Es war im September , der stillsten Zeit des Pariser Lebens .
Die vornehme Welt steckte in den Seebädern , die Fremden wurden scharenweise von der drückenden Hitze vertrieben .
Trotzdem drängte sich an den schwülen Abenden auf den Boulevards eine so vielköpfige Menge , daß sie der Hochsaison jeder anderen Stadt immer noch genügt hätte .
Max Werner flanierte nach Mitternacht über den Boulevard St. Michel , als er in eine kleine Gesellschaft ihm bekannter Familien hineingeriet .
Sie hatten mit durchreisenden Freunden ein Theater besucht , und wollten nun diesen Herren und Damen ein wenig " Paris bei Nacht " zeigen , -- nämlich erst in einem charakteristischen Nachtcafé des Quartier Latin einkehren , und dann , im Morgengrauen , um die Stunde , wo die Stadt schläft , den interessanten Trubel bei den Hallen betrachten , wenn der verödete Platz sich mit den Marktleuten belebt , die ihre Waren vom Lande einfahren und sie ausbreiten .
Nach einigem Zögern und Schwanken von Seiten der Damen entschied man sich für das Café Darcourt , das um diese Stunde schon überfüllt war mit den Grisetten und Studenten des Quartiers , und besetzte ein paar der kleinen Marmortische draußen , die auf dem Trottoir , mitten unter den Passanten , an den weitgeöffneten , hellerleuchteten Fenstern entlang standen .
Max Werner kam neben eine junge Russin zu sitzen , die er zum erstenmal sah , -- ihren langklingenden Namen überhörte er bei der Vorstellung , doch wurde sie von den anderen einfach als " Fenia " oder " Fenitschka " angeredet .
In ihrem schwarzen nonnenhaften Kleidchen , das fast drollig unpariserisch ihre mittelgroße ganz unauffällige Gestalt umschloß , und eine beliebte Tracht vieler Züricher Studentinnen sein sollte , machte sie zunächst auf ihn keinerlei besonderen Eindruck .
Er musterte sie nur näher , weil ihn im Grunde alle Frauen ein wenig interessierten , wenn nicht den Mann , dann mindestens den Menschen in ihm , der seit einem Jahre doktoriert hatte , und nun ein brennendes Verlangen besaß , in der Welt der Wirklichkeit praktisch Psychologie zu lernen , ehe er von einem Katheder herab welche las : was ihm einstweilen noch keine begehrenswerte Zukunft schien .
An Fenia fielen ihm nur die intelligenten braunen Augen auf , die jeden Gegenstand eigentümlich seelen-offen und klar -- und jeden Menschen wie einen Gegenstand -- anschauten , sowie der slawische Schnitt des Gesichtes mit der kurzen Nase : einer von Max Werners Lieblingsnasen , die da vernünftigen Platz zum Kusse lassen , -- was eine Nase doch gewiß tun soll .
Aber dieses geradezu blaß gearbeitete , von Geistesanstrengungen zeugende Gesicht forderte so gar nicht zum Küssen auf .
Anfangs sprachen sie kaum miteinander , denn im Inneren des Lokals , neben demselben Fenster , an dessen Außenseite sie saßen , spielte sich eine erregte Szene ab , die aller Aufmerksamkeit auf sich zog .
Dort befanden sich zwei Pärchen am Tisch , die ihre Unterhaltung mit Scherzreden und Neckereien begannen , und damit endeten , sich fürchterlich zu zanken .
Das eine der beiden Mädchen -- wenig schön und am Verblühen , aber trotzdem ein unverwüstlich graziöses Pariser Köpfchen -- wurde schließlich vom Gegenpaar mit einer Flut häßlicher Schmähreden überschüttet , ohne daß ihr eigener Begleiter ihr auch nur im mindesten beigestanden hätte .
Vielmehr stimmte er bei jedem erneuten Angriff johlend in das brutale Gelächter der beiden anderen ein , das sich bald auch auf die benachbarten Tische fortpflanzte , wo neben den erhitzten halbbezechten Männern die geputzten Genossinnen des mißhandelten Geschöpfs mit lärmender Schadenfreude ihre Konkurrentin niederjubelten .
Durch die schwere , dumpfe , vom Tabaksrauch und vom Dunst der Menschen , Gasflammen und Getränke erfüllte Luft des Lokals schallten die rohen Stimmen laut bis zu dem Tisch draußen hinüber , an dem es ganz still geworden war .
Auf den Gesichtern der Damen prägten sich deutlich Mitleid , Ekel , Entrüstung und eine gewisse Verlegenheit darüber aus , einer solchen Situation beizuwohnen ; eine von ihnen knüpfte furchtsam ihren Schleier fester .
Niemand aber war so benommen von dem , was er sah , wie Fenia .
Sie hatte von allem Anfang an mit sachlichem Interesse um sich geblickt , jede Einzelheit , die ihr auf fiel , mit großer Unbefangenheit beobachtet .
Jetzt aber wurde sie ganz sichtlich von einer so intensiven Anteilnahme erfüllt , daß sie zuletzt , -- offenbar ganz unwillkürlich , wie außer stande länger passiv zu verharren , -- sich langsam erhob und die eine Hand gegen die Lärmenden ausstreckte , als müsse sie eingreifen oder Halt gebieten .
Im selben Augenblick wurde sie sich ihrer spontanen Bewegung bewußt , hielt sich zurück , und errötete stark , wodurch sie plötzlich ganz lieb und kindlich , und ein wenig hilflos aussah .
Während sie aber so dastand , traf ihr Blick den der Grisette , die in ihrer Ratlosigkeit und Verlassenheit angefangen hatte zu weinen , so daß große Tränen ihr über die heißen geschminkten Wangen rollten , und ihre Lippen sich konvulsivisch verzogen .
Unter dem langen , eigentümlichen Blick , den sie mit Fenia austauschte , veränderte sich der Ausdruck des weinenden Gesichts ; von Fenias Augen schien eine Hilfe , eine Liebkosung , eine Aufrichtung auszugehen , etwas , was die Einsamkeit dieses getretenen Geschöpfes aufhob .
Man konnte vom Tisch aus deutlich den Stimmungswechsel auf ihren Zügen verfolgen , denn sie saß fast gerade gegenüber am Fenster .
Ein Danken , Staunen , Nachsinnen , -- ein momentanes Taubwerden für ihre lärmende Umgebung und deren Schmähreden ließ ihre Tränen versiegen , und sie achtete kaum noch darauf , daß das Paar neben ihr sich erhob , um fortzugehen , und auch ihr Begleiter seinen schäbigen Zylinder vom Wandhaken abhob .
Da stieß er sie brutal mit dem Ellenbogen an und forderte sie auf , sich zu beeilen .
Sie schüttelte den Kopf und erwiderte einige Worte im Pariser Argot , die man draußen nicht deutlich vernehmen konnte , die aber eine äußerst deutliche Gebärde der Geringschätzung und Ablehnung begleitete .
Er machte eine verdutzte Miene und rief dadurch neues Gelächter hervor .
Diesmal jedoch galt es ihm , dem Geprellten , der mit wütendem Gesicht das Lokal verließ .
Das Mädchen nahm ihr fadenscheiniges Seidenmäntelchen von der Stuhllehne , hing es um , und schaute dabei mit einem stolzen und leuchtenden Blick zu Fenia hinüber , die unbeweglich stehen geblieben war , -- eine ganz wunderlich ernste , ergriffene Gestalt inmitten der verschleierten Damen und der buntgekleideten , lachenden Dämchen um uns her .
Gleich darauf sah man ihren Schützling aus der Tür treten und am Tisch vorüberkommen .
Aber da geschah etwas allen ganz Unerwartetes : denn neben Fenia blieb das Mädel stehen , öffnete die Lippen , wie um sie anzusprechen , und plötzlich , mit einer impulsiven Bewegung , deren Natürlichkeit eine mit sich fortreißende Anmut besaß , streckte sie Fenia beide Hände entgegen .
Diese ergriff die dargebotenen Hände und schüttelte sie mit herzhaftem Druck .
Einige Augenblicke lang standen sie da und lächelten einander an wie Schwestern , während alle verblüfft , interessiert , amüsiert um die beiden herum saßen .
Dann entfernte sich das Mädchen mit einer Kopfneigung gegen die anderen und verschwand im vorüberhastenden Menschenstrom .
Man lachte über das kleine Drama , man scherzte über Fenias " Erfolg " und neckte sie nicht wenig .
Sie selbst war sehr einsilbig geworden .
Eine der Damen mißverstand ihren ernsthaften Gesichtsausdruck und bemerkte : " Ja , Chrie , eine ziemlich unerbetene und unbequeme Freundschaft !
Sie könnte Ihnen eines schönen Tages recht peinlich werden , wenn dies Wesen Sie irgendwo auf der Straße wiederfindet und Sie auf das intimste begrüßt , -- zur Überraschung derer , die vielleicht mit Ihnen gehen . "
" Das brauchen Sie nicht zu fürchten , " widersprach Max Werner rasch , " ich wette darauf , daß dieses Mädchen ohne merkbaren Gruß an Ihnen vorübergehen wird , falls es Ihnen je begegnet .
Anderswo würden Sie vielleicht von ihrer Dankbarkeit verfolgt werden , -- die Französin würde es für eine schlechte Dankbarkeit halten , Sie eventuell dadurch zu kompromittieren .
Das ist der französische Takt , -- der Takt einer alten Kultur , die allmählich bis in alle Schichten eines Volkes durchdringt und ihm seine fast instinktive Intelligenz gibt . "
" Ich würde sie aber gern wiedersehen ! " sagte Fenia leise .
" Um was zu tun ? "
" Ich weiß es nicht .
Aber was mich vorhin so entsetzte , das war das Gefühl , als ob diese Mädchen gleichmäßig sowohl von den Männern wie von den Genossinnen preisgegeben würden , -- als ob sie geradezu wie in Feindesland lebten .
-- Ich habe noch nie so viel höhnische Verachtung gesehen , wie in den Mienen der Männer , -- so viel höhnische Schadenfreude wie in den Blicken der anderen Mädchen .
-- Und das ist hier im Lokal , wo sie sozusagen bei sich ist , unter den Ihrigen .
-- Außer halb nun erst ! --
O ich denke mir , ein solches armes Ding muß nach einer freundlichen , einfach menschlichen Berührung lechzen . "
" Das ist richtig .
Manchmal sind sie sehr dankbar dafür .
Ich habe es mitunter auch schon bestätigt gefunden . "
" Sie ? "
Fenia heftete voll Interesse ihre hellbraunen Augen auf ihn .
Sie war ganz und gar bei der Sache .
" Warum nicht ich ? "
" Weil ich mir vorstelle , daß solche Mädchen einem jeden Mann mit Mißtrauen begegnen , -- müssen sie nicht annehmen , er wolle von ihnen etwas ganz anderes als ihr Vertrauen ? "
" Donnerwetter ! " dachte er und sah sich Fenia genauer an .
Dieser Grad von Unbefangenheit , womit sie über so heikle Dinge mit einem ihr ganz fremden Manne sprach , hier , in Paris , in der Nacht , in diesem Café , -- und dabei ein Ausdruck in ihren Mienen , als unterhielten sie sich über fremdländische Käfer .
Waren Grisetten , junge Männer , Nachtcafés und Liebesabenteuer ihr wirklich dermaßen fremdländische Käfer ?
" Diese Annahme würde ihr Vertrauen dem Manne gegenüber vermutlich gar nicht beeinträchtigen , " entgegnete er inzwischen Fenia auf ihre Frage , " denn daß er neben seiner menschlichen Anteilnahme vielleicht auch von ihnen als -- als Frauen etwas empfangen will , das halten sie für ganz natürlich .
Das Gegenteil würde wohl gar ihre Eitelkeit kränken und keinesfalls ihr Selbstbewußtsein heben . "
Er blickte bei seinen Worten um sich , ob der kleinen Gesellschaft , die längst zu anderen Gesprächsstoffen übergegangen war , die Unterhaltung vernehmbar sei , und beugte sich näher zu Fenia , um mit gedämpfterer Stimme fortfahren zu können .
" Es ist auch gar nicht so verwunderlich , wie es Ihnen vielleicht scheint , " bemerkte er , " denn Sie dürfen nicht vergessen , daß es sich dabei nur um eine diesen Wesen ganz geläufige Verkehrsform handelt , -- um eine so gewohnte und geläufige , daß sie in ihr unwillkürlich alles und jedes zum Ausdruck bringen , auch Seelenregungen der Freundschaft , Dankbarkeit oder Sympathie , die in die sinnliche Äußerungsform nicht genau hineinpassen .
Es ist eben ihre Art von Sprache geworden . "
Auch die vertrauliche Nähe , in der er das zu Fenia sagte , und sie gleichsam mit sich isolierte , störte sie augenscheinlich nicht ; sie senkte den Kopf und schien nachzudenken .
Nach einer kurzen Pause fragte sie lebhaft :
" Sie meinen also , auch diese Mädchen hegen oft rein kameradschaftliche Gesinnungen Männern gegenüber und äußeren sie nur -- nur -- sozusagen nur falsch ?
Das kann ich mir schwer vorstellen .
Denn wenn es auch die ihnen gewohnteste Sprache ist , worin sie alles und jedes ausdrücken , -- alle Menschen haben doch verschiedene Bezeichnungen für total verschiedene Dinge . "
" Glauben Sie ?
Ich meinerseits glaube viel eher , daß auch in unseren Ständen sich eine ganz ähnliche Beobachtung machen läßt .
Unsere Mädchen und Frauen werden so daran gewöhnt , mit den Männern ihrer Um Gebung eine rein konventionelle , ganz unsinnliche Verkehrsform zu üben , daß sie in dieser Sprache auch das noch ausdrücken , was ganz und gar nicht so abstrakt gemeint ist .
Wie manches Mädchen meint mit einem Mann nichts als Geistesinteressen und Seelenfreundschaft zu teilen , während sie , -- oft unbewußt , -- nichts anderes begehrt als seine Liebe , seinen Besitz .
-- Für eine kleine Grisette ist die menschliche Anteilnahme eines Mannes das bei weitem seltenere , gewissermaßen ausgeschlossene , -- für die Dame unserer Gesellschaft ist es die rücksichtslose Auslebung des Weibes . "
Kaum hatte er diese Tirade vorgebracht , als unglücklicherweise die Gesellschaft aufbrach .
Mitten im Stühlerücken und Durcheinanderreden faßte eine von den Damen Fenia unter den Arm und schnitt ihm ihre Antwort ab .
Es kam nicht mehr über ein höchst uninteressantes Geschwätz aller mit allen hinaus .
Dennoch flanierte er neben ihnen her durch die nächtlichen Straßen , machte im " Chien qui fume " das unvermeidliche Nachtessen von Zwiebelsuppe und Austern mit , und beschaute sich mit den anderen in der Frühdämmerung durch die breiten Spiegelfenster des Restaurants das großartig malerische Bild der Wareneinfuhr in die Hallen .
Dabei erfuhr er von einem russischen Journalisten , der Fenias Eltern gekannt hatte , wenigstens etwas vom äußeren Umriß ihres Lebens .
Von Geburt war sie Moskowitin , begleitete aber schon früh ihren erkrankten Vater , einen ehemaligen Militärarzt , nach Süddeutschland und der Schweiz , wo sie ihre Universitätsstudien begann , -- und nach seinem Tode mit Hilfe von mühsamem Nebenerwerb , Stundengeben und Übersetzungen aller Art hartnäckig fortsetzte .
In Zürich schien sie mit lauter ihr befreundeten Männern zusammen zu studieren , -- einer von ihnen hatte sie in den Herbstferien auch hierher , nach Paris , begleitet , war dann aber nach Rußland abgereist .
Kam daher dieser merkwürdig schwesterliche , geschlechtslose Anstrich , den sie sich gab , als gäbe es für sie auf der Welt nur lauter Brüder ?
Oder war es nicht viel wahrscheinlicher , daß dies unendlich unbefangene Betragen nur den äußeren Deckmantel abgab für ein ganz freies Leben ?
Sie mußte doch schon recht viel von der Welt und den Menschen kennen , -- mehr als eines der wohlbehüteten jungen Mädchen unserer Kreise .
Immer wieder schweiften seine Augen und seine Gedanken zu ihr hinüber , von der er argwöhnte , sie halte sich eine höchst kluge und gelungene Maske vor .
Steckte nicht hinter diesem Nonnenkleidchen , das unter den anderen Toiletten fast auffiel , etwas recht Leichtgeschürztes , -- hinter diesem offenen , durchgeistigten Gesicht nicht etwas Sinnenheißes , worüber sich nur ein Tölpel täuschen ließ ? --
Spielte nur seine eigene Phantasie ihm einen Streiche , oder erinnerte Fenia nicht an die Magerkeit , Geistigkeit und stilisierte Einfachheit einer modern präraphaelitischen Gestalt , die so keusch ausschauen will , und doch geheimnisvoll umblüht wird von verräterisch farbenheißen , seltsam berauschenden Blumen -- -- ?
Jedenfalls ging etwas Aufregendes von Fenia über ihn aus und reizte ihn stark , trotz der Abneigung , die ihm damals jede studierende oder gelehrte Frau einzuflößen pflegte .
Ja , er nahm es fast als Beweis , daß Fenia nur zum Schein eine solche sei -- .
Beim Verlassen des Restaurants wurde noch der Vorschlag laut , die lange Nachtschwärmerei mit einer Fahrt ins Bois de Boulogne abzuschließen , aber ein vielstimmiges Gähnen protestierte dagegen .
Übrigens ließ sich auch an keiner Straßenecke ein Fiaker blicken .
Endlich entschloß man sich , zu Fuß den Heimweg anzutreten , jeder Herr begleitete eine der Damen nach Hause , und Max Werner gelang es , Fenia auf seinen Anteil zu bekommen .
Schon drang die Sonne durch den Morgennebel und übergoß Paris mit jenem köstlichen Frührotschein , den die feuchte Luft über den Ufern der Seine erzeugt .
" Das ist ganz herrlich ! " rief Fenia und blieb mitten auf der Straße stehen , setzte aber sogleich sehr prosaisch hinzu :
" Wenn ich jetzt eine Tasse starken Kaffee bekommen könnte !
Dann brauchte ich mich zu Hause nicht erst niederzulegen , und der Tag wäre nicht verloren . "
" Sie sehen nicht müde aus , sondern ganz wunderbar klaräugig , " bemerkte er und sah sie an , " es wird Ihnen offenbar leicht , eine Nacht nicht auszuruhen . "
Sie nickte .
" Ich bin_es gewöhnt , " sagte sie , " ich habe vorzugsweise nachts bei den Büchern gesessen .
Wenn es um einen her so still ist -- "
" Das klingt doch wirklich rein wahnsinnig , wenn man ein junges Mädchen so etwas sagen hört , " er Lou Andreas-Salomé , Fenitschka. 2 widerte er fast gereizt , denn es mißfiel ihm heftig , " ich , so wie ich hier stehe , bin eben erst der Bücherstudiererei entlaufen wie dem ärgsten aller Frondienste .
Und Sie -- ein Weib -- spannen sich freiwillig hinein . "
" Warum soll denn das ein Frondienst sein ? " sie blickte erstaunt auf -- " das , was unseren Gesichtskreis erweitert , uns das Leben aufschließt , uns selbständig macht -- ?
Nein , wenn irgend was in der Welt einer Befreiung gleicht , so ist es das Geistesstudium . "
" Sie ist imstande und benutzt diesen Heimweg , -- mitten auf der Straße , im Morgennebel , -- zu einem philosophischen Disput über den Wert des Geistesstudiums für das Leben ! " dachte er fast erbittert , und entgegnete im Brustton seiner festesten Überzeugung : " Aber , mein Fräulein !
da irren Sie sich nun wirklich !
Es ist im Gegenteil das Beschränkendste , Einschränkendste , was es auf der Welt gibt !
Und eigentlich versteht sich das ja von selbst .
Die Wissenschaft führt an der Wirklichkeit des Lebens , mit all seinen Farben , all seiner Fülle , seiner widerspruchsvollen Mannigfaltigkeit , völlig vorbei , -- sie erhascht von alledem nur eine ganz blasse , dünne Silhouette .
Je reiner , je strenger und sicherer ihre Erkenntnismethoden sind , desto bewußter und größer dann auch ihr Verzicht auf das volle , das wirkliche Erfassen selbst des kleinsten Lebensstückchens . -- --
Deshalb ist der Wissenschaftler , der ihr dient , an so viel Selbstkasteiung gebunden , an so viel bloße Schreibtischexistenz und geistige Bleichsucht . "
Während er redete , überlegte er sich zugleich , daß der Weg bis zu Fenias Hotel sehr kurz sei , und machte deshalb auf alle Fälle einen Umweg , obwohl der Himmel sich bezog .
Sie bemerkte auch gar nichts davon , weder von der Himmelstrübung noch vom Umweg .
" Für uns Frauen , -- für uns , die wir erst seit so kurzem studieren dürfen , ist es durchaus nicht so , wie Sie da sagen , " widersprach sie , ganz eingenommen von ihrer Sache ; " für uns bedeutet es keine Askese und keine Schreibtischexistenz .
Wie sollte das auch möglich sein !
Wir treten ja damit nun gerade mitten in den Kampf hinein , -- um unsere Freiheit , um unsere Rechte , -- mitten hinein in das Leben !
Wer von uns sich dem Studium hingibt , tut es nicht nur mit dem Kopf , mit der Intelligenz , sondern mit dem ganzen Willen , dem ganzen Menschen !
Er erobert nicht nur Wissen , sondern ein Stück Leben voll von Gemütsbewegungen .
Was Sie von der Wissenschaft sagen , klingt so , als sei sie nur noch die geeignetste Beschäftigung für Greise , für abgelebte Menschen .
Aber vielleicht seid nur ihr greisenhaft .
Bei uns begeistert sie die Starken , die Jungen , die Frischen ! "
" Ja , wissen Sie denn , was das beweisen würde , wenn es wirklich so ist ? " fragte er ärgerlich , und studierte dabei mit verliebtem Wohlgefallen den Ansatz des braunen Haares an ihren Schläfen , der eine reizende kleine Linie bildete ; " es beweist einfach , daß Ihr Geschlecht zurück ist , daß es da lebt , wo wir vor Jahrhunderten standen .
Etwa da , wo wir für jede wissenschaftliche Erkenntnis auf den Scheiterhaufen gerieten , oder mindestens in öffentlichen Verruf .
Damals hatte allerdings das Leben für die Wissenschaft noch etwas ver dammt Charakterstählendes und zog die ganze Existenz eines Menschen in die abstraktesten Erkenntnisfragen hinein .
Aber solange das so ist , ist auch die feinste geistige Kultur noch nicht möglich , -- die Kultur von heute , die über den Dingen schwebt , -- und von der die Frauen nichts wissen , wenn sie studieren . "
" Aber wenn sie nicht studieren ? " fragte sie spottend .
" Jawohl .
Dann bekommen sie durch den Mann eine Ahnung davon . "
" Bitte , -- wo sind wir ? " unterbrach mich Fenia , und blieb stehen .
" Werden Sie nicht böse !
Im Eifer des Gefechts sind wir von der kürzesten Heimwegslinie abgewichen . -- --
Aber ich wußte wohl : hier muß schon ein kleines Lokal offen sein , wo Sie Kaffee bekommen können , " fügte er schnell hinzu und führte sie ein paar Schritt weiter , -- " ich konnte nicht vergessen , daß Sie so schmerzlich nach Kaffee verlangten . "
Das kleine Café , vor dem sie standen , wurde allerdings gerade geöffnet .
Aber auf so frühe Besucher war es noch keineswegs eingerichtet .
Der Besen , der drinnen über die Dielen fuhr , fegte ihnen mächtige Staubwolken entgegen , und die Stühle standen noch friedlich auf die Tische gestülpt da , wie während der Nachtzeit .
" Ich glaube , es ist noch weit nach meinem Hotel , " meinte Fenia bedenklich , -- " ist nicht jetzt ein Fiaker -- "
" Nach Ihrem Hotel ist es freilich ein wenig weit , " fiel er ihr schnell in die Rede , " aber wenn Sie -- -- -- , ich kann es gar nicht ertragen , daß Sie um den ersehnten Kaffee kommen .
Sie müssen jetzt ja noch viel durstiger sein .
Ich weiß einen Ort , wo Sie selbst um diese frühe Stunde ganz vorzüglichen bekommen . "
" Wo denn ?
Ganz nah ? "
" Ganz nah .
Keine zehn Häuser weit .
Denn wir sind hier zwar etwas entfernt von Ihrem Hotel , aber desto näher bei dem meinen .
Und meine Hotelwirte sind auf die merkwürdigsten Kaffeestunden eingerichtet .
Gehen wir hin .
Ich lasse dann von dort einen Fiaker besorgen . "
" Bei mir wird , glaube ich , der Speisesaal nicht so früh aufgemacht , " meinte Fenia etwas verwundert , " aber wenn es so ist -- gehen wir meinetwegen . "
Ihre einfache Bereitwilligkeit irritierte ihn beinahe .
Die mit ihr durchwachte Nacht hatte seine verliebte Neugier bis zu nervöser Erregung aufgereizt .
Wie , wenn er sie gar nicht in den allgemeinen Speisesaal führte ? konnte sie denn das wissen ?
Höchst wahrscheinlich war dieser wirklich noch nicht auf .
Aber seine eigenen Zimmer lagen daneben .
Eine Art von stiller Wut kam in ihn , seine Unklarheit über dieses Mädchen quälte ihn .
War es wohl möglich , daß sie einem wildfremden jungen Menschen so weit entgegenkam , sich ihm so arglos anvertraute , wenn das alles nicht bloßes Raffinement war ?
Lachte sie etwa im stillen über ihn ?
Oder von welchem fernen Stern war sie auf das Pariser Pflaster gefallen ?
Ach , er war noch sehr jung damals !
Die Weiber taxierte er ganz besonders deshalb noch ziemlich falsch , weil er Angst hatte , für einen leichtgläubigen Dummkopf gehalten zu werden .
Und was die studierenden Frauen anbetraf , gegen die er eine solche Abneigung besaß , so mußte er sich gestehen , daß er sie eigentlich noch nicht kannte , denn die Frauen seiner intimeren Bekanntschaft gehörten ganz und gar nicht zu dieser Rasse .
Er führte Fenia in das Hotel Garne , wo er wohnte , ließ sie einige Stufen hinaufsteigen und öffnete im breiten Korridor die Tür zu einem Zimmer neben dem Speisesaal .
Es war nicht sein Zimmer , sondern eine momentan unbesetzte große , helle Hinterstube mit Saloneinrichtung , die er zu benutzen pflegte , wenn bei ihm aufgeräumt wurde .
Als sie eintraten , kratzte jedoch nebenan sein kleiner weißer Spitz , den er einer alten Straßenverkäuferin abgehandelt hatte , aufgeregt über die lang erwartete Rückkunft seines Herrn , unter leisem Gewinsel an der Tür .
Max Werner ließ ihn herein , und er schoß unter freudigstem Wedeln und Bellen auf Fenia und ihn zu , als gehörten sie zusammen .
Fenia war zaudernd stehen geblieben , nicht recht begreifend , wo sie sich hier befand .
Sie bückte sich unwillkürlich zu dem Hund nieder , der sich indessen zwischen ihnen hingesetzt hatte und sie befriedigt ansah , richtete sich aber ebenso rasch wieder auf und wollte etwas sagen , als ihr Blick Max Werners Gesicht traf .
Er hatte sie ohne irgend eine klare Absicht hier hereingeführt .
Wie sie jedoch nun wirklich dastand , in diesem Zimmer , in dieser völligen Abgeschlossenheit mit ihm allein , in diesem schlafenden Hotel , auf dessen Gängen es noch so totenstill war , daß man hinter den halbgeschlossenen Fensterjalousien das vergnügte Zwitschern eines Spatzen im Hofe hörte , -- da , -- ja , als Fenia da aufschaute , sah sie ihn zitternd vor Erregung über sie geneigt , ganz nahe über ihrem Gesicht , und im Begriff , sie mit beiden Armen zu umfassen .
Sie schrie nicht auf .
Sie zuckte nur zurück , bückte sich schnell , um den Schirm aufzunehmen , der ihr bei der Begrüßung des Hundes entglitten war , und wandte sich zur Tür .
" Wie schade ! " sagte sie dabei .
Es entfuhr ihr fast bedauernd , zugleich im Ton außerordentlichen Erstaunens .
Er stand einen Augenblick verdutzt da .
Dann schwoll eine plötzliche Raserei in ihm auf , -- ein blinder wütender Drang , ihr nur ja nicht den Willen zu tun , und ohne noch selbst recht zu wissen , was er eigentlich damit bezweckte , stürzte er an ihr vorbei zur Tür , riß den Schlüssel heraus , drehte ihn von innen im Schloß herum und steckte ihn darauf in seine Tasche .
Fenia war wie eine Salzsäule stehen geblieben .
Sie war furchtbar erblaßt .
Ihre Blicke irrten durch das Zimmer , durch das Fenster in den Hof , wo der Spatz schrie , und blieben dann am hellen Klingelknopf der elektrischen Glocke haften .
Aber konnte sie den Garçon herbeiläuten und sich von ihm zu dieser Stunde in dieser Stube mit dem Fremden finden lassen ?
-- Und in den Hof hinunterspringen konnte sie ja doch auch nicht .
-- Sie richtete ihre Augen , tief erschrocken , groß und fragend , auf ihn , gerade als frage sie ihn danach , was nun zu tun sei .
Einen Augenblick lang war etwas Hilfloses und Hilfeheischendes über ihrer ganzen Gestalt , wie über einem im Wald verirrten Kind . --
Aber nur einen Augenblick .
Dann siegte ein anderes Gefühl .
Ihr Blick lief an ihm hinab , und ihre Lippen wölbten sich in einem unaussprechlich beredten Ausdruck des Ekels , -- der Verachtung -- .
Seine Hand fuhr , ohne daß er es ihr im geringsten anbefohlen hätte , in seine Tasche und zog , ohne sich um den Lümmel zu kümmern , der dumm , rot und wie ein Schulknabe dastand , den Schlüssel heraus .
Als aber die Hand Fenia den Schlüssel reichte , begleitete er diese unfreiwillige Gebärde mit einem Gemurmel :
" Ich -- vorhin , als ich die Tür zusperrte , da mißverstanden Sie mich , -- ich wollte doch nicht etwa , -- nein , überhaupt nichts , -- ich wollte ja nur , daß Sie nicht in dieser Stimmung fortgehen sollten , -- nicht aufgebracht und zornig gegen mich . "
Die seltsame Logik dieser Worte schien ihr nicht einzuleuchten .
Ihr Gesicht trug noch immer denselben Ausdruck , der es fast verzerrte , -- als säße ihr eine Raupe am Halse und kröche langsam weiter .
Sie ergriff den Schlüssel und ging sehr schnell , ohne ein Wort , aus der Tür .
Er hinterdrein .
Hinter ihm der Spitz .
Einen Hut hatte er nicht aufgesetzt , sie wäre ihm entwischt , während er ihn vom Tisch holte .
Und er fühlte sich gänzlich unfähig , sie so gehen zu lassen , -- auf immer , -- ohne ein Wort , -- lieber wollte er ihr nachlaufen , -- ja das wollte er , -- wie ein verliebter Pudel , -- verliebt in diesem Augenblick zum Närrischwerden . --
Ganz nah am Hotel standen ein paar Droschken .
Die ledernen Verdecke waren herabgelassen , ein feiner Regen fing an , vom Himmel niederzurieseln .
Im einförmig grauen Morgenlicht hasteten ein paar Zeitungsverkäufer , ein verschlafener Bäckerjunge vorüber .
Die Straße entlang klapperte ein Gemüsekarren .
Ehe es Fenia noch gelang , den Kutscher auf seinem Bock wachzurufen und in den Fiaker einzusteigen , waren sie schon zur Stelle , Max Werner und der Spitz , letzterer in höchster Aufregung dazwischen bellend .
" Hören Sie mich an ! " sagte er atemlos zu Fenia und half ihr unter das Verdeck zu gelangen , " hören Sie mich an ! sehen Sie mich an !
Nein , -- sehen Sie mich nicht an , " verbesserte er sich , seines verwirrten Aussehens , seines hutlosen Kopfes gedenkend , -- " aber Sie sehen ja , daß ich über meine eigene , wahnsinnige Dummheit außer mir bin !
Sagen Sie mir , daß Sie mir verzeihen , -- sagen Sie mir ein Wort , -- gehen Sie nicht so , -- ich meine : fahren Sie nicht so . "
Er wußte durchaus nicht mehr , was er eigentlich sagte .
Der Kutscher war schwerfällig vom Bock geklettert , hatte seinem Pferde den Futtereimer abgehängt , nahm dem Tier die Schutzdecke vom Rücken und faltete sie bedächtig .
Fenia schaute indessen unter dem Schirmdach des Verdeckes hervor , in sich zusammengeschmiegt wie eine weiche Katze , und sah Max Werner ganz groß und ernst an .
" Verzeihen ? " wiederholte sie , -- " ich will Ihnen noch mehr sagen :
da ist gar nichts zu verzeihen .
Denn ich bin ebenso dumm gewesen wie Sie , indem ich Ihnen folgte , ohne Sie und Ihren Speisesaal auch nur ein bißchen zu kennen .
Ja , das war sehr dumm , und so sind wir quitt , denn Sie sind auch nur so dumm gewesen , weil Sie mich nicht kannten . --
Wir haben beide dieselbe Entschuldigung dafür , daß wir es nicht besser wußten .
-- Denn obgleich ich so viel unter Männern gewesen bin , sehen Sie , so hat es sich für mich immer so glücklich getroffen , daß es immer die anständigsten Männer von der Welt waren .
Ja wahrhaftig .
Sie sind der erste unanständige -- Mann , den ich -- "
Sie brach ab , wie selbst erschrocken über das beleidigende Wort , womit ihre lange Rede abschloß .
Der Kutscher war auf den Bock gestiegen , der Gaul zog an , und Fenia drückte sich errötend ins Dunkel des Verdecks , während der Fiaker mit ihr davonrasselte .
Max Werner stand auf dem Straßendamm und fuhr mechanisch , mit düsterem Gesicht , nach seinem Kopf , um den Hut zu lüften , -- der nicht darauf saß .
In den darauffolgenden Tagen drängte es ihn sehr , Fenia aufzusuchen oder ihr zu schreiben , doch zauderte er immer wieder und unterließ es .
Erst nach längerer Zeit , als er schon mit einigem Humor an seine Eselei zurückdachte , tat er es trotzdem ; aber da war Fenia , -- Fiona Iwanowna Betjagin hieß sie , -- bereits wieder nach Zürich abgereist .
Indessen schien es des Schicksals Wille , daß sie sich wiederfinden sollten , als sie beide längst nicht mehr dran dachten .
Ein Jahr ging hin .
Max Werner verbrachte es , nach seiner Rückkehr aus Paris , in der österreichischen Heimat , wo ihn seit einiger Zeit etwas Liebes festhielt und seine Reiselust merklich abschwächte .
Da erhielt er eines Tages einen Brief seiner einzigen Schwester , die sich den letzten Monat bei einer nach Rußland verheirateten Freundin auf deren Gut aufgehalten hatte : sie zeigte ihm ihre Verlobung mit einem in der Nähe von Smolensk begüterten Landedelmann an , und sandte ihm zugleich einen schönen Gruß von Fiona Iwanowna Betjagin , -- einer Verwandten ihres zukünftigen Mannes , die im Auslande studiert und kürzlich promoviert habe .
Tief im Winter , Mitte Januar , reiste Max Werner zur Hochzeit seiner Schwester in die russische Provinz .
Dort , auf dem Gut von deren Freunden , wo eine Unmenge fremder Gäste untergebracht waren , sah er mitten im Trubel der festlichen Vorbereitungen Fenia wieder .
Als er sie zuerst erblickte , hätte er sie fast nicht wiedererkannt , obgleich er nicht hätte sagen können , worin die überraschende Veränderung gegen den Pariser Eindruck liegen mochte .
Fenia saß in lässiger Haltung zwischen einigen Bekannten , ihre rechte Hand in träger Gebärde mit der Innenfläche nach oben gekehrt im Schoß , und seltsam festlich und feierlich im leuchtenden Weiß ihres seidenen Kleides .
Während sie heiter lachte und sprach , sah sie doch zerstreut aus , als verträumten sich ihre Gedanken ganz wo anders hin .
Ihre Gestalt schien voller herangeblüht zu sein , in allen ihren Bewegungen lag etwas Weiches , Abgerundetes , was sie nicht besessen hatte , und was ihr eine harmonische Schönheit gab .
Fenia war schöner geworden , als zu erwarten stand .
Ja , schöner , -- doch den beunruhigenden Reiz von damals übte sie nicht mehr auf Max Werner aus , -- das Widerspruchsvolle , Geheimnisvolle , was ihn damals an der fremden Studentin anzog und abstieß , schien von ihr abgestreift zu sein , seitdem das Weib , das er so unruhig in ihr gesucht hatte , in ihrem Äußeren voller hervorgetreten war .
Das fühlte er trotz der herzlichen Freude , womit er sich von Fenia bewillkommnet sah .
Sie begrüßte in ihm sogleich den neuen Verwandten , und beide lachten sie miteinander über ihren gemeinsamen verblichenen Pariser " Liebesroman " , der gar so kurz gewesen .
Bei der Hochzeitstafel setzte Fenia ihn neben sich , und sie tranken , zugleich mit vielen anderen Paaren , sogar Brüderschaft , an der jedoch nie ordentlich festgehalten wurde .
Max Werner fiel der große Ernst auf , womit Fenia ihm alle Einzelheiten und deren Bedeutung während der griechisch-katholischen Trauung , die der protestantischen folgte , zu erklären bemüht war .
Ihn interessierten wohl die verschiedenen Zeremonien , die er da sah , doch konnte er eine etwas ketzerische Bemerkung über ihre Überflüssigkeit nicht unterdrücken .
" überflüssig ?! " sagte Fenia erstaunt , fügte jedoch schnell hinzu : " nun freilich , für einen Fremden , der_es mitmachen muß .
Für mich ist es geradezu köstlich , so unterzutauchen in Weihrauchduft und Gesang und Kindheitserinnerungen .
Ich bin ja so viele Jahre fortgewesen . -- --
Und jetzt erst fühle ich mich wieder zu Hause , wo all dies Altvertraute wieder um mich ist . -- --
Rußland hat auch darin den großen Vorzug vor anderen Ländern , daß man ganz sicher ist , alles auf dem alten Fleck wieder vorzufinden .
Da ist kein Hasten von Fortschritt zu Fortschritt , -- es ist alles jahraus , jahrein dasselbe . "
Über dies vaterländische Kompliment mußte Max Werner lachen .
" Auch ein Grund , seine Heimat zu verehren ! " bemerkte er heiter , " aber in diesem besonderen Fall -- denken Sie -- denkst du --
doch auch nicht mehr wie einst als Kind .
Diese langen Trauungszeremonien sind ihres tieferen Sinnes ja doch entkleidet . "
Fenia schüttelte den Kopf .
" Durchaus nicht ! im Gegenteil !
Streift man die äußere Form ab , was ist der tiefere Sinn ?
Er lautet etwa :
da sind zwei Menschen , die sich zusammentun wollen für immer , -- vermutlich weil sie sich lieben , -- aber nicht nur zum Zweck ihrer persönlichen Verliebtheit , sondern zu einer gemeinsamen Aufgabe , -- sozusagen im Dienst eines Höheren , Dritten , worin sie sich erst unlöslich verbinden .
Sonst ist die ganze Unlöslichkeit zwecklos .
Nein , sie wollen darin über das nur Persönliche , rein Gefühlsmäßige hinaus , -- ob sie es nun Gott nennen , oder Heiligkeit der Familie , oder Ewigkeit des Ehebündnisses , -- das gilt dafür gleich . -- --
In jedem Fall ist es etwas anderes , -- auch etwas durchaus Anderwärtiges , als nur Liebe zwischen den Geschlechtern . "
" Mein Gott , Fenia Iwanowna ! " sagte Max Werner ganz konsterniert , " Sie können einem wahrhaftig das ganze Heiraten verleiden !
Mir läuft förmlich eine Gänsehaut über den Rücken .
Zum Glück irren Sie sich .
Unlöslich ist die Geschichte wenigstens nicht .
Es gibt ja doch Aussicht auf Scheidung -- "
Fenia zuckte die Achseln .
" Mag sein -- bei euch .
Da drückt eben die Form den Inhalt nicht mehr voll aus .
Hat also auch die ihr zukommende Schönheit und Feierlichkeit nicht mehr .
Da kann ich mir ganz gut denken , daß ihr vielleicht leichtsinniger drauf los heiratet . -- --
Wir aber , -- -- ehe wir es tun , werfen wir uns auf die Knie -- ganz so , als ob wir das Entgegengesetzte tun und auf Lebens Zeit unsere persönlichen Genußrechte in einem Kloster aufgeben wollten . "
Es war Max Werner noch ebenso angenehm und anregend wie früher , mit Fenia zu disputieren , wenn ihre Meinungen auch ebenso aufeinanderstießen wie damals in Paris .
Aber wie in ihrem Äußeren erschien Fenia ihm auch in ihren Meinungen jetzt weit frauenhafter als früher , und vielleicht bewirkte es gerade dieser Umstand , daß sie sich in der kurzen Woche fast unausgesetzten Zusammenseins schließlich eng befreundeten .
Die einfache Schwesterlichkeit ihrer Umgangsformen , die er damals mit so argwöhnischen Augen angesehen hatte , wurde ihm hier im fremden Lande unendlich sympathisch , und sehr bald erkannte er auch im Schlichten , arglos Vertrauenden des Benehmens einen spezifisch slawischen Zug der Mädchen und Frauen .
Fenia unterschied sich von den anderen nur wenig , -- am wenigsten durch den Umstand , daß sie ein so langes Studienleben geführt hatte .
Der Ausdruck ihres Naturwesens war viel stärker als irgend etwas Angelerntes .
Endlich kam es sogar dazu , daß Max Werner Fenia den größten Vertrauensbeweis gab , indem er ihr andeutete , was ihn jetzt so ganz an seine Heimat fesselte und ihn dahin zurückzog .
Sie erfuhr , daß er seit Jahresfrist heimlich verlobt sei .
Er gestand es ihr während einer großen Schlittenpartie , die alle Gutsgäste gemeinsam bei prachtvollem Winterwetter in die verschneite waldreiche Umgebung unternahmen .
Fenia und ihr deutscher Freund kamen zusammen in eine der niedrigen zweisitzigen " Salaski " zu sitzen , die beim hellen Schellengeklingel der flinken kleinen Pferde pfeilschnell über die hartgefrorene Schneefläche dahinsausten .
Auf Max Werners Geständnis bemerkte Fenia mit Lebhafttein Interesse :
" Eine wirklich ganz , heimliche ' Liebe ?
Ich meine so , daß wirklich niemand , selbst die Nächsten nicht , etwas davon ahnt ?
Das muß ja sehr schwer durchzuführen sein . "
" Das ist es auch .
Doppelt schwer , weil Irmgard eine Norddeutsche ist und das Leben nichts weniger als leicht nimmt .
Jede Heimlichkeit jagt ihr hinterher tagelanges Entsetzen ein .
Kleiner norddeutscher Adel , der in alten , festen Familientraditionen groß geworden ist . "
" Wie sind Sie denn miteinander bekannt geworden ? " fragte Fenia , " denn Sie , mein Lieber , machen doch umgekehrt einen leichtlebigen Eindruck auf uns junge Mädchen . "
" Bitte , bitte !
Ich bin nicht immer wie in Paris .
Für Irmgard war ich anfangs eine Art Ausweg und Rettung aus der etwas engen geistigen Atmosphäre ihres Hauses .
Damit fing es an . "
" Und deshalb hält Ihre Braut Sie für einen Tugendbold ? " fragte Fenia spottend .
" O nein !
Sie hält mich im Gegenteil für viel schlimmer , als ich bin .
Das ist meistens so .
Aber das schreckt sie nicht ab .
Sie liebt wie eine Königin , die gewählt , ohne zu verlangen .
Das ist die trotzigste Art von Mädchenstolz . "
" Doch nur eine Maskerade für lauter übergroße Demut , " fiel Fenia lebhaft ein , "-- ach , wie deutsch ist das !
Aber da bringt sie Ihnen doch lauter Opfer .
Leiden Sie denn nicht darunter ? "
Max Werner machte unter seiner geliehenen Pelzkappe ein verlegenes und pfiffiges Gesicht .
"-- Leider nein ! " bemerkte er kleinlaut .
" In dieser Selbstüberwindung und stolzen Demut liegt etwas , was unsereinen entzückt .
Es steigert die gegenseitige Liebe , glaube ich -- . "
Fenia schwieg einige Minuten .
Irgend ein Gedanke schien sie zu beschäftigen .
Dann äußerte sie plötzlich :
" Und trotzdem , -- trotz all diesen schwierigen Umständen , -- will sie Sie noch nicht heiraten ? "
Max Werner sah so verblüfft aus , daß Fenia zu lachen anfing .
"-- Nicht heiraten -- ? ja , wie denn ?
Das ist ja nur -- -- eigentlich bin ich ja doch nicht recht in der Lage dazu , " entgegnete er , noch immer ganz verdutzt von dieser unerwarteten Auffassung , "-- sie würde natürlich gern so bald als möglich -- .
Ich habe meinen sehr kleinen Vermögensanteil früher schon so sehr zu Reisen und Studienzwecken angegriffen , daß ich erst eine Professur haben müßte . "
Fenia verfiel in Nachdenken .
Sie saß mit gesenktem Gesicht , als horche sie aufmerksam auf das Schellengeklingel der Schlittenpferde .
Aber es mußten liebe und angenehme Betrachtungen sein , die sie hegte , denn sie saß so glücklich in sich zusammengesunken da , und auf ihrem von der Kälte rotgehauchten Gesicht blieb ein Lächeln stehen -- .
Lou Andreas-Salomé , Fenitschka. 3 Nach den letzten Hochzeitsfeierlichkeiten reiste Max Werner zusammen mit Fenia nach St. Petersburg , wo er sich noch etwas umsehen wollte , ehe er nach Deutschland zurückging .
Fenia mietete sich in einer maison meublee des Rewskij Prospekts ein , um sich in Ruhe für ihre künftige Lehrtätigkeit vorzubereiten .
Ihn führte sie gleich bei ihren einzigen Petersburger Verwandten ein , ins Haus ihres Onkels , des Mannes einer verstorbenen Schwester ihrer Mutter , weil man dort deutsch sprach und deutsche Interessen pflegte .
Der Onkel war von baltischem Adel , Admiral in russischem Dienst und unterhielt mit seinen drei Töchtern die gastfreiste Geselligkeit .
Den größten Teil der ersten Tage seines Aufenthalts widmete Max jedoch eingehenden Besichtigungen der Hauptstadt .
Einmal , nachdem er so lange in den Kunstsälen der Eremitage verweilt hatte , als das spärliche Winterlicht irgend zuließ , verlangte es ihn nach einem ausgiebigen Spaziergang , und so ging er noch den ganzen Newskij Prospekt hinunter , von dem man gewöhnlich nur eine gewisse Strecke , zwischen der Admiralität und dem Moskauer Bahnhof , zu sehen bekommt .
Hinter dem Moskauer Bahnhof ist es nicht mehr der Newskij der vornehmen Nachmittagspromenade .
Die breite schnurgerade Straße mit ihrer Einfassung von Kirchen und Palästen macht eine scharfe Wendung und verändert plötzlich ganz ihren Charakter .
Anstatt der eleganten Spiegelscheiben der großen Magazine trifft man gewöhnliche Warenbuden und billige Bazare , deren niedrige Arkaden am Trottoir entlang laufen ; anstatt der europäischen Hotels , Wirtshäuser zweiten und dritten Ranges und Schnapskeller mit grellen Plakaten über der Tür .
Immer weniger herrschaftliche Schlitten sausen über den festgestampften bläulichen Schnee , immer volkstümlicher werden die Trachten der vorübergehenden Menschen , -- bis endlich von ferne , im blitzenden Schein , den die Wintersonne den goldenen Kuppeln entlockt , -- das Alexander-Newskijkloster herüberschimmert .
Schon eine ganze Strecke vor dem Kloster wird die Straße beinahe dörflich und erhält einen sozusagen geistlichen Anstrich .
Weißbeworfene Gebäude mit goldenen Kreuzen oder goldener Strahlenform über dem Tor , Wohltätigkeitsanstalten , Kapellchen , fromme Asyle erheben sich zwischen den kleinen , niedrigen , demütigen Wohnhäusern , die auch nur noch weiße Kleidchen anzulegen wagen .
Und darüber ragt die gewaltige weißgoldene Himmelsstadt mit ihren Klostermauern , Kuppeln und Kirchen gegen den blaßblauen Winterhimmel empor , -- umhaucht vom Weihrauch , der aus ihren Heiligtümern dringt , umstanden von geweihten Buden , wo Betperlen , Räucherkerzen und Kränze verkauft werden , umklungen von Glocken und Chorälen , -- das Ganze eine unbeschreibliche Symphonie von Weiß und Gold inmitten dieser weißen Schneelandschaft unter den letzten goldenen Sonnenstrahlen .
Und dahinter der weite , weite Klostergarten im tiefen Winterfrieden .
Max Werner wollte gerade in den Garten eintreten , als er zu seiner Überraschung Fenia darin erblickte ; sie stand dicht am Eingang , an das goldblitzende Staket gelehnt , und wendete ihm den Rücken zu .
" Fenia Iwanowna , gehen Sie ins Kloster ? " sagte er ihr über die Schulter .
Sie wandte sich verwundert , nicht erschrocken , um , und entgegnete aus der Pforte tretend :
" Ich habe mir das Kloster angesehen -- --
Und nun gehe ich zu meinem Onkel , -- jour fixe , Sie wissen ja !
Ich speise dort .
Haben Sie nichts Besonderes vor ?
Dann kommen Sie doch mit , Sie sind ja ein für allemal zur Familientafel geladen . "
" Ich will es sehr gern tun , Fenia , schon um Sie zu begleiten .
Wollen wir bei diesem sanft sibirischen Wetter die Promenade zu Fuß machen ? "
Sie nickte , und indem sie ihr Gesicht mit dem vorgehaltenen Bibermuff vor dem scharfen Winde schützte , schaute sie sich aufmerksam nach allen Seiten um .
Dann schritt sie eine Zeitlang einsilbig neben ihrem Begleiter her .
" Wie sind Sie nur darauf verfallen , gerade hierher zu kommen , " fragte sie plötzlich , -- " diesen Teil des Newskijs besuchen so wenige .
Man kann fast sicher sein , daß man -- "
" Wäre es nicht viel berechtigter , wenn ich Sie dasselbe fragte ? " bemerkte er neckend , " ein Spaziergang für eine junge Dame ohne Begleitung ist das doch gar nicht .
Ich glaubte Sie in die tiefsten Studien vertieft , habe Sie zartfühlend nur deshalb nicht aufgesucht , -- ich stelle Sie mir ja seit Paris immer noch wie besessen von Fleiß vor , -- und statt dessen bummeln Sie hier herum . "
" Ja , bummeln ist das richtige Wort , " sagte sie in zufriedenem Ton , -- " wissen Sie , mit dem Fleiß ist es ganz vorbei .
Ich lebe jetzt ja auch in einer solchen Uebergangs- und Zwischenzeit , -- nicht wahr ?
Bis zu der mir versprochenen Anstellung .
Und wie genieße ich das !
Wissen Sie , es war Zeit , nach dem langen Arbeitsfieber .
Jetzt strecke und recke ich mich , wie auf einem rechten Faulbett , -- ordentlich wie eine Rekonvaleszentin fühle ich mich , -- da lebt man ganz anders . -- Passiver , lauschender , aufnehmender .
-- Man wacht nicht , man schläft aber auch nicht . -- "
"-- Man träumt ! " ergänzte er aufs Geratewohl .
Fenia sah mit einem raschen Blick zu ihm auf .
Dann schwieg sie .
" Eigentlich haben wir also die Rollen getauscht , " meinte er , " denn ich bin dieses Jahr recht fleißig gewesen . -- --
Aber wie wird es Ihnen denn schmecken , nach dieser Zwischenzeit ein schwieriges Lehramt auszuüben , -- graut Ihnen nicht davor ? "
Sie lachte .
" So weit hinaus kann ich im Augenblick nicht vorwärts denken . -- --
Aber das wird recht schlimm sein , denn es ist mir eigentlich stets sehr anziehend gewesen . "
Darauf schwieg sie wieder mit nachdenklichem Gesicht , als beschäftige sie etwas Unausgesprochenes .
Sie gelangten inzwischen auf den belebten Teil des Newskijs , wo die sie umdrängende Menschenmenge , die sie jeden Augenblick trennte , ohnehin die Unterhaltung erschwert hätte .
Hinter der Polizeibrücke sank die Sonne .
Lange blaue Schatten liefen über den Schnee und schufen jene nordische Winterdämmerung , in der man schon mitten am Tage nichts mehr recht deutlich erkennt , und dennoch fremdartig davon berührt wird , daß hier und da hinter den Schaufenstern die ersten Flammen aufzucken .
Das vorüberflutende Leben und Treiben auf der glänzenden Hauptstraße paßte sich der Stimmung dieser Stunde wunderbar an , denn trotz all des Gewühles war nichts Lautes , nichts Buntes , nichts Aufdringliches an dem ganzen Bilde , sondern eine gedämpfte und diskrete Eleganz ; das fast lautlose Durcheinanderjagen der Schlitten , das etwas beinahe Gespenstisches haben konnte , die gleichförmige dunkle Kleidung der pelzvermummten Damen , die langsam , ohne Hast , fast feierlich sich vorbeibewegten , die Totenstille der breiten tief verschneiten Nebenstraßen , in denen die Welt plötzlich aufzuhören schien , gaben allem eine Art von verträumter Poesie , die vom lebensvolleren und trivialeren Lärm anderer Großstädte scharf abstach .
Selbst die Ecken und harten Umrisse der Häuser hatte der Frost mit blitzenden Eiskrusten abgestumpft und verwischt , und in der kalten , kristallklaren Luft erstarb jeder Ton , -- Menschenstimme oder Schlittenglöckchen , -- ganz eigentümlich hell und fein wie ferner Gesang .
Fenia war gegenüber der Kasanschen Kathedrale vor einem hell erleuchteten Schaufenster stehen geblieben .
Sie schlug den Schleier über ihre Pelzmütze zurück und betrachtete die neuen Auslagen der Pastischen Kunsthandlung .
Ganz vorn lagen die drei mittelmäßigen , aber sehr populären Illustrationen zu Lermontoffs " Dämon " : die Verführung Tamaras durch den Dämon , ihre Hingabe an ihn , ihr Tod durch ihn .
Fenia wies mit dem Muff darauf hin " Zur Höhe des Himmels will ich mich heben , Zur Tiefe des Meeres senke ich mich , Alles Irdische will ich dir geben !
Nur liebe mich ! liebe mich ! " zitierte sie lächelnd und ging weiter .
" Was ist das ? " fragte Max Werner .
" Improvisierte Übersetzung , " entgegnete sie , " so spricht der böse Dämon , nachdem er den Engel Tamaras in die Flucht geschlagen hat . -- --
Diese Bilder treffen Sie hier in allen Häusern , -- Photographien , Gipsstatuetten .
-- Ich entsinne mich ihrer so gut aus meiner Kindheit , auch wir besaßen sie zu Hause .
Es ist traulich , sie wiederzusehen . "
" Rechte Bilder für ein junges Mädchen , " bemerkte er , " haben Sie sich nicht auch die Liebe sehr dämonisch vorgestellt ?
Kampf mit dem Engel , -- höllische Seligkeiten , -- bengalische Beleuchtung , -- Weltuntergang . "
Sie sagte lachend :
" Ich ?
O nein .
Ich stelle sie mir ganz -- aber so ganz -- anders vor . "
In den großen milchweißen Glaskuppeln hoch über der Mitte des Straßendamms erstrahlte urplötzlich das elektrische Licht und übergoß mit einemmal die dämmerdunkle Straße mit seinem blendenden Mondschein .
Als Fenias Gesicht in dieser unerwarteten Helle neben Max Werner auftauchte , erschien es ihm , mit dem kindfrohen Blick und lachenden Munde , durchaus verschieden vom nachdenklichen Frauengesicht im Klostergarten bei den letzten Sonnenstrahlen .
Ihre Mienen wechselten im Ausdruck so sehr , daß sie fast auch in der Form zu wechseln schienen ; nur wie ein promovierter Doktor sah sie niemals aus , eher wie alles andere .
" Ich wäre wirklich neugierig , " bemerkte er , " wie Sie sich die Liebe denken würden , wenn Sie daraufhin examiniert werden sollten , anstatt auf Philologie , Geschichte etc. "
" Wie ich sie mir denken würde ?
O ganz einfach .
So ganz einfach und gesund .
Ich würde sie dann sicher mit den Dingen vergleichen , die am allerwenigsten dämonisch und romantisch sind .
Mit dem guten gesegneten Brot , womit wir täglich unseren Hunger stillen , mit dem frischen erhaltenden Luftstrom , dem wir jeden Tag unsere Stube öffnen .
Mit einem Wort : mit dem Wichtigsten , Schönsten und Selbstverständlichsten , dem wir alles verdanken , und wovon wir am wenigsten Phrasen machen . "
" Das ist gar nicht übel gesagt ! --
Aber doch wohl noch etwas anderes erwartet ihr davon : die große Sensation des Lebens , -- glauben Sie nicht ? -- vor allem die Sensation . "
Sie schüttelte den Kopf .
" Ich nicht .
Dann ginge ja das Kostbarste , was man damit empfängt , verloren , denke ich mir . "
" Was ist denn nach Ihrer Meinung das Kostbarste , was die Liebe Euch geben kann ? " fragte er lächelnd .
Sie bog in die Admiralität ein und entzog ihm damit den Blick auf ihr Gesicht .
" Frieden ! " sagte sie leise .
" Frieden ! " dachte er zweifelnd und folgte ihr in das goldstrotzende , weitläufige Gebäude , wo der Admiral Baron Michael Ravenius einen Seitenflügel bei wohnte .
Irmgard würde ihm schwerlich eine solche Antwort gegeben haben , -- sind die russischen Mädchen phlegmatischer , oder prosaischer ? -- fragte er sich .
Oder sprach Fenia nicht nur deshalb in dieser Weise , weil sie wie ein Blinder von der Farbe sprach ?
Möglicherweise hatte ihr Temperament hier seinen blinden Fleck .
Oben im Empfangssalon des Admirals war leider noch der jour fixe im vollen Gange .
Um die Gesellschafterin und die beiden älteren Töchter herum saßen noch etwa ein Dutzend blitzender Uniformen und dunkler Damentoiletten und machten jene überaus angeregt erscheinende und überaus langweilige und langweilende Konversation , wofür die konventionell abgeschliffene Eleganz der französischen Sprache sich so besonders gut eignet .
Es war ganz amüsant , den tadellosen Mechanismus dieses Kommens , Sprechens und Fortgehens der durcheinandersummenden Menschen zu beobachten , von denen jeder etwa eine Viertelstunde blieb , um dann von der Zweitjüngern Tochter des Hauses durch eine Flucht von Sälen bis in das Vorzimmer geleitet zu werden , wo zwei Diener in Matrosenlivree ihn in Empfang nahmen .
Etwa noch eine Stunde lang vollzog sich das mit der Regelmäßigkeit und Genauigkeit eines Uhrwerks .
Dann ging der letzte der Gäste , und der Baron Ravenius , ein hagerer alter Herr mit überaristokratischen Händen und Füßen und stark gelichtetem grauem Haar und Bart , reichte seiner Nichte Fenia mit altmodischer Galanterie den Arm , um sie zur Mittagstafel zu führen , wo er sorgsam den Stuhl für sie abrückte .
Max Werner folgte mit der ältesten Tochter Nadeschda , -- bereits verlobt mit einem Attache der deutschen Botschaft .
Hinter ihnen die Gesellschafterin mit den beiden anderen Mädchen , von denen die jüngste noch zur Schule ging , -- und ganz zum Schluß die persische Windhündin des Barons , Russalka , die , silberhaarig , lang , schmal und vornehm , eine unverkennbare Ähnlichkeit mit ihrem Herrn besaß .
Während des Essens wartete man meistens auf die Eröffnung der Unterhaltung durch den Hausherrn .
Heute sprach er nach genossener Suppe wie folgt : " Man redet immer viel davon , daß in der deutschen -- überhaupt in der ausländischen -- Kolonie hier der Klatsch zu Hause sei .
Es hat natürlich so eine Kolonie , selbst wenn sie noch so groß ist , im fremden Lande leicht den Charakter einer Kleinstadt .
Man wird leichter in bösen Leumund geraten , als anderswo . -- --
Wie hast du es zum Beispiel anderswo gefunden , Fenia ? "
" Darauf habe ich wirklich nur wenig geachtet , Onkel Mischa , " antwortete Fenia , " es mag sehr wohl der Fall sein , daß auch ich oft tüchtig verklatscht worden bin , weil ich mich absolut nicht um den Schein kümmerte , aber ich hatte immer einen genügenden Schutz an echten Kameraden , die das nicht bis an meine Ohren herankommen ließen . "
" Exponiert genug hast du dir freilich dein Leben eingerichtet , " bemerkte der Baron , " mir fast unbegreiflich sorglos .
Aber man muß dir nachsagen , daß du es verstanden hast , vortrefflich ans Ziel zu kommen .
Alle Achtung davor , -- und vor dem Ernst , womit du deine Jugend zugebracht hast . "
Alle warteten mit einiger Spannung auf die Pointe dieses Gesprächs , denn wenn der Baron mit seiner würdevollen Umständlichkeit so weit ausholte und sich in allerlei geographischen oder sozialen Allgemeinbetrachtungen erging , so beabsichtigte er meistens , etwas höchst Spezielles vorzubringen .
Umsonst hatte er sicher nicht die Klatschsucht der ausländischen Kolonien festgestellt und zugleich seiner Achtung für Fenia vor seinen Töchtern so ostentativ Ausdruck gegeben .
Aber bei der Mittagstafel kam das " Spezielle " nicht mehr .
Erst als nach aufgehobener Tafel die beiden jüngern Töchter mit der Gesellschafterin fortgegangen waren , und man in einem kleinen Wohngemach neben dem Speisesaal bei einer Tasse Kaffee Zigaretten rauchte , wandte sich der alte Baron plötzlich an Fenia mit den Worten :
" Mein liebes Kind , du siehst mich recht beunruhigt , -- ich schwankte wirklich , ob ich dir Mitteilung von der Sache machen sollte , -- aber ich möchte doch die Gelegenheit benutzen , wo Herr Werner zugegen ist , -- vielleicht wird er Rat wissen . "
Fenia hatte sich lässig in einem Lehnstuhl ausgestreckt und stemmte ihre Füße gegen den silberhaarigen Rücken der Russalka , die vor ihr lag und , die lange feine Schnauze auf die Vorderpfoten gedrückt , leise wedelte .
" Aber was ist denn nur los , Onkel Mischa ? " fragte Fenia neugierig .
" Sage mir , mein liebes Kind , besitzest du Feinde ?
Du weißt , es kann eine Ehre sein , Feinde zu haben ! -- -- Kennst du irgend jemand , der ein Interesse daran hätte , dich zu verleumden ? "
Sie schaute erstaunt und lächelnd auf .
" Ich ?! -- -- sicher nicht . --
Hat sich ein solcher Bösewicht gefunden ? "
" Das wird ja ordentlich interessant , " bemerkte Max Werner und stand auf , " da könnte ich am Ende noch hier für Fenia gegen irgend einen sibirischen Drachen zu Felde ziehen ? "
Aber der Onkel teilte die heitere Stimmung nicht ; seine Miene blieb so feierlich und besorgt wie zuvor .
" Ich bitte euch , es ernst zu nehmen , " sagte er , beide Hände auf den Lehnen seines Sessels , -- " laß jetzt das Spiel mit der Hündin , Fenia !
Es ist eine ganz abscheuliche Verleumdung , worum es sich handelt .
Jemand behauptet , dich gesehen zu haben , -- zu sehr vorgerückter Nachtstunde in einer entlegenen Straße , -- zusammen mit einem Herrn . "
" Wer ist es , der es behauptet ? " warf Fenia ein .
" Das eben möchte ich durchaus ermitteln : die erste Quelle des Klatsches , " erwiderte der Onkel unruhig , " mir ist die Mitteilung vom schändlichen Gerücht durch einen erprobten alten Freund des Hauses zugegangen , der sich mit mir darüber aufregt . "
" Mein Gott ! daß du das so ruhig nehmen kannst ! " murmelte Nadeschda , die neben Fenia saß , und langsam ihren Kaffee schlürfte , " ich war ganz außer mir , wie ich davon erfuhr .
Wie schlecht ist die Welt !
Ich zerbrach mir dermaßen den Kopf darüber , daß ich fast meine Migräne bekam . -- --
Bei dir wird es auch noch morgen nachkommen . "
" Ich zerbreche mir den Kopf nicht .
Bis morgen werfe ich es weit -- weit hinter mich ! " sagte Fenia , und ihr Gesicht leuchtete auf .
Max Werner blickte auf sie .
Ihr Kopf lag an die Stuhllehne zurückgelehnt , die Augenlider waren so tief gesenkt , daß sie den Blick ganz verdeckten .
Aber ihre Lippen wölbten sich ein wenig , -- ein wenig nur , doch so überzeugend beredt im Ausdruck , als sei ihnen ein Trank zu nah gekommen , vor dem es sie ekelte .
Urplötzlich erinnerte dieser Ausdruck der vollen roten Lippen Max Werner an etwas , -- an das Erlebnis im Hotelzimmer in Paris , -- und durch diesen Umstand umstrahlte in diesem Augenblick in seinen Augen Fenia eine eisige , unanzweifelbare Reinheit .
Wie oft mochte sie in ihrem freien Studienleben im Auslande Verachtung empfunden haben für die Menschen , deren billige Klugheit ihre Freiheit mißverstand , und deren weises Urteil auf den ersten besten Schein hereinfiel !
" Vielleicht löst sich die Sache als ein unglückliches Mißverständnis auf , " meinte Max Werner .
" Ließe es sich nicht feststellen , wie die Dame gekleidet gewesen sein soll ? "
Der alte Ravenius blickte rasch auf .
" Jawohl ! die Kleidung stimmt genau .
Langer Mantel , Fuchspelz , -- Mütze , Muff und Kragen von Biberfell . "
" Jawohl , es ist recht schlimm ! " bemerkte Max Werner , " in Paris oder Berlin oder Wien könnte der Anzug einer Dame schon ein Erkennungszeichen abgeben .
Aber hier ?
Hier sind die Damen auf das leichteste einer Verwechslung ausgesetzt .
Denn sie sind alle gleichmäßig dunkel vermummt , höchstens drei , vier Pelzsorten variieren .
Jede Dame muß eigentlich darauf gefaßt sein , ein paar Doppelgängerinnen zu besitzen . "
" Das ist wirklich wahr ! " bestätigte der Baron ganz erfreut , " darauf vor allem müßte man hinweisen !
Darauf gründet sich vielleicht der Klatsch . -- --
Und dann , denken Sie an die dichten Winterschleier , die man hier trägt !
Und oft sind es nicht einmal Schleier , sondern die feinen , weichen Orenburger Wollgewebe , die unsere Damen wie ein weißes Spinngewebe vor das Gesicht binden , wenn es stark friert , -- namentlich abends . --
Reine Unmöglichkeit , dann jemand zu erkennen . "
" Lieber Onkel Mischa ! " unterbrach ihn Fenia , " bitte , gib dich mit dieser Geschichte nicht ab .
Ich will es einfach nicht !
Es ist mir fatal und gänzlich ungewohnt , daß andere sich um meinen Ruf abängstigen , -- wenn der gläsern ist , -- --
ich bin_es nicht ! "
Der Baron erhob sich und berührte mit seinen langen kühlen Fingern leicht , liebkosend Fenias Wange .
" Du darfst nicht so sprechen ! " verwies er ihr ihre Worte ; -- " du weißt , dein guter Vater hat dich so frei erzogen , wie ich es für meine Töchter weder gewünscht , noch jemals gestattet haben würde .
Aber du hast ihm Ehre gemacht !
Und du bist , wenn nicht meine Tochter , so doch unser teures Familienmitglied , für das ich einstehe überall und in allem .
C'est convenu. N'en parlons plus . "
Fenia drückte einen flüchtigen Kuß auf die liebkosende Hand ihres Onkels , als der alte Herr so einfach und vornehm zu ihr sprach .
Aber in ihre ruhige Stirn grub sich die erste kleine Falte bei seinen guten Worten ein .
Offenbar empfand sie es nur peinlich , daß irgend jemand für sie einstehen , verantworten , schützende oder verteidigende Maßregeln ergreifen wollte .
Sie begehrte nicht nach dem Schutz der Familie , und erschien ihr vermutlich ebenso lächerlich wie unbehaglich , mit einemmal wie zerbrechliches Glaszeug behandelt zu werden .
Unwillkürlich versetzten Max Werners Gedanken Irmgard in die gleiche Lage , und er sah , wie sie schon bei der bloßen Vorstellung um vernichteten Mädchenruf litt und blutete .
Besaß sie wirklich so viel mehr Menschenfurcht , so viel weniger Seelenkraft als Fenia ?
Nein ! dafür kannte er sie zu gut .
Aber was die öffentliche Moral tadelte und lobte , das tadelte und lobte sie selbst bis zu gewissem Grade auch .
Wenn sie in Zwiespalt mit der vorgeschriebenen Lebensführung geriet , dann geriet sie auch mit sich selbst in Zwiespalt .
Daher mitten im Rausch eines Kusses das Erzittern geheimer Angst , als besäßen die Wände Ohren , -- daher das Gefühl , daß die Liebe sowohl der Genius ihres Lebens , als auch der allmächtige Dämon und Versucher sei , dem Gewalt gegeben ist , den Engel zu verscheuchen .
-- Irmgard erwartete von der Liebe nicht -- Fenias " Frieden " .
Während alle in der Plauderecke verstummt waren , und Max Werner seine Gedanken so weit forttrugen aus dem Kreise , worin er sich befand , stand Fenia auf und trat , begleitet von der Russalka , an eines der hohen Fenster ihm gerade gegenüber .
Mit etwas erhobenen Händen faßte sie in die schweren dunkelroten Damastvorhänge , die geschlossen vor dem Fenster herabhingen , und schob sie ein wenig auseinander , um hinaussehen zu können .
Max Werner fiel ihre eigentümlich schöne Rückenlinie in dieser Haltung mit gehobenen Armen und vorgeneigtem Kopfe auf , und seine Blicke blieben darauf ruhen .
Noch immer hatte sie die Vorliebe für dunkle , schlichtfallende Kleider , und noch immer trug sie ihr Haar in zwei lichtbraunen Flechten kranzförmig um den Kopf geschlungen .
Irgend etwas trieb ihn , sich ihre ein wenig gezwungene Haltung gelöst zu denken , passiv geworden , -- er meinte vor sich zu sehen , wie ihre Hände den Vorhang zusammenfassen und vor das Gesicht ziehen , -- wie der Kopf sich tiefer und tiefer herabneigt in die schweren tiefrotschimmernden Falten , -- wie der Rücken gebeugt ist , -- die Schultern weiche , gleitende Linien bekommen , -- bis die ganze Gestalt in sich gesunken dasteht und , das Antlitz im Vorhang geborgen , weint . --
Es war wie eine Zwangsvorstellung , aber nicht durch seelische Eindrücke oder Mutmaßungen hervorgerufen , sondern wie ein malerischer Zwang , der in den Linien lag , die durchaus in dieser Weise zusammenfließen wollten , -- hartnäckig , alle Wirklichkeit fälschend .
Aber dafür ging von dem Illusionsbilde eine fast seelische Wirkung aus , -- etwas von dem widerspruchsvollen Zauber , den Fenia ursprünglich für ihn besessen hatte . --
Er fuhr sich über die Augen , die zu schmerzen anfingen , -- nervös geworden .
Da sagte mitten in das Schweigen hinein Nadeschda in ihrem fest anerzogenen , ihr eingewöhnten Bewußtsein , daß es schicklich sei , sich irgendwie zu unterhalten :
" Heute abend muß draußen herrliches Wetter sein . "
Fenia wandte sich rasch zu ihr um .
Die Hände unwillkürlich noch ausgebreitet , den Vorhang wie einen schweren Flügel hinter ihrem Rücken , stand sie da , ein Bild sorgloser Gesundheit und lächelnder Freude , und rief hell :
" Bitte , Onkel Mischa ! nehmen wir eine große Troika und fahren wir Schlitten ! "
Lou Andreas-Salomé , Fenitschka. 4 Das Hotel de Paris , wohin Max Werner bei seiner Ankunft in Petersburg geraten war , befand sich zur Zeit gerade im Zustand einer teilweisen Renovierung , weshalb man seine schönsten Zimmer , diejenigen mit der Aussicht auf den Isaaksplatz und die Isaakskathedrale , sämtlich gesperrt hielt .
Infolge der daraus entstandenen Überfüllung in den übrigen Räumlichkeiten sah er sich auf einen Winkel angewiesen , wo er , eingeklemmt zwischen einem Ungetüm von Ofen und einem fest verklebten , unaufschließbaren Fenster , fast zu ersticken meinte .
So zog er denn an einem der folgenden Tage aus , und fand schließlich in einem echt russischen Gasthof , der " Ssewernaja Gostiniza " , auf dem entfernteren Teil des Newskijprospekts ein ihn ansprechendes , preiswürdiges Zimmer mit viel Licht und freiem Blick über den weiten Platz vor dem Moskauer Bahnhof .
Den Abend nach seinem Umzug dorthin passierte ihm etwas Seltsames .
Müde der Kramerei und der Scherereien des Nachmittags , flanierte er ganz ohne Ziel ein gutes Stück jenes Newskijendes hinab , dessen unbelebte Straße er kürzlich vom Moskauer Bahnhof bis zum Alexander- Newskijkloster hin mit Interesse studiert hatte .
Da , etwa zwanzig Minuten vom Kloster , in dieser des Abends völlig vereinsamten Gegend , hält ein Schlitten mit drei Pferden und klingelnden Schellen am Trottoir .
Ein Paar ist im Begriff hineinzusteigen .
Der Herr groß , elegant gewachsen , in eng anliegendem kurzem Pelz , -- die Dame von Fenias Wuchs , mit Biber an Kragen , Muff und Mütze .
Sie wendete Max Werner beim Einsteigen den Rücken zu .
Nur sekundenlang erhaschte er ein Stückchen verlorener Profillinie im Licht der hier nur spärlich brennenden Gaslaternen , -- und doch ! --
es mußte Fenia sein !
Er zweifelte nicht daran , -- ja , er zweifelte so wenig , daß er nicht wagte , seinen Schritt anzuhalten , oder sie anzurufen , oder zu grüßen , -- und im nächsten Augenblick sauste der Schlitten in der Richtung des Klosters nach den Stadtgrenzen hinaus .
Er zog die Uhr .
Es war elf vorüber .
Eine ungeheure Spannung bemächtigte sich seiner .
Fenia ! sollte Fenia ihn zum zweitenmal in seinem Leben zum Dummen gemacht haben , -- dieses Mal im entgegengesetzten Sinn wie damals ?
Er war jetzt genau so geneigt gewesen , in Fenia nur das herb Unschuldige zu sehen , als sei es ein für allemal ihre Eigenart und Signatur , wie er in Paris geneigt gewesen war , dahinter ein besonderes Raffinement zu wittern .
Warum nur ?
Warum hatte er in beiden Fällen ihr Wesen so typisch genommen , so grob fixiert ? fragte er sich .
Es war ganz merkwürdig , wie schwer es fiel , die Frauen in ihrer reinmenschlichen Mannigfaltigkeit aufzufassen , und nicht immer nur von der Geschlechtsnatur aus , nicht immer nur halb schematisch .
Sei es , daß man sie idealisierte , oder satanisierte , immer vereinfachte man sie durch eine vereinzelte Rückbeziehung auf den Mann .
Vielleicht stammte vieles von der sogenannten Sphinxhaftigkeit des Weibes daher , daß seine volle , seine dem Mann um nichts nachstehende Menschlichkeit sich mit dieser gewaltsamen Vereinfachung nicht deckte .
Am nächsten Morgen war es Max Werners erster Gedanke , Fenia einen Besuch zu machen .
Sie wohnte etwa eine halbe Stunde den Newskijprospekt weiter zur Admiralität hinauf in einem ganz aus chambres meublees bestehenden Hause .
Unten im behaglich durchheizten Treppenraum , der oft eleganter zu sein pflegt als die Wohnungen selbst , nahm ein Portier mit prächtigen Silberlitzen auf seiner Livree den Ankommenden die Pelze ab .
Auf der teppichbelegten Treppe begegnete man auch gewöhnlich der Wirtin , einer Provinzlerin in losem , weit nachschleppendem Kattunrock , die hier von früh bis spät umherstrich und überall eine gewisse Unruhe und Unordnung um sich verbreitete .
Außer ihrem Russisch radebrechte sie nur noch ein fehlerhaftes Französisch , Deutsch war ihr gänzlich fremd .
Fenia besaß einen eigenen Eingang von der Treppe in ihr Wohnstübchen , das sich in ein schmales Schlafgemach öffnete .
Das Fenster war ganz vollgestellt mit schönen Blattpflanzen , die in der gleichmäßigen russischen Zimmertemperatur so vortrefflich gedeihen .
Neben dem Fenster , über eine Näharbeit gebeugt , saß Fenia , als Max Werner eintrat .
Sie blickte auf und streckte ihm mit Herzlichkeit die Hand entgegen .
" Das ist schön , daß Sie kommen .
Setzen Sie sich dorthin .
Ich meinte gestern abend , ich würde Sie bei meinem Onkel treffen .
-- Setzen Sie sich .
Wollen Sie rauchen ? "
" Sie waren gestern abend bei Ihrem Onkel ?
Waren Sie lange da ? " fragte er mit schlecht verhehltem Interesse , und fügte deshalb schnell hinzu :
" Nun , hat er sich über die Klatschgeschichte beruhigt ? "
" Bis zum Tee blieb ich . --
Diese alberne Geschichte habe ich ihm ziemlich ausgeredet , " sagte Fenia ruhig , und stichelte an ihrer Arbeit .
Sie hatte heute eine weiße Morgenbluse an , worin sie weit jünger aussah , kindlicher .
Ihre beiden Flechten hingen ihr den Rücken hinunter .
" Dann wird die arme Dame , die da gesehen worden ist , also wohl nicht weiter durch Nachforschungen behelligt werden .
Sonst hätte dabei noch das Drollige herauskommen können , daß sie plötzlich irgend eine eigene , vielleicht recht delikate Angelegenheit an die große Glocke gehängt sieht , -- um Ihretwillen , Fenia .
Täte Ihnen das nicht leid ? " bemerkte er halb scherzend , halb ironisch .
Fenia hörte nicht auf den ironischen Ton hin .
Sie stützte das Kinn auf die Hand , sah ihn an und sagte unwillig : " Ja , wissen Sie , das ist doch wirklich etwas Abscheuliches !
Ich meine , daß den Frauen in manchen Beziehungen die Heimlichkeit einfach aufgezwungen wird !
Daß sie auch noch froh sein müssen , wenn sie gelingt , -- und vom Mann wie etwas Selbstverständliches erwarten , daß er sie durch seine Diskretion , seine Schonung , seine Vorsicht schütze und beschirme . --
Ja , es mag notwendig sein , so wie die Welt nun einmal ist , aber es ist das Erniedrigendste , was ich noch je gehört habe .
Etwas verleugnen und verstecken müssen , was man aus tiefstem Herzen tut !
Sich schämen , wo man jubeln sollte ! "
Sie erregte sich an ihren eigenen Worten .
Ihre Wangen brannten , und ihre Augen wurden tief und blitzend .
Die ein wenig frivole Spannung , in der Max Werner heute zu ihr gekommen war , verlor sich mehr und mehr ; je länger er ihr zuhörte , desto menschlicher kam er ihr nah .
Er bemühte sich , ganz so zu tun , als hielte er ihre Erregung für durchaus sachlicher Natur , und als handle es sich für sie lediglich um einen ihrer beiderseitigen ungeheuer philosophischen Dispute .
" Sie vergessen doch etwas sehr Wesentliches , Fenitschka , " warf er ein , " nämlich daß die öffentliche Meinung meistens doch nur die Hälfte der Schuld trägt .
Denn zur anderen Hälfte liegt es ja doch schließlich im Wesen aller intimen Dinge selbst , daß sie geheim bleiben wollen , -- daß ihnen jede Entblößung vor fremden Augen und Ohren das Zarteste ihrer Schönheit nimmt .
Manchen sensitiven Menschen empört schon die offizielle Trauung gegen die Ehe , -- wie viel weniger könnte nun ein solcher eine andere Form der Liebe , eine nicht allgemein anerkannte Liebe öffentlich bloßstellen , -- wie könnte er etwas so unendlich Intimes und Verwundbares mitten in einen rohen Kampf hineinzerren , -- sozusagen auf die Straße stellen zwischen den Pöbel -- " Fenia hatte sehr aufmerksam zugehört .
" Ja , " sagte sie langsam , " so mögen wohl Männer urteilen , -- -- ihr , denen alles gestattet ist , und für die darum auch kein anderer Beweggrund zu einer Geheimhaltung vorzuliegen braucht , als nur solch ein innerer .
Aber für uns ist das ganz etwas anderes .
Wir fühlen das wohl auch , -- ja sicher noch viel feiner und scheuer als ihr , -- -- aber wir fühlen auch den Schein von Feigheit , der auf uns fällt dadurch , daß wir der Heimlichkeit zu bedürfen glauben .
Eine jede Heimlichkeit scheint nicht aus Feingefühl , sondern aus Menschenfurcht da zu sein , -- -- und dann demütigt es uns auch , wenn wir uns von Menschen achten und verehren lassen müssen , deren ganze Anschauungsweise uns vielleicht verdammen würde im Falle unserer Offenheit . "
" Das kann unangenehm sein ! " gab er zu , " aber sobald es nur ein Opfer ist , das wir bringen , und nicht ein erlogener Erfolg , den wir suchen , -- kann man sich doch wohl darüber hinwegsetzen .
All dies ist ja nur der Schein der Feigheit , -- das klar zu erkennen und ruhig zu tragen , wäre eigentlich erst die rechte Überlegenheit über die menschlichen Vorurteile .
Meinen Sie nicht ?
Sonst ist man doch eigentlich nur ein Wahrheitsprotz . "
Fenia schüttelte den Kopf und blickte nachdenklich in das Fenster hinein , wo zwischen den Doppelscheiben dicke weiße Wattschichten jeden Luftzug absperrten , und mit Waldmoos und bunten Papierblumen häßlich genug ausgeschmückt waren .
Man konnte ihren beweglichen Mienen aufs deutlichste ansehen , daß sie über irgend einen Gedanken mit sich selbst ins reine zu kommen versuchte .
" Ach , Überlegenheit !
Was soll mir die ! " sagte sie darauf wegwerfend , " wir haben nun einmal das Verlangen , für das , was uns am teuersten ist , auch am offensten einzutreten ; und wir schätzen sogar ganz unwillkürlich den Wert einer Sache ein wenig danach ab , ob wir sie zu einer Gesinnungssache machen würden , -- ob wir für ihr Recht kämpfen können . "
" Mein Gott ! die Frauen sind jetzt aber auch so entsetzlich kampflustig geworden ! " bemerkte er lachend , -- " so entsetzlich positiv und aggressiv , daß es kaum zum Aushalten ist !
Sehen Sie , das kommt nun von all der Frauenbefreiung und Studiererei und all diesen Kampfesidealen , -- -- -- Die Frauen sind die reinen Emporkömmlinge !
Verzeihen Sie , -- -- es liegt ja etwas ganz Jugendliches und Kräftiges drin , aber es hat nicht den vornehmen Geschmack .
Alles zur Diskussion zu stellen , selbst das Undiskutierbarste , alles in die Öffentlichkeit zu werfen , selbst das Intimste , -- -- finden Sie das etwa schön ?
Ich nicht !
Es vergröbert alle Dinge ungeheuer , fälscht sie ins Rationalistische hinein , wischt alle zarten Farbennüancen fort , setzt allem gräßliche grelle Schlaglichter auf -- " Obwohl Fenia gegen ihn stritt , so sah sie ihn doch ganz unverkennbar so an , als ob sie sich ganz gern widerlegt sähe .
Während er so schön sprach , dachte er an etwas ganz anderes :
" Wer mochte dieser Mann sein ?
Ob er sie schon lange liebte ? oder ob es nur ein loses Liebesabenteuer war ?
Sie war so friedlich und glücklich , -- der Klatsch erst hat sie aufgestört ,-- -- -- ob sie seiner so ganz sicher war -- ? "
Schließlich brach er , durch diese Nebengedanken behindert , seine Rede ab und platzte ungeduldig heraus :
" Aber das sind ja überhaupt doch nur Bagatellen !
Für zwei Liebende bleibt die Hauptsache doch immer , wie sie zu einander , nicht wie sie zur Welt stehen . -- -- -- Wie lange das Glück währen mag , wie gefestigt es ist , -- oder ob man sich bei der ersten Not wieder verläßt , -- das quält viel mehr . "
Um Fenias Lippen glitt das sorglose unbefangene Lächeln , das für sie charakteristisch war .
" Warum soll denn das quälen ? " fragte sie halb verwundert und halb phlegmatisch , -- " ich könnte mir gar nicht denken , daß ich einen Mann , den ich lieb gehabt habe , gerade in der Not verließe . "
Dermaßen naiv klang das , daß er fast hell aufgelacht hätte .
Er wurde sogar plötzlich ganz irre an seinen bestimmtesten Mutmaßungen . -- --
An den verlassenen M a n n hatte er nicht gerade gedacht ! -- -- führte sie ihn vielleicht doch hinters Licht ?
Wäre sie nun doch wieder in Wirklichkeit die unschuldige Fenia , so wäre das ja einfach , um aus der Haut zu fahren .
Etwas nervös griff er in Fenias Garnröllchen , die auf ihrem Nähtisch herumlagen , spielte mit ihnen und legte sie unschlüssig wieder hin .
Er war geradezu verdrießlich .
Endlich stand er auf , um fortzugehen .
Aber jetzt konnte er sich doch nicht enthalten , zu bemerken :
" Wissen Sie übrigens , daß ich kürzlich Ihre Doppelgängerin ebenfalls zu sehen geglaubt habe ? "
" Ach ! " machte Fenia frappiert , und fragte nach kurzem Schweigen : " Wann denn ? "
" Gestern abend .
Nicht sehr weit vom Kloster , wo wir uns neulich trafen .
Sie stieg mit einem Herrn in einen Schlitten und sauste mit klingelnden Schellen davon . -- -- --
Ich habe sie übrigens nur von hinten gesehen , " fügte er schnell hinzu , denn plötzlich zweifelte er durchaus nicht länger , und schämte sich seiner unritterlichen Aufwallung .
" Also vielleicht sieht sie Ihnen auch nur von hinten ähnlich , Fenitschka . "
Sie erhob sich von ihrem Stuhl und las mit gesenkten Augen von ihrem Rock die Fäserchen und Fädchen ab , die beim Nähen daran hängen geblieben waren .
Sie sah blaß und in sich gekehrt aus .
Sehr lieb sah sie aus .
Ihm tat es weh , er verwünschte sich und blickte mit Anstrengung fort .
Da reichte Fenia ihm zum Abschied die Hand .
" Nun , -- und wenn sie mir auch von vorn geglichen hätte , -- Ihnen das Gesicht zugekehrt hätte , -- mein Gesicht , -- was hätten Sie sich dann gedacht ? " fragte sie und sah ihn dabei an .
Er hielt ihre etwas kalte , etwas nervös zuckende Hand in der seinen , beugte sich darüber und drückte zwei Küsse darauf .
" Liebe Fenitschka ! " murmelte er , -- " ich würde mir auch dann nichts weiter gedacht haben , als nur : welche frappante Ähnlichkeit . "
Dies geschah am Vormittag .
Am Abend wollte Max Werner in die kaiserliche Oper und kehrte nach sieben Uhr in seinem Hotel ein , um sich dazu umzukleiden .
Sein Zimmer lag zwei Treppen hoch , dem Treppenaufstieg schräg gegenüber .
Als er im Hinaufsteigen einmal aufblickte , sah er von oben herab eine verschleierte Dame kommen , die er durch Haltung und Bewegung fast augenblicklich erkannte .
Es war Fenia .
Ihn durchblitzte förmlich der Schreck , ihr in den Weg gekommen zu sein .
Diese erste jähe Überraschung in seinen Zügen konnte er hinterdrein nicht wieder gut machen , mit so unbeteiligter Miene er dann auch , fremd und harmlos , auf der Treppe an ihr vorbeizugehn suchte .
Sie zauderte einen Augenblick auf der Stufe , wo sie einander begegnet waren .
Dann , blitzschnell , drehte sie sich um , eilte ihm die übrigen Stufen nach , erreichte ihn gerade noch , als er im Begriff stand , ganz entsetzt in seinem Zimmer zu verschwinden , und riß den Schleier von ihrer Mütze .
" Max ! " schrie sie leise , heiser , mit zugeschnürter Kehle ; " nein ! das hier Ertrag ich nicht ! "
In höchster Bestürzung blieb er stehen , und seine erschrocken forschenden Blicke irrten über sie weg nach der Treppe , ob auch niemand ihren Aufschrei gehört habe .
Dann stieß er die schon aufgeschlossene Zimmertür auf und schob Fenia so eilig er konnte hinein .
Denn vom unteren Stockwerk wurden Stimmen laut , und einer der Tatarenkellner geleitete fremde Herrschaften hinauf .
" Liebe Fenitschka ! " murmelte er fassungslos und horchte gespannt nach dem Gang .
Sie stand , den Schleier in ihrer Hand zusammengekrampft , und zitterte am ganzen Leibe , während sie mit einem wilden Blick um sich sah und hinter sich , -- als stände da irgend jemand .
" Nein ! nein !
ich will das nicht !
ich Ertrag das nicht ! " rief sie außer sich , -- " Sie glauben , mich mitleidig ignorieren zu müssen , -- und jetzt wieder -- -- -- mich schützen , -- ich bin doch keine Verbrecherin , die man aus lauter ritterlicher Schonung nicht erkennt , -- -- o nein , pfui ! "
Und sie brach in leidenschaftliches Weinen aus .
Er schob den einzigen bequemen Lehnsessel heran und drückte sie sanft hinein .
" Beruhigen Sie sich doch nur ein wenig , Fenitschka , " sagte er , -- " was sind denn das für Ideen -- Verbrecherin , -- Unsinn !
Wollen Sie etwas trinken ?
Wein , --
Limonade ?
-- Knöpfen Sie den Pelz ein wenig auf , Sie ersticken mir sonst noch hier .
Darf ich ihn ein wenig aufknöpfen ? "
Sie stieß seine Hand hinweg und weinte weiter .
Er kniete neben ihr auf den Teppich hin und bückte demütig den Kopf .
" Ach , Fenia ! " sagte er lachend , " was sind Sie doch für ein verrückter Kerl ! --
Wenn Sie wütend sind , so zausen Sie mich , bitte , am Haar , -- schlagen Sie mit Ihren lieben Fäusten drein , -- das dürfen Sie tun . -- --
Aber mit solcher Hingebung zu weinen ! --
Werden Sie wieder ruhig und lieb , ja ? -- -- Sonst sperre ich Sie wahrhaftig ein , und stelle Sie in den Winkel . -- -- -- Wissen Sie nicht mehr , wie ich Sie Mal eingesperrt habe in Paris ?
Ach ja , damals haben Sie mich einigermaßen mißhandelt .
Aber jetzt -- jetzt sind wir doch Freunde , feste , gute Freunde !
Etwa nicht , Fenia ?
Ich gehe für Sie durchs Feuer , wenn Sie wollen . "
Sie nahm ihr Taschentuch vom Gesicht und sah ihn mit ihren nassen , geröteten Augen an .
" Wie sollte ich wissen , daß Sie hier wohnen , " sagte sie mit noch von Tränen erstickter Stimme , -- " Sie waren ja doch im Hotel de Paris . -- --
Sonst wäre ich -- hätte ich -- -- " sie stockte und wurde verwirrt .
" Ja , das war eine entsetzliche Dummheit von mir , es Ihnen nicht rechtzeitig zu sagen , daß ich jetzt hier -- -- aber andererseits , wissen Sie , konnte ich ja auch nicht wissen , daß Sie -- , " murmelte er , und setzte in leichtem Ton hinzu : "-- nun , was macht es denn !
Soll ich Ihnen einen Schlitten besorgen ?
Waren Sie im Fortgehen ? "
Fenia sprang auf , und eine Blutwelle ergoß sich über ihr verweintes Gesicht .
Sie sah zornig und beinahe wild aus .
" Hören Sie mich ! " rief sie entschlossen , " wozu spielen Sie Komödie mit mir , wozu fassen Sie mich wie eine zerbrechliche Puppe an , der man gern was vormachen kann , wenn man sie nur schön in Watte packt !
Ich weiß sehr gut , daß Sie alles wissen !
Nun wohl , so wissen Sie es denn !
Ja , ja , ja , es ist so !
Ich kam hierher , weil ich neulich hier in meinem Zimmer etwas vergessen habe .
Denn ich habe hier ein Zimmer . -- -- -- Und gestern Nacht , -- gestern Nacht war ich es , die in den Schlitten stieg mit einem Mann , den ich lieb habe ! "
Er fand sie herrlich , wie sie mit fliegendem Atem das sagte .
Herrlich wie ein Mensch , der Gefahren trotzt , wie ein Mensch im Todessprung , oder vor dem Feinde , vor dem Schuß , den er nicht in den Rücken erhalten will .
In ihrem Gesicht prägte sich ein verzweifelter Heroismus aus , und in ihren Blicken zitterte dennoch das ganze Entsetzen vor der Heimlichkeit , vor der Verfolgung , -- und vibrierte in ihrer Stimme .
Er faßte ihre Hände und küßte sie .
" Danke , Fenia ! " sagte er ernst , " ich danke Ihnen !
Nein , wir wollen keine Komödie spielen , -- wir haben es beide nicht nötig , -- nicht wahr ?
Dafür aber nehmen Sie mich zum Freunde und Bundesgenossen an , ja ? -- --
Ich weiß wohl , daß nur der elende Zufall mich zum Mitwisser gemacht hat .
Aber lassen Sie es keinen Zufall bleiben , machen Sie ein Vertrauen daraus !
Darf ich es so auffassen ? "
Sie zog ihre Hände aus den seinen , hob sie an ihre Schläfen , als sei ihr der Kopf am Zerspringen , und schaute ihn ganz ratlos und kindlich an .
" Wissen Sie , das ist wie eine Erlösung ! --
Wie eine Erlösung ! " sagte sie , -- " wie eine Erlösung , daß es ausgesprochen ist !
Wenn ich es doch schnell hinausschreien könnte , -- hinaus ! hinaus !
Allen in die Ohren !
So daß niemand es erst mit seiner Neugier zu erschleichen braucht ! -- -- -- Ach , ein Grausen habe ich in letzter Zeit bekommen , -- ja , ein solches Grausen , als ob lauter Gespenster um mich herumliefen , -- ein Grausen , wie ich es als kleines Kind manchmal im Traum gehabt habe , wenn jemand hinter mir war , und ich lief und lief , -- -- und doch nicht vorwärts konnte . "
Es durchschauerte sie , Ihre Augen öffneten sich ganz groß und erschreckt .
" Sie müssen sich zusammennehmen , Fenia ! " sagte Max Werner in bestimmtem Ton und faßte ihre Hand , " augenblicklich sind Sie in einem Zustand , wo Sie sich fortwährend selbst verraten würden .
Ich lasse Sie so nicht fort . -- --
Dies Grausen , wovon Sie sprechen , müssen Sie beherrschen , es darf Ihnen nicht über den Kopf wachsen , hören Sie ?
Es ist Nervenüberreizung , es wird vorübergehen , Fenitschka . "
Sie hatte den Pelzmantel vorhin zurückgeworfen und auf die Sessellehne hinter sich niedergleiten lassen .
Sie stand im Kleide , aber scheu , wie auf dem Sprung .
Ihre Blicke gingen flüchtig durch das Zimmer , über die ihr fremde Umgebung , als frage sie sich nun erst , warum sie eigentlich hergeraten sei , warum sie verweile .
Max Werner fürchtete , daß nach dem ersten , fast willenlosen Ausbruch sie sich plötzlich von ihrer eigenen Offenheit kalt und peinlich berührt fühlen könnte , -- unter der Situation leiden , worin sie sich ihm gegenüber befand .
Er fügte deshalb schnell hinzu :
" Sehen Sie sich nicht erst hier um , es ist kein herrlicher Aufenthaltsort , das gebe ich zu !
Aber da Sie einmal bei mir zu Besuch sind , entlaufen Sie mir nicht gleich wieder , Fenitschka .
Setzen Sie sich ein wenig her , hier ist niemand , der Sie beunruhigen oder belauschen kann , -- denken Sie sich , Sie seien ruhig zu Hause . -- --
Und wissen Sie , daß in diesem selben Zimmer Ihnen jemand nahe ist , der auch , das Grausen ' hat überwinden müssen -- um meinetwillen , Fenia , -- jemand , den Sie innig lieben würden . "
Damit hatte er das richtige Wort getroffen .
Sie setzte sich wieder und blickte ihn erstaunt und erwartungsvoll an , -- für den Augenblick von sich selbst abgelenkt -- .
" Ist , sie ' hier ?
Wo ? " fragte sie leise .
" Nein , sie selbst nicht .
Aber dort im Handkoffer , -- da liegen wohlverschlossen in einer Kassette alle ihre Briefe .
Und so sind Sie hier in feiner , lieber Menschennähe , Fenia , das dürfen Sie glauben .
Diese Briefe würden Ihnen erzählen , wie gern auch sie offen gegen alle Welt wäre , -- und es doch nicht darf . "
" Ja , ja ! " fiel Fenia etwas hastig ein , -- " genau so ist es eigentlich auch bei uns . "
" Haben Sie ihn hier in Rußland getroffen ? "
" Nein .
Er ist mir hierher nachgereist . "
" Also kein Russe . "
Sie sah erstaunt auf .
" Kein Russe ?! -- --
Ach so , -- ja , warum sollten Sie nicht meinen , daß es ein Ausländer sein könnte -- -- . Kein Russe ! nein , das wäre mir unfaßlich .
Für mich liegt eine ganze Welt darin , daß er ein Russe , -- mein Landsmann , mein Bruder , ein Stück von meinesgleichen ist . "
" Sie haben doch aber mit Ausländern schon so früh und so vertraut verkehrt , studiert , -- wie leicht hätte einer -- "
" Ja , verkehrt , studiert ! " unterbrach sie ihn .
" Und damals dachte ich auch wohl : die Liebe , das ist sicher nur die höchste Fortsetzung solcher kameradschaftlichen Freundschaft , wo man ja schon so vieles teilt -- . "
" Aber keinen davon haben Sie geliebt ? "
Sie schüttelte den Kopf .
" Nein . Nie .
Um manchen , der um deswillen fortging , trauerte ich .
Aber was konnte das ändern ?
Ich wartete darauf , daß die Freundschaft in mir bis zur Liebe stiege -- -- . Sie stieg auch zuweilen , -- immer höher und höher , -- aber nicht in die Liebe hinein , -- sie wurde dann zugleich immer dünner und spitzer , -- -- und eines Tages brach stets die Spitze ab . "
" Also ist es schließlich auch gar nicht einer Ihrer eigentlichen Geisteskameraden gewesen ? "
" O nein ! " sagte sie lebhaft , -- " es war einer , mit dem ich noch nichts teilte .
Den ich kaum kannte . --
Grade nach Beendigung meiner Studien , während einer Erholungsreise . -- --
Ja , und im Grunde trieb es mich auch nicht , mit ihm dies und das zu teilen , -- oder irgendwohin dort oben hinaufzuklettern , wo die Spitzen doch immer abbrachen . -- --
Dazu war ich auch zu angestrengt und erholungsfroh . -- --
Aber mich trieb es fast von der ersten Stunde an , zu ihm hinzutreten und , du ! ' zu ihm zu sagen . "
Sie hatte den Kopf gesenkt und sprach mit einem glücklichen Lächeln um die Lippen .
Sie sah bei ihren Worten ganz weltentrückt und bräutlich aus .
Er schaute sie mit Entzücken an .
" Ja , so geht es nun im Leben zu , " bestätigte er , Lou Andreas-Salomé , Fenischka. 5 bemüht , sie in der schönen Stimmung zu erhalten , " man macht sich große Theorien , man will geistig zusammenpassen und will sich auf Herz und Nieren prüfen , -- und schließlich wählt man einander doch in der Gunst der Stunde , und ohne alle weiteren Kennzeichen . "
" Aber das sind ja die allertiefsten Kennzeichen ! " rief sie erstaunt , -- " das ist ja eben der ungeheure Irrtum , zu glauben , daß , Geist ' und , Seele ' , und wie alle diese schönen Dinge im Menschenverkehr heißen , etwas Edleres oder Tieferes sind , als sie .
Nein , das weiß ich besser !
Besonders der Geist , der ist schon durchaus nicht edler , sondern das Gröbste und Pöbelhafteste ist er , und saugt sich mit seinem kalten Interesse unterschiedslos an die allerverschiedensten Menschen an , um sie loszulassen , sobald er ihnen ihr Interessantes entnommen hat .
Das habe ich oft getan , -- pfui ! -- --
Aber auch die sogenannten seelischen Freundschaften !
Etwas wählerischer sind sie , aber auch sie kann man zu mehreren Menschen haben , mehrere können sich folgen , denn man bekommt ja auch in ihnen nur ein Teilchen des ganzen Menschen , und gibt nur ein Teilchen . -- --
Man bleibt bewußt , -- geizig , -- genügsam . "
Was sie da sagte , kam ihr aus dem tiefsten überzeugten Herzen .
Sie verkündete es wie eine jauchzend errungene Lebenserkenntnis , -- sie war stolz darauf .
" Sie sind ein rätselhaftes Mädchen , Fenia ! " sagte Max Werner .
" Und ich -- ich habe Sie für kühl gehalten -- -- . Oder doch wenigstens nicht recht zugänglich für den wirklichen Rausch .
Wer so jahraus , jahrein mit Männern umgehen und studieren kann , ohne jemals in das überzuschlagen , was -- nun , was in solchen Fällen doch wohl das Gewöhnlichste ist -- "
" Das Gewöhnlichste ?!
Nein , das glaube ich schon nicht . --
Es ist ja das Seltenste und Vornehmste , was es im Leben geben kann .
So sehr , daß alles andere daneben nur noch schäbig und gemein aussieht -- "
" Sie meinen das wirklich -- -- -- ? "
" Ja , sicherlich , mein Gott !
Wie kann man daran zweifeln !
Wie können Sie es , der selber geliebt wird ! " rief sie , rot überflammt von Erregung , und sprang auf , -- " da kommt nun etwas und nimmt einen hin , und man gibt sich hin , -- und man rechnet nicht mehr , und hält nichts mehr zurück , und begnügt sich nicht mehr mit Halbem , -- man gibt und nimmt , ohne Überlegung , ohne Bedenken , fast ohne Bewußtsein , -- der Gefahr lachend , sich selbst vergessend , -- mit weiter -- weiter Seele und ohnmachtumfangenem Verstande , -- -- und das , das sollte nicht das Höhere sein ?
Darin sollten wir nicht unsere Vornehmheit , unseren Adel haben ? -- -- "
Sie stand da , von ihren eigenen Worten berauscht , und sah so schön aus -- .
Er hütete sich wohl , die Einwände laut werden zu lassen , die ihm auf der Zunge saßen .
Fenia erwartete auch keine Antwort .
Sie verstummte , besann sich einen Augenblick auf die Wirklichkeit und sagte dann mit ihrer gewöhnlichen Stimme :
" Helfen Sie mir in den Pelz .
Ich will jetzt endlich nach Hause fahren . "
Er hielt ihr den Pelzmantel hin und bemerkte bittend :
" Aber doch nicht allein ?
Soll ich Sie nicht nach Hause begleiten ?
Sie sind jetzt doch in ganz beruhigter und fröhlicher Stimmung , nicht wahr , Fenia , -- ich kann mich darauf verlassen ? "
Sie nickte .
" Ja .
Mag_es nun kommen , wie es Lust hat .
Ich kann nicht lange so gequält leben .
Ich muß sorglos leben , oder gar nicht .
Darum sind Heimlichkeiten mir so unsäglich wider die Natur . -- --
Froh bin ich , daß ich jetzt wenigstens zu Ihnen offen sprechen kann . -- --
Aber bitte , begleiten Sie mich nicht .
Der Portier unten wird mich in den Schlitten setzen .
Ich möchte lieber allein sein . "
" Wie Sie wünschen .
Aber zum mindesten gehen Sie nicht so fort , Fenia , -- möchten Sie sich nicht erinnern -- nach allem , was wir nun gemeinsam haben , -- daß wir schon einmal Brüderschaft getrunken haben ?
Möchtest du nicht , wenn du nun zu mir sprichst , mich ein bißchen weniger steif anreden ? "
" Ja gewiß .
Du -- und Bruder -- von heute an ! " entgegnete sie herzlich und ernst .
" Ich werde es nicht vergessen .
Ich nehme es als einen festen Bund . "
" Danke , -- und die Bundesbesiegelung ? " fragte er und hielt ihre Hand noch fest , als sie auf die Tür zuging .
Da hob sie den Kopf und gab ihm einen Kuß auf den Mund , -- einen herzlichen , unbefangenen Kuß .
Aber ihre Lippen brannten noch von den leidenschaftlichen Worten , die sie vorher gesprochen .
Max Werner blieb keine zwei Wochen mehr in Petersburg , aber in der Rückerinnerung kam es ihm immer wie eine weit längere Zeitstrecke vor , so reichen Inhalt empfingen diese Wochen durch seine neue Beziehung zu Fenia .
Selten ein Tag , wo er sie nicht sah , selten einer , wo er nicht den ungewohnten Reiz einer so zutraulichen weiblichen Nähe ohne alle erotischen Nebengedanken durchkostete .
Es schien ihm ein geradezu idealer Fall , geschaffen dank ihrer beiderseitigen Benommenheit von einer anderen Liebe , und ganz besonders begünstigt durch Fenias Gewohnheit , sich Männern gegenüber zwanglos gehen zu lassen .
" Ein Mädchen wie Irmgard erschließt sich nur , wo es liebt , und hält sich sonst stets in der etwas kalten Strenge ihrer Mädchenhoheit zurück , -- verschlossen und herb .
Aber schließt sich denn ein Weib wirklich auf , wo es liebt ?
Täuscht es sich nicht unwissentlich darüber ? " fragte er sich oft .
So zum Beispiel sprach Fenia sicher zu dem Manne ihrer Liebe mit viel rückhaltloserer Intimität als zu ihm , -- aber tat sie es nicht auch weniger einfach und sachlich , -- unbewußt bemüht , alles Verwandte in ihm und ihr hervorzukehren und einander zu vermählen , alles Störende zu beseitigen ?
Ihm gegenüber fiel das fort , und er sah sie manchmal vor sich gleich einem Modell , dessen Seelenformen er nur abzubilden brauchte , -- nicht so , wie eine Geliebte vor ihm stehen würde , deren seelische Reize so individuell wirken , daß sie das klare Urteil bestechen und verwirren , -- sondern wie ein Stück weiblichen Geschlechtes in der bestimmten Verkörperung , die sich Fenia nannte .
Zum erstenmal glaubte er , dem Weibe als solchem nah zu kommen , indem er Fenia immer näher kam .
Persönliches aus ihrem Liebesleben erzählte sie ihm nie .
Sein Wissen um dieses Ereignis wirkte nur wärmend und belebend auf alles , was sie sonst miteinander teilten .
Seine Gedanken indessen kreisten mehr als einmal um den ihm fremden Menschen herum , dem dies liebe Geschöpf zugehörte , und je nach Laune und Stimmung machte er sich von ihm die verschiedenartigsten Vorstellungen .
Während einer Abendgesellschaft beim alten Baron , wohin er Fenia begleitet hatte , erwähnte sie gegen ihn zum erstenmal wieder der heimlichen Angelegenheit , wodurch sie Freunde geworden waren .
Das Souper war eben beendet , und man stand oder saß zwanglos in kleineren Gruppen zusammen , wie der Zufall es gerade gab .
Er hatte sich lange mit Radeschda und ihrem Verlobten unterhalten , -- dem Typus eines Brautpaars , das sich gern isolieren möchte , und statt dessen seine Blicke und Worte an alle verteilen muß .
Jetzt näherte er sich Fenia , die im Augenblick allein , -- und wie immer in lächelnder Beobachtung des bunten Menschenbildes , -- hinter einer Palmengruppe am Fenster saß , und blieb vor ihr stehen .
" Weshalb schaust du mich so an ? " fragte Fenia .
" Ich vergleiche dich im stillen mit der anderen Braut hier im Saal ; -- an der armen Nadeschda ist heute alles erzwungene Höflichkeit und verhaltene Sehnsucht ; sie hat rote heiße Flecken auf den Wangen , und ihre Augen glänzen zu sehr . "
Fenia lachte .
" Hoffentlich bemerkt der Onkel das nicht ! " sagte sie .
" Und über dir , wie du da sitzest , ist eine solche selige Ruhe ausgegossen . "
" Ich habe eigentlich gar keinen Grund , so selig zu ruhen , " entgegnete Fenia , aber ihre vollen warmen Lippen lächelten immer noch , -- " denn heute haben , wir ' uns zum erstenmal -- gezankt . "
" O das ist mir höchst interessant , " bemerkte er ziemlich eifrig und zog einen Stuhl heran -- " darf ich wissen , was der Anlaß war ? "
Jetzt sah sie ernster aus , eine kleine Falte schob sich sogar zwischen ihre Augenbrauen , die über der Stumpfnase ganz nah zusammenkamen .
" Der Anlaß ist ganz gleichgültig .
Der Grund ist einfach :
er ist gequält und gereizt , " sagte sie .
" Mein Gott ! er , der es so gut hat ? "
" Er leugnet eben , daß er es gut hat , " fiel sie ein , " aber die Wahrheit ist :
er ist viel anspruchsvoller geworden . -- --
Wir haben uns immer nur stundenweise gesehen -- von allem Anfang an , -- und nicht einmal täglich . -- --
Sich zu allen möglichen Tagesstunden , im Hellen , -- -- zu allen möglichen Beschäftigungen und Ausgängen zu treffen , ist doch nun einmal einfach unmöglich . "
" Und das ist es also , was er will ? "
" Ja .
Er sagt , das sei das einzig Natürliche .
Alles andere sei Qual .
Nach seiner Auffassung sollte man sich überhaupt so gut wie gar nicht trennen . -- --
Dabei sieht er ein , daß wir uns des entstandenen Klatsches wegen eher seltener sehen sollten . "
" Sage mir nur , Fenitschka , warum machst du es dir nicht leichter , -- warum führst du ihn zum Beispiel nicht hier bei deinem Onkel ein , -- wäre er nur anerkanntermaßen dein Freund , wie ich , -- so -- so -- "
Sie sah ihm gerade in die Augen .
" So könnte er insgeheim viel bequemer mein Geliebter sein , nicht wahr ? " vollendete sie .
" Mache doch nicht gleich solche Augen ! was steht dem eigentlich entgegen ? " warf er ein .
Sie sagte nur leise , ohne ihren Blick von dem seinen zu lassen :
" Es würde häßlich werden !
Und ich will , daß es schön ist . "
" Nun , streiten läßt sich über dergleichen ja nicht .
Aber dir selbst fällt es doch wohl ebenso schwer , wie ihm , euren Verkehr nicht nach Belieben ausdehnen zu können , -- daher schlug ich es nur vor . "
Sie senkte die Augen und schien nachzudenken , wie sie es so oft mitten im Gespräch tat .
Eine leichte Röte stieg dabei in ihre Wangen .
" Ja , weißt du , für mich ist es ja eigentlich wieder anders als für ihn , " erwiderte sie darauf zögernd , " -- ich kann nicht recht sagen , woran das liegen mag .
Aber jedenfalls wäre es ja für mich nichts so Seltenes und Neues , mit einem Manne alle möglichen Interessen und Beschäftigungen zu teilen , -- alle Stunden des Tages in anregender und geistig fördernder Weise zu verbringen .
Ihm ist das neu . -- --
Ich -- ja , ich sehne mich lange nicht so stark danach . -- --
Würdest du es tun ?
" Ich ?! " fragte er etwas unsicher und dachte an Irmgard , "-- ich glaube , das würde außerordentlich nach meinen Stimmungen wechseln . -- --
Aber vergleiche mich doch nicht mit deinem -- -- deinem -- -- . Er ist vielleicht fürchterlich konsequent und ernsthaft ? "
Sie lachte leise auf , voll Schalkhaftigkeit .
" Nein , das ist er nun doch nicht .
Jung und lieb ist er , -- von allen meinen Bekannten und Freunden der am wenigsten ernste .
-- Wir fingen nicht gerade mit der Philosophie an , -- er hatte keine Ahnung , daß ich mit der was zu tun gehabt hatte .
Im Gegenteil , er hielt mich ursprünglich für recht leichtlebig , -- weil ich so frei zu leben schien . -- --
Ihr seid eben rechte Menschenkenner ! " fügte sie mit einer kleinen verächtlichen Grimasse hinzu .
" Was sagte er denn , als es ihm allmählich aufging , daß er einen promovierten Doktor vor sich hatte ? "
" Ach , das ist ihm ja niemals aufgegangen .
Davon hat er nicht viel zu sehen bekommen . -- --
Aber doch sagt er jetzt , er habe früher nicht gewußt , daß , man mit einer Frau geistig so stark verschmelzen könne , -- und hätte er es nur geahnt , so würde er mich von allem Anfang an so anspruchsvoll geliebt haben , wie jetzt , -- mit solchen Ansprüchen an alle meine Zeit und jeden meiner Gedanken . "
Max Werner schwieg dazu und dachte sich im stillen mancherlei .
Ein paar Minuten ließen sie , ohne zu reden , das Stimmengewirr der Menschen um sich herumsummen ; einer der Diener in Matrosenlivree kam zu ihnen mit seinem silbernen Tablett voll Obst und Süßigkeiten , ein paar der Gäste fingen an , sie in ihrem Versteck zu bemerken .
Fenia schaute mit blinzelnden Augen in den Kerzenglanz , sie beobachtete nicht mehr , sie träumte .
Aber immer noch lag die selige Ruhe über ihren Zügen ausgebreitet .
" Weißt du noch , wie du mir Mal auf dem Newskij , vor Pastis Kunstverlag , sagtest : das Kostbarste , was Liebe gibt , das ist Frieden ? " fragte Max unwillkürlich .
Sie nickte und atmete tief auf .
" Ja ! Vom ersten Augenblick an war es so .
Dank ihm , daß ich Frieden kenne !
Ein so tiefes Ausruhen und Genügen .
Nicht einmal Sehnsucht , -- nicht Qual nach mehr , -- nicht alle diese inneren Kämpfe , -- wie er sie jetzt durchmacht .
Ich verstehe das einfach nicht . -- --
Ich Ruhe wie in einer Wiege , weißt du , -- die leise geschaukelt wird , -- darüber blauer Sommerhimmel , und ringsherum blühende Wiese , -- hochstehende , üppige Wiese voll Klee und langen Halmen , so wie sie kurz vor dem Mähen ist , -- -- hier in Rußland haben wir so wundervolle solche Wiesen . -- --
Oder vielleicht liege ich auch nur wie eine Kuh im frischen Wiesengras mitten unter den gelben Butterblumen , -- so friedlich prosaisch .
Nein , ich kann nicht nachdenken .
Ich bin so glückselig verdummt . --
Es langt gerade noch , um drüben die blöde Unterhaltung mitzumachen , " fügte sie hinzu und erhob sich aus ihrer lässigen Haltung , weil einige der Gäste auf sie zukamen . --
Als Max Werner diesen Abend heimging , mußte er viel an Fenia denken , und in der Nacht schlief er unruhig und träumte von ihr .
Sie trug einen Kranz von gelben Ranunkeln im Haar und saß im Gras .
Wie er sich aber zu ihr setzen wollte , wehrte sie ihn ab und sagte , er solle bessere Haltung vor ihr bewahren , denn sie sei die Wiesenherzogin .
" Ach , Fenitschka , warum hast du nur gelbe Ranunkeln auf dem Kopf , -- Rosen würden dir viel schöner stehen , " bemerkte er zu ihr , auch noch im Traum galant , und wagte nicht sich hinzusetzen .
Sie aber sah ihn mit demselben strengen Blick an , wie gestern bei seinem Vorschlag , ihren Freund bei ihrem Onkel einzuführen , und entgegnete mit herzoglicher Hoheit :
" Auch die Ranunkeln färbt dieselbe Sonne . "
Er erwachte durch die Anstrengung , dies tiefe Wort gehörig zu enträtseln .
Es war schon spät am Vormittag , und er beschloß , in die Eremitage zu gehen .
Unterwegs jedoch traf es sich , daß er statt dessen zu Fenia in ihre Wohnung hinaufstieg .
Zu seinem Bedauern fand er sie nicht zu Hause .
An diesem Morgen war er ein wenig verliebt in Fenia ; er wußte nicht , ob sein Traum hiervon die Ursache , oder die Wirkung sei .
Langsam und etwas mißmutig ging er den Weg --76 -- nach seinem Hotel zurück .
Es schneite schwach , in winzigen , harten Körnchen , die an Hagelgraupen erinnerten und auf dem Sand , womit die Trottoirs bestreut waren , weiß und rund liegen blieben wie Perlen .
Der Himmel hing tief , tief herab , grau und lichtlos , und unter seinem gleichförmigen Schiefergrau ballten und stopften sich noch große weiße Wolken gleich Federkissen ; es sah wahrhaftig aus , als habe der Himmel droben sich gut auswattiert , um sich vor der Kälte bei den Menschenkindern unten zu schützen .
Unterwegs traf er Fenia .
Er sah sie auf der anderen Seite des Trottoirs und ging über den Straßendamm auf sie zu ; sie bemerkte es , blieb stehen und wartete auf ihn .
" Ich hatte dir einen Besuch zugedacht , " sagte er , während sie sich die Hand schüttelten , " fand dich aber nicht , und fürchtete schon , dich heute nicht mehr zu sehen .
Daher bin ich dem Zufall jetzt doppelt dankbar . "
Sie sah ihn lächelnd und nachdenklich an .
" Ich bin ihm auch dankbar ! " entgegnete sie , -- " deinen Besuch hätte ich nämlich nicht angenommen -- .
Keinen Besuch , der heute kommt . --
Und nun , wo ich dich unerwartet treffe , merke ich , daß ich mich drüber freue , mit dir zu gehen und zu plaudern . -- --
So wenig kennen wir uns selbst . "
" Woher kommst du denn ? " fragte er im Weitergehn .
" Von einem zwecklosen Hin- und Hergehn .
Ich ertrug in der Stube nicht .
Ertrag's aber auch draußen nicht .
Ich habe entsetzliche Sorgen , Max. -- -- Denke [-77-/0081 ] -77- dir , -- vielleicht kann ich , ihn ' nur noch wenige Male wiedersehen . "
Er blieb stehen .
" Wie das , -- warum ?! "
" Es hat sich so zugespitzt -- all das mit den Heimlichkeiten .
Wir sind nicht mehr sicher , -- nirgends mehr .
Es geht einfach nicht mehr .
Es geht absolut nicht , " "-- Und gar kein Ausweg ? man findet ihn ja doch schließlich in solchen Fällen . "
Fenia schüttelte den Kopf .
" Im Auslande zu leben wäre einer , -- ja .
Aber ich bin hier durch meine Stellung gebunden , und habe keine anderen Existenzmittel .
Und im Ausland wäre es dasselbe -- in einer Stellung .
Es scheint , man muß reich sein dazu .
Lehrerinnen sind , scheint es , davon ausgeschlossen . "
" Aber deshalb könnt ihr doch nicht auseinandergehn ?! "
Fenia lachte dazu unwillkürlich .
Ihr ganzer froher Unglaube an irgend ein Auseinandergehn lachte aus ihren Augen .
Aber die Augen waren gerötet wie vom Weinen .
" Wir haben eben die Wahl zwischen zwei Unmöglichkeiten , " sagte sie , noch lächelnd , und ging langsam weiter , "-- ich war so tief im Glück und Frieden , weißt du , daß ich noch ganz dumm bin :
ich begreife_es noch gar nicht , daß es Sorgen gibt -- im Himmel . "
Sie standen an ihrer Haustür .
" Höre , Fenia , " bat er , " laß uns doch noch ein wenig zusammen bleiben , -- kann ich nicht hinein ? "
-- Sie hatte die Tür geöffnet , und der Portier mit den Silberlitzen kam dienstbeflissen herbei , wollte hinter ihr schließen , und händigte ihr zugleich zwei inzwischen eingelaufene Briefe ein .
Fenia blieb auf der Schwelle stehen , besah die Briefadressen und bemerkte dabei zu Max :
" Ich beabsichtigte eigentlich noch nicht , hinaufzugehn , wir können also gern noch ein wenig draußen bleiben , -- aber ich erwartete Nachrichten , und deshalb " -- sie warf einen schalkhaften Seitenblick auf ihn und fügte hinzu : "-- Diesen einen , siehst du , der ohne Marke hergebracht worden ist , den muß ich gleich lesen .
Es handelt sich um die Verabredung einer Stunde zu heute -- oder morgen . "
Er ließ sie lesen , während sie die Straße langsam entlang schritten , und musterte dabei ungeduldig den Sand und Schnee auf dem Trottoir zu seinen Füßen .
Heute morgen kam ihm Fenias Auserwählter etwas in die Quere .
Als Fenia aber den Brief eingesteckt hatte und , wie ihm schien , Minuten vergingen , ohne daß sie sprach , sah er scharf nach ihr hin .
Der Ausdruck ihres Gesichtes hatte sich ganz verwandelt , -- zum Erschrecken verwandelt hatte er sich .
Sie war erblaßt , um den Mund ein gespannter , nervöser Zug , ihre Augen blickten mit einer gewissen verwirrten Anstrengung gerade vor sich hin .
" Fenia ! " sagte er halblaut , " -- was ist dir ?
was ist denn geschehen ?
Steht im Brief irgend etwas Schlimmes ? "
" Ist er tot , -- -- -- untreu ? " fuhr es ihm durch den Kopf , und er konnte seine eigenen Gefühle dabei nicht recht deutlich unterscheiden .
" Nein , -- nein ! " widersprach sie hastig , " -- es ist nur , -- ja , etwas Schlimmes . "
" Kann ich es nicht wissen ? -- -- Nein , natürlich nicht , wenn du nicht magst . "
-- " Doch , -- warum denn nicht ? -- --
Es ist ja , " -- sie stockte , und setzte dann leise , fast scheu hinzu : " Er will , daß wir uns heiraten sollen . "
" Heiraten ! "
Er rief es zuerst ganz konsterniert ; gleich darauf bemerkte er aber selbst : " Ja , lieber Gott , warum auch nicht ?
Das ist doch eigentlich ganz natürlich ?
Hast du denn nicht selber schon an dieses Ende gedacht ? "
"-- Ich ? --
Nein , -- ich , -- es schien ja aus äußeren Gründen zunächst so ganz unmöglich , -- ich meine :
es ging eben noch nicht , -- so daß man nicht daran denken konnte , -- -- nicht zu denken brauchte , " erwiderte sie , noch ebenso scheu und verwirrt , -- bedrückt .
" Nun -- und jetzt ? "
"-- Er hat irgend eine Anstellung im Süden erhalten , -- was weiß ich , ach , ich weiß nicht . -- --
Mir ist so furchtbar zu Mut , " sagte sie hilflos , und sah aus , als ob sie gleich anfangen wollte loszuweinen .
Max Werner bog in eine kurze breite Nebenstraße ein , wo sie vor der Menschenmenge auf dem Newskijprospekt sicher waren .
Nur ein paar Kinder rutschten spielend und schreiend auf einem schneefreien Eisstreifen längs dem Damm umher .
" Aber , Fenitschka , auf dem Gut , während der Hochzeit meiner Schwester , warst du ja noch so vollgestopft mit den graulichsten Ehebetrachtungen ! " sagte Max Werner beruhigend , "-- willst du denn nicht -- "
Sie blieb stehen und sah mit ihren großen , klaren , so eigentümlich seelenoffenen Augen zu ihm auf .
" Ist es dir jemals so vorgekommen , -- in dieser ganzen Zeit , -- als ob ich heiraten wollte ? "
" Nein , -- das wohl nicht , " gab er zu , " aber es mußte schließlich -- "
" Ich konnte es auch gar nicht wollen ! " unterbrach sie ihn , " sage mir , will es denn etwa einer von euch , -- will es ein junger Mensch zum Beispiel , der seine ganze Jugend drangesetzt hat , um frei und selbständig zu werden , -- der nun gerade vor dem Ziel steht , -- auf der Schwelle , -- der das Leben gerade um deswillen lieb gewonnen hat , -- um des Berufslebens Willen , um der Verantwortlichkeit Willen , um der Unabhängigkeit Willen ! --
Nein !
Ich kann es mir einfach nicht als Lebensziel vorstellen , -- Heim , Familie , Hausfrau , Kinder , -- es ist mir fremd , fremd , fremd !
Vielleicht nur jetzt , -- vielleicht nur in dieser Lebensperiode .
Weiß ich_es ? --
Vielleicht bin ich überhaupt untauglich gerade dazu . -- --
Liebe und Ehe ist eben nicht dasselbe . "
Sie sprach rasch und erregt , sie vergaß ganz , wo sie war , und lehnte sich einfach mit dem Rücken gegen eine Hausmauer , vor der sie gerade standen .
Dies war sicher kein geeigneter Aufenthalt für eine solche Unterhaltung ; Max Werner fürchtete , sie könnte mit ihrem Tuchpelz an der weißbeworfenen Hauswand festfrieren , und außerdem rieselten die kleinen , feinen , runden Schneekornerchen unablässig um sie nieder .
Aber dabei war er selbst in einiger Spannung und Erregung ; er war , offen gestanden , bezüglich des Mannes , der da soeben Fenia einen Heiratsantrag gemacht hatte , nicht ganz ohne Schadenfreude , -- -- aber da hinein mischte sich ein ganz sonderbares Gefühl , -- fast ein verblüfftes , beleidigtes , -- fast , als sei er es , den sie abgewiesen habe . -- --
Das war die Verblüffung über ihre Worte , -- Worte einer Frau , die ganz so sprach , als sei sie ein Mann , und als sei es eine unerhörte Zumutung , einen Mann , seinesgleichen , zu heiraten .
-- " Das ist mir denn doch noch nicht vorgekommen , Fenitschka , " sagte er , und trat von einem Fuß auf den anderen , denn ihn fror sehr , "-- diese spitzfindige Unterscheidung zwischen Liebe und Ehe .
-- Wenn du deiner Liebe sicher bist , dann dürfen dich auch die Schwierigkeiten des Ehelebens nicht abschrecken , -- die wahre Liebe setzt sich drüber hinweg , -- glaube ich .
Und dann , siehst du , soll es ja auch gerade so schön sein , alles miteinander zu teilen , -- und besonders , wenn es für immer ist , -- und selbst wenn Krankheit , oder Sorge , oder sonstige Unannehmlichkeiten mitunterlaufen , -- nun , so hat man doch dafür ein wahrhaftes , wirkliches Stück Leben miteinander gelebt , -- und gerade das will die Liebe , -- sie will doch nicht etwa nur den Genuß ?
O nein , bewahre ! sie hat sozusagen die Tendenz zur Ehe . "
Fenia hörte ganz anfmerksam , mit zur Seite geneigtem Köpfchen zu ; unendlich lieb schaute sie dabei aus , mit ihren halbgeöffneten Kußlippen , -- wie jemand Lou Andreas-Salomé , Fenitschka. 6 ungefähr , der einer gar erstaunlichen Mär und Kunde lauscht .
"-- Denkst du das wirklich ? " fragte sie zweifelnd und erwartungsvoll , " -- ich meine , denkst du so im tiefsten Ernst ?
Hast du denn jemals diese Dinge so empfunden , wie du da sagst , -- gerade so ? "
"-- Ich ? -- -- Nun , ich selbst gerade nicht . -- --
Aber ich habe es von anderen gehört , " bemerkte er etwas kleinlaut .
Sie bückte enttäuscht den Kopf .
" Von anderen gehört ! " wiederholte sie .
Sie tat ihm leid .
Offenbar hatte sie von seinen halb ironisch gemeinten Worten eine Art von Hilfe in ihren Zweifeln erwartet , -- war er doch ihr Freund !
Es drängte ihn über die Maßen , sie wieder beruhigt und heiter zu sehen .
" Aber Fenitschka , " redete er ihr zu , " was kommt denn auf mich an !
Bin ich denn ein Vorbild auf diesem Gebiet ?! -- Nein , -- nicht wahr ?
Und überhaupt , was so ein Mann darüber spricht !
Ihr Frauen empfindet schließlich doch anders , -- besser , feiner .
-- Aus der Überzeugung heraus sprach ich .
Glaube mir , ihr wollt im Grunde doch die Dauer und vollkommene Zusammengehörigkeit , -- das weiß ich von der , die mich lieb hat , Fenia .
Denn wollte sie das im Grunde nicht , wollte sie nicht so inbrünstig das ganze Leben mit mir teilen , so wäre es ja keine rechte Liebe , sondern nur eine -- eigentlich eine reine Sinnen -- "
" Sondern nur eine rein sinnliche Leidenschaft , -- nur eine sinnliche , " ergänzte Fenia mit bedeckter Stimme , sah ihn an , und wurde plötzlich blaß .
" Ach Unsinn , Fenia , -- ich -- "
Sie antwortete nicht , sondern stand nur regungslos da , und in ihren Mienen prägte sich etwas ganz Ergreifendes aus , das ihn verstummen machte .
Wohl schaute sie ihn noch an , aber sichtlich ohne sich dessen bewußt zu werden , wohin sie gerade schaute ; ihre ganze Seele war nach innen gekehrt , -- hielt gleichsam den Atem an .
Ihre Augen öffneten sich weit , eine Art von Entsetzen flog durch sie hindurch , es war , als schlüge eine plötzliche Erkenntnis , einem Blitze gleich , ihr mitten durch die Seele .
Und langsam ergoß sich über ihre Wangen , ihre kleinen Ohren , über den Hals , soweit das Pelzwerk davon einen Fleck sehen ließ , -- eine warme tiefe Röte , -- immer flammendere Röte .
Und ehe Max Werner sich es versah , wandte sie sich von der Hausmauer fort , an der sie lehnte , und enteilte ihm plötzlich mit schnellen Schritten .
" Fenia ! Fenitschka ! " rief er bestürzt , und griff unwillkürlich nach ihr .
Aber er griff ins Leere .
In wenigen Sekunden schon war sie um die Ecke gebogen , und entschwand ihm unter den Menschen , die auf der Hauptstraße vorüberströmten .
Der Eindruck war ein ganz seltsamer .
Obgleich sie mit gesenkten Stimmen zu einander geredet , -- und mehr noch geschwiegen , als geredet hatten , war ihm mit ihrem Verschwinden doch , als sei mit einemmal eine laute , gewaltige Unterhaltung verstummt .
Still , ganz totenstill lag die breite Nebenstraße , wo sie gestanden , plötzlich da , wie eine schlafende verschneite Welt .
Und ganz verwunderlich klang aus dem tiefen Schnee jetzt wieder das helle Geschwätz der beiden umherrutschenden Kinder auf dem Fahrdamm und tönte hinter Fenitschka drein .
Max Werner hatte das Gefühl , daß er Fenitschka nach dieser Begegnung nicht gleich wieder aufsuchen dürfe , -- daß sie augenblicklich keinem Menschen Gesellschaft brauchen könne .
So ließ er den ganzen nächsten Tag verstreichen , ohne sie zu sehen .
Ein Brief von Irmgard kam am Vormittag ; er beantwortete ihn sofort , und berechnete zugleich das Datum seiner Ankunft in München .
Seine Abreise aus Rußland war von ihm längst auf diese Tage festgesetzt worden , aber noch nie hatte es ihn so gedrängt , wie heute , Irmgard wieder in die Arme zu schließen .
Und Fenia , trotzdem er sich erst gestern ein wenig in sie verliebte , trug die Schuld daran . --
Denn plötzlich wollte es ihm weit weniger selbstverständlich erscheinen als bisher , daß Irmgard ihn so stark und treu liebe , wie sie es tat , -- es drängte ihn daher , ihr das Geständnis ihrer Liebe aufs neue aus den Augen und von den Lippen zu lesen .
Im Grunde wußte er wohl : der Zweifel , der über Fenia gekommen , konnte über Irmgard niemals kommen , -- ganz zweifellos liebte sie ihn und ging ganz in dem Wunsch auf , mit ihm für immer das Leben zu teilen , -- in jedem Sinn es mit ihm zu teilen .
Ja , er wußte es , aber es beglückte ihn anders als bisher , und stimmte ihn dankbarer , weicher .
Er sagte sich , daß er für Irmgard von vornherein glücklicherweise mehr bedeute , als für Fenia ein Mann augenblicklich bedeuten konnte .
Er bedeutete für sie zugleich das einzige sie belebende Geisteselement inmitten ihrer konventionellen Familienkreise , -- er hatte mit ihrer Liebe , ihren Sinnen zugleich auch ihre geistigen Bedürfnisse geweckt und angeregt , ihre geistige Sehnsucht auf ihn und seine Entwicklung bezogen .
Das machte seiner Meinung nach einen gewaltigen Unterschied !
Wenn ein Mann mitunter eine Frau weniger tief und absolut liebt , als sie ihn , so mochte es nicht zum wenigsten damit zusammenhängen , daß sie für sein gesamtes Geistesdasein meistens eine geringere Bedeutsamkeit besessen hat , als er für sie .
Er erholt sich mehr bei ihr , als daß er ihrer außerhalb der Liebe bedarf . -- -- -- So erholte Fenia sich vielleicht von ihren eigenen geistigen Kämpfen und Anstrengungen bei dem Mann ihrer Liebe .
Nach Jahren konzentriertester Studien , asketischen Lebens eine unbewußt vollzogene , ganz naiv hingenommene Reaktion -- .
Erst der Heiratsantrag rührte ihre friedlich ruhenden Gedanken darüber plötzlich auf , ließ sie erwachen , -- sich klar werden .
Dem anderen mußte die Vorstellung , daß sie ihn nicht genügend liebe , um ihr ganzes Leben an ihn zu binden , natürlich völlig fern liegen .
Man nimmt ja wohl von minderwertigen Frauen an , daß ihre Neigung eventuell der Tiefe und Treue entbehren werde , -- hochstehenden Frauen gegenüber erscheint es als ein Sakri legium .
Und doch , fragte sich Max Werner , können dafür denn nicht dieselben Gründe maßgebend sein , die den Mann so leicht dazu verführen , seiner Liebe nur einen Teil seines Inneren zu öffnen , ihr Grenzen zu ziehen , sie neben , und nicht über seine sonstigen Lebensinteressen zu setzen ?
Die Frau , die ihr Leben ganz so einrichtet und in die Hand nimmt wie der Mann , wird natürlich auch in ganz ähnliche Lagen , Konflikte und Versuchungen kommen wie er , und nur , infolge ihrer langen anders gearteten Frauenvergangenheit , viel schwerer daran leiden .
Am Nachmittag traf er den alten Baron Ravenius auf der Straße und erfuhr von ihm , das Fenia krank sei , -- wenigstens habe sie Hausarrest .
" Wahrscheinlich hat sie sich in ihrem Eifer überarbeitet ! " fügte der Baron bekümmert und kopfschüttelnd hinzu .
Max ging sofort zu ihr .
Noch während er die Treppe hinaufstieg , öffnete schon die Wirtin im Kattunmorgenrock die Tür zum ersten Stockwerk und blickte mit einem widerwärtigen Ausdruck spähender Neugier heraus , wer da komme .
Als sie ihn erkannte , veränderte sich ihre Miene , sie war etwas enttäuscht und wurde zugleich wohlwollender .
Er gab ihr seine Karte und ließ fragen , ob Fenia ihn empfangen könne .
Der Bescheid kam sofort zurück , er möge nur eintreten .
Fenias Zimmer war künstlich verdunkelt .
Die Vorhänge vor dem Fenster waren niedergelassen , und sie selbst lag , in einem Schlafrock von feinem weichem Stoff , auf ihrer Ottomane ausgestreckt , das Haar in zwei hängenden Flechten und die Hände hoch über dem Kopf verschränkt .
" Was , Fenitschka , -- du bist krank ? " fragte er beim Eintreten und kam zu ihr .
Sie schüttelte den Kopf .
" Bin nicht krank .
Möchte nur dafür gelten .
Menschen sehen , ausgehen , ausfahren , ist mir jetzt unleidlich , -- nein , unmöglich .
Ich danke dir aber , daß du da bist . "
Möglich , daß sie nicht krank war , aber sie sah ganz so aus .
Selbst in dieser künstlichen Dämmerung sah sie blaß und erschöpft aus , und unter ihren Augen zogen sich tiefe Schatten .
" Fenitschka , " bemerkte er , indem er einen Stuhl zu ihr heranzog , " mir öffnete vorhin deine Wirtin die Tür , -- widerwärtig schaute das Frauenzimmer heraus , -- wie das schönste Exemplar von einem Spion .
Ist es dir nicht aufgefallen ? "
" Ja , sie ist jetzt ganz besonders neugierig und mißtrauisch geworden .
Sie achtet darauf , wer zu mir kommt . -- --
Wenn jetzt ein Klatsch entsteht , so entsteht er von hier aus .
Ich habe selbst schuld dran . "
" Aber dann darfst du hier doch nicht bleiben !
Den Hals umdrehen werde ich der Kanaille !
Seit wann ist es denn ? "
" Ich war unvorsichtig . -- --
, Er ' ist einigemal hier gewesen , " entgegnete Fenia apathisch .
" Das hättest du schon lieber vermeiden sollen , " sagte er besorgt , " warum auch gerade hier ? "
Sie zuckte die Achseln .
" Uns auswärts zu treffen , ist uns ja auch schlecht bekommen . -- --
Ach , laß doch !
Es liegt so gar nichts dran , " fügte sie freundlich hinzu .
Ihre Stimme fiel ihm auf .
So sanft und lieb klang sie , daß sie Rührung in ihm weckte .
Aber ein so matter Ton klang darin mit , -- -- und weckte auch Sorge , wie man sie etwa am Krankenbett von lebhaften Kindern fühlt , wenn sie plötzlich gar zu artig und gut werden .
-- Sie schwiegen eine Zeitlang .
Endlich sagte er :
" Ich war gestern nicht bei dir , weil ich nicht wußte , ob du mich sehen wolltest .
Aber gedacht habe ich an dich -- -- "
Sie unterbrach ihn mit einem Lächeln :
" Ich auch an dich .
Und an die erste Zeit unserer Bekanntschaft -- weißt du ?
Denke nur -- mir hat sogar in der Nacht davon geträumt . "
" Von Paris ? "
Sie richtete sich etwas auf , stützte sich mit der einen Hand auf das Polster der Ottomane und sah ihn an .
Das Stirnhaar hing ihr ein wenig wirr ins Gesicht .
" Verstehst du dich auf Traumdeutung ? -- -- ach , übrigens Unsinn , -- aber ich will dir erzählen . -- --
Es war in Paris , ja .
In dem Nachtcafé , weißt du ?
Ihr saßt alle da am Tisch , -- ganz wie damals . -- --
Und ich war auch da .
Aber ich war nicht bei euch am Tisch . "
" Sondern ? "
Sie legte sich wieder zurück , und schloß die Augen .
" Sondern irgendwo da . -- --
Irgendwo unter den Grisetten . "
" Ich verstehe nicht recht , Fenia .
Das ist ja ein ganz dummer Traum . "
" Nicht so dumm , wie du meinst -- -- .
Aber woher sollten Träume eigentlich auch klug sein ?
Ich glaube , unsere klugen Gedanken wirken nur wenig mit am Traumgewebe . -- --
Nein , alle die klugen Gedanken , die wir uns so allmählich erwerben , alle die aufgeklärten und vernünftigen Ansichten , die träumen wir wohl nur wenig . -- --
Im Traum taxieren wir uns anders , -- uns und die Dinge , -- verworren und wirr vielleicht , aber doch so ganz naiv . "
" Aber was redest du nur eigentlich , Fenia ? --
-- Du taxiertest dich im Traum -- ?
Nun , und ? "
" Nun , und da fand ich offenbar , daß ich mitten unter die Grisetten gehörte . "
Er sprang unwillkürlich auf .
Ein kurzer Laut des Unwillens entschlüpfte ihm .
Er wollte gegen sie aufbrausen , gegen diese Selbsterniedrigung , die ihn empörte und für sie beleidigte , aber er besann sich .
" Du bist krank , " sagte er , " du bist es wirklich , wie könntest du sonst so ganz den Kopf verloren haben . --
Fenia , ich erkenne dich gar nicht wieder .
Wußtest du denn nicht , was du tatest ? -- "
" Nein , genau gewußt habe ich es erst im Augenblick , als ich mich binden sollte .
Bis dahin verwechselte ich es wohl -- mit einer vollen , ganzen Liebe . "
" Ich glaube , du verwechselst es jetzt -- mit etwas zu Geringwertigem .
-- Denn über die Wirkung wenigstens war doch keine Täuschung möglich , -- über alles , was dich so schön und selig erscheinen ließ .
Ich sah es doch selbst , Fenia .
Und du selbst , sagtest du nicht so wunderschön :
es gäbe dir Frieden ? "
Sie verschränkte die Arme wieder über dem Kopf , und schaute mit einem sonderbar stillen Ausdruck gegen die Decke .
" Frieden ! " wiederholte sie .
-- " Sieh , er wußte wohl , daß von der Liebe keineswegs Frieden zu erwarten ist , -- nein , durchaus kein Frieden . --
Wie viel Schwanken und Quälen , wie viel Seelenarbeit und Seelenwandlung mag es geben , ehe ein Mensch sich so tief in den anderen hineinpflanzt , -- ja , so tief , daß die beiden nun wirklich aus einer Wurzel weiter wachsen müssen , wenn sie gedeihen wollen . -- --
So war_es bei ihm , -- und als es nun so weit war nach allem Kämpfen , -- da wurde es ihm aber auch so klar und einfach , -- so ganz klar , daß wir eins sind und einander die einzige Hauptsache im Leben . -- --
Mit so guten , leuchtenden Augen spricht er davon . -- --
Wie willst du es da wohl ändern , daß ich mich -- daß ich mich schäme . "
Die letzten Worte stieß sie undeutlich heraus , und sprang von der Ottomane auf .
"-- Frieden -- ?
Ja , es war so etwas , -- ein so träge seliges Ruhen war es . --
Aber seitdem ich erwacht bin , -- seitdem ich so klar weiß , was es ist , und erkenne -- -- nein !
ich kann_es nicht ertragen ! " sagte sie plötzlich wild , "-- mich selbst kann ich nicht ertragen in diesem Zustand von -- ; fort muß ich , das ist es !
Das Schwerste , das Notwendigste -- "
" Fort von ihm ? " fragte er bestürzt , " hast du daran gedacht ? "
" Es ergibt sich von selbst , wenn wir uns nicht offiziell binden wollen .
So wie die Lage sich zugespitzt hat .
Heimlich können wir uns nicht mehr sehen .
Dadurch ist er zuerst auf den Entschluß verfallen , um jeden Preis die Heirat zu ermöglichen . "
" Und er weiß , -- weiß er , daß du fort willst von ihm -- ? "
Sie sah ihn verständnislos an .
Ihre Augen brannten wie die einer Gestörten .
" Nein .
Wissen darf er es nicht . -- --
Wie käme ich sonst fort -- ?
Das begreife ich jetzt .
Aber doch wollt ich es ihm sagen , -- ich rief ihn dazu her . "
" Und was sagtest du ihm ? "
" Was ich ihm gesagt habe ?!
Ich wollte ihm sagen , ihn bitten : gehe fort von mir , -- gehe auf immer von mir fort !
Aber ich bat ihn nur : bleibe bei mir ! bleibe bei mir ! "
Und sie warf sich in ausbrechendem Schluchzen über die Ottomane und vergrub ihr Gesicht in den Polstern .
Max blieb daneben stehen , minutenlang , schweigend .
Er versuchte dann , ihr gut zuzureden , aber sie wehrte nur mit der Hand ab , und hörte nicht auf zu weinen .
Endlich murmelte sie : " Laß mich allein , -- bitte , laß mich ganz allein ! "
Da verließ er leise das Zimmer und ging , aufs äußerste besorgt und beunruhigt , nach Haus .
Den ganzen Abend kam ihm Fenia nicht aus dem Sinn , -- diese ganz neue Fenia , die er gar nicht erkannte .
Kein Mensch konnte ihr jetzt helfen , und doch schien es ihm ganz unmöglich , sie in ihrer Seelenverfassung sich selbst zu überlassen .
Der nächste Tag war ein Sonntag .
Am Morgen sprach er schon gegen zehn Uhr wieder vor .
Er fragte die Wirtin , ob Fenia zu sehen sei , und erhielt darauf in ihrem schlechten Französisch die kriechend-freundliche Antwort : " ja , sie sei sicher zu sehen , denn sie erwarte ohnehin Besuch . "
In diesem Augenblick stieß Fenia die Tür ihres Zimmers zur Treppe selbst auf .
Als sie ihn erblickte , stand sie wie versteinert .
Sie war im Straßenkleide , blaß , ernst , fast kalt im Ausdruck , -- völlig anders als gestern .
" Das ist ein großes Unglück ! " sagte sie , als die Wirtin in ihrer Wohnung verschwunden war , und ließ ihn zaudernd auf der Schwelle stehen , "-- ein wahres Unglück ist es , daß du gekommen bist . "
" Mein Gott , Fenitschka ! ich will dich doch nicht stören !
ich komme ein andermal .
Ich gehe also wieder . "
" Nein , nein !
es ist unmöglich , daß du fortgehst , " versetzte sie , und faßte ihn beim Ärmel , als er sich wenden wollte , "-- verstehe doch !
Er kommt gleich , -- er muß gleich eintreten -- "
" Nun , und ? "
" Nun , ich kann ihn nicht empfangen , wenn ich dich , vor den Augen der Wirtin , nicht empfangen konnte . "
Er wollte etwas erwidern , da ging unten eine Tür , jemand stieg die ersten Stufen hinauf .
Fenia zog ihn an der Hand in ihr Wohnzimmer .
Über ihr Gesicht flog etwas Aufblitzendes , das er nicht verstand , -- irgend ein Gedanke kam wie eine Erleuchtung über sie .
" Gehe hier hinein ! " sagte sie , und öffnete zu seinem grenzenlosen Erstaunen die kleine Tür zu ihrem Schlafstübchen .
"-- Hier hinein -- ?! "
Sie blickte ihn mit tiefernsten , glänzenden Augen an .
" Bist du mein Freund ? "
" Das weißt du , Fenia . "
" Dann habe Dank , daß du gekommen bist .
Dann leistest du mir vielleicht in diesem Augenblick den einzigen Dienst , den ein lieber , -- nur ein lieber , naher Freund mir leisten kann .
Bleibe dort in der kleinen Stube , bis -- bis er wieder fortgegangen ist .
Du darfst alles hören , -- es ist nichts , was nicht ein dritter hören dürfte . -- --
Aber wenn du hier wieder durchgehst , -- beachte mich nicht . "
Er starrte sie an -- .
Etwas so Entschlossenes sprach heute aus ihrem Wesen -- -- ; sie kam ihm vor wie der Fuchs , der sich die eingeklemmte Pfote selbst abreißt , um sich zu befreien .
Hatte sie plötzlich erkannt , daß seine Anwesenheit ihr helfen könnte , -- etwa dazu helfen , " nur zu sprechen , was ein dritter hören durfte , " um nicht wieder in die Worte auszubrechen : " bleibe bei mir , bleibe bei mir " -- -- ?
Es blieb nicht viel Zeit zum Siechbedenken .
Kaum hatte Max die kleine Schlafstube betreten , und war die Tür hinter ihm zugefallen , als es schon an der Vordertür klopfte .
Er sah sich in dem schmalen Raum , den das Bett fast ganz einnahm , flüchtig um , und lehnte sich ans Fenster .
Dort stand zwischen rot und blau gestickten grauleinenen russischen Vorhängen ein Rosenstock mit einer einzigen , eben aufbrechenden Knospe .
In der Wandecke daneben brannte das ewige Lämpchen vor dem üblichen Muttergottesbild .
Max Werner fühlte ein heftiges Unbehagen .
Welch eine seltsame Rolle spielte er doch da in Fenias Leben !
Man vernahm nur undeutlich , was nebenan gesprochen wurde , überdies redeten sie russisch miteinander .
Trotzdem antwortete Fenia unwillkürlich mit halber Stimme .
Daneben hörte man ein volles , weiches Organ , -- " seine " Stimme .
Er sprach und lachte , wie man im Glück lacht und spricht .
Nach kurzer Zeit wurde irgend etwas auf dem Gang draußen laut .
Es begann jemand vor Fenias Tür so eigentümlich zu schlürfen und herumzutreten .
Vielleicht war es die Wirtin in ihrer abscheulichen spionierenden Neugier , -- vielleicht auch nur ein Fremder .
Jedenfalls fingen sie drinnen plötzlich an deutsch zu sprechen .
Aber nun ließ Fenia ihre Stimme noch mehr sinken .
" Warum sprichst du nur so leise heute ? " fragte " er " sie erstaunt , "-- deutsch versteht ja hier keine Seele .
-- Und weißt du wohl , gerade daß du so rücksichtslos laut gesprochen hast , -- manchmal , bei Gelegenheiten , wo es gefährlich war , -- das liebte ich so an dir .
Du wolltest nicht unvorsichtig sein , -- aber du vergaßest es immer wieder , -- deine Stimme wußte von nichts Heimlichem , -- sie klang so kindlich und hell . -- --
Deine helle Stimme !
Immer höre ich sie , wenn ich allein bin .
Deine Stimme -- das bist du . "
Nach einer Weile sagte er :
" Nein , ich will nicht lange bleiben .
Nicht , wenn ich nur gewiß bin , -- ganz gewiß , daß du in wenigen Tagen zurückkehrst .
Ist das ganz gewiß ? "
" Glaubst du mir nicht ? " fragte Fenia .
Max Werner wollte nicht zuhören .
Es war albern und lächerlich , hier zu stehen und das anhören zu müssen .
Er lehnte sich gegen das Fenster und blickte hinaus .
Die Straße lag in sonntäglicher Vormittagsruhe da .
Von ungezählten Kirchen begannen langsam , eine nach der anderen , die Glocken zu läuten .
Die verschiedenen Gottesdienste gingen zu Ende .
Es schien , daß drinnen Abschied genommen wurde .
" Er " sagte , mit anderem Ton als bisher , schwer , gepreßt : " Ja , nur wenige Tage . --
Aber ich weiß nicht , wie mir ist . -- --
Könntest du jemals vergessen , was wir uns sind , Fenia ? "
In diesem Augenblick erst erinnerte Fenia sich nicht länger jemandes Anwesenheit .
Es war , als stürze sie in die Knie , oder an seine Brust , -- in diesem Augenblick war sie nur mit ihm allein .
-- " Niemals ! niemals ! " sagte sie weinend , außer sich , " niemals kann ich es vergessen , daß ich dein bin . "
Und mit einem Ausdruck , der Max durch alle Nerven ging , fügte sie hinzu :
" Ich danke dir !
ich danke dir ! " -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- Ein Stuhl wurde fortgeschoben .
Man vernahm nichts mehr .
Nichts als das Geläute der Glocken , das lauter und lauter anschwoll und mit seinen feierlichen Klängen wie ein Lobgesang das ganze kleine Zimmer erfüllte , -- -- und alle Glocken sangen und klangen :
" Ich danke dir !
ich danke dir ! " -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- Sie hatte sich in dieser Stunde für immer von ihm getrennt , -- getrennt aus einem unerträglichen Zwiespalt heraus , in den sie mit sich selber geraten war , aber sie dankte ihm , -- sie riß sich los , um entschlossen in eine ganz andere Existenz zurückzukehren , aber sie dankte ihm , -- und wenn sie an ihn zurückdachte , vielleicht noch in ihren spätesten Tagen , würde sie denken wie heute , über allen Zwiespalt hinaus :
" Ich danke dir !
ich danke dir ! " -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- Als es nebenan längst still geworden war , und Max die Tür öffnete und eintrat , stand Fenia am Fenster .
Sie wendete ihm den Rücken zu .
Mit den Händen hatte sie in die Vorhänge hineingefaßt und ihr Gesicht darin verborgen .
Er sah nur die gebeugte Rückenlinie , und es durchfuhr ihn das Gefühl , als hätte er dies alles schon einmal erlebt -- .
Aber er hatte nur in seiner Phantasie Fenia schon einmal trauernd und gebeugt gesehen . --
Lou Andreas-Salomé , Fenitschka. 7 Stumm schritt er durch das Wohnzimmer , und ging hinweg , wie sie es gewünscht hatte , ohne sie zu beachten oder anzureden .
Zwei Tage später reiste er aus Rußland fort , ohne Fenitschka wiedergesehen zu haben .
Sie wollte es so .
Eine Ausschweifung .
Hier in meinem lichten Atelier ist es endlich zur Aussprache zwischen uns gekommen , und nirgends anders durfte es auch sein , -- denn von sämtlichen Männern , die ich gekannt , gehörst du am engsten und intimsten in alles das hinein , was mich als Künstlerin angeht : mehr vielleicht noch , wie wenn du selbst ausübender Künstler wärst .
Wenigstens kommt es mir immer vor , als übte ich mit Kunstmitteln das ein wenig aus , was du mit dem ganzen Leben lebst , in deiner reichen Art , die Dinge voll und ganz zu nehmen und ihnen zu lebendiger Schönheit zu verhelfen .
Für solch ein volles , ganzes Ding nahmst du auch mich , und liebtest darum mich vor allen anderen , -- ich weiß es wohl .
In meinen Bildern und Skizzen , denen niemand so fein nachgegangen ist wie du , schien dir mein ganzes Ich enthalten zu sein , und dahinter -- ach dahinter lag nur eine alte Jugendschwärmerei , die kaum von der Wirklichkeit berührt worden ist .
Du hast darin ja auch recht .
Und doch -- und doch -- ?
Warum trennten wir uns dann bis auf weiteres , warum gehst du jetzt umher mit zögernder , halb schon versagender Hoffnung auf unsere Zukunft , -- und ich , anstatt in fröhlicher Arbeit vor meiner Staffelei zu stehen , warum sitze ich hier am Tisch gebückt , tief gebückt , und schreibe und schreibe , in allen Nerven gebannt vom Rückblick in meine Vergangenheit ?
Oder warum dann dein Argwohn , und mein Eingeständnis , daß ich nicht mehr kann , was ich so heiß möchte , -- nicht mehr mit voller Kraft und Hingebung lieben kann , gerade als ob ich ein ausgegebener , erschöpfter Mensch wäre ?
Handelte es sich um Überwindung von Vorurteilen , um zu vergebenden Leichtsinn und Fehl im üblichen Sinn , -- o handelte es sich doch darum !
Du , so ohne Bedenklichkeiten zweiten Ranges , du , der jegliches versteht und mitfühlt , würdest mir dadurch nicht verloren gehen .
Aber das ist es nicht , und dennoch ist es so :
mich hat eine lange Ausschweifung zu ernster und voller Liebe unfähig gemacht .
Jetzt , wo ich mir das klar zu machen versuche , kommt der Gedanke voll Erstaunen über mich : wie viel weniger unser Leben von dem abhängt , was wir bewußt erfahren und treiben , als von heimlichen , unkontrollierbaren Nerveneindrücken , die mit unserer individuellen Entwicklung schlechterdings nichts zu schaffen haben .
Seit ich überhaupt denken kann , seit ich von eigenen Wünschen und Hoffnungen bewegt werde , bin ich der Kunst entgegengegangen , habe ich mich an ihr entzückt , oder um sie gelitten , und lange noch ehe ich mich ihr wirklich widmen durfte , in irgend einem Sinne schon im Umkreis der ihr verwandten Sensationen gelebt .
Und trotzdem würde jetzt , wollte ich dir mein Leben erzählen , von der Kunst kaum die Rede sein , und kaum würde sie ärmlichsten Raum finden , riesengroß aber müßte in den Vordergrund treten , was doch in meinem individuellen Bewußtsein kaum existiert , und was mir selbst immer schattenhaft undeutlich geblieben ist .
An einem heißen Sommertag , weit hinten an der deutsch-galizischen Grenze , wo mein Vater damals in Garnison stand , saß ich einst als ganz kleines Mädchen auf dem Arm meiner früheren Amme und sah zu , wie sie von ihrem Mann über den Nacken geschlagen wurde , während ihre Augen in verliebter Demut an ihm hingen .
Der kraftvolle gebräunte Nacken , den sie der Hitze wegen offen trug , behielt einen tiefroten Striemen , doch als ich im Schrecken darüber zu weinen anfing , da lachte meine galizische Amme mir so glückselig ins Gesicht , daß mein Kinderherz meinen mußte , dieser brutale Schlag gehöre zweifellos zu den besonderen Annehmlichkeiten ihres Lebens .
Und vielleicht war es in der Tat ein wenig der Fall , denn weil sie sich , mit der fast hündischen Anhänglichkeit mancher slawischen Weiber , geweigert hatte , unser Haus zu verlassen , nachdem sie mich neun Monate lang mit ihrer Muttermilch genährt , fürchtete sie nun immer , ihr Mann möchte einmal aufhören zu ihr zu kommen und weder Liebe noch Zorn für sie übrig behalten .
Jedenfalls prügelte er sie oft , wenn er kam , und niemals tönten ihr die Volkslieder heller von den Lippen , als nach solch einem festlichen Wiedersehen .
Viele früheste Kindheitserinnerungen vorher und nachher , -- ja selbst noch jahrelang nachher , -- sind mir spurlos verblichen .
Aber etwas von der fast wollustweichen Demut im Ausdruck der Blicke und Gebärden meiner Amme in jenem Augenblick ist mir später oft noch im Gedächtnis wieder aufgetaucht , immer zugleich mit dem glückseligen Klang ihres gedämpften Lachens und mit dem Eindruck der brütenden Sonnenwärme um uns .
Wer will abwägen , wie unendlich zufällig , wie rein äußerlich bedingt es vielleicht ist , wenn mir bei dieser Erinnerung zum erstenmal ein wunderlicher Schauer über den Rücken gelaufen sein mag ?
Sind es aber nicht tausendfach Zufälle , die unser verborgenstes Leben mit heimlicher Gewalttätigkeit durch das prägen , was sie früh , ganz früh , durch unsere Nerven und durch unsere Träume hindurchzittern lassen ?
Oder liegt es vielleicht noch weiter zurück , und zwitschert uns , schon während wir noch in der Wiege schlummern , ein Vögelchen in unseren Schlaf hinein , was wir werden müssen , und woran wir leiden sollen ?
Ich weiß es nicht , -- vielleicht ist es auch weder eines Zufalls noch eines Wundervögelchens Stimme , die es uns zuraunt , sondern längst vergangener Jahrhunderte Gewohnheiten , längst verstorbener Frauen Sklavenseligkeiten raunen und flüstern dabei in uns selber nach :
in einer Sprache , die nicht mehr die unsere ist , und die wir nur in einem Traum , einem Schauer , einem Nervenzittern noch verstehen -- .
Meine Eltern sah ich immer nur in wahrhaft musterhafter Ehe , -- in einer jener Ehen , die gewiß selten genug vorkommen , wo das heranwachsende Kind in seiner intimen Umgebung fast nichts wahrnimmt , als wohltuende Harmonie ohne Erregungen .
Mit dieser Harmonie verhielt es sich aber so :
mein liebes Mütterchen tat alles , was mein Vater wollte , er aber alles , was ich wollte .
Seiner ursprünglichen Abstammung nach vielleicht wendischen Blutes , war er von beiden der Tem peramentvollere , Glänzendere , voll von künstlerischen , wenn auch vernachlässigten Anlagen und der unsinnigsten Zärtlichkeit für das einzige Kind , das auffallend seiner eigenen Familie mit ihrem dunklen Ton und ihrer fast südlichen Blässe nachschlug .
Er gab mir mit Enthusiasmus den ersten Zeichenunterricht und dispensierte mich von allen bürgerlichen Kleinmädchenbeschäftigungen .
Meine gute Mutter schüttelte wohl manchmal über uns beide den Kopf , doch da ich an Heftigkeit des Temperaments und der Wünsche dem Vater am meisten glich , so liebte sie mich am hingebendsten gerade in dem , worin ich ihr am fremdesten war , und hieß alles gut .
Ich aber ging inzwischen umher und diente glückselig jedem leisesten Wink dieser Eltern , deren Liebe in mir zusammenlief , und alles nach ihrem Willen aus mir hätte formen können wie aus erwärmtem Wachs , das dem zartesten Druck nachgibt .
In meinem siebzehnten Jahre wurden wir von der galizischen Grenze nach Brieg in Schlesien versetzt , und bezogen dort die schöne Obristenwohnung im Villenviertel unten am Fluß .
Von Brieg aus sollte ich noch weiter fort , ich sollte nun endlich unter der Leitung eines tüchtigen Lehrers der ersehnten Kunst zugeführt werden .
Von diesem Plan träumten mein Vater und ich auf das ernstlichste , doch kam es ganz anders , weil er zu kränkeln anfing , so daß keine Rede davon sein konnte , ihn zu verlassen .
Ich aber , -- ich verliebte mich über Hals und Kopf in meinen Vetter Benno Frensdorff .
Von Benno hatte ich seit meiner Kindheit viel im Hause sprechen hören , und immer im Tone außergewöhnlicher Achtung .
Er war , früh verwaist , mit Hilfe meiner Eltern erzogen worden , und fiel schon als Knabe durch den unheimlichen Fleiß auf , womit er , immer um bezahlte Nachhilfestunden bemüht , das Gymnasium absolvierte .
Dann studierte er Medizin , und befand sich jetzt als Hilfsarzt in der Kreisirrenanstalt von Brieg , wo ich ihn zum erstenmal kennen lernte .
Die vorzüglichen Eigenschaften , die man an ihm rühmte , hatten mir nur einen ganz vagen Eindruck gemacht .
Aber eine andere seiner Eigenschaften tat es mir augenblicklich an :
Benno war schön .
Schöne Menschen sind immer mein ganzes Entzücken gewesen , und wenn auch mein künstlerischer Geschmack heute etwas anderes darunter versteht als damals , so muß ich doch Benno auch heute noch zugeben , daß er in seiner jungen Männlichkeit , mit dem ernsten blonden Kopf und dem hohen Jünglingswuchs , wie man ihn nicht oft findet , ganz auffallend gut aussah .
Wenigstens stach er genügsam von den geschniegelten Referendare und Leutnants ab , die auf der Eisbahn und in den Kaffeekränzchen uns jungen Mädchen den Hof machten , und es gab ihm schon etwas Apartes , daß er durchaus keine Zeit fand , mit uns Schlittschuh zu laufen und Kaffeekränzchen zu besuchen , sondern schweigsam beiseite stand und durch seine Brillengläser jeden daraufhin zu beobachten schien , ob er nicht auch in sein Narrenhaus gehöre .
An Benno bin ich in einem erotischen und ästhetischen Rausch zum Weibe erwacht ; meine Neigung zu ihm war so zutraulich und leidenschaftlich zugleich , daß in mir , die ja auch nur Liebe gekannt hatte , nie der geringste Zweifel an seiner Gegenneigung entstand , obgleich Benno mich nicht stark beachtete .
Er hat mir später gesagt , eine Werbung um mich sei ihm bei seinen geringen Zukunftsaussichten und bei seiner scheuen Dankbarkeit gegen meine Eltern stets ganz toll und undenkbar erschienen .
So kam es denn , daß im Grunde ich um ihn warb ; mit berauschter Zuversichtlichkeit ging ich ihm entgegen , näher , immer näher , und in kurzem war ich seine Braut .
Sich so zu verlieben , hätte wohl auch einer anderen passieren können , selbst mit anderem Temperament als meines .
Daß diese Liebe erwidert wurde und zur Verlobung führte , ist ein unglücklicher Zufall ; hätten wir uns nun rasch heiraten können , so wäre wohl für mich die Enttäuschung auf dem Fuße gefolgt , oder aber es würde die Mutterschaft mich vielleicht in meinem ganzen Wesen stark verwandelt haben .
Von alledem trat nichts ein , wir konnten noch nicht bald heiraten , und unter den gefährlichen Liebkosungen des Brautstandes steigerte sich mein junger Liebesrausch zu einer Sehnsucht und Gemütsspannung , die das ganze übrige Leben förmlich entfärbte .
Um diese Zeit starb mein Vater , indem er mit tiefem Vertrauen meiner Mutter und mir Benno zum Hüter und Berater bestellte .
Monate voll schwerer Trauer folgten ; meine Mutter und ich , die beiden unselbständigen , verwöhnten Frauen , warfen alle unsere Hoffnung auf Benno allein .
Zunächst wurde die Wohnung im Villenviertel geräumt und ein Haus bezogen , das neben der Irrenanstalt stand , wo Benno sein Dienstzimmer hatte .
Es war ein altmodisch gebautes Haus , in dessen Erdgeschoß außer uns einer der angestellten Ärzte wohnte , über uns aber der Rendant der Irrenanstalt mit seiner Frau und zwei Töchtern .
Als wir dorthin umzogen , kam es mir vor wie eine Übersiedlung nach einem ganz fremden Ort , obwohl dieses Brieger Viertel gar nicht weit vom ältesten Mittelpunkt der Stadt , vom Rathaus und von den Gartenanlagen auf dem ehemaligen Wallgraben , entfernt ist , und ich oft genug den mächtigsten Gebäudekomplex , den Brieg besitzt , zum Himmel hatte aufragen sehen : die Kreisirrenanstalt und das Zuchthaus .
Aber erst jetzt sah ich sie wirklich :
das erste auf zwei Seiten von schönem Park umgeben , das andere von einer haushohen Mauer umschlossen , die einen Kranz spitziger Eisenstacheln trug , und an deren Fuß Haufen schneidender Glasscherben lagen .
Trotz dieser Verschiedenheit aber glichen sie einander im düstern Gesamteindruck , den sie machten , beides Gefängnisse leidender Menschheit , von denen die ganze Straße einen eigentümlich schwermütigen Anstrich erhielt .
Unsere Vorderfenster sahen geradezu auf das hohe Mauerwerk mit den Eisenstacheln , durch die Seitenfenster des Wohnzimmers aber erblickte man , über den parkumstandenen Hof des Irrenhauses hinweg , die vergitterten Scheiben der Abteilung für Tobsüchtige .
Am Abend nach unserem Einzug , während die alten zierlichen Barockmöbel mit ihren Goldleisten und geschweiften Beinen noch ziemlich ratlos umherstanden und nicht recht wußten , wo in diesen langen , niedrigen Stuben unterzukommen , erfaßte mich ein Ausbruch wilder Ver- Zweiflung .
Meine arme Mutter war so erschrocken , daß sie am liebsten gleich wieder fortgezogen wäre .
Sie erwog in aller Geschwindigkeit ganz im Ernst schon einen solchen Plan .
" Denn wir müssen ja nicht notwendig hier wohnen , -- nicht wahr , Benno ? wir können es ja schließlich auch in einer anderen Straße , " meinte sie .
Benno hatte sich kurz nach ihr umgewandt , er antwortete aber nichts , sondern ging nervös im Zimmer auf und ab .
Erst als meine Mutter hinausgegangen war , um für das Abendbrot zu sorgen , hielt er inne , kam auf mich zu und umfaßte mich rasch und heftig .
" Adine ! " flüsterte er heiß an meinem Ohr , "-- wenn ich nun hier , gerade hier mit allen meinen Zukunftsaussichten Fuß fasse -- ?
Und ich erhoffe das für uns !
Wirst du mich dann auch allein hier am Irrenhause wohnen lassen ? "
Ich sah ihn zaghaft an .
"-- Könnte das sein ? wird es -- wird_es so sein ? "
Er nickte nur leise .
Ich schwieg , und drückte mein Gesicht gegen seine Schulter und umschlang fester seinen Nacken .
Ich war schon besiegt , als er mich nur in die Arme nahm .
Natürlich blieb ich auch jetzt schon , wo er war , natürlich wollte ich , was er wollte .
Auch für die Zukunft .
Aber unser gemeinsamer Zukunftstraum , der sich nun hier verwirklichen sollte , und etwas wie eine unverstandene Angst flossen seltsam ineinander über in einem schwachen Gruseln , womit ich mich leidenschaftlicher , banger an seine Brust schmiegte .
Meine Mutter trat herein , und als sie uns so zusammenstehen sah , seufzte sie erleichtert auf .
" Nun ist wohl alles wieder gut ? " bemerkte sie fragend , und sah Benno an wie einen , der für alles Rat weiß .
Benno ließ mich los und antwortete voll Heiterkeit :
" Von Rechts wegen und meinen Wünschen nach müßte Adine in goldenem Königspalast wohnen .
Aber sie hätte mich ja nicht lieb , bliebe sie nicht hier . "
Die nächsten Tage ging ich umher und beobachtete unausgesetzt ein jedes Ding in meiner neuen Umgebung .
Meine tiefste Aufmerksamkeit erregte das Zuchthaus uns gegenüber .
Bisweilen konnte man zu einer bestimmten Morgenzeit einige Zuchthäusler sehen , die gefesselt schräg über unsere Straße zu irgend welcher Arbeit in einen der Gefängnishöfe hinübergeführt wurden .
Seitdem ich das bemerkt hatte , stand ich stundenlang mit müßig niederhängenden Armen am Fenster und wartete auf diesen Anblick .
Benno traf mich dabei an und schüttelte unzufrieden den Kopf .
" Du bist ein kleiner Faulpelz geworden , Adine , " sagte er , " ich kann nicht begreifen , was dir dran liegt , die Burschen anzusehen . "
" Ach , sieh nur hin , " versetzte ich gequält , " sieh nur , wie sie vorübergehen , ohne jemals den Blick zu heben .
Ich habe versucht , sie zu grüßen .
Wir würden sie doch so herzlich gern grüßen , nicht wahr ?
Aber sie sehen es gar nicht , sie wollen es vielleicht gar nicht sehen , -- -- vielleicht hassen sie uns im stillen ? -- -- und leben doch so dicht bei uns , -- so dicht , -- bis sie sterben . "
" Du mußt eine vernünftige Beschäftigung haben , " antwortete Benno darauf , " du wirst doch keine krankhafte und sentimentale Pflanze werden , Adine ?
Das kommt nur vom Müßiggang . "
Er hatte mehr recht , als er wußte :
Jahre nachher ist ein Sträflingskopf mein erster künstlerischer Erfolg gewesen .
Die Möglichkeit , mich künstlerisch in strenger Arbeit zu entwickeln , und mich auf diesem mir einzig natürlichen Wege von allen neuen Eindrücken zu entlasten , würde mich bald wieder froh gemacht haben .
Aber die Beschäftigung , die Benno für mich im Sinne hatte , führte mich in die Küche und an die Nähmaschine .
Meiner Mutter leuchtete das vollkommen ein , es war ja auch die nächstliegende Vorbereitung für mein zukünftiges Leben .
Am Kochherd und bei der Nähmaschine befreundete ich mich mit der ältesten Tochter des Irrenhausrendanten , der über uns wohnte , mit Gabriele , einem lang aufgeschossenen , rothaarigen , sommersprossigen Backfisch .
Sie hatte unendlich viel im Hausstand und für die kleine Schwester zu tun ; obgleich sie aber zwei Jahre jünger war als ich , erledigte sie alles immer außerordentlich rasch und gut .
Deswegen bewunderte ich Gabriele , während sie mich , trotz einer gewissen Liebe , etwas verachtete .
Eines Abends , als wir bei einer Näherei in meiner Stube saßen , sprach sie es ganz offenherzig aus .
" Es ist albern , daß du dich so mühst , da du ja viel lieber malen und zeichnen möchtest , " sagte sie , " ich will dir nur sagen , daß mir diese Arbeiten ganz ebenso verhaßt sind wie dir . "
" Dir ?!
Aber Gabriele , dann machst du es ja gerade wie ich ! " bemerkte ich voll Sympathie mit dem unerwarteten Leidensgefährten .
Sie schüttelte den Kopf .
" Ich tue es für ein Versprechen : daß ich dann später zum Oberlehrerinnenexamen lernen darf -- in Berlin , " versetzte sie , und konnte ein Lächeln der Genugtuung nicht zurückhalten .
" Manchmal lerne ich jetzt schon heimlich des Nachts dafür vor -- oder in Freistunden .
Siehst du , das hat einen Sinn !
Aber du -- du willst ja nur heiraten . "
" Bin ja verlobt , Gabriele , " sagte ich leise und selig .
" Man soll nicht verlobt sein , " meinte Gabriele geringschätzig , und betrachtete ihre langen rötlichen Hände , "-- ein Mann , huh ! ich könnte davonlaufen .
Warum du nur alles tust , was er will ? "
" Ich möchte gern ganz so werden , wie er will , " entgegnete ich unruhig , und fühlte plötzlich deutlich , daß ich gar nicht so war , wie er wollte , und daß Gabriele mir gewaltig imponierte .
Sie tat ja nur zum Schein Frondienste , in Wirklichkeit hatte sie ihr eigenes Ziel dabei .
Gabriele bemerkte halblaut und dringend :
" Mal du doch auch heimlich !
Zeichne heimlich .
Hat er es verboten ? "
" Nein , nein ! " rief ich heftig , " er hat mir sogar vorgeschlagen , Stunden zu nehmen .
Aber ich -- "
" Nun ? " unterbrach Gabriele mich gespannt .
"-- Ich glaube , ich liebe die ganze Kunst nicht mehr , -- nur ihn , " sagte ich , fast zitternd während ich es aussprach , aber im geheimsten Herzen war es doch nur Furcht , die mich von meiner geliebten Kunst hinwegscheuchte , Furcht wie vor der großen Verführung , der nichts widersteht :
ich fühlte , daß sie mich losreißen würde von allem , was Benno wollte , und was ich also selbst wollte , und mich ihm ganz fremd machen würde -- .
Ich konnte Gabriele nicht einmal um ihre sichere Kampfesfreude gegen ihre ganze Umgebung beneiden , denn ich war ja so leidenschaftlich bereit zu unterliegen , und sollte ich selbst darüber in tausend Stücke gehen .
Das Ideal einer kleinen Brieger Hausfrau , das ihr nur lästig und lächerlich erschien , und das sie deshalb nur so nebenher , mit halber Kraft , verwirklichte , trug für mich geheimnisvolle Märtyrer- und Asketenzüge ; ich ging einen Weg der gewaltsamen Selbstkasteiung aus lauter hilfloser Liebessehnsucht .
Die Folgen blieben nicht aus .
Ich wurde blaß und mager , und von immer krankhafterer Unsicherheit und Reizbarkeit .
Benno , der ohnehin die Grenzen des Normalen allzu eng steckte , und bei all seinen eingeheimsten Kenntnissen doch noch wenig Lebenserfahrung besaß , schien besorgt , meine Mutter fing an ratlos zu trauern .
Der ärztliche Ausdruck , der zuweilen in Bennos ohnehin so ernstem Gesicht vorherrschte , machte mich noch scheuer ; ich war ja jetzt seiner Liebe keineswegs mehr so naiv sicher wie einst : je untauglicher ich mir selbst für alles vorkam , was er mit mir vorhatte , desto unfehlbarer und autoritativer kam er mir vor , und seine Liebe als etwas nur durch Selbstüberwindung sicher zu Erringendes .
Lou Andreas-Salomé , Fenitschka 8 Durch diese gewaltsame Unterordnung unter ihn vermischte sich in meiner Leidenschaft das Süßeste mit dem Schmerzlichsten , fast mit dem Grauen .
Das ist ja gewiß nicht der Fall , wo ein Weib schon an sich viel untergeordneter ist als der Mann .
Sonst aber kann es zu einer furchtbaren Würze der Liebe werden , zu einer so ungeheuren Aufpeitschung der Nerven , daß das seelische Gleichgewicht notwendig verloren gehen muß .
Oft wenn ich abends schon zur Ruhe gegangen war , hörte ich an den gedämpften Stimmen , die bis zu mir herübertönten , wie Benno und meine Mutter noch lange im Zwiegespräch bei einander blieben .
Ich ahnte nicht , was sie miteinander berieten .
Ich erfuhr es erst , als geschah , was endlich geschehen mußte : als Benno unsere Verlobung auflöste .
Seltsamerweise habe ich von diesem entscheidenden Vorgang keine bis in die Einzelheiten präzise Erinnerung behalten .
Kaum weiß ich noch , was er mir sagte , -- nur meine eigene Stimme höre ich noch , und wie ich aufschrie in Schmerz und Entsetzen , wie ich niederstürzte vor ihm und die Hände zu ihm aufhob -- .
Von jener Stunde aber ging zwingend eine Macht aus , die in meiner Phantasie Bennos Bild übertrieb und fälschte , die ihn hart und grausam , streng und stark bis zur Überlebensgroße erscheinen ließ .
Konnte es anders sein ?
Wäre er sonst dazu imstande gewesen , mich trotz aller meiner demütigen Bemühungen unwürdig zu befinden und hinwegzustoßen ?
Meine Mutter weinte viel , gab ihm jedoch in allen Stücken recht , und reiste mit mir ins Ausland , wo ich mich erst erholen , dann aber ganz meinen alten Wünschen gemäß entwickeln sollte .
Als ich von Benno fortkam , meinte ich , daß er mich zu lauter jämmerlichen Scherben zertreten habe .
Lange Zeit litt ich halb besinnungslos .
Dann aber siegte das Glück , meiner Kunst leben zu dürfen , und erwies sich als stärker als die alte Jugendleidenschaft .
Einem Traum gleich , den man beim vollen Erwachen nicht mehr festzuhalten vermag , sank sie ins Schattenhafte hinab .
Meine Mutter zog später wieder zu Benno nach Brieg , und nur im Sommer sah ich sie auf Wochen , oder auch auf Monate bei mir .
Ich selbst verbrachte etwa sechs Jahre in tüchtiger Arbeit , bei manchen Entbehrungen und Anstrengungen , dann richtete ich mir hier in Paris mein kleines Atelier ein , -- und das war eine schöne Zeit : eigentlich die erste ganz sorgenfreie , ganz erfolgreiche Zeit .
Zum erstenmal atmete ich auf und nahm das Leben endlich auch wieder von seiner heiteren Genußseite .
Da , -- vor einem Jahr ungefähr , es war gegen Weihnachten , -- entschloß ich mich plötzlich zu einer kurzen Heimfahrt .
Meine Mutter hatte schon in ihren Briefen dringend darum gebeten , aber den Ausschlag gab ein Brief von Benno selbst .
Ich empfing ihn während eines kleinen Einweihungsschmauses in meinem Atelier und konnte ihn nur rasch , in Gegenwart von anderen , durchlesen .
Dennoch machte der Anblick der altvertrauten Handschrift mit ihren festgefügten runden Buchstaben einen ganz seltsam aufregenden Eindruck auf mich .
Benno schrieb unter dem Vorwand , den Wunsch meiner Mutter auch seinerseits noch zu unterstützen .
In Wirklichkeit trieb ihn jedoch etwas anderes zu diesem Brief : auf Grund von allerlei umlaufenden Gerüchten schien er beunruhigt über meine " allzufreie " Lebensgestaltung , wie er sie nannte , und hielt sich für verpflichtet , mich vor Verleumdungen zu warnen , -- oder auch vor mir selbst .
Ganz klar war es nicht , was von beidem er meinte .
Seine Worte enthielten viele philiströse Bedenklichkeiten , über die ich lächeln mußte , auch viel Unkenntnis des Provinzlers und Fachmenschen hinsichtlich des Lebens in Weltstädten und unter Künstlern .
Ja , das wußte ich ja nun längst :
Benno verkörperte nicht gerade den Begriff eines unfehlbaren Idealhelden , sondern mochte das Prachtexemplar eines eingefleischten Pedanten und Moralisten sein .
Ungefähr das Gegenteil von all dem , was jetzt meine leicht gefesselte Phantasie entzücken und verführen konnte .
Aber daß er sich erdreistete , so zu schreiben , daß er sich für verpflichtet hielt , so zu kontrollieren , was ich tun durfte und nicht tun durfte , -- er , der mich ja nicht einmal geliebt , -- nein , geliebt hatte er mich nicht , sondern fortgestoßen -- .
Ich konnte über eine unerklärliche Erregung nicht Herr werden , während ich unter meinen Gästen umherging , und lachte und scherzte .
In diesem Augenblick fiel mein Blick auf eine aufgeschlagene Mappe , worin ich einige wertvolle Kunstblätter aufbewahrte und die eben von einer jungen Malerin besehen wurde .
Obenauf lag die bekannte Radierung Klingers " Die Zeit den Ruhm vernichtend " .
Wie manches Mal schon hatte ich den gepanzerten Jüngling angeschaut , der , eherne Allmacht im Antlitz , dem vor ihm niedergeworfenen Weibe erbarmungslos mit dem Fuß in die Lende tritt ---- .
Plötzlich weckte er irgend eine Ideenassoziation in mir , plötzlich rührte er an irgend etwas , -- und eine lang , lang vergessene , eine tote Sensation meines eigenen Lebens regte sich dunkel -- .
Ich kann mit Worten nicht deutlich schildern , wie es war .
Ich glaube nicht , daß ich dabei an eine bestimmte Situation gedacht habe , zum Beispiel an Bennos brutale Lösung unserer Beziehungen , oder daran , daß ich mich damals von ihm " zertreten " fühlte , oder überhaupt an seine Person , -- aber doch hing es mit ihm zusammen , als mir ein Schauer über den Rücken ging , -- ein Schauer von so lähmend intensiver Erschütterung , daß ich unwillkürlich vor dem Bilde die Augen schloß .
Ich nahm nur noch mechanisch an der Unterhaltung Teil , innerlich blieb ich tief benommen , denn mir war , als starrte ich durch meine ganze Umgebung hindurch auf etwas , das sich nur lange verborgen gehalten hatte , aber doch immer dagewesen sein mußte , gleich schattenhaftem Hintergrund , -- oder als sänke mein ganzes glückliches gegenwärtiges Leben langsam zu meinen Füßen nieder , wie ein dünner blumengestickter Schleier , und dahinter stände hoch aufgerichtet das Wirkliche , Wesenhafte , -- -- ja was ? etwas wie die Silhouette eines gepanzerten Mannes ? oder Benno selbst , der mich in den Armen hielt und mich den ersten Liebesrausch lehrte , und das erste Grauen vor der Abhängigkeit der Liebe ? -- -- oder lag es nicht vielleicht weit , weit zurück in jener fernsten Kindheit , wo ich noch auf dem Arm meiner galizischen Amme saß , und die Sommersonne heiß um uns brütete , und wo von der erhobenen harten Hand des Mannes ein feuerroter Striemen auf dem demutsvoll geneigten Frauennacken blieb -- ?
-- -- Einige Tage später befand ich mich auf der Reise nach Brieg .
Während der langen Eisenbahnfahrt erzählte ich es mir selber wohl hundertmal , wie wunderlich eng und klein mir alles in der Heimat vorkommen werde , aber zugleich freute ich mich all dieses Engen und Kleinen , als des heimatlich Vertrauten , was ich nun wiedersehen sollte ; es durfte sich nicht weiterentwickelt haben , sondern mußte , um zu wirken , genau so geblieben sein , wie es war , gerade wie eine alte Kinderfibel , die ohne ihre naiven Lehren und Verschen auch nicht mehr ein Erinnerungsbuch wäre .
Es reute mich nicht mehr , Paris verlassen zu haben , trotzdem ich gerade jetzt dort den Winter hatte genießen wollen , -- und doch lag in der Stimmung , worin ich diese Reise unternahm , mir unbewußt , ein tieferer Leichtsinn , der von dunklen Sensationen träumte , als in allen Genüssen , zu denen ich mich dort hätte verleiten lassen können .
In Brieg langte ich am Abend nach neun Uhr an .
Den Tag meines Eintreffens hatte ich absichtlich nicht gemeldet , ich ließ mein Gepäck am Bahnhof und ging langsam über den Wallgraben unserer Steinstraße zu .
Es schneite .
Ein mächtiger Wind , von Norden daherfahrend , fegte über die Aderniederungen und die schlesische Ebene hin , das kleine Brieg lag förmlich eingesargt im tiefen weißen Winterschnee .
Bei diesem Wetter waren die winkligen Gassen trotz der Weihnachtszeit noch stiller , noch menschenleerer als sonst , und in den Häusern brannten die Lampen hinter fest zugezogenen Vorhängen .
Man konnte in dem von Schneeflocken umtanzten Laternenschein nicht gerade viel erkennen , aber das sah ich doch mit lebhaftem Bedauern , bis zu welchem Grade die alte charakteristische Stadtphysiognomie sich im Lauf der Jahre verjüngt zu haben schien .
Schon vermißte ich an den schmalen alten Häusern hier und da das köstlichste Giebelwerk , und überall hatte die schlechte Glätte billiger Modernisierung begonnen , die verfallende Schönheit zu ersetzen .
Auch Brieg ging also vorwärts !
es war nicht mehr ganz das alte , vertraute Städtchen , auf dessen winklige Enge ich mich gefreut hatte .
Der Fortschritt des Lebens mit seinen praktischen Anforderungen , der häufiger das Banale nützlich findet als das Seltene , hatte auch hier manches Schöne als Hindernis aus dem Wege geräumt .
Als ich bei unseren großen , einförmigen Anstaltsgebäuden anlangte , sah ich ganz nah am Eingang unseres Hauses einen Mann stehen , im weiten Mantel und eine Fellmütze auf dem Kopfe .
Er stand ganz regungslos da , und blickte mir entgegen , während ich mich am Parkgitter des Irrenhauses entlang ihm mehr und mehr näherte .
Der Laternenschein fiel ihm in den Rücken , so daß seine Züge im Dunklen blieben , aber ich wußte doch sofort , daß es Benno war .
Mich ergriff eine kindische Freude , so groß , wie ich sie nie für möglich gehalten hätte , zugleich mit dem Verlangen stehen zu bleiben .
Aber das erlaubte der Sturm nicht ; er blies mich von hinten an , als wehe er mich ihm einfach entgegen .
Ich konnte merken , wie an meinem Reisehut der zurückgenommene Schleier zerrte und flog , gleich einem ungeduldig aufflatternden gefesselten Vogel .
Und jetzt kam Benno mir langsam entgegen .
" Dina ! " rief er mit unterdrückter Stimme , noch ehe ich bei ihm war .
" Da bist du ja ! " sagte ich froh , ließ achtlos meine kleine Reisetasche auf den Schneeboden gleiten und streckte ihm beide Hände entgegen , "-- hast du mich denn erkannt ? "
" Adine ! so unerwartet und unangemeldet , -- von niemand empfangen ! " äußerte er wie in tiefem Staunen , und dann :
" Erkannt -- ja , erkannt , noch ehe ich wußte , daß du es sein könntest .
An deinem Gang .
Nur gerade am Gang .
Dies sorglos wiegende Schlendern , -- nur du gehst so , -- es sieht aus , als ob es auf der Welt nur lauter geebnete Wege gäbe , oder als schritte ein unsichtbares Wesen vor dir her , das sie dir ebnet . -- --
Und du kommst im Schnee -- -- zu Fuß ? "
" Ja freilich , zu Fuß , von Stein zu Stein , über das bekannte alte Pflaster .
Es war ja noch früh .
Schön war_es .
Der Schnee , der fiel so dicht ; --
das alte Brieg ! wie es aussah im Schneesturm ! "
Dabei blies uns der Wind immerzu die breiten Flocken ins Gesicht , während wir dastanden und sprachen , wie wenn ich bereits zu Hause wäre , wie wenn ich dazu nicht erst einzutreten brauchte .
Benno hob meine Reisetasche vom Boden auf und bemerkte :
" Deine Mutter , Tante Lisette , wird ganz außer sich vor Freude sein .
Sie konnte es kaum noch erwarten . "
" Ich gehe leise zu ihr hinein , -- gib mir den Schlüssel , " sagte ich und trat neben ihm ans Haus , "-- oder kommst du mit ? "
Er schüttelte den Kopf und wies nach der Irrenanstalt hinüber .
" Ich muß noch dorthin , -- stets um diese Stunde noch einmal inspizieren -- .
Also auf morgen .
Schlaf gut daheim . "
Ich gab ihm beim Eintreten noch einmal die Hand .
" Auf morgen ! " wiederholte ich heiter , " da sehe ich dich also eigentlich wieder .
Denn heute haben wir uns ja noch keineswegs wiedergesehen .
Zwei Stimmen im Dunklen !
Zwei Stimmen , die dem Wiedersehen vorausgelaufen sind . -- --
Und die nun aufhören müssen zu schwatzen . "
" Gute Nacht , Adine , Nimm die Hand fort , du klemmst dich , " sagte er beim Schließen der Tür .
Das klang so nüchtern und ängstlich , daß ich unwillkürlich noch einmal zwei Finger in die Türspalte steckte .
Ich rief hinaus :
" Ich muß dir noch sagen :
es ist schön , daß wir uns getroffen haben -- im Schneegestöber am Hause .
Es ist ja nur ein Zufall , aber gerade darum ist es schön . "
Die Tür fiel ins Schloß .
Einen Augenblick lang schien Benno draußen noch still zu stehen , wie wenn er lauschte , -- dann knisterte der Schnee unter den langsam sich entfernenden Schritten .
Auch ich , drinnen im schwach erhellten Hausflur , stand noch und horchte , -- ich horchte noch auf die beiden verklungenen Stimmen im Dunklen , als ob sie mir ein langes Märchen erzählten , und eigentlich ein neues Märchen , -- meine frohe , fast übermütige Stimme , die weit heller als die seine , und dann seine gedämpfte , zögernde Stimme , aus der so vieles -- so seltsam vieles unter den alltäglichen Worten hervorsprach , und die Worte förmlich leer und sinnlos machte durch diesen Unterklang -- . -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- Am nächsten Tage wurde ich durch einen langgezogenen schrillen Glockenton geweckt , der aus einem der Arbeitshöfe des Zuchthauses herüberschallte .
Meine Mutter , im großen Ehebett an der gegenüberliegenden Längswand , schlief noch , oder tat so , um mich nicht zu stören .
Durch das Fenster schimmerte hellgrau das Morgenlicht über die ausgeblichenen Cretonnevorhänge mit ihren lustigen grünen Blumen und Vögeln , und jedes einzelne der alten Möbelstücke sah mich vertraut und grüßend an .
Ich dehnte mich voll Behagen in meinen Kissen .
In dieser süßen Indolenz der Stimmung war es herrlich , sich hier ein wenig pflegen und verziehen zu lassen .
Bald genug kam ich ja wieder in mein eigenes Leben draußen zurück , in mein eigenes Schaffen und Genießen .
Mein Blick fiel auf das liebe faltige Gesicht im weißen Nachthäubchen , das über der verblaßten grünseidenen Steppdecke herausschaute .
Ohne diese gute Mutter mit ihren bereitwilligen Liebesopfern hätte ich mir nie meine freie , glückliche Künstlerexistenz erringen können .
Damit mir das gelingen möchte , saß sie nun hier so geduldig und einsam ohne Tochter , und mühte sich heimlich damit ab , sich für Malerei zu interessieren , was doch so ganz hoffnungslos war .
Der Offizierskreis in Brieg , ihr einstiger alter Gesellschaftskreis , äußerte sich ziemlich tadelnd über diese fernlebende Tochter , und ich wußte wohl , daß meine Mutter mich dann verteidigte wie eine Löwin ihr Junges , und daß die Leute sich des Todes verwunderten , bis zu welchen modernen Anschauungen sie sich dabei zuweilen verstieg .
Aber in Wirklichkeit war sie weder eine Löwin noch ein moderner Bahnbrecher , sondern ganz einfach eine einsame alte Frau , deren Lebensauffassung himmelweit von der ihres Kindes entfernt war -- .
Ich glitt geräuschlos aus dem Bett , kam auf nackten Sohlen zur Halbschlummernden und umhalste sie stürmisch .
" Mama , meine liebe Mama ! wie bin ich froh , bei dir zu sein , und wie dank ich dir für alle diese schönen -- schönen Jahre !
Jetzt auf einmal fällt es mir aufs Herz , wie viel du mir geschenkt hast , -- immerfort geschenkt , und nichts dafür bekommen , du liebste aller Mütter du ! "
Meine Mutter streichelte mich beschwichtigend über den bloßen Arm , und öffnete ihre blassen blauen Augen mit einem Ausdruck voll zärtlichen Glücks .
" Ich wurde schon ganz müde vom Liegenbleiben , du Langschläferin , " sagte sie , sich ermunternd , " ich glaube wirklich , mir sind die Glieder eingeschlafen .
Jetzt laß mich rasch in die Kleider kommen , Kind . "
" Wo steckt denn eigentlich Benno am Morgen ? " fragte ich , und fuhr in die Strümpfe .
" Ich habe ihn nebenan im Wohnzimmer gehört , ehe du wach wurdest .
Er wollte dich wohl schon begrüßen .
Jetzt aber könntest du zu ihm gehen , während er seinen zweiten Tee bei sich im Zimmer nimmt , -- das ist bald .
Es wäre freundlich von dir , -- du mußt gut gegen ihn sein , hörst du ?
Er ist ein so vortrefflicher Mensch , Adine .
Du mußt dich nicht dran stoßen , wenn er dir einmal ein wenig schroff vorkommt . "
" Dran stoßen ? ach nein , Mama , im Gegenteil .
Das gehört ja so unabänderlich zu ihm .
Ohne das würde es gar kein Wiedersehen sein . "
" Du bist es nicht gewöhnt .
Bist verwöhnt , mein Kind . "
" Eben darum , Mama , " bemerkte ich , und kam vor den Spiegel , um mein Haar aufzuflechten .
Unwillkürlich riß ich an den dunklen Strähnen , die sich eigenwillig unter dem Kamm lockten , denn ich hatte , was ich eigentlich nie habe : Eile .
Die Mutter saß halb angekleidet , mit im Schoß gefalteten Händen , daneben und betrachtete mich mit besorgter Zärtlichkeit im Gesicht .
"-- War es schön , -- der Einweihungsschmaus in deinem Atelier ? " fragte sie zerstreut .
" Ja , schön -- und lustig !
Später erzähle ich dir -- "
" Aber lieber nur mir allein , Adine , denn Benno -- "
" Nun , was ist mit Benno ? "
" Ja , stelle dir vor , er macht sich so leicht Gedanken deinetwegen , -- weil du so frei für dich lebst , und weil du so viel mit dem Tomasi bist , der Atelier an Atelier mit dir wohnt , -- und überhaupt -- "
" So .
Tut Benno das ? " bemerkte ich , und fühlte , wie eine Blutwelle mir ins Gesicht schoß .
" Ja .
Aber warum errötest du denn darüber ?
Du bist ja ganz rot geworden , -- wirklich , Adine .
Was ist es mit dem Tomasi ? " fragte die Mutter ängstlich .
" Aber nichts !
Du kennst ihn ja .
Wir sind eben Kollegen . "
" Nein , sage mir nur eins :
du glaubst doch nicht , daß du dich in jemand verliebt haben könntest in dieser Zeit ? "
" Das kann ich wirklich nicht so genau wissen , Mama . "
" Aber Jesus , Kind ! so etwas weiß man doch ! -- --
Nun , übrigens , dann ist es auch nichts , " sagte die Mutter beruhigt , und griff nach ihrem Kleide .
Ich ließ den Kamm sinken und betrachtete im Spiegel nachdenklich mein eigenes Bild .
Mir fuhr der Gedanke durch den Kopf , daß ich Benno auf seinen eigentümlichen Brief ziemlich wahrheitsgemäß hätte antworten können : " wenn die Gerüchte Unrecht haben , und du mit deinen geheimen Zweifeln auch , so ist das nur dein eigenes Verdienst .
Du hast mich vielleicht auf lange Zeit für mancherlei untauglich gemacht durch den allzu stark gewürzten Wein , den ich bei dir getrunken habe .
Dagegen fällt jeder andere Rausch ab . "
Laut sagte ich :
" Ich bin übrigens ganz unschuldig dran , daß ich mich nicht einmal gehörig verliebe .
Es ist sonderbar genug . "
" Das kommt , weil du malst , mein Kind , " bemerkte die Mutter so resigniert , daß ich anfing zu lachen .
" Nun ja , wenn du nicht maltest , so würdest du wohl verheiratet sein , -- und ich würde einen kleinen Enkel haben ! " fügte sie etwas verdrießlich hinzu .
Ich nahm sie beim Kopf und küßte sie .
" Ach , beim Malen ist man eigentlich immer etwas verliebt . -- --
Man malt immer irgend etwas Verliebtes aus sich heraus , scheint mir . -- --
Aber all das ist so fein und flüchtig und wunderlich , und heiraten läßt es sich nicht .
Wie schaffe ich dir also einen kleinen Enkel ? "
Meine Mutter hatte brummend ihren Kopf freigemacht , sie seufzte nur , und sah schweigend nach dem Kaffeetisch .
In ihrem heimlichen Inneren war sie so froh , daß wir wieder zusammen dasaßen und unseren Morgenkaffee tranken , daß ihr kein Unsinn , den ich sprach , etwas anhaben konnte .
Manchmal mochte sie allerdings ein wenig verwirrt werden über das viele , was ich ihr schon vorgeredet hatte , und was von ihrer Mutterseele ganz friedlich neben ihren eigenen Ansichten und Auffassungen beherbergt und verarbeitet wurde .
Mutterboden mag wohl ein fruchtbarer Boden sein , worauf die verschiedensten Dinge durcheinander wachsen und gedeihen können , aber Mühe mochte es ihr wohl bisweilen machen , sich in diesem zärtlichen Krautgarten zurechtzufinden , über dem , alles segnend , eine so große Sonne der Liebe schien -- .
Nachdem ich mein Frühstück beendet hatte , ging ich sofort zu Benno hinüber .
Seine Zimmer waren von denen meiner Mutter durch den weiten , ganz primitiv mit roten Ziegelsteinen ausgelegten Hausflur getrennt , und wurden früher von einem anderen der Hilfsärzte bewohnt .
Seit längerer Zeit bekleidete Benno eine sehr angesehene Stellung an der Irrenanstalt , als eine Art von Bevollmächtigtem des Direktors , der alt und kränklich war , und ihn zu seinem Nachfolger vorgeschlagen hatte .
Die Briefe meiner Mutter erzählten mir stets Wunderdinge von Bennos Tüchtigkeit und fieberhaftem Berufsfleiß .
Ich pochte leise an die Tür seines Studierzimmers , doch niemand antwortete darauf .
Ich öffnete sie und blickte hinein .
Niemand war anwesend .
Vor dem Kaminofen , worin ein helles Feuer brannte , stand zwischen zwei Sesseln ein Metalltischchen , worauf alles zum Theetrinken vorbereitet war .
Ein blankes Kesselchen dampfte über einer Spiritusmaschine .
Jedenfalls war Benno schon hier gewesen und wieder abgerufen worden .
Ich setzte mich in einen der Sessel und schaute mich um .
Sehr viel behaglicher sah es hier aus als in dem häßlichen , kahlen Dienstzimmer , das Benno ehemals im Irrenhause innegehabt , und das ich immer nur mit Grausen besucht hatte , denn jedes Geräusch dort und jeder Anblick entsetzten mich .
Und dennoch tat es mir jetzt fast leid , daß ich ihn hier wiedersehen sollte , und nicht in dem Rahmen , der dort zu ihm gehörte .
Ich behandelte ihn in dieser pietätvollen Regung unwillkürlich ganz als Bild -- .
Da ging die gegenüberliegende Tür auf , und Benno trat aus seinem Wartezimmer herein .
" Grüß dich Gott ! " sagte er mit seiner verhaltenen Stimme und kam , fast etwas ungeschickt , mit ausgestreckter Hand auf mich zu .
Als ich meine Hand hineinlegte , hielt er sie einige Sekunden lang fest und hinderte mich dadurch , mich aus meiner halbruhenden Lage aufzurichten .
" Bleibe sitzen ! gerade so , wie du gesessen hast , aber den Kopf hebe , und gegen das Licht ; ich muß dich doch deutlich wiedersehen , " sagte er wie entschuldigend .
Ich fand keine Entgegnung und gehorchte nur , den Kopf zurücklehnend und den Blick zu ihm hebend , während ich fühlte , daß ich unter dem seinen errötete .
" Wie gesund und hell und glücklich du ausschaust , -- -- und wie schön ! " sagte er treuherzig .
Aber zugleich wurde er befangen und trat etwas zurück .
Ich überflog seine ganze Gestalt und sein Gesicht .
Das Gesicht erschien mir zu sehr gealtert in diesen sechs Jahren .
Die unausgesetzte , nervenaufreibende Tätigkeit hatte verfrühte Falten in seine Stirn gezogen und das weiche aschblonde Haar an den Schläfen ein wenig gelichtet .
Ob er wohl noch die interessanten , furchterweckenden Irrenarztaugen hat ? dachte ich und suchte seinen Blick .
Aber auf den Gläsern der Brille blitzte und glitzerte das Morgenlicht , und mir kam der Gedanke , wie viel öfter ich überhaupt dieses alles verdeckende Brillenfunkeln gesehen hätte , als den dahinter vermuteten Augenausdruck .
Lou Andreas-Salomé , Fenitschka. 9 Das Wasser im Kesselchen zwischen uns brodelte heftig , und um das Schweigen zu brechen , bemerkte ich heiter :
" Ich bin zu deinem Frühstück hergekommen , wie du siehst .
Wirst du mir auch zu trinken geben ? "
Er deutete auf eine zweite Tasse , die bereit stand , und äußerte zögernd :
" Ich hoffte , du würdest kommen . -- --
Willst du nicht , -- -- wenn es dir nicht -- -- willst du mir nicht die Freude machen , uns den Tee zu bereiten ? "
Ich erhob mich und griff nach dem Teetopf .
Aber während ich mit dem Geschirr hantierte , trat wieder das Schweigen ein , und ich fühlte mit Verlegenheit , wie Benno , der stumm dasaß und rauchte , den Blick nicht von meinen Händen ließ .
Es war etwas so ganz anderes , sich im vollen , nüchternen Tageslicht wiederzusehen , als am Abend vorher in der Schneenacht .
Man scheut sich unwillkürlich vor all den leise Mitflüsternden Erinnerungen , die schwer sind von alten Träumen , und die sich in der hellen Wirklichkeit des Tages nicht zurechtfinden können , sondern allem unversehens phantastische Lichter aufsetzen , -- blasse , mystische Lichtlein -- .
" Es geht nicht an , daß wir hier stumm dasitzen , " dachte ich unruhig und sagte schließlich hoffnungslos , nur um irgend ein lautes Wort zu finden , scherzend :
" Du willst wohl aufpassen , ob ich bei meinem Farbenkleckserberuf noch zur geringsten weiblichen , häuslichen Arbeit tauglich geblieben bin . "
" Ach nein , " versetzte er so ernsthaft erstaunt , daß man seiner Stimme anhörte , von wie weit er eben herkam , " -- du bist ja , -- du hast ja anderes zu tun gehabt .
Jedenfalls Interessanteres .
Besonders Paris ist ja die große Stadt aller Genüsse . "
" Das ist sie gewiß , aber die große Stadt der Arbeit ist sie auch , des rastlosen Weiterarbeitens , " versetzte ich , und schob ihm sein Glas Tee zu .
Er rührte mit dem Löffel darin herum , dann fragte er unvermittelt :
"-- Der Tomasi , -- wie ist denn der ? "
Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken über die unbeholfene Art , wie der Pedant und Moralist aus ihm herausrückte .
" Von meinen Kollegen ist er mir der liebste Genosse , " gab ich zu , " ich danke ihm viel Anregung und Freundschaft .
Als ich mir den linken Arm verstaucht hatte und der Ausstellung wegen so eilen mußte , um doch noch fertig zu werden , da hat mir der Tomasi die besten hellen Morgenstunden geopfert , und mir den Arm untergeschoben und mir die Palette gehalten .
Das kann nämlich nur ein sehr lieber Freund tun . "
" Den Arm so ausdauernd unterschieben , -- das glaube ich , " meinte Benno , und rauchte so stark und unausgesetzt , daß eine Wolke um ihn stand .
Ich lachte , ganz lebhaft geworden .
" Nein , aber die Palette halten , " verbesserte ich , " denn der linke Arm mit der Palette arbeitet mit , mußt du wissen , er muß lebendig zu einem selbst gehören . "
Benno stieß gewaltsam die Asche , die sich kaum noch an seiner Zigarre angesetzt hatte , am Glasteller ab .
" Lebendig zu einem selbst .
So kann natürlich nur ein Künstler zu dir gehören , " bemerkte er , und stand unmotiviert auf , ohne mich anzusehen .
Dabei sah ich plötzlich das Finstere , Gequälte in seinem Gesicht .
Mitten aus der Plauderei heraus , wobei ich für den Augenblick gar nicht mehr an ihn gedacht hatte , sah ich ihn plötzlich so , wie ihm wirklich zu Mute war : in mühsam verhaltener Erregung , -- in zorniger Eifersucht -- .
Daher also sein Brief !
Das war nicht pedantische Moralisterei gewesen , -- nein , -- Liebe -- .
Es kam ganz unerwartet über mich , ein Blutstrom , der rasch und heiß zum Herzen quellt , und ein Erschrecken .
Ja , eigentlich ein nachträgliches Erschrecken :
denn wenn ich das geahnt hätte in der ersten Zeit unserer Trennung , -- geahnt , daß auch er leide , und daß er mich liebe , -- ich wäre ja besinnungslos zurückgestürzt zu ihm .
Jetzt freilich konnte ich das nicht mehr wollen .
Aber auch er sollte es nicht wollen .
Nein , auch er soll es nicht , dachte ich , und mein Herz schlug zum Zerspringen .
Denn ihm , seinem Willen , diesem harten , engen , bewußten Willen , bin ich schon einmal erlegen .
Die Erinnerung daran durchrieselte mich heiß und beinahe lähmend .
Benno blickte mich staunend und ungläubig an .
In meinem Mienenspiel mochte sich etwas von dem verraten , was in mir vorging .
Eine Möglichkeit mochte in ihm aufdämmern , mich wieder zu fassen .
Wenigstens schien es mir so , -- und da schien es mir geradezu , als käme er mit einer Riesenkeule bewaffnet auf mich zu , um mich niederzustrecken .
"-- Benno -- ! " sagte ich schwach , erschrocken , wie jemand , der sich wehren soll , und nicht kann .
Der schwache Ausruf durchzitterte ihn förmlich .
Mein Gebaren mußte ihn in eine Zeit zurückversetzen , wo mir dieses furchtsame Gesicht und diese furchtsame Stimme ihm gegenüber natürlich waren .
Unwillkürlich , wortlos , fast ohne zu atmen , beugte er sich über mich -- .
Da streckte ich angstvoll meine Hand gegen ihn aus , sie mit einer unsicheren Bewegung zwischen seine und meine Augen schiebend , als müßte sie ihm meinen Blick verdecken und mich seinem Blick entziehen , wie einer unkontrollierbaren Macht , die noch einmal mich mir selber rauben könnte .
"-- Nein -- nein ! -- nicht ! zu spät ! " murmelte ich .
Er richtete sich auf und legte die Hand über die Augen .
Ohne ein Wort der Erwiderung verließ er das Zimmer .
Ich starrte ihm nach .
Ich weiß nicht , wie lange ich da noch sitzen blieb , in seinem Zimmer , in seinem Sessel .
Ich war ja heimgekommen , um Reminiszenzen zu feiern .
Um in ein paar alte Erinnerungen niederzutauchen .
Ich wollte mich sogar an all dem freuen , was an ihnen meinem jetzigen Geschmack widerstand , -- denn all das gehörte ja zu ihnen , und auf mein wirkliches Leben hatte es keinen Einfluß .
Dies da aber war keine Erinnerungsgewalt gewesen .
Nein , dies da war eine Lebensgewalt , eine Wirklichkeitsgewalt , die mich selber bedrohte .
Konnte ich nicht fort ? konnte ich denn nicht fliehen ? kannte ich denn nicht die Folgen , den Zusammenbruch von allem , ja von allem , was meinem Wesen und meinem Leben Wert gab ?
Ja , das alles wußte ich .
Ich wußte auch , daß sich mein Leben niemals wahrhaft mit Benno verknüpfen ließ , -- und daß es keine Liebe zu ihm war , die mich hielt .
Keine Liebe , -- etwas Dunkleres , Triebhafteres , Unheimlicheres -- -- .
Wie ein Blitz , -- Warnung und Symbol zugleich , -- glitt an meiner Seele das Bild der Klingärschen Radierung vorüber -- .
Nein , -- ich konnte nicht fort .
Am Nachmittag besann ich mich darauf , daß ich seit meiner Ankunft Gabriele noch nicht begrüßt hatte , und stieg die Treppe zur Rendantenwohnung hinauf .
Fast gleichzeitig betrat Gabriele von der Straße her den Hausflur unten , am Arm ein großmaschiges Marktnetz , aus dem sich allerlei Gemüsesorten hervordrängten .
Sie lief rasch ein paar Stufen aufwärts , ehe sie mich aber oben stehen sehen konnte , wurde ihre Aufmerksamkeit durch Benno abgezogen , der gerade über den Flur schritt , um aus seinen Wohnräumen zu meiner Mutter hinüberzugehn .
Gabriele beugte sich über die Treppenbrüstung .
" Guten Abend , Herr Doktor ! " rief sie ihn an , " ich bin ganz böse auf Sie .
Gestern und vorgestern Nacht brannte ja wieder so spät Licht in Ihrer Studierstube .
Ich kann den Schein sehr gut von oben bemerken !
Sie arbeiten aber wirklich zu spät . "
" Ich muß wohl , Fräulein Gabriele , " antwortete Benno , " übrigens geben Sie mir gewiß an Fleiß nichts nach .
Aber ich verspreche Ihnen , heute abend früher auszulöschen und mich brav schlafen zu legen . "
Das ist ja ein drolliges Versprechen ! dachte ich , inner lich belustigt , als Gabriele aufschaute , mich bemerkte und mir nun eilig die Treppe nachsprang .
" Gott , wie lieb von dir , zu kommen ! " rief sie atemlos und umarmte mich mit der alten Mädchenherzlichkeit , " ich wäre schon selbst bei dir gewesen , mochte euch nur nicht gleich stören . "
" Wie hübsch du geworden bist ! " sagte ich und betrachtete sie voller Freude .
Gabriele glich gar nicht mehr dem langen , rothaarigen Backfisch von ehedem ; ihr rötliches , sehr feines und krauses Haar umsprühte förmlich leuchtend ein Gesicht von den zartesten weißroten Farben , und von den Sommersprossen schienen nur ein paar ganz pikant wirkende Tupfe über der Nasenwurzel übrig zu sein .
Größer als ich , auch von derbem Knochenbau , bot sie ein Bild blühender Kraft .
Sie hatte die Tür aufgeschlossen und führte mich in das wohlbekannte Eßzimmer mit der karierten Wachstuchdecke auf dem langen Tisch und dem Nähtisch am Fenster .
An diesem Fenster , das von der starken Zimmerwärme leicht beschlagen war , lehnte ihre jüngere Schwester Mathilde , Mutchen genannt , zwischen den weißen Mullvorhängen und malte mit dem Zeigefinger mystische Buchstaben auf die Scheibe .
" Mit dem bißchen Ordnen der Tischwäsche hättest du auch fertig werden können , scheint mir , " bemerkte Gabriele verdrießlich , und warf einen Blick über die Stöße von Servietten , die neben einem halbgeleerten Wäschekorb auf den Stühlen umherlagen , " es gibt ohnehin vor Weihnachten noch viel zu tun . "
Mutchen fuhr bei unserem Eintritt ein wenig zu sammen und drehte sich so geschwind herum , daß der kurze Mozartzopf in ihrem Nacken mitflog .
Sie war eine ganz allerliebste kleine Person von etwa achtzehn Jahren , und der heiterste Übermut blitzte aus ihren hübschen Augen .
Als ich sie herzlich begrüßte und sie fragte , ob sie sich meiner auch noch erinnere , da sah sie mich mit großen , listigen Augen an und atmete tief auf .
" O ja ! " sagte sie , " aber damals waren Sie anders -- .
O , so wie Sie , -- ja , so möchte ich aussehen ! "
" Aber warum denn , Mutchen ? was ist denn mit mir ? " fragte ich verwundert über diesen Ton .
Sie flog auf mich zu , küßte mich und flüsterte lachend :
" Ich meine nur , weil Sie so aussehen , daß jedermann -- jeder Mann -- Sie gern haben muß . "
" Wirst du aufhören , mit solchen Dingen zu tändeln ! " rief Gabriele aufgebracht , die eben ihre Sachen abgelegt und nur die letzten Worte recht gehört hatte , " du bist das unnützeste Geschöpf auf der Welt .
Es ist nicht das geringste Vernünftige mit ihr aufzustellen , " fügte sie unwillig , zu mir gewandt , hinzu , während Mutchen trällernd entfloh .
" Ich kann mir denken , daß sie dir auch jetzt noch zu tun gibt , " sagte ich , " überhaupt habe ich dich innig nach dem Tode eurer Mutter bedauert .
Denn nun bist du natürlich hier gebundener als je .
Und du hattest doch ganz andere Pläne . "
" Ich habe sie noch -- für einen gewissen Fall , wenn der eintritt , " antwortete Gabriele und setzte sich zu mir , " aber es ist mir einstweilen recht , hier zu sein und den Hausstand weiterzuführen .
Das kann ich dir nicht erklären .
Doch sei gewiß , gegen meinen Willen täte ich es nicht . "
Ich schaute sie nicht ganz ohne die alte unwillkürliche Bewunderung an , wie sie das so fest und ruhig aussprach .
" Das glaube ich von dir , " erwiderte ich , " mir wäre_es unmöglich , etwas so gegen meine intimste Umgebung durchzusetzen . "
" Dir -- ?! "
Gabriele lachte ; " du hast ja gerade dein Ziel gegen deine ganze Umgebung durchgesetzt . "
" Durchgesetzt ? -- nein , nichts .
Alles nur geschenkt bekommen , " bemerkte ich leise .
Sie zuckte die Achseln .
" Du bekommst es eben geschenkt , -- wir anderen müssen es erobern . -- --
Aber nur eine törichte Heirat hätte dich aus dem Geleise werfen können . "
" Das könnte auch dir noch passieren , Gabriele . "
Sie wurde sehr rot und entgegnete heftig :
" Du meinst doch nicht etwa , daß die Brieger Herren dafür in Betracht kämen ?
Die sind heute noch genau so schlimm , wie sie damals waren . "
" Wie denn : schlimm ? " fragte ich .
" Noch ebenso anmaßend und dünkelhaft und zurückgeblieben in ihren Anschauungen , angefangen vom kleinsten Beamten bis hinauf in die Offizierskreise .
Nur die Form ist je nach ihrem Stande verschieden , das Wesen ist dasselbe .
Glaubst du , auch nur einer von ihnen ahnte etwas davon , daß wir doch nicht mehr denken wie unsere Mütter und Großmütter ?
Daß wir nicht mehr lauter Käthchen sind , die wimmern : , mein hoher Herr ! ' sondern daß wir unser eigener Herr geworden sind ? -- kurz , daß wir mit den alten knechtischen Vorstellungen aufräumen -- . "
" Ach , tun wir das wirklich ? " fragte ich ganz erstaunt , " nein , denke nur ! wer tut denn das eigentlich ? "
" Das weißt du nicht ?
Adine , du scherzest wohl !
Du , die so weit herumgekommen ist , du , die sich so frei entwickelt hat , -- ja , was hast du denn die ganze Zeit getan ?! "
" Ich ?
ich habe ja gemalt ! " sagte ich ganz betreten .
" Nun ja , gemalt !
Aber während man malt , denkt man doch an etwas !
Hast du denn dabei nie über Liebe und Ehe nachgedacht , und wie die sich zu unseren persönlichen Rechten verhält ?
Das ist sehr Unrecht von dir .
Und dir lag das doch nah genug :
denn eigentlich ist doch deine Verlobung daran gescheitert .
Nur daran :
denn wenn irgend ein Mann dazu imstande gewesen ist , sich in diesem Punkt vernünftig erziehen zu lassen , so ist es jedenfalls Doktor Frensdorff . "
Ich schüttelte verwundert den Kopf .
" Darin irrst du dich , Gabriele .
Seine zauberhafteste Wirkung war seine Tyrannei .
Und so ist es wohl meistens . "
Gabriele warf einen forschenden Blick auf mich .
" Du redest wie deine eigene Urgroßmutter ! " bemerkte sie kurz .
" Unsere armen Urgroßmütter ! " sagte ich lächelnd , " die wußten freilich rein gar nichts von solchen Neuerungen .
Die einzige Form ihrer Liebe war wohl Unterordnung , -- in dies Gefäß schütteten sie alle ihre Zärtlichkeit .
Sollte nicht auch in uns was davon übrig sein ?
was machen wir dann mit solchem ererbten kostbaren alten Gefäß ? "
" Wir stellen es meinetwegen in den Nippesschrank zu anderen Kuriositäten , wenn es nicht schon so löcherig ist , daß wir es hinauswerfen müssen , " antwortete Gabriele und stand unruhig auf , " ich hasse alten Plunder !
er paßt doch nicht zu den Anforderungen des praktischen Lebens . "
" Vielleicht nicht .
Aber er kann den praktischen Gerätschaften so unendlich überlegen sein durch seine Schönheit , " bemerkte ich , stand aber gleichfalls auf , um nicht all das zu sagen , was mir auf dem Herzen lag .
" Wir reden darüber heute nicht zu Ende , Gabriele , aber ganz außerordentlich fortgeschritten seid ihr ja hier in Brieg ! "
Gabriele kämpfte mit etwas , was ihr nicht über die Zunge wollte .
Sie äußerte nur noch zögernd :
" Du bist eben eine Künstlerin , Mine .
Ich sage ja nicht , daß du mit Gefühlen spielen würdest , aber ihre Tauglichkeit fürs Leben ist dir doch nicht alles , -- wenn sie dich irgendwie künstlerisch anregen .
Aber -- --
du kannst damit leicht Menschen unglücklich machen . "
Sie errötete , ihre Stimme wurde unsicher , und sie ging schnell zu alltäglicheren Gesprächsstoffen über .
Während wir weiter plauderten , mied sie meinen Blick , und ich den ihren .
Aber ich tat es ohne die geringste Ahnung von dem , was sich in ihrem Herzen an Befürchtungen regte : sie jedoch begriff aus meinem Schweigen alles . --
Ich verspätete mich bei Gabriele so sehr , daß bei uns meine Mutter und Benno schon mit dem Abendbrot auf mich warteten , als ich herunterkam .
" Das tut mir leid ; ich wußte nicht , daß ihr so genau die Minute einhalten müßt , " bemerkte ich etwas erschrocken und nahm eilig meinen Platz am Tisch ein , " wie du siehst , bin ich noch immer unpünktlich , Benno . "
" Es ist nur an mir , mich zu entschuldigen , " versetzte er , ohne mich anzusehen , " denn es ist sehr lästig , daß man um meinetwillen so genau sein muß .
Das ist eben der Sklavendienst .
Sklaverei von früh bis spät , und keine Möglichkeit , einmal frei und menschenwürdig aufzuatmen . "
Meine Mutter blickte mit Befriedigung vom einen zum anderen , seelenfroh , daß ihre beiden " Kinder " sich in Liebenswürdigkeiten überboten .
Sie hatte im stillen davor gezittert , daß wir uns am Ende schlecht vertragen würden .
Ich sah unverwandt Benno zu , wie er zerstreut und hastig aß , was er gerade auf dem Teller hatte .
Endlich konnte ich mich nicht enthalten zu bemerken :
" Wie seltsam , daß du so von deinem Beruf sprichst , Benno .
Grade als ob er dich zum Sklaven , und nicht zum Herrn machte .
Oder als ob du ebensogut einen ganz anderen Beruf haben könntest , oder auch gar keinen Beruf , oder -- "
"-- Und warum scheint es dir denn so ganz undenkbar , daß ich einen anderen Beruf ausfüllen könnte , " unterbrach mich Benno nervös .
" Warum ?
Das weiß ich nicht .
Ich kann es mir einfach nicht anders vorstellen , als daß du Irrenarzt in Brieg , -- oder sonstwo -- bist .
Ich meine , das ist kein Zufall , sondern ein Beweis , wie dein Beruf mit dir verschmolzen ist . "
Er erwiderte gereizt :
" Es ist vielmehr ein Beweis , wie sehr ein Mensch bei strenger , einseitiger Berufsarbeit verstümmelt , in seiner vollen Entwicklung verkürzt wird .
Deshalb nehmt ihr so ohne weiteres den Berufsmenschen in uns schon für den ganzen Menschen . "
" Verstümmelt , verkürzt ? " wiederholte ich staunend , " aber Benno , entwickelt ihr euch denn nicht dabei so sehr , daß schon die Frauenzimmer es euch neidisch nachtun wollen ?
Schließlich wählt ihr ja den Beruf . "
" Um in ihm irgend ein paar Fähigkeiten und Fertigkeiten auszubilden , -- ja , " fiel er ein , " um mehr als das zu tun , dazu gehört Zeit und Geld , also ist es nur für die wenigsten .
Was meinst du wohl , was von unserem ganzen nicht beruflichen Innenleben zur Entwicklung kommt , wenn man in solchem Zeitmangel lebt , wie etwa ich gelebt habe ?
Mir kommt es vor , so lange ich zurückdenken kann , schon von der Schulbank her , als hätte ich niemals Zeit gehabt , und als wären daraus die schlimmsten Fehlgriffe entstanden , die ich je begangen habe . "
Ich schwieg .
Ich wußte ja von seiner überbürdeten Studienzeit , seiner rastlosen Arbeit bei geringsten Mitteln , fast ohne Muße , und ich gab ihm recht .
Aber daß es Benno war , der so sprach , konnte ich nicht begreifen .
Wann hätte er sich je mit Mängeln seiner Entwicklung herumgeschlagen ?
Wann sich je in seiner selbstbewußten Sicherheit beirren lassen ?
Meine Mutter fragte dazwischen :
" Wie ist es denn morgen mittag , Benno ? ißt du zu Hause ? "
" Wahrscheinlich nicht .
Es ist weit über Land , wo ich hin muß .
Wir bringen den Kranken wohl gleich mit , " entgegnete er zerstreut , beendete etwas hastig sein Abendessen und stand auf .
" Du entschuldigst wohl , es wartet jemand auf mich , " bemerkte er zur Mutter , und dann , schon bei der Tür , wandte er sich noch einmal zu mir und sagte zögernd :
" Ich wollte dich noch fragen , ob du nicht -- ich wollte dich bitten , morgen vormittag , -- natürlich falls du nichts anderes vorhast , -- ob du mir nicht wieder etwas Gesellschaft leisten willst .
So wie heute .
Es ist meine liebste Stunde . "
Dabei sah er eilig und beschäftigt aus und sah niemand an , während er redete .
" Gewiß ! ich will kommen , " sagte ich ein wenig leise .
Dabei schlug auch ich die Augen nicht auf .
Meine Glieder wurden mir bleischwer .
Ich stützte die Arme auf den Tisch und den Kopf darauf .
" Wenn ich doch aus dem Hause ginge und den Nachtzug nach Paris nähme ! " dachte ich .
Meine Mutter hatte von Benno wieder auf mich geblickt ; ihre Augen leuchteten , und wer kann wissen , welche Hoffnungen in ihr aufstiegen und welche Mutterwünsche , während sie umherging und das Dienstmädchen beaufsichtigte , das den Tisch abräumte .
Dieses war eine arme entlassene Insassin des Irrenhauses , wie meistens unser Gesinde .
Nach einer Weile schien in einer Droschke Besuch vorzufahren .
Meine Mutter trat in den Flur hinaus und kam bald darauf mit einer kleingewachsenen jungen Dame zurück , die an einem Krückstock ging .
" Die Baronesse Daniela hatte gehofft , Benno anzutreffen , " bemerkte die Mutter , indem sie uns miteinander bekannt machte , " ich habe sie gebeten , bei uns ein wenig zu warten , weil Benno nur vorübergehend in Anspruch genommen ist . "
" Ich wollte Herrn Doktor Frensdorff nur einen Augenblick sprechen , " sagte die Baronesse mit einer höchst wohllautenden sanften Stimme zu mir , " nur um zu hören , ob ich morgen kommen darf .
Denn ich kann nicht immer von Hause fortkommen .
-- Aber vielleicht wissen Sie überhaupt gar nicht , daß ich seine Schülerin bin ? "
" Nein !
Davon wußte ich allerdings nichts , " versetzte ich , sie ins Wohnzimmer geleitend , wobei ich sehen konnte , wie stark sie in den Schultern und Hüften verwachsen war , "-- aber unmöglich studieren Sie Medizin ? "
Die Baronesse Daniela mußte bei dieser Zumutung lachen , und ihr blasses , schmales , merkwürdig altblickendes Gesicht verjüngte und verschönte sich dabei .
" Nein , nein ! " wehrte sie ab , und setzte sich mühselig hin , " richtig studieren kann ich ja überhaupt nicht .
Aber Herr Doktor Frensdorff treibt viel Schönes mit mir , Literatur , Geschichte , sogar etwas Philosophie . "
" Was Tausend !
Benno tut das ? " unterbrach ich sie überrascht , " aber wann kommt er denn dazu ? "
" Ja , er tut es aus Güte für mich .
Ich bin nämlich seine Patientin gewesen .
Ehe ich zu ihm kam , war ich ganz entsetzlich unglücklich .
Er aber hat mich gelehrt , glücklich zu werden . "
" Indem er Ihnen solche Studien erschloß ? "
Sie schüttelte den blonden Kopf .
" Nein .
Indem er mich darüber aufklärte , daß das , woran ich kranke , unheilbar ist , und daß ich mich damit abfinden muß .
Unheilbar verwachsen bin ich , -- nein , werden Sie nicht verlegen für mich ! " fügte sie sehr lieb im Ton hinzu , und legte ihr kleines blaugeädertes Händchen auf meine Hand , " Sie sehen ja , ich kann so ganz ruhig davon sprechen . "
Und als ich ihre Hand umfaßt hielt , und sie die stumme Anteilnahme , das große lebhafte Interesse in meinen Augen lesen mochte , da fuhr sie vertrauensvoll fort :
" Mich haben die Menschen so sehr damit gepeinigt , daß sie mir aus lauter Mitleid vorredeten , ich würde mich bis zum erwachsenen Alter gerade wachsen und werden wie andere auch .
Aber je älter ich wurde , -- ich bin jetzt neunzehn , -- desto besser begriff ich , daß sie mich betrogen , und wagte doch nicht , es irgendwen merken zu lassen oder mich gegen irgendwen auszusprechen .
Denn bemitleidet leben zu müssen , das ist doch wie Tod , nicht wahr ?
Über diesem inneren Zwang und erstickten Kummer wurde ich zuletzt schwermütig .
Und nun wurde Herr Doktor Frensdorff ins Haus gerufen .
Er brauchte nicht lange , um die Sachlage zu durchschauen !
Er fing damit an , mich die Wahrheit ertragen zu lehren .
Ach , er hat es nicht leicht gehabt , das können Sie glauben !
Ich habe bei ihm geweint und geschrien , und schließlich lernte ich bei ihm wieder lachen . "
Lou Andreas-Salomé , Fenitschka. 10 In mir wurde alles Wärme und Zärtlichkeit , als ich so dem feinen , sympathischen Stimmchen zuhörte .
Das beseelte Gesicht da vor mir , mit seinem Ausdruck von Mut , Glück und Leiden , wirkte so stark auf meine durch alle Eindrücke leicht erregten Sinne , daß ich die kleine Verwachsene am liebsten an mich gezogen und geküßt hätte .
Auch gemalt und für mich behalten hätte ich gern dies interessante kleine Gesicht .
Darüber achtete ich nur noch zerstreut auf ihre Worte .
Um es nicht merken zu lassen , sagte ich :
" Ich kann mir sehr gut denken , daß in dieser kleinen Provinzialstadt mit ihrem Mangel an geistigen Interessen Benno Ihnen durch sein Eingehen auf alles ein wahrer Halt und Trost ist .
Aber wahrscheinlich sind Sie es ihm nicht minder . "
" Nein , ich bin ihm wohl nichts , " sagte sie sehr ernsthaft , " oder richtiger :
ich wäre ihm wohl nichts , wenn ich nicht ein Krüppel wäre , der ihn braucht und ihm leid tut .
Aber das ist ja gerade das Herrliche und Merkwürdige : daß es so glücklich macht , sich ihm gegenüber klein und gering vorzukommen und nur sein Mitleid zu verdienen .
Daß er sich zu mir herabbeugen muß , und daß ich alles nur durch ihn habe , -- das habe ich eben vor all den glücklichen , gesunden , ansehnlicheren Menschen voraus , nicht wahr ?
Dafür gönne ich ihnen gern ihre Schönheit und Kraft , und bin zufrieden mit meinem Gebrechen und meiner Schwäche .
-- Aber ich weiß gar nicht , warum ich Ihnen das alles erzähle , " fügte sie lächelnd hinzu , " Sie sehen so gut aus : vielleicht lachen Sie nicht darüber . "
" Nein , ich lache nicht darüber , " sagte ich aufs tiefste ergriffen und schloß die kleine Schwärmerseele in die Arme , wie ein Schwesterchen , das ich bis auf den Grund ihrer seligen törichten Romantik verstand .
Ob sie wohl eine Ahnung davon hat , daß sie ihn liebt ? dachte ich mit furchtsamem Herzen .
Da fuhr sie plötzlich in meinen Armen zusammen , so sehr , daß ihr ganzer armer kleiner Körper erzitterte .
" Was ist -- ? " fragte ich erschrocken und stand auf .
Sie lauschte .
"-- Es ist sein Schritt ! " sagte sie leise .
Als ich am nächsten Vormittag zu Benno hinüberging , war er schon da , aber ein Angestellter des Irrenhauses war noch bei ihm und stand wartend neben dem Schreibtisch , an dem Benno saß und einige Papiere ordnete .
Ich zündete den Spiritus unter dem Theekesselchen an , und setzte mich auf eine breite mit Leder überzogene Ottomane an der Hinterwand des Zimmers .
Auf einem dicht heran geschobenen niedrigen Tisch lagen durcheinander allerlei Bücher und broschierte Schriften .
Nach dem gestrigen Gespräch mit der kleinen Baronesse wunderte ich mich nicht mehr , zwischen der Fachliteratur die verschiedensten anderen Geisteswerke zu finden , von denen ich früher nie geglaubt hätte , daß sie sich bis zu Benno verirren würden .
Zweifellos war diese Bereicherung und Vermehrung seiner Interessen ein vorteilhafter Wechsel ; nur zu seiner ganzen Eigenart , von der Schroffheiten und Engen mir völlig unabtrennbar schienen , wollte er nicht recht stimmen .
Nachdenklich langte ich einen abgegriffenen kleingedruckten Band hervor , der zu einer älteren Schillerausgabe gehörte ; offenbar durchstöberte Benno den alten Familien Schrank im Wohnzimmer , um sich literarisch zu bilden , und war jetzt also bei Schiller angelangt .
Diese Bemerkung kam mir ohne allen Hohn , -- ich freute mich drüber , daß er im Grunde doch noch ganz derselbe blieb , -- Pedant und unmodern .
" Wallensteins Tod " .
Mitten im Band knisterte ein breites trockenes Efeublatt und ließ das Buch sich dort von selbst öffnen .
Ein langer feiner Bleistiftstrich den berühmten Monolog an Max entlang : Die Blume ist hinweg aus meinem Leben , Und kalt und farblos sehe ich es vor mir liegen .
Denn er stand neben mir , wie meine Jugend , Er machte mir das Wirkliche zum Traum , Um die gemeine Deutlichkeit der Dinge Den goldenen Duft der Morgenröte webend -- Im Feuer seines liebenden Gefühls Erhoben sich , mir selber zum Erstaunen , Des Lebens flach alltägliche Gestalten .
-- Was ich mir ferner auch erstreben mag , Das Schöne ist doch weg , das kommt nicht wieder . -- --
Ich las es ganz arglos ; mir fiel nicht ein , daß jemand hier " sie " für " er " gelesen haben könnte .
Aber auch zu mir sprach es wie ein Liebesgedicht -- .
Benno war aufgestanden , er hatte den Mann abgefertigt und wandte sich mir zu .
" Ach laß das , " bemerkte er mit einem Anflug von Verlegenheit , als er mich mit dem Buch in der Hand sitzen sah , " hier gibt es nichts , was dich interessieren könnte .
Wir redeten ja schon gestern davon , daß man in allem unwissend und ein Stümper bleibt , was nicht zum Beruf gehört .
Ich kann nur wieder sagen : leider !
Denn auch in meinem Beruf wäre der Tüchtigste , wer zugleich Welt und Leben mit umfassen könnte . "
Ich legte das Buch aus der Hand , besorgte den Tee und entgegnete zögernd :
" Früher dachtest du doch ganz anders darüber , Benno .
Du urteiltest über alles als Mediziner ab und ließest keinen Einwand gelten .
Wodurch ist denn das nur so gekommen ? "
Er war an das Fenster getreten und blickte auf die verschneite Straße hinaus , die von den gegenüberliegenden Gefängnissen verdunkelt wurde .
" Dadurch , daß ich dich verlor ! " sagte er halblaut .
Ich wagte nichts zu erwidern .
Ich verharrte regungslos .
Aber ich dachte bei mir :
" Das war ja durchaus dein eigener Wille , dieser Verlust . "
Ohne sich vom Fenster abzuwenden und ohne nach mir hinzusehen , fuhr er mit halber Stimme fort : " Ja , dadurch allein .
Sonst wäre ich wohl lebenslang so geblieben wie damals : für meine eigene Person gewiß nicht anmaßend , sondern voll Bescheidenheit , aber voll Überschätzung und Dünkel hinsichtlich meiner unfehlbaren Weisheit , als Fachmensch .
Aber da erkannte ich allmählich , wodurch ich dich verloren hatte : durch den Mangel an Einsicht in das , was dir Not tat , durch Mißverstehen alles dessen , was kraftvoll und gesund in dir war , und nur deshalb krankhaft erschien , weil man deine Entwicklung unterband , weil man dich nicht in den Stand setzte , es künstlerisch aus dir herauszugeben -- "
"-- Das war gut so , " unterbrach ich ihn mit Anstrengung , "-- die Zukunft hat es bewiesen .
Sie hat bewiesen , wo meine Tüchtigkeit . liegt . -- --
Nicht da , wo wir sie suchten -- . "
" Scheinbar : ja , " versetzte er fast heftig in unterdrücktem , gequältem Ton , " scheinbar hatte ich ja recht , aber warum ?
Nur , einzig und allein nur , weil wir von vornherein einen entsetzlichen Fehler gemacht haben .
Ich meine in deinem Verhalten zu mir .
Anstatt dich durch die Grenzen und Schranken meiner Unerfahrenheit einzuengen , hätte ich mich durch dein reicheres Wesen hinausleiten lassen sollen aus ihnen , -- gerade wie es mir ja durch dich während unserer Trennung geschehen ist . "
" Nein , o Benno , nein ! " fiel ich ein , " dann wärst du ja gar nicht du selbst gewesen . "
" Ich spreche dich ja bei diesem begangenen Fehler durchaus nicht von Mitschuld frei ! " sagte er eindringlich , " nein , wie sehr , wie sehr warst du selbst schuld daran !
Schuld durch deine Folgsamkeit und Fügsamkeit , schuld durch deine leidenschaftliche Selbstunterwerfung und den kritiklosen Glauben an meine törichte Unfehlbarkeit .
Hättest du mich nur nicht über dich gestellt , sondern neben dich , -- ach , lieber noch unter dich , als so hoch hinauf . "
" Dann hätte ich dich nicht geliebt , " sagte ich leise .
" Ach Kind , " versetzte er mit gedämpfter Stimme und wendete sich vom Fenster fort , "-- warum liebt ich dich denn ? mir selbst unbewußt doch um deswillen , worin du tatsächlich über mir standest , etwas Selteneres , Feineres , Glanzvolleres warst als ich .
Ich kam aus der Dürftigkeit , aus der Dunkelheit zu dir wie ins Licht . -- --
Sieh , warum soll das auch nicht sein ?
Es sind ja gerade solche Frauen , die uns vor der Seelenöde retten , die unsere Berufsmonotonie ergänzen -- .
Im Beruf , da mögen wir ja die Überlegenen sein , mögen bestimmen , befehlen , unterweisen , was uns unterstellt ist , -- aber der Frau gegenüber , die wir lieben : glaube mir , da fällt dieser schlechte Ehrgeiz fort .
Da werden wir wieder gut und einfach und Kinder , und wollen uns gern beschenken , uns gern die schönsten Träume erzählen lassen , -- mit unserem Kopf in eurem Schoß . "
Ich hatte mich in dem Sessel niedergelassen , die Arme aufgestützt und das Gesicht in den Handflächen vergraben .
Er sollte mir nicht in das Gesicht sehen , das nichts zu verschweigen verstand .
Er sollte nicht sehen , wie seine Worte auf mich wirkten -- gleich einem feinen , langen , schmerzenden Stich durch alle Nerven .
Eine staunende und enttäuschte Traurigkeit legte sich über mich , als er so von seiner Liebe sprach , -- eine Traurigkeit , als gölte diese Liebe gar nicht mir , sondern als liebte er sozusagen an mir vorbei ins Leere hinein .
Als ich noch immer schwieg , kam Benno näher , setzte sich mir gegenüber an das Kaminfeuer und sagte nach einer Pause :
" Siehst du , von diesen inneren Umwälzungen ist auch meine äußere Existenz beeinflußt worden .
Du mußt nicht denken , daß ich ewig hier bleiben will .
Ich will nicht den Direktorposten hier , und habe Aussichten in einer größeren Stadt -- -- .
Nun , davon ein anderes Mal .
Ich wollte dir nur sagen , weshalb ich hier so unsinnig viel gearbeitet habe , -- du dachtest wohl , weil ich ganz aufgegangen wäre hier im Winkel .
Aber das ist nicht so .
Mit einem Ziel vor Augen , einem einzigen Ziel , habe ich wie verrückt gearbeitet -- und auch gespart und gegeizt , -- der reine Hamster -- . "
Er bückte den Kopf gegen das Feuer und lächelte ein wenig :
es sah beinahe kindlich froh aus .
Ich hatte die Hände sinken lassen und schaute auf ihn , und eine unaussprechliche Weichheit kam über mich .
Ich sah den blonden Kopf mit dem gelichteten Haar an den Schläfen , dem nervösen Zug um den Mund , und mit dem etwas angestrengten , gespannten Ausdruck , der fast nie mehr von seinem Gesichte wich .
Und ich sah vor mir die Öde , durch die er gewandert war , die Summe von Arbeit und Einsamkeit , die hinter ihm lag .
Wie ein neuer , zuvor nie in seiner Wirklichkeit von mir geschauter Mensch kam er mir vor ; der " gepanzerte " Mann meiner Backfischromantik legte seine Rüstung ab , und dahinter stand ein kindguter , liebebedürftiger Mensch , der keinen , -- nein keinen , mit hartem Fuß niederzutreten vermöchte .
" Um den Hals fallen sollte man ihm , und ihm alles Liebe antun ! " dachte ich weich und erschüttert .
Aber in meinem Herzen blieb dennoch dieselbe große Traurigkeit und Enttäuschung , wie wenn er mir etwas Bitteres zu leide getan hätte .
Er stand in seiner Unruhe wieder auf und sagte befangen :
" Was es mich damals gekostet hat , -- nur deine Mutter weiß es , was es mich gekostet hat , dich fortzulassen .
Du durftest es ja nicht wissen .
Und um dienet Willen mußte es sein .
Ich schuldete deinen Eltern so viel , -- ich hätte ja auch nie um dich zu werben gewagt , -- ich konnte dich nicht kranken und verkümmern lassen .
Jetzt , -- jetzt würde es anders sein , Adine . "
"-- Benno -- ! " sagte ich leise , verwirrt , wie gestern , und auch in abwehrender Furcht wie gestern , vor den Worten , die nun kommen mußten .
Aber es war doch nicht dieselbe Furcht , und nichts erzitterte in mir dabei in lähmendem Unterliegen , und nichts durchschauerte mich , wie gestern .
Ich dachte in diesem Augenblick überhaupt nicht an mich , sondern nur allein an ihn , und alles , was ich fürchtete , war , ihn leiden zu sehen , ihm weh tun zu müssen .
Nie , noch nie bin ich ihm menschlich , in menschlicher Anteilnahme , mitempfindend so nahe gewesen , -- nie aber auch war ich gleichzeitig so fern von ihm , so weit , weit fort , -- als Weib .
" Ja , vielleicht hast du recht ! " sagte ich atemlos , überstürzt , und richtete mich auf , "-- vielleicht hätten wir von allem Anfang an anders miteinander verschmelzen können , ohne Kampf , ohne Hemmnis , auch ohne Unterordnung oder Überordnung des einen oder des anderen !
Einfach in der Freude und im Rausch unserer frischen Jugend .
Ja vielleicht !
Vielleicht gibt es eine solche Liebe , und ist sie möglich und ist sie schön , " -- ich stockte , und ein Schmerz , den ich selbst nicht begriff , machte mir die Brust eng ; ich fügte mühsam hinzu : "-- aber das ist verscherzt , das ist für mich zu spät -- "
" Nein , -- nicht ! bitte , sage nichts ! " bat er hastig und durch meinen plötzlichen Ausbruch erschreckt , "-- du sollst gar nicht so übereilt -- du sollst dir Zeit lassen , -- prüfen -- ; nur mir von der Seele sprechen mußt ich es gegen dich -- "
Er brach ab , weil im anstoßenden Wartezimmer eine Tür knarrte ; ein leichtes Geräusch , wie von einem Stock , der den Boden berührte , wurde hörbar .
Benno blickte unruhig auf die kleine Standuhr auf dem Kaminsims .
" Unmöglich kommt sie so früh , " murmelte er verwirrt , " ich habe ihr doch gestern abend die Stunde genannt . "
Doch schon pochte es leise , und er öffnete die Tür ins Wartezimmer .
Vor ihm , ganz hell vor Freude , Erwartung und Ungeduld , stand die kleine Baronesse .
Sie begrüßte mich wie eine alte Bekannte , ohne irgend etwas von der Benommenheit zu merken , worin sie Benno und mich vorfand ; sie war dazu selbst zu benommen .
" Wir sind gestern schon ganz schnell die besten Freunde geworden , " erklärte ich Benno , der ihr den Krückstock aus der Hand nahm und ihr den bequemsten Sessel heranrückte .
" Das wundert mich gar nicht , " erwiderte er mit der ruhigen und beruhigenden Stimme , die er als Arzt zur Verfügung zu haben schien , wie eine bereitliegende Maske , " du würdest auch in ganz Brieg schwerlich einen zweiten Menschen finden , mit dem du so gut zusammenpaßt , wie die Baronesse Daniela . "
" Nicht in allem ! " sagte die kleine Verwachsene lächelnd , " man dürfte uns zum Beispiel schon nicht zusammen auf der Straße sehen ; wie schön würde ich da nachhumpeln müssen . "
Benno warf ihr durch seine Brille einen forschenden Blick zu .
" Grade deshalb ! " bemerkte er , " denn wären Sie so schlank gewachsen wie eine Tanne im Walde , so würden Sie in anderer Hinsicht schwerlich so hoch in die Höhe gewachsen , sondern recht oberflächlich ausgefallen sein , und unserer Dina in allen Stücken nachhumpeln müssen . "
Sie strahlte ihn statt jeder Antwort mit ihren dankbaren , glücklichen Augen an , und ich sah es ihr an , wie völlig geborgen sie sich vorkam , -- auf eine Stunde vor allem Ungemach geborgen , und mit ihm zu zweit allein .
" Ich gehe nun hinüber , " äußerte ich und gab ihr die Hand , " ich denke aber , daß wir bald wieder miteinander plaudern . "
" Bald , ja ! " versetzte sie zerstreut und blickte unversehens Benno an , statt mich , "-- wenn man mich nur bald wieder herläßt .
Jetzt gibt es so viele Abhaltungen vor Weihnachten .
Deswegen mußt ich heute schon so früh kommen , -- später käme ich nicht frei . "
Ich verließ das Zimmer fast mit einer wunderlichen Regung von Neid .
Ja , ich beneidete beinahe die kleine Verwachsene um die harmlose Romantik , womit sie da drinnen bei Benno ihren Anteil an Menschenglück sich vorweg nahm .
Sie konnte ihn hoch über sich stellen , sich selbst demütig unter ihn , ohne daß diese halb erträumte Situation sich jemals zu ändern brauchte , ohne daß die Wirklichkeit des Lebens sie jemals in ihren Illu sionen und Phantasien stören würde , -- denn Leben und Wirklichkeit blieben ihr doch wohl immer fern .
Sie setzte jetzt den Becher an die Lippen und nippte von derselben Sklavenseligkeit , woran ich mich einst Benno gegenüber so bis zur bewußtlosen Selbstvernichtung berauscht hatte , -- und die es für mich ihm gegenüber nun nicht mehr gab .
Und arglos hielt er ihr diesen betäubenden , gefährlichen Trank an die Lippen .
Von mir aber , die damit bis in die letzten Nervenfasern vergiftet gewesen war , heischte er ebenso arglos , daß ich , mit ernüchtertem Herzen und ernüchterten Augen , ihn lieben sollte -- .
Bei uns im Wohnzimmer traf ich Gabriele .
Meine Mutter schien eben erst von Weihnachtsbesorgungen in der Stadt heimgekehrt zu sein ; sie stand noch im Hut da und trug die einzelnen Ausgaben in ihr Notizbüchelchen ein .
Gabriele drehte sich rasch nach mir um und rief : " Ich bin nur da , um dich zu fragen , ob du nicht heute abend ein wenig zu uns heraufkommen willst ?
Es sind lauter alte Bekannte bei uns , die neugierig sind , dich wiederzusehen , wie du dir wohl denken kannst . "
" Ja , danke .
Vielleicht .
Nimm es lieber nicht als gewiß , " entgegnete ich , von der Vorstellung erschreckt , den Abend gesellig verbringen zu sollen , und setzte mich an den Tisch , auf dem mehrere aufgeschnürte Pakete mit blitzenden Anhängseln zum Christbaum lagen .
" Auf mich mußt du keine Rücksicht nehmen , " bemerkte die Mutter und legte ihr Notizbuch neben mich hin , " so früh , wie ich_es gewohnt bin , kannst du dich ohne hin nicht zur Ruhe begeben .
Aber ich wache nicht davon auf , wenn du später ins Schlafzimmer kommst . "
Ich langte nach dem kleinen abgenutzten Bleistift am Notizbuch und begann zerstreut auf dem harten grauweißen Paketumschlag zu zeichnen .
" Doktor Frensdorff kommt wohl sicher nicht mit herauf ? " fragte Gabriele zögernd .
" Schwerlich , " versetzte die Mutter , " er fährt mittags weit über Land und kehrt erst spät zurück . "
" Also nicht ! " bemerkte Gabriele in so merkwürdig resigniertem Ton , daß ich unwillkürlich aufblickte .
Ich vermochte in dem gesenkten Gesicht , das von feinem Kraushaar wie von einer leuchtenden Wolke umschattet wurde , nichts zu lesen .
Aber jetzt nachträglich fiel mir Gabrielens fortwährendes Erröten bei unserem gestrigen Gespräch und manches ihrer Worte auf .
Fast kam mir ein Lächeln .
Wenn sie wirklich in Benno verliebt war , so mußte man es humoristisch nennen , um wie verschiedener , ja einander ausschließender Eigenschaften Willen wir drei uns für ihn interessiert hatten .
Was ist nun ein Mensch wesentlich anderes , als was wir uns aus ihm zurechtmachen ?
Aber von uns drei traute ich Gabriele das beste Urteil über ihn zu .
Vermutlich hatte sie ganz recht damit , daß sie eine passende Frau für Benno wäre , von der er sich dann sicher auch genau so erziehen ließe , wie es sich nach Gabrielens Meinung für die Frau von heute schickte .
Da bemerkte Gabriele :
" Doktor Frensdorff ist überanstrengt und über beschäftigt , daher geht er nirgends hin .
Jemand sollte ihm das ausreden .
Das solltest du tun , Adine . "
" Er hört doch nicht drauf , " meinte die Mutter und ging hinaus , um ihren Hut abzulegen .
" Auf dich würde er wohl hören , " sagte Gabriele halblaut .
Ich ließ überrascht den Bleistift fallen und sah sie an .
" Wäre es dir denn im Ernst angenehm , wenn ich mich darum kümmerte oder ihn beeinflussen wollte ? "
" Ja .
Wenn es zu seinem Wohl dient , " versetzte Gabriele finster .
Etwas von meiner alten Bewunderung für sie regte sich in mir .
Und eine warme Bereitwilligkeit , ihr zu helfen .
Sie sollte wissen , daß ich ihr nicht in den Weg treten würde .
" Meine Sache ist das aber gar nicht , " sagte ich rasch und in leichtem Ton , während ich fortfuhr zu zeichnen , " du weißt ja : ich gerate lieber selbst unter jemandes Einfluß .
Ich will aber beides nicht .
Es ist also besser , wenn dir das zugehört , und niemand anders Teil dran nimmt . "
Gabriele stand auf .
" Ich muß hinaufgehn , um nach unserem Mittag zu sehen , auf Mutchen ist kein Verlaß , " bemerkte sie ruhig , dann aber , als ich ihr die Hand gab , sah sie mir fest und fast etwas hochmütig in die Augen und fügte ernst hinzu :
" Was uns wahrhaft gehört , Adine , das nimmt niemand uns fort .
Was uns wahrhaft gehört , das fällt uns zu , früher oder später .
Daher sind alle kleinlichen Sorgen um Dein und Mein niedrig .
Alles was wir zu tun haben ist , selber vorwärts zu gehen ; wer zu uns gehört , geht mit , wer das nicht tut , " -- sie hielt inne und atmete tief auf , -- " der -- ja der darf uns auch nicht aufhalten . "
Ich beugte mich , etwas verdutzt , über mein Paketpapier .
Leidenschaftslosigkeit und Überzeugungskraft sind gewiß hohe Tugenden .
Und ich -- ?
Ach , ich !
Ich blickte erst wieder verwundert auf , als die Mutter wieder eintrat und mir über die Schulter sah .
" Aber das ist ja die kleine Baronesse ! " rief die Mutter überrascht , " nur gar so schön , wie du ihren Kopf gezeichnet hast , ist sie doch nicht , Kind . "
" Nicht schön -- ?
-- Übrigens ist es eigentlich auch nicht gerade die Baronesse Daniela .
Es ist nur das Glück , Mama . "
" Das Glück -- ?! "
" Ja .
So ungefähr schaut es aus .
Aus solchen Augen schaut es das Leben an . "
" Arme Daniela , " meinte die Mutter , " sie hat es schwer genug im Leben .
Weißt du , daß sie auch gerade eine Majorstochter sein muß , wo so viel laute Geselligkeit im Hause herrscht -- .
Man möchte ihr schon ein wenig Glück zu Weihnachten wünschen , als Christgeschenk . "
" Ach Mama , kein Mensch weiß ja so recht , was der andere sich wünscht .
Ich könnte mir zum Beispiel Danielas Schicksal wünschen .
Oder einfach zu Weihnachten einen schön gewölbten Buckel , Mama . "
" Aber Dienchen !
so sündhafte Scherze soll man nicht machen . "
Das Dienstmädchen kam herein und brachte die eingelaufene Post .
Sie überreichte die paar Kartenbriefe mit einer Würde auf dem Präsentierteller , als wären es mindestens hochwichtige Depeschen .
" Ich möchte wohl wissen , warum die Anna immer so feierlich tut , " bemerkte ich , nachdem sie wieder hinausgegangen war , " wenn sie abends die Lampe bringt , trägt sie sie auch vor sich her wie eine Gottesfackel . "
" Sie ist krank gewesen .
Das ist ihr von der Krankheit verblieben . "
" Was -- die Feierlichkeit ? "
" Die Wahnvorstellung , als ob alles , was sie tut , die feierlichste Bedeutung hätte .
In ihrer Geisteskrankheit war sie nämlich ganz glückselig .
Da hat sie gemeint , beim Kaiser von China zu dienen .
Das kann sie sich in ihren Manieren noch nicht recht abgewöhnen .
Aber Benno meint , das schade nichts . "
" Und das nennt man nun Wahnsinn ! " sagte ich seufzend .
" Eine Fähigkeit , so beglückende Illusionen einfach festzuhalten .
Ich glaube , Mama , ich wünsche mir zu Weihnachten außer dem Buckel auch noch einen ganz niedlichen kleinen Wahnsinn . "
" Aber , Kind !
Du redest ja schon den reinen Wahnsinn ! " meinte die Mutter unwillig , und las ihre Kartenbriefe .
Ich legte die Arme auf den Tisch und den Kopf darauf .
Der Kopf war mir so leer , und das Herz so schwer , wie nach einer Vergeudung und Erschöpfung Lou Andreas-Salomé , Fenitschka. 11 aller Kräfte .
Und dabei war der Morgen doch so idyllisch friedlich verlaufen .
Ohne Not hatte ich mich vor den Morgenstunden bei Benno gebangt , als drohte mir in ihnen eine Gefahr , die heimlich anzieht , wie Schwindel und Abgrund -- .
Da war gar kein Abgrund .
Flache grüne Wiese , eine Landschaft geschaffen zum Schäferidyll -- -- .
Und Sehnsucht und Enttäuschung und ein Widerwille gegen alles , was nicht Abgrund und Gefahr sein wollte , wachten in mir auf .
In mir erwachte ganz dieselbe Gemütsstimmung und Gemütsspannung , in der ich mich damals von Benno losriß , -- weil mir der volle Becher zwischen den Lippen zerschellte .
Ungern entschloß ich mich gegen Abend , zum Rendanten in die kleine Gesellschaft zu gehen .
Aber es wäre mir ebenfalls schwer gefallen , diesen Abend neben meiner Mutter im Wohnzimmer zu sitzen und mit ihr heiter und eingehend zu plaudern .
So kleidete ich mich denn auf ihr Zureden um und schickte mich an hinaufzugehn , um Gabriele nicht zu kränken .
Als ich aus unseren Stuben in den Hausflur trat , fand ich seltsamerweise die Tür nach der Straße weit offen .
Ehe ich sie zumachte , blieb ich einen Augenblick lang auf der Schwelle stehen und schaute hinaus .
Draußen war es unwirtlich und häßlich .
Der Frost zeigte Neigung , in Tauwetter überzugehn ; die Schneeschicht lag nur noch dünn und klebrig auf der Straße , und ein feiner Winternebel verschleierte das gelbe Licht der Laternen .
Da , wie aus der Erde gewachsen , ging ein junger Mann draußen vorüber und grüßte .
Die Straße war er nicht herabgekommen , ich hätte seinen Schritt durch den getauten Schnee hören müssen .
Ich schloß die Tür , von der feuchten Kälte durchschauert , als im selben Augenblick jemand von der Hofseite durch das Hinterpförtchen in den Flur huschte .
Ich wandte mich um und erkannte Mutchen .
Mutchen sah erschrocken aus ; in einen Mantel gehüllt , aus dem das helle Gesellschaftskleidchen hervorleuchtete , stand sie wie verstört da und horchte nach oben , wo das Geräusch herabkommender Schritte hörbar wurde .
Dann lief sie plötzlich auf mich zu , faßte mich am Arm und flüsterte hastig und ängstlich : " Ach , lassen Sie mich um Gottes Willen zu Doktor Frensdorff hineinschlüpfen , -- er ist nicht zu Hause , -- bitte , bitte , ich erkläre Ihnen gleich -- "
Ich stieß die Tür zu Bennos Wartezimmer auf und zog Mutchen dort hinein .
" Was ist denn geschehen ? vor wem fürchtest du dich ? wer bedroht dich ? "
" Ich glaube , das Mädchen geht nach Bier , " flüsterte Mutchen atemlos ; "-- bitte , bitte , sagen Sie nur Papa oder gar Gabriele nichts , -- nein ?
Sie haben es ja gesehen , Sie standen ja an der Haustür , als Doktor Gerold vorüber mußte . "
" Doktor Gerold ? war das der , der eben vorüberging ?
wer ist es denn ?
und wozu heimlich ? "
Mutchen schmiegte sich in der dunklen Stube an mich und flüsterte halb schüchtern , halb schelmisch :
"-- Wozu ?! -- ja , wie soll man denn anders ?
Haben Sie denn nie einen lieb gehabt ?
Ich kann ihn doch nicht plötzlich da oben hinstellen zwischen Papa und die Tanten und Verwandten .
Sie würden ja auf den Tod erschrecken .
Abgesehen davon , daß Gabriele mich -- na ! "
" Ihr seid wohl heimlich verlobt , Doktor Gerold und du ? "
" Ich glaube , " sagte Mutchen zögernd .
" Du glaubst es nur ?!
Du weißt nicht , ob ihr verlobt seid ? "
" Ja , kann man denn das so ganz genau wissen ? "
Mutchens Stimme klang kläglich , " wir sind noch so jung alle beide , er kann ja eigentlich noch gar nicht etwas so Festes -- -- ach du , kann man denn daran denken , wenn man jung ist und einen lieb hat ? " setzte Mutchen in raschem Stimmungswechsel resolut hinzu und merkte nicht einmal , daß ihr das vertrauliche " Du " entschlüpft war .
" Laß mich jetzt schnell hinauf , ehe die Guste mit dem Bier wiederkommt .
Und ich danke dir !
Nicht wahr ,-- o nicht wahr , du verrätst es nicht ?
Von dir glaube ich_es , eine andere würde ich nicht einmal erst darum bitten . "
" Warum dann mich , Mutchen ? "
" Ich weiß nicht .
Du schaust so aus .
So , als müßtest du es verstehen . "
" Nun , Mutchen , verraten werde ich dich nicht .
Aber unter einer Bedingung , hörst du ?
nur wenn du mir alles sagst , -- wenn du mir morgen sagst , was eigentlich zwischen euch ist .
Versprichst du mir das ? "
" Ja , ja ! " murmelte Mutchen , küßte mich hastig und schlüpfte aus dem dunklen Zimmer .
Ich stand und schüttelte den Kopf .
" Ich bin wirklich eine schöne Autorität für solchen Muttchen-Fall ! " dachte ich ratlos , " was soll das nützen , wenn sie mir auch alles erzählt ? kann ich etwa entscheiden und eingreifen ?
Gewiß tut sie Unrecht mit diesen Heimlichkeiten .
Gewiß , -- vielleicht .
Vielleicht hat sie auch ganz recht . "
Ich tappte mich in die daneben gelegene Studierstube , wo die Zündholzschachtel stets auf dem Rauchtischchen lag , und machte Licht .
Jetzt , nach diesem Zwischenfall , mochte ich nicht , wenigstens nicht gleich , zu Gabriele hinaufgehn , -- am liebsten hätte ich es ganz gelassen .
Auf dem Kaminsims , zu beiden Seiten der kleinen Standuhr , standen zwei Bronzeleuchter mit dicken Wachskerzen , die durch die Länge der Zeit förmlich von Staub vergraut waren .
Ich zündete eine davon an und sah in Gedanken versunken in die gelbe ruhige Flamme .
Welch ein keckes , leichtblütiges Ding dieses Mutchen mit ihren achtzehn Jahren sein mußte !
Ich selbst war anders gewesen zu dieser Zeit , trotzdem sie eben versichert hatte , ich schaute gerade so aus , " als verstände ich das " .
Und wer weiß ! vielleicht hatte es auch nur der Zufall so gefügt .
Der Zufall , der mich in eine rechte Schwärmerei voll Traumromantik führte , weil er mich von rascher Erfüllung der Liebeswünsche fernhielt .
Mutchen aber war nicht in lebensfremden Träumen groß geworden , sie war ein rechtes Kind ihrer Zeit , das das Leben allzu früh so gesehen hatte , wie es ist , und sich nun mit heiteren , listigen Augen einen Ausweg erspähte aus den sie beengenden strengen Mädchensitten .
Heute liebte sie Doktor Gerold , wie sie behauptete ; aber vielleicht hatte sie sich schon in der Tanzklasse heimlich mit halbwüchsigen Gymnasiasten angestoßen und sich auf die künftigen Liebesabenteuer gefreut wie auf ihr allerschönstes Jugendvergnügen .
Man konnte das bedauern .
Man konnte in solchem Fall sie selbst bedauern , die ein kostbares Kapital unachtsam in kleiner Münze verstreute .
Aber warum bedauerte man dann nicht wenigstens auch den rasenden Gefühlsverbrauch , die erschlaffende Gefühlsausschweifung in den jugendlich romantischen Marlittiaden von uns anderen ?
Verliefen die etwa harmloser als ein Leichtsinn wie der Mutchens , nur weil man durch sie am Leibe keinen Schaden nimmt , und weil ihre feineren und intimeren Korruptionen des seelischen Lebens nach außen unmerkbarer bleiben ?
In Wahrheit ist es vielleicht minder gefahrvoll , sich bei oberflächlichen Genüssen zu zerstreuen , als hinabzusinken in allerlei schwüle , dunkle Tiefen alter Gefühlselemente , gegen deren Überreizung die gesunden warmen Reize des Lebens nicht aufkommen -- .
Ich hatte mich auf das Fußende der Ottomane gesetzt und horchte unentschlossen nach oben , von wo das Gesumme durcheinanderredender Stimmen zu mir drang , und wo jetzt gar ein lustiger Walzer auf dem Klavier gespielt wurde .
Da trat jemand von draußen in den Hausflur , man hörte , wie er sich den lockern Schnee von den Stiefeln stampfte , ein Männerschritt näherte sich , -- dann wurde die Tür zur Studierstube geöffnet , und Benno stand auf der Schwelle .
Ich wandte den Kopf nach ihm und sagte entschuldigend :
" Ich meinte , du kämst erst spät heim .
Verzeih , daß ich hier sitze .
Mama glaubt mich oben in der Gesellschaft .
Ich soll auch hin .
Zauderte aber hier , und blieb .
Es war so schön still hier . "
Er antwortete nicht .
Im Türrahmen stand er still und schaute herüber zu mir .
Seine Augen hingen an dem elfenbeinfarbenen Wollkleide , das ich angezogen hatte , und langsam stieg sein Blick daran herauf bis zu meinem Gesicht .
Das seine erschien mir blaß und seltsam .
Von seinen Lippen kam ein Laut , -- kein Wort , nur ein schwacher , kurzer Laut , -- und ehe ich es noch hindern , ehe ich noch aufstehen konnte , lag er vor mir auf dem Teppich und umfaßte mich mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen , und bedeckte meine Hände , meinen Hals , meinen Schoß mit Küssen .
Er küßte mich , ohne mich loszulassen , ohne in seinem Ungestüm nachzulassen , ohne mir Atem zu lassen .
Er küßte mit einer Gewaltsamkeit und Benommenheit , womit er mich fast brutalisierte , während er mich liebkoste .
Er küßte so , wie jemand trinkt , der , an der Stillung seines Durstes verzweifelnd , schon verschmachtend am Boden gelegen hat .
Er küßte mit der Sehnsucht , Inbrunst und Dankbarkeit jemandes , der sich mit unaussprechlicher Wonne vom Tode freiküßt .
Ich regte mich nicht und wehrte ihm nicht .
Ich gab leise seinen Bewegungen nach , ohne sie zu erwidern .
Ich fühlte mit staunendem Mitleid diesen Ausbruch einer lange , lange und mit entsagender Kraft zurückgedämmten Leidenschaft , die sich in diesem Augenblick blindlings sättigte .
Und während ich seinen unsinnigen Küssen nach gab , regte sich in mir etwas Wunderliches , ganz Zartes und beinahe Mütterliches , -- die Hingebung einer Mutter , die einem weinenden Kinde lächelnd ihre nahrungschwellende Brust öffnet .
So ruhte ich , fest von seinen Armen umschlossen , die Augen weit offen zur Decke emporgerichtet , und dabei ging es mir still und beinahe ehrfürchtig durch den Sinn , -- wie keusch wohl das Leben dieses Mannes hingegangen sei -- .
Benno ließ mich endlich frei , mit einem ächzenden Laut , als ob er sich eine Wunde zufügte .
Zugleich sprang er zitternd vom Boden auf und sagte mit einem Ausdruck leidenschaftlicher Verzückung auf seinem Gesicht :
" Ich danke dir !
Du mein einziger , geliebtester aller Menschen , ich danke dir !
Ich wäre erstickt und zerbrochen , wenn du mich zurückgestoßen hättest ! "
Es fiel ihm nicht ein , nicht einen einzigen Augenblick lang fiel es ihm ein , daß ich vielleicht seinen Rausch nicht geteilt haben könnte .
Um ins Mitempfinden des anderen einzugehn , dazu gehört gewiß Liebe , aber bei einem gewissen Grad der Liebesleidenschaft schlägt sie zurück in so besinnungslosen Egoismus , daß sich daraus keine Fühlfäden mehr in die äußere Welt erstrecken , sei es auch die Gefühlswelt des geliebten Menschen , und daß ein störender Mißton einfach dadurch unmöglich gemacht wird , daß man ihn eben nicht aufnimmt und nicht vernimmt .
Liebesleidenschaft ist wie die letzte und äußerste Einsamkeit .
So befangen Benno noch heute morgen geschwankt und gezweifelt hatte , so siegessicher fühlte er sich jetzt .
Alle ängstliche Überlegung , alle Mutlosigkeit war von ihm genommen .
Ich richtete mich langsam auf , ohne die Augen von ihm zu wenden .
Sonderbarerweise beschäftigte mich dabei eine ganz gleichgültige Kleinigkeit .
Benno hatte , während er auf den Knien lag und mich küßte , seine Brille verloren .
Sie lag auf dem Teppich neben der Ottomane , und die Gläser , die sonst seinen Blick verdeckten , glänzten im Kerzenlicht .
Und da schauten mir nun seine Augen brillenlos entgegen , so wie sie in Wirklichkeit waren , -- blau und treuherzig , mit dem etwas unsicheren , etwas starren Blick derer , die sich immer scharfer Gläser bedienen -- -- . Benno machte eine gewaltige Willensanstrengung , um sich zu fassen und zu beruhigen , trat zurück und sagte :
" Verzeih mir .
Ich wollte dir Zeit lassen , -- ich hätte es vielleicht sollen , aber ich konnte nicht länger , Adine .
Sieh , den ganzen Tag , den ganzen schrecklichen Tag trug ich eine sinnlose , würgende Angst mit mir herum .
Eine Angst , weil du heute früh etwas gesagt hattest von , zu spät ' , oder -- oder , verscherzt ' hast du gesagt , -- etwas Ähnliches ; -- siehst du , der Zweifel brachte mich von Sinnen . "
Und er griff hastig , wie um mich nun auch wirklich sich nicht entgehen zu lassen , nach meinen Händen und setzte sich neben mich , dicht zu mir gebeugt .
" Liebste ! -- sage mir ein Wort , " bat er mit einem glücklichen Lächeln , -- und mein Blick mied scheu den seinen .
Diese leuchtenden treuherzigen blauen Augen , dieses ganze von Glückszuversicht verklärte Gesicht klagte mich laut an .
Ich selbst klagte mich an , und erschrak über das Geschehene .
Und doch hätte ich nicht anders zu handeln vermocht , auch wenn es gegolten hätte , noch einmal zu handeln in den tollen Vorübergestürmten Minuten seines Rauschs .
Besser , tadelloser wäre es zweifellos gewesen , ihm zu sagen :
" Küsse mich nicht ! täusche dich nicht !
ich liebe dich nicht ! "
Aber wie konnte ich ihn im Dursten und Darben zurückstoßen und sorgsam abwägen , was das Richtigere , das Tadellosere war -- " Vielleicht fehlt mir jeder Stolz ! vielleicht jede Scham ! " dachte ich , " und jetzt ? und hinterher ? was soll ich tun ?
wie ihn aufklären und kränken ?
Ach , ich kann ihn nicht kränken !
Kann ihn nicht durch Mitleid beleidigen .
Ich bin ein feiges -- ein ganz feiges Geschöpf ! "
Jetzt fiel Benno doch meine Stummheit und innere Ratlosigkeit auf .
Etwas wie eine dunkle Unruhe ging durch seine Augen und machte sie rührend , wie erstaunte Kinderaugen .
" Adine , -- ich -- -- sprich zu mir ! " rief er fast laut , " ich halte es nicht aus !
Warum sprichst du nicht ? "
" Lieber Gott ! " dachte ich , " hilf mir doch ! gib mir ein , was ich tun soll .
Niemals , niemals kann ich ihm die ganze Wahrheit sagen ! niemals , niemals ihn vor mir demütigen , -- ihn , den ich einst , ach einst -- !
Lieber laß mich klein und verächtlich werden in seinen Augen , daß er selber mich nicht mehr will , nicht mehr liebt .
Laß mich lieber ganz zunichte werden , -- Staub zu seinen Füßen -- . "
" Dina -- ! " sagte er mit erstickter Stimme , und man konnte sehen , wie ihn ein Schreckgefühl durchrieselte .
Ich mochte ja vor ihm dasitzen wie ein Bild der Selbstanklage und Verwirrung .
Und da mochten seine Zweifel plötzlich heraufsteigen , -- Zweifel , die er mit sich herumgetragen , -- Zweifel , die ihm erst vor einer Woche den Brief an mich diktiert hatten , -- Zweifel an der Unberührtheit meines Mädchenlebens .
"-- Nein nein ! " entfuhr es ihm wild abwehrend , gerade als widerspräche er jemand , "-- nein , es kann nicht sein !
Nicht das kann es sein , -- Adine , auf meinen Knien will ich es dir zuschwören , daß du mir das Höchste , das Reinste bist , das , wovor ich knie , und das schon der leiseste Schatten eines Mißtrauens entstellen würde .
Was liegt an der ganzen Welt !
Wenn du nur bist , die du warst ! "
Ich stieß einen Seufzer aus , mir war wie einem Erstickenden , der Luft bekommt .
Unwillkürlich falteten sich meine Hände .
Ja , dies war ein Ausweg , -- der Schatten von Mißtrauen , der Zweifel , der Brief , -- wenn Benno an all das glaubte , dann war es ein Ausweg .
Allzu hergebracht streng dachte er doch in diesem einen Punkt , und allzusehr hatte seine Phantasie mich verklärt , um darüber mit seiner Liebe hinwegzukommen -- .
Benno war aufgesprungen , er starrte mich an und atmete kurz .
Er hatte nach der Lehne des zunächststehenden Stuhles gegriffen und umfaßte sie gewaltsam mit beiden Händen , als wollte er sie zerbrechen .
Der ganze Mann zitterte .
Mit heiserer rauh klingender Stimme brachte er hervor :
" Wenn du -- -- hast du -- -- ist ein anderer -- -- "
Und als ich noch immer schwieg , ging er langsam auf mich zu , und leise , ganz leise , als fürchtete er sich vor seiner eigenen Stimme , sagte er mit herzerschütterndem Ausdruck : " Dina ! --
Dina ! sage , daß es nicht wahr ist ! daß du keine -- "
Es durchfuhr mich in diesem Augenblicke doch , wie von einem elektrischen Schlag .
Ich hörte nichts mehr und sah nichts mehr , ein seltsamer Schwindel schien mir alle Gegenstände und alle Gedanken zu verrücken und zu verwandeln .
" Staub zu seinen Füßen , -- jetzt bin ich ihm das wirklich ! " dachte ich mir noch dumpf , und irgend eine unklare Vorstellung dämmerte dunkel in mir auf , daß sich da soeben etwas Sonderbares begäbe : irgend eine wahnsinnige Selbsterniedrigung und Selbstunterwerfung , -- irgend ein sich zu Boden treten lassen wollen -- .
Und doch löste sich dabei etwas in meiner innersten Seele , was sich bis zum äußersten gestraft und gespannt hatte wie ein Seelenkrampf , -- und es überflutete mich mit einer zitternden Glut , und es schrie auf und frohlockte -- -- . Und dennoch war diese ganze Situation kein wirkliches , kein wahrhaftes Erleben , sondern sie war von mir nur geschaffen , von Benno nur geglaubt , -- sie war nur ein Schein , ein Bild , ein Traumerleben , -- ein Nichts . -- -- -- -- -- Ich weiß nicht , ob ich auf der niedrigen Ottomane sitzen blieb , oder ob ich in die Knie sank und mein Gesicht in die Hände drückte , -- jedenfalls habe ich dies meinem inneren Verhalten nach getan und habe so verharrt .
Damit schloß für mich diese Szene ; damit schloß meine Beziehung zu Benno .
Trotzdem würde ich ja nie , im ganzen Leben nicht , imstande sein , die Liebe eines Mannes zu ertragen , der mich wirklich auf die Knie festbannen oder mich in meiner Individualität ähnlich vergewaltigen wollte , wie Benno es ehedem unwissentlich versucht hatte .
Aber was hilft mir diese Erkenntnis ?
Hilft sie mir etwa dazu , nun auch voll und stark und wahrhaft hingebend zu lieben ohne diese furchtbaren Nervenreize ?
Nein !
Wenn ich das seitdem je geglaubt habe , so erwies es sich sofort als ein bloßes Trugspiel , ja eben als ein unwillkürliches Spiel ohne Dauer und Tiefe .
Es ist , wie wenn ich mich festgenagelt fühlte zwischen der Oberflächlichkeit Mutchens und der hysterischen Romantik der kleinen Verwachsenen , dazu bestimmt , zwischen diesen beiden Polen des Gefühls hin und her zu pendeln wie zwischen Leichtsinn und Wahnsinn -- .
Denn ich kann wohl als Künstlerin entzückt und erregt werden , und zugleich mit tiefster Sympathie nach einem mir teuren Menschenwesen langen , -- aber alles was dem Weib in mir an den Nerv greift , alles was instinktiv tiefer greift , als Freundschaft und Phantasie zusammen vermögen , -- alles das ist dunkel jenem letzten Schauer verwandt , der vielleicht eine lange , unendliche Generationen lange Kette duldender und ihres Duldens seliger Frauen in mir wunderlich und widerspruchsvoll abschließt -- -- .
Auch meine Mutter gehörte ja in irgend einem Sinne zu diesen Frauen .
In der Nacht , die der Szene mit Benno folgte , wachte sie plötzlich von dem unterdrückten Weinen auf , das aus meinem Bett hinüberdrang .
Sie richtete sich auf und horchte besorgt .
" Gute Nacht , mein liebes Kind ? " sagte sie leise , fragend .
" Gute Nacht , liebe Mama , " erwiderte ich .
" Wann bist du denn von Rendant gekommen ?
Hast du noch gar nicht geschlafen ? "
" Ich war gar nicht oben , Mama .
Ich war bei Benno im Arbeitszimmer . "
" Aber Kind , du weintest ja ! -- -- War Benno zu Hause ? "
" Er kam nach Hause . "
Meine Mutter verstummte .
Sie mochte erraten , daß es zwischen uns eine Aussprache gegeben hatte , denn nach einer längeren Pause hob sie wieder an :
" Adine , mein Kind , du verlangst zu viel vom Leben und von den Menschen .
Du bringst dich noch um dein Glück .
Alles in der Welt kostet Opfer , und am meisten das Glück .
Mag sein , daß Benno manches anders will als du .
Den heutigen Frauen scheint es schwer , dem Mann dienstbar zu sein , aber glaube mir , es ist noch das Beste , was wir haben , und ich bin es deinem lieben Vater auch immer gewesen .
Auf die Länge lieben wir keinen Mann so recht , wie den , der uns befiehlt -- "
" Ach Mama , das glaube ich gern . "
" Nun , -- aber -- ? " meiner Mutter Stimme klang ängstlich gespannt .
" Aber Benno ist ganz anderer Meinung darüber , Mama . "
Meine Mutter verstummte wieder , diesmal völlig verblüfft .
Sie hatte mir ja so gut zureden wollen , und hatte mir nun , ohne es zu wissen , abgeredet .
Lange ertrug sie das nicht , mein liebes Mütterchen .
Und im Drange ihres Herzens , zu helfen und das Glück zu bauen , wie sie es meinte , verleugnete sie heldenmütig alle ihre heiligsten Überzeugungen für mich und sagte etwas unsicher : " Ach Kind , Schattenseiten hat am Ende ja auch eine Ehe , wo der Mann herrscht .
Du kannst dir doch denken , daß das nicht immer gerade leicht für die Frau ist .
Wenn ich so zurückdenke , ist es auch nicht immer angenehm gewesen . "
Ich mußte in all meiner Betrübnis lächeln , und ihre fromme Lüge rührte mich .
Und plötzlich überfiel mich die Angst , die Mutter könnte jemals , durch einen unseligen Zufall , aus Bennos Wesen erraten , was ich diesen glauben ließ .
Darauf durfte ich es nicht ankommen lassen , dieser Möglichkeit mußte ich vorbeugen .
Und ich glitt aus dem Bett und schlich mich zu ihr hin .
Ich tastete nach dem lieben Kopf im Nachthäubchen .
" Mama ! " flüsterte ich , " gib mir noch einen Kuß . "
" Ja , mein Herzenskind .
Weine nur nicht mehr .
Ich kann es nicht ertragen . "
" Nein , Mama .
Aber höre , was ich dir sagen will .
Sollte Benno einmal -- du hast mir ja erzählt , weißt du , gestern morgen wie wir aufstanden , daß Benno sich Gedanken macht über mein Leben draußen .
Nun , sollte dir einmal vorkommen , als ob er das wirklich tue , so achte nicht drauf .
Laß ihn dabei , streite nicht mit ihm , -- aber du , laß dich nicht davon anfechten . "
Die Mutter hatte sich hastig aufgerichtet .
Sie griff ängstlich nach meinen Händen und zog sie an sich , wie um mich zu schützen .
"-- Benno -- ? -- -- was ist geschehen ?
Sage mir , was geschehen ist !
Hat Benno dir Unrecht getan ?!
Weintest du deshalb ?
Das darf er nicht !
Sage es mir , mein Kind .
Wie darf er das tun !
Kein Mensch soll dir ein Haar krümmen , hörst du ?
Und ich -- ich lag hier so getrost und ruhig , und als ich schlafen ging , da dachte ich an euch beide , und ich dankte in meinem Herzen Benno , und betete zu Gott für sein Glück , für ihn und für dich .
Und er -- er ging hin und tat dir Unrecht ! "
Ich legte leise meine Hand auf die Lippen der Mutter und barg das Gesicht in dem Kissen neben ihrem Kopf .
Mir wurde plötzlich so klar , -- so ganz klar , daß was ich Benno nur glauben ließ , ja doch eine Wahrheit war , wenn nicht heute , so doch morgen , und daß , gleichviel was ich als Künstlerin erreichen würde , aus meinem Liebesleben , aus meinem Leben als Weib , der Ernst verloren gegangen war .
Und mich überkam heimlich und heiß eine kindische Sehnsucht , mich zur Mutter zurückzuretten und zurück in die erste Jugend , die nicht wiederkam .
Lou Andreas-Salom é , Fenitschka .
12 " Mama ! " flüsterte ich , " Benno ist gut , du mißverstehst das : ihn mußt du lieb -- sehr lieb mußt du ihn haben .
Bete du nur getrost weiter für sein Glück , und hilf ihm zu einem Glück .
Und für mich bete , -- ach bete , Mama , -- daß er Unrecht behalte -- ! "
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- TextGrid Repository (2025). Andreas-Salomé, Lou. Fenitschka. Bildungsromankorpus. https://hdl.handle.net/21.11113/4c0nb.0