Frau Dalmar lag in der zwölften Nachtstunde mit einem Buch in der Hand auf der Chaiselongue ihres Schlafzimmers , und las oder versuchte zu lesen .
Ihr Gatte war mit ihrer Tochter Sibilla auf einem Ball .
Vor ihrer Rückkehr mochte sie nicht zu Bett gehen .
Sibilla bedurfte ihrer beim Ablegen der Balltoilette , und dann - - auf diesem Ball entschied sich vielleicht das Geschick des geliebten Kindes .
Frau Dalmar war eine kleine unscheinbare Frau mit feinen Zügen und einer schüchternen Anmut im Wesen .
Etwas leicht verkümmertes , dünnes , unausgewachsenes hatte sie .
Sie machte den Eindruck einer verwelkten Knospe , die nie Blume gewesen war .
In der Tat verbrauchte sie all ihre geistigen und körperlichen Kräfte , um ihre Pflichten als Hausfrau , Gattin und Mutter , die nicht immer leicht waren , zu erfüllen .
Es galt , bei den geringen Mitteln , über die die Familie zeitweise verfügte , den Schein einer eleganten Lebensführung aufrecht zu erhalten .
Ihre Ehe war eine freundliche , friedliche , obwohl der Gatte eine frischere , robustere Gefährtin vorgezogen hätte .
So wie sie einmal war , behandelte er sie mit Humor , mit gutartigem Spott , und nannte sie , wenn er mit der Tochter über die Mutter sprach , unsere schwache kleine Mutti .
Bezeichnend war , daß niemand den Vornamen von Frau Dalmar kannte .
Daß sie unbeachtet blieb , war ihr gerade recht .
Ohne jede Bitterkeit hatte sie sich damit abgefunden , nur die Mutter ihrer Tochter zu sein .
Ihrer Tochter Sibilla ! ein so süßes Geschöpf !
All ihre Gemütskraft konzentrierte sich in der Anbetung ihres Kindes .
Darum konnte sie auch jetzt nicht lesen .
Sie legte das Buch fort , streckte sich behaglich aus , schloß die Augen und malte sich die Zukunft ihrer einzigen Tochter aus .
Wie bezaubernd hatte sie ausgesehen , als sie zum Ball fuhr , in dem Kleid von Silbergaze , mit der blaßrosa Rose in den goldbräunlichen Zöpfen .
Wie hatten die großen dunklen Augen aus dem alabasterzarten Gesicht geleuchtet .
Frau Dalmar begriff nicht , daß sich nicht jeder beim ersten Blick in dieses engelhafte Geschöpf verliebte .
Sie erhob sich halb von der Chaiselongue und nahm von dem Seitentischchen ein Album .
Es enthielt nichts als die Photographien Sibillens , von ihren ersten Kinderjahren bis zur Gegenwart , zu ihrem achtzehnten Lebensjahr .
Frau Dalmar vertiefte sich zärtlich in den Anblick dieser Köpfchen .
Man brauchte nicht die Mutter zu sein , um in ihrem Reiz zu schwelgen .
All diese Gesichtchen , mit dem wirren Gelock , das ein Oval von zarter , weichster Rundung einrahmte , trugen den Ausdruck schalkhaft holdseliger Lieblichkeit neben sinniger Klugheit .
Als Frau Dalmar an die zweite Seite des Albums kam , waren die Krausköpfchen verschwunden und lange Zöpfe traten an ihre Stelle , und allmählich änderten sich auch die Physiognomien ein wenig .
Einige der Köpfe zeigten einen fast grübelnden Ausdruck , mit einem leisen Hauch von schwermütiger Müdigkeit .
Dann aber kam wieder ein lachendes Gesicht , das Schulmädchen mit dem Ränzlein auf dem Rücken , das Barett schief in die Stirn gedrückt , keck und übermütig .
Die nächste Photographie mit einem Anflug von Trotz und Gelangweiltheit .
Augenscheinlich hatte das Kind da dem Photographen widerwillig gestanden .
Was schon an den Kinderköpfchen auffiel , trat jetzt noch stärker hervor : der eigentümliche Kontrast zwischen den Augen , die wie aus geheimnisvollen Tiefen heraufblickten , und der schelmischen Lieblichkeit des Mundes .
Lächelnder Mund und träumende Augen .
Dann verschwanden plötzlich die Zöpfe , und drei bis vier Bilder zeigten wieder den lockigen Tituskopf .
Frau Dalmar lächelte in sich hinein , während ihr Auge auf diesen Bildern ruhte .
Einmal , ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sich Sibilla vor der Mutter gefürchtet , als sie sich heimlich eines Abends die Zöpfe abgeschnitten hatte .
Das Flechten und Zöpfen des Morgens war ihr langweilig und unbequem geworden .
Am Morgen nach der Untat war sie in die Schule gegangen , ohne der Mutter Adieu zu sagen .
Sie hatte ihr aber auf der schönsten Schüssel des Hauses die abgeschnittenen , zierlich geflochtenen , mit rosa Bändchen geschmückten Zöpfe ins Schlafzimmer geschickt , mit einem drolligen Gedichtchen , das ihre Verzeihung erflehte .
Und dieses Gedicht und der wehmütige Anblick der geliebten Zöpfe waren der schwachen Mutter so ans Herz gegangen , daß ihre quellenden Tränen den aufsteigenden Zorn im Keim erstickt hatten .
Frau Dalmar blätterte weiter in dem Album .
Und da war das erwachsene junge Mädchen von so eigentümlich berückender , märchenhafter Schönheit , daß ein Ausdruck leidenschaftlicher Zärtlichkeit Frau Dalmars Züge überflog .
Lange hafteten ihre Blicke an einer der Photographien , die Sibilla in ihrem sechzehnten Jahr darstellte .
Die Augenlider waren müde über die , wie in Träumen verlorenen Augen gesenkt .
Um die feingeschwungenen Linien des etwas großen Mundes spielte wieder das halbe , kindliche Lächeln .
Von der Nase zum Mund aber zog sich ein trauriger , fast bitterer Zug .
Dieser Zug , wie kam er in das Gesicht ihres so jungen und so glücklichen , so ganz glücklichen Kindes ?
Frau Dalmar forschte in ihrem Gedächtnis nach einer Erklärung dieser seltsamen Traurigkeit .
Sie regte sich dabei auf .
Sie wollte der Erregung Herr werden und erhob sich aus der liegenden Stellung .
In dem geräumigen Schlafzimmer , das Sibilla mit ihr teilte , sah es ziemlich unordentlich aus .
Ein Kommodenkasten stand halb geöffnet ; auf dem Stuhle lagen allerhand Gegenstände , die das junge Mädchen für den Ball probiert hatte , ein Fächer , einige Paar Handschuhe , künstliche Blumen neben dem Karton , aus dem sie herausgerissen waren u. s.w .
Die Mutter begann die Sachen zu ordnen und in die Kommode zurück zu legen .
Ein Schreibheft in Oktavform mit der Aufschrift " Tagebuch " , das in einem Winkel der Kommode lag , fiel ihr in die Augen .
Sie selbst hatte es Sibilla an ihrem elften Geburtstage geschenkt , und das Kind verpflichtet , all seine kleinen Erlebnisse in das Buch einzutragen .
Sie hatte ihr eindringlich vorgestellt , was für Freude sie in späteren Lebensjahren an diesen schriftlichen Erinnerungen haben würde .
Im Grunde hatte Frau Dalmar noch einen anderen Zweck mit dem Tagebuch verfolgt .
Diese Frau , deren Leben kaum je durch einen Schatten von persönlicher Eitelkeit getrübt worden war , besaß eine krankhafte Eitelkeit in Bezug auf Sibilla , deren ungewöhnliche Begabung sie erkannt hatte .
Das Kind sollte seine glänzenden Anlagen so vielseitig und so frühzeitig wie möglich entwickeln .
In den regelmäßigen Tagebuch-Aufzeichnungen sah sie ein Mittel , den Stil und die Denkkraft der Kleinen zu üben .
Ein bis zwei Jahre lang hatte Sibilla mit größeren oder kürzeren Pausen das Tagebuch geführt .
Dann war es ihr langweilig geworden , sie hatte es beiseite gelegt und vergessen .
Frau Dalmar hatte absichtlich , um Sibillas Aufrichtigkeit und Harmlosigkeit beim Niederschreiben nicht zu beeinträchtigen , nie verlangt , das Buch zu sehen , obwohl sie wußte , daß Sibilla ihr ohne weiteres den Einblick in dasselbe gestattet haben würde .
Nun fiel dieses Bedenken fort ; sie nahm das Büchelchen , streckte sich wieder auf die Chaiselongue und vertiefte sich in die Tagebuchblätter , mit lächelndem Stolz über die Frühreife und die Aufrichtigkeit des Kindes .
Das Tagebuch begann mit dem 12. Oktober 1867 .
Sibilla war damals elf Jahre alt .
" Ich werde dies Buch heute mit dem Geburtstag des Königs einweihen .
Sehr schmeichelhaft für den König .
Also , lege los , würde Herr Vogel ( unser Direktor ) sagen .
Am Freitag war ich bei Anna Reicher erst zum Kaffee eingeladen , nachher war Tanzstundenball .
Beim Kaffee war es wirklich göttlich .
Keiner tat den Mund auf , außer um Kaffee zu trinken , oder um Konrad Reicher - der einzige Knabe , die anderen waren noch nicht da - zu flüstern .
Als aber nachher getanzt wurde , da tauten wir gleich alle auf .
Wir tanzten auch Kotillon , und ich bekam natürlich die meisten Bouquets .
Ein Knabe aber , der Jesko von Stubnitz , der war sehr hübsch , tanzte aber schlecht .
Alle Übrigen mir unbekannt .
Was wäre sonst noch zu erzählen ?
Ach was - ich werde jetzt lesen .
15. Oktober .
Am Sonntag waren wir bei Grünaus eingeladen .
Nach dem Kaffee spielten die anderen : » wie gefällt Dir Dein Nachbar « und anderes , während Johanna und ich Theaterstücke von Körner lasen , was mir viel besser als das ewige Spielen gefällt .
Ich habe eine himmlische Puppe bekommen , in die ich verliebt bin . -
Ich wickle ihr den Kopf immer in ein Taschentuch , damit er nicht zu sehr verstaubt .
1. November . Heute waren wir wieder in der Schule , wo es mir schrecklicher vorkam denn je , so laut , und ein Geschwirre durcheinander , nicht zum aushalten .
Wir hatten Schreibstunde , und ich wollte nicht schreiben ; darum gab ich mir Mühe , unartig zu sein , um einen Punkt zu bekommen und den Kopf auflegen zu können , als weinte ich ; aber ich hatte dann doch nicht den Mut zu der Heldentat .
Gestern habe ich nachbleiben müssen , bei Frl. Gerster in der Religionsstunde , woraus ich mir ebenso wenig gemacht habe , wie aus einem Kuß von ihr .
Ich kann sie nicht leiden , weil sie sich an der Nase herumführen läßt wie das unschuldigste Kind , und Frau Hegel nicht , weil sie so heuchelt und fromm tut und es dabei gar nicht ist .
Mutter sagt , ich schreibe gut , und darüber freue ich mich .
Ich freue mich unsäglich aufs Examen , ich sage nämlich ein Gedicht auf :
» Das Glöcklein des Glücks « , und ich werde mein blaues Kleid anziehen .
Den 3. November .
Ich laufe alle Tage Schlittschuh und amüsiere mich himmlisch .
Heute bin ich einem Herrn in die Arme gelaufen , und das finde ich so hübsch .
Wir waren bei Kreislers eingeladen und haben abends Schokolade getrunken .
Ach , eine herrliche Erinnerung ist diese Schokolade .
In der Schule fehlen drei Fräuleins ; es ist große Not , da man die Lehrerinnen nicht auf der Straße findet .
Wenn ich manchmal an das Leben in der Schule denke , so kommt es mir so vor , als ob das , was man sonst im Leben Klatscherei nennt , in der Schule am meisten gepflegt wird , als lerne man in der Schule erst die schlechte Denkungsart , als wäre alles Schlechte daselbst in großen Behältern aufbewahrt .
1. Dezember .
Wie schade , das Eis , das mich gestern mit so viel Freude erfüllte , heute ist es gebrochen ; man sieht wie alles Irdische vergänglich ist .
Prinzen quälen immer so , daß wir zu ihnen kommen sollen , und ich möchte gar nicht gern , weil ich sie nicht mag .
Aus meiner Klasse aber möchte ich gern zwei Mädchen zu Freundinnen haben , aber ich weiß gar nicht , wie ich es anfangen soll , besonders Emmy Kaiser .
Es kommt mir manchmal vor als gehöre sie gar nicht in die Schule , als sei ihr Geist zu groß für einen so kleinen Wirkungskreis .
Kamilla Weller ist ein reizendes Mädchen , sehr fleißig , aber sie hat nicht so viel Geist wie Emmy ; Kamilla ist der Liebling der ganzen Klasse , so sanft ist sie , während Emmy manchmal hart und stolz ist .
Vorgestern waren wir wieder bei Kreislers , wo diesmal die Schokolade angebrannt war .
Ich trank aber drei Tassen , weil die anderen sie ganz verachteten , das tat mir so leid .
Wir verkleideten uns , und ich war zu nackig , da sagte die Mutter : » aber Sibillchen « .
Das habe ich so übel genommen , daß ich mich gleich auszog ; später versöhnte ich mich wieder .
Ich habe neulich mein » Soll und Haben « in der Schule verborgt , ich meine das Buch ; das hat Frau Hegel erfahren , die hat es der Frau Direktor erzählt , und nun dürfen wir keine Bücher mehr verborgen .
Um Frau Hegel zu versöhnen , habe ich ihr das Buch geborgt .
Ich lese jetzt » In Reih und Glied « und bin ganz bezaubert davon .
Ich denke immer bei mir , wem ich ähnlich werden möchte :
Leo , Silvia , Amalie , oder Josepha .
Ich möchte Leo ähnlich werden , da ich aber ein Mädchen bin , muß ich unter den drei Mädchen wählen , und da gefällt mir Silvia am besten .
Ich werde wohl leider Gottes nicht so werden , aber wer kann die Zukunft lesen. 1. Dezember .
Am Dienstag in der Religionsstunde war Frl. Peschke so sehr enthusiastisch und schlug immer dabei den Takt mit der Faust auf dem Klavier .
In der Geographie sitze ich ziemlich weit unten .
Als ich das vorige Mal mit der Straße von Piombino angriff , glaubte ich mit Bestimmtheit heraufzukommen , aber die Erste wußte es , und da sitze ich noch , wo ich saß .
Es tat mir sehr leid ; ich tue dann immer so , als ob es mir gleich wäre , das ist aber nur Heuchelei .
Mit Anna Prinz bin ich noch böse , und sie zeigt mir ihre Feindschaft durch verächtliche Blicke und Worte .
Ich freue mich aber sehr darüber , denn es bringt uns immer weiter auseinander .
Mutter möchte , daß ich mich versöhne , das kann ich nicht .
Ich kann ihr nicht die Hand reichen , nachdem ich die ihre schon zurückgewiesen habe .
Das kommt mir ganz furchtbar vor .
Sie hat auch noch mein » Soll und Haben « ; ich glaube nicht , daß ich es ganz wiederbekomme .
Ich lese jetzt » In Reih und Glied « zum dritten Mal und bin ganz hingerissen , und ich nehme mir fest vor , wie Leo oder Silvia zu werden .
Das Ende ist so rührend , daß ich es gar nicht beschreiben kann .
Als ich das Buch aus der Hand legte , kam mir unser alltägliches Leben so unwürdig vor .
Zu Ostern waren wir bei Dorns eingeladen .
Wir suchten auch da Ostereier , aber wie armselig , nur ungefärbte .
Zum Kaffee bekamen wir nur Zwieback und nur eine Tasse und - - Kochzucker .
Gott wie pauvre . Wir haben in der 2b einen neuen Lehrer , der uns Rechnen und Geographie gibt .
Er ist ganz nett , hat mich gefragt , ob ich mit dem Komponisten Dalmar verwandt sei , und ob ich dichten könne .
Das erstere habe ich bejaht , das letztere verneint .
3. Dezember .
Am vorigen Donnerstag kam Tante Emma mit ihren beiden Kindern an .
Lotte ist noch etwas magerer geworden , und Eva hat sich nicht zum Vorteil verändert .
Eigentlich waren wir nicht viel zusammen , ich vormittags in der Schule , sie nachmittags aus .
Am Montag reisten sie wieder ab .
Eigentlich ist es besser so , alles in der alten Ordnung .
Es ist doch nicht angenehm , wenn man immer und immer rücksichtsvoll sein muß , ewig tun , was der andere will , denn die Bitte eines Gastes kann man doch nicht gut abschlagen ; und sie wird doch zum Befehl .
Ich habe jetzt Tanzstunde und amüsiere mich sehr dabei .
Wenn ich sagen sollte , was mich denn eigentlich amüsiere , so wüßte ich nicht zu antworten .
An dem Hopsen allein kann man doch kein Vergnügen finden .
Den 4. Dezember . Gestern , das war wieder schrecklich in der Schule .
Bertha Gieße ist ein armes Würmchen und immer so murklich angezogen , und ein schlimmes Auge hat sie auch .
Sie bekommt immer nur eine trockene Schrippe mit in die Schule .
Gestern aber hatte sie eine Schrippe mit Kuhkäse belegt , und sie schmatzte so recht vor Vergnügen beim Essen .
Da ging Frau Hegel an ihr vorüber und schnüffelte so , und da entdeckte sie den Kuhkäse .
» Pfui « , sagte sie , » Übelriechendes gehört nicht in die Schule , « und riß ihr die Schrippe weg .
Die Bertha , die stand da mit so gräßlich hungrigen Augen und wäre beinahe an dem Bissen im Munde erstickt .
Ich weiß nicht , mir stieg das Blut so in den Kopf und ich sagte zu Frau Hegel : » Es gibt noch viel Übelriechenderes in der Schule als Kuhkäse . «
Ich meinte damit ihr Benehmen , das wagte ich ihr aber nicht zu sagen .
Ich mußte eine ganze Stunde nachsitzen .
Es machte mir Spaß , das Nachsitzen , wirklich Spaß .
Ich hasse Ungerechtigkeiten .
Darum tun mir immer die Armen so sehr leid .
Ich weiß überhaupt gar nicht , warum es Arme geben muß .
Es ist zu dumm .
Wenn ich groß bin , entdecke ich es vielleicht .
Am anderen Tage kam ich auch mit einem Käsebutterbrot in die Schule ; es war nicht gerade Kuhkäse , nur holländischer .
Und ich aß es so recht vor Heglers Nase .
Und sie schnüffelte nicht , und tat , als sähe sie es nicht .
Etsch , Frau Hegler , etsch ! etsch ! 30. Dezember . Lange , lange habe ich nichts eingeschrieben ; ich will aber auch sagen warum , damit ich mich später über den langen Zwischenraum nicht ärgre .
Das Tagebuch war weg .
Ich habe Auerbachs Dorfgeschichten gelesen , sie gefallen mir himmlisch .
Übrigens , was ich da neulich über die Tanzstunde eingeschrieben habe , hatte ich bloß aufgeschnappt ; das Hopsen und Springen macht mir doch Vergnügen .
Den 1. Januar 1868 . Ein neues Jahr hat angefangen , - jetzt schreibt man 1868 .
Das kommt mir ganz wunderbar vor .
Wie schnell das geht .
Und wenn ich erst darüber nachdenke , was habe ich denn eigentlich in dem langen Jahre getan ?
Nicht einmal das dumme Büchlein konnte ich ausschreiben , und ich will Schriftstellerin werden .
Ich will mich aber ändern und in diesem Jahr fleißiger werden .
6. Januar . Gestern nahm mich Vater zu einem Kaffee mit , wo nur Erwachsene waren .
Ich habe mich sehr gut unterhalten ; zwar unterhalten eigentlich nicht , sondern zugehört .
Dann schmeckte mir auch der Kuchen und das Eis herrlich .
Am Sonnabend bin ich in Englisch in die erste Abteilung gekommen .
Alle Kinder murrten und meinten , sie hätten ebenso gut in die erste Abteilung kommen können ; ich habe mich aber nicht daran gekehrt .
In der Schule werde ich von Emmy Kaiser der angehende Blaustrumpf genannt .
Unser Direktor , Herr Vogel , lobt immer Emmy Kaiser und Sibilla Dalmar , und die anderen müssen zuhören .
31. Januar .
Meiner Treue !
Bin ich aber ein Faulpelz .
Über vierzehn Tage nichts eingeschrieben , Noch nicht das neue Buch angefangen !
Aber was soll man denn eigentlich einschreiben ?
Richtig , ich war am vorigen Sonntag bei Prinzen .
Gar nicht amüsiert .
Wir taten gar nichts , sondern mußten mit anhören , wie Herr Prinz ein Karnevalsfest beschrieb , Frau M.s himmlischen Nacken in den Himmel erhob und ähnliches .
Herr Prinz ist immer so albern zu mir , ich kann wirklich seine Späße nicht anders nennen. Z.B. sagte er immer : » Ich bete Dich an , Sibilla , Du machst mich unglücklich , « und noch mehr solch Zeug , das doch , wenn es auch ein Scherz sein soll , ganz unsinnig ist .
Wenn Kamilla und Emmy bei mir sind , kochen wir oft auf der Kochmaschine .
Neulich kochten wir zuerst höchst wohlschmeckende Schokolade , dann ganz prächtigen Eierkuchen mit Apfelmus und Apfelschnittchen und zum Nachessen Chocoladencreme .
Nein , was kann ich denn bloß noch schreiben , denn später wird es mir doch nicht mehr interessant erscheinen , daß Frau Hegel fehlt und daß wir deshalb in der Stunde von 12-1 Uhr großen Unsinn gemacht haben , oder soll ich schreiben , daß am Sonnabend die Tanzstunde bei uns war und daß Cousine Anna , die gekommen war , uns so gut unterhielt , daß alle bis 9 Uhr blieben .
So , nun steht es doch wenigstens hier und ich kann mich in meinem späteren Alter daran ergötzen .
Anna ist ein außergewöhnliches kluges , liebenswürdiges Mädchen , die ich mir zur Freundin wünsche , denn eine Freundin genügt mir nicht .
Die eine , die ich habe , ist mein Kamillchen .
In der Schule gefällt es mir gar nicht , wenigstens nicht die Kinder .
Es sind fast alle Strohköpfe !
Sogar Emmy Kaiser , die ich früher anbetete , ist eingebildet und zänkisch , sie weiß nur mehr als die anderen .
Wäre ich doch nur erst aus der Schule !
Ich kann es manchmal nicht aushalten , wenn die anderen so jedes Wort herauswürgen , und dann sage ich es , und dann heißt es wieder :
Gott nein , immerzu sagt Sibilla Dalmar vor , weil sie sich einbildet klüger zu sein als wir alle .
3. Februar . Heute rief mir ein Junge » Judenschicksal « nach .
Ich weiß nicht , warum , vielleicht weil meine Zöpfe sehr lang waren und mit roten Bändern eingeflochten .
Ich lief ihm nach und wollte ihm etwas tun , er lief aber schneller .
Wenn mich einer beleidigen will , so könnte ich ihn - totschlagen , nein , so arg nicht , aber ihn prügeln , prügeln , und mich freuen , wenn er recht schrie .
Mutter nennt mich manchmal kleine Furie .
Ich hoffe so sehr , daß ich nach der 2a komme .
Ich könnte es gar nicht aushalten , wenn es nicht der Fall wäre .
Ich bin so fürchterlich ehrgeizig .
Dann werde ich wohl auch das englische Gedicht aufsagen , das heißt , ich will !
Ich sollte eigentlich das französische mit zwei anderen zusammen aufsagen , und Herr Vogel war auch schon einverstanden damit , und da wollte ich plötzlich nicht , ich glaube aus Eifersucht .
Ich hätte mich so gefreut , das Ganze allein aufzusagen , und da wollte ich lieber gar nicht .
Und nachher ärgerte ich mich so , nicht , weil ich nun das Gedicht nicht aufsage , sondern weil ich mich so albern benommen habe .
Am Nachmittag sagte mir Herr Simons , wenn ich das , was die erste Abteilung rechnet , nicht mit zu rechnen im stande wäre , so könnte er mich nicht in die 2a versetzen .
Meine Stimmung war ohnehin schon nicht die beste , und ich weinte , ich weinte !
Oh , ich Dummkopf ! ich Dummkopf !!!!!!!!
5.
April . Es war eine große und ereignisreiche Zeit , die letzte Woche .
Am Donnerstag hatten wir das unsinnigste aller Examen .
In dem Vierteljahr von Weihnachten an war uns alles schon eingelernt worden .
Ich sagte das englische Gedicht auf , wie ich es mir in den Kopf gesetzt hatte .
Die Martha Franz sagte dann das deutsche Gedicht ; ich kann nicht begreifen , wie ein Mensch um solcher geringfügigen Sache Willen so zittern kann , wie sie es getan hat .
Abends kam Grete Stadler zu mir , die alle das Wunderkind nennen .
Sie ist schon erwachsen , 16 Jahr alt ; sie erzählte mir Geschichten , und sie und die Geschichten gefallen mir sehr gut .
Gestern war der große Tag der Versetzung .
Nach einer langen Rede , die mich mehrmals zum Lachen brachte , wurde vorgelesen , wer versetzt würde .
Als die Versetzungen nach 2a an die Reihe kamen , fing der Herr Direktor so an :
» Ich werde mit der letzten anfangen , die eigentlich noch gar kein Recht hat , nach 2a zu kommen , weil sie zu jung ist ( man wirft mir bedeutsame Blicke zu ) , die aber meiner Meinung nach Euch alle übertrifft : Sibilla Dalmar ! «
Meine Freude war und ist noch grenzenlos .
Emmy Kaiser wird jetzt nicht mehr mit verachtendem Stolze auf mich niedersehen .
Sie äußerte neulich , ich wolle sie alle beherrschen .
Pah , das will ich auch .
8.
April . Gestern hatten meine Eltern Besuch .
Die Frau von dem Dichter F. ( ich schreibe keine Namen aus , sonst geht es mir am Ende wie meiner Cousine Anna ; die führte auch ein Tagebuch , als sie zum Logierbesuch bei einer unangenehmen Tante war .
Und das Tagebuch ließ sie einmal liegen , die Tante las all die schrecklichen Sachen , die sie über sie geschrieben , und Cousinchen wurde natürlich an die Luft gesetzt ) .
- Also die Frau F. hatte ich mir viel jünger und hübscher gedacht .
Sie hat so viel Falten um die Augen , besonders wenn sie lacht .
Herr Tau ... war auch da , ein großer Virtuose und der Abgeordnete Herr Las ...
Der hat mir sehr gut gefallen .
Er spricht so interessant , kurz und klug , er hat mir von allen am besten gefallen .
16.
April . Ich muß doch eigentlich auch in das Buch schreiben , wenn ich mich schlecht benommen habe , und mich nicht immer loben .
Cousine Anna , die seit einigen Monaten bei uns wohnt , und ich , wir waren also am Mittwoch sehr ungezogen .
Anna las im Bett aus einem verbotenen Buch .
( Ich muß zu meiner Schande gestehen , ich würde es auch tun , wenn ich nicht mit Mutti in einem Zimmer schliefe . )
Ich machte Anna heftige Vorwürfe , und als sie da weiter las , schlug ich sie und hielt die Tür zu , weil sie mich wieder schlagen wollte ; da zerschlug sie das Glas in der Tür und tat sich sehr weh .
Vater war , ich glaube zum ersten Mal , sehr böse auf mich .
Nachher bat ich ihn um Verzeihung ; er ist so gut und verzieh mir .
Ob ich Anna wohl geschlagen habe , weil sie das Buch las und nicht ich ?
So , nun steht doch wenigstens eine Schandtat von mir hier .
Ich lese jetzt » Die Pickwicke ! «
Sie gefallen mir sehr gut , trotzdem Mutti lachte , als sie das Buch in meiner Hand sah , und meinte , ich könnte es unmöglich verstehen .
Vorher blätterte ich in der Bibel , sie ist gar nicht so langweilig , wie ich immer dachte , sondern im Gegenteil sehr unterhaltend .
30.
April . Seit 14 Tagen habe ich dich , holdseliges Buch , nicht in Händen gehabt .
Damals waren noch Ferien , nun sitze ich schon seit 1 1 / 2 Woche in 2a .
Es gefällt mir recht gut , wenn auch anfangs ein paar Gänschen über mich lachten , was sie jetzt hübsch bleiben lassen .
Die drei Lehrer sind recht nett , am besten gefällt mir Doktor Häkel , der ist am energischsten und weiß zu erreichen , was er will .
Dann kommt Doktor Bender , der sich alles gefallen läßt .
Höchstens sagt er :
» Sie bringen mich zur Verzweiflung « oder » Ich bitte Sie um alles in der Welt , das geht nicht so . «
Darüber muß ich immer lachen , daß er anstatt g , j sagt .
Der dritte , der Doktor Schell - ein Murrkopf. 30. Mai . Ich habe hier ein Blatt ausgerissen , auf dem lauter Unsinn stand , und daher hat das , was ich jetzt schreibe , gar keinen Zusammenhäng mit dem Vorhergehenden .
Was will ich eigentlich schreiben ?
Mir ist so wirr im Kopf .
In der Schule reden immer alle über mich .
Neulich war Frau Hegel sehr ungerecht gegen mich .
Ich mußte mich die ganze Stunde in acht nehmen , nicht zu weinen .
Als aber alle weg waren , außer Frau Hegel und Nette Günzer , da fing ich an fürchterlich zu weinen , und dann lachte ich wieder , und das Ende vom Liede war , daß ich Frau Hegel bat , niemandem zu erzählen , wie albern ich gewesen war , und ich glaube , Frau Hegel und Nette ängstigten sich etwas , ich glaube , das war mir nicht unangenehm .
Warum war sie so ungerecht !! 17. Mai . Gestern feierten wir das herrlichste Fest , das vor 49 Jahren der Welt den großen Künstler Dalmar ( mein Vater ) schenkte .
Grete und ich , wir hatten zu dem Geburtstag ein Theaterstück gelernt - » Rotkäppchen « von Tick .
Ich war das Rotkäppchen , ich glaube ein recht hübsches .
Wir spielten es vormittags , und nachmittags noch einmal , und Cousine Else war der Wolf .
Sein Fell war aus lauter Pelzkragen zusammengeheftet .
Else weinte erst , sie schämte sich herauszukommen .
31. Mai .
Erster Pfingstfeiertag .
Wir haben das Vorderzimmer ganz mit Maien geschmückt .
Sieht das hübsch aus ! und wie es duftet !
Nachmittag fuhren wir nach einem Ort , der Lichterfelde heißt .
An und für sich ist der Ort nichts weniger wie hübsch , ein paar kahle Vielen und verkrüppelte Kiefern .
Das Essen aber in der Restauration , das schmeckte mir sehr gut .
Dann aber kam ein Gewitter .
Ich fürchte mich immer schrecklich vor Gewittern .
5.
Juni . O , mein Gott , ist das heute langweilig .
Vater und Mutter sind nach Charlottenburg gefahren und wir können in der schönen Luft keinen ordentlichen Spaziergang machen .
Ich war zwar unten , aber wo sollte ich denn hin ? immerzu bei Milenz vorbeigehen , wo so viele Leute sind ?
Im Hinteregarten sitzen die Wirte , im Vorgarten ein altes Fräulein mit dem Gesangbuch in der Hand .
Wohin ?
Ich wollte , ich könnte auch ein wenig spazieren fahren , oder in irgend einem Lokal wie » Krugs Garten « oder » Moritzhof « Kaffee trinken .
Aber nichts . -
Lesen mag ich auch nicht mehr , über uns klimpern die Kinder auf dem Klavier , und so heiß ist es , so heiß .
Ach , ich habe schon solches Kopfweh , und bin so müde , trotzdem es noch ganz früh ist .
Ich dächte gerade , ich hätte nun genug geklagt .
Buch zu .
23.
Juni . Ich habe schon wieder seit vielen Tagen nichts eingeschrieben .
Heute vor 8 Tagen hat unsere ganze Klasse eine Partie nach den Pichelsbergen gemacht .
Wir fuhren dabei über die Havel , die viel breiter ist , als ich mir gedacht habe .
Ich habe mich sehr gut amüsiert , weiß aber doch nicht , was ich darüber schreiben soll .
Ach , ich bin so müde , und es ist so heiß , ich habe so viel gearbeitet .
Frau Hegel hat heute gesagt , ich wäre nicht mehr die fleißige Schülerin von ehemals , ich fühle , es ist wahr .
Ich weiß gar nicht , wie das gekommen ist .
Ich habe mir vorgenommen , nun ganz anders zu werden , darum habe ich auch jetzt in der Hitze so viel gearbeitet .
Ich wollte bloß , die Cousine wäre erst weg , denn es ist bald nicht mehr zum aushalten mit dem Kinde , ich hasse sie , und die anderen lieben sie auch nicht .
16. September .
Wieder habe ich fast ein viertel Jahr nichts in das Buch geschrieben .
Ich bin jetzt 12 Jahr .
Als ich das vorige Mal einschrieb , war ich noch 11 Jahr .
Wie schnell das wechselt , ich denke immer , ich bin noch 11 , ich weiß nicht warum .
Außer vielen Geschenken wurde mir zum Geburtstag noch etwas sehr Hübsches aufgebaut , und das war Gretchen .
Am Tag vor meinem Geburtstag waren wir abends bei Günzers eingeladen gewesen , und so kam es , daß ich nicht merkte , daß Grete die Nacht über bei uns geblieben war .
Als ich am nächsten Morgen aufgebaut bekam , stand sie auf dem Tisch , in ein weißes Laken gehüllt , mit einem grünen Kranz über dem aufgelösten Haar .
Am Nachmittag kam Kamilla , wir amüsierten uns sehr .
Ich bin so entsetzlich matt und müde , aber ich kann nicht schlafen .
Ach , es ist so heiß heute und ich habe so viel gelesen .
22. September . Ach , ich bin jetzt so faul in der Schule , beim Aufstehen und überhaupt immer .
Heute war ich sehr ungezogen und bin in abscheulicher Stimmung , weil Vater böse auf mich war .
Ich dachte , er wüßte von meiner Unart nichts .
Ich begreife gar nicht , wie Mutter es ihm sagen konnte .
Als er nach Hause kam , sagte ich ihm ganz ahnungslos » Guten Tag « , er aber antwortete mir gar nichts , auch abends nicht .
Ich muß nur schnell von etwas anderem sprechen .
Neulich an Annas Geburtstag war Grete da .
Wie habe ich die eine Zeit lieb gehabt , doch jetzt ist die Liebe verrauscht und sie ist mir gleichgültig , manchmal kann ich sie sogar nicht leiden .
Ich mag nicht , daß sie zu Müttern so zärtlich ist und sie » Mama « nennt , überhaupt an Zärtlichkeit fehlt es ihr nicht , es ist das mit ein Hauptgrund , warum ich sie nicht mehr leiden kann .
Ich habe jetzt eine neue Freundin in der Schule , Hedda Rank , ein sehr kluges Mädchen .
Sie ist erst seit Ostern in der Schule , und da sie klug ist , ist sie natürlich den anderen verhaßt , und wenn die Dummen dann über sie lachen , dann weint sie .
Das ist freilich nicht klug .
Wir haben Ferien .
Gott sei Dank .
Leider nicht lange .
Ich habe jetzt keine Lust zum Schreiben .
13. Januar 1869 .
Mein Gott , wie lange habe ich nichts in dies Buch geschrieben , recht dumm von mir , denn welche kleine Mühe macht es mir , und welche große Freude werde ich später einmal davon haben , wie Mutter wenigstens sagt .
Weihnachten war es sehr vergnügt .
So viel Geschenke bekam ich .
Grete hat wieder vom 2. Feiertag bis gestern hier bei uns gewohnt .
Ich kann sie jetzt wieder besser leiden , ich liebe sie nicht , aber ich bin ihr ziemlich gut .
Eigentlich glaube ich nicht , daß sie viel Talent hat , denn neulich las sie uns ein ganz einfaches Gedicht vor » Das Grab am Busento « und » Die Grenadiere « , und sie las es so herzlich schlecht , daß alle sagten , ich hätte es besser gelesen , und das muß ich auch selbst sagen , ohne mich loben zu wollen .
Was aber Grete bei ihrem Lehrer durchgenommen hat , macht sie recht gut , manchmal sogar sehr ergreifend .
Ich bin heute aus der Schule geblieben , weil mir nicht wohl war .
Ich gehe so ungern in die Schule , ich kann gar nicht sagen wie .
Ich will ja fleißig sein , will viel , sehr viel lernen , aber es geht ja nicht in der Schule .
Frau Hegel hat uns die Bibel als das beste Buch empfohlen , in dem wir fleißig lesen sollen .
Nun befolgen wir ihr Gebot .
Grete , Anna und ich , wir haben uns neulich Abend hingesetzt und die schönsten Stellen ausgesucht von - aber nein , das ist zu häßlich , ich schreibe es nicht .
Nun , so tun wir doch Frau Hegels Willen .
Außer der Bibel lese ich jetzt Zschokkes Novellen .
Zum Teil recht niedlich , zum Teil ein bißchen langweilig .
9. Februar .
Ich erlebe jetzt sehr viel und doch wird mir die Zeit so erschrecklich lang , nein , eigentlich sehr kurz , denn wenn ein Tag vorbei ist , weiß ich gar nicht , was ich überhaupt die ganze Zeit getan habe , ich bin so überdrüssig .
Prutz meinte neulich in seinem Vortrag , ein jeder Mensch müßte so eine Zeit einmal haben , in der er ohne Grund traurig wäre , in der er tot sein möchte .
Na , zu Grabe getragen werden möchte ich doch noch nicht .
Es tut mir sehr leid , daß die Vorträge von Prutz schon zu Ende sind .
Sie haben mir sehr gefallen .
Ich freute mich immer schon auf den Tag , und war ungeduldig ; schade , daß es nun vorbei ist .
Ich habe sehr viel dabei gelernt , ich habe einigermaßen einen Begriff bekommen von der Literatur des 18. Jahrhunderts , von der ich nicht das geringste wußte .
Ich weiß nicht , mir schwebt immer ein ganz gleichgültiger Vorfall vor , bei dem mir aber Unrecht geschah .
Ich war erst 5 Jahre alt .
In unserem Hause wohnte eine alte Frau , bei der hatte der kleine Knabe vom Wirt schrecklich geklingelt , die alte Frau lief auf den Hof , mir wurde die Schuld zugeschoben , und ich bekam eine fürchterliche Strafrede .
Dieser geringfügige Vorfall ist mir nie aus dem Gedächtnis geschwunden ; Kinder behalten ja immer , wenn ihnen Unrecht geschieht .
Jetzt bin ich nicht mehr so , im Gegenteil , ich behalte besser im Gedächtnis , wenn jemand etwas Gutes und Hübsches zu mir oder von mir sagt .
Neulich war Gesellschaft bei Löwe .
Vater nahm mich mit , obgleich es Mutter sehr Unrecht fand .
Ich habe mich noch nie so gut amüsiert .
Es war eine ausgewählte Gesellschaft , meist Schriftsteller und Kritiker. Fr ... vertrat das letztere Fach .
Mit dem habe ich Brüderschaft getrunken und auch mit Auer ...
Auer ... ist ein reizender Mensch .
Ich kann ihn nicht nur gut leiden , ich habe ihn auch lieb .
Wollt ... war auch da .
Grete neckte mich eine Zeit lang mit Wollt ...
Zu dumm !
Wenn man jemand gern mag , muß man darum verliebt in ihn sein ?
Dann war Julius M .... da .
Er findet mich sehr hübsch , er hat es mir gesagt .
Es macht mich sehr , sehr glücklich , wenn mich jemand hübsch findet .
Er hat mir immerzu Schmeicheleien gesagt , das macht mich verlegen , und ich gerate nicht gern in Verlegenheit .
Übrigens ist unser Gefallen aneinander gegenseitig .
Ich finde ihn sehr nett .
Nett ist ein dummes Wort , ich meine etwas ganz anderes , ich kann mich gar nicht ausdrücken Er hat uns auch schon einen Besuch gemacht .
Er hat eine Tochter , ebenso alt wie ich .
Auerb ... habe ich auch gebeten , uns zu besuchen , und er hat versprochen zu kommen .
Ich habe ein Vielliebchen von ihm gewonnen und mir eines seiner Werke gewünscht .
Ich hoffe , er wird es nicht vergessen .
Wie langweilig war dagegen die Geburtstagsfeier von Cousine Anna .
Wenn man das Fest mit der Gesellschaft am Tage vorher vergleicht , muß man lächeln .
Und ich lächelte auch , als Anna zu mir sagte , daß ich mich doch unzweifelhaft heute besser amüsierte als gestern .
Das gute Kind kam mir so naiv vor mit seiner Frage .
Sie kann sich nichts vorstellen , das über eine Punschtorte und ein Glas Champagner geht .
Ich legte gestern Prutz einen Lorbeerkranz hin zum Abschied .
Nachher tat es mir leid , daß ich es übernommen hatte , denn der Kranz sah schrecklich ruppig aus .
22.
März . Was habe ich nicht alles erlebt in diesen letzten Monaten !
Es war eine ereignisreiche , darum nur allzu schnell vergangene Zeit .
Womit soll ich meinen Bericht anfangen ?
Ich werde mit etwas beginnen , was uns auch für die nächste Zeit wahrscheinlich viel beschäftigen wird .
Vater wünscht nämlich , wir sollen Berlin verlassen .
Ich fände es wahrhaft schrecklich , wenn wir in einer kleinen Stadt leben sollten .
Vater ist zu einem Musikfest nach Weimar gefahren .
Ich kann mir recht gut denken , daß es ihm dort gefällt , wenigstens für einige Zeit .
Er wird bewundert , gefeiert , aber wir ?
Wir sind nicht berühmt , man wird uns kaum beachten .
So egoistisch es auch ist , ich ärgere mich manchmal darüber , daß Vater sich so gut amüsiert , und besonders über eine Äußerung von ihm , daß er sich so wohl fühlt , wie seit 20 Jahren nicht .
Wenn es ihm gefällt , wenn er sich amüsiert , gut , das tue ich ja auch , aber daß es ihm ohne uns besser gefällt , das kann ich ihm nicht verzeihen .
Gestern bekamen wir Zensuren .
Meine ist sehr schlecht , ich bin aber ganz zufrieden .
Nämlich alle geben zu , daß ich erzfaul gewesen bin und zerstreut und unaufmerksam , aber meine Fortschritte loben sie alle .
Das ist mir eine rechte Befriedigung , denn es beweist mir , daß ich nicht dumm bin , was ich übrigens längst wußte .
Fräulein Glaser verließ die Schule mit einer rührenden Abschiedsfeier .
Unsere Klasse hatte ihr den Goethe geschenkt und ich hatte ihr ein Gedicht dazu gemacht , ein bißchen hat mir Mutter dabei geholfen .
Es lautet : Du scheidest , und Du wirst nicht wiederkehren , Was Dein an Glauben und an reichem Wissen , Du gabst es uns , in Beispiel und in Lehren .
Ach , Teure , schmerzlich werden wir dich missen . ( Na , na ! ) Fahre wohl !
Es lächle Dir zu allen Zeiten Das Leben nur im heiteren Festgewand , Und unsere Wünsche mögen Dich geleiten , Hast Du Dich treulos auch von uns gewandt .
( Hier fing sie an zu heulen und sich zu verteidigen . )
Und wandelst Du auf Goethes Zauberfluren Am Wunderstrom , wo nie versiegt die Quelle , So denke derer , die jetzt Deinen Spuren Nachweinen , Vorbild Du , uns leuchtend helle .
Und bist Du leiblich uns auch längst entschwunden , Du lebst in unserem Herzen jetzt und immer , Du wirkest fort - wir sind an Dich gebunden Und uns umstrahlt von Deinem Geist ein Schimmer .
( Gut gelogen , Sibillchen . )
Dies Gedicht habe ich eigentlich nur eingeschrieben , um Raum zu füllen .
Ich habe mir nämlich vorgenommen , in möglichst kurzer Zeit dies Buch auszufüllen .
Ich war in einer Gesellschaft bei Rosa Bär .
Dort war auch Trudchen Henning , die so fremd und herablassend zu mir tat .
Auch ihre Schwester Alice hat , wenn ich ihr einmal begegne , ein eigentümliches Wesen zu mir , so leutselig .
Sie haben bei Vater Musikunterricht .
Es macht mir immer den Eindruck , als ob ihr Vater zu ihnen gesagt hätte :
» Seid recht freundlich zu den armen Dalmars . «
Ich will ihre Freundlichkeit nicht .
Sie sollen sie für sich behalten , die geldstolzen Hennings .
Geld !
Geld ! kommt mir manchmal so ordinär vor .
Heute , als ich mit Mutter im Tiergarten spazieren ging , sahen wir einen sehr prachtvollen Kinderwagen , in dem lag ein prachtvoll geputztes Kind mit dicken , rosigen Bäckchen , und eine noch viel prachtvollere Spreewälderin schob den Wagen .
Als wir das Kind und den Wagen und die Amme bewunderten , kam eine arme Frau heran mit einem zerrissenen Umschlagetuch .
Sie hatte auf dem Arm ein Kind , das war nur Haut und Knochen und nur in eine Art Lumpen eingewickelt .
Das magerte Ding kreischte vor Vergnügen über den schönen Wagen und wollte dem prachtvollen Kind Händchen geben .
Ganz empört stieß die prachtvolle Amme das magere Händchen - schmutzig war es ja - zurück und fuhr schnell davon .
Was Kinder für sonderbare Augen haben können .
Ich kann die Augen von dem Haut- und Knochenkind nicht vergessen .
Ob es wahr ist , was in der Bibel steht : » Der Herr , der die Lilien wachsen läßt u. s.w . «
Frau G. ermahnt uns immer , recht bibelgläubig zu sein .
Wenn nur die armen Kinder von Bibelsprüchen satt würden !
Eisenach , den 29. April 1869 .
Wenn ich nach langen Jahren dieses Buch überlesen werde , so werde ich mich natürlich fragen , wie kam ich damals so plötzlich nach Eisenach ?
Um dann nicht lange darüber nachdenken zu müssen , schreibe ich hier einfach den Grund .
Mutter ist im Winter recht krank gewesen : Gelenkrheumatismus ; sie sollte früh aufs Land .
Sie wählte Eisenach , weil da eine sehr gute Pension für mich sein soll .
Ich passe doch gar nicht in eine Pension .
Vater ist in der Nähe von Dresden auf den Landsitz eines Freundes gereist , um , wie er sagt , die letzte Feile an seinen Merlin zu legen .
Es ist recht häßlich von mir , aber wie ich Vaters kenne , legt er die Feile doch nicht an .
Die Gegend um Eisenach ist sehr schön .
Jeden Tag entdecken wir neue Schönheiten .
Die Wartburg haben wir immer vor Augen .
O , es ist wundervoll , wenn sich die letzten Strahlen der untergehenden Sonne in ihren Fenstern wiederspiegeln .
Es scheint dann , als ob ein flammendes Meer sich darüber ergösse , bis der Schein nach und nach matter wird und endlich die glühende Röte sich in ein dunkles Lila verwandelt und der Abendstern hoch und hehr darüber schwebt .
Unsere Wohnung ist hübsch und geräumig .
Und die Schule - besser als unsere in Berlin ist sie jedenfalls .
Auch eine Bibliothek gibt es hier und was für eine !
Ein paar Novellen und Romane , hauptsächlich aber Ritter- und Räubergeschichten .
10.
Juni . Als ich eben das Vorhergehende überlas , wollte ich die paar Seiten ausreißen , nur , um mich nicht immer über meine Albernheiten ärgern zu müssen ; etwas schildern zu wollen , was ich nicht kann , und etwas empfinden zu wollen , was ich nicht empfinde .
Ich finde es ja hier recht schön , aber ich kann nicht sagen , daß mich die Natur sehr ergriffe oder rührte , wie ich mir in den letzten Seiten den Anstrich geben will .
Vater war hier .
Wir haben eine kleine Reise durch Thüringen gemacht .
Zu Haus konnte ich mich gar nicht wieder an das langweilige Leben gewöhnen .
Tag für Tag in die Schule zu gehen , Schularbeiten zu machen und mit Amanda Schulz , meiner Freundin ( weil ich keine andere habe ) , spazieren zu gehen .
Ich möchte wohl noch etwas schreiben , aber da ruft schon wieder die dumme Schule .
31.
Juli . Wie die Zeit so rasend schnell verstreicht .
Schon wieder über einen Monat voller Langeweile , seit ich zum letzten Male eingeschrieben habe .
Viel ist seitdem nicht vorgekommen .
Das vorige Mal sprach ich mit meiner Freundin Amanda Schulz , jetzt muß ich von meiner Feindin Amanda Schulz erzählen .
Ich konnte das Mädchen von vornherein nicht leiden , und habe keine Ahnung , wie so urplötzlich unsere innige Freundschaft gekommen war , denn wir passen gar nicht , aber gar nicht zusammen .
Ich war sogar ihretwegen einige Mal recht böse auf Julie Herbig , von der ich es recht unfein fand , daß sie immerfort sagte , mit einem solchen Mädchen würde sie nie umgehen , und sie wußte doch , daß ich mit Amanda befreundet war .
Es ist wahr , Amanda ist ganz oberflächlich , es ist ihr unmöglich , etwas ernstes vorzunehmen .
Ihre höchste Seligkeit ist , wenn ein paar dumme Gymnasiasten sich in sie verlieben und ihr nachlaufen .
Die Ursache unseres Zankes war nun folgende .
Ich ging mit aufgelöstem Haar spazieren ( offen gestanden macht es mir Vergnügen , wenn die Leute sich nach mir umsehen ) und Amanda , die ganz Kleinstädterin ist , wollte so nicht mit mir gehen .
Es ist unanständig , sagte sie , und flechtest Du Dir nicht augenblicklich die Haare ein , so gehe ich fort und komme nie wieder .
Ich ließ sie gehen , und bis jetzt hat sie , Gott sei Dank , ihr Versprechen gehalten !
Doch genug von der langweiligen Amanda .
Ich habe jetzt Consuelo gelesen .
Es hat mir einen tiefen Eindruck gemacht .
Ach , hätte ich doch auch eine so schöne Stimme .
31. Januar 1870 . Seitdem ich nichts in dieses Buch geschrieben - es ist ein halbes Jahr her , bin ich um viele Erfahrungen reicher geworden .
Vater , der noch den ganzen Winter über in Dresden an seinem Merlin arbeitet , wünschte , daß ich in Eisenach in der Pension bleiben sollte .
Ich wollte aber nicht , ich wollte nicht , ich sträubte mich dagegen mit aller Macht , warum , weiß ich eigentlich selbst nicht zu sagen .
Ich dachte es mir entsetzlich in der Pension zu sein , ohne freien Willen , immer mit allen anderen zum Spazierengehen ausgetrieben zu werden , wie eine Herde Schafe , Pardon Lämmer , dabei tödliche Langeweile .
Und ich setzte es durch , nach vielen Kämpfen und vergossenen Tränen .
Wir kamen glücklich in Berlin an , und nach einigen Bummeltagen wurde ich in die Schule von Frau H. gesteckt , welche Dame wir mit Tante anreden mußten .
Diese Schule nun ist süß , entzückend , balsamisch , berauschend .
Ich gehe mit Entzücken hin .
Wir haben aber auch reizende Lehrer .
Zuerst mein Liebling , der Geschichtslehrer Dr. G .
Er ist ein hübscher Mann von Witz , Geist , Humor , Ironie , kurz , er hat alle möglichen Vorzüge , nur ist er ein wenig , sagen wir sehr exaltiert .
Dann kommt der Professor L. , der Schwarm aller jungen Mädchen , gewissermaßen meiner auch .
Bei ihm haben wir Aufsätze , die mir teils gelingen , teils auch nicht .
Lesen und Gedicht bezeichnet er in meiner Zensur als talentvoll .
Professor H. unterrichtet , ist aber kein Schulmeister .
Wir tun bei ihm was wir wollen .
Dr. K .
Der unselige Mann unterrichtet in zwei mir verhaßten Gegenständen : Rechnen und Physik ; das dient nicht dazu , ihn mir angenehmer zu machen . Professor L. ein orthodoxer Herr .
Miß N. eine dumme Trine .
11.
März . Nach langer Unterbrechung nehme ich den Faden meiner Erzählung wieder auf .
Mutter ist fort , zu einer kranken Schwester nach Stuttgart gereist , sie bleibt vielleicht Monate lang fort , und ich bin allein hier , bei den Großeltern .
Die ersten Tage glaubte ich es nicht ertragen zu können , ohne sie zu leben , heimlich vergoß ich bittere Tränen .
Doch der erste Schmerz der Trennung legte sich .
Wir schreiben uns ganz regelmäßig , teilen uns alle Erlebnisse mit , aber von meiner Sehnsucht schreibe ich kein Wort mehr , seitdem die kranke Tante aus Stuttgart an Großmama geschrieben hat , was ich für lamentable Briefe schriebe .
Ich kann es nicht leiden , wenn eine dritte fremde Person das liest , was nur für meine geliebte Mutter bestimmt ist .
Zu Weihnachten habe ich mich hier so unglücklich gefühlt , daß ich aus Mitleid mit mir selbst hätte weinen können .
Mein einziger Trost war wirklich die Schule , wo ich mich durch Übermut und Unart für die häusliche Sittsamkeit entschädigte .
Das wurde mir aber in der Zensur eingetränkt , die vielen Einzelrüffel abgerechnet .
Gerade als ich 4 Wochen bei Großmama war , mußte sie nach Breslau zu einem verheirateten Sohn reisen , und ich kam zu der Familie Haller , mit der Vater sehr befreundet ist , und wo ich 4 Wochen blieb .
Es gefiel mir hier ungleich besser als bei Großmama , doch glücklich war ich auch hier nicht .
Marie Haller , meine Schulfreundin , und ich , wir sind zu ungleiche Naturen , um in Frieden nebeneinander leben zu können .
Sie ist klug , aber sie ist ein Kind , und das bin ich nicht mehr , vielleicht bin ich es nie gewesen .
Wir wurden nun auch wie Kinder behandelt , und daran bin ich nicht gewöhnt , weder von Mutter noch von Großmama .
In der Schule gefällt es mir noch immer ausgezeichnet , trotzdem ich meine Meinung in Bezug auf mehrere Lehrer geändert habe .
Zum Beispiel Professor L. ist nicht mehr mein Schwarm , sondern ist zu einem langweiligen Peter zusammengeschrumpft , der sich das er unermeßlicher Gelehrsamkeit zu geben weiß .
Die Tante selbst kann manchmal außerordentlich liebenswürdig sein und manchmal wieder das Gegenteil .
Von jemand , der mich ganz besonders interessiert , habe ich noch gar nicht gesprochen , das ist meine einzige Freundin Timäa Burg ; ihre Mutter ist eine Ungaren , daher der Name Timäa .
Sie ist mir ein Rätsel .
Eins steht fest , sie ist sehr klug , sehr originell und sehr launenhaft .
Ich habe mir schon mehr von ihr bieten lassen als von irgend wem , doch alles hat seine Grenze , und als sie sich neulich sehr unfreundlich benahm , war ich zum ersten Mal ernstlich böse ; zu meiner Verwunderung fing sie am nächsten Tag an , die Versöhnung anzubahnen .
Ihre Mutter habe ihr gesagt , sie müsse mich um Verzeihung bitten , und dabei sah sie mich so an , als wollte sie sagen :
es tut mir leid , daß ich Dich beleidigt habe , aber ich kann nicht abbitten .
Da fiel ich ihr um den Hals und sagte , daß ich ihr nicht mehr böse sei .
Timäa ist nun einmal so sonderbar , gar nicht wie andere Mädchen , aber sie muß sich doch auch beherrschen lernen , denn wie Goethe sagt :
» Wer sich nicht selbst befiehlt , bleibt immer ein Knecht . « 15. Mai 1870 .
Am Mittwoch gehe ich für diesen Sommer zum letzten Male in meine vielgeliebte Schule .
Meine Gefühle sind geteilt .
Einmal zieht es mich nach Eisenach , wo ich Vater und Mutter treffe , und dann wieder möchte ich mit aller Leidenschaft hierbleiben , und der Gedanke an die Pension erfüllt mich mit Schrecken .
Eisenach , 2. August 70 . Schon wieder hat sich alles gewendet und verändert , und wenn ich alles nachtragen wollte , was ich in diesem Zeitraum erlebt , würde ich Tage dazu brauchen .
Ich will darum nur die wichtigsten Ereignisse niederschreiben .
Berlin habe ich am 23. Mai verlassen mit unendlichem Bedauern , das sich natürlich nur auf die Schule bezieht .
Der Professor G. hielt mir eine schöne große Abschiedsrede , bei der ich beinahe Tränen vergossen hätte .
» Wirken Sie nur auf Timäa , « sagte er unter anderem , » damit treten Sie ein in den apostolischen Beruf der Menschheit .
Sie haben ein großes und gutes Gemüt , ich weiß es !
Leben Sie wohl , Sibilla , Gott mit Ihnen ! «
Ein großes und gutes Gemüt habe ich ?
In Weimar erwartete mich Vater , der sich dort zum Besuch einige Wochen aufhält .
O war ich glücklich , als ich ihn sah .
Was für ein anderes Leben mit jemand , den man lieb hat , zusammen zu sein , als immer nur mit gleichgültigen Menschen .
In Weimar , hatte ich sehr viel Vergnügen , so viel wie nie zuvor , doch ich muß sagen , ich möchte nicht immer in diesem Rausche leben .
Das ermüdet und stumpft ab gegen höhere Interessen .
Ich habe berühmte Persönlichkeiten kennen gelernt , unter denen Franz Liszt die Hauptrolle spielte .
Ich bin hingerissen von ihm , er war zu liebenswürdig , ich begreife , daß man ihn lieben kann .
Ich glaube aber doch , daß hauptsächlich Eitelkeit mir diese Worte diktiert .
Nach Liszt kommt Frau Viardot , die so mütterlich liebevoll zu mir war .
Noch unendlich viel andere Leute lernte ich kennen , und alle fanden mich sehr hübsch und sehr klug .
Soll ich_es glauben ?
Als ich nun nach einem achttägigen Freudenrausch nach Eisenach in die Pension kam , fühlte ich mich erst recht unbehaglich , aber was tut nicht alles die Gewohnheit !
Jetzt fühle ich mich ganz wohl hier .
Mutter kam eine Woche nach mir in Eisenach an .
Als ich die Depesche , die ihre Ankunft meldete , erhielt , glaubte ich die Freude nicht überstehen zu können , nachher aber , als Mutter nun wirklich da war , wurde ich übel gelaunt .
Warum ?
Weil ich sie allein haben wollte und sie doch mit so vielen anderen sprach .
Ich bin , glaube ich , sehr egoistisch .
Ich soll doch aber ein gutes Herz haben ?
Eisenach , 12. August .
Wir haben in den großen Ferien ziemlich viel Vergnügen gehabt .
Einmal eine Waldpartie mit Herren .
Es kam aber an dem Tag zu viel zusammen .
Vater telegraphierte mir am Vormittag , Liszt würde durchkommen , ich möchte an den Bahnhof gehen .
Fräulein Hahn wollte mir erst keine Erlaubnis geben , weil sie es ( lächerlich kleinstädtisch ) unschicklich fand .
Endlich durfte ich mit einer jungen Dame , einer Listschwärmerin , hingehen .
Wir mußten sehr lange warten , während welcher Zeit meine Begleiterin aller Welt erzählte , daß wir Liszt erwarteten .
Ich ärgerte mich darüber .
Endlich kam er und brachte mir ein wunderschönes Bouquet mit und Grüße vom Vater , und dann - küßte er mir die Hand .
Ich wurde dunkelrot .
Einige Blumen des Bouquets ruhen gepreßt in diesem Buche .
Ich mußte mich nun sehr beeilen , um die Partie noch einzuholen .
Wir amüsierten uns sehr gut . - -
Ach , ich kann heute nicht schreiben , mein Kopf schmerzt schrecklich und mir ist so wirr , gar nicht als ob ich lebte .
Ich möchte wissen , wie lange dieser Zustand noch dauern wird .
Ich wollte , ich wäre recht krank .
Eisenach , den 5. September 1870 . Das , wovon alle Welt voll ist , vom Kriege , habe ich noch gar nichts geschrieben .
Empfindungen darüber kann ich nicht schreiben , denn meine Feder kann diese wechselnden Empfindungen nicht schildern .
Manchmal denke ich gar nicht an das grause Schicksal der Tausende und Tausende , die da zusammen in einem großen Grabe ruhen , mit der Wunde in der Brust , und ich bin dann ganz vergnügt .
Durch irgend eine Gedanken-Verbindung aber werde ich dann plötzlich auf das Schlachtfeld versetzt , und ich bin dann ganz starr und staune nur so , daß man da so ruhig sitzt , ißt und trinkt und sich womöglich rühmt , zwei Paar Socken gestrickt zu haben für die , die da draußen ihr Leben lassen müssen .
Wir haben bis jetzt nur Siege erfochten ; der Krieg naht seinem Ende .
Es nimmt sich gar nicht so wichtig auf dem Papier aus , wenn man da liest :
» Gestern wurde Napoleon III. gefangen genommen . «
Und doch , welche ungeheure Wirkung haben diese paar Worte hervorgerufen - in ganz Europa .
Und es ist wahr : » des großen Dämons großer Affe « , er sitzt auf Wilhelmshöhe gefangen .
Auch in dem kleinen Eisenach regte sich endlich die Freude , wenn auch etwas lau .
Nie werde ich die Szene vergessen , die in unserer Schule stattfand , als sich mit dem ersten Kanonenschuß von der Wartburg die Nachricht von der Gefangennahme Napoleons verbreitete .
Jubel , tolles Lachen , heftiges Rotwerden begleitete den erneuten Kanonendonner .
Mir stürzten die Tränen aus den Augen und eine Freude , wie ich sie wohl nie empfunden , durchglühte mich .
Fräulein schloß die Schule ; die Tagesschülerinnen stürzten nach Haus und wir stürmten in den Garten , wo wir im Lauf von zehn Minuten sechsmal die Wacht am Rhein sangen .
Unterdes war auch Mutter herbeigeeilt , und ich und Julie Herbig , wir kleideten uns schnell an und nun ging es auf den Marktplatz .
Ein ledernes Volk !
Kein Gesang , kein Lärm , keine Umarmung , fast alles wie immer , nur wehende Fahnen verkündeten die Größe der Stunde .
Auf dem Markt kaufte Mutter uns vor Freude Pflaumen und Birnen , schrecklich viel .
Am Abend war ein großes Konzert zum Besten der Verwundeten .
Aber auch hier stimmte kein begeisterter Patriot in die Vaterlandslieder mit ein , die ein Männerchor wunderschön sang .
Eine wunderbare Szene war sehr geeignet , die Lachlust zu erwecken .
Fräulein Dreier , ein Eisenacher Kind , sollte Herrn Wilhelm , dem Komponisten der Wacht am Rhein , einen Lorbeerkranz überreichen .
Es war ein Riesenkranz , und Fräulein Dreier war ganz in weiße Gewänder gehüllt , und Herr Wilhelm , der in der Tür stand , blinzelte erwartungsvoll zu dem Kranz hinüber .
Nach jedem Liede machte Fräulein D. einen Hopsversuch zu ihm hinauf , aber immer wieder traute sie sich nicht .
Endlich , nachdem alle Lieder gesungen waren , kriegte sie Courage und - » O hehre Stunde « - begann sie ihr Gedicht und stülpte ihm dabei den Kranz auf das ehrwürdige Haupt .
Aber o Mißgeschick !
Ihr bleibt das Wort in der Kehle stecken , ihm aber nicht der Kranz auf dem Kopf ; er rutscht und umschlingt als Riesenhalsband seinen Hals .
Er lächelt verlegen über die Lorbeeren fort , und sie läuft kirschrot auf ihren Platz zurück .
Und » die hehre Stunde « war vorüber .
Nach dem Konzert gingen wir noch einmal durch die Stadt , die spärlich illuminiert war und so düse und ledern wie nur je .
Ich hasse dieses Eisenach und mein ganzes Sinnen ist auf mein Berlin gerichtet .
Ich will nach Berlin !
Ich will !
Mutti muß ! " - - - - - - - - - - - - - - - Frau Dalmar ließ die Hand mit dem Buch sinken .
Allmählich war sie bei der Lektüre ernster und zuletzt traurig und nachdenklich geworden .
Waren nicht in dem Büchelchen da Anzeichen einer herrschsüchtigen , herben , kapriziösen Eigenart ? zugleich etwas Krankhaftes ?
diese immer wieder erwähnte Müdigkeit ?
Sie besann sich .
Ja , das Kind hatte eine Zeit lang gekränkelt , ohne bestimmte Ursache .
Sie war nur blaß und unlustig und müde gewesen .
Der Arzt hatte die üblichen Mittel gegen Blutarmut verschrieben .
Nach und nach war es auch besser geworden .
Sie las noch einmal die eine und die andere Seite des Tagebuchs .
Allmählich beruhigte sie sich .
Sie sah Sibilla vor sich in all ihrem Liebreiz , all ihrer Lebensfreudigkeit .
Nein , es war nichts auf diese Äußerungen eines frühreifen Backfisches zu geben .
Trotzige Kindereien , aus dem Milieu der Schule heraus .
Sie tröstete sich damit : wenn Kinder sich selbst oder anderen etwas erzählen , so übertreiben sie gern , unabsichtlich , auch ihre Fehler .
Ein so junges Geschöpf war außer stande , sein innerstes Sein zu veranschaulichen .
Nur für Gröberes , Äußerliches reichten seine Ausdrucksmittel hin .
Freilich sie , die Mutter , hätte strenger , konsequenter die Erziehung der Tochter handhaben müssen , anstatt in allzu zärtlicher Schwäche jeder Laune des Kindes Vorschub zu leisten .
Streng sein !
Konsequent !
Sibilla gegenüber , die Augen hatte , die einem das Herz umkehren konnten !
Vor diesen Augen , wenn sie sich mit Tränen füllten , hielt keine Pädagogik stand .
Hätte wenigstens der Vater mit ein wenig Energie die Schwäche ihrer Behandlungsweise ausgeglichen .
Der Vater als Erzieher !
sie mußte lächeln .
Franz Dalmar war ein hervorragender Musiker , obgleich er eigentlich nie etwas anderes publiziert hatte , als Lieder , allerdings reizende , ergreifende .
In keinem Konzert-Programm durften sie fehlen .
In seinem Pult aber lag eine Opernpartitur , seit Jahrzehnten vollendet , fast vollendet , deren Text er selbst gedichtet hatte : " Merlin " .
Er glaubte an dieses Werk der Werke .
Wenn mein Merlin erst heraus ist , pflegte er zu sagen .
Seit Jahren schon legte er immer die letzte Feile an seinen Merlin .
Dalmar war lebensfreudig bis zur Genußsucht , leichtsinnig bis an die Grenze des gesetzlich Erlaubten , dabei ein berühmter Causeur , voll sprühender Laune .
Einige Jahrzehnte hindurch war er der verzogene Liebling aller Salons gewesen .
Sorglos wie ein Kind trieb er auf dem Strom des Lebens einher .
Sein Fahrzeug kenterte nie .
Von jeder Sandbank kam er wieder los , an den gefährlichsten Klippen glitt er glatt vorüber .
Trotzdem er zeitweise viel Geld einnahm , kam er auf keinen grünen Zweig .
Die Familie lebte von der Hand in den Mund .
Er war ehrlich genug sich einzugestehen , daß er eigentlich nur arbeitete , um die Mittel für seine Amüsements zu gewinnen .
Er gab für hohes Honorar einigen Prinzen , Prinzessinnen und Millionären Unterricht .
Kam er unregelmäßig oder gar nicht in die Stunden , er erhielt dennoch sein Honorar ; es fiel ihm nicht ein , daß man damit nicht den Lehrer , sondern den bezaubernden Gesellschafter honorierte , der mit seiner Person die Gegenleistung bestritt .
Seine Verheiratung gehörte auch in das Repertoire seiner Leichtfertigkeiten .
Er hatte seine Frau - die Tochter eines Landpredigers - auf einer Reise kennen gelernt , sich unter dem Duft einer Linde in das zierliche , feine Mädchen verliebt , und sie nach drei Monaten geheiratet , unbekümmert darum , ob sie zueinander paßten , und ob er die Mittel zur Erhaltung einer Familie erschwingen würde .
Der reservierten Haltung seiner Frau war es zuzuschreiben , daß das Bohemetum , zu dem er neigte , in seinem Hause keine Wurzeln schlug .
Sibilla liebte ihre Eltern , den Vater ein wenig mehr als die Mutter , den lieben berühmten Vater , der nebenbei auch als Persönlichkeit so charmant war , während die Mutter nur Mutter war .
Sibilla kam es gar nicht in den Sinn , daß diese Mutter auch ein Leben für sich haben könne .
Und in der Tat , sie hatte keins .
Als Mutter aber besaß sie unschätzbare Vorzüge .
Sie war wie geschaffen zur Vertrauten , zur Beraterin und Trösterin , Qualitäten , die das Töchterchen ausnutzte .
Den Vater behelligte sie nie mit ihren kleinen Geheimnissen und Kümmernissen .
Leidvolles , Unangenehmes hätte er wie eine Zudringlichkeit , die ihn beleidigte , abgewehrt .
Sibilla pflegte selbst ein gelegentliches Unwohlsein vor ihm zu verbergen .
Er , der Kerngesunde , glaubte nicht an Krankheiten und Kränklichkeiten .
Auf sein schönes Töchterchen war er über alle Maßen eitel , und diese Eitelkeit verleitete ihn , das dreizehn- und vierzehnjährige Mädchen ab und zu mit in die Gesellschaft Erwachsener zu nehmen , gewissermaßen zum Spaß .
Frau Dalmar , die immer Scheu trug , den Wünschen ihres Gatten zu widerstreben , ließ es zu , trotz der Opposition ihres Verstandes .
Daß sie selbst eine geheime Freude an dem Entzücken hatte , das ihr Kind erregte , gestand sie sich nicht .
Die übertriebenen Huldigungen , die Sibilla erfuhr , hätten leicht dem Kinde das Köpfchen verdrehen können , wenn dieses liebreizende Köpfchen nicht einige Gran Verstand mehr beherbergt hätte , als die Köpfe anderer junger Mädchen .
Mit ihrem sechzehnten Jahr wurde sie regelrecht in die Gesellschaft eingeführt .
Der Vater diente ihr als Chaperon .
Frau Dalmar hatte sich schon seit Jahren aus dem Gesellschaftsverkehr zurückgezogen .
Ansammlungen vieler Menschen , und die heiße , dicke Luft der Gesellschaftsräume vertrugen ihre schwachen Kopf- und Herznerven nicht .
Aber Abend für Abend erwartete sie auf der Chaiselongue oder im Bett liegend die Rückkehr der Tochter .
War sie eingeschlafen , so erwachte sie regelmäßig einige Minuten bevor der Schlüssel in der Korridortür gedreht wurde .
Und immer von neuem klopfte ihr Herz , wenn die Lichtgestalt des jungen Mädchens auf der Schwelle erschien .
Sibilla pflegte sich dann an das Bett der Mutter zu setzen , und ihr bis in die kleinsten Einzelheiten zu erzählen , was sie erlebt hatte , und es war fast immer Heiteres , Belustigendes .
Und sie erzählte so lebendig , so wahr , die Mutter erlebte alles mit , sie identifizierte sich mit der Tochter , ja sie genoß ihre Triumphe und empfand ihre Enttäuschungen noch intensiver als Sibilla selbst .
Denn auch Enttäuschungen blieben ihr nicht erspart , wenn sie auch leichter darüber hinwegkam , als andere junge Mädchen .
Hatte sich ein Verehrer von ihr gewendet , im nächsten Augenblicke war die Lücke ausgefüllt .
Die Erfolge dieses jungen Mädchens in der eleganten Welt waren phänomenale .
Sie galten nicht nur ihrer zugleich poetischen und strahlenden Schönheit , Sibilla war auch intelligent , wissend , weit über ihre Jahre hinaus , in ihrem Denken , ihrer Ausdrucksweise von einer verblüffenden Frühreife .
Dabei fehlte es ihr nicht an Koketterie , eine unauffällige , nicht nachweisbare , und doch unwiderstehlich anlockende , oft nur eine einschmeichelnde Flexion ihrer tiefen und weichen Stimme , eine Biegung des schlanken Halses , ein Blick .
Süße magische Augen hatte sie , die bald schwarz erschienen , in samtenem Schmachten , bald grünlich schimmernd , Augen von träumerischer Pracht wie Meeresleuchten .
Ein Fluidum schien von ihnen auszugehen , das geheime Fäden von Seele zu Seele spann .
Ganz eigenartig war auch ihr luftiges , lockeres , leicht sich kräuselndes Haar , das verschiedene Farben zeigte , ein Streifen aschblond , daneben oder darüber rötliches Hellbraun .
Über der Stirn ein zartes aschblondes Gekräusel .
Man wurde nie darüber einig , ob sie blond oder brünett sei .
Ihr Teint , von der Farbe des zartesten Elfenbeins , bei Tage oft von krankhafter Durchsichtigkeit , erschien abends oder sobald sie erregt wurde , wie von innen durchleuchtet , rosigem Abendsonnenschein auf Schnee vergleichbar .
Einen Mangel aber hatte das reizende Mädchen .
Sie verstand nicht zu lachen .
Ihr Lachen klang fast rauh .
Es lachte etwas Fremdes aus ihr .
Es disharmonierte mit der Poesie ihrer Erscheinung .
Die Gesellschaftskreise , in denen Dalmar mit seiner Tochter verkehrte , waren aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt .
Freidenkende Aristokraten , Finanziers , Beamte , die künstlerische oder literarische Interessen hatten , Politiker , Attaches .
Den Kern bildeten die Schriftsteller und die Bankiers .
Letztere waren weitaus in den meisten Fällen die Festgeber .
Sie waren es , die die Bilder und Bücher ihrer Gäste kauften , die in ihre Konzerte gingen , oder wenigstens die Billetts dazu nahmen .
Ihre Salons standen jedem offen , der durch Esprit , Schönheit , Rang , Reichtum oder Berühmtheit etwas war , oder etwas schien .
Skeptische und frivole Lebensanschauung herrschte in diesem Kreise vor , eine Atmosphäre , die die natürliche kritische Veranlagung Sibillas förderte .
Und in einem Alter , in dem andere junge Mädchen nur für Tanz , Kotillonbouquets , Schmeicheleien und für diejenige Lektüre schwärmen , in der das Siechkriegen die Hauptrolle spielt , las sie die Aufsätze von Schopenhauer , las sie politische Zeitungen , oft mit der Landkarte in der Hand .
Fade Schmeicheleien fertigte sie mit Ironie ab , das heißt nur die faden , andere besser fundierte behagten ihr außerordentlich .
In ihren ersten zwei Gesellschaftsjahren war das Leben Sibillas eine einzige Festfreude , die sich oft bis zum Rausch steigerte .
Aber schon in der dritten Saison schwand bei der Achtzehnjährigen der Rausch und die ersten Spuren einer nervösen Erschlaffung machten sich bemerkbar .
Frau Dalmar hatte kaum Unrecht , wenn sie meinte , jeder müsse sich auf den ersten Blick in Sibilla verlieben .
In der Tat war sie Grund und Ursache von viel Herzeleid , wenn auch immer in der zwölften Stunde die eigene Umsicht der Entflammten oder der Beistand anderer das Schadenfeuer glücklich löschte .
Da hatte unter anderen ein junger , vielversprechender Docent sein Herz so völlig an sie verloren , daß er sich gezwungen sah , plötzlich abzureisen , um nicht - wie er einem Freunde brieflich mitteilte ( dieser trug die Mitteilung in weitere Kreise ) durch seine wahnsinnige Leidenschaft seine Karriere zu untergraben .
Ein anderer , ein Millionärssöhnchen , wurde Knall und Fall nach Wien , woher er gekommen , von seiner Familie zurückgerufen , die Wind bekam , daß er im Begriff sei , mit einem armen Mädchen reinzufallen .
Massenhaft erschienen auf dem Plan Jünglinge aus der jeunesse doree - Sibilla nannte sie die goldenen Grünen - die ihre Passion für den jungen " Star " an die große Glocke hingen , ihre Augen gierig an ihrem Liebreiz sättigten und das süße Geschöpf wie Trüffeln , Champagner und Austern zu ihren Dineramüsements rechneten , natürlich ohne die entfernteste Absicht , eine junge Dame zu heiraten , die keine Partie war .
Daß ihre Herzen nicht brachen und die Sinne ihnen keinen Streiche spielten , dafür sorgten leichte Dämchen aus anderen Sphären .
Sibilla hatte durchaus nicht den Wunsch , sich früh zu verheiraten , sie amüsierte sich viel zu gut .
Daß in ihrem elterlichen Hause niemals Gesellschaften gegeben wurden , gab ihrer Position eine etwas unsichere Basis , und leistete der Vorstellung , daß Vater und Tochter sich durch den Glanz ihrer Persönlichkeit für die ihnen erwiesene Gastfreundschaft zu revanchieren hätten , Vorschub .
Jede einzelne der Treulosigkeiten , die Sibilla erfuhr , brachte ihr keine Enttäuschung .
Als aber die Abfälle liebeseliger Jünglinge , die sich durch eine Heirat mit reichen Mädchen - mochten diese häßlich oder geist- und gemütlos sein - ihrem Strahlenkreis entzogen , immer häufiger wurden , da stutzte sie .
Ihre harmlose Weltlust erlitt eine Trübung .
Sie mochte auch wohl für diesen oder jenen eine leichte Neigung empfunden haben .
Anfangs litten ihr Stolz und ihre Eitelkeit ein wenig unter den Kränkungen , deren Ursache sie bald durchschaute .
Dann aber bäumte sich dieser Stolz dagegen auf , er wuchs darunter .
Sie wurde übermütiger , kälter , anspruchsvoller ; sie ließ ihren Launen freieren Lauf .
Sie wurde bewußtlos koketter - eine Art Rache : Wie Du mir , so ich Dir .
Aus diesem Milieu heraus entwickelte sich ihre Beobachtungs- und Urteilskraft zu größter Feinheit und Schärfe .
Freilich entging ihr nicht , daß unter den jüngeren Herren der Gesellschaft auch etliche vorkamen , die an der Frivolität des galanten Sports nicht partizipierten .
Da war z.B. ein junger Offizier , der die mittellosen jungen Mädchen wie Geächtete floh - aus Ehrenhaftigkeit .
Diese geldlosen Geschöpfe existierten für ihn nicht .
Er tanzte nie mit ihnen , nicht einmal eine Pflichttour , selbst dann nicht , wenn sie Töchter des Hauses waren , in dem er zu Gast gebeten war .
Sie hatten sich durch unheilbare Pauvreté jedes Recht an seinem Interesse verscherzt .
Sibilla mußte sogar zugeben , daß unter den vielen Minneschwätzern etliche andere es ernst meinten , nur waren diese Herren leider nicht akzeptabel , beim besten Willen nicht .
Da war ein blutjunger Maler , der absolut nichts besaß als seinen Größenwahn , nicht einmal Talent .
Dazu schnüffelte er infolge eines Stockschnupfens .
Ein anderer Bewerber war zwar Millionär , neutralisierte aber diesen Vorzug durch Altlichkeit und ordinäre Manieren .
Das Betrübendste war nun , daß diese Phalanx der goldenen Grünen gewissermaßen einen Kordon um Sibilla zog , so daß ernste , verdienstvolle Männer sich ihr weder nähern konnten noch mochten .
Indessen fühlte sich seit einiger Zeit die jeunesse doree in den Hintergrund gedrängt durch einen noch ziemlich jungen Dichter , der bereits über ein ansehnliches Lorbeerreis verfügte , mit bester Anwartschaft auf einen späteren vollen Kranz .
Denn er gehörte nicht zu denen , die über die Schnur hauen .
Wohl aber versuchte er auf seichtem Sande den Ossa auf den Pilion zu türmen , ein echter , rechter Bourgois-Titan .
Frau Dalmar wußte , daß Ewald Born - Sibilla nannte ihn den Troubadour Ewald de Born - rasend in das junge Mädchen verliebt war .
Sie sympathisierte mit ihm und sah seit Monaten lächelnd dem Gebaren dieses naiven , kraftstrotzenden Menschen zu , der außer stande war , seine Gefühle zu beherrschen .
Daß er sich noch nicht erklärt , mochte an der kühlen Haltung Sibillas liegen , mit der sie anfangs seine Huldigungen - gereimte und ungereimte - entgegennahm .
In der Tat waren ihr das naiv-feurige Temperament , die strotzende Robustheit des Dichters unsympathisch , und seine Nase fand sie komisch .
Indessen blieb sein feuriges Werben doch nicht ohne Wirkung auf sie , und allmählich war eine gute und bequeme Neigung für ihn in ihr gekeimt und gewachsen , ganz sicher die Neigung , ihn gern zu heiraten .
Trotzdem bewahrte sie eine kühle Gelassenheit ihm gegenüber .
Es ließ sie auch kalt , daß eine reiche Landsmännin ( er war Sachse ) und Verwandte des Dichters , die fünf bis sechs Jahre älter als er war , ihn minnte , mit der zähen Leidenschaft eines energischen , allzu reifen Weibes .
Freunde und Verwandte liehen ihr Beistand , ohne in der Wahl der Mittel , wie es sich später herausstellte , wählerisch zu sein .
Bei Sibilla und Ewald Born waren jetzt alle Gedanken Frau Dalmars , als sie in stiller Nacht auf der Chaiselongue ruhte .
Ob das liebe Kind als Borns Verlobte nach Hause kommen würde ?
Es war ja gar nicht anders denkbar .
Am vorigen Abend war ein sehr erfolgreicher Einakter von ihm im Schauspielhaus aufgeführt worden .
Sibilla war ganz glücklich und erregt aus dem Theater nach Hause gekommen .
Sie trank noch ihren Tee , die Mutter war schon im Schlafzimmer , als um 101/2 Uhr die Klingel gezogen wurde : Ewald Born .
Ein Schreck , der nur halb freudig war , zitterte durch Frau Dalmars Seele .
Sie zögerte eine Minute .
Sollte sie die beiden allein lassen und ihnen Zeit zur Aussprache gönnen ?
Ihr Zartsinn verneinte .
Was mußte Ewald Born selbst denken , wenn sie ihn so spät absichtlich mit der Tochter allein ließ ?
Sie warf das Kleid , das sie schon abgelegt , schnell wieder über und trat in den Salon .
Sie wurde rot ; ein Unbehagen beklemmte sie , als sie das Paar nebeneinander stehen sah , er so nah , zu nah bei ihr , ihre Hand in der seinen haltend , mit einer grellen Flamme in den Augen .
Er entschuldigte sich Frau Dalmar gegenüber , daß er so spät noch gekommen , er habe vergebens ihren Gatten und Fräulein Sibilla am Ausgang des Theaters gesucht , und in der Besorgnis , irgend ein Unwohlsein könne Sibilla verhindert haben , ins Theater zu gehen , habe er sich die Freiheit genommen u. s.w .
Er sprach abgebrochen , wie abwesend , und während er sprach , verschlang er Sibilla mit den Augen .
Offenbar tat er sich den äußersten Zwang an , um das reizende Mädchen nicht an seine Dichterbrust zu ziehen .
Frau Dalmar , die bisher in jeder Weise seine Werbung begünstigt hatte , wurde plötzlich in der Empfindung , daß etwas Ungehöriges vor ihren Augen geschähe , kalt und unfreundlich .
Nach zehn Minuten ging er , verwirrt wie berauscht .
Mutter und Tochter blieben in einer seltsamen Stimmung zurück ; die Tochter , unzufrieden , daß die Mutter die Aussprache gehindert .
Frau Dalmar , ihre Dazwischenkunft bereuend .
Zwar begriff sie , daß der Dichter in seiner tiefen seelischen Erregung das offizielle Wort nicht über die Lippen gebracht , und doch - - sie war mißmutig .
Sie plauderten heute nicht wie sonst miteinander , ehe sie zu Bett gingen .
Auf morgen , hatte er gesagt , als er ging , und dieses morgen war heute .
Also heute !
Frau Dalmar wünschte , daß Sibilla diesen Mann heiraten möge .
Sie fühlte seit einiger Zeit eine Wandlung im Wesen ihres Kindes , ein allmähliches Verblassen ihrer strahlenden Weltlust .
Und einmal würde sie ja doch heiraten .
Als Borns Gattin blieb sie wenigstens in Berlin .
Diese Vorstellung war nicht ohne Einfluß auf ihre Begünstigung des Dichters geblieben .
Sie hatte aber auch bessere , reinere Motive .
Born war nicht nur ein guter Mensch , er war auch eine kerngesunde Natur , körperlich und geistig !
Das würde die nervöse Veranlagung Sibillas ausgleichen .
Ja , sie war ganz und gar einverstanden mit dieser Heirat .
Plötzlich zuckte Frau Dalmar zusammen .
Ein Geräusch da draußen , die Korridortür wurde geöffnet , das Atmen wurde ihr schwer vor innerer Erregung .
Im nächsten Augenblick trat Sibilla ein .
Frau Dalmar erschrak .
Blühend , leuchtend war das Kind von ihr gegangen , und nun stand sie da , blaß , übernächtig , mit dunklen Schatten unter den Augen .
Ein paar mißfarbige Rosenblätter waren in dem wirren Haar hängen geblieben .
Die Silbergaze des Kleides hing schlaff an den zarten Gliedern nieder .
Sibillas Köpfchen fiel kraftlos zur Seite , Frau Dalmar empfing sie zärtlich und begann ihr Kleid aufzunesteln .
Ihre Hand zitterte ein wenig .
Sie fühlte an Sibillas Bewegung , daß sie ungeduldig und gereizt war .
" Wo hast Du denn Deine Bouquets ? " fragte die Mutter , nur um das Schweigen zu brechen .
" Verschenkt .
Ich wollte sie nicht .
Der starke Geruch hat mir Kopfschmerzen gemacht . "
Sie ließ sich , halb schon im Stehen schlafend , entkleiden .
Und wie sie mit dem gelösten Haar , in dem langen , weißen Nachthemd , dem geneigten Köpfchen dastand , meinte Frau Dalmar , daß ihr nur Flügel und eine Lilie fehlten , um wie ein Engel auszusehen - ein kranker Engel .
Als Sibilla den Kopf in den Kissen barg , begegnete sie dem unruhig forschenden Blick der Mutter , die nichts zu fragen wagte .
" Sieh mich nicht so an , Mutti , ich mag es nicht .
Ich weiß ja was Du wissen willst .
Er war gar nicht da .
Er ist verreist , auf lange .
Er kommt nicht wieder , wenigstens nicht zu mir .
Ich erzähle_es Dir morgen - morgen .
Brich Dir nur nicht mein Herz , arme Mutti - - ach , ich bin so müde . "
In der nächsten Minute war sie fest eingeschlafen .
Frau Dalmar hielt mühsam ihre Tränen zurück , sie zweifelte keinen Augenblick an der Richtigkeit dessen , was Sibilla gesagt .
Hätte sie als Mutter nicht vorsichtiger sein müssen !
Wie konnte sie nur die jedes Maß überschreitenden Huldigungen des Dichters dulden , die man nun ihrem Kinde nachtragen würde !
Aber was hätte sie tun sollen ?
Das entscheidende Wort ihm abpressen ?
Mußte er sich nicht erst der Liebe seines Mädchens versichern ?
Er schien so anders als jene frivolen jungen Männer , deren Lebensführung er streng verurteilte .
Er schien so ganz Gentleman , und nun hatte er ebenso gehandelt wie jene , nein , schlimmer als die gewissenlosesten unter ihnen .
Hätte er nicht , ehe er innerlich mit sich einig war , seiner Leidenschaft , seinen Gebärden und Worten Zügel anlegen müssen , anstatt förmlich mit Posaunenstößen der Welt kund zu tun , daß er in Flammen stehe ?
Und nachdem er das getan , und in dem Augenblick , wo alle Welt seine Verlobung erwartet , geht er auf und davon , unbekümmert darum , was er dem jungen Geschöpf antut .
Sie fand es lächerlich , unerhört , daß die Sitte auf dem Gebiet der Liebe immer zu Gunsten des Mannes entscheidet , selbst wenn die Tatsachen sonnenklar Zeugnis gegen ihn ablegen .
Er benimmt sich nichtswürdig , und das Opfer ist kompromittiert .
Sibilla schlief fest und sanft .
Frau Dalmar weinte .
Als am anderen Vormittag Sibilla in ihrem hübschen himmelblauen Morgenkleid beim Frühstück saß - die Mutter leistete ihr dabei Gesellschaft - sah sie zwar etwas matt , aber keineswegs betrübt aus .
Die Mutter strich ihr das Brot mit Butter , schlug ihr das Ei auf , und freute sich an ihrem Appetit .
Sibilla aß zierlich und langsam .
Frau Dalmar fiel ein Stein vom Herzen .
Vielleicht war es doch so am besten .
Im Grunde paßten sie ja gar nicht zusammen , er so schmiedeeisern derb , sie feinstes Filigran .
Frau Dalmar lief in die Speisekammer und kam mit einem Büchschen Orangegelee - einer Lieblingsnäscherei Sibillens - zurück .
Lachend fiel Sibilla darüber her .
" Mutti , willst mein krankes Herz mit Orangegelee heilen ?
Eigentlich ist Dir die Geschichte ganz recht .
Du hast sie mir eingebrockt , Du hast mir diese Neigung für den Troubadour eingeredet , ja , ja Du .
Und da wärst Du nun zur Strafe um meinen Liebhaber gekommen , Du arme betrogene , hintergangene Mutti . "
Frau Dalmar war zu glücklich über die Heiterkeit ihres Kindes , um über den Spott empfindlich zu sein .
" Und nun , Mutti , " fuhr Sibilla in demselben Tone fort , " ich sehe ja , Du brennst vor Neugierde die Schauermär zu vernehmen von der Untreue des Ritters Ewald de Born .
Ach , hieße er Bertram , nie hätte er solchen Verrat geübt .
Nämlich : Frau Rechtsanwalt Barer schenkte mir reinen Wein ein , aus » herzlicher Freundschaft « , die herzliche Freundschaft mit Anführungszeichen .
Also eine Verschwörung gegen mich , Klatsch , Verleumdung , meine Koketterie , alles ist ihm hinterbracht worden .
Frau Rechtsanwalt brannten darauf , mir die Details dieser Verleumdung - Pardon - unter die Nase zu reiben .
Ich aber zuckte so abwehrend hoheitsvoll meine silbergazenen Schultern , daß ihr der Klatsch in der Kehle stecken blieb . "
" Und die Verschwörer ? " fragte Frau Dalmar .
" Freunde , Verwandte , Mitfühlende jener Jugendgespielin Born's , die sein Bild schon seit einigen Jahrzehnten im verschwiegenen Busen tragen soll .
Augenblicklich weilt sie in Dresden , wo sie expreß erkrankt sein soll , um den Vetter und Landsmann an ihr Sterbelager rufen zu können .
Gott schenke ihr ein langes Leben an der Seite meines Ex-Troubadours .
Weißt Du was jemand neulich von ihm sagte ?
Er dichte mit geballten Fäusten .
So , nun weißt Du alles , Mutter .
Ich grolle ihm nicht , und wenn das Herz auch bricht , denn wem anders als ihm verdanke ich dies köstliche Orangegelee . "
Plötzlich aber ließ sie den vollen Löffel mit dem Gelee fallen und wurde verdrießlich .
" Fort in die Speisekammer mit dem Gelee , ich verdiene es nicht .
Das hatte ich ja ganz vergessen .
Die Geschichte hat ja ein Nachspiel , ein schauriges , ein trauriges !
Wehe ! wehe !
Rette mich , Mutti ! rette mich ! oder ich muß den schönen Arthur heiraten , Arthur Meier natürlich . "
In halb komischer Verzweiflung warf sie sich der Mutter in die Arme .
Und sie erzählte :
Über Ewald de Borns Abtrünnigkeit wäre sie doch wohl etwas verstimmt gewesen .
Das Tanzen hätte sie gelangweilt .
Darüber hätte sie sich wiederum geärgert , und da sie doch nicht auf den Ball gegangen wäre , um sich zu ärgern , hätte sie sich nun à tout prix amüsieren wollen .
Der schöne Arthur - Mitternacht - ein Erker - rote Ampel , Palmen und Blumen , süßduftende , aus dem Nebenzimmer schmelzender Gesang :
" Das Lied vom Asra " , und sie , erpicht auf etwas Extra , Schlagsahnenstimmung .
- Und da - hat er ihr sein Herz offeriert , und sie , in einer halben Verliebtheit , aus Champagner , Blumenduft , Musik und Rachegefühlen notdürftig zusammengekratzt , habe nicht - nein gesagt .
" Und nun , Mutti , " schloß sie ihre halb verdrießlich , halb neckisch vorgebrachte Geschichte , " nun wird er heute kommen , im Zylinder und hellen Handschuhen mit schwarzen Nähten , und Dich um meine Hand bitten .
Rundweg abschlagen , Mutti , selbstverständlich .
Ich kann ihn doch unmöglich heiraten , pour ses beaux yeux , die er wirklich hat .
Komme , wir wollen uns auf Gründe besinnen , da ich mich nun doch einmal so schofel benommen habe . "
Mutter und Tochter hatten kaum ihre Beratung begonnen , als das Mädchen mit einer Karte eintrat : " Frau Kommerzienrat Moller . "
Die Kommerzienräten war die Schwester des schönen Arthur .
Mutter und Tochter stutzten .
Was wollte die ?
Sie kannten sie nur oberflächlich und standen in keinem gesellschaftlichen Verkehr mit ihr .
Frau Dalmar ging hinaus , um mit der Schwester des schönen Arthur zu sprechen .
Sibilla war doch etwas neugierig .
Sie nahm die Zeitung zur Hand .
Anfangs blickte sie nur zerstreut hinein , allmählich aber interessierte sie der Inhalt , und sie hatte den schönen Arthur und seine Schwester im Nebenzimmer fast vergessen , als Frau Dalmar wieder eintrat .
Der Ausdruck ihres Gesichts , zwischen Ärger und Lachen schwankend , war so komisch , daß Sibilla sofort erriet .
" Der schöne Arthur hat sich übereilt , " rief sie der Mutter mit drolligem Entsetzen entgegen .
" Ungefähr . "
Der schöne Arthur habe noch auf dem Ball selbst der Familie - und er hatte sehr viel Familie - seine Heiratsprojekte kundgetan .
Vormittags , Schlag 10 Uhr , Familienrat im Hause der Kommerzienräten .
Allgemeines Lamento .
Besonders Schwester Alice hatte so geweint , aber so .
Nämlich : der schöne Arthur war gar nicht in der Lage ein armes Mädchen zu heiraten .
Ein lockerer Zeisig war er .
Erst im vorigen Jahr hätte die Familie seine Schulden bezahlen müssen .
Fräulein Sibilla wäre auch viel zu geistreich für ihren dummen Jungen von Bruder , welcher Ansicht er selbst sich nicht ganz hätte verschließen können .
" Also , Du möchtest den schönen Arthur freigeben .
Natürlich habe ich geantwortet , Du hättest die Galanterien des jungen Herrn überhaupt nur für einen Ballscherz gehalten und nicht einen Augenblick daran gedacht , Frau Meier zu werden . "
Sibilla lachte aus vollem Halse .
Sie amüsierte sich noch eine Weile über den zurückgezogenen Heiratsantrag , dann aber wurde sie doch wieder unmutig .
Sie warf sich müde in den Fauteuil zurück und verschlang ihre Hände über dem Kopf , den sie hin und her wiegte .
" Ach , Mutter , ich konnte mich gestern nicht ausstehen , und ich kann mich überhaupt nicht ausstehen , und die anderen auch nicht .
Alle diese Meiers und Borns und die goldenen Grünen , sie sollen mich in Ruhe lassen ; dieses ewige Courmachen wächst einem ja zum Hals heraus . "
In ihren bösesten Stimmungen gebrauchte sie gelegentlich einen vulgären Ausdruck , was der Mutter jedesmal einen Stich ins Herz gab .
Es kontrastierte zu stark mit ihrer poetischen Schönheit .
Und plötzlich erklärte sie , überhaupt nicht mehr in Gesellschaft gehen zu wollen .
Sie müsse sich von all den Körben , die sie bekommen , erholen .
Frau Dalmar machte ihr sanfte , aber eindringliche Vorstellungen .
Man würde ihr Verschwinden aus der Gesellschaft in Zusammenhäng mit der Abreise Borns bringen .
Sibilla sah es ein , und sie ging nach wie vor aus , aber ihre Haltung änderte sich sichtlich .
Jede Annäherung der goldenen Grünen wehrte sie mit süperbem Stolz ab .
Denen wurde sie auch bald zu klug .
Fast ausschließlich wendete sie sich jetzt ernsten , meist älteren Männern zu , Männern , die in der Politik , Wissenschaft oder Literatur eine Rolle spielten , und die entzückt und überrascht waren , mit einem jungen , schönen Mädchen ernste Gespräche führen zu können .
Sibillas Intelligenz gewann dabei , und in Betreff der Huldigungen blieb es beim alten .
Gerade wie die Leutnants , die Referendare und die goldenen Grünen entdeckten auch Professoren und Geheimräte - sie nannte sie ihre Johanniskäfer - im Verkehr mit Sibilla ihr Herz .
Auch ein Brackenburg war da , ihr rettungslos verfallen : ein junger Kaufmann , Benno Raphalo , der in einem der ersten Bankhäuser eine erste Stellung einnahm .
Sie selbst aber , so schien es , sollte bei dem Neigen von Herzen zu Herzen immer zu kurz kommen .
Dem Brackenburg konnte sie doch unmöglich Gegenliebe widmen .
Er war ja amüsant und gutherzig , aber - Benno Raphalo !
Außerdem war sie ja in den Grafen Jürgen Planer verliebt .
Ganz im Gegensatz zu dem wortreichen , überschwänglichen , weißglühenden Ewald de Born verhielt sich der Graf in seinem Liebeswerben fast stumm .
In seiner reservierten Haltung aber lag eine stille Inbrünstigkeit .
Wenn er nach einem Besuch sich empfahl , so pflegte er langsam , wie zögernd , rückwärts der Tür zuzugehen , mit unheimlicher Intensität seine Blicke an ihr festsaugend .
Er blieb dann wohl auf der Schwelle stehen , als könne er sich nicht entschließen sie zu überschreiten .
Zuweilen trat er noch einmal ins Zimmer zurück , als hätte er etwas vergessen , oder erwarte er , daß sie etwas sage .
Er sprach fast nie mit einer anderen Dame als mit ihr , und mit ihr in so leisem Tone , als flüstere er Geheimnisse .
Alles was er sagte war nur wie ein Andeuten , Hindeuten auf etwas Verborgenes , Tiefes , das in gewöhnliche Worte nicht zu fassen sei .
Ein mystischer , krankhafter Zug war in seinem bleichen Gesicht , in seinen stahlblauen Augen .
Gerade das zog Sibilla an .
Er erzählte ihr mit Vorliebe von Halluzinationen , die er gehabt .
Zuweilen konnte Graf Planer auch sarkastisch sein .
Sein Sarkasmus richtete sich dann gegen Benno Raphalo , dessen Natürlichkeit ihm unbehaglich war .
Der rächte sich durch harmlose Witze .
Er meinte , der Graf schweige einem Löcher in den Kopf , seine Seele sei so flach , wie das Weltmeer tief sei u. s.w .
Nach einigen Monaten seiner stillglühenden Werbung kam der Graf seltener , und wenn er kam blickte er düster drein .
Eines Tages erschien er ganz schwarz gekleidet , mit einem Trauerflor um den Hut .
Er müsse zu einem Leichenbegängnis .
Wer tot sei ?
Sein einziger Freund .
Woran er gestorben ?
An leidenschaftlicher Liebe zu einem jungen , bürgerlichen Mädchen .
Er dürfe sie nicht heiraten .
Seine ganze Willenskraft habe er daran gesetzt , um die Einwilligung seines Vaters , von dem er abhängig war , zu erlangen - vergebens .
Müsse er das Bild des engelhaften Mädchens aus seinem Herzen reißen , das Herz ginge mit in Stücke .
Bei den letzten Worten war er aufgestanden , und langsam , rückwärts , wie er pflegte , ging er der Tür zu , nur langsamer noch als sonst , seine Augen mit drohend hypnotischer Starrheit in die ihren tauchend , und er flüsterte vor sich hin : Komme !
Beim Hinausgehen ließ er die Tür offen , und sie sah ihn durch die offene Tür im Vorzimmer , immer noch rückwärts fortschreitend , die Lippen bewegend .
Ein Zug entstand von irgendwo her , und die Tür fiel krachend ins Schloß .
Sibilla hatte verstanden .
Es war ihr erster wirklicher Schmerz .
Zitternd , bitterlich weinend fiel sie in die Arme ihrer Mutter , der sie nun alles sagte .
Ein Fieberanfall zwang sie das Bett zu hüten .
Sie schauderte vor dem Anblick einer Zeitung .
Sie sah nur ihre Mutter an , um in ihren Augen zu lesen , ob etwas geschehen wäre .
Vierzehn Tage mochten vergangen sein , als die Mutter ihr eine Zeitung hinreichte .
Der junge Graf Jürgen Planer war der chinesischen Gesandtschaft attachiert worden und bereits nach Peking abgereist .
Sibilla erholte sich ziemlich schnell von ihrer Nervenerschütterung .
Der Kummer richtete mehr Unheil in ihrem Kopf als in ihrem Herzen an .
Was sie noch an Illusionsfähigkeit besessen , ging unrettbar verloren .
Es dauerte nicht lange , und sie sprach ganz ruhig und kühl von ihrem " Vampir " , dem chinesischen Attache .
Vorherrschend in ihrer Empfindung war die Scham , eine bittere Scham , ein zitternder Zorn darüber , daß sie sich immer wieder zu den Abenteuergelüsten dieser Hochstapler der Liebe mißbrauchen ließ .
Sie fühlte , wie unter dem heißen Hauch all dieser buhlenden Gebärden , die sie zu verstehen anfing , sich etwas in ihr abnutzte , welkte : die Blume der Empfindung .
Die letzte Erfahrung legte den Grund in ihr zu einer kalten Skepsis , zu einer Geringschätzung , die sie nicht nur gegen andere , sondern auch gegen sich selbst richtete .
Nein , sie hatte auch diesen nicht geliebt , wenigstens nur so obenauf , ein Nervenreiz , eine Lust , eine Neugierde am Ungewöhnlichen , Geheimnisvollen .
" Und weißt Du , " sagte sie einmal zu ihrer Mutter , " ich traue mir die unglaubliche Albernheit zu , daß der Grafentitel bei mir mitgewirkt hat , bei mir !
Und ich halte mich für radikal .
Ich gehe mit dem Plan um , Lassalle'sche und Marxsche und andere soziale Schriften zu lesen - Dummkopf ich ! "
Sie stellte auch Reflexionen an , die ihre Geringschätzung gegen die Abtrünnigen einigermaßen dämpften .
War sie nicht ungerecht aus persönlicher Ranküne ?
Warum sollte das Weib diesen jungen Männern alles sein ?
Sie hatte von neuem Lust , sich aus dem Gesellschaftsleben zurückzuziehen .
Aber was anfangen im Hause !
Da war es auch nicht mehr so behaglich wie sonst .
Der charmante Vater neigte sich mehr und mehr dem Bohemetum zu .
Sibilla war jetzt 21 Jahre alt , sie bedurfte seiner als Chaperon nicht mehr .
An ihre Triumphe hatte er sich gewöhnt , sie interessierten ihn kaum noch .
Er war bequem geworden , der Zwang des Fracks , der eleganten Haltung und des Geistreichseinmüssens fiel ihm lästig .
Er zog es vor , halbe Nächte in Cafes und Restaurants zuzubringen , mit amüsanten Witzbolden und flotten Künstlern , bei einem Glas Wein - es durfte auch eine Flasche sein - und einem Spielchen - es durfte auch Roulette sein .
Sibilla konnte es sich nicht verhehlen , der Vater , der einst so süße Lieder komponiert , der der Lion der Gesellschaft gewesen , er verbummelte .
Mit dem Respekt vor dem Vater schwand auch ihre Liebe .
Stolz und indolent , wie sie geworden war , machte sie keinen Versuch , ihn schmeichelnd oder mit ernster Mahnung zurückzuhalten .
Sie zürnte ihm , daß er keine Rücksicht auf sie und die Mutter nahm .
Er bemerkte die innere Auflehnung seiner Tochter , und da er Peinlichem stets aus dem Wege ging , entschwand er mehr und mehr aus dem Gesichtskreis der Seinen .
Die Mutter , ja , die war lieb und gut , sie war ihr , was ihr in den Kinderjahren das Tagebuch gewesen , das Blatt , in das sie ihre Geschichte schrieb .
Aber die liebe Mutter war doch eigentlich ein halbes Kind , so schwach , sie leistete ihr niemals Widerstand , nicht ihren ärgsten Launen .
Sie fürchtete sich sogar ein wenig vor dem Töchterchen , wenn es schlechter Laune war .
Schlief Sibilla bis in den Vormittag hinein , so schlich sie leise durch das Haus und sorgte dafür , daß kein Laut den Schlummer ihres Lieblings störte .
Hatte der Liebling Kopfschmerzen , so las Frau Dalmar ihr vor , und Sibilla kommandierte :
" Leiser , oder schneller , oder : singe nicht so , Mutti . "
Mit einem Wort , Sibilla war ganz Gebieterin , die Mutter ganz Dienerin , eine freiwillige , zärtliche .
Und Sibilla hätte jemand gebraucht , der sie auf- und zusammengerüttelt zu irgend etwas - ja - wozu ?
" Die einfältigsten unter den goldenen Grünen , " äußerte sie einmal im Gespräch mit der Mutter , " sind am Ende doch noch mehr wert , als wir unnützlichen Mädchen , zwischen Morgen und Abend liegt bei ihnen Arbeit .
Aber wir ?
Was tue ich denn ?
Ich schlafe bis 10 Uhr , ich stelle meine Ballbouquets ins Wasser , ich lese die Zeitung , ein Buch , ich richte meine Toilette für den Abend , ich empfange oder mache einen Besuch , medisiere mit Timäa über Frau X. und Herrn Y. etc . "
Frau Dalmar bemerkte , daß andere junge Mädchen Zeichnen und Musik trieben , Vorträge im Lyzeum hörten .
Diese Beschäftigungen wären Gummipfropfen , wie man sie hungrigen Kindern in den Mund steckte , um sie zu betrügen .
Für eine solche Verschwendung von Lebenskraft , wie die Ausbildung ihrer Talentlosigkeiten , wäre sie doch zu klug .
Ob sie etwa Lust habe in Zürich zu studieren ?
Frau Dalmar fragte es etwas ängstlich , ( damals hatte die Universität Zürich seit einem Jahrzehnt ungefähr ihre Pforten den Frauen geöffnet ) .
Nein !
Sibilla wollte nicht .
Wozu ?
Bloß um zu lernen , um sich Kenntnisse zu erwerben ?
Dazu brauchte sie keine Universität ; aus Büchern konnte sie ebenso gut und ebenso viel lernen .
Gott , wieviel Männer blieben trotz regelrechter Universitätsstudien lebenslang unwissende , bornierte Simpel .
Sie hatte auch gar keine spezielle Neigung für irgend einen Wissenszweig .
Ja , wenn die Frauen die auf der Universität erworbenen Kenntnisse praktisch verwerten könnten , dann fiele wenigstens der Heiratszwang fort .
Aber daran war ja in absehbarer Zeit gar nicht zu denken .
Allenfalls bot die Medizin einige Chancen .
Trotz aller Hochachtung aber vor diesem Studium , hatte sie eine schaudernde Abneigung gegen die Ausübung dieses Berufs , ganz im Gegensatz zu ihrer Freundin Timäa , die halb und halb entschlossen war nach Zürich zu gehen .
Ihre Freundin Timäa ? wirklich Freundin ?
Dem Titel nach .
Ein komplizierter Charakter .
Hatte Sibilla eine Enttäuschung erfahren oder war sie krank , so bewies sie ihr hingebende Zärtlichkeit .
Je besser es aber Sibilla ging , je mehr man sie feierte , je kühler zog sich Timäa von ihr zurück .
Letzthin hatte sie die Herzensgeschichte mit dem jungen Diplomaten erraten .
Sibilla wußte es und litt unter ihrer mitleidigen Zärtlichkeit .
Sie fing an sich beinahe leidenschaftlich nach einer Veränderung zu sehnen , mit der nörgelnden Sehnsucht aller Unzufriedenen und Kranken , die von einem Ortswechsel auch einen Stimmungswechsel erhoffen .
Sie drängte die Mutter zu einer Reise nach Italien .
Frau Dalmar wagte nicht , ihren Gatten ganz sich selbst zu überlassen .
Es war auch kein Geld da .
Sibilla fühlte sich nicht gerade unglücklich , aber böse , verdrossen .
- " Ach , Mutti , " klagte sie , " ich bekomme einen schlechten Charakter , ich fühle_es .
Ich will fort von Berlin . "
" Könntest Du nicht Benno Raphalo heiraten ? " fragte nicht ohne Bitterkeit die zärtlich bekümmerte Frau .
" Du brauchtest dann nicht in Berlin zu bleiben .
Die Direktorstelle an der ersten Münchener Bank ist ihm angeboten , was die Anwartschaft auf den Erwerbe von Millionen bedeutet .
Er liebt Dich treu , und er ist ein guter Mensch . "
Sibilla zuckte geringschätzig mit den Achseln .
Frau Dalmar sprach nicht mehr davon und sie schwieg gern .
Nur nach einem schweren Kampf mit sich selbst hatte sie den Hinweis auf Benno Raphalo über ihre Lippen gebracht .
Indessen kam der junge Mann seit einiger Zeit fast täglich in das Talmarsche Haus .
Sibilla sah ihn gern .
Auch gefiel ihr , daß er sehr soigniert in seiner äußeren Erscheinung war .
Er war entschieden ein Original .
Aus einer unbemittelten Familie hervorgegangen , hatte er sich seine Stellung im Schweiße seines Angesichts erworben , freilich auf Kosten seiner Bildung , für die ihm keine Zeit geblieben war ; daher seine rührende , durch keine Intelligenz gemilderte Unwissenheit .
Aber er hatte Humor , und die Drolligkeit seiner Einfälle wurde noch durch gewisse kleine Angewohnheiten und Redewendungen erhöht .
Er stand insofern ganz jenseits von gut und böse , als er nie in seinem Leben eine Erwägung auf ethischem Gebiet angestellt hatte .
Er handelte gut oder nicht gut , wie es die Verhältnisse eben mit sich brachten .
Ein großes Kind war er , in Geschäftssachen ein schlaues .
Wie er als Schuljunge es nicht als ein Unrecht empfand , wenn er seinem größeren Bruder den größeren Apfel aus der Mappe stibitzte , und ihm seinen kleineren dafür einschmuggelte , ebenso wenig hätte er sich ein Gewissen daraus gemacht , durch einen schlauen Börsencoup seine Mitmenschen zu schädigen .
Dazu war doch die Börse da .
Benno Raphalo erschien Sibilla unter den Ewalds , Planers und vielen anderen verhältnismäßig brav und einfach .
War er doch immer bereit , allen und jedem zu helfen .
Daß er mit allzu leichter Hand , ohne Ansehen der Person , so gewissermaßen zum Pläsier seine Wohltaten ausstreute , merkte sie nicht .
Auch hörte sie nicht die Anekdoten , die er flüsternd , unter dem Siegel der Verschwiegenheit , lüsternen Herren zum Besten gab .
Sie sah nur seine Güte und seine unverwüstliche Heiterkeit .
Und sie sah , daß er sie auf ein Piedestal stellte , unter Rosen , von denen er ihr täglich einen vollen Strauß schickte .
Und sie stand gern auf einem Piedestal .
Je weniger Franz Dalmar arbeitete , je knapper wurde das Geld im Hause .
Sibilla sah , daß die Angst um ihre Zukunft an der Mutter nagte .
Von Zeit zu Zeit wiederholte die immer Sorgende ihre schüchternen Versuche , das Töchterchen für irgend eine Berufstätigkeit zu erwärmen .
Was der Mutter nur einfiel !
Alle diejenigen Erwerbstätigkeiten , ( das Wort schon widerstand Sibilla ) die einer Frau ohne einen allzu großen Aufwand von Energie zugänglich waren , widerstrebten ihr .
Freilich , die Aussicht auf die schäbige Existenz eines alternden Mädchens war auch nicht gerade verlockend .
Eine entfernte Verwandte ihres Vaters pflegte alljährlich einige Male aus einem benachbarten kleinen Orte herüberzukommen , um eine kleine Unterstützung in Empfang zu nehmen .
Ella Ried war ein altes , durch eigenen Leichtsinn heruntergekommenes Fräulein , mit zitternden Fingern , bläulichen Lippen , schwarzen Nägeln und zotteligem Haar .
Einen großen zerschlissenen Pompadour trug sie am Arm und einen schmutzigen Schal um den Hals .
Nicht anzusehen war_es , wie ungebärdig sie sich freute , wenn man ihr ein abgetragenes Kleid schenkte .
Sibilla fand , nicht ganz mit Unrecht , daß dieses armselige Geschöpf ihr ähnlich sähe .
Es war ihr jedesmal unbehaglich , wenn es hieß :
Die Cousine ist da .
Hatte sie wirklich nur die Wahl : zu heiraten oder Lehrerin zu werden , mit einem Gehalt , das nach Ablauf einiger Jahrzehnte die fabelhafte Summe von 2000 Mark erreichen konnte , oder -
Ella Ried ?
Sie schauderte .
Diejenigen Männer , die sie liebte , oder hätte lieben können , die heirateten sie ja doch nicht .
So war Benno Raphalo mit dem hübschen Gesicht , dem guten Herzen , den lustigen Geschichten und glänzenden finanziellen Aussichten doch am Ende ernst zu nehmen .
Sie war ihm sogar gut , wenigstens beinahe .
Wenn er da war , kam sie gar nicht aus dem Lachen heraus , Timäa auch nicht .
Letztere suchte ihre Freundin an Mutterwitz und Munterkeit zu überbieten .
Sibilla hatte nicht die lustige Replik der Ungaren .
Benno Raphalo und Timäa verstanden sich vortrefflich , und es schien , als ob sie wohl zu einander komme men könnten , Timäa wenigstens war dessen sicher .
Sie hatte aber ohne die Herrschsucht und Eitelkeit Sibillas gerechnet , die sie durch ihr ersichtliches Werben um den jungen Mann herausforderte .
Wenn Sibilla wollte , so hatte sie einen Charme sondergleichen .
Und sie wollte jetzt .
Und eines schönen Tages fand sie sich mit Benno Raphalo verlobt .
Vier Wochen später war die Hochzeit , die man auf Sibillas Wunsch im engsten Familienkreis feierte .
Das tiefe Weh , das bei der Hochzeit das Herz der Mutter zerschnitt , wurde durch die Sorge um Sibilla zurückgedrängt .
Ein so sonderbarer Ausdruck lag in den umflorten Blicken der jungen Braut , etwas wie Verwunderung , ein Sichnichtzurechtfindenkönnen , ein in leere , weite Fernen Schweifendes .
Und dann wieder blitzte es in den dunklen Augen auf , wie Wetterleuchten in schwüler Nacht , vor einem Gewitter .
Es war kein fröhliches Hochzeitsfest .
Von dem Bräutigam war auch nichts zu erwarten .
Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben war er ernst , ja feierlich gestimmt .
Er liebte Sibilla wahrhaft .
Glücklicherweise ventilierte die unbeirrbare Gutgelauntheit des Vaters , der Hochzeiten nicht feierlicher als andere Feste nahm , die bedrückende Atmosphäre .
Er ergriff gern die Gelegenheit , eine launige Tischrede zu halten und berauschte sich an seinen graziösen Worten und dem unbezahlten Champagner , und in dem Hoch auf das Brautpaar ließ er " seinen Merlin " mit einfließen , an dem er soeben die letzte Feile lege .
Gegen das Ende des Mahls fiel ihm plötzlich ein , daß er mit dem Musikalienhändler eine Verabredung habe , eine Viertelstunde nur , gleich sei er wieder da .
Er schloß Sibilla in seine Arme , küßte sie mehrmals , schüttelte seinem Schwiegersohn die Hände , und fort war er und - kam nicht wieder .
Sibilla hatte es im voraus gewußt .
Er hatte die Flucht vor dem Abschied ergriffen .
Er konnte Tränen nicht sehen .
Und sie flossen in Strömen aus Sibillas Augen , als sie am Halse ihrer Mutter hing .
Eine grenzenlose Traurigkeit und Mutlosigkeit war über sie gekommen , das Gefühl , als hätte sie etwas Unerhörtes , Ungereimtes , ganz Wahnsinniges getan , und wenn die Mutter , die begriff , was auf dem Spiel stand , nicht mit zärtlicher Überredung , mit sanftem , aber festem Ernst Öl in die Wogen des aufziehenden Sturmes gegossen hätte , wer weiß , ob nicht der Anfang dieser Ehe zugleich ihr Ende gewesen wäre .
Der gute Benno ahnte nichts von dem , was in der Seele seiner jungen Frau vorging .
Als sich aber Sibilla gar nicht von der Mutter trennen wollte , schüttelte er mit einem kräftigen Ruck die feierliche Rührung ab und riskierte ein Scherzwort .
" Spaß beiseite , " rief er fröhlich , " und bringen wir unser Schäfchen ins Trockene . "
Und Sibilla lachte , lachte ebenso krampfhaft , wie sie vorher geweint hatte , und unter Lachen und Weinen reisten sie zu einer kurzen Hochzeitsreise ab .
Sibilla Raphalo unterschied sich in den ersten Jahren ihrer Ehe völlig von Sibilla Dalmar .
Zu ihrem eigenen Erstaunen wurde aus dem verhätschelten Weltkind eine junge Frau , wie viele andere auch .
Die Briefe an ihre Mutter aus dieser Zeit waren mit wirtschaftlichen Fragen angefüllt .
Sie ließ sich zu einer ganz passablen Hausfrau an .
Da Benno auf einen guten Tisch hielt , studierte sie die Physiologie der Nahrungsmittel und stellte Menüs auf einer wissenschaftlichen Basis her .
Sie verschrieb die Wurst aus Gotha , den Schinken aus Schlesien , Poularden aus Belgien , Kaviar aus Berlin und den Salat bereitete sie selbst .
Es machte ihr sogar etwas Spaß , nicht viel .
Ihr Gatte , der sie auf Händen trug , hatte eine hübsche Wohnung elegant und nicht ohne Geschmack eingerichtet .
Seidenplüsch und Damast , Ebenholzmöbel mit Bronzeverzierung , niedliche kleine Kunstwerke , antike und moderne , wie Zufall und Gelegenheit sie ihm in die Hände gespielt .
In ihrem Salon war sogar eine Wandfläche mit einem Gobelin bedeckt , ein Gobelin von einer allerdings etwas groben Struktur .
Er stellte einen Überfall aus der Ritterzeit dar , und Tote und Verwundete gab es darauf .
Besonders ein Sterbender mit langen blonden Locken , dem eben ein Rittersmann einen Pfahl mitten durch den Leib stößt , zog ihre Blicke magnetisch an , sobald sie in den Salon trat .
Jedes Winkelchen in der Wohnung war ausgefüllt , so daß Sibilla , wenn sie die Absicht gehabt hätte , der Einrichtung eine andere , ihr zusagendere Physiognomie zu geben , das Vorhandene erst hätte beseitigen müssen .
Aber sie hatte gar nicht die Absicht .
Es war ja alles da , was sie brauchte .
Sie mochte auch den guten Benno , der so stolz auf seine Einrichtung war , nicht betrüben .
Und dann - sie war so indolent und bald auch zu kränklich , um auf irgend einem Gebiet sich zu einer energischen Tätigkeit aufzuraffen .
Zu Hause aber fühlte sie sich niemals in diesem , von Benno Raphalo ausgesonnenen Heim .
Im ersten Jahr ihrer Verheiratung gebar sie ihm Zwillinge : Zwei Knaben .
Sie starben kurz nach einander , ehe sie ihr erstes Lebensjahr vollendet hatten .
Die schwere Geburt hatte der zarten Mutter Kräfte so erschöpft , daß sie Jahre brauchte , um sie nur einigermaßen zu ersetzen .
In der Münchener Gesellschaft hatten sie kaum Anknüpfungspunkte .
Bald nachdem sie sich häuslich eingerichtet , tauschten sie Besuche mit einigen Kollegen Benno Raphalos aus und gaben die Empfehlungsbriefe ab , die Franz Dalmar seiner Tochter an eine kleine Anzahl von Musikern , mit denen er in Verbindung stand , geschickt hatte .
Dazu kamen einige Maler , deren Bekanntschaft der junge Bankdirektor in der Künstlerklause bei einem Glase Bier gemacht , und die die finanzielle Verwertung der neuen Bekanntschaft im Auge hatten .
Ebenso wenig wie in ihrer Wohnung wurde Sibilla in dieser Gesellschaft heimisch .
Die Musiker und die Kollegen ihres Mannes waren Leute einfachen Schlages .
Sibilla war ganz verdutzt über diese neuen Menschen , die ganz andere Gewohnheiten und Ansichten hatten , ganz andere Gespräche führten und andere Toiletten trugen , als in der Berliner Gesellschaft üblich war .
" Wie weit , weit liegt Berlin hinter mir , " schrieb sie einmal an ihre Mutter .
" Kein Mensch kümmert sich hier um einen .
Das sollen sie überhaupt in München nicht tun , und wenn der Herrgott in Person vom Himmel herunterstiege , und der Herrgott bin ich doch noch lange nicht , nur die Frau von Benno Raphalo und noch dazu aus Berlin .
Eine komische Gesellschaft !
Die Musiker sind meist ältere Herren mit dürren Hälsen , die auf unserem Flügel herumpauken bis der Hahn kräht , und sie rauchen und trinken und trinken und rauchen , so recht urdeutsch , und mitunter , wenn unsere Mädchen schon zu Bett gegangen sind , nehmen sie die Bierkrügel unter den Arm und holen sich über die Straße fort selber noch ein Maß .
Die Kollegen meines Mannes verhandeln nur Geschäftliches untereinander , und wenn es hoch hergeht , regaliert Benno sie mit einer seiner gemütlichen Anekdoten » Für Herren « .
Und die zu diesen Herren gehörigen Damen ! ladylike sind sie nicht , o nein .
Vor und nach Tisch hocken sie zusammen , machen Handarbeiten , und ihre Unterhaltungen drehen sich ausschließlich um Wirtschaftsangelegenheiten , und wie man kleine Kinder , Goldfische und Möpse am besten füttert , und Frau A. rühmt sich , daß ihr fünf Monate altes Kind schon ein Zähnchen hat , was Frau B. sehr demütigt , die ein sechs Monate altes Kind hat - ohne Zähnchen .
Und so einfach sind sie alle angezogen , daß ich mich meiner Toilette schäme ; ich fiel neulich mit meinem einfachsten Kleide ganz aus dem Rahmen , und sie können mich nun gewiß wegen dieses Himmelblaugestickten alle nicht leiden .
Die Frau des Musikprofessors Zeltinger , die ist aber wirklich sehr nett und so herzlich und natürlich mit mir .
Darum verzeihe ich ihr auch , daß sie mich » kleines Frauchen « nennt .
Kleinbürgerlich , recht kleinbürgerlich sind sie alle .
Denke Dir , sie haben noch » gute Stuben « .
Das Erstaunlichste aber Mutti , - Mutti Du wirst_es nicht glauben , ich kann es Dir aber nicht ersparen - niemand macht mir den Hof , niemand !
Die Männer , insoweit sie Maler sind , fühlen sich durch alles Weibliche , das das Niveau der Modelle übersteigt , geniert ; die Musiker bekümmern sich nur um Musik , wozu sie die Frauen nicht rechnen , und die Kollegen meines Mannes , insoweit sie nicht verheiratet sind , suchen und finden ihre Ideale in irgend einer Viertelswelt .
Für Berlin bin ich - vielleicht - eine beauté , für München - Kaviar .
Eine neidhammlige Dame verriet mir , daß man mich Blaßschnabel nennt .
Freilich , ins Gesicht sagen sie mir nicht Blaßschnabel , aber doch » Schöne Frau « , was nicht viel anmutiger ist Nur auf der Straße , da feiere ich Triumphe .
Man bleibt plötzlich stehen , als wäre man von meinem Anblick geblendet , man läuft mir nach .
Und wenn meine » Würde und Hoheit die Vertraulichkeit nicht entfernte « , würde ich selten ungeleitet nach Hause gehen .
Am Sonnabend war ein kleiner Tanzabend beim Musikprofessor Zeltinger , wirklich ganz anheimelnd .
Die netten , sympathischen kleinen Wurststüllchen , sie kamen direkt vom Herzen der Wirtin , und die 300 Brötchen , die hatte die Frau Professor selbst gestrichen , und die vielen Zwiebeln im Heringssalat entsprangen sicher einer wohlgemeinten Absicht .
Nur sah ich den Zweck der vielen jungen Musiker nicht ein , die an den Wänden herumstanden .
Einer von ihnen tanzte allerdings später mit mir in des Professors kleinwinzigem Studierstübchen und nannte mich gnädiges Fräulein , was ich begreiflich fand , denn ich tanzte wie ein Kickelchen .
Der Herr Professor tanzte auch mit mir , und drückte mich dabei so innig an sich , daß ich der oftgemachten Beobachtung mich nicht entschlagen konnte , daß die Männer , auch die alten Herren , durchweg ein Geschlecht von Schwerenötern sind .
Der Not gehorchend , nicht dem eigenen Triebe , muß ich ab und zu auch einige Leute zu mir einladen .
Das macht so viel Umstände .
Die Köchin will immer so viel feine Speise kochen , und ich muß das gute Silber herausgeben , und Benno braut eine ganze Stunde lang an der Bowle , und dann haben die Dienstboten immer die Idee , daß die Gäste lediglich zu dem Zweck erscheinen , um in den entferntesten Ecken Staub aufzustöbern , und am Vorabend der Gesellschaft veranstalten sie ein großes Staubkesseltreiben , daß man gar nicht weiß wohin , und man atmet erst wieder auf , wenn das Silber wieder eingeräumt , die reingemachten Ecken wieder verstaubt und die Rester aufgegessen sind .
Ich habe eine Idiosynkrasie gegen Rester und gegen Kleinbürgerliches überhaupt .
Im allgemeinen gleitet mein Leben so sacht , wie ein Schiff mit eintönigen Ruderschlägen über das Wasser gleitet , vorbei an duftigen Gärten , märchenhaften Wäldern , romantischen Felsen , - aber immer nur vorbei - vorbei .
Ich steige nie aus .
Ich möchte aber einmal ans Ufer .
Ich bin neugierig .
Ich will sehen , was da los ist .
Deine liebe , nicht ganz vergnügte Sibilla . "
Wie zarte südliche Pflanzen , die , in ein nordisches Erdreich versetzt , eingehen oder Jahre brauchen , um in dem neuen Boden Wurzel zu schlagen , so schien auch Sibilla in den ersten Jahren eingehen zu wollen .
Sie blieb jahrelang in der fremden Stadt eine Fremde .
Niemand wußte ja , daß sie die gesuchteste , reizendste Dame der geistreichsten Gesellschaft Berlins gewesen war .
Der Abstand war zu groß .
Dort der verzogene Liebling , hier in inferioren Kreisen eine unbeachtete Persönlichkeit .
Sie blieb dieser Tatsache gegenüber verständnislos .
Sie wäre nicht ungern mit der eleganten Gesellschaft Münchens in Berührung gekommen .
Man kannte sie dort .
Streifte man sich doch im Theater , in Konzerten , auf Spazierfahrten .
tatkräftige und ehrgeizige Frauen mit der Persönlichkeit Sibillas hätten leicht Mittel und Wege gefunden , sich Eingang in diese Kreise zu verschaffen .
Sie war aber zu indolent und auch zu stolz , um für ihre soziale Position zu kämpfen .
Wer sich ihr nicht gewissermaßen aufdrängte , blieb ihr fern .
Und man drängte sich ihr vorläufig nicht auf .
Was boten denn die Raphalos groß ?
Sie machten kein Haus .
Frau Raphalo war zwar schön und graziös , aber ihre reservierte und doch anspruchsvolle Haltung hatte für den Süddeutschen nichts Anheimelndes .
Und sie hielten nicht einmal einen Diener .
Sibilla hatte nie irgend welche Kräfte an die Erreichung irgend eines Ziels gesetzt , mochte dieses Ziel nun auf gesellschaftliche Erfolge oder auf ihr inneres Leben gerichtet sein .
Sie las niemals Bücher , die im Dialekt geschrieben waren , - selbst mit Reuter machte sie keine Ausnahme , weil sie die Mühe des Siechhineinlesens scheute .
Sie ging in Gemälde-Ausstellungen an Bildern , deren Glaseinrahmung die Besichtigung erschwerte , vorüber .
Am allerwenigsten aber hätte sie einen Finger gerührt , um Menschen , die nicht von selbst kamen , in ihr Haus zu ziehen .
In all den Jahren war es wie ein Stillstand in ihrer Existenz gewesen ; kein Stillstand in ihrer inneren Entwicklung .
Sie las viel und mit Auswahl , nicht in bewußter Strebsamkeit , um ihren Horizont zu erweitern , sondern einfach , weil ihr diese Bücher Vergnügen machten .
Und fast ohne ihr Zutun , aus innerster Naturnotwendigkeit , wurde ihre Intelligenz zu einem klaren , stetigen Licht , das nichts Schattenhaftes duldete , auch nicht in den entlegensten Winkeln ihrer eigenen Seele .
Ihr Zug nach absoluter Objektivität entwickelte sich immer feiner .
Die sozialistischen Anklänge , die schon in ihre Kinder- und Jungfrauenjahre wie Glockentöne einer fernen Kirche hineingeklungen waren , wurden jetzt zu vollen Akkorden .
Sie gelangte zu einer radikalen Weltanschauung , zu einem Sozialismus der reinen Vernunft , ohne starke Gemütsbeteiligung .
Benno , der allezeit Heitere , huldigte einem ganz entgegengesetzten Geschmack .
An den Büchern liebte er nur die hübschen Einbände und am Leben lustige Geselligkeit .
Da Sibilla sie im Hause nicht pflegte , vergnügte er sich häufig auswärts .
Er war nicht wählerisch in Betreff seiner Lustbarkeiten .
In den Braustübeln Münchens , in den lustigen Künstlerklausen wurden seine Anekdoten mit Akklamation aufgenommen .
Auch als Skatspieler war er berühmt und umworben .
Sie führten eine recht glückliche Ehe , eben weil jedes dem anderen erlaubte , sich auf seine Fasson zu amüsieren .
Er - in den Variete-Theatern , sie - in den Dramen Ibsens oder Hauptmanns .
Er betete seine Gattin an wie am ersten Tage ihrer Ehe , obwohl sie für seinen robusten Geschmack ein wenig zu fein , zu zerbrechlich war , nicht so recht für die Werkeltage .
Er wagte nicht in ihrer Gegenwart zu rauchen oder gar zu gähnen .
Er fühlte sich nie " Herr " , was doch auch seinen Reiz gehabt hätte .
Darum bedurfte er einiger Zerstreuungen , wie sie gewöhnliche Sterbliche gern haben .
Darum pflog er auch ab und zu der unerlaubten Minne , ganz heimlich , wie er glaubte .
Sibilla aber wußte immer , woran sie mit ihm war , trug aber nicht das geringste Verlangen , die Details seiner kleinen Aventüren zu erfahren .
Im vierten Jahr von Sibillas Ehe starb ihr Vater , Franz Dalmar .
Er starb , weil er , wie er an die Krankheiten anderer nicht glaubte , auch an seine eigenen nicht geglaubt hatte .
Von einer starken Influenza noch nicht ganz hergestellt , gab er seinen Freunden eine lustige Genesungsfeier .
Sie wurde zur Totenfeier .
Ein Herzschlag traf ihn inmitten einer launigen Rede , die er unter dem Applaus seiner Freunde hielt .
Und er starb , ohne die letzte Feile an seinen Merlin gelegt zu haben .
Sibilla , obwohl schon seit Jahren eine Entfremdung zwischen ihr und dem Vater eingetreten war , betrauerte ihn tief und aufrichtig .
Frau Dalmar brachte nun oft Monate bei ihrer kränkelnden Tochter in München zu .
Sie pflegte sie und wäre mit Sibillas Los zufrieden gewesen , wenn das geliebte Kind sich nur etwas kräftiger und lebensfroher gezeigt hätte .
Eins aber konnte die eitle Mutter nicht begreifen : daß Sibilla mit ihrem Geist und ihrer Schönheit die Stadt nicht auf den Kopf stellte .
Mutter und Tochter schlossen sich inniger als je aneinander .
Die alte Frau blühte förmlich unter dem Einfluß der Tochter auf , ihre Intelligenz erfuhr einen Johannestrieb und entwickelte sich bis zum vollsten Verständnis der gewagtesten und kühnsten Ideen Sibillas .
Sie wurde die Schülerin der Tochter .
Inzwischen war Benno Raphalos Vermögen rapide gewachsen .
Nach Ablauf von kaum sieben Jahren gehörte er zu den reichsten Leuten der Stadt .
Sibilla bekümmerte sich nicht viel darum und lebte weiter , wie sie es gewohnt war , in behaglichem Wohlstand , ohne besonderen Luxus .
Im Sommer pflegte sie mit der Mutter eine Wald- oder Bergfrische in der Nähe Münchens aufzusuchen , wo Benno sie ab und zu besuchte und wo sie kaum anders lebte als in der Stadt .
Sie scheute weite Spaziergänge .
Den größten Teil des Tages lag sie auf der Chaiselongue , lesend oder mit der Mutter plaudernd .
Das eisenhaltige Wasser , das ihr die Ärzte verschrieben , trank sie nicht .
Sie wußte ja im voraus , es würde nichts helfen .
Sie hatte eine Abneigung gegen kaltes Wasser wie gegen die Kälte überhaupt .
Schlechtes Wetter war ihr unerträglich .
Sobald im September die ersten Regentage eintraten , kehrte sie in die Stadt zurück .
Ein finanzielles Unternehmen , die Gründung einer Zuckerfabrik , brachte Benno Raphalo in Beziehung zu einem Grafen Ferlani , der in Südbayern Güter besaß , sich aber den größten Teil des Jahres in München aufhielt .
Als der Graf eines Tages den Bankier in seiner Wohnung aufsuchte , sah er Sibilla .
Ihr Wesen und ihre Schönheit machten einen tiefen Eindruck auf ihn .
Er beteiligte sich sofort an dem Unternehmen und bat um die Erlaubnis , der Frau vom Hause seine Aufwartung machen zu dürfen .
Der Graf war sehr lebhaft , sehr geistreich , sehr frivol und sehr häßlich .
Mit ihm kam die Welt wieder zu Sibilla .
Kurz nach dieser Anknüpfung ließ sich ihre alte Freundin Timäa , die einen hervorragenden Maler , Peter von Gregori , geheiratet hatte , in München nieder .
Ihr Erstaunen , Sibilla in einer verhältnismäßig untergeordneten Position zu finden , war grenzenlos .
Die Eigenschaften , die Sibilla fehlten , um ihr Leben zu gestalten , Energie , Ehrgeiz , Ausdauer , besaß Timäa im höchsten Maße .
Sie begriff nicht , wie eine Frau von der Persönlichkeit Sibillas , die noch dazu immens reich war , wie eine bourgeoise leben könne .
- " Du bist doch eigentlich die geborene Botschafterin , " redete sie auf Sibilla ein , " Dein Bankdirektor ist nur ein zufälliger Nebenumstand . "
Und sie ruhte nicht eher , bis Sibillas Bankdirektor ein wundervolles Haus mit einem großen Garten kaufte , eine Art Palast , dessen Ausstattung Sibilla mit Hilfe Timäas besorgte .
Diese Ausstattung , vornehm und behaglich , von künstlerisch phantastischem Charakter , trug Sibillas Gepräge .
Ein Gemisch aller möglichen Stile .
Die einheitliche Wirkung durch eine tiefe gesättigte Farbe gewahrt , die an verglimmendes Feuer erinnerte .
Die Wandbekleidung : matte Seide oder Gobelins .
Die Möbel : königlich altväterischer Hausrat voll feiner Skulpturarbeiten .
Altitalienische feudale Marmorkamine , in denen riesige Holzscheite brannten .
Säulen und Bilder , Marmorgruppen , Palmen , phantastische Landschaften , Glasmalerei an den Fenstern .
Überall vornehme Formen und sinnlich süße Farbe .
Unter Ferlani's und Timäa's Einfluß regten sich wieder alle weltlichen Instinkte Sibillas und gaben ihr , wenigstens für einige Zeit eine Tatkraft und eine Daseinslust , die sie sich nicht mehr zugetraut hätte .
Sie mußte auf Timäa's Veranlassung reiten , Schlittschuhlaufen , Spaziergänge machen .
Die Folge davon war , daß sich ihr Gesundheitszustand in überraschender Weise besserte , so daß sie im stande war , den Anforderungen , die die neue Situation an sie stellte , zu entsprechen .
Aber sie vermied auch jetzt alles , was den Anschein erwecken konnte , als wolle sie sich in die elegante Gesellschaft drängen .
Das war auch nicht nötig , Timäa und Ferlani waren ja da .
Letzterer führte seine Nichten , erstere die hervorragendsten Künstler Münchens bei ihr ein .
Die Verehrerinnen derselben , teilweise sehr aristokratische , folgten ihnen auf dem Fuß .
Nach Ablauf weniger Monate bildete das Haus Raphalo eines der Zentren für die Gesellschaft Münchens .
Timäa verfolgte bei dem , was sie für Sibilla tat , egoistische Nebenzwecke .
Zwar befand sie sich in einer bevorzugten Stellung , aber ihre Mittel waren beschränkte .
Sie brauchte ein Haus , über das sie verfügen , und auf das sie , teilweise wenigstens , die Kosten und Umstände ihrer Geselligkeit abwälzen , ihre Vergnügungspläne zur Ausführung bringen konnte .
Innerlich hatte sie Sibilla nie verziehen , daß sie von ihr in der Konkurrenz von Benno Raphalo geschlagen worden war .
Den ersten Winter der neuen Lebensgestaltung Sibillas hatte Frau Dalmar zum größten Teil in München zugebracht .
Dann hörten ihre Besuche bei der Tochter auf .
Ein Ischiasleiden , das in Zwischenräumen immer wieder und immer heftiger auftrat , erschöpften ihre Kräfte und bannten sie ans Haus Den Bitten Sibillas , nach München überzusiedeln , widerstand sie : ein Absterbender gehöre nicht in einen Kreis von Aufstrebenden .
Und als sie sich trennten , in schmerzlicher Zärtlichkeit , da mußte Sibilla mit Herz und Mund geloben , der Mutter rückhaltlos , in voller Wahrhaftigkeit alles zu schreiben , was ihr inneres und äußeres Leben bewegte .
" Und wenn ich einmal nur Betrübtes zu melden hätte ? "
Gerade das vor allem wollte Frau Dalmar wissen .
Freudiges würden auch andere mit ihr teilen , Betrübtes nur sie , die Mutter .
Sibilla hielt ihr Versprechen .
Ihre Briefe waren ein Spiegel ihrer Seele .
1. September .
Also , liebste aller Mütter , los wie Herr Direktor Vogel in der Schule zu sagen pflegte , wenn ich etwas aufsagen sollte .
Ich berichte , ich beichte , ich rede frei von der Leber weg .
( Warum man gerade die Leber mit dieser Funktion betraut ? ) In Deinen treuen Busen - Du hast_du_das gewollt - schütte ich Leid und Freude , Thees und Soireen , Gewissensbisse , Größenwahn , Toiletten-Fragen und Sorgen , und was sonst noch das Leben einer Mondaine ( habe ich_es wirklich schon so herrlich weit gebracht ? ) mit sich bringt .
Alles was mein ist , ist Dein , Du Liebe , Einzige .
Wie anders hat sich nun fast plötzlich mein Leben gestaltet .
Das ist auch ein Zeichen der Zeit :
Frau Zeltinger nennt mich nicht mehr " kleine Frau " .
Ich war ja ganz zufrieden , so ziemlich zufrieden in der Windstille , die dem jetzigen Gewoge vorausging .
Ich konnte ausschlafen , ausdenken und hätte nichts dagegen gehabt , mich so allmählich sanft und sacht in das Alter hinein und etwas später aus dem Leben heraus zu verlaufen .
Und nun - keine Rast noch Ruhe , Besuche bei Schneiderinnen , Digestionsbesuche .
Haben Sie schon bei Frau X digeriert ? fragt man , will sagen , den Dankbesuch für eine Einladung gemacht .
Theater , Schlittschuhlaufen , Konzerte , Gesellschaften , überhaupt der Tag reicht nicht aus , um all meinem Nichtstun zu genügen .
Aber ich amüsiere mich , oft sogar sehr gut .
Meine Erfolge in der Gesellschaft - Du eitle Mutter , hörst ja gern diese Preisnotierungen vom Markt der Eitelkeit - sind im Steigen .
Leute , die mich seit Jahren kennen und nie beachtet haben , beachten mich mit einem Male sehr .
Warum weiß ich nicht .
Wegen meines neuen glänzenden Milieus ? meiner Wiener und Pariser Toiletten ?
Ich trage fast nur weiße oder creme Kleider , sie dürfen silber- oder golddurchwirkt sein , oder so lichtes blau , rosa oder grün , daß es kaum wie das Echo einer Farbe wirkt , verklingend , verdämmernd , verblutend .
Er ist vom Stapel gelaufen am Montag , mein erster jour , mein five o'clock tea . Alle Welt hat hier einen solchen jour . Alle Welt , das ist nämlich die " Gesellschaft " .
So nennen sich anspruchsvoll gewisse elegante und tonangebende Kreise Münchens .
Der oder jener gehört oder gehört nicht zur Gesellschaft , ist eine beliebte Redewendung .
Man spricht da weniger gutes Deutsch als bei uns , aber mehr französisch .
Hervorragende Wissenschaftler und Politiker verlieren sich in München selten in die Salons , deren Zierde sie in Berlin sind , aber desto mehr Maler und Barone gibt es hier , oft beides in einer Person .
Unsere Barone sind übrigens nicht alle so aristokratisch als man denken sollte , es gibt auch recht plebejische und unpräsentable darunter , aber es macht sich beim Vorstellen immer gut .
Geht es hier in den Gesellschaften oberflächlicher zu als bei uns oder scheint mir nur alles flacher , weil ich selber tiefer geworden bin ?
Anwandlung von Größenwahn ?
Außer der " Gesellschaft " gibt es noch einen ganz exklusiven Kreis in der Stadt : die hohe Aristokratie , zu der bei weitem nicht alle Barone und Grafen der Gesellschaft gehören .
Exkludiert ist von vornherein , wer nicht den Prinzessinnen vorgestellt worden ist .
Diese Gesellschaft Nummer 1 parliert noch wie vor fünfzig Jahren ganz oder halb französisch .
Ihre Allüren , hautaine und ridiküle , wie sie der norddeutsche Großstädter nur noch aus gröberen Lustspielen kennt .
Nebenbei haben sie den Ruf einer so steifleinenen Langweiligkeit , daß nur wenige Snobs aus der Gesellschaft Nummer 2 Ambitionnieren , in der Gesellschaft Nummer 1 recu zu sein , wo sie allerdings die Chance hätten , sich eventuell mit einer Prinzessin in demselben Raume zu befinden .
Charakteristisch für diese beiden Gesellschaften ist , daß sie nicht die leiseste Ahnung haben von der Weltwende , an der wir stehen .
Für sie gibt es keine soziale Frage , für sie nicht Dolch und Dynamit , nur Kleider , Liebe , Theater und persönliche Angelegenheiten .
Sie tanzen auf einem Vulkan - Cancan .
Ich laufe hier keine Gefahr , wegen meines Radikalismus boykottiert zu werden .
Man lacht über meinen Amateur-Sozialismus , und da ich weder zum Malen , noch zur Musik , noch zum Spiritismus Talent habe , läßt man ihn als harmlosen Salon-Sport passieren .
Höchstens beschuldigt man mich der Originalitätshascherei .
Also mein erster jour . Alle die ich rief , kamen zwar nicht , aber doch immer noch viel zu viele .
Es ist hier nicht chic , wenn Mann und Frau zu gleicher Zeit auf einem jour erscheinen .
Entweder kommt er , wenn sie geht oder gegangen ist , oder sie kommt heute und er in der nächsten Woche .
Komisch , nicht ?
Darum hält sich der gute Benno auch in diskreter Entfernung von meinen Thees , nicht ungern , schon wegen des Französischen , in welcher Sprache sich zu äußeren sein Bildungsgrad ihm nicht erlaubt .
Apropos Benno .
Höre Mal , liebe Mutter , Du weißt , daß ich immer zugestimmt habe , wenn Du mir den Benno in allen Tonarten gepriesen hast ; singst Du aber , wie in Deinem letzten Briefe , sogar seiner Gattentreue ein Loblied , so muß ich ihn doch dieses falschen Heiligenscheins entkleiden .
Freilich , er meint es nicht böse mit seinen kleinen Lüderlichkeiten .
Wie er die Variete-Theater oder irgend eine Sehenswürdigkeit im Panoptikum besucht , so verkehrt er mit einigen lustigen Dämchen , um sich bequem zu amüsieren .
Es gehört eben dazu .
Er würde einfach lachen , wollte man das Wort Ehebruch auf seine erotischen Späßchen anwenden .
Ich tue es ja auch nicht .
Mein guter Benno nimmt in meiner neuen Welt eine etwas isolierte Stellung ein .
Stolz und glücklich ist er über den Glanz seines Hauses , und möchte um alles in der Welt die illustren Persönlichkeiten nicht missen .
Die Langeweile , die er dabei aussteht , verkneift er sich .
Er zwingt sich ein reserviertes Wesen an , und je vornehmer die Gäste sind , je ernsthafter wird er und je drolliger erscheint er mir .
Aber gewisse plebejische Angewohnheiten die er hat , reizen mich jetzt zuweilen , z.B. wenn er plötzlich ein Federmesser aus der Tasche zieht und sich damit die Nägel reinigt , oder wenn er jemand beiseite zieht , um ihm eine seiner Anekdoten " für Herren " zu versetzen , oder wenn er , wie es einmal geschah , den päpstlichen Nuntius beim Rockknopf festhält und ihm " auf Ehrenwort " versichert , daß wir sechs Grad Kälte haben .
In solchen Augenblicken kann ich ihn nicht ausstehen , und ich schäme mich seiner , und dann schäme ich mich wieder meiner Beschränktheit , daß ich mich seiner schäme .
Alles in allem ist er doch ein Original , eine Persönlichkeit , ein Stück naiver Schöpfung .
Vielleicht gehört eine gewisse Horizontenge dazu , um eine Persönlichkeit zu sein .
Ich bin es nicht .
Nach allen Seiten flattere ich und stiebe ich auseinander , lauter Atome , die sich nicht zu einem Ganzen verdichten .
Aber mein jour !
Mein Salon , Mutti - reizend !
Eine entzückende Komposition zwischen Oratorium und melodischer Lyrik :
Leier und Orgel .
Heidentum , Romantik , Katholizismus , Buddhismus verschmelzen sich darin .
Protestantismus ausgeschlossen .
Wie paßt da mein Böcklin hinein mit der magischen , von geheimnisvollem Mondlicht überrieselten , träumerischen Märchengestalt , die auf dem Einhorn durch den Wald reitet .
Und die Stucksche " Sünde " ( leider nur eine Kopie ) und Bücher und Blumen , seltene hochragende .
Unzählige Madonnen , gestickte , gemeißelte , gemalte , eine sitzt in einem bronzenen , von Säulen getragenen Tempelchen als Hüterin eines Uhrwerks .
Die weiße Farbe fehlt ganz in dem Raume .
Kein Marmor , kein Gold , alles gedämpfte , süße , milde , tiefe Glut .
Keine einfache , konventionelle Form .
Die Teekanne von getriebenem , dunklem Silber sieht wie ein Weihgefäß aus .
Die Decken über Tische und der Chaiselongue wie uralte Altardecken , die Wandschirme wie zum Versteckspielen für Amoretten .
Die Fenster haben zum Teil Glasmalerei ; wo sie frei sind , sieht man in einen Wald von Bäumen und zwischendurch das Siegesthor .
" Venus und Madonna reichen sich in Deinem Salon die Hände , " sagte Timäa .
Ferlanis Vergleich war noch ausdrucksvoller , indem er meinen Salon einen Hörselberg nannte , in dem der heilige Gral umginge .
( Hörselberg ! wenn ich die Wahl hätte zwischen Venus und Elisabeth , möchte ich am liebsten zwischen beiden abwechseln . )
In meiner Robe Empire von gelblicher Liberty-Seide , mit feinsten Silberspitzen garniert , passe ich da ganz hinein , setzte er hinzu .
Und meine Gäste ?
Den Ferlani , der immer zuerst kommt und zuletzt geht , kennst Du .
Daß er verliebt in mich ist va sans dire , daß ich es nicht in ihn bin , va auch sans dire . Ganz entgegengesetzt dem Cäsar , mag ich nicht dicke Leute um mich sehen , und auch nicht solche , die für Klassizität sind , und dabei nicht einschlafen können , ohne ein Kapitel aus dem neuesten lasziven Pariser Roman gelesen zu haben .
Im Salon frivol und geistreich , verwandelt er sich im Abgeordnetenhause im Handumdrehen in eine phrasendreschende Hauptstütze für Ordnung , Sitte und Religion .
Ich reize ihn oft , und darum ist er bald böse mit mir , bald nur zu gut , und abwechselnd regaliert er mich mit Impertinenzen und Schmeicheleien .
Er trägt gern Geschichten von einem zum anderen .
Gestern fing er damit an , mir eine kleine Perfidie Timäas zu insinuieren , die gar nicht begreifen könne , warum man von meiner Schönheit so viel Wesens mache , es gäbe doch so viel Schönere in unseren Kreisen , z.B. die und die u. s.w. Sie habe vielleicht recht , meinte er , nur verschwänden die Schönsten neben mir wie virtuos gemalte Porträts neben einem Bildnis von tief seelischem Charakter , ich wäre nämlich Psyche und Aspasia in einer Person .
Das hörte ich gern , konnte aber doch nur mit Bedauern konstatieren , daß er so gar nichts vom Perikles habe oder vom - Amor .
Ach , Du lieber Ferlani , wir kommen ja nie zusammen .
Alles , was mich interessiert und entzückt , verdammt er in Grund und Boden , z.B. jede neue Richtung in Kunst und Literatur .
Ich schlage ihm immer Timäa zum lieben vor .
Natürlich war sie auch auf meinem ersten jour . Die glaubst Du nun in- und auswendig zu kennen .
Irrtum , Mutti .
Ihre früheren Eigenschaften besitzt sie zwar noch , aber in vergrößertem Maßstabe .
Alles ist raffinierter , berechneter geworden .
Exotischer und unwahrscheinlicher als je sieht meine ungarische Schulfreundin aus , wie ein Überrest aus irgend einem chaldäischen Zeitalter , mit den übernatürlich großen schwarzen Augen und dem prachtvollen , pechkohlrabenschwarzen , ideal angewachsenem Haar .
Sie trägt es jetzt griechisch , hochaufgebunden .
Hier und da eine Locke .
Freilich , bei den Augen endet ihre Schönheit .
Die Nase - weniger als Durchschnitt .
Ein Kinn - kaum .
Sie braucht aber weder Nase noch Kinn .
Die Augen genügen .
Dazu hat sie sich neuerdings eine schlottrige Grazie angewöhnt , wie sie etwa die Kameliendame auf der Bühne haben könnte .
Es lodert immer alles an ihr .
Intim sind wir noch wie in der Schule .
Ich vermute aber , sie beutet unsere Intimität aus für ihre Medisance - gegen mich .
Mag sie !
Ihr Mann war im vorigen Winter in Rom .
Du hast ihn also gar nicht kennen gelernt .
Ein stiller , feiner Mensch .
So sind auch seine Bilder .
Schöne Gegenden stören sein Auge .
Sie kommen ihm wie ein Sensationskapitel aus einem Kolportage-Roman vor .
Und da malt er nun grau in grau - silbergrau , lichtgrau - so fein , so fein !
Sein Pinsel haucht , seine Töne lächeln und seufzen , so zart , so zart , und dann noch das Ganze eingeschleiert - der Traum eines Traumes .
Auf der letzten Ausstellung waren Zeichnungen von ihm , leis getönt wie Geisterhauch .
Zuerst sah man gar nichts .
Bei genauerem Hinblick entdeckte man eine Nymphe , die aus einer Wasserlilie steigt .
Auf einem anderen Blatt ein Fisch unter dem Wasser über einem Korallenzweig , eine Libelle auf einem Blütenzweige .
Wie verhallendes Piano beim Gesang wirkten die Blätter .
Meine liebe alte Musikprofessorin war auch gekommen .
Du hättest sehen sollen , wie die anderen Damen moquant lächelten , als sie eintrat in ihrem schwarzseidenen Kleid , goldener Uhrkette , glattem Scheitel , und ohne Paletot und Hut , da es doch nicht chic ist , bei einem jour Hut und Jackett abzulegen .
Sie war aber ganz unverfroren , stippte ihr halbes Dutzend Küchelchen in den Tee und fragte Frau Bürgens , ob sie denn in ihrem dicken Paletot nicht schwitze .
Da der Paletot ganz neu und sehr kostbar war , schwitzte Frau Bürgens natürlich nicht , abgesehen davon , daß man überhaupt nicht schwitze .
Frau Bürgens , Hamburgerin , reich von Hause aus und Gattin eines sehr reichen Fabrikanten , strotzt von Eleganz und Einbildungen und führt ein beneidenswertes Phantasieleben , indem sie das immense Glück der Dummen , die sich für klug halten , genießt .
Eine fausse mondaine , schwankt sie immer zwischen übertriebener Weltlichkeit und Peterson'scher ( sie ist eine née Peterson ) Spießbürgerlichkeit .
Sie ist immer auf dem Wege , sich ein neues Kleid machen zu lassen , was ihr Mann - sie nennt ihn " mein Lamm " oder ( von Dagobert abgeleitet ) " Dagochen " - so sehr liebe .
Drei neue Hüte hat ihr das eigensinnige böse Dagochen schon wieder aufgeschwatzt .
Ihr Lamm sagt jedesmal , wenn sie sich etwas Neues , Hübsches angeschafft hat : " ich danke Dir . "
Die née Peterson hat aber auch recht viel Sorgen .
Nur entspringen sie alle aus verletzter Eitelkeit oder Hochmut , z.B. bedrückte es sie , daß in ihrer letzten Soirée niemand erst um zwölf Uhr gekommen war , was doch so chic sei .
Daß man sich außerhalb der eleganten Gesellschaft amüsieren kann , hält sie für ausgeschlossen ; daß man Offiziere von der Linie einlade , ebenfalls .
Kavallerie oder Garde - ja .
Sie teilte mir mit , sie gelte in Hamburg dafür , daß man ihr keine nichtadligen jungen Leute empfehlen dürfe .
Aber das dächten sie nur so in Hamburg , es sei aber eigentlich gar nicht so , denn , sagte sie , warum nicht , wenn sie nett sind , dann ganz gern ; nein wirklich , dann habe sie nichts dagegen , ganz gern , aber in Hamburg glaube man das von ihr .
Und der Stolz leuchtete ihr aus allen Poren , daß sie das in Hamburg von ihr glaubten .
Eine meiner Intimsten ist die kleine , originelle Traute Riedlich , eine der reizendsten Persönlichkeiten Münchens .
Unberechenbar , pikant , launenhaft , aufrichtig , oft von größtem Charme .
Ihr Teint , weiß wie Schnee , das Haar schwarz wie Ebenholz , ihre Lippen rot wie Blut .
Sie sieht aus wie ein Kind der Liebe , das Luzifer mit einem Erzengel gezeugt .
Und Mut hat dieser süße Kobold ! zu allem , zu den extravagantesten Toiletten , zu Liebhabern , zum Geisterzitieren .
Und sie reüssiert immer .
Nimmt sie an einer Spiritistenseance Teil , so tanzen und klingen und klopfen die Tische , Früchte und Blumen fallen ihr in den Schoß , einmal erschien ihr sogar der Astralleib eines verstorbenen Schwesterchens .
Daß sie nichts weiß , nichts denkt , tut nichts .
Sie begreift nicht , wozu der Verstand da ist , er wirft doch keine Emotionen ab , und die sind das einzig Lebenswerte .
Sie ist reizend wie ein Kind , verliebt wie ein Käfer , nascht beständig Chocoladenbohnen , natürlich nur Firma Marquis .
Und immer Arm in Arm mit ihrer Cousine , Eva von Broddin , die ebenfalls graziös und zerbrechlich ist wie sie , ein wahres kleines bijou , nicht mehr ganz jung , von mütterlicher Seite Deutschrussin .
Als Gattin kann ich mir die Riedlich gar nicht denken , eher als die Geliebte eines Byron oder Heine .
Und doch hat sie einen Gatten .
Friedrich Riedlich ist auch Maler .
Er geht fast nie in Gesellschaft , weil ihm das die Arbeitszeit kürzen würde .
Er hat so viel gewaltige Ideen und ist - in seiner Meinung - unter den Lebenden der Einzige , der das Zeug hat , sie auszuführen .
Besonders häufig kommt der Geist des Rubens über ihn .
Nur findet er keine Modelle zu seinen Rubensschen Ideen .
Schweinger ist schuld daran , der läßt kein rosiges Fett mehr aufkommen , alles magert .
Er spricht mit ebenso viel Enthusiasmus von seinen kühnen Entwürfen , wie von der Inferiorität seiner Kollegen .
" Ist das ein Leib ?
Sind das Beine ? " rief er neulich mit begeisterter Entrüstung vor dem Bilde eines unserer ersten Maler aus .
Natürlich besitzen wir auch ein Bild von ihm mit sehr viel Leib und sehr viel Bein .
Ich habe schreckliche Angst vor ihm , weil sein Bild auf der Diele steht , noch dazu auf einer geliehenen Staffelei , und - in falschem Lichte .
Ach Gott , es ist so schwer mit Menschen umzugehen .
Schriftsteller ?
Die wollen immer , daß man ihre Bücher liest und kauft .
Das Kaufen ließe sich erschwingen , aber das Lesen und - Loben !
Maler ?
Nicht nur , daß man ihre Bilder kauft , man muß ihnen auch einen guten Platz geben , gerade da , wo ein Renaissanceschränkchen oder ein nützliches Möbel hinkommen sollte .
Am liebsten wären mir noch die Musiker , die komponieren doch selten , und über ihre Musik brauche ich nicht zu reden , weil ich absolut nichts davon verstehe .
Einer der eifrigsten Verehrer der Cousinen ist der französische Attache Vicomte George de Hautbois , der auf seine mangelnden Sprachkenntnisse hin Dinge sagt , Dinge - ich wiederhole sie lieber nicht , wozu Deine lieben keuschen Ohren kränken ?
Überhaupt Mutti , Mutti , Du Kind , ich habe Dich im Verdacht , daß Du nichts weißt , nichts ahnst .
Du bist nicht nur in Arkadien geboren , Du lebst noch immer in diesem naiven Schäferland , vor Erschaffung des fin de siecle , der Decadence , des Naturalismus , Nietzschianismus u. s.w. Ich öffne Dir ein Gucklöchelchen .
Überwinde den ahnungsvollen Schauder und schau ! schau !
Ich bringe die Welt zu Dir .
Schaudere nur auch getrost über mich , Dein einziges Kind ist auch schon auf dem Wege der Entartung .
Ach , Mutti , diese Wege wandeln wir alle , fast alle , wir begabten klugen Frauen , die wir in dem Zeitalter leben vor " der Umwertung aller Werte " .
Ich habe Dir nur einige Haupttypen unserer Kreise skizziert .
Mehr kannst Du nicht bewältigen , darum ein ander Mal von Hilde Engelhart , dem Professor Hennings u. s.w. Wer nennt die Namen alle , die zum Jahrmarkt des Lebens in der " Gesellschaft " hier zusammenströmen .
Alle diese Damen wetteifern miteinander in der Dekolletiertheit ihrer Kleider und der Anzahl ihrer Verehrer , platonische und weniger platonische .
Jemand , ich weiß nicht wer , hat diesen Weltkindern den Kollektivnamen Haut-goaut -Damen angehängt , nicht ganz mit Unrecht , und ich fürchte , Mutti , man wirft mich mit ihnen in einen Topf .
Das Diener ist serviert Morgen Fortsetzung .
2. September . Gott , Gott , Mutti , etwas Hochinteressantes , das , fettgedruckt , gleich am Anfang dieses ersten Briefes hätte stehen müssen .
Er ist hier !
er ! der Strotzende mit der wabernden Lohe , der komischen Nase , mit einem Wort :
Ewald de Born .
Schon seit einem Jahre leben sie in München und ich wußte nichts davon .
Man sagt , daß Mangel an Anerkennung ihn nach München getrieben , wo die " Moderne " sich noch nicht so breit mache .
Sie hatten schon vor acht Tagen ihre Karten bei mir abgegeben .
Ich schickte ihnen eine Einladung zu meinen jours , und da sind sie nun gekommen .
Er und sie .
Isolde heißt sie .
Er ist der alte biedere Barde geblieben , aber man will von alten biederen Barden nichts mehr wissen .
Er denkt , bloß in Berlin nicht .
Irrtum .
In München ist man auch helle .
Er nimmt die Feder voller als je und dichtet und troubadourt drauf los , daß die Schwarte knackt .
Und sie ?
Eine kleine herzhafte Schadenfreude hatte ich doch bei ihrem Anblick .
Nicht , als sähe sie nicht gut aus , im Gegenteil , sie ist sogar eine Straßenschönheit , richtiger eine Über- die-Straße-Schönheit .
Sie wirkt aus der Entfernung .
Ihr Hütchen ist so klein , so klein , ihr Härchen so golden , so golden .
Wer denkt daran , daß sie mindestens fünfundvierzig Jahre alt ist .
Und wie ihre Redeweise zu dem kleinen Hütchen und dem goldenen Härchen paßt , so ganz kindlich naiv . Habe ich erst ihre nähere Bekanntschaft gemacht , erfährst Du mehr von ihr .
Die beiden anderen Thees , bei der Bürgens und Frau von Gehrt , die ich , außer dem meinigen in dieser Woche mitgemacht habe , will ich auch gleich mit wenigen Worten abtun .
Frau von Gehrt , schön , elegant , parfümiert , zigarettenrauchend , ist ein mit allen Hunden gehetztes Kunstprodukt des fin de siecle , eine lustige Frau Flut , und liebedurstig , so durstig , daß sie trinkt , wo der Becher winkt .
Die Gertz haben ein Gut in der Nähe von München , und sie bringt - um der Erziehung ihrer Kinder Willen - jeden Winter einige Monate hier zu .
Sie ist ein Chamäleon , schillernd zwischen häßlich , hübsch und reizend , ganz wie ihre rote Toilette .
Oder war sie schwarz ?
Undefinierbar spielten die Farben ineinander .
Ultrakokett .
Kaperte gleich mit ihren Basiliskenaugen den schönen Maler Raphael Fernmor , der aussieht , wie einer vom Stamm der Asra , welche sterben , wenn sie lieben , es aber nicht tun .
Das heißt , sie wollte ihn kapern .
Er liebt mich aber .
Sonst tut er den ganzen Tag nichts , träumt , liegt auf der Straße , zieht sich raffiniert an , immer eine Blume im Knopfloch , eine Rose , und besucht jeden Nachmittag eine hübsche Frau .
Da er von mir nichts zu erwarten hat , wird er sich wahrscheinlich nächstdem in Timäa oder Frau von Gehrt verlieben , die dazu nach jeder Richtung hin geeignet sind .
Bei der Gehrt ein echter , rechter jour , wie er sein muß , weltlich , oberflächlich , amüsant , sehr adlig , leicht flüssige Konversation , männerreich , was immer für besonders ehrenvoll gilt .
Der Salon , kapriziös eingerichtet , in allen Farben gedämpfte Lampenschirme , zu essen nichts , aber Zigaretten .
Die Wirtin , ein reizendes grünes Sammetkleid und zu hübsch gefärbtes Haar .
Eine Mischung von Künstler- und Aristokraten-Atmosphäre , nicht ohne Charme .
Einzelne Herren und Offiziere vorherrschend .
Der bürgerliche Regierungsrat Hellschmied erklärte die Adligen für bevorzugte Menschen , die nun aber auch zeigen müßten , daß sie wirklich aus besserem Stoff seien , und eine Frau Hahnemann , née Baronesse Fink , behauptete ( natürlich pro domo ) eine Adliggeborene bleibe immer adlig , möge kommen , was da wolle , ( möge sie selbst auch aus sehr unnoblen Gründen einen reichen Bankier geheiratet haben ) .
Einen Baron , neben dem ich eine Weile saß , verletzte es sehr , Christus und den buckligen Märchenschneider in " Hannele " zusammen auf der Bühne sehen zu müssen , obschon er durchaus religiös - freisinnig sei .
Lebhaft wurde eine Theater - Affäre besprochen .
Der alte aristokratische Intendant hatte seinen Abschied genommen .
Ein bürgerlicher , sehr leistungsfähiger Direktor war an seine Stelle getreten .
Kopfschütteln unter den Damen .
Mein Gott , wer soll denn da nach oben vermitteln und verkehren ?
Etwa Exzellenz Schmidt ?
Gelächter .
Und das im Zeitalter , wo die Erde dröhnt von dem Vormarsch der Millionen mit der schwieligen Faust .
Da sind wir Berliner doch bessere Menschen .
Frau von Gehrt meinte unter anderem , der Winter ließe sich so langweilig an , man müßte sich aufraffen und irgend etwas Lustiges unternehmen ; es fiel ihr aber nichts ein .
Vorläufig hat sie sich aber zu dem Lustigen drei neue Kleider machen lassen , und unter dem moralischen Zwange dieser wertvollen Anschaffungen fällt ihr mit der Zeit gewiß noch etwas ein .
Als zwei veritable Fürstinnen Arm in Arm in den Salon traten , zog ich mich zurück , um noch acte de presence bei Frau Bürgens zu machen , deren jour auf denselben Tag fiel .
Kein echter und rechter jour , ein wenig Monde à cote mit stattlichen titeln .
Die Bürgens will nur den Salon füllen und nimmt die Leute , où elle les trouve . Darum einige Putzbaroninnen , auch eine ci-devant Schönheit , schlechter Ruf , kein Geld , gemalt , gefärbt , obgleich alt und auf " Figur " gekleidet .
Sie soll aber amüsant sein .
Das weiß ich nicht , denke mir aber , sie wird wohl unanständige Geschichten erzählen , das ist ja für die Monde immer amüsant .
Ein paar belanglose Bürgerliche .
Das Prinzip mancher Salons ist ja : je Pelle - maler , je besser .
Abenteurer in Moireewesten neben Ministern u. s.w .
Die Wirtin , née Peterson , hatte ihren weltlichen Tag , drehte dauernd Zigaretten zwischen den Fingern , die nicht Feuer fangen wollten , und bediente sich ebenso dauernd ihrer langen Lorgnette aus Fensterglas , und über dem Ganzen ein unvertilgbarer Hauch hamburgischer Spießbürgerlichkeit .
Dazu schlechter Tee .
Die vornehme Alabasterlampe roch ein wenig , aber alles kann der Mensch nicht haben .
Dafür reist sie in der nächsten Zeit auf zwei Monate nach Paris und hat sich bis an den Hals ( teilweise nicht ganz so weit ) mit Toiletten versehen .
Man sprach viel vom Cirkus- und sonstigen Gäulen , und die Konversation wurde französisch geführt , weil eine Baronin - die vollkommen gut deutsch , sprach - Ausländerin war .
Die Bürgens schwoll vor Stolz obwohl kaum zwölf Personen anwesend waren , und zum größten Teil Damen .
An ihrem vorigen jour , renommierte sie , wären zwanzig Personen gekommen , da sie aber keine Namen nannte , wird es wohl Creti und Pleti gewesen sein .
Denke nur nicht , lieb Mütterlein , daß meinen Schilderungen Herzensbosheit zu Grunde liegt .
Ich bin wirklich nicht medisant .
Die Damen sind doch so .
Ich gebe Dir in meinen flüchtigen Schilderungen nur schwache Reflexe der Wirklichkeit .
Ich erkenne ja gern an , daß alle , oder fast alle diese Haut - goût - Damen reizend , temperamentvoll begabt sind .
Sie haben einen Überschuß von Herz , Phantasie , Tatkraft .
Wohin damit ?
Ich weiß ja auch nicht , wohin damit .
Brachliegende Felder produzieren Unkraut .
Über den Höhen mit ihren Sternen ist für Frauen die Lokalsperre verhängt .
Da bleiben sie hübsch in den Niederungen , wo die Irrlichter ihre flimmernd gespenstigen Lockungen tanzen , und walten da als Nymphen , Nixen , Sphinxen , Vampire , Melusinen , und wie die Fabelwesen alle heißen mögen , ihres unnatürlichen Amtes .
Ja , wenn sie Bismarcks werden könnten , oder Helmholzes , oder Millionäre Banquiers , oder etwas ähnliches .
Aber so !
Keine Lorbeeren , kein .
Eichenlaub , nicht einmal Titel und Orden .
Bloß Dornen ?
Da kränzen wir lieber das Haupt mit Rosen , mit roten Rosen .
Jolante freilich , meine Jolante , die würde auch gegen Dornen nichts haben .
Ja , weißt Du denn , wer Jolante ist ?
Gott war ihr gnädig , als er sie zur Baronesse machte . -
Wäre Baronesse Jolante Mühlheim nicht Aristokratin mit einflußreichen und reichen Verwandten , man hätte sie längst an die Luft gesetzt .
So begnügt man sich über sie zu kichern , gelegentlich auch laut zu lachen , sie für einen Spaßvogel passieren zu lassen und sie , wenn sie einmal gar zu deutlich wird , z.B. die Damen " faule Sündenknüppel " nennt , dahin zu wünschen , wo der Pfeffer wächst .
Meine Jolante !
Eine Engelnatur .
Aber ein Engel mit dem feurigen Schwerte , das dreinhaut .
Alle Konterbande der Gesinnung spürt sie auf und schleppt sie auf die Anklagebank .
Sie pflegt meistens wie eine Bombe in unsere Kreise hineinzuplatzen , mit irgend einer gedruckten Trophäe , die sie einem Täschchen von Rehleder entnimmt , das sie unentwegt am Arme trägt .
Sie ist immer begeistert oder empört , immer bringt sie Kunde von irgend etwas Herrlichem oder Schrecklichem , das geschehen .
Sie haßt den Krieg , die Todesstrafe , den Antisemitismus .
Was " Mensch " heißt , ist ihrer Sympathie würdig .
Sie ist Vegetarierin , Mitglied des Tierschutz- , des Jugendschutz- , des ethischen- und vieler anderen Vereine .
Von ihren blauen Augen sagte Ferlani , sie wären so hell , weil sie überall Licht aufsaugten , während die meinigen so dunkel blickten , als kämen sie aus Abgründen .
Jolante wäre hübsch mit diesen schönbewimperten Augen und dem vollen , farbigbraunen Haar , wenn sie nicht einen ganz kleinen Höcker hätte .
So klein er ist , aber der Liebhaber würde sich doch immer daran stoßen , trotz des dunklen Schals , mit dem sie ihn bedeckt .
Ich glaube , so ist unter all den Menschen hier die Einzige , die wahrhaft Teil an mir nimmt .
Und von dieser liebwerten Jolante sagt die boshafte Timäa , sie habe sich einen Charakter angewöhnt , um durch irgend etwas zu imponieren , da ihr die Grazien in den Rücken gefallen wären .
Ich habe zwar keine Grazien , wohl aber gute Freundinnen , die mir in den Rücken fallen .
Ich soll herzlos sein und kalt , die Gehrt soll sogar geäußert haben , kalt wie eine Hundeschnauze , und gar nichts hätte ich als meine verdammte echt norddeutsche Kritik .
Es ist ja wahr , Imagination habe ich keine .
Ein träumerisches Gemüt bin ich auch nicht .
Zu keiner Kunst das geringste Talent .
Ob zur Gattin ? weiß ich_es ?
Ob zur Mutter ? meine Kinder sind ja gestorben .
Aber gelt , Mutti , Herz habe ich doch ?
Der Professor G. hat es doch schon in der Schule entdeckt .
Und ich liebe Dich ja , und die Sonne liebe ich und die Blumen , überhaupt die Natur , und die Bücher liebe ich , etliche unter ihnen mit intimster Busenfreundschaft .
Merkwürdig , wenn ich nicht lieben , fühlen und denken kann , wie diese Damen , warum lebe ich denn so ?
Ist es eine undefinierbare Lust am Rausche , an herrlichen Bildern , an Grazie , Schönheit , flutender Bewegung ?
Die Lust , eine Schranke zu überklettern , über irgend einen Zaun zu sehen , oder der Schauder , mich andernfalls rettungslos ins platt Bürgerliche zu verlieren ?
Vielleicht auch , um von Benno ein wenig loszukommen ?
Dem guten Benno !
Ich weiß es ja , das Niveau dieser Gesellschaft ist niedrig .
Man sieht gleich auf den Grund , und der ist trüb und schlammig , oder steinig .
Kein Meeresleuchten , keine Perlen und Korallen , keine versunkenen Städte , keine Nixen und Meergötter .
Ich möchte ja gern nur mit ernsten , gehaltvollen Menschen umgehen , Männern und Frauen ; gewiß , sie existieren .
Aber wo ?
Wollen wir Palmen sehen , gehen wir nach Sizilien , suchen wir Orangen- und Zitronenwälder , wir finden sie in Italien .
Die Adelsmenschen aber , die sind über den ganzen Erdkreis zerstreut , und an keinem Merkzeichen sind sie erkennbar .
Und hätte ich Jolante nicht , und könnte ich Dir , Einzige , nicht alles sagen und klagen , ich wäre längst zur klingenden Schelle geworden oder zum tönenden Erz .
Erz ? Nein - Blech .
Ich küsse Dich zärtlich .
Sibilla . 19. September . Schönen Dank , Mütterlein , für Deinen lieben , lieben Geburtstagsbrief und die Geschenke .
Du ersinnst doch immer etwas , das mir Freude macht , und das ist nicht leicht .
Ich bin ja so wunschlos , weil ich die Lendemains der erfüllten Wünsche kenne .
Benno will auch immer , daß ich mir zum Geburstag und zu Weihnachten etwas wünschen soll .
Da sagte ich neulich : saure Kirschen , nur um ihn los zu werden .
Und richtig , er hatte irgend woher , aus dem Süden , saure Kirschen verschrieben - zu saure .
Unter den Kirschen aber , wie der Dolch unter Myrten , lagen Perlenschnüre und allerhand andere Kostbarkeiten , wie sie ein anspruchsloses , wunschloses Gemüt braucht .
Auch ein schönes Bild war aufgebaut .
Ich stehe mir so verlegen vor Geschenken , muß mich so bedanken für Sachen , aus denen ich mir im Grunde nichts mache .
Und so viel Blumen !
Viel zu viel .
Alles Massenhafte wirkt wie Lärm auf mich .
Ich hielt den Tag über förmlich Cour ab .
In aller Morgenfrühe , um die elfte Stunde , als erster Gratulant natürlich Ferlani , der sich immer mehr zu meinem aristokratischen Brackenburg auswächst .
Im allgemeinen , da er weiß , daß von mir nichts zu erhoffen ist , begnügt er sich mit der Rolle des liebenswürdigen und beratenden Freundes , zuweilen begnügt er sich auch nicht , besonders wenn ein anderer - - Sage ich es Dir , Mutti ? sage ich es Dir nicht ?
Soll ich es an den Knöpfen abzählen ?
Nein .
Entweder sage ich Dir alles , oder nichts .
Mutti , ich bin verliebt ! verliebt ! verliebt !
In Deiner Überschätzung meiner wirst Du mindestens annehmen , daß ich es unter einem Ibsenschen Adelsmenschen oder einem Nietzscheschen Übermenschen nicht täte .
Weit vom Schuß .
Er ist schön und er liebt mich .
Voilà tout . Was er ist ?
Denke Dir - nichts ; das heißt so halb und halb ist er Maler , unterscheidet sich aber vorteilhaft von seinen Kollegen dadurch , daß er einen nie auffordert seine Bilder zu sehen und zu - loben , woher es denn kommt , daß noch nie ein Sterblicher etwas von ihm Gemaltes erblickt hat .
Vielleicht malt er auch bloß , weil er zufällig Raphael heißt .
Nun hast Du ihn erraten .
Außer Maler ist er auch ein Vulkan , und immer mit einer Rose im Knopfloch .
Und wie ein Vulkan liebt , kannst Du Dir denken .
Und schön ist er , wie ein junger Gott .
So einen goldenen Menschen hat noch nie ein menschliches Auge erblickt .
Sein kurzgeschorenes Haupt ist nicht blond , nicht braun , nicht rot , Gold ist_es , eitel Gold , dito der Vollbart .
Er spricht nicht viel , er denkt wohl auch nicht viel , er behilft sich mit Strahlen : Helios im Sonnenwagen .
Sage Mutti , hat die Ästhetik keine Existenzberechtigung in der Liebe ?
Findet man es doch ganz in der Ordnung , wenn der Mann im Weibe die Schönheit , und nur die Schönheit liebt .
Irgend ein renommierter Schriftsteller sagt sogar : " Schönheit ist die Mission des Weibes , und nur unter dieser Bedingung existiert es . "
Wie ?
Den verstand- und vernunftstrotzenden Männern spricht man das Recht zu , um des physischen Vorzugs der Schönheit Willen zu lieben , und wir schwachen Weiber , wir Oberflächlichen , Vernunftarmen sollen unsere Herzen nur an Charaktere und starke Geister hängen ?
Wir sollen die Liebe mittels der Vernunft , die Männer sie aber durch die Sinne empfangen ?
Das ist ja umgekehrte Welt , Widersinn !
Widersinn - ja .
Wie komme ich dazu , von irgend etwas auf diesem Erdenrund Sinn zu verlangen !
Ich sehe ihn täglich , sei es bei mir , sei es an irgend einer unerwarteten Straßenecke .
Und den Ferlani sehe ich auch täglich , und ich treffe ihn auch sehr oft an Straßenecken .
Natürlich finden sich die Beiden häufig in meinem Salon zusammen , wo denn ihre Feindseligkeit recht pikant durch die höflichen Gesellschaftsformen hindurchschimmert .
Mein Raphael erduldet die geistreichen Tiraden Ferlanis , ohne mit der Wimper zu zucken .
Er sieht mich nur an mit seinen glänzenden Augen , die sagen : laß ihn nur reden mit seinen kleinen Kalmückenaugen ( das eine Ferlaniauge sieht sogar mit einem falschen Schielen verquer ) , vor der Hoheit meiner Gestalt zerfällt alle sein Geist in nichts .
Am Vormittag meines Geburtstages gab ein Gratulant dem anderen die Türklinke in die Hand .
Ferlani hielt stand , Raphael floh , als Frau Bürgens mit einem enormen , auf Draht gezogenen Rosenbouquet acte de presence machte .
Sie war eben erst von einer Reise nach Rom zurückgekehrt .
Man fragte nach ihren römischen Eindrücken .
" O Gott , " seufzte sie als Antwort , " was ich inzwischen hier alles versäumt habe , die Marisson und die Spitzer " - - das sind , wie Du vielleicht nicht weißt , zwei berühmte Wiener Schneiderinnen , die in jedem Winter auf acht Tage nach München kommen , um Bestellungen der eleganten Welt einzuheimsen .
Auch römische Eindrücke !
Und nun wisse sie gar nicht , was für ein Kleid sie in der Gesellschaft bei der Baronin Burgdorf anziehen solle .
Ihr elegantestes kenne alle Welt schon , das zweitbeste sei eine Imitation des Kostüms der Kommerzienräten Meyer .
Unglücklicherweise wäre diese Meyer auch eingeladen , und den Triumph dürfe sie ihr doch nicht gönnen u. s.w. Timäa trat ein , und Frau Bürgens , die ihren Spott fürchtet , brach das Thiolettengespräch ab und suchte ihr und mir durch die Mitteilung zu imponieren , daß der berühmte Schriftsteller X. und der ebenso berühmte Maler Y. ihren nächsten jour besuchen würden .
Sie hätte sich durchaus um diese Herren nicht bemüht , o nein , so wäre sie nicht , ganz von selbst hätten sie ihre Besuche gemacht .
Übrigens sei sie gern bereit , wenn ich es wünschte , Herrn X. und Herrn Y. bei mir einzuführen .
Zu ihrem Bedauern wünschte ich es durchaus nicht , zöge es sogar vor , meinen Salon mit dem , was unsterblich von ihnen ist , mit ihren Büchern und Bildern zu schmücken .
Ich mache mir übrigens wirklich nichts aus berühmten Leuten im Salon .
Man drängt sich immer um sie , die anderen Gäste sind böse darüber und langweilen sich , und eine Gesellschaft soll doch für jeden Einzelnen fruchtbar sein .
Frau Bürgens empfahl sich etwas gereizt mit ihren refüsierten Berühmtheiten .
Es ist eigentlich Unrecht , daß wir sie immer necken und ärgern .
Wir haben doch alle unsere Schwächen .
Und Timäa wohl nicht ? Z.B. die hat nie Zeit .
Sie ist immer erregt , immer aufs lebhafteste mit irgend welchen Plänen beschäftigt .
Augenblicklich ist sie fest entschlossen , erstens : eine nicht mehr ganz junge Nichte zu verheiraten .
Zweitens : alle Hebel für das Aufkommen einer verkrachten Familie in Bewegung zu setzen .
Drittens : die protestantische Traute zum Katholizismus zu bekehren und viertens : singen zu lernen .
Durch all ihre feinen und großen Gespinste aber zieht sich wie ein roter Faden immer irgend eine Herzensaffaire , zuweilen nur ein Funkenstieben , öfter aber eine Feuersbrunst .
Ferlani hat sie Frau Venus getauft .
Da gerade unter den Gratulanten einige Unverheiratete waren , brachte sie geschickt das Gespräch auf ihre Nichte , deren Vorzüge sie pries .
" Habe ich nicht recht , lieber Graf , " wandte sie sich an Ferlani , der die Nichte kannte .
Er antwortete in seiner phlegmatisch süffisanten Art , er liebe Weintrauben nur , wenn sie gekeltert und junge Mädchen nur , wenn sie einige Jahre verheiratet seien , am allerwenigsten aber dann , wenn sie schon jahrelang verheiratet sein könnten .
" Oho ! " rief Timäa erzürnt , " ziemen sich solche Dekadencewitze für den konservativen Agrarier ; der im Parlament seine Reden für die Heiligkeit der Familie , Ehe , Religion u. s.w. mit Donnerkeilen und Pfuis würzt ?
Zweierlei Moral , mein Herr Graf ? "
" Schöne und geistesgewaltige Timäa , " entgegnete Ferlani , " viele Dinge auf Erden und im Himmel sind Ihnen kund geworden , nur die Politik nicht .
Staatsklugheit und Weltweisheit ist eben zweierlei .
Gerade weil ich Volksvertreter bin , rede ich im Parlament nicht was mir , sondern was dem Volke frommt . "
" Gott , Sie Übermensch mit Ihrer schwächlichen Sophisterei , " spottete Timäa .
" Das wird ein Spaß werden , wenn wir Frauen erst in den Reichs- und Landtagen sitzen , und Euch Blitzeschleuderer als komische Operetten-Jupiterleins entlarven werden .
Wir haben die Sachkenntnis . "
Sie verfährt immer recht unglimpflich mit meinem Brackenburg .
Weil es nicht der ihre ist vielleicht ?
" Wissen Sie , " flüsterte Ferlani mir zu , " warum ich Timäa Frau Venus getauft habe ? "
- " Wegen ihrer griechischen Haarfrisur etwa ? "
- " Nein , weil immer ab und zu irgend ein Tannhäuser aus ihrem Hörselberg auskneift . "
Jolante trat ein , wie immer in Aufregung .
Sie hatte wieder so viel Niedriges erfahren , und jetzt käme sie zu mir , um sich ein bißchen moralisch zu verschnaufen .
Na Mutti , eine große Menschenkennerin ist meine Jolante nicht .
Sie schwärmte von einem großen universellen Bund , den sie stiften wollte , einem Bund aller guten Menschen .
Na , meinte Ferlani , dann solle sie sich nur die Laterne des Diogenes anschaffen , um Mitglieder zu suchen .
O , es gäbe viele , viele gute Menschen , nur müsse man verstehen die Seelen richtig anzubohren , damit der Quell des Guten hervorspränge .
Ob die Guten etwa durch Selbsteinschätzung ihre Zugehörigkeit zum Bunde erklären sollten , fragte Ferlani mit überlegenem Spott .
Nein , nur gut sein wäre nicht genug .
Durch Taten im Sinn der Menschenliebe müsse die Mitgliedschaft erworben werden .
Taten wie Trompetenstöße , die Schlafende wecken , auf zum Kampf !
Oder Taten wie Schalmeienklang , die in zerrissene Seelen Frieden tragen , oder Taten wie ein Läuten an der Burg Gottes , daß die geharnischte Gerechtigkeit herausschritte , mit Palmen geschmückt .
Allerseelen-Bund sollte der Name des Bundes sein ; denn der nur habe eine Seele , eine Seele aus Gottes Hand , der zum Wahrspruch seines Lebens die herrlichsten aller Dichterworte gewählt :
" Seid umschlungen Millionen , diesen Kuß der ganzen Welt . "
Was für eine inbrünstig Gläubige ist meine Jolante , Mutti .
Nicht nur an die Menschheit glaubt sie , sondern auch noch an jeden Einzelnen .
Heilig ist ihr der Mensch .
Sie sah in ihrer Begeisterung beinahe schön aus mit ihren hellen , hellen Augen .
Ich fiel ihr um den Hals , ich nannte sie " Du " , ich küßte sie mit dem Kuß der ganzen Welt .
Reine Güte wirkt auf mich stark und befreiend wie Bergluft .
Als ich aufsah , bemerkte ich , daß Ferlani aus der Tür Schlüffen wollte .
- " Mephisto , der vor dem Kreuz flieht , " rief ich ihm nach .
Er habe mit einer Tat den Anfang machen wollen , indem er als Böser sich den Guten aus dem Wege räume .
" Gehen Sie nur , " sagte Jolante , " was geht Sie auch das Elend der Welt an ?
Sie sitzen in Ihrer Beletage in der Maximilianstraße bei Ihrem Diener von vier oder fünf Gängen , und gehen , wenn es kalt ist , in einem dicken Zobelpelz spazieren .
Hunger und Kälte gibt es nicht , weil Sie sie nicht fühlen . "
" Irrtum , Baronesse , ich hatte einen Freund , der schoß sich tot , weil der Arzt ihm jeden Tropfen Wein verboten , und er verschmachtete danach .
Das Leiden ist dasselbe , ob die Not oder ob der Arzt einem die irdischen Genüsse verbietet .
Ich z.B. hungere und dürste leidenschaftlich , wenn auch nicht nach materieller Speise , ich verschmachte nach - - "
Ein eisiger Blick von mir hielt seine Zunge im Zaum .
Verdrossen setzte er hinzu : " Bekümmert sich das Volk um mein Elend ?
Bedauert mich der Proletarier , daß ich nicht haben kann , was ich ersehne ?
Opfer hüben und drüben - Menschenlos , Baronesse !
Menschenlos ! "
Schon auf der Schwelle , wandte er sich noch einmal zurück .
" Wo sind Sie eigentlich geboren , Baronesse ?
Ich schwanke zwischen Utopien , Arkadien oder einem olympischen Hain . "
" Ich würde den olympischen Hain vorziehen , " antwortete sie , " da wohnen Götter . "
" Gleich mehrere ? "
" Eigentlich habe ich nur einen Gott : die Gerechtigkeit . "
" Auf Dich , Sibilla , rechne ich für unseren Bund , " sagte sie , als Ferlani gegangen war .
Ich schüttelte wehmütig mein Haupt .
" Ich und Taten tun , Jolante ! "
Ich solle nur erst ganz klein anfangen , meinte sie , z.B. in den nächsten Tagen mit ihr zu den Armen gehen .
Aber jetzt könnte ich wirklich nicht , wehrte ich ab , vielleicht später - nach dem Karneval .
" Nach dem Karneval , " sagte sie leise , und sah mich so eigen an .
Ich verstand sie , aber ich weiß , Mutti , ich bin unbrauchbar für diese kleinen Detaildienste .
Ich weiß im voraus , ich werde Mitleid bis zum Grauen empfinden , ich werde entnervt - was der Franzose ecoeure nennt - nach Hause kommen , und ein Bad nehmen , na - darum .
Wozu solche Emotionen aufsuchen ?
Ich schäme mich ja auch so schon , daß es mir so gut geht , obwohl es mir eigentlich gar nicht so gut geht .
Im Gegenteil .
Ich bin nicht so grob geartet , daß ich nötig hätte , das Elend zu sehen , um daran zu glauben und zu helfen .
Ich habe eine Art Püdeur vor dem Glorienschein der wohltätigen Fee .
Peinlich , der Dank der Armen , als bedankten sie sich für etwas , das ihnen von Rechts wegen zukommt , und als schmückte ich mich mit fremden Federn .
Das ungefähr sagte ich Jolante .
" Aber nach dem Karneval , da gehst Du mit mir ? "
Sie sagte es mit traurig - lieblichem Ernst .
Ich versprach_es .
Die liebe , liebe Jolante !
Du viel , viel liebere Mutter !
Müßte ich nicht wie die Perle im Golde zwischen Euch beiden sitzen ?
Perlen sollen ja eine Krankheit der Muschel sein .
Ja , Mutti , ein Krankheitsprodukt in der großen Muschel Welt - das bin ich .
Jetzt muß ich zur Schneiderin .
Nachher Fortsetzung .
Also : Abends hatten wir zur Feier des Tages eine kleinere Gesellschaft geladen .
Timäa und Traute mit ihren Gatten , Professor Hennings und Professor Krausen , Jolante .
Ferlani und Raphael selbstverständlich , außerdem noch ein paar Maler .
Gegen 7 Uhr kamen uneingeladen Borns zur Gratulation , die wir gleich zum Abendessen dabehielten .
Professor Hennings ist eine wissenschaftliche Größe , mit dem Aussehen eines Waldmenschen , dem Zylinder eines Possenreißers und den Manieren eines von der Kultur noch unbeleckten Wilden .
Seinen Tee pflegt er in die Untertasse zu gießen und dann hörbar auszuschlürfen .
Eigentlich ist er sehr interessant , aber nur zu genießen , wenn man allein mit ihm ist , und dann bringt er einen um .
Die Feier fing recht lebhaft , wenn auch nicht gerade geburtstagsmäßig an .
Daran war das Bild , das Benno mir geschenkt hatte , schuld , und auf das sich von vornherein die Aufmerksamkeit konzentrierte .
Ein reizendes Bild .
Der Maler - einer der jüngsten von den Modernsten .
Rosenrote Wolken , himmelblauer Himmel .
Frische Schöpfungsfreudigkeit , ein Paradieseshauch darüber .
Zwei nackte Menschen in der Landschaft , keusch und frisch wie der junge Morgen , so unschuldsvoll , so selbstverständlich nackt , daß daneben bekleidete Gestalten einem unnatürlich , widersinnig vorkamen .
In dem Kunstgespräch , das sich daran entwickelte , platzten gleich die Geister aufeinander .
Man haranguierte Benno , wie er ein solches Bild habe kaufen können .
" Aber ich bin doch Kunstmäzen , " verteidigte er sich ganz naiv , " und da dachte ich , ich müßte der neuen Richtung ein bißchen unter die Arme greifen . "
Man fand das Bild unmöglich , lächerlich , und hageldicht fielen die Stich- und Schlagworte von dem Mangel an Idealität , vom Kultus des Häßlichen , dem Verrat an Wahrheit , Schönheit u. s.w .
Und die Rufe :
Hier Uhde , hie Liebermann !
Hier Rubens und Tizian ! schwirrten leidenschaftlich durcheinander .
Auf meiner Seite stand nur Gregori und natürlich Raphael .
Professor Hennings meinte , es gäbe heutzutage wohl noch Maler und Bildhauer , aber keine Kunst mehr .
Höchstens wolle er drei Künstler gelten lassen : Thoma , Böcklin und Hildebrandt .
Und die moderne Landschaft - vulgäres Handwerk .
Kunst - nur die Landschaft auf den alten italienischen Biedern von Perugini und seinen Zeitgenossen .
Das fand Riedlich denn doch sehr einseitig , wenn auch die Bestrebungen der Genannten immer noch besser seien als die moderne Leidenschaft , alte armselige Weiber zu malen , mit oder ohne Eimer , mit oder ohne Besen , mit welchen Requisiten sie über dreckige Dielen , über Felder oder am Meeresstrande einherzuschlurren für ihre Aufgaben hielten .
Jolante , die eigentlich von Kunst nichts versteht , spitzte die Ohren .
Sie kann es nicht mit anhören , daß man irgend welche Armen und Elenden , wenn sie auch nur auf Bildern vorkommen , verunglimpft , und sofort warf sie sich zum Ritter der Armeleutemaler auf .
Ob der Herr Professor nicht bemerkt hätte , daß ein Zug durch die Welt gehe , alles , was man bisher mißachtet , ans Licht zu bringen , ein Zug ungeheuren , sozialen Mitleids !
Sie halte das Herz für die Quelle aller echten Kunst , und darum , wenn diese armen alten Weiber nicht etwa nur angelerntes oder nachgeahmtes wären , sondern ihnen direkt aus den Herzen flössen ( Jolantes Worte ) , so wären die Armeleutemaler sicher echte , recht Künstler .
Man lächelte und ihre Apostrophe wäre ohne Antwort geblieben , wenn nicht Isoldchen mit ihrer Flötenstimme Partei gegen sie genommen hätte .
Wie die Baronesse nur Mitleid und Kunst vermengen könne !
Schmutz bleibe Schmutz und Kunst - Kunst !
Es passierten jetzt aber wirklich unglaubliche Dinge in der Kunstwelt .
In Wien z.B. ( sie hätten sich dort auf der Rückreise im Herbst einige Tage aufgehalten ) da stände auf einem der vornehmsten Plätze ein Denkmal von einem sogenannten berühmten Bildhauer .
Am Sockel des Denkmals zwei weibliche Figuren , die Poesie und Philosophie darstellend .
Und sie wisse es ganz authentisch , zur Philosophie habe ihm ein dem Trunke ergebenes Proletarierweib , und zur Poesie eine Kellnerin gesessen .
Unfaßlich , wie man einem so sittenlosen Schlingel , wie dieser Apologet betrunkener Proletarierweiber , und der gewiß auch nicht immer nüchternen Kellnerin es notorisch sei , die Ausführung eines patriotischen Denkmals habe übertragen können .
Da wäre doch in Wien der Bildhauer X. ( ich habe den Namen vergessen ) , dessen Moralität über allem Zweifel erhaben sei - " Ja , über allem Zweifel , " unterbrach sie Gregori trocken , " ebenso wie seine Talentlosigkeit .
Der sittenlose Schlingel aber ist ein Genie . "
" Ach , Sie Spaßvogel , " zirpte Isoldchen und wandte sich dann an Timäa .
" Nicht wahr , Frau von Gregori , Sie sind meiner Meinung ? "
" Ach was , " wehrte Timäa ab , " ich bin in der Kunst für Feuerzauber ! " ( Zwischenrufe : " Aha , Wagner. " ) Sie hatte sich in den Fauteuil zurückgelehnt , und aus ihren halbgeschlossenen Augen fuhr ein schwefelfeuriger Blitz , der auf Riedlich gemünzt war und auch einzuschlagen schien .
Die gemalte Serpentindame , das wäre ihr Fall , durchseeltes Anilin .
Sie sprach entzückt von einem Bild auf der letzten Ausstellung :
" Der Maskenball " .
Wie da aus Pantalons , Lampions und allerhand Fratzen brechende Feuerflammen , durch elektrisch geladene , glühende Lüfte gerast seien !
Und die Bilder der Schotten , die wie brennende Kaleidoskope wirkten .
Jawohl - die Apotheose der Kleckse ! schrie man durcheinander .
Solche Bilder sollte man zum Reinigen zu Spindler schicken .
Riedlich rief , er hätte augenblicklich ein prächtiges Modell für diese Kleckser und ihre grünlich - blaue Schule .
Sein Diener sei die Treppe heruntergefallen u. s.w. Traute drohte ihrem Mann :
" Aber Georg ! "
- " Die Schotten gehen Dich ja nichts an , liebes Kind , " beschwichtigte er , " ich lasse Dir ja Deinen Gabriel Max . "
Ja , das sei ihr Mann .
Sie liebe in der Malerei das Verklingen , Verträumen , Verbluten , zartgebrochene Töne wie aus einem verzauberten Harmonium , oder mystische Schatten , hinter denen ein Neuland der Seele locke .
Sie wandte sich zu Gregori :
" Sie , Gregori , nähern sich ja dem Geisterreich , indem Sie wenigstens das Irdische fast unsichtbar machen . "
Der arme Gregori ist in Traute verliebt .
" Möchten Sie mir nur ein einziges Mal sitzen , " bat er , " und ich würde das Überirdische schon sichtbar machen . "
Sie schüttelte den Kopf , sie möchte noch nicht ins Schattenreich .
Die Worte taten ihr aber gleich leid , als sie sah , daß er zusammenzuckte , und sie versprach ihm eine Sitzung , aber erst im Sommer , wenn er nach Berchtesgaden käme .
In der Nähe ihrer Villa sei ein See , am Rand des Sees wolle sie für ihn , ganz Ophelia , in irrer Schwermut malerische Kränze flechten .
Eva Broddin saß immer irgendwo in einer reizenden Pose , und flüsterte mit irgend jemand zusammen .
Von den jüngsten Malerschulen zu den jüngsten literarischen Richtungen war nur ein Schritt .
Ewald de Born tat ihn , indem er verkündete , daß er auch schwarz in die Zukunft der Dichtkunst sähe .
Der moderne , widrige Geschmack vergifte den reinen castalischen Quell aller wahren Poesie , und was das ärgste wäre , diese Giftdünste lähmten allmählich auch die Flügel des Genies .
" Doch nur , " warf Gregori ein , " wenn die Flügel von Wachs und ihr Besitzer Ikarus ist . "
" Ob etwa ihr Ewald Flügel von Wachs habe ? " fuhr Isoldchen auf .
Gregori , der den Einwurf überhörte oder überhören wollte , bestand darauf , daß Sterne nicht erlöschen , nur kleine Lichter blase ein frischer Windzug aus .
Wo wäre denn das große Werk der bildenden oder der poetischen Kunst , das die moderne Richtung unterdrückt , die moderne Kritik totgeschwiegen hätte ?
Ein " Oho , oho ! " antwortete ihm .
- " Namen nennen ! " verlangte er .
Sekundenlanges Schweigen .
Born räusperte sich : " Hm ! hm ! "
Er stammelte , er wollte sagen : " Und ich ? " und brachte es doch nicht über die Lippen .
Riedlich wollte auch sagen :
" Und ich ? " und brachte es auch nicht über die Lippen .
Schlankweg sprang wieder Isoldchen in die Bresche .
Ob Gregori nicht im Theater gewesen wäre , als man die " Hohenstaufen " ihres Ewald aufgeführt ?
Und wie habe sich das Publikum und die Kritik diesem - sie könne nicht anders sagen als Meisterwerk gegenüber verhalten ?
Ablehnend , total ablehnend , nach der zweiten Aufführung beiseite geschoben .
Nach den Worten seiner Gattin sah sich der Dichter erwartungsvoll im Kreise um .
Schweigen .
Endlich raffte Riedlich sich auf .
Born habe recht , tausendmal recht .
Es seien nicht die Götter , die die Titanen ( er meinte uns Titanen ) stürzten von oben , sondern der Kunstpöbel von unten .
Eine Schmach , wie jetzt die ältesten , bewährtesten Maler sich in das Fahrwasser der Moderne forttreiben ließen , und plötzlich anfingen violette Kohlköpfe und violette Kinder zu malen .
Ja , wer hätte früher gedacht daß es so viel Violett in der Natur gäbe , stimmte Ferlani zu .
Born rief , er würde nie violett dichten , er bliebe bei Purpur .
Inzwischen hatte man sich zu Tisch gesetzt .
Und da die Streitaxt immer noch geschwungen wurde , bat ich , da doch mein Geburtstag wäre , um die Erlaubnis , auch einen kleinen Kunstspeech halten zu dürfen .
Mein Vorschlag wurde mit Akklamation aufgenommen .
Und also sprach Sibilla Dalmar :
" Riedlich , Ewald de Born und die meisten von Ihnen meine Herren - und Damen natürlich auch - sind der Meinung , daß die moderne Richtung einen Despotismus ausübe , der alles , was anders malt oder dichtet als er vorschreibt , ecrasieren will ? "
Ja , ja ! schallte es im Chor .
- " Nein , Nein ! " kam es von meinen Lippen zurück .
" Umgekehrt wird ein Schuh daraus .
Die Parole , die die neue Kunstrichtung ausgibt , heißt :
Gar keine Kunstrichtung !
Sie heißt : Fort mit der Schulmalerei !
Fort mit den Kunstdogmen !
Fort mit dem Zopf des Sollens und Müssens !
Freie Bahn für den Gott , der jedem Künstler im Busen wohnt , und wäre es auch ein Götze , und wären es auch nur ein paar lange symbolische Striche . " ( Zwischenrufe : Aha , Trollope ! )
" Mir scheint dieser Streit über die modernen Kunstrichtungen der überflüssigste von der Welt .
Wo und was ist denn die von Ihnen bekämpfte neue Richtung ? " ( Zwischenruf des Professor Hennings : " Quatsch mit Sauce ! " ) " Sehen wir nicht die entgegengesetztesten Richtungen mit gleichem Erfolg gekrönt ?
Gibt es größere Gegensätze als die mystisch schattenhafte , mondscheinbleiche Muse eines Mäterling und den schweflig feurigen Satanismus eines Huysman ?
Größere Gegensätze als die loddrig pikante Grazie eines Guy de Maupassant und den tiefen , wuchtigen Ernst eines Tolstoi ?
Die grandiose Freskomalerei eines Zola kommt ebenso zur Geltung , wie die feine , psychologische Zergliederungskunst eines Bourget oder Dostojewski .
Soll ich , weil ich die Odyssee würdige , Heinäsche Lyrik verabscheuen ?
Brauche ich den Lorbeerkranz , den ich Ude und Liebermann reiche , erst von der Stirn Titians oder Rembrands zu reißen ?
Nie hat man Böcklin mehr bewundert als heute , und seine herrlichsten Schöpfungen stammen aus einer Zeit , wo von Naturalismus noch nicht die Rede war .
Ich selbst bin heute noch von den Heiligenbildern eines Giotto oder Ghirlandajo gerade so entzückt wie meine Voreltern es waren , was mich nicht hindert mit Ude und Liebermann durch dick und dünn zu gehen , wobei ich die Schweineställe des letzteren ausnehme , weil ich Schweine in keinem Zustande , sei es ein gekochter , ein ungekochter oder gemalter , leiden kann . " ( Allgemeines Zwischengrunzen . )
" Ob Realismus und Verismus , ob Klassizität , Romantik oder Mystik , ob Schönheit , Häßlichkeit , Wahrheit oder Phantastik - was ich mir dafür kaufe ! " ( Pardon Mutti , der Champagner , der zu kreisen anfing , öffnete meinen Berlinismen die Schleusen , aber auch dem Pathos , das jetzt sogleich folgen wird . )
" Auf die Fahne , die ich im reinen Äther der Kunst kühn entrolle , schreibe ich : Subjektivismus !
Persönlichkeit !
Individualismus ! "
" Und Kannibalismus " , ergänzte Riedlich .
Ich überhörte den Kannibalismus und fuhr unentwegt fort :
" Willkommen in der Kunst jeder , dem ein Gott gab zu sagen , was er fühlt ( es kann auch natürlich eine » Sie « sein ) und nicht was andere fühlen oder gefühlt haben , oder was er fühlen sollte .
Willkommen ein Thoma mit seiner süßverdämmernden Schwermut , seiner sehnsüchtigen Landschaft - er hat sie mit der Seele geschaut .
Willkommen Stück mit der Fülle seiner Gesichter , seinen gespensterhaften oder graziösen Visionen .
Sie sind Manifestationen seines Ich_es .
Willkommen vor allem mein Böcklin mit seinen Götterträumen , seinen blühenden Idyllen , seinen wildtönenden Requiems . "
" Alles , was aus der Tiefe einer Künstlerseele quellt , mag es sich in Wort , Stein , Ton oder Farbe verkörpern , es sei willkommen , gleichviel ob es verklingende Seufzer sind oder wilde Schreie , ob mystisches Raunen , ob phantastische Schatten der Nacht oder in jauchzender Lebensfreude Erblühendes .
Ja selbst das Wahnsinnsdelirium eines mit der Hölle Liebäugelnden , die excatischen Halluzinationen eines von satanischer Brunst Berauschten , die Totentänze tollgewordener Gespenster , Seelenagonien , sie sind immer noch besser als gar keine Seele , besser als die kalten , steifen Phrasen einer angelernten Schulkunst .
Darum ein Hoch der Moderne , der Erlösung von der Autorität , vom Dogma , von der Phrase !
Es lebe Psyche , die Schutzgöttin der modernen Kunst ! "
Auf !
das war eine lange Rede !
Ich glaube , ich habe sie ein bißchen retuschiert für Dich , Du eitle Mutter .
Leider trat die gehoffte Wirkung nicht ein .
Man rief mir zu , ich plaidierte für Ichsucht , für Größenwahn , meine Theorien öffneten den Schmierern Tor und Tür .
Man hörte gar nicht mehr , daß ich einige Schmierer zugab , daß ich technisches Können als selbstverständlich voraussetzte .
Ferlani , der fürchtete , ich könnte mich schließlich doch verletzt fühlen , schlug jetzt an sein Glas , indem er mir zuzwinkerte , welches Zwinkern ich so verstand , daß er Öl in die Wogen der wilden Bewegung gießen wolle .
Das Öl war aber eine Mischung von Essig und Öl , in dem der Essig vorherrschte , und der Salat , den er damit anrichtete , mundete nicht jedem .
Mäuschenstille trat ein .
Man erwartete , daß er mich durch seine Gegenrede ecrasieren würde .
" Wenn man den Ausdruck nicht zu hart findet , " begann er , " möchte ich sagen : Tant de bruit pour une Omelette . Die Omelette ist die Kunst , der bruit der fanatische Streit um die Kunstrichtungen .
Kunst !
Warum überhaupt so viel Wesens von der Kunst machen !
Kunst lockt in der sozialen Welt keinen Hund vom Ofen , höchstens ein Damenmöpschen .
Die Kunst hat die Welt noch nicht um einen Schritt vorwärts gebracht .
An dem massiven Gebäude der Kultur besorgt sie nur die Ausschmückung , die Ornamente .
Hätte es nie einen Tizian , Rubens , Raphael gegeben ( die Anwesenden sind ausgeschlossen , sonst würde ich sagen einen Riedlich , Born , Gregori ) , die Welt wäre wie sie ist .
Selbst als Freudenspender und Sinnenweide finde ich die Kunst diskutabel .
Kann sie uns mehr bieten als die Natur , die sie doch nur nachstümpert ?
Die Krone der Schöpfung ist das Weib .
Wer möchte es nicht lieber lebendig besitzen , als gemalt !
Und es ist sehr die Frage , ob es nicht lohnender wäre , durch - durch wissenschaftlichen Kalkül ( bitte anzuerkennen , daß ich hier das Wort Zuchtwahl unterdrücke ) die Schönheit des Menschen in Fleisch und Blut zu veredeln , zu potenzieren , anstatt sie in Stein und Farbe uns vorzulügen .
Mit einem Wort : die Kunst ist nur das Schmunzeln , das die großen Zeitereignisse begleitet .
Nun denken Sie sich aber einmal die Wissenschaft aus der Welt fort und diejenigen , die ihre Theorien in Praxis umsetzen .
Denken Sie sich die Erfindungen und Entdeckungen fort !
Wir lebten noch heute in geistiger Wildnis , und den grünen Zweig , auf den wir gekommen wären , könnten wir höchstens als eine veredelte Affenart okkupieren .
Die Malerei ist eine Illustrationsfrage .
Erfindet aber eine Maschine mit der Kraft von 10,000 Pferden , die in einem Moment 100,000 Nähnadeln einfädelt - das ist grandios .
Bewässert die Wüste Sahara , erfindet die Flugmaschinen und ich beuge die Knie .
Mithin , den großen Entdeckern und Erfindern die goldenen Lorbeerkränze !
Ein paar grüne Blätter den Herren Künstlern ! "
Man war noch unentschieden , ob man lachen oder böse werden sollte , als Born unheilverkündend seine Backen blähte .
Er wolle sich über die bildenden Künste kein Urteil erlauben , aber die Literatur , die Dichtkunst , die Presse - das sei eine Macht .
" Ha ! " fiel ihm Ferlani ins Wort , " die Presse !
Die Künste seien wenigstens unschädlich und angenehm , die Presse aber sei ebenso unangenehm wie gemeingefährlich .
Nicht bloß eine Macht , eine Tyrannei sei sie .
Alles Unheil komme von der Erfindung der Buchdruckerkunst , ohne sie gäbe es den gottverdammten Journalismus nicht , dem er damit seinen Fluch nicht einen Augenblick vorenthalten wolle .
Wenn heute einer von ihm drucken ließe , er wäre als Offizier wegen falschen Spiels infam kassiert worden , so sei er ruiniert .
Er könne es dementieren , den Verleumder bestrafen lassen , er sei doch ruiniert .
So ein einzelner Schuft würde nur ihm schaden , verleumdeten aber 25-30 Schufte der Presse die staatserhaltenden Kräfte , Minister u. s.w. , so machten sie Weltgeschichte , eine miserable Weltgeschichte von Reporters Gnaden . "
Darum rufe er , nicht wie vorhin unsere anmutige Wirtin " Tod der Autorität , " er rufe : " Eine Axt an den Giftbaum des Journalismus ! eine Bartholomäusnacht für die Presse ! "
Jetzt lachte alles .
Ferlanis Paradoxe hatten die Kampflust besiegt , seine Paradoxe oder der Champagner , den Benno immer schneller kreisen ließ .
Es wurde fabelhaft lustig .
Musikalische Talente wuchsen üppig unter dem Champagner ans Licht .
Du weißt , daß der " Mikado " jetzt die ganze Gesellschaft beherrscht .
Einige Gäste benahmen sich gegen Ende schon ganz mikadohaft , mit prickelnden Tönen , watschelndem Gange , gewagten Gesten und sonstigen Reminiszenzen aus dieser so reizenden , lustigen Operette .
Es wurde Musik gemacht von Wagner herunter bis zur Fischerin und zum Schunkelwalzer , und je vulgärer es wurde , je größer war der Beifall .
Die beiden letzten Nummern erregten Enthusiasmus , wurden mit Gesang und Geschunkel begleitet und da capo verlangt .
Jolante , die saß da wie ein Schatten der Freude , und ihre hellen Augen irrten suchend und ängstlich umher , als wären sie im Dunklen .
Ich ärgerte mich , blieb aber im Unklaren , ob über sie , oder über mich ; über sie , weil sie so eine urwüchsige Lustigkeit mißbilligte , über mich , weil mir doch schien , als ob Champagnerlust und echter Frohsinn zweierlei seien .
Isoldchen ließ sich stramm von Benno den Hof machen , um mir ein Paroli zu biegen .
Wenn sie wüßte , wie es mich freut , wenn der gute Benno sich ein bisschen amüsiert .
Plötzlich erlosch das elektrische Licht , so daß wir eine kleine Weile im Dunklen saßen , was als Gipfel des Bohemetums eine rasende Heiterkeit hervorrief .
Ich erschauderte , als ich den Hauch eines Mundes auf meinem Scheitel fühlte .
Als Licht gebracht wurde , stand Ferlani hinter meinem Fauteuil ; unter dem Hauch seiner Lippen hatten meine Haarspitzen gezittert .
Nicht einmal mehr seinen Nerven kann man trauen .
Da schreibe ich und schreibe ich , und habe vergessen , der Köchin zu sagen , daß wir heute eine halbe Stunde später essen .
Schrecklich , wenn sie den Hammelrücken zu früh aufgesetzt hat .
Da bin ich wieder .
Gott sei Dank , sie hat ihn noch nicht aufgesetzt .
So also endigte gestern mein Geburtstag .
Ja Mutti , ich bin verliebt .
Ob mit wirklicher Liebe ?
Weißt Du etwa , was Liebe ist ?
Liebe und Liebe kann so verschieden sein , wie Wasser und Feuer , das höchste und das gemeinste , das tiefste und flachste , ein physischer Hunger oder eine dithyrambische Werdelust , ein flüchtiges Momentbild oder der Inhalt eines ganzen Lebens , ein Tropfen oder wie das Meer selber .
In den meisten Fällen Selbstsuggestion , oft auch eine dürre Gegend , die Abendsonnenglanz oder Mondschein verklärt .
Und die meine ?
Mondschein ?
Abendsonnenglanz ?
Dürre Gegend ?
Autosuggestion ?
Wir werden ja sehen .
Gute Nacht , einzige Mutter .
28. September . Guten Morgen , Mutti .
Schon wieder zwei Maler und ein Schriftsteller , die uns besucht haben .
Und nun muß ich ihre Bilder sehen , ihre Bücher lesen .
Freilich hat der Schriftsteller mir versichert , seine Bücher wären sensationell , und er hätte ganz neue Krebsschäden aufgedeckt .
Ich hatte ihn letzthin bei Borns getroffen .
Dort war auch Raphael .
Der Schlaue hatte Isoldchen so lange den Hof gemacht , bis glücklich die Einladung vom Stapel lief .
Das kränkte Ferlani sehr , der meinte , es gäbe nun bald kein Lokal mehr , wo man nicht diesen zuwidere Schatten von mir träfe .
Beinahe rührend war Isoldchens Ambition , es den eleganten Weltdamen gleich zu tun , in Toilette , Einrichtung der Wohnung u. s.w. Ganz unvermittelt sind an den Wänden ihres Salons hier und da bunte Läppchen angebracht , von Brokat oder Samt , die etwas orientalisch-üppig-flottes vorstellen sollen .
Neben einem vulgären Mahagonischreibtisch ein Schränkchen italienischer Renaissance .
An einer der Figuren fehlt der Kopf .
Sie ist ganz stolz auf den Kopf , der nicht da ist , in der Meinung , Antiquitäten müßten kaputt sein .
Das heißt " kaputt " sagt sie nicht .
Als poetische Dichtersgattin drückt sie sich immer nobel aus , und der kopflose Rumpf ist natürlich ein Fragment .
Eigenhändig hat sie ein Stückchen Fensterglas bemalt , das mystisch , weihräucherlich wirken soll .
Ein Blumentopf mit einer feurigen roten Blume ( künstliche ) mitten auf dem Tisch ist für das Poetische .
Und Isoldchen selbst !
Ganz à la Troubadours Gemahl kostümiert : hochrotes Kleid , kurze , rote Tüllärmel und goldene Schuhe .
Komisches Abendbrot bei Borns .
Makkaroni mit Leberchen , und dann Reis mit wieder etwas darin , vielleicht waren es noch einmal Leberchen oder etwas Ähnliches .
Und dann etwas Merkwürdiges in aspic , keinesfalls Leberchen .
Ich saß zwischen einem berühmten Schriftsteller und einem berühmten Maler , was entschieden noch schöner klingt , als es in Wirklichkeit war .
Der Dichter hatte überhaupt einen so sonderbaren gelblichen Klecks auf seiner bedeutenden Nase , von dem ich nicht wußte ob er Natur oder Butter sei , und der mich ungemein beschäftigte .
Da er schließlich verschwand , wird es wohl Butter gewesen sein .
Nach dem Souper setzte man sich im Salon um einen runden Tisch zu einem Glase - ich glaube es war Rosinen- oder Stachelbeerwein , und Isoldchen bat den berühmten Dichter , doch einige seiner Gedichte vorzutragen .
Ein Musenalmanach , in dem sie standen , wurde gebracht ( ganz Goethe- und Schillerzeit , nicht ? ) und nun las er im Singsangton eine Anzahl Gedichte vor , so daß man keinen Sinn , sondern nur ein allgemeines Geklingel auffaßte .
So viel aber hörte ich heraus , daß die Verse dem behäbigsten Optimismus huldigten .
Es scheint , der Dichter mit dem gelben Klecks auf der bedeutenden Nase schwankt noch zwischen alt und neu .
Ich taxiere ihn auf Opportunitätspoesie .
Er wird je nachdem dichten , aber immer so , daß er auf einen grünen Zweig kommt , wenn es auch kein Lorbeerzweig ist .
Darauf fragte Isoldchen schüchtern , ob es vielleicht interessiere , wenn Ewald seinen neuesten Einakter vorläse .
Natürlich interessierte es enorm .
Und nun las Ewald von dem Dornröschen Poesie , das in tiefem Schlaf verzaubert lag , bis endlich , wie in dem Märchen , der Prinz ( Ewald Born ) mit dem Kuß die Muse weckte .
In einer kleinen Pause , die Ewald machte , um einen Schluck Wasser zu nehmen , fragte mich Isoldchen flüsternd , wo ich mein Kleid hätte machen lassen .
Sie pflegt , wenn ich ihr die Adresse meiner Schneiderin gegeben , hinzugehen und sich ein gleiches zu bestellen , nur um einen Stich mehr ins Jugendliche .
Gott sei Dank , nachdem Born geendet , lieh sie sofort ihrem Entzücken Worte , so daß wir anderen uns inzwischen zum Loben sammeln konnten .
Es waren auch wirklich schöne schwungvolle Verse .
Das rollte und rauschte wie Wogenschwall und Donnerbraus , allerdings mehr Theaterdonner und Kolophoniumblitze .
Ich drückte ihm stumm die Hand , als beraubte mich die Erschütterung der Sprache .
Er küßte mir mit der ihm eigenen feisten Inbrunst die Hände .
" O , Sibilla !
Sibilla ! " flüsterte er , und ich las aus seinem Feuerblick das Bekenntnis : " O ich Esel - damals . "
Du siehst , Mutti : Rinaldo in den alten Banden .
Isolde warf einen langen Blick herüber und trat dann rasch auf uns zu .
In diesem Augenblick schämte er sich der goldenen Schuhe und der feuerroten Kurzärmlichkeit seines Gemahls , das wirklich etwas nach Ballett aussah .
Ich stellte mich neben sie in meinem elfenbeinfarbenen Atlaskleid mit dem breiten , im Muster venezianischer Spitzen ausgeschnittenen schwarzen Samtgürtel , damit der Kontrast ihn frappieren sollte .
Und er frappierte ihn .
So bin ich , Mutti .
Ein häßliches Spiel , das ich da spiele .
Um Rache an meinem Extroubadour zu nehmen ?
Gott ! in den heiligen Hallen meiner Seele kennt man die Rache nicht .
Warum also ? ach darum .
Müßiggang ist aller Laster Anfang .
Um so häßlicher mein Spiel , da er doch ein guter , reiner , vollblütiger Dichter ist , wirklich ein Dichter , nur dichtet er mit den Nerven , mit dem Gemüt - ohne Kopf .
Und er hat auch sicher sein Isoldchen nicht wegen schnöden Mammons geheiratet , ich habe das früher nur aus Bosheit gesagt .
Daß sie ihn so sehr liebte , und daß alle es so sehr wünschten , und weil ich so kokett war , darum geschah es .
Ich glaube , im Grunde gefällt ihm seine Goldblonde recht gut , und er kann Gott danken , daß er mich im Stich gelassen hat .
Wäre ich so Feuer und Flamme für jedes seiner Werke gewesen wie sie ?
Hätte ich wie sie Gift und Galle gespien gegen jede böse Kritik derselben ?
Er schämt sich seines Ehegemahls augenscheinlich nur vor mir .
Allmählich wird er auch an ihre Jugend , Schönheit und Eleganz glauben , wie eigentlich auch alle anderen es tun .
Natürlich hoffte höflich ein jeder von uns , daß Borns Einakter auf der Bühne noch stärker wirken würde als bei der Lektüre .
Riedlich und Professor Krausen traten ein .
Sie kamen aus einer Première im Theater .
Ihre Kunde von dem großen Erfolg des Stückes , das man gegeben , war Wasser auf Borns Mühle .
Das Stück heißt " Glück " .
Ich hatte es gelesen : ein banales Machwerk .
Spießbürger - Weltanschauung unter der Devise : " Freut Euch des Lebens , weil noch das Lämpchen glüht . "
Das Stück hatte Enthusiasmus erregt , nicht nur des Philisters , nein , auch ganz gescheuter Leute .
" Ihr Ibsen , " rief mir der so kluge Professor Krausen zu , " könnte froh sein , wenn er je so etwas geschrieben hätte . "
Gott stehe mir bei !
Da man aber gerade am Werk war , geriet man in eine Max Nordau-Stimmung und tat sich gütlich im Verhöhnen aller modernen künstlerischen Bestrebungen mit dem bekannten Hohnlächeln : eine nette Gesellschaft da beisammen .
Mir gibt es immer einen Ruck , wenn ich dergleichen höre .
Vor den Klingärschen Bildern und Radierungen habe ich Leute stehen sehen , die sich den Bauch vor Lachen hielten .
Andere grinsten wenigstens über " das verrückte Zeug " , " den Blödsinn " .
Und bis zu Friedrich Nietzsche , dem einsamen Adler , der , über Bergwipfel kreisend , seine Schwingen in Morgen- und Abendröten taucht , blaffen sie hinauf .
Sarcey , der erste Kritiker Frankreichs , nennt seinen Hund Ibsen , um dem Dichter die ganze Tiefe seiner Verachtung auszudrücken .
Der berühmte Chirurg Billroth traktiert Nietzsche sogar als Kerl und Schuft .
Aber Billroth war ein ehrenwerter Mann , und Nietzsche sitzt im Irrenhaus .
O Mutti , wenn ich dergleichen höre , bäumt sich ein dämonischer Stolz in mir auf .
Ich empfinde eine Art Shakespearesches Schimpfbedürfnis , etwas vom Nietzscheschen Herrenrecht , meinen Fuß auf den Nacken von Sklaven zu setzen ( mit meinen netten , kleinen Schuhen würde es den Sklaven nicht gar zu wehe tun ) .
Einen Durst nach Rache spüre ich und einen Hunger nach Manna , Götterspeise .
Manchmal kommen mir diese geschmähten Denker und Dichter wie edle Gladiatoren vor , die wilden Bestien ( wobei ich natürlich weder an Sarcey noch an Billroth denke ) vorgeworfen werden , wenn letztere auch meist ganz zahme Philister sind .
Man mag weder Ibsen noch Nietzsche oder Klinger verstehen und würdigen , aber nicht den Instinkt zu haben , daß ein Dichter oder ein Denker zu uns spricht , das verzeihe ich nicht .
Es gibt einen Grad von seelischer Dickfelligkeit , der einen tief melancholisch macht , aus dem der Ekel an Leben und Menschen erwächst .
Ach , Mutti , es scheint , wir beide sind einsame Menschen .
Übrigens habe ich mich bei Borns , trotz der altmodischen Allüren der Gesellschaft , sehr gut unterhalten .
In frohsinnigster Stimmung war ich und hatte doch kaum zehn Worte mit Raphael gewechselt .
Aber wie in seinen Ätherwellen drang sein ganzes Wesen zu mir und vermählte sich dem meinen .
Ein Nervenrapport fast spiritistischer Art. 1. Oktober .
Ich stehe oft vor der Sünde von Stück und bewundere das künstlerische Raffinement des Bildes : wie der weiße Leib aus dem dunklen Grunde leuchtet , das Gesicht mit den stillen , feinen Zügen ganz im Schatten bleibt .
Unheimlich diese kleinen Augen , die zugleich kalt und heiß sind , trocken , lauernd , die Augen eines verzauberten Raubtieres , spähend und doch siegessicher .
Sie wissen von dem weißen , leuchtenden Leib , um den die feiste , riesige , schillernde Schlange sich windet .
Es scheint , daß ein wunderschöner weißer Leib schon an und für sich Sünde ist und die wunderschöne rote Liebe auch .
Gott sei Dank , daß man wenigstens seine Mutter noch unbeanstandet lieben darf .
Aber wer weiß , vielleicht wird auch diese Liebe noch einmal widerrufen .
Bis dahin sei zärtlich umarmt von Deiner Sibilla . 5. Oktober .
Liebe Mutti !
Von eigentlicher Gesellschafts-Saison ist natürlich noch nicht die Rede .
Man behilft sich wohl oder übel mit Thees und jours . Da aber Frau von Gertz Geburtstag , gerade wie der meine , in den Herbst fällt , und sie gern jede Gelegenheit zu etwas Lustigem bei der Stirnlocke ergreift , so ließ sie eine Abendgesellschaft los , mit der hoffnungsvoll romantischen Aussicht , nach dem Souper im mondbeschienenen Gärtchen zu lustwandeln .
Du erinnerst Dich doch der Gehrt ?
Du hieltest sie für eine so zärtliche Mutter , weil man sie immer Hand in Hand mit ihrem fünfjährigen Töchterchen auf der Straße trifft .
Timäa behauptet , das geschehe nur wegen des hübschen , malerischen Effekts , den sie dadurch erzielt , daß sie und das Kind immer gleiche Blumen auf dem Hut und am Kleide tragen .
Es war eine sehr elegante , attacheenreiche , mit zahlreichen Baronen und Grafen verschnörkelte Gesellschaft .
Da ich unter all den Baroninnen und Exzellenzen in absteigender Linie noch eine der jüngsten war , hatte man mich bei Tische zwischen zwei sehr junge Herrchen placiert , von denen der eine natürlich Baron , der andere Graf ist .
Das Baronchen , ein guter Badenser , der längere Zeit in Paris gelebt hat , wollte mir durchaus nicht glauben , daß die Bälle hier , nicht wie in Paris , um elf oder halb zwölf , sondern um acht oder halb neun anfingen .
Fatzke !
Und das Gräflein - als ich beiläufig erwähnte , ich wäre in den letzten Tagen nicht ausgegangen , weil sich mir der schauderhafte Nebel immer so auf die Brust lege , meinte er , das könne er dem Nebel gar nicht verdenken , denn - - u. s.w .
Daß mir Hautbois trotz der anwesenden Traute , die seine Coeurdame ist , den Hof machte , war ganz ehrenvoll , daß er aber , als er die Ärmellosigkeit meines Kleides lobte , hinzufügte , er fände es eine Gemeinheit , daß ich meine Schultern verhülle , ist wohl mehr auf sein mangelhaftes Deutsch als auf seinen schlechten Charakter zu schieben .
Überhaupt , Mutti , Du hast keinen Begriff von der unglaublichen Redefreiheit , die in diesen Kreisen herrscht .
Sie sagen Dinge , Dinge , die echt bürgerliches Blut in echt bürgerlichen Adern erstarren machen .
Und was sie blicken !
Der mir gegenübersitzende Gesandte , Graf Göll , erhob einmal sein Glas und toastete mir zu als der reizendsten aller Damen , worauf der Jüngling zu meiner Linken , der von Paris gekommene , zustimmte : " Ja , charmante , bien ronde , bien potelee . "
Und der Jüngling zu meiner Rechten machte mich auf eine Gruppe von Herren an einem Nebentisch aufmerksam .
Da säße ein ganzer Hirschpark beisammen .
Ich verstand nicht .
Da explizierte er : die Herren da trügen sämtlich Geweihe .
Und als von einer häßlichen Dame - sie saß in unserer Nähe - und ihren vielen Eroberungen die Rede war , und ich mich über die letztere Tatsache wunderte , sagte er ganz brutal ungeniert :
" Sie haben sie halte immer nur angezogen gesehen , " und war ganz erstaunt , als ich mir in hochfahrendstem Ton solche Konfidenzen verbat .
Und das sind die Kreise , aus denen die Hauptkämpfer für Sitte , Ordnung und Religion hervorgehen .
Unter den Gästen fiel Hilde Engelhart besonders auf .
Denke , sie hat auf einmal rote Haare bekommen , die ihr reizend stehen , behauptet , infolge eines ganz unschuldigen , ihr vom Arzt empfohlenen Wassers .
Sie wäre wütend auf den Arzt .
Gut gelogen , rote Hilde .
Nur immer den Leuten die Hucke voll lügen .
( Pardon , Mutti , wegen der Hucke . )
Hilde Engelharts Gatte geht nicht mehr in Gesellschaft .
Er ist über siebzig Jahr alt und langweilt sich in Gesellschaften , weil er sich absolut nicht daran gewöhnen kann , ältere Damen zu Tischnachbarinnen zu bekommen .
Und die Männer machen sich damit nicht einmal lächerlich .
Schreiende Ungerechtigkeit .
Die Krone des Abends waren zwei morganatische Gattinnen , Witwen irgend welcher Prinzen .
Die eine , ehemalige Sängerin , der Gipfel grotesker Geschmacklosigkeit , beweglich , munter , Bohemien , ganz mit Schmuck behängt , kann ihre Theatertriumphe nicht vergessen , hört nicht auf am Klavier zu meckern .
Die andere , eine einstige beauté , von seriöser Vornehmheit , mit einer gräflichen Gesellschafterin , ist hier , um ein paar Jucker zu kaufen .
Hat sicher in ihrem Residenzschloß galonierte Lakai und Speiseservice mit fürstlichem Wappen .
Schrecklich dumm und langweilig .
Erwähnenswert auch die ganz neue Erscheinung einer eben aus Paris nach München verschlagenen Süddeutschen , einer Frau Charling , nicht einmal " von " .
Ihre Allüren aber , ihr Auftreten , ganz Gräfin , nein , ganz Madame la comtesse vom Scheitel bis zur Sohle .
Soll eine kolossale Vergangenheit haben , bedeutende Empfehlungen u. s.w .
Nach dem Souper saß ich erst lange Zeit auf einem kleinen Ecksofa mit Raphael , und er vertraute mir an , was für eine Schlange ich eigentlich mit Ferlani an meinem Busen nähre .
Ein Spieler sei er und wegen Schulden oder weil er fahrlässig mit den Karten umgegangen , habe er seinen Abschied als Offizier neh men müssen , und trinken täte er auch , und seine politische Überzeugung verkaufe er an den Meistbietenden .
Und nachher saß ich längere Zeit mit Ferlani auf einem anderen Ecksofa , und von ihm erfuhr ich , was Raphael für ein Mensch sei : ein Gigerl , ein Schwindler , und krumme Beine habe er , und ehe er mir den Hof gemacht , habe ihn Eva Broddin gründlich abfallen lassen .
Na ja - eben - o jemine !
Ganz amüsant , diese Erdichtungen der Eifersucht , nicht ?
Als die meisten gegangen waren , blieb noch ein kleiner Kreis Intimer zusammen und es entspann sich eine jener Kauserien , wie sie sich au coin du feu abzuspinnen pflegen , wo alles sich um Persönlichkeiten dreht .
Pikanter , frecher , witziger Klatsch .
Unter anderem stritt man , ob es statthaft wäre , Frau Charling zu empfangen , die ihre Liebhaber wie ihre Handschuhe wechsele .
Man war geneigt , die Frage zu verneinen , als Frau von Gehrt die Diskussion mit den Worten abschnitt :
" Kinder , habt Euch nicht so !
Das ist ja alles nur Korporal bei der Charling . "
Alle lachten .
Ein brutal-kynisches Wort .
Ein Körnchen Wahrheit ist darin .
Merkwürdiger Kontrast unserer Zeit .
Auf der einen Seite zügellose Frivolität bis zur frechsten Unmoral in den höheren und höchsten Ständen , und auf der anderen Seite die unaufhaltsam vorwärts drängende Wissenschaft , Männer mit dem apostolischen Zug , wie Tolstoi , Egidy , politische Schwärmer , und der zu voller Lebensintegrität heranreifende vierte Stand .
Und ich stehe dazwischen , und halb zieht es mich dahin , halb sinke ich dorthin , und da wird es denn wohl um mich geschehen sein .
Meine Situation ist ungefähr die eines Wanderers , der in kalter Nacht ein Feuer im Freien anmacht .
Aber die Kälte aus der Peripherie dringt doch zu ihm , und im Mittelpunkt des Feuers kann er nicht leben .
So pendelt er zwischen Frost und Hitze .
Auf der einen Seite gebraten zu werden und auf der anderen zu frieren , das ist unsere Situation .
" Und so soll ich die Brahmane , - Mit dem Haupt im Himmel weilend , - Fühlen Paria dieser Erde - Niederziehende Gewalt . "
( Ein indischer Spruch , den ich irgendwo gelesen habe. ) 8. Oktober . Gestern war ich müde und abgespannt , ließ mich aber doch von Benno überreden , mit in die Oper zu fahren : Tristan und Isolde .
In meiner Müdigkeit hörte ich nur klingende Schreie , abgerissene Töne , schmetternde hohe A's und dazwischen ein Gemurmel , das sich ins Orchester hinein verlief .
Trotzdem war ich hingerissen mit dem allgemeinen Gefühl , daß ich mich in Poesie badete und daß die geistreichste Kauserie daneben - Pardon - Schund ist .
Raphael ist nicht geistreich - o nein - aber seine Erscheinung ist wie aus einem Roman geschnitten , von Poesie förmlich umflossen .
Was er blickt , ist abwechselnd glutvolle Innigkeit und Melancholie , letztere wegen einer verstorbenen Braut .
Er erweckt den Eindruck , als ob er nächstens - auf Grund dieser toten Braut - im Reigen der gespenstischen Willis mittanzen würde , um anderen Tags unter einem Rosenstrauch als Leiche aufgefunden zu werden , von mir natürlich .
Daß seine Braut , wie man behauptet , eine Geldpartie war , glaube ich einfach nicht .
Und Du mußt nicht etwa denken , daß er dumm ist .
Er spricht wenig , aber alles , was er sagt , ist durchaus comme il faut . Und seine Stimme , sein Blick und ach , sein Händedruck ( von seinem Kuß weiß ich nichts ) , alles so - so liebeheischend , so diskret , geheimnisvoll sich einem ins Herz hineinschmeichelnd .
Mit einem Wort :
er ist ein Charmeur .
Man meint immer , daß ein bedeutendes Schicksal hinter ihm liege und eine Tiefe in ihm gähne .
Ich glaube an diese Tiefe , ja , ich glaube daran .
Und selbst wenn sie nicht gähnte - schwebt uns Deutschen nicht Goethes Gretchen als eine Idealgestalt vor ?
Und sie liebte doch ihren Faust auch mehr aus unbekannten Gründen als wegen seiner philosophischen Tiefe .
O Gott , was ich möchte , einzigste Mutti , etwas Schreckliches , unsagbar Entsetzliches !
Nimm die Brille ab , damit Du es nicht lesen kannst - Du kriegst eine Gänsehaut .
Ich möchte einmal , nur einmal an die Brust des Mannes sinken , in den ich verliebt bin , unsinnig verliebt .
Niemals die Geliebte des geliebten Mannes sein - wie triste !
Hast Du mich auch lieb , Einzige ?
Deine Sibilla . 10. Oktober .
Ich habe Dich mit meinem letzten Briefe in den Harnisch gejagt , arme Mutter .
Komme nur wieder heraus aus dem Harnisch ; ich übe noch immer Treue und Redlichkeit und weiche keinen - wenigstens kaum einen Fingerbreit von Gottes Wegen ab. Rein - keusch - ich ! lächerlich !
Und ich habe Kinder von Benno gehabt .
Ach , Mutti , unsere ethischen Anschauungen stecken noch in den Kinderschuhen .
Die tödlich widrige Empfindung der Unkeuschheit , der bitteren Scham haben wir doch nur bei der Hingabe an den Mann , den wir nicht lieben , mag er noch so legitim sein .
Je mehr wir lieben , desto natürlicher , ja desto idealischer angehaucht ist unsere Hingabe .
Erst die Reflexion , daß wir ein Sittengesetz gebrochen haben , befleckt unser Empfinden - hinterher .
Du schreibst , daß , ganz abgesehen von sittlichen Gründen , schon aus Rücksicht auf die Welt und meinen Ruf , ich nicht dürfte was ich möchte .
Ja , selbst den Schein eines Unrechts müsse ich vermeiden .
Den Schein vermeiden ?
Fällt mir gar nicht ein , und wäre es auch nur aus Hochmut gegen das Urteil der blöden Menge , " das Rabenlied des Pöbels , das ich ganz verachte " .
Es ist mir so gleichgültig , was Frau X. oder Frau Y. von mir denken .
Und überhaupt ist es so ungeheuer gleichgültig , wie und was ich bin .
Ob ich einen Liebhaber habe oder ob ich keinen habe , im Weltall kräht kein Hahn danach .
Und in fünfzig Jahren sind wir ja alle , alle tot .
Rücksicht auf die Welt ?
Welcher Welt ?
Der , in der ich lebe und in der die Haut-goaut -Damen dominieren .
Die tun mir nichts , Mutti , sie sind ja froh , wenn man ihnen nichts tut .
So lange sie Vorteile von mir erhoffen oder Nachteile fürchten , kann ich getrost über die Stränge schlagen .
Unter gewissen Umständen freilich kann man durch einen oder mehrere Liebhaber seinen Ruf verlieren .
Diese gewissen Umstände aber sind seltener als Du denkst .
Wüßte alle Welt von einer illegalen Liaison zwischen mir und Raphael , würde man meine Dinereinladungen refüsieren ?
Gewiß nicht , wenn Frau X. wüßte , daß sie Herrn Y. bei mir träfe , und die kulinarische Perfektion meiner Köchin unter meiner moralischen Imperfektion nicht litte , und wenn Benno , der gute , nicht etwa Lärm schlüge .
Wenn aber mein Ruf intakt bliebe und ich verlöre nur all mein Geld , mit dem damit verknüpften Zauber , und ich ladet meine jetzigen Gäste zu mir in die vierte Etage , in ein nettes Stübchen , zu einem falschen Hasen und einem Gläschen Moselblümchen , ob sie kommen würden ?
In jedem Fall kämen sie widerwillig , und sie würden mir den liebevollen Nachruf widmen :
sie soll sich Geheimsekretäre und Postbeamte und alte Jungfern zu ihrem falschen Hasen und dem sauren Wein einladen .
Ich habe Dir von Frau Charling und ihrem miserablen Ruf geschrieben .
Als sie nach München kam , feierte der Klatsch förmlich Orgien über ihre Vergangenheit .
Man beschloß , sie zu boykottieren .
Da eröffnet sie ihre Salons , nachdem sie vorher durch die Heirat einer Schwester einen gräflichen Schwager und außerdem eine ausgezeichnete Köchin und einen französischen Diener akquiriert hat .
Man macht Front gegen die Verleumdungen und drängt sich dazu , eingeladen zu werden .
So ist die Welt , wenigstens die Monde , aber Geld gehört dazu , viel Geld .
Und wenn ich nun wirklich in den Besitz eines so schlechten Rufes gelangte , daß die elegante Gesellschaft sich von mir zurückzöge , würde ich denn unter diesem Ruf sehr leiden ?
Ein paar Dutzend Menschen , aus denen ich mir nichts mache , würden mich nicht mehr grüßen .
Das Malheur !
Der schlechte Ruf würde mir sogar einige Vorteile bringen .
Ich brauchte nach der Welt nicht mehr zu fragen .
Ich hätte sie gewissermaßen überwunden .
Frei wäre ich wie der Vogel in der Luft , und anstatt mit Hunderten zu verkehren , die mich langweilen , würde ich der Wenigen schon habhaft werden , die mich amüsieren und interessieren .
Und mein blieben noch alle guten und besten Bücher und die ganze holde Natur .
Und der Roman der Liebe , der doch das Buch der Bücher bleibt , wenigstens für uns , einige Jahrzehnte zu früh geborene Frauen , die wir im Vorfrühling der großen Frauenbewegung leben .
Diesen Roman könnte ich auslesen bis zur letzten Seite .
Diese letzte Seite , die würde tragisch sein ?
Gott ja .
Aber ist das Ende nicht immer tragisch ?
Das Ende von allem ?
Na Mutti , lege nur kein großes Gewicht auf das , was ich so herschwatze .
Es ist nur Niedergeschriebenes .
In Wirklichkeit - nein , ich will keinen schlechten Ruf , er wirkt häßlich , stände mir nicht zu Gesicht .
Ein schlechter Ruf wirkt wie ein Fleck , malpropre , unästhetisch , oder wie ein Gewicht , das mich vielleicht tiefer und tiefer herabziehen würde , bis zuletzt -
Ella Ried !
Und Timäa und Frau Bürgens , die würden mir ein abgelegtes Kleid schenken - - quel horreur ! Wie ich das so dachte , fiel mir eine Vase in die Augen , auf der ein nacktes , reizend freches Liebes paar abgebildet ist .
Malen darf man das , ja malen !
Ich schlug in zorniger Aufwallung gegen die Vase , nicht gerade , damit sie fallen sollte .
Sie fiel aber doch und zerbrach .
Eine so kostbare Vase !
Hätte ich wenigstens die gegenüberstehende getroffen , auf der ein völlig bekleideter Engel - er schien einen Choral zu singen - abgebildet war , - die war nicht halb so kostbar .
Immer aufs neue staune ich über die Widersprüche , die uns allerorten in der ethischen Welt begegnen .
In Dramen , auf der Bühne , mit Kunstwerken und Büchern dürfen wir für eine Sittlichkeit Propaganda machen , der die Umwertung aller Werte zu Grunde liegt .
Im Drama : Ein hochedler Pole zettelt aus glühendem Patriotismus eine Verschwörung an :
" Bravo ! bravo ! " im Zuschauerraum .
Jeder Busen schmilzt in Sympathie für ihn .
In Wirklichkeit wird er gehängt , der edle Pole .
Die Frau verläßt ( auf der Bühne ) den ihr zwar angetrauten , aber nichtsdestoweniger schuftigen Gatten , und folgt dem großherzigen , aber nichtsdestoweniger illegitimen Manne ihres Herzens .
" Bravo ! bravo ! "
In Wirklichkeit wird die , wenn auch aus edelsten Motiven durchgegangene Frau aus der Gesellschaft abgeschoben .
Eigentlich merkwürdig , daß eine Frau sich nur durch Liebschaften einen schlechten Ruf zuzieht .
Im übrigen kann sie von Schlechtigkeit triefen , ihr Ruf bleibt rein ; sie ist ja tugendhaft .
Mein Ruf blieb auch intakt , als ich Benno heiratete , und ich wußte doch , was ich tat .
Was mich auch ärgert , ist , daß kein Mensch mir meine Tugend als Verdienst anrechnen wird .
Die Damen sind ja einig darüber , Sibilla Raphalo ist kühl bis ans Herz hinan .
Die hat es leicht , nicht über die Stränge zu schlagen .
Wir Feuerbrände dagegen , wenn uns einmal das Herz zu Kopfe steigt - wer wirft den ersten Stein auf uns ?
Auf Dein sanftes Herz aber würde ich einen Stein werfen , wenn - - darum kein " wenn " .
Ich will keine Schlange sein , die Dir am Herzen frißt .
Ich küsse Dich .
Deine Sibilla . 13. Oktober .
Aber Mutti , nun schließt Du gar noch den " armen Raphael " in Dein sorgendes Herz .
Ich schwöre Dir , es wird alles ganz ungefährlich für ihn verlaufen .
Wenn ich es nicht wüßte , nicht ganz genau wüßte !
Das Herz meines Adonis ist robust , nicht den kleinsten Sprung wird es davontragen .
Erhöre ich ihn nicht bald - ich taxiere innerhalb der nächsten vier Wochen - so sinkt er in die Arme - die weitgeöffneten - der Dame Gehrt , welche Circe auch eigentlich viel besser für ihn paßt als ich .
Du kennst sie ja nicht , diese liebedurstigen Heißsporne .
Lies nur die Romane unserer jungen und jüngsten Naturalisten - besser Naturalistlinge - in denen diese vollsaftigen , wie frischer Most gehrenden Jünglingsherzen uns sonder Scham und Scheu ihre Liebesfrühlinge singen , nein , nicht singen - kreischen .
Aus ihnen habe ich meine Menschenkenntnis geschöpft , was gewisse männliche Gefühlsregister betrifft .
Raphael ist auch so ein Naturalist in der Liebe .
Und einen solchen Mann liebe ich ?
Ach ja , Mutti , leider .
Wie Emilia Galotti schon sagte :
" Auch ich habe Blut . "
Und all diese üppigen Gelage , diese ganze dekolletierte Atmosphäre , in der ich lebe , und in der sich alles auf Liebe und Triebe reimt , sind Gift für mich .
Es scheint aber , dieses Gift ist mein Lebenselixier .
Ich werde mir öfter Jolante als Gegengift einladen .
Warum eigentlich ein Gegengift ?
Diese starke , intensive Sehnsucht - - des Gemüts ? und wäre es auch nur eine pathologische Sehnsucht des Blutes , der Nerven , warum - -
Die Schneiderin ist da , die darf ich nicht antichambrieren lassen , sonst fabriziert sie mir einen künstlichen Buckel .
27. Oktober . Guten Morgen , liebe Mutter !
Zuerst die neueste Neuigkeit :
ich bin mit Ferlani erzürnt .
Eigentlich ist unser Diener , der Otto , mit seiner Bildung daran schuld .
Ich fürchte , ich muß ihn abschaffen .
Er spricht französisch , sieht aus wie ein Provinzialschauspieler , dichtet , läßt seine Gedichte zufällig umherliegen , oder steckt sie beim Decken unter die Teller .
Haar natürlich gekräuselt .
Gestern , im Beisein von Benno , Ferlani und Frau von Gehrt zündet er die Theemaschine an , wobei eine förmliche Feuersbrunst entsteht .
Heldenmütig erstickt er die Flamme mit der Hand , und dem Zaun seiner Zähne entflieht das klassische Wort :
" Da wäre ich beinahe zu einem Mucius Scävola geworden . "
Wer ist Mucius Scävola ? fragt Benno .
Ferlani lächelt unangenehm , und als ich später mit ihm allein blieb , erlaubte er sich einige leichte Spöttereien über Mucius Scävola .
Ich ersuchte ihn , sich gefälligst meines guten Benno nicht als Hanswurst zu bedienen .
Der hätte ein Herz von Gold , einen Humor von Gottes Gnaden , und seine Erzählungen wären ganz reizende kleine Kulturbilder , mit einem Wort , er sei ein Unikum .
Ich sah , wie tief ich seine Eitelkeit verletzte ; was mir aber geradezu possierlich vorkam , er wurde eifersüchtig , eifersüchtig auf Benno !
Er nahm seinen Hut .
" So , dann wäre es ja gut , und es würde wohl das beste sein .... "
" Ja wohl , es wird das beste sein , " sagte ich kalt .
Er grüßte kurz und steif und ging .
Und seitdem sind vierzehn Tage vergangen , und er ist noch nicht wiedergekommen .
Wird schon .
Raphael triumphiert über den Nebenbuhler , der auf der Strecke liegt .
Er malt mich jetzt , vorläufig mit den Augen und der Seele .
Ehe er der Hand die delikate Arbeit anvertraue , müsse er meine Züge studieren .
Und da studiert er nun , bald mit , bald ohne Zeichenstift ; bald zieht er die Fenstervorhänge so weit zu , daß nur ein einziger Sonnenstreifen über mein Haar hüpft und mich - seine Worte - in Glorie taucht , bald tritt er dicht zu mir heran , eine Locke aus dem leicht aufgesteckten Haar zupfend , die sich zärtlich von meinem Schwanenhals - seine Worte - abheben soll .
Einmal stand er neben meinem Fauteuil und bog mit leisem Händedruck meinen Kopf hintenüber , so daß unsere Augen ineinander tauchten , tief , sehnsüchtig .
Daß dieser Augenblick ohne - weiteres vorüberging - mein Verdienst , Mutti , meines ganz allein .
Er streicht und ordnet - im Interesse des Bildes - die Falten meines Kleides , er wickelt mich in Pelz und gräbt mich wieder aus den Pelzen heraus , und überhaupt - - - lauter verliebte Spielereien und voll gefährlichen Charmes sind sie .
Immer fühle ich seine warmen , feinen , zitternden Finger , ich fühle seine glänzenden , zehrenden Blicke , ich fühle den Pulsschlag seines schnell strömenden Blutes und meistens , ach , Mutti , sei nicht böse , strömt das meine in demselben Tempo und in derselben Richtung .
Zuweilen , wenn die Stimmung zu schwül wird , schlage ich einen Spaziergang im englischen Garten vor .
So auch gestern .
Die Natur will in diesem Jahre nicht sterben .
Ende Oktober noch eine unwahrscheinliche Farbenpracht im Park .
Raphael liebt vor allem die breite Allee hochstämmiger Bäume in der Nähe des kleinen Tempels .
Dahin gingen wir zuerst .
Ein himmlischer Tag .
In ihrer rotbraunen Pracht schimmerten die Bäume wie eitel Gold .
" Eine Allee für Liebesgötter " flüsterte Raphael , und er nahm meinen Arm .
Und wir schmiegten uns aneinander . und die roten Blätter rieselten auf uns nieder , und der Herbstwind koste mit unserem Haar .
Ab und zu kamen Menschen .
Dann ließ er meinen Arm los , und wir gingen ernsthaft nebeneinander her , als wäre gar nichts los .
Entschwanden die Leute unseren Blicken , so kehrten wir zu einander zurück mit leise schauernder Wonne .
Was wir redeten ?
Nichtiges .
Er : " Ist_es nicht schön hier ? "
Ich : " Nicht wahr ? "
Er : " Sind Sie glücklich , Sibilla ? "
Ich : " Ja , Raphael . "
Aber seine Stimme klang so weich , so weich , und die meine wahrscheinlich auch .
Es war alles so kinderhaft lieb und traut und heimlich und süß .
Als wir ans Ende der Allee kamen , betrat ich schnell das Brücklein , das zu meinem Lieblingsweg führt .
Den Opheliagang habe ich ihn getauft , den schmalen Weg zwischen grünen , grünen Wiesen , am strömenden Bach entlang , an dem die Weidenbäume stehen .
Ein Schimmer der untergehenden Sonne fiel zärtlich auf das transparente , zartduftige Laub .
In so lautloser Hast schießt der Strom dahin , eilig , eilig , als ob man ihn irgendwohin riefe .
Und unwillkürlich gingen wir auch lautlos schnell und immer schneller , und hastig strömten unsere Gedanken , und wir wußten , wohin sie uns riefen .
Daß ich Dir das alles schreibe , Mutti , gräßlich ! nicht ?
Aber , tu l'as voulu , Dandin . Ach , Mutti , ich möchte sie auch einmal kennen kernen , die große schrankenlose Liebe , die wie die Posaunen Jerichos die dicksten Mauern der dicksten Vorurteile stürzt .
Gebiete Deinen Tränen , teures Weib , ich tue es ja nicht .
Wie werde ich denn ! so etwas Schlechtes !
Böses !
Das heißt eigentlich , Mutti , wäre es so ganz unvernünftig ?
Und Benno ?
Ach Benno , der würde ja durch eine wirkliche Liebe meinerseits in die größte Verlegenheit geraten .
Daß ich schön bin , daß ich gut empfange , daß ein Prinz mit mir getanzt hat , daß man meine Toiletten nachahmt , das ist , was er von mir verlangt .
" Meine Frau soll einen Nimbus haben , " sagt er .
Übrigens erst vor einigen Tagen fand ich in seinem Zimmer eine Rechnung für ein Brillantkämmchen , das nie meine Augen gesehen .
Nicht von Belang , nicht wahr ?
So ist nun einmal die Natur des Mannes .
Und die unsere ? - - - Aber nein , Mutti , ich bleibe bei der Stange der Tugend , vielleicht , wenn ich mich recht prüfe , mehr aus Ästhetik als aus Ethik .
Die Reue , die ich möglicherweise nach der Untreue empfinden würde , die fürchte ich weniger , aber - vorher !
Ich antizipiere alle Schrecknisse , die ein Amant , ein Rendezvous mit sich bringen , all den häßlichen Apparat , die vulgären Heimlichkeiten .
Ich ziehe mir ein so einfaches Kleid an , wie man es gar nicht hat ; ich kann es mir ja von der Jungfer borgen , die es wahrscheinlich auch nicht hat .
Der komisch dichte Schleier , den ich mir erst extra besorgen muß , die Droschke , und der Kutscher - wenn ich aussteige , gewiß , der wird grinsen .
Und der Geliebte selbst - das Wort " Geliebter " degoutiert mich schon .
Wie er schon an der Tür lauernd stehen wird , so erregt und verlegen , und wie er mich dann mit übertriebenem Zartgefühl und gespielter Passion ins Zimmer ziehen wird , das er zweckentsprechend parfümiert hat .
Und auf dem Tische werden Blumen stehen - natürlich Rosen - und eine rosaverhängte Lampe .
Ob auch Früchte und Champagner , wie es in den Romanen von Bourget und Maupassant zu lesen ist ?
Dieser imaginäre Champagner erkältet mich bis ins Mark .
Und die Freuden der Untreue ?
Ach , es würde auch wieder nichts sein .
Und danach würde er in meinem Salon , mir gegenüber , eine familiäre Haltung einnehmen , er würde rauchen und vielleicht sogar - gähnen .
Er würde gähnen , der Elende !
Ich hasse ihn dafür im voraus .
Und o Gott , wie soll ich ihn später wieder los werden !
Ich stelle mir das alles so sehr lebhaft vor , weil ich so sehr in ihn verliebt bin .
Du siehst , geliebte Mutti , Du kannst ruhig sein , ganz ruhig .
Gute Nacht , Einzige. 28. Oktober . Raphael ist jetzt einig mit sich , wie er mich malen wird : dekolletiert , in dem pfirsichfarbenen Sammetkleid .
Vor der ersten Sitzung will er mich erst noch einmal in dem Kleide sehen , um eine Skizze anzufertigen .
Ich hatte keine Lust , seinem Wünsche zu willfahren .
Da ich aber kein Charakter bin , unterliege ich gewöhnlich dem , der mehr Willen hat als ich .
Das Bild soll ja auch seinen Ruhm begründen .
So gab ich nach .
Morgen , um acht Uhr abends , kommt er mit dem Zeichenstift .
Übermorgen schreibe ich Dir , wie die Sitzung abgelaufen ist .
Übermorgen . O Mutti , man soll doch nie den Tag vor dem Abend loben .
Also , ich hatte gestern eben meine Toilette für Raphael beendet , als es klingelte .
Ich sehe nach der Uhr : halb acht .
Ich mag nicht , daß man früher kommt , als man erwartet wird .
Er war es auch gar nicht .
Ferlani war_es , der reuige Sünder , der zu mir zurückkehrte .
Wenn Du den Brief zu Ende gelesen hast , wirst Du Dir Deine Haare ausraufen mögen über das Unheil , das diese Rückkehr angestiftet hat .
Er begrüßte mich steif .
Er hätte gehört , ich sei nicht wohl ( Lüge ) , er käme nur , sich nach meinem Befinden zu erkundigen .
" Und von nun an wollen Sie wohl ganz zeremoniell mit mir verkehren ? " fragte ich .
" Freilich , " sagte er , " haben Sie nicht bemerkt , daß ich im Zylinder komme ? "
Ich lachte .
Da taute er auf ; das heißt , er wurde wütend und sprudelte alles heraus , was in der Tiefe seiner Brust brodelte : seine Qual , seine Liebe , meine Koketterie .
Er hätte nie wiederkommen wollen , da ich doch fände , daß mein Mann alle und er gar kein Talent habe , und ich so weit gesunken wäre , sogar von den schönen Augen des geistlosen Adonis Notiz zu nehmen .
Wenn er wüßte !
Er rührte mich .
Ohne Speer des Achilles zu sein , heile ich gern die Wunden , die ich schlage .
Ich war ganz Milde und Güte .
Vielleicht trug die dekolletierte Sammetrobe zu meiner Gemütsverfassung bei .
Überhaupt lag an dem Abend über meinem Zimmer ein zärtlicher Hauch .
Ich bin ein Stimmungsgeschöpf , immer von meinem Milieu beeinflußt .
Ich merkte später , daß in dem Blumenstrauß auf meinem Schreibtisch Orangenblüten waren .
Ferlani gehört zu den Menschen , die , wenn man ihnen den kleinen Finger reicht , gleich die ganze Hand nehmen .
In der Tat küßte er de- und wehmütig meine Rechte , wobei er sogar den Arm in Mitleidenschaft zog und flehte :
" Sire , geben Sie mir Redefreiheit . "
Ich nickte gnädig Gewährung , indem ich mich bequem in meinem Fauteuil Henri quatre zurücklehnte und auf die Boule-Uhr blickte , die auf der Rokkoko-Kommode stand und dachte : ach Gott , wenn er nur fertig wird , ehe Raffaels Stunde schlägt .
Er war so klug , sich in den Schatten des Wandschirms zu stellen , als er mir das Ansinnen stellte , mir einmal vorzustellen , daß ich seine Gefühle erwidere .
" Ich will_es versuchen , " sagte ich , hielt die Hand vors Gesicht und blinzelte ihn so schelmisch als es meine Mittel erlaubten an .
Er gab sich alle Mühe , so ruhig wie möglich zu bleiben , aber in seinen Augensternen flackerte es , und mit einer etwas heiseren Stimme machte er mir die Offerte , im Fall meiner Auchliebe den Zug meines Herzens mit der Stimme des Schicksals gnädigst identifizieren zu wollen .
" Was meinen Sie ? " fragte ich naiv , mit gespieltem Erstaunen .
Selbst wenn mein allzu weiches Herz in Liebe für Eure gräfliche Gnaden dahinschmölze , ich würde mich doch von meinem guten Benno nicht scheiden lassen .
Oder wollen Sie mich auf den Weg drängen , der meistens bei der Monde à cote endigt ?
Darauf könnte ich Ihnen doch nur mit einem der in Ihrer Partei so beliebten " Pfuis " antworten . "
Er fand meine Antwort unehrlich .
Und er redete und redete mit einer Wärme und Verve !
Sein Gedankengang war ungefähr folgender :
Ich solle doch unsere gefeiertsten und reizendsten Damen ( er nannte eine Anzahl Namen , die ich diskreterweise verschweige ) Revue passieren lassen , sie alle , fast alle hätten Liaisons oder hätten sie gehabt oder würden sie haben .
Und alle Welt wisse es , und alle Welt scherze oder medisiere darüber hinweg .
Und wenn ich diese Revue in der Geschichte und Literaturgeschichte fortsetzte , könne es mir nicht entgehen , daß unter den erlauchtesten Geistern die echtesten Leidenschaften immer illegitim vor sich gegangen wären .
Und er buddelte Abälard und Heloise aus ihrem Grabe , er beschwor die Schatten von Byron und seiner Geliebten herauf , dito die jenes spanischen Königs ( Name mir augenblicklich entfallen ) mit seiner Jüdin von Toledo .
( Kainz war neulich entzückend als König . )
Und noch eine ganze Reihe ebenso berühmter als unverheirateter Liebespaare schnurrte er herunter .
Er verstieg sich sogar bis in den Olymp und langte sich den Jupiter vom Thron , dessen Amours doch von jeher Gegenstand der erhabensten Kunstdarstellungen gewesen wären .
Und wer sich für Tristan und Isolde begeistere , der solle einmal wagen , Sibilla und Engelbert zu schmähen - -
Er machte eine Kunstpause , offenbar von der kühnen Neuerung , seinen Vornamen ( ich kannte ihn bis jetzt gar nicht ) mit einfließen zu lassen , einen Effekt erwartend .
Der arme Ferlani !
Wie er sich bemühte , seinen feurigen Worten durch einen sehnsüchtigen Liebesblick Nachdruck zu geben , bohrte sich sein verquerblickendes Auge anstatt in mein Gesicht , in die neben mir stehende Zuckerschale , was durchaus spaßhaft wirkte .
Er fand , daß wir alle , alle grobe Lügner seien .
Und ehe wir nicht das schauerlich süße Mitleiden , das wir für Tristan und Isolde fühlen , dem König Marke - - - " Aber wiederholen Sie sich doch nicht , Engelbert Ferlani . "
Ich murmelte noch etwas von Tartüfferie und Sophistik , aber mir fehlte der Brustton der Überzeugung .
Er fühlte das heraus , seine Stimme wurde leiser , eindringlicher , von triumphierendem Ahnen durchblitzt , förmlich pathetisch .
Der kluge und normale Mensch , behauptete er , wisse in seinen besten , freisten Stunden vollkommen , was gut und böse sei .
Die gesunde Natur belehre ihn darüber .
Was spräche man nicht alles heilig !
Den natürlichen Gefühlen der Liebe aber dichte man einen Schwefelgeruch und einen Pferdefuß an und nenne sie Laster .
Die Liebe aber sei das Herz der Natur , der Wille zum Leben selbst .
Die Scheu und Scham vor diesem süpremen Willen der Natur sei doch nur wegen der Zuschauer da .
Wir lebten und handelten auf Applaus .
Abstrahierten wir einmal von den Zuschauern , von ihrem Beifall oder ihrem Zischen , wie würden wir dann handeln , Sibilla ? wie dann ? vorausgesetzt , daß wir uns liebten - daß wir uns liebten , wiederholte er langsam .
Er bückte sich , um ein Scheit Holz in den Kamin zu werfen , und wie die Flamme aufloderte , vergoldete sie seinen graugesprenkelten Bart , seine kleinen aristokratischen Füße .
Er war nicht mehr häßlich , aber gar nicht , auch nicht alt .
Da ich nicht gleich antwortete , benutzte er den günstigen Moment , um mir zu beteuern , ich sei so schön , so schön , und er liebe mich so sehr , so sehr , und " was wir von der Minute ausgeschlagen , brächte keine Ewigkeit zurück ; " warum also den Tantalus spielen ?
Ein freiwilliger Tantalus wäre beinahe komisch .
Und wenn ich ihn nicht lieben könne , wie er mich liebe - er sähe ein , das ginge nicht - ob das nichts wäre , gar nichts , einen anderen tief und unaussprechlich zu beglücken .
" Wäre das nichts , Sibilla ?
Nichts ? "
Mein Herz klopfte .
Einen anderen unaussprechlich beglücken !
Ja , vielleicht wäre das wirklich nicht so ohne .
Eine Art Neugierde in Betreff dieser Liebe à la Samariterin ergriff mich .
Der feurige Reflex der Kaminflamme traf die rote Zunge der Schlange , die zu lechzen schien nach dem Herzen in der weißen Brust der Sünde .
Plötzlich trat Ferlani - der Ungeschickte - unter eine elektrische Flamme von sechsundzwanzig Kerzen Stärke : ein Faun !
Nein , ich hatte entschieden keine Lust ihn zu beglücken , und meine Neugierde in Betreff dieser Empfindung sank zusammen wie die Holzscheite im Kamin .
Er wollte meine Hände ergreifen .
Ich hielt sie im Rücken , senkte die Augen und schüttelte den Kopf .
- " Niemals , Sibilla ?
Niemals ? " fragte er leise .
Ich schüttelte wieder und wieder den Kopf .
Aber in mir war alles elektrisch gespannt , hätte er meine Hand berührt - Funken wären gesprüht und - wer weiß - wer weiß - -
Mit langsamen , schweren Schritten ging er hinaus , so unbeholfen , daß er im Vorübergehen das Stucksche Bild von der Staffelei riß , so unbeholfen , daß er die Tür weit offen ließ .
Und durch diese Tür , die er offen gelassen , kam Raphael .
Ich fiel in seine Arme .
Mein Muttichen , ja , wir haben uns heiß geküßt , mit elementarem Entzücken , ganz in purpurnem Glück .
Wir saßen lange zusammen , wortlos , Auge ' in Auge ' , Hand in Hand .
Um die Holzscheite im Kamin hatte das Feuer langsam gezüngelt .
Plötzlich aber hüllte es die großen Scheite in prasselnde Umarmung , und die Flammen lohten .
Er flüsterte nur ab und zu :
mein ! mein !
Und ich empfand , daß ich sein war , ganz sein .
Jauchzendes , Inbrünstiges empfand ich und - seltsam - auch Gutes , Reines .
Feuer , scheint es , ist immer rein , wovon es sich auch nährt .
Übermorgen gehe ich zu ihm .
Wir haben es verabredet .
Ja , ich will ihm gehören .
Wie kann ich Dir nur das alles sagen !
Aber siehst Du , Einzige , ich muß es mir von der Seele schreiben .
Ist es nicht eigentlich auch nur so ein angestammtes Gefühl , eine Gewohnheitsmeinung , daß die Tochter der Mutter - und in unserem Fall einer so geliebten Mutter - nicht sagen darf , was sie etwa mit einer Freundin - meistens nur einer sogenannten - ungeniert bespricht ?
Nicht ein Vorurteilsrest , der noch aus der Zeit stammt , wo die Kinder ihre Eltern " Sie " nannten und in äußerlichem Respekt vor ihnen erstarben ?
Freilich , Timäa , selbst die Gehrt und alle anderen auch , sie würden indigniert sein , wenn sie meine Briefe an Dich läsen .
Die anderen sind eben die anderen .
Ich aber bin ich und Du bist Du .
Das heißt , Johanna Dalmar und Sibilla Dalmar lassen sich nicht erschöpfend in den allgemeinen Begriff Mutter und Tochter zwängen .
29. Oktober . Gestern war_es , und bis morgen - lange , lange ist es bis dahin , und zwischen Lippe und Kelchsrand läßt sich viel - sinnen und denken .
Ich muß immerzu an Dich schreiben , Mutti .
Ich bin so unruhig im Gemüt .
Die meisten Menschen machen wohl bewußt oder unbewußt , insgeheim oder vor aller Welt alle möglichen widerspruchsvollen Denk- und Gefühlsstadien durch .
Bald lauschen sie dem Sirenengesang aus der Tiefe , der sie hinabzieht , bald den Harfentönen aus der Höhe , die sie emporheben .
Ganz faustisch .
Der uralte Kampf zwischen Himmel und Hölle .
Wir Tartüffs verschweigen nur meistens die Hölle , den Himmel aber posaunen wir aus .
Ich habe Stimmungen - alle anderen werden sie wohl auch haben - wo das tristeste aller Worte : " L'homme machine " mir das einzig Richtige erscheint , und Worte wie Tugend , Entsagung , Pflicht , mir hohl und leer klingen , ein auswendig gelernter Katechismus , da wir ja doch in fünfzig Jahren alle tot sind , und das mit der Menschheit auch nur eine Phrase ist und nur der Mensch - was in diesem Falle ich bin , in Betracht kommt , das Wohl und Wehe des Einzelnen .
Warum aber immer nur das Wehe ?
Ich weiß mit absoluter Sicherheit , meine Natur ist gut .
Alles sittlich Häßliche und Gemeine stößt sie ab .
Selbst in meinen höllenmäßigsten Augenblicken könnte ich nichts Schlechtes , nichts wirklich Schlechtes tun , aus Instinkt nicht .
Bosheit , Ungerechtigkeit , jede Art von Niedertracht empören mich .
( Herr Gott , sagte nicht Mephisto Ferlani Ähnliches ? ) Und nun ist es doch dieselbe Natur , die mich so zaubergewaltsam hindrängt zu ihm , meinem Sonnengott .
Und das ein böser Trieb ? eine Schuld , eine Schande ?
Was wollen wir denn ? in süßer Extase einer des anderen sein ?
Und Benno ?
Ach , Unsinn !
Ich war nie sein Weib .
Wir sollen mit unseren Handlungen unseren Nächsten nicht schädigen .
Würde ich Benno schädigen ?
Er behielte alles , was ich ihm zu geben im stande bin .
Die Ehe heilig ?
Eine heilige Ehe mit einem so Unheiligen , wie Benno ist !
Gott , wie würde es ihn selbst genieren , wenn etwas Heiliges mit ihm zusammenhinge .
Er würde gar nicht mehr wagen , unter dem Siegel der Verschwiegenheit unanständige Anekdoten zu erzählen .
Ich kann die Ehe mit ihm nicht ernsthaft nehmen , da ich doch den ganzen Menschen nicht ernsthaft nehme .
Warum ich ihn geheiratet habe ?
Vom Schuljungen bis hinauf zum greisen Philosophen weiß es doch ein jeder , daß die Ehe unser Beruf ist .
Fand sich in meiner Mädchenzeit einmal Herz zu Herzen , so sprach doch die Vernunft des ausschlaggebenden männlichen Teils , wegen mangelnder Mitgift , immer dagegen .
Da nahm ich - um meinen Beruf zu erfüllen - was sich mir bot .
Ich konnte ja auch Deinen Benno recht gut leiden .
Ehebruch !
Breche ich denn eine Ehe ?
eine wahre Ehe ?
Kennst Du das schöne Wort Nietzsches , das wie ein Psalm klingt : " Ehe , so heiße ich den Willen zu zwei , das Eine zu schaffen , das mehr ist , als die es schufen .
Ehrfurcht vor einander nenne ich Ehe als vor den Wollenden eines solchen Willens . "
Ja , das wäre vielleicht eine Ehe .
Eine solche Ehe , ich und Benno ?
Wer lacht ? ich .
Ob man nicht in hundert Jahren vielleicht unsere Auffassung der Ehe , die das Weib zu lebenslänglicher Hingabe an ein bestimmtes Individuum verpflichtet , als schamlos , als eine Vergewaltigung der Natur brandmarken und als einen Nonsens verlachen wird ? und ob Physiologen nicht entdecken werden , daß die solchen Zwangsehen entsprossenen Kinder inferior organisiert sein müssen ?
Und ob nicht die Anschauung , daß junge , starke und blühende Liebestriebe guter und wissender Menschen zu unterdrücken seien , dem Spott verfallen wird , wie jetzt etwa die Meinung , als dürfe man den physischen Durst nur mit einem bestimmten Getränk löschen , etwa mit Weißbier , das mir vielleicht widersteht , besonders wenn Champagner daneben steht .
Der gute und intelligente Mensch weiß in seinen besten Momenten vollkommen , was er darf und was er nicht darf .
Und ich darf , Mutti , ich darf .
( Gott , das sind ja wieder Ferlanis Gedanken .
Denke ich ihm etwa nach , dem Mephisto ? ) Und habe ich denn auch wirklich jetzt gerade meine besten , intelligentesten Momente ?
Ich merke schon , ich thu's gewiß wieder nicht .
Ich weiß ja , ich komme niemals an die Reihe .
Um gegen den Strom zu schwimmen , muß man stark sein , Muskeln von Stahl haben .
Und die meinen ?
- Zwirnsfäden sind_es .
Ich käme bei solchen Schwimmversuchen immer gleich auf den Grund .
Ach - und da ist auch wieder mein Gespenst : Ella Ried .
Daß sie mir doch immer - - aber Mutti , ich sage ja nicht , " in die Suppe spuckt " , ich begnüge mich mit einem klassischen Zitat - - da ist das Zitat meinem Gedächtnis entfallen , aber es war aus Faust .
Alle Philosophen bestätigen die Unfreiheit des menschlichen Willens .
Es wird also wohl ein Schicksalsmuß sein daß ich immer hübsch philisterhaft auf der Landstraße bleibe .
Und links ab winkt Waldesgrün und Vogelsang , und rechts ein poetischer See mit Wasserrosen .
Immer vorüber - auf der Landstraße Alles in mir sträubt sich gegen dieses Müssen .
Nun gerade nicht ! wie die Kinder sagen , wenn sie trotzig sind .
Ich will mir selbst beweisen , daß mein Wille frei ist .
Als ich meine Unehe einging , habe ich doch kein Enthaltsamkeits-Gelübde getan .
Ängstige Dich nicht , Mutti .
Was riskiere ich denn ?
Es ist keiner da , der mich hinterher umbrächte .
Abends um 11 .
Ich nehme noch einmal die Feder .
Ich werde die Gedanken nicht los , die blassen .
Verschiedene innere Stimmen in mir liegen sich - um ein passendes Bild zu gebrauchen - in den Haaren .
Ganz Gretchen im Faust .
Erste Stimme ( tief und kirchenglockenartig ) .
Nur keine Untreue !
Sünde ist_es , Seelentod .
Zweite Stimme ( hoch und kichernd ) : Ach was !
Treue oder Untreue ! über allem Zauber - Liebe .
Dritte Stimme ( müde und ernst ) : Und also spricht die Vernunft : Alles Unsinn !
In fünfzig Jahren sind wir alle tot .
Und ehe man nicht den Tod aus der Welt schafft , ist alles andere Blech !
Blech !
Blech !
Nur der Schlaf ist nicht Blech , den ich jetzt schlafen werde .
Gute Nacht , süße Mutter. Mitternacht .
Ich bin wieder aufgestanden , ich kann nicht schlafen .
Cartesius stellt den Satz auf : " ich denke , " das heißt " ich bin . "
Ich möchte umgekehrt sagen : " ich denke , " das heißt " ich bin nicht . "
Vor dem Denken , dem wirklichen , wurzelhaften , verschwindet meine Persönlichkeit wie in eine Versenkung .
Ich denke mich fort aus meiner Haut , aus meinem sündigen Leib , und mein Ich treibt hinab in den großen Ozean , in den alles mündet , und darüber schwebt als einsamer Stern : das Denken .
So lange ich denke , lebe ich nicht bewußt genießend , und lebe ich , so denke ich - leider - meistens nicht . Habe ich nicht gestern gelebt ?
ein paar Minuten - intensiv - in wahrer Seelenseligkeit gelebt ?
Meine Freunde , und meine Feinde erst recht , bemühen sich immer mit so viel Witz und Phantasie , mich zu definieren .
Die selbstverständliche Sphinx reicht wegen ihrer Abgedroschenheit für diesen Zweck nicht aus .
Ferlanis Definition : Sibilla hat Eigenschaften wie die Zweige eines Baumes in Indien , die polypenartig alles festhalten , was sie ergriffen haben , darum tut man gut , in einem weiten Bogen um den Baum herumzugehen .
Gregori : Sibilla ist eine Pflanze mit einer Fülle von Blüten auf einem dünnen Stängel und einer kranken Wurzel .
Darum fallen die Blüten ab , ehe sie Früchte angesetzt .
Timäa : Sibilla ist eine Danaiden mit dem bekannten lecken Fass ; die schöpft und schöpft , und das Fass bleibt leer .
Es ist alles , alles nicht wahr .
Ich bin ein mittagheller Verstand mit einer verwaschenen , dämmernd romantischen Seele , das bin ich .
Das heißt : eigentlich bin ich gar nichts .
Nichts Romantisches , nichts Schwingendes und Klingendes ist in mir , wie in den Generationen , die vor mir waren und die für Byron und Schiller schwärmten , nichts von der sublimen Nüchternheit und Einfachheit , die vielleicht im 20. Jahrhundert sein wird .
Gallertartig fließe ich auseinander .
Ein tristes Übergangsgeschöpf bin ich .
Ich weiß eigentlich auch immer ganz gut , was ich zu tun und zu lassen habe .
Ich tue aber das Eine nicht , und das Andere lasse ich nicht .
Warum ?
Weil ich Sibilla Dalmar bin , weil Du meine Mutter bist und Franz Dalmar mein Vater war .
Du weißt ja das alles von der Erblichkeit , Erziehung u. s.w .
Ich bin ein passiv indolenter Mensch mit dem Temperament der Aktiven .
Alles ist intermittierend bei mir : der Hochsinn , der Blödsinn , die Intelligenz , die Dummheit , die Tugend , das Laster .
Eine Bohemien des Geistes bin ich .
Ob morgen das Laster , das sogenannte , an die Reihe kommen wird ?
Ich bin selber am neugierigsten .
Daß einem die einfachsten Dinge doch ewig unmöglich sind .
Ich denke oft darüber nach , ob wir Menschen im allgemeinen , und Sibilla Dalmar im speziellen nicht faustdicke Narren sind , die das Leben mit lauter Fesseln so verbarrikadieren , bis jede spontane Bewegung unmöglich wird .
Wer leicht ist , kommt auch leicht über einen Sumpf .
Ich bin nicht leicht genug , schleppe so viel Gedanken mit , schwere , lastende .
Mutti , Nachdenken hilft ja kein bißchen , und frischer Mut ist tausendmal mehr wert , als die feinste Philosophie .
Ferlani hat recht .
Ein freiwilliger Tantalus ist beinahe komisch .
" Was Du von der Minute ausgeschlagen , bringt keine Ewigkeit zurück . "
Die scheußliche Schlange auf dem wildsüßen Stuckschen Bilde ist ein malerischer Effekt , nichts mehr .
O , Mutti , nicht so traurig blicken .
Du hast es ja nie gekannt , dies drängende , irre , wilde Sehnen , das jede Fieber schwellt . -
Er ist so sonnenhaft schön .
Fürchte nichts .
Ich bin nicht Hero , er nicht Leander , und die Wasser sind nicht tief , im Gegenteil flach - flach .
Mutter , liebe Mutter , ich will mir auch einmal was zu liebe tun .
Meine Seele soll nicht wissen , was meine Sinne , was mein Herz tun , wie beim Wohltun die Linke nicht wissen soll , was die Rechte tut .
Was geht das mich - mich als Seele gedacht - eigentlich an , was Körper und Sinne tun ?
Daß Seele und Leib verschiedene Wege gehen , ich kann nicht dafür .
Still , liebe Seele , still , ich habe schon so viel für Dich getan , und ich will später noch viel mehr für Dich tun .
Aber nur morgen quäle mich nicht , nur morgen nicht .
Laß den Sinnen ihren Festtag .
Mitternacht !
Huh !
Zu Bett !
Diese Selbstgespräche werden Dir schwerlich jemals zu Gesicht kommen .
30. Oktober .
So , liebe Mutter .
Vorüber ist er , der kritische Tag .
Die gestrigen Gedanken noch einmal denkend , zog ich mich in der Dämmerstunde zweckentsprechend an .
Braunwollenes Gewand , dichter Schleier , düstere , herzklopfende Entschlossenheit .
Ich gehe zu dem nächsten Droschkenstand , nehme einen Wagen , sage dem Kutscher Straße und Hausnummer , und drücke mich in die Wagenecke .
Wie der Kutscher schon auf dem Bock sitzt , beugt er sich noch einmal nach dem Wagenfenster herunter , und ersucht das drinsitzende Fräule , ihm noch einmal Straße und Nummer zu nennen , aber a bißle lauter , er höre schwer .
Einige andere Kutscher und eine Gruppe von Leuten standen in Hörweite .
Ich sollte die Adresse herausschreien !
Nicht um alles in der Welt .
" Nach dem englischen Garten " stieß ich zornig hervor .
Am Eingang des Parks stieg ich aus und schlug meinen Lieblingsweg ein , am Opheliabach entlang .
Ein Tränchen hing in meinen Wimpern .
War es Enttäuschung , Zorn , Rührung oder allgemeine Wehmut über alles und nichts - ich weiß es selbst nicht .
So hatte ich nun doch gemußt ! nämlich tugendhaft bleiben .
Wäre der Kutscher nicht schwerhörig gewesen , ich läge jetzt in seinen Armen .
Das eintönige , sanftwiegende Läuten der Abendglocken klang zu mir herüber , so klarer Frieden , so labende Frische um mich her .
Auf einer Bank saß eine arme Frau mit einem Kinde , das sie an sich preßte .
Ganz elend und verhutzelt sah sie aus .
Ich ging achtlos an ihr vorüber .
Als ich später noch einmal an der Bank vorüberkam , bestrahlte die untergehende Sonne das Gesicht der Frau .
Nun hob sie sich wie in Glorie getaucht vom dunklen Grün der Bäume ab :
Eine Mater dolorosa .
Überrascht blieb ich stehen .
Ich gab ihr alles Geld , das ich bei mir hatte .
Der Goldglanz der untergehenden Sonne funkelte an den Fensterscheiben der Häuser , und aus dem wallenden , leise verglimmenden Feuer am Horizont ragte ein schwarzes Kreuz in die Luft - es stand auf dem Turm einer Kirche .
Es ging in mir etwas vor - wie soll ich sagen , etwas wie Gebet - Kindergebet .
In immer weiterer Ferne verlor sich Raphael .
Und wie ich so dahinschritt , kam allmählich eine milde Wohligkeit über mich .
Wie gut es war , daß ich mich jetzt am kühlen Bach erholen konnte von all den inneren Kämpfen , die ich um seinetwillen ausgestanden .
O des beseligenden Gefühls , rein geblieben zu sein ! -
Wie ?
Und das sage ich ? denke ich ? die Gattin meines Gatten ?
Ich bin gerade so dumm , wie die Zeitbegriffe selbst den Klügsten machen .
Aber Du bist nun froh , Mutti ?
Um Deinetwillen ist meine Freude echt .
Der weiße Mond stieg hinter den Häusern auf , als ich heimging .
Sei sicher , ich wiederhole diesen Versuch nicht , nie .
Davon gefahren ist Helios in seinem Sonnenwagen , für immer ! immer !
Ich fühle mich Dein Kind , ganz Dein Kind , meine Mutter .
Sibilla . 3. November .
So , Mutti , da wären wir nun also in den Schoß der zwar nicht seligmachenden , aber doch bequemen Tugend zurückgekehrt .
Raphael habe ich nicht wiedergesehen .
Ich blieb zwei bis drei Tage zu Hause , und ließ mich an den ersten beiden Tagen viermal hintereinander vor ihm verleugnen .
Da merkte er , daß es sein Abschied war .
Acht Tage darauf war er nach Italien abgereist .
Ade ! ade , mein Phöbus Du !
Ob ich es später einmal bereuen werde ?
chi lo sa !
Um in meinem Tugend-Eldorado unangefochten zu bleiben , habe ich beschlossen , der " Monde " den Rücken zu kehren , und teils gar nicht mit Menschen , teils nur mit einfachen , braven Leuten , wie Zeltingers und ähnlichen zu verkehren , und nebenbei die Intimität mit Jolante zu pflegen .
Übrigens mehren sich die Zeichen der Zeit , daß nächstens ein Umschwung in der ethischen Welt bevorsteht .
Augenblicklich ist zwar äußerste Dekolletiertheit , Frivolität und das so sehr verschriene Trüffelmus noch im Flor !
Aber wer weiß , vielleicht schon in wenigen Jahren sind Einfachheit , Keuschheit und Suppenrindfleisch ( wenn es Rinderbrust ist , habe ich nichts dagegen ) Mode .
In England gilt seit jeher Religiosität für vornehm , darum bemüht sich alle Welt , religiös zu tun , auch die dekadenteste , und der fetteste Bourgeois geht Sonntags mit dem Gebetbuch zur Kirche .
Aber Moden sind nur auswendig ; sie beeinflussen nur die Formen der Moral oder Unmoral , und Tartüffe schlägt ebenso über die Stränge wie Don Juan .
Ich aber möchte mich von innen heraus umformen .
Siehst Du , Mutti , mit einem Male habe ich eine Sehnsucht nach Altmodischem , nach Reinem und Kleinem , von aller Moderne Unbelecktem .
Ich glaube ja eigentlich von ganzem Herzen an eine wahre , schöne Ehe .
Ich möchte einen Mann haben mit klaren , blauen Augen und ohne Bart .
In schöne goldene Bärte verliebt man sich so leicht .
Sein Haar müßte etwas lang geschnitten sein , wie auf den Christausbildern .
Und Professor müßte er sein , ein sehr gelehrter .
Und sanft von Gemüt und naiv wie ein Kind will ich ihn , einen Menschen will ich , dem ich die Hände küssen möchte .
Von Politik und allem Parteihader weiß er nichts .
Er lebt im großen Weltall .
Berlin oder München ist ihm viel zu klein .
In einer kleinen Stadt , in Thüringen etwa , würden wir wohnen , in einem Häuschen vor dem Tore , mit einem Garten und einer breiten Linde vor den Fenstern .
Die Möbel : dunkles Mahagoni , grüne Vorhänge vor den Bücherschränken , und von der Decke hängt eine Ampel auf den runden Tisch nieder .
Vor den Fenstern - Blumen .
Über den Blumen ein Dompfaffchen .
Und morgens , während das Dompfaffchen dazu pfeift , tränken wir an dem runden Tisch unseren Kaffee aus einer Kaffeemaschine , obwohl der Kaffee aus einer Maschine nicht schmeckt , es macht sich aber so gemütlich .
Und ich hege und pflege mein Kind von Mann , bin nichts als eine sorgende Hausfrau .
Er dürfte sogar ein Pfeifchen schmauchen , das ich sonst nicht ertrage .
So ein fröhliches , ernstes , reines Leben in feiner Stille , das möchte ich leben , mit einem Hauch von Wehmut darüber .
Ob ich den Mann je finden werde , dem ich die Hände küssen möchte ?
Also eine biedere und gediegene Geselligkeit wollte ich .
Den Professor Krausen hatte ich nie aufgefordert seine Frau bei mir einzuführen .
Ich kenne sie von der Straße her .
Sie hat eine miserable Schneiderin .
Jetzt machte ich ihr zuerst einen Besuch .
Sie erwiderte ihn umgehend , und einige Tage darauf erhielten wir ein Billettchen , das uns zu einem Diener einlud .
Sie habe nicht mit Karten eingeladen , erklärte mir die Frau Professor später , weil die Gäste dann Fisch erwarteten .
- Allerliebst , solche Bonmots , nicht ?
Wir trafen bei Krusens einige Professoren , Künstler , Beamte und lauter Damen in hoher , schwarzer Seide , mit großen Brachen und Uhrketten .
Fast alles Leute ohne Welt und Routine .
Aber , mein Gott , was tut denn das ?
Schwarze Messer und Gabel und Kalbsbraten , so recht gemütlich einfach .
Mit den Männern habe ich mich gut unterhalten .
Die Damen freilich - aber mein Gott , eine Unterhaltung über Dienstboten , Fleischpreise , Kinderernährung u. s.w. kann doch menschlich und nationalökonomisch ganz interessant sein .
Das Mädchen , das servierte , kicherte über diese Geschichten , benahm sich aber sehr freundlich , indem es mit einem :
" Ich bitte ' schön " die Gäste zu reichlichem Zugreifen animierte , und sie auf die besten Stücke aufmerksam machte .
Ganz amüsant war es auch , als nach Tisch eine Frau Geheimrätin sich mir gegenüber sehr mißbilligend darüber aussprach , daß eine ebenfalls anwesende , aber einfache Frau Rätin sich Meißner Porzellan - echtes - angeschafft habe , was doch für ihren Stand nicht passe , während sie selbst - die Geheimrätin - sich erst seit ganz kurzer Zeit ein Meißner Service bezähmt habe .
Auch besäße diese Nichtgeheime einen Waschtisch mit Marmorplatte , während sie , die Geheime , mit einer Platte von gestrichenem Holz , die allerdings wie Marmor aussähe , vorlieb nähme .
Benno behauptete , im Pudding wäre ein faules Ei gewesen .
Und wenn schon .
Mir ist jetzt immer , als hätte ich Dir nichts mitzuteilen , Mutti .
Eine gewisse Leere gähnt in mir .
Gute Nacht denn .
13. November . Heute , liebe Mutter , hatte ich über Tolstoi gelesen .
Ich legte das Buch fort , ging in den Garten , nahm den Spaten und fing an zu hacken und zu graben .
Ich wollte auch arbeiten , ich wollte auch froh und stark werden wie er ; denn , sagte ich mir , die moralische Läuterung muß Hand in Hand gehen mit der hygienischen .
Der Gärtner kam dazu .
Er war unzufrieden mit meiner Graberei ; ich machte ihm nur doppelte Arbeit .
Da hast Du_es .
Sich mit Seele und Körper brav verhalten und dadurch Schaden anstiften , das geht doch auch nicht .
Eine große musikalische Soirée bei Zeltingers .
Sie hatten nach der Verheiratung ihrer Tochter eine kleinere Wohnung genommen .
Die hatten sie nun für die Gesellschaft ganz ausgeräumt , und anstatt der Möbel sechsundvierzig Personen hineingezwängt .
" Von achtundvierzig Einladungen nur zwei Absagen , " klagte mir Frau Zeltinger .
Benno wird Protz .
Er erzählte nachher Timäa , daß eine Fülle der unbekanntesten Menschen dort gewesen , und eine Hitze und eine Luft in den drei kleinen Löchern !
In dem einen Loch hätten auf einem steifen Renaissancesofa an der Mittelwand lauter schwarzseidene Damen gethront , wie eine Art entschleierten Femegerichts : eine Geheimrätin , eine Reichsrätin und eine Medizinalrätin .
Die Schülerinnen des Professor Zeltinger hätten , in rosa und himmelblau , mit kreischen Stimmen und obligater Leidenschaft ( sie wollen meistens zum Theater ) teils süße , teils wildbewegte Lieder gesungen , und ein Herr hätte einen selbst komponierten Gesang vorgetragen mit sehr ausdrucksvollen Backenknochen und der Versicherung , daß das Lied noch nicht einmal niedergeschrieben sei , was seinen Wert jedenfalls erhöhen sollte .
Nach Tisch wurden allerhand harmlose Scherze getrieben ; z.B. mußte sich ein Herr behuf eines Experiments auf eine Flasche setzen , die leider unter ihm zerbrach .
Er gab aber gleich die beruhigende Versicherung , daß er sich keine edleren Teile verletzt habe .
Mutti , soll ich es Dir gestehen , neulich , bei einem Abendessen in diesen Kreisen , überkam mich plötzlich eine förmliche Sehnsucht nach etwas Weltlichem , Flottem , Pikantem , ich möchte beinahe sagen Unsäuberlichem .
Das sind so Rückschläge , werde sie schon überwinden .
Deshalb fuhr ich auch gestern zu Jolante .
Sie lag mit einer leichten Influenza im Bett .
Ich traf eine Vorstands-Dame des Wohltätigkeits-Vereins bei ihr , die eben im Begriff war , einige Recherchen bei armen Leuten vorzunehmen .
Schnell entschlossen , bot ich mich an mitzugehen .
Wir fuhren mit der Pferdebahn - ich fahre sonst nie in Pferdebahnen - in eine weitentlegene Straße , deren Namen ich nie gehört habe .
Die Familie , der unser Besuch galt , bestand aus einer von ihrem Manne verlassenen Frau und drei Kindern .
Meine Begleiterin hatte über die Frau allerlei Verdächtiges in Erfahrung gebracht .
Durch den Torweg eines vielstöckigen , tristen , armseligen Hauses traten wir in einen von Seiten- und Hintergebäuden eingeschlossenen engen Hof .
Die Familie , um die es sich handelte , wohnte im Keller .
Die Kellerfenster waren in halber Höhe , wohl zum Schutze gegen den eindringenden Regen , mit einer Holzbarriere versehen .
Wir stiegen mehrere Stufen in den Kellerraum hinab .
Eine dumpffeuchte Luft schlug uns entgegen .
So dunkel war es in dem ziemlich großen Raum , daß ich einige Zeit brauchte , ehe ich die Gegenstände unterscheiden konnte .
Alles war ordentlich aufgeräumt , bis auf ein Bett , das mit seinen durcheinandergeworfenen Kissen aussah , als hätte sich eben jemand daraus erhoben Eine bleiche , junge Frau kämmte einem etwa zehnjährigen Mädchen das Haar .
Kein " Grüß Gott " empfing uns .
Die Frau hatte uns augenblicklich über den Hof kommen sehen und empfand unseren Besuch als Belästigung .
Auf die Frage meiner Begleiterin nach ihrem Befinden , antwortete sie unwirsch :
" Nicht gut . "
Etwas Feindseliges blitzte dabei in ihren Augen auf .
Noch zwei andere Kinder befanden sich im Zimmer .
Alle drei sahen skrofulös aus , und die Gesichter trugen einen stumpfen , griesgrämigen Ausdruck .
Das eine hatte verbundene Ohren .
" Sie sind wohl eben erst aufgestanden ? " fragte etwas scharf meine Begleiterin .
Ein kaum hörbares " Ja "
kam von den Lippen der Frau ; auf alle weiteren Fragen antwortete sie mit einer ärgerlichen Ungeduld und einem Ausdruck , als wünschte sie uns zum Teufel .
Plötzlich vernahmen wir vom Bett her einen leisen , wimmernden Ton .
Eine dunkle Röte ergoß sich über das Gesicht der jungen Frau .
Die Dame trat schnell an das Bett heran und schob die Kissen beiseite .
Ein Kindchen , kaum vierzehn Tage alt , kam zum Vorschein , ein hübsches Kind mit rosigen Bäckchen und blauen Augen .
Mit einem ironischen " Ach so , " wendete sich meine Begleiterin zu der zitternden Frau .
Daß sie selbstverständlich jetzt auf keine Unterstützung mehr rechnen könne , dürfte ihr bekannt sein .
Einen unmoralischen Lebenswandel noch förmlich zu belohnen , sei gegen die Statuten .
Auch würde sie dafür Sorge tragen , daß man die älteste Tochter dem schlechten Einfluß der Mutter entzöge , und sie in einem Waisenhause unterbringe .
Die arme Frau bezähmte mühsam ihre Wut und zischte zwischen den Zähnen :
sie könne sich und ihre Kinder nicht allein ernähren , darum habe sie es getan , darum - er gäbe doch etwas zum Leben zu .
Ich drückte ihr , als wir gingen , heimlich zehn Mark in die Hand - " gegen die Statuten " .
Privatwohltätigkeit wird nicht gern gesehen .
Man soll das Geld den Vereinen geben .
Nur widerwillig folgte ich meiner Gefährtin in eine andere Wohnung .
Hier kletterten wir vom Hof aus vier Stiegen empor und traten in ein enges Stübchen .
Ein abgezehrter Mann lag auf einem Strohsack im Bett .
In seinen besten Stunden , erfuhr ich , ging er mit Streichhölzern hausierend in den Kneipen umher .
Zwei welke , kleine Mädchen spielten in dem schmutzigen Raume .
Das größere wäre wohl im stande gewesen , die Kammer auszukehren .
Die Frau hatte einen Schaden am Bein .
Sie stand vor dem eisernen Öfchen , das eine wahnsinnige Hitze verbreitete , und kochte einen Kohl , das Mittagessen der Familie .
Und in dieser gräßlichen Luft leben vier Menschen Tag und Nacht .
Sie öffnen das Fenster nicht , um die Wärme zu konservieren , den Schmutz beseitigen sie nicht , weil er sie nicht belästigt .
Mann und Frau waren ganz demütige Unterwürfigkeit uns gegenüber .
Die kleine vierjährige Marie , mit einem süßen Gesicht und großen blauen Augen , mußte als Zeichen ihrer Bravheit ein frommes Gedicht herunterleiern .
Bei der zweiten Strophe fing das Kind bitterlich an zu weinen , ich weiß nicht , warum .
In der Folge starrte sie mich immer an , und einmal kam sie dicht zu mir heran , streichelte meinen Pelz , legte das Bäckchen darauf und sagte : " so söhn , so söhn " und fragte , ob das Ännchen jetzt auch einen so schönen Pelz im Himmel habe .
Das Ännchen , eine Schwester , war vor drei Wochen im Krankenhause an der Abzehrung gestorben .
Mit Mühe bekämpfte ich während der zehn Minuten , die wir da oben blieben , ein Unwohlsein .
Als wir die schmale Treppe zur Hälfte hinabgestiegen waren , sah ich mich noch einmal um .
Und da stand auf der obersten Stufe das Kind und starrte mir nach .
Ein Schreck durchfuhr mich .
Die Blicke des Kindes klammerten sich förmlich an mich , eine so tödliche Bangigkeit , eine so furchtbare Traurigkeit lag darin .
Es war , als ginge ein Befehl von diesen Augen aus .
Ich stand einen Augenblick unschlüssig .
Dann ging ich zurück und drückte dem Kinde ein Goldstück in die Hand .
Es entfiel dem halbgeöffneten Händchen und rollte mir nach mit einem so dumpfen eigentümlichen Klang .
Nein , diese Form der Wohltätigkeit ist gewiß nicht die richtige .
Almosen , das die Empfänger erniedrigt und heuchelt und den Gebenden ein böses Gewissen macht .
Ich werde diese inbrünstig sich anklammernden Blicke der kleinen Marie nicht so bald vergessen .
Sie gehen mir nach wie ein stummes Drohen .
Gute Nacht für heute .
20. November .
So , Mutti , nun hätte ich auch eine brave , gediegene Gesellschaft in meinem eigenen Hause hinter mir .
Ich mußte mich doch für die vielen Einladungen , die ich erhalten und angenommen , revanchieren .
Eigentlich hatte ich mich vor dieser Gesellschaft etwas gefürchtet .
Ich dachte , sie würde gräßlich werden , muß aber zu ihrem Lobe sagen , daß sie nicht viel gräßlicher verlief , als ich erwartet hatte .
Von den Gästen behaupteten zwar viele , es wäre zu nett gewesen .
Aber der Gast ist lügnerisch .
Die jungen Mädchen waren nicht hübsch .
Und dann Frau Krausen , die ich nicht leiden kann , und einige andere , die ich auch nicht mag , und eine jüngere Dame , die böse war , weil sie neben den alten Zeltinger placiert war , und eine ältere Dame , die auch böse war , weil sie nicht neben Professor Krausen saß .
Und er , Zeltinger , der , als eine junge Dame sang , fragte , ob das eine Ziehharmonika sei ; und eine ältliche Respektstante , die sitzen blieb .
Ich hatte alles vorausgesehen .
Und Krusens , die einen Wagen bestellt hatten , aber erst - um ein Uhr .
Das hätte beinahe dem Fass den Boden ausgeschlagen .
Aber erst eine Ohnmacht , die mich am anderen Abend in einer anderen Gesellschaft anwandelte , schlug ihn wirklich aus .
Was die Ohnmacht veranlaßte ?
Erstickend heiße Gaßluft und Langeweile .
Mutter , liebe Mutter , mein Experiment ist mißglückt .
Ich kehre reuig in den Schoß meiner " Monde " zurück , wenn ich auch weiß , daß es dort auch nichts sein wird , erst recht nichts .
Ich weiß nicht , ob der Mensch aus Gemeinem gemacht ist , das aber weiß ich , daß er die Gewohnheit seine Amme nennt .
Nein , Mutti , auch in diesen soliden bürgerlichen Kreisen kennt man Herzenseinfalt , Natürlichkeit und Seelenhaftigkeit nicht .
Markt der Eitelkeit hier wie dort !
Nur fehlt hier der entrain , der Esprit , wenigstens bei den Frauen , und alles ist spießrig .
Mir ist wie einem Fischlein , das längere Zeit im Trockenen gezappelt hat und nun wieder in seinem Element munter weiter schwimmt .
Liebe Mutter , ich kann nun einmal in meinen Kreisen nicht anders leben als die anderen .
Nur wer mitraucht , kann ein Zimmer voll Zigarrendampf vertragen .
Und ich rauche mit , ich dampfe , ich qualme , ich ersticke .
Übrigens habe ich mir das Ersticken viel unangenehmer gedacht .
Nach der langen Gesellschaftssperre amüsiere ich mich wieder .
Taumel , Rausch , Gesellschaft auf Gesellschaft , Kostüm auf Kostüm , und selbstverständlich der Triumphwagen wieder vollbespannt , alles in dem alten Geleise .
Weit hinter mir liegen die schwarzen Messer und Gabeln , die falschen Hasen , die alten Herren , die einem auf die Schulter klopfen und die öde , courmacherlose Zeit .
Ferlani ist wieder da und Born und alle die anderen auch .
5. Dezember . Gestern stürzt Timäa ganz verzweifelt zu mir herein .
Sie gibt eine Riesensoiree , hundert Personen , und sie findet es geradezu haarsträubend , was für Zusagen einlaufen .
Leute , die ihrer Meinung nach in tiefer Trauer sind , Leute , die Welt und Gesellschaft hassen , Leute , die eigentlich gar nichts zum Anziehen haben , alles kommt .
Und sie hatte so auf die Dezimierung durch die Influenza gerechnet , die hier jetzt in Blüte steht .
Und dazu hat sie täglich Komiteesitzung .
Es wird wieder eine ungeheure Radau-Bazarsache in Szene gesetzt , im Kostüm .
Ich mußte lachen , als sie mir schilderte , wie der Kakao den Platz vorm Tee haben wollte , und der Tee spitzig erklärte , was für den Kakao nicht gut genug sei , wolle er auch nicht , worauf der Kakao mit innerer Erregung und sehr blitzenden Augen um seine Entlassung bat .
Ich sollte mich durchaus am Bazar beteiligen .
Ich refüsierte .
Dazu , Ihr lieben Leute , bin ich zu eitel und zu friedliebend .
Weiß ich doch von früher her , welchen Anblick diese Damen allabendlich nach ihrem Achtstundentag schwerer Arbeit gewähren : grau , übernächtig , schweißtriefend , mit ausgegangenen Locken .
Und halb München pflegt dann am Tage nach der Schließung des Bazars mit Migräne im Bett zu legen , und - verzankt zu sein .
Denn bei dieser Schlacht auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit gibt es immer viel Verwundete , und wohl auch ein paar Tote .
Übrigens eine Absage von Bedeutung hatte Timäa doch zu verzeichnen : Frau Bürgens .
Sie ist in Trauer , natürlich in sehr kleidsamer .
Ihre Schneiderin , die auch die meinige ist , hat mir anvertraut , Frau Bürgens hätte sich für das Trauerkleid auf einen bestimmten Schnitt kapriziert , der ihre Figur möglichst Strafe heraus modelliere .
Sie hatte ihren kränkelnden Mann nach Wien geschleppt , anstatt an die Riviera , wie die Ärzte es verlangten .
Wien lag ihr aber am Herzen .
Dort wollte sie ihre Tochter mit irgend jemand - irgend jemand war natürlich Graf - verheiraten .
Der arme Bürgens ist in Wien gestorben und , was das Betrübendste ist , vergebens gestorben .
Der gräfliche Schwiegersohn war inzwischen wegen Nahrungssorgen nach Kamerun gegangen .
Die Witwe trauert tief , es ist gar nicht zu sagen , wie tief .
Türklinken schwarz umwickelt , Kutscher rabenschwarz , Pferde große schwarze Kokarden , Schleier undurchdringlicher Krepp .
Sie läßt sich zum Essen zwingen oder wenigstens die Nachricht dieser erzwungenen Mahlzeiten verbreiten .
Ich muß zur Schneiderin .
In diesen Kreisen gehen alle Damen immer ausgeschnitten - und wie tief !
Ich muß mir , weiß Gott , noch ein altes Kleid ein bißchen unanständiger richten lassen , sonst halten sie mich für unerlaubt anständig - und das will man doch auch nicht .
10. Dezember .
Das Fest bei Timäa war , wie solche Massenzusammenkünfte zu sein pflegen : Toilettenpracht , Schmuck , Puder , Kerzenglanz , Hyazinthenduft , Flirt und Gedränge am Büfett , buntes Allerlei .
Entsetzen erregte die Gehrt , die außer einem Schönheitspflästerchen gar wenig anhatte und ein ungeheuer liebevolles Wesen entwickelte .
Die lade ich nie mehr ein .
Nicht wegen der etwas welken Nacktheit , sondern - überhaupt .
Ich mag sie nicht , sie paßt mir nicht , und ich sehe nicht ein , warum ich mit den Leuten umgehen soll , bloß weil sie wollen .
Einmal mußten wir aber doch wieder über sie lachen .
Es fragte sie jemand , ob sie Kinder habe .
" Ja , ein Töchterchen . "
" Nur eins ? " bedauerte man .
Die Gehrt : " Natürlich , man verheiratet sich doch nicht , um Kinder zu kriegen . "
Köstlich das Wort , nicht ?
Und allen diesen Damen aus der Seele gesprochen .
Frau Charling , die elegante , komtessenhafte wienerische Pariserin , war nicht eingeladen worden .
Denke Dir , Mutti , diese Charling , die erst nach längerer Beanstandung von uns akzeptiert worden ist , nimmt sich heraus , erst eine zusammengewürfelte Packgesellschaft - zu der auch wir gehörten - zu geben , und zwei Tage später eine feine Aristokraten-Gesellschaft .
Die Packgesellschaft strikte zum großen Teil , ich auch .
Wenn ich mich amüsiere , dann bin ich gar nicht so .
Aber , wenn ich mich noch obendrein langweile , nein , dann mache ich die sittliche Entrüstung mit .
Bei Timäa wurde mir ein interessanter junger Livländer vorgestellt , Hely von Helmströme , uraltes Adelsgeschlecht , eleganter Weltmann , Gelehrter , ich glaube Historiker .
Reizende Mischung .
Verwöhnter Liebling aller Haut-goaut -Damen .
Sollte ich ihn einmal näher kennen lernen , so wird sein Zauber wohl auch vor meiner unheilvollen , um nicht zu sagen verfluchten , Kritik verschwinden .
15. Dezember . Nein , Mutti , nein , ich bin nicht gut , Du irrst .
Wenn alles geht wie ich will , wenn ich geliebt , umworben werde , wenn ich keine Kopfschmerzen habe und die Köchin nichts verdirbt , dann bin ich liebenswürdig , von einem universellen Wohlwollen für die Menschheit durchdrungen .
Erfahre ich aber der Seele oder dem Leib Zuwidere , so werde ich hart , herb , hochmütig und habe eine förmliche Sucht , diejenigen zu kränken , die ich liebe .
Tyrannentrieb .
Und kaum habe ich meine Opfer in die Flucht gejagt , so locke ich die Fliehenden zurück mit einem Blick , einem lieben Billettchen .
Warum tue ich das ? weil man von seinen Gewohnheiten nicht loskommt .
Ich mag meinen Tee nicht allein trinken .
Ich bilde mir manchmal ein , daß ich für Einsamkeit schwärme .
Ich liebe sie , aber nur en passant . Es scheint , ich genieße alles nur en passant : die Natur , die Liebe , Bücher , Geselligkeit , überhaupt das ganze Leben .
Heute war ich nach Tisch ein wenig eingeschlummert , als plötzlich der Donnerruf mich weckte :
" Brutus , Du schläfst ! "
Ich schlage die Augen auf : Jolante .
" Welchem Cäsar soll ich denn zu Leibe gehen ? " frage ich die Grimme , die mit einem hochgeschwungenen Zeitungsblatt vor mir steht .
" Afrika , " stammelt sie , " solche Greuel ! " O Mutti , sie verlangte weiter nichts als eine Frau , die noch einmal Toms Hütte schreiben sollte , und machte mir bittere Vorwürfe , daß ich keine Beecher-Stowe sei .
Um sie auf andere Gedanken zu bringen , bat ich sie , abends mit mir in Lohengrin zu fahren .
Da kam ich schön an . - Jawohl , in die seligste Romantik hinüberduseln , unter Lichtfluten , während im dunklen Erdteil Menschen , sage Menschen , zu Klops und Beefsteaks zerhackt würden ?
Anstatt ins Opernhaus sollten sich die Gralsritter nach Afrika scheren , und den Pfarrer Kneipp gleich mitnehmen , um die Tropenkollerigen zu kurieren .
Ich muß immer lächeln über die gelegentlichen rauhen Derbheiten in Jolantes Ausdrucksweise , weil ich weiß , daß sie nur eine halb absichtlich dick aufgetragene Farbe sind ; immer schimmert die Himmelsbläue ihrer Seele lieblich durch das schwere Wettergewölk ihres Grimms .
Ich hatte sie in einer vertraulichen Stunde einmal gefragt , ob sie denn seit jeher immer nur alle geliebt und nie einen einzelnen , mit der Liebe des Weibes ?
Ein melancholisches Lächeln war über ihre Züge geglitten .
" So unwahrscheinlich es klingt , " hatte sie geantwortet , " ich war verlobt , mit einem Theologen , long , long ago . "
- " Und warum - - " ich wagte nicht weiter zu fragen .
Sie drehte sacht den Kopf nach hinten , so daß ihr gesenkter Blick ihre Schulter streifte , der Blick einer verwundeten Taube , und sagte : " Man hat ihn einmal Kamelführer genannt , da hielt er nicht stand . "
Arme Jolante , wärest Du inwendig ganz voll von Höckern und hättest nur das einzige winzige auswendige Höckerchen nicht , wie würde man Dich begehren und lieben !
Aus dem Treubruch des Theologen war ihr philanthropischer Hang erwachsen .
Was Niedriggeartete erbittert , wird für schöne Seelen zur Himmelsleiter .
Eine schöne Seele sein ! ach ja !
Gestern brannte es gegenüber von unserem Hause .
Die Feuerwehr kam .
Die qualmenden , dampfenden Fackeln mit ihrer dämonischen Glut , das tobende Gepfeife und Gerassel - aufregend war_es .
Ich habe nie ein brennendes Haus gesehen .
Ich stand am Fenster und wartete auf die Flamme , auf ein Flammenmeer wartete ich .
Ich schmachtete nach einer Feuersbrunst .
Nur ein Schornsteinbrand war_es .
Die Feuerwehr rasselte bald davon .
An den Schreck und die Angst der Bewohner des brennenden Hauses hatte ich nicht einen Augenblick gedacht .
So ist man , wenn man keine schöne Seele ist .
2. Januar .
Mir ist oft alles so verleidet , Mutti , ich bin so stumpf .
Dieses ewige Einerlei , das ist wie ein Wurm , um nicht zu sagen ein Totenwurm , der uns aushöhlt , zerbröckelt .
Täglich immer dasselbe tun , um dieselbe Stunde , an demselben Ort .
Um neun Uhr aufstehen , ein Bad nehmen , mich anziehen , frühstücken , mit der Köchin das Menü besprechen , die Zeitung lesen , der Spaziergang u. s.w .
Ich könnte darüber zur Selbstmörderin werden , daß ich mich jeden Morgen waschen muß .
Wüst , befremdlich , diese Monotonie .
Ich spähe nach einer Oase aus , wo frische Quellen rauschen , Wunderblumen wachsen , und - - aber ich weiß schon , die Wunderblumen sind immer blutrot , und die Quellen rauschen - Liebe .
All die treibenden , drängenden Kräfte in mir , teils verbrauche ich sie zum Sinnen und Grübeln , teils sperre ich sie ein .
Das sind dann die Poltergeister , die Rumor machen und auf Frevel verfallen , Frevel , wie der verflossene Raphael .
Gott , wenn man schon etwas erlebt , merkt man erst , wie gut es ist , wenn man nichts erlebt .
Könntest Du mir nicht ein großes Talent schenken , Mutti ? oder einen Trieb zur Arbeit , oder irgend einen Glauben , und wäre es auch nur der Glauben an mich selbst .
Ich beneide diejenigen , die etwas Bestimmtes wollen , die einen einzigen großen Ehrgeiz haben , und wäre es auch nur der Ehrgeiz , Vorstandsdame eines Wohltätigkeitsvereins zu werden , oder durch originelle Toiletten und raffinierte Menüs zu verblüffen , oder eine Tochter zu verheiraten .
Was sollte ich denn wohl wollen ? etwa eine erste Rolle in der Gesellschaft spielen ?
Die Mittel sind so vulgär .
Und spielte ich nun wirklich eine erste Rolle , was käme dabei heraus ? noch mehr Besuche machen und empfangen , noch mehr Damen , die meine Toiletten imitieren , noch mehr Verehrer ?
Ich stürbe ja vor Anstrengung und Langeweile .
Die ganze Nüchternheit meiner Existenz macht mich zuweilen rasend .
Ich beneide Traute Riedlich , Hilde Engelhart , die sind an einer schönen , schönen Oase gelandet , sie haben das Wunderland des Spiritismus entdeckt .
Ich begreife diesen Drang zur vierten Dimension .
Nur heraus aus den drei langweiligen , abgenutzten Dimensionen !
Diese immergleichen Schranken reizen mich oft zu einer wilden Lust , mit einem Sprung - und wäre es ein salto mortale - über die Schranken zu setzen , aber wohin ? wüßte ich nur , ob jenseits nicht auch eine Leere gähnt !
In die vierte Dimension bin ich verliebt , trotzdem ich einen so scharfen Verstand haben soll .
Ich möchte da gern mittun , aber ach , mir fehlt der Glaube , der Glaube an alles , an Spiritismus , an Tugend , an Sünde , an Engel und Teufel , und hauptsächlich der Glaube an mich selber , und das ist das Verhängnisvollste .
Alle , alle glauben an irgend etwas , an den Himmel oder die Hölle , an Bismarck oder den Sänger Alvary , an die Geister der Verstorbenen , an den Antisemitismus oder an Marx .
Ich glaube an nichts .
Und mir fehlt auch die süperbe Sicherheit des Nichtglaubens , der doch auch seine Befriedigungen abwirft .
Ich halte ja Geister , geflügelte Menschen , Astralleiber , Perisprits , singende , klingende Tische , Fernsehen , Hellsehen , alles , alles halte ich für möglich .
Zu dem tiefeindringenden Studium aber , das allein Resultate liefern könnte , fehlt mir die Vorbildung , die Erziehung zum Studium .
Fluch der allgemeinen Mädchenerziehung !
Ja , an der Wiege jedes begabten weiblichen Geschöpfes steht eine böse Fee , die alle Gaben der guten Feen unnütz macht .
Süße Mutti , Du kannst ja nichts dafür .
Wer weiß , ob in Dir , Du Willensschwache , Knochenlose , nicht auch ein Kraftgenie auf Auslösung gelauert hat .
Mir fällt ein , Du hast mir einmal Gedichte vorgelesen - von einer verstorbenen Schwester sagtest Du - die verstorbene Schwester bist Du gewesen .
Leugne nicht , Liebe , Einzige !
10. Januar . Betrübe Dich nur nicht , Mutti , daß ich so kopfhängerisch bin .
Es ist nur auswendig , korporell , wie die Gehrt sagen würde .
Ich habe auch Stunden , wo ich erhobenen Hauptes , kräftigen Schrittes im englischen Garten promeniere , voll frohen Übermuts und reinen Herzens , am strömenden Bach entlang , wo die Weidenbäume stehen , und ich lausche , was die Isar rauscht .
Freilich , neulich im Park , mitten in meiner kraftfreudigen Stimmung , sehe ich von fern her einen Menschen herankommen , zerlumpt , einen Knotenstock in der Hand , mit rollenden Augen .
Noch hatte er mich nicht gesehen .
Gerade an der Stelle war_es , wo erst kürzlich ein harmloser Priester ermordet wurde .
Mein Haar sträubte sich vor Schrecken , und ich lief , lief und hielt erst ein , als ich einer Gruppe von Leuten ansichtig wurde .
Und da packte mich wieder der Menschheit ganzer Jammer an .
Im Sommer will ich auf einen hohen , hohen Berg gehen , auf den Rigi - nein , da kommen zu viel Fremde hinauf - auf den Chimborasso oder dahin , wo es nur Sennhütten und Kühe gibt .
Und die besten Bücher , die je geschrieben wurden , will ich mit auf die Berge nehmen .
Frei will ich werden von Menschen , vom Staube der Heerstraßen und auf vier Wochen vergessen , daß es Barone und Grafen und Clowns , daß es " die Gesellschaft " gibt .
15. Januar . Gestern im Theater sah ich ein mittelmäßiges Stück .
Meine Gedanken und Augen schweiften abseits .
Letztere fielen ins Parquet , das heißt , auf lange Reihen kahler , glänzender Schädel .
Was für ein merkwürdiges Geschlecht sind doch die Männer !
Alle haben Glatzen , sobald sie das Jünglingsalter hinter sich haben .
Und überhaupt , mit einem Mal kamen mir die da unten mit ihren struppigen Bärten , den kahlen Köpfen und den gräulichen Röcken mit den steifen Kragen so tierverwandt vor .
Und jeder dieser Männer hat ein Weib , das ihn liebt .
Merkwürdige Weiber !
Ob die Männer wohl in tausend Jahren noch diese gräßlichen Bärte und Glatzen haben werden ?
Ich gelte für intolerant , aber weißt Du , Mutti , ich bin noch viel intoleranter als jemand ahnt .
Ich habe so eine Weltraum , Ewigkeit und die ganze Menschheit umfassende Intoleranz , natürlich inklusive Sibilla Dalmar , um nicht zu sagen Sibilla Raphalo .
Oft , plötzlich in einer Gesellschaft oder im Theater kommt mir alles so fastnachtsmäßig , so unmöglich vor .
Was soll das alles ?
Das dumme unnatürliche Stück , wo das Publikum vor Lachen wiehert , wenn sich einer aus Zerstreutheit eine kupferne Kasserolle auf den Kopf stülpt , und die heiße , stickige Luft , die Schauspieler , die vor Anstrengung schwitzen .
Wenn ich Menschen lachen sehe , und ich kann nicht mitlachen , so erscheint es mir widerwärtig , wie sie den Mund aufreißen , die Augen zusammenkneifen , die Gesichtsmuskeln verzerren .
Oder wenn sie essen .
Wäre es Sitte , daß jeder bei verschlossenen Türen seine Mahlzeiten einnähme , würden wir uns nicht vor dem ungewohnten Anblick solcher Fütterung entsetzen ?
Und ist es nicht ähnlich in der sittlichen Welt ?
Wüßten wir nicht - und wir wissen es doch , Mutti , - daß die Ehe etwas Heiliges ist , würden wir uns vielleicht auch - davor entsetzen ?
Ich wage kaum , mir selbst zu gestehen , wie radikal ich denke .
Manchmal erschrecke ich vor meinen eigenen Gedanken , wie man sich scheut , nackt zu Bett zu gehen , obwohl einen niemand sieht .
Sie sind so blutig rot meine Gedanken oder so gleißend weiß .
Auch das geschriebene Wort ist noch zu laut .
Du verstehst ja so gut zwischen den Zeilen zu lesen , Mutti .
Man ist so feige , so feige .
Ich kenne hier überzeugte Spiritisten .
Sie verschließen ihre Überzeugung im tiefsten Herzensschrein , damit man sie nicht etwa für geisteskrank halte .
Ich selbst bin von der Notwendigkeit einer neuen Sittenlehre , die im Widerspruch steht mit allem , was bisher für sittlich galt , felsenfest überzeugt .
Aus Furcht , für unsittlich gehalten zu werden , schweige ich .
Nur Dir und Jolante gegenüber öffne ich zuweilen meine Lippen und sage - so ziemlich was ich denke .
25. Januar . Sage mir , sage mir , Mutti , warum ich so elendiglich unzufrieden bin .
" Ich habe Diamanten und Perlen , und alles , was Menschenbegehr und habe - einem ohne dit zufolge - die schönsten Augen , sage Liebchen , was willst Du noch mehr ? "
Ich möchte eine Indierin sein in einer Hängematte oder eine Südamerikanerin unter Sykomoren , oder auf einem wilden Pferde über Prairien hin - Löwenritte !
Oder , wäre ich die Frau eines Botschafters , da säße ich an der Quelle der Weltgeschichte und sähe aus nächster Nähe das Riesenrad rollen , könnte vielleicht ein bißchen mitrollen helfen .
Immer nur reden - reden - über Literatur und Kunst und Toilette , immer nur die Welt ganz im Kleinen .
Ich will sie im Großen , in wildwüchsiger Freiheit , oder auf den Höhen , den höchsten Höhen !
Lächerlich , daß ich die Frau eines Banquiers bin , - nein - noch lächerlicher , daß ich dies schreibe , als ob ein Bankier unter Umständen nicht tausendmal klüger und wissender sein könnte , als ein Minister oder ein Botschafter .
Unter Umständen !
Ich unterliege einem grüblerischen Hang der Zeit : das Suchen nach sich selber .
Nietzsche mit seiner Umwertung aller Werte , der Spiritismus mit seinem Ich jenseits der Schwelle des Bewußtseins , sind die großen Anreger dieses tiefen und düsteren Hanges .
Und hätte ich nun wirklich die Goldader meines Ich es aus den umhüllenden Schlacken herausgeschält , ich hätte doch nicht die Kraft mich durchzusetzen , um einen philosophischen Ausdruck zu gebrauchen .
Aller weiblichen Kreatur werden von früh an die Flügel gestutzt .
Und dann zuckt man die Achseln über die Flügellahmen , die nur bis auf den nächsten Zaun fliegen können , wie die Hühner und - Gänse .
Dein Gänschen muß jetzt schnell Toilette machen für das Odeonskonzert .
Gute Nacht , Du Mutter der Misanthropin .
2. Februar . Neulich habe ich die nähere Bekanntschaft des Deutschrussen Hely von Helmströme gemacht .
Er will hier deutsches Leben und deutsche Verhältnisse kennen lernen .
Er ist ein Vetter von Eva Broddin , und diese Verwandtschaft mag wohl der Antrieb gewesen sein , der ihn gerade München zum Aufenthalt wählen ließ .
Hier und da hatte ich schon in Gesellschaft ein paar flüchtige Worte mit ihm gewechselt .
Vor einiger Zeit gab er Karten bei uns ab .
Daraufhin lud ich ihn zu einem kleineren Diener ein .
Am Morgen des Dinertages fühlte ich mich krank .
Der Diener mußte Absagen zu den Eingeladenen tragen .
Abends erholte ich mich .
Ich verließ das Bett und lag lesend , in meinem pikanten Morgenkleid von rosaschillerndem Samt auf der Chaiselongue , als mir Herr von Helmströme gemeldet wurde .
Ich wunderte mich über diesen Besuch , und in der Meinung , daß er mir vielleicht irgend eine Botschaft von Timäa bringe , nahm ich ihn an .
Er war im elegantesten Gesellschaftsanzug : Frack , weiße Binde , chapeau Claque . Ganz erstaunt und verwirrt blickte er um sich .
Es stellte sich heraus , daß er die Absage nicht erhalten oder nicht gelesen hatte .
Spät nach Hause gekommen , hatte er gerade nur noch Zeit gehabt eiligst Toilette zu machen .
Helmströme ist eine vollendet distinguierte Erscheinung .
Schlank , ziemlich groß , blond , zierliches Bärtchen , Gesichtszüge von edelstem Schnitt , kleine aristokratische Hände und Füße .
In Haltung und Bewegung die Grazie selbst .
Er wollte gleich wieder gehen , blieb aber dann auf meine Aufforderung , und wir plauderten einige Stunden sehr gut .
Er liest und weiß alles .
Hat ganz bestimmte Ansichten .
Keine Spur von Frivolität .
Als das Gespräch sich den politischen und sozialen Zeitfragen zuwandte , stellte es sich heraus , daß er konservativ gesinnt war .
Mit sympathischer Wärme sprach er von seinem Vaterlande , mit Schmerz und Abscheu von der schonungslosen Russifizierung , die dort im Werke war .
Eine hohe Stellung , die ihm die Regierung angeboten , habe er refüsiert .
Der Adel habe in den Ostseeprovinzen die heilige Mission , deutsche Kultur und Gesittung vor dem Ansturm der Barbaren zu schützen .
Ich erfuhr , daß der livländische Adel der echteste , wenn nicht der alleinige Adel Europas sei .
Er sei die Aristokratie Rußlands , Aristokratie bis in die kleinsten Einzelheiten , bis in die Spitzen der Finger .
( In der Tat sind die seinigen spitz , rosig und durchsichtig . )
Kein Junkertum , kein Agrariertum , kein Abwenden von dem Volk - - " Und dem Zaren gegenüber kein Frondieren ? " fragte ich .
Nein .
Der Adel beuge sich den Geboten des Zaren und antworte auf die Unterdrückung mit unbeugsamem Stolz , indem er heilig halte was unterdrückt werden solle .
Dem Adel leiste das Volk Heerfolge , nicht dem Zaren .
Ich wunderte mich über seine feudalen Ansichten .
Er suchte sie mir historisch zu begründen , und er tat es mit Geist .
Allmählich wurde die Unterhaltung persönlicher .
Ich schloß aus einigen flüchtig hingeworfenen Worten , daß die Neigung zu einem jungen bürgerlichen Mädchen im Zusammenhänge mit seinem Aufenthalt in München stehe .
Er bestätigte es .
Er habe sich selbst verbannt , um eine Neigung im Keime zu ersticken , die mit seinen sozialen Pflichten im Widerspruch gestanden .
- " Hätten Sie ebenso gehandelt , wenn eine große Leidenschaft im Spiele gewesen wäre ? "
" Auch dann . "
" Wo wir sind ist Livland " , sei der Wappenspruch seines Geschlechts .
Wir plauderten noch eine Weile Leichtes und Weltliches , und dabei kam es zur Sprache , daß er eine große Vorliebe für den Tanz hat .
Er versäumt keine Ballettaufführung .
Wie wenig das zu seinem sonstigen Wesen paßt !
Merkwürdige Widersprüche doch in jedem Menschen .
Wir trennten uns , ich glaube , gegenseitig sehr zufrieden mit einander .
Als er fort war , versank ich in Träumerei .
Ein reiner , harmonischer , ganzer Mensch .
Gerade kein Charakter aus Eisen oder Granit .
Ob nur Alabaster ?
Nein , mehr .
Wenn ich diesen Livländer jetzt in Gesellschaft treffe - und man trifft sich oft - unterhalten wir uns stets auf das angeregteste , aber noch angeregter streiten wir mit einander .
Er hat die lebhaftesten künstlerischen , literarischen und wissenschaftlichen Interessen , aber alle weisen ebenso sehr nach rechts , wie die meinigen nach links .
Natürlich sagt er nicht Ungebildetheiten und Dummheiten , wie man sie hier so oft von ganz gescheuten Leuten hört , die Sozialisten und Anarchisten in einen Topf werfen , und die einen wie die anderen für eine Bande von Beutelschneidern halten , die dem , der was hat , das Geld aus der Tasche nehmen wollen , um es in die eigene zu stecken .
Manchmal begreife ich nicht , wie ich nur mit so ungebildeten Leuten umgehen mag .
5. Februar .
Als ich vor einigen Tagen Traute besuchte , traf ich Helmströme bei ihr .
Sie saß in einem kleinen merkwürdigen Kabinett , das sie wohl eigens als Folie für ihre originelle Schönheit hat herrichten lassen .
Groteske chinesische Vorhänge allerhand Skulpturfratzen .
Um sie herum ein toller Wirrwarr von Pagoden , Fächern , chinesischen und japanischen Spielereien , alles so bunt wie möglich .
Sie selbst war ganz in graue , schleierartige Gewänder gehüllt und ruhte in einem Fauteuil , unter der grinsenden Büste eines mit Weinlaub gekränzten Satyrs .
Ihr kleines Füßchen hatte sie in den Rachen eines Wolfsfells , das am Boden lag , gesteckt .
Reizend sah sie aus , wie ein aus dem Geisterreich herauf materalisiertes Kind .
Höchst pikant in Traute das Gemisch von flottester Weltlichkeit und dem Hang und Drang zur Mystik , zu spiritistischen Geheimnissen .
Sie sprach gerade , als ich eintrat , von der Süße des Todes an Chloral oder Morphium .
Herr von Helmströme war offenbar bewegt .
Ich kam mir ihr gegenüber reizlos vor , und als dürfe man nur klein und mystisch sein , um zu gefallen , wenigstens um diesen Livländer zu gefallen .
Ob Traute ein Auge auf ihn geworfen hat ?
Timäa hat_es sicher getan .
Ihr Herz steht seit einiger Zeit - wegen Verheiratung des letzten Freundes - verwaist .
Sie hat Umschau im Heerlager liebedürftiger Männer gehalten , und ihre Wahl , um die Lücke - eine klaffende Lücke - auszufüllen , ist auf Helmströme gefallen .
Bin ich prädestiniert , die Dritte in diesem Bunde zu sein ?
Er gäbe mir ja doch den Apfel nicht .
Timäa , die ist in Gesellschaft viel dekolletierter als ich , und Traute ist pikanter und origineller .
Ich habe allerdings mehr Geist , daraus machen sich aber die bösen Männer meist weniger .
Gegen den unlauteren Wettbewerb auf dem Gebiet der Liebe gibt es leider noch keine Umsturzparagraphen .
Eva Broddin betrachtet ihren interessanten russischen Vetter gar nicht .
Es hat fast den Anschein , als ob sie ihn absichtlich ignoriere .
Diese Eva - ein reizendes Gemisch von Schlange , Sphinx und Gazelle , verbindet Pfiffigkeit mit Engelsallüren .
Letztere nur obenauf ; in der Tiefe Gertz bei ihr .
Zuweilen gäbe ein kleiner geflügelter Dämon , der beinahe wie ein Genius aussähe , seine Visitenkarte bei ihr ab , meinte Ferlani .
Ob Helmströme sie schon hat tanzen sehen ?
Sie tanzt wundervoll .
Traute übrigens auch .
Ich nur so so .
Raphael war viel schöner , wirkte viel sensationeller als dieser Livländer .
Der aber hat etwas zart Lockendes , still Gefährliches .
Als ich von Traute heim kam , nahm ich vor dem Spiegel ein Examen mit mir vor .
Ist der Mensch in seinem Wahn wirklich das Schrecklichste der Schrecken ?
Es kommt doch auf den Wahn an .
Meist scheint er mir recht beglückend .
Hätte ich nur einen Gran von dem Wahn der Bürgens , Isoldes und vieler anderer , flugs bildete ich mir ein , ich würde alle Tage schöner , wie viele meiner Bekannten , wenn sie mich einige Zeit nicht gesehen haben , so höflich behaupteten .
Ich habe diesen Gran nicht , und ich sehe haarscharf , wie es mit meiner Schönheit langsam , langsam bergab geht .
Ich bemerke das leise Entstehen kleiner Fältchen um die Augen , ich verfolge ihre Fortschritte , wie sie länger , breiter werden , sich vertiefen .
Ich kenne häßlich und alt Gewordene , den naiven Glauben aber an ihre Schönheit haben sie konserviert , und sie genießen ihre vermeintlichen Reize wie früher ihre wirklichen .
Und merkwürdig - habe Du den starken , festen Glauben an Deine Schönheit oder Deinen Geist , Du suggerierst ihn den anderen .
Das erklärt den Erfolg , den z.B. Isoldchen mit ihren süffisant und naiv vorgebrachten Niaiserien hat .
Es scheint wirklich , als bestimmte die Meinung , die wir von uns selbst haben , unser Schicksal .
Ich könnte mir z.B. einbilden , daß ich das Zeug hätte , einen Salon à la Rambouillet mit seinem politischen und literarischen Zeiteinfluß in Szene zu setzen .
Vielleicht reüssierte ich mit einem solchen Salon und käme dann später als berühmte Zeitgenossin in die Geschichtsbücher .
Ich aber im Gegenteil , ich habe ein so feines leises Mißtrauen , ich fühle schon im voraus das leiseste Abwenden von mir , oft noch ehe der Betreffende selbst davon weiß .
Ferlani ist abgekühlt .
Er kommt fast so oft wie früher , aber ich begegne ihm nicht mehr auf der Straße .
Wie viel bequemer und angenehmer ist das jetzt - und doch - -
Bin ich reizlos geworden ?
Der Spiegel ist vorläufig dieser Meinung nicht .
Aber - ich habe entschieden auf Hely Helmströme keinen sonderlichen Eindruck gemacht .
10. Februar . Gestern ein Wohltätigkeitskonzert .
Wegen der Wohltätigkeit zeigte sich Frau Bürgens seit der Trauer zum ersten Mal wieder dem Publikum , das heißt , nur zum Teil .
Ein dichter , dichter , langer langer , schwarzer schwarzer Kreppschleier über dem sicher gramzerstörten Antlitz , entzog dieses Antlitz profanen Blicken .
Die betrübte Witwe hatte wenigstens den Trauertriumph , daß die Kleider einiger vor ihr sitzenden Prinzessinnen miserabel saßen , während das ihrige - First rate - war .
Hely Helmströme war auch da .
Er hat nur Augen für Traute Riedlich .
12. Februar .
Ich bin eine müde Seele , wie Arne Garborg einen seiner Romane tituliert .
Ich greife nach allem , was wie ein Heilmittel meiner Müdigkeit aussieht .
Ich lese jetzt Herzkas Buch .
Bald tragen mich hochgehende Wogen in weite , herrliche Fernen .
Dann Windstille .
Alles trübe , stagnierend , fast ekel , ohne Willen aus dem Sumpf herauszukommen .
Da - ein Buch , ein Gespräch , ein Gewitter .
Ich bin frisch .
Ich raffe mich auf .
Zum Hause hinaus .
Wohin ?
Zur Schneiderin .
Reizend das neue Kleid .
Heute Abend , bei Riedlings wird es Furore machen .
Kindische Weiber .
Ich mittenmang .
13. Februar . Ja , Mutti , zuweilen habe ich schon den Wunsch , mitzukämpfen in den Geisterschlachten , die jetzt geschlagen werden .
Du liebe Verblendete führst mir ja immer zu Gemüt , da ich doch nun einmal das schöne Talent hätte , sollte ich es auch verwerten , alldieweil man mir doch schon in der Schule den " Blaustrumpf " angehängt hätte .
Mir sagte einmal ein Weltkluger : " Tue nie selber , was andere für Dich tun können . "
Ich veredle diese egoistische Äußerung und sage : " Tue nie etwas , was andere besser machen können , als Du . "
Bücher schreiben ! ich !
Wird noch nicht genug gedruckt gelogen ?
Ich würde ja doch nie wagen zu sagen , was ich denke .
Ja früher , als die " Moderne " noch nicht aufgekommen war , da legte man seine kühnen oder frechen oder radikalen , die Welt aus den Fugen reißenwollenden Gedanken alten Römern , Griechen , Persern , Abderiten oder sonstigen entlegenen Kulturmenschen in den Mund , und die Schauplätze waren Babylon , China , der Olymp , die Hölle u. s.w .
An dem Zwischendehnzeilenlesen findet man heute keinen Geschmack mehr .
Man soll Farbe bekennen , und entsetzt sich dann , wenn die Farbe blutrot ist .
Wenn ich für den Druck schreiben wollte das käme mir vor , als wollte mein mittelmäßiger Maler einen genialen Dichter porträtieren .
Er würde nie ein gutes Bild von ihm liefern .
Meine Ideen wollen fliegen , hoch bis zur Sonne oder wenigstens bis zu den Gipfeln der Schneeberge ; mit meiner Feder , als Bergstock , könnte ich nur Hügelchen erkriechen .
Darin hast Du recht , Mutti , ehrgeizig bin ich nicht , nein , gar nicht .
Würde ich wirklich auf ein paar Monate oder ein paar Jahrzehnte berühmt , ich wäre dabei nicht einmal in guter Gesellschaft .
Krete und Pleti ist ja berühmt .
Und dann - auch Ruhm ist Lärm , und ich hasse Lärm in jeder Gestalt .
Der echte , wahre Ruhm , der kommt auch fast immer erst nach dem Tode , und ich bin nicht Spiritistin genug , um mir daraus etwas zu machen .
Gott , und wie lästig muß Berühmtheit sein , sie verpflichtet zu so viel Grimassen und Posen , es wäre gewiß beinahe so arg , wie Prinzessin sein .
Es ist auch dafür gesorgt , daß eine Frau nicht so leicht auf einen Lorbeerzweig kommt .
Uns fehlen die Arbeitsmittel , die dem Manne zu Gebote stehen : Wissen , Kenntnisse , hauptsächlich die Kenntnisse irgend welcher realen Lebensgebiete .
Ich z.B. weiß ungefähr , wie es in der eleganten Gesellschaft zugeht , was man da spricht , ißt , trinkt und denkt .
Von den weiten Gebieten der Politik , des wirtschaftlichen Lebens , der sozialen Zustände , von Arbeiter und Künstlertum habe ich keinen Schimmer .
Sollen wir wie die Seidenraupen alles immer aus uns selber spinnen ?
Ach , dabei spännen wir keine Seide , höchstens Kattun oder ein plundriges Ballkleid .
Und spänne ich selbst auf dem Gebiete des reinen Denkens köstliche Seidenfäden , Ideen werden diskreditiert , wenn Frauen sie aussprechen , ihr Blütenstaub wird zur Befruchtung nicht weiter getragen Man schweigt sie tot , weil man gar nicht an ihre Echtheit glaubt .
Aber die Frauen würden daran glauben ?
Ach , Mutti , die denken auch heimlich , der Mann macht es besser .
Talent !
Daraus mache ich mir nichts .
Entweder man verschwindet so in dem großen Strom von Mittelmäßigkeiten für ein billiges Honorar , welches letztere ich ja nicht brauche , oder man ist ein Genie und geht dann - nach Lombroso - meist im Irrenhause oder sonst wie unter , was entschieden für den Hörer oder Leser interessanter klingt , als es für den Insassen der gepolsterten Zelle ist .
Und doch - gib mir einen Hauch von Wahnsinn , Mutter , etwas brausend Wildes , das Taten zeugt .
Ich will Visionen , Halluzinationen , Hellsehen , Fernsehen .
Ich möchte furchtbar gern ein bißchen genial und ein bißchen wahnwitzig sein , und ich bin doch nur gescheut und kritisch und empfange meine Gäste - wie man sagt - reizend .
Ob dieser Wahnsinn , der mir fehlt , vielleicht nur das Nichtglaubenkönnen an meine geistige Erlauchtigkeit ist ? 15. Februar . Siehst Du , Mutti , mitunter neige ich zu dem alten Kinder- oder Köhlerglauben , daß unsere Seele etwas für sich sei , ein Flämmchen , ein Fluidum , für das unser Körper nur die Wohnung abgibt , und die Bedingung des Glücklichseins wäre , daß Körper und Seele schön harmonisch ineinander gewachsen sind .
Wenn aber ein Riese in einer niedrigen Lehmhütte wohnte und er schritte darin auf und ab , würde nicht die Hütte in ein bedrohliches Wackeln geraten ?
Ein ungemütlicher Zustand ? nicht ?
Lachst Du über meine Riesenseele ?
Nein , an und für sich ist sie nichts weniger als groß , sie ist es nur im Verhältnis zu meinem armen Blut und meinen morschen Nerven .
Und sie - die Seele - drängt und drängt gegen die dünnen Wände , daß alles Blut ins Gehirn steigt und daher - - ja , ich habe Fieber .
Zuweilen höre ich förmlich das Rufen der Seele , angstvolles oder frohlockendes , ich höre es wie den Ruf eines unter der Erde Verschütteten , der über sich das Arbeiten der Befreier hört .
Unsinn das - Mutti !
Geschwollener Unsinn !
Das sind so Gedanken , die gar keine Gedanken sind , anempfundener geistiger Firlefanz .
An diesen ärmlichen Grübeleien ermesse ich die Distanz zwischen mir und einer wirklichen geistigen Kapazität .
Kein Genie sein , dürfte heute beinahe ein Vorzug sein , wenigstens entgeht man dadurch dem Verdacht , ein Dekadent , Neurastheniker , Tollhäusler zu sein , mit welchen Kosenamen Max Nordau alle , die auf Parnassen wohnen oder auf Pegasussen reiten , heimsucht .
Nach diesem geharnischten Ritter der Kritik wäre ich ein Prachtexemplar der Menschheit - immer auf der breiten Heerstraße , vernünftig - vernünftig - vernünftig .
Schaffe mir die Vernunft vom Halse , Mutter !
20. Februar .
Das ist ein Merkmal unserer Zeit , der Widerwille gegen uns selbst .
Woher kommt der ?
Vielleicht von dem Kontrast zwischen dem , was wir wissen und erkennen , und was wir - verschweigen .
Das Lügenmüssen , der gedemütigte Stolz , das böse Gewissen , und daß wir uns bücken müssen , wenn wir durch das niedrige Tor wollen , das dahin führt , wo die Lebensfreuden winken .
Nimm irgend ein Buch der jungen und jüngeren Schriftsteller zur Hand , auf jeder zehnten Seite findest Du das Wort Ekel , oft affektiert , oft aber auch aus überzeugtem Herzen kommend .
Der Ekel liegt in der Zeitatmosphäre vorzugsweise in der Frauenatmosphäre .
Wir sind der ewigen Liebeleien müde , auch der Heuchelei , als ob Kindererziehung und Gattinnenpflicht unser Dasein ausfüllen .
Wir verschmachten nach vollem , ernstem Dasein ; nach allen Richtungen hin wollen wir auswachsen , ins Große , Weite .
Was ich habe und haben kann , hat mich nicht .
Mein Beruf wäre gewesen zu denken , nichts weiter .
Als männliches Geschöpf geboren wäre ich vielleicht Spencer oder Stuart Mill oder Nietzsche geworden .
( Sokrates oder Plato keinesfalls . )
Und wäre ich vor 2000 Jahren als etwas Weibliches zur Welt gekommen , ich hätte mich vielleicht zu einer Pythia oder Aspasia ausgewachsen .
Phryne ist wohl zu hart ?
Aber wer weiß !
Ich traue mir alles zu , nur nicht Dich bis auf den Tod zu kränken .
Sei zärtlich umarmt von Deiner Sibilla . 25. Februar . Mutter , liebe Mutter , der Zeitgeist hat mich beim Wickel .
Sein Gift gehrt in mir .
Du kennst ja die Stichworte : Erschöpfung , Neurasthenie , Decadence - oder Vererbung ?
Ja , Du Knospenhaft-nie-erblühte , Du hast keinen Charakter , o Mutti , und der Vater ... was für drängend sehnsüchtige , üppig wilde Lieder hat er komponiert , und einige so dithyrambisch hinreißende .
Sind das die Gewalten , die mit mir ihr Wesen treiben ?
Du der Zügel , der mich zurück hält , der Vater die Peitsche , die mich antreibt .
Und da werde ich zugleich gezügelt und gepeitscht , und ich stehe schäumend , zitternd , ich kann nicht rück- nicht vorwärts - schauderhaft ! höchst schauderhaft !
Aber ich glaube ja gar nicht in diesem Sinne an Vererbung .
An Erziehung glaube ich .
Hätte ich eine Erziehung gehabt , wie ich sie brauchte , eine spartanische oder Rousseausche : Natur , Kraft , Turnen , Schwimmen , Jagen ( pfui , nein Jagen nicht ) , aber Bergsteigen , Wandern , Wandern das soll ja eine Lust sein , über Berg und Tal , zu Schiff , zu Roß ! und kaltes Wasser !
Kneip , und lässt Not least : Arbeit !
Arbeit !
Und statt dessen von früh an - Toilette , Flirt , Klatsch , ein bißchen Lektüre und Klavierklimpern und andere Klimper- und Stümpereien , und das in einem Lebensalter , in dem jeder begabte Jüngling ein Titanide ist , der mit Göttern oder Götzen kämpft .
Ach ja , wir armen , um ein paar Jahrzehnt zu früh geborenen Mädchen .
Hineingeboren bin ich zwischen Morgengrauen und Tag .
Ich bin doch schuldlos daran , daß ich zwischen zwei Kulturen geklemmt bin , daß ich nicht rückwärts kann zu den spinnenden , strickenden Hausfrauen , nicht vorwärts zu den freien Geschlechtern , die nach mir kommen werden .
In dem rauhen Vorfrühling der Frauenfreiheit gehen wir armen Schneeglöckchen zugrunde .
" Es fällt ein Reif in der Frühlingsnacht . "
Wir Frauen unserer Zeit sind wie die eingefrorenen Töne in Münchhausens Trompete .
Aber wenn die Zeit des Auftauens , wenn die Sonne da ist , sind wir nicht mehr .
Ich will die Sonne aufgehen sehen .
" Gib mir die Sonne , Mutter ! "
Oswald Alving war noch bei Verstande , als er die Sonne verlangte .
Das reinste Malheur , vor Sonnenaufgang geboren zu sein .
1.
März . Mein Puls geht so schnell , meine Gedanken auch .
Krank ? fällt mir nicht ein .
Ich will nicht .
Ich bin nur nervengereizt , ärgere mich über alles , über einen Pickel auf Bennos Nase , über einen dummen Aufsatz in der Zeitung , einen schlechten Roman , daß die Milch zum Kaffee nicht heiß genug war , über die knallgelbe Feder auf dem Hut meiner Jungfer .
Ich lasse mich nachmittags verleugnen , weil ich einige Ekel fürchte , kommen ein paar liebe Menschen , um die ich mich nun gebracht habe .
Um durch einen schönen Sonnenuntergang meinen gesunkenen Lebensmut zu heben , fahre ich in den englischen Garten , da geht die Sonne gar nicht unter oder kaum .
Und nach all dieser Aufregung kann ich Nachts nicht schlafen .
Da , als die Glocke zwölf schlägt - ein Gedanke - Baldriantropfen .
Ich finde den Knopf der elektrischen Lampe nicht und komme endlich auf den geistreichen Gedanken , durch den Geruchssinn die Tropfen unter anderen Flaschen herauszuschnüffeln .
Sie haben nichts geholfen .
2.
März . Nun ist es wieder Abend .
Ich habe tags über viel hingedämmert und geschlummert , dazwischen Erregendes phantasiert .
Oft erschüttern mich das Stürmen und Drängen , das Frohlocken und die Schlachtklänge , das schmetternde Hotojoho der neuen Menschen .
Ruft es Götter oder Teufel ?
Ich höre das dumpfe Rollen , das einem vulkanischen Ausbruch vorausgeht , ich höre Wirbelwinde , die Gewitter künden .
Und überhaupt , ich kann mir es nicht länger verhehlen , ich habe Fieber , Gliederschmerzen , mein Kopf brennt , meine Pulse jagen .
Ich dachte , wenn ich so täte , als fehlte mir nichts und ruhig weiter schriebe , läse und ausginge , so würde es vergehen .
Ist nicht vergangen .
Benno hat zum Arzt geschickt .
Er muß bald hier sein .
Adieu , Mutti , ich lege mich ein bißchen auf die Chaiselongue .
Da bin ich wieder .
Ich kann nicht ruhig liegen .
Es ist alles so seltsam um mich her .
Die Bilder - alles verschwimmt .
Die Baumstämme auf dem Böcklin sehen wie Säulen aus , und um die Säulen winden sich - nein , Kränze sind es nicht .
Schwarze Fahnen wehen .
Und auf dem Fabeltier mit den verzückten Augen sitze ich , und der tropfende Mondschein fließt an mir auf und nieder .
Und ich weiß , ich weiß , mein Gesicht ist ganz weiß , ich habe weiße , bleiche Augäpfel ohne Sterne darin , marmorne Augen .
Wäre ich nur erst wieder heraus aus dem Walde - da ist Morgenrot - nein , es ist Feuer .
Zu dumm ! das Feuer ist ja in mir und davon sind meine Fingerspitzen so rot - wie in Blut getaucht .
- Ich habe wieder lange im Fauteuil gelegen .
Ich habe gehorcht , gespannt gehorcht .
Ich wußte , es würde etwas geschehen , und - richtig - von oben winkte eine Hand .
Ich wollte nicht hin .
Ein Meer wogte dazwischen , die Wogen brausende Orgelklänge , oder waren es weiße Vögel , die kreischten , kreischten .
Und was da alles aus dem Wasser stieg , Mutti : Ungeheuerliches - Ungeheuerliches .
Und alles hatte Augen , die nach mir blickten , und Ohren , die nach mir hinhörten .
Ich muß leise , ganz leise sprechen .
Und zuletzt kam auf einem kohlschwarzen Roß jemand geritten .
Sein Gesicht sah ich nicht , aber ich kannte ihn doch aus dem Stuckschen Bild : der Tod !
Wenn er sich nur nicht in mich verliebt ! gewiß , Mutti , er verliebt sich in mich .
Und wenn er sich umwendet - er wird die Augen der kleinen Marie haben , ich weiß es .
Ich gehe morgen zur kleinen Marie , ganz bestimmt , Mutti , ich thu's .
Da ist wieder die Hand - da oben , eine Riesenhand - sie will mich packen - ins Herz packt sie mich - ach - Nur noch zwei Worte .
Mir ist viel besser .
Der Arzt war da .
Ich habe starke Influenza .
Ich muß zu Bett .
Wie lange werde ich Dir nicht schreiben können !
Vielleicht nie mehr !
Ich küsse Dich zärtlich , meine Mutter .
Dein krankes Kind .
Berchtesgaden , 1. Juni .
Du liebste Mutter , wenn ich an die überstandene Influenza zurückdenke , beschleicht mich still sehnsüchtige Wehmut .
In meiner Erinnerung gehört Ihr zusammen , Du und die Influenza .
Unter Deinen lieben pflegenden Händen , und Deinen noch lieberen , guten , zärtlichen Worten und Blicken verlor die Krankheit all ihre Schrecken .
Nun bist Du fort , und ich freue mich kaum über meine täglich zunehmenden Kräfte , da Du nicht mehr die Mitfreude daran hast .
Bennos Angst und Sorge taten mir auch wohl .
Ich lasse mich gern lieben , besonders wenn keine Gegendienste verlangt werden .
Der gute Benno , er besucht mich fast in jeder Woche auf ein paar Tage . Habe ich Dich recht gequält , Du Einzige ?
Könnte ich Dir doch all Deine Liebe vergelten !
Ich höre Deine Antwort :
" Du kannst_es !
Werde glücklich ! " O , Mutti , ich bin ja schon wieder auf der Jagd nach dem Glück .
Ob ich Beute heimbringe ?
Wenn es an der Zeit ist , erfährst Du es .
Ich kann mir noch gar nicht vorstellen , wie ich mich in das alte Leben zurückgewöhnen soll .
Wird sich schon von selbst machen .
Vorläufig herrscht noch Stille in meiner Villa auf der Höhe , aber wie lange wird es dauern , dann halten verschiedene meiner Intimen ihren Einzug in das Tal des Friedens .
Ich unternehme schon täglich kurze Spaziergänge .
Man lebt sich so liebevoll ein in diese grünsaftigen , hochansteigenden , von Bergen umrahmten Matten .
Wie anmutig ist der kleine Marktflecken mit seinen vornehmen Vielen , seiner leuchtenden Sauberkeit in die frische herrliche Natur hineingebaut .
Zuweilen wird man schon an den Süden gemahnt , durch den heftigen Katholizismus .
Die Glocken , die läuten und läuten , und die alten Häuser mit ihren Heiligenbildern , weißen Mauern und Blumen und Blättergerank strömen einen weihrauchartigen Duft aus .
Gott sei Dank hat Berchtesgaden gar nichts von einem Badeort mit der dazu gehörigen gespreizten Eleganz .
Das spitze Berggestein würde auch feinen Sohlen , Spitzen und Seide übel mitspielen .
Hier im Gegenteil ist Ruppigkeit Mode :
Ein kurzer derber Lodenrock , nägelbeschlagene Stiefel , Tirolerhut , je verschossener und gekniffter , je Kicker und - teuer .
Naive Eitelkeit der Kinder-Menschen , die den vergilbten verrunjenierten Hut teurer als den neuen bezahlen , um ihren Nebenmenschen als kühne gewiegte Bergfexe zu imponieren .
In Berchtesgaden gibt es keine offiziellen Spaziergänge , wo die Damenwelt für ihre süd- oder norddeutschen Schneiderinnen Reklame macht , kein Kurhaus mit Lästeralleen .
Ein anderer , neuer Ehrgeiz beherrscht hier den Städter , besonders den norddeutschen : Gipfel erklimmen .
Wie forsch er den schweren Bergstock balanciert und seinen Rucksack aufbuckelt , wie wuchtig er mit den Nägelbeschlagenen emporstapft .
Nur die nackten Knie riskiert er in den seltensten Fällen .
Aber jodeln und juchzen tut er wie der eingeborenste Tiroler , ein Beweis von dem Anpassungsbedürfnis des Menschen an die jeweilige Örtlichkeit .
Würde jemand in Heringsdorf oder Ostende einen Juchzer riskieren ?
Wenn nicht zuweilen die roten Westen und blanken Knöpfe der Lakaien , die in einem Fürstensitz nebenan bedienstet sind , aufblitzten , man könnte glauben , hier wirklich einmal dem unverfälschten Busen der Natur nahe zu sein .
6.
Juni . Ich schlafe bei offenem Fenster .
Wenn ich morgens die Augen aufschlage , kann ich vom Bett aus in die Landschaft sehen .
Eine Pracht !
Und jeden Morgen anders .
Gestern war das Tal in Nebel gehüllt , ein wallend glitzerndes Meer , das mir entgegenschimmerte , und die Kirchenglocken klangen zu mir herauf wie aus einer im Meer versunkenen Stadt .
Heute sah ich in der Morgenfrühe Wolken im Schoß der Berge ziehen , wallende , wogende ; die Sonne durchschoß sie mit goldenen Pfeilen ( genieren Dich die goldenen Pfeile , so streiche sie aus ) , bis sie in leuchtend schimmernden flimmernden Dunst zerflossen , und die starren Felsen sich in der zarten silbrigen Umarmung weich zu lösen und dahinzufluten schienen mit den fahrenden Wolken .
Eine zauberhafte Riesendekoration , die Berge , die der Kulissenschieber Wind hin und her schob , und derselbe Wind wehte mir Blüten aufs Bett .
Rosig schön , lauter Sonne und Wonne .
Und in aller Frühe höre ich den Hammerschlag aus dem Tal , und ich höre den Ton der Sensen .
Wie sie alle arbeiten , Tag für Tag , Stunde für Stunde , Jahr für Jahr , als lebte jeder einzelne Jahrtausende .
Und nicht nur die , die arbeiten müssen , um zu leben , die anderen auch ; alle arbeiten , immer - alle .
Ich habe einen Aufsatz von Tolstoi gelesen : " Nichttun " , in dem er sich mit dem chinesischen Philosophen ( Namen vergessen ) einverstanden erklärt , der das Nichttun für die Bedingung alles Glücks und aller Wahrheit hält .
Arbeit , meint Tolstoi , mache nicht gut , sondern grausam .
Sie sei keine Tugend , weil der Mensch arbeite , wie das Böcklein springe , aus Naturnotwendigkeit .
Der Aufsatz hat mich nachdenklich gemacht .
Nachmittags wandle ich meist zum Schlüssel hinaus .
Das ist eine Gastwirtschaft , die auf einem breiten blumigen Wiesenhügel steht .
Da sitze ich gegen Sonnenuntergang auf einer Bank .
Über dem Hügel die kahlen Berge , Schnee in ihrem Schoß , und über Granit und Stein die luftigen Wolkengebilde , und über allem der Gedanke des Menschen .
Da sitze ich , so nahe der Erde , unser aller Grab , und meiner Seele Flug überholt die Wolken , die Berge , den Himmel und verliert sich im Äther - in eine undefinierbare Unendlichkeit .
Immer aufs neue entzückt es mich , wenn diese Berge , die tagsüber tot und kalt sind , im Abendsonnenlicht anfangen zu leben und zu leuchten :
Die Geisterstunde der Berge .
Eine Stunde nur .
Von diesen Seelenflügen bin ich vielleicht so müde , und es ist kaum zehn Uhr .
Gute Nacht , Du herzige Mutter .
Sibilla . 10.
Juni . Da bin ich wieder , schön ausgeschlafen .
Jeden Morgen dehnt sich mein Spaziergang weiter aus .
Mit vollen Lungen atme ich den würzigen , reinen Waldmorgen .
In der Frühe ist es immer noch wie ein Zwinkern in den schlaftrunkenen Augen der Landschaft .
Erst sind es nur die Kirchtürme und Dächer , die aus dem zarten nebligen Schleier herausblitzen .
Und wohin ich mich wende , immer schimmert der mildverträumte bläuliche Dunst durch das Grün der Wiesen und der Bäume , bis die große Weckerin , die Sonne , höher steigt und mit goldenem Finger ( nicht zu verwechseln mit den goldenen Pfeilen des vorigen Briefes ) die Schleier hebt .
Ich habe den Tollstoischen Aufsatz noch einmal gelesen .
Wenn ich in meiner Lektüre auf originelle Weltanschauungen stoße , gleich taucht der Wunsch in mir auf , mein Leben danach einzurichten .
Wie dieser Aufsatz mich wohltuend angemutet hat .
Ja , Nichttun !
Die Vorstellung durchzuckte mich mit solchem Frohsinn .
Tolstoi hat recht , tausendmal recht .
Ich versuche es mit dem Nichttun , und das eben , Mutti , ist die Glücksbeute , auf die ich Jagd mache .
Genau weiß ich allerdings nicht , was Nichttun ist .
Auch nicht denken ?
Nicht lesen ?
Keine Zwie- und Selbstgespräche halten ?
Nur an Blume und Baum , an Ton und Farbe sich anranken ?
Vielleicht - ja .
Was soll man auch denken !
Das ewige : wieso , warum , wozu und ähnliche Menschen- und Geisterrätsel sind so abgedroschen .
Und was man auch denken mag , es wird ja doch widerrufen , wie die Vererbung , das Tuberkulin , der Sündenfall , die Arche Noah u. s.w .
Und die neueste Idee , der neueste Glaube wird doch auch über Nacht alt , ja meist bekommen wir die neuesten Ideen schon alt , nur auf neu aufgearbeitet .
Siehst Du , Mutti , ich möchte etwas recht Tiefsinniges aushecken .
Und ich wette , wenn ich glaube , recht tief gedacht zu haben , gelange ich zu irgend einem Gedanken , den Plato oder Sokrates oder Eugen Dühring , Marx oder der Chinese Fufu schon gehabt haben , und der längst antiquiert ist .
Und ich möchte originell sein .
Auch wieder dumm .
Ich meine , man wird erst dann originell , wenn man alle Originalgeister , die vor uns waren , in sich durchgearbeitet hat .
Heine braucht einmal das treffliche Bild , daß ein Zwerg auf den Schultern des Riesen weiter sähe als der Riese selbst .
Ich habe den Anschluß an den Riesen verfehlt .
Ich fühle mich Zwerg .
Aber ich wollte ja vom Nichttun sprechen .
Ich habe mich für das Nichtlesen und Nichtdenken entschieden .
Nichttun - Unsinn , wenn man das Denken nicht hindern kann .
Denken , nicht die größte Arbeit ? die entnervendste oder erregendste oder schicksalvollste ?
Tun wir also , sagte ich mir , absolut nichts - was mir ja leichter werden muß , wie vielen anderen , da der Abstand zwischen meinem bisherigen Tun und dem Nichttun nicht gar so groß ist - und lauschen wir , was die Vögel singen und die Winde rauschen .
Ideen , Bilder , Stimmungen , Sensationen , ich will sie nicht rufen , ich will sie aufnehmen , wie sie kommen , sie nicht halten , wenn sie fort wollen .
Hat mich denn das Lesen klüger gemacht ?
Ein wenig vielleicht .
Heißt klüger werden , glücklicher werden ?
Nein .
Während ich Stunde um Stunde lese , versäume ich Gott weiß was für Natur- und Seelenoffenbarungen , ich versäume Morgen- und Abendröten , ich versäume mich selbst .
Menschen und Bücher lügen so .
Immer zwischen den Zeilen lesen , immer hinter den Grimassen das wahre Gesicht suchen , man wird so müde davon .
Also : Menschen fort !
Bücher fort !
Alles fort !
Nur meine Chaiselongue nicht , die brauche ich zum Nichttun , wie das liebe Brot .
Mein einzig Tun in den nächsten Tagen soll der Brief sein , den ich an Dich schreiben werde .
Eigentlich ist mir die winzige idyllische Villa , die ich bewohne , nicht schön , nicht phantastisch genug für das Nichttun .
Ich möchte in einem Schloß am Meer wohnen , ein Meer , das sich an Marmormauern bricht , hohe Zypressen , wilder roter Wein , verwitterte Säulen , geheimnisvolle Treppen , große wundersame Blumen - alles düster , phantastisch .
Zärtliche Grüße vom Lotterbett aus sendet Dir Deine Sibilla . 20.
Juni . Da liege ich nun auf meiner schönen Veranda , bei wundervollem Wetter .
Ich habe mir ein Tischchen vor die Chaiselongue setzen lassen , und meine etwas müden Finger ergreifen die etwas schwere Feder , um Dich au kurant meines dolce farniente zu halten .
Der Anfang war vielversprechend .
Nach Sonnenuntergang .
Ein letzter roter Schimmer auf den Tannen .
Ich blickte mit der verträumten , angenehmen Müdigkeit eines eben Genesenen von meinem weichen Pfühl empor zu den weiten Gefilden da oben , hinein in das sonnendurchglühte rosige Rot auf dem zarten Azur und wartete der Dinge , die da kommen sollten .
Ich sah die Menschen auf den Wiesen in dämmerndem Abendschein untertauchen , und ich selbst fühlte mich in Ton , in Farbe und Duft leise verschwimmen .
Die Tannen dufteten und auch schon die Rosen , und in der Ferne blies jemand ein Horn .
Die Töne trugen mich in meine ferne Jugend und Unschuld zurück , und eine mildsüße Träne zitterte in meiner Wimper .
Ist nicht auf Bildern , auf Landschaften zumal , die Stimmung des Bildes sein eigentlicher Inhalt , seine Poesie ?
Und könnte nicht so auch unser Leben nur Stimmung sein , Stimmung ohne Schicksale , ohne Kämpfe , ohne alle das verzehrende Wollen und Denken ?
Ist es wohl denkbar , Mutti , daß die Menschheit - wie Schopenhauer und Tolstoi es für möglich halten - sich , wie der Skorpion in seinen eigenen Stachel stürzend , durch Abstinenz von der Zeugung vom Erdball verschwinden wird ?
Diese Ungeduld !
Das Absterben wird ja ganz von selbst kommen , an Altersschwäche oder durch irgend eine Naturkraft , wie den einzelnen etwa ein Ziegel , der vom Dach fällt , zerschmettert .
Ach , wie ich mich dehne und recke !
Und wie dieses Nichttun unter Rosen- und Tannenduft üppig ist , südlich , äquatorhaft .
Ich will es aber gestehen , ab und zu lese ich ein lyrisches Gedicht ; das , meine ich , passiert beim Nichttun , wie etwa ein Ei bei den Vegetariern .
Ich bin schon müde .
Nachher schreibe ich weiter .
Abend .
Am Nachmittag regte sich mit einem Male der Selbsterhaltungstrieb meines Denkorgans , und sie kam mir ganz kindisch vor , diese Vorstellung des Nichttuns .
Ich machte mir klar , was für Kämpfe gekämpft und was für ungeheure Arbeit die Menschheit hatte leisten müssen , damit ein Tolstoi oder jener Chinese ihre Gedanken denken , damit überhaupt irgend ein Mensch sich dem Nichttun hingeben konnte , ohne von seinen Mitgeschöpfen , seien es Bestien oder Menschen , unliebsam gestört , wo nicht gar aufgefressen zu werden .
Wenn das Nichttun ein Instinkt des Menschen wäre , dem er von jeher gefrönt , was für eine naiv-brutale Physiognomie würde die Menschheit haben , was für eine schaurig dunkle Höhle müßte der Erdball sein ?
Denkst , Mutti , ich werfe die Flinte ins Korn ?
Noch lange nicht .
Auf der Chaiselongue wird geblieben , das Nichttun wird fortgesetzt .
Entfurche Dich , Denkerstirn !
Singt , Ihr Vögelein , rinnt , Ihr Bächlein .
Rauscht , Ihr Winde !
Wetter wundervoll .
Nur zu viel Duft .
Akazien und Rosen !
Mit müden , aber lächelnden Lippen küsse ich Dich. Sibilla . 1. Juli . Mutti , Mutti ! ich habe das absolute Nichttun aufgegeben .
Was ? idealistisch , nirvanahaft das Nichttun ?
Aber gar nicht , gar nicht , au contraire : erschaffenwollend , zeugenwollend ist_es .
Noch einen ganzen Tag habe ich gelauscht , was die Vögel sangen , was die Winde rauschten .
Ich habe so feine , feine Ohren .
Ach , Mutti , die Vögel sangen nimmer : träume , - schlafe !
Sie sangen von Lust und Liebe .
Und nimmer rauschten die Winde seligen Frieden , sie rauschten Trutz und Kampf .
All das Blühen und Sprossen , das Singen und Klingen , das vollsaftig treibende Leben um mich her , es durchdrang mich , es schwellte meine Adern .
Spät am Nachmittag war_es .
Ich sprang auf von der Chaiselongue , mich durstete nach einem Feuertrank .
Ich lief in den Garten bis ans Ende , wo er sich in den Wald verläuft .
Im dichten Gebüsch warf ich mich nieder - l'heure bleue ? nein l'heure rouge , rouge !
Ich begriff das Exzentrischste .
Die Finken schlugen anders als sonst , so wild lockend , mit flammend roter Sehnsucht , so dröhnend , daß es mir die Brust verletzte .
Gibt es ein schmerzliches Feuer , Mutti ? es war in mir .
Wogen von Duft und Farbe und Ton , sie schlugen über mir zusammen .
Ich streckte die Arme empor wie ein Ertrinkender und rief - rief -
Raphael ! rief ich , Raphael !
Was stieg aus dem Urgrund meiner Seele ?
Die nackte Natur ?
Venus aus dem Schlamm - -
Messalinegelüste ?
O , Mutti , radiere schnell das Wort wieder aus .
Warum schaudern wir bei der Vorstellung einer Messalina ? und warum schaudern wir nicht bei der Vorstellung eines Don Juan ?
In Dramen freilich , da holen ihn die Teufel zur Hölle , im Leben aber holen ihn die schönen Frauen in den Himmel .
Und wir - - Gott sei Dank , ein wolkenbruchartiger Regen ging nieder und regulierte die wilden Schläge meines Herzens. Mag dieser schwüle Drang auch ein Stück Natur sein , wie die elektrische Spannung , die dem Gewitter vorausgeht , ich empfand eine Stunde später einen intensiven Abscheu vor dieser Stimmung .
Nie wieder !
Darum fort mit dem Nichttun !
Mit dem faulen Chaiselongue- und Lotterleben .
Auf die Berge !
Hinauf ! bis hoch in die Gipfel !
Gleich morgen !
Heute küsse ich Dich nicht , meine Lippen sind entweiht .
In Deinen Schoß möchte ich mein Antlitz drücken .
Ich schäme mich vor Dir .
3.
Juli . Da bin ich wieder .
Von Bergeshöhen komme ich .
Und Ozon bringe ich mit .
Von einem Menschen kommt es .
Ich habe etwas erlebt , etwas Großes .
Einen Menschen habe ich erlebt .
Ich bin zwar hundemüde von der Partie , mein Geist aber ist fröhlich , und ich schreibe Dir auf frischer Tat .
Also gegen ein Uhr - es war noch etwas warm - fand der Auszug auf die Berge statt , handschuhlos , mit grobem Lodenrock , Kattunbluse , nägelbeschlagenen Stiefeln , geknifftem Tirolerhut , wie sich_es gehört .
Und die Hauptsache : allein , mutterseelen allein , zum ersten Mal auf einer Bergtour allein .
Ich muß wirklich sehr echt , bis zum strolchhaften ausgesehen haben , denn ein paar arme Handwerksburschen baten mich nicht einmal um einen Zehrpfennig zur Reise .
Um durch meine Reize niemand , der etwa des Weges kam , zu einer unliebsamen Annäherung zu verführen , hatte ich meine auffallende Mähne bis auf die kleinste Stirnlocke unter den pyramidalen Tiroler gezwängt .
Ich war sans Phrase häßlich .
Eine Kapelle , zwei und eine halbe Stunde von meiner Villa entfernt , war das Ziel meiner Wallfahrt .
Ich riskierte ja nichts .
Auf halbem Wege lag eine Gastwirtschaft .
Ermüdete ich , so konnte ich da rasten und umkehren .
Es sind noch nicht viel Fremde in Berchtesgaden .
Ich begegnete nur ab und zu einem kniefreien Eingeborenen , der mir ein " Gott grüße " zurief .
Erst ging es über breite , mit Gras und Blumen bewachsene Hügel , zur Seite die Waldberge und hoch über den Waldbergen das granitene Gestein , der Göll , der Watzmann , der Untersberg .
Scharen schwarzer Vögel flogen über die Gipfel in den lichtblauen Himmel hinein .
Dann der Wald ; ein ernster , dichter Föhrenwald .
Zaghaft stand ich anfangs vor dieser düsteren Pforte , schwankend , ob ich mich hinein wagen sollte .
Die Sonne sagte : Gehe nur , ich gehe ja mit , und durch die hohen schlanken Stämme , die aus weichem , welligem Moos hoch empor streben , liebäugelte sie mit mir und winkte mir zu einer Lichtung hin , und als ich in die Lichtung trat , lachte sie hell und lustig auf : Siehst Du , da bin ich .
Ich und die Sonne , wir verstehen uns .
Nun hatte ich Mut und schritt immer tiefer und tiefer in den Wald hinein .
Wunderschön , diese Einsamkeit in dem Föhrenwald , und doch beklemmend .
Nur einen kleinen Raum umfaßt unser Auge .
Was ist hinter diesem Baum ? hinter jenem ?
Wie viel verschiedene Geräusche , es summt , säuselt , es schwirrt .
Der Waldspecht , der Schlag eines Finken , alle diese Töne klingen ineinander , oft seltsam .
Geheimnisvoll , unheimlich das Waldweben .
Allmählich wurden die Tannen niedriger , dichter , zuletzt ganz niedrig und dicht , gestrüppartig , ein Gnomenwald von zwerghafter Wildheit .
Der Boden dicht mit Nadeln und trockenen Zweigen bedeckt , kein Sonnenlächeln mehr , kein Vogelsingen , ein fernes feines Getöne von Herdenglocken der einzige Laut .
Etwas Verzaubertes war in dieser Lautlosigkeit .
Ich fing an mich zu fürchten .
Früher fürchtete man sich in der Einsamkeit der Wälder vor wilden Tieren , jetzt vor wilden Menschen .
Wann endlich wird man auch diese ausrotten ?
Legendenhaft wird künftigen Jahrhunderten die Furcht vor Menschen erscheinen .
Da diese künftigen Jahrhunderte aber noch in weiter Ferne sind , fing ich an zu laufen und atmete erst auf als ich aus dem Zauberwald heraustrat .
Und nun begann der Aufstieg auf die Berge .
In diesem allmählichen Aufsteigen ist etwas Rhythmisches , die Nerven Beruhigendes .
Wohl eine halbe Stunde stieg ich frohgemut empor .
Wie es dann kam , daß ich , vom Hauptweg abirrend , in einen Waldweg geriet , weiß ich nicht mehr .
Tatsache : ich verirrte mich regelrecht .
Und wieder umfing mich blasse Furcht .
Ich stand ratlos , das Weinen war mir nahe , und dazu kam - Hunger , wirklicher , ordinärer Hunger .
Ich hatte auf halbem Wege in der Gastwirtschaft etwas essen wollen und nun den Weg verfehlt .
Ich war im Begriff , aufs Geratewohl irgend wohin meine Schritte zu lenken , als ich in der Ferne eines Menschen ansichtig wurde .
Er hatte bedeckte Knie ; das war mir nicht recht .
So zuwider mir sonst die nackten Knie sind , zu ihren Besitzern habe ich mehr Vertrauen als zu denen mit langen Beinkleidern .
Ehe ich einen Entschluß fassen konnte , ob fliehen ob bleiben , hatte er mich schon erblickt .
Je näher er kam , je beruhigter fühlte ich mich , und als er vor mir stand , meinte ich , nie eine vertraueneinflößendere Physiognomie gesehen zu haben .
Es war ein auffallend großer und kräftiger Mann mit klaren blauen Augen und starkem blonden Kraushaar .
Er trug Rucksack , Joppe und Tirolerhut und sah wie ein Förster oder Forstgehilfe aus .
Getrost fragte ich ihn nach dem Wege zur Kapelle .
Auch er wolle da hinauf ; er bot mir seine Begleitung an .
Wir schritten nun frisch nebeneinander her , und bald plauderten wir flott und gemütlich miteinander .
Die Sicherheit und Einfachheit seines Wesens wirkte anheimelnd .
Überdies : exzeptionelle Situationen schaffen immer gleich exzeptionelle Beziehungen .
Eine einzige Stunde brachte mich diesem Fremden näher , als es wahrscheinlich ein jahrelanger gesellschaftlicher Verkehr mit ihm in München getan hätte .
Daß wir augenscheinlich eine gleich intensive Freude an der Natur hatten , trug viel dazu bei .
Wer und was mochte er sein ?
Zur eleganten Welt gehörte er sicher nicht .
Es fehlte ihm jedes Parfüm der Nobligkeit .
Ein Ritter von Geist ?
Eher .
Ein Lehrer etwa ?
Dazu war er zu frei , frisch und gar nicht fromm .
Er fand es recht und tüchtig von mir , daß ich mich so allein in die Berge wagte .
Vom bayrischen Volk sei nichts zu fürchten , brav und kernig sei es .
Und er sprach von den Eigenschaften seines Volksstammes , von seinen Gebräuchen , den örtlichen Verhältnissen u. s.w .
Es war unschwer herauszufinden , daß ich es mit einem ungewöhnlich gebildeten und intelligenten Mann zu tun hatte .
Immer vertrauter wurden wir .
Wir verschmolzen unsere Stimmen zu den kühnsten Juchzern und Jodelrufen , wir sangen zweistimmige Volkslieder , von denen ich gar nicht wußte , daß sie noch in der Tiefe meiner Erinnerung lebten . Z.B .
" Wer will unter die Soldaten - " und " Wer hat dich du schöner Wald " u. s.w .
Es marschierte sich wunderbar dabei und immer mehr Blumen steckte er auf meinen Hut .
Ab und zu rasteten wir , und saßen dann wie gute alte Bekannte neben einander im Moose , kurze Bemerkungen über die Schönheit der Landschaft austauschend , oder irgend eine Reflexion daran knüpfend .
Er fand einmal , daß die Liebe zur Natur eigentlich eine unglückliche Leidenschaft sei , da wir ja immer nur an ihr vorüber gingen , immer Trennung , immer neue Liebe ohne Treue .
Und sie widme uns auch keine Gegenliebe .
Sie lebe für sich , nicht für uns .
Wir sähen den Himmel , die Berge , den Wald , sie sähen uns nicht .
" Na , " bemerkte ich bescheiden , " sie verlieren vielleicht nicht viel daran . "
" So ? " meinte er , " sind unsere Gedanken nicht höher als die Berge , tiefer wie der See , klarer wie die Sterne , und " - er machte eine Pause und blickte mich so herzerfrischend heiter an , " die Berge und der Himmel und die Erde sehen Sie nicht ! "
Mutti , nie hat mir eine Schmeichelei so viel Vergnügen gemacht wie diese .
Mich hübsch zu finden trotz meines kupferrot echauffierten Teints , trotz meines greulichen Tirolers und meiner nägelbeschlagenen Plumpheit - das war ein Kunststück .
Einmal fragte er mich geradeaus :
" Ich meine , Sie sind eine norddeutsche Lehrerin ? "
" Wenn ich nun eine verkleidete Fürstin wäre ?
Es wohnen ja so viele in Berchtesgaden . "
Er lachte .
" Eine Fürstin , allein , führerlos in den Bergen ? "
" Führerlos und proviantlos . "
Ich warf einen sehnsüchtigen Seitenblick nach seinem Rucksack .
Eilig entledigte er sich des Sackes und entnahm ihm ein weidengeflochtenes Körbchen .
Er machte mir unter einer schönen Tanne einen weichen Moossitz zurecht und reichte mir den Inhalt des Körbchens hin : Kirschen , Brot und Käse und eine Feldflasche mit Wasser und Wein gefüllt .
Käse ? ich rümpfte ein wenig die Nase .
- " Am Ende doch Fürstin ? " sagte er lächelnd .
- " Nur ihre Kammerjungfer . "
Ich bemühte mich , als ich das sagte , recht ehrlich auszusehen .
Und denke Dir , Mutti , der Unhold schien von meiner Mitteilung gar nicht impressioniert , er glaubte mir aufs Wort , was mich natürlich einigermaßen verdroß , so daß ich nicht umhin konnte hinzuzufügen :
" Außerhalb des Waldes wäre Ihnen gewiß ein Mädchen in meiner Position zu gering , um mit ihr zu plaudern ? "
Er sah mich groß und ernst an .
" Sie würden diese Frage nicht an mich gerichtet haben , wenn Sie wüßten - - "
" Daß auch Sie Kammerdiener sind ? " fiel ich ein .
- " Daß ich Redakteur eines sozialistischen Journals bin .
Sie brauchen aber Ihrer Fürstin nicht zu sagen , daß Grünhütchen im Walde dem Wolf begegnet ist . "
Wie konnte ich nur nicht gleich darauf kommen , daß er Schriftsteller ist .
Was hätte er anders sein sollen !
Ich war einverstanden damit , und bis tapfer in das Käsebrot .
Wir tranken aus derselben Feldflasche - - Mutti , er ist ja morgen über allen Bergen .
Er ist nämlich auf einer Bergtour begriffen und kommt nicht nach Berchtesgaden zurück .
Er hat es mir selbst gesagt .
Eine wohlige , übermütige Stunde , durch nichts Vergangenes und Zukünftiges getrübt - Er hatte Erdbeeren entdeckt , sammelte sie auf ein Blatt , kniete dann vor mir , und während er sie mir in den Mund steckte , sang er die der Situation entsprechende Stelle aus Hansel und Gretel :
" Schluck , schluck , schluck " u. s.w .
Eine allerliebste , funkelnagelneue Situation .
Von da an nannte er mich Gretel und ich ihn Hansel !
Und demgemäß betrugen wir uns ganz hansel- und gretelhaft , kindisch-vergnügt .
Es stimmte noch manches andere zu " Hans und Gretel " : der märchenhafte Wald , die goldene Brücke , auf der Genien auf- und niederschwebten ( unter Genien die lieben reinen Gemütstöne verstanden , die in meiner Seele geschlummert und nun erwachten ) .
Ein Gefühl so herzlicher Kameradschaft zwischen Mann und Frau hätte ich kaum für möglich gehalten .
Wenn er wüßte , Mutti ! wenn er wüßte !
Was ?
Natürlich , daß ich über dreißig Jahre alt bin .
Ich feiere meine Geburtstage nicht mehr , ganz Vogel Strauß , der bekanntlich seinen Kopf in den Sand steckt , um nicht gesehen zu werden .
In anderthalb Stunden waren wir auf der Höhe .
Wir setzten uns in eine für die Fremden hergerichtete kleine tempelartige Laube .
Die Sonne neigte zum Untergang .
Mit großen verschlingenden Augen sahen wir hinaus in die Pracht der Landschaft .
In zarter schattenhafter Verträumtheit lagen die Berge vor uns , von schier sagenhaftem Flimmer umwoben , der in den leuchtenden Spitzen des Schnees endete .
Die Färbung , ein zärtliches Flimmern und Verdämmern von Rosen und Lilien .
In ihrem leisen Ineinanderfließen nahmen sich die Berge aus wie selige , von Genien bewohnte Wolken , oder leuchtende Schatten von Götterburgen , Walhallen , phantastisch hoch über allem Irdischen , hinreißend in ihrer traumhaften Schönheit .
Wir waren eins in Entzücken .
Wir standen Hand in Hand .
Ich weiß nicht , wie das kam , aber es kam so .
" Auf der Höhe ! " sagte er , und innig und fest preßte er meine Hand .
Wir standen da , erlöst vom Damen-und Herrentum , zwei Menschen , die sich gefunden , sobald sie sich begegnet - Geschwister-Seelen .
Der Himmel erblaßte allmählich .
" Wie heißt das Gretel ? " fragte er , als wir uns langsam zum Gehen wandten .
" Sibilla !
Und der Hansel ? "
" Albert Kunz ! "
Wirst Du es begreifen , Mutti , der Name ernüchterte mich etwas .
Ich habe von jeher den Namen Albert nicht gemocht .
Vom nahe gelegenen Wirtshaus kamen Guitarretöne .
Hand in Hand gingen wir zur Kapelle .
Warum sind alte Kirchen und Kapellen so eindrucksvoll , selbst auf das Gemüt absoluter Atheisten ?
Hansel meinte , es sei nur der malerische Effekt .
Ich glaube , es ist mehr .
Die Pforten der Welt schließen sich hinter uns , wenn die Türen der Kirchen sich öffnen .
Wir sind in der Vorhalle eines Jenseits .
Die Tiaren , die weißen Lilien , die blutigen Tränen und goldenen Kronen , Blumen und Dornen , Miserere und Jauchzen , Halleluja und Requiem , Verzückung und Martyrium , das alles zusammen erzeugt eine von heiligen Geheimnissen umzitterte Atmosphäre , die einer idealen Sehnsucht unseres Gemütslebens entspricht .
Albert Kunz nannte es Rausch .
Er fand die bunte Glasmalerei der Kirchenfenster , die das Verblichene , Rohe und Verfallene in eine mystische Beleuchtung rücken , fein und klug ersonnen .
Öffne man diese großen Fenster und lasse Sonne und Licht hinein , so erscheine an Stelle der Weihräucherlichen Mystik , Gerümpel , Staub , Spinnweben - Plunder .
Es scheint , unsere Geschwister-Seelen sind doch nicht ganz auf denselben Akkord gestimmt .
Den Rückweg legten wir schweigend zurück .
Da es allmählich ziemlich dunkel wurde , nahm er meinen Arm und gab acht , daß ich nicht fehltrat .
Ich war so herzreich in dieser Stunde , daß ich allen Dingen um mich her davon abgeben konnte , den Wiesenblumen , den Gräsern , den zirpenden Heimchen , den rinnenden Wassern .
So seelenfriedlich , so milchstraßenfreundlich , fern ab von der Welt , als hätte ich alles beisammen , was mir Not tut .
Das war wirklich l'heure bleue . Wie anders , anders als die gestrige heure rouge . Nichts fehlte mir , als Du , liebe Mutter , und unwillkürlich mußte ich an die Abende denken , wo ich vor Deinem Bett kniend , Dir mein ganzes Herze sagte .
Als wir kaum noch hundert Schritte von meiner Villa entfernt waren , sah ich eine Lampe auf meiner Veranda und meine Jungfer , die ängstlich hinausspähte .
Ich zog meinen Arm aus dem meines Begleiters und zeigte auf die Villa .
" Da wohne ich ; Gott zum Gruß , lieber Hansel . "
Er wußte , daß er nicht weiter mitgehen durfte .
" Gretel ! " Plötzlich hatte er mich umschlungen und geküßt , herzhaft auf die Wange geküßt .
Na - morgen ist er ja über allen Bergen .
Und überhaupt , ich finde es nicht so entsetzlich , wenn ein Mann aus herzliebem Gefühl , ohne den Beigeschmack der Sinnlichkeit , eine Seelenschwester küßt .
Hebe diesen Brief auf , Mutti , wie ein Blatt aus Arkadien , das ich vielleicht später einmal , in Stunden öder Weltlichkeit mit Rührung lesen werde .
4.
Juli . Liebe Mutti , es kommt doch immer ganz anders , als man denkt .
Gestern war ich von der riesigen Bergtour an allen Gliedern wie zerschlagen .
Ich blieb den ganzen Tag zu Hause .
Am Nachmittag lag ich auf der Chaiselongue .
Ich hatte das weiße Kleid von dem zarten indischen , mit seidenen Blumen durchwebten Stoff an , an dem Dir die Silberborte an dem kleinen , viereckigen Ausschnitt immer so gut gefallen hat .
Das Haar leicht aufgesteckt .
Als ich in den Spiegel blickte , mußte ich lächeln über den Kontrast , den meine heutige Erscheinung zu der gestrigen bot .
Ich wollte lesen , aber meine Gedanken schweiften von dem Buch ab , hin zu Albert Kunz .
Daß er sich so leicht und so gleich wieder von mir frei gemacht hatte , verdroß mich beinahe .
In den Nebenzimmern wurden Türen auf und zu gemacht .
Das Geräusch irritierte mich .
Ich erhob mich , um meiner Jungfer zu klingeln .
Ehe ich aber zur Klingel kam , öffnete sich die Tür meines Salons und vor mir stand - Albert Kunz , und vor ihm stand ich , in der Pracht meiner funkelnden Ringe und meines ganzen Toilettenzaubers .
Denke Dir , Mutti , denke Dir , er erkannte mich im ersten Augenblick nicht .
Er prallte zurück .
Blendete ich ihn ?
Er stammelte ein paar Worte der Entschuldigung , wußte augenscheinlich nicht , was er sagte , und seine Blicke saugten sich förmlich an meinem Gesicht fest , leidenschaftlich suchende , angstvoll lauernde Blicke .
" So sind Sie nicht über allen Bergen ? "
Da erkannte er mich an der Stimme .
Eine dunkle Röte übergoß sein Gesicht .
Verwirrung und Abwehr drückte es aus .
" Doch Fürstin ? "
Ein so bitterböser Vorwurf lag in seinem Ton , daß ich laut lachen mußte .
" Nein , nur Sibilla Raphalo , die Gattin eines ebenso einfachen wie reichen Mannes . "
Er schien nur das Wort Gattin gehört zu haben , denn er wiederholte mehrere Male , halb erstaunt , halb geringschätzig :
" Gattin ! Gattin ! "
Gewölk jagte über seine Stirn , Blitze zuckten drüber hin .
" Hansel ! "
Dieses Hansel war mehr als leichtfertig von mir .
Es fixierte , was ein flüchtiges Momentbild hätte sein sollen , verwandelte ein heiter belangloses kleines Abenteuer in ein ernstes Erlebnis .
Aber ich wollte auf alle Fälle die Situation ihres theatercoupmäßigen Charakters entkleiden .
Ich hasse die Szenen , unter die man " Tableau " zu schreiben pflegt .
Die Wolken auf seiner Stirn verteilten sich , die Blitze hörten auf zu zucken .
" Es wäre besser gewesen , ich hätte dem Verlangen , Sie wiederzusehen , nicht nachgegeben .
Ich wollte zum Gretel - es Gretel ist fort .
Wirklich , ich hätte längst über allen Bergen sein sollen . "
" Bei den sieben Zwergen , wo das Schneewittchen wohnt . "
" Das Königskind . "
- Er sagte es mit einer eigentümlichen Traurigkeit in der Stimme .
" Erlösen Sie es doch von der Königskindschaft , Sie Redakteur eines sozialistischen Journals .
Übrigens ich kenne Ihr Journal , ich lese es und - ich Teile Ihre Weltanschauung . "
Die letzte Wolke verzog sich .
Himmelsbläue , eitel Sonnenschein auf seinem Gesicht .
Seine Befangenheit löste sich nun zwar , doch so recht fand er sich noch nicht in die neue Situation .
Er sah mich immer an , mit einem naiv bewundernden Erstaunen , und noch ein paarmal sagte er :
" es Gretel ist fort . "
" Hat Ihnen denn das Gretel besser gefallen als Sibilla ? "
" Es stimmt mich traurig , daß Sibilla so kränklich blaß , so lilienweiß ist .
Gretel war so frisch rot . "
" Sagen wir , wenn wir aufrichtig sein wollen , rotblau , welche Färbung Sie ja von neuem genießen können , wenn Sie noch einen Tag in Berchtesgaden bleiben und mich auf den Göll begleiten wollen . "
Ja , er wollte noch einen Tag bleiben , aber nur einen einzigen , um mich auf den Göll zu begleiten .
Natürlich denke ich gar nicht daran , den Göll zu besteigen , der ist mir viel zu hoch .
Aber die Langeweile verscheuche ich gern .
Es kam zu keiner rechten Unterhaltung mehr .
Er war unruhig und ging bald .
Wie deutest Du seine Unruhe , Mutti ?
Meine nächsten Briefe werden wohl alle von Albert Kunz handeln .
Sei geküßt , Du Liebste , von Deinem Beichtkind .
10.
Juli . Liebe Mutti , der Albert Kunz denkt natürlich gar nicht mehr ans Abreisen .
Wir machen täglich längere oder kürzere Spaziergänge , und wenn es nicht zu steil bergan geht , sind wir immer dabei , soziale Fragen zu lösen .
Auf diesen Wanderungen sind wir nach wie vor Hansel und Gretel und in besonders animierter Stimmung , sogar " Du " , z.B. " Siehst Hansel , das Gretel ist doch nicht fort . "
" Aber verkleidet bleibt_es doch , ich spüre immer die Märchenprinzessin hindurch , trotz Lodenrock und Rucksack . "
Ich bin zu ihm immer dieselbe , er zu mir nicht ganz derselbe .
Eine neue Note ist in sein Wesen gekommen .
Bei ihm klingt und schwingt eine Saite , die bei mir nicht wiederklingt .
Ich sage es Dir gleich : der Hansel hat sich ins Gretel verliebt .
Nein , doch nicht ins Gretel , sondern in Sibilla .
So ein Sozialist !
Ins Gretel hätte er sich verlieben müssen .
Neulich habe ich ihm erklärt , ich würde seine Namen umstellen .
Der Vorname Albert mißfiele mir .
Er würde von jetzt an Kunz Albert heißen .
Kunz , das klänge ans Romantische an :
Kunz von der Rosen . - -
Oder Kunz von der Lilien , sagte er , da er doch der Ritter einer weißen Lilie sei .
Er machte aber doch ein bedenkliches Gesicht zu meiner Kaprice .
Ist er nicht willig , so brauche ich zwar nicht Gewalt , aber ich sage :
" Hansel ! "
Da wird er zahm und frißt mir aus der Hand .
Hansel , Hansel , ich fürchte , mit der Nachgiebigkeit in Betreff Deines Namens fängt Dein Unglück an .
Für mich fürchte nichts , Mutti .
Ich verliebe mich nie in ihn .
Warum nicht ?
Ja , siehst Du , meine Nerven korrespondieren nicht mit den seinen .
Kunz sagt alles , was er denkt , so brüsk heraus .
Wie seiner Stimme , so fehlt auch seinem ganzen Wesen das Piano , der Mondschein .
Sein Schritt ist so fest und bestimmt , ich höre ihn schon immer von weitem .
Er reizt keine Neugierde .
Er ist immer ganz da .
Mittagshelle .
Und man ruht doch gern zuweilen in weichdämmerndem Abendschatten aus .
Er ist der Sohn eines bayerischen Gastwirts .
Und ich bin Deine Tochter , Du Feine , Du Zarte , Du in dämmerndem Zwielicht so melodisch Verschwimmende , Verklingende .
Deine Sibilla . 15.
Juli . Benno war einige Tage hier .
Kunz , der mit ihm wie mit allen Menschen sich einfach , natürlich und teilnehmend zeigte , hat ihm sehr gefallen , und keine Spur von Eifersucht bei ihm erregt .
Es war mir lieb , daß Kunz ihn kennen lernte .
So hat er sich nun selbst ein Urteil über ihn und unsere Ehe bilden können , ohne daß ich ein Wort darüber zu äußeren brauchte .
Die Art und Weise , wie ich mit Benno verkehrte , tat ihm augenscheinlich wohl .
Die Partien , die wir zu drei machten , fast immer zu Wagen , erlitten durch Benno keinen Abbruch an Gemütlichkeit .
Nur traten in der Unterhaltung an Stelle der sozialen Fragen Bennos Anekdoten , über die Kunz herzlich lachte ; war er doch in diesen Tagen ganz übermütig froh gestimmt .
Ob darüber , daß Benno gerade so ist , wie er ist ?
Wir fuhren auch über den Königsee , den ich zum ersten Mal sah .
Benno war lebhaft wie Quecksilber und anekdotenreicher als je .
Meine und Kunzes Blicke flogen über das Wasser , es war nur wie ein Überschlag der Genüsse , die wir haben würden , wenn wir einmal zu zwei hier im Kahn säßen .
Unsere Blicke begegneten sich in der Vorfreude einer solchen Fahrt .
Benno und Kunz sind als gute Freunde von einander geschieden , und mein lieber Mann hat Kunz ans Herz gelegt , mich ja gut zu chaperonieren .
Und wie vorher , so wurde nachher Bennos zwischen mir und Kunz nie gedacht .
16.
Juli . Hier wurde ich gestern durch Besuche unterbrochen .
Sie sind da , meine Intimen , Borns , Riedlings , Eva Broddin mit Tante und verschiedene andere , die Dich nicht interessieren .
Einer von diesen verschiedenen anderen , eine in München sehr beliebte Persönlichkeit , gehörte zu den Besuchern .
Ein fader Geselle .
Nicht einmal einen neuen Klatsch brachte er mit , nur den alten , aufgewärmten .
So lange man mitten in der Gesellschaft lebt , sieht und hört man die Menschen mit den Augen und Ohren der anderen , gleichsam mit geliehenen Augen und Ohren .
Hier sehe ich sie , wie sie sind .
Man steigt nicht ungestraft aus der kleinen Welt der Salons in die große Welt stolzer Bergnatur .
Das ist eine Entlarvung der seelischen und leiblichen Engbrüstigkeit der faden Gesellen .
Wer weiß , ob ich nicht in meinem Münchner Salon Kunz Albert ignoriert , und an dem geistreichen Jargon des Baronchens Gefallen gefunden hätte .
Siehst Du , Mutti , das ist der immense Vorzug der Einsamkeit in der Natur : die Emanzipation von den anderen .
Ich habe aber doch schon verschiedentliche Besuche mit den anderen ausgetauscht und ihnen sehr harmlos , aber sehr schlau von Kunz Albert , dem Sozialisten , den ich als Bergführer akquiriert , erzählt .
Es kann sein , daß ich dem Ton , mit dem ich von ihm sprach , eine kleine , feine scherzhafte Nuance beimischte , nur damit ihnen keine Hintergedanken kommen sollten .
Perfide , nicht ?
So ist man .
Kaum hat man wieder Fühlung mit der " Gesellschaft " , so heult man mit den Wölfen , oder wenn die Wölfe zu protzig klingen sollten , man wird zum Schaf , das dem Leithammel folgt .
Sie haben sich allmählich gegenseitig kennen gelernt , Kunz und meine Münchner , und sie beurteilen ihn , jeder von einem anderen , das heißt , jeder von seinem Standpunkt aus .
Riedlich schätzt ihn eminent vom Standpunkt des Malers - als Modell .
Die Damen finden ihn als Akquisition für ihren Salon ganz akzeptabel , da in einem Salon auch die heftigsten Ultras und Antis chic sind , wäre es auch nur , wie Timäa sich ausdrückte , um Leben in die Bude zu bringen .
Timäa , die auf einige Tage bei Eva Broddin zu Gast ist , sieht in Kunz nur den Mann , und findet ihn als solchen ersten Ranges .
Wer sich nicht schnurstracks in diesen jungen Herkules verliebe , sei keine unverfälschte Weibnatur .
Sie zeigt ihm ihr Wohlwollen unverhohlen , während die feine Eva sich mit heimlicher Neugierde und dem schmachtenden Blinzeln ihrer geschlitzten japanischen Augen an ihn schlängelt .
Schade , er ist nicht mehr so harmlos froh , seitdem ich meine Münchener Welt wieder um mich habe .
Ein herberer , zuweilen mentorhafter Ton ist in seine Gespräche gekommen .
Mit der vergnügten Kindschaft scheint es aus .
Und ich auch , ach Gott , ich bin wieder über dreißig Jahr alt .
Glücklicherweise besuchen mich meine Münchener in den Abendstunden fast nie .
Der Berg , auf dem ich wohne , ist ihnen zu hoch .
Diese Stunden gehören Kunz Albert und Dir , meine Mutter .
20.
Juli . In dem Hof einer eleganten Villa hat ein kleiner Bazar stattgefunden .
Eine hocharistokratische Clique , Villenbesitzer aus dem Ort , hatten ihn , um den Bau einer evangelischen Kapelle auf die Beine zu bringen , inszeniert .
Ich und Traute , wir beschlossen hinzugehen , und Kunz , der nicht wollte , mußte mit .
Ich hatte mir eine feine Nuance für diesen Wettkampf mit der Aristokratie ausgedacht , einen Anzug , so armselig wie ihn nur irgend meine Jungfer in der Eile hatte herstellen können .
Tiroler Werkeltags-Kostüm von derbstem , billigstem Kattun , meine wallende Mähne aber ließ ich königsmantelgleich unter meinem vergilbten Tiroler niederfließen .
Ich kann mir nicht verhehlen , ich wirkte sensationell , überall hatte ich " das Geschau " , wie der Bayer sagt und selbst die Erlauchten , denen doch Neugierde nicht ansteht , spähten verstohlen nach mir .
Allerliebst war der Hofraum hergerichtet mit wehenden Fahnen , stilvollen Decken , die Buden mit Blumen , Tannen und Eichenlaub geschmückt , auf einigen Tischen dampfende silberne Teekessel , und alles mit Musik .
Die Verkäuferinnen aus der creme der creme . Bemerkenswert eine Gräfin Olandri .
So ungeniert häßlich zu sein , erlaubt sich nur eine Aristokratin .
Mit der hängenden blauen Unterlippe , den kleinen , triefenden , schlauen Auglein , der klobigen Nase , den unzähligen graugesprenkelten Ringellöckchen unter dem mit schwarzen Beeren aufgeputzten Tirolerhut , würde sie den Eindruck eines groben , pfiffigen alten Bauern gemacht haben , wenn man ihr nicht an ihrer absoluten , unbeirrbaren Sicherheit auf hundert Schritt die Aristokratin angesehen hätte .
Klein und dicklich in der Gesellschaft war nur eine ältliche , geschmacklos und spießbürgerlich gekleidete Fürstin .
Wie eine Landrätin in Wichs sah sie aus , Kraft ihres Ranges aber fühlte sie sich zu einer graziösen Lebhaftigkeit verpflichtet , und bildete , bald sitzend , bald stehend , Cercle .
Zwei kleine Komtessen in Berchtesgadener Tracht - natürlich ins Ideale , in Seide und Spitzen übersetzt , küßten der Dicklichen devotest die Hände .
Ihre steifleinene Haltung und ihre kleinen , hochmütigen Mienen hatten sie wohl nur aus Angst , man könnte sie für wirkliche Bauernmädel halten , aufgesteckt .
Eine junge niedliche Prinzessin erregte Entzücken , weil sie nett und freundlich und gar nicht kronen- und scepterhaft sich benahm ; eine andere aber , häßlich , mit spitzem bösem Gesicht , war gar nicht freundlich , erregte aber natürlich auch hohes Interesse .
Ich betrachtete sie eine Weile und dachte : Wärst Du , Prinzessin , ein häßliches , ältliches Fräulein Schulz oder Müller und noch dazu hochnasig , alles andere würdest Du eher erregen als Interesse .
Ich gönne ihr aber das Glück , Fürstin zu sein , das einzige , das ihr je geblüht hat und je blühen wird .
Ich machte mir den Spaß , die unfreundliche Fürstin nach dem Preis eines einzelnen Bisquits zu fragen .
Unbeschreiblich , Mutti , die Betonung , mit der sie , in die Luft sehend , sagte : " Zehn Pfennig " , als ob sie noch nie so gemeine zehn Pfennige in den Mund genommen hätte .
Ist mir zu teuer , sagte ich , ging an den Tisch der freundlichen Fürstin , kaufte sehr viel teuren Tee und Kuchen , und an einem reizend gedeckten Tischchen trank ich mit Kunz und Traute meinen Tee , starken , guten Tee .
Leider hatte der Ruf der exklusiven Vornehmheit dieses Bazars seine Schatten ins Tal geworfen , und nur wenige Fremdlinge hatten sich hinaufgewagt , und nachdem sie aus hohen Händen für 2-3 Mark eine Tasse Tee in Empfang genommen , drückten sie sich still vor den Hundertmark-Vasen , Aquarellen und sonstigen ebenso kostspieligen , als unbrauchbaren Herrlichkeiten .
Ich machte in halber Neckerei Kunz auf die schönen Gestalten der Aristokraten aufmerksam , wie diese Blaublütigen , selbst in hohem Alter , ihre Schlankheit und Elastizität bewahrten , was doch nur in seltenen Fällen dem Bourgeois gelänge .
Kunz reckte seine Hünengestalt , damit man merken sollte , er spräche nicht pro domo . Ein Vorzug , meinte er , dessen sie sich nicht zu rühmen hätten .
Wem verdankten sie diese kraftvolle , körperliche Entwicklung ?
Dem Volk , das Jahrhunderte lang für sie frondete , damit sie im Schoß des Wohllebens , auf Burgen und Schlössern sich in Freiheit und Ritterlichkeiten tummeln konnten . Habe ihre Intelligenz Schritt gehalten mit ihrer Körperlänge ?
Durchaus nicht .
Ein behaglich eingerichtetes Kämmerlein sei ihm lieber als leere Prachtsäle mit Spinnweben in allen Winkeln und Ecken .
Übrigens stehe es noch dahin , ob Größe ein Vorzug sei , ob nicht möglicherweise das Riesenmaß der Glieder bei fortschreitender Kultur zu Gunsten des Gehirns oder einer Seelensubstanz abnehmen werde .
Die kleinen Japaner seien intelligenter als die längeren Chinesen .
Nur der Physiologe habe - so weit die Wissenschaft ihm eine Handhabe böte - eine Berechtigung über den Wert des Blutes zu entscheiden .
Hier mußte Kunz niesen , und damit nicht genug , schnaubte er sich auch - hörbar - sehr hörbar .
Traute , die als geborene Baronesse sich durch Kunzes Äußerungen verletzt fühlte , rühmte mit einer gewissen Absichtlichkeit die den Aristokraten angeborenen sicher feinen Formen , die im Verkehr mit ihnen so behaglich anmuteten .
Kunz machte uns auf einen Menschen in Livree aufmerksam , den , für einen Lakaien zu halten ich mich lange nicht entschließen konnte ; vielmehr war ich der Ansicht gewesen , daß seine Livree eine ausländische Uniform bedeute , so hochherrschaftlich , so seigneurale war seine Haltung .
Die Art , wie er , von Tisch zu Tisch gehend , seine Einkäufe machte , die eingekauften Sachen mit nonchalanter Grazie umherzeigte , wie er am Büfett seiner Gebieterin , der freundlichen Prinzessin , eine Tasse Tee trank , ohne Spur von Gene oder Unterwürfigkeit , das war geradezu feudal .
" Sie sehen , " sagte Kunz lächelnd , " wie diese Formen erworben werden . "
Traute antwortete nicht .
Sie zeigte sich schon seit einiger Zeit unruhig .
Ab und zu sah sie nach der Uhr .
Ob sie jemand erwarte , fragte ich .
Ja , sie erwarte jemand , der heute morgen erst angekommen sei , und der versprochen habe , sie von hier zu Eva Broddin zu begleiten , wo man musizieren wolle .
Wer es sei , verrate sie nicht .
Ich sollte auch überrascht werden .
Ihre Unruhe steckte mich an .
Mit einem Mal rief sie :
" Da ist er ! " und ich sah Hely Helmströme auf uns zukommen .
Ein Gefühl , zwischen peinlichem Mißbehagen und beklemmender Erregung überkam mich .
Ich schämte mich meines Kostüms und verlor alle Fassung , als er mich mit einem Ausdruck kühlen Befremdens grüßte .
Ich stellte die Herren einander vor , und einen Augenblick schämte ich mich auch meines lieben Kameraden , der nicht recht gentlemanlike aussah , beinahe etwas bäurisch .
Jetzt erst bemerkte ich , daß er auf der Sohle des einen Stiefels einen Riester hatte .
Ich ängstigte mich förmlich , Herr von Helmströme würde diesen Riester bemerken .
Mein grober Kattun war nur Maske , Kunzes versohlter Stiefel - echt .
Zum ersten Mal hatte ich in meinem Herzen den Hansel verleugnet .
Ich war mir dessen sofort bewußt und litt unter meiner Niedrigkeit .
Man wechselte einige nichtssagende Worte .
Herr von Helmströme brachte mir eine Einladung von Eva Broddin für den Musikabend .
Ich lehnte kurz ab .
Er begrüßte dann einige der anwesenden aristokratischen Familien , und nach einer kleinen Viertelstunde brach er mit Traute auf .
Einen Moment hatte sein Auge forschend und nicht gerade wohlwollend auf Kunz geruht .
Ich kam nach Hause , unzufrieden mit aller Welt , besonders mit dem Wetter .
Es regnete .
Nichts kann man dauernd genießen , die Natur nun schon gar nicht , und die Menschen auch nicht .
Ach Gott ja , Kunz ist ein reiner edler Charakter , aber warum schnaubt er sich überhaupt in meiner Gegenwart ?
Und auf einem feinen Bazar braucht er nicht versohlte Stiefel zu tragen .
- Ich weiß , ich weiß , Mutti , ich bin von krankhafter Sensitivität , in einfaches Deutsch übersetzt :
ich bin kleinlich , erbärmlich , dämlich .
Am anderen Tag besuchte mich Hely .
Wir plauderten wie immer , recht gut , recht geistreich , nur einen Ton frostiger als sonst .
Mir ganz recht .
Was soll mir dieser Hely , der Traute liebt , von Timäa begehrt wird und vielleicht an der feinen , feinen Eva hängen bleibt .
Nur wäre es mir nicht recht , wenn er dächte , daß Kunz - - ach , wäre mir auch gleichgültig .
Alles ist mir gleichgültig .
Wärst Du doch bei mir geblieben , Du Allerliebste !
Hely reist übrigens in den nächsten Tagen wieder ab .
Möglicherweise werde ich ihn erst in München wiedersehen oder gar nicht .
Nicht nur Traute hat er vor mir besucht , cela va sans dire , aber auch Eva Broddin .
Sonntag . Kunz ist heute allein in den Bergen .
Ich blieb zu Hause auf der Chaiselongue mit ein wenig Migräne , und las Nietzsche und konnte zu lesen gar nicht aufhören .
Vieles , was er sagt , weiß ich ja längst , längst .
Kommt da einer mit einem feurigen Schwert in der Rechten und redet mit Engelzungen aus purpurnen Wolken , und redet dasselbe , was Du gedacht .
O Mutti , das ist eine Festfreude , eine lautere Wonne , eine Rührung , daß man es so herrlich weit gebracht hat .
Größenwahn ? kann sein .
Ach , wer sich an Nietzsches Flügel hängt , der gelangt sicher nicht nach Arkadien oder nach einem sonstigen frommen Eiland , o nein , vielleicht auf einen hohen , hohen Berg , weißer , weißer Schnee auf seinen Gipfeln , oder auf ein weites , weites Meer , oder in eine feurige , feurige Hölle .
- Habe ich denn wirklich Migräne ?
Dachte ich etwa , Hely würde kommen ?
Ich - ein solches Backfischmanöver ?
Mir ist alles zuzutrauen .
Er ist auch gar nicht gekommen .
23.
Juli . Kunz Albert suggeriert mir ein lebhaftes Interesse für das bayrische Volk .
Am letzten Sonntag ließ ich mich bereden , mit ihm eine Waldschenke zu besuchen , wo das Volk seinem Nationaltanz , dem Schuhplattler , obliegt .
An langen Holztischen saßen die Bauern und tranken .
Die ganze Gegend roch nach Käse , Bier und ledernen Hosen .
Kunz redete frei und kameradschaftlich mit den Bauern in ihrem Dialekt , den ich nicht verstand .
Als sie mit dem Bier fertig waren , wischten sie sich mit dem Handrücken den Mund , und es ging los .
Ein Harmonikaspieler , dem das nasse Haar an den Schläfen klebte , besorgte die Musik .
Er hatte den grünen Hut zurückgeschoben , und mit halbgeschlossenen Augen und einem bierbacchantischen Zug in seinem Gesicht wiegte er sich hin und her .
Und der Tanz selbst !
Ein wahrer Wildentanz .
Wie Feuerländer hupften und sprangen sie mit den nackten Knien juchzend und klapsend umher , Riesenheuschrecken , nur schrecken sie nicht das Heu , sondern feinnervige Menschen .
Und alle trieften .
Wer am tollsten springt , ist König .
Dieses Sonntagsvergnügen des bayrischen Volkes kostet sicher mehr Schweißtropfen als ihre Wochentagsarbeit .
Die Tänzerinnen , meist häßlich und nicht jung , hatten ein bescheidenes , passives Wesen , eine Korallenkette um den Hals , und von Temperament und Grazie keine Spur .
Mit ihren wassersträhnigen , fadblonden Haaren , ihren verschossenen Röcken , schwarzwollenen Jacken und unkleidsamen grünen Hüten tragen sie nicht zur Verschönerung von Oberbayern bei .
Auf dem Rückweg gingen wir , ich und Kunz , etwas verstimmt nebeneinander her .
Um ihn nicht zu verletzen , sagte ich gar nichts , was immer verstimmender wirkt , als wenn man zu viel sagt .
Schließlich brach er das Schweigen .
" Der Schuhplattler hat nicht Gretels Beifall gefunden ? "
" Nein . "
" Als echte Aristokratin ( die ich doch gar nicht bin ) , perhorresziert sie die sonntägliche Menge , die staubt und schwitzt - - "
Ich gab es zu .
" Aber Kunz , man kann doch die Liebe zum Volk nicht so en Detail , so handgreiflich materiell nehmen , als müsse man nun jedes einzelne Exemplar dieser Gattung mit einer ganz persönlichen Zärtlichkeit umfassen .
Ich möchte unter Menschenliebe nur eine bestimmte Geistesrichtung , eine zarte und tiefe Grundstimmung verstanden wissen , die all unseren Handlungen Ton und Farbe gibt .
Man liebt die Menschen vielleicht am meisten , wenn man fern von ihnen in Einsamkeit lebt , wo diese zarte Grundstimmung nicht durch Zuwidere , das uns im Verkehr mit den Proletariern abstößt , getrübt wird .
Die Veredlung der Menschen ist doch eben der Zweck Eurer sozialen Bestrebungen .
Aber vor der Veredlung , nicht eine Liebe - in suspenso ? "
" es Gretel bleibt halte immer an der Oberfläche kleben . "
" Sie haben mich also gewogen und zu leicht befunden ? "
Er schwieg .
Das reizte mich , und ich pries die Oberflächlichkeit als eine schöne Gottesgabe , wobei wenigstens für uns belanglose Frauen allerhand emotionelle Lustbarkeiten abfielen .
Ich hätte auch einmal ernst und tief sein wollen , als ich 17 Lenze zählte .
Da wäre ich in einen jungen Dozenten verliebt gewesen , und trotz meiner Talentlosigkeit für das Hausfrauenfach hätte ich kochen , schneidern , sparen , Lampen putzen und ähnliches lernen wollen , gerade wie es meine Freundin Kamilla tat , die deshalb von aller Welt gelobt wurde , ihr sittlicher Ernst , und daß sie so gar nicht oberflächlich sei .
Daß ich diesen sittlichen Ernst bald wieder aufgegeben , hätte an dem jungen Dozenten gelegen , der - abschnappte .
Kunz Maß mich mit einem seiner unausstehlichen Mentorblicke .
" Ich muß mich erheitern , " sagte ich verdrießlich , " wenigstens eine Tasse Tee trinken . "
Eva Broddins Villa lag fast auf unserem Weg .
Sie hatte Kunz verschiedentlich aufgefordert , sie zu besuchen .
Ich schlug vor , bei ihr vorzusprechen .
Er zögerte .
" Aber Hansel ! "
Natürlich kam er mit .
Eine Art verzaubertes Bauernhäuschen , diese Villa , romantisch , von blühender Anmut .
Kleine viereckige Fensterchen mit einem zierlichen Drahtgitter , die in der Mitte ein goldenes Herz haben , und zwischen Glas und Gitterwerk eine Fülle von Blumen , Nelken , Rosen , Oleander , die ihre Blüten und Düfte durch die Gitter hinausdrängen .
Über dem Eingang eine Nische mit einem Heiligen , darüber die Inschrift : - nun habe ich sie doch vergessen - zur Seite ein Becken mit rinnendem Wasser .
Und die Zimmerchen , auch wie verzaubert , wie für ein Schneewittchen oder Dornröschen , jedenfalls für ein " chen " .
Alles en miniature . Ein unbeschreiblicher Wirrwarr von reizenden Dingen , orientalischen , japanischen , exotischen .
Timäa nennt die Wohnung einen bizarren Käfig für einen Kolibri .
Eva hat ja etwas vom Kolibri , aber mehr noch von einer Schlange ; nicht eine üppige Sündenschlange , wie auf dem Stuckschen Bilde , nein , eine feingliedrige , zartschillernde , mit schmalem roten Giftzünglein , das Zünglein ein flammender Pfeil .
Wir trafen Eva mit der Tante und einigen Gästen in dem parkartigen Garten .
Unter den Gästen Timäa , die sich von einem jungen Mann in himmelblauer Krawatte und süßduftenden Jachtenstiefeln den Hof machen ließ .
Was für ein Gegensatz die Szenerie hier zu dem Schuhplattler .
Alles im herrschaftlichsten Stil .
Tee , stark , mit Samowar , silberne Kanne , graziöse Tassen ; unter einem baldachinartigen Zelt eine gepolsterte Ruhebank , und lauter schöne , stattliche Menschen .
Einige junge Mädchen in altbayrischem Nationalkostüm , etwas zu seidig , zu watteauhaft-schäferlich .
Eine junge Dame ritt auf einem Pony durch den Park .
Eva empfing uns mit bezaubernder Liebenswürdigkeit , konnte es aber nicht unterlassen , alsbald auf Timäa herumzuhacken .
Es gibt Menschen von furchtbarer Subjektivität .
Weil ein Jude sie gekränkt , werden sie Antisemiten und möchten die ganze Rasse zermalmen .
Weil ein Weib ihnen übel mitgespielt , verachten und beschimpfen sie das ganze Geschlecht .
So haßt Eva Broddin alle Berlinerinnen , weil Timäa ihr vor Jahren den Gregori abspenstig gemacht hat .
Sie war nahe daran gewesen , die schüchterne Werbung des Malers zu akzeptieren , spielte aber in ihrer Art noch ein wenig Katze und Maus mit ihm , als Timäa einen Moment , wo der Tiefverletzte sich verschmäht glaubte , benutzte , ihm Trost zu spenden , woraus sich dann naturgemäß alles Weitere entwickelte .
Mich kann sie auch verstohlenerweise nicht leiden .
Ich habe immer das Gefühl , als hielte sie ein Netz bereit , um es mir bei der ersten besten Gelegenheit - von hinten - über den Kopf zu werfen .
Man sieht sie fast nie ohne Fächer .
Auf dem , den sie jetzt in der Hand hielt , waren blonde Engelsköpfchen gemalt , über denen sich ihr dunkles , schmachtend pikantes Köpfchen bezaubernd ausnahm .
Die Grazie ihrer Gebärden mildert ihre gelegentlichen Bosheiten .
Als kichernder Puck streut sie sie aus .
Als ich nach Traute fragte , antwortete sie ungewöhnlich laut , so daß Timäa es hören mußte :
" Traute , ja , die wollte auch kommen , ich vermute aber , Hely Helmströme okkupiert sie . "
Timäa ließ sofort von dem mit der himmelblauen Krawatte ab , und trat zu uns heran .
" Hely Helmströme , sagen Sie ?
Ich denke , der ist gestern Abend schon abgereist ? "
" Nein , er reist erst morgen Abend . "
" Da reisen wir ja zusammen ! " rief sie mit einer plötzlichen Eingebung .
Sie stürzte ein paar Tassen Tee hinunter , wollte schnell noch von Traute Abschied nehmen und - fort war sie .
Eva sah ihr mit ihrem kichernden Pucklachen nach : " Vergebene Liebesmühe , sie ist nicht sein Genre . "
" Aber Traute ? "
Stadt der Antwort seufzte sie :
" Arme Traute , sie ist Morphinistin , sie schwindet dahin . "
Borns erschienen auf der Bildfläche .
Sie kamen aus Nizza .
Die seligste Isolde schwebte heran , in einem sehr allerliebsten , sehr feschen Kleide , das für eine Sechzehnjährige gerade recht gewesen wäre : rot- und blaugestreift , mit Matrosenkrägelchen und Schleife , und ganz kurz , dazu ein riesiger Hut auf dem lichten Gelock , alles sehr reizend und sehr praktisch , nur für ihr Alter und ihre Erscheinung eben ein wenig - zu reizend .
Ich weiß , daß sie sich hier mordsmäßig langweilt .
Aber nein , i Gott bewahre , sie amüsiert sich himmlisch .
So viel Besuche empfängt sie , und alle muß sie erwidern .
In Nizza freilich , da wäre_es schrecklich gewesen .
Nein , diese Franzosen !
Sechs Wochen lang habe sie immer das Gefühl gehabt , als tanze sie auf einem Vulkan .
Den Hut habe sie sich , so unkleidsam das sei , immer tief in die Stirn gedrückt , um sich durch ihre Blondheit nicht als Deutsche zu verraten .
Und wenn die Franzosen erst dahinter gekommen wären , daß ihr Ewald jetzt ganz im Deutschtum , um nicht zu sagen , Teutonentum , aufginge !
Und Ewald nickte zu den Worten seiner Gattin .
Und er deklamierte von deutschem Sinn und deutscher Größe , und sang von Manfred und Konradin und Albrecht dem Bären und Otto von Wittelsbach .
Nur sei er noch nicht einig mit sich , ob er die Hohenzollern , die Hohenstaufen oder die Wittelsbacher auf den Schild erheben solle .
Isoldchen war für die Wittelsbacher , da sie nun doch einmal in Bayern lebten .
Eva verdächtigte Frau Isolde , auf den persönlichen Adel zu fahnden , den für bajuvarische Taten zu spenden , üblich sei .
Der Baron mit den süßduftenden Jachtenstiefeln fand , daß der persönliche Adel nichts wert sei .
Nur der erbliche sei wirklicher Adel .
" Da wir ja aber keine Kinder haben - - "
" Aber Ewald ! " unterbrach ihn Isoldchen .
Sie war sehr rot geworden und machte eine abwehrende schämige Gebärde .
Mit ihren 45 Jahren wartet sie noch immer auf das Wunderbare : das Kind .
Sie hat die Schwäche , wenn sie eine Wohnung mietet , immer zuerst nach der Kinderstube zu fragen , und nie eine Wohnung zu nehmen , die nicht Raum für einen oder mehrere Stammhalter böte .
Es sollte wieder so recht kindlich naiv sein , als sie plötzlich , ganz aus dem Stegreif , sich mit der Frage an Kunz wandte :
" Ist es wahr , daß Sie Sozialist sind ? "
" Was sollte ich sonst sein ? " antwortete er ernst .
Mit einem niedlichen kleinen Schauder zog Isoldchen das Köpfchen zwischen die Schultern und sagte neckisch :
" Wir fürchten uns nicht vor dem schwarzen Mann , besonders wenn er so hübsch germanisch blond ist .
Na , und bis an den Rand der Petroleumkanne werden Sie hoffentlich unsere teure Frau Sibilla nicht locken . "
Und dabei paffte sie ihr Zigarettchen , trank den starken Tee mit dicker Sahne , und wiegte sich in einem Schaukelstuhl .
Kunzes Replik fiel etwas zu rhetorisch aus .
Er konnte sich dabei einiger Seitenhiebe auf die Besitzenden , so da im Schoße des Glücks säßen , nicht erwehren .
Eva bestritt lebhaft den Causalnexus zwischen Besitz und dem Schoß des Glücks .
Sie erinnerte an die Seelennöte all jener Schriftsteller und Künstler , die ihre Federn und Pinsel in Morgen- und Abendröten , in Blut oder in Äther tauchen möchten , und weil ihnen das nicht gelänge , litten sie Qualen , und je feiner ihre Nerven , je intensiver ihre Intelligenz , je größer ihre Seelenpein .
Kunz , der , möglicherweise aus Gleichgültigkeit gegen Frauenraisonnements das Gespräch nicht fortsetzen wollte , murmelte etwas von den anwesenden schönen Frauen , die doch sicher alle mit dem Monopol des Glücks auf die Welt gekommen wären .
" Aber Kunz , " fuhr ich ihn an , " seit wann reden Sie denn Banalitäten !
Wir Frauen , das heißt die Begabten unter uns , kommen au contraire als Pechvögel auf die Welt , und unser Geschick ist einfach tragisch . "
" Tragisch ?
Wieso ? "
" Entweder wir wollen und wir können nicht , oder wir könnten , aber wir dürfen nicht .
Folgen wir dem Zug unseres Herzens oder den Instinkten unserer Natur - merkwürdigerweise tragen die meist einen ketzerischen Charakter - so sperrt uns die Gesellschaft als Schwefelbande aus , und folgen wir ihnen aus angelernter Bravheit nicht , so äschert heimliches Feuer unsere Seelen ein . "
Und ich zitierte meinen Brahmanenspruch :
" Und so soll ich die Brahmane , Mit dem Haupt im Himmel weilend , Fühlen , Paria dieser Erde , Niederziehende Gewalt . "
Wenn ich vor Ihnen sterben sollte , Kunz , was ich vorläufig nicht beabsichtige , so lassen Sie diese Inschrift auf meinen Grabstein setzen . "
" Aber in Diamantschrift , " sagte der böse Kunz mit einem Blick auf meine Ringe , die gerade so schön in der Sonne funkelten .
Eva tippte ihn mit dem Fächer an .
" Was wollen Sie denn eigentlich von uns ?
Sollen wir etwa in sozialistische Vereine gehen und agitatorische Reden halten , mit der Polizei auf den Fersen , und am anderen Tag unsere Namen in der Zeitung ? "
" Und wohl gar ins Gefängnis kommen , " stimmte ich Eva bei .
" Das hielte ich nicht 24 Stunden aus .
Gott sei Dank , daß ich eine Frau bin .
Als couragierter Mann käme ich aus dem Gefängnis gar nicht heraus , ja ich würde am Ende sogar noch hingerichtet und könnte dann nie mehr den herrlichen Sonnenuntergang genießen , der uns jetzt auf dem Kalvarienberg winkt .
Wer kommt mit ? "
Niemand kam mit , außer Kunz .
Auf dem Weg nach dem Kalvarienberg kamen wir an dem Gärtchen vorbei , das zu der von Traute bewohnten Villa gehört .
Ein merkwürdiges Gärtchen : kein Baum , kein Strauch , nur Blumen , nichts als Blumen , eine Überfülle von Blumen , ganze Gebüsche von Blumen .
Inmitten eines riesigen Rosengebüsches ein Kruzifix .
Und zwischen diesen Blumen wandelte Traute , so bleich , so schattenhaft , mit Hely .
In dem schwarzen Florkleid , an dem die Ärmel wie Schmetterlingsflügel saßen , glich sie dem Engel des Todes .
Ja , sie schwindet dahin .
Kaum schwanzig Schritt von dem Gärtchen , hinter einem großen Baum versteckt , bemerkte ich Timäa , die brennenden Augen auf das Paar gerichtet .
Unser Weg führte uns eigentlich an dem Baum vorbei .
Ich wählte einen Umweg , um ihr eine Beschämung zu ersparen .
1. August .
Ich und Kunz , wir sitzen abends oft zusammen auf der Bank vor dem Tempelchen , mit dem der Kalvarienberg endet .
In dem Tempelchen ist Christus am Kreuze mit den beiden Schächern zur Seite und den leidtragenden Frauen dargestellt .
Unterhalb des Gekreuzigten , in einem kellerartigen , vergitterten Raum , die Hölle .
Auf rot angemalten Kohlen sechs nackte Gestalten .
Stadt des Feigenblatts , den Anstand wahrende , lodernde Flammen .
Mich rühren immer solche naiven Schildereien mit ihrer ramponierten Plastik , wo hier ein Finger , da ein Stück Strahlenglorie oder Himmelsbläue abgebröckelt , ein paar goldene Sterne heruntergefallen sind , und welke Kränze und Blumen so wehmütig mit dem Verfall harmonieren .
Selbst in der blutenden Brustwunde des Heilands steckte ein welkes Sträußchen .
" Alle Kunst des Bildners " , sagte ich zu Kunz , " könnte vielleicht nicht die Wirkung dieser tölpelhaften Schildereien in all ihrer Hilflosigkeit und Häßlichkeit hervorbringen .
Ist es nicht damit , wie mit dem Gebet .
Ob es gestammelt wird , oder schwungvoll gesprochen , wenn es nur aus dem Herzen kommt . "
Kunz war nicht meiner Meinung .
Für das Volk sei , wie für die Kinder , gerade das Beste gut genug .
Darum keine Proletarier-Religion mit Blutdunst und frömmelndem Gruseln .
Die Leute , die anbetend vor diesen plump angetünchten Holz- oder Pappfiguren in die Knie sänken , würden kalt und verständnislos vor den Christusdarstellungen der größten Meister stehen .
" Sehen Sie nur diese scheußlichen Fratzen der Schächer und die Köpfe der Heiligen , als entstammten sie der Puppenfabrikation einer archaistischen Zeit .
Und das ekelhafte Blutgerinnsel , die fingerdicken roten Tränen .
Wahrhaftig , eine Hintertreppen-Religion , die mit brutalen Hammerschlägen die Nerven notzüchtigt . "
Widerwärtig oft seine Ausdrucksweise .
" Und nun , " fuhr er fort , " blicken Sie in die Berge , über die blumigen Hügel , in all die Pracht der Natur - wo ist Gott ? "
" Ja wo ?
Wenn nun selbst Ihr Gott nirgends wäre , Kunz ? "
" Bei Ihren Münchner Freunden sicher nicht . "
" Und es war doch da alles so schön und anmutig , der Garten , die weißen Kleider , das reizende Mädchen auf dem Pony .
Sage mir , Hansel , wird in Eurem sozialen Staat jedermann reiten und fahren können , oder keiner ?
Wird jeder eine so entzückende Villa haben , wie Eva Broddin , mit rieselnden Brünnlein und Marschal Niel- und Dijonrosen in solcher Fülle ?
Und weil es nicht alle haben können , soll es keiner haben ?
Sollen sie vom Erdboden verschwinden , die poetischen Schlösser , die Parks mit Götterstatuen , mit zierlichen Kähnen an blinkenden Seen , poetischen Fontänen u. s.w. , und jeder hat nur ein winzig Häuslein und ein Gärtchen mit blauen Kohlköpfchen , Radieschen , Spinat und einem Apfelbäumchen ? "
Ich blinzelte ihn , wie ich meinte , schmelmisch an und erwartete ein Eingehen auf meine scherzhafte , wenigstens halbscherzhafte Rede .
Ach , er versteht keinen halben und keinen ganzen Scherz .
Immer nur unverbrüchlicher Ernst , zuweilen ein blitzeschleudernder Zeus .
Er wollte wieder etwas Zeushaftes sagen , ich ließ ihn nicht zu Worte kommen .
" Ich weiß , was Du sagen willst : kindisch , geradezu kindisch .
Nicht wahr , es wird in Zukunft noch viel poetischere Paläste geben , mit viel herrlicheren Statuen , viel grünerem Rasen und noch viel schöneren Rosensorten , Rosen à la Bebel , Liebknecht , Auer oder Singer , nur wird das allen gehören .
Siehst Du , Kunz , ich würde aber an der Versämtlichung dieser Besitztümer keine Freude haben , ich brauche Einsamkeit , tiefe , purpurne Einsamkeit , um meines Ich_es habhaft und froh zu werden . "
Er wollte wieder sprechen .
Ich legte meine Finger auf seinen Mund :
" Nicht unterbrechen , Kunz "
Nicht nur , daß er unnötigerweise meine Finger küßte , er sagte auch :
" Keine Gefahr , so lange ich Ihre süße Stimme höre . "
Siehst Du , Mutti , so antworten selbst diejenigen , die die Gleichheit der Geschlechter wollen .
" Du willst einwenden , " setzte ich trotzdem meine Rede fort , " eine ganz neue Erziehung wird auch ganz neue Menschen aus uns machen , mit einem neuen Geschmack , einer neuen Einsamkeit , einer neuen Schönheit , und wir werden vielleicht die Kunst lernen , unter Tausenden einsam zu sein , sei es durch Drillung unserer Nerven , sei es durch Verschlußerfindungen für unsere Ohren und durch eine Art Scheuklappen für unsere Augen , so daß wir nicht zu hören und zu sehen brauchen , was wir nicht hören und nicht sehen wollen , oder - ach es gibt so viele Oder es - - "
Den Augenblick , wo ich Atem schöpfte , benutzte Kunz nun doch , um mich aus dem Sattel meiner schönen Rede zu heben .
" Und das eine Oder ist immer törichter als das andere .
Und wenn wirklich die Gärten - das heißt die Zäune - verschwänden , ewig bliebe die Urschönheit der Natur , die über alle Kunst ist , und die , romantisch oder erhaben , idyllisch oder ergreifend , jedem Schönheitsdrang Rechnung trägt . "
" Sehr richtig , " sagte ich , nur liegen die romantischen Höhen und die idyllischen Täler , die Prairien und das Meer nicht immer in unmittelbarer Nähe der großen und kleinen Städte , und um z.B. von München auf den Rigi zu kommen - - "
- " Dürfte in Zukunft keine Schwierigkeit haben , ganz abgesehen davon , daß es in Zukunft vielleicht gar keine großen und kleinen Städte mehr geben wird .
Wie lange wird es dauern , und ein Jeder hat vor seiner Tür ein Luftschiffchen stehen , oder im Schranke sein Flügelpaar hängen , und - husch , im Fluge durch die Welt , mit einem paar Büchschen irgend eines Speiseextrakts in der Tasche , der für Monate ausreicht . "
" Ich zweifle ja gar nicht daran , " sagte ich etwas verdrießlich .
" Aber alles immer in fünfzig oder in hundert oder in tausend Jahren .
Ja , wenn wir die Zeit an der Ewigkeit , den Raum an der Unendlichkeit messen , dann können wir rosig in die Zukunft sehen .
Mir gehören aber kaum noch ein paar Jahrzehnte .
Warum soll ich denn gerade Märtyrerin für eine Gesellschaft der Zukunft sein ?
Vorläufig werden wir noch alle in den zähen Massenteig mit hinein verarbeitet und unsere etwaigen Flügel kleben darin fest wie die der Fliegen am Leimstock .
Und wie viele zappeln sich zu Tode .
Soll ich es auch ?
Garantiere mir Unsterblichkeit von Religion oder Spiritismus wegen , und ich schwöre bedingungslos zu Deiner Fahne .
Da wir aber in fünfzig Jahren alle tot sind , sogar mausetot , so will ich meine paar Jahre leben , heute , morgen , übermorgen will ich Rosen pflücken .
Ich kann nicht warten - - "
Hier wurde ich durch den Anblick eines Krüppels unterbrochen , der sich mühsam auf die Anhöhe hinaufschleppte .
Er bettelte nicht , ich gab ihm aber doch Geld .
Er sank in die Knie , betete vor dem Kreuz und humpelte weiter .
" Was empfinden Sie , Sibilla , wenn Sie Almosen geben ? "
" Dasselbe wohl , was der Empfänger fühlt : Befriedigung , aber ich gebe zu , sie hat einen bitteren Nachgeschmack , daß es nur ein Sekundenbild der Freude ist , nachher ist alles wieder dasselbe . "
" So ist_es .
Und darum sind wir da , die Messiasidee , daß wir alle Brüder sind , zu realisieren . "
" Und Schwestern . "
" Und Schwestern .
Unser Werk hat auch ein künstlerisches Moment , Sibilla , die Freude des Künstlers , aus rohem Stoff ein herrliches Bildwerk emporwachsen zu lassen , den idealen Menschen in seiner Schönheit und Güte . "
Liebe Mutter , er sprach nun so furchtbar ernst mit so glühender Beredsamkeit von den Zielen des Sozialismus , und zuletzt war ein fast feierlicher Akzent in seiner Stimme :
"- Bekennen Sie sich offen zu uns , Sibilla , da Sie ja in Ihrem Denken längst zu uns gehören . "
" Weiß ich denn das letztere so genau , lieber Freund ?
Ich bin eine Banausin an Unwissenheit und jetzt so müde - - "
" Nein , das Gretel ist nicht müde .
Es ist nur faul und will nicht Rede und Antwort stehen . "
Er hatte sich zu mir niedergebeugt , ich fühlte seine Augen wie Sterne über mir .
Ich lehnte meinen Kopf an seinen Arm .
Mir war so wohl , so sicher , so warm .
So saßen war eine Weile versunken in der Schönheit des Sonnenunterganges .
Dann fing er wieder mit etwas schwankender Stimme sehr sanft an :
" Sibilla , könnten Sie nicht den Reichtum von sich werfen ? "
" Ich habe ja daran gedacht , Hansel , er ist auch oft so lästig , Du glaubst es gar nicht .
Ich weiß ja , es ist Unrecht , daß ich zwölf Kinder ( es können auch mehr sein ) besitze , während es Menschen gibt , die ihre Blöße nicht decken können .
Ich weiß , es ist Unrecht , wenn ich ein einziges überflüssiges Zimmer besitze , während es Menschen gibt , die im Asyl für Obdachlose oder im Freien nächtigen .
Ich kann doch aber dem ersten besten Obdachlosen nicht meine Chaiselongue mit den silbernen Lilien auf himmelblauem Samt als Schlafstelle anbieten !
So Knall und Fall alles Überflüssige über Bord werfen , nein - wirklich , es geht nicht .
Es ist soviel unästhetisches und unhygienisches dabei , wenn man kein Geld hat .
Was man da alles essen muß !
Ich würde ja krank werden von Linsen und Speck oder Schwarzbrot mit Blutwurst .
Ich kann nicht einmal Gaslicht oder eine Petroleumlampe vertragen .
Gleich Kopfschmerzen . "
" Man braucht doch nicht gleich Speck und Blutwurst zu essen , wenn man nicht reich ist .
Sibilla , wirft Ihnen wirklich Ihr Luxus so exquisite Genüsse ab ? "
" Weißt , Hansel , es sind halte tausend kleine Fäden , die mich in diesem Leben des Luxus festhalten , die täglichen Gewohnheiten :
mein Bad morgens neben dem Schlafzimmer samt seiner Marmoreinfassung , das Riechfläschchen im Salon ( kostet freilich fünfzig Mark ) , die orientalischen Teppiche und Felle unter meinen Füßen .
Ich muß reiten , soll ich nicht geistig und körperlich erschlaffen .
Ich brauche elektrisches Licht , schwere , sammetne Vorhänge , Gobelins , Paravents , Blumen , gemalte Glasfenster , Bilder und Statuetten , mit einem Wort : Poesie , Romantik , Farben , Träume , das alles brauche ich wie das liebe Brot .
Und soll ich etwa Bücher aus der Leihbibliothek lesen ?
Sagt nicht Schiller schon :
» Gegen die Gewohnheit kämpfen Götter selbst vergebens . « "
" Er sagt nur , daß wir die Gewohnheit unsere Amme nennen .
Der Amme entwächst man . "
" Höre , ich bin - unter unseren vier Augen - vierunddreißig Jahre alt - für die Welt im allgemeinen neunundzwanzig .
( Du allein , Mutti , weißt , daß ich - Gott stehe mir bei - schon sechsunddreißig Lenze zähle . )
Ich bin von schwächlicher Konstitution , bin in der eleganten Welt aufgewachsen , man hat mich verwöhnt wie eine Prinzessin - und nun gar seit meiner Verheiratung - "
" Entwöhne Dich , Gretel . "
" Ein paar Fragen , Hansel :
Wie alt bist Du ? "
" Zweiunddreißig Jahr . "
" Wo und wie bist Du aufgewachsen ? "
" Du weißt es ja .
In einer Dorfschenke . "
" Und wovon hast Du Dich genährt ? "
" Hauptsächlich von Kartoffeln , Hülsenfrüchten , Milch , Brot , Obst . "
" Und Sonntags Speckeierkuchen . "
" Ja wohl . "
" Und das hat Dir alles gut geschmeckt ? "
" Ausgezeichnet . "
" Na - also .
Das Tabakrauchen sich nicht angewöhnen ist sehr leicht , es sich abgewöhnen , sehr schwer .
Jedes einzelne der kleinen Fädchen , von denen ich sprach , mag leicht zu zerreißen sein .
Aber ein Tau besteht auch nur aus einzelnen Fäden und ist so stark , fast unzerreißbar . "
" Und können Sie es nicht zerreißen , so - - "
" Nun kommt der Alexander mit dem gordischen Knoten .
Lassen wir den vorläufig .
Sage , Hansel , kann jemand hingebender , begeisterter für die sozialistischen Ideen kämpfen , als es Lassalle getan hat ?
Und er lebte wie ein Seigneur .
Hätte er trotz entgegengesetzter Erziehung und Gewöhnung wie ein Proletarier gelebt , die Arbeit der Anpassung würde vielleicht seine besten Kräfte absorbiert haben .
( Vielleicht auch nicht , dachte ich bei mir . )
Bei uns Menschen einer Übergangsepoche muß man ein Auge zudrücken , wenn unser Denken mit unserer Lebensweise nicht immer übereinstimmt .
Läuft nicht bei diesem gewaltsamen Niederzwingen unserer Gewohnheiten ein bißchen Renommage , Prinzipienreiterei , um nicht zu sagen unfruchtbares Märtyrertum mitunter ? -
Siehst Du ein , Hansel , daß ich keine subjektive Schuld habe ?
Gewohnheit und Erziehung lassen sich doch nicht rückgängig machen .
Sie konstruieren uns Seele und Körper , und schaffen uns eine zweite Natur , die stärker ist als die erste , angeborene . "
" Es gibt auch eine zweite Erziehung , Sibilla , - die Selbsterziehung - - "
" Ach ja , es gibt , - es gibt - es gibt auch Engel , sogar Erzengel , es gibt auch Heilige , sogar Säulenheilige , es gibt Catos , Sokratesse , - ich aber bin ein simpler Mensch " - -
Ich stolperte über eine Baumwurzel in der tiefen Dämmerung - wir waren schon auf dem Rückwege .
Er umfing mich mit seinen Armen .
Seine Augen flammten durch die Dunkelheit .
Ein Zittern ging durch seinen Körper .
Er preßte mich einen Augenblick an sich .
- " Warum liebe ich Sie so über alles Maß hinaus , Sibilla ? "
Warum sagte er mir , was ich wußte .
Er versteht mich nicht .
Er ist zu robust in allem , zu sehr Natur , zu wenig künstlerisch nuanciert .
Es war mir aufgefallen , daß er mich in besonders zärtlichen Momenten immer Sibilla , niemals Gretel nannte .
Ich wollte dem Gespräch wieder eine nüchterne Wendung geben .
" Hansel , ist es eigentlich vom sozialistischen Standpunkt aus in der Ordnung , daß Du Dich in die sehr elegante , sehr weltliche und ziemlich degenerierte Sibilla verliebt hast , anstatt ins Gretel , in die unhübsche , kupferrote , mit grobem Zeug angetane Lehrerin ? "
" Nicht vielleicht um der Degenerierten zu einer Wiedergeburt zu verhelfen ?
Ich glaube an eine Wiedergeburt , Sibilla . "
" Ich auch , teilweise wenigstens , wenn nur der Körper nicht dazu gehörte .
Ja , könnte ich aus meinem allzu festen Fleisch ( das war etwas renommiert , Mutter ) den Astralleib extrahieren ; ich bin aber keine Sensitive , überhaupt bin ich jetzt todmüde , ohne jeden Drang zur Wiedergeburt .
Eher im Gegenteil zum Schlaf , dem Bruder des Todes .
Vielleicht fühle ich mich morgen früh , nach einer guten Nacht , wie neugeboren . "
Er schwieg zu diesem faden Scherz und sah in den Sternenhimmel .
Als wir uns trennten , sagte er :
" Ich werde Sie morgen früh um sechs Uhr auf der Anhöhe hinter Ihrem Hause erwarten .
Es wird eine herrlicher Morgen werden .
Wir steigen zum Lockstein empor . "
" Und frühstücken dort oben in der Wirtschaft . "
Morgen , meine Mutti , schreibe ich Dir , ob der Tee dort oben trinkbar war .
2. August . Respekt vor mir , Mutti , wahr und wahrhaftig bin ich gestern um fünf Uhr aufgestanden .
Um halb sechs war ich fertig , zehn Minuten später auf der Anhöhe , dem Ort unseres Rendezvous .
Ich wollte ihn überraschen , vor ihm da sein .
Ein starker Nebel ruhte auf der Landschaft .
Als ich auf die Höhe kam , war er dicht und undurchdringlich geworden .
Ich konnte gerade nur den Weg vor mir und ein kleines Stückchen Rasen , wie mit feinem Reif bedeckt , sehen .
Ich hatte das Gefühl halber Erblindung , als wäre der Nebel in meinen Augen .
Die Bäume und die grünen Hügel , die Felsmassen mit dem Schnee in ihrem Schoß , alles , alles fort , in weichem Flaum gebettet , in tiefem Morgentraum ruhend .
Die schlafbefangene Landschaft blinzelte ab und zu , aber gleich fielen ihr wieder die Augen zu .
Der Nebel fängt an zu leuchten , immer leuchtender wird er , die Konturen einer weißen Riesensonne werden sichtbar ; aber gleich verdichten sich wieder die Schleier und alles ist eine einzige , weiche , weiße Monotonie .
Wo Bäume stehen , erscheinen die Nebel um eine Nuance dunkler .
Die Sonne ein blasser Mond .
Er verschwindet .
Er kommt wieder .
Und nun beginnt der Kampf des Nebels mit der Sonne .
Hingerissen von dem Schauspiel vor mir , bemerkte ich Kunz erst , als er dicht neben mir stand .
" Schön , nicht ? "
Er nickte .
Die vorher lautlosen Sträucher und Bäume fingen an , sich zu rühren , ganz , ganz leise , dann lebhafter .
Immer blendender wurde der Nebel , noch blendender die weißen Strahlen der blassen Sonne , ich konnte nicht mehr hineinsehen in das schwimmende Lichtmeer .
Halb öffnet die Landschaft die Augen .
Da blitzt es auf .
Ein Baum , den ein Strahl getroffen , beginnt zu funkeln , sich herauszuringen aus dem weißen Mantel .
Keine Mittagssonne am klarsten Himmel kommt der blendenden Leuchtkraft dieses Dunstes gleich , ein Dunst , wie schwimmender , lebendiger Schnee .
Und nun kommt Leben in den Dunst , er wallt , er hebt sich , er fliegt , ein Genius scheint die Schleier von den Bäumen zu ziehen .
Hui , wie die Nebel fliegen !
Anfangs verschwimmt alles noch in mattem Glanz weich ineinander .
Die Berge noch unsichtbar .
Ein Stückchen Himmel zeigt sich in zarter Bläue .
Die vorderen Baumreihen treten klarer und klarer hervor , zart verhängt sind noch die fernerstehenden .
Dieses zarte Licht , das hier eine Baumgruppe trifft und eine andere noch im Dämmer läßt , wirkt wie Mondschein bei Tage .
Wie sie dampfen , aufdampfen , die Nebel - ich atme sie wie Weihrauch - immer schneller , schneller , der Sonnengott ist ihnen auf den Fersen mit seinen glühenden Rädern .
Es ist eine Flucht , eine wilde , atemlose .
Die Sonne siegt !
Die Sonne !
Ich und Kunz , wir sahen uns hell in die Augen , zwei Menschen , die in einem gemeinsamen , reinen Genuß fröhlich geworden waren .
Das Schauspiel war zu Ende .
Wir schritten kräftig bergan .
Nach einer Weile begann er :
" Auch in Ihnen , Sibilla , ist die zitternde Unruhe des Sichherausarbeitenwollens aus Nebelschleiern , und immer wieder versinken Sie in Dunst und Nebel . "
" Und Sie möchten der Morgenwind sein , der die Nebel verjagt , wie Sie gestern Alexander waren oder sein wollten ? "
" Am liebsten wäre ich gleich die Sonne selber . "
" Ach Kunz , " rief ich halb ärgerlich , halb lachend , " müssen Sie denn aus allem eine Moral ziehen ? noch dazu , wenn es so mühsam bergauf geht , und ich einen solchen Theedurst habe . "
Ein weißes Häuschen mit grünen Jalousien grüßte uns gastlich auf der Höhe .
Ebereschenbäume hoben sich hier und da heiter von dem Mauerwerk ab .
Auf der Altane Blumentöpfe .
Zwischen Georginen und Sonnenblumen ließen wir uns in dem kleinen Gärtchen nieder , dicht neben einem Christus von Holz auf blauem Grunde ; um das Kreuz rankte sich wilder Wein , der anfing rot zu werden .
Das melodische Schellengeläut der Kühe heimelte uns an .
So gesund , in goldener Frische , in kühler Anmut lag die Landschaft vor uns , die weiten , weiten , sonnengetränkten Wiesen .
So recht alles , um aus voller Brust zu atmen , Nerven und Lungen zu erquicken .
So urmenschlich froh und gut und so ganz unpolitisch war uns zu Sinn .
Wir dachten beide nicht daran , das Gespräch vom vorigen Tage wieder aufzunehmen .
Tee gab es natürlich nicht , dagegen Schwarzbrot mit Butter und frische Milch .
Und denke Dir , Mutti , es schmeckte mir so gut , daß ich Angst hatte , Kunz winde an meinen Appetit für das Schwarzbrot Bemerkungen über den gestrigen Speck und die Linsen knüpfen , und Sprichwörter , wie etwa : " Appetit ist der beste Koch " u. s.w .
Dieser Kelch ging zwar glücklich an mir vorüber , die Wiedergeburt aber vom Tage vorher hatte er leider im Gedächtnis behalten .
Er wollte mir durchaus dazu verhelfen - auf einem Umwege , nämlich :
ich sollte mich um seinetwillen von meinem Scheingatten trennen .
" Und wir würden uns dann heiraten , Hansel ? "
Er zögerte einen Augenblick .
" Wäre das nötig ? " sagte er leise .
" Aha , freie Liebe ! "
Ich betonte die " Freie Liebe " etwas verächtlich .
Mein Ton hatte ihn verletzt .
" Sibilla ! Immer Kulturpapagei . "
Ich wurde zornig , warf - warum , weiß ich nicht - das Schwarzbrot weithin über die Wiese , und blickte hochmütig über ihn weg in die Schneeberge .
Er glitt von der Bank zu Boden , legte meine Hand auf seinen blonden Krauskopf und blickte mir in die Augen - taufrisch , sonnig , mit einem bittenden Lächeln .
Ich zauste ihn ein wenig .
" Sie Umstürzler wollen doch nicht etwa die Ehe mit Stumpf und Stiel ausrotten ? "
Die einzige wahre , echte Ehe , meinte er , wäre da , wo es gar keiner niet- und nagelfesten Formen bedürfe .
Die Ehegemeinschaft zweier , innerlich zusammengehöriger Menschen würde fast immer bis ans Ende dauern , ob mit , ob ohne die Spielerei des Ringewechselns , ob mit oder ohne den Standesbeamten in Frack und weißer Binde .
Wer die Symbolik der Kirchenglocken und des Priesterornats wolle , möge sie haben .
Selbst bei der jetzigen Form der Ehe würde es eine große sittliche Veredelung bedeuten , wenn diejenigen , die nicht in der Ehe bleiben wollen und können , den Weg zum Standesamt zum zweiten Mal gehen dürften , und dem Beamten sagen : Nimm den Ring zurück , wir gehören nicht zu einander .
Wir haben uns geschieden .
Damit wäre ziemlich dasselbe erreicht , was die " Freie Liebe " will : " Abschaffung der Zwangsehe . "
" Und die Kinder ? "
Darauf antwortete er einfach :
Der freie und sittlich veredelte Mensch würde auch seine Kinder besser lieben und besser als jetzt für ihr geistiges und leibliches Wohl sorgen .
Nicht die getrennte Ehe - die unglückliche Ehe schaffe unglückliche Kinder .
Wer bekümmere sich denn heutigen Tages um die unzähligen Proletarierkinder , die zu Grunde gingen ?
Ich bemerkte , daß die Scheidung bei unseren sozialen Zuständen doch nicht nur das Loslösen aus einer unglücklichen Ehe , sondern auch aus unserer gesellschaftlichen Stellung bedeute .
Der Mann gibt uns unseren Lebensunterhalt , er gibt uns die Lebensatmosphäre , in die wir uns allmählich eingewöhnen und in vielen Fällen Wurzel schlagen , so daß - Ich schwieg .
Er sah mich so bitter ernst an .
" Haben Sie Wurzel geschlagen , Sibilla ? "
" Weiß ich_es ! "
" Denken Sie darüber nach . "
Wir hatten uns auf den Heimweg gemacht .
Ich klagte über die Hitze .
Er nahm meinen Arm und führte mich langsam und sorglich .
Nun war er wieder ganz Liebender und gar nicht mehr Sozialist .
Aks wir uns vor der Tür meines Hauses trennten , sagte er - es klang wehmütig und traurig - :
" Gretel weiß alles .
Sibilla will nichts wissen . "
Weiß ich wirklich alles , Mutti ?
Ja .
Aber Wissen und Wissenanwenden ist zweierlei .
Das erstere , wenn man die Verstandesmittel dazu hat , ist leicht , das letztere , ach so schwer - für Willenskranke .
Über so viele Dinge sind so viele Menschen und Kreise einig , wie z.B. gerade über die Unsittlichkeit unserer Zwangsehe .
Aber sie mucksen nicht .
Warum für andere die Kastanien aus dem Feuer holen ? Uns genieren ja die üblichen Eheformen nicht sonderlich .
Wir kennen die Hintertüren , die ins Freie führen , die Notausgänge der Natur bei Feuersgefahr .
Ein bißchen Jesuitismus und - all riecht . Ein von seiner Partei hochgeschätzter Professor und Publizist sagt in einer seiner Schriften kurz und bündig :
" Was über die volle und unauflösliche Lebensgemeinschaft von Mann und Weib hinausstrebt , verfällt einfach dem sittlichen Schmutz , so die bekannte » Freie Liebe « der Sozialisten . "
Ich kehre kurz und bündig den Satz um und sage : jede Ehe , in der das Weib sich ohne Liebe und Willen zur Umarmung dem Manne hingeben muß , verfällt dem sittlichen Schmutz .
Das Wort Schmutz paßt nicht ganz , ich übernehme es nur von dem Herrn Professor .
Und dauern diese unsittlichen ehelichen Beziehungen das ganze Leben hindurch , um so abscheulicher .
Über das , was Frauen in dieser Situation empfinden , kann der Mann absolut nicht urteilen , er kann es nun und nimmer .
Wir verbieten es ihm , wir verlachen ihn .
Kein Mann umarmt ein Weib , wenn er es nicht wenigstens in der Stunde der Umarmung liebt .
Das Weib aber - ob ihre Vergewaltigung legitim ist oder nicht , sie bleibt vergewaltigt ; ob sie in das Opfer einwilligt oder nicht , es bleibt ein Opfer .
Weißt Du , Mutti , worüber ich oft erstaunt bin ?
Daß Morde im Ehebette nur aus Eifersucht begangen werden .
Selten erfährt ein Mann Wahres über die geschlechtlichen Empfindungen der Frau .
Nie spricht eine Schwester mit dem Bruder , nie eine Mutter mit dem Sohne über diese Empfindungen , fast nie die Gattin mit ihrem Gatten .
Nur die Geliebte spricht mit ihm darüber , und die lügt gewöhnlich .
Ich brauche über die Ehe- und Liebefrage nicht nachzudenken .
Meine Nerven geben der Vernunft die Schlüssel zur Lösung der Frage .
Ich habe die Gabe , durch Bretter zu sehen , unter Brettern sämtliche Anerzogenheiten und Denk-Angewohnheiten verstanden .
Die Wahrhaftigkeit meiner Natur ist unverbrüchlich .
Nur viel Staub ist darauf gefallen .
Ich weiß , ohne viel nachzudenken , daß auf dem Gebiete der geschlechtlichen Beziehungen fast uneingeschränkt die Phrase herrscht .
Bin ich ganz sicher , daß die Meinung der Bestgesinnten : daß die Liebe das Geschlechtsleben ethisiere , nicht auch Phrase ist ?
Liebe - ja - was ist das ?
Nicht in den meisten Fällen nur ein Begehren des Blutes , ein Drängen von Nervenkräften , die sich betätigen wollen ?
Und die Vereinigung von Mann und Weib am Ende nichts als ein natürlicher und rechtmäßiger Vorgang , der mit der Ethik nichts zu tun hat ?
Wird die Aufnahme von Speise und Trank durch den Hunger ethisiert ?
Geht nicht die allgemeine Meinung dahin , daß der Zweck der Geschlechtsliebe die Erhaltung der Art sei ?
Die Richtigkeit dieser Meinung angenommen , wäre dann nicht offenbar diejenige Vereinigung von Mann und Weib die zweckentsprechendste , die die beste und reinste Erhaltung der Art verbürgte ?
Und würde von diesem Gesichtspunkt aus unsere jetzige Ehe nicht durchaus unzweckmäßig sein ?
Und selbst die Liebe , käme sie nicht dabei ins Hintertreffen ?
Müßten nicht bei dieser Anschauung einzig und allein die geistigen und körperlichen Beschaffenheiten der Gatten maßgebend sein ?
denn von diesen Beschaffenheiten würde ja die Wesensart des Kindes , das erzeugt werden soll , abhängen .
Liebe Mutter , wäre es dann nicht am sittlich reinsten , das Kind zu empfangen , ob mit , ob ohne Liebe , nur um des Kindes Willen ? nur ein Gefäß sein wollen für einen köstlichen Inhalt ?
Wie , wenn zwei der besten und intelligentesten Menschen verschiedenen Geschlechts sich zu einer - verzeihe das Wort - Idealzüchtung vereinigten , zur Schöpfung eines neuen Menschen ?
" Ehe , so heiße ich den Willen zu Zwei , das Eine zu schaffen , das mehr ist , als die es schufen .
Ehrfurcht vor einander nenne ich Ehe als vor den Wollenden eines solchen Willens . " ( Nietzsche sagt es . )
Wäre das nicht höchste Selbstverleugnung von Seiten des Weibes ? schwärmerischer Altruismus ?
Bliebe ihre Keuschheit dabei nicht intakt ? ja , ich möchte sagen ihre Jungfräulichkeit ?
Geschah nicht etwas ähnliches in Sparta , oder hätte es bloß geschehen können ?
Meine Geschichtskenntnis ist nicht weit her .
Ob es Frauen gäbe , die solcher Selbstverleugnung fähig wären ?
Mütterlein fein , Mütterlein fein , nur Dir sage ich so meine geheimsten Gedanken , nur Dir allein .
Ob es meine wirklichen Gedanken sind ?
Alles , was ich denke , hat ja gewöhnlich einen lendemain , an dem ich es widerrufe .
Übermorgen reist Kunz nach München zurück .
Mit einer Fahrt über den Königssee wollen wir in den Wermutsbecher des Abschieds etwas Honig träufeln .
6. August . O Mutti , war das schön auf dem Königssee .
Beinahe wäre die Fahrt eine Schicksalsfahrt geworden , und wir wären auf einem Eiland gelandet , das - -
Eine Klippe war da , ich kam nicht vorüber .
Als wir vom Lande abstießen , stand die in leichten Dunst gehüllte Sonne schon ziemlich tief .
Der Ton des Sees war von feinem Blaugrau , süß und mild , und die Bewegung des Wassers so leicht , wie wenn eine Hand liebkosend über Atlas streicht .
Die Berge in ihren sanften , wellenartigen Bildungen stimmten zu dem wiegenden , singenden Glockenläuten , das aus einer Kapelle über den See hinklang .
In träumerischer Versunkenheit hoben sich Berg und See von dem kräftigen , klaren , dunklen Grün des Ufers ab .
In träumerischer Versunkenheit saßen auch wir im Kahn , Trennungswehmut im Herzen .
Lange schwiegen wir .
Seine Blicke ruhten intensiv auf mir .
" Sibilla ! "
" Was , Kunz ? "
" Haben Sie nachgedacht über das , wovon wir gestern sprachen ? "
" Es war nicht nötig , Kunz .
Mein kleiner Finger hat mir alles verraten . "
" Auch , daß Herr Benno Raphalo Sie absolut nichts angeht , dieser Herr , den Sie aus konventionellem Schlendrian geheiratet haben , und aus demselben Grunde und noch einigen Gründen mehr beibehalten . "
" Das stimmt . "
" Ein Mann , von dem Sie kein Kind haben - das Kind gehört zur Ehe , Sibilla .
Ein Kind muß sein . "
" Ein Kind !
Täte es nicht ein fremdes ? "
Die Erinnerung an jenes Proletarierkind mit dem seltsamen Ausdruck in den langbewimperten Augen tauchte in mir auf , und zugleich Gewissensbisse darüber , daß ich mich nicht mehr um die Kleine gekümmert .
Ich erzählte Kunz von dem Kinde .
Ob er mir raten würde , es zu adoptieren .
" Wenn Sie kein eigenes haben könnten - ja .
Im eigenen Kinde fänden Sie den Grund und Boden schon vorbereitet für die Auferziehung eines erlesenen Geschöpfes .
Ob Sie das genial-pädagogische Talent haben würden , auf einem , Ihrer Kultur wahrscheinlich widerstrebenden Boden edle Frucht zu ernten , bezweifle ich . "
Eine Pause .
" Sibilla ! "
" Was ? "
" Dein eigenes Kind , Sibilla . "
Schauderhaft seine Deutlichkeit .
Und nun hatte er mich zum ersten Mal Sibilla und Du genannt .
Bisher stand er nur mit Gretel auf Du und Du .
Er hielt in seiner bebenden Hand die meine .
In seinem Blick flammendes Begehren .
Ich wandte mich mit innerem Widerstreben ab .
Mutti , ich will nicht , daß man mich begehrt mit robustem Mannestrieb , ich will nicht Material sein für ein Feuer , das brennen würde , gleichviel von welchem Stoff es sich nährt .
Sein Verlangen beleidigte mich .
Das heißt , es beleidigte meine Nerven , meinen Geschmack .
Meine Vernunft ? nein .
Die findet das ganz in der Ordnung .
Sie schilt sogar die prüden Nerven .
Psyche und Sphinx sind Nahverwandte .
Er ließ meine Hand los und sah hochatmend ins Wasser .
Die Sonne sank tiefer .
Vor ihrer Glorie wich die Dunsthülle .
Eine berauschende Farbe breitete sich über das Wasser , zu zart , um sie mit Feuer , zu feurig , um sie mit Rosenkelchen zu vergleichen , ein lebendiges , stilles , mildes Glühen , wie ein Traum von Feuer , Rosen , Liebe .
In dieser holden Pracht fanden wir die Stimmung wieder .
Unsere Hände schlangen sich ineinander .
Wieder eine Verwandlung der Farbe .
Die rosig helle Glut floß in einem schillernden , schmelzend verklärten Regenbogen auseinander , eine einzige , schimmernde , selige Lieblichkeit .
Und allmählich löste sich auch der Regenbogen auf , und ein dunkel schwärzlicher Purpur breitete sich im Westen über die Wasserfläche , während im Osten der See in stahlblauer Klarheit , wie in feierlicher Unberührtheit dalag .
Und über uns die Pracht des grünbläulichen Himmels .
Da fühlte ich es im tiefsten Inneren , Mutti , Schönheit , Güte und Liebe sind eins .
Mein Kopf sank auf seine Schulter .
Er küßte mir die Augen .
Die Zusammengehörigkeit von Mann und Weib fühlte ich in reiner Inbrunst .
Wir sprachen nicht mehr .
Gott im Herzen , die Welt weit ab .
Unser ganzes Wesen Musik ; himmlische ?
Oder doch vielleicht eine Note Wagner darin ?
Als wir landeten , schwebte über der hinströmenden Zartheit des dunkel-rosigen Dämmers , der weiße Mond .
War das Sibillas Brautfahrt , Mutti ?
Bin ich sein ?
Verlasse ich den guten Benno ?
Vielleicht - vielleicht auch nicht .
20. August . Seit meinem letzten Briefe sind vierzehn Tage vergangen .
Noch habe ich mich ganz beisammen .
Ich bin froh und wohl .
Ich gehe allein in die Berge .
Klar und frisch sind seine Briefe .
Sie erhalten mich in braven , mutigen Entschlüssen .
Ich will auch gesund und stark werden .
Darum trinke ich viel Milch , lese Kneip und plansche viel mit kaltem Wasser , schwimmend und auch sonst .
Teils sind meine Münchener schon südwärts gezogen , teils ziehe ich mich von ihnen zurück .
In wenigen Wochen breche ich auch mein Zelt hier ab .
Vielleicht erhältst Du den nächsten Brief schon aus München .
Was wird nur werden , Mutti ?
Hätte ich nur nicht solche Abneigung , etwas zu tun , was irreparable ist , und wüßte ich nicht immer voraus , wie es hinterher kommen wird .
Ja , wenn ich so zu ihm hinübergleiten könnte , wie von selbst , ohne Staub aufzuwirbeln , ohne den Saum meines Kleides zu beschmutzen .
Nein , lieber die geltenden kleinen Unsittlichkeiten mitmachen , als an großer Originalsittlichkeit zu Grunde gehen .
Geteilte , mit der ganzen Gesellschaft geteilte Unsittlichkeit , ist nicht halbe , nicht Viertels Unsittlichkeit ; sie ist gar keine Unsittlichkeit , viel eher eine Tugend , wenigstens eine lokale , eine Zeittugend , wie z.B. das Verbleiben in der Zwangsehe .
Du weißt gar nicht , Mutti , wie erbärmlich kleinlicher Vorstellungen Deine Tochter fähig ist .
Ich dachte auch an den Haushalt mit Kunz .
Und der Mittagstisch mit dem billigen Porzellan ( wenn nicht etwa gar Steingut ) tauchte in meinem Geist auf , und es würde gewiß manchmal Bouletten oder falschen Hasen geben , wo mir doch schon der echte Hase nicht schmeckt .
Ach , Mutti , zur Liebe , scheint es , habe ich kein Talent , wie Goethe keins zum Zeichnen hatte .
Und doch zeichnete er so leidenschaftlich gern , und ich möchte so rasend gern lieben , da ich doch sonst nichts Rechtes gelernt habe .
Es kommt aber immer nur eine Stümperei heraus .
Die Asras sterben , wenn sie lieben .
Viele Frauen sterben , wenn und weil sie nicht lieben .
Gehöre ich dazu ?
Ich , von der Timäa sagt , daß sie kalt ist wie eine Hundeschnauze !
Abwarten und Tee trinken .
Da bringt ihn mir gerade die Jungfer .
Adieu , süße Mutter .
Deine Sibilla . 28. September .
Meine Karten , liebste Mutter , haben Dich von meiner Reise , meinem Wohlbefinden etc. au kurant gehalten .
Heute der erste Brief aus München .
Schon vierzehn Tage hier .
Es könnte ja nun alles im alten Geleise fortgehen .
Es soll aber nicht .
Noch habe ich niemandem meine Rückkehr angezeigt , noch keinen einzigen Besuch gemacht .
Nur Lektüre und weite , weite Spaziergänge mit Kunz .
Wir haben uns gleich wieder ineinander gefunden , wenn auch nicht ganz so , wie er es nach unserer letzten Fahrt auf dem Königssee erwartete .
Keine Bräutlichkeit auf meiner Seite .
Ich habe ihm vorgestellt , daß man Schicksalsfragen nicht übers Knie brechen dürfe , daß es bergan ( zu ihm hinauf ) immer langsamer gehe als bergab .
Ich wollte doch nicht erschöpft zu ihm kommen , wie auf einer Flucht .
Wenn ich nicht ganz ehrlich bin , nehme ich gern Bilder zu Hilfe .
Ihn näher kennen lernen , heißt ihn mehr schätzen .
Alles , was an Intrige streift , politische Schleichwege , Geheimniskrämereien sind ihm zuwider .
Festgefügt ist er an Leib und Seele , von starkem Willen , naiv an Gemüt und völlig frei von Egoismus .
Nur gibt er sich zu wuchtig .
Seine Denk- und Gefühlsweise hat - ich möchte sagen - einen religiösen Fond .
Es ist in seiner Gesinnung so viel Glauben .
Selbst die Art , wie er die Schönheit der Natur genießt , ist gebetartig .
Ist er besonders davon ergriffen , so faltet er unwillkürlich die Hände .
Er brüskiert die herkömmlichen Formen oft absichtlich .
Wenn ich ihm einmal eine Taktlosigkeit vorwerfe , so antwortet er : Takt ? was ist Takt ?
Das , was die oberen Zehntausend so nennen , z.B. daß man in Gegenwart von Wucherern nicht von der Abscheulichkeit des Wuchers sprechen darf .
Ach !
und sein grauer Filz und die schon erwähnten Riste auf den Stiefeln !
Auf eine zarte Risteranspielung meinerseits beruhigte er mich damit , daß der Flicken von ebenso gutem , solidem Leder sei , wie der übrige Stiefel .
Ich kann schon das Wort Stiefel nicht leiden .
Alles in allem ist er mir viel .
Ein frischer Luftstrom geht von ihm aus .
Es ist auch so wohltuend , daß jemand an meine angeborene Güte glaubt .
Professor Vogel hat zwar schon in der Schule mein Gemüt entdeckt , aber seitdem sind Nord- und Südstürme darüber gebraust .
Ich lese viel historische , sozialistische , philosophische Bücher .
Ich will wachsen , wachsen .
Daß ich nicht gleich in den Himmel wachsen werde , dafür sorgt meine Zwiespältigkeit .
Ich möchte schon , etwa wie Nietzsche , in der wildschönen Einsamkeit von Sils-Maria philosophieren und denken , aber mit Pausen , um mich nebenher ein bißchen weltlich zu amüsieren , wie die Götter ja auch zuweilen , wenn es ihnen im Olymp zu himmlisch wurde , zu den Irdischen niederstiegen .
Überhaupt das Heidentum !
Das wäre etwas für meinen Gaumen gewesen .
Fast komisch war der Eindruck , den Kunz von unserem Hause empfing .
Befremden , fast Schreck drückte seine Mienen aus .
Er hatte eine Weile um sich geschaut und dann ein mißbilligendes " Hm !
Hm ! " hören lassen .
" Ist mein Haus nicht reizend , Kunz ? "
" Hm ! ja - so recht etwas für ein sozialistisches Gemüt .
Ich schätze diese bescheidene Kemenate auf 100,000 Mark . "
Und er sank in das weiche Polster eines prachtvollen Fauteuil Henri quatre . " Ungefähr so .
Die Häuser können doch nicht bloß aus Mansarden bestehen .
Wer sollte denn in den Bell-Etagen wohnen ? "
Ein Wort gab das andere , und da waren wir denn richtig wieder beim Tanz um das goldene Kalb und beim Stichwort vom Moloch des Kapitalismus .
Du liebe , anspruchsvolle Mutter , immer noch bin ich Dir nicht ausführlich genug in meinen Briefen .
Für die Genauigkeit jedes Worts kann ich freilich nicht einstehen , aber den Kern von allem , und wenn er auch wurmstichig ist , erfährst Du immer .
Soll ich Dir unsere Gespräche dramatisch , so als förmliche Dialoge vorführen ?
Also : Ich : Sage Kunz , gibt es einen Menschen , den Besitz nicht freut ?
Ich kenne keinen .
Der Unbemittelte , der ein klein winzig Häuschen mit einem klein winzigen Gärtchen hat , ihn freut jedes Pflänzchen darin ; wäre es auch nur eine Mohrrübe oder ein Radieschen , weil es seine Mohrrübe , sein Radieschen ist .
Und sein Stübchen , sein Bildchen , sein Tischchen , sein Stühlchen , er liebt das alles , weil es sein ist .
Den Apfel von seinem Baume ißt er in weihevoller Stimmung , weil es sein saurer Apfel ist .
Wer noch so wenig hat , hat doch etwas , und wäre es auch nur eine Kaffeekanne oder ein Stückchen Teppich , und er hängt daran mit zäherer Zärtlichkeit , als der Reiche an seinem Prunk und seinen Wertpapieren .
Die Anschaffung einer Lampe oder einer Schüssel ist in der Hütte ein freudigeres Ereignis , als im Palast etwa die Erwerbung einer antiken Originalstatue .
Er : Weil der Arme sich über das Nötigste freut , glaubst Du ein Recht an dem Überflüssigen zu haben ?
Sibilla , Du stehst auf einer Grenzscheide .
Entweder lüge und schwelge weiter , oder - Ich ( ihn unterbrechend ) :
Sei mein Weib .
Er : Du wirst es sein , weil ich es will .
Noch sinnst Du darüber :
Wie kann ich mich recht weit hinauswagen in das Reich , wo Freiheit und reines Menschentum , wo Liebe und Güte herrschen , und doch immer auf meinen Platz zurückkehren , das heißt , in meinen Palast mit den vergoldeten Plafonds , den von Kunstmalern ausgemalten Veranden , den geistreichelnden Freunden und allem übrigen .
Ich : Der Mensch lebt doch nicht allein von jeglichem Wort , das aus dem Munde Gottes kommt ( womit ich Dir nicht etwa schmeicheln will , Hansel ) , sondern auch von Brot - -
Er : Oder Kuchen .
Ich : Ja , meinetwegen Kuchen .
Wenn man nichts sein kann , so ist es zuweilen vergnüglich , wenigstens etwas vorzustellen .
Und siehst Du , Kunz , wenn ich so abends in Gesellschaften , in Perlen- und Diamantenpracht strahle und den Weihrauch atme , den meine Vasallen mir streuen , so trage ich gewissermaßen Zepter und Krone .
Ich sage Dir , es ist ein königliches Gefühl , wenn ich in meiner weißen Atlasschleppe oder in rosenrotem Samt durch den Saal rausche und teils Bewunderung , teils Neid errege .
Auch Erwachsene mögen Märchen gern , und das sind meine Märchen , meine Feenträume .
" Freilich " - setzte ich beschwichtigend hinzu , indem ich ihn auf die Finger schlug , die er zu fest auf meinen Arm preßte , " wenn ich dann gegen Sonnenuntergang am Opheliabach mein besseres Ich spazieren führe oder abends ein gutes Buch lese , dann schäme ich mich der Vergeudung meiner Nachtruhe in Gesellschaften - - "
Er : Und vergeude sie jede Nacht aufs neue .
Ich : Ach Kunz , ich habe nun einmal kein Talent zu einer Hütte und einem Herzen .
Er haßt es , wenn ich unseren Gesprächen durch scherzhafte Wendungen eine Würze zu geben suche , und faßt dann immer gleich den Entschluß einer ewigen Trennung .
Die Ewigkeit dauert aber selten länger als einen halben Tag .
So nahm er auch jetzt seinen Hut .
Ein bißchen halte ich ihn - obgleich ich noch weniger von der Julia habe , als er von Romeo hat " wie das Vögelchen am seidenen Faden " .
" Ich bin ja eine Kranke , Kunz , eine Blut- und Knochenlose , eine Entartete .
Hilf mir doch ! "
Sofort gab er die für Ewigkeiten geplante Trennung auf und legte seinen Hut fort .
" Das will ich ja , das will ich von ganzem Herzen .
Aber sieh , Sibilla , es ist doch nicht genug , daß Du das Richtige erkennst , würdigst .
Dein Blut muß in Aufruhr geraten , Dein Wille wie ein sprudelnd heißer Quell hervorbrechen und Taten zeugen .
Du hast ja nicht einmal den Mut , eine unserer Versammlungen zu besuchen , weil die Baronin X. oder Y. Glossen darüber machen könnte . "
Ich : Nicht deshalb , Kunz .
Diese Exen und Ypsilons , was gehen sie mich an ?
Sie sind alle , alle de trop .
Aber Eure Redekämpfe , sie sind so voll Lärm und Getöse , und Lärm ist für mich wie schlechtes Wetter , bei dem ich nicht ausgehe !
Eine geschriene Gesinnung , mag sie vortrefflich sein , ist mir unsympathischer - -
Er ( mich unterbrechend ) : - als eine melodisch geflötete Niedrigkeit .
Ich : Übertreibe nicht .
Warum soll ich anderen Leuten wehe tun , ohne Nutzen zu stiften ?
Mein guter Benno würde aus der Haut fahren , wenn ich urbi et orbi kund tun wollte , daß ich eine seiner Tätigkeit konträre Gesinnung hege !
In meinem Salon nehme ich ja kein Blatt vor den Mund - -
Er ( spöttisch ) : Jawohl , weil Du weißt , daß man Deine Ansichten nicht ernsthaft nimmt , daß man sich darüber amüsiert .
Du bringst , wenn Du radikale Ideen verteidigst , nur eine pikante Nuance in die " Causerien au coin du feu , " - so sagt Ihr ja wohl - und selbst ein Edelster von Helmströme würde um dieses kleidsamen Rots Willen , das Du auflegst , nicht einen Deiner five o'clock teas ( sehr spöttisch ) - so sagt Ihr ja wohl - versäumen , um Dich in Deinem neuesten bezaubernden tea gown - so sagt Ihr ja wohl - zu bewundern .
Ich : Aber Kunz , ich glaube bestimmt , hätte Luther oder Cromwell , oder Muhamed oder ein anderer großer Zeitumwandler so vibrierende Nerven gehabt wie ich , und so oft Migräne , ihre Ideen hätten auch nicht Taten gezeugt - -
Er : Vielleicht doch .
Im Kern ihres Wesens war ein ewiges Licht , ein Feuer , das sie trieb und das Dir fehlt : Glaube und Gesinnung .
Eine hohe Leidenschaft , die einen großen Zweck hat , tut Wunder .
Ich : Ja , wenn man an den großen Zweck glaubt .
Er :
Man kann auch glauben wollen .
Möchtest Du Dir doch , geliebteste aller Frauen , anstatt dieses rastlosen , vornehmen Vagabundierens eine Lebensaufgabe stellen - -
Ich : Eine Lebenslüge , willst Du sagen .
Was sollte ich Degenerierte wohl tun ?
Er : Du kokettierst mit Degeneriertheit , etwa , weil Max Nordau alle großen Geister zu den Degenerierten zählt und Du gern dabei sein möchtest ?
Ich : Das glaubst Du ja selber nicht .
Kann ich dafür , daß es mir nicht beschieden worden ist , als Professor der Philosophie ein Auditorium von Jünglingen durch meine Weisheit und Schönheit - wozu ich Talent gehabt hätte - zu verblüffen und zu fördern ?
Die notleidende Landwirtschaft kann ich doch nicht retten .
Im übrigen schiebe ich meine Impotenz der Gesellschaft gerade ebenso in die Schuhe , wie die Missetäter es mit ihren Verbrechen zu tun pflegen .
Warum , Ihr greulichen Männer , sperrt Ihr uns von den Krippen der Wissenschaft ab ?
Ja , wäre ich mit allem Wissen des Jahrhunderts ausgerüstet , und hätte ich schönes , rotes Blut , und Nerven von Stahl und Muskeln von Eisen !
Und weil mir das alles fehlt , darum bin ich nichts ! nichts ! nichts !
Er : Dieser Gedanke ist der Judas unter Deinen Gedanken , der Deine Seele verrät .
Ich : Wenigstens tut er es gratis , ohne den Lohn der Silberlinge .
Soll ich etwa , wie man es von einer amerikanischen Miß erzählt , die Affensprache studieren ?
Vor dem Käfig der Marquise Hautbois hätte ich die schönste Gelegenheit dazu .
Siehst Du , Kunz , ich greife ja nach allem , was wie ein Heilmittel meiner Krankheit aussieht .
Er : Und Deine Krankheit ?
Ich : Seelenmüdigkeit .
" Müde Seelen " .
Roman von Arne Garbarg .
Wovon bin ich nur immer so müde ?
Ich träume zuweilen , wir gingen mit einander in Herzkas Xeniealand .
Schade , daß ich das Volkswirtschaftliche in dem Buch nicht verstehe .
Er : Du verstehst alles , was Du verstehen willst .
Erwache doch , Sibilla !
Es ist ja Frühling in der Welt .
Ich : Für uns Frauen kaum Vorfrühling .
O Mutti , er hat eine so himmlische Geduld mit mir .
Er kniete vor der Chaiselongue , auf der ich lag , und was er sagte , brach wirklich wie ein sprudelnd heißer Quell hervor .
Seltsam , wenn er so aus tiefstem Gemüt heraus spricht , weiß ich immer nachher nicht , was er gesagt hat ( ob es ihm vielleicht an Tiefe fehlt ? ) , im Augenblick aber durchglüht es mich und bewirkt bei mir die farbigsten , hochschwingendsten Entschlüsse , bis zum hohen A hinauf , oder zum sattesten , frischesten Grün .
Darum versprach ich ihm , mich seelisch zu emballieren , das heißt , nicht weniger zu sein , als ich sein könnte , und mit der praktischen Betätigung sozialistischer Ideen nächstens Ernst zu machen .
So trennten wir uns in aller Herzlichkeit .
Gott , er hat ja recht .
Ein schöner Sozialist bin ich .
Benno suchte heute bei Tische , als die Pute zum zweiten Male herumgereicht wurde , ein Bruststück , fand keines und erklärte entrüstet , Beine gehörten überhaupt nicht auf den Tisch , worüber unser Otto lachte .
Ich warf ihm einen Herren-Blick zu , weil es sich doch für einen Diener nicht schickt , über die Witze seiner Herrschaft zu lachen .
Da hast Du Deine radikale Tochter .
Schon vor einem hergebrachten Dienerreglement versagt ihr Sozialismus .
Ich nehme immer ab und zu ganz kleine Miniatur-Selbsterziehungs-Experimente mit mir vor , fahre z.B. mit der Tramway oder dritter Klasse mit der Eisenbahn , wie neulich , als ich Jolante in Tegernsee besuchte , oder ich nehme ein Parkettbillett im Theater .
Strapazen - Mutti !
Strapazen !
Und wollte ich auch mit Taten größeren Stils an meiner Sozialisierung arbeiten , lohnen sich denn solche Kämpfe mit sich selbst ?
Nicht eine Vergeudung von Kraft ?
Warum sich die Beine ausreißen für den Sieg einer Idee ?
Ist es an der Zeit , wird die Idee ja doch Wirklichkeit , bald langsamer , bald schneller , meistens allerdings langsamer .
Aber der Sieg kommt , unabänderlich , unaufhaltsam .
Erst sind einige wenige dafür , dann viele , dann sehr viele , schließlich die Majorität , und die Sache ist abgemacht .
So lange man zu den einzelnen gehört , ist man Ketzer und wird verbrannt .
Dann wird man Majorität , die Ketzereien werden Gesetz , und die inzwischen neuerstandenen einzelnen werden wiederum von den früheren Ketzern verbrannt . Naturgesetz .
Demselben Naturgesetz unterliegen die Moralideen .
Kein Mensch weiß im Grunde , was moralisch und was unmoralisch ist .
Und die Moral von heute ?
Denken wir uns Europa einige Jahrhunderte fortgeschritten - aller Wahrscheinlichkeit nach würden Gesetze , Institutionen , Bräuche , die heute kategorische Pflichtgebote sind , als Rückschläge in eine finstere Barbarei , Gelächter und Staunen erregen .
Als Barbarei würde es erscheinen , daß nicht die Wesensart des Menschen über sein Schicksal entscheidet , über seinen Beruf , seine Stellung in der Welt u. s.w. , sondern der Zufall , seine Geburt .
Als Barbarei , daß ein Untermensch auf dem Thron sitzen , ein Übermensch am Wege Steine klopfen kann .
Barbarei , daß möglicherweise ein Gemeindenkender als Richter über einen Edelsten von Gesinnung aburteilen kann .
Barbarei , die heutige Zwangsehe , Barbarei , der Krieg u. s.w .
Nicht komisch , daß sich die Menschen immer auf das berufen , was war ?
Eben weil es war , wird und soll es nicht mehr sein .
Mein heutiges Wissen und Erkennen wird der Aberglaube des 20. oder 21. Jahrhunderts sein .
Die Götter vergangener Zeiten sind heute Götzen , und unsere neuen Götter werden wieder Götzen werden .
Ewige Götter gibt es nicht .
Sie partizipieren an der universellen Sterblichkeit .
30. September . Jolante ist aus Tegernsee zurück .
Gleich am ersten Tag , als sie mich besuchte - natürlich mit Zeitungsabschnitten in ihrem Rehledertäschchen - traf sie mit Kunz zusammen .
Ein Universitätsprofessor war abgesetzt worden , weil er Ideen im Sozialismus gefunden .
Und dieser Hochverräter habe Weib und Kind , von letzterer Sorte sogar sechs Stück .
" Du wirst nächstens noch mit Deinem revolutionären Seelenzustand staatsanwaltreif sein , " warnte ich .
"- Was bin ich ? " schrie sie grimmig , " nichts bin ich als ein Mensch , der zu der , wie es scheint , unerlaubten Erkenntnis gekommen ist , daß die anderen auch Menschen sind .
So lange es Märtyrer der Ehrlichkeit gibt , gibt es auch Tyrannen , gibt's Scheiterhaufen , Foltern !
Eine Pfeife , ein Bücherregal , Fachsimpeln , das gehört sich für den gelehrten Stubenhocker , aber ein menschlicher Mensch sein !
Ideen im Sozialismus finden ! der Schnüffler !
Blind ist man da oben , vollkommen blind .
Menschen , die berufen sind , Öl in die Wogen der Revolution zu gießen , maßregelt man , anstatt sie in Watte zu wickeln .
Wurschtelt nur so weiter und zerbrecht die Sicherheitsschleusen , werdet schon in der Flut - " ja , sie sagte " ersaufen " , worauf sie sich verschnaufte , jetzt erst Herrn Albert Kunz herzlich die Schwesterhand reichte und sich für Seinesgleichen erklärte .
" Was sie für Temperament hat , " sagte Kunz , als sie gegangen war , " und ein so liebes Gesicht .
Ihre Augen sind so klar , man könnte Forellen darin fangen .
Schade - - "
" Was schade ? "
Er schwieg .
3. Oktober . Ferlani und Timäa - sie hatten erfahren , daß ich in München bin - waren bei mir .
Ferlani kannte schon - via Timäa - meine Beziehungen zu Kunz und behandelte " meinen Freund " im voraus , ohne ihn zu kennen , mit ironischem Wohlwollen .
Er geruhte meine Kameradschaft mit ihm zu billigen , nur dürfe ich , um dieses heiligen Georgs Willen , der dem Drachen des Mammonismus hoffentlich nicht sofort den Garaus machen würde , meine alten Freunde nicht vernachlässigen , man könne sonst meinen harmlosen Verkehr mit dem Schwaben mißdeuten .
Timäa pflichtete ihm bei .
Von ihr erfuhr ich auch , daß Rittlings mit Helmströme aus Venedig zurück seien , das heißt eigentlich nur Helmströme und Traute .
Traute sei krank .
Rietling bleibe einen Teil des Winters in Rom .
Da ich nun vor Ferlani und Timäa meine Tür nicht verschließen konnte , öffnete ich sie auch allen anderen .
Nur vor Hely Helmströme ließ ich mich bei seinem ersten Besuch verleugnen , ich weiß selbst nicht recht warum .
Am anderen Tag erhielt ich ein Billet von ihm , er müsse mich sprechen und würde sich morgen Nachmittag um die und die Stunde die Ehre geben .
Daraufhin mußte ich ihn wohl oder übel empfangen .
Er kam mit einem Auftrag von Traute :
ich möchte sie in ihrem Elend nicht verlassen , auf alle anderen verzichte sie gern .
Hely hält Trautes Zustand für hoffnungslos .
Vor seiner echten Trauer hielt der Vorsatz meiner Kälte nicht stand .
Er , sonst so diskret und verschlossen , öffnete mir sein Herz .
Nicht eigentlich liebe er Traute .
Sie habe ihn angezogen wie ein süßes Rätsel , und er habe sich diesem Zauber willig hingegeben , um einen anderen zu lösen , der ihm verhängnisvoll zu werden drohte .
Während er die letzten Worte fast gleichgültig hinsprach , sah er zu Boden .
Warum fing mein dummes Herz an zu klopfen ?
Als ob er an mich gedacht hätte !
Er wiederholte , was er früher schon einmal ausgesprochen hatte :
er hüte sich gleichmäßig vor Leidenschaften des Kopfes und des Herzens ; nur in der Harmonie der Kräfte bestände geistige Gesundheit .
Klopfe sein Herz zu stark , so greife er nach seinem Manuskript ( er schreibt an einer Geschichte der Ostseeprovinzen , deren erster Band fertig ist ) , oder seinem Talisman .
Er zog eine Kapsel aus seiner Brusttasche .
Ein wenig Erde lag darin - Heimatserde .
Wenn er je die Geschichte seines Landes vergessen , jemals sein Geschick von seinem Vaterlande trennen könne , so würde er entwurzelt , dem Antäus gleich , all seine Kraft verlieren .
Sein Land brauche Männer von unerschütterlichen Grundsätzen .
Darum würde er auch nie eine jener leichtfertigen Liäsons anknüpfen , wie sie in der Gesellschaft üblich seien .
Wenn ein Weib sich ihm zu eigen gäbe , so wäre es von diesem Augenblick an sein Weib .
Da er einmal im Zug des Vertrauens war , erfuhr ich auch - er berührte die Sache nur andeutungsweise - daß man aus patriotischen und Vernunftgründen eine Heirat zwischen ihm und seiner Cousine Eva Broddin wünsche ( wahrscheinlich wie die Souveräne zum Besten ihres Landes heiraten ) , Eva aber sei eine unvornehme , auf Effekt und Eroberungen ausgehende Natur , und ihm unsympathisch .
Er würde sich nicht leicht dazu entschließen .
Ach Mutti , die Charaktere , die wetterfeste Prinzipien haben , die wanken und weichen nicht von dem Platz , auf dem sie stehen , bis die steigende Flut , die sie nicht kommen sehen , sie fortspült .
Mit Charakter panzern sie ihr Herz , mit Charakter verschließen sie ihre Gehirnzellen .
Gehört die Heiligkeit der Ehe zu ihren Prinzipien , so keuchen sie lieber lebenslang unter dem Joch einer elenden , entwürdigenden Ehe , als daß sie trennen , was nicht zusammen gehört .
Sie halten mit felsenfester Treue zur Fahne ihrer Partei , auch in Fragen , die ihrer Überzeugung widerstreiten .
Hely ist so ein Charakter .
Aus Prinzip wird er die ungeliebte Cousine heiraten , aus Prinzip wird er Söhne erzeugen , damit sein Geschlecht nicht aussterbe .
Sind nicht die Charakterstarken oft die Vernunftschwachen ?
4. Oktober .
Ich war bei Traute .
Ich fand sie nichts weniger als elend ; im Gegenteil toll , übermütig , wunderschön .
Wie in Berchtesgaden war sie in schwarzen Flor gekleidet , die zarten Arme und der Ansatz des Halses entblößt , das Zimmer aber strahlte in den sattesten , brillantesten Farben , Wandschirme , Blumen , Kissen , alles von kreischendem Bunt .
Sie lag auf einer Chaiselongue von leuchtendem Seidenplüsch .
Ein Papagei hockte über ihr auf einer Stange .
Sie war wie ein Kobold , wechselte fortwährend ihren Platz .
Bald sprang sie von der Chaiselongue auf und kauerte sich auf einem großen Fauteuil von gelbem Atlas zusammen , oder sie setzte sich verquer darauf , stützte ihr Kinn auf die Lehne und umloderte Hely mit ihren Blicken .
Die helle Sonne stand noch am Himmel , im Zimmer herrschte halbe Dämmerung .
- " Soll ich nicht die Vorhänge zurückziehen , Traute ? "
Nein , Tageshelle perhorresziere sie gerade wie nüchterne Verständigkeit .
Und sie fing an , mystisch zu schwärmen , so ins Blaue hinein .
Lieber seien ihr Gespenster , die schweigen , als Alltagsmenschen , die schwätzen .
Dämmerungen liebe sie und tiefpurpurne Nächte , phantastische Wolkenzüge , durch die der Mond schiffe , große verzückte Traurigkeiten , überhaupt Transzendentales , Jenseitiges - den Tod .
Ich erklärte es für Ziererei , mit dem Tode zu liebäugeln , während man im Schoß lebendigen Glückes säße .
Sie schüttelte betrübt den Kopf .
" Hely , gehe einmal ans Fenster . "
Und dann flüsternd zu mir : " Er liebt mich ja nicht .
Er behandelt mich wie ein krankes Kind , und ich möchte als Weib in seinen Armen vergehen .
Nachher wird er mich lieben , wenn ich tot bin .
Ich werde auch nicht wirklich tot sein , ich materialisiere mich ja . "
" Aber Traute , er liebt Dich doch auch jetzt in all Deiner liebreizenden Leibhaftigkeit . "
Sie legt ihren Mund dicht an mein Ohr :
" Nein , nein , nein !
Er liebt mich nicht .
Der Mann , der wirklich liebt , der - beweist es - der - "
Sie ließ sich von dem Fauteuil auf das weiße Fell gleiten , lachte krankhaft , ein schluchzendes Lachen , und streckte die mageren , zarten Arme nach ihm aus : " Hely !
Hely ! "
Er beugte sich zu ihr nieder , nahm sie in seine Arme und legte sie behutsam auf die Chaiselongue zurück .
Sie drückte den Mund an seine Brust :
" Ich möchte ein Vampir sein und Dein Blut - nein - Dein Blut ist kalt , mich fröstelt - "
Sie schüttelte sich , wie eine Taube ihr naßgewordenes Gefieder schüttelt .
Allmählich wurde sie ruhiger .
Sie hätte einen Wunsch , den müßte ich ihr erfüllen .
Noch einmal möchte sie ein schönes , großes , rauschendes Fest mit machen :
" Den Polterabend meiner Hochzeit mit dem Tode . "
Sie sagte es mit einem herzzerreißenden Lächeln .
Ich sollte ihr dazu verhelfen .
Ich machte den Einwand , daß im Oktober sich schwer ein großes Fest arrangieren ließe .
Doch fiel mir ein , daß Timäa beabsichtigte , eine neu bezogene Wohnung durch eine kleine Festlichkeit einzuweihen .
Vielleicht würde sie sich herbeilassen , um Trautes Willen , aus der kleinen Festlichkeit ein größeres Fest zu machen .
Das Wetter in Südtyrol und Oberitalien war so schlecht geworden , daß fast tout Munich wieder daheim war .
Sie hörte meine letzten Worte nicht mehr .
Sie war totenblaß geworden .
Sie erhob sich mühsam , schwebte langsam , einer Astarte gleich , immer die Augen auf Hely gerichtet , durch den Salon und verschwand im Nebenzimmer .
Ich wollte ihr nach .
Hely hielt mich zurück .
Sie wolle nicht , daß man ihr folge .
In dem Augenblick , wo sie fühle , daß ihre Kräfte erschöpft seien , verschwände sie immer in dieser Weise .
Hely führte mich zum Wagen , der vor der Tür auf mich wartete .
Dieses reizende Geschöpf , dachte ich , als ich im Wagen saß , ist ganz Poesie und Gefühl .
Sie hätte gewiß eine hervorragende Malerin werden können .
Sie sieht alles malerisch : ihre Liebe , ihre Toilette , ihre Ethik , ihr ganzes Leben , und malerisch wird sie auch sterben .
Sie wird noch mit dem Tode kokettieren und in einer entzückenden Pose und Toilette traumengelhaft ins Jenseits hinüberschmachten .
Ob sie stirbt , weil sie liebt - oder ob sie in den Tod verliebt ist ?
Ich weiß es nicht recht .
15. Oktober . Sobald ich Timäa sprach , legte ich ihr Trautes Wunsch ans Herz .
Nach einigem Überlegen und Zögern entschloß sie sich zu dem Fest .
Vorher war ich noch einige Male bei der Kranken , natürlich immer mit Hely zusammen .
Zu eigentlichen Unterhaltungen kam es kaum .
All ihre Äußerungen , ihre Bewegungen , ihr Mienenspiel waren wie abgerissene Töne einer Geige , wie das zitternde Verklingen von Äolsharfen , zuweilen auch wie ein Blitz aus schwefligen Wolken .
Eines Tages fanden wir sie auf ihrer Chaiselongue liegend , ganz mit Astern bedeckt , Astern in allen Farben .
Sie trug ein Gewand von zartestem , weißem Musselin über einem weißseidenen Unterkleid .
In den Astern lag sie ganz vergraben ; über dem Gesicht einen dünnen Schleier , ganz einer Toten gleich .
Auf ihrer Brust glühte ein kleines , rotes , elektrisches Licht , dessen Verbindungsschnur geschickt irgendwo verborgen war .
( Imitation von Hanneles Himmelfahrt . )
Sie spielte Leichenbegängnis .
Und während sie so dalag , ohne sich zu rühren , bewegte sie kaum wahrnehmbar die Lippen zu einer Frage :
" Was meint Ihr zu den Astern und dem Glühlicht nach berühmten Mustern ?
Oder würden Euch weiße Rosen und ein Kruzifix auf der Brust besser gefallen ?
Hely ist ja leider Protestant , da ist er gewiß nicht für das Kruzifix . "
Und mit einem Mal sprang sie aus den Astern heraus und bombardierte uns mit den Blumen , daß sie im Zimmer umherflogen .
Dann sank sie auf den Teppich nieder und schlug die Beine übereinander :
" Nun bin ich Scheherazade und erzähle immerzu Märchen , um den Todesengel zu betrügen . "
Und so tollte sie weiter .
Immer aber steht der Tod im Mittelpunkt ihrer Vorstellungen , bald als Gespenst , bald als ein ernster Erzengel , bald als ein kosend neckischer Spirit .
Zuweilen versucht Hely sie von ihren Todesgedanken abzulenken und sie für irgend eine Tagesfrage zu interessieren .
Sie wehrt dann ab : das wäre nichts für sie , Sibilla würde es allenfalls interessieren , besonders , seitdem die sich mit dem Blutroten aus Berchtesgaden eingelassen habe .
" Was sagst Du denn dazu , Hely ? "
Er antwortete :
Da Sibilla ihn in ihre Intimität aufgenommen habe , müsse er eine Ausnahme unter seinen Genossen sein .
Im allgemeinen freilich seien ihm diese Leute , ohne Vaterland , ohne Glauben , ohne Tradition , in ihrer vorurteils- und pietätlosen Art ein Greuel .
Besonders die Glaubenslosigkeit betonte er .
Dabei kam es zur Sprache , daß er fromm ist .
In der Kirchlichkeit sieht er Vornehmheit .
Er bedauert , daß es keine Kreuzzüge nach Jerusalem mehr gibt .
Frei und frank tat er seinen Glauben an einen persönlichen Gott kund .
" Das hat Ihnen nur noch gefehlt , " rief ich ganz entsetzt .
O Mutti , das Bild ist fertig .
Wir sind die reinsten Gegensätze .
Fragen , über die ich seit einem Jahrzehnt zur Tagesordnung übergegangen bin , sind für ihn nur deshalb keine Fragen , weil in seiner Gedankenwelt bombenfest steht , was die Marke einiger Jahrhunderte trägt .
Als ich ihm seine Junkerhaftigkeit vorwarf , verteidigte er sich mit großem Ernst .
Er könne gar nicht anders denken und fühlen .
Es läge ihm im Blut , sei absolutes Gesetz für ihn .
Denn , man möge sagen , was man wolle , das Blut sei der wichtigste Faktor im Dasein der Menschheit , das einzige , wovon man sich nicht frei machen könne , nie und nimmer , ohne sich selbst zu verlieren .
Ich antwortete mit hochfahrendem Spott , daß das blaue Blut der Aristokraten mit der Zeit sehr hell geworden sei , fast schon bleu mourant . " Glaube ihm nur nicht alles , " rief Traute von ihrem Fauteuil aus , " er ist gar nicht wie Du denkst , nur rasend eitel auf seinen makellosen Ruf ; unter vier Augen aber vergißt er manchmal , daß , » wo er ist , Livland ist , « und neulich - ( sie duckte sich auf dem Fauteuil zusammen und blinzelte ihn von der Seite an ) sieh mich nur an , ich sage es doch - neulich hat - er - mir - ( sie zerrte die Worte auseinander ) einen - Kuß - gegeben . "
Und dabei spitzte sie das Mündchen so kosend schelmisch , als erwarte sie , daß er nun auch unter sechs Augen desgleichen tue .
Dazu schien er nun keineswegs aufgelegt .
Im Gegenteil , Trautes Worte hatten ihn augenscheinlich unangenehm berührt .
Er wurde steif , ablehnend , öffnete einige Bücher , die auf einem Tisch lagen , und Traute gar nicht mehr beachtend , sprach er , zu mir gewendet , über diese Bücher - wegwerfend .
Sie gehörten der jüngsten naturalistischen Schule an .
Traute hielt Helys Bösesein nicht lange aus , und unterbrach unser Gespräch mit einem klagenden :
" Aber Hely - aber Hely ! "
Als Hely nicht darauf reagierte , stieß sie den Papagei an .
" Aber Hely - aber Hely ! " kreischte er .
Hely blieb taub .
Eine schwere Träne hing in Trautes Wimper .
Sie zupfte ihn am Ärmel , und mit einem Mal sang sie das alte Couplet : " Ach , er hat mich ja nur auf die Schulter geküßt " - - und so drollig und lieblich rührend sang sie es , daß er lachen mußte , und sie lachte auch und schmiegte sich an ihn , und es fehlte , glaube ich , wirklich nicht viel , und sie hätten sich unter sechs Augen geküßt , wenigstens sie ihn .
Mit schmeichelnder Anmut fragte sie ihn ganz ernsthaft um Rat , in welcher Gestalt und Tracht sie ihm nach dem Tode als entleibte , wenigstens teilweise entleibte Seele erscheinen sollte ?
Ob im griechischen Purpurgewand , rosenumgürtet , oder in durchsichtigem indischen Musselin mit Silbergürtel und einem Vergißmeinnichtkranz auf dem wallenden Haar , ganz deutsche Sehnsucht ?
" Komme nur mit dem Papagei auf der Schulter , " sagte er lachend , " da erkenne ich Dich gleich .
Oder so wie jetzt . "
Sie saß in dem dämmernden Gemach am Fenster , unter Hyazinthen und weißen Blumen , in ihrem schimmernden Gewand , und die weißen Blüten schienen zarte Gesichter , und ihr Antlitz war wie eine Blume .
Ich war eifersüchtig auf ihre magische Schönheit .
Als wir aus dem Hause traten , war mein Wagen noch nicht da .
Hely schlug mir einen Spaziergang durch den englischen Garten vor .
Ich war einverstanden .
Ein herrlicher Oktobertag gegen Sonnenuntergang .
" Mir scheint , " sagte ich - nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinander hergeschritten waren , " Sie unterschätzen das Glück , von dieser süßen kleinen Fee geliebt zu werden . "
" Wo wir sind , ist Livland . "
Sie kennen den Spruch meines Wappens .
Ich will es rein erhalten . "
" Und jener Kuß ? "
Er errötete wie ein junges Mädchen .
Einen Kuß könne man in seiner ganzen Süße empfinden , und doch die Kraft haben , sich vor dem Bodensatz zu hüten , vor Reue und dem bösen Gewissen .
Das alte griechische Maßhalten sei die Wurzel aller Weisheit .
Ach , Sie lieber Russe , dachte ich , Sie sind ja beinahe wie das Kind , das Sonntags , wenn es ein weißes Kleid anhat , nicht zu spielen und zu tollen wagt , aus Furcht , das Kleid zu beschmutzen .
Sie halten immer tugendhaft Maß , damit Sie schön zu ihrem Wappen passen .
Ähnliches sagte ich zu ihm .
Nein , selbst wenn es keine Schranken , kein Livland für ihn gäbe , er könnte Traute nie mehr sein , als ein zärtlich sorgender Beschützer .
" Wenn Sie wüßten , Sibilla " - - Pause .
" Wenn Sie wüßten " - - noch längere Pause .
Ich pflückte gelbe und rote Blätter von einem Baum , ich machte einen Strauß daraus .
Wir standen am Rande des Baches .
Das Spiegelbild der roten Bäume zeichnete sich tief und klar im Wasser ab .
Aus dem Dämmer erglänzte die Häuserreihe der Königinstraße mit ihren erleuchteten Fenstern .
Der Hauch einer geheimnisvollen Trunkenheit war in der Farbe dieser Dämmerung : ein sanftes Feuer , wie hingesungen , eine honigsüße , weiche Glut .
Ich stand wie gebannt von dem Zauber des Bildes vor uns .
Meine Augen suchten einen Reflex meines Entzückens in den seinen .
" Also doch auch Sie etwas blaue Blume ? " lächelte er .
Da hatte richtig wieder einer mein Gemüt auf Kosten meines Verstandes unterschätzt .
Ich warf die Blätter in den Strom - im Nun trug sie der Strom fort , weit fort .
" Mit den roten Blättern ist die blaue Blume fortgeschwommen , Herr v. Helmströme , und wenn sie wüßten , wie kalt es geworden ist , würden Sie mir schleunigst einen Wagen holen . "
Er fühlte , daß er mich verletzt hatte .
Ich kam nervös aufgeregt nach Hause .
Ich ärgerte mich über alles , und dann ärgerte ich mich darüber , daß ich mich ärgerte .
Ich verstimmte durch meine Übellaunigkeit das ganze Haus und litt dann unter der maussaden Stimmung um mich her .
Zu dumm .
" Also doch auch Sie etwas blaue Blume . "
Zu dumm .
Der Diener meldete Kunz .
Er kam auch in Erregung .
Er hatte eben die Journale gelesen , die voll waren von dem Aufstand in Sizilien .
Mit schmerzlicher Erbitterung sprach er ( leider schwäbelnd ) von der grausamen Verurteilung jenes edlen Führers .
Ich hörte lässig zu , machte sogar einen Versuch , die Regierungsmaßregeln zu verteidigen , nur aus Bosheit , aus Freude an der Opposition .
Er wurde zornig , beinahe grob .
Ich herb , trotzig .
Nie wird er die feinen Gefühlsnuancen in einer Frauenseele , die komplizierten Vibrationen subtiler Nervendrähte verstehen , die schon vom Klang einer Stimme , von der schwäbelnden Aussprache eines Wortes irritiert werden .
Er hätte sie zärtlich beruhigen müssen , meine Nerven , anstatt sie noch mehr zu reizen .
Die Psyche ist bei ihm immer gestiefelt und gespornt .
Hely versteht so fein zu schweigen , so beredt zu blicken .
Er folgt den leisesten Schwankungen in mir .
Natürlich langte Kunz wieder nach seinem grauen Filz , und während er ihn schier auseinanderriß , nannte er meine Seele ein Labyrinth .
" Leider ohne Ariadnefaden , Kunz . "
" Hier eine dunkle Höhle mit Schlangen und Abgründen , dort eine Märchengrotte mit glitzerndem Edelgestein , weiterhin ein blühender Garten mit holdem Vogelgezwitscher - ein Kerker - ein Geisterreich - wüsste - weite - öde Strecken , über die der Samum fege - - etc . "
Ach ja , das letzte hauptsächlich , Mutti , wüsste , weite , öde Strecken , über die der Samum fegt .
Bei dem Wort Samum hatte er sich den Filz aufgestülpt .
Ich sah ihn an , möglich , daß der Blick etwas kokett ausfiel .
Nun wurde er erst recht böse , vielleicht , weil er malgre lui den Filz wieder fortlegte .
Wenn man schon die Klinke in der Hand hätte , um der Zuwidere den Rücken zu kehren , spiele sie ihre Rattenfängerweisen und locke die dummen , großen Kinder zurück - ins Netz .
Ich nahm das Netz übel und winkte ihm zu gehen .
Er war schon draußen .
Ich steckte schnell meine Ringe in die Tasche .
" Hansel ! " rief ich , " Hansel ! "
Es klang so weich , schmelzend weich , daß ich unwillkürlich selbst auf den Klang meiner Stimme horchte .
Natürlich kam er zurück .
Ich streckte ihm beide Hände entgegen .
Er blickte eine Weile auf die Hand , die er in die seinige nahm , und fand diese nackten Finger - Lilienfinger - so rührend .
Er war wieder ganz gut und ganz mein .
Jetzt gab ich ihm zu , daß ich ja seine Ansichten über den sizilianischen Aufstand Teile , ich hätte nur so gar keine Phantasie , könne mir nicht vorstellen , was so weit - weit von uns geschähe , und mit unseren feurigen Reden und zerrissenen nordischen Seelen könnten wir doch denen da unten im Süden nicht helfen .
Und dann - meine Gedanken , die schweiften immer gleich abseits , vom Besonderen hinüber ins Große , Allgemeine , wo die Philosophen sitzen oder Pythia auf dem Dreifuß , und wo unter mystischen Dünsten - - aber dafür hätte er doch keinen Sinn .
Und ließen sich auch aus den sozialpolitischen Zuständen Grausamkeit und Ungerechtigkeit entfernen , wo anders tauchten sie wieder auf , da , wo sie unbezwinglich , unzerstörbar seien .
Natur !
Schicksal !
" Denke an Jolante .
Sie liebt Dich .
Du bist prädestiniert , sie zu lieben .
» Zwei Seelen und ein Gedanke . «
Da kommt das Schicksal in Gestalt eines leicht verbogenen Knöchelchens , und Du , Allzumenschlicher , liebst eine andere , die viel verbogener ist - aber inwendig . "
Mit Geschick benutzte meine Jolante den Augenblick , um unverhofft einzutreten .
Er sah sie anders an als sonst , mit einem zärtlichen Mitleiden .
1. November .
Ich war einige Male im Theater .
Im Residenztheater sah ich eins jener braven , altmodischen Stücke , wie sie dem großen Publikum gefallen .
Dem Helmströme gefiel es auch .
Ich fand franchement langweilig , sogar Schauderöse .
Im Gärtnertheater genoß ich eine zusammengekratzte Lustspielposse .
Darf ich " Pfui Deibel ! " sagen , Mutti ?
Flach und schal und öde und unersprießlich .
Eine Posse , in der man nicht lachen kann .
Gibt es Schlimmeres ?
Ekelhaft , die Rührszene , dito das Publikum , das sich teils freundlich , teils sogar enthusiastisch verhielt , während es z.B. im " Biberpelz " zischte .
Dagegen wirkte die kindliche Freude Ewald de Borns über ein durchgefallenes , naturalistisches Stück recht erfrischend .
Wir gingen nach der Vorstellung ein Stück Weges zusammen , und da sprach er sich begeistert über alle Mängel des Dramas aus , über die schlechte Technik , jeden inkorrekten Satz hatte er sich gemerkt .
Ich habe ihn lange nicht so glücklich gesehen .
Er meint es nicht böse .
Seine Freude hatte wirklich mehr den Charakter künstlerischer Entrüstung als den des Neides oder der Schadenfreude .
Sein ehrlicher Haß ist mir immer noch lieber als das Protzentum , das z.B. neulich die Gehrt , gelegentlich einer Aufführung der " Schmetterlingsschlacht " , dokumentierte .
Ich traf sie im Foyer .
" Amüsieren Sie sich ? " fragte sie mich .
" Ja . "
" Begreife ich nicht .
Doch entschieden ein Rückschritt gegen die Heimat . "
" Wieso ? "
" Nun , das ganze milieu , die Gesellschaft , in der es spielt , leider künstlerisch ein großer Rückschritt . "
Auch ein Standpunkt .
Den Standpunkt dieser Herrschaften , wenn von der Frauenfrage die Rede ist , kannst Du Dir vorstellen .
Neulich , als Jolante für die Gymnasialbildung der Frau eintrat , meinte ein junges Bürschchen , natürlich Baronchen :
" Gott , wenn erst einige junge Damen etwas gelernt hätten , so würden alle meinen , es wäre nicht » fesch « , wenn sie nicht auch Griechisch und Lateinisch lernten , und dann würden alle Mädel Griechisch und Lateinisch lernen und das wäre doch fad . "
" Nicht wahrscheinlich , " antwortete ich ihm , " daß diejenigen , deren Lebensziel » Feschheit « ist , sich dieser immerhin bedeutenden Anstrengung unterziehen würden . "
Isolde stimmte dem Bürschchen lebhaft bei .
Die Frau müsse vor allem Frau sein , d.h. weiblich .
Und sie brach den Stab über alle velozipedfahrenden , reitenden , lateinischlernenden , wurzelausziehenden , lyzeenbesuchenden Damen , schien aber Puder , Zigaretten und Dichtersgattin zu sein , für den Inbegriff der Weiblichkeit zu halten .
Soll ich Dir es gestehen , Mutti , ich kann mich nicht einmal so recht lebhaft für die Frauenfrage interessieren .
Von zehn Menschen sagen neun immer die unglaublichsten Niaiserien darüber .
Und widerlegst Du sie mit schlagenden Gründen , so sagen sie noch einmal und noch hundertmal genau dasselbe und immer dasselbe , Jahr ein , Jahr aus , bis es einen davor ekelt .
Man sollte nur mit seinesgleichen reden , sagt Kunz .
Ja , das sollte man wirklich .
Ich lese in den Zeitungen ab und zu Verhandlungen im Reichstag über Vereinsgesetze .
Immer wieder die Zusammenstellung von Minderjährigen und Frauen .
Keine Frau darf einer Versammlung beiwohnen , wo politische Interessen beraten werden , und nicht bloß politische .
Auf dem Katholikentag hier , von dem man die Politik ausschloß , wurde durch besonderen Anschlag ( ich glaube , er war von grüner Farbe ) den Frauen der Zutritt verboten .
Und dann ergehen sich dieselben Männer in Sarkasmen darüber , daß die " Weiblein " in Tand und Liebeleien aufgehen .
Förmlich idiotisch !
Mit welcher Süffisance , mit welchem geringschätzigen Lächeln habe ich die Gedanken hochintelligenter Frauen von Männern aburteilen hören , die zeitlebens armselige Schächer im Reiche des Denkens waren .
Nein , Mutti , diesem Zeitalter bin ich entwachsen .
Diese Leute sind nicht meinesgleichen .
Mit souveräner Geringschätzung blicke ich auf diese Tröpfe herab , ja Tröpfe !
Tröpfe !
Ich bin ihnen ja hundert Jahr voraus .
Größenwahn von mir ?
Nein .
Es gibt viele , viele , vor denen ich mich beuge , aber diesen , diesen - bei denen , wo das Hirn fehlt , sich der Männerstolz zur rechten Zeit einstellt , gerade wie der dümmste Arier , dem klügsten Semiten gegenüber doch wenigstens stolz darauf ist , daß er Arier ist , und sich durch seine Stulp- oder Kartoffelnase als Nichtsemit ausweisen kann .
( Das sage ich nur aus Bosheit , ich kenne schöne griechische und römische Nasen unter den Ariern . )
Ich lese auf Deinen Lippen eine malitiöse Frage , Mutti :
" Und Nietzsche ?
Etwa auch ein Tropf ?
Taxiert er die Frauen nicht noch niedriger als die borniertesten Professoren es tun ? "
Ja der , der ist kein Tropf , trotz alledem .
Ich lese noch immer ab und zu in seinen Werken , und bin jedesmal ergriffen von der Tiefe seiner Ideen , von der machtvollen Poesie seiner Sprache .
Er hat uns von der Seelenfeigheit erlöst .
Er ist der Pförtner all der Gedanken , die wir im verschwiegenen Busen zu bewahren pflegten .
Er hat ihnen Tor und Tür geöffnet , und nun stürzen sie hinaus , jubelnd , toll , voll Zerschmetterungslust , voll Werdelust , in Urkraft .
Und doch - lese ich aufmerksam Seite für Seite in seinen Werken , so frappieren mich hier und da Banalitäten , Einseitigkeiten , paradoxe Aussprüche , wie eben die über die Frauen .
Es macht mich auch stutzig , daß er so sehr Mode ist .
Seine Ideen werden auf die Gasse geschleppt und verwertet oder verunwertet .
Man kann kaum ein modernes Buch in die Hand nehmen , das nicht von seinem Geist getränkt ist .
Ist er so banal oder so messiasartig groß , daß er solche Erfolge erzielt ?
Ist er einer der Johannesse , die dem Messias vorausgehen ?
Nicht , Mutti , zahllos die " Vielleichts " in meinen Briefen ?
Aber ist nicht eigentlich alles nur " vielleicht " ?
Heute schwärme ich noch für Nietzsche .
Ich habe aber eine Ahnung , daß ich nächstens - weniger für ihn schwärmen werde .
7. November .
Nun wäre das schöne Fest bei Timäa auch vorüber .
Traute , für die es Timäa hauptsächlich in Szene gesetzt hatte , war in einem feuerroten Zaubergewand erschienen ; Jobanniskäferchen - ob wirkliche , ob kunstreich imitierte , war nicht zu erkennen - im Haar und am Kleid .
Sie war in der Tat der Mittelpunkt der Gesellschaft und eclipsierte alle anderen Sterne , auch mich , Mutti .
Und Hely , der kein Auge von ihr verwandte !
Liebt er sie doch ?
Vergebens suchte Timäa ihn zu kaptivieren .
Sie war so gewaltsam , von so sprudelnder Lebhaftigkeit , sie riß die Augen allzu weit auf , lachte allzu silbern , und ihre Toilette war allzu gesucht : schwarzer Samt , die weiten Ärmel mit rosa Atlas gefüttert , an einer langen Kette von blitzenden Steinen Fächer von rosa Straußenfedern , und um den tief entblößten Hals eine dunkle Pelzrüsche .
Kunz , der erst nicht kommen wollte , hatte schließlich meinem Drängen nachgegeben , und erschien auf eine Stunde .
Es ist mir behaglich , wenn von den Häuptern meiner Lieben kein teures Haupt fehlt , besonders , wenn es das Haupt eines Anbeters ist .
Borns waren auch da .
Ihn habe ich eigentlich vergessen , sie amüsiert mich .
Er spitzt sich immer mehr auf den Teutonen zu .
Kraftmeierisch streckt er die Brust und die Augen heraus , und ein beginnendes Embonpoint verspricht sich der Wucht seiner Seele anzupassen .
Zu komisch , daß ich den einmal , weil Not am Mann war , beinahe geheiratet hätte .
Timäa hatte sich vorgenommen , daß es ungeheuer flott bei ihr zugehen sollte .
Es kam aber zu keiner rechten Orgie .
Mit verdrießlicher Einförmigkeit trug die Gesellschaft genau den Charakter , wie alle Gesellschaften , die Timäa gibt .
Und wieder bekam ich den Ferlani zum Tischnachbar , eine bei Timäa durch Jahre geheiligte Institution .
Warum ?
Damit man glauben solle , es bestehe ein Verhältnis zwischen mir und ihm , und damit nicht etwa Herr von Helmströme oder ein anderer ihrer Proteges auf mich reinfalle .
Neuerdings ist sie besonders süßgiftig mit mir wegen Hely , den sie auch liebt .
Die Gehrt vertraute mir , neulich wäre Timäa ganz aufgeregt zu ihr gekommen , sie begriffe es nicht , sie könne aufstellen was sie wolle , der Helmströme verliebe sich nicht in sie .
Er könne doch von ihr nicht verlangen , daß sie , wie Traute , Morphium nähme .
Ob sie mich - Sibilla Raphalo - nicht als Nebenbuhlerin fürchte , hatte die Gehrt sie gefragt .
Ach , die habe ja an ihrem Triumphwagen schon doppelt angespannt , den Ferlani und den Kunz .
Der Ferlani übrigens fängt wieder an , mir fürchterlich zu werden .
Bei Timäa wich er nicht von meiner Seite .
Es scheint , daß Kunzes Anbetung die Asche seiner Gefühle wieder angefacht hat .
" Schauderhaft , Sibilla , " sagte er bei Tisch zu mir , " wie Sie sich konservieren .
In jedem neuen Jahr denke ich , nun wird es doch mit der Schönheit bei Ihnen bergab gehen Gott bewahre .
Der reine Phönix !
Immer von neuem jung und schön , immer von neuem einem die ganze Seele fortreißend . "
Ich nahm die Gelegenheit wahr , ihm zu sagen , daß er anfinge , mich ernstlich zu kompromittieren , da er ja doch nun einmal den Ruf eines Don Juans genösse , und ich bäte ihn um ein wenig mehr Zurückhaltung und etwas seltenere Besuche .
Er fühlte sich geschmeichelt und sah ein , daß ich recht hatte .
Merkwürdig , wie sich die Männer immer geschmeichelt fühlen , wenn man sie für sittenlos hält .
Natürlich gilt er gar nicht für einen Don Juan und ist es auch nicht .
Mich aber dem Gerede aussetzen und nichts davon haben , so dumm sind wir nicht .
Nach dem Diener , beim Kaffee , saß ich in einer Gruppe von Damen , zu denen auch Timäa gehörte .
Es ging über Traute her , die im Nebenzimmer , wo der Tanz beginnen sollte , sich von Hely den Kaffee zuckern ließ .
Man wollte bei ihrem blühenden Aussehen nicht an ihr Kranksein glauben .
" Sie hält sich vielleicht schon als materialisierter Geist unter uns auf , " scherzte Ferlani , auf ihren Spiritismus anspielend .
Kunz trat zu unserer Gruppe heran , um sich zu verabschieden .
" Wollen wir nicht desinfizieren ? " sagte Isolde , als er gegangen war , mit einem geschmacklosen Scherz .
Man protestierte .
Ein so bildhübscher blonder Krauskopf , ein junger Herkules !
Schade freilich , daß er sich so encanailliere - -
Ich fühlte , wie mir das Blut in den Kopf stieg , und hätte wahrscheinlich etwas Heftiges geantwortet , wenn sich nicht im nächsten Augenblick die Aufmerksamkeit aller auf ein tanzendes Paar konzentriert hätte :
Hely und Traute .
Sie schienen ein dithyrambisches Liebesduett zu tanzen .
Sie , den Kopf weit hintenüber , das luftige Kleid von ihr fort in den Saal hineinwehend , als wolle sie vor ihm fliehen , er , zu ihr drängend , unwiderstehlich .
Und die Johanniskäferchen in ihrem schwarzen Haar glühten , ihre Augen auch .
Und der Flimmer des roten Gewandes ! alles Licht schien es aufzusaugen ; es war , als flössen Ströme davon an ihr nieder , als prasselte Feuer hinter ihr her .
Ich dachte : wenn sie nur aufhören möchten , er erreicht sie sonst , er ergreift sie , er - -
Und immer schneller spielte der am Flügel , immer schneller wirbelten sie durch den Raum .
Plötzlich geschah etwas unsagbar Trauriges .
Mitten im Tanze neigte Traute das Köpfchen zur Seite , ihre Füße schleiften noch einen Augenblick am Boden , dann sank sie zusammen , nicht gerade ohnmächtig , aber wie von einem Zauberstab berührt .
Die Unglückliche hatte den Schlag der zwölften Stunde überhört .
Glanz und Pracht , die ihr der Zauberer Morphium nur auf Stunden verliehen , erloschen .
Die Prinzessin wurde zum Aschenputtel .
Alt , krank , ganz verfallen , mit verzerrten Zügen , die Augen voll blöden Starrens , hing sie in Helys Armen .
Schmerz , Schreck , fast Entsetzen , Widerwillen drückte sein Gesicht aus , als er sie mit Timäas Beihilfe hinausführte .
12. November . Traute ist tot , liebe Mutter .
Das arme , schöne Weib mußte so jung ins Grab , weil auch sie ein Zwitter- , ein Übergangsgeschöpf am Ausgang des 19. Jahrhunderts war .
Und sie hat nicht einmal wie ich das Rauschen des Windes gehört , der der Morgenröte vorangeht .
All ihr Seelenreichtum schoß ins Geschlechtsleben und zerstörte sie .
Am Tage nach dem Fest bei Timäa erhielt ich ein Billet von Hely : Traute würde die Nacht nicht überleben , ich möchte kommen .
Ich fand sie im Bett .
Das Zimmer raffiniert arrangiert .
Betten , Toilette , die Decke , sie selbst , alles in blendend weißer Seide , ihre nackten , mageren Arme kaum bis zum Ellenbogen leicht von weißen Spitzen verhüllt .
Alles weiß , nur sie nicht .
Gelblich war ihr Gesicht und faltig , trocken , verfallen .
Unheimlich groß und leuchtend die Augen .
Aus einer blitzenden Metallschale neben dem Bett stiegen leichte Dämpfe .
Räucherwerk verbrannte darin .
Ob es Weihrauch vorstellen sollte ?
" Traute ist tot ! " kreischte mir der Papagei entgegen .
Sie machte eine Gebärde , ich sollte den Vogel bedecken .
Ich tat so .
" Ich mag den Papagei nicht mehr , " sagte sie mit einem gebrochenen , zitternden Stimmchen , " verschaffe mir doch einen Raben , Sibilla , einen schwarzen , melancholischen Raben .
Nevermore soll er krächzen , immerfort nevermore , wie in den Böschen Gedicht .
Ja , nevermore , Sibilla , nevermore !
Kein Morphium hilft mehr .
Es wird Ernst ! "
Sie schwieg vor Erschöpfung .
Ich nahm ihre kalten Hände in die meinen und sprach Tröstliches zu ihr .
Sie hörte mir offenbar nicht zu .
" Ich habe ihn fortgeschickt , " hob sie von neuem an .
" Er war den ganzen Tag bei mir .
Er soll mir Orangenblüten holen .
Ich liebe sie so . "
Ihre Stimme sank zu einem geheimnisvollen Wispern herab :
" Ich lasse ihn nicht - nie , ich komme wieder . "
Und mit einem irren , zuckenden Lächeln fügte sie hinzu : " Ich lade ihn zum après ein , zum après - nach dem Diesseits . "
Hely trat ein .
Er hielt die Orangenblüten in der Hand .
Das ganze Zimmer durchdufteten sie hochzeitlich , mit berauschender Süße .
Trautes Nasenflügel zitterten , blähten sich , die Lippen öffneten sich .
Sie sog den Duft in sich , tief , langsam .
Plötzlich richtete sie sich im Bett hoch auf , streckte die Arme empor , und aufflammend , mit starker Stimme , rief sie :
" Richtet mir Scheite - - "
Sie sank gleich wieder in die Kissen zurück , den Kopf hintenüber .
Sie streckte die Hand nach den Blumen aus , einen Augenblick noch zitterte die Hand in der Luft .
Dann war es aus .
Ohne einen Seufzer war sie erloschen .
Hely legte die Orangenblüten auf ihre Brust .
Dann faltete er die Hände .
Er betete .
Im Tode war sie wieder schön und jung ; weiß wie ein Marmorbild lag sie da in dem weißen Zimmer unter den Orangenblüten , von leisen Dämpfen umwallt .
Mir war , als hörte ich den säuselnden Flügelschlag des Todesengels .
Ich mußte an die Böcklinsche Toteninsel denken , an die erhabene , hellenisierte Romantik dieses Bildes .
" Traute ist tot ! " kreischte der Papagei .
Entsetzenerregend klangen die wilden und doch gedämpften Laute unter dem Tuch hervor .
Ja , die süße Traute , sie hatte die Flügel eines Engels und den Schnabel eines Papageien .
Ich hätte nicht wie Hely beten können in dieser Atmosphäre von Mystik , Rausch und Orangenblüten , diesem Tode gegenüber , der sich wie eine Vorbereitung der Hochzeit ausnahm .
Wir legten unsere Hände auf Trautes erkaltende Hände .
Wir blickten uns lange ernst und traurig in die Augen .
15. November . Eben kommt Dein Brief , Mutti .
Mutti , Geliebte , warum betrübst Du mich so mit diesem neuen Ischiasanfall .
Ich muß selbst nachsehen .
Spätestens übermorgen bin ich bei Dir !
Und nicht nur um Deinetwillen , auch um meinetwillen komme ich .
Trautes Tod hat alles Widerspruchsvolle in mir aufgewühlt .
Zwischen Leidenschaft und kühler Reflektion werde ich hin- und hergezerrt .
Heute möchte ich unter Zypressen Grabschriften enträtseln , morgen rosenbekränzt festlich schwelgen , übermorgen mit Göttern anbinden .
Mutti , ich kann das Leben nicht ernsthaft nehmen , ich kann es nicht , und ich begreife oft nicht , wie andere es können .
Von tiefem , schicksalsvollem Ernst erscheint mir nichts als allein der Tod .
Ob ich zum Stamme der Nietzsche gehöre , welche wahnsinnig werden , wenn sie denken ?
Ich wundere mich zuweilen , daß nicht alle , alle die denken dazu gehören , denn am Ende alles Denkens steht ein ungeheures Fragezeichen .
Und die Antwort ?
Eisiges Schweigen oder das traurige Lächeln der Resignation .
So werden ja wohl meine Gefühle für Hely auch nicht seriös sein .
O Hely !
O Kunz !
O Vernunft !
O Antivernunft , die man gewöhnlich Herz nennt .
Ob ich einen oder keinen von beiden liebe , bei Dir , Mutti , wird es in mir Tagen .
Auf Wiedersehen übermorgen , geliebteste aller Mütter .
Deine Sibilla . 3. Januar . Liebe Mutter , es hat nicht in mir getagt .
Ein schwankes Rohr kam ich zu Dir , ein schwankendes Rohr bin ich zurückgekommen .
Kunz sah ich zuerst .
Er holte mich von der Bahn ab , denke Dir , ohne Wagen .
Wie ich dann aber Arm in Arm mit ihm durch die dunklen Straßen dahinschritt , fühlte ich mich so warm , so sicher geborgen , und seine Herzinnigkeit erleichterte mir den Übergang von der Heimat , die immer und einzig nur bei Dir sein wird , zurück in die fremde Stadt , zurück nach München .
Am anderen Tage trafen sie beide bei mir zusammen .
Peinliche Situation .
Meistens lasse ich mich jetzt , wenn Kunz bei mir ist , vor Hely , und wenn Hely bei mir ist , vor Kunz verleugnen .
Immer läßt es sich nicht tun .
Hely spricht nie über Kunz , Kunz aber über Hely ; er mißbilligt ihn vom Scheitel bis zur Sohle .
Ich werfe ihm seine Ungerechtigkeit vor .
Man müsse sich den Menschen immer erst auf das Milieu hin ansehen , dem er entstammt ist .
Und wenn einer in Livland aufgewachsen ist , wo die paar Tausend Deutsche zugleich Kultur und Bildung repräsentieren , so ist sein Aristokratismus zu verstehen .
Vorgestern in meinem Salon lebhafte sozialpolitische Diskussion .
Unter anderem war vom Recht auf Arbeit die Rede .
Hely stellte die Frage : " Ist Arbeit für alle zu beschaffen ? nein . "
Und Kunz : " Ist es möglich zu leben , ohne zu arbeiten ? nein ! mit Ausnahme der meisten der hier anwesenden Damen natürlich . "
Man lachte über - den guten Witz .
" Verneint man also diese beiden Fragen , so bleibt nichts übrig , als klipp und klar zu erklären :
Es ist ein Naturgesetz , daß , wie im kalten Winter die Sperlinge von den Dächern fallen , alljährlich so und so viel Menschen verhungern und erfrieren , oder stehlen und morden , um dieser unangenehmen Eventualität zu entgehen .
Wären die Menschen aufrichtig , so würden die meisten dieses Naturgesetz bejahen .
Wer aber dieses Naturgesetz nicht anerkennt , muß mit absoluter Notwendigkeit eine neue Welt- und Gesellschaftsordnung anstreben . "
" Aber sagen Sie , meine Herrschaften , " unterbrach hier Benno den Ernst der Diskussion , " was geht uns denn eigentlich die Zukunft an , da sind wir doch nicht mehr . "
Man lachte und war im Begriff , zu einem anderen Thema überzugehen , als Ferlani , um Kunz noch eins zu versetzen , sich erlaubte , zwischen den Heiligenscheinen der sozialistischen Drachentöter , die anstatt einem Drachen doch nur einem wehrlosen , wenn auch goldenen Kalbe zu Leibe gingen , und einer Narrenkappe einige Ähnlichkeit zu finden .
Darob nun ergrimmte mein heiliger Georg und tat einige ziemlich unverblümte Äußerungen über Narren , die überall nur Närrisches sähen .
Ferlani replizierte , er wisse , daß der sehr geehrte Herr nur allgemeine Weisheit verzapfe und nähme an , daß er dieselbe nicht auf einen einzelnen angewendet wissen wolle .
Es wurde noch einiges hin- und hergemurmelt , was wir anderen nicht verstanden , und wobei das halb verbindliche Lächeln Ferlanis dem einigermaßen blutdürstigen Ausdruck widersprach , den sein verquerblickendes Auge auf den neben Kunz stehenden unschuldigen Stuhl schleuderte .
Plötzlich sagte Kunz laut : " Aha , ein Duell !
Ich denke , niemand wird wagen , mir die Roheit eines Duells zuzumuten . "
" O weh , Herr Kunz , " rief Isoldchen entsetzt , " wenn Sie ein Duell ausschlügen , könnten wir Sie ja niemals mehr empfangen . "
Herr Gott , Mutti , ich sah , daß eine vernichtende Antwort auf seinen Lippen schwebte .
Schnell sprang ich in die Bresche und schlug mit anmutiger Heiterkeit vor , die Duellfrage doch einmal objektiv in aller Ruhe zu erörtern .
Ich hatte nicht mit Hely gerechnet .
Eine Duellfrage gäbe es nicht , sagte er hochfahrend , sie könne also auch nicht erörtert werden .
Die durch Jahrhunderte geheiligte Institution des Duells im Dienst der Ehre sei ebenso selbstverständlich wie unantastbar .
Und Kunz : " Für mich sind Ehre und Totschlag , ob erlaubter oder unerlaubter , unversöhnliche Gegensätze .
Viele teilen ja ihre Ansicht , Herr v. Helmströme .
Mögen diese vielen sich doch untereinander totschlagen . "
Er ging und überließ der abfälligsten Kritik über ihn das weiteste Feld , und - und - Mutti , bete für das Heil meiner Seele , vielmehr Unseele , ich stimmte ein ganz , ganz klein wenig mit ein .
Ich sehe es so gern , wenn Helys ruhigblickende Augen aufleuchten .
Und sie leuchteten auf .
Miserabel von mir .
Schäme Dich Deiner Tochter , aber laß Dich von ihr zärtlich umarmen .
20. Januar .
Was ich gestern schrieb , der Verrat an Kunz hat an mir genagt .
Heute , während ich am Opheliabach einsam wandelte , habe ich Zwiesprache mit mir gehalten .
Schön war um mich her die Winterlandschaft .
Weißer Schnee und rote Sonne .
Glut und Reinheit gepaart .
Eine nordische Rhapsodie .
Auf einem Hintergrund mit Goldgrund malt man mit Vorliebe Engel und Heilige .
Aus diesem Gold-und Feuergrund der Natur blühten mir reinste Triebe und Vorstellungen .
Ja , in der Schönheit der Natur steckt die tiefste , erweckungsvollste Moral .
Sie ist ein Spiegel , in dem man seine eigene Häßlichkeit sieht .
Und das Resultat meiner seelischen Aufrappelung ?
Ja , ich wollte meine Unehe mit Benno lösen .
Ich wollte Kunzes Weib werden .
Ich wollte gut sein , vernünftig sein , Adelsmensch werden , mich vom sittlichen Pöbel lossagen , abtun die Sklaverei üppiger Gewohnheiten .
Und ich wollte ihn auch lieben ! ihn !
Kunz , nicht Hely .
Ich will_es ! ich will_es ! weil ich es will .
Ich liebe seine Gedanken , seine Gesinnung , seine Seele liebe ich .
Er ist der Mann , dem ich die Hände küssen möchte ; und die Lippen nicht ?
Himmlische und irdische Liebe , gehören sie nicht untrennbar zusammen ?
Steht nicht fest .
Ich trug die schöne Erregung von meinem Spaziergang mit heim .
Der golden rote Schimmer der untergegangenen Sonne hauchte eine sanfte Glorie über meinen Salon .
Eine seltsame , nie gesehene , vielfach gefüllte riesige Sonnenblume , schön wie ein Reflex der Sonne , stand auf meinem Schreibtisch im bronzenen Kübel .
Nur von ihm , von Kunz konnte sie kommen , diese goldenklare , duftlose , herrliche Blume .
Und goldenklar wurde es auch in mir , sonnig , rein .
Ja , ich wollte mein Leben mit dem seinen verknüpfen , ich wollte mich ihm hinschenken wie eine Christbescherung .
Wie das Christkind die arme Hütte , in die es tritt , mit Glanz erfüllt , so wollte ich sein Leben verklären .
Im voraus genoß ich sein Entzücken über das , was , wie ein wenig malgre moi , mein zweites und doch wohl besseres Ich für ihn tun wollte .
Es war zur Vesperzeit .
Die Abendglocken läuteten .
Er kam .
Ich legte meine beiden Hände um seinen Arm .
Ich schmiegte mich an ihn und sagte : " Kunz , lieber Kunz . "
Er verstand gleich .
Er preßte seine eine Hand fest auf die Brust , wie um das Herz darin festzuhalten .
" Ich wußte ja , Sibilla , daß Du mich lieben würdest ( so ganz genau konnte er es nun eigentlich nicht wissen ) , ich wußte ja , daß Du - - "
Er sprach wie im Rausch , abgebrochen , stammelnd , ein bißchen schwäbelnd , wie immer .
Mittagsglut war in seinen Worten .
Ach ach , Mutti , er sprach zu laut , zu laut !
Es klang wie ein Jauchzer .
Er war zu groß , zu groß , er war zu stark , zu stark .
Und er atmete so laut .
Und meine Gedanken schweiften hin zu einem anderen , zu seiner ernsten , leisen Anmut .
Wehe , Mutter , wehe !
Wir können , können nicht aus unserer Haut heraus .
Es war vorüber , die Glocken verklungen , der letzte Sonnenschimmer versunken .
Nur eine Träne in meiner Wimper zeugte von verschwundener Herzenspracht .
" Wie schön ist Deine Sonnenblume , " sagte ich , mich zu ihm zurückzwingend .
Mutti , sie war gar nicht von ihm .
Er zog mich fest an seine Brust .
Es rann etwas durch meine Glieder , was keine Ahnlichkeit mit hingebendem Entzücken hatte .
Mit einem unwillkürlichen Impuls der Abwehr machte ich mich hastig von ihm los und entzündete sämtliche elektrische Flammen .
Die Sonnenblume kam von Hely .
Kunz starrte mich an , fast entsetzt .
Er hatte verstanden .
Ehe wir noch ein weiteres Wort wechseln konnten , trat Jolante ein .
Sie sah , daß etwas geschehen , daß Kunz fassungslos war .
Mit sicherem Takt sprach sie sofort von einem seiner Aufsätze in der letzten Journalnummer , indem sie fein und verständnisvoll auf seine Ideen einging .
Daß sie ihm so wohltat , wohltun wollte , irritierte mich .
Es fiel mir ein , daß Jolante sich schon seit einiger Zeit anders kleidete als früher .
Sie trug jetzt immer ein Kleid von schwarzem Halbsammet , mit einem breiten , pelzbesetzten Kragen , der ihre Mißbildung fast völlig versteckte .
Ihr blondes , reiches Haar , das sie sonst einfach von den Schläfen zurückstrich , umrahmte neuerdings in zwei tiefen Scheiteln das durchsichtig klare Gesicht .
So sah sie beinahe schön aus .
" Das schwarze Kleid steht Dir ja wundervoll .
Für wen hast Du Dich denn so schön geschmückt ? "
Ich sagte das mit einem schalkhaften Seitenblick auf Kunz .
Hätte ich die Wirkung meiner Worte ahnen können , ich würde sie nie gesprochen haben .
Ich bin überzeugt , daß Jolante sich erst von diesem Augenblicke an ihrer Liebe für Kunz bewußt wurde .
Bis in den Nacken wurde sie mit dunkler Röte übergossen .
Ihre Verwirrung war grenzenlos .
Hastig strich sie sich das Haar aus der Stirn und warf den Kragen von sich .
Es wäre so heiß im Zimmer , und sie wendete ihren Rücken nach der Seite hin , wo Kunz stand , durch ein absichtliches Einziehen des Kopfes zwischen die Schultern den Eindruck des Verwachsenseins verstärkend .
Dann sagte sie mit harter Stimme :
" Eine Gans bin ich . "
Ich umarmte sie zärtlich , bat sie wegen meiner blöden Neckerei um Verzeihung .
Kunz hatte alles verstanden , auch warum sie den Kragen fallen ließ .
Er beweist ihr von diesem Tage an eine fast zärtliche Sympathie .
Auch sie ist anders geworden , zurückhaltender , stiller ; ich fühle aber , wie sie , ohne ihn anzusehen , jedes seiner Worte in sich saugt .
Nie mehr kommt ein derber Ausdruck über ihre Lippen .
Sie trägt seitdem weder Schal noch Kragen .
Sie selbst will keinen Augenblick vergessen , daß sie verwachsen ist , und auch kein anderer soll es .
Die Sonnenblume kam von Hely .
1. Februar . Heute hatte ich Kopfschmerzen , Herzklopfen , ich weiß nicht , was sonst noch alles .
Verdrießlich war ich , grundverdrießlich .
Bennos beste Anekdote beim Frühstück entlockte mir nicht das leiseste Lächeln .
Ein greuliches Matschwetter noch dazu , und die Jungfer war beim Ankleiden in einer Weise ungeschickt - überhaupt ich hasse diese Jungfer , natürlich nur , wenn ich sie sehe , sonst denke ich gar nicht an sie - ein nervöser Haß .
Und schelten kann ich sie nicht , sonst kündigt sie gleich , und ich kann sie nicht entbehren .
Unsere anderen Leute mag ich auch nicht , bis auf die Anna , das zweite Hausmädchen , gegen die fühle ich ein förmliches Wohlwollen , weil ich mich getraue , sie zu schelten .
So komisch ist man .
Und da sie mir gerade in den Weg kam , schalt ich sie wirklich .
Es wäre nicht gerade nötig gewesen , daß Kunz dazu kam .
" Siehst Du , Kunz , so bin ich . "
" So bist Du , wenn Du nicht Du bist . "
Er sah mich dabei gräßlich ernsthaft an , so überhebend , tugendstolz .
Das reizte mich .
Er solle sich nur nicht wieder in eine Toga hüllen , er käme mir darin weniger griechisch als spanisch var , und ich fände , er habe gar kein Recht zu dieser Toga , aber gar keins. Z.B. liebe er ohne jeden ethischen Beigeschmack eine Frau einfach , weil sie hübsch sei .
Heuchlerisch aber puffe er diese Frau , die mit ihren Dienstboten zanke , zu einem Ideal , einer Heiligen auf , um seine Anbetung vor sich selber zu rechtfertigen .
Sie wäre keine gewöhnliche hübsche Frau .
Alle Elemente zu einem Ideal wären vorhanden , nur ein böser Zauber hielte das Dornröschen in einen lethargischen Schlaf versenkt .
Er wolle es wecken .
" Aha ? wohl mit einem Kuß , mein Prinz ? "
" Erst die Erlösung und dann der Kuß , " antwortete er ernsthaft .
" Ich denke gar nicht daran , in Dir nur das schöne Weib zu lieben .
Zuerst und vor allem liebe ich im Weibe den Menschen . "
" So liebe doch Jolante . "
Gleich griff er wieder nach dem grauen Filz .
Und der Regen klatschte in der beginnenden Dämmerung gegen die Fenster , und das Feuer im Kamin war ausgegangen , und bei dreizehn Grad Wärme im Salon wird man ungütig .
Eine grausame Neugierde überkam mich , seine Liebe auf die Probe zu stellen .
" Bleibe , Kunz , ich habe Dir etwas zu sagen .
Stelle Dir vor , ich ließe mich einmal von einem großen Zorn fortreißen und täte etwas Abscheuliches , etwas - - " es fiel mir nicht gleich etwas Abscheuliches ein , und ehe ich mich besinnen konnte , sagte er :
" Ich würde Dich trotzdem lieben . "
" Sage , Kunz , bist Du wirklich ein völlig freier Geist , frei von der Meinung der anderen , frei von eigener Selbstsucht , ein Mensch , der es versteht , Gemüts- und Geistesprozesse bis in ihre Wurzel zu verfolgen ? "
" Ich glaube es . "
" Und Du liebst mich ? "
" Das weißt Du . "
" Trotzdem ich verheiratet bin ? "
" Du bist es nicht in meinem Sinn . "
" Trotzdem ich Kinder von ihm hatte ? "
" Trotzdem .
Es schmerzt mich , daß Du eines ungeliebten Mannes Weib warst .
Aber Du warst keine Schuldige , ein Zeitopfer warst Du .
Was Du tatest , Du tatest es den anderen nach . "
Eine Pause .
Ich sah ihm fest in die Augen .
" Kunz , ich habe Hely Helmströme geliebt , leidenschaftlich geliebt . "
Sein Auge umflorte sich .
" Sagst Du wieder : trotzdem ? "
" Trotzdem . "
Es klang gepreßt .
" Kunz , er wollte mich nicht zum Weibe .
Ich war seine Geliebte . "
Er wurde blaß wie der Tod .
Er wandte sich fort von mir .
Er trat ans Fenster .
Er öffnete es schnell , als fürchte er zu ersticken .
Mit gespannter Neugierde verfolgte ich jede seiner Bewegungen .
Ein krampfhaftes Zucken ging durch seinen Körper .
Sein Gesicht sah ich nicht .
Plötzlich bedeckte er es mit der Hand .
Sein Kopf sank auf die Brust .
Er weinte .
" Hansel !
Mein lieber Hansel . "
Er wandte sich nach mir um .
So stark und wild sah er aus mit den feuchtfunkelnden Augen , daß ich mich einen Augenblick vor ihm fürchtete .
Er wollte etwas sagen .
Es überwältigte ihn , er stammelte nur .
" Wie konntest Du - konntest Du ! -
Eine Welt trennt Euch ja - meine - meine Sibilla ! -
Es zerreißt mein Herz - Dein Wahn - - mir gehörst Du von Natur und Rechtswegen , nur mir , mir allein . "
Und mit einer jähen Bewegung riß er mich an sich , als wollte er mich ersticken und bedeckte mich mit wilden Küssen .
Ich stieß ihn zurück .
Daß er gleich den Lohn für seinen Pardon wollte , erkältete mich bis ins Mark .
" Es ist nicht wahr , was ich Dir gesagt habe , nie bin ich Helmstroms Geliebte gewesen .
Es war eine Prüfung , Du hast sie nur halb bestanden . "
Er zweifelte keinen Augenblick an der Wahrheit meiner Worte .
" Eine große , verhängnisvolle Inkonsequenz , daß ich Dich liebe , Du Wilde , Unfruchtbare , Unberechenbare . "
Er stieß die Worte hart und zornig heraus .
" Kannst Du den Fehler der Inkonsequenz nicht wieder gut machen ? "
" Ja .
Von dem Augenblick an , wo ich Dich nicht mehr lieben will , werde ich Dich nicht mehr lieben . "
Willst Du wissen , Mutti , was für ein Ungeheuer Du geboren ?
Daß ich nervös , kapriziös , bezaubernd , abstoßend , Vampir , Sphinx u. s.w. bin , versteht sich eigentlich bei einer Weltdame von selbst .
Ich bin von einer feinen , heimlich lauernden , grausamen Neugierde , kapabel , das Herz eines Menschen zu martern , aus Neugierde , was dabei heraus kommen wird .
Ein unberechenbares Weib bin ich , von absoluter Nüchternheit und zugleich mit dem Wunderbaren , und über allem Unausgeglichenen der Stern meiner vernunftraubenden Schönheit .
Das sagte Kunz , und - fort war er .
Ach , Mutti , er kommt ja doch wieder .
Sie kommen immer wieder , die Männchen zu den Weibchen .
Pfui !
Hat er sich nicht recht gewöhnlich benommen , meiner Neugierde ganz unwert ?
Entweder mußte er klar und ruhig bleiben und sagen :
Über Dein Liebesleben hast nur Du zu richten , nur Du allein , nicht ich .
Ich liebe Dich , weil Du Sibilla bist .
Oder er mußte mit einer großen Gebärde den Staub von seinen Füßen schütteln und von mir gehen - düster krächzend : Nevermore .
Aber der besten einer ist er doch .
Und ich möchte ihn ja auch so gern lieben .
Ich kann es nicht , wenigstens in einem Sinn kann ich es nicht .
Ist denn das nötig ?
Sollen und müssen denn die sinnlichen Beziehungen die Quintessenz der Ehe sein ?
Wäre eine Ehe nicht denkbar mit Ausschluß der Sinnlichkeit ?
Es würde doch nur ein Element der Liebe fehlen und zwar ein untergeordnetes .
Alle anderen wären da .
In so vielen Ehen ist es umgekehrt , nur das eine , niedere Element ist vorhanden , und alle anderen fehlen .
Aber das Kind ! ja das Kind !
5. Februar .
Bei Hautbois eine außerordentlich distinguierte Gesellschaft .
Alles , was nur ein bißchen was ist , war vorhanden , vom Clown an bis zur Prinzessin von Geblüt .
Die vom Hof drückten auf die Produktionen der Clowns , indem ihre Gegenwart sie auf ein zu hohes Niveau schraubte .
Feine Clowns - ein Unding .
Auch Publikum und hoher Adel wagten nicht so herauszuprusten und zu applaudieren , wie es die Gelegenheit erforderte .
Erst als mit den Clowns die Prinzessinnen abtraten , wurde es animiert , so animiert , daß Eva Broddin auf allgemeines Verlangen zum Schluß einen japanischen Tanz aufführte , was keine Schwierigkeit bot , da die Marquise ein japanisches Kostüm besaß .
Eva singt wie eine Diva .
Warum sang sie nicht lieber ?
Etwa , weil Hely den Tanz über alles liebt ? ein Geschmack , der mir bei ihm immer unerklärlich gewesen ist .
Und sie tanzte , tanzte verführerisch , hinreißend .
Ihr blinkender , blitzender Fächer tanzte mit , die goldene Schlange um ihren Arm tanzte , ihr Gewand ringelte sich schmeichelnd , schmiegend um ihre biegsam schlanken Glieder , die kleinen funkelnden Dolche im Haar warfen tanzend Funken auf ihr schwarzes Gelock .
Sie war die Inkarnation der Grazie , mit einem Stich ins Bajaderenhafte .
Und daß sie so vor Hely tanzte !
Er stand in einer Fensternische .
Ich konnte seine Züge nicht sehen , ich fühlte aber , daß seine Blicke an ihr hingen .
Hatte er Traute schon vergessen ?
Mußte ihn dieser Tanz nicht an Traute's letzten Tanz bei Timäa erinnern ?
Kaum vier Monat war sie tot .
Eine sonderbare Melancholie überkam mich .
Ich glaube nicht an Ahnungen , sonst würde ich glauben , daß dieser Tanz mit meinem Schicksal zusammenhängen wird .
Eine Zeit lang saß ich grübelnd und fast vereinsamt auf einem Fauteuil .
Jemand stellte sich hinter mich .
Ferlani war_es , nur Ferlani .
Er flüsterte mir seine alte und immer neue Anbetung ins Ohr .
" Vieux jeu , vieux jeu , lieber Ferlani , " sagte ich , ihm abwinkend , mit einem Blick auf die so reizend tanzende Eva .
Ich wäre ein Unikum , antwortete er , bald Lotosblume , süßen Geheimnisses voll , bald Chrysantheme , duftlos , wild zerfahren , aber perfid lockend .
- Überhaupt sei er endlich dahinter gekommen , daß ich ein durchtriebener Racker sei , wie aus einem Gipschen Roman entsprungen , wurmstichig etc .
" Ja ja , " nickte ich müde .
Ach Mutti , ich habe Stunden , wo ich keiner Blume gleiche , wo mir der Spiegel ein herbes , unzufriedenes verblühtes Gesicht zeigt , mit scharfen Linien und schmalen blassen Lippen .
Das kommt davon , wenn man die teuersten Spiegel kauft .
Das sind die schärfsten und gröbsten .
Kunz ist für mich auch ein solcher Spiegel .
Ach überhaupt - - gute Nacht , Einzige .
Ich habe noch etwas vergessen :
Am Tage nach dem japanischen Tanz ist Eva mit ihrer Tante , die sich von einer nur halb überstandenen Influenza nicht erholen kann , nach Baden-Baden abgereist .
10. Februar .
War nicht in meinem letzten Brief etwas von verhaltener wüster Eifersucht ?
Mutti , ich wollte nicht daran glauben , durchaus nicht .
Es ist doch ! doch !
Mein Herz ist krank .
Ich liebe ihn .
Ich liebe Hely .
Heißt das , wir sind eins im Denken und Fühlen ?
Gott bewahre .
Es heißt , wenn er in meine Nähe kommt , wenn er mein Kleid streift , erbebe ich vom Scheitel bis zur Sohle in schmerzlicher Wonne .
Alles , was philosophisch in mir ist , rufe ich zum Beistand in mir auf in meiner Herzensnot , und ich monologisiere : Sibilla , besinne Dich , es ist ja reiner Zufall , daß Du gerade diesen liebst .
Es hätte ebenso gut ein anderer sein können , wenn Dir einmal das Liebenmüssen im Blut liegt .
Wäre er in Rußland geblieben , und Du hättest ihn nie gesehen , Du wärst in Dir nicht reicher , nicht ärmer , nicht froher , nicht trauriger geworden .
So wäre jede Neigung Zufall ?
Nein , die Liebe nicht , die zwei Gleichgesinnte zu gemeinsamem , idealem Tun vereint .
Liebtest Du Kunz , das wäre kein Zufall , das wäre göttliche Bestimmung .
Und warum erfüllst Du sie nicht ?
Frage die Götter .
Das Geheimnis der Liebe ! ein psychologisches oder physiologisches ? es wird wohl ein psycho-physiologisches sein , das zu enträtseln unsere Zeit nicht reif ist .
Etwa ein auf die Veredelung der menschlichen Rasse abzielendes Geheimnis ?
Kaum .
Denn dann müßte ich erst recht Kunz lieben , den jungen Herkules mit den leuchtenden blauen Augen und dem schönen blonden Krauskopf .
Man sollte nur mit Seinesgleichen reden , sagte Kunz .
Aber auch nur Seinesgleichen lieben ?
" Liebe ist , wenn man nicht weiß warum , " eine Äußerung Ferlani's .
Hat er recht ?
Meine Vernunft , meine Intelligenz leben in den radikalen Anschauungen , die der Zukunft gehören , mein Geschmack und meine Gewohnheiten wurzeln im " Zeitalter des Kapitalismus , " um mit Kunz zu reden .
Wie ? und etwas so Inferiores wie Geschmack entscheidet über mein Herzens- und Liebesleben ?
Warum habe ich zuweilen den vagen Eindruck , als stände Hely und auch andere über Kunz Albert ? weil sie besser sitzende Röcke und das Parfüm des Salons an sich tragen , und weil sie keinen schwäbischen Dialekt sprechen , und die Herrenhaltung derer haben , die in morschen Sarkophagen längst vermoderte Ahnen besitzen ?
Sehe ich , höre ich , urteile ich wie der übrige Salonpöbel ?
Nein , ich urteile nicht so , ich denke nicht so , aber in faulen Stunden , und ich habe viele solcher Stunden , denke und urteile ich überhaupt nicht , und neige dann zu dem Glauben , daß ein Mensch , der zu enge oder zu weite Beinkleider trägt , kein edles Gemüt haben kann .
Mein feiner , feiner Geruchssinn wird schon durch die Seife affiziert , mit der Kunz sich wäscht , meine Augen durch seinen ewigen grauen Filz , mein Gehör dadurch , daß er zu laut spricht .
Hely ist nicht Geist von meinem Geist , nicht Herz von meinem Herzen .
Wir haben nicht einen gemeinsamen Gedanken .
Was er denkt , ist für mich antiquiert , beinahe lächerlich .
Und doch - ich liebe ihn , weil er es ist .
All meine Reflexionen entfernen mich von ihm .
Und doch - ehe ich mich_es versehe , reißen meine Gedanken , die ich im Zügel zu haben glaubte , aus , und laufen ihm nach , wie Hündchen ihrem Herrn .
Ich kann rufen , locken , drohen , sie kommen nicht zurück .
Er erfüllt mich , ich sehe ihn , ich höre ihn , ich warte den ganzen Tag auf ihn , ich hasse alle , die eintreten und die nicht er sind .
Wenn er im Gruß leicht meine Hand berührt , vibrieren meine Nerven , und ich leide , leide , daß ich ihm nicht um den Hals fallen darf .
Ich verschmachte nach ihm .
Sie ist da , Mutti , die große , einzige , leidenschaftliche Liebe .
Phänomenal diese Seelenstimmung ? unerklärlich ?
Ich versuche ja ihr auf den Grund zu kommen .
Ob der Grund schlammig ist ?
ein unlauteres , auf Sinnlichkeit gestelltes Gefühl ?
Nein , nein !
Ich will arm mit ihm sein , mit schwarzen Messern und Gabeln will ich essen , alle meine Toiletten hingeben , sogar das pfirsichfarbene , goldgestickte Samtgewand .
Wäre er krank , ich wiche nicht von seinem Lager .
Stürbe er - eisige Schauer schütteln mich bei der Vorstellung .
Ich fühle die zarteste , herzinnigste Wonne , wenn er nur neben mir hergeht oder in Gesellschaft mir gegenübersitzt .
Äußert sich so Sinnlichkeit ?
Nein , es ist eine romantisch sublime Erotik mit zartem Geflimmer , mystischem Meeresleuchten , " himmelhochjauchzend , zum Tode betrübt " , mit einem Worte :
Liebe. 20. Februar . Oft schon , meine Mutter , hast Du meine Seele , vielleicht mit innerem Erbeben , nackt geschaut .
Auch heute - ich schreibe diesen Brief ( wenn ich ihn auch hinterher mit Pech und Schwefel vernichten sollte ) als eine Beichte .
Katholische Frauen vertrauen fremden Männern , den Priestern , ihr geheimstes Denken und Fühlen an , und man findet es in der Ordnung .
Du bist mein Priester , geliebte Mutter !
Und denke nur nicht , daß die Bußen , die Du mir auferlegst , zu milde sind .
Durch die milden Worte hindurch sehe ich Deine Tränen , die fallen auf mein Herz . Habe nur Geduld , ich bessere mich auch gewiß noch , wenn Gott mich lange genug am Leben erhält .
Ein düsterer , nebliger Tag war_es , noch düsterer und nebliger der Abend .
Wir waren in die Meistersänger gefahren .
Als wir aus dem Opernhaus traten , hatte sich der Nebel unheimlich verdichtet .
Die wenigen Wagen , die auf dem Platz hielten , weigerten sich zu fahren , etwas noch nicht Dagewesenes .
In der Tat war dieser Nebel für München phänomenal .
Anfangs sahen wir noch den Weg vor unseren Füßen , je weiter wir aber kamen , je undurchdringlicher wurde der Nebel .
Allmählich erlosch der Schein der Laternen .
Eine dichte , graue Mauer umschloß uns .
Das Licht verlor die Kraft , sie zu durchdringen .
Wir wußten nicht mehr , wo wir waren .
Benno wurde ängstlich .
Er meinte , wir könnten kaum fünf Minuten von unserem Hause entfernt sein .
Er wollte das Feld rekognoszieren .
Ich sollte auf der Stelle , wo ich mich befand , stehen bleiben .
Er verschwand .
Einen Augenblick noch hörte ich seine Stimme :
" Hierher , hierher ! "
Ich wollte zu ihm , muß aber wohl die entgegengesetzte Richtung genommen haben .
Seine Stimme war verhallt .
Ich rief , rief !
Keine Antwort .
Eine rasende Angst packte mich , ich würde nicht nach Hause finden .
Und dann eine andere Vorstellung , eine noch schrecklichere :
Wenn jetzt plötzlich ein Strolch oder auch nur ein Betrunkener mit mir zusammenstieße .
Eiseskälte rann durch meine Glieder , mein Haar sträubte sich .
Und da - von fern Schritte , sie kamen näher , immer näher .
Mein Herz stand still .
Ich mallte irgendwohin laufen , selbst auf die Gefahr hin , mir den Kopf an einer Mauer zu zerschellen .
Ich konnte nicht .
Die Angst hatte mich gelähmt .
So muß einem zu Mute sein , der gefesselt sich einer wilden Bestie preisgegeben sieht .
Die wilde Bestie aber trällerte , und noch dazu die Melodie aus der Walküre :
" Winterstürme wichen " u. s.w. , und noch dazu kannte ich die Stimme .
Ein Jubelruf meinerseits : " Hely !
Hely ! "
Einen Augenblick später lag ich an seiner Brust .
Meine Nerven waren bis zum Zerspringen gespannt .
Ein zitterndes Schluchzen stieg mir in die Kehle .
Er beruhigte mich mit den zärtlichsten Worten , er preßte meinen Kopf an seine Brust , und dann - -
Es wurde Licht !
Es wurde Licht !
Seine Küsse , ich trank sie wie eine Verschmachtende .
Wir zwei allein in dieser grauen Wüste .
Die Welt versank .
Er war eben auf dem Wege zu unserem Hause gewesen .
Vor dem Opernhaus hatte er uns gesucht , und da er uns dort nicht mehr angetroffen , sich versichern wollen , ob wir bei dem phänomenalen Nebel heimgefunden .
Wir befänden uns seiner Wohnung gegenüber .
Er besitze eine kunstvoll konstruierte Laterne .
Ohne diese Laterne getraue er sich nicht , mich nach Hause zu führen .
Allein könne er mich nicht lassen .
Ich müßte mit zu ihm hinauf .
Er wartete meine Antwort nicht ab .
Fest schlang er seinen Arm um mich und zog mich fort .
Ich sah , daß die Nebel anfingen sich ein wenig zu lösen .
Ob er es auch sah ?
Ich schloß die Augen .
Ich stand in seinem Zimmer .
Er drückte mich sanft in einen Fauteuil , steckte ein Licht an und suchte die Laterne .
Die Tür zu einem Halbdunkeln Nebenzimmer stand offen .
Von daher kam ab und zu ein Luftzug .
Die Vorhänge bewegten sich , als stände jemand dahinter , die Wachskerze flackerte .
Ich sah , daß seine Hände zitterten , mein Herz zitterte auch .
Im Zimmer konnte ich die Gegenstände nicht deutlich unterscheiden .
Aber alles schien in lichten Farben .
Eine weiße Büste und die Einbände der Bücher schimmerten im Licht der Kerze .
Er kam zu mir zurück , glitt zu Boden und barg seinen Kopf in meinen Schoß .
" Wie soll ich etwas finden , ich suche , suche und sehe nur Dich , Dich allein . "
Er streifte meinen Pelzmantel ab. O Mutti , wie zart und leise er mich in seine Zärtlichkeit einspann , bis ich willenlos an seinem Herzen lag , und nichts wollte , und nichts dachte , als ihn .
Und wie die Leidenschaft sein feines , edles Gesicht verschönte .
Linde Tränen stürzten mir aus den Augen und rannen auf sein Gesicht .
Liebe Mutti , ein Glück , das weint , ist kein gemeines Glück .
Da sind Götter .
Da ist ein Heiligtum .
Ein Hauch vom Paradies streift solches Glück .
Ja , in jenem Augenblick habe ich es gewußt , daß die Liebe die Urquelle aller Schönheit , aller Güte , aller Wahrheit ist .
Ich werde es aber wohl wieder vergessen .
Er hob mich empor in seinen Armen .
Er trug mich ins Nebenzimmer .
Ein Fenster stand da offen .
Huschend , unheimlich kroch der Nebel ins Zimmer .
In einer grünen Ampel brannte ein schwaches , feines Licht , wie schüchterner Mondschein .
In diesem Licht sah ich auf seinem Nachttisch eine aufgeschlagene Bibel liegen .
Wie an der Seele eines Menschen , der etwa von einem Felsen stürzt , im Moment des Fallens Jahre seines Lebens vorüberziehen , so brauste plötzlich eine wilde Jagd abgerissener Gedanken durch mein Hirn , wirbelwindartig , entblätternd , erkältend .
Tue es nicht !
Er ist ja fromm ; morgen wird er die Ehebrecherin verachten .
Tue es nicht !
Er wird die geschiedene Frau des Banquiers nicht heiraten .
Sein Vaterland erlaubt_es nicht .
Tue es nicht !
Nie wird er der Geliebte einer verheirateten Frau sein wollen , er verläßt Dich .
Oder kam mir das nur alles , weil mich fror , oder war es das keusche Weib in mir , das widerstrebte - - ach , ich weiß es nicht , Mutti , ich weiß es nicht .
Und das alles , während seine Lippen auf den meinen brannten und ich das laute Schlagen seines Herzens hörte .
Ich löste meine Lippen von den seinigen .
" Hely , mein Geliebter , laß mich , um Deinetwillen . "
Der Zauber war gebrochen .
Der Augenblick des Selbstvergessens vorüber .
Wir waren nicht mehr eins , wieder er und ich .
Er ließ mich frei , sofort .
" Aber Du frierst ja , Geliebte , Du zitterst . "
Er führte mich zurück in den Salon , er wickelte mich sorglich in den Pelzmantel .
Wir suchten nach Worten , um die plötzliche Ernüchterung vor uns selbst zu verbergen .
" Morgen , Hely , morgen , " stammelte ich , " ich schreibe Dir , gewiß , ich schreibe Dir . "
" Ja , schreibe mir , in Deine Hand lege ich unsere Zukunft . "
Noch einmal sank sein Kopf in meinen Schoß , und er flüsterte :
" Oder komme selbst und bleibe bei mir , für immer . "
Dann erhob er sich schnell .
" Ich muß jetzt gehen , Hely .
Benno wird rasen . "
" Benno - ja . "
Er zuckte zusammen .
" Du mußt jetzt gehen . "
Er blickte wirr um sich .
Ich sah , er konnte sich noch nicht zurückfinden .
Wir brauchten die Laterne nicht mehr , der Nebel war leichter geworden .
Dicht aneinander geschmiegt , Hand in Hand , legten wir die paar Hundert Schritt bis zu unserem Hause zurück - wortlos .
Nur beim Abschied sagte ich :
" Auf morgen , Hely . "
" Ja morgen , Sibilla . "
Und er preßte seine brennenden Lippen wieder und wieder auf meine Hände .
Heftiges , fast Zorniges war in dieser wilden Liebkosung .
Fast wäre ich auf der Schwelle wieder umgekehrt Es war mir , als lege sich ein schweres Gewicht auf meine Brust , fast ein Entsetzen überkam mich , ein maßloses Trennungsweh , ein Gefühl ewigen Losgerissenseins .
Glücklicherweise brauchte ich Benno nicht mehr Rede zu stehen .
Er war mit Diener , Hausmeister und Laterne noch draußen , um mich zu suchen .
Ich schlief die ganze Nacht nicht .
Nicht wie damals - , im englischen Garten , nach dem verfehlten Rendezvous mit Raphael , empfand ich eine seelische Befreiung .
Nein , diesmal war es eine zerwühlende , marternde Unzufriedenheit mit mir selber , ein inbrünstiges Sehnen , hin zu ihm , und im Hintergrund immer die qualvolle Vorstellung : Du hast in verloren !
Hatte er nicht gesagt :
Das Weib , das sich mir einmal hingegeben , ist mein Weib für immer .
Mit einem Ruck richtete ich mich im Bett auf , ich schlug mit der Hand gegen meine Stirn : Aber , Du hast ja eine Dummheit gemacht ! eine Dummheit .
Ein feiner Gedanke , Mutti , gelt ?
Und so fein ausgedrückt !
Hättest Du Deine Tochter so niedrig taxiert ?
Aber war es denn zu spät ?
Hatten wir uns nicht mit dem Wort getrennt : morgen !
Wer weiß ! wer weiß !
Wenn ihm nun über Nacht seine Grundsätze wieder über den Kopf oder vielmehr über das Herz gewachsen sind ?
Gegen Morgen erst kam der Schlaf .
Es war fast Mittag , als ich erwachte .
Natürlich Kopfschmerzen .
Und mit Kopfschmerzen über seine Zukunft entscheiden zu müssen !
So lange mich die laue Wärme des Bettes umfing , empfand ich nichts als die Wohltat des Ausruhens .
Nach dem Bade und dem Frühstück aber erwachte meine ganze Lebensintensität , das heißt , das Fieber brennender Sehnsucht war wieder da .
In fliegender Hast schrieb ich nur wenige Zeilen , leidenschaftliche , unsinnige .
Daß ich ihn liebe , daß ich zu ihm wolle für immer .
Er solle mich holen , um sechs Uhr würde ich an der Glyptothek auf ihn warten .
Als ich bereit war auszugehen , um den Brief selbst in den Kasten zu werfen , war es schon zu spät .
Man rief mich zu Tische .
Benno war bei Tisch wie immer , beweglich , schnurrenerzählend , galant mir gegenüber .
Ich beobachtete ihn , seine etwas lange Nase , die roten Ohren , das dünne , helle Schnurrbärtchen , den etwas schiefen Mund , wenn er lachte .
Er kam mir wie ein ganz fremder Mensch vor , und ich konnte mir absolut nicht vorstellen , daß er einmal mein Gatte war .
Ich mußte darüber lächeln , daß ich ihn vielleicht gerade jetzt zum letzten Mal sähe .
Ich nickte ihm freundlich zu .
Er hat mir nie Böses getan .
Ich teilte ihm beiläufig mit , ich würde gegen Abend Jolante , die nicht wohl war , besuchen , und später vielleicht mit Timäa ins Residenztheater fahren .
Nach Tisch war ich so müde .
Nur einen Augenblick wollte ich auf der Chaiselongue ruhen .
Im Halbschlaf sah ich , wie die Sonnenstrahlen durch die gemalten Fenster drangen und das Zimmer in einen dämmerndgoldenen Duft tauchten .
Ich schlief ein , und ich schlief bis das Schlagen einer Uhr mich weckte .
Ich zählte die Schläge : vier .
Tiefe Dämmerung .
Ich erschrak .
Jetzt oder nie .
Eine Angst packte mich , der Brief könnte ihn nicht mehr zu Hause treffen .
In wenigen Minuten befand ich mich auf der Straße .
Ich sah mich nach einem Dienstmann um , der den Brief besorgen sollte .
Keiner da .
Auf dem Karlsplatz , das wußte ich , standen immer Dienstleute .
Unwillkürlich machte ich einen Umweg .
Ich weiß nicht mehr , wie ich in die Maximilianstraße geriet , die weit ab vom Karlsplatz liegt .
Es war wieder sehr neblig geworden , wenn auch nicht so beunruhigend , wie am Abend vorher .
Das Licht der Laternen brannte gedämpft wie durch Trauerflore mit rötlich glimmendem Schein .
Schwere Wagen fuhren langsam durch die Straße über die breite Brücke , als wäre es ein Leichenkondukt .
Die Bäume am Wege , in Nebel verhüllt , wirkten wie dunkel gefärbte Rauchwolken oder wie Weihrauch , der in der Luft erstarrt ist .
Die riesige Bildsäule des Königs Max , von der man nur die Konturen sah , ragte gespenstisch hoch in den Dunst empor ; weiterhin die Standbilder von Schelling , Hegel schienen , losgelöst vom schweren Material , blasse Schemen in den grauen Lüften , einer Leichenfeier aus dem Geisterreich voranzuschweben .
Alles nahm , in düster geheimnisvolle Schleier gehüllt , phantastische , märchenhafte Dimensionen an .
Ich kam von der Vorstellung nicht los , daß etwas zu Grabe getragen wurde .
Träumend ging ich noch eine Weile durch diese Nebel , Ort und Zeit waren wie ausgelöscht ; ich wußte kaum , wo ich war , und ebenso mechanisch ging ich zurück bis zum Karlsplatz .
Eine Kirchturmuhr schlug fünf .
Es war ganz dunkel geworden .
Ich winkte einem Dienstmann und gab ihm den Brief .
Alles verschwamm im Nebel zu einer grauen , schattenhaften Maße .
Schattenhaft die Straße , der Brief , schattenhaft der Dienstmann , schattenhaft alles , was ich tat , und ich selbst ein Nebelbild .
Kaum war der Dienstmann fort , fiel mir ein , daß am Ende Hely gar nicht mehr zu Hause sein würde , und ich stände dann an der Glyptothek und wartete vergebens auf ihn .
So schnell ich konnte , lief ich Helys Hause zu .
Ich sah den Boten hineingehen .
Während ich auf seine Rückkehr wartete , lösten sich die Nebel in einen feinen , rieselnden Regen .
Eine Gepäckdroschke stand vor seiner Tür .
Ich blickte zu den Fenstern empor .
Sein Zimmer war erleuchtet .
Mit einem Mal sah ich ihn selbst .
Seine Silhouette am Fenster zeichnete sich scharf von der Dunkelheit draußen ab .
Er wollte augenscheinlich die Jalousie herunterziehen .
Den Arm hielt er ausgestreckt , sein Kopf war nach oben gerichtet .
Wie deutlich sah ich seine feine Form .
Plötzlich wendete er sich ins Zimmer zurück , als spräche er mit jemand .
Im nächsten Moment fiel die Jalousie nieder , mit einem schnarrenden , unangenehmen Geräusch , daß es mir wehe tat .
Mich fing an zu frieren .
Der Dienstmann kam aus dem Hause .
Im nächsten Augenblick stand ich neben ihm .
Ob er vielleicht eine Antwort bringe ?
Ja .
Der Herr sei vor einer Stunde von wegen einer Depesche abgereist .
Den Brief würde ihm der Diener gleich nachschicken .
" Gut , gut , " nickte ich und hatte keine andere Vorstellung , als dem Dienstmann möglichst schnell aus dem Gesichtskreis zu kommen .
Ich lief beinahe , und als der Mann längst außerhalb meines Gesichtskreises war , lief ich noch immer , jetzt , um das Gefühl des Frierens los zu werden .
Die greuliche Realität kam mir noch nicht recht zum Bewußtsein , nur unter dem allgemeinen Eindruck litt ich , daß der rieselnde Regen , die dunkle Straße und meine eiskalten Füße , daß das alles entsetzlich sei .
Unzusammenhängende Vorstellungen schwirrten durch mein Hirn , weitentlegene , fast gleichgültige .
Das Kind in der Schule fiel mir ein , dem die Lehrerin das Käsebrot fortgerissen , und Ella Ried , wie sie sich so über das alte , abgelegte Ballkleid freute .
Ich dachte an den Papagei , der kreischte :
" Traute ist tot " , und an die kleine Marie dachte ich , wie sie an der Treppe stand mit den flehend drohenden Augen .
Und dann nahmen meine Gedanken den Weg zu Dir , liebe , liebe Mutter .
Was Du wohl sagen würdest , wenn Du Deine Tochter , Deine schöne , kluge , vielbegehrte Sibilla jetzt sähest , in Nacht und Regen , frierend , ( ich glaube auch hungernd ) allein auf der Straße , einem Liebhaber nachlaufend , der von ihr nichts wissen will .
Ich lachte laut auf , vielleicht sogar gellendes .
Wie mich fror .
Ich blickte um mich .
Überall erleuchtete Fenster .
Ich fühlte fast einen Haß auf all die Leute , die hinter diesen hellen Fenstern behaglich und friedlich in ihrem warmen Nest saßen .
Wie unerhört albern man sein kann .
Als ob helle Petroleumlampen die Schlangen , die einem am Herzen fressen , verscheuchen könnten .
Fraß mir denn eine am Herzen ?
Eigentlich war es nur ein dumpfes , kaltes Erstaunen , das ich fühlte .
Plötzlich aber doch ein Schlangenbiß , oder ein Peitschenhieb , daß ich mich aufbäumte unter dem Unerhörten , das mir geschehen .
Und gleich darauf ein Hoffnungsstrahl .
Wie ? wenn der Bote mir nur die Antwort des Dieners gebracht hätte , bevor Hely noch den Brief gelesen , und Hely stände nun an der Glyptothek und wartete auf mich ?
Das war ja möglich .
Erst vor wenigen Minuten hatte es sechs geschlagen .
Noch war es Zeit .
Atemlos , nicht mehr frierend , kam ich an die Glyptothek .
Ich lief eine Viertelstunde auf und ab , auf und ab - Niemand .
Nichts .
Und nun fraß mir doch eine Schlange am Herzen :
Hohn !
Hohn gegen mich selbst .
Blutiger , greller Hohn , nichts als Hohn .
Es war mir recht , ganz recht , was geschehen , so hätte es kommen müssen !
Wie dieser Hohn mir am Herzen fraß !
So elend kam ich nach Hause , daß ich nichts mehr wollte , nichts mehr ersehnte als guten heißen Tee , Pelzschuh und Kaminfeuer , helles , loderndes .
Und als ich das alles hatte , wäre es mir auch recht gewesen , wenn Benno gekommen und mir etwas Lustiges erzählt hätte .
Er war nicht da .
Es fiel mir ein , daß er jetzt selten zu Hause war .
Seit einiger Zeit brachte er mir auch keine Blumen mehr .
Ich sammelte meine Gedanken .
Ja , er liebte eine kleine Soubrette vom Gärtnertheater .
Ich , und auch andere , wir hatten ihn oft damit geneckt .
Die Kleine sollte ein hübsches , ziemlich ehrbares , lustiges Geschöpf sein .
Da kam er doch .
Ich hörte ihn trällernd im Nebenzimmer .
Er öffnete die Tür meines Salons , und schien überrascht , mich anzutreffen .
" Ich dachte , Du wärest mit Timäa im Theater ? "
" Mir ist nicht wohl .
Da verlor ich die Lust .
Wohin gehst Du ? "
" Ins Gärtnertheater .
Kommst Du mit ? "
" Nein .
Was wird gegeben ? "
Er nannte das Stück .
Seine Flamme spielte darin die Hauptrolle .
" Trinkst Du vielleicht nach dem Theater eine Tasse Tee mit mir ? "
Er zögerte .
Und dann :
" Eine Verabredung mit einem Freunde ... "
" Amüsiere Dich . "
Er ging .
Ganz in der Ordnung .
Schade , Mutti , schade , daß es noch kein Telefon zwischen München und Berlin gibt .
Ich fragte Dich gleich durchs Telefon : Mutter , liebe Mutter , hast Du mich lieb ? sehr lieb ?
Und Du müßtest mir antworten : ungeheuer lieb .
Nicht wahr , nicht wahr , ungeheuer lieb ? 24. Februar . Liebe einzige Mutti .
Seitdem hatte ich niemand sehen wollen .
Ich ließ mich wegen Unwohlseins verleugnen , auch vor Kunz .
Am dritten Tage kam Jolante .
Sie ließ sich nicht abweisen ; sie müsse mich notwendig sprechen .
Ich ließ sie herein .
Denke Dir , Mutti , sie brachte mir einen Brief von ihm , von Hely .
An Jolante hatte er geschrieben , er bäte seine gütige und verehrte Freundin , den einliegenden Brief an Frau Sibilla gelangen zu lassen .
Sie habe ihm letzthin von einer beabsichtigten Reise nach Berlin gesprochen , und er möchte nicht , daß der Brief in die Irre gehe .
Ich ging mit dem Brief ins Nebenzimmer , um meine Aufregung vor Jolante zu verbergen .
Fast mit Zorn riß ich hastig das Couvert ab .
Gleich fiel mir mein eigener , uneröffneter Brief in die Hand .
Ein befreiender Moment , Mutti !
Er hatte ihn also nicht gelesen .
Es war mir , als lösche jemand ein Brandmal von meiner Stirn .
Und was in seinem Brief stand ?
Am Morgen nach jenem wunderbaren , unvergeßlichen Abend habe ihn eine Depesche zu seiner schwererkrankten Tante nach Baden-Baden gerufen .
Er habe den nächsten , den Blitzzug nicht benutzt , weil er in Verzweiflung und Sehnsucht immer auf ein Lebenszeichen von mir gewartet habe .
Mit dem Abendzug endlich sei er abgereist , hoffnungslos , den Tod im Herzen tragend .
( Lügner ! ) Die Sterbende habe seine und Evas Hand ineinandergelegt .
In treuer Liebe zu seinem Vaterlande würde er das Verlöbnis halten .
Eine Stunde später - die Kranke hatte eben ihren letzten Seufzer ausgehaucht - habe er meinen Brief erhalten .
Er hätte nicht mehr das Recht gehabt , ihn zu öffnen .
Hätte er dieses Recht aber gehabt , er würde ihn gelesen haben mit der Todesqual eines Menschen , der in eine schmerzende Wunde ein Messer stößt .
Denn er wisse , was in dem Briefe stände .
Als ich ihn in jenem Augenblick höchster Seligkeit von mir gestoßen , habe er gewußt , daß er mich verloren - für alle Zeit .
Am Schluß des Briefes noch ein paar schwermütig angehauchte , fromme Resignationsphrasen .
Und der ganze Brief eine einzige Lüge .
Und wie fein , wie vornehm gelogen , gelogen , um mir jeden Schimmer von Beschämung zu ersparen .
Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle .
Er hat gewußt , was in dem Brief stand .
Er hat es tausend Mal gewußt .
Aber der Schein ist gerettet !
Der Schein für ihn und für mich .
Ich weiß alles , was in seiner Seele vorgegangen ist .
Auch daran hat er gedacht , daß ich zu alt für ihn bin .
Ja , wäre ich Gräfin gewesen oder wenigstens Baronin , sein Vaterland hätte es vielleicht erlaubt .
Mutti , ob er sich nur mit Eva verlobt hat , um von mir loszukommen , um nicht die geschiedene Frau eines Börsianers heiraten zu müssen ?
Ist es nicht komisch , daß der Anfang und das Ende meiner Beziehungen zu ihm durch einen uneröffneten Brief herbeigeführt worden ist ?
Beinahe ein Possenmotiv .
Ich warf seinen und meinen Brief ins Kaminfeuer .
Ich ging in den Salon zurück .
Ich sagte Jolante :
" Er hat mir seine Verlobung mit Eva Broddin angezeigt .
Und ich habe ihn geliebt , Jolante . "
Ich warf mich an ihre Brust , möglich auch , daß ich eine Träne vergoß .
" Ich wußte es , Sibilla , und ich wußte auch , daß dieser Wahn vorübergehen würde .
Nur ein Mensch ist Deiner würdig , nur einer liebt Dich wahrhaft .
Er verzehrt sich in Sorge um Deinetwillen .
Vor Deiner Tür wartet er .
Darf ich ihn heraufschicken ?
Ich habe noch eine Besorgung in der Stadt .
In einer halben Stunde bin ich wieder da . "
Sie wollte uns allein lassen .
Wie übel , wie übel war sie beraten .
Eine Frau , die eben von der Liebe Schmerzlichstes erlitten , verschließt ihr Herz mit Haß gegen die Liebe , wie man nach der Trunkenheit das Getränk , das sie veranlaßt hat , lange Zeit verabscheut .
In pessimistischer , düsterer Stimmung war ich , als er eintrat .
Und er , er war auch düster , tiefgekränkt , weil ich mich tagelang vor ihm hatte verleugnen lassen .
Er teilte mir mit - wahrscheinlich in der freudigen Voraussicht , mein Herz zu brechen - daß eine schwere Anklage wegen Aufreizung zum Klassenhaß über ihm schwebe .
Möglicherweise würde man ihn zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilen .
Und alles , was er nun so leidenschaftlich vorbrachte , war eine Einforderung der Schuld , die ich am Königssee mit ihm kontrahiert hatte .
In die Nacht seines Kerkers wollte er die Gewißheit meiner Liebe mit hinübernehmen .
Seine Blicke , seine zuckenden Finger , seine bebenden Lippen , der ganze Mensch eine einzige Flamme , die nach mir züngelte : Mannesbegehren , das mich schon mehr als einmal abgestoßen hatte .
Mein Blick fiel auf die rote Zunge der Schlange am Halse des gemalten Weibes .
Immer das Weib die Sünde , diese Sünde ?
Dem Manne halst die Schlange auf ! dem Mann !
Kunz , Kunz , einen schlechteren Moment für Deine nicht ganz ideale Forderung hättest Du nicht wählen können .
In einer anderen Stimmung vielleicht hätte das Flammenzeichen anders auf mich eingewirkt , jetzt entfesselte es die bekannte Furie in mir .
Und so kam es , daß meine ganze Bitterkeit gegen den Unschuldigen losbrach .
Ich warf ihm seine Torheit vor , sich zweck- und nutzlosen Verfolgungen auszusetzen .
Auch für seine radikalsten Forderungen würde ein weiser und gütiger Mensch die vornehme Form finden , die jenseits vom Staatsanwalt liegt .
Ich könne über das dämonische Schadenfeuer umstürzlerischer Geister nur lächeln , lächeln über die Wuchtigkeit , mit der er und so viele andere das Lebensgeschäft betrieben .
Nach Millionen Jahren würden die Menschen noch immer die Wahrheit und das Glück suchen , immer suchen , suchen , bis der Erdball in seine Atome zerstiebt sei .
Ich sah , wie er kämpfte , seinen Zorn niederzuhalten , und seine Stimme klang heiser , als er mich bat : " Sei lieb , sprich nicht weiter . "
Meine Furie aber schüttelte die Schlangenhaare , und ich sprach doch weiter .
Und seine Liebe !
Und die Liebe überhaupt !
Hm ! ja , Kinder hielten wohl Tiere , wenn man ihnen einen Heiligenschein anmalt , für verkappte Engel , und Don Quichotes suchten nicht nur , was nicht existiert , sie fänden es sogar , eben - weil sie Don Quichotes wären .
" Schweige , schweige ! " schrie er und umklammerte mein Handgelenk so fest , daß es mir wehe tat , sehr wehe .
Ich schüttelte zornig seine Hand los und Maß ihn mit einem bösen , hochfahrenden Blick .
Er erwiderte ihn .
Die Tür öffnete sich : Jolante .
Er ging auf sie zu , in seinen Augen blitzte es auf , sonnig , oder war_es schweflig gelb ?
Er nahm Jolantes Hände fest und innig in die seinen und sagte , zu mir gewendet :
" Du hattest neulich recht , Sibilla , als Du meinen blinden Glauben an Dich Götzendienst nanntest .
Hier die wahre Heilige .
Ich habe das seltenste Kleinod gefunden : ein gütiges Herz habe ich gefunden - Jolante , mein Weib . "
Sie fuhr zitternd zusammen , als ob ein Sturmhauch über sie hinginge .
Dann aber - unbeschreiblich , liebe Mutter , der Ausdruck in Jolantes Zügen .
Ihre Augen irrten von mir zu Kunz , von Kunz zu mir ; sie irrten im Zimmer umher , sie richteten sich aufwärts , indem sie tiefaufatmend die Hände über der Brust zusammenfaltete .
Sie öffnete die Lippen und schloß sie wieder .
Sie konnte nicht sprechen .
Aber weinen konnte sie .
Und wie holdselig sie dann durch Tränen lächelte - eine ganz Verklärte .
O , Mutti , sie war in diesem Augenblicke schön , viel schöner als ich .
Meine Furie empfahl sich .
Ich war ganz Rührung .
Ich umarmte Jolante zärtlich .
Dann reichte ich Kunz herzlich die Hand :
" Euch fügt Gott zusammen .
Und jetzt hole ich Euch die ersten Schneeglöckchen aus dem Garten .
Nebenbei will ich Euch allein lassen .
Bleibt mir gut , Ihr meine einzigen und liebsten Freunde auf Erden . "
Wie seltsam der Blick war , mit dem Kunz mir nachsah .
In den Garten ging ich , aber Schneeglöckchen suchte ich nicht .
Es gab ja noch gar keine .
Das wußte ich .
Im raschen Auf- und Abgehen wollte ich mir die neue Situation klar machen .
Die Rührung verflog .
Die Furie lugte schon wieder aus ihrem Versteck .
Und sie schüttelte ein paar Bäume , und wie die Tropfen niederrieselten , hatte ich das beruhigende Gefühl , als hätte ich sie weinen gemacht .
Ich warf Steine in den kleinen Teich , und es gefiel mir , wie das Wasser aufspritzte .
Es klang fast wie ein Schrei .
Und ich dachte :
Dummer Kunz , dummer Kunz !
Der Engel ist doch in mir , er ist nur von einigen Teufeln besessen ; Du hast nicht verstanden , sie auszutreiben .
Doktrinär Du !
Und dann mit einem heimlichen Triumph : Du liebst mich doch ! liebst mich doch !
Die arme , liebe Jolante , Du wirst sie leiden machen .
Konntest Du nicht warten ?
Mußten sechs Monate genügen , um Sympathie in Liebe umzuwandeln ?
Die zarten Sinneswerkzeuge , um die geheimsten Fäden einer Menschenseele zu entwirren , fehlten ihm .
Es waren doch Trotz und Schmerz , die aus mir sprachen .
Er glaubt immer alles , was ich sage .
Das eigentliche , echte Wesen eines Menschen kann er nicht unterscheiden von den Sekundenbildern , die ein krankes Hirn erzeugt .
Als ich ins Haus zurückkam , waren sie eben gegangen .
Ich stieg in mein Schlafzimmer hinauf , um ihnen nachzusehen .
Ich sah sie nicht mehr .
Ich blickte in einen weißlich-bläulichen Himmel hinauf , mit einer fahlen Sonne , die durch leichten Dunst hindurch auf den dünnen Schnee der Häuser und Dächer fiel .
Die Steinbilder auf entfernten Gebäuden ragten , zu ätherischer Durchsichtigkeit verklärt , in den Sonnennebel hinein .
In der gleichsam durchgeistigten Atmosphäre bildeten die Kirchtürme feine Riesensilhouetten .
Und diese dunklen , in Nebelduft schwimmenden Silhouetten , der Rauch aus den schlanken Schornsteinen , der Schnee und der Himmel und die Steinbilder , die Dächer und die Luft , von der fahlen Sonne durchlächelt , farblos , von silberner , leise schimmernder Schottenhaftigkeit , flossen zu einer zartkalten , unsagbar poetischen Harmonie zusammen .
Sie tat mir wohl , diese mildlächelnde Harmonie und wirkte einschläfernd auf das leidenschaftliche Geflimmer in mir .
Ich lächelte allmählich auch , fahl natürlich , über meine Aufgeregtheit .
Durch alle Eingeschläfertheit hindurch aber fühlte ich , daß ich mit Kunz mehr verlor als mit Hely .
Hely , an den denke ich wohl noch ab und zu , aber kühl und nüchtern , ohne jede Ranküne .
Ich habe ihm ja auch nichts vorzuwerfen .
Er hat konsequent und vernünftig gehandelt .
So eine kleine psychisch-physische Abirrung wie an jenem Nebelabend , ist verzeihlich .
2.
März . Liebe Mutter , ich habe Jolante geschrieben , daß sie und Kunz mich in der nächsten Zeit nicht besuchen möchten , weil ich ungestört dem Geschäft , das Gleichgewicht meiner Seele wieder herzustellen , obliegen wolle .
So , Mutti , da wären wir ja nun so ziemlich einsam .
Benno im Gärtnertheater .
Ferlani ist richtig zu Timäa abgeschwenkt .
Nie soll man doch sagen :
" Aus diesem Becher trinke ich nicht . "
Und ein Wetter !
Anfang März .
Bald Regen bald Schnee .
Matsch , Schmutz , keine Sonne .
Graues Elend .
Ich überlege kühl : Du gute Sibilla , was bleibt Dir denn noch im Leben ?
Immer wieder über Kunst und Literatur reden ?
Toiletten , Kampf mit dem Alter .
Warten bis Herzka seine Ansiedelung am Xenia gegründet hat ?
An den Ufern des Nil schon würde ich mich im Sande verlaufen , vulgo umkehren .
Und Bellanys Zeitalter ?
Da bin ich ja schon tausend Jahre tot .
Zuweilen kommt mir der Gedanke zu irgend einem Theaterbesuch oder sonst einer Lustbarkeit .
Er wird aber gleich in Unlustgefühlen erstickt .
Nicht einmal eine ordentliche Verzweiflung , die à la Sardanapal einen Scheiterhaufen anzündet , nur so eine müde , verschlafene Verdrossenheit .
Graues Elend !
Graues Elend !
Mir ist manchmal , als wäre ich gar kein Geschöpf von Fleisch und Blut , sondern nur ein Begriff mit einem Zettel im Munde , " das ist ein Stück Geschichte der Frau . " 16.
März . Liebe Mutter , seit vierzehn Tagen keine Feder angerührt .
Schlechtes Wetter war in mir und auch draußen .
Mit einem Mal , über Nacht , ist der Frühling gekommen .
Die Sonne ist da und die weichen Lüfte sind da , und ich bin auch wieder da .
Und wo noch eine dünne Eiskruste ist , da schmilzt sie dahin , gerade wie meine Welt- und Seelenschmerzen sich in fließende Wehmut lösen .
Wirst Du_es glauben , Mutti , an den Hely denke ich gar nicht mehr .
Ergo : auch diese vermeintliche wirkliche Liebe nichts als ein Nervenwahn , ein Stürmen im Blut , eine Passion en passant , ein Abstecher ins Gefilde der Seligen , mit einem Wort : Autosuggestion. Ben trovato dieses Wort , Autosuggestion klingt viel aparter als Selbstbetrug , Wahnvorstellung , Schwindel , Einbildung u. s.w. , was es doch mehr oder weniger bedeutet .
Die Wehmut , die ich erwähnte , ist eigentlich Sehnsucht , Frühlingssehnsucht , ein großes , unbestimmtes Sehnen , das nach Gestaltung ringt .
Ich muß ins Freie .
Wohin weiß ich noch nicht .
Nachher schreibe ich weiter. Nachmittag .
Da bin ich wieder .
Entsetzlich Trauriges habe ich erlebt .
Du wirst nie erraten , liebe Mutter , wo ich gewesen bin .
Ich weiß selbst nicht , was mich auf den Kichhof zog , wo meine Zwillinge begraben liegen .
Seit vielen Jahren war ich nicht dort gewesen .
Pflichtschuldigen Emotionen gehe ich immer aus dem Wege .
Die Trauerweide auf dem Grabe der Kinder war groß und stark geworden .
Lange saß ich auf der Bank unter dem Baum .
Frühling war auch auf dem Kirchhof .
Hier und da noch etwas leicht und weich zerrinnender Schnee .
Auch die grünen Tannen hatten noch beschneite Zweige , die sich wie weiße Hände über die Gräber streckten , und von denen es unaufhörlich niedertropfte , als weinten sie über die Gestorbenen .
Die goldenen Buchstaben auf den Marmortafeln und den aufgeschlagenen Bibeln funkelten im Sonnenlicht .
Zu meinen Füßen die ersten Veilchen .
Eine Lerche schlug .
Der erste Schimmer von Farbe auf den Sträuchern und Bäumen ; alles so werdelustig , verheißungsvoll .
Und etwas Frühlingsfeierliches blühte auch in mir auf .
Ich dachte kaum an die Kinder , die da unten ruhten , ich dachte an das Kind im allgemeinen .
So vieles kenne ich , nur das Kind kenne ich nicht .
Ich dachte an das , was Kunz über das Kind gesagt hat .
Erinnerst Du Dich , liebe Mutter ?
Das Kind , sagte er , ist das Werk aller Werke .
Es setzt den Weg , von dem der Tod Dich abruft , fort , vorwärts , hinauf .
Es verwirklicht die Idee der Unsterblichkeit .
Und er sagte weiter :
Ein Buch , ein Bild , ein Lied , das Du geschaffen , Du liebst Dein Werk , aber es liebt Dich nicht wieder .
Das Kind aber , Dein Kind , liebt seinen Schöpfer .
Wer ein Kind am Herzen hält , fühlt die überschwengliche Wonne des Pygmalion , der von seinem eigenen Werk , seiner Galathea , umarmt wird .
Ich sprang auf .
Ich blickte in die Sonne empor , die mich nicht blendete .
Und hier , an der Stätte der Toten , durchdrang mich die treibende , knospende , sprossende Werdekraft des Frühlings .
Sie durchdrang mich wie eine läuternde Taufe , anfangs in feierlich leiser Sehnsucht , die allmählich emporwirbelnd wie Lerchenschlag , in sonnig strahlender Werdewonne aufjauchzte .
Und inmitten dieser Trauerweiden und Kreuze , inmitten dieser Toten tat ich in meinem Herzen das Gelübde , das Werk aller Werke zu tun , einen Menschen zu schaffen .
Tiefen Geistes und reinen Herzens sollte er sein , einem Apostel gleich .
Ja , ein Kind wollte ich haben .
Die kleine Marie sollte es sein .
Mein Kind , mein Geschöpf , mein Mensch sollte sie werden .
Hochklopfenden Herzens , direkt vom Kirchhof fuhr ich in die entlegene Wohnung ihrer Eltern .
Leicht flog ich die engen Stiegen empor .
In der Kammer fast dasselbe Bild wie vor einem Jahr .
Nur sah die Frau noch etwas elender aus , und der Mann auch , und das älteste Töchterchen auch .
Und die Luft war noch schlechter , beklemmender , sonderbar .
Und der Kohl wurde auch in dem eisernen Ofen gekocht , nein , es waren diesmal Rüben .
Unter dem Fenster auf zwei Stühlen lag ein Paket , mit einem schmutzigen Laken darüber .
Ich wunderte mich über ein paar welke rote Blumen auf dem Fußboden .
" Blumen ? " fragte ich lächelnd .
" War Mariechens Geburtstag ?
Wo ist denn das Kind ? "
" Tot ! "
Die Frau sagte es mit stumpfer Gleichgültigkeit und kochte ruhig ihre Rüben weiter .
" Wann ? "
Unaussprechliches Mitleid schnürte mir das Herz zusammen .
" Gestern Nachmittag . "
Ich blickte entsetzt auf die zwei Stühle unter dem Fenster .
Die Frau sah meinen Blick .
Nun lamentierte sie : Sie hätte nicht gewußt , wohin mit der kleinen Leiche .
Der Hauswirt hätte keinen Platz dazu hergeben wollen , da hätten sie die Tote halte in der Kammer behalten müssen über Nacht .
Heute Abend erst täte man es abholen .
Und sie entschuldigte sich wegen der Blumen ; sie hätte ' sie nicht etwa gekauft , eine Dame im Hause hätte sie aus einem alten Ballbouquet hergegeben , weil_es Mariechen doch Blumen so gern gehabt .
" Ihr ist nun wohl , " fügte sie hinzu , " sie hat ihre Ruhe . "
Und ehe ich es verhindern konnte , zog sie das Laken von der Leiche .
Die kleine Tote , mit den langen , schwarzen , finsteren Wimpern auf der weißen Wange , mit dem Zug der Qual um die weißen Lippen und den faden , roten Blumen aus dem Ballbouquet , die man über sie hingestreut , sah nicht aus , als hätte sie ihre Ruhe .
Eine rote Blume lag unter den Augen als ob unter den schwarzen Wimpern hervor eine blutige Träne dränge .
Ich hatte eine schaudernde Empfindung , als müsse die Tote im nächsten Augenblick die Augen aufschlagen und mit dem flehend drohenden Blick mein Herz treffen .
Ich gab den Leuten Geld , und eilte aus der Kammer hinaus mit einem Entsetzen , als hätte ich ein Verbrechen auf dem Gewissen .
Warum bin ich nie den Weg gegangen , auf den so oft mich eine innere Stimme rief : hin zu dem schönen Kinde .
Nun kann ich mein Unrecht nicht wieder gut machen , nie , nie .
Zu Hause raste ich durch meine Zimmer ganz verzweifelt .
Eben erhalte ich ein Billet von Jolante .
Sie muß mich sprechen .
Ich habe sie auf morgen Nachmittag bestellt .
Es wird Kunz betreffen .
Ob er verurteilt ist ?
Seit zwei Tagen habe ich keine Zeitung gelesen .
18.
März . Süße , geliebte Mutter , was ich Dir heute schreibe , nur in die Seele möchte ich es Dir flüstern .
Du mußt aber glauben , glauben mußt Du ; jedes Wort , das hier steht , ist wahrhaftig .
Von der Stunde an , wo ich bei der toten kleinen Marie war , bis zu dem Augenblick , wo Jolante kam , dachte ich mit irrer , leidenschaftlicher Sehnsucht nichts als das Kind .
Trotz und Groll liefen mitunter gegen das Schicksal , das jenes Kind hinraffte , gerade als ich es wollte .
Wenn mein Blick auf das Stucksche Bild fiel , dachte ich : wenn am Halse dieses gleißend schönen Weibes anstatt der Schlange ein Kind hinge , sie wäre nicht mehr die Sünde .
Der menschlich schöne Zweck der Liebe ist doch eben das Kind .
Sie hätte ihn erfüllt .
Ich ging in die verschiedenen Kunstausstellungen Münchens , und an den schönen Kinderbildern saugten sich meine Augen fest .
Das schönste aller Kinderbilder , ein lebendiges , begegnete mir neulich hinter den Propyläen .
Ein Kind mit fast unbewimperten blauen Augen , blau wie der Himmel , und so klar und so tief .
Lichtblondes , volles , duftigloses Gelock wie aus Mondschein gesponnen , die Farbe des süßen Gesichts blütenweiß .
Ein Kind wie der Traum eines Erzengels oder - einer Mutter .
Wie ich die Mutter beneidete .
19.
März . Jolante war bei mir .
Bleich und tiefernst kam sie .
Ja , sie wollte von Kunz sprechen .
Verurteilt war er noch nicht , aber sie zweifelte nicht daran , daß man ihn verurteilen würde .
Sie hätte ihn längst freigegeben .
Kaum vierundzwanzig Stunden hätte sie die Lüge ihrer Verlobung aufrecht erhalten .
Er liebe mich nach wie vor , mit zehrender Verzweiflung im Herzen .
Er schlafe nicht mehr .
Er arbeite für drei .
Er reibe sich auf .
Jolante weinte .
" Laß ihn zu Dir kommen , " bat sie , " sprich mit ihm , Du findest wohl das rechte Wort , vielleicht mehr .
Er wartet zu Hause in bitterer Angst auf meine Antwort . "
Ich versank in tiefes Nachdenken .
Ein Gedanke kam und ging , und kam wieder und ging nicht mehr .
" Spiele das Vorspiel zum Parsifal , Jolante . "
Der Flügel stand im Nebenzimmer .
Jolante ging hinein und spielte .
Wie die Musik meinen Leib selige !
Es klang in meinen Hörselberg hinein wie der Gesang frommer Pilger , läuternd , heilig , gralhaft , mystisch .
Hätte ich in diesem Augenblick die Wahl gehabt zwischen Venus und Elisabeth , ich hätte nicht geschwankt : Elisabeth !
Aber das Kind !
Die blutige Träne trockenen aus den Wimpern der toten Marie .
Sühne !
Ich ließ Jolante am Flügel .
Ich ging hinaus in die beginnende Dämmerung .
Durch das offene Fenster folgten mir noch eine Weile die Töne .
Ein Flaum von Farbe lag auf den Bäumen an der Königinstraße .
Die zarten , frühlingshaften Töne flossen mild ineinander .
Der Himmel mit rosigem Gewölk bedeckt , und in den rosigen Äther hinein ragte wieder das schwarze Kreuz der Kirche .
Rein und frisch wehte der Wind .
An einer Stelle im Westen verschoben sich die Wolken , und die Sonne , die im Untergehen war , öffnete ein großes goldenes Auge , zarte , flimmernde Dunststreifen schossen empor und umsäumten das Auge wie lange Wimpern , die den Glanz milderten .
Mir war_es , als sähe ich das Auge der toten kleinen Marie , nicht mehr drohend - nein winkend - winkend - weiter , vorwärts , ein Leitstern .
Der Geist des Frühlings !
Er strahlte aus dem goldenen Auge , aus dem rosigen Äther .
Er verklärte das dunkle Kreuz , er quoll geheimnisvoll aus dem Schoß der Erde .
Ich war ganz umflossen von ihm .
Er war in mir .
Und durch meine Seele rauschte das Vorspiel vom Parsifal .
Nie im Leben habe ich reiner empfunden , als da ich nun zu ihm hinaufstieg , im Herzen das herrliche Wort Nietzsches :
" Ehe nenne ich den Willen zu zwei , das Eine zu schaffen , das mehr ist , als die es schufen .
Ehrfurcht vor einander nenne ich Ehe als vor den Wollenden eines solchen Willens . "
3.
April . Nur wenige Worte heute .
Ich komme zu Dir , liebste Mutter , auf Monate .
Hier ist meines Bleibens nicht .
Benno läßt mich gern ziehen .
Es scheint , er hat der kleinen Soubrette nicht nur seine Mußestunden , sondern auch sein Herz geschenkt .
Der arme Kerl , ich gönne ihm sein Glück .
Mit mir , das war das rechte nicht . "
Kunz ist seit gestern im Gefängnis .
Mit unendlichem Schmerz ist er von mir gegangen .
Der hat die Liebe , er hat sie .
Ich habe vielleicht auch , nur anders als er , unpersönlicher .
Eine weltenweite , universell menschliche Zärtlichkeit ist in meiner Empfindung für ihn .
Jolante ist auf einer Reise , um sich über Gefängniswesen zu unterrichten .
Seitdem Kunz in Haft ist , hat sie nur Sinn dafür .
Übermorgen , geliebteste aller Mütter , bin ich bei Dir . Sibilla . 20. Oktober .
Meine liebe , liebe Mutter , gestern bin ich mit Jolante in Rom angekommen .
Wir wohnen in der via Sestine . Laß Dir noch einmal , noch tausendmal danken , daß ich in der stillen ländlichen Abgeschiedenheit Tirols so lange bei Dir sein durfte .
Wie schön , in Frieden und Liebe , sind diese sieben Monate dahingeflossen , ich ganz erfüllt von einer Liebe , einem Glauben , einer Hoffnung .
O , ich begreife jetzt ganz die Seligkeit eines Künstlers , der , einer außer ihm liegenden Aufgabe hingegeben , seine ganze Welt in seinem Werke findet , und mit diesem Werke steht und fällt .
Ein großer Zweck tut Wunder , hat Kunz gesagt .
Ich habe jetzt den Zweck , und er hat Wunder an mir getan .
Ich habe einen Glauben - ich glaube an das Kind .
Das Kind - meine Wiedergeburt .
Ein Mädchen soll es sein .
Johanna wird es heißen wie Du .
Ich will , will mit der ganzen Inbrunst eines excatischen Wollen_es , daß es potenziert die besten und größten Eigenschaften seiner Eltern erbe , nicht bloß diejenigen , die zu Tage liegen ; auch alles was in meiner Individualität sich nicht entwickelt hat , was - um einen Modeausdruck zu gebrauchen - unter der Schwelle des Bewußtseins geblieben ist - das alles soll dem Kinde werden .
Gibt es dem Embryo gegenüber keine Suggestion .
Du hast davon gehört , Mutti , daß bei Sensitiven von inbrünstiger Gläubigkeit , wenn all ihre Vorstellungen von den Leiden Christi , und seinen Wundenmalen beherrscht werden , sich das Stigma an ihrem Leibe zeigt .
So will ich meinem Kinde ein seelisches Stigma einverleiben .
Und an einem Sonntag soll es geboren werden .
Voluntas regia : Das ist mein königlicher Wille .
Geld , meine geliebte Mutter , Du bist nicht mehr betrübt , daß ich nicht bis zuletzt bei Dir bleiben wollte !
Du bist ja so schwach wie ein Windhauch , ich konnte Dir das nicht aufbürden .
Jolante , die kraftvolle , mutige , zu allem so freudig bereite , die bei mir ist , liebt mich ja beinahe , wie Du mich liebst ; sie liebt in mir zugleich Kunz und das Kind . Habe ich Dir nicht alle Falten von der Stirn geküßt , auch die , in denen kleine Weltlichkeiten nisten ?
Kunz will , was ich will , und ich will - was Dir keinen Kummer macht .
Du weißt , was ich meine .
Eine mystische Regung nanntest Du es , daß ich mein Kind in Rom zur Welt bringen wollte ?
Vielleicht ja , ist es mystisch empfunden , daß mein Kind die Augen aufschlagen sollte inmitten einer Welt , die voll feierlichen Pathos in Stein und Erz die Geschichte von Jahrtausenden entrollt .
Alle Zeiten , Völker und Religionen überschauend , soll es an diesen grandiosen Weltbildern , aus dem Verständnis der Vergangenheit , einen Maßstab für alles Werdende finden .
Und dazu die Natur hier von klassischer Schönheit , die in erhabensten Rhythmen das Welt-Epos begleitet .
Das ist die Gabe , die ich dem Kinde in die Wiege lege .
Keine böse Fee wird sie mit ihrem Fluch ihm rauben können .
Und wenn das Kind nicht in Rom bleibt ?
Mein Blut ist sein Blut .
Und was ich geschaut , was ich empfunden , wird haften bleiben in seinem Blut .
Aberglauben ?
Meinetwegen .
Aberglauben der ganze Glauben an das Kind ?
Willkommener Aberglauben , der solche Wonnen schafft .
1. November . Liebe Mutter , ich schreibe Dir nicht wie sonst lange Briefe .
Ich denke hier nur in Aphorismen , ich fühle in Ausrufen , ich schaue in Bildern .
Ich sehe Rom nicht wie ein Fremder mit Spannung und Wißbegierde .
Ich sehe es nur wie einen Rahmen für ein herrliches Bild - mein Kind .
In Rom nehme ich gewissermaßen das Abendmahl , die Befreiung von Allzuirdischem , ehe ich in den Bund der Mütter trete .
Mir ist mitunter , als wäre ich das erste Weib , das Mutter wird , mein Kind , das erste Kind , das geboren werden soll .
Um seinetwillen suche ich Weihe und Entzückungen Schönheit und Andacht .
Alle häßlichen Eindrücke vermeide ich .
Nur die grandiose Gesamtstimmung Roms lasse ich auf mich wirken .
Ich bin viel in den Kirchen .
Oft höre ich die Nonnen in der Kirche auf dem monte pincio nahe unserem Hause , singen .
Ein Gesang , still und heilig , voll süßer Innigkeit , wie Bilder Fiesoles .
Ich höre das Miserere in St. Peter , und die Töne umschmeicheln mich wie Duft , der aus Lilienkelchen schwebt , wie Wellen , die sich im Mondschein brechen , wie Äolsharfen , die der Hauch Gottes bewegt .
Ich atme den phantastischen Zauber aus diesem Weihrauch und antiken Säulen , aus diesen blinkenden Gefäßen , uraltem Samt , düsterprächtigen Farben , aus diesen blutigen Kreuzen und schimmerndem Marmor und spinne mich ein in die Welt tiefsinniger Rätsel .
Ich fahre durch die Campagna , aus der es mir wie ein Requiem für tote Götter entgegentönt .
Ich wandle durch die Ruinenwelt , durch diese antik blühende Wildnis , diese Vegetation von Trümmern , wo alles wieder eins geworden ist mit der Natur , immer beseelt von der einen Vorstellung :
was mein ist , wird des Kindes werden .
Oft stehe ich mit Jolante auf einem der Hügel Roms , und der heilig-mystische Charakter , der tiefe , feierliche Ernst dieses Weltpanoramas durchschauert mich mit seiner unergründlichen geheimnisvollen Poesie .
Und diese Farben von überirdischer Lauterkeit und Glut , die über Nähen und Fernen fluten , über die blauen Berge Albaniens , über Pinien und Zypressen , über düstere Steinmassen , über Kuppeln und Paläste , vor ihrer überschwänglichen Schönheit falte ich unwillkürlich die Hände , wie Kunz es oft tut , und die gefalteten Hände presse ich an die Brust meines Kindes : Du , empfange die Schönheit !
10. November . Nie hat Jolante blühender ausgesehen .
Sie schwelgt in der edelsten aller Seligkeiten : sich aufzuopfern .
Still und klug schafft sie neben mir .
Sie begreift nicht mehr , wie sie sich früher über jede ungerechte Notiz in der Zeitung so maßlos aufregen konnte .
In Rom liest sie keine Zeitungen mehr .
Alles Kleine und Nichtige hat sie in diesen herrlichen Riesensarkophag Rom gebettet .
Wo die Schatten von Jahrtausenden umgehen , stumpft sich das Interesse für das letzte Jahrzehnt ab , wo alle Völker der Erde reden , verhallen die Stimmen einzelner .
Die liebe , liebe Jolante , sie zweifelt keinen Augenblick daran , daß wir , ich und Kunz , fürs Leben zusammengehören .
So wird es wohl werden .
Nur zuweilen , Mutter , beschleicht mich von neuem eine große , universelle Melancholie , und leise Zweifel beschleichen mich .
Und aus dem gigantischen Verfall heraus gellt mir durch Mark und Bein ein Wort wie Posaunenton : Fatum .
Und ich fühle mich wieder verloren in einer weiten , traurigen Einöde , und ich schwimme , schwimme mit dem großen Strom , der hinuntertreibt zu der Riesen-Mündung , dem alles verschlingenden Ozean , dem Nichtsein .
Ich Kämpfe dagegen an .
Die Strömung ist so stark , und ich komme nicht hinweg überdie vielen , vielen , die vor mir und hinter mir schwimmen .
Und dann ?
Eine leise zuckende Bewegung des Kindes , und alle Weltverlorenheit und Seelenzerfahrenheit löst sich in läuternde Zärtlichkeit für das Ungeborene , daß die Zukunft sein wird , eine Zärtlichkeit , die leuchtet , die über mir ist , wie der helle Stern , der über Bethlehem aufging .
1. Dezember . Mutter , liebe Mutter , da bin ich !
Freust Du Dich ?
Jolante sitzt hinter einem Schirm und nickt ein wenig .
Viele Nächte hat sie nicht geschlafen , immer für mich gewacht ; todmüde muß sie sein , und sie weiß gewiß nicht einmal , daß sie schläft .
Wie gut , daß ich immer in meinem Nachttisch Bleistift und Papier habe .
Da will ich Dir nun ab und zu , wenn ich mich kräftig genug fühle , ein paar Worte hinkritzeln .
Jolante darf es nicht wissen .
Der kleine goldene Bleistift ist von Hely .
Wieviel Tote ich schon begraben habe .
Ich habe starkes Fieber gehabt .
Nun ist es vorbei .
Meine Hände sind kühl .
Es dürfe nicht wiederkommen , das Fieber , hat der Arzt gesagt .
Ich werde mich schon in acht nehmen .
Was hast Du gesagt , daß es nun doch ein Knabe ist .
Ich wollte doch ein Mädchen !
Aufgeregt war ich darüber , betrübt .
Die paar gekritzelten Worte hatten mich ermüdet .
Ich habe wieder eine Stunde geruht .
Jolante war inzwischen bei mir .
Nun schläft sie wieder .
Wie schön doch die Welt sein kann , liebe Mutter .
Blauer , lachender Himmel .
Das Fenster steht offen - die Luft - ich spüre Engelsfittiche .
Osterglocken !
Auferstehung !
Aber nein , es ist ja Herbst , nicht Auferstehung , der Winter kommt , der Schlaf .
Ich bin müde .
Und Osterglocken sind es auch nicht .
Ein schwüler , sonderbarer Rhythmus !
Bimbam !
Bimbam !
Schwere einzelne Schläge , die langsam mit schauerlicher Monotonie aufeinander folgen .
Bimbam !
Sterbeglocken sind_es .
Sterben !
Sonderbar , liebe Mutter , nicht , wenn ich jetzt sterben müßte ?
Was ist der Tod ?
Etwa ein Regenbogen über einem Sumpf ?
Eigentlich wäre es interessanter zu wissen , was das Leben ist .
Etwa die Geschichte von dem kleinen Bübchen , das fortwährend nach seiner Kinderfrau schreit , erst leise , dann immer lauter , dann wie in Verzweiflung .
Die Kinderfrau kommt :
" Was ist denn los ?
Was willst Du , Hänschen ? "
" Nichts . "
Und das Kind legt sich auf die andere Seite und schläft ein .
Nichts !
Nichts ?
Das Spiel eines Schattens an der Wand , mein Dasein ?
Und Du , geliebteste Mutter , Du hättest ein so schönes , eigenes Leben haben können und hast Dich an mich geklammert .
Zwei , die an einer so dürftigen Existenz zehrten .
Und nun habe ich Dir nicht einmal eine Enkelin geschenkt .
Nur ein Knabe .
Ich wollte doch keinen Knaben !
Den hat so bald die Welt , und ich werde ihn auch nicht verstehen , wenn er erwachsen sein wird .
Ich verstehe nur das Weib .
Das kenne ich .
Ich weiß , was es will , und was ihm fehlt , besonders was ihm fehlt .
Der Knabe - - es regt mich auf .
Ich will schlafen .
Ich habe gewiß lange geschlafen .
Ich weiß nicht wie lange .
Das hat mich gestärkt .
Ich bin ganz wach .
Durch meine Adern strömt Leben , übervolles .
Ich bin beinahe gesund .
Tausend Gedanken und Bilder kommen und gehen , wie mit dem Blitzzug , so schnell .
Den lieben Vater , ich sehe ihn vor mir , so jung und lebensfreudig , und wie er dann so sacht und betrübt zusammenklappte .
Und meine jungen Mädchenjahre , so brausend , fieberhaft .
Der komische Ewald de Born und der schöne Arthur , und daß ich den Benno heiratete !
Ach Gott !
Und ich suche , suche in meiner Erinnerung den Augenblick , zu dem ich hätte sagen mögen :
" Verweile doch , Du bist so schön . "
Ich bin nur immer von denen geliebt worden , die ich nicht wieder lieben konnte .
Fatum !
Das Wort verfolgt mich , seitdem ich in Rom bin .
Ach ja , liebe Mutter , ich habe in dem kalten , bläulichen Licht der Morgendämmerung gelebt .
Wie gern hätte ich die Sonne aufgehen sehen !
( Wieder Ibsens Gespenster . )
Ich bin etwas unruhig .
Wohl doch ein wenig Fieber , aber lange nicht so arg , wie bei der Influenza .
Damals verschwammen hundert Töne , unheimliche , grausige ineinander .
Jetzt höre ich nur einen einzigen Ton - - was denn für einen ?
Ein großes Rauschen !
Vielleicht das Rauschen des Windes , das der Morgenröte vorausgeht ?
Es muß bald Morgen sein .
Noch ein wenig schlafen . Habe geschlafen .
Heller Tag .
Noch immer Musik .
Kirchenmusik ?
Zu dumm !
Es ist ja ein Leierkasten , gerade einer , wie auf unserem Hof in Berlin .
Horch !
Ja - er spielt :
" Im Grunewald ist Holzauktion . "
Also ein deutscher Leierkasten .
Mir gehen die Augen über von der Holzauktion !
Heimweh !
Nach Dir !
Die Heimat im Leierkasten !
Ich muß weinen ! weinen !
Ich habe so bitterlich geweint und dann wieder lange im Halbschlaf gelegen .
Ich habe geträumt .
Mir war_es , als flüstere der Arzt mit Jolante , und als hörte ich das Wort : hoffnungslos .
Und dann ein leises Weinen .
Aber wirklich nur ein Traum .
Sie war ja ganz lächelnde Heiterkeit , die liebe Jolante , als sie an mein Bett kam .
Ich sterben !
Lächerlich !
Unmöglich .
Stark fühle ich mich , unsterblich stark .
Ein Strom von Leben braust mir durch das Blut .
Feuerzauber , Walkürenritt !
Hojotoho !
Hojotoho !
Wenn es aber doch der Tod wäre , der so wild und stürmisch bei mir anklopft ?
Ich glaube es nicht !
Ich glaube es nicht !
Ich weiß aber doch - - nichts weiß ich , nichts .
Traute , die starb so selig , so poetisch mit einer großen Illusion und einem großen Glauben .
Ich stürbe so gewöhnlich , selbst im Sterben ohne jede Originalität .
Am Kindbettfieber , von einem Leierkasten akkompagniert .
Und wäre das ein Trost , liebe Mutter , daß ich nun doch nicht wie Ella Ried draufginge .
Was war das für ein dummes Schreckgespenst .
Das ganze Leben ist voll von solchen Gespenstern , Phantomen , wachen Träumen .
" Und selbst die Träume sind ein Traum . "
Calderon , nicht ?
Und im Traum zerronnen auch mein großer Glaube , der Glaube an das Kind .
Ich wollte doch keinen Knaben !
Mutter , liebe Mutter , ich habe ja gar nicht wirklich an das Kind geglaubt .
Ich habe nur daran glauben wollen .
Und müßte ich jetzt sterben , ich stürbe für einen Aberglauben , für das Kind , für den kleinen Gott , den ich mir selbst fabriziert habe .
Und nun - nevermore - nevermore !
Und morgen kommt Kunz .
Ich habe ihn lieb .
Es hätte keinen Sinn , wenn ich jetzt stürbe , keinen Sinn !
Hatte es denn einen Sinn , daß ich lebte ?
Aber ich will leben !
Wieder geschlafen .
Das Rauschen ! das große Rauschen ! von fern her , von fern höre ich es klingen - Memnonssäulen ?
Kennst Du die Inschrift über dem Tempel der Isis ?
" Ich bin alles , was da ist , was da war und was da sein wird , und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt . "
Ist das vielleicht jeder Mensch ?
Ich auch ?
Und meinen Schleier - - fort damit !
Er macht die Augen trübe .
In die Sonne will ich sehen .
Feuerzauber !
Walkürenritt !
Hojotoho !
Ich will leben ! leben - - voluntas regia - das ist mein königlicher - - Jolante an Frau Dalmar .
Geliebte Mutter unserer Sibilla , nur wenige Worte schicke ich der Depesche nach .
Fast mit diesen Zeilen zugleich bringen wir Ihnen die Asche der holdesten und unglückseligsten aller Frauen .
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