sanft kläpperndes Rasseln dem ernsten Gesicht fröhliche Lichter weckte , eine Erinnerung , nicht von Galle und Geifer seines Alltags besudelt , dem guten Antlitz ein dankbares Lächeln als Beute seines Lebens zu schenken .
Ernst wünschte es innig .
Ernst hauste mit der Mutter , die es ganz in natürlicher Ordnung fand , daß er in die Lücke des Vaters einrückte , und sich behandeln ließ , wie sie es in den Jahren gelernt und geübt hatte .
Dazu fehlte Ernst jede Lust .
Er reckte sich beim ersten Treffen finster auf , herrschte mit rauher Stimme Ruhe im Haus und war fest entschlossen , seinen Willen durchzudrücken , es mochte gehen , wie es wollte .
Jeden Tag setzte es Kampf .
Die Mutter strebte Gewalt über den störrischen Sohn an , versuchte grobe und feine Mittel und zitterte vor Zorn , weil nichts gelang .
Der Sohn war härter , viel härter als der Vater .
Er schwieg nicht und zählte böses Wort mit böserem Wort heim .
Über an ein Nachgeben dachte auch Maria nicht .
Fand sie es schon geraten , längeren Waffenstillstand einzuführen , der heimliche Kriegszustand dauerte fort und führte zu heftigen Ausbrüchen auf beiden Seiten .
Schnell hatten Ernst alle Kräfte des Lebens wieder , denen er zwei Jahre entrückt war .
Er fiel seiner dunklen Verschlossenheit neu heim , wich den Menschen , und was sie bewegte , aus und baute noch höhere Zäune als jemals um die eigene Welt .
Die Arbeit schätzte er als eine bittere Notwendigkeit , fand keine Lust und Freude daran , arbeitete aber leidlich regelmäßig , um seine Hauptwaffe im Familienkampf in der Hand zu behalten .
Das Leben ging ihn stark an .
Das Gefühl , nun gelte es , wurde täglich mehr bekräftigt .
Ernst wuchs an diesem Gefühl und an der klaren Erkenntnis , daß sein letzter , schwerer Kampf mit den Geistern der Tiefe nahe .
Ernst liebte die Arbeit nicht .
Es fehlte ihm Geduld , Ausdauer , die Fähigkeit , körperliche Kraft auf einen Punkt zu sammeln .
Er suchte umsonst einen Sinn in dem Zustand , daß er neun Stunden vor einer Bleipresse stand , die immer und immer nur um ihre Achse schwang , ob Blei in den Behältern war , ob die Behälter leer liefen .
Daß Kraft wirkt , so oder so , war kümmerlicher Trost für ihn , der nicht wußte , daß Kraft genutzt werden will .
Er fühlte andere Kraft in sich , Kraft , die unruhig und quälerisch die Brust hob und keinen Weg in Freiheit und Wirksamkeit finden konnte .
Denn denken und dichten hält eine Bleipresse nicht im Gang .
Ihr verschlug es nichts , ob ihr Sklave Gutes oder Böses dachte , ob er überhaupt dachte .
Sie drehte sich im Kreis , forderte zum gewissen Augenblick ihren gewissen Handgriff , und die polierten Scheiben blinkten seelenlos , mochten die Gärten Sevillas , die Wunder der Pyramiden oder ein zarter Vers in Ernst blühen .
Nichts , gar nichts verrückte ihren Schwung , die Achse stand genau im Lager am Morgen wie am Abend und das gepreßte Blei entquoll als endloser Wurm den Behältern .
Stets hatte Ernst diesen endlosen Bleiwurm vor Augen .
Er schlang und ringelte sich um ihn , kroch an seinen Gliedern hoch und schnürte seiner Seele die Luft ab , daß er zu ersticken meinte .
Luft , Luft !
... Keine Fabrikmauern mehr , nicht mehr den ekligen Bleiwurm , Himmel über sich , Weite um sich , die den Blick frei ausfliegen ließ , ihn nicht zurückstieß wie die Fabrikwand !
Ernst nahm Arbeit auf Bauten , schleppte Mörtel und Ziegelsteine und sah das väterliche Gesicht vor sich , hoffnungslos lächelnd .
War das sein Geschick : die vom Vater abgelegte Last weiterzutragen , bis zur letzten Stunde auf Leitern und Gerüsten zu turnen und anderen Wohnungen zu bauen , während er selbst heimlos irrte ?
Das rauhe , luft- und sonnenbraune Arbeitertum des Baugeschäftes stand Ernst innerlich näher als die Leibeigenschaft an der Maschine .
Barsche , zuweilen rohe Sitten begegneten seiner eigensten Natur , die karg , herb und schwerflüssig leichter abstieß als anzog .
Wenn er , die steingefüllte Trage geschultert , in freier Luft die Gerüste erstieg , Ziegel schmetternd abwarf und sich , der Last ledig , neu ausrichtete , begleitete ein Vorsatz diese Handlung , wie die Steine von der Schulter , würde er einst auch die drückende Innenlast abtun und freien Weg schreiten .
Wie wuchs doch so ein Haus !
Letzte Woche noch standen sie in der Grube und warfen stöhnend Grund aus .
Heute wird schon der erste Stock gemauert , in einigen Wochen karrt das Gebälk vor , wird ausgewunden , und bald wimmelt das bändergeschmückte Richtbäumchen die Runde vom neuen Haus in die Nachbarschaft .
Man sah das Werk seiner Hände vor den Augen werden .
Auch mein Haus muß unter Dach und Fach kommen , dachte Ernst oft und gern .
Außer kräftiger Rede liebt der bauende Mensch auch kräftigen Trunk .
Ernst saß viel mit den Kollegen im Wirtshaus , gewöhnte sich ehrbare Trinkfestigkeit an und lauschte den Reden .
Da gab es viel zu hören .
Fester , als er das in der Fabrik gefunden , ist die Gemeinschaft der arbeitenden Bauhandwerker .
Fester und herrschsüchtiger , was Ernst sehr schnell spürte .
Von Organisation und gemeinsamem Auftreten wußte Ernst nichts , was bei ihm , der stets allein lebte und dachte , nicht wundern kann .
Noch keine zwei Stunden eingestellt , wurde Ernst schon in die Rippen gebohrt und peinlich nach einem Verbandsbuch befragt .
Verbandsbuch ?
... Ernst kannte Hebbels Gedichte genau , er vermaß sich , aus einem beliebigen klassischen Drama aufzusagen , von einem Verbandsbuch hatte er keinen Schimmer .
Der Vertrauensmann wiederum schien von Hebbel , Kleist und Grabbe aber auch gar nichts zu ahnen und stellte die klare Forderung : Organisieren oder die Arbeit niederlegen !
Ernst legte die Arbeit nieder , denn sich von jemand , der Hebbel nicht kannte , zwingen zu lassen , dünkte ihm ein Abbruch seiner geistigen Ehre .
Am Nachmittag stand Ernst vor der gleichen Wahl :
Organisieren oder Arbeit niederlegen !
Er versuchte Ausflüchte .
Zum Zahltag wolle er sich aufnehmen lassen .
" Wo bist denn du ausgelassen , Freunderle ?
... Zahltag ?
Der ist bei uns alle Tag .
Du kannst Vorschuß nehmen , wenn du sechs Stunden gearbeitet hast .
Also quatsch nicht , Junge , und gehe zum Kappo !
Der gibt dir , was du brauchst ...
Bei uns gibt es kein Fackeln .
Wer nicht beim Verband ist , fliegt .
Wir können solche Brüder nicht brauchen ... "
Noch dreimal versagte sich Ernst der Forderung .
Er war wütend , was wollte man von ihm ?
Er schleppte seine Steine , bekam dafür sein Geld , und das andere scherte niemand .
Verband ?
Ein Kerl wie er pfeift auf einen Verband .
Er beißt sich schon allein durch .
In der sechsten Arbeitsstelle machte Ernst schlapp und trat dem Verband bei .
Es ging nicht anders , wenn er arbeiten wollte .
Innerlich war er aber noch nicht bei der Stange .
Jedesmal regte ihm der Beitrag die Galle auf .
Sonst fuchste er durchaus nicht mit den Pfennigen .
Am Nachmittag gab es Krach .
Der grobdrahtige Meister hatte einen Helfer Knall und Fall von der Baustelle gejagt , weil er nach seiner Meinung zu langsam schuftete .
Abends war Bauversammlung .
Alles folgte der Ansage , und Ernst merkte überrascht , daß die sonst so stumpfsinnige Laune seiner Kollegen einer sehr entschlossenen und sachlichen Haltung gewichen war .
Nach einigen Formeln erhob sich ein vierschrötiger Mensch , besser angezogen als die anderen .
Die laute , tönende Stimme legte los : " Kollegen !
Wir sind zusammengekommen , um zu beschließen , was getan werden muß , damit der Herr X. endlich einmal aufhört , für nichts und wieder nichts zu maßregeln .
Ihr wißt , er hat heute nachmittag einen Kollegen entlassen , weil er nicht so gerannt ist , wie der Herr X. sich einbildet .
Daß er auch einmal Steine getragen hat , weiß der Herr X. ja nicht mehr , wir wissen es aber noch recht gut , und mancher alter Kollege unter uns hat mit ihm zusammen gearbeitet .
Kommt aber der Bettelmann aufs Roß , dann ist mit ihm schon gar nicht mehr zu hausen .
Der Herr Meister beruft sich auf sein gutes Recht , jeden Arbeiter , wenn es ihm gefällt , zu entlassen .
Die Herren Bauprotzen bilden sich ein , jeder Krauter wäre der liebe Herrgott selber .
Der Kollege H. arbeitet seit vier Jahren bei ihm ; er hat manchen Sommer geschwitzt , während sich der dicke Herr Meister aufs Kanapee legte .
Jetzt arbeitet er auf einmal nicht mehr schnell genug .
Arbeitet einer von euch schneller ?
Gut :
wir wollen dem Herrn X. sein gutes Recht geben .
Aber wir haben auch ein gutes Recht , und das verlangt , daß wir keinen Finger rühren , solange der entlassene Kollege gemaßregelt ist .
Ich schlage deshalb vor , morgen vor Anfang der Arbeit die Wiedereinstellung des Kollegen zu fordern .
Gibt der Herr Baumeister nach , schön !
Gibt er nicht nach : Schluß der Arbeit !
Alles geht vom Bau und läßt den Herrn Meister allein arbeiten , wollen doch sehen , ob es bei ihm schneller geht ... "
Tosender Beifall setzte nach diesen heftig hingesetzten Worten ein .
Der am lautesten schrie und die Hände bearbeitete , war Ernst Löhner .
Er glühte vor Eifer und Überzeugung , nickte immer wieder und suchte die eigene Erregung in den Gesichtern der anderen .
Überall fand er sie .
Die Kollegen brüllten und tobten , schwuren gräßlich fluchend jede Arbeit ab , wenn nicht geschah , was ihnen für Recht galt , und wählten einen kleinen Ausschuß , der die Verhandlungen führen mußte .
Dieses Ereignis war eine Fackel , in Ernst Löhners Vorstellungen geworfen .
Er begriff plötzlich Wert und Macht der Gemeinschaft und strebte eifrig , die gewonnene Erkenntnis zu stützen .
Er knüpfte Gespräche über Gewerkschaftsfragen an , las , es wollte erst gar nicht recht munden , was wissenswert auf diesem Gebiete war , und stellte sich leidenschaftlich auf die Seite der sozialistischen Heilslehre .
Daß es Reiche und Arme in der Welt gab , war Ernst nicht unbekannt .
Daß der Armen mehr , unendlich viel mehr waren , wußte er auch .
Aber er hatte sich mit diesem Wissen begnügt , hatte aus dem Zustand nur die einzige Aufforderung entnommen , selbst reich zu werden , und sich sonst nichts um die Ziele seiner eigentlichen Welt bekümmert .
Ja , er hatte diese Welt innerlich abgelehnt , hatte sich wund und blutig gestoßen , sie geistig zu überwinden .
Schaute er im Licht seiner sozialistischen Erkenntnis auf den Kampf seiner Jugend zurück , so erschien er ihm als das aussichtslose Fechten eines Versprengten , der vom Heer abgekommen , verzweifelt für sich selbst Krieg führt .
Die neue Ordnung des Daseins kommt für alle Armen , nicht für einen allein .
Sie kommt durch alle , oder sie kommt gar nicht .
Was er gewürgt und gerungen , diese ganzen Jahre her , mußte zur Niederlage führen , denn er hatte nur für sich Besserung gewollt , hatte Millionen als seinen Besitz erträumt , die ihm , nur ihm ein schönes , seinen Neigungen und Anlagen gemäßes Leben schaffen sollten .
An einen zweiten Menschen hatte er dabei nicht gedacht oder doch nur wie ein Reicher eben denkt , der Almosen austeilt .
Es gibt kein Recht auf persönliches Glück ; es gibt nur die Pflicht , das allgemeine Wohl zu fördern .
Die zweite Geburt Neue Gedanken brannten in Ernst Löhner .
Er sah den Himmel , der bisher nur Bahn seines eigenen Glückssterns sein sollte , von großen , herrlichen Sonnen umkreist , denen Lauf und Richtung seines kleinen Geschickes anzupassen ist .
Ernst suchte Anschluß an das große Heer der kämpfenden Menschheit ; er schwor feurig zur Fahne dieses Heeres , holte das anmaßliche Banner seiner persönlichen Kriege ein und rollte es zusammen .
Nur eine Fahne sollte über ihm wehen , die Fahne der Zukunft , die Fahne des völkerbefreienden Sozialismus .
Er glühte in der Esse dieser Leidenschaft und trug große , gewaltsame Gebärden zur Schau , sprach nicht viel mehr als vorher auch , wenn er aber sprach , in kurzen , krampfig geballten Sätzen , die wie Faustschläge waren .
Daß sein Kampf der Kampf von Millionen war , berauschte ihn und füllte seine Brust mit stärkstem Vertrauen .
Immer gleich an die äußerste Grenze schreitend , erträumte sich Ernst auch jetzt wieder die Kraft eines Vorkämpfers und nannte sich den Dichter des kämpfenden Volkes , den Seher der Zukunft , den Wegbereiter des Weltheils .
Messianische Wünsche bedrängten ihn .
Von Millionen sah er diese Wünsche geteilt , und jauchzte hoch aus dem Gefühl , Mund dieser Wünsche zu werden .
Wer die Welt umgestalten will , fängt im eigenen Haus an .
Ernst versuchte die Kraft seiner Gesinnung daheim .
Die Mutter mußte doch Verständnis dafür haben .
Dreißig Jahre bückte sie sich schon über die Knüpfmaschine , war krumm und schmal geworden und hatte nur dürftigste Notdurft gestillt .
Sie mußte doch aufglühen in Zorn und Eifer und der neuen Erkenntnis zufliegen .
Prachtvoll eifrig und zornig konnte sie sein .
Hier war einmal ein würdiger Gegenstand .
Bedenken stiegen Ernst gleich auf .
Die Mutter glaubte nur einer Macht : dem Geld .
Sie betete zu einem Gott : dem Geld !
Geld zu haben , war ihr Sinnen und Trachten stets gewesen .
Wer Geld besaß , besaß in den Augen der Mutter von selbst alle menschlichen Tugenden .
Er war gut und schön , klug und ein Kind Gottes , ihn zu achten war Pflicht der ärmeren Leute , die kein Geld hatten , und damit auch keine Tugenden .
Ernst predigte der Mutter den Sozialismus .
Er bekam den Text mit beißenden Glossen an den Kopf geworfen .
Ein junger Mensch hätte ordentlich zu sein und zu arbeiten , damit Geld ins Haus kommt .
Alles andere ist Unsinn .
Sie arbeite nun seit dreißig Jahren , sei nie aus einer Stellung entlassen worden , sondern überall freiwillig gegangen , und denke nicht an den Verband .
Das koste nur Geld , trage aber nichts .
Wer richtig arbeitet , braucht nicht zu streiken .
Einmal im Schuß , war Marias Redseligkeit nicht zu dämmen .
Der Redestrom schlängelte sich in krausen Windungen durch Vergangenheit , Gegenwart und Zukunft , warf wunderliche Blasen und überschwemmte das Hirn des Sohnes mit Sand und Geröll .
" Jawohl ! Überall dreinreden , alles besser wissen , bloß nicht richtig arbeiten ...
Von wem du das nur hast ?
Von mir gewiß nicht .
Ich bin mit vierzehn Jahren in die Fabrik gekommen , und mir kann kein Mensch etwas nachsagen .
Gott sei Dank !
Ich bin immer ehrlich durchs Leben gekommen ...
Darum möchte ich auch einmal richtig begraben werden .
Das werde ich alles schon richten , wie es sein muß .
Einen Metallsarg muß ich kriegen , gesungen muß werden » Wer weiß , wie nahe mir mein Ende « , und der Pfarrer soll eine Leichenrede halten , die den Leuten zeigt , wer man seiner Lebtag gewesen ist ...
Es muß alles richtig und ordentlich werden .
Du gehst doch hoffentlich auch hin , damit es nicht heißt , der älteste Sohn hat auf der Beerdigung gefehlt . "
Nein , er gehe auf gar keinen Fall hin .
Ein Rudel Gänse müßten sie auf den Friedhof ziehen .
Das wäre billiger und sei noch nicht dagewesen .
Zornig und doch erschüttert hatte Ernst gelauscht .
Diese Sorge um ein richtiges Begräbnis brachte ihm nur Wut und reizte seine Spottlust .
Er wollte die Mutter aufrütteln , wollte sie als Kampfgefährtin gewinnen , und nun mußte er hören , wie sie begraben sein möchte .
War das der Gewinn seiner Werbung ?
War die Mutter wirklich innerlich so fertig , daß ihr nur noch das eigene Begräbnis wichtig und reizvoll erschien , ein Ereignis , das sie doch selbst am wenigsten anging ?
Sie hätte doch gar nichts davon , ob nun der Sarg so oder so aussehe , ob der oder jener Choral gesungen würde , und ob der Geistliche ihren Lebenslauf ausschmücke , der doch wirklich zu elend und simpel sei , andere Menschen anzuspornen .
Man lebt doch schließlich nicht , um sich für andere Menschen so umständlich begraben zu lassen .
Sie selbst werde ja nichts von der ganzen Feierlichkeit sehen und hören .
Oho !
da sei er aber schwer auf dem Holzweg .
Sie hoffe bestimmt , alles mitzumachen .
Die grünen , flackernden Augen Marias bohrten , daß ihm unheimlich wurde .
Dieser sonderbare Glaube , Gast des eigenen Begräbnisses zu sein , beklemmte Ernst und stellte sich geheimnisvoll zwischen ihn und die Mutter .
Sie war doch eine ungewöhnliche Frau , zu Geistersehen und allerhand Fabelwesen geneigt .
Sein Versuch , für den Sozialismus zu werben , war hoffnungslos fehlgeschlagen .
Darüber gab es keine Unklarheit .
Wenn aber die Mutter nicht flammte , wo sollte dann die Lehre vom Recht des Armen zünden ?
Ernst grübelte , wo lag die Ursache dieser Erscheinung ?
Die sozialistische Botschaft war doch klar und einfach .
Jeder Arme mußte sie verstehen und annehmen .
Oder war die Mutter doch nicht arm ?
Seit Jahren ging die Sage , sie lege heimlich Geld an .
Ganz unglaubhaft klang diese Sage nicht .
War Leben und Arbeit in freier Luft schön , wenn Sonne schien , als Nebel stiegen und kalter Regen auf Riegel und Bohlen klatschte , verwünschte Ernst Löhner das Bauhandwerk .
Bald gab es Regen- und Frostfeiern , starken Lohnausfall und daheim erhöhten Zank .
Die Mutter maulte und bombardierte Ernst mit scheelen Blicken , der daheim saß und nichts arbeitete .
Er war nicht müßig , doch Schreiben und Lesen galt der Mutter als Flunkerwerk , das nichts trug und den Ofen nicht warm machte , daran es getrieben wurde .
Die Bücher stapelten sich um Ernst .
Er wühlte tief in fremden Gedanken und Gefühlen , immer noch hoffend , irgendwo gedruckt zu finden , was Leben und Tod ist .
Was ihn aber heute anzog , verlor schon morgen die Kraft , ihn zu halten .
Ernst rannte von einer Quelle zur anderen , und pumpte sich mit Wissen voll , daß die Weisheit aus allen Poren lief .
Aber er fühlte seinem eigenen Gewicht nicht ein Gramm zugelegt und zweifelte am eigenen Zweifel .
Warum wollte es nicht vorangehen ?
Er spannte doch die erprobtesten Pferde vor den Karren , kutschierte sechsspännig auf allen Straßen des Geistes , und blieb doch wie durch Zauberwort an die Stelle gebannt .
Warum kam ihm die Welt nicht entgegen ?
Er war bereit , sie festlich zu empfangen .
Die dumpfige Stube sah ihn lange über Büchern sitzen .
Jede Buchseite wurde in freudiger Erwartung des Wunders gewendet .
Sind Bücher nicht Sterne , die finstere Welt zu erhellen ?
Ein Mensch hat das Licht seiner Seele gesammelt , daß es anderen Menschen den Weg erleuchten soll .
Warum zündete es in ihm nicht ?
Warum saß er vor den Büchern wie vor blinden Fenstern ?
Nur trübes Qualmen war in ihm .
Die Gedanken brauten giftige Nebel ; in dunklen Verswolken rauchte Gefühl auf und zog den Himmel mit finsterem Gewölk ein .
Ich tapp in meinem finsteren Haus die Winkel alle ein und aus .
Ich suche was , bald da , bald dort , ich suchte schon an jedem Ort und immerfort !
Vernunft , das karge Dreierlicht , blakt immer nur und leuchtet nicht .
Mit dieser Funzel , jammervoll , finde ich nicht , was ich suchen soll .
Das macht mich toll !
Darum wird_es nicht bald im Hause hell , dann greife ich nach dem Zunder schnell und stecke mit der eigenen Hand die ganze Herrlichkeit in Brand .
Mit eigener Hand !
Das eine wüßte ich gerne nur :
Liegt es wohl im Ratschluß der Natur daß lichterloh der Giebel brennt , damit man nur im Haus erkennt , wohin man rennt ?
Wirr griff Ernst in die Luft .
Zum Ersticken war es .
Auf seine Brust drückte Gebirge harten Gefühls .
Dort das Fensterkreuz ...
Es reichte hoch genug über den Boden .
Wenn man es tut ?
.. .
Die starke Schnur hielt sicherlich .
Ernst nestelte einen Knoten auf .
Seine Finger flogen .
Die Schlinge paßte für seinen Hals .
In zwei Minuten konnte es geschehen sein .
Er hing dann am Haken und wußte von all dem tödlichen Gefühl , das sie Leben heißen , nichts mehr ...
War es aber auch wirklich aus ?
Wer Gewißheit hat , springt leicht .
Hatte er Gewißheit ?
... Nein , nein , schrie gellendes eine Stimme .
Du siehst nur den Rand , von dem du abspringst , nicht den Grund , wo du landen wirst ...
Der zum Sprung gereckte Vorsatz sank wieder ein .
Hastig im Zimmer auf und ab gehend , verlief Ernst die Erregung .
Sein Selbstgefühl ballte sich .
Jede Muskel Strafe , streckte Ernst die Arme weit von sich , und ein Gelöbnis zum Leben auf jeden Fall posaunte durch seine Brust .
Laß mich inmitten Stürmen stehen !
Laß Not und Leid und Gram und Harm Im Leben über mich ergehen .
Es Ruhe schwer auf mir dein Arm !
Denn dann wird meine Siegerkraft , die sonst in eitlem Tun verschwelt , von Schicksalslaunen unerschlafft , mit jedem Kampfe neu gestählt .
Ich laufe nicht den stumpfen Trott der nüchternen Alltäglichkeit .
Ich lebe dir , gewaltiger Gott , und deinem Dienst bin ich geweiht .
Das ist es und der eigene Wert , was trotz der Menschen Niedertracht mein Leben , sturm- und drangerschwert , mir froh und schön und friedlich macht .
Im Takt dieser harten , männlichen Verse marschierte Ernst die Stube aus , bald wieder in der gewohnten Haltung .
Alles holte er nun aus sich selbst , die Gefahr und ihre Beschwörung .
Keiner konnte ihm helfen , keiner , auch die Millionen nicht , die gleiches Joch drückt , und die gesonnen sind , dieses Joch zu brechen .
Halte dich an dich , wenn du standhaft bleiben willst !
Klammern sich elf Schwache an den zwölften Schwächling , so stürzt ein Dutzend zusammen . Habe Mut und Kraft , allein zu stehen und allein zu fallen , Ernst Löhner , und du steifst eine ganze schwankende Welt .
Ernst war wieder ganz bei sich eingekehrt .
Die Verse drängten sich zuhauf und rankten - dichtes Gestrüpp - um jedes Erlebnis .
Einige ragten hoch wie Bäume aus dem Unterholz .
In ihrem Geäst war es Ernst wohl .
Er kletterte in die Kronen , wiegte sich im Wind und träumte , nur der Himmel und er seien Welt .
Dort oben hielt er Zwiesprache mit den Gewalten des Lebens und stemmte die Brust gegen ihren Drang .
Dort oben hielt er ihren Drang aus , den gleichen Drang , der ihn schüttelte , wenn er Erde unter dem Fuß hatte .
Er war in Luft geboren , war heimisch im Element und gewann alle Kraft aus Unfaßbarem , Unirdischem .
In den Fußtapfen Kleists schrieb Ernst ein derbes Lustspiel , " Die Probe " , Jamben , die in das spitzbübische Gelächter des Sosias und des Dorfrichters Adam einstimmten .
Ein Drama , " Spartakus " , wandelte im Schatten Shakespeares , spiegelte im wilden Murren römischer Fechtersklaven Zeit und Zustand der Gegenwart und entschlief auf halbem Weg in einer sehr wortreichen Liebesszene .
Noch ein drittes Stück , " Muttersünde " , entwarf Ernst nach der meisterlichen Zeichnung von Hebbels " Maria Magdalena " .
Alle Kraft warf Ernst auf die Erkenntnis der Schönheitsgesetze .
Was er an Dichtung las , Dramen , Erzählungen , Verse , drehte er nach allen Seiten , untersuchte es im einzelnen und schrieb seine Gedanken zusammenhängend nieder .
Ein altes Schulheft in blauem Umschlag nahm diese Dramaturgie auf .
Von der lebenden Kunst kam Ernst nur wenig in die Hand .
Er schalt die Dichter um ihre hohen Bücherpreise , die einen armen Mann abweisend im Buchladen anstarren .
Winter und Frühjahr entschwanden bei diesen Arbeiten .
Ernst war sein eigener und einziger Hörer , klatschte sich selbst Beifall , weil niemand sonst es tat , und empfand diese Einheit von Schöpfer und Genießer als natürlichen Zustand .
Die Zeit war aber reif , ihn aus seiner freiwilligen Verbannung zu holen .
Seine Schwester - ihr Leben spielte sich fast ganz gesondert von seinem Leben ab - fand eines Tages Verse von ihm .
Sie brachte sie zu einem Lehrer , der Ernst zu sich bat .
Das glatte , bartlose Gesicht des Lehrers Rill verlor keine der vielen , höflichen Falten , als Ernst Löhner vorsprach .
Er kam nachlässig daher , wußte nicht , wohin mit den Händen , und war dabei innerlich geschwellt von Selbstbewußtsein .
" Ihre Verse haben mir sehr starken Eindruck gemacht , Herr Löhner .
Es muß etwas für Sie geschehen ... "
Eher hätte sich Ernst die Zunge abgebissen , als für diese freundliche Teilnahme mit dankbarem Wort zu erwidern .
Es hätte schon längst etwas geschehen müssen , überlegte er , ohne daran zu denken , daß doch keine Seele ahnen konnte , ein wie vortrefflicher Künstler in ihm durch die Welt lief .
Meister der Rede war Ernst nie gewesen .
Lehrer Rill sprach , und Ernst Löhner hörte zu , eine Kunst , die er um so besser verstand .
Beim Abschied fragte sich Ernst verwundert , was denn nun eigentlich gewesen sei .
Er hatte sich seinen Einzug in die Welt anders vorgestellt .
Mit Pauken und Trompeten müßte man ihn holen , müßte ihn fußfällig bitten , doch aus seinem Versteck zu kommen , und er wollte sich dann noch überlegen , ob er mochte oder nicht .
Das war nun anders gegangen .
Ein freundlicher Mann hatte freundlich mit ihm geredet , hatte versprochen , etwas zu tun , und war höflich mit ihm bis zur Tür geschritten , als das Gespräch beendet war .
Daß der Besuch Hoffnungen beflügelte , spürte Ernst trotzdem .
Fiebernd erwartete er Nachricht und las den Brief Rülls , ein bekannter Dichter habe sich lobend über seine Verse ausgesprochen , sehr bewegt wohl dreißigmal .
Man erkannte ihn an .
Er hatte recht getan , diese Jahre her zäh zu seinem inneren Gefühl zu stehen , das ihm versicherte , ein Dichter zu sein .
Gleich pflanzte sich auch der Überschwang neben die Freude und malte das Bild in schreienden Farben .
Übermorgen müßte die ganze Welt seine Verse auswendig lernen , meinte Ernst .
Die Welt kannte Ernst Löhner aber immer noch als entgleisten , von einst erstiegener Höhe gerutschten Eckensteher , der nicht gern arbeitete und keine Verschönerung des Straßenbildes war .
In der Tat kam Ernst nicht eben vertrauenerweckend daher .
Die kalkbespritzte Hose aufgekrempelt , das Hemd umgeschlagen , daß der magere Hals nackt hersah , den eingekniffenen Filz verwegen aufs Ohr gestülpt , stampfte er mit kurzen , festen Schritten vorbei .
Das Gesicht , karg und knochig , lag mit dem Kinn auf der Brust .
Die braunen , glänzenden Augen glitten meistens am Boden hin ; hoben sie sich , so flitzten sie schwalbenhaft , ließen sich groß , voll und forschend auf den Dingen nieder und ruhten gelassen in jeder Erscheinung aus .
Das ganze Bild : ein gefährlich geladener Mensch , der den Eindruck macht , als wollte er jeden Augenblick von innen heraus platzen .
Bekannt war Ernst Löhner vielen Leuten .
Auf Schulgenossen und Arbeitskameraden stieß Ernst überall .
Sie taten unbekannt , und zupften befriedigt ihre besseren Kleider .
Ihn anzurempeln wagte keiner , denn Ernst galt als schlimmer Raufbold , dem es auf einige Wochen Gefängnis nicht weiter ankam .
Auf Schritt und Tritt sah sich Ernst von Erinnerungen umstellt .
Sein Leben war in dieser Welt geworden , Vom Kind zum Mann reihte sich eine Kette unvergeßlicher Erlebnisse , die im Zwinger geschmiedet , ihn an diese öden Straßen und Höfe fesselte .
Diese Kette klirrte in jedem Schritt und tönte oft stark und läutend ...
Klang der Kindheit , Glockenspiel der Jugend ...
Zehn Jahre hatte die Zeit über den Platz gewirbelt .
Die alte , schmiedeeiserne Laterne grüßte ihn wie vormals .
Sie kannte ihn noch und verleugnete die Bekanntschaft nicht .
Zehn Jahre waren über ihn gebraust und hatten die Wipfel seines Wesens bis in den Staub gebogen , zehn Jahre , seit er auf diesem Platz gestanden und nach Gertrud spähte .
Wo war das Gefühl jener Zeit ?
Lebte noch ein Schein des zarten Frühlichtes in seiner Seele ?
Oder hatten die Schatten jeden Schimmer von Licht erschlagen ? Gertrud ...
Ein Name , schön und trächtig von süßem Gewesensein , doch ein Name nur , in verblaßter Schrift dem Gedächtnis eingeschrieben , eine herrlich aufgebahrte Erinnerungsleiche ... Gertrud war seinen Gedanken wie seinen Wegen entrückt .
Die Frau des angesehenen Bürgers durfte der Erinnerung in keinem Zug mehr gleichen .
Eine blasse , schlanke Dame war Ernst manchmal begegnet ; sie hatte durch ihn gesehen wie durch Glas , keinen Ausdruck von Gedächtnis im Blick .
Der blaue Umhang mit dem rot gefütterten Kopfteil war wohl längst vermottet und lag in einer Spindecke .
Wieder schwebte das schöne , rehzarte Geschöpf die baumbestandene Straße entlang .
Noch einmal hing Ernst Löhners Blick an dieser Gestalt .
Er grüßte den holden Jugendtraum ernsthaft und gemessen .
Vorüber , vorüber ...
Er suchte den Vergnügungsanzeiger ab .
Grimmiger Genuß , zu wissen , wie sich die besitzende Menschheit langweilt !
Lauter elendes Zeug angekündigt : Operetten , Tingeltangel , Schwänke ...
Ein Jahr noch , höchstens zwei , und auch sein Name prangte auf den Anschlagsäulen .
O , es wird gut aussehen : Spartakus .
Eine Tragödie in 5 Akten von Ernst Löhner .
Dann sollten die Herrschaften aber büßen , die heute wegwerfend hinter ihm dreinschauten .
Sie kommen dann wohl geschwänzelt , sich bei dem berühmten Schriftsteller zu empfehlen .
Das Theater war Ernst unbekannter als der Mond .
Vierundzwanzig Jahre vollendeten sich bald , er hatte noch kein Theater von innen gesehen ...
Seine Vorstellung baute einen Tempel , eine Walhalla der edelsten Geister , und der Gedanke " Theater " leuchtete in allen Farben inneren Schmuckes .
Diesen Tempel betreten , nicht als Zuschauer , der andächtig vor dem Allerheiligsten stehen muß , als Geweihter , dem die Geheimnisse kund sind :
Ernst Löhner harrte des Rufes .
Dieser Ruf mußte zu seiner Stunde vom Himmel schallen und das Ohr der Welt auf ihn lenken .
Trunken von Fülle zukünftigen Glücks , kreiste Ernst um die in lauten Farben schreiende Säule .
Der Herbstabend war weich und verhüllt .
Laue Luft spülte um Menschen und Dinge .
Leises Glucksen und Raunen brach sich an den Häusern und kehrte murmelnd ans Ohr zurück .
Der Abend war wie Meer , das gebändigt zum Strand spricht .
Es floß und schwoll , flutete und brandete fessellos über die müde Welt .
Versunken ins Meer lag die Stadt , tief , tief auf dem Grund , längst verschollen , nur noch Klang einer uralten Sage , der in den Sternen klingt .
Gefühl , ins All aufgelöst zu sein , zurückgegeben den Elementen , rann durch Ernst .
Alles laute Leben ist gestillt .
Nimm es , Mutter Nacht , in deine Hut !
Denn aus deinem tiefen Dunkel quellt eines anderen Lebens starke Flut .
Drängt solange gegen meine Brust , bis ich wieder überwunden bin , bis ich , keines Ufers mehr bewußt , treibe auf dem großen Strom dahin .
Ob er mich noch heute ganz von hier schwemmt in deiner nie erforschten Spur ?
Strom des Seins , versinke ich in dir oder überflutest du mich nur ?
War er auf einem neuen Stern ?
Wie leicht das Leben , wie anders atmete sich die Luft ?
Das irdische Kleid abgestreift , schwärmte Ernst Löhner in die Nacht , erschwang das Mondgebirge und sah sich drunten stehen , klein , unfaßlich klein , Staubkorn im Wirbel der Welten .
Ernst war in der Welt .
Andere Menschen wußten von ihm , nahmen Anteil und führten ihn mehr , als er ging , nach einem Platz hin , seinem Wesen gemäß .
Lehrer Rill war unermüdlich .
Eine sehr bekannte Zeitschrift brachte einen Aufsatz über Ernst Löhner , mit Proben .
Der Anfang war gemacht ; Zurückweichen unmöglich .
Den Aufsatz las Ernst mit vorquellenden Augen , gaukelte wieder in höchsten Höhen , und war kindlich aufgeregt , wenn ein Brief kam , der ermunternd und wohlwollend sprach .
Nun war er durch .
Was jahrelang fieberisch ersehnt , war gekommen , der Aufbruch , der Durchbruch , der Sieg .
Was er jetzt dichtete , entstand unter den prüfenden Augen der Welt und ging die Welt an , nicht ihn allein .
Andere würden jetzt sagen , was er sich immer selbst gesagt hatte : Du bist doch ein Hauptkerl , Ernst , und wirst es noch weit bringen !
Erlösung aus körperlicher Mühsal war die nächste Folge .
Durch den Aufsatz des Literaturlehrers war das Arbeiterblatt der Vaterstadt zu Ernst Löhner gekommen .
Er sollte doch gelegentlich auf der Redaktion vorsprechen .
Ob er sich getraue , die Schauspielbesprechung zu übernehmen ?
Ernst hatte gar keine Erfahrung , wußte überhaupt nicht , welche Kräfte das Theater leiten , aber er sagte tollkühn zu und ging ans Werk .
Halbes " Haus Rosenhagen " war sein erstes Opfer .
Er schrieb einen ziemlichen Bandwurm , ganz im Stil seiner häuslichen Dramaturgie , und guckte betrübt , als der Redakteur ihm Dreiviertel strich .
Was er sage , sei gut , aber eine Zeitung wäre kein literarisches Fachblatt .
Darum müßte er sich kürzer fassen .
Grübelnd versenkte sich Ernst Löhner in sein Amt .
Vor dreißigtausend Menschen zu sprechen , stolzes Gefühl , dem aber das Bewußtsein die Waage hielt , daß er sich keine Blöße geben dürfe .
Im Theater saß Ernst verkrümelt in seiner Reihe , schaute nicht rechts und nicht links , und achtete auf jedes Wort , das droben gesprochen , auf jede Gebärde , die gestaltet wurde .
Er hatte die Witterung für Wesentliches .
Viel Beschwer machten ihm zunächst die Maßstäbe .
Ob Posse , besseres Lustspiel , ernsthaftes Schauspiel oder Tragödie im Bildungsstil : Ernst legte seine Elle gleichmäßig an , merkte unbarmherzig an und ging den Autoren berserkerisch zu Leibe .
Er hatte nun einmal die Vorstellung des Tempels vom Theater und mühte sich halsstarrig , die Wirklichkeit in seine Vorstellung zu zwängen .
Die beißende Schärfe seines Wesens , in schweren Zeiten geschliffen und gespitzt , blitzte und zuckte durch die Urteile .
Dabei war Ernst ängstlich bestrebt , gerecht zu sein .
Das gelang ihm nicht immer .
Selbst Mensch im Schatten , hatte er unheimlich scharfen Blick für die Schatten eines Werkes , die ihm wichtiger und wesentlicher schienen als anderes .
Fand Ernst ein Stück , das verwandt anklang , so sprach er in Ausdrücken ehrlicher Freude und Überzeugung .
Nur den Menschen suchte er , wie im Leben , so auf der Bühne .
Das Darum und Dran schien ihm ärgerlich und oft überflüssig .
Lust und Liebe trieben Ernst ins Theater .
Wie einer , der lang entbehrt , sich leicht übernimmt , bohrte sich Ernst eigensinnig in das Urteilen , als gäbe es in der Welt nichts Wichtigeres .
Anzuschauen , das Gesehene zu überdenken und die Gedanken festlegen : war das nicht Arbeit , die er immer erhofft , die er lange für sich selbst getrieben ?
Sie wurde ihm nun bezahlt , und war es auch kein fürstliches Auskommen , besser als bei der ewig schwankenden Handarbeit stand sich Ernst doch .
In ebendiese Zeit fiel ein wunderliches Ereignis , ein Stück Theater , worin Ernst Löhner die Rolle einer Sehenswürdigkeit spielen sollte .
Eine königliche Prinzessin kam zur Einweihung einer Kinderkrippe und äußerte den Wunsch , Ernst Löhner zu sehen .
Als Ernst von der hohen Ehre vernahm , sträubte er alle Borsten .
Von den Bekannten wurden alle Überredungskünste darangewendet , und Lehrer Rill atmete hoch auf , als ihm endlich gelang , Ernst von der Notwendigkeit des Besuches zu überzeugen .
Mit gepumpten Kleidern am Leib , in den feinen , nur viel zu weiten Mantel eines Freundes gehüllt , fuhr Ernst in den trüben Spätherbsttag .
Lehrer Rill begleitete ihn und half Ernst wenigstens über die gröbsten Hindernisse der äußeren Förmlichkeit turnen .
Wie ein Bär kam sich Ernst vor , der seine Kunststücke zeigen soll , und wie ein Bär benahm er sich auch , brummig , unwirsch und furchtbar plump .
Die Augenbrauen in den glatten Lakaiengesichtern zogen sich immer höher beim Anblick dieses merkwürdigen Gastes .
Was weiter geschah , flog an Ernst vorbei , ohne ihn eigentlich sehr zu berühren .
Er kam in einen hohen , prächtig eingerichteten Saal .
Der Weg dorthin ging über Läufer und Teppiche , die jeden Schritt lautlos verschlangen .
Dann sah er in einem hohen Sessel mit geschnitzten Lehnen eine zarte , blasse Frau , die große , etwas verschleierte Augen auf ihn richtete .
Nach zehn Minuten stand Ernst auf dem Trittbrett des Zweispänners und besann sich , was denn nun eigentlich war .
Lächerlich gleichgültige Worte hatten durch den Saal gehallt .
Einmal hörte Ernst die eigene Stimme , weil er in lebhafter Erregung lauter sprach , als vielleicht nötig war .
Der wie mit dem Lineal gezogene Herr im schwarzen Frack - wohl ein Hofmeister oder Kammerherr - legte ihm die Hand auf die Schulter , worauf Ernst kurz abbrach und hartnäckig schwieg .
Ohne bestimmten körperlichen Eindruck von der hochgeborenen Frau trollte sich Ernst und ließ eine Zentnerlast in dem freiherrlichen Saal zurück .
Die müde , feine Frauenstimme ging mit .
In ihr klang , wenn auch nur ganz schwach , ein Ton menschlicher Teilnahme erinnernd nach .
Auf der Heimfahrt überfiel Ernst plötzlich eine unerklärlich wilde Lustigkeit .
Er sah sich wieder im grünen Polizeiwagen sitzen , neben Bettlern , Streunern und kleinen Dirnen .
Lehrer Rill nahm den feierlich steifen Filz ab , wischte sich die Stirn und schaute unsicher auf seinen Gefährten , der von innerem Kichern geschüttelt und die Beine weit vom Leib gestreckt , neben ihm auf dem weichen Polster saß .
Im Anstieg Die endlich eingetretene , nie geglaubte Wendung versöhnte die Mutter .
Sie wurde schmiegsamer und nachgiebiger , hielt mit den starken , sehr oft kränkenden Worten zurück und suchte ein Verhältnis anzubahnen , bei dem sie auf ihre Kosten kam .
Denn darin änderte sich Maria nicht .
Ihr Vorteil kam zuerst ; danach erst konnten Gefühle reden .
Überfluß an Gefühl besaß Maria nicht .
Ernst begriff sofort den Sinn der Werbung .
Möglichst weit und immer zur gewohnten Stunde den Beutel öffnen : tat er das und er sah keinen Anlaß , es nicht zu tun , dann war er eigener Herr , tat , was ihm gefiel , unterließ , was ihm nicht paßte , und ging ein und aus , ohne zu fragen , wem es zuliebe oder zuleid geschah .
Die Mutter störte ihn nicht .
Neigung zu vielem Denken war nicht vorhanden , von Kunst und Künstlern wußte Maria nichts , weitere Fäden liefen nicht von ihr zum Sohn .
Er zahlte und sie strich ein .
So wollte es die natürliche Ordnung der Welt .
Mutter war sie und er das Kind .
Der grobe , sehr zungenfertige Bengel wurde sonst am besten sich selbst gelassen .
Zwei Dinge waren in Lot und Richtung .
Seine Stellung daheim war ausgemacht und anerkannt , und er stand in einer Tätigkeit , die ihm gefiel und so viel trug , anständig zu leben .
Das waren Fortschritte .
Das große Aufräumen seines Lebens hatte günstig begonnen .
Besser gekleidet ging Ernst auch , nicht aus Freude an guten Kleidern , nur , weil man doch nicht mit bloßem Hals im Theater sitzt .
Die Nägel bis er noch immer .
Soweit beherrschte er seine schlechten Gewohnheiten noch nicht , von denen Nägelbeißen nicht die schlimmste war .
Ernst trank .
Er hatte Trinken gelernt , hielt die Fähigkeit weiterer Pflege wert und kippte das Glas eifrig und mit einer Ausdauer , die in anderen Sachen oft zu vermissen war .
Betrunken wurde er nicht .
" Ich würde an Ihrer Stelle doch das Bier meiden , Herr Löhner .
Macht es Sie denn bei der Arbeit nicht müde ? "
Der enthaltsame Redakteur Bergner war schon lange erpicht , den jungen Mitarbeiter für die Abstinenz zu gewinnen .
Er schnupperte mißbilligend , denn Ernst roch wirklich auf Armeslänge nach Alkohol .
" Warum soll ich kein Bier trinken ?
Es schadet mir gar nicht bei der Arbeit .
Ich will nicht sagen , daß es anregt .
Das hat es auch bei mir nicht nötig . "
" Zugegeben , daß durch längere Gewöhnung die Wirkungen auf Sie scheinbar ganz winzig sind .
Aber es steht fest und ist statistisch nachgewiesen , daß die geistige Leistungsfähigkeit durch den Alkoholgenuß vermindert wird . "
Statistik war Ernst ein Greuel .
Den liebenswürdigen Redakteur Bergner schätzte Ernst aufrichtig .
" Das kommt wohl auf die Leistungsfähigkeit an .
Mich hat der Alkohol noch an keinem einzigen guten Gedanken gehindert , und mein Gedächtnis arbeitet so ausgezeichnet , daß ich recht zufrieden bin und gar kein besseres wünsche ... Wahrhaftig nicht !
Man denkt und spintisiert doch den lieben langen Tag manchen Stiefel zusammen , der nicht mehr wert ist , als so schnell wie möglich vergessen zu sein ...
Dazu hilft mir das Bier ...
Will so ein blödsinniger Einfall nicht weichen , dann setze ich mich hinters Glas .
Klappe ich den Deckel zu , dann ist der Span abgeschnitten ...
So eine Gedankenguillotine ist ein heilsames Werkzeug .
Haben Sie es noch nicht notwendig gefunden , Ihre Gedanken zu köpfen ?
Ich finde es manches liebe Mal notwendig . "
Bergner hörte kopfschüttelnd diese krause Erklärung .
Er wußte noch nicht , daß Ernst meisterhaft verstand , seine üblen Gewohnheiten zu entschuldigen und vor sich selbst zu rechtfertigen .
" Das ist ja geradezu eine Bestätigung , daß die Enthaltsamkeit nötig ist .
Kein Mensch hat in der Welt zuviel Gedanken .
Für alle ist Raum da ...
Hören Sie auf mich , Herr Löhner !
Das Spiel mit geköpften Gedanken ist nicht so harmlos , wie es aussieht .
Eines Tages steckt der ganze Kopf in der Guillotine und - schwapp ! - ist er weg .
Sie wissen ja , daß ich es nur gut meine und daß mir nichts ferner liegt , als den Sittenprediger zu spielen ...
Aber Sie sind doch ein denkender Mensch , sind auch Sozialist und müßten schon aus folgerichtiger Gesinnung den Alkohol meiden .
Es gibt keine Befreiung vom Kapitalismus , dem nicht die Befreiung vom Alkohol vorausgegangen ist . "
Der Hinweis auf die Gesinnung rührte in Ernst Gedanken auf .
Er befragte sich selbst : Bist du eigentlich Sozialist , du mit deinem Selbstgefühl , mit deiner überheblichen Einschätzung der eigenen Person , mit dem verbissenen Eifer , immer nur dich selbst zu spiegeln ?
Sozialist sein , heißt doch das Gegenteil von allem , was du bist , heißt an die anderen denken , sie in sich zu fühlen , sie über alles stellen .
Kannst du etwas in der Welt über dich stellen , dich an einen Gedanken hingeben , daß er dein Persönliches ganz aufzehrt ?
Und wenn du es kannst , willst es du auch ?
Auf diese Fragen bis Ernst ernsthaft .
Die Begeisterung , der Taumel , in jener Versammlung der Bauarbeiter geweckt , wollten einen Grund wissen .
Ernst lotete , diesen Grund in einer Tiefe zu finden , um ihn heraufzuheben ins lichte Bewußtsein .
Er konnte keinen Grund erforschen .
Sie hatten wohl überhaupt keinen Grund und waren nur eingebildet , denn Ernst Löhner galt der Anstoß mehr als die Bewegung , Denken mehr als Tun , Wissen mehr als Leben .
Was vor Augen lag , übersah er , und was er sah , lag nicht vor Augen .
Sein Gehirn arbeitete mit Pferdestärken .
Im Kopf lag der Motor , der alles trieb und das Gefährt rasend im Kreise jagte , immer im Kreis .
Die Welt ist eine Kugel , bester Beweis , dieses kugelförmige Denken , das zwangsläufig den ersten Punkt sucht .
Tropisch wucherte der Geist Ernst Löhners .
Er sog alle Säfte an , schickte Luftwurzeln aus , die nirgends ansetzten , und verwandelte die Kraft jeder Wirklichkeit in duft- und farblose Denkblüten .
Ernst schaute völlig am Leben vorbei .
Im Geist suchend , was nur im Blut zu finden ist , legte er , statt zu leben , das Leben aus und wähnte zu genießen , wenn er nur wußte .
Weil er viel zu wissen glaubte , nahm er sich für einen großen Genießer .
Daß Wissen immer verzichten heißt , entging ihm .
Gefühl vollkommener Leere verdrängte Freude und Genuß .
Das Leben rächte sich auf seine eigene Weise für die Nichtachtung .
Gaukelnd schwebte es vor Ernst , lockte und reizte , und zerging in wesenlosen Rauch , wenn Ernst mit Denken zugriff .
Das verdrängte Blut rebellierte und forderte laut seine Rechte .
Jede weibliche Gestalt im Augenkreis Ernst Löhners erregte einen Aufruhr seines Blutes .
Unwiderstehlich drehte es ihm das Gesicht rückwärts , wenn ein Weib vorübergegangen war .
Er starrte jedem Rock nach , und seine aufgestörten Triebe umheulten wie eine Hundemeute jedes Weib .
Schlug er dann blindwütig mit seiner Gedankenpeitsche unter das Rudel , so kuschten die Begierden wohl , aus den Hintergründen , Winkeln knurrten sie aber bös und tückisch vor .
Weil Leben gelebt , nicht gedacht sein muß , stritten die zwei Wesen , die in seiner Brust untrennbar gekoppelt , tödlich verfeindet um die Gewalt rauften .
Ein stoischer , gefühllos harter Gehirnmensch vergewaltigte einen rasch bewegten , leicht entflammten , mit allen Fasern nach Leben gierenden Triebmenschen .
Mit Keulen knüppelte der Gehirnmensch auf den anderen ein , streckte ihn betäubt nieder , tötete den unsterblichen Triebmenschen aber nicht und mußte zulassen , daß er bei jedem Anhauch des Lebens zu Genuß und Erfüllung aufwachte .
Jahre tobte dieser mörderische Bruderkampf .
Der Geistermensch beherrschte den Blutmenschen lang , hielt ihn gefangen , und war taub für das schmerzlich wilde Aufstöhnen des Sklaven .
Leicht hätte Ernst seine verdursteten Sinne tränken mögen .
Um ihn wuchs und blühte junges Leben , Mädchen kreuzten viele seinen Weg , und war er auch nicht der Mann , zu Taumel und verliebtem Wahn hinzureißen , in seinen Augen lag ein Ausdruck , der den Mädchen ans Herz ging .
Mancher rasche Blick schnellte nach ihm , ein absichtsvolles Wort nur , und er hätte gehabt , wonach er verlangte .
Allein , Ernst dachte ans Denken , nicht ans Leben .
Seine Vorstellungen forderten mehr , als das Leben zu geben hatte .
Viele Stunden ging Ernst voll aufgeregter Entschlossenheit durch Anlagen und Gärten , verschlang die Mädchen und wagte den Schritt doch nie .
Er war oft im schönsten Anlauf , sah schon frohlockend das Ziel , dann knackte es plötzlich fein in den Ohren , die Welle verlief und er stand am leeren Strand .
Erlöstes Blut Der Gasthof " Zum Rappen " liegt zwischen großen , nüchternen Miethäusern .
Ehrbar und verläßlich inmitten windiger , schein-vornehmer Putzfassaden .
Ein großer , gelber Briefkasten hängt an der Tür , die in den langen , engen Hausgang einläßt .
Hier wird Bier geschenkt .
Man sitzt an einem rohen Holztisch , streckt die Beine aus und schaut vergnügt auf die breite , lebhafte Straße .
Die Straßenbahn gleitet vorbei ; ihr schrilles Klingeln ist längst in die Stimmung des Platzes eingegangen und wird nicht mehr gehört .
An schönen Sommerabenden ist hier gemütlich sein , frei von aller Erregung .
Bürger sitzen beim Bier , sprechen vom Wetter und von den Steuern , und erörtern , inwiefern die Welt besserungsbedürftig sei .
Der dicke Wirt schwitzt , sein rundes Gesicht glänzt wie eine Speckseite , und wenn er in Hemdärmeln geschäftig rennt , ähnelt er zum Verwechseln dem Bierfaß , das er vor sich herrollt .
Im " Rappen " war Ernst Löhner ständiger Abendgast .
Nie betrat er die Wirtsstube .
Der langgestreckte Vorplatz erlaubte gemächliches Gehen und behagte dem auf Einsamkeit erpichten Ernst ausnehmend .
Nicht dieses Bedürfnis allein trieb Ernst her .
Zwei Stunden am Abend war der Vorplatz gefüllt mit Leben und Bewegung .
Die Dienstmädchen der nachbarlichen Herrschaftshäuser liefen um Bier .
Eine gab der anderen die Tür in die Hand .
Von schwarzen , braunen und blonden Köpfen reizvoller Wechsel ...
Die drallen , gesunden Mädchen kannten den hageren , sauer schauenden Gast bald .
Wenn Ernst die Fliesen hartnäckig abzählte , stießen sich die Mädchen an , legten die Hände auf den Mund und tuschelten zwischen den Fingern halblaut ...
Ernst atmete den Duft des tätigen , einfachen , frohen Daseins wie erquickenden Hauch .
Warum waren diese Mädchen fröhlich ?
Sie hatten es doch nicht herrlich auf der Welt , unterstanden den Launen fremder Leute , und nur spärliche Sonntage gehörten ihnen .
Verstohlen , sondernd beobachtete Ernst die Schar .
Er merkte sich die Gesichter , zählte auf die Minute aus , wann dieses und jenes Mädchen kam , und sichtete den bunten Kreis .
Eine sollte auserwählt sein ; mit ihr wollte Ernst sein Heil versuchen .
Welche aber ?
Die große , volle Blondine schaute seelenvoll genug in die Welt ; aber reden dürfte sie nichts .
Ihre häßliche , schmerzhaft gezierte Stimme war nicht auszustehen .
Das zierliche , braune Ding lachte ansteckend , wirbelte lustig und reizend , doch verschenkte sie ihr Lachen allzu freigebig und jedem Mann .
Zuletzt blieben zwei , beide sehr ähnlich .
Gut gewachsen , mit runden , molligen Gliedern , regelmäßigen Zügen von klarem , einfachen Schnitt und zurückhaltendem Wesen , das angenehm abstach von der üblichen lauten , oft groben Art .
Die eine etwas größer mit schwerem , glänzenden Braunhaar ; die andere ging wunderschön , leicht und doch fest , und die breiten Zähne glänzten rein und untadelig in weitem , regelmäßigen Abstand .
Ernst paßte wie ein Luchs , welche sich die erste Blöße gab .
Die armen Mädchen ahnten nicht , daß sie jeden Abend hochnotpeinlich abgeschätzt wurden .
Sie hätten sich die Frechheit wahrscheinlich auch verbeten .
Aber sie konnten gar nichts ahnen , denn Ernst tat , als wären sie nicht vorhanden .
Er spaßte mit dem Wirt , schnitt ein hochmütig-abwesendes Gesicht und drehte den Rücken nach der Schenke .
Sah er um , dann hafteten seine Augen voll und streng auf den Mädchen , ohne jede Verlegenheit , eher polizeimäßig forschend , als liebhaberisch blinzelnd .
Sie , die so schön ging , sollte es sein .
Doch Vorsicht , Vorsicht !
... Erst wissen , was sonst mit dem schönen Kind los ist .
Sie kann ja schon ein Verhältnis haben , bei ihrem Aussehen sogar äußerst wahrscheinlich .
Maria durfte sie nicht heißen , sonst war es gleich nichts .
Maria hieß die Mutter , und an sie wollte er nicht gemahnt sein .
Sechs gestandene Wochen knarrte die Türe im " Rappen " .
Ernst zählte weiter die Steinfliesen .
Jeden Abend kam er , fest gewillt , heute das Mädchen anzureden .
Kam sie dann , so schaute er sie voll und forschend an , pendelte seinen lächerlichen Spaziergang ab und folgte ihr , doch nur mit den Augen , wenn sie fortging und im eisernen Gittertor des nahen Herrschaftshauses verschwand .
" Esel , dummer , Schafskopf !
Jetzt ist es wieder nichts gewesen und du warst doch so fest entschlossen ... "
Das Mädchen wurde aufmerksam .
Sechs Wochen fraß der junge Mann sie mit den Augen auf , blieb aber stumm wie ein Fisch .
Daß er etwas wollte , verriet das Geschau .
Merkwürdiger Mensch , der es fertig bringt , sechs Wochen lang etwas zu wollen , und es doch immer wieder verschob !
Traute er sich nicht ?
Er sah nicht furchtsam aus .
Auf dem finsteren , etwas arg mageren Gesicht lag eher Entschlossenheit .
Sie hatte ihm zugelächelt .
Erst war Ernst unsicher , ob das Lächeln auch wirklich ihm galt .
Sie lächelte noch zweimal , und da wußte Ernst , er war doch gemeint .
Was bildete sich das dumme Ding ein ?
Wollte ihn etwa auslachen ?
Das Lächeln verletzte Ernst ; er schwankte , ob er nicht doch besser den Versuch unterließ .
Aber die wirklich prachtvollen Zähne ...
So ein festes , blankes Gebiß , das unter den vollen , etwas dicken Lippen vorblitzte ...
Und wie sie ging ?
Jedes Glied scheinbar für sich und unbekümmert um die anderen , und doch der ganze Körper in unbewußt gefälligem Tanz ... Ernst begann seinen Vorsatz ganz von vorne aufzurollen .
Was wollte er ?
Ein Weib .
Sie konnten auch heiraten , wenn es nicht anders ging .
Was wollte er für ein Weib ?
Ein schönes , gesundes , ihm gar nicht ähnliches Weib .
Warum brauchte sie nicht klug und gebildet sein ?
Weil er satt hatte , sich außer mit seinem eigenen Verstand auch noch mit einer Neunmalweisen Frau zu streiten .
War er aber nicht auf eine kluge Frau angewiesen als angehender Klassiker ?
Zum Teufel , nein !
Er war bisher seinen Weg allein gegangen und brauchte keinen Wegweiser im Unterrock .
Gut !
Er wollte also nur einen Bettschatz !
... Lachhaft !
... Einen Menschen wollte er um sich , der ihn aus dem Polareis der ewigen Grübelei lotste , einen gesunden , unverbrauchten Menschen ...
Eine Frau , wenn sie feiner empfindet , will aber nicht bloß körperlich genommen sein ?
Schön , wenn sie auch Gemüt , Seele , Takt besitzt ...
Nur kein Gehirnautomat , der gleich Antwort auswirft , wenn eine Frage eingeworfen ist .
Körper sein , Blut und Trieb ...
Er wollte es aus heißem Begehren ; er war dürr , trocken , der Acker seiner Seele klaffte zerrissen .
Eine schwere , randvolle Wolke mußte über ihm brechen , den Boden , der dürstete , zu tränken .
Nur keinen Geist jetzt , keine Weisheit ... Hingabe , verströmendes Wegschenken ...
" Sie , nur sie kann bringen , was du verlangst , Erlösung aus der heißen dürren Wüste des Wissens und Denkens .
Du hast die Wüste nun lang genug durchwandert ... "
Die erwachten Stimmen schwiegen nicht mehr .
Sie sprachen jeden Abend , an dem er das Mädchen sah , lauter und lärmender , übertönten die Einwände des Verstandes und flossen zu einem einzigen Aufschrei zusammen , der Ernst endlich zur Tat riß .
Beinahe wäre der Anfang auch das Ende gewesen .
Ernst sprang auch hier mit voller Wucht los .
Die anknüpfenden Worte waren schmeichelnd gemeint , doch in seinem Mund wurde alle Weichheit Hohn .
Das Mädchen , erschreckt von der Plötzlichkeit und Stärke dieser Annäherung , wich aus , und es stand Spitz auf Knopf , daß es sich ganz zurückzog .
Warum es nicht geschah ?
... Ernst erinnerte sich später noch oft an diesen kritischen Augenblick .
Einfacher Leute Kind , war Luise Krieger seit drei Jahren als Dienstmädchen in der Stadt .
Auf dem Land geboren und erzogen , an der Grenze des schwäbischen und fränkischen Gaues , verließ sie das heimatliche Dorf vor einigen Jahren und wuchs allmählich in die Stadt ein .
Diese Erklärungen hörte Ernst nur mit halbem Ohr .
Was ging ihn das an ?
Luise konnte in China geboren und bei den Eskimos aufgewachsen sein .
Das war alles vorbei und nicht mehr zu ändern .
Für Geschwister und Verwandtschaften empfand Ernst wenig .
Das sind Störenfriede , die immer in Sachen reden , die sie gar nichts angehen .
Er schluckte aber die Brüder und Halbbrüder , Basen und Tanten Luisens hinunter mit dem stillen Gedanken , ihnen schon rechtzeitig aus dem Weg zu gehen .
Winter und Frühling schwanden über dem Liebesspiel ; wechselseitiges Einholen und Fliehen , scherzhafter Kampf um Küsse , Schmeicheln um kleine Gunst ...
Das Blut nahm unwillig und aufbegehrend Teil , nährte aber seine Hoffnungen und harrte der Stunde , wo ihm vom anderen Blut ein Schrei Erfüllung kündete .
Sie waren ernsthafte Menschen .
Luise nicht , noch weniger Ernst hatten den Wirbel im Blut , der alle Hemmung wegfegt .
Wohl trommelten ihre Begierden oft Sturm , daß Kopf und Brust dröhnten .
Aber jedes hielt die letzte Tür dem anderen verschlossen und flüchtete im Aufruhr der Sinne hinter abwehrende Gebärden .
Im August ging Luise in Urlaub , zur Mutter in das Heimatdorf .
Sollte er Luise begleiten ?
Schön mußte es sein , vom Bahnhof den einsamen Weg über Wiesen und Felder zu wandern , allerhand Zukunft zu planen und Luise an sich zu drücken , wenn der Weg so recht verlassen und weltfern um eine Ecke bog .
Vor Luisens Abreise gingen sie nochmals spazieren , saßen umschlungen auf einer Bank , droben am Waldrand , schickten vom Hügel den Blick über das sonnensatte , kornwogende Land und genossen das Gefühl ihrer Nähe wie edlen , dunklen Wein .
Noch schwankte Ernst .
Die Fahrt ging nur zwei Stunden ; mit dem ersten Frühzug war er wieder zurück .
Der Abend war warm und schwül .
Schöne , weiche Nacht stand in Aussicht .
Bei ihr und Mutter Grün Gast sein , schreckte Ernst nicht .
Unter ganz anderen Umständen hatte er im Freien gehaust .
Langsam schlenderten sie in die Stadt .
Am Bahnhof setzten sich Ernst und Luise in die kleine Gartenwirtschaft , schoben sich gute Bissen verliebt neckend zu und tuschelten glückselig vom Nachmittag .
Die duftenden Ranken der Geißblattlaube haschten Wölkchen Zigarettenduft , die Ernst überlegend paffte .
Er fuhr also mit ...
Fertig und aus !
Fort mit den dummen Gedanken !
Sie wollten ihm nur wieder ein Erlebnis verderben .
Jetzt fortfahren , zwei Stunden lang mit der Bahn , auf einem kleinen , abseitigen Bahnhof den Zug verlassen , wenn es schon Nacht war und kein Mensch weit und breit zu merken , Luise am Arm , durch die Wiesen gehen und bis zum Morgen unter einem Baum träumen ... was bot ihm die Stadt , dieses Erlebnis aufzuwiegen ?
Der Bahnhof duckte sich bescheiden vor dem einbrausenden Zug .
Schläfrig lehnte das rote Stationshaus an der langen Weißdornhecke , die ein Stück mit der Straße lief , dann unwillig auswich und sich in einen Graben stürzte .
Der Tag hatte ausgekämpft .
Silbrig grau floß der Himmel um die niederen Höhen , rundete sich in sanfte Bogen , die weit hinten auf den schwarzen Spitzen der fernen Wälder ruhten .
Mond strahlte weiß und mild. Zerstreutes Licht rauschte leise plätschernd auf das Land , wie warmer Sommerregen .
Die Straße lief gekrümmt zwischen Feldern und Wiesen , leuchtend und so strahlend weiß , als wäre die Milchstraße auf die Erde gefallen .
Nach Osten mauerte schwarzer Wald den Blick ab .
Vor Ernst breitete sich die Flucht der Äcker ; tellereben stieg das Land erst weit hinten geruhsam an und kletterte bedächtig den gestreckten Hang empor .
Die Dinge glitten geisterhaft im Raum , schmiegten sich allen Dunkelheiten fügsam ein und schwebten , von riesiger Hand in die Höhe gehalten , durch die wundersame Nacht .
In der Ferne verhallte das Stampfen des Zuges .
Der Hall pochte an die Hügel , die ihn murmelnd , wie im Schlaf , aufnahmen und in ihre Stille versenkten .
Arm in Arm schritten Ernst und Luise durch das nächtlich schweigende Land .
Der Weg war heller Führer .
Betäubend zirpten die Grillen , die Wiesen hauchten stark , und geisterndes Licht huschte über das schlafende Gebreite .
Ihr Blut sang jauchzend .
Geheimste Wünsche reichten sich die Hand und erkannten sich hingerissen als vom Anbeginn einander bestimmt .
Eine Pferdemähne anzusehen , stellte sich eine lohweiße Wolke vor den groß und wissend schauenden Mond und legte breiten , grauen Schatten auf das Wiesenstück , wo Ernst und Luise saßen ...
Der breitästige Birnbaum rauschte die ganze Nacht über Ernst .
Er lag auf dem Rücken und starrte zum Himmel auf , der ernst und feierlich den uralten Reigen schwang .
Leben rann wundersam stillt in ihm .
Sein Körper ruhte auf der Wiese wie auf weichsten Daunen , jedes Gefühl von Druck und Schwere abgestreift .
So hatte ihn das Leben doch erhört , um das er harte Jahre warb .
Hatte sich ihm gegeben , ihn erfüllt mit allen Wonnen und Wundern ihres rätselvollen Sinns , und er war von ihm gegangen , selig und aus aller Fülle getränkt .
Luise schlief jetzt wohl .
Oder lag sie wach , wie er , und dachte der letzten Stunde , bebte im Sturm , sank in die endlose Flut und trieb darin auf den Wellen des stillten Blutes ?
Sicher wachte sie , sah durch das Fenster die Sterne winken und bestellte ihnen Grüße ...
Kein Laut störte die Stille der Nacht .
Die Luft wallte leicht gekräuselt und ganz in lichten Duft getaucht .
Tiefblau lag der Himmel , von unzähligen Sternen durchwirkt .
An den Rändern schoben sich dicke , graue Wolken zuhauf , voll weißen Glanz gesaugt .
Die Wiesen brauten erste Frühnebel , die tintenschwarzen Wälder ergrauten zart , und der Schein des Mondes sammelte sich in silberglänzende Teiche .
Von den Bildern der Nacht erfüllt , ging Ernst im ersten Morgenlicht zum Bahnhof , stieg in den Zug und winkte fröhlich dem lustigen , zwiebelförmig gestalteten Kirchturm von Audorf zu .
Sein Freund , der Birnbaum , ragte in den rötlichen Frühschein und grüßte mit allen Zweigen den fortbrausenden Zug .
Fröschle Ernst und Luise , durch Ketten des Blutes aneinandergeschmiedet , wollten zusammenstehen , wie Menschen , die sich das Letzte gewesen sind .
Ein Kind pochte an die Pforte der Welt .
Das junge Leben wollte durch die eigene Türe die Welt betreten .
Trotzdem kämpfte Ernst heftig , denn plötzlich schien die Freiheit so hohes Gut , daß man es selbst auf Kosten des Charakters bewahren müßte .
Er wurde von wechselnden Empfindungen gezerrt .
Sehnsucht nach einem eigenen Heim stritt mit ausgeprägtem Selbstbewußtsein und mit unbändigem Gefühl , frei zu sein .
Die Sehnsucht siegte und die Vorstellung , er würde in den Augen des Mädchens gerichtet sein , wenn er jetzt nicht zu seinem Wort und Wesen stand .
Luise drängte nicht ; sie war von rührender Geduld und Schmiegsamkeit , trug die quälenden Launen des Mannes schweigend , und ihre braunen Augen sagten nichts von den Zweifeln , die ihr Gemüt erschütterten .
Wovon sollten sie leben ?
Ernst verdiente , wenn_es hoch kam , dreißig Mark .
Einige Hundert Erspartes besaß Luise , was gerade die bescheidene Einrichtung gab .
Rechnen verstand Ernst trotz der guten Schulnote sehr mäßig ; er nahm ein , ohne viel zu denken , woher es kam , und gab aus , ohne zu fragen , wohin es ging .
Geldausgeben schien ihm recht lustige Tätigkeit und glücklichster Zustand des Lebens , kein Geld zu haben .
Grundsätze eines unbekümmerten Vaganten , doch recht bedenklich , wenn sich andere Menschen ihr Leben darauf bauen .
Ein Glück , daß Ernst wenigstens bedürfnislos war und außer Rauchen keine Leidenschaft hätschelte , die viel verschlang .
Stück für Stück schleppten die Leutchen den dürftigen Haushalt zusammen und hingen ihr Nest in einer engen Dachgeschoßwohnung , Mitte der Stadt , auf .
Luise strengte sich an , das enge Heim nett zu gestalten .
Natürlicher Geschmack und herzliche Liebe standen ihr helfend bei .
Der brave Hauswirt zog die schwarze Kneiferschnur prüfend durch die fleischigen Singer und runzelte die Augenbrauen sittsam .
Als die Leute einmieteten , prangte Luise in allen Gnaden der Mutterschaft , und das stimmte den Menschenfreund bedenklich .
Als er jedoch Geld klimpern hörte , gab er seinem sittenstrengen Gewissen einen Nasenstüber und unterschrieb den Vertrag .
Sechs Wochen wohnte Ernst in eigenem Heim .
Erinnerte er sich früherer Heimstätten , so kam es ihm reich und behaglich vor .
Es war nur wenig und sehr einfach , aber das Einfache wurde von Luise peinlich sauber und ordentlich gehalten .
Saßen beide am Abend im Erkerwinkel , das Leben rauschte nur gedämpft in ihren Vogelbauer , dann sprach aus Blicken und Gebärden leise Freude der Geborgenheit .
Ernst empfand die Stimmung dieses ruhigen , ganz elterliche Erwartung hegenden Lebens rein und tief .
Er war dem Zwinger entrückt und rührte sich wacker , zu erhalten , was junge , frische Kräfte gestalteten .
Seine Neigung zu Luise wuchs mit der fortschreitenden Mutterschaft .
Er nahm sich stramm in die Zügel , daß kein lautes , herbes Wort in ihre selig wirkende Stille fiel , widmete sich ihr , wo es ging , und streichelte ihre Hände zart und behutsam .
Daß Luise Mut aufbrachte , ihrer Neigung zu folgen , und zu opfern , was ihr vorher wertvoll war , dankte ihr Ernst hoch und gelobte , ihr die verlassene Welt zu ersetzen .
Aus dem bauernbunt gemusterten Tischtuch spielten helle Sonnenkringel .
Ernst strich leicht über das braune Haar Luisens .
Die letzte Hitze des Nachmittags summte durch das Zimmer , und eine Fliege schwirrte einsam taumelnd von einer Scheibe zur anderen .
Sonst kein Ton ...
Da sang diese Stille in Ernst :
Wir sitzen beisammen im Zimmer und reden nichts .
Dein Haar umzittert ein Schimmer verborgenen Lichts .
Wir haben uns endlich gefunden .
Seit dies geschah , ist alles um uns verschwunden und nicht mehr da .
Ich schau dein Gesicht von der Seite , halb abgewandt . ein Endchen von deinem Kleide streift meine Hand .
Sonst stört unser trunkenes Sinnen kein lautes Wort .
- Minuten vergehen , verrinnen ... wir schweigen fort .
Das stille Dasein mündete in einen Sonntag , der blaustrahlend aufzog .
Ernst und Luise waren mittags fortgegangen , der Wald lockte , retteten sich vor einem Gewitter noch rechtzeitig heim , verträumten den Abend im Erkerwinkel .
Die Nacht schwebte ausgehaltenen Flügelschwungs über der Stadt , die weißbläulichen Lichter der Bogenlampen malten wunderliche Formen an die Wände , und aus den nahen Kneipen schallte der Lärm , vielfach verwirrt und gebrochen , zur Dachwohnung herauf .
Eine Viertelstunde schritt Luise im Zimmer auf und ab .
Zuweilen griff sie nach einer Stuhllehne , hielt im Gehen ein und lächelte Ernst schmerzlich mutvoll an .
Die Lippen warm streng gepreßt , und von den Mundwinkeln lief ein scharfer Zug das Kinn abwärts .
Ihre Stunde kam .
Diese Stunde hatte Ernst gefürchtet und doch zugleich ersehnt .
Viel hatte er über Luise gesonnen und über das Wunder ihres Leibes .
Sein Wesen war aufgegangen , trieb neue Säfte und blühte , seit es in die kraftvoll herbe Erde dieses Leibes verpflanzt war .
Wie dürr und fruchtarm sein Jagen und Hasten nach Weisheit und Erkenntnis .
Nicht im Denken , im Leben selbst liegt das Leben .
Luise hatte ihn zum Leben geführt , in eine Welt , deren Türen er vormals mit allen Prellböcken des Verstandes einrammen wollte und die spottend aller Gewalt widerstanden .
Dann kam das große Erlebnis .
Wie ein Gärtner , der gepflanzt hat , und alle Liebe seiner Seele an die Blüte wendet , die der Baum verspricht , begleitete Ernst das Wachstum des Kindes .
Die herrliche Schönheit der Mutterschaft bewegte ihn .
Seine Sinne blieben frisch ; sie stießen sich nicht am Anblick des starken Leibes .
Neue , hohe Würde krönte den braunen Scheitel Luisens , und willig beugte sich Ernst ihrem adeligen Reiz .
Wohl ist mit deiner Mädchenschaft der keusche Schmelz von dir gestreift , doch nur , weil einer hören Kraft dein Wesen still entgegenreift .
Und schlägst du gleich die Augen tief vor jedem , der des Weges kam : Was dich so glühend überlief , ist deiner Seele schönste Scham .
Noch bist du dir nicht klar bewußt , daß du ein Höchstes eingetauscht , seit tief in deiner eigenen Brust der Quell des Lebens selber rauscht .
Und fühlst dich doch von einer Flut aus Gottes reinstem Born betaut , nun deiner mütterlichen Hut ein neues Leben anvertraut .
Ich aber flügle meinen Schritt und grüße das neue Leben laut .
Viel tausend Stimmen grüßen mit und singen dir , du Lebensbraut !
Denn was in deines Schoßes Nacht noch träumt und Blut von dir erhält , wird einst , zum hellen Licht erwacht , vielleicht der Heiland einer Welt .
Diese Verse im Gedächtnis , schritt Ernst die Küche ab .
Er war trotz später Nachtstunde tagwach , seine Sinne lauschten geschärft jedem Ton , der aus dem Zimmer klang , und wenn das leise , wie durch die Zähne gezogene Wimmern der Wöchnerin sein Ohr traf , bäumten sich alle Nerven wild auf .
Gemeinheit , einem Menschen solches Weh zu schaffen !
Nie mehr , nie wieder durfte Luise in diesen Abgrund von Schmerz gestoßen werden ...
Wie sollte übrigens der Knabe heißen ?
Voll innerster Sicherheit sprachen sie seit Wochen davon , daß ein Knabe kommt , ein wunderschöner Bub mit dem Gesicht der Mutter und der Gestalt des Vaters , ein Wunder an Geist und Körper ... wieder der schrille , von allem Weh der Welt getränkte Schrei ...
Ernst stürmte durch die winzige Küche .
Der Schrei wuchs in seinen Ohren , füllte das Haus , daß es in allen Fugen schütterte , gellte die Straße aus ihrem Schlaf , die ganze Stadt erwachte , der Schrei , der schreckliche Schrei dröhnte wie eine Sturmglocke über die Welt hin ...
War das noch menschlich , konnten menschliche Sinne das noch ertragen ?
" So , Herr Löhner , der Bub ist eben gekommen .
Ich wünsche viel Glück ! "
Die alte , weißhaarige Hebamme steckte den Kopf zur Türe herein und lächelte über das gute Runzelgesicht , eine Märchenfrau , die fröhliche Botschaft tut .
Der Schrei ...
Das war es also .
Die Posaunen des ersten Lebens dröhnen gleich den Posaunen des letzten Gerichts ... " Hörst , Nikodeme , du den Schöpfergeist ? "
Außer sich vor Freude , Stolz und Erleichterung , tätschelte Ernst das Altfrauengesicht und bettelte um die Erlaubnis , Mutter und Kind zu sehen .
Wie ein Ballettkünstler schwebte er auf den Zehenspitzen ins Schlafzimmer , sank am Bett vor Luise hin und küßte andächtig die müde , hängende Hand .
Sie lächelte tapfer , deutete strahlenden Blicks auf das Bündel an ihrer Seite und strich gütig durch das verwirrte Haar des Mannes ...
Christian Friedrich schrieb der Beamte in die Geburtsanzeige .
Christian Friedrich nach dem großen , ernsten Denker und Künstler Hebbel , der Ernst Löhner in schwersten Zeiten beigestanden und seinen Kampf mitgestritten hatte ...
Zur Taufe trug man das Kind nicht .
Das Wickelkind sollte den Mann nicht binden .
Mochte der Mann sich einst selbst entscheiden , wie er der höchsten Kraft dienstbar und willig ist .
Christian Friedrich lag in einem Waschkorb , der aus zwei Stühlen stand .
Dort verdämmerte er seine ersten Wochen , plärrte wie seit Adams Zeit alle Säuglinge und verlor langsam die brennende Röte , die an einen gesottenen Krebs mahnte .
Einmal betrachtete Ernst stirnrunzelnd den Buben , strich zärtlich das schüttere Haar und kraulte sich verlegen den Nacken , weil er nicht wußte , was mit dem kleinen Mann anfangen .
Luise erfand stündlich hundert zärtliche Namen , redete in einer Geheimsprache der Liebe mit dem Kind und war überglücklich in ihrem jungen Muttertum .
Ernst hielt sich verpflichtet , auch etwas zu sagen .
Doch fielen ihm weder Worte noch Gedanken ein , dem Neugeborenen angemessen .
Hilflos stand er an der Wiege , schaute in die großen , schwarzen Kinderaugen und stammelte :
" Du Fröschle , du ! "
Der Name blieb , wie auf Befehl redete niemand von Friedrich , alles sprach nur vom " Fröschle " , und so kam der kleine Mann zu einem Namen , der in keinem Kalender steht , und zu einem Paten , der Fliegen schluckt , an warmen Sommerabenden laut quakt und an würdevollem Benehmen ein Muster sein könnte .
Ernst vertiefte sich in das kindliche Wunder .
Wenn die klaren , schattenlosen Augen seines Buben die Tapete abwanderten , erstaunt einer summenden Fliege folgten und hinter jedem huschenden Lichtstrahl jagten , griff das große , offene Schauen wunderbar in sein Denken .
Das ist es ... Schauen , groß und offen schauen !
... Wer es kann , findet im Augenblick mehr , als klügster Verstand in einem Tag ausdenkt .
Das Kind pflegen , auch das Kind im Mann , ihm ungehemmte Schau schaffen und die Klappen abtun , die Verstand und Wißbegier vor den Blick hängen ...
Nur im Schauen ist das Bild , und das Bild ist der Schlüssel zur Welt .
Das Kind hat den Schlüssel .
In seinen Traum vom Leben fällt verworrenen Lichtes noch kein Schein , denn lauter gehen und unverstellt die Dinge seinem Schauen ein .
Und was es sieht und was es hört , genießt es ganz und ungemischt , weil keines Wortes Fremdheit stört und ihm das reine Bild verwischt .
Die Sehnsucht zweier Seelen blaut in seinen Blicken still und groß , und dennoch ringt sich nicht ein Laut von den geschlossenen Lippen los .
Die Wunder , die es rings gewahrt , sie sind ihm wohl im Tiefsten kund , doch daß es keines offenbart , versiegelt ihm ein Gott den Mund .
Von vorn beginnen , ganz von vorne ...
Fort mit dem Ballast vergrübelter Jahrhunderte , Zeit sein , Gegenwart fühlen und wissen , du lebst , nicht immer nur bohren : wozu lebst du ...
Das Leben ist des Lebens Ziel .
Es gibt kein anderes Ziel .
Jeder ungelebte , nur gedachte Augenblick ist Irrgang .
Beugte sich Ernst über die Wiege und lauschte den tiefen , regelmäßigen Atemzügen , so hörte er den ewigen Katarakt des Lebens rauschen , den unerschöpften Born der Welt , und genoß doppeltes Dasein , im Kind und in sich .
Hier war neuer Ursprung , neuer Lauf und neue Mündung , junger , klarer Fluß , von keinem Geröll noch getrübt .
Hier war Grund zu sehen , Grund des Daseins , den kein Senkblei der Vernunft erlotet ...
Ernst nahm starken Anteil am Wachstum Fröschlese , legte viel kleine Begebenheiten zu einer väterlichen Chronik an , im Lebensgefühl erhöht durch die einfachen , so wundersamen Regungen ersten Werdens .
Hier war nichts zu grübeln .
Verstand blieb weit dahinten .
Augen und Herz weiteten sich , dem Leben freie Bahn zu schaffen .
Am Kinde genesen , war ihm gesetzt .
Ernst begriff den tiefen Sinn , der dem Blut Gewalt über den Gedanken leiht und ihn Vater werden ließ .
Luise war Mittlerin dieser hohen Gnade .
Ihr dankte er die Erlösung aus dumpfem Bann .
Die andere Hochzeit Im gewöhnlichen Straßenanzug traten sie vor den Standesbeamten .
Der Beamte wollte unbedingt Freund Göttler mit Luise trauen , weil Göttler feierlich im schwarzen Gehrock prangte und einen stilvollen Hut trug .
Kranz und Schleier der Braut und Sträußlein des Bräutigams gab es auf dieser Hochzeit nicht ; auch Sieden und Braten unterblieb .
Die Männer tranken ein Glas Wein , sangen alte , innige Lieder von Glück und Leid der Liebe , und der schöne Choral Mendelssohns nach den Worten Ruths :
" Wo du hingehst , da will auch ich hingehen ... " beschloß würdig die kleine Feier .
Nachmittags flog die Familie aus , fiel in die grün-goldene Heimlichkeit eines Buchenwäldchens und verträumte dort die heißen Stunden .
Mutter und Kind schaukelten in der Hängematte , Ernst rekelte auf den Waldboden und las stille Verse - ein feierlicher , reiner , unbefleckter Tag .
Luise hatte viel um Ernst geopfert .
Ihre Familie zunächst .
Der einsam aus dem weltfernen Dorf lebenden Mutter geschah großer Schmerz durch die Heirat .
Eine fromme Frau , hatte sie erschrocken gehört , daß Ernst Sozialdemokrat und ungläubig sei , kirchliche Trauung und Taufe der Kinder ablehne und hartnäckig auf seiner Gesinnung bestand .
Sie redete der Tochter herzlich zu , beschwor die Erinnerung an mütterliche Liebe und Sorge und rührte das Herz Luisens .
Doch Ernst war unbewegt .
Es bleibe bei bürgerlicher Trauung , das Kind würde nicht getauft , alles Reden wäre vergeblich .
Verstimmt schieden Mutter und Kinder , und Luise versuchte behutsam , was der Mutter mißlungen war .
Alles umsonst !
Ernst stellte ihr frei , nach ihrer Gesinnung zu leben , die Kirche zu besuchen , so oft es ihr Bedürfnis war , doch nichts zu reden von Taufe und Abendmahl ...
Luise unterwarf sich schweigend und gab die Sache der Mutter auf .
Sie hätte der alten Frau gern die Herzensfreude bereitet , doch gegen die Halsstarrigkeit des Mannes war nichts zu richten .
Daß Luise ihn der Mutter vorzog , die sie kindlich verehrte , fand Ernst selbstverständlich .
Er wußte nicht einmal ein dankendes Wort für diese Anhänglichkeit .
Überhaupt gärte es noch einmal wild und toll in ihm auf .
Der freie , schweifende Zigeuner , der unbürgerliche , heimlose Vagant wand sich grimmig in den Fesseln .
Herb und barsch , ja oft bitter und böse konnte Ernst auf Luise werden , ganz ohne sichtbaren Grund und nur einer blinden Wallung Gehorsam .
Das alte Wirtshauslaufen hob wieder an .
Luise saß daheim bei dem Kind , spann ihre einsamen Gedanken und schluckte manche stille Träne .
Sie war ein tapferer Mensch , ruhig und fest in sich gelagert , dabei von endloser Geduld und ganz ohne die kleinlichen Züge übersehener Frauen .
Ernst kannte ihre Eigenschaften , wußte Haus und Kind in der besten Hut und bedachte darum Luise mit einem Vertrauen , das beinahe verächtlich war .
Er hielt sie für beschränkt , weil sie wenig sprach , für langweilig , denn ihre sicheren Bewegungen schlossen jede Hast aus , und ärgerte sich an ihren Vorzügen wie an ihren Schwächen .
An den Vorzügen vielleicht besonders ...
Sie standen vor ihm wie stumme Anklagen seines Betragens .
Dieses Betragen war weder schön , noch besonders männlich , eine Erkenntnis , die ihm selbst öfter dämmerte .
Doch diese Erkenntnis anzuwenden , war Ernst noch nicht entschlossen .
Trübe , recht trübe Stunden kamen , wenn Ernst in die Zukunft griff .
Warum vermummten sich die geliebtesten Menschen vor ihm ?
Oder trug er ein falsches Gesicht ?
Luise entwich , lebte ein eigenes Leben und trat langsam in eine Dunkelheit , die er schon kommen sah .
Sollte er wieder allein im Schatten gehen , einen zweiten Menschen neben sich , von dem ihn dicker Nebel schied ?
Das nicht , nur das nicht ...
Herunter mit den Masken ... Machtlos sah Ernst die Schatten wachsen .
Sein bestes Gefühl blutete und pulste traurig in verhaltenen Versen .
" Die Vermummten " nannte er sich und Luise , und stellte klagend fest :
Wie lang wir uns auch schon lieben und träumen einander zu :
Ich bin doch ich geblieben und du bleibst immerfort du !
Und haben wir uns besessen , schlief Eins im Anderen ein , so wähnten wir selbstvergessen wohl gar das Andere zu sein .
Manchmal da fällt ein Scheinen vom einen ins andere Land .
Dann möchten wir gerne meinen , jetzt hätten wir uns erkannt .
Der Abend dämmert und trüber wird rings , was hell war und Licht .
Wir stehen uns vermummt gegenüber und kennen uns wieder nicht .
Das Kind hinderte den Bruch .
Kreischte es aus der Lust gesunden Blutes auf , so wichen die Schatten , Licht fiel ein und alles glänzte hell und freundlich .
Ernst liebte seinen Sohn überschwenglich , wollte er dem Kind zuwenden , was er der Mutter entzog , der Frucht erweisen , was er dem Acker weigerte ?
Ein feiner Zug um Luisens Mundwinkel sprach von Leid , das sie wahrhaft würdig trug .
Kein fremder Blick sah den Riß ; fröhlich und gelassen besorgte Luise den Haushalt , wartete des Kindes , wie nur eine liebevolle Mutter , und verschloß sich stolz und schweigend dem übellaunigen , hämisch stichelnden Mann .
Auch mit der Eifersucht hatte es Ernst schon .
Seine hübsche , reinliche Frau war gern einfach und unbefangen fröhlich , und weil Ernst zu ihrer Fröhlichkeit gar nichts tat , schloß Luise sich Bekannten an .
Das war nun Ernst wieder nicht recht .
Er wütete , stichelte in seiner gefährlich zweideutigen Weise auf einen Mann , und empfand gemeine Freude , wenn Luise nun doch aufbrauste und sich entschieden verwahrte .
Welt und Heim Mit Hängen und Würgen verging so das erste Ehejahr .
Ernst war die wenigste Zeit daheim .
Der Beruf nahm ihn allerdings stark in Beschlag , verlangte Aufgeschlossenheit und Regsamkeit und war von ermüdender Abwechslung .
Ernst war in den Verband der Zeitung getreten , schrieb , was der Tag brachte , Kleines und Großes , und schwamm im Strom des Eintags , der den Journalisten in seinem kurzen , rasenden Lauf mitreißt .
Das Leben des Journalisten hat starkes Gefälle .
Besinnen und Grübeln kennt der Tag nicht .
Er will gleich und ohne viel Umstand genommen sein .
Das war ungewohnt starker und schneller Takt für Ernst Löhner , der zu gern zögernd im eigenen Schritt ging .
Den eigenen Schritt hieß es jetzt beschleunigen .
Der Tag rennt , und wer nicht mitrennt , bleibt elend am Weg liegen und wird überlebt .
Morgens brach die Flut herein , mußte durch den Kopf geschleust und in die Setzmaschine geleitet werden , und kam aus der Rotationsmaschine als öffentliche Meinung , als geballter Auszug des Geschehens eines die ganze Welt umspannenden Tages .
Fernsprecher schrillten , die Setzmaschinen klapperten , das dumpfe Stampfen der Rotationspresse schüttert das Haus : Gewalt , Kraft , Leben wirkte überall .
Ernst stürzte sich kopfüber in diesen strudelnden Strom .
Der leitende Kollege , ein erfahrener , in dreißigjähriger Übung sattelfest gewordener Zeitungsmann , nahm ihn besonders vor .
Bis Ernst sich aufraffte , zehn Zeilen zu schreiben , kostete es Schieben und Stoßen .
Mit dem Hebebaum mußte man ihn an den Schreibtisch winden .
Aber einmal so weit , schrieb Ernst drauflos , mehr aus Wut über den Zwang , denn aus Trieb zur Arbeit .
Gemächlich zuschauen , sich über das lebhafte Rühren und Regen freuen , lag Ernst besser als arbeiten , und zwar gleich und schnell arbeiten .
Richtiges Journalistenblut hatte er doch nicht .
Kollege Marxer fuchtelte lebhaft mit dem Manuskript , raufte die Löwenmähne und bewies Ernst , die Notiz müßte unbedingt geschrieben werden , und zwar gleich .
Streiken wäre erlaubt , aber den Streik zum Lebenszweck erheben , ginge nicht .
Damit macht man keine Zeitung .
Dann setzte sich Ernst hin und baute eine Notiz über Gemüsepreis , morgen über gefallene Pferde , alles ohne viel Lust , aber doch so gut , als die geringe Sachfreude eben zuließ .
Schrieb Ernst auch ungern , er wollte doch bei der Zeitung bleiben ...
Welt war um ihn , Welt im weitesten und freisten Maß .
Früher als Millionen zu wissen , was die letzten Stunden geschah , wie Paris über die neueste Kanzlerrede dachte , wie Petersburg den französischen Präsidenten empfing , daß Richard Strauß mit d' Annunzio einen großen Erfolg hatte , daß in Niederbayern ein Kalb mit zwei Köpfen auf die Welt kam ... es geschah so viel in vierundzwanzig Stunden , so Merkwürdiges und so Gleichgültiges , daß es sich verlohnte , mitzugehen .
Man fühlte jeder Stunde den Puls , stellte fest , daß er heute schneller ging als gestern , und war begierig , was morgen kam .
Gestern und morgen , unbekannte Begriffe für die Zeitung , nur das Heute hat recht , nur die letzte Stunde .
Was vorher war und was nachher sein wird , unnütze Arbeit , daran zu denken .
Der Augenblick sagt vor und man schreibt nach .
Wie hatte er doch früher Kraft und Leben verschwendet , hatte Tage und Wochen an einem Gedanken gekaut und seinen Sinn auf leblosen Kram gerichtet , dem kein Bemühen Atem geben kann .
Jetzt nützte sich jede Minute .
In der Tat gab es nicht zu viel Gedanken .
Sie durften nur nicht meilenweit entfernt in der Luft schweben .
Im Bedürfnis , im kleinsten Wirken des Augenblicks den Sinn suchen , ihn nehmen , unbesehen nehmen und nicht viel an die Hände denken , durch die sie schon gegangen sind .
Ernst hatte ausgeprägten Widerwillen gegen vorgedachte Gedanken .
Sie faßten sich fettig und schmierig an wie Münzen , durch viele Gossen gerollt .
Solche Gedanken zu meiden , quälte er sich ehrlich , sann über jeden Satz und schrieb einen sorgsamen und eigenwilligen Stil .
Daß er sich damit das Geschäft erschwerte , war ihm bewußt ; er fühlte sich aber verpflichtet , auch aus der kleinsten Notiz die Klaue zu recken .
Bewegtes , starkes , im gegenwärtigsten Leben wurzelndes Wirken , wie eine Zeitung , war gute , kräftige Eisenkur für die sehr blasse , blutarme Denkart Ernst Löhners .
Denken und Schreiben lernte er als viel schaffende Kraft werten , und sein Haß gegen den Geist beschränkte sich ganz auf jenen Geist , der hochtrabend und eingebildet das Leben verdrängt , um seine kahle Majestät auf den Thron zu heben .
Diesen Haß gegen den Blendergeist , der alles Licht von der Wirklichkeit empfängt , um es gegen die Wirklichkeit zu wenden , kräftigte vorzüglich die fortschreitende Erkenntnis Ernst Löhners von der Macht des Stoffes .
Weltgestaltende Kräfte offenbarten sich , die er vorher blind übersehen hatte , obgleich sie in seinem Leben hart und erdrückend walteten .
Er fand den Sockel seiner sozialistischen Überzeugung und baute darauf seine Anschauung von Gesellschaft und Persönlichkeit .
Was er einst für unabwendbares Schicksal hielt , die Vergewaltigung des einzelnen durch die Gesamtheit , zeigte sich jetzt als Ausfluß einer von Menschen gemachten und von bestimmten Bünden gehaltenen Ordnung , die zu überwinden große , heilige Pflicht aller ist , die unter dieser Ordnung leiden .
Gott bekam Ruhe vor seinen Angriffen .
Ihn zu bekriegen , erschien Ernst jetzt genau so wahnwitzig , wie die Sonne an ihren Strahlen fassen und auf die Erde ziehen .
Nicht Gotteskampf , Klassenkampf war die Losung geworden , Kampf für das Recht auf Licht und Luft jener Millionen , die aus dem Schatten kommen , durch Schatten gehen und im Schatten enden , seit Jahrhunderten schon ... ein endloser , unabsehbarer Zug von Geschlechtern , vom Vater zum Sohn geknechtet , ausgestoßen , um Schönheit und Glanz betrogen ...
Ernst riß die Augen auf und zwang sich , das Elend , die Verkommenheit , die Stumpfheit zu sehen .
Wo waren seine Gedanken vorher gewesen , wo seine Augen ?
.. .
In leerer Luft hatten sie geforscht .
Eine Windmaschine war sein Gehirn bisher , eitel bemüht , ihm selbst den stickigen Dunst ringsherum zu zerteilen .
Nicht auf ihm allein lag der Druck , Millionen stöhnten unter gleicher Bürde und schauten nach Zeichen aus , die Sturm künden , Sturm und Wetter , die verbrauchte Luft zu reinigen .
Er war Luftspiegelungen nachgegangen , hatte in Gedanken Paradiese gebaut und darüber versehen , daß die nächste Welt ein Stück Hölle , ein Ort der Qual und Verdammnis ist ...
Zu allen Teufeln mit dem Geist , der nichtsnutzig sein eigenes Gesicht bewundert wie ein Affe im Spiegel !
... Nur ein Geist darf leben , der Geist im Dienst eines neuen Reiches , des Weltreiches der Freiheit , Gleichheit und Brüderlichkeit .
Mächtig blies dieser Geist die Flammen .
Ernst schleuderte sein heißes Gefühl gegen die bestehende Ordnung .
Ein Brander , angehäuft mit gefährlichen Stoffen , trieb sich Ernst auf den hochgehenden Wogen des Tages .
Er schrieb heftig glühende Glossen gegen die faule Gesellschaft , zündete alte Perücken und Akten an , wo er auf solche stieß , und redete sich in helle Wut , wenn er auf den Zustand der bürgerlichen Welt und auf seine Überwindung kam .
Alle Grundlagen dieser Welt nannte er morsch und brüchig , nur da , die glänzende Außenseite krampfhaft zu erhalten , um den inneren Bruch zu verhehlen .
Das hohe , prächtige Haus eines sehr reichen Mannes lag an seinem täglichen Weg .
Massiv und wuchtig die Maße , reichgeschmückte Flächen , trugen den Palast zwei Karyatiden .
Auf den schwer geneigten Schultern ruhten die Pfeiler , die Arme waren wie abwehrend gegen die Last gestemmt ; qualvoller Schmerz verzerrte die Steingesichter .
Ernst ging in Begleitung eines Bekannten vorbei .
Finster schaute er auf den Bau .
" Ist das nicht großartig ? ...
Der reinste Anschauungsunterricht , wie in der Welt heute alles verteilt ist ...
An dem Protzenbau sollte man alle Proleten der Stadt versammeln , und an Hand dieser wahrhaft prächtigen Vorlage erklären , was notwendig ist ... "
" Sie meinen , den Leuten zeigen , wie gut und schön die reichen Leute wohnen , und wieviel Platz es in ihren Zimmern gibt ?
... "
" Das auch so nebenher ...
Aber das wissen sie ja längst , während ihnen immer noch nicht eingeht , was dagegen zu tun ist ...
Ich würde ihnen etwa sagen :
Seht euch das Haus genau an , ganz genau .
Es ist ein schönes , reiches Haus , in dem sich gut leben läßt .
Seht euch die zwei Kerle an , die den Portal tragen ...
Merkt ihr was ?
... Jawohl , das seid ihr , niemand anders als ihr .
Die Reichen trauen sich , klar und deutlich auszusprechen , wozu ihr auf der Welt seid ... Ihr habt die Häuser der Reichen zu tragen ...
Nehmen wir an : Den zwei Steinriesen wird es zu dumm , immer dazustehen und die Fassade zu stützen .
Sie gehen eines Tages einfach aus dem Rahmen und schäum mit verschränkten Armen zu , was werden will ...
Was geschieht ?
.. .
Die ganze Herrlichkeit fällt zusammen ; ein wüster Schutthaufen ist alles , was bleibt ...
Versteht ihr nun ?
... Ihr seid die Karyatiden , ihr tragt das Haus , in dem andere schön und behaglich wohnen .
Habt es endlich satt !
Laßt die Bude halten , wer sie halten will .
Ihr habt doch nichts davon , daß sie steht ... Glauben Sie wohl , daß die Leute diese Rede besser verstehen als hundert Leitartikel und zweihundert Versammlungsreden dazu ?
... "
So waren es viele Bilder , die Ernst aufreizten und in seiner Gesinnung steiften .
" Die Karyatiden " schrieb er auf die Handschrift eines großen sozialen Dramas , das mühsam erwogen , nie über den Eingang hinauswuchs .
Das Gleichnis erschütterte Ernst und eiferte ihn zugleich an .
Er lebte und dachte ganz in der armen , kleinen , bedrängten Welt des Proletariats , schloß die Frauen und Männer , die blassen , lustlos spielenden Hinterhauskinder in sein Gefühl , und suchte für die Gestalt des werteschaffenden Proleten großen , typischen Ausdruck , Wunsch und Wille der Unterwelt zu verkünden .
Drohend schritt der Proletarier durch seine Verse .
Er schreitet zwischen goldenen Garben von Werten , die er rüstig schafft , und muß im Angesichte darben der vollen Speicher seiner Kraft .
Nichts nennt er aus der frohen Fülle des Daseins , die er stündlich weckt , sein eigen , als die karge Hülle , die seiner Notdurft Blöße deckt .
Wohl ringt auch er nach hohen Zielen und streckt die Hand nach einem Glück ; doch nur mit Schrunden und mit Schwielen gefüllt , holt er sie stets zurück .
Des Lebens ungemessene Spenden sind ihm wie Wasser fortgerollt und haften blieb an seinen Händen kein anderes , als der Sonne Gold .
So rollen seine trüben Tage , von Arbeit schwer und toller Hast .
Er bleibt am frohen Festgelage des Lebens der vergessene Gast .
Am Ende geht er aus den Schranken an nichts , als nur an Hoffnung satt , und weiß , wie wenig er zu danken und wie viel er zu fordern hat .
Fabriken und Maschinen enthüllten ihm ihre Kraft und Schönheit , den Adel ihrer Leistung und ihre abwehrende Haltung gegen die Menschen .
Höhere Einheit überwand Gegensätze .
Verwandtes sprach zu Verwandtem .
Das Weltbild Ernst Löhners rundete sich , und stand im Rahmen einer unerbittlich geschlossenen Anschauung .
Arbeit heißt der wahre Herr der Welt .
Schaffen ist tiefster Sinn des Daseins .
Genießen ist ein Mißbrauch der Kraft , wenn du nicht aus eigenem Schaffen genießt .
Nimm deine Zeit , deine Welt , und laß fahren , was vorher war und was nachher sein wird !
Was soll das Mittelalter mit herrlichen Kirchen und Brunnen , mit Häusern , die ein Jubelruf in Stein sind , und Bildern , darin farbige Psalmen auf Gott klingen ?
... Das lebt alles nur aus deiner Kraft , entzieht diese Kraft der Gegenwart , der sie Rechtens gehört , und hemmt das Leben ... Entschlossen wendete Ernst der schönen Vergangenheit den Rücken .
Die Vaterstadt ist ein Schmuckkasten alter , köstlicher Kultur .
Zierliche , lustige Erker und Höfe fesseln den Blick , die Mauern und Türme schmiegen sich um die Altstadt , die von der Kaiserpfalz gekrönt wird ... Willst du Gespenster an deinem Blut wärmen ?
Hinaus in die Vorstädte , wo die Schlote rauchen , die Riemen surren und Eisen auf Eisen schleift .
Da ist dein Platz .
Dort schafft und schwitzt Gegenwart , und blutet aus allen Poren , Zukunft reckt sich wie ein erwachender Riese , Leben ist dort und Tat , Wille und Sinn ...
Das Märchen alter Schönheit träumte nicht mehr für ihn .
Achtlos ging Ernst vorüber .
Nicht in einem Museum leben , unterm Glassturz der Vergangenheit ... seine Zeit fühlen , ihr dienen , ihren Weg in die Höhe bereiten ...
Dem Leben tausendfältig versponnen , hatte Ernst langsam verlernt , den Knäuel der eigenen Seele abzuwickeln und wieder aufzuwickeln .
Er fühlte über sich hinaus , fühlte weiter und freier .
Das Flügelmaß seines Gefühls war gewachsen ; die Seele klafterte breiter und hob die Schwingen in höhere Luft .
An die Landschaft verlor sich Ernst zuweilen in ruhiger , sinnender Stunde , und lauschte den Stimmen , die aus Nähe und Ferne , aus rieselndem Wasser , rauschendem Wind , aus den Linien der Hügel und aus den weiten Flächen redeten .
Luise stand abseits .
Still und versunken lebte sie in sich und in dem Kind .
Ernst griff selten in diese Stille , denn er war ganz aufgegangen in die Welt .
Ruhig und rein rann das Leben Luisens hin , klar und ungetrübt , nur manchmal fielen leichte Schatten auf den lauteren Strom .
Das waren die schlimmen Stunden des Mannes .
Ernst kroch langsam aus der eigenen Haut , und strebte ehrlich , auch das Leben anderer Menschen schonend zu erfassen .
Unsicher und tastend nach der jahrelangen Einsamkeit , stieß er noch oft mit seinen Kanten hart an .
Luise litt am meisten darunter .
Immer noch saß verworrene Wut tief in Ernst , wie ein blitzend scharfes Messer in der Scheide steckte sie in mancher Hemmung und in errungener Beherrschtheit .
Fuhr sein wahres Wesen heraus , dann stach es blind und gefühllos um sich .
Ernst hatte keine Empfindung dafür , daß er verletzte , und sah nur den Glanz seiner messerscharfen Rede , nicht die Schärfe , die anderen wehe tat .
Das Kind entwickelte sich zum zarten , hübschen Knaben .
Es sah hell in die Welt , forderte zu allem , was es sah , von den Eltern ein Warum , forderte und plauderte reizend .
Er beschäftigte sich viel mit " Fröschle " , bedichtete und beschrieb seine kleinen Freuden und Schmerzen , und wurde selbst gegen Luise sehr weich , wenn sich ihre Hände über dem Kind begegneten .
Ein Funke gemeinsamer Glut sprang da über .
Im Kind kreuzte sich ihr Leben .
Das Kind war bindender Ton im verwirrten Lied .
Das Kind stimmte alle Mißtöne auf reinen Klang .
Unzufrieden , reizbar , schlecht beherrscht , schwankte Ernst zwischen Tagwerk und Neigung .
Dem Tag sollte sein Recht werden , und daheim sollten Weib und Kind einen frohen , gut gelaunten Menschen um sich haben ...
Es gelang nicht .
Der Tag störte den Abend , und der Ausgleich war schwer , so schwer ...
Angefüllt mit den Erregungen der Arbeit , das Sausen der Welt im Gehirn , war Ernst mürrisch und vergrämt , wenn er die Wohnung betrat und die bescheidene Freundlichkeit Luisens spürte .
Sie lebte doch ganz außer der Welt , im Kreis kleiner , elender Pflichten , ohne Schwung und Glanz .
Daß sie diesen Kreis treu und geräuschlos erfüllte , Heim und Kind sorglich pflegte , erkannte Ernst bei sich an , schien ihm aber geringe Tat , wenn er an Plänen der Zukunft spann .
Hinderten ihn Weib und Kind nicht auf seinem Gang ?
War er überhaupt häuslich begabt ?
Der Tanz im Mond Immer schwieg Luise .
Nur die klugen , dunklen Augen redeten von Verstehen und wissendem Schmerz .
Sie hatte nur eine Waffe : dieses Schweigen , das seine dunkle Güte lindernd über den unruhigen Mann breitete .
Überall fand Ernst diese schweigende Güte , und oft drängte ihn innerstes Verlangen , sich Luise aufzuschließen .
Setzte er jedoch an , so kam es rauh und stachlig von seinen Lippen , und Worte , die Brücken schlagen sollten , rissen den Abgrund nur weiter auf .
Das sah er vor Augen : kam Luise eines Tages ans Ende ihrer unendlichen Geduld , dann stürzte der letzte Pfeiler , und kein Steg führte mehr über den schwarzen Strom , der ihr Leben trennte .
Schweigend saßen sie im Erkerwinkel , Ernst ein gleichgültiges Buch zwischen den Händen , Luise nähte ein Hemdchen , den Kopf leicht geneigt , daß die klare , reine Linie ihres Profils im Fenster spiegelte .
Was für ein bestimmtes , wesenhaftes Gesicht ?
... Ernst Maß verstohlen Zug um Zug , blies den Rauch zur Seite und spielte gedankenvoll mit den Buchseiten .
Ein fester , ruhiger Blick griff nach seinen Augen ...
" Ist das für » Fröschle « ?
... Was du dir für Mühe gibst mit dem Buben ... Du verwöhnst den Bengel . "
Nur um anzuknüpfen , prüfte er den Stoff .
Er hätte gern , zu gern über Luisens braunen Scheitel gestrichen , der dicht vor ihm lag .
Es drängte , irgend Liebes zu sagen oder zu tun .
Sie soll zuerst kommen , raunte der düstere Geist .
Du hast es nicht nötig , ihr nachzulaufen .
Luise nickte leicht und nadelte unbeirrt weiter .
" So laß doch endlich das blöde Hemd !
... Kann man denn nie ein Wort mit euch reden ?
... "
" Wenn du meinst , kann ich ja auch morgen nähen ...
Es eilt nicht .
Aber du kannst doch auch so sagen , was du mir zu sagen hast ...
Das Hemdchen stört dich doch nicht ... "
Die satte Stimme seiner Frau war weich und halblaut , fest und doch ohne Schärfe .
" Es stört mich aber doch ...
Ich will meine Frau auch einmal sprechen , wenn sie nichts zu tun hat ...
Ich weiß schon :
du hast eben immer zu tun ... Eigentlich ist dieses Leben doch ein Jammer .
Ich bin den ganzen Tag fort , weil wir einmal leben müssen ...
Kommt man dann heim , so hast du immer noch etwas zu arbeiten , und ich kann zuschauen , wie ein Hemd genäht und ein Strumpf gestopft wird ...
Hast du eigentlich gar kein anderes Bedürfnis ?
... "
Langsam rollte Luise das Hemd ein und legte es auf das Kästchen .
" Es gefällt dir also nicht , wenn ich arbeite ...
Wer soll dann aber das Haus in Ordnung halten ?
... O ja , ich weiß manches andere , was recht schön wäre ... wenn wir jetzt zum Beispiel einen kleinen Spaziergang machen , du und ich ...
Das täte mir gut gefallen ...
Aber du wirst zu müde sein , und ich meinte auch nur so ... "
Ernst senkte den Kopf .
Wie lange war er mit Luise nicht mehr ausgegangen ?
.. .
" Du hast recht , wir müssen wieder einmal auf ein Stündlein ausfliegen ... Morgen vielleicht ...
Wann waren wir eigentlich zuletzt miteinander fort ?
... Neun Wochen sind es schon wieder ?
... Die Zeit vergeht doch unglaublich .
Schon wieder neun Wochen !
... Da fällt mir übrigens ein : dein Sommerhut ist doch recht schäbig . -
Schau doch um einen neuen , netten Hut ... "
Der " neue , nette Hut " war seine letzte Zuflucht , wenn er sich recht zerknirscht und in seines Weibes Schuldigkeit fühlte .
Er wallte dann immer ehrlich auf .
Luise sollte schön angezogen sein , sollte auf sich halten , wie einer hübschen , frischen Frau ziemt .
" Morgen hast du doch Zeit ... Gehe also gleich um den Hut . "
Luisens Hand stahl sich herüber .
Der leise , innige Druck galt nicht dem Hut , das wußte er , sondern der freundlichen Teilnahme , die aus seiner Wallung sprach .
" Überhaupt bist du viel zu viel daheim ... wenn du nächster Zeit ins Theater willst , bleibe ich gern bei dem Buben ... wir vertragen uns ja ganz gut ...
Magst du ? "
Sie würde gern wieder einmal ins Theater gehen .
Aber der Bub mache doch vielleicht mehr Arbeit und würde ihn stören .
" Aber nein doch , Luise , nein !
... Gehe ruhig !
Wir versauern ja sonst ganz und gar ... Du bist mit deinen vierundzwanzig Jahren schon so scheu und zurückgezogen , wie es dein Alter sonst nicht ist ... "
" Es fehlt mir nichts .
Ich wüßte nicht , was ich entbehre ...
Das Kind gibt soviel Unterhaltung , besonders jetzt , wo es zu reden anfängt ...
Nur mit dir möchte ich manchmal , natürlich mußt du Zeit und Lust haben , eine Stunde oder zwei spazierengehn ...
Die Abende sind so schön , und wir könnten im Gehen dies und jenes plaudern ...
Ich höre dir gern zu ... "
Sie war doch ein herrlicher Mensch , besser , o soviel besser als er , der immer nur an sich dachte , nie bescheiden vergnügt sein konnte , und von eitlen Blähungen geplagt wurde .
" Gut !
Wir gehen von jetzt ab öfter zusammen fort ...
Ich habe da vielleicht bisher manches übersehen , und war wohl nicht ganz , wie ich gern sein möchte ... Du verstehst das ja , bist immer ruhig und geduldig ...
Ich habe ja Nachsicht nötig , Luise .
Das weiß ich recht gut .
Manchmal ist es wohl recht schwer , mit mir auszukommen ...
Aber du wirst das begreifen , wenn ich dir einiges aus meinem Leben erzähle ... "
Nie sprach Ernst anders als dumpf und grollend von seiner Vergangenheit .
Die Stimme kam auch jetzt wie aus einer Gruft .
" Da hast du so einiges aus meinem Leben ... Du bist doch in Luft und Sonne groß geworden , Bäume und Blumen standen auf deinem Weg , der ja auch nicht ohne Steine gewesen ist ...
Meine Jugend ist grau , düster , schattenvoll ...
Jeder Mensch erinnert sich an schöne Bilder seiner Jugend , an irgendeinen grünen , versteckten Winkel , an einen Bach , eine Wiese im Sonnenschein ...
In meinem Gedächtnis ist nichts grün , gar nichts ...
Das macht herb und hart , finster und bösartig ...
Ich bin vor den Menschen zu lange geflohen , bin zu weit weggekommen , und muß nun mühsam wieder einen Weg zu ihnen suchen ...
Daher meine Wut , meine Launen , mein unangenehmes Wesen , das dir so schwere Stunden macht ...
Es ist oft unerträglich , Luise , mit allen Fasern nach Menschen zu verlangen und sie doch abstoßen müssen ...
Was hilft es , daß ich die Menschheit liebe und meine ganze Kraft in ihren Dienst geben will , wenn ich die Menschen nicht ertragen kann ?
.. .
Man hat das Ganze nur , wenn man den kleinsten Teil hat ... "
Selten schloß sich Ernst auf .
Er tat alles für sich ab und gönnte keiner Seele Zutritt .
Die schwer und stockend vorgebrachte Rede ergriff Luise darum sehr .
Sie legte seinen Arm still um ihre Schulter und drückte das Haar gegen seine Augen .
" Du mußt mir alles sagen , Ernst ...
Ich habe doch ein Recht darauf , denn nun sind wir doch einmal beisammen und müssen zusammen tragen ...
Warum willst du denn immer alles allein tragen ?
... Das ist bitter für mich ... Nicht , daß du es trägst , sondern , weil du es allein trägst und tragen willst ...
Vertrauen muß doch sein , und wo Vertrauen ist , ist auch Kraft ...
Ich kann dir vielleicht nicht immer sagen , wie du das oder das am leichtesten trägst ...
Aber ich habe doch auch zwei Schultern ...
So dumm , wie du glaubst , bin ich auch nicht ... "
Ernst zwang mit sanftem Zug Luisens Kopf näher heran .
" Das habe ich immer gewußt , tapfer und aufrecht bist du , Luise , die einzige für mich mögliche Frau , mag es hundertmal anders scheinen .
Ganz recht :
ich habe dich eine Zeitlang für dumm genommen , wie ich alle Menschen für dumm nehme , weil ich eben ein maßlos eingebildeter Affe bin ...
Es hilft aber nichts , daß ich weiß , wie eingebildet ich bin ...
Denn hätte ich diese Einbildung nicht , wo wäre ich heute wohl ?
... Ich muß das Gefühl haben , allen Menschen weit überlegen zu sein .
Sonst ist alles aus und vorbei ...
Ich leiste nur etwas mit dem Bewußtsein :
ein anderer kann das nicht ...
Nimm mir dieses Bewußtsein , und du nimmst mir den Willen und jede Kraft zur Leistung ... "
" Ganz verstehe ich das nicht ...
Es leuchtet mir ein , daß , wer etwas ist , auch etwas von sich hält ...
Aber muß man das durch schroffes , wegwerfendes Benehmen gegen die anderen Menschen zeigen , die doch auch nichts dafür können , daß sie eben anders sind ?
... Du denkst wohl doch zuviel und machst dir alles schwerer , als es wirklich ist ... "
Die ruhige , bedachtsame Art Luisens , seinen Gedanken nachzugehen , regte Ernst zu weiterem Reden an .
Er war seit langem nicht mehr so umgänglich und mitteilsam gewesen .
" Das ist es ja , was mir heillos zu schaffen macht ... Sich selbst nichts vergeben und doch auch die Rechte der anderen achten ...
Den Ausgleich muß ich finden , dann wird alles gut ...
Mit dir will ich jetzt anfangen .
Du hast den ersten Anspruch , weil du auf mich angewiesen bist , wie auch ich mich mit dir zu stellen habe ...
Daß alles gut wird , ausgezeichnet sogar , weiß ich sicher ...
Mein Gefühl irrt nicht , wir leben bald ein schöneres Leben und ziehen nicht mehr länger an verschiedenen Strängen ...
Ich habe heute solche Lust , kopfzustehen , in die Luft zu springen , mich im Gras zu wälzen ... zu tanzen ...
Tanzen !
Hast du als Mädchen viel getanzt ? "
Luise zuckte überrascht auf und wendete ihr Gesicht voll dem seltsamen Frager zu .
" Tanzen !
... Herrlich , herrlich !
... Ich habe als Mädchen so gern getanzt , sehr gern ...
Du ... wir haben doch noch nie zusammen getanzt ... "
" Nein , Luise , ich kann mich nicht erinnern ...
Ich habe in meinem Leben niemals getanzt , als junger Mensch nicht , nicht als Soldat , und seitdem auch nicht ...
Immer nur im Strang gezogen ...
Ich muß wohl zu plump sein .
Mein Fuß ist zu schwer und auch gar nicht an den glatten Boden gewöhnt ...
Ist Tanzen wohl schön , sehr schön , Luise ? "
Luise war aufgesprungen .
Rasch , federnd , biegsam ...
Die Arme über dem Kopf verschränkt , stand sie lächelnd vor Ernst .
Er schaute träumend auf das junge Weib , das Strafe und leicht aufgereckt , die runden Hüften wiegte .
Ein neuer , nie gekannter Reiz webte um Luise .
In den Gliedern spielte schmeichelnde Kraft .
Die Freude rieselte über das halb verdunkelte Antlitz .
Erinnerung der Jugend , mädchenhafter Wunsch streckten schamhaft die Hände nach ihm aus .
" Wollen wir versuchen , Ernst ?
... Es ist leicht , ein Kinderspiel , das Tanzen ... "
Ernst erhob sich jäh .
Die strengen Züge waren weich und locker , und die tiefen Falten der Nasenwurzel glatt und spurlos verschwunden .
Seine Arme schlangen sich um Luisens Leib , die neckisch rückwärts schritt und langsam zu walzen begann .
Weiß und groß fiel der Mond durchs Fenster .
Er legte eine breite Silberbahn quer über das Zimmer und auf diesem kostbaren Teppich drehte sich das Paar .
Eng umschlungen glitten sie rechts und links aus der lichten Bahn , und kehrten doch immer wieder auf den silbernen Plan zurück .
Luise hatte die Augen geschlossen ; um den vollen Mund lag glückseliges Lächeln .
Ernst schaute mit großen , weiten Augen an Luisens Ohr vorbei .
Sie schwebten weich , hingegeben , eins im anderen versunken , durch das Zimmer , hinauf , hinab , und das Mondlicht plätscherte melodisch auf die Diele ...
Die große Wolke Ernst dachte an diesen Tanz im mondbeglänzten Zimmer froh und leichtblütig .
Es war doch herrlich gewesen , ganz unbeschwert , gewichtlos , über sich hinaus gehoben .
Luise war aufgeblüht wie eine Blume am Morgen .
Ihre Bewegungen waren gelöster , die Augen glänzender , durch die Stimme brach ein Glanz von Freude und Lust am Leben .
Und er ?
.. .
Die harten Knoten , von den Jahren geknüpft , gingen langsam , sehr langsam auf , einer um den anderen .
Ernst hielt den Kopf hoch , Blick und Ausdruck wurden freier , und ein Schimmer von Blut trat in die Wangen .
Das verkrochene Leben kam ins Licht .
Er blieb mehr um Luise , plauderte von Vergangenheit und Zukunft , und hörte leidlich aufmerksam zu , wenn Luise von den bescheidenen Freuden ihres Tages sprach .
Die schönen Sommertage fanden sie mit dem Kind draußen .
Die Hängematte flog zwischen Bäumen , Sonnenflecken hüpften auf Kleid und Gesicht , und der Wind wehte Luisens braunes Haar in die hellen , silberweißen Strähnen " Fröschlese " .
Das Kind haschte nach Sonnenschein , Jauchzen entquoll dem jungen Blut .
Sie beugten sich lächelnd auf die unschuldig reine Lust , und ihre Hände fanden sich ...
Die Schüsse von Sarajevo peitschten in diese friedliche Wendezeit .
Der Hall schwoll tosend durch die Welt .
Ernst hörte das drohende Anschwellen , hörte die unterirdisch grollende Zeit , die sich klirrend panzerte , und glaubte doch so wenig , wie alle Menschen , an Krieg ...
Aufregende Tage für die Zeitung ...
Das einleitende Spiel der Diplomatie hielt Nerven und Atem in Spannung .
Auf den Tischen häuften sich die Meldungen , die Fernsprecher rasselten dauernd , die Luft surrte und summte von Gerüchten und Hoffnungen , von Wünschen und Befürchtungen .
Wie ein Mückenschwarm tanzten sie durcheinander , ballten sich zu Klumpen und trieben ihr tolles Spiel im Flirren dieser schwülen Julitage .
Am Dienstag war eine Versammlung der Partei im größten Rahmen gewesen .
Tausende hatten leidenschaftlich für den Frieden und gegen den Krieg die Stimme erhoben .
Ernst , Schriftführer der Versammlung , sah viertausend Hände sich in die Luft strecken .
Ein mächtiger Wall gegen den Krieg schien getürmt .
Die leidenschaftliche Erregung des Abends zitterte am anderen Morgen noch in ihm nach .
Am Freitag abend rannten die ersten Soldaten in Feldgrau durch die Vorstadt .
Sie holten Reservisten , die am ersten Tag einrücken .
Die sonst stillen Straßen und Plätze warfen haushohe Wogen .
Gruppen standen zusammen , wild fuchtelnde Arme stießen in das milde Dämmergrau , die Männer sprachen rauh und herrisch , die Frauen schauten besorgt zum Himmel , Kinderschwärme hingen sich jedem Soldaten an , der im grauen Rock über die Straße schoß .
Aufbruch , Wetterleuchten , dröhnendes Pochen des ungeheuren Schicksals , das vor der Tür stand ... Samstag mittag ging Ernst gleich wieder fort .
Erregt , zerwühlt , wild von Hoffnung zu Bestürzung pendelnd , zum Platzen mit Wut gefüllt .
Kreischen und Schleifen aus der langgestreckten Fabrik ...
Durch ein Fenster fiel sein Blick auf Haufen geschichteter Säbel und Seitengewehre .
Drei Männer in blauen Arbeitskitteln , die Schutzbrille vorgebunden , hielten den kalt glitzernden Stahl an die Schmirgelscheibe , daß kleine , rotglühende Sonnen absprangen ...
Ein grausam scharfer , gellender Klang sprang Ernst ins Gesicht ... Betäubt , wie vor die Stirn geschlagen , starrte er auf die rasend schwingenden Scheiben .
Einmal auf und einmal ab , der Arbeiter zog das Eisen über den Daumennagel und legte bedächtig das scharfe Eisen beiseite ... Höhnisch blitzten die Klingen her .
Ernst preßte die Hand auf den Mund .
Schreien hätte er mögen , wild schreien :
" Hört auf , hört doch auf !
... Seht ihr denn nicht , wie das Blut von euren Scheiben tropft ... Blut , warmes Menschenblut ... Schlagt das Mordzeug in Trümmer , in Trümmer ... "
Es stürmte orkanhaft im Gehirn .
Krieg !
Krieg !
... Kein Zweifel mehr .
Keine Hoffnung mehr ...
Er kam , er war schon da .
Sie schliffen ihm das Schwert ...
Wie in höchster Erregung alles Blut zum Herzen drängt , waren alle Menschen in die Mitte der Stadt geströmt .
Welle klatschte auf Welle heran , ein Meer von Köpfen und Beinen wogte durch die Straßen , brausend und schäumend , den Gischt bis an den Himmel spritzend , der unbarmherzig blau durch die Dächer strahlte .
Blau und kühl , glänzend wie Stahl , der gehärtet wird ...
Der lange , schmale Ausschnitt einem ungeheuren Schwert gleich , das furchtbar drohend über dem Lande hing .
Heiß , erstickend heiß die Luft ...
Ein Feuerofen der Raum zwischen den Häusern .
Brodelnd kochte der Aufruhr von Stimmen und Gebärden .
Die Massen zischten dampfend ineinander .
Es wallte und strudelte rings und riß alle Sinne in den Riesenkessel von Wunsch , Wahn und Wut ...
Ernst hatte sich ins Automatenlokal geflüchtet .
Zum Greifen dicht brandete die Flut der Leiber vorbei ; nur die Tür aus geschliffenem Glas schied ihn von der Flut .
Was hatte den Platz so verwandelt ?
Auch sonst belebt , ein Puls der Stadt , trieb er den Menschenstrom kräftig hin und her und leitete ihn zu den vergessensten Winkeln .
Aber doch ruhig und maßvoll bei aller Kraft .
Heute zuckte und bäumte er sich fieberisch auf , preßte Menschenhaufen heiß und stürmend durch die steinernen Adern und klopfte wildesten Takt ...
Eine Hand griff Ernst Löhner hart an die Schulter .
Stahl , der Bildhauer ...
Sie kannten sich nur flüchtig , hatten noch kein Dutzend Worte gewechselt .
Jetzt fanden sich die Hände von selbst .
" Sie müssen auch mit ? ...
Am fünften Tag schon ?
... Ich erst am sechzehnten ...
Sind Sie nicht verheiratet ?
... "
Stahl holte die Brieftasche vor .
Ein rascher , beinahe zittriger Griff , Ernst spürte ein Papier in der Hand .
Stahl tauchte bereits in der gestauten Menge unter , nur der geschwungene Hut zeigte Ernst , wo er im Gedränge ging ...
Ein Hundertmarkschein !
... Alles Blut schoß zu Kopf .
Wie kam der fast unbekannte Mensch zu diesem Geschenk ?
.. .
Das blaue Papier verschwamm vor den Augen .
Die Welt war behext , verrückt , wahnsinnig geworden .
Das jüngste Gericht stand vor der Schwelle ...
Die Massen stockten .
Ein auto saß mitten im Gewühl fest .
Eine Gestalt darin , die ein Blatt hoch in die Luft schwang ...
Das Murmeln und Brausen schwoll dumpf an .
Aus allen Ecken und Winkeln schien es zu kommen .
Der Platz sammelte die Stimmen , und nun ...
" Die Wacht am Rhein " ...
Wir haben Rußland den Krieg erklärt ! ...
Der Blitzstrahl war niedergefahren , die lastende Schwüle der letzten Tage riß mitten entzwei und gab dem Blick fürchterlich freie Ausschau ...
Krieg !
Krieg !
Ernst erhob sich , holte den tiefsten Atem aus der Brust und glitt in den Menschenstrom , der ihn mitspülte und an einer engen Gasse auswarf .
Erregte Traurigkeit klemmte das Gefühl .
Ernst fand sich plötzlich unendlich einsam und verlassen , wie auf eine wüsste Insel ausgesetzt ... Luise !
Das Kind !
... Fünf Tage noch , dann würde der Krieg polternd in sein stilles Haus kommen und ihn fortreißen .
Wild bäumte sich alles in ihm auf .
Sein Gehirn starrte von abwehrenden Gedanken wie eine Lanzengasse ...
Er mußte ins Feld .
Wozu ?
Für wen ?
Wer konnte ihn zwingen , wer ?
...
Der Mensch schrie auf und haderte mit dem Soldaten , der sich leise regte und von Ehre , Vaterland und Ruhm raunte ...
Ehre ?
... Seine Ehre ist es , Mensch zu sein , nicht Menschen umzubringen ... Vaterland ? ...
Er wußte bis zur Stunde nur , daß er arm sei , sein Vaterland ein elendes Loch im stinkenden Hinterhaus .
Solange er fühlte , hatte er nur die Last des Armen , nie die Lust eines Deutschen empfunden , und er sollte diese verfluchte Last nun auch noch mit Zähnen und Nägeln verteidigen ?
... Ruhm ?
... Unsinn , Wahnsinn !
Er wollte doch Eigenes aufbauen , nicht Fremdes zerstören .
Woher also Ruhm ?
So viel , so unendlich viel war noch zu tun ...
Alle Versäumnis gegen Luise , seine lieblosen Härten fielen zentnerschwer aufs Herz ...
Die Zeitung arbeitete unter Hochdruck .
Ernst trat in den Kreis der Kollegen .
" Endlich das Kind ?
... Wann müssen Sie fort ? ...
Der Mobilmachungsbefehl wird wohl noch diese Nacht einlaufen ...
Was habe ich gleich gesagt ?
... Diesmal kommt es zum Krach .
Da hilft alles nichts .
Jetzt haben wir den Weltkrieg ! "
Marxer kraute das wirre Löwenhaupt .
" Eine Hoffnung gibt es noch ...
Unsere Genossen in Frankreich arbeiten bewundernswert gegen die Kriegsmacher ... wenn einer , dann kann Jaures das Schlimmste im letzten Augenblick verhüten ... "
Lebhafter Austausch der Meinungen hackte ein .
Die Hoffnung war ja winzig klein , doch es war immer noch eine Hoffnung .
Neue Meldungen kamen .
Marxer wühlte den Stoß durch , überflog die Blätter mit der Schnelligkeit des erprobten Zeitungsmenschen und beteiligte sich dabei noch lebhaft am Gespräch .
Plötzlich zerriß ihm das Wort im Mund .
Das Blatt in seiner Hand zitterte , krampfhaftes Zucken lief rund um den ergrauenden Bart .
" Alles ist verloren !
... Jaures ermordet !
... Im Café ...
Ein Lumpenhund von Nationalist ... "
Erstarrtes Schweigen ... Gelähmt hingen die Blicke an dem grauen Fetzen mit der Nachricht ... " Jaures ...
Er allein hätte Frankreich vom Krieg abgehalten ...
Das hat die Gesellschaft ganz genau gewußt ...
Jetzt ist es aus damit .
Wir können jeden Augenblick die Nachricht vom Kriegszustand mit Frankreich haben ... "
Eintönig klapperten die Schreibmaschinen , nicht anders als an jedem beliebigen Tag , und doch wurde Weltgeschichte , ungeheuerstes Völkerschicksal auf den Tasten zusammengesucht ... Todmüde verließ Ernst die Redaktion ...
Die Straße tobte um ihn .
Sie brüllte wie ein Tier , abgerissene Fetzen von Worten und Tönen flatterten wirbelnd in der Luft , patriotische Lieder ballten sich aller Ecken und Enden , die Menschen wälzten sich in Strömung und Gegenströmung durch den Abend , immer um die eine unsichtbare Achse , die den Erdball jetzt trug ...
Krieg !
Wieder fühlte sich Ernst in den Strudel gezogen , der alles verschlang , was in seinen Bereich kam , und dieser Bereich war die ganze , weite , sommerlich heiße und schöne Welt ...
Halb bewußtlos trieb Ernst mit Tausenden dahin , war auf einmal in die Vorstadt geschwemmt , wo der Strudel seine letzten Kreise zog , und kam mit wüst verworrenem Kopf heim ...
Luisens Hand bebte leicht , als sie seinen Arm berührte .
Ernst verstand dieses Beben und nickte nur .
Sie schlossen sich still in die Arme und hielten jedes eine Hand " Fröschlese " , der sich zwischen Vater und Mutter drängte und die großen , unwissenden Augen voll aufschlug ...
Die kleine Laube der Wirtschaft war gestopft voll Menschen .
Arbeiter , kleine Beamte , Vorstadtkaufleute ...
Das Gewühl der Stimmen ordnete sich , wenn nur das eine Wort " Krieg " klang .
Es klang die halbe Nacht .
Ungekühlt , heiß brütete diese Nacht auf der Welt , brütete als furchtbar drohendes Schicksal über allen Menschen .
Keiner , den dieses Schicksal nicht anging .
Kräftige , blühende Männer tranken das schwarze , gelblich schäumende Bier , tranken es gierig und wie in der Angst , nicht genug davon zu erhalten .
Es war ein Erraffen gewohnter Genüsse mit beiden Armen , ein Hindrängen zum Leben in diesem Trinken , Rauchen und Reden ...
Ernst saß im Kreis von Altersgenossen .
Ihnen allen war gleiches Schicksal bestimmt .
Wenige nur , die später als am fünften Tag antreten mußten .
Er war lärmend aufgelegt , glühte von den Erregungen des Tages und sprach viel .
" Wir sind überfallen worden ...
Es bleibt uns keine Wahl , so scheußlich ein moderner Krieg auch ist ... Sollen wir vielleicht die Hände ergeben in den Schoß legen und den Herren Russen den Weg nach Berlin zuvorkommend zeigen ?
... Es ist vielleicht gut , daß es so gekommen ist .
Dem verfluchten Zarismus brennt hoffentlich die Suppe recht bald an ... " Jawohl , diesem Gesindel von Kosaken und Tataren würde man auf die Strümpfe helfen ...
Sie sollten merken , daß nach Berlin ein weiter Weg ist ...
Nur die Franzosen hätten klüger sein sollen ... Wären sie lieber mit uns marschiert ... " Weißt , Löhner , mir ist es eigentlich ganz gleich ...
Was hat denn ein Arbeiter zu verlieren ? ...
Aber gegen die Franzosen möchte ich doch nicht gern ziehen ...
Da schieß ich doch noch lieber ein Dutzend Kosaken über den Haufen ... "
Allgemeine Zustimmung , was die Franzosen betraf ...
Keiner hatte viel Lust , gegen sie zu kämpfen ...
Wenn es nun aber nicht anders sein kann ...
" Wie lang kann die Sache schon dauern ?
... Wenn die Wissenschaft recht hat , muß ein moderner Krieg in einigen Monaten aus und gar sein .
Bis Weihnachten sind wir doch wieder zurück , das heißt , wenn wir Glück haben .
Ohne Glück trifft es dich gleich am ersten Tag und du brichst den Finger in der Nase ... "
Die Überzeugung von der kurzen Kriegsdauer war allgemein .
In sechs Wochen glaubten ganz rosenfarbige Gemüter wieder alles im Gleis .
Nichts geht doch über die Hoffnung :
sie nährt sich von jedem Lüftlein und stirbt erst mit dem Leben selbst .
Eben war der Krieg erklärt , und schon wurde von seinem Ende mehr geredet als von seinem Anfang , der jetzt , in dieser heißen , hellen Nacht begann , drüben an der russischen Grenze , im stillen Vogesental , oder droben am Rhein bei Aachen .
Mit dem Zwang zum Krieg wird auch gleich der Wille zum Frieden geboren .
Wie spricht das doch für den Menschen und sein Gefühl !
Sonntag klebten die weißen Aufrufe an Säulen und Hausecken ...
Erster Mobilmachungstag !
... Ernst vertiefte sich in den Inhalt des Befehls .
Also Donnerstag , früh um sieben Uhr , lief seine Stunde ab .
Im Gehen rechnete er die Stunden aus , Maß jeder Stunde ihre Pflichten zu , und gelobte , sich ganz den beiden Menschen hinzugeben , denen er verkettet war .
Stärker und tiefer verkettet , als er lange zugab .
Deutschland Schön , still und wolkenlos zogen die drei Tage fort .
Ernst ordnete , was zu ordnen war , besprach mit Luise die Aussichten und wie sie das Leben einrichten wollte , und erkannte bei diesem Gespräch , daß sie sich innerlich entgegengingen , jetzt , wo sie in wenigen Stunden voneinander scheiden mußten , wer weiß , auf immer ...
Ein feiner Schmerz bohrte in dieser Erkenntnis .
Noch zarter und gütiger zu sein , keinen Schatten auf die letzte Stunde fallen zu lassen , bemühte sich Ernst redlich und mit Erfolg .
Der Morgen kam .
Mit der Sonne war Ernst aufgestanden , die wenigen Bedürfnisse waren gleich besorgt , und jetzt sah er durchs Fenster in den jungen , tauenden Tag .
Ob sie noch schliefen ? ...
Auf den Zehn schlich Ernst in das Zimmer .
Luise hatte das Kind an der Brust .
Sie sah frisch und rosig aus , die langen Wimpern warfen graue Schatten auf die Wangen ...
Jetzt hob sie die Lider .
Ein voller Blick traf Ernst , ein verträumter , abwesender Blick ohne Bewußtsein des Augenblicks , strahlend aus einer schöneren , friedevollen Welt .
Dann kroch langsam Erkenntnis in diesen Blick .
Der Glanz wich und ein Schleier breitete sich über das Auge , daß es sich trüb einzog , wie ein Glas , das man anhaucht .
Gleich war aber der tapfere Ausdruck wieder geholt .
Luise lächelte Ernst an , deutete auf das Kind , das rotwangig an ihrer Seite schlief , und legte die Finger auf den Mund .
Ein weicher , mit halben Lippen hingestreift Kuß , ein fester Händedruck ...
Ernst schritt aus dem Zimmer , ohne sich noch einmal umzusehen ...
Sechshundert Leute standen in Gliedern zu vier bereit .
Koffer und Päcke , Bündel und Taschen vor sich hingestellt , achteten sie kaum auf die Verlesung .
Jeder hatte nur einen Gedanken : einem Truppenteil eingereiht zu werden , der bis zum Ausmarsch in der Stadt blieb .
Auch Ernst zehrte an dieser Hoffnung .
Sofort wieder heimzukommen , wenn das Glück wohlwollte , hatte er Luise versprochen .
Er hatte sogar , den Abschied zu erleichtern , mit ziemlicher Bestimmtheit versichert , daß er gewiß hierbleiben werde .
Die Gruppen sammelten sich .
Bei zweihundert Mann nahmen ihre Sachen zur Hand , ordneten sich militärisch , und hinaus ging der Marsch , durch die Straßen , über eine Brücke und nun die Stadtmauer entlang den Weg zum Bahnhof .
Ernst war bei diesem Zug .
Es war also nichts mit dem Hierbleiben ... Besser vielleicht , viel besser ...
Sonst gab es ein endloses , qualvolles Abschiednehmen ...
Einmal mußte es ja sein , und so war es gut , nicht mehr heimzukommen .
Sie gaben sich ganz als Soldaten , waren ja auch lauter gediente Leute junger Jahrgänge , Reserve und Landwehr ersten Aufgebotes .
Alte , von der Dienstzeit her vertraute Lieder klangen auf , fest und taktmäßig klappte der Massenschritt auf das Pflaster ... " Soldaten seins schön !
Ja , man muß es gestehen ... "
Ernst stimmte wacker ein , schob den Hut unternehmend ins Genick und bewegte die Arme im gewohnten Schwung ...
Er fühlte sich gar nicht mehr als Einzelner .
Sein Körper hielt Takt und Schritt der anderen , war in der Bewegung der Maße aufgesogen , und zu denken gab es gar nichts ...
Ernst war Soldat .
Vor sechs Jahren hatte er den bunten Rock ausgezogen und seitdem nicht mehr an Buchstadt und die zwei Jahre gedacht .
Jetzt stand alles das wieder klar vor seinem Blick , die Ausmärsche zu den Übungen , das Necken und Frozzeln von Glied zu Glied , die Strafe und gerade Haltung , wenn ein Befehl fiel ... diese ganze Zeit starr und ehern geregelter Pflicht .
Durch Menschengitter trabte der Marsch hin .
Hüte und Hände winkten .
Männer , die noch zurückblieben , schauten befriedigt dem Zug nach , Mädchen und Frauen machten ängstliche , verhängte Augen , die Jugend rannte neben den Reihen her und freute sich des gleichmäßigen Schrittes .
Ein Zwölfjähriger schritt neben Ernst , tapfer bemüht , Tritt zu halten .
Das Gesicht war ernst , gespannt und altklug , wie von der gewaltigen Stunde geformt ...
Ein kleines Bauernstädtchen war Standort .
Die engen , verdrückten Gassen hallten Tag und Nacht unter den schweren Stiefeln .
Fahrzeug holperte über das schlechte Pflaster , daß die schlafmützigen Häuser vom Keller bis zum First zitterten .
Vier Tage blieben sie dort .
Einkleiden , Stiefel anpassen , Gewehr und Munition von der Kammer schaffen füllten die Zeit aus .
Ernst hatte noch leise Hoffnung auf die ärztliche Musterung .
Vielleicht blieb er doch daheim .
Als der Bescheid " Tauglich " gefallen war , kehrte Ernst den Sinn entschieden ab von Heim und Haus .
Das fiel nicht schwer .
Zweitausend Männer mußten abrechnen , wenn sie es konnten , er konnte es auch ...
Die schönen , warmen Tage und Abende riefen zwar die Erinnerung an alles wach , was zu verlassen man auf dem Sprung stand .
Sommerliche Zeit ist friedevoll , Zeit stillen Reifens , und regt nicht zu Kampflust an .
Ernst gab sich auf , dachte nicht mehr zurück und sperrte entschlossen alle Türen ab , die in Vergangenes führten .
Eine Karte an Luise hatte kurz angezeigt , wo er war und daß es gut ging .
Sonst nichts ...
Unter den anderen sitzend , trank er viel Bier , sang sich die Kehle heiser , ganz gleich , ob die " Arbeitermarseillaise " oder " Deutschland über alles ... " , und schlief prächtig unter dem Katheder des Schulhauses auf einer schmalen Strohschicht ...
Was wollte er auch anders ?
... Jedes persönliche Streben war abgeschnitten .
Mit Millionen stand er unter gleichem Stern und Schicksal .
Ihre Gedanken waren seine Gedanken , ihr Ziel war sein Ziel .
Hinaus an die bedrohten Grenzen und zeigen , daß Mannheit auszuhalten , wenn es Not tut , zu sterben weiß .
Kein anderer Sinn , kein anderer Zweck ...
Schnurgerade Weg und Richtung , deutlich das Ziel , ungewiß nur alles Persönliche .
Dienstag , den 11. August 1914 , verließ die Truppe Sulzbach .
Ernst spitzte auf einen Platz vorn im Wagen , wo die offene Schiebetür freien Ausblick gab .
Fünfundvierzig Mann auf jeden Wagen , übermäßig breit kann sich da der einzelne nicht machen ...
Der Zug stampfte westwärts , der Vaterstadt zu .
Weit dehnten sich die Gefilde ; das frische , satte Grün blitzte im Morgentau ... Sie sangen .
Die Töne kämpften sich durch den dicken Tabaksqualm .
In Schwaden zieht er ins Freie und trägt die Lieder über schweigendes Land .
Nur da und dort ein Bauer auf dem Feld , sonst ist die Natur einsam und ungestört ...
Die Stadt !
Eine halbe Stunde Aufenthalt ...
Der Bahnhof im Nun von feldgrauen Gestalten überschwemmt , die den netten Schwestern vom " Roten Kreuz " ihre Gaben gern abnahmen :
Wurst und Käse , Tabak und Schokolade ...
Weiter !
.. .
Der Zug zieht fauchend an .
Aus allen Fenstern Köpfe und Arme , Winken von Händen , Wimpel von Fahnen und Tüchern , lautes , jubelndes Grüßen und Rufen ...
Die Türme weichen wie weggerückt aus den Augen , jetzt eine Biegung ... der Zug fährt zwischen dunklen , dürftigen Föhren .
Versunken ist die Stadt ...
Die Hand vor den Augen , spähte Ernst scharf nach Westen .
Der Himmel reckte sich dunstig auf , flimmernd vor Glut , doch klar bis auf ein Wölkchen .
Das stand tief im Westen .
Nur ein Ende ragte über den Horizont .
Fiel die Sonne darauf , so blitzte es her , drohend und funkelnd wie eine Lanzenspitze ...
Am späten Abend fuhr Ernst dem Rhein entgegen .
Um die gleiche Stunde trat Luise , das Kind auf dem Arm , ans Fenster .
Der Himmel war eingezogen .
Eine riesige , schwarzgraue Wolke wälzte sich ungeheuer nach Westen .
Die tiefsten Gründe der Nacht zuckten manchmal fahl auf .
Luise preßte das Kind an sich und legte die Hand schützend auf den jungen Scheitel ...

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TextGrid Repository (2025). Bröger, Karl. Der Held im Schatten. Bildungsromankorpus. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0kb.0